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William MacDonald

Kommentar
zum
Neuen Testament

Christliche
Literatur-Verbreitung e.V.
Postfach 11 01 35 · 33661 Bielefeld
1. Auflage (Band 1) 1992
1. Auflage (Band 2) 1994
2. Auflage (Gesamtausgabe – Band 1 und 2) 1997

Originaltitel: BBC – Believer’s Bible Commentary – New Testament


© 1989 by William MacDonald
© der deutschen Ausgabe 1992 und 1994
by CLV · Christliche Literatur-Verbreitung
Postfach 11 01 35 · 33661 Bielefeld

Übersetzung: Christiane Eichler


Umschlaggestaltung: Dieter Otten, Bergneustadt
Satz: CLV
Druck und Bindung: Graphischer Großbetrieb Pössneck

ISBN 3-89397-378-8
Inhaltsverzeichnis
Über den Autor 7
Über den Herausgeber 7
Vorwort des Autors 8
Einführung des Herausgebers 9
Abkürzungen 11
Einführung in das Neue Testament 12
Einführung in die Evangelien 15
Das Evangelium nach Matthäus 19
Exkurs zum Reich der Himmel 29
Exkurs zum Evangelium 36
Exkurs zum Verhältnis des Gläubigen zum Gesetz 40
Exkurs über Scheidung und Wiederheirat 44
Exkurs über das Fasten 49
Exkurs zum Sabbat 77
Das Evangelium nach Markus 161
Das Evangelium nach Lukas 223
Das Evangelium nach Johannes 339
Die Apostelgeschichte 475
Exkurs über das Gebet in der Apostelgeschichte 483
Exkurs über die Hausgemeinde und gemeindeähnliche Organisationen 493
Exkurs über das Verhältnis des Christen zur Obrigkeit 506
Exkurs über die Gläubigentaufe 516
Exkurs über den Dienst der sogenannten »Laien« 518
Exkurs über Missionsstrategie 539
Exkurs über die Selbständigkeit der Ortsgemeinde 544
Exkurs über göttliche Führung 547
Exkurs über Wunder 549
Exkurs über ungewöhnliche Kanzeln 555
Exkurs über die Botschaft der Apostelgeschichte 587
Der Brief an die Römer 597
Exkurs über die unerreichten Heiden 606
Exkurs über die Sünde 616
Exkurs über die göttliche Souveränität und
die menschliche Verantwortlichkeit 650
Der erste Brief des Paulus an die Korinther 689
Der zweite Brief des Paulus an die Korinther 777
Der Brief des Paulus an die Galater 845
Exkurs über Gesetzlichkeit 877
Inhaltsverzeichnis

Der Brief an die Epheser 883


Exkurs zur göttlichen Erwählung 889
Der Brief an die Philipper 949
Der Brief an die Kolosser 983
Exkurs zum Thema Versöhnung 995
Exkurs zum Thema christliche Familie 1017
Der erste Thessalonicherbrief 1027
Exkurs über das Kommen des Herrn 1037
Exkurs zu den Anzeichen der letzten Tage 1049
Exkurs zum Thema Heiligung 1055
Der zweite Thessalonicherbrief 1061
Exkurs zu Entrückung und Offenbarung 1064
Exkurs über die Entrückung der Gemeinde 1076
Die Pastoralbriefe 1087
Der erste Timotheusbrief 1091
Der zweite Timotheusbrief 1131
Der Titusbrief 1159
Exkurs zum Thema Älteste 1162
Exkurs über den Christen und diese Welt 1173
Der Philemonbrief 1179
Der Brief an die Hebräer 1189
Exkurs zum Thema Abfall 1213
Exkurs zur Bedeutung des Hebräerbriefes heute 1257
Der Brief des Jakobus 1261
Exkurs zu den Zehn Geboten 1275
Exkurs über göttliche Heilung 1295
Der erste Petrusbrief 1303
Exkurs zum Thema christliche Kleidung 1328
Exkurs zum Thema Taufe 1335
Der zweite Petrusbrief 1349
Der erste Brief des Johannes 1375
Exkurs zur Sünde zum Tod 1396
Der zweite Brief des Johannes 1399
Der dritte Brief des Johannes 1403
Der Judasbrief 1407
Die Offenbarung 1421
Anhang 1465
Über den Autor
William MacDonald ist ein geschätzter nald in die Fakultät der Emmaus Bibel-
Bibellehrer und Autor von über 60 in den schule (jetzt College) ein. Dort diente er
USA und Kanada veröffentlichten von 1947 – 1965. Ab 1959 war er Leiter
Büchern, von denen einige schon in viele dieser Bibelschule.
Sprachen übersetzt wurden. Diese rei- Von 1965 – 1972 arbeitete er als rei-
chen von gebundenen über Taschen- sender Bibellehrer und Prediger. Sein
bücher und Bibelfernkursen bis hin zu Dienst führte ihn nicht nur durch ganz
Traktaten. Nordamerika, sondern auch nach Euro-
Es waren nicht die verschiedenen pa und Asien.
Abschlüsse des Tufts College (jetzt Uni- Seit 1973 gehört er zum Mitarbeiter-
versität) und der Harvard Business stab des Discipleship Intern Training
School, die W. MacDonald erworben hat, Program in San Leonardo, Kalifornien.
sondern der außerordentlich ausführli- Der Kommentar zum Neuen Testament
che biblische Unterricht, den er in ver- ist der Höhepunkt des Gelöbnisses, das
schiedenen Versammlungen erhielt, und der Autor im Alter von 30 Jahren Gott
sein Leben voll eifrigem persönlichen gegenüber ablegte, einen Kommentar zu
Bibelstudium, die ihn für diese Aufgabe schreiben, der Vers für Vers das ganze
vorbereitet haben. Neue Testament verständlich macht. Er
Nachdem er als Vermögensberater ist die Frucht von mehr als vier Jahr-
der First National Bank of Boston gear- zehnten des Bibelstudiums, der Predigt
beitet und von 1942 – 1949 aktiv bei der und der Auslegungsarbeit.
US-Marine gedient hatte, trat MacDo-

Über den Herausgeber


Arthur Farstads Weg kreuzte den des King James Bible ist, die in den angelsäch-
Autors, als er Schüler an der Emmaus sischen Ländern auch heute noch von
Bibelschule wurde und dort nicht nur die vielen Christen bevorzugt wird. Diese
Bibel, sondern auch christlichen Journa- Arbeit führte ihn auf natürliche Weise
lismus unter MacDonald studierte. dazu, den Kommentar von MacDonald
Farstad hat die National Art Aca- nach der New King James Bible zu bear-
demy in Washington, D. C. besucht, die beiten, damit er sich auf diese verständli-
Emmaus Bibelschule, das Washington chere Bibelausgabe bezieht.
Bible College und das Dallas Theological Dr. Farstad hat auch die Einleitungen
Seminary. In Dallas wurde ihm der Magi- zu den verschiedenen Büchern der Bibel
ster der alttestamentlichen Theologie geschrieben, außerdem für die Anmer-
und die Doktorenwürde der neutesta- kungen, insbesondere die zum neutesta-
mentlichen Theologie verliehen. An die- mentlichen Text.
sem Seminar lehrte er fünfeinhalb Jahre Er hat zusammen mit Zane Hodges
Griechisch. das »Greek New Testament according to
Sieben Jahre lang war er der Heraus- the Majority Text« herausgegeben.
geber der New King James Bible, erst für Neben seiner Tätigkeit als Schriftstel-
das Neue Testament und dann für die ler und Herausgeber steht Farstad im
gesamte Bibel, die eine konservative aktiven Predigtdienst hauptsächlich in
Revision der traditionellen englischen Dallas.

7
Vorwort des Autors
Dieser Kommentar zum Neuen Testa- nicht erst durch lange Erklärungen arbei-
ment soll dem normalen Christen hel- ten. Das Tempo unseres modernen
fen, das Wort Gottes intensiv zu studie- Lebens macht es notwendig, daß die
ren. Allerdings darf ein Bibelkommen- Wahrheit in kurzen Abschnitten angebo-
tar nie die Bibel selbst ersetzen. Das ten wird.
Beste, was ein Kommentar zu leisten in Die Kommentare umgehen keine
der Lage ist, ist die allgemeine Bedeu- schwierigen Schriftstellen. In vielen Fäl-
tung der Texte in verständlicher Weise len werden mehrere Erklärungsansätze
darzulegen und dann den Leser zum angeführt, damit der Leser selbst ent-
weiteren Studium an die Bibel zurück- scheiden kann, welcher von ihnen am
zuverweisen. besten dem Zusammenhang und der
Der Kommentar ist in einfacher Spra- übrigen Bibel entspricht.
che gehalten, die Fachausdrücke vermei- Reines Bibelwissen reicht nicht aus.
det. Er behauptet nicht von sich, Gelehr- Das Wort muß praktische Anwendung
samkeit oder tiefgründige Theologie zu im Leben finden. Deshalb versucht die-
enthalten. Die meisten Gläubigen verste- ser Kommentar zum Neuen Testament
hen die Originalsprachen des Alten und zu zeigen, wie die Schrift im Leben des
Neuen Testaments nicht, aber das hin- Volkes Gottes Gestalt annehmen kann.
dert sie nicht daran, größtmöglichen Wenn dieser Kommentar um seiner
praktischen Nutzen aus dem Wort zu selbst willen gelesen wird, dann wird er
ziehen. Ich bin überzeugt, daß durch eher ein Fallstrick als eine Hilfe werden,
systematisches Bibelstudium jeder wenn er jedoch dazu benutzt wird, das
Christ sich »Gott bewährt zur Verfügung persönliche Studium der Heiligen Schrift
stellen kann als einen Arbeiter, der sich anzuregen und zum Gehorsam gegen die
nicht zu schämen hat, der das Wort der Grundsätze unseres Herrn führt, dann
Wahrheit in gerader Richtung schneidet« hat er seine Aufgabe erfüllt.
(2. Tim 2,15). Möge der Heilige Geist, der die
Die Anmerkungen sind kurz gehal- Schreiber der Bibel inspirierte, den Ver-
ten, umfassend und themenorientiert. stand des Lesers erleuchten, um dieses
Um bezüglich einer bestimmten Stelle wundervolle Ziel zu erreichen: Gott
Hilfe zu erhalten, muß sich der Leser durch sein Wort zu erkennen.

8
Einführung des Herausgebers
»Verachten Sie nie die Kommentare.« Unglücklicherweise sind viele so lang, so
Dies war gegen Ende der fünfziger Jahre veraltet und so schwer zu lesen, daß der
der Rat eines Lehrers der Emmaus Bibel- normale Christ sie entmutigt, wenn nicht
schule an seine Klasse. Mindestens ein durch ihre Fülle erschlagen, weglegt.
Schüler hat diese Worte mehr als dreißig Daher geben wir diesen Kommentar
Jahre behalten. Der Lehrer war William zum Neuen Testament heraus.
MacDonald, der Autor dieses Buches.
Der Schüler war der Herausgeber Arthur Die verschiedenen Arten von
Farstad, der zu dieser Zeit seine Ausbil- Kommentaren
dung an der Schule gerade erst begonnen Theoretisch könnte jeder, der an der
hatte. Er hatte in seinem Leben nur einen Bibel interessiert ist, einen Kommentar
einzigen Kommentar gelesen – In der schreiben. Aus diesem Grunde gibt es ein
Himmelswelt über den Epheserbrief von so großes Spektrum von extrem liberal
Harry A. Ironside. Art Farstad hat in dem bis zu äußerst konservativ zwischen
Sommer, in dem er diesen Kommentar denen jede Schattierung existiert. Dieser
jeden Abend las, herausgefunden, was Kommentar zum Neuen Testament ist
ein Kommentar ist. ein sehr konservativer Kommentar, der
die Bibel als inspiriertes und irrtumslo-
Was ein Kommentar ist ses Wort Gottes annimmt, das für alle
Was genau ist nun ein Kommentar und Fragen des Glaubens und Lebens ausrei-
warum sollten wir Kommentare nicht chende Antworten bietet.
verachten? Kürzlich listete ein bekannter Ein Kommentar kann sich aber auch
christlicher Verleger fünfzehn verschie- zwischen den Extremen hochspeziali-
den Sorten von Büchern auf, die alle mit siert (Einzelheiten der griechischen und
der Bibel zu tun haben. Wenn einige Leu- hebräischen Grammatik werden aufge-
te nicht genau wissen, wie sich ein Kom- zeigt) und oberflächlicher Skizze bewe-
mentar z. B. von einer Studienbibel oder gen. Dieser Kommentar zum Neuen
sogar von einer Konkordanz, einem Atlas Testament liegt irgendwo dazwischen.
oder einem biblischen Wörterbuch unter- Was an speziellen Bemerkungen ge-
scheidet – um nur vier aufzuführen, dann braucht wird, ist meist in den Anmer-
sollte das niemanden wundern. kungen am Schluß untergebracht, aber er
Ein Kommentar erläutert oder macht setzt sich intensiv mit den Einzelheiten
(hoffentlich) hilfreiche Bemerkungen des Textes auseinander, ohne schwierige
zum Text. Dabei geht er entweder Vers Stellen oder unbequeme Anwendungen
für Vers oder Abschnitt für Abschnitt auf das tägliche Leben zu umschiffen.
vor. Einige Christen verachten Kommen- W. MacDonald bietet eine reichhaltige
tare und sagen: »Ich will nur das gepre- Auslegung. Sein Ziel ist es nicht, nur ge-
digte Wort hören und die Bibel selbst wöhnliche Christen, die sich auf einem
lesen.« Das hört sich fromm an, ist es größten Nenner wiederfinden, zu produ-
aber nicht. Ein Kommentar ist nur die zieren, sondern Jünger zu schulen.
gedruckte Form der besten (und schwie- Kommentare unterscheiden sich
rigsten) Form der Bibelauslegung – der auch darin, zu welchem theologischen
Auslegung, die Vers für Vers vorgeht, Lager sie gehören – konservativ oder
wenn das Wort Gottes gepredigt wird. liberal, protestantisch oder katholisch,
Einige Kommentare, wie die von Ironsi- prämillenialistisch oder postmilleniali-
de, sind ziemlich wörtlich gedruckte Pre- stisch. Dieser Kommentar zum Neuen
digten. Außerdem sind die großartigsten Testament ist ein konservativer, prote-
Bibelauslegungen aller Zeiten und Spra- stantischer prämillenialistischer Kom-
chen in englischer Sprache zugänglich. mentar.
9
Einführung des Herausgebers

Wie man dieses Buch benutzen kann Ein Buch der Bibel – Vielleicht wird in
Man kann an dieses Buch verschieden Ihrem Hauskreis oder in der Gemeinde-
herangehen. Wir schlagen folgendes in bibelstunde ein bestimmtes Buch des
etwa der angegebenen Reihenfolge vor: Neuen Testamentes durchgenommen.
Querlesen – Wenn Sie die Bibel mögen Sie werden viel Gewinn davon haben
oder lieben, dann werden sie gerne die- oder auch zum Thema beitragen können,
ses Buch durchblättern und hier etwas wenn Sie den Kommentar zu dem Ab-
und dort etwas lesen, um einen ersten schnitt, der das nächste Mal behandelt
Eindruck des Gesamtwerkes zu erhal- wird, vorher gelesen haben.
ten. Das ganze Buch – Eigentlich sollte
Bestimmte Abschnitte nachschlagen – jeder Christ die gesamte Bibel gelesen
Vielleicht haben Sie eine Frage zu einem haben. Es gibt in der ganzen Bibel ver-
Vers oder einem Abschnitt, zu der Sie streut schwierige Texte, deshalb wird ein
Hilfe benötigen. Schauen Sie an der Stel- sorgfältiges konservatives Buch wie die-
le des Kommentars nach, denn Sie wer- ses Ihr Bibelstudium sehr bereichern.
den dort sicherlich gutes Material fin- Es mag sein, daß sie beim Bibelstu-
den. dium mit trockenem Brot anfangen müs-
Eine Lehre – Wenn Sie ein Thema sen – »nahrhaft, aber trocken« – aber
untersuchen, etwa Sabbat, Taufe, Erwäh- wenn sie weiterkommen, wird es sicher-
lung oder Dreieinigkeit, dann können Sie lich zu »Schokoladenkuchen!«
unter den Abschnitten nachsehen, die es W. MacDonalds Rat an mich vor
zu diesem Thema in der Bibel gibt. Das dreißig Jahren lautete: »Verachten Sie nie
Inhaltsverzeichnis listet Aufsätze oder die Kommentare.« Nachdem ich seinen
»Exkurse« zu vielen dieser Themen auf. Kommentar zum Neuen Testament sorg-
Benutzen Sie eine Konkordanz, um an- fältig gelesen habe, als ich ihn für die
hand von Schlüsselwörtern wichtige Bi- Benutzung der New King James Bibel
belabschnitte zu einem Thema zu finden, überarbeitete, kann ich noch einen
wenn es nicht in den 37 Exkursen behan- Schritt weiter gehen. Mein Rat: »Ge-
delt wird. nießen Sie ihn!«

10
Abkürzungen
Abkürzungen der Bücher des Alten Testaments
1. Mose 1. Mose Prediger Pred
2. Mose 2. Mose Hoheslied Hohesl
3. Mose 3. Mose Jesaja Jes
4. Mose 4. Mose Jeremia Jer
5. Mose 5. Mose Klagelieder Klgl
Josua Josua Hesekiel Hes
Richter Ri Daniel Dan
Ruth Ruth Hosea Hos
1. Samuel 1. Sam Joel Joel
2. Samuel 2. Sam Amos Amos
1. Könige 1. Kön Obadja Ob
2. Könige 2. Kön Jona Jona
1. Chronika 1. Chron Micha Micha
2. Chronika 2. Chron Nahum Nah
Esra Esra Habakuk Hab
Nehemia Neh Zephania Zeph
Esther Est Haggai Hag
Hiob Hiob Sacharja Sach
Psalm Ps Maleachi Mal
Sprüche Spr

Abkürzungen der Bücher des Neuen Testaments


Matthäus Matth 2. Thessalonicher 2. Thess
Markus Mk 1. Timotheus 1. Tim
Lukas Lk 2. Timotheus 2. Tim
Johannes Joh Titus Titus
Apostelgeschichte Apg Philemon Philem
Römer Röm Hebräer Hebr
1. Korinther 1. Kor Jakobus Jak
2. Korinther 2. Kor 1. Petrus 1. Petr
Galater Gal 2. Petrus 2. Petr
Epheser Eph 1. Johannes 1. Joh
Philipper Phil 2. Johannes 2. Joh
Kolosser Kol Judas Judas
1. Thessalonicher 1. Thess Offenbarung Offb

Abkürzungen der Bibelausgaben


a) Textausgaben des gr. Urtextes ER Elberfelder revidiert
M Majority Text GN Die Gute Nachricht
NA Nestlé-Ahland Hfa Hoffnung für alle
TR Textus Receptus LU + Jahreszahl
Lutherbibel in Revision des
b) deutsche Bibelausgaben Jahres . . .
Ei Einheitsübersetzung Schl Schlachter
Elb Elberfelder nicht revidiert Zü Zürcher Bibel

11
Einführung in das Neue Testament
»Der Wert dieser Schriften übersteigt historisch wie geistlich gesehen
das Verhältnis zu ihrer Zahl und Länge.
Ihr Einfluß auf das Leben und die Geschichte ist nicht zu berechnen.
Hier haben wir den Zenit dessen, was in Eden nur dämmerte.
Der Christus der Prophetie im Alten Testament wird zum Christus der Geschichte
in den Evangelien, zum Christus der Erfahrung in den Briefen
und zum Christus der Herrlichkeit in der Offenbarung.«
W. Graham Scroggie

I. Die Bezeichnung II. Der Kanon des Neuen Testaments


»Neues Testament« Das Wort Kanon (gr. kanon) bezieht sich
Ehe wir uns in die Tiefen der neutesta- auf eine »Regel« oder einen »Maßstab«,
mentlichen Studien begeben, oder auch nach dem etwas bemessen oder bewertet
in das vergleichsweise kleine Gebiet des wird. Der Kanon des NT ist eine Samm-
Studiums eines ganzen Buches begeben, lung inspirierter Bücher. Woher wissen
wird es sich als hilfreich erweisen, wenn wir, daß dies die einzigen Bücher sind, die
wir kurz einige allgemeine Fakten über zum Kanon gehören, bzw. daß alle 27
das Buch aufschreiben, das wir »Das wirklich dazuzuzählen sind? Da es ande-
Neue Testament« nennen. re christliche Briefe und Schriften von
»Testament« oder »Bund« sind beides Anfang an gegeben hat (darunter auch
Übersetzungen desselben griechischen solche, die Irrlehren enthalten), wie kön-
Wortes (diatheke), und an ein oder zwei nen wir dann sicher sein, daß diese die
Stellen im Hebräerbrief kann man darü- richtigen sind?
ber diskutieren, welche von beiden Über- Es wird oft gesagt, daß gegen Ende
setzungsmöglichkeiten die bessere ist. des 3. Jahrhunderts ein Konzil eine kano-
Im Titel der Heiligen Schrift der Christen nische Liste erstellte. In Wahrheit waren
ist es wohl vorzuziehen, die Bedeutung diese Bücher kanonisch, sobald sie ge-
»Bund« anzunehmen, weil dieses Buch schrieben worden waren. Gottesfürchti-
einen Pakt, eine Allianz oder eben einen ge und mit der Unterscheidungsgabe be-
»Bund« zwischen Gott und seinem Volk traute Jünger erkannten von Anfang an
darstellt. die inspirierten Schriften, wie es Petrus
Es wird »Neues Testament« im Un- mit den Schriften von Paulus tat
terschied zum Alten (oder älteren) ge- (2. Petr 3,15.16). Dennoch wurde die Ka-
nannt. nonizität einiger Bücher, (z. B. Judas,
Beide Testamente sind von Gott 2. und 3. Johannes) in einigen Gemein-
inspirierte Schriften und deshalb für alle den lange diskutiert.
Christen nützlich. Aber natürlicherweise Im allgemeinen war es so, daß es kei-
wird sich der Christ öfter dem Teil der ne Zweifel darüber gab, ob ein Buch zum
Bibel zuwenden, der sich mit unserem Kanon gehörte, wenn ein Buch von
Herrn und seiner Gemeinde beschäftigt, einem Apostel wie Matthäus, Petrus,
und der ihm sagt, wie der Herr will, daß Johannes oder Paulus, oder von jeman-
sich seine Jünger verhalten. dem, der zum Kreis der Apostel gehörte,
Die Beziehung zwischen AT und NT wie Markus oder Lukas, geschrieben
wird von Augustinus einmal sehr schön worden war.
ausgedrückt: »Das Neue ist im Alten ver- Das Konzil, das unseren Kanon offi-
borgen; das Alte ist im Neuen offenbart.« ziell anerkannte, bestätigte nur, was schon
12
Einführung in das Neue Testament

lange von den meisten akzeptiert wor- Die ersten Bücher, die geschrieben
den war. Das Konzil verabschiedete kei- wurden, sind »Briefe an junge Gemein-
ne inspirierte Liste von Büchern, sondern den«, wie Phillips sie genannt hat. Jako-
eine Liste inspirierter Bücher. bus, Galater und die Thessalonicherbrie-
fe wurden wahrscheinlich zuerst ge-
III. Verfasserschaft schrieben, und zwar um die Mitte des
ersten Jahrhunderts.
Der göttliche Verfasser des NT ist der
Danach kamen die Evangelien, zuerst
Heilige Geist. Er inspirierte Matthäus,
Matthäus und Markus, dann Lukas und
Markus, Lukas, Johannes, Paulus, Jako-
als letztes Johannes. Schließlich wurde
bus, Petrus und den unbekannten Schrei-
auch noch die Offenbarung geschrieben,
ber des Hebräerbriefes (siehe Einleitung
wahrscheinlich gegen Ende des 1. Jahr-
zum Hebräerbrief). Das beste und kor-
hunderts.
rekteste Verständnis dieses Vorganges,
wie die Bücher des NT geschrieben wur-
den, heißt: »Zweifache Verfasserschaft.« V. Inhalt
Das NT ist nicht teilweise menschlich Der Inhalt des NT kann man in etwa so
und teilweise göttlich, sondern gleichzei- zusammenfassen:
tig ganz menschlich und ganz göttlich. Geschichtsschreibung: Evangelien
Das göttliche Element verhinderte, daß und Apostelgeschichte
die Menschen Fehler machten. Das Er- Briefe: Die Briefe des Paulus, die all-
gebnis ist ein in den ursprünglichen gemeinen Briefe
Handschriften unfehlbares oder fehler- Prophetie: Offenbarung
loses Buch. Ein Christ, der diese Bücher gut
Eine hilfreiche Analogie zur Bibel ist kennt, wird »zu jedem guten Werk völlig
die Doppelnatur des lebendigen Wortes, zugerüstet«.
unseres Herrn Jesus Christus. Er ist nicht Es ist unser Gebet, daß diese Kom-
teilweise menschlich und teilweise gött- mentar zum Neuen Testament vielen
lich, (wie einige Heroen der griechischen Gläubigen gerade dazu verhelfen wird.
Mythen) sondern gleichzeitig völlig
menschlich und völlig göttlich. Die gött- VI. Sprache
liche Natur machte es für den Menschen
Das NT wurde in der Alltagssprache
unmöglich, zu irren oder zu sündigen.
geschrieben (genannt koine, oder allge-
meines Griechisch). Dies war im ersten
IV. Datierung Jahrhundert eine fast universelle Zweit-
Anders als das AT, welches etwa ein sprache, die so weit verbreitet war wie
Jahrtausend bis zu seiner Vollendung heute etwa Englisch.
brauchte (ca. 1400 – 400 v. Chr.), brauchte Ebenso, wie die hebräische Sprache
das Neue Testament nur ein halbes Jahr- mit ihrem warmen und farbenreichen
hundert, um vollständig zu werden Stil der Prophetie, Dichtung und histori-
(ca. 50 – 100 n. Chr.). schen Erzählung des AT entspricht, so
Die gegenwärtige Anordnung der wurde Griechisch durch die Vorsehung
Bücher ist am besten für die Gemeinde Gottes als wunderbares Medium für das
aller Zeiten geeignet. Das NT beginnt mit NT vorbereitet. Die griechische Sprache
dem Leben Christi, dann erzählt es von hatte sich durch die Eroberungen Alex-
der Gemeinde, danach gibt es dieser anders des Großen weit über ihr Ur-
Gemeinde Anweisungen und schließlich sprungsland hinaus verbreitet. Seine Sol-
offenbart es die Zukunft der Gemeinde daten hatten die Sprache vereinfacht und
und der Welt. Dennoch sind die Bücher als Sprache für die Massen populär ge-
nicht nach dem Zeitpunkt ihrer Abfas- macht.
sung geordnet. Sie wurden geschrieben, Die Präzision der griechischen Zeit-
sobald der Bedarf für sie bestand. formen, der Deklinationen, des Vokabu-

13
Einführung in das Neue Testament

lars und andere Eigenschaften machen die Schlachterübersetzung und die Re-
sie zu einem idealen Medium, die wichti- vidierte Elberfelder Übersetzung. Gera-
gen lehrmäßigen Wahrheiten der Briefe de für Anfänger des Bibelstudiums
auszudrücken – insbesondere in einem sind diese Übersetzungen wegen der
solchen Brief wie dem an die Römer. besseren Verständlichkeit zu empfeh-
Einerseits ist die griechische koine kei- len. Die 1985 erschienene Revidierte
ne literarische Elitesprache, andererseits Elberfelder Übersetzung mit ihren
ist es aber auch keine »Gossensprache« Kapitelüberschriften und guten Par-
oder schlechtes Griechisch. Einige Ab- allelstellen hat in sehr kurzer Zeit
schnitte des NT, wie etwa Hebräer, Jako- eine weite Verbreitung im deutschen
bus und 2. Petrus – nähern sich in ihrem Sprachraum gefunden, wenn auch an
Stil einem literarischen Niveau an. Auch einigen wenigen Stellen Spuren bibel-
Lukas wird zuweilen fast klassisch in sei- kritischer Einflüsse sichtbar werden.
ner Ausdrucksweise und sogar Paulus
schreibt manches schön gestaltete Kapi- 3. Paraphrasierung
tel (z. B. 1. Kor 13 und 15). Eine Paraphrasierung versucht, den
Text nicht Wort für Wort, sondern
VII. Übersetzungen Gedankengang für Gedankengang
Wie die englischsprechende so ist auch wiederzugeben. Oftmals wird sich
die deutschsprechende Welt mit einer stark der Freiheit bedient, zusätzli-
Fülle von Bibelübersetzungen gesegnet, ches, erklärendes Material in den Text
vielleicht sogar mit zu vielen. Diese einzubringen. Weil sie vom Wortlaut
Übersetzungen kann man in drei Haupt- des Originaltextes oft sehr stark
gruppen einteilen: abweicht, besteht immer die Gefahr,
zu viel zu interpretieren. Die Hoff-
1. Sehr wörtliche Übersetzungen nung für alle z. B. ist zwar von evan-
Hier ist die Elberfelder Übersetzung zu gelikaler Seite übersetzt, übernimmt
nennen, die seit über hundert Jahren jedoch an einigen Stellen Interpreta-
ihren Ruf als wortgetreueste deutsche tionen, die man bestenfalls als um-
Bibelübersetzung zu Recht bewahrt stritten bezeichnen würde.
hat. Für den Anfänger ist sie gele- Von durch liberale Bibelkritik und
gentlich etwas schwierig zu verste- katholischen Sakramentalismus ge-
hen, weil sie sich in Sprachduktus prägten Bibelversionen wie Einheitsü-
und Satzbau eng an den hebräischen bersetzung, Jerusalemer Bibel, Zink-
und griechischen Grundtext anlehnt. Übertragung, Gute Nachricht usw. ist
Die Absicht ihrer Übersetzer war es, abzuraten. Wer sich ausführlicher mit
den Grundtext »gleichsam wie in dem Thema Bibelübersetzungen be-
einem Spiegel wieder hervorzubrin- schäftigen möchte, sei auf den ausge-
gen«. zeichneten Leitfaden »Bibelüberset-
zungen unter der Lupe« (Kurt Weber,
2. Vollständige Entsprechung Aßlar, 1984) verwiesen.
Dies sind Übersetzungen, die ziem- Es ist gut, je eine Bibel aus diesen
lich wörtlich sind und dem griechi- Gruppen zu besitzen, um Vergleiche
schen und hebräischen Text eng fol- anstellen zu können. Wir denken je-
gen, soweit dies im Deutschen mög- doch, daß die Übersetzungen in ge-
lich ist. Sobald jedoch ein guter Stil nauer Entsprechung die besten für
und eine geläufigerere Ausdrucks- ein eingehendes Bibelstudium wie
weise es erfordern, erlauben sie eine das des vorliegenden Kommentars
freiere Übersetzung. Dazu gehören sind.

14
Einführung in die Evangelien
»Die Evangelien sind die Erstlinge aller Schrift.«
Origines

I. Unser wunderbares Evangelium sieren oder alle vier zusammenzufassen,


Jeder, der Literatur studiert hat, kennt gehen bis ins zweite Jahrhundert zurück.
die Gattungen Erzählung, Roman, Thea- Damals gab Tatian sein Diatessaron her-
terstück, Gedicht, Biographie und andere aus, dessen Name sich vom griechischen
literarische Formen. Aber als unser Herr ableitet und soviel wie »durch vier hin-
Jesus Christus auf diese Erde kam, muß- durch« bedeutet.
te eine neue Literaturgattung entwickelt Irenäus stellte die Theorie auf, daß
werden – das Evangelium. Die Evangelien die vier Evangelien den vier Windrich-
sind keine Biographien, obwohl sie bio- tungen oder den vier Enden der Erde
graphisches Material enthalten. Sie sind entsprechen würden, wobei die Zahl vier
keine Erzählungen, obwohl sie solche die Universalität symbolisiert.
Gleichnisse wie das vom verlorenen
Sohn und vom barmherzigen Samariter II. Die vier Symbole
enthalten, die sich mit anderen Erzählun- Viele haben eine Parallele zwischen den
gen der Literatur durchaus messen kön- vier Evangelien und den vier Symbolen
nen. Einige Gleichnisse sind in Romanen bei Hesekiel und in der Offenbarung ge-
oder Kurzgeschichten verarbeitet wor- sehen: Der Löwe, der Ochse (bzw. das
den. Die Evangelien sind keine Doku- Kalb), der Mensch und der Adler. Diese
mentationen, doch enthalten sie genaue, Symbole sind in der christlichen Kunst
wahrscheinlich gekürzte und verdichtete immer wieder verwendet worden. Sie
Berichte von vielen Gesprächen und An- sind allerdings von verschiedenen Chri-
sprachen unseres Herrn. sten unterschiedlich auf die verschiede-
Das »Evangelium« ist nicht nur eine nen Evangelien bezogen worden. Wenn
einzigartige literarische Gattung, sondern diese Zuordnung der Attribute (wie sie
nachdem die vier Evangelisten ihre Evan- in der Kunst genannt werden) richtig ist,
gelien geschrieben hatten, konnte nie- dann paßt der Löwe am besten zu Mat-
mand mehr ein kanonisches Buch über thäus, dem königlichen Evangelium vom
das Leben Jesu Christi schreiben. Vier Löwen aus Juda. Der Ochse, ein dienst-
Evangelien, und zwar nur diese vier, sind bares Tier, entspricht am besten Markus,
von den Christen seit zweitausend Jahren dem Evangelium des Dieners. Der
anerkannt. Es gab verschiedene Irrlehrer, Mensch ist die Schlüsselfigur für Lukas,
die ihre Bücher ebenfalls Evangelien dem Evangelium des Menschensohnes.
nannten, aber es waren meist schreckliche Sogar ein englisches Standardhandbuch
Machwerke, die irgendeine Irrlehre, wie sagt, daß »der Adler das Attribut für Jo-
etwa die Gnosis, unterstützen wollten. hannes als Emblem für seine hohe geist-
1)
Aber warum gibt es ausgerechnet liche Darstellung ist«.
vier Evangelien? Warum nicht fünf, ähn-
lich wie die fünf Bücher Mose, damit wir III. Die vier Leserkreise
einen christlichen Pentateuch hätten? Die wahrscheinlich beste Erklärung für
Oder warum nicht nur ein einziges, lan- die Tatsache, daß es vier Evangelien gibt
ges Evangelium, in dem man nicht so ist, daß der Heilige Geist vier verschiede-
viel wiederholen brauchte, und in dem ne Arten von Menschen ansprechen will,
mehr Raum für weitere Wunder und vier Menschentypen der Antike, die aber
Gleichnisse gewesen wäre? Die Versu- auch heute noch ihre modernen Entspre-
che, unsere vier Evangelien zu harmoni- chungen haben.

15
Einführung in die Evangelien

Alle Ausleger sind sich einig, daß »Der Sproß« erscheint als Titel unse-
Matthäus das »jüdischste« der vier Evan- res Herrn in den folgenden Zusammen-
gelien ist. Die Zitate aus dem AT, die aus- hängen:
führlichen Erörterungen, der Stamm- ». . . dem David einen gerechten
baum unseres Herr und der allgemein jü- Sproß . . . als König« (Jer 23,5)
dische Ton können sogar von dem er- ». . . meinen Knecht, den Sproß«
kannt werden, der das Evangelium zum (Sach 3,8; L84)
ersten Mal liest. ». . . ein Mann, Sproß ist sein Name«
Markus ist wahrscheinlich das Evan- (Sach 6,12)
gelium, das in der Hauptstadt des römi- »der Sproß des Herrn« (Jes 4,2)
schen Imperiums geschrieben wurde. Es Dann gibt es viermal »Siehe« im AT,
richtet sich an die Römer und auch an die welche genau den vier Themen der
Millionen ähnlicher Menschen, die wie Evangelien entsprechen:
diese das Handeln mehr schätzen als das »Siehe, dein König« (Sach 9,9)
tiefsinnige Denken. Dieses Evangelium »Siehe, mein Knecht« (Jes 42,1)
erzählt deshalb viele Wunder und nur »Siehe, ein Mann« (Sach 6,12; oder
wenige Gleichnisse. Dieses Evangelium »Mensch« NKJ)
kommt ohne Stammbaum aus, denn »Siehe, . . . euer Gott« (Jes 40,9)
warum sollte sich ein Römer für den Eine letzte Parallele können wir
jüdischen Stammbaum eines Knechtes finden, die zwar weniger offensichtlich
Gottes interessieren? ist, aber sich als Segen für viele Men-
Lukas ist eindeutig das Evangelium schen erwiesen hat. Die vier Farben der
für die Griechen und die vielen Römer, Materialien des Heiligtums mit ihrer
die die griechische Literatur und Kunst symbolischen Bedeutung scheinen auch
liebten und sie nachahmten. Diese Men- zur vierfachen Beschreibung unseres
schen lieben Schönheit, Menschlichkeit, Herrn durch die Evangelisten zu passen:
Stil und literarische Qualität. Dr. Lukas Purpur ist sicherlich die angemessene
kann das alles bieten. Zusammen mit Farbe für Matthäus, das Evangelium des
den modernen Griechen entsprechen Königs. Richter 8,26 zeigt den Zusam-
wahrscheinlich die Franzosen am mei- menhang zwischen dieser Farbe und
sten diesem Menschentyp. Es ist keine dem Königtum.
Überraschung, daß ein Franzose dieses Karmesin ist eine Farbe, die im Alter-
Evangelium »das schönste Buch der tum durch das Zerdrücken des Kosche-
Welt« genannt hat (siehe Einführung nille-Wurmes gewonnen wurde. Das
zum Lukasevangelium). weist auf Markus hin, das Evangelium
Welche Menschen bleiben für Johan- des Knechtes, »ein Wurm und kein
nes übrig? Johannes ist das universelle Mensch« (Ps 22,7).
Evangelium, d. h., es hat jedem Menschen Weiß spricht von den gerechten Taten
etwas zu bieten. Es ist evangelistisch der Heiligen (Offb 19,8). Lukas betont,
(Kap. 20,30.31), doch wird es ebenso von daß Christus vollkommener Mensch war.
großen christlichen Denkern geschätzt. Blau (Elb) symbolisiert den Saphir-
Wahrscheinlich ist das die Lösung: Johan- dom, den wir den Himmel nennen
nes ist der »dritten Rasse« gegeben, ein (2. Mose 24,10), ein ansprechendes Zei-
Name, den die Heiden den ersten Chri- chen für die Gottheit Christi, dem
sten beilegten, weil sie weder zu den Schlüsselthema bei Johannes.
Juden noch zu den Heiden gehörten.
V. Reihenfolge und Betonung
IV. Andere vierfache Leitgedanken In den Evangelien sehen wir, daß die
Es gibt noch einige wenige andere vier- Ereignisse oft nicht in der Reihenfolge
fache Leitgedanken im AT, die mit den dargestellt werden, in der sie geschehen
Hauptthemen der vier Evangelien schön sind. Es ist gut, wenn man sich von An-
übereinstimmen. fang an daran erinnert, daß der Heilige

16
Einführung in die Evangelien

Geist oft verschiedene Geschehnisse Gemeinde des ersten Jahrhunderts soge-


nach ihrer moralischen Lehre zusam- nannte »Mythen« über Christus zusam-
menfaßt. Kelly sagt dazu: mengetragen hätte. Abgesehen von dem
Es wird sich beweisen, wenn wir weiter- Unglauben gegenüber allen christlichen
gehen, daß wir bei Lukas im wesentlichen ein und kirchengeschichtlichen Quellen, den
moralische Anordnung haben, und daß er die diese sogenannten »formalkritischen«
Tatsachen, Unterhaltungen, Fragen, Antwor- Theorien vertreten, sollte man festhalten,
ten und Erörterungen unseres Herrn nach daß es keinen dokumentarischen Beweis
ihren inneren Zusammenhängen geordnet für diese Theorien gibt. Auch stimmen
hat, und nicht nach der äußeren Folge der keine zwei Vertreter dieser Schule darin
Geschehnisse, welche in Wahrheit die primi- überein, wie sie die synoptischen Evange-
tivste und kindischste Form der Aufzeich- lien aufteilen und kategorisieren sollen.
nung ist. Aber wenn man Ereignisse nach Eine bessere Lösung dieser Frage fin-
ihren Ursachen und Folgen in eine moralische den wir in den Worten unseres Herrn in
Ordnung bringt, dann ist das eine schwierige Johannes 14,26: »Der Beistand aber, der
Aufgabe für einen Historiker, der sich da- Heilige Geist, den der Vater senden wird
durch vom reinen Chronisten unterscheidet. in meinem Namen, der wird euch alles
Gott konnte Lukas gebrauchen, diese Metho- lehren und euch an alles erinnern, was
2)
de in Vollkommenheit anzuwenden. ich euch gesagt habe.«
Die verschiedenen Betonungen und Diese Erklärung beachtet die Augen-
Ansätze helfen uns die Unterschiede der zeugenberichte von Matthäus und Jo-
Evangelien zu erklären. Während die hannes, was wahrscheinlich auch für
ersten drei Evangelien, die sogenannten Markus gilt, da er nach kirchengeschicht-
Synoptiker, (d. h., daß sie eine »Zusam- lichen Quellen die Erinnerungen von
menschau« bieten) in ihrem Ansatz das Petrus festgehalten hat. Wenn wir nun zu
Leben Christi in ähnlicher Weise betrach- dieser direkten Hilfe des Heiligen Gei-
ten, folgt Johannes einem anderen An- stes die schriftlichen Dokumente, die in
satz. Er schrieb später und will nicht wie- Lukas 1,1 erwähnt sind, und die außeror-
derholen, was von den anderen bereits dentlich wörtlich genaue mündliche Tra-
ausführlich beschrieben worden war. Er dition der semitischen Völker hinzurech-
schreibt tiefgründiger und theologischer nen, dann ist die synoptische Frage
vom Leben und Reden unseres Herrn. gelöst. Jede notwendige Wahrheit, Ein-
zelheit oder Interpretation, die über die-
VI. Die synoptische Frage se Quellen hinausgeht, kann »in Worten,
Die Frage, warum es so viele gleiche Pas- gelehrt durch den Heiligen Geist« offen-
sagen – Passagen, die teilweise über bart worden sein (1. Kor 2,13).
große Strecken einander wörtlich entspre- Deshalb sollten wir uns fragen, wenn
chen – und doch so viele Unterschiede zwi- wir einen scheinbaren Widerspruch oder
schen den ersten drei Evangelien gibt, Unterschiede in Einzelheiten finden:
wird normalerweise »die synoptische »Warum läßt gerade dieses Evangelium
Frage« genannt. Sie ist jedoch eher für sol- etwas aus, oder fügt es hinzu, oder betont
che Menschen wichtig, die die Inspiration gerade diese Rede oder Handlung?« zum
bestreiten, als für konservative Christen. Beispiel erzählt Matthäus zweimal von
Man hat viele komplexe Theorien aufge- zwei Leuten, die geheilt wurden (von
stellt, die oftmals theoretische verlorene Blindheit und von Dämonen), während
Quellen annehmen, die nicht in Schrift- Markus und Lukas jeweils nur einen
form überliefert worden sind. Einige die- erwähnen. Manche sehen darin einen
ser Ideen lassen sich mit Lukas 1,1 verein- Widerspruch. Doch ist es besser, wenn
baren und sind vom konservativen man sieht, daß Matthäus, der für die
Standpunkt aus zumindest möglich. Im- Juden schreibt, beide Männer erwähnt,
merhin sind diese Theorien heute so weit weil das Gesetz »zwei oder drei Zeugen«
gediehen, daß sie behaupten, daß die fordert, während die anderen zum Bei-

17
Einführung in die Evangelien

spiel den Herausragenden von beiden VII. Autorschaft der einzelnen Bücher
erwähnen, denjenigen, der mit Namen Man unterscheidet normalerweise, wenn
genannt ist (der blinde Bartimäus). man über die Verfasserschaft der Evan-
Die folgende Auswahl zeigt einige gelien diskutiert – und eigentlich immer,
scheinbare Dubletten in den Evangelien, wenn es in der Bibel um Verfasserschaft
die in Wirklichkeit besondere Unter- geht – zwischen äußeren und inneren Be-
schiede betonen: weisen. Das werden wir bei allen 27
Lukas 6,20-23 scheint der Bergpre- Büchern des NT so handhaben. Unter
digt zu entsprechen, doch bei Lukas fin- äußeren Beweisen versteht man meist
det die Predigt auf einem »ebenen Platz« Schriftsteller, die zeitlich näher an der
statt (Lk 6,17). Die Seligpreisungen be- Abfassung der Bücher gelebt haben,
schreiben den Charakter des idealen Bür- meist die Kirchenväter des 2. und 3. Jahr-
gers des Königreiches, während bei hunderts und einige wenige Häretiker
Lukas der Lebensstil derer beschrieben oder Irrlehrer. Diese zitieren oder spielen
wird, die Christi Jünger sind. auf bestimmte Bücher an und sagen uns
Lukas 6,40 scheint der gleiche Aus- manchmal direkt etwas über die Autoren
spruch wie Matthäus 10,24 zu sein. Aber und die Bücher, die uns interessieren.
in Matthäus ist Jesus der Meister und wir Wenn zum Beispiel Clemens von Rom
sind seine Jünger, während bei Lukas der am Ende des ersten Jahrhunderts den
Jünger der Lehrende ist, und der, den er 1. Korintherbrief zitiert, dann kann er
lehrt, ist der Schüler oder Jünger. In Mat- sicherlich keine Fälschung des 2. Jahr-
thäus 7,22 wird der Dienst für den König hunderts sein, die unter dem Namen des
betont, während Lukas 13,25-27 die Ge- Paulus veröffentlicht worden ist. Unter
meinschaft mit dem Meister beschreibt. inneren Beweisen verstehen wir den Stil,
Während Lukas 15,4-7 eine harsche die Wortwahl, die Geschichte und den
Abrechnung mit den Pharisäern ist, be- Inhalt eines Buches, um zu sehen, ob sie
schäftigt sich Matthäus in Kapitel 18,12. dem widersprechen, was äußere Doku-
13 mit den Kindern und Gottes Liebe zu mente und Autoren behaupten. Zum
ihnen. Beispiel unterstützt der Stil des Lukas-
Als nur Gläubige anwesend sind, evangeliums und der Apostelgeschichte
sagt Johannes: »Er wird euch mit Heili- die Annahme, daß der Autor ein kulti-
gem Geist taufen« (Mk 1,8; Joh 1,33). Als vierter heidnischer Arzt war.
bei ihm viele verschiedene Menschen In vielen Büchern wird der »Kanon«
sind, sagt er: »Er wird euch mit Heiligem oder die Liste der anerkannten Bücher zi-
Geist und mit Feuer taufen« (eine Taufe tiert, die der Häretiker Marcion im 2. Jahr-
des Gerichtes) (Matth 3,11; Lk 3,16). hundert aufgelistet hat. Er akzeptiert nur
Der Ausdruck »mit welchem Maß ihr eine gekürzte Version von Lukas und 10
meßt« bezieht sich in Matthäus 7,2 auf der Briefe von Paulus, doch ist er dennoch
unsere richtende Haltung gegenüber an- ein recht hilfreicher Zeuge, um festzustel-
deren, in Markus 4,24 auf unser Aneig- len, welche Bücher zu seiner Zeit schon
nung des Wortes und in Lukas 6,38 auf zum Allgemeingut gehörten. Der Murato-
unsere Großzügigkeit. rische Kanon (benannt nach dem italieni-
Diese Unterschiede sind also keine schen Kardinal Muratori, der das Doku-
Widersprüche, sondern gewollte, lehrrei- ment fand) ist eine orthodoxe, obwohl an
che, geistige Nahrung für den Verstand manchen Stellen unvollständige Liste der
des nachdenklichen Gläubigen. kanonischen christlichen Bücher.

Anmerkungen Handbook of Synonyms, Anonyms, and


Prepositions, S. 175.
1) James C. Fernald, Hrsg, Eintrag »Em- 2) William Kelly, An Exposition of the
blem« in: Funk & Wagnalls Standard Gospel of Luke, S. 16.

18
Das Evangelium nach Matthäus
»In der Breite der Konzeption und in der Kraft,
mit der umfangreiches Material einer großartigen Idee untergeordnet ist,
kann man keinen Schreiber des Alten oder Neuen Testamentes,
der ein historisches Thema behandelt, mit Matthäus vergleichen.«
Theodor Zahn

Einführung II. Verfasserschaft


Die äußerlichen Beweise sind sehr alt und
sagen aus, daß Matthäus, der Steuerein-
I. Die einzigartige Stellung im Kanon nehmer, der auch Levi genannt wurde,
Das Evangelium des Matthäus ist die das erste Evangelium geschrieben hat.
vollkommene Brücke zwischen dem Da er kein herausragendes Mitglied der
Alten und dem Neuen Testament. Schon Apostel war, würde es sehr seltsam an-
die ersten Worte führen uns zurück zum muten, hätte man ihm das erste Evange-
Vater des alttestamentlichen Volkes Got- lium zugeschrieben, wenn er in Wirklich-
tes, Abraham, und zum ersten großen keit nichts damit zu tun gehabt hätte.
König Israels, David. Mit seiner Empha- Neben einem alten Buch, das mit dem
se, der eindeutig jüdischen Prägung, den Namen »Didache« bezeichnet wird (Leh-
vielen Zitaten aus den hebräischen ren der zwölf Apostel), zitieren Justin der
Schriften bestens geeignet den Anfang Märtyrer, Dionysius von Korinth, Theo-
des Neuen Testaments zu bilden und mit philus von Antiochia und Athenagoras,
der Verbreitung der christlichen Bot- der Athener, das Evangelium als authen-
schaft in der Welt zu beginnen. tisch. Eusebius, der Kirchenhistoriker,
Matthäus hat seinen Platz schon lan- zitiert Papias, der gesagt hat: »Matthäus
ge an erster Stelle der Evangelien. Das stellte die logia in hebräischer Sprache
hat seine Ursache darin, daß man bis in zusammen, und jeder übersetzte sie so
unsere moderne Zeit hinein geglaubt gut er konnte.« Damit stimmen Irenäus,
hat, daß es als erstes geschrieben worden Tantäus und Origines grundlegend über-
sei. Auch machte der geordnete, klare ein. Mit »hebräisch« ist hier nach allge-
Stil des Matthäus es geeignet, im Gottes- meiner Auffassung der aramäische Dia-
dienst vorgelesen zu werden. Deshalb lekt gemeint, der von den Juden zur Zeit
war es immer das bekannteste Evange- Jesu benutzt wurde, da das Wort auch im
lium, das sich diesen Platz nur zeitwei- NT erscheint. Aber was sind die logia?
lig mit Johannes teilen mußte. Normalerweise bedeutet dieses Wort
Es ist nicht notwendig zu glauben, »Sprüche, Aussprüche«, wie etwa das
daß das Matthäusevangelium das erste AT die Aussprüche Gottes enthält. Das
war, welches geschrieben worden ist, um kann es aber in dem Zitat von Papias
noch immer »konservativ« zu denken. nicht bedeuten. Es gibt zu diesem Zitat
Dennoch waren die ersten Christen fast drei Hauptauffassungen:
alle jüdischer Abstammung, und Juden- 1. Es bezieht sich auf das Matthäus-
christen gab es zu Tausenden. Es scheint evangelium an sich. Das heißt, Mat-
also ganz logisch zu sein, daß ihre thäus schrieb eine aramäische Fas-
Bedürfnisse nach einem Evangelium sung, um die Juden für Christus zu
auch zuerst erfüllt wurden. gewinnen und die Judenchristen zu

19
Matthäus

erbauen. Später erschien dann eine Trotz dieser vielen, allgemeinen


griechische Fassung, die allein über- äußeren und den entsprechenden inne-
liefert worden ist. ren Beweisen lehnen die meisten libe-
2. Das Zitat bezieht sich nur auf Sprüche ralen Kommentatoren die traditionelle
von Jesus, die Matthäus später in sei- Ansicht ab, daß Matthäus, der Steuerein-
nem Evangelium verarbeitet hat. nehmer dieses Buch geschrieben hat. Sie
3. Es bezieht sich auf testimonia, d. h. auf verneinen seine Autorenschaft aus zwei
Zitate aus dem AT, die zeigen, daß Hauptgründen:
Jesus der Messias ist. Die Auffassun- Erstens, wenn man annimmt, daß
gen 1 und 2 sind wahrscheinlicher als Markus das erste Evangelium ist (in vie-
die Auffassung 3. len Kreisen heute unwidersprochenes
Das Griechisch, das Matthäus »Evangelium«), wie könnte ein Apostel
schreibt, liest sich nicht wie eine bloße und Augenzeuge so viel Material von
Übersetzung, doch muß eine so weitver- Markus verwenden (93 % von Markus
breitete Tradition (der in der Frühzeit findet sich auch in anderen Evangelien)?
niemand widersprochen hat) auf Tatsa- Darauf ist zu antworten, daß es nicht
chen basieren. Die Überlieferung berich- bewiesen ist, daß Markus das erste Evan-
tet, daß Matthäus fünfzehn Jahre lang in gelium ist. Alte Zeugnisse sagen, daß
Palästina gepredigt hat und dann weg- Matthäus als erster geschrieben hat, und
ging, um in fremden Ländern zu evange- da die ersten Christen fast ausschließ-
lisieren. Es ist möglich, daß er etwa um lich Juden waren, ist diese Aussage auch
45 n. Chr. den Juden, die Jesus als ihren sehr plausibel. Aber selbst wenn wir
Messias angenommen hatten, eine erste akzeptieren, daß Markus zuerst entstan-
Fassung seines Evangeliums (oder ein- den ist (und das nehmen auch viele kon-
fach der Aussprüche Jesu) in aramäischer servative Theologen an), könnte Mat-
Sprache hinterlassen hat, und später eine thäus anerkannt haben, daß Markus
griechische Fassung für den allgemeinen größtenteils die Erinnerungen seines
Gebrauch herausgegeben hat. Etwas Mitapostels, des dynamischen Simon
ähnliches kennen wir von Josephus, der Petrus wiedergegeben hat, wie die frühe
zur selben Zeit wie Matthäus lebte. Die- Kirchentradition meint (s. Einführung
ser jüdische Geschichtsschreiber schrieb zu Markus).
eine erste Fassung seines Jüdischen Krie- Das zweite Argument gegen die Ver-
ges auf aramäisch, die Endfassung jedoch fasserschaft des Matthäus (oder eines
auf Griechisch. Augenzeugen) ist, daß hier lebhafte
Die inneren Beweise des ersten Evan- Details fehlen. Markus, von dem nie-
geliums passen gut zu dem frommen mand annimmt, daß er den Dienst Jesu
Juden, der das AT liebt und als sorgfäl- persönlich miterlebt hat, erzählt in so far-
tiger Schriftsteller und Herausgeber be- bigen Einzelheiten, daß man den Ein-
gabt war. Als Beamter Roms mußte Mat- druck bekommt, er sei dabeigewesen.
thäus nicht nur die Sprache seines Volkes Wie konnte dann ein wirklicher Augen-
(Aramäisch), sondern auch die der Ver- zeuge so sachlich trocken schreiben? Das
waltungsbehörden (im oströmischen erklärt sich recht gut aus der Persönlich-
Reich sprach man Griechisch, nicht La- keit des Steuereinnehmers. Um mehr
tein) gut beherrschen. Die vielen Einzel- Platz für die Erörterungen des Herrn zu
heiten bei Zahlen, die Gleichnisse und haben, könnte Levi jedes nutzlose Detail
Ausdrücke, die sich auf das Geld bezie- einfach weggelassen haben. Das wäre
hen, passen gut zu einem Steuereinneh- insbesondere dann der Fall, wenn Mar-
mer. Ebenso paßt der ordentliche, deut- kus als erster geschrieben hätte und Mat-
liche Stil zu ihm. Goodspeed, ein libera- thäus gesehen hätte, daß die Erinnerun-
ler Kommentator, akzeptiert die Autor- gen des Petrus, die aus erster Hand
schaft des Matthäus teilweise wegen stammten, dort schon gut wiederge-
dieser bestätigenden inneren Beweise. geben waren.

20
Matthäus

III. Datierung In seinem Evangelium will Matthäus


Wenn die weitverbreitete Auffassung zeigen, daß Jesus der langerwartete Mes-
zutrifft, daß Matthäus zuerst eine sias Israels ist, der einzige rechtmäßige
aramäische Fassung seines Evangeliums Thronfolger Davids.
geschrieben hat (oder doch zumindest Das Buch behauptet nicht von sich,
der Aussprüche Jesu), dann würde ein eine vollständige Wiedergabe des Lebens
Datum um 45, fünfzehn Jahre nach der Jesu zu sein. Es beginnt mit dem Stamm-
Auferstehung, gut mit der Tradition baum und den frühen Jahren, und
übereinstimmen. Es könnte dann sein, springt dann zum Beginn seines öffent-
daß die reichhaltigere, kanonische Fas- lichen Dienstes, als er etwa dreißig Jahre
sung seines Evangeliums 50 oder 55 oder alt ist. Durch den Heiligen Geist geleitet
auch später fertiggestellt war. wählt Matthäus die Aspekte des Lebens
Die Auffassung, daß das Evangelium und Dienstes des Retters aus, die ihn als
notwendigerweise nach der Zerstörung Gottes Gesalbten (das ist die Bedeutung
Jerusalems geschrieben sein muß der Wörter »Christus« und »Messias«)
(70 n. Chr.) basiert größtenteils auf der ausweisen. Das Buch bewegt sich auf
Annahme, daß Jesus nicht in der Lage einen Höhepunkt zu: Die Verhandlung,
war, dieses zukünftige Ereignis im Detail der Tod, das Begräbnis, die Aufer-
vorauszusagen, und auf anderen ratio- stehung und die Himmelfahrt des Herrn
nalistischen Theorien, die die göttliche Jesus. Und in diesem Höhepunkt liegt
Inspiration mißachten oder bestreiten. natürlich die Grundlage für die Rettung
der Menschen. Deshalb ist das Buch ein
Evangelium – nicht so sehr, weil es zeigt,
IV. Hintergrund und Thema wie sündige Menschen errettet werden
Matthäus war ein junger Mann, als Jesus können, sondern weil es den Opfertod
ihn berief. Er war als Jude geboren und Christi beschreibt, durch den die Rettung
als Steuereinnehmer ausgebildet wor- erst ermöglicht wurde.
den und gab seinen Beruf auf, um Chri- Dieses Buch geht nicht auf alle
stus zu folgen. Ein Teil seines Lohnes Details ein und kann auch nicht alle theo-
dafür war, daß er einer der zwölf Apo- logischen Spitzfindigkeiten behandeln,
stel wurde. Ein anderer Teil war, daß er sondern es will versuchen, das eigen-
zum Schreiber des Evangeliums berufen ständige Bibelstudium und eigenes
wurde, daß wir als das erste kennen. Nachdenken zu fördern. Und sein wich-
Man ist allgemein der Auffassung, daß tigstes Ziel ist, im Herzen des Lesers die
Matthäus identisch mit Levi ist (Mk 2,14; Sehnsucht nach der Wiederkunft des
Lk 5,27). Königs zu wecken.

21
Matthäus 1

Einteilung VIII. Der König verkündigt eine neue


Zwischenzeit des Königreiches,
weil Israel ihn abgelehnt hat
I. Stammbaum und Geburt des (Kap. 13)
Messias-Königs (Kap. 1)
IX. Die unermüdliche Gnade des
II. Jugend des Messias-Königs
Messias wird mit wachsender
(Kap. 2)
Feindseligkeit beantwortet
III. Vorbereitung für den
(14,1 – 16,12)
messianischen Dienst und seine
Einsetzung (Kap. 3 und 4) X. Der König bereitet seine Jünger
IV. Die Verfassung des Königreiches vor (16,13 – 17,27)
(Kap. 5 – 7) XI. Der König unterrichtet seine
V. Die wunderbaren und mächtigen Jünger (Kap. 18 – 20)
Wunder des Messias. XII. Vorstellung und Ablehnung des
Die verschiedenen Reaktionen Königs (Kap. 21 – 23)
darauf (8,1 – 9,34)
XIII. Die Königsrede auf dem Ölberg
VI. Die Apostel des Messias-König
(Kap. 24 und 25)
werden nach Israel gesandt
(9,35 – 10,42) XIV. Das Leiden des Königs und sein
VII. Wachsender Widerstand und Tod (Kap. 26 und 27)
Ablehnung (Kap. 11 und 12) XV. Der Sieg des Königs (Kap. 28)

Kommentar vater Joseph das Recht auf den Thron


Davids geerbt hat.
Dieser Stammbaum zeichnet die
I. Der Stammbaum Jesu und die rechtmäßige Abstammung Jesu als König
Geburt des Messias-König (Kap. 1) von Israel auf; der Stammbaum im
Lukasevangelium zeigt die direkte Ab-
A. Der Stammbaum Jesu Christi stammung als Sohn Davids. Das Mat-
(1,1-17) thäus-Evangelium verfolgt die könig-
Wenn man das NT oberflächlich liest, liche Linie von David über seinen Sohn
dann kann das dazu führen, daß man und Thronfolger Salomo; Lukas verfolgt
sich wundert, warum es mit etwas die Blutsverwandschaft von David über
scheinbar so langweiligem wie mit einen anderen Sohn, Nathan. Dieser
einem Geschlechtsregister beginnt. Man Stammbaum schließt mit Joseph, dessen
könnte zu dem Schluß kommen, daß Adoptivsohn Jesus war; der Stammbaum
man es übergehen sollte, um zu in- in Lukas 3 listet wahrscheinlich die Vor-
teressanteren Abschnitten zu kommen, fahren Marias auf, deren leiblicher Sohn
weil man meint, daß diese Aufzählung er war.
von Namen nur eine geringe Bedeutung Ein Jahrtausend früher hatte Gott mit
hat. David eine Vereinbarung getroffen, die
Dennoch ist dieser Stammbaum von David aus an keine Bedingung
unverzichtbar. Er legt den Grundstein gebunden war. In ihr versprach Gott ihm
für alles Folgende. Wenn man nicht zei- ein Königreich, das für immer Bestand
gen kann, daß Jesus der rechtmäßige haben würde und außerdem eine unun-
Nachfahre der Königslinie Davids ist, ist terbrochene Abstammungslinie der
es unmöglich zu beweisen, daß er der Herrscher (Ps 89,4.36.37). Dieser Bund ist
Messias-König Israels ist. Matthäus nun in Christus erfüllt: Er ist der recht-
beginnt seinen Bericht genau an der rich- mäßige Thronerbe durch Joseph und der
tigen Stelle – mit dokumentarischen wirkliche Same durch Maria. Weil er für
Beweisen, daß Jesus durch seinen Stief- immer lebt, wird auch sein Reich für

22
Matthäus 1

immer bestehen und er wird für immer waren heidnischer Abstammung (Rahab
als Sohn Davids leben, der größer ist als und Ruth). Daß sie hier aufgeführt wer-
sein Vorbild. Jesus vereinigte in seiner den, ist eine Andeutung, daß das Kom-
Person die beiden einzigen Möglichkei- men Christi den Sündern die Errettung,
ten, auf den Thron Israels Anspruch zu den Heiden die Gnade bringen würde,
erheben (die rechtmäßige und die und daß in Christus alle Rassen- und
abstammungsmäßige); weil er noch Geschlechterschranken niedergerissen
immer lebt, kann es keinen geben, der werden.
ihm dieses Recht streitig machen kann. Interessant ist auch die Erwähnung
1,1-16 Die Eingangsformel »Buch des des Königsnamens Jojachin. In Jeremia
Geschlechts Jesu Christi, des Sohnes 22,30 spricht Gott einen Fluch über die-
Abrahams« ist ähnlich dem Ausdruck in sen Mann aus:
1. Mose 5,1: »Das ist das Buch der »So spricht der HERR: Schreibt diesen
Geschlechterfolge Adams.« Genesis Mann auf als kinderlos, als einen Mann,
führt den ersten Adam ein, Matthäus den dem nichts gelingt in seinen Tagen! Denn
zweiten Adam. Der erste Adam war das von seinen Nachkommen wird es nicht
Haupt der ersten oder materiellen einem gelingen, auf dem Thron Davids
Schöpfung. Christus, der zweite Adam, zu sitzen und weiterhin über Juda zu
ist das Haupt der neuen oder geistlichen herrschen.«
Schöpfung. Wenn Jesus wirklich der leibliche
Das Thema dieses Evangeliums ist Sohn Josephs gewesen wäre, dann wäre
»Jesus Christus«. Der Name Jesus zeigt er unter diesen Fluch gekommen. Doch
1)
ihn als Jahwe-Retter , sein Titel »Chri- mußte er der rechtmäßige Sohn Josephs
stus« (»Der Gesalbte«) weist ihn als den werden, damit der das Anrecht auf den
lang erwarteten Messias Israels aus. Der Thron Davids erben konnte. Das Pro-
Titel »Sohn Davids« ist mit der Rolle des blem wurde durch das Wunder der Jung-
Messias und des Königs im AT eng ver- frauengeburt gelöst: Jesus war durch
bunden. Der Titel »Sohn Abrahams« Joseph der rechtmäßige Thronerbe. Er war
zeigt unseren Herrn als den Einen, der leiblicher Sohn Davids durch Maria. Der
die endgültige Erfüllung des Verspre- Fluch über Jojachin traf nicht Maria oder
chens an den Stammvater des hebräi- ihre Kinder, da sie nicht von ihm
schen Volkes ist. abstammte.
Der Stammbaum ist in drei histori- 1,17 Matthäus lenkt die Aufmerk-
sche Abschnitte gegliedert, von Abra- samkeit auf die Tatsache, daß es in den
ham bis Jesse, von David bis Josia und drei Teilen des Stammbaumes jeweils
von Jojachin bis Joseph. Der erste Teil vierzehn Generationen gibt. Dennoch
führt bis zu David, der zweite behandelt wissen wir aus dem AT, daß hier einige
die Königszeit und der dritte hält die Namen in der Liste fehlen. Zum Beispiel
königliche Abstammungslinie vom Be- regierten zwischen Joram und Usia (V. 8)
ginn des Exils (nach 586 v. Chr.) bis Jesus Ahasja, Joas und Amazja als Könige
fest. (s. 2. Kön 8-14, 2. Chron 21-25).
Es gibt viele interessante Einzelheiten Die Stammbäume von Matthäus und
in dieser Liste. Zum Beispiel werden in Lukas scheinen sich in zwei Namen zu
diesem Abschnitt vier Frauen erwähnt: überschneiden: Schealtiel und Serubbabel
Thamar, Rahab, Ruth und Bathsesba, (die (Matth 1,12; Lk 3,27). Es ist seltsam, daß
Frau des Uria). Weil Frauen nur selten in Josephs und Marias Linien sich in diesen
den Stammbäumen im Osten erwähnt Männern vermischen und sich dann wie-
werden, ist es umso erstaunlicher, daß der trennen sollten. Es wird noch schwie-
diese Frauen hier erwähnt sind, ins- riger, wenn wir sehen, daß in beiden
besondere, weil zwei von ihnen Huren Evangelien Serubbabel ein Sohn Scheal-
waren (Thamar und Rahab), eine war tiels ist, während er in 1. Chronika 3,19 als
eine Ehebrecherin (Bathseba) und zwei Sohn des Pedajas aufgelistet wird.

23
Matthäus 1

Eine dritte Schwierigkeit ist, daß stattgefunden. In der Zeit des NT war
Matthäus 27 Generationen von David bis das Ehegelöbnis eine Art der Verlobung
Jesus aufzählt, während es bei Lukas 42 (die aber verpflichtender als eine heutige
sind. Auch wenn die Evangelisten ver- Verlobung war) und konnte nur durch
schiedene Stammbäume auflisten, eine Scheidung rückgängig gemacht
scheint es dennoch seltsam, daß wir werden. Obwohl ein verlobtes Paar bis
einen solchen Unterschied in der Genera- zur Eheschließung nicht zusammenleb-
tionenzahl haben. te, wurde Untreue eines Partners wie
Welche Haltung sollte jemand, der Ehebruch behandelt und mit dem Tode
die Bibel studiert, solchen Schwierigkei- bestraft.
ten und Diskrepanzen gegenüber ein- Während ihrer Verlobungszeit wurde
nehmen? Erstens ist unsere Grundan- die Jungfrau Maria durch ein Wunder
nahme, daß die Bibel das inspirierte Wort »von dem heiligen Geist« schwanger. Ein
Gottes ist. Deshalb kann es keine Fehler Engel hatte dieses wunderbare Ereignis
enthalten. Zweitens ist es unendlich, da Maria angekündigt: »Der Heilige Geist
es die Unendlichkeit Gottes widerspie- wird über dich kommen, und die Kraft
gelt. Wir können die fundamentalen des Höchsten wird dich überschatten«
Wahrheiten des Wortes Gottes verstehen, (Lk 1,35). Eine Atmosphäre von Verdäch-
aber wir können niemals alles begreifen, tigungen und Skandalsucht umgab
was es enthält. So führt uns unser Ansatz Maria. In der ganzen menschlichen
zu dem Schluß, daß das Problem mit die- Geschichte hatte es nie eine Jungfrauen-
sen Schwierigkeiten eher mit unserem geburt gegeben. Als die Leute deshalb
mangelnden Wissen als mit einer Fehl- eine unverheiratete Frau sahen, die
barkeit der Bibel zu tun hat. Biblische schwanger war, gab es für sie nur eine
Probleme sollten uns herausfordern, logische Erklärung.
nach Antworten zu forschen. »Gottes 1,19 Sogar Joseph kannte die wahre
Ehre ist es, eine Sache zu verbergen, die Erklärung für Marias Zustand noch
Ehre der Könige aber, eine Sache zu nicht. Er hätte aus zweierlei Gründen
erforschen« (Spr 25,2). über seine Verlobte entrüstet sein kön-
Sorgfältige Studien von Historikern nen: Erstens war es offensichtlich, daß sie
und Ausgrabungen von Archäologen ha- ihm untreu gewesen war, und zweitens
ben nicht zeigen können, daß die Be- würde er, der doch unschuldig war, der
hauptungen der Bibel falsch sind. Was Mittäterschaft angeklagt werden. Seine
uns schwierig und widersprüchlich er- Liebe zu Maria und sein Gerechtigkeits-
scheinen mag, hat alles eine Erklärung, sinn führten ihn zu der Entscheidung,
und diese Erklärungen sind voll von das Verlöbnis durch eine stille Scheidung
geistlicher Bedeutung und geistlichem zu lösen. Er wollte die öffentliche Schan-
Lohn. de meiden, die normalerweise mit einer
solchen Handlung verbunden war.
B. Die Geburt Jesu durch Maria 1,20 Während dieser freundliche und
(1,18-25) besonnene Mann seinen Plan faßte, um
1,18 »Die Geburt Jesu Christi« war Maria zu schützen, »da erschien ihm ein
anders als alle anderen Geburten, die in Engel des Herrn im Traum«. Der Gruß:
dem Stammbaum erwähnt sind. Hier fin- »Joseph, Sohn Davids« beabsichtigte
den wir die wiederholte Formulierung: zweifellos, das Bewußtsein seines könig-
»A zeugte B.« Aber hier haben wir die lichen Stammbaumes wieder wachzuru-
Aufzeichnung einer Geburt ohne fen, um ihn auf die ungewöhnliche An-
menschlichen Vater. Die Tatsachen dieser kunft des Messias-Königs vorzubereiten.
wunderbaren Empfängnis werden ein- Er sollte keine Bedenken haben, Maria zu
fach und würdig dargestellt. Maria war heiraten, sie war rein. Alle Verdächtigun-
dem Joseph zur Ehe versprochen wor- gen waren haltlos. Ihre Schwangerschaft
den, aber die Hochzeit hatte noch nicht war »von dem Heiligen Geist«.

24
Matthäus 1 und 2

1,21 Der Engel offenbarte dann das 1,25 Die Lehre, daß Maria ihr ganzes
Geschlecht des ungeborenen Kindes, sei- Leben Jungfrau geblieben ist, wird
nen Namen und seine Aufgabe. Maria widerlegt durch den Vollzug ihrer Hei-
sollte einen Sohn gebären. Er sollte den rat, die dieser Vers erwähnt. Andere Stel-
Namen »Jesus« tragen (das bedeutet len, die darauf hinweisen, daß Maria
»Der Herr ist Rettung« oder »der Herr, dem Joseph noch andere Kinder geboren
der Retter). Gemäß seinem Namen, wür- hat sind (Matth 12,46; 13,55.56; Mk 6,3;
de er »sein Volk erretten von seinen Sün- Joh 7,3.5; Apg 1,14; 1. Kor 9,5 und
den«. Dieses Kind war Jahwe selbst, der Gal 1,19).
die Erde besuchte, um Menschen von der Als Joseph Maria zur Frau nahm,
Strafe der Sünde, der Macht der Sünde nahm er auch ihr Kind als Adoptivsohn
und schließlich auch von der Anwesen- an. So wurde Jesus der rechtmäßige Erbe
heit der Sünde zu erretten. des Thrones Davids. Im Gehorsam gegen
1,22 Als Matthäus diese Ereignisse den Engel nannte er den Namen des Kin-
aufzeichnete, erkannte er, daß ein neues des Jesus.
Zeitalter in der Geschichte des Handelns So wurde der Messias-König gebo-
Gottes mit den Menschen heraufkam. ren. Der Ewige kam in die Zeit. Der All-
Die Worte einer messianischen Prophe- mächtige wurde zu einem kleinen Kind.
zeiung, die lange verborgen gewesen Der Herr der Herrlichkeit verhüllte diese
waren, hatten nun Leben gewonnen. Herrlichkeit in einem menschlichen Kör-
Jesajas rätselhafte Prophezeiung wurde per, und »in ihm wohnt die ganze Fülle
nun in dem Kind Marias erfüllt: »Dies der Gottheit leibhaftig« (Kol 2,9).
alles geschah aber, damit erfüllt würde,
was von dem Herrn geredet ist durch II. Die Jugend des Messias-Königs
den Propheten.« Matthäus bekräftigt die (Kap. 2)
göttliche Inspiration der Worte Jesajas,
die der Herr mindestens 700 Jahre v. Chr. A. Weise Männer kommen, um den
gesprochen hat. König anzubeten (2,1-12)
1,23 Die Prophezeiung in Jesaja 7,14 2,1.2 Man läßt sich leicht von den Zeitan-
beinhaltete die Voraussage einer einzig- gaben zu den Ereignissen rund um die
artigen Geburt (»Siehe, die Jungfrau wird Geburt Christi verwirren. Während Vers
schwanger werden«), das Geschlecht des 1 scheinbar anzeigt, daß Herodes ver-
Kindes (»und einen Sohn gebären«) und suchte, Jesus zu töten, als Maria und
den Namen des Kindes (»und wird sei- Joseph im Stall zu Bethlehem waren, wei-
nen Namen Emmanuel nennen«). Mat- sen uns die gesamten anderen Angaben
thäus fügt als Erklärung hinzu, daß auf die Zeit zwei Jahre später hin. Mat-
»Emmanuel« bedeutet: »Gott mit uns« thäus sagt in V. 11, daß Weise Jesus in
(s. a. Anmerkung Elberfelder Bibel). Es einem Haus besucht haben. Der Befehl
gibt keinen Hinweis darauf, daß Jesus des Herodes, alle Kinder unter zwei Jah-
auf Erden jemals »Emmanuel« genannt ren zu töten (V. 16) ist auch ein Hinweis
worden ist. Er wurde immer »Jesus« ge- auf eine nicht näher bezeichnete Zeit-
nannt. Dennoch enthält der Name Jesus spanne zwischen der Geburt und den
(s. o., zu V. 21) die Bedeutung »Gott mit hier berichteten Ereignissen.
uns«. Emmanuel kann auch eine Be- Herodes der Große war ein Nach-
zeichnung für Christus sein, die erst bei komme Esaus und deshalb ein alter
seiner zweiten Wiederkunft gebraucht Feind der Juden. Er hatte sich zum
werden wird. Judentum bekehrt, doch erfolgte diese
1,24 Durch das Eingreifen des Engels Bekehrung wahrscheinlich aus poli-
ließ Joseph seinen Plan fallen, sich von tischen Gründen. Gegen Ende seiner
Maria scheiden zu lassen. Er hielt an Regierungszeit kamen weise Männer aus
ihrem Verlöbnis bis zur Geburt Jesu fest dem Morgenland, um »den König der
und heiratete sie dann. Juden« zu suchen. Diese Männer könn-

25
Matthäus 2

ten heidnische Priester gewesen sein, glieder seiner Familie). Die Schriftgelehr-
deren Religion sich um die Verehrung ten waren Laien, die das Gesetz des Mose
der Natur drehte. Wegen ihres Wissens besonders gut kannten. Sie bewahrten
und ihrer seherischen Fähigkeiten wur- und lehrten das Gesetz und dienten im
den sie oft als Berater von Königen Sanhedrin als Richter. Diese Priester und
beschäftigt. Wir wissen nicht, wo sie im Schriftgelehrten zitierten sofort Micha
Osten wohnten, wie viele es waren und 5,1.2, der Bethlehem im Land Juda als
wie lang ihre Reise dauerte. Geburtsort des Königs angibt. Der Text
Es war »der Stern im Morgenland«, des Propheten Micha nennt die Stadt
der sie irgendwie auf die Geburt eines »Bethlehem Ephrata«. Weil es in Palä-
Königs aufmerksam machte, den sie stina mehr als eine Stadt gab, die Beth-
anbeten wollten. Möglicherweise kann- lehem hieß, bezeichnet das eine Stadt im
ten sie die Prophezeiungen des AT über Gebiet von Ephrata in den Stammesgren-
die Ankunft des Messias. Vielleicht zen Judas.
kannten sie auch die Prophezeiung Bile- 2,7.8 König Herodes berief die Weisen
ams, daß ein Stern aus Jakob hervortre- heimlich um »die Zeit der Erscheinung
ten würde (4. Mose 24,17) und verban- des Sternes« herauszufinden. Diese
den diese mit der Prophezeiung der 70 Heimlichtuerei verrät seinen sadisti-
Wochen, die die Zeit des ersten Kom- schen Plan: Er brauchte diese Informa-
mens Christi voraussagte (Dan 9,24.25). tion, wenn er das richtige Kind finden
Doch ist es wahrscheinlicher, daß ihnen wollte. Um sein wirkliches Vorhaben zu
dieses Wissen auf übernatürliche Weise vertuschen, sendet er die Magier, um
offenbart wurde. nach dem Kind zu forschen und ihm
Verschiedene Erklärungen wurden davon zu berichten, wenn sie ihn finden
zu dem Stern gegeben. Einige sagen zum würden.
Beispiel, daß der Stern eine Planetenkon- 2,9 Als die Weisen sich auf den Weg
junktion war. Aber der Weg dieses Ster- machten, erschien »der Stern wieder, den
nes am Himmel war äußerst unregel- sie im Morgenland gesehen hatten«. Das
mäßig, denn er ging vor den Weisen her bedeutet, daß er sie nicht den Ganzen
und führte sie von Jerusalem zu dem weg vom Morgenland geführt hatte.
Haus, in dem Jesus lebte (V. 9). Dann Aber nun leitete er sie zu dem Haus, »wo
hielt er. Das ist so unnatürlich, daß man das Kindlein war«.
dies nur für ein Wunder halten kann. 2,10 Es wird hier besonders erwähnt,
2,3 »Als aber der König Herodes es daß sich die Weisen »mit sehr großer
hörte«, daß ein Kind geboren sei, das der Freude freuten, als sie den Stern sahen«.
König der Juden sein sollte, »wurde er Diese Heiden hatten eifrig nach Christus
bestürzt«. Wenn es solch ein Kind gäbe, gesucht, Herodes wollte ihn töten, die
dann würde es seinen Thron gefährden. Priester und die Schriftgelehrten waren
Ganz Jerusalem mit ihm war bestürzt. (noch) gleichgültig und die Bevölkerung
Die Stadt, die diese Nachricht voller Jerusalems war bestürzt. Diese Haltun-
Freude hätte aufnehmen sollen, ließ sich gen Christus gegenüber waren Vorzei-
durch alles in Aufregung versetzen, was chen darauf, wie der Messias empfangen
ihren derzeitigen Zustand verändern werden würde.
oder das Mißfallen der gehaßten römi- 2,11 Als sie das Haus betreten hatten,
schen Herrscher heraufbeschwören »sahen sie das Kindlein mit Maria, seiner
konnte. Mutter. Sie fielen nieder und huldigten
2,4-6 Herodes versammelte sich ihm« und boten ihm kostbare Schätze an:
gemeinsam mit den religiösen Führern, »Gold, Weihrauch und Myrrhe.« Man
um herauszufinden, »wo der Christus beachte, daß sie Jesus mit seiner Mutter
geboren werden solle«. Die Hohenprie- sahen. Normalerweise würde man
ster waren der Hohepriester und seine zuerst die Mutter und dann das Kind
Söhne (und vielleicht noch andere Mit- erwähnen, doch dieses Kind ist einzig-

26
Matthäus 2

artig und muß den ersten Platz haben setzten Stunde. Jeder, der in Gottes Wil-
(s. a. V. 13.14.20.21). Die Weisen beteten len wandelt, ist unsterblich, bis er seine
Jesus an, nicht Maria oder Joseph (Joseph Aufgabe erfüllt hat. Ein Engel des Herrn
wird hier nicht einmal erwähnt. Er wird forderte Joseph im Traum auf, mit seiner
sehr bald nicht mehr in diesem Evan- Familie nach Ägypten zu fliehen. Hero-
gelium erscheinen). Es ist Jesus, dem des war bereit, seine Such- und Zer-
unser Lob und unsere Anbetung ge- störungsaktion durchzuführen. Wegen
bührt, nicht Maria oder Joseph. des Zornes des Herodes wurde die Fami-
Die Schätze, die sie brachten, spre- lie zu Flüchtlingen. Wir wissen nicht, wie
chen Bände. Gold ist das Symbol der lange sie in Ägypten blieben, aber nach
Gottheit und Herrlichkeit, es spricht von dem Tode des Herodes war der Weg frei
der glänzenden Vollkommenheit der für die Rückkehr in ihre Heimat.
göttlichen Person Jesu. Weihrauch ist eine 2,15 So bekam eine andere Prophezei-
Salbe oder ein Parfum, es bedeutet den ung des AT eine ganz neue Bedeutung.
Wohlgeruch des Lebens der sündlosen Gott hatte »durch den Propheten« Hosea
Vollkommenheit. Myrrhe ist ein Bitter- gesagt: »Aus Ägypten habe ich meinen
kraut; es sagt seine Leiden voraus, die er Sohn gerufen« (Hos 11,1). In ihrem
zu ertragen hat, wenn er die Sünden der ursprünglichen Zusammenhang bezieht
Welt tragen wird. Daß hier Heiden sich diese Aussage auf den Auszug Is-
Geschenke bringen, erinnert an Jesaja raels aus Ägypten zur Zeit des 2. Buches
60,6. Jesaja sagte voraus, daß die Heiden Mose. Aber diese Aussage kann zwei
mit Geschenken kommen würden, doch Bedeutungen haben – die Geschichte des
erwähnte er nur Gold und Weihrauch: Messias würde der des Volkes Israels
»Gold und Weihrauch tragen sie, und sie sehr ähneln. Die Prophetie erfüllte sich
werden das Lob des HERRN [fröhlich] im Leben Christi, als er von Ägypten
verkündigen.« Warum wurde die Myr- nach Israel zurückkehrte.
rhe hier ausgelassen? Weil Jesaja von der Wenn der Herr wiederkommen
Wiederkunft Christi in Kraft und Herr- wird, um in Gerechtigkeit zu regieren,
lichkeit sprach. Dann wird es keine Myr- dann wird Ägypten unter den Ländern
rhe mehr für ihn geben, denn dann wird sein, die an den Segnungen des Tau-
er nicht leiden. Aber in Matthäus wird sendjährigen Reiches teihaben werden
die Myrrhe erwähnt, weil hier sein erstes (Jes 19,21-25; Zeph 3,9.10; Ps 68,31). War-
Kommen im Blickpunkt steht. In Mat- um sollte diese Nation, die seit alters her
thäus haben wir die Leiden des Christus; ein Feind Israels war, so bevorzugt wer-
in der Stelle bei Jesaja haben wir die fol- den? Könnte das ein Zeichen der gött-
genden Herrlichkeiten. lichen Dankbarkeit sein, daß Ägypten
2,12 Die Weisen »empfingen im dem Herrn Jesus Zufluchtsort gewesen
Traum göttliche Weisung, nicht wieder ist?
zu Herodes zurückzukehren«, und so
reisten sie gehorsam einen anderen Weg C. Der Kindermord des Herodes in
nach Hause. Niemand, der Christus mit Bethlehem (2,16-18)
einem ehrlichen Herzen begegnet, kehrt 2,16 Als die Weisen nicht zurückkamen,
je den gleichen Weg zurück. Die Begeg- erkannte Herodes, daß er in seinem Vor-
nung mit Jesus verändert das ganze haben, den jungen König zu finden, hin-
Leben. tergangen worden war. In einem sinn-
losen Wutausbruch ordnet er an, »alle
B. Joseph, Maria und Jesus fliehen Knaben zu töten, die in Bethlehem und in
nach Ägypten (2,13-15) seinem ganzen Gebiet waren, von zwei
2,13.14 Schon von Geburt an schwebte Jahren und darunter«. Die Schätzungen,
immer die Todesdrohung über unserem wie viele Kinder getötet wurden, gehen
Herrn. Es ist klar, daß er geboren wurde, auseinander. Ein Kommentator schlägt
um zu sterben, doch nur zu der festge- eine Zahl von ca. 26 vor. Es ist nicht

27
Matthäus 2 und 3

wahrscheinlich, daß Hunderte getötet hebräische Wort, das mit »Sproß« über-
wurden. setzt wird, lautet nezer.
2,17.18 Das Weinen, das auf die Eine wahrscheinlichere Deutung
Ermordung der Kinder folgte, war eine wäre, daß mit Nazoräer jemand gemeint
Erfüllung der Worte des Propheten Jere- ist, der aus Nazareth stammt, eine Stadt,
mia: die vom Rest der Bevölkerung verachtet
»So spricht der HERR: Horch! In Rama wurde. Nathanael drückt das durch die
hört man Totenklage, bitteres Weinen. damals sprichwörtliche Frage aus:
Rahel beweint ihre Kinder. Sie will sich »Kann aus Nazareth etwas Gutes kom-
nicht trösten lassen über ihre Kinder, men?« (Joh 1,46). Der Spott, mit dem die-
weil sie nicht mehr [da] sind« (Jer 31,15). se Stadt betrachtet wurde, traf auch ihre
In der Prophezeiung steht Rahel für Einwohner. Wenn es deshalb in Vers 23
das Volk Israel. Die Trauer der Nation heißt: »Er wird Nazoräer genannt wer-
wird Rahel zugeschrieben, die in Rama den«, heißt das, daß er verachtet werden
(in der Gegend von Bethlehem, wo das würde. Auch wenn wir keine Prophezei-
Massaker stattfand), begraben liegt. Weil ung finden können, daß Jesus Nazoräer
die ihrer Kinder beraubten Eltern an genannt wird, so gibt es doch eine, die
ihrem Grab vorbeigingen, wird sie dar- von ihm sagt er würde »verachtet und
gestellt, als weine sie mit ihnen. Mit sei- von den Menschen verlassen« werden
nem Bemühen, diesen neuen Rivalen (Jes 53,3). Eine andere sagt, er sei ein
auszuschalten, erreichte Herodes nichts Wurm und kein Mensch, ein Spott der
anderes, als daß er seinen Platz in der Leute und verachtet vom Volk (Ps 22,7).
Geschichte der Schändlichkeit bekam. Die Propheten benutzten also nicht die
genauen Worte, wie sie hier stehen, doch
D. Joseph, Maria und Jesus lassen sich dem Sinn nach entspricht V. 23 diesen
in Nazareth nieder (2,19-23) Prophezeiungen.
2,19-23 Joseph wurde nach dem Tod des Es ist erstaunlich, daß der allmäch-
Herodes durch einen Engel versichert, tige Gott, als er zur Erde kam, einen
daß es nun ungefährlich sei zurückzu- schmählichen »Spitznamen« erhielt. Wer
kehren. Als er das Land Israel erreichte, ihm folgt, hat das Vorrecht, seine
hörte er jedoch, daß Archelaus der Sohn Schmach zu tragen (Hebr 13,13).
des Herodes, die Nachfolge seines Vaters
als König von Judäa angetreten hatte. III. Vorbereitung für den
Joseph zögerte, in dieses Gebiet zu zie- messianischen Dienst und seine
hen, und reiste, nachdem »er im Traum Einsetzung (Kap. 3 und 4)
eine göttliche Weisung empfangen hat-
te«, die seine Befürchtungen bestätigte, A. Johannes der Täufer bereitet den
nach Norden »in die Gegenden von Weg (3,1-12)
Galiläa« und siedelte in Nazareth. Zwischen den Kapiteln 2 und 3 haben
Matthäus macht uns nun zum vierten wir eine Zeitspanne von 28 oder 29 Jah-
Male in diesem Kapitel darauf aufmerk- ren, über die Matthäus nichts berichtet.
sam, daß sich eine Prophezeiung erfüllte. Während dieser Zeit lebte Jesus in Naza-
Er erwähnt keinen der Propheten na- reth und bereitete sich auf sein Wirken,
mentlich, doch sagt er, daß der Prophet das vor ihm lag, vor. In diesen Jahren
vorhergesagt habe, daß der Messias vollbrachte er keine Wunder, doch gefiel
»Nazoräer genannt werden wird«. Kein sein Wandel Gott völlig (Matth 3,17).
Vers des AT sagt das direkt. Viele For- Unser Kapitel führt uns an die Schwelle
scher schlagen vor, daß Matthäus sich seines öffentlichen Dienstes.
hierbei auf Jesaja 11,1 bezieht: »Und ein 3,1.2 Johannes der Täufer war sechs
Sproß wird hervorgehen aus dem Monate älter als sein Vetter Jesus
Stumpf Isais, und ein Schößling aus sei- (s. Lk 1,26.36). Er betrat die Bühne der
nen Wurzeln wird Frucht bringen.« Das Geschichte als Vorläufer für den König

28
Matthäus 3

Israels. Sein ungewöhnliches Wirkungs- stus wiedergeboren sind. Das Reich der
feld lag »in der Wüste von Judäa« – eine Himmel in seinem inneren Bereich kann
Steppenregion, die sich von Jerusalem nur von Bekehrten erreicht werden
bis zum Jordan erstreckt. Die Botschaft (Matth 18,3).
des Johannes lautete: »Tut Buße, denn
das Reich der Himmel ist nahe gekom-
men!« Der König würde bald erscheinen, Bereich
er könnte und würde keine Menschen
regieren wollen, die an ihren Sünden
festhalten. Sie mußten die Richtung ihres
Lebens ändern, ihre Sünden bekennen Bereich
und von ihnen lassen. Gott rief sie aus der
dem Reich der Finsternis in das Reich der Bekehrten
Himmel.

Exkurs zum Reich der Himmel


In Vers 2 finden wir das erste Mal den der Bekenner
Ausdruck Reich der Himmel, der in die-
sem Evangelium 32mal verwendet wird.
Weil man Matthäus nicht richtig ver- Wenn wir alle Erwähnungen des Rei-
steht, wenn man diesen Begriff nicht ver- ches der Himmel in der Bibel zusammen
standen hat, sollten wir hier eine Be- sehen, können wir seine historische Ent-
griffsdefinition und -erklärung geben. wicklung in fünf Phasen darstellen:
Das Reich der Himmel ist ein Gebiet, Erstens wurde es im AT vorausgesagt.
in dem die Herrschaft Gottes anerkannt Daniel sagte voraus, daß Gott ein König-
wird. Das Wort »Himmel« bezieht sich reich errichten würde, das niemals zer-
auf Gott. Das sieht man in Daniel 4,22, stört oder von einer anderen Herrschaft
wo Daniel sagt, »daß der Höchste über abhängig werden würde (Dan 2,44). Er
das Königtum der Menschen herrscht«. sah auch die Ankunft Christi voraus, um
Im nächsten Vers betont er, daß »die dieses universelle und ewige Reich zu
Himmel« herrschen. Wo immer sich regieren (Dan 7,13.14; Jer 23,5.6).
Menschen der Herrschaft Gottes unter- Zweitens wurde das Reich von
stellen, besteht das Reich der Himmel. Johannes dem Täufer und auch von Jesus
Es gibt zwei Bereiche des Reiches der und den zwölf Jüngern als nahe oder
Himmel. Im weiteren Bereich beinhaltet gegenwärtig beschrieben (Matth 3,2; 4,17;
es jeden, der von sich sagt, daß er Gott als 10,7). In Matthäus 12,28 sagt Jesus:
den höchsten Herrscher anerkennt. Im »Wenn ich aber durch den Geist Gottes
engeren Bereich umfaßt es nur diejeni- die Dämonen austreibe, so ist also das
gen, die wirklich bekehrt sind. Wir kön- Reich Gottes zu euch gekommen.« In
nen das durch zwei konzentrische Kreise Lukas 17,21 sagt er: »Denn siehe, das
darstellen. Der große Kreis ist der Be- Reich Gottes ist inwendig in euch«
reich des Bekenntnisses. Er enthält alle, (LU 1912(Fn)) oder »mitten unter euch«
die wirkliche Untertanen des Königs (Elberfelder Bibel). Das Königreich war
sind, und auch die, die nur behaupten, in der Person des Königs anwesend. Wie
daß sie mit ihm verbunden sind. Das wir später zeigen werden, sind die Aus-
kann man in den Gleichnissen vom drücke »Reich der Himmel« und »Reich
Sämann (Matth 13,3-9), vom Senfkorn Gottes« oft untereinander austauschbar.
(Matth 13,31.32) und vom Sauerteig Drittens wird das Reich in einer Zwi-
(Matth 13,33) sehen. Der kleine Kreis in schenform beschrieben. Nachdem Jesus
der Mitte umfaßt diejenigen, die durch vom Volk Israel abgelehnt worden war,
den Glauben an den Herrn Jesus Chri- kehrte er in den Himmel zurück. Das

29
Matthäus 3

Reich existiert heute, während der König innerer Bereich kann nur von denen er-
abwesend ist, in den Herzen aller, die reicht werden, die wiedergeboren sind
sein Königtum anerkennen. Die ethi- (Joh 3,3.5).
schen und moralischen Prinzipien dieses Zum Schluß noch einen Punkt: Das
Reiches, einschließlich der Bergpredigt, Reich ist nicht mit der Kirche oder
sind auf uns heute anwendbar. Diese Gemeinde Gottes identisch. Das Reich
Zwischenzeit des Reiches wird in den begann, als Christus seinen öffentlichen
Gleichnissen in Matthäus 13 beschrieben. Dienst begann, die Gemeinde entstand
Die vierte Phase des Reiches können erst an Pfingsten (Apg 2). Das Reich wird
wir mit dem Wort Verwirklichung be- fortbestehen, bis die Erde zerstört wer-
schreiben. Die verwirklichte Form des den wird, die Gemeinde wird nur bis zur
Reiches ist die tausendjährige Herrschaft Entrückung (die Aufnahme oder Weg-
Christi auf Erden, die durch die Ver- nahme der Gemeinde von der Erde,
klärung Jesu dargestellt wurde, als er in wenn Christus vom Himmel herabsteigt
der Herrlichkeit seiner zukünftigen und alle Gläubigen mit sich nach Hause
Herrschaft erschien (Matth 17,1-8). Jesus nimmt – 1. Thess 4,13-18) auf der Erde
bezog sich auf diese Phase in Matthäus bleiben. Die Gemeinde wird mit Christus
8,11, als er sagte: »Ich sage euch aber, daß bei seiner zweiten Wiederkunft wieder-
viele von Osten und Westen kommen kehren und mit ihm als seine Braut regie-
und mit Abraham und Isaak und Jakob ren. Gegenwärtig sind diejenigen, die im
zu Tisch liegen werden in dem Reich der inneren Bereich des Königreiches sind,
Himmel.« gleichzeitig Glieder der Gemeinde.
Die endgültige Form wird das ewige
Reich sein. Es wird in 2. Petrus 1,11 als 3,3 Wenn wir nun zur Auslegung von
»das ewige Reich unseres Herrn und Matthäus 3 zurückkehren, wollen wir
Heilandes Jesus Christus« beschrieben. festhalten, daß der vorbereitende Dienst
Der Ausdruck »Reich der Himmel« des Johannes schon über 700 Jahre vor
findet sich nur im Matthäusevangelium, seiner Zeit von Jesaja vorausgesagt wor-
»Reich Gottes« dagegen wird in allen den war:
vier Evangelien benutzt. Praktisch gese- Eine Stimme ruft: In der Wüste bahnt
hen besteht zwischen beiden kein Unter- den Weg des Herrn! Ebnet in der Steppe
schied, denn über beide werden die glei- eine Straße für unseren Gott! (Jes 40,3)
chen Aussagen gemacht. In Matth 19,23 Johannes war die Stimme. Das Volk
sagt Jesus z. B., daß es für einen Reichen Israel war geistlich gesehen die Wüste –
schwer sei, in das Reich der Himmel zu leblos und unfruchtbar. Johannes rief das
gelangen. Markus (10,23) und Lukas Volk auf, »den Weg des Herrn« zu berei-
(18,24) schreiben, daß Jesus dasselbe ten, indem sie Buße wegen ihrer Sünde
über das »Reich Gottes« sagte (s. a. Matth taten, ihnen abschwörten und »seine
19,24, wo der Ausdruck »Reich Gottes« Pfade gerade machten«, indem sie alles
im gleichen Zusammenhang verwendet aus ihrem Leben verbannten, was seine
wird.) völlige Herrschaft verhindern könnte.
Wir haben bereits oben erwähnt, daß 3,4 Das Gewand des Täufers bestand
das Reich der Himmel einen äußeren aus Kamelhaaren – nicht die weichen,
und einen inneren Bereich hat. Da das luxoriösen Kamelhaarstoffe unserer Zeit,
gleiche für das Reich Gottes gilt, ist das sondern das rauhe Gewand eines Man-
ein weiterer Hinweis, daß die beiden nes, der ständig draußen lebt. Auch trug
Ausdrücke dasselbe bedeuten. Das Reich er einen ledernen Gürtel. Das war die
Gottes enthält ebenfalls die Echten und gleiche Kleidung, wie sie auch Elia trug
die Falschen. Das kann man in den (2. Kön 1,8), und diente vielleicht dazu,
Gleichnissen vom Sämann (Lk 8,4-10), die Israeliten in dem Glauben zu bestär-
vom Senfkorn (Lk 13,18.19) und vom ken, daß die Aufgabe von Elia und
Sauerteig (Lk 13,20,21) sehen. Auch sein Johannes die gleiche war (Mal 3,23;

30
Matthäus 3

Lk 1,17; Matth 11,14; 17,10-12). Johannes und ein wenig Furcht erzeugt. Wir müs-
aß »Heuschrecken und wilden Honig«, sen die Sünden lassen, von denen wir
die magere Speise eines Menschen, der umkehren, und in neuen, reinen Wegen
von seiner Aufgabe so in Anspruch der Heiligung wandeln«.
genommen wird, daß die normalen 3,9 Die Juden sollten aufhören, ihre
Annehmlichkeiten und Vergnügungen Abstammung von Abraham als Eintritts-
des Lebens für ihne keine Bedeutung karte für den Himmel zu betrachten. Die
mehr hatten. Gnade der Errettung wird nicht durch
Es muß ein überzeugendes, ein- eine natürliche Geburt vermittelt. Gott
drückliches Ereignis gewesen sein, konnte durch einen sehr viel einfacheren
Johannes zu begegnen – einem Men- Prozeß als den der Bekehrung der Pha-
schen, der nichts um die Dinge gab, für risäer und Sadduzäer aus den Steinen
die die Menschen üblicherweise leben. des Jordans »dem Abraham Kinder er-
Sein Aufgehen in geistlichen Realitäten wecken«.
muß andere dazu geführt haben zu 3,10 Indem er feststellte, daß »die Axt
erkennen, wie arm ihr Leben war. Seine an die Wurzel der Bäume gelegt« war,
Selbstverleugnung war eine betroffen sagt er, daß das göttliche Gericht bald
machende Anklage gegen die Verwelt- beginnen würde. Die Ankunft und Ge-
lichung seiner Zeitgenossen. genwart Christi würde alle Menschen
3,5.6 Menschen aus Jerusalem, ganz prüfen. Die als fruchtlos erkannten Bäu-
Judäa und aus dem Gebiet jenseits des me würden »abgehauen und ins Feuer
Jordan versammelten sich, um ihn zu hö- geworfen«.
ren. Einige dieser Menschen reagierten 3,11.12 In den Versen 7-10 hatte
auf seine Botschaft und »wurden von Johannes ausschließlich die Pharisäer
ihm im Jordan getauft« und sagten und Sadduzäer angesprochen (s. V. 7),
damit, daß sie bereit waren, dem kom- aber jetzt richtet er sich offensichtlich an
menden König treu und gehorsam zu sein ganzes Publikum, welches die Wah-
sein. ren und die Falschen umfaßt. Er erklärte,
3,7 Mit den Pharisäern und Saddu- es würde zwischen seinem und dem
zäern war es eine ganz andere Sache. Dienst des Messias, der bald kommen
Als sie kamen, um ihn zu hören, wußte sollte, wichtige Unterschiede geben.
Johannes, daß sie es nicht ehrlich mein- Johannes taufte »mit Wasser zur Buße«:
ten. Er erkannte ihre wahre Natur: die Das Wasser war ein zeremonielles Zei-
Pharisäer bekannten sich zum Gesetz, chen und konnte selbst nicht reinigen,
aber sie waren innerlich verdorben, sek- die Buße, auch wenn sie echt war, brach-
tiererisch, heuchlerisch und selbstge- te einem Menschen nicht die völlige
recht. Die Sadduzäer waren soziale Ari- Errettung. Johannes sah seinen Dienst als
stokraten und religiöse Skeptiker, die Vorbereitung und Stückwerk. Der Mes-
solche grundlegenden Lehren wie die sias würde Johannes vollkommen über-
der Auferstehung des Leibes, die Exi- treffen. Er würde stärker sein, er würde
stenz der Engel, die Unsterblichkeit der würdiger sein, und sein Werk würde
Seele und das ewige Gericht ablehnten. weiter reichen, denn er würde »mit Hei-
Deshalb bezeichnete er beide Sekten als ligem Geist und mit Feuer taufen«.
»Otternbrut«, die vorgaben, von dem Die Taufe mit dem Heiligen Geist
kommenden Zorn entfliehen zu wollen, unterscheidet sich von der Taufe mit
aber keine Zeichen wahrer Buße zeig- Feuer. Die erste ist eine Segenstaufe,
ten. während die andere eine Gerichtstaufe
3,8 Er forderte sie heraus ihre Ehrlich- ist. Die erste fand zu Pfingsten statt, die
keit zu zeigen, indem sie »der Buße wür- andere liegt noch in der Zukunft. Alle
dige Frucht« brächten. Wahre Buße führt wahren Christusgläubigen erfahren die
zu nichts, wie J. R. Miller schrieb, »wenn erste Taufe, die andere wird das Schick-
sie nur ein paar Tränen, ein bißchen Reue sal aller Ungläubigen sein. Die erste soll-

31
Matthäus 3 und 4

te für jene Israeliten bestimmt sein, deren Aber es gibt noch eine tiefere Bedeu-
Taufe ein äußeres Zeichen innerer Buße tung. Die Taufe war für ihn eine Hand-
war, die andere für die Pharisäer und lung, die symbolisieren sollte, wie er
Sadduzäer, die alle keine Anzeichen Gottes gerechte Ansprüche gegen den
einer echten Buße zeigten. sündigen Menschen erfüllen wollte. Das
Einige lehren, daß die Taufe mit dem Untertauchen schattete seine Taufe in
heiligen Geist und die Taufe mit Feuer den Wassern des Gerichtes Gottes vor-
dasselbe sind, d. h. könnte nicht die aus, die er auf Golgatha erleiden würde;
Feuertaufe auf die Feuerzungen hinwei- sein Herauskommen aus dem Wasser
sen, die erschienen, als der Geist zu Pfing- wies auf seine Auferstehung hin. Durch
sten auf die Erde kam? Im Licht von Vers Tod, Begräbnis und Auferstehung würde
12, der Feuer mit dem Gericht gleichsetzt, er die Ansprüche der Gerechtigkeit Got-
ist das sicherlich nicht der Fall. tes befriedigen und eine gerechte Basis
Sofort nach seiner Erwähnung der dafür schaffen, daß der Sünder gerecht-
Taufe mit dem Feuer spricht Johannes fertigt werden konnte.
vom Gericht. Der Herr wird in einem 3,16.17 Sobald er aus dem Wasser
Bild gezeigt, wie er eine Worfschaufel herauskam, sah Jesus den Geist Gottes
gebraucht, um den gedroschenen Weizen herabfahren »wie eine Taube und auf ihn
in den Wind zu werfen. Der Weizen kommen«. So wie Menschen und Dinge
(echte Gläubige) fällt sofort zu Boden im AT für heilige Zwecke durch das
und wird in die Scheune gebracht. Die »Öl der heiligen Salbung« ausgesondert
Spreu (die Ungläubigen) werden vom wurden, so wurde er durch den heiligen
Wind eine kleine Strecke weggetragen Geist zum Messias gesalbt.
und werden dann gesammelt und »mit Das war ein heiliges Ereignis, bei dem
unauslöschlichem Feuer« verbrannt. Das die Dreieinheit Gottes sichtbar wurde.
Feuer in Vers 12 bedeutet Gericht, und Der »geliebte Sohn« war anwesend, der
weil wir hier eine Erläuterung von Vers Heilige Geist in Form der Taube und die
11 haben, ist es einsichtig zu schließen, Stimme des Vaters wurde »aus den Him-
daß die Taufe mit Feuer eine Taufe des meln« gehört, die den Segen über Jesus
Gerichtes ist. aussprach. Es war ein bemerkenswertes
Ereignis, weil man Gott die Schrift zitie-
B. Johannes tauft Jesus (3,13-17) ren hörte: »Dieser ist mein geliebter
3,13 Jesus ging etwa 130 Kilometer von Sohn« (nach Ps 2,7), »an dem ich Wohl-
Galiläa an den unteren Jordan, um sich gefallen gefunden habe« (aus Jes 42,1).
von Johannes taufen zu lassen. Das zeigt, Das ist eines der drei Ereignisse, bei
wie wichtig er diese Zeremonie nahm denen der Vater vom Himmel in freu-
und es weist auf die Wichtigkeit der diger Anerkennung von seinem einzig-
Taufe für seine Nachfolger heute hin. artigen Sohn spricht (die anderen Stellen
3,14.15 Johannes erkannte, daß Jesus sind Matth 17,5 und Joh 12,28).
keine Sünden getan hatte, von denen er
hätte Buße tun müssen. Deshalb wehrt er C. Jesus wird durch Satan versucht
sich, ihn zu taufen. Es war das rechte (4,1-11)
Empfinden, das ihm sagte, daß die rich- 4,1 Es mag seltsam scheinen, daß »Jesus
tige Rangfolge gewesen wäre, wenn von dem Geist« in die Versuchung gelei-
Jesus ihn getauft hätte. Das stellt Jesus tet wurde. Warum sollte ihn der Heilige
nicht infrage, sondern wiederholt ein- Geist zu solch einer Begegnung führen?
fach seine Bitte als gebührenden Weg, Die Antwort lautet, daß diese Versu-
»alle Gerechtigkeit zu erfüllen«. Er wuß- chung notwendig war, um seine mora-
te, es war angemessen, daß er sich selbst lische Eignung zur Vollbringung des
in der Taufe mit den frommen Israeliten Werkes zu zeigen, um dessentwillen er
identifizierte, die gekommen waren, um auf diese Erde kam. Der erste Adam hat-
sich zur Buße taufen zu lassen. te bewiesen, daß er für das Reich unge-

32
Matthäus 4

eignet war, als er dem Widersacher im Verlockungen der Sünde konfrontiert zu


Garten Eden begegnete. Hier begegnet werden, aber es war ihm moralisch un-
nun der zweite Adam dem Teufel in möglich nachzugeben. Er konnte nur das
einer direkten Konfrontation und geht tun, was er den Vater tun sah (Joh 5,19),
aus dieser Begegnung als Sieger hervor. und es ist unmöglich, daß er den Vater je
Das griechische Wort, das mit »ver- sündigen sah. Er konnte aus eigener
suchen« oder »erproben« übersetzt wird, Macht nichts tun (Joh 5,30), und der Va-
hat zwei Bedeutungen: ter hätte nie zugelassen, daß er der Ver-
1. erproben oder beweisen (Joh 6,6; suchung nachgab.
2. Kor 13,5; Hebr 11,17) und Der Zweck der Versuchung war
2. zum Bösen auffordern. Der Teufel nicht, zu sehen, ob er sündigen würde,
versuchte ihn zu überlisten, etwas sondern zu beweisen, daß er selbst unter
Böses zu tun. außerordentlichem Druck nichts anderes
Mit der Versuchung unseres Herrn ist tun konnte als dem Wort Gottes zu ge-
ein tiefes Geheimnis verbunden. Unaus- horchen. Wenn Jesus als Mensch hätte
weichlich stellt sich die Frage: »Hätte er sündigen können, dann hätten wir das
sündigen können?« Wenn wir mit Problem, daß er auch im Himmel noch
»Nein« antworten, dann müssen wir die Mensch ist. Könnte er dort immer noch
weitere Frage stellen: »Wie konnte es sündigen? Offensichtlich nicht.
eine wirkliche Versuchung sein, wenn er 4,2.3 Nachdem Jesus vierzig Tage und
ihr nicht nachgeben konnte?« Wenn wir vierzig Nächte gefastet hatte, bekam er
mit »Ja« antworten, stehen wir vor dem Hunger. (Die Zahl vierzig wird in der
Problem, wie der menschgewordene Bibel oft im Zusammenhang der Erpro-
Gott sündigen kann. bung benutzt.) Dieses natürliche Bedürf-
Am wichtigsten ist es, sich vor Augen nis gab dem Versucher eine Gelegenheit,
zu halten, daß Jesus Christus Gott ist und die er bei vielen Menschen ausnutzen
Gott nicht sündigen kann. Es gilt aber, konnte. Er schlug Jesus vor, daß er seine
daß Jesus auch Mensch war; dennoch, Kraft, Wunder zu tun, einsetzte, um die
wenn wir sagen, daß er als Mensch zwar Steine der Wüste in Brotlaibe zu verwan-
sündigen konnte, nicht jedoch als Gott, deln. Mit seinen anfänglichen Worten:
dann entbehrt unsere Argumentation »Wenn du Gottes Sohn bist«, will Satan
jeder biblischen Grundlage. Die Schrei- keinen Zweifel andeuten. In Wirklichkeit
ber des NT betonen an verschiedenen bedeuten sie: »Weil du der Sohn Gottes
Stellen die Sündlosigkeit Christi. Paulus bist.« Satan spielt auf die Worte des Vater
schrieb, daß er »Sünde nicht kannte« bei der Taufe an: »Dieser ist mein gelieb-
(2. Kor 5,21); Petrus sagt, daß er »keine ter Sohn.« Er benutzt die griechische
2)
Sünde getan hat« (1. Petr 2,22); und Form, die nahelegt, daß die Behauptung
Johannes schreibt: »Sünde ist nicht in wahr ist und dadurch fordert er Jesus
ihm« (1. Joh 3,5). auf, seine Macht zu benutzen, um seinen
Jesus konnte, wie wir, von außen ver- Hunger zu stillen.
sucht werden: Satan kam mit Vorschlä- Den natürlichen Hunger zu stillen,
gen zu ihm, die dem Willen Gottes ent- indem man göttliche Kraft als Antwort
gegengesetzt waren. Aber in einem ist er auf die Aufforderung Satans einsetzt, ist
nicht wie wir: Er konnte nicht von innen direkter Ungehorsam gegen Gott. Der
versucht werden – er kannte keine sün- Vorschlag Satans hat seine Entsprechung
digen Lüste oder Bestrebungen, die aus in 1. Mose 3,6: (»gut zur Speise«). Johan-
ihm selbst kamen. Außerdem war in ihm nes klassifiziert diese Versuchungen als
nichts, das auf die Versuchungen des »Lust des Fleisches« (1. Joh 2,16). Die ent-
Teufels antworten würde (Joh 14,30). sprechende Versuchung in unserem
Obwohl Jesus zur Sünde nicht fähig Leben ist ein Leben zur Befriedigung der
war, war die Versuchung dennoch sehr natürlichen Bedürfnisse zu führen, einen
real. Es war für ihn möglich, mit den bequemen Weg zu wählen anstatt das

33
Matthäus 4

Reich Gottes und seine Gerechtigkeit zu zitiert: »Du sollst den Herrn, deinen
suchen. Der Teufel sagt uns: »Du mußt Gott, nicht versuchen« (s. 5. Mose 6,16).
doch leben, oder?« Gott hatte versprochen, den Messias zu
4,4 Jesus antwortete auf die Ver- bewahren, aber diese Garantie setzte
suchung, indem er das Wort Gottes voraus, daß er im Willen Gottes lebte.
zitiert. Das Beispiel unseres Herrn lehrt Diese Verheißung im Ungehorsam in
uns, daß wir nicht leben müssen, aber wir Anspruch zu nehmen würde bedeuten,
müssen unserem Herrn gehorchen! Brot Gott zu versuchen. Die Zeit würde schon
zu bekommen ist nicht das Wichtigste im noch kommen, daß Jesus als Messias
Leben. Der Gehorsam gegen jedes Wort erwiesen werden würde, aber zuerst
Gottes ist das Wichtigste. Da Jesus von mußte das Kreuz kommen. Der Opfer-
Gott nicht die Anweisung erhalten hatte, altar mußte dem Thron vorausgehen. Die
Steine zu Brot zu machen, wollte er nicht Dornenkrone kam vor der Krone der
aus eigenem Antrieb handeln und damit Herrlichkeit. Jesus wollte Gottes Zeit
Satan gehorchen, ganz gleich, wie groß abwarten und Gottes Willen erfüllen.
sein Hunger war. 4,8.9 In der dritten Versuchung nahm
4,5.6 Die zweite Versuchung fand in der Teufel Jesus auf einen sehr hohen
Jerusalem auf der Zinne des Tempels Berg mit und zeigte ihm alle Reiche der
statt. Der Teufel forderte Jesus auf, sich Welt. Er bot sie Jesus gegen seine An-
als spektakulären Beweis seiner Sohn- betung an. Obwohl die Versuchung
schaft hinabzuwerfen. Wieder wird mit etwas mit Anbetung zu tun hatte, einer
dem Wort »wenn« kein Zweifel ausge- Geistesübung, war es ein Versuch, un-
drückt, wie man daran sehen kann, daß seren Herrn zu verführen, die Herrscher-
Satan sich auf den Schutz bezieht, den macht über die Welt zu erlangen, indem
Gott dem Messias in Psalm 91,11.12 ver- er Satan anbetet. Die angebotene Beloh-
spricht. nung, alle Reiche der Welt mit ihrer Herr-
Die Versuchung für Jesus war, zu zei- lichkeit, sprach die Lust der Augen an
gen, daß er der Messias war, indem er (1. Joh 2,16).
eine sensationelle Handlung begeht. Er In gewissem Sinne gehören die Reiche
hätte Herrlichkeit ohne Leiden erreichen dieser Welt gegenwärtig dem Teufel. Von
können – er hätte das Kreuz umgehen ihm wird als dem »Gott dieser Welt«
und doch den Thron erlangen können. (2. Kor 4,4) gesprochen, und Johannes
Aber eine solche Handlung wäre gegen berichtet uns, daß »die ganze Welt in
den Willen Gottes gewesen. Johannes dem Bösen liegt« (1. Joh 5,19). Wenn
beschreibt diesen Reiz als den »Hochmut Jesus bei seiner Wiederkunft als König
des Lebens« (1. Joh 2,16). Er entspricht der Könige erscheint (Offb 19,16); dann
dem Baum, »der begehrenswert war, wird »das Reich dieser Welt« ihm ge-
Einsicht zu geben« (1. Mose 3,6) im Gar- hören (Offb 11,15). Jesus wollte den gött-
ten Eden. Beide waren Mittel, persön- lichen Zeitplan nicht außer Kraft setzen,
liche Verherrlichung ohne Achtung des und ganz bestimmt würde er Satan nie-
Willens Gottes zu erlangen. Diese Ver- mals anbeten!
suchung kommt zu uns in dem Verlan- Für uns besteht diese Versuchung in
gen, religiöse Auszeichnungen zu er- zweifacher Weise: indem wir unser geist-
ringen, ohne an der Gemeinschaft seiner liches Erstgeburtsrecht für die vergäng-
Leiden teilzuhaben. Wir suchen großar- liche Herrlichkeit dieser Welt verkaufen,
tige Dinge für uns selbst, wenn wir aber und indem wir das Geschöpf statt dem
Schwierigkeiten begegnen, dann rennen Schöpfer anbeten und ihm dienen.
wir weg und verstecken uns. Wenn wir 4,10 Zum dritten Mal widersteht
Gottes Willen mißachten und uns selbst Jesus der Versuchung, indem er das AT
erheben, dann versuchen wir Gott. benutzt: »Du sollst den Herrn, deinen
4,7 Wieder konnte Jesus dem Angriff Gott, anbeten und ihm allein dienen.«
widerstehen, indem er die Schriftstelle Anbetung und der Dienst, der sich dar-

34
Matthäus 4

aus ergibt, sind allein für Gott bestimmt. Königs, der gerade erst Johannes ins
Wenn er Satan anbeten würde, würde Gefängnis geworfen hatte. Indem er in
das darauf hinauslaufen, daß er ihn als das Galiläa der Heiden ging, zeigte er,
Gott anerkennen würde. daß seine Ablehnung durch die Juden
Die Reihenfolge der Versuchungen dazu führen würde, daß das Evangelium
wie sie Matthäus aufgeführt hat, unter- den Heiden gepredigt wird.
scheidet sich von der bei Lukas (Lk 4, 4,13 Jesus blieb in Nazareth, bis die
1-13). Einige haben entdeckt, daß die Rei- Bevölkerung ihn zu töten versuchte, weil
henfolge bei Matthäus der der Versu- er die Errettung der Heiden verkündigt
chungen des Volkes Israel in der Wüste hatte (s. Lk 4,16-30). Dann ging er nach
entspricht (2. Mose 16;17;32). Jesus zeig- Kapernaum am See Genezareth, in ein
te, daß er selbst in Schwierigkeiten ganz Gebiet, das ursprünglich von den Stäm-
anders als das Volk Israel reagierte. men Sebulon und Naftali bewohnt wur-
4,11 Als Jesus die Versuchungen de. Von dieser Zeit an wurde Kapernaum
Satans erfolgreich entkräftet hatte, ver- zu seinem Hauptquartier.
ließ ihn der Teufel. Versuchungen kom- 4,14-16 Der Umzug Jesu nach Galiläa
men oft in Wellen und nicht in ständiger war eine Erfüllung von Jesaja 9,1.2. Die
Folge. unwissenden, abergläubigen Heiden, die
Wir erfahren hier, daß Engel kamen in Galiläa wohnten, sahen ein großes
und ihm dienten, doch wird hier keiner- Licht – d. h. Christus, der das Licht der
lei Erklärung für diese übernatürliche Welt ist.
Hilfe gegeben. Das bedeutet vielleicht, 4,17 Von da an griff der Herr Jesus die
daß sie Jesus mit der materiellen Nah- Botschaft auf, die Johannes gepredigt
rung versorgten, die er sich nicht auf die hatte: »Tut Buße, denn das Reich der
Aufforderung Satans beschafft hatte. Himmel ist nahe gekommen!« Es war ein
Aus der Versuchung Jesu können wir weiterer Ruf zu moralischer Erneuerung
lernen, daß Satan zwar die Menschen, als Vorbereitung für sein Königreich. Das
die durch den Geist Gottes regiert wer- Reich war nahe in dem Sinne, daß der
den, versuchen kann, daß er aber gegen- König nun anwesend war.
über denen machtlos ist, die ihm mit dem
Wort Gottes Widerstand leisten. E. Jesus beruft vier Fischer (4,18-22)
4,18.19 In Wirklichkeit werden Petrus
D. Jesus beginnt seinen Dienst in und Andreas hier zum zweiten Mal beru-
Galiläa (4,12-17) fen. In Johannes 1, 35-42 wurden sie zur
Der Dienst Jesu in Juda, der etwa ein Jahr Errettung berufen, hier werden sie zum
dauerte, wird von Matthäus nicht er- Dienst berufen. Petrus und Andreas
wähnt. Dieses eine Jahr wird in Johannes waren Fischer, doch Jesus berief sie zum
1-4 behandelt und liegt zeitlich zwischen Menschenfischen. Ihre Aufgabe war es,
Matthäus 4,11 und 4,12. Matthäus führt Christus zu folgen. Seine Aufgabe war
uns von der Versuchung direkt zum es, sie zu erfolgreichen Fischern zu
Dienst in Galiläa. machen. Ihre Nachfolge bestand nicht
4,12 »Als er aber gehört hatte, daß nur darin, Jesus im physischen Sinne
Johannes der Täufer ins Gefängnis ge- nahe zu sein. Sie sollten dem Herrn im
worfen worden war«, erkannte er, daß Charakter ähnlich werden, einen Dienst
dies ein Vorzeichen seiner eigenen Ab- charakterlicher Stärke tun. Was sie
lehnung war. Wenn das Volk den Vorläu- waren, war wichtiger als das, was sie
fer des Königs ablehnte, dann lehnten sie sagten oder taten. Ebenso wie Petrus und
damit praktisch auch den König ab. Aber Andreas sollen wir der Versuchung
es war nicht Angst, die ihn nach Norden widerstehen, echtes geistliches Leben
nach Galiläa trieb. In Wirklichkeit begab durch Beredsamkeit, Persönlichkeit oder
er sich in die Mitte des herodianischen schlaue Argumente zu ersetzen. Indem
Reiches – in das Reich des gleichen er Christus nachfolgt, lernt der Jünger

35
Matthäus 4

dorthin zu gehen, wo die Fische schwim- Die Grundlage des Evangeliums ist
men, den rechten Köder zu benutzen, das Werk Christi am Kreuz (1. Kor 15,
Unannehmlichkeiten zu ertragen, gedul- 1-4). Unser Retter erfüllte die Forderun-
dig zu sein und sich selbst im Hinter- gen der Gerechtigkeit und machte es so
grund zu halten. für Gott möglich, gläubige Sünder zu
4,20 Petrus und Andreas hörten den rechtfertigen. Die Gläubigen des AT
Ruf und folgten sofort. In echtem Glau- wurden durch das Werk Christi gerettet,
ben verließen sie ihre Netze. In treuer obwohl es noch in der Zukunft lag. Sie
Hingabe folgten sie Jesus nach. wußte wahrscheinlich nicht viel vom
4,21.22 Der nächste Ruf erreichte Messias, aber Gott wußte davon – und er
Jakobus und Johannes. Auch sie wurden rechnete ihnen die Verdienste Christi an.
sofort Jünger. Sie verließen nicht nur ihre In gewissem Sinne wurden sie »auf Ver-
Arbeitsstätte, die ihnen den Lebensun- trauen« errettet. Auch wir sind durch das
terhalt sicherte, sondern auch ihren Werk Christi gerettet, doch in unserem
Vater. Dadurch bekannten sie, daß Jesus Falle ist das Werk bereits vollbracht.
die erste Priorität vor allen irdischen Bin- Das Evangelium wird nur durch den
dungen hatte. Glauben empfangen (Eph 2,8). Im AT
Indem sie dem Ruf Christi folgten, wurden die Menschen gerettet, indem sie
wurden diese Fischer Schlüsselfiguren allem vertrauten, was Gott ihnen auch
in der Evangelisation der Welt. Wären immer anordnen würde. In unserem Zeit-
sie bei ihren Netzen geblieben, hätten alter werden die Menschen gerettet durch
wir nie etwas von ihnen gehört. Es ist in den Glauben an das Zeugnis seines Soh-
dieser Welt ein großer Unterschied, ob nes als den einzigen Erlösungsweg (1. Joh
man die Herrschaft Jesu anerkennt oder 5,11.12). Das Endziel des Evangeliums ist
nicht. der Himmel. Wir haben die Hoffnung auf
die Ewigkeit im Himmel (2. Kor 5,6-10)
F. Jesus heilt eine große Menge genauso, wie sie die Heiligen des AT hat-
(4,23-25) ten (Hebr 11,10.14-16).
Der Dienst des Herrn Jesus war drei- Während es nur ein Evangeliums gibt,
facher Art: Er lehrte Gottes Wort in den gelten zu verschiedenen Zeiten unter-
Synagogen, er predigte das Evangelium schiedliche Aspekte des Evangeliums.
vom Reich und er heilte die Kranken. Ein Zum Beispiel werden im Evangelium des
Grund für seine Wunder war, daß er sich Reiches andere Dinge betont als im Evan-
durch diesen Dienst als Messias auswei- gelium von der Gnade Gottes. Das Evan-
sen mußte (Hebr 2,3.4). Kapitel 5 – 7 sind gelium vom Reich Gottes sagt: »Tut Buße
ein Beispiel für seinen Lehrdienst und und empfangt den Messias, dann werdet
die Kapitel 8 und 9 für seinen Dienst ihr in das Reich Gottes eingehen, wenn es
durch Wunder. auf die Erde kommt.« Das Evangelium
4,23 In Vers 23 wird das erste Mal im der Gnade sagt: »Tut Buße und empfangt
NT das Wort »Evangelium« verwendet. Christus, dann werdet ihr zu ihm hin ent-
Der Ausdruck bedeutet: »gute Nachricht rückt und allezeit beim Herrn sein.«
von der Errettung«. In jedem Zeitalter Grundsätzlich ist es das gleiche Evange-
der Weltgeschichte hat es nur ein Evan- lium – Rettung aus Gnade durch den
gelium und einen Weg zur Rettung ge- Glauben – aber hier zeigt sich, daß es ver-
geben. schiedene Handhabungen des Evange-
liums gibt, die den Zielen Gottes in den
verschiedenen Zeitaltern entsprechen.
Exkurs zum Evangelium Als Jesus das Evangelium vom Reich
Das Evangelium hat seinen Ursprung in Gottes predigte, kündigte er sein Kom-
der Gnade Gottes (Eph 2,8). Das heißt, men als König der Juden an und erklärte
daß Gott ewiges Leben an Sünder ver- die Bedingungen, unter denen man in
schenkt, die es nicht verdient haben. sein Reich aufgenommen wurde. Seine

36
Matthäus 4 und 5

Wunder zeigten das ganzheitliche Wesen spielungen auf den Rat (d. h. den Sanhe-
3)
des Reiches. drin) in 5,22, auf den Altar (5,23.24) und
auf Jerusalem (5,35) sehen kann. Doch
4,24.25 Sein Ruhm verbreitete sich in wäre es falsch zu sagen, daß ihre Lehre
ganz Syrien (das Gebiet nördlich und sich ausschließlich auf die gläubigen
nordöstlich von Israel). Alle Leidenden, Israeliten in der Vergangenheit oder Zu-
Besessenen und Gelähmten erfuhren sei- kunft bezieht. Sie ist für alle bestimmt,
ne heilende Berührung. Die Menschen die Jesus als König anerkennen.
strömten von Galiläa, aus dem Zehnstäd-
tegebiet (ein Zusammenschluß von zehn A. Die Seligpreisungen (5,1-12)
heidnischen Städten in Nordost-Palä- 5,1.2 Die Predigt beginnt mit den Selig-
stina), aus Jerusalem, Judäa und aus dem preisungen. Diese stellen uns den Ideal-
Gebiet von jenseits des Jordans. Es war, bürger des Königreiches Christi vor. Die
wie B. B. Warfield schrieb: »Krankheit Eigenschaften, die hier beschrieben und
und Tod müssen in diesem Gebiet für empfohlen werden, entsprechen dem
kurze Zeit fast nicht mehr vorhanden Gegenteil der weltlich anerkannten Wer-
gewesen sein.« Kein Wunder, daß die te. A. W. Tozer beschreibt sie so: »Eine
Öffentlichkeit sehr verwundert war über einigermaßen genaue Beschreibung der
die Berichte, die man aus Galiläa zu Menschheit für jemanden, der sie nicht
hören bekam! kennt, wäre, wenn man die Seligpreisun-
gen nehmen würde, sie auf den Kopf
IV. Die Verfassung des Reiches stellte und sagen würde: Schau, das ist
(Kap. 5 – 7) die menschliche Rasse.«
Es ist kein Zufall, daß die Bergpredigt am 5,3 Die erste Seligpreisung wird über
Anfang des Neuen Testaments steht. Ihr die »Armen im Geist« ausgesprochen.
Platz zeigt, wie wichtig sie ist. In ihr faßt Das bezieht sich nicht auf eine natürliche
der König den Charakter und das Verhal- Eigenschaft, sondern auf einen Zustand,
ten zusammen, das er von seinen Unter- dem man sich absichtlich unterworfen
tanen erwartet. hat. Die Armen im Geist sind die, welche
Diese Predigt ist keine Darstellung ihre eigene Hilflosigkeit erkannt haben
eines Errettungsplanes. Auch ist ihre und sich auf Gottes Allmacht verlassen.
Lehre nicht für Menschen bestimmt, die Sie wissen um ihre geistliche Bedürftig-
nicht errettet sind. Sie wurde an die Jün- keit und den Herrn, der ihren Mangel
ger gerichtet (5,1.2), und sollte eine Ver- ausfüllt. Diesen Menschen gehört das
fassung darstellen oder, mit anderen Reich der Himmel, in dem Selbstzufrie-
Worten, das Gesetzes- und Prinzipien- denheit eine Untugend und Eigenlob ein
system, das für die Untertanen des Laster ist.
Königs während seiner Herrschaft gelten 5,4 Die Trauernden sind glückselig,
sollte. Die Bergpredigt ist für alle diejeni- denn ein Tag des Trostes erwartet sie. Das
gen bestimmt – ob in der Vergangenheit, bezieht sich jedoch nicht auf Trauer, die
Gegenwart oder Zukunft –, die Christus durch die Wechselfälle des Lebens ver-
als König anerkennen. Als Christus auf ursacht ist. Gemeint ist der Schmerz, den
der Erde war, fand sie auf seine Jünger man wegen seiner Gemeinschaft mit
direkte Anwendung. Jetzt, während dem Herrn Jesus erfährt. Das bedeutet,
unser Herr im Himmel regiert, gilt sie für daß man die Verletzung durch die Sünde
alle, die ihn in ihren Herzen zum König mit Jesus teilt. Deshalb gehört dazu nicht
gekrönt haben. Schließlich wird sie eine nur Schmerz wegen der eigenen Sünde,
Verhaltensanweisung für die Nachfolger sondern auch Schmerz wegen des
Christi in der Trübsalszeit und während schrecklichen Zustandes der Welt, we-
seiner Herrschaft auf der Erde sein. gen ihrer Ablehnung des Retters und
Die Predigt hat eine besonders jüdi- wegen des Schicksals derer, die seine
sche Prägung, wie man in den An- Barmherzigkeit ablehnen. Diese Trauern-

37
Matthäus 5

den werden an dem Tag getröstet wer- herzig sein bedeutet, aktives Mitleid zu
den, wenn Gott »jede Träne von ihren empfinden. In einer Hinsicht bedeutet es,
Augen abwischen« wird (Offb 21,4). dem, der Strafe verdient hat, diese Strafe
Gläubige trauern nur in diesem Leben; zu ersparen. Im weiteren Sinne bedeutet
für die Ungläubigen ist ihr heutiger es, Notleidenden zu helfen, die sich nicht
Kummer nur ein Vorgeschmack auf den selbst helfen können. Gott bewies seine
ewigen Schmerz. Barmherzigkeit, indem er uns die Strafe
5,5 Eine dritte Seligpreisung wird erspart hat, die wir für unsere Sünden
über den Sanftmütigen ausgesprochen: verdient hätten und indem er seine
»Sie werden das Land erben.« Von Natur Zuneigung zu uns durch das errettenden
aus mögen diese Menschen impulsiv, Werk Christi zeigte. Wir ahmen Gott
voller Temperament und schroff sein. nach, wenn wir barmherzig sind.
Doch indem sie willentlich den Geist Den Barmherzigen wird Barmherzig-
Christi annehmen, werden sie demütig keit widerfahren. Hier spricht Jesus nicht
oder sanftmütig (vgl. Matth 11,29). De- von der Gnade der Errettung, die Gott
mut beinhaltet die Annahme der Tat- dem gläubigen Sünder widerfahren läßt.
sache, daß man eine niedrige Stellung Diese Barmherzigkeit hängt nicht davon
hat. Der Demütige ist sanftmütig und ab, ob jemand selbst barmherzig ist – sie
milde, wenn es um ihn selbst geht, ist ein bedingungsloses Geschenk. Unser
obwohl er wie ein Löwe kämpfen mag, Herr spricht von der Gnade, die der
wenn es um Gott oder andere geht. Christ im täglichen Leben braucht und
Die Demütigen werden nicht schon von der Barmherzigkeit in der Zukunft,
jetzt die Erde erben; sie werden eher wenn unsere Werke beurteilt werden
Mißhandlung und Enteignung erleben. (1. Kor 3,12-15). Wenn man nicht barm-
Aber sie werden wörtlich die Erde erben, herzig gewesen ist, dann wird man auch
wenn Christus, der König, tausend Jahre keine Barmherzigkeit empfangen, d. h.
lang in Frieden und Reichtum herrschen daß der Lohn entsprechend niedriger
wird. ausfallen wird.
5,6 Als nächstes werden die selig 5,8 Denen, die reinen Herzens sind,
gepriesen, die nach der Gerechtigkeit wird die Zusage gegeben, daß sie Gott
hungern und dürsten: ihnen wird Sätti- schauen werden. Ein Mensch hat ein rei-
gung versprochen. Diese Menschen seh- nes Herz, wenn er keine falschen Motive
nen sich nach Gerechtigkeit in ihrem hat, wenn seine Gedanken heilig sind
eigenen Leben. Sie wollen Ehrlichkeit, und sein Gewissen rein ist. Der Aus-
Aufrichtigkeit und Gerechtigkeit in der druck »sie werden Gott schauen« kann in
Gesellschaft verwirklicht sehen und verschiedener Weise verstanden werden.
suchen nach praktischer Heiligung in Erstens schauen die, die reinen Herzens
der Gemeinde. Wie die Menschen, von sind, Gott in der Gemeinschaft des Wor-
denen Gamaliel Bradford schreibt, haben tes und des Geistes. Zweitens wird ihnen
sie »einen Durst, den kein irdischer manchmal eine übernatürliche Erschei-
Strom löschen kann und einen Hunger, nung unseres Herrn zuteil. Drittens wer-
der sich von Christus ernähren oder ster- den sie Gott in der Person Jesu schauen,
ben muß«. Diese Menschen werden in wenn er wiederkommt. Viertens werden
Christi kommendem Königreich über- sie Gott in der Ewigkeit schauen.
reichlich beschenkt werden: Sie werden 5,9 Eine Seligpreisung wird über die
gesättigt werden, denn dann wird Friedensstifter ausgesprochen: »Sie wer-
Gerechtigkeit regieren und und die Kor- den Söhne Gottes heißen.« Man beachte,
ruption wird durch vollkommene Ehr- daß der Herr hier nicht von friedlichen
lichkeit ersetzt werden. Menschen oder denen redet, die den
5,7 Im Reich unseres Herrn sind die Frieden lieben. Er spricht von denen, die
Barmherzigen glückselig, denn ihnen sich aktiv für den Frieden einsetzen. Die
wird Barmherzigkeit widerfahren. Barm- natürliche Haltung ist, sich nicht einzu-

38
Matthäus 5

mischen. Der göttliche Ansatz ist, zu Königreich. Man beachte die Betonung
handeln, um Frieden zu schaffen, auch von Gerechtigkeit (V. 6), Frieden (V. 9) und
wenn das bedeutet, daß man sich damit Freude (V. 12). Paulus hatte sicherlich die-
Beschimpfungen und Verleumdungen se Stelle im Gedächtnis als er schrieb:
einhandelt. »Denn das Reich Gottes ist nicht Essen
Friedensstifter werden Söhne Gottes und Trinken, sondern Gerechtigkeit und
genannt werden. Hier haben wir also Friede und Freude im Heiligen Geist«
nicht die Weise, wie sie zu Söhnen Gottes (Röm 14,17).
wurden – das kann nur durch das
Annehmen Christi als persönlichen Ret- B. Die Gläubigen als Salz und Licht
ter geschehen. Indem sie Frieden stiften, (5,13-16)
zeigen die Gläubigen, daß sie Söhne 5,13 Jesus verglich seine Jünger mit Salz.
Gottes sind, und Gott wird sie eines Sie sollten für die Welt sein, was das Salz
Tages als Menschen anerkennen, die zu im täglichen Leben ist: Salz würzt Spei-
seiner Familie gehören und ihm ähnlich sen, es verhindert Fäulnis, es verursacht
sind. Durst und unterstützt den Geschmack.
5,10 Die nächste Seligpreisung be- So sollen seine Nachfolger der mensch-
schäftigt sich mit den Verfolgten, die lichen Gesellschaft Pikantheit geben, als
nicht wegen ihrer eigenen Vergehen, son- Schutz vor dem Verderben dienen und
dern »um Gerechtigkeit willen« verfolgt andere dazu bringen, sich nach der Ge-
werden. Das Reich Gottes ist den Gläu- rechtigkeit zu sehnen, von der die vor-
bigen versprochen, die wegen ihres rich- hergehenden Verse sprechen. Wenn das
tigen Handelns leiden müssen. Ihr reines Salz kraftlos wird, wie soll es seine Sal-
Leben verdammt die gottlose Welt und zigkeit zurückerhalten? Es gibt keinen
bringt ihre Feindschaft zum Vorschein. Weg, ihm den echten, natürlichen Ge-
Die Menschen hassen ein gerechtes schmack wiederzugeben. Hat es einmal
Leben, weil es ihre eigene Ungerechtig- seinen Geschmack verloren, dann taugt
keit hervortreten läßt. Salz zu nichts mehr. Es wird auf den Weg
5,11 Diese letzte Seligpreisung geworfen. Der Kommentar von Albert
scheint eine Wiederholung der vorherge- Barnes über diesen Vers erleichtert das
henden zu sein. Wie auch immer, es gibt Verständnis:
einen Unterschied. Im vorhergehenden Das Salz, das in unserem Land verwen-
Vers wird jemand verfolgt, weil er det wird, ist eine chemische Zusammenset-
gerecht ist, hier dagegen um Christi wil- zung – und wenn es seine Salzigkeit, oder es
len. Der Herr wußte, daß seine Jünger seinen Geschmack verlöre, dann bliebe nichts
mißhandelt werden würden, weil sie ihm übrig. In östlichen Ländern war das verwen-
verbunden und treu sind. Die Geschichte dete Salz unrein, es war mit Pflanzen und
hat dies bestätigt: Von Anfang an hat die Erde vermischt, so daß es seine ganze Salzig-
Welt die Nachfolger Jesu verfolgt, ins keit verlieren konnte und doch eine beträcht-
Gefängnis geworfen und getötet. liche Menge [Salz ohne Geschmack] übrig-
5,12 Um Christi willen zu leiden ist blieb. Es war zu nichts mehr zu gebrauchen,
ein großes Vorrecht, das uns freuen soll- außer, daß es, wie hier gesagt wird, auf den
te. Ein großer Lohn erwartet diejenigen, Weg gestreut wird, wie wir unsere Wege mit
4)
die wie die Propheten Drangsal leiden Kies bestreuen.
müssen. Diese Sprecher des alttesta- Der Jünger hat eine wichtige Aufgabe
mentlichen Gottes blieben trotz Verfol- – Salz der Erde zu sein, indem er die
gung treu. Alle, die ihren hingebungs- Anweisungen für Jünger auslebt, die in
vollen Mut nachahmen, werden ihre den Seligpreisungen und im Rest der
gegenwärtige Freude und zukünftige Predigt aufgeführt sind. Wenn er diese
Erhöhung teilen. geistliche Realität nicht durch sein Leben
Die Seligpreisungen zeichnen uns ein sichtbar macht, werden die Menschen
Portrait des idealen Bürgers in Christi sein Zeugnis mit Füßen treten. Die Welt

39
Matthäus 5

hat nur Verachtung für einen treulosen der zu unterscheiden, wie sich z. B. das
Gläubigen übrig. große E und das große F nur durch einen
5,14 Jesus ruft Christen auch auf, kleinen Strich unten unterscheiden. Jesus
Licht der Welt zu sein. Er sprach von sich glaubte auch an die wörtliche Inspiration
selbst als dem »Licht der Welt« (Joh 8,12; der Bibel, wenn es um scheinbar kleine
12,35.36.46). Die Beziehung zwischen und unwichtige Einzelheiten geht. Nichts
den beiden Erklärungen ist, daß Jesus die in der Schrift, noch nicht einmal das
Quelle des Lichtes ist und die Christen kleinste Strichlein, ist ohne Bedeutung.
dieses Licht reflektieren. Ihre Aufgabe ist Es ist wichtig zu betonen, daß Jesus
es, seine Strahlen zurückzuwerfen, wie nicht gesagt hat, daß das Gesetz für
der Mond die Herrlichkeit der Sonne immer bestehen bliebe. Er sagte, daß es
widerspiegelt. nicht vergehen würde, bis alles geschehen
Der Christ ist wie eine Stadt, die oben ist. Diese Unterscheidung hat für den
auf einem Berg liegt: Sie ist über ihre Um- Gläubigen heute Konsequenzen, und
gebung erhöht und leuchtet in der Dun- weil das Verhältnis des Gläubigen zum
kelheit. Diejenigen, deren Leben die Cha- Gesetz so wichtig ist, wollen wir uns nun
rakterzüge der Lehre Christi widerspie- Zeit nehmen, die biblische Lehre zu die-
geln, können nicht verborgen bleiben. sem Thema zusammenzufassen.
5,15.16 Man zündet nicht eine Lampe
an und setzt sie unter den Scheffel. Statt-
dessen wird man es auf ein Lampenge- Exkurs zum Verhältnis des Gläubigen
stell setzen, damit es allen leuchtet, die zum Gesetz
im Hause sind. Jesus wollte nicht, daß Das Gesetz ist ein System von Vorschrif-
wir das Licht seiner Lehre für uns selbst ten, die Gott durch Mose dem Volk Israel
sammeln, sondern daß wir sie anderen gegeben hat. Das gesamte Gesetzeswerk
mitteilen. Wir sollten unser Licht so findet sich in 2. Mose 20-31 und im 3. und
leuchten lassen, daß die Menschen unse- 5. Buch Mose, auch wenn die Zusam-
re guten Taten sehen, so daß sie den Vater menfassung in den Zehn Geboten gege-
im Himmel verherrlichen. Die Betonung ben wird.
liegt hier auf dem Dienst eines christlich Das Gesetz ist nicht als ein Mittel zur
geprägten Charakters. Das Gewinnende Errettung gegeben worden (Apg 13,39;
eines Lebens, in dem Christus deutlich Röm 3,20a; Gal 2,16.21; 3,11). Es ist ge-
sichtbar wird, spricht lauter als der Ver- macht, damit es den Menschen ihre
such einer Überzeugung durch Worte. Sündhaftigkeit zeigt (Röm 3,20b; 5,20;
7,7; 1. Kor 15,56; Gal 3,19) und sie dann
C. Christus erfüllt das Gesetz (5,17-20) zu Gott treibt, um bei ihm gnädige Ver-
5,17.18 Die meisten revolutionären Füh- gebung zu suchen. Es wurde dem Volk
rer kappen alle Verbindungen zur Ver- Israel gegeben, auch wenn es moralische
gangenheit und lehnen die traditionelle Prinzipien enthält, die für alle Zeitalter
existierende Ordnung ab. Nicht so der gelten (Röm 2,14.15). Gott erprobte Israel
Herr Jesus. Er hielt das Gesetz des Mose unter dem Gesetz als ein Teil des Men-
hoch und bestand darauf, daß es erfüllt schengeschlechtes, und Israels Schuld-
werden müsse. Jesus ist nicht gekommen, haftigkeit bewies die Schuldhaftigkeit
um das Gesetz oder die Propheten aufzu- der ganzen Welt (Röm 3,19).
heben, sondern um sie zu erfüllen. Er Das Gebot beinhaltete die Todesstrafe
bestand darauf, daß kein Jota oder (Gal 3,10). Wer ein Gesetz brach, war des
Strichlein vom Gesetz vergehen würden, ganzen Gesetzes schuldig (Jak 2,10). Weil
ehe sie nicht vollständig erfüllt wären. die Menschen das Gesetz gebrochen hat-
Das Jota, oder hebr. jod, ist der kleinste ten, standen sie unter dem Fluch des
Buchstabe im hebräischen Alphabet, das Todes. Gottes Gerechtigkeit und Heilig-
Strichlein ist ein kleines Zeichen, das keit erforderten es, daß die Strafe bezahlt
dazu dient, zwei Buchstaben von einan- würde. Genau aus diesem Grund kam

40
Matthäus 5

Jesus in diese Welt: um mit seinem Tod Gottes (2. Tim 3,16b). Das Gebot, das im
die Strafe zu bezahlen. Er starb stellver- NT nicht wiederholt wird, ist das Sabbat-
tretend für die schuldigen Gesetzesbre- gebot: Christen werden niemals aufgefor-
cher, obwohl er selbst sündlos war. Er dert den Sabbat zu halten (d. h. den sieb-
schob das Gesetz nicht einfach zur Seite, ten Tag der Woche, den Samstag).
sondern er erfüllte seine gerechten Der Dienst des Gesetzes an un-
Ansprüche durch sein Leben und seinem geretteten Menschen ist nicht beendet:
Tod. Deshalb wird das Gesetz durch das »Wir wissen aber, daß das Gesetz gut ist,
Evangelium nicht einfach umgestoßen, wenn jemand es gesetzmäßig gebraucht«
sondern das Evangelium hält das Gesetz (1. Tim 1,8). Sein gesetzmäßiger Ge-
aufrecht und zeigt, wie die Ansprüche brauch ist, Sündenerkenntnis zu bringen
des Gesetzes durch das Errettungswerk und so zur Buße zu führen. Aber das
Jesu vollkommen erfüllt worden sind. Gesetz gilt nicht denen, die schon geret-
Deshalb steht derjenige, der auf Jesus tet sind: »Für einen Gerechten ist das
vertraut, nicht länger unter dem Gesetz, Gesetz nicht bestimmt« (1. Tim 1,9).
sondern unter der Gnade (Röm 6,14). Er Die Gerechtigkeit, die durch das
ist für das Gesetz durch das Werk Christi Gesetz gefordert ist, ist in denen erfüllt,
tot. Die Strafe des Gesetzes muß nur ein »die wir nicht nach dem Fleisch, sondern
einziges Mal bezahlt werden, und da nach dem Geist wandeln« (Röm 8,4). Die
Christus sie bezahlt hat, braucht der Lehren unseres Herrn in der Bergpredigt
Gläubige sie nicht noch einmal zu bezah- setzen sogar einen höheren Standard als
len. In diesem Sinne hat das Gesetz für den des Gesetzes an. Zum Beispiel sagte
den Gläubigen seine Gültigkeit verloren das Gesetz: »Du sollst nicht töten«; Jesus
(2. Kor 3,7-11). Das Gesetz war ein Zucht- sagte jedoch: »Du sollst noch nicht ein-
meister, bis Christus kam, aber nach der mal hassen.« So hält die Bergpredigt
Errettung ist dieser Zuchtmeister nicht nicht nur das Gesetz und die Propheten
länger nötig (Gal 3,24.25). aufrecht, sondern führt sie näher aus und
Obwohl jedoch der Christ nicht unter entwickelt ihre tieferen Absichten.
dem Gesetz steht, heißt das nicht, daß er
jetzt gesetzlos wäre. Er ist nun mit einer 5,19 Wir kommen nun zur Bergpre-
stärkeren Kette als das Gesetz gebunden, digt zurück und bemerken, daß Jesus
weil er unter dem Gesetz Christi steht voraussah, daß es eine natürliche Ten-
(1. Kor 9,21). Sein Verhalten wird verän- denz des Menschen gibt, Gottes Gebote
dert, und zwar nicht aus Furcht vor Stra- zu umgehen oder zu entschärfen. Weil
fe, sondern durch ein liebendes Verlan- sie von solch übernatürlicher Art sind,
gen, seinem Retter zu gefallen. Christus versuchen die Menschen, sie wegzuer-
ist seine Lebensregel geworden (Joh 13,15; klären, und ihre Bedeutung rational zu
15,12; Eph 5,1.2; 1. Joh 2,6;3,16). erklären. Aber wer eins dieser geringsten
Eine allgemein diskutierte Frage im Gebote auflöst und andere Menschen
Zusammenhang mit der Bedeutung des lehrt, dasselbe zu tun, wird der Geringste
Gesetzes für den Gläubigen ist: »Soll ich heißen im Reich der Himmel. Es ist ein
mich nach den Zehn Geboten richten?« Wunder, daß solche Menschen über-
Die Antwort ist, daß bestimmte Prinzipi- haupt Einlaß in das Reich der Himmel
en, die im Gesetz enthalten sind, für finden – aber zum Eintritt in das Reich
immer von Bedeutung bleiben. Es ist Gottes reicht der Glaube an Christus. Die
immer falsch zu stehlen, zu morden oder Stellung eines Menschen im Reich wird
zu begehren. Neun der Zehn Gebote von seinem Gehorsam und seiner Treue
werden im NT wiederholt, allerdings mit hier auf Erden bestimmt. Wer dem
einem wichtigen Unterschied: Sie sind Gesetz des Reiches gehorcht, der wird
nicht als Gesetz gegeben (damit wäre groß heißen im Reich der Himmel.
eine Strafe verbunden), sondern als eine 5,20 Um Eingang in das Reich der
Übung in der Gerechtigkeit für das Volk Himmel zu finden, muß unsere Ge-

41
Matthäus 5

rechtigkeit die der Schriftgelehrten und Eine noch ernstzunehmendere Sünde


Pharisäer überragen (welche mit religiö- ist, den Bruder zu beleidigen. In der Zeit
sen Zeremonien zufrieden waren, die Jesu benutzten die Menschen das Wort
ihnen eine äußerliche, rituelle Reinheit »Raka« (ein aramäischer Ausdruck, der
verschafften, die jedoch ihre Herzen »der Hohle« bedeutet), um andere Men-
nicht ändern konnten). Jesus verwendet schen verächtlich zu machen und zu be-
hier das Stilmittel der Übertreibung, um schimpfen. Wer dieses Wort benutzte,
darzustellen, daß äußerliche Gerechtig- sollte dem Hohen Rat verfallen sein, d. h.
keit ohne innere Realität den Eintritt in er mußte sich vor dem Sanhedrin verant-
das Reich der Himmel nicht gewähr- worten, dem höchsten Gerichtshof des
leistet. Die einzige Gerechtigkeit, die Landes.
Gott akzeptiert, ist die, welche er denen Die dritte Form des Zorns, die Jesus
anrechnet, die seinen Sohn als Retter verurteilt, ist, jemanden mit »Narr« zu
annehmen (2. Kor 5,21). Natürlich wird bezeichnen. Hier bedeutet das Wort
da, wo echter Glaube an Christus vor- »Narr« mehr als nur Spaßmacher. Es
handen ist, auch praktische Gerech- bezeichnet den – im moralischen Sinn –
tigkeit mit einhergehen, die Jesus nun im Narren, dem man das Recht zu leben
Rest dieser Predigt beschreibt. abspricht, und drückt damit aus, daß
man ihm den Tod wünscht. Heute hören
D. Jesus warnt vor Ärger (5,21-26) wir oft, wie andere Menschen mit den
5,21 Die Juden zur Zeit Jesu wußten, daß Worten »Gott verdamme dich« ver-
Mord von Gott verboten worden war wünscht werden. Jesus sagt, daß der,
und daß der Mörder seine Strafe emp- der einen solchen Fluch ausspricht, in
fangen sollte. Das galt schon vor dem der Gefahr steht, der Hölle des Feuers
Gesetz (1. Mose 9,6) und wurde später zu verfallen. Die Leichname von Hin-
ins Gesetz aufgenommen (2. Mose 20,13; gerichteten wurden oft auf einem bren-
5. Mose 5,17). Mit den Worten »Ich aber nenden Abfallhaufen vor Jerusalem
sage euch« leitet Jesus einen Zusatz zu geworfen, der als »Tal Hinnom« oder
diesem Gesetz ein. Man kann nun nicht »Gehenna« bekannt war. Das war ein
länger damit prahlen, daß man noch kei- Hinweis auf die Flammen der Hölle,
nen Menschen umgebracht habe. Jesus die niemals ausgelöscht werden kön-
sagt nun: »In meinem Königreich darfst nen.
du noch nicht einmal mörderische Ge- Man kann die Schärfe dieser Worte
danken hegen.« Er verfolgt damit den gar nicht mißverstehen. Er lehrt, daß
Mord bis an seine Quelle und warnt Zorn der Ursprung des Mordes ist, daß
dabei vor drei Formen des ungerechten Beschimpfungen ebenfalls in diese Rich-
Zorns. tung laufen und daß Verfluchungen dem
5,22 Der erste Fall, den Jesus hier Wunsch nach Mord gleichkommen. Die
anspricht, ist der eines Menschen, der sich steigernde Reihenfolge der Ver-
5)
über seinen Bruder grundlos zornig ist. gehen zieht eine Steigerung der Strafe
Jemand, der dieses Verbrechens ange- nach sich: Gericht, Hoher Rat und hölli-
klagt werden könnte, läuft also Gefahr, sches Feuer. In seinem Reich wird Jesus
dem Gericht zu verfallen, das heißt, er jede Sünde nach ihrer Schwere bestrafen.
könnte zur Verantwortung gezogen wer- 5,23.24 Wenn ein Mensch einen ande-
den. Die meisten Menschen meinen, sie ren verletzt, ob durch Zorn oder einen
könnten eigentlich immer einen Grund anderen Grund, dann hat es für ihn kei-
für ihren Zorn angeben, aber Zorn ist nur nen Zweck, ein Opfer darzubringen. Der
dann gerechtfertigt, wenn es um die Ehre Herr wird sich nicht daran freuen. Der-
Gottes geht oder wenn einem anderen jenige, der den anderen verletzt hat, soll-
Unrecht geschieht. Zorn ist immer dann te zuerst hingehen, und sein Unrecht in
falsch, wenn es um die Vergeltung per- Ordnung bringen. Nur dann wird sein
sönlicher Fehler geht. Opfer angenommen werden.

42
Matthäus 5

Auch wenn diese Worte für ein jü- dieses Verses getroffen, als er schrieb:
disches Umfeld geschrieben worden »Ob du an Ehebruch denkst, oder ihn
sind, heißt das nicht, daß sie heute nicht ausführst, du wirst deinen Trieb dadurch
mehr anwendbar seien. Paulus bezieht nicht beruhigen, denn du versuchst, mit
diesen Befehl auf das Mahl des Herrn Öl Flammen zu löschen.« Die Sünde be-
(s. 1. Kor 11). Gott nimmt von einem ginnt in unseren Gedanken, und wenn
Gläubigen keine Anbetung an, wenn die- wir sie nähren, dann wird der Gedanke
ser mit einem anderen Gläubigen nicht schließlich zur Tat.
mehr reden kann. 5,29.30 Die Aufrechterhaltung eines
5,25.26 Jesus warnt hier vor Prozeß- reinen Gedankenlebens fordert eiserne
sucht und vor dem Zögern, eigene Selbstdisziplin. Deshalb lehrte Jesus,
Schuld zuzugeben. Es ist besser, sich daß, sobald eines unserer Glieder uns zur
sofort mit einem Ankläger zu einigen, als Sünde verführt, es besser wäre, dieses
das Risiko einer Gerichtsverhandlung Glied in diesem Leben als die Seele für
einzugehen. Wenn das passiert, wird die Ewigkeit zu verlieren. Sollen wir Jesu
man sicherlich verlieren. Es gibt zwar Worte wirklich wörtlich nehmen? Hat er
einige Uneinigkeit unter den Gelehrten, wirklich Selbstverstümmelung gelehrt?
auf welche Personen sich dieses Gleich- Die Worte sind bis zu diesem Punkt
nis bezieht, doch ist die Absicht eindeu- wörtlich zu nehmen: Wenn es nötig wäre,
tig: Wenn man im Unrecht ist, sollte man eher ein Glied als die Seele zu verlieren,
es schnell zugeben und versuchen, die dann sollten wir uns froh von diesem
Sache wieder in Ordnung zu bringen. Glied trennen. Glücklicherweise ist das nie-
Wenn man hier keine Reue zeigt, dann mals nötig, denn der Heilige Geist
wird einen die eigene Sünde schließlich befähigt den Gläubigen, ein heiligen
einholen, so daß man nicht nur alles wie- Leben zu führen. Dennoch ist es für den
dergutmachen, sondern eventuell auch Gläubigen nötig, mit dem Geist auf die-
noch eine Strafe hinnehmen muß. Und sem Gebiet zusammenzuarbeiten und
man sollte nie zu eilig mit Prozessieren sich einer strengen Selbstdisziplin zu
sein. Wenn wir das tun, dann wird das unterwerfen.
Gesetz uns ertappen und man wird bis
zum letzten Pfennig zu bezahlen haben. F. Jesus tadelt Ehescheidung (5,31-32)
5,31 Unter dem alttestamentlichen Ge-
E. Jesus verurteilt Ehebruch (5,27-30) setz war Scheidung nach 5. Mose 24,1-4
5,27.28 Das mosaische Gesetz verbietet gestattet. Dieser Abschnitt beschäftigt
eindeutig den Ehebruch (2. Mose 20,14; sich nicht mit dem Fall einer ehebreche-
5. Mose 5,18). Vielleicht könnte einer rischen Frau (die Strafe für Ehebruch war
voller Stolz darauf hinweisen, daß er der Tod, s. 5. Mose 22,22). Es beschäftigt
dieses Gebot noch nie gebrochen hat, sich statt dessen mit der Scheidung
doch trotzdem mag er »Augen voll wegen gegenseitiger Abneigung oder
Begier nach einer Ehebrecherin« haben weil man nicht »zusammenpaßt«.
(2. Petr 2,14). Während nach außen hin 5,32 Im Reich Christi gilt jedoch,
alles stimmt, kann es sein, daß seine »Wer seine Frau entlassen wird, außer
Gedanken ständig um Unreines kreisen. aufgrund von Hurerei, macht, daß sie
Damit erinnerte Jesus seine Jünger dar- Ehebruch begeht«. Das bedeutet nicht,
an, daß es nicht reicht, sich äußerlich daß sie durch die Scheidung automatisch
einer Tat zu enthalten – die Reinheit muß zur Ehebrecherin wird, doch wird hier
auch innerlich sein. Das Gesetz verbot von der Annahme ausgegangen, daß sie,
den Ehebruch, Jesus dagegen verbietet da sie keine Mittel zu ihrem Unterhalt
das Verlangen: »Jeder, der eine Frau hat, gezwungen ist, mit einem anderen
ansieht, sie zu begehren, hat schon Ehe- Mann zusammenzuleben. Indem sie das
bruch mit ihr begangen in seinem Her- tut, wird sie zur Ehebrecherin. Und nicht
zen.« E. Stanley Jones hat die Bedeutung nur die ehemalige Ehefrau begeht Ehe-

43
Matthäus 5

bruch, auch »wer eine Entlassene hei- tet« ist, d. h., er oder sie ist frei, eine
ratet, begeht Ehebruch«. Scheidung zu erlangen. Die Meinung des
Das Thema Scheidung und Wieder- Autors dieses Kommentars ist, daß hier
heirat ist eines der kompliziertesten in der gleiche Fall wie in Matthäus 5 und 19
der Bibel. Es ist beinahe unmöglich, alle gemeint ist, daß nämlich der Ungläubige
Fragen zu beantworten, die damit im weggeht, um mit jemandem anderen
Zusammenhang stehen, aber es mag hilf- zusammenzuleben. Deshalb kann dem
reich sein, zu sichten und zusammenzu- Gläubigen eine Scheidung nur dann ge-
fassen, was die Bibel unserer Meinung währt werden, wenn der andere Partner
nach zu dem Thema lehrt. Ehebruch begeht.
Es wird oft behauptet, daß Scheidung
im NT zwar erlaubt sei, aber die Wieder-
Exkurs über Scheidung und heirat nicht erwähnt wird. Dennoch geht
Wiederheirat das Argument an der Fragestellung vor-
Scheidung lag nie in der Absicht Gottes bei. Wiederheirat des unschuldigen Teiles
mit dem Menschen. Sein Ideal ist, daß ein wird im NT nicht verurteilt – nur für den,
Mann und eine Frau verheiratet bleiben, der den Anlaß zur Scheidung gegeben
bis ihre Gemeinschaft durch den Tod aus- hat. Außerdem ist einer der Hauptgrün-
einandergerissen wird (Röm 7,2.3). Jesus de für schriftgemäße Scheidung die Mög-
machte den Pharisäern das deutlich, in- lichkeit zur Wiederheirat, sonst würde ja
dem er auf die göttliche Schöpfungs- eine einfache Trennung ausreichen.
ordnung hinwies (Matth 19, 4-6). In jeder Diskussion dieses Themas
Gott haßt Scheidung (Mal 2,16), d. h. kommt unausweichlich die Frage auf:
nicht schriftgemäße Scheidung. Er haßt »Was ist mit den Menschen, die sich
nicht jegliche Form der Scheidung, weil scheiden ließen, ehe sie gläubig wur-
er selbst von sich sagt, daß er sich von den?« Es sollte keine Frage sein, daß
Israel geschieden habe (Jer 3,8). Das ge- ungesetzliche Scheidungen und Wieder-
schah, weil das Volk ihn vergaß und Göt- verheiratungen vor der Bekehrung Sün-
zendienst trieb. Israel war untreu gewor- den sind, die vollständig vergeben wor-
den. den sind (z. B. 1. Kor 6,11, wo Paulus den
In Matthäus 5,31.32 und 19,9 lehrte Ehebruch unter den Sünden nennt, die
Jesus, daß Scheidung verboten ist, außer die Korinther in ihrem früheren Leben
in dem Fall, daß ein Partner sich des Ehe- begangen haben). Sünden vor der Bekeh-
bruchs schuldig gemacht hat. In Markus rung sollten den Gläubigen nicht von
10,11.12 und Lukas 16,18 ist der Nachsatz einer vollen Teilnahme am Gemeinde-
mit dieser Ausnahme ausgelassen wor- leben ausschließen.
den. Eine schwierigere Frage betrifft
Der Widerspruch läßt sich vielleicht Christen, die sich aus unschriftgemäßen
am besten dadurch erklären, daß weder Gründen scheiden lassen und dann wie-
Markus noch Lukas den Ausspruch voll- der heiraten. Können sie wieder in die
ständig wiedergeben. Deshalb, auch Gemeinschaft der Gemeinde aufgenom-
wenn die Scheidung nie das Ideal sein men werden? Die Antwort basiert dar-
darf, ist sie in dem Fall erlaubt, wenn ein auf, ob Ehebruch oder ein anhaltender
Partner untreu geworden ist. Jesus er- Zustand der ursprüngliche Anlaß zu
laubt Trennung in einem solchen Falle, der neuen Verbindung ist. Wenn dieses
aber er gebietet sie nicht. Paar im Ehebruch lebt, dann müßten sie
Einige Gelehrte sehen 1. Korinther nicht nur ihre Sünde bekennen, sondern
7,12-16 als eine Lehre, die die Scheidung auch ihren gegenwärtigen Partner ver-
erlaubt, wenn ein Gläubiger von einem lassen. Aber Gottes Lösung für ein Pro-
ungläubigen Ehepartner verlassen wird. blem ist nie ein solches, das schwierige-
Paulus sagt, daß der übriggebliebene re Probleme als vorher aufwirft. Wenn,
Partner in diesem Falle »nicht geknech- um einen ehelichen Konflikt zu entwir-

44
Matthäus 5

ren, Menschen in Sünde getrieben wer- 5,37 Für den Christen ist ein Schwur
den, oder Frau und Kinder ohne Geld unnötig. Sein ja soll ja bedeuten, ebenso
und Obdach zurückgelassen würden, wie sein nein auch nein bedeuten soll.
dann wäre die Heilung schlimmer als Wer eine andere Sprache wählt, gibt zu,
die Krankheit. daß jemand anderer – der Böse – ihn
Nach der Meinung des Autors kön- regiert. Es gibt keinerlei Umstände, in
nen Christen, die sich unschriftgemäß denen ein Christ lügen dürfte.
haben scheiden lassen und dann wieder Dieser Abschnitt verbietet jede Täu-
geheiratet haben, echte Buße von ihrer schung oder »Schönung« der Wahrheit.
Sünde tun und wieder in die Gemein- Jedoch wird hier nicht der Eid vor
schaft des Herrn und der Gemeinde auf- Gericht verboten. Jesus selbst sagte vor
genommen werden. In Scheidungsfra- dem Hohenpriester unter Eid aus:
gen liegt fast jeder Fall anders. Deshalb (Matth 26,63ff). Auch Paulus verwendete
müssen die Ältesten einer Gemeinde einen Eid, um Gott als Zeugen an-
jeden Fall einzeln untersuchen und ihn zurufen, daß er die Wahrheit schrieb
gemäß dem Wort Gottes beurteilen. (2. Kor 1,23; Gal 1,20).
Wenn einmal Gemeindezucht geübt wer-
den muß, dann sollten sich alle Beteilig- H. Die zweite Meile gehen (5,38-42)
ten der Entscheidung der Ältesten unter- 5,38 Das Gesetz sagte: »Auge um Auge,
ordnen. Zahn um Zahn« (2. Mose 21,24; 3. Mose
24,20; 5. Mose 19,21). Das war gleichzei-
tig das Gebot zur Strafe und eine Begren-
G. Jesus verurteilt das Schwören zung der Strafe – die Strafe durfte nie das
(5,33-37) Verbrechen übersteigen. Dennoch liegt
5,33-36 Das mosaische Gesetz enthielt nach dem Alten Testament die Aufgabe
mehrere Verbote, beim Namen Gottes der Bestrafung bei der Regierung und
nicht falsch zu schwören (3. Mose 19,12; nicht beim Einzelnen.
4. Mose 30,2; 5. Mose 23,21). Beim Na- 5,39-41 Jesus ging hier über das
men Gottes zu schwören hieß, daß man Gesetz hinaus und zu einer höheren
Gott zum Zeugen aufrief, daß man die Gerechtigkeit, indem er die Vergeltung
Wahrheit sagte. Die Juden versuchten die an sich abschaffte. Er zeigte seinen Jün-
Ungehörigkeit zu umgehen, falsch beim ger, daß Rache zwar einst vom Gesetz
Namen Gottes zu schwören, indem sie erlaubt war, aber jetzt das Erdulden
den Schwur beim Namen Gottes durch durch die Gnade möglich geworden war.
den Schwur beim Himmel, bei der Erde, Jesus lehrte seine Nachfolger, einem
bei Jerusalem oder ihrem Kopf ersetzten. Bösen keinen Widerstand zu leisten.
Jesus verdammt solche Umgehung Wenn jemand sie auf die Wange schlug,
des Gesetzes als pure Heuchelei und ver- dann sollten sie ihm auch die andere dar-
bietet jede Form von Schwören oder Eid bieten. Wenn jemand das Unterkleid ver-
in der normalen Unterhaltung. Es war langen sollte, dann sollte man ihm auch
nicht nur heuchlerisch, sondern auch den Mantel lassen (er wurde auch als
völlig nutzlos, das Schwören beim Zudecke für die Nacht verwendet).
Namen Gottes nur durch ein anderes Wenn eine Person sie zwingen würde, ihr
Hauptwort statt des Gottesnamens zu Gepäck eine Meile weit zu tragen, sollten
ersetzen. Wer beim Himmel schwört, die Jünger es freiwillig zwei Meilen tra-
schwört bei Gottes Thron. Wenn man bei gen.
der Erde schwört, so schwört man beim 5,42 Das letzte Gebot Jesu in diesem
Schemel seiner Füße. Wer bei Jerusalem Abschnitt scheint uns heute das welt-
schwört, schwört bei der königlichen fremdeste zu sein. »Gib dem, der dich
Hauptstadt. Sogar ein Schwur beim ei- bittet, und weise den nicht ab, der von
genen Kopf beinhaltet Gott, den Er ist dir borgen will.« Unser Hang nach Besitz
der Schöpfer. und Eigentum läßt uns vor dem Gedan-

45
Matthäus 5 und 6

ken grauen, wegzugeben, was wir uns nichts mit natürlicher Sympathie zu tun,
erarbeitet haben. Dennoch, wenn wir weil es nicht natürlich ist, diejenigen zu
gewillt wären, uns nur auf die Schätze im lieben, die uns hassen und übles tun. Es
Himmel zu konzentrieren und nur mit handelt sich um eine übernatürliche Gna-
dem Notwendigen an Essen und Klei- de und kann nur bei denen verwirklicht
dung zufrieden wären, dann könnten werden, die göttliches Leben haben.
wir diese Worte viel williger wörtlich Es gibt keinen Lohn dafür, wenn wir
nehmen. Die Aussage Jesu hat die Vor- die lieben, die uns lieben. Jesus sagt, daß
6)
aussetzung, daß derjenige, der bittet, das sogar unbekehrte Zöllner täten. Für
wirklich in Not ist. Da es jedoch unmög- diese Liebe ist keine göttliche Macht
lich ist, in jedem Fall zu wissen, ob die nötig. Auch ist es keine Tugend, nur
7)
Not wirklich besteht, ist es besser, wie unsere Brüder zu grüßen, d. h. unsere
jemand einmal sagte, »einer Menge be- Verwandten und Freunde. Auch die
trügerischer Bettler zu helfen, als es zu Ungeretteten können das, deshalb ist es
riskieren, jemandem, der wirklich in Not nichts spezifisch Christliches. Wenn
ist, den Rücken zu kehren«. unsere Maßstäbe nicht höher als die der
Menschlich gesprochen ist ein Verhal- Welt sind, dann werden wir auf sie nie
ten, wie es der Herr hier verlangt, un- Einfluß haben können.
möglich. Nur wenn ein Mensch vom Jesus sagte, daß seine Nachfolger
Heiligen Geist geleitet wird, kann er ein Böses mit Gutem vergelten sollten, damit
aufopferungsvolles Leben führen. Nur sie Söhne ihres Vaters in den Himmeln
wenn der Erretter sein Leben im Gläubi- sind. Er sagte damit nicht, daß das der
gen ausleben darf, kann er Beleidigung Weg sei, Söhne Gottes zu werden, son-
(V. 39), Ungerechtigkeit (V. 40) und Un- dern zu zeigen, daß wir Gottes Kinder
bequemlichkeit (V. 41) mit Liebe beant- sind. Da Gott weder den Guten noch den
worten. Das ist »das Evangelium der Bösen vorzieht (d. h., daß beide von Son-
zweiten Meile«. ne und Regen Nutzen haben), so sollten
wir mit allen freundlich und fair um-
I. Liebt eure Feinde (5,43-48) gehen.
5,43 Das letzte Beispiel unseres Herrn für 5,48 Jesus beschließt diesen Abschnitt
die höhere Gerechtigkeit, die sein Reich mit der Ermahnung: »Ihr nun sollt voll-
verlangt, betrifft den Umgang mit den kommen sein, wie euer himmlischer
Feinden, ein Thema, das sich auf natür- Vater vollkommen ist.« Das Wort »voll-
liche Weise aus dem vorangegangenen kommen« ist hier nur im Zusammen-
Abschnitt ergibt. Das Gesetz lehrte die hang zu verstehen. Es bedeutet nicht
Israeliten, den Nächsten zu lieben sünd- oder fehlerlos. Die vorhergehen-
(3. Mose 19,18). Obwohl nie ausdrück- den Verse erklären, daß Vollkommenheit
lich gesagt wird, daß sie ihre Feinde has- bedeutet, die zu lieben, die uns hassen,
sen sollen, fand sich dieser Geist doch oft für die zu beten, die uns verfolgen, und
in ihrer Unterweisung. Diese Haltung sowohl Freunden wie Feinden gegen-
war eine Zusammenfassung der Aus- über freundlich zu sein. Vollkommenheit
sicht des AT darauf, daß die Verfolger ist hier die geistliche Reife, die einen
des Volkes Gottes gerichtet werden soll- Christen befähigt, Gott nachzuahmen,
ten (s. Ps 139,21.22). Das war eine ge- der jedem seinen Segen ohne Unter-
rechte Feindschaft gegen die, die erklärte schied zukommen läßt.
Feinde Gottes waren.
5,44-47 Aber nun verkündet Jesus, J. Aufrichtiges Geben (6,1-4)
daß wir unsere Feinde lieben und für die 6,1 In der ersten Hälfte dieses Kapitels
beten sollen, die uns verfolgen. Die Tat- beschäftigt Jesus sich mit drei besonde-
sache, daß Liebe hier befohlen wird, zeigt ren Gebieten der praktischen Gerechtig-
uns, daß es hier um den Willen und nicht keit im Leben eines Menschen: Wohl-
in erster Linie um ein Gefühl geht. Es hat tätigkeit (V. 1-4), Gebet (V. 5-15) und

46
Matthäus 6

Fasten (V. 16-18). Der Name »Vater« wird sich nicht mit Absicht auf öffentliche
in diesen 18 Versen zehnmal verwendet Plätze stellen, so daß andere sie beten
und ist das Schlüsselwort dieses Ab- sehen und von ihrer Frömmigkeit beein-
schnittes. Praktische Werke der Gerech- druckt sind. Wenn die Ruhmsucht das
tigkeit sollten getan werden, um Gottes einzige Motiv des Gebets ist, dann, so
Wohlgefallen zu erlangen, nicht, um von erklärt Jesus, wird der Ruhm die einzige
Menschen geehrt zu werden. Belohnung sein.
Jesus beginnt diesen Teil seiner Pre- 6,6 In den Versen 5 und 7 steht im
digt mit einer Warnung vor der Ver- Griechischen das Personalpronomen in
suchung, unsere Frömmigkeit durch der Mehrzahl (ihr). Aber in Vers 6 steht es
Almosengeben (Anmerkung Elberfelder in der Einzahl, um den privaten Charak-
Bibel) nicht zur Schau zu stellen, indem ter des Umganges mit Gott zu betonen.
wir darauf achten, daß sie von anderen Der Schlüssel zu erhörten Gebeten ist, im
gesehen werden. Hier wird nicht die Tat Verborgenen zu beten (d. h. »geh in deine
an sich verurteilt, sondern die Haltung, Kammer, und nachdem du deine Tür ver-
die dahintersteht. Wenn öffentliche Aner- schlossen hast«). Wenn unser wahres Mo-
kennung die Motivation ist, dann bleibt tiv ist, mit unseren Bitten Gott zu errei-
diese Anerkennung auch der einzige chen, dann will er hören und antworten.
Lohn, denn Gott belohnt Heuchelei nicht. Wir lesen zu viel in diese Stelle hin-
6,2 Es scheint fast unglaublich zu ein, wenn wir sie gebrauchen, um öffent-
sein, daß es Heuchler gab, die lautstark liches Gebet zu verbieten. Die erste
die Aufmerksamkeit auf sich zogen, Gemeinde kam zum gemeinsamen Gebet
wenn sie in der Synagoge ein Opfer oder zusammen (Apg 2,42; 12,12; 13,3; 14,23;
auf der Straße einem Bettler ein Almosen 20,36). Es geht nicht darum, wo wir beten,
gaben. Der Herr lehnt ihr Verhalten mit sondern warum wir beten – um von Men-
dem knappen Kommentar ab: »Sie haben schen gesehen oder von Gott gehört zu
ihren Lohn dahin« (d. h. ihre einziger werden.
Lohn ist der Ruf, den sie sich damit auf 6,7 Gebet sollte nicht aus vergeb-
Erden erwerben). lichen Wiederholungen bestehen, d. h.
6,3.4 Wenn ein Nachfolger Christi ein vorformulierten Sätzen oder leeren Phra-
Almosen gibt, dann sollte das im Verbor- sen. Ungerettete Menschen beten so, aber
genen geschehen. Es sollte so geheim Gott läßt sich nicht dadurch beein-
geschehen, daß Jesus seinen Jüngern sag- drucken, daß wir viel reden. Er möchte
te: »Wenn du aber Almosen gibst, so soll ein von Herzen kommendes Gebet
deine Linke nicht wissen, was deine hören.
Rechte tut.« Jesus benutzt diesen bild- 6,8 Weil unser Vater weiß, was wir
lichen Ausdruck, um zu zeigen, daß benötigen, und das sogar schon, ehe wir
unsere Almosen für den Vater bestimmt ihn bitten, ist es vernünftig zu fragen:
sind, und nicht dazu dienen sollen, den »Warum sollen wir denn dann über-
Geber groß herauszustellen. haupt beten?« Der Grund ist, daß wir im
Dieser Abschnitt sollte nicht dazu Gebet unsere Bedürftigkeit und Abhän-
mißbraucht werden, jede Gabe zu ver- gigkeit von Ihm anerkennen. Gebet ist
hindern, wenn es möglich ist, daß andere die Grundlage des Gespräches mit Gott.
sie sehen, weil es fast unmöglich ist, alle Auch tut Gott gewisse Dinge als Antwort
unsere Gaben anonym zu geben. Es han- auf Gebet, die er andernfalls nicht getan
delt sich hier nur darum, daß verurteilt hätte (Jak 4,2d).
wird, mit Almosengeben eigene Ehre zu
erlangen. L. Jesus gibt uns ein Vorbild für unser
Gebet (6,9-15)
K. Aufrichtiges Beten (6,5-8) 6,9 In den Versen 9-13 haben wir das so-
6,5 Als nächstes warnt Jesus seine Jünger genannte »Gebet des Herrn«. Wenn wir
vor Heuchelei beim Beten. Sie sollten diesen Titel dafür gebrauchen, sollten

47
Matthäus 6

wir im Gedächtnis behalten, daß er selbst vergeben.« Dieser Satz bezieht sich nicht
es nie gesprochen hat. Er gab es seinen auf die Vergebung von Schuld, die wir
Jüngern als ein Vorbild, nach dem sie ihre durch Übertretung des Gesetzes auf uns
Gebete gestalten konnten. Es ist nicht geladen haben (diese Vergebung wird
eine Vorschrift, genau diese Worte zu ge- uns durch den Glauben an den Sohn Got-
brauchen. Vers 7 scheint dieses auszu- tes gewährt), sondern bezieht sich auf
schließen, weil viele Worte leere Phrasen die väterliche Vergebung, die notwendig
werden, wenn man sie auswendig daher- ist, damit die Beziehung mit unserem
sagt. Vater aufrechterhalten wird. Wenn die
»Unser Vater, der du bist in den Him- Gläubigen nicht willens sind, denen zu
meln.« Gebete sollten an Gott den Vater vergeben, die ihnen Unrecht tun, wie
gerichtet sein, indem man seine souve- können sie dann erwarten, mit ihren
räne Herrschaft über das Universum Vater Gemeinschaft zu haben, der ihnen
anerkennt. großzügig ihre eigenen Sünden vergeben
»Geheiligt werde dein Name.« Wir hat?
sollten unsere Gebete mit Anbetung 6,13 »Und führe uns nicht in Versu-
beginnen, indem wir dem Ehre und Lob chung.« Diese Bitte scheint Jakobus 1,13
geben, der es so sehr verdient hat. zu widersprechen, in der es heißt, daß
6,10 »Dein Reich komme.« Nachdem Gott niemanden versucht. Dennoch
wir angebetet haben, sollten wir für den erlaubt es Gott, daß sein Volk erprobt
Fortgang der Sache Gottes beten und so wird. Diese Bitte drückt ein gesundes
seine Anliegen an die erste Stelle setzen. Mißtrauen gegenüber der eigenen Fähig-
Insbesondere sollten wir für den Tag keit aus, den Versuchungen zu wider-
beten, an dem unser Retter-Gott, der stehen oder in der Anfechtung standfest
Herr Jesus Christus, sein Reich auf Erden zu bleiben. Sie drückt die Anerkennung
aufrichten und in Gerechtigkeit regieren der völligen Abhängigkeit vom Herrn in
wird. bezug auf Bewahrung aus.
»Dein Wille geschehe.« Durch diese »Sondern errette uns von dem
Bitte erkennen wir an, daß Gott weiß, Bösen.« Das ist das Gebet aller, die sich
was am besten ist, und unterstellen un- danach sehnen, durch die Kraft Gottes
seren Willen dem seinen. Sie drückt auch von der Sünde abgehalten zu werden. Es
unsere Sehnsucht aus, daß sein Wille in ist der Schrei des Herzens nach täglicher
der ganzen Welt beachtet wird. Heiligung von der Macht der Sünde und
»Wie im Himmel so auch auf Erden.« Satans im persönlichen Leben.
Dieser Teil bezieht sich auf alle drei vor- »Denn dein ist das Reich und die
hergegangenen Bitten. Die Anbetung Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit.
Gottes, seine souveräne Herrschaft und Amen.« Der letzte Satz dieses Gebetes
die Ausführung seines Willens sind im wird in der römisch-katholischen und in
Himmel schon verwirklicht. Dies ist das den meisten evangelischen Bibelüberset-
Gebet darum, daß diese Bedingungen in zungen weggelassen, weil er in vielen
derselben Weise nun auch für die Erde alten Manuskripten fehlt. Dennoch ist
gelten sollen. ein solcher Lobpreis der vollkommene
6,11 »Unser tägliches Brot gib uns Schluß für das Gebet und ist auch im Tex-
8)
heute.« Nachdem wir Gottes Anliegen tus Receptus enthalten. Er sollte, wie
an die erste Stelle gesetzt haben, dürfen Johannes Calvin schreibt, »nicht nur
wir nun auch unsere eigenen Nöte vor unser Herzen wärmen, damit sie in die
ihn bringen. Mit dieser Bitte erkennen Herrlichkeit Gottes geformt werden,
wir unser Abhängigkeit von Gott an, daß sondern uns auch sagen, daß all unsere
er uns unser tägliches Brot gibt, sei es Gebete keine andere Grundlage als Gott
geistlich oder materiell. allein haben«.
6,12 »Und vergib uns unsere Schul- 6,14.15 Diese Verse sind eine erklä-
den, wie auch wir unseren Schuldnern rende Anmerkung zu Vers 12. Sie gehö-

48
Matthäus 6

ren nicht zu dem Gebet, aber sind hier helfen, indem es Lustlosigkeit und
angefügt, um zu betonen, daß die väter- Schläfrigkeit nimmt. Es ist in Krisenzei-
liche Vergebung wie in Vers 12 unbedingt ten sehr wertvoll, wenn man den Willen
notwendig ist. Gottes zu erfahren sucht. Und es ist von
Wert, um sich in der Selbstdisziplin zu
M. Jesus lehrt, wie man fasten soll üben. Fasten ist eine Angelegenheit zwi-
(6,16-18) schen einem einzelnen Gläubigen und
6,16 Die dritte Form von religiöser Heu- Gott und sollte nur aus dem Wunsch her-
chelei, die Jesus hier kritisierte, ist der aus durchgeführt werden, Gott zu gefal-
bewußte Versuch, als Fastender zu er- len. Es verliert seinen Wert, wenn es von
scheinen. Die Heuchler verstellten ihre außen auferlegt wird oder aus einem
Gesichter, wenn sie fasteten, damit sie falschen Motiv heraus »vorgezeigt« wird.
abgezehrt, ausgemergelt und trübselig
aussahen. Doch Jesus sagt, daß es lächer-
lich ist zu versuchen, heilig erscheinen zu N. Sammelt euch Schätze im Himmel
wollen. (6,19-21)
6,17,18 Wahre Gläubige sollten im Dieser Abschnitt enthält einige der revo-
Verborgenen fasten, und nicht nach lutionärsten Lehren unseres Herrn – und
außen hin so scheinen, als ob sie fasten die am meisten mißachteten. Das Thema
würden. Das Haupt salben und das Ge- des zweiten Teils dieses Kapitels ist, wie
sicht waschen waren Mittel, um normal man für die Zukunft vorsorgt.
auszusehen. Es reicht, wenn der Vater 6,19.20 In den Versen 19-21 wider-
davon weiß, sein Lohn wird besser sein spricht Jesus allem menschlichen Rat,
als die Anerkennung durch Menschen. wie man sich eine finanziell gesicherte
Zukunft schafft. Wenn er sagt: »Sammelt
euch nicht Schätze auf Erden«, dann will
Exkurs über das Fasten er damit sagen, daß Materielles niemals
Fasten heißt, daß man sich jedes Versu- Sicherheit geben kann. Jede Art von
ches enthält, den normalen Appetit zu materiellen Schätzen auf der Erde kann
befriedigen. Fasten kann freiwillig sein, entweder von den Naturgewalten zer-
wie in diesem Abschnitt, oder unfreiwil- stört werden (Motte und Rost) oder von
lig (z. B. in Apg 27,33 oder 2. Kor 11,27). Dieben gestohlen werden. Jesus sagt, daß
Im NT wird das Fasten im Zusammen- die einzigen Investitionen, die nie ver-
hang mit Trauer (Matth 9,14,15) und loren gehen können, Schätze im Himmel
Gebet (Lk 2,37; Apg 14,23) gesehen. In sind.
diesen Abschnitten begleitet das Fasten 6,21 Diese radikale Finanzpolitik
das Gebet als Zeichen der eigenen Ernst- basiert auf dem Grundsatz, daß dort,
haftigkeit, den Willen Gottes zu erken- »wo dein Schatz ist, auch dein Herz sein
nen. wird«. Wenn Dein Geld in einem Tresor
Fasten hat keinen Wert für die Erret- liegt, dann ist Dein Herz und Dein Ver-
tung des Menschen, auch gibt es dem langen auch dort. Wenn Deine Schätze
Christen keinen besonderen Status vor jedoch im Himmel sind, dann werden
Gott. Ein Pharisäer rühmte sich einst, daß Deine Interessen sich auch um den Him-
er zweimal die Woche fastete, dennoch mel drehen. Diese Lehre Jesu stellt uns
erlangte er damit nicht die Rechtferti- vor die Entscheidung, ob er wirklich
gung, die er suchte (Lk 18,12.14). Aber meinte, was er sagte. Wenn er es wirklich
wenn ein Christ im Verborgenen als geist- meinte, dann haben wir uns die Frage zu
liche Übung fastet, dann sieht Gott das stellen: »Was sollen wir dann mit un-
und belohnt es. Fasten wird im NT zwar seren irdischen Schätzen tun?« Wenn er
nicht befohlen, doch werden wir durch es nicht so gemeint hat, dann sollten wir
das Versprechen der Belohnung dazu uns fragen: »Was machen wir hier mit
ermutigt. Fasten kann im Gebetsleben der Bibel?«

49
Matthäus 6

O. Die Lampe des Leibes (6,22.23) durch das Verhältnis von Herr und Skla-
6,22.23 Jesus erkannte, daß es für seine ve gesehen. »Niemand kann zwei Herren
Nachfolger schwer sein würde einzuse- dienen.« Einer wird immer der sein, dem
hen, wie seine ungewöhnliche Lehre man mehr Gehorsam entgegenbringt.
über Sicherheit in der Zukunft wahr sein Genauso ist es mit Gott und dem Mam-
könnte. So benutzte er die Analogie des mon. Sie stellen unterschiedliche Anfor-
menschlichen Auges, um ein Lektion derungen und wir haben uns zu ent-
über die geistliche Sicht zu lehren. Er scheiden. Entweder müssen wir Gott an
sagte, daß das Auge die Lampe des Lei- die erste Stelle setzen und die Herrschaft
bes ist. Nur durch das Auge kann der des Materialismus ablehnen oder wir
Leib sehen und Licht aufnehmen. Wenn müssen für Zeitliches leben und Gottes
das Auge klar ist, dann wird der ganze Anspruch auf unser Leben ablehnen.
Leib mit Licht durchflutet. Aber wenn
Q. Sorgt euch nicht (6,25-34)
das Auge böse ist, dann ist die Sehkraft
eingeschränkt. Statt Licht herrscht dann 6,25 In diesem Abschnitt zielt Jesus auf
Finsternis. unsere Neigung, Essen und Kleidung
Die Anwendung ist folgende: Das zum Mittelpunkt unseres Lebens zu
gute Auge gehört dem Menschen, dessen machen und so am wirklichen Sinn des
Motive rein sind, der nur das Verlangen Lebens vorbeizugehen. Das Problem da-
hat, Gottes Absichten zu dienen und der bei ist meist nicht so sehr, was wir heute
gewillt ist, die Lehren Christi wörtlich zu essen und womit wir uns heute kleiden,
nehmen. Sein ganzes Leben wird von sondern was wir in zehn, zwanzig oder
Licht erfüllt sein. Er glaubt den Worten dreißig Jahren essen werden, und womit
Jesu, gibt alle irdischen Reichtümer auf wir uns dann kleiden werden. Solche
und sammelt sich einen Schatz im Him- Zukunftssorgen sind Sünde, weil sie die
mel, und er weiß, daß dies die einzige Liebe, die Weisheit und die Macht Gottes
wirkliche Sicherheit bietet. Auf der ande- verneinen. Man streitet Gottes Liebe ab,
ren Seite gehört das böse Auge einem indem man voraussetzt, daß er nicht für
Menschen, der versucht, für zwei Welten uns sorgt. Wir streiten seine Weisheit ab,
zu leben. Er will seine irdischen Reich- indem wir sagen, daß er nicht weiß, was
tümer nicht loslassen, doch möchte er er tut. Und wir streiten seine Macht ab,
auch Schätze im Himmel haben. Die Leh- indem wir voraussetzen, daß er nicht in
re Jesu scheint ihm unpraktisch und un- der Lage ist, für uns zu sorgen.
möglich. Ihm fehlt deutliche Führung, Diese Art von Sorgen veranlaßt uns,
weil er in der Dunkelheit ist. unsere besten Energien damit zu ver-
Jesus fügt noch die Aussage hinzu: schwenden, daß wir uns so absichern,
»Wenn nun das Licht, das in dir ist, Fin- daß wir genug zum Leben haben. Ehe
sternis ist, wie groß die Finsternis!« Mit wir uns aber darüber bewußt werden, ist
anderen Worten, wenn Sie wissen, daß unser Leben darüber vergangen, und wir
Christus Ihnen verbietet, Ihre Sicherheit haben die Hauptaufgabe verpaßt, für die
auf irdische Reichtümer zu bauen, und es wir geschaffen worden sind. Gott mach-
dennoch tun, dann wird die Lehre, der te uns nicht zu seinem Bilde, ohne mit
Sie nicht gehorcht haben, Finsternis – uns ein höheres Ziel zu haben, als daß
eine sehr starke Form geistlicher Blind- wir bloße Konsumenten würden. Wir
heit. Sie können Reichtum dann nicht sind hier, um ihn zu lieben, ihn anzube-
mehr in seiner wahren Bedeutung erken- ten, ihm zu dienen und seine Interessen
nen. auf dieser Erde zu vertreten. Unsere Lei-
ber sollen unsere Diener sein, nicht un-
P. Man kann nicht Gott dienen und sere Herren.
dem Mammon (6,24) 6,26 Die Vögel des Himmels zeigen
6,24 Die Unmöglichkeit, gleichzeitig für Gottes Sorge für seine Geschöpfe. Sie sol-
Gott und für das Geld zu leben, wird hier len uns predigen, wie unnütz es ist, sich

50
Matthäus 6

Sorgen zu machen. Sie säen nicht noch schließlich im Ofen verbrannt wird, um
ernten sie, und doch ernährt Gott sie. Da Brot zu backen, dann wird er sicherlich
wir in Gottes Schöpfungshierarchie vor- für sein Volk sorgen, das ihn anbetet und
züglicher als die Vögel sind, können wir ihm dient.
sicherlich erwarten, daß Gott sich un- 6,31.32 Die Schlußfolgerung lautet,
serer Bedürfnisse annimmt. daß wir unser Leben nicht in ängstlichem
Aber wir sollten davon nicht ableiten, Sorgen für zukünftiges Essen, Trinken
daß wir nicht arbeiten sollten, um unsere und Kleidung verbringen sollen. Die
gegenwärtigen Bedürfnisse zu befriedi- unbekehrten Heiden leben für die ver-
gen. Paulus erinnert uns: »Wenn jemand rückte Anhäufung von materiellen
nicht arbeiten will, soll er auch nicht Gütern, als ob Essen und Kleidung das
essen« (2. Thess 3,10). Auch sollten wir ganze Leben wären. Aber so sollte es bei
daraus nicht schließen, daß es für einen Christen nicht sein, die einen himm-
Bauern falsch ist, zu säen, zu schneiden lischen Vater haben, der ihre Grund-
und zu ernten. Diese Tätigkeiten sind ein bedürfnisse kennt.
notwendiger Teil der Erfüllung seiner Wenn Christen sich zum Ziel setzen
gegenwärtigen Bedürfnisse. Was Jesus würden, für alle ihre zukünftigen Be-
hier verbietet, ist, viele Scheunen zu bau- dürfnisse im Vorhinein zu sorgen, dann
en, um sich eine sichere Zukunft unab- würde ihre ganze Zeit und Energie der
hängig von Gott aufzubauen (eine Pra- Anhäufung von Finanzreserven dienen
xis, die er in seiner Geschichte vom rei- müssen. Sie könnten nie sicher sein, daß
chen Kornbauern in Lukas 12,16-24 ver- sie genug gespart hätten, weil es immer
urteilt). In den Anmerkungen des die Gefahr einer Wirtschaftskrise, der
Bibellesebundes wird Vers 26 treffend Inflation, einer Katastrophe, einer langen
zusammengefaßt: Krankheit oder eines verstümmelnden
Die Begründung lautet, daß, wenn Gott Unfalles gibt. Das bedeutete, daß Gott
niedere Kreaturen ohne ihre wissentliche des Dienstes seines Volkes beraubt wür-
Beteiligung erhält, er umsomehr diejenigen de. Das wirkliche Ziel, für das sie
durch ihre aktive Mithilfe erhält, um derent- geschaffen und bekehrt wurden, würde
willen er die Schöpfung gemacht hat. verfehlt. Männer und Frauen, die das
6,27 Sorge über die Zukunft verun- göttliche Bild an sich tragen, würden für
ehrt nicht nur Gott – sie ist auch unnötig. eine unsichere Zukunft auf dieser Erde
Der Herr zeigt das durch die Frage: »Wer leben, während sie doch mit den Werten
aber unter euch kann mit Sorgen seiner der Ewigkeit im Gedächtnis leben sollten.
Größe (Anmerkung Elberfelder Bibel) 6,33 Der Herr schließt deshalb mit
eine Elle zusetzen?« Ein kleiner Mensch seinen Nachfolgern einen Bund. Er sagt
kann sich selbst nicht 30 cm größer sor- praktisch: »Wenn du Gottes Interessen
gen. Und, relativ gesprochen, es wäre an die erste Stelle in deinem Leben stellst,
sicherlich einfacher, dies durch Sorgen zu dann werde ich für die Erfüllung deiner
erreichen, als alles, was man für die zukünftigen Bedürfnisse sorgen. Wenn
Zukunft braucht, herbeizusorgen. du zuerst nach dem Reich Gottes und
6,28-30 Als Nächstes beschäftigt sich nach seiner Gerechtigkeit trachtest, dann
der Herr mit der Unvernunft der Sorge, werde ich darauf achten, daß es dir nie
daß wir in Zukunft nicht genug anzuzie- am zum Leben notwendigen fehlt.«
hen haben. Die Lilien des Feldes (wahr- 6,34 Das ist Gottes »Sozialversiche-
scheinlich ist hier eine wilde Anemonen- rung«. Die Verantwortung des Gläubigen
sorte gemeint) »mühen sich nicht, auch besteht darin, für den Herrn zu leben und
spinnen sie nicht«. Dennoch übersteigt in bezug auf seine Zukunft auf Gott mit
ihre Schönheit die der königlichen Klei- dem unerschütterlichen Vertrauen zu le-
der Salomos. Wenn Gott für eine wilde ben, daß er alles nötige geben wird. Unse-
Blume ein solch elegantes Kleid schaffen re Aufgabe ist es, einfach für unsere ge-
kann, die doch nicht lange lebt und genwärtigen Bedürfnisse zu sorgen, alles

51
Matthäus 6 und 7

andere sollte in das Werk des Herrn inve- 1. Wenn sich Streitfragen unter Gläu-
stiert werden. Wir werden aufgerufen, bigen ergeben, dann sollten sie in der
nur für den heutigen Tag zu leben: »Der Gemeinde vor Gliedern geklärt wer-
morgige Tag wird für sich selbst sorgen.« den, die in diesem Falle entscheiden
können (1. Kor 6,1-8).
R. Richtet nicht (7,1-6) 2. Die Ortsgemeinde sollte schwere
Dieser Abschnitt über das Richten folgt Sünden ihrer Glieder richten und ent-
direkt auf Jesu provokative Lehren über sprechende Maßnahmen ergreifen
den Reichtum. Die Verbindung dieser (Matth 18,17; 1. Kor 5,9-13).
beiden Themen ist wichtig. Es ist leicht 3. Gläubige sollen die Lehre von Predi-
für den Christen, der alles aufgegeben gern und Lehrern am Wort Gottes
hat, reiche Christen zu kritisieren. Ande- messen (Matth 7,15-20; 1. Kor 14,29;
rerseits gibt es Christen, die ihre Pflicht, 1. Joh 4,1).
für die zukünftigen Bedürfnisse ihrer 4. Christen haben herauszufinden, ob
Familie vorzusorgen, sehr ernst nehmen, andere wirklich gläubig sind, damit
die dazu neigen, den wörtlichen Gehor- sie dem Gebot von Paulus in 2. Korin-
sam derer herunterspielen, die diese letz- ther 6,14 gehorchen können.
ten Worte Jesu sehr ernst nehmen. Da 5. Die Gemeindeglieder sollen erken-
aber niemand völlig aus dem Glauben nen, welche Männer die notwendigen
lebt, ist solche Kritik nicht angebracht. Eigenschaften haben, um Älteste und
Dieses Gebot, nicht zu richten, be- Diakone zu werden (1. Tim 3,1-13).
inhaltet die folgenden Bereiche: Wir soll- 6. Wir haben zu entscheiden, welche
ten nicht über die Motivation anderer Menschen unordentlich, kleinmütig
richten, denn nur Gott kennt sie; wir soll- oder schwach sind, um mit ihnen ent-
ten nicht nach dem Äußeren richten sprechend den Anweisungen der
(Joh 7,24; Jak 2,1-4); wir sollten die nicht Bibel zu verfahren (1. Thess 5,14).
richten, die sich aus Dingen ein Gewis- 7,2 Jesus warnte, daß ungerechtes
sen machen, die an sich weder gut noch Gericht auf gleiche Weise zurückgezahlt
böse sind (Röm 14,1-5); wir sollten nicht würde: »Denn mit welchem Gericht ihr
den Dienst anderer Christen richten richtet, werdet ihr gerichtet werden.«
(1. Kor 5,1-5) und wir sollten unsere Mit- Dieses Prinzip, daß man erntet, was man
christen nicht richten, indem wir schlecht sät, findet sich in allen menschlichen
über sie sprechen (Jak 4,11.12). Angelegenheiten und im ganzen Leben
7.1 Manchmal werden diese Worte wieder. Markus wendet das Prinzip auf
von Menschen mißverstanden, die aus unsere Aneignung des Wortes Gottes
ihnen herauslesen, daß alle Formen des (Mk 4,24) und Lukas auf unsere Bereit-
Richtens verkehrt seien. Ganz gleich, schaft zum Geben an (Lk 6,38).
was geschieht, sie sagen fromm: »Richtet 7,3-5 Jesus stellte unsere Neigung
nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!« heraus, den kleinsten Fehler bei anderen
Aber Jesus lehrt nicht, daß wir nicht zu entdecken, während wir den gleichen
mehr unterscheiden sollen. Er wollte nie, Fehler bei uns übersehen. Er überspitzte
daß wir unsere Fähigkeit, Dinge kritisch die Situation absichtlich (er benutzte eine
zu durchdenken und zu unterscheiden, sprachliche Ausdrucksweise, die man
aufgeben sollten. Das NT kennt viele Fäl- Übertreibung nennt), um die Sache auf
le von gerechtfertigtem Gericht über den den Punkt zu bringen. Jemand, der selbst
Zustand, das Verhalten oder die Lehre einen Balken im Auge hat, nimmt oft
anderer. Außerdem gibt es verschiedene Anstoß an dem Splitter im Auge eines
Gebiete, auf denen dem Christ sogar anderen, und verkennt dabei seine eige-
befohlen ist, eine Entscheidung zu tref- ne Situation. Es ist Heuchelei zu meinen,
fen, zwischen Gut und Böse zu unter- wir könnten jemandem bei einem Fehler
scheiden oder zwischen dem Guten und helfen, wenn wir selbst einen noch
dem Besten. Dazu gehören: größeren Fehler haben. Wir müssen un-

52
Matthäus 7

sere eigenen Fehler beseitigen, ehe wir menhang und im Licht der ganzen bib-
sie an anderen kritisieren können. lischen Lehre vom Gebet gesehen wer-
7,6 Vers 6 zeigt, daß Jesus nicht jede den. Deshalb wird das, was hier als
Form des Richtens verurteilt. Er warnte unbegrenzte Zusage erscheint, durch
seine Jünger davor, Heiliges nicht den andere Stellen beschränkt. Zum Beispiel
Hunden zu geben und Perlen nicht vor lernen wir in Psalm 66,18 daß im Leben
die Schweine zu werfen. Unter dem des Beters keine Sünde sein darf, die er
mosaischen Gesetz waren Hunde und Gott nicht bekannt hat. Der Christ muß
Schweine unreine Tiere. Diese Aus- im Glauben (Jak 1,6-8) und in Über-
drücke werden hier benutzt, um böse einstimmung mit dem Willen Gottes
Menschen zu bezeichnen. Wenn wir beten (1. Joh 5,14). Gebet muß aus-
schlechten Menschen begegnen, die gött- dauernd (Lk 18,1-8) und aufrichtig sein
liche Wahrheiten ausgesprochen verach- (Hebr 10,22a).
tungsvoll mit Füßen treten und auf unse- 7,9.10 Wenn die Bedingungen für
re Predigt über die Ansprüche Christi Gebet erfüllt sind, dann kann der Christ
mit Schimpfen oder sogar Gewalt reagie- die ausgesprochene Gewißheit haben,
ren, sind wir nicht mehr verpflichtet, daß Gott hört und antwortet. Diese Ver-
ihnen noch weiter das Evangelium zu heißung hat ihren Grund in Gottes
bringen. Wenn wir hier weitermachen, Eigenschaften, der unser Vater ist. Auf
bringen wir nur noch schlimmere Ver- rein menschlicher Ebene wissen wir, daß,
dammnis über diese Menschen. wenn ein Sohn um Brot bittet, sein Vater
Es ist sicher nicht nötig zu betonen, ihm dann keinen Stein gibt. Er würde
daß man geistliche Unterscheidungsgabe ihm auch keine Schlange geben, wenn er
braucht, um diese Menschen herauszu- um einen Fisch gebeten hat. Ein irdischer
finden. Vielleicht deshalb beschäftigen Vater würde seinen hungrigen Sohn
sich die nächsten Verse mit dem Gebet, in weder betrügen noch ihm irgend etwas
dem wir etwa um Weisheit bitten können. geben, das ihm Schmerzen bereitet.
7,11 Der Herr schließt hier vom gerin-
S. Anhaltend bitten, suchen und geren auf das Höhere. Wenn menschliche
anklopfen (7,7-12) Eltern die Bitten ihrer Kinder mit dem
7,7.8 Wenn wir denken, daß wir die Leh- beantworten, was für sie am besten ist,
ren der Bergpredigt durch unsere eigene wie viel mehr wird unser Vater, der in
Kraft ausleben können, dann haben wir den Himmeln ist, so handeln!
das übernatürliche Wesen des Lebens, zu 7,12 Die Verbindung des vorher-
dem uns der Retter aufruft, nicht ver- gehenden Verses mit diesem scheint mir
standen. Die Weisheit oder Kraft für ein folgende zu sein: Weil unser Vater der
solches Leben muß uns von oben ge- Geber guter Gaben an uns ist, sollten wir
geben werden. So haben wir hier die Ein- ihn nachahmen, indem wir auch zu
ladung zu bitten, und immer wieder zu anderen freundlich sind. Die Art heraus-
bitten, zu suchen und immer wieder zu zufinden, ob etwas jemandem anderen
suchen und zu klopfen und immer wie- gut tut, ist, sich die Frage zu stellen, ob
der zu klopfen. Weisheit und Kraft für wir selbst möchten, daß ein anderer es
das christliche Leben wird denen ge- für uns tut. Die »Goldene Regel« wurde
geben, die ernsthaft und anhaltend dafür in negativer Form schon mindestens
beten. hundert Jahre vor Christus durch Rabbi
Wenn wir die Verse 7 und 8 aus ihrem Hillel aufgestellt. Doch indem Jesus die-
Kontext reißen, dann könnte man mei- sen Satz positiv faßte, ging er über ihn
nen, daß wir hier einen Blankoscheck für hinaus, indem er passive Zurückhaltung
Gläubige haben, als ob sie alles bekom- durch aktives Wohlwollen ersetzt. Chri-
men, worum sie bitten. Aber das ist stentum bedeutet nicht, sich nur der
schlicht und einfach falsch. Die Verse Sünde zu enthalten, es bedeutet aktives
müssen in ihrem unmittelbaren Zusam- gutes Handeln.

53
Matthäus 7

Dieser Ausspruch Jesu enthält »das gibt es falsche Propheten, die die weite
Gesetz und die Propheten«, das heißt, er Pforte und den breiten Pfad propagieren.
faßt die moralischen Lehren des Gesetzes Sie verwässern die Wahrheit bis »nicht
Mose und die Schiften der Propheten mehr genug übrigbleibt, um eine Suppe
Israels zusammen. Die Gerechtigkeit, die für einen kranken Grashüpfer zu ma-
vom AT gefordert würde, wird durch chen«, wie Spurgeon sich ausdrückte.
bekehrte Gläubige erfüllt, die auf diese Diese Menschen, die angeblich im Na-
Weise im Geist wandeln (Röm 8,4). Wenn men Gottes reden, kommen in Schafs-
dieser Vers überall befolgt würde, dann kleidern und geben den Anschein, wahre
würde er alle Gebiete internationaler Gläubige zu sein. Aber innerlich sind sie
Beziehungen, der Nationalpolitik, des reißende Wölfe, d. h. sie sind Ungläu-
Familienlebens und des Gemeindelebens bige, die die Unreifen, Ungefestigten und
verändern. die Verführbaren »erbeuten« wollen.
7,16-18 Die Verse 16-18 befassen sich
T. Der schmale Weg (7,13.14) mit der Enttarnung falscher Propheten:
7,13.14 Der Herr warnt uns hier, daß die »An ihren Früchten werdet ihr sie erken-
Pforte der christlichen Jüngerschaft eng nen.« Ihr lasterhaftes Leben und ihre zer-
9)
und der Weg schwer ist. Aber die, die störerischen Lehren verraten sie. Dornen
seiner Lehre treu folgen, werden über- können keine Trauben bringen und
fließendes Leben finden. Andererseits Disteln keine Feigen. Ein guter Baum
gibt es die weite Pforte – ein selbst- und bringt gute Frucht und ein schlechter
vergnügungssüchtiges Leben. Das Ende Baum bringt schlechte Frucht. Dieses
eines solchen Lebens ist das Verderben. Prinzip gilt in der materiellen wie in der
Hier wird nicht davon geredet, daß man geistlichen Welt. Das Leben und die Leh-
seine Seele verlieren könnte, sondern re derer, die von sich behaupten, für Gott
daß man es versäumt, dem Plan Gottes zu sprechen, sollte am Wort Gottes ge-
entsprechend zu leben. messen werden: »Wenn sie nicht nach
Diese Verse haben auch eine Anwen- diesem Wort sprechen, dann gibt es für
dung auf das Evangelium, indem sie die sie keine Morgenröte« (Jes 8,20).
zwei Wege und Schicksale der Mensch- 7,19.20 Das Schicksal dieser falschen
heit bildlich darstellen. Die weite Pforte Propheten wird sein, ins Feuer geworfen
und der breite Weg führen zum Verder- zu werden. Die Zukunft falscher Lehrer
ben (Spr 16, 25). Die enge Pforte und der und Propheten wird »schnelles Verder-
schmale Weg führen zum Leben. Jesus ist ben sein« (2. Petr 2,1). Sie können an
Tür (Joh 10,9) und Weg (Joh 14,6). Aber ihren Früchten erkannt werden.
diese Deutung ist eine zwar möglich
Anwendung des Abschnittes, die eigent- V. Ich habe euch niemals gekannt
liche Interpretation bezieht sich jedoch (7,21-23)
auf Gläubige. Jesus sagt, ihm nachzufol- 7,21 Der Herr Jesus warnt vor Menschen,
gen erfordert Glauben, Disziplin und die fälschlicherweise bekennen, ihn als
Ausdauer. Aber dieses schwierige Leben Retter anzuerkennen, sich jedoch nie
ist als einziges wirklich lebenswert. bekehrt haben. Nicht jeder, der Jesus
Wenn man den einfachen Weg ein- »Herr, Herr« nennt, »wird in das Reich
schlägt, dann wird man in großer Gesell- der Himmel eingehen«. Nur die den Wil-
schaft sein, doch dann wird Gott auch len Gottes tun, werden in das Reich kom-
seine besten Absichten mit uns nicht ver- men. Der erst Schritt, den Willen Gottes
wirklichen können. zu tun, ist, an den Herrn Jesus zu glau-
ben (Joh 6,27).
U. An ihren Früchten werdet ihr sie 7,22.23 Am Tage des Gerichtes, wenn
erkennen (7,15-20) viele Ungläubige vor Jesus stehen wer-
7,15 Wo immer die harten Anforderun- den (Offb 20,11-15), werden viele ihn
gen wahrer Jüngerschaft gelehrt werden, daran erinnern, daß sie geweissagt,

54
Matthäus 7 und 8

Dämonen ausgetrieben oder viele Wun- Evangelium deutlich zu machen. Der


derwerke getan haben – und zwar in sei- Weise setzt all sein Vertrauen auf den Fel-
nem Namen. Aber ihre Einsprüche wer- sen, Jesus Christus, den Herrn und Hei-
den vergeblich sein. Jesus wird ihnen land. Der törichte Mann will sich nicht
erklären müssen, daß er sie nie gekannt bekehren und lehnt Jesus, die einzige
oder als sein Eigentum anerkannt hat. Hoffnung auf Errettung, ab. Aber die
Aus diesen Versen können wir ler- Sinndeutung des Gleichnisses reicht weit
nen, daß nicht alle Wunder göttlicher über die Rettung hinaus und bezieht sich
Natur sein müssen, und daß nicht alle auf die praktische Verwirklichung im
Wundertäter göttliche Vollmacht haben. christlichen Leben.
Ein Wunder bedeutet nur, daß über- 7,28.29 Als unser Herr seine Predigt
natürliche Kräfte am Werk sind. Die vollendet hatte, waren die Menschen
Mächte können göttlichen oder satani- sehr erstaunt. Wenn wir die Bergpredigt
schen Ursprungs sein. Satan kann seine lesen und nicht über ihr revolutionäres
Anhänger dazu ermächtigen, Dämonen Wesen staunen, dann haben wir irgend
zeitweilig auszutreiben, um die Illusion etwas nicht verstanden.
zu schaffen, daß das Wunder göttlich ist. Die Menschen erkannten, daß ein
Er entzweit sich in diesem Falle nicht mit Unterschied zwischen der Lehre Jesu
sich selbst, sondern plant für die Zukunft und der der Schriftgelehrten bestand. Er
eine noch schlimmere Besessenheit sprach mit Vollmacht, ihre Worte waren
durch Dämonen. machtlos. Er hatte eine Stimme, sie
waren nur ein Echo. Jamieson, Fausset
W. Baut auf den Fels (7,24-29) und Brown kommentieren das so:
7,24.25 Jesus schließt seine Predigt mit Das Bewußtsein göttlicher Autorität als
einem Gleichnis, das die Bedeutung des Gesetzgeber, Ausleger und Richter bestimm-
Gehorsams betonen soll. Es ist nicht te seine Predigt so sehr, daß die Lehre der
genug, diese Worte zu hören, wir müssen Pharisäer in diesem Licht nur noch als Ge-
10)
sie in die Praxis umsetzen. Der Jünger, fasel erscheinen mußte.
der hört und Jesu Gebote erfüllt, ist wie
ein weiser Mann, der sein Haus auf Fel- V. Die Wunder des Messias
sen baut. Sein Haus (Leben) hat ein fest- in Macht und Gnade. Verschiedene
es Fundament, das auch, wenn es von Reaktionen darauf (8,1-9,34)
Wind und Regen umtost ist, nicht fallen In den Kapiteln 8 – 12 beweist der Herr
wird. Jesus dem Volk Israel, daß er wirklich der
7,26.27 Derjenige, der Jesu Worte Messias ist, von dem die Propheten ge-
hört, sie aber nicht tut, ist wie ein törich- schrieben haben. Jesaja hatte zum Bei-
ter Mann, der sein Haus auf den Sand spiel vorhergesagt, daß der Messias die
baut. Dieser Mensch wird den Stürmen Augen der Blinden und die Ohren der
des Lebens nicht trotzen können: »Als Tauben öffnen werde und die Stummen
ein Platzregen herniederfiel und die singen lassen werde (Jes 35,5.6). Jesus
Winde wehten, fiel das Haus, denn es bewies, daß er der Messias ist, indem er
hatte keinen festen Grund.« alle diese Prophezeiungen erfüllte. Israel
Wenn ein Mensch gemäß den Prinzi- hätte keinerlei Schwierigkeiten haben
pien der Bergpredigt lebt, dann nennt die sollen, ihn als Christus zu erkennen, weil
Welt ihn einen Narren, aber Jesus nennt sie ihn in den Schriften angekündigt fin-
ihn einen weisen Menschen. Die Welt den konnten. Doch niemand ist so blind
meint, daß ein weiser Mensch jemand ist, wie der, der nicht sehen will.
der für das Sichtbare, für die Gegenwart Die Ereignisse, die in diesen Kapiteln
und für sich selbst lebt, doch Jesus nennt aufgezeichnet sind, sind eher thematisch
einen solchen Menschen einen Narren. als in einer streng chronologischen Rei-
Es ist legitim, den weisen und den törich- henfolgen geordnet. Wir haben es nicht
ten Baumeister zu benutzen, um das mit einem vollständigen Bericht des

55
Matthäus 8

Dienstes des Herrn zu tun, sondern mit weil der Herr sich bewußt war, daß viele
einer Anzahl von Ereignissen, die der Menschen, die nur daran interessiert
Heilige Geist ausgewählt hat, um be- waren, vom Joch der Römerherrschaft
stimmte Motive im Leben unseres Ret- befreit zu werden, ihn zum König
ters wiederzugeben. Wir finden in dieser machen wollten. Aber er wußte, daß Is-
Auswahl folgendes: rael noch immer unbußfertig war, daß
1. Christi absolute Herrschaft über das Volk seine geistliche Führerschaft
Krankheit, Dämonen, Tod und die ablehnen würde, und daß er zuerst ans
Naturgewalten. Kreuz gehen mußte.
2. Sein Anspruch der absoluten Herr- Unter dem Gesetz des Mose war der
schaft im Leben derer, die ihm folgen Priester auch Arzt. Wenn ein Aussätziger
wollen. gereinigt war, dann mußt er ein Opfer
3. Die steigende Ablehnung Jesu durch bringen und vor dem Priester erschei-
das Volk Israel, insbesondere durch nen, um reingesprochen zu werden
seine religiösen Führer. (3. Mose 14,4-6). Jesus befahl dem Aus-
4. Die bereitwillige Annahme des Ret- sätzigen in diesem Fall, dem Gesetz zu
ters durch einzelne Heiden. gehorchen. Es war ohne Zweifel ein sel-
tener Fall, daß ein Aussätziger gereinigt
A. Macht über den Aussatz (8,1-14) wurde, so außerordentlich, daß es den
8,1 Obwohl die Lehre Jesu radikal und Priester dazu hätte bringen müssen zu
extrem war, hatte sie doch eine große untersuchen, ob nicht doch der Messias
Anziehungskraft, so sehr, daß ihm gekommen sei.
»große Volksmengen« folgten. Die Wahr- Die geistliche Deutung dieses Wun-
heit bewahrheitet sich selbst, und auch, ders ist klar: Der Messias war mit der
wenn Menschen sie nicht mögen, können Macht zu heilen nach Israel gekommen,
sie sie nie wieder vergessen. um das Volk zu heilen. Er wies dieses
8,2 Ein Aussätziger kniete vor Jesus Wunder als einen seiner »Ausweise« vor.
nieder und bat ihn verzweifelt um seine Aber das Volk war noch nicht bereit, sei-
Heilung. Dieser Aussätzige hatte den nen Retter zu empfangen.
Glauben, daß der Herr ihn heilen könne,
und wahrer Glaube wird nie enttäuscht. B. Macht über Lähmung (8,5-13)
Aussatz ist ein gutes Bild für die Sünde, 8,5.6 Der Glaube eines heidnischen
denn er ist abstoßend, zerstörerisch, Hauptmannes wird als erschütternder
ansteckend und, in einigen Formen, Kontrast zur mangelnden Bereitschaft
11)
unheilbar. Israels dargestellt, seinen Retter zu emp-
8,3 Aussätzige waren Unberührbare. fangen. Wenn Israel nicht gewillt war,
Direkter Kontakt mit ihnen konnte an- seinen König anzuerkennen, dann wür-
steckend sein. Im Falle der Juden machte den es eben die verachteten Heiden tun.
eine solche Berührung den Betreffenden Der Hauptmann war ein römischer
zeremoniell unrein, das heißt, unfähig Militärbeamter, der über etwa hundert
zum Gottesdienst in der Gemeinde Is- Mann zu befehlen hatte. Seine Einheit
rael. Aber als Jesus den Aussätzigen be- war in oder bei Kapernaum stationiert.
rührte und die heilenden Worte sprach, Er trat zu Jesus, um Heilung für seinen
verschwand der Aussatz sofort. Unser Diener zu erbitten, der unter einer
Herr hat die Macht, von Sünde zu reini- schweren und schmerzhaften Lähmung
gen und den Gereinigten so zum Gottes- litt. Dies war ein seltener Beweis von
dienst und zur Anbetung zu befähigen. Mitleid – die meisten Beamten hätten
8,4 Hier wird zum ersten Mal im niemals soviel Fürsorge für einen Diener
Matthäusevangelium erwähnt, daß Jesus übrig gehabt.
befahl, ein Wunder sollte nicht weiterer- 8,7-9 Als der Herr Jesus anbot, den
zählt werden (s. a. Kap. 9,30; 12,16; 17,9; kranken Diener zu besuchen, zeigte der
Mk 5,43 7,36; 8,26). Das geschah sicher, Hauptmann die Echtheit und Tiefe seines

56
Matthäus 8

Glaubens. Er sagte praktisch: Ich bin C. Macht über das Fieber (8,14.15)
nicht würdig, daß du in mein Haus 8,14.15 Als er in das Haus des Petrus
kommst. Aber es ist sowieso nicht nötig, kommt, findet er die Schwiegermutter
weil du ihn ganz einfach heilen kannst, von Petrus fieberkrank darniederliegen.
indem du ein Wort sprichst. Ich weiß, »Er rührte ihre Hand an, und das Fieber«
was Befehlsgewalt ist. Ich nehme Befehle verschwand. Normalerweise ist ein
von meinen Vorgesetzten an und gebe sie Mensch sehr geschwächt, wenn das Fie-
an meine Untergebenen weiter. Meine ber ihn verläßt, aber diese Heilung war
Befehle werden genau ausgeführt. Wie- so direkt und so vollständig, daß sie in
viel mehr Macht würden deine Worte bei der Lage war, aufzustehen, und ihm zu
der Krankheit meines Knechtes haben!« dienen – ein passender Ausdruck ihrer
8,10-12 Jesus wunderte sich über den Dankbarkeit dem Retter gegenüber. Wir
Glauben dieses Heiden. Es kommt nur sollten sie nachahmen, wann immer wir
zweimal vor, daß Jesus sich über etwas geheilt werden, und ihm mit neuer Hin-
wundert, hier ist das eine Mal, das ande- gabe und neuem Eifer dienen.
re Mal wundert er sich über den Unglau-
ben der Juden (Mk 6,6). Er hatte solchen
großen Glauben selbst in Israel nicht ge- D. Macht über Dämonen und
funden. Deshalb kündigte er nun an, daß verschiedene Krankheiten (8,16.17)
in seinem zukünftigen Reich Heiden aus 8,16.17 Am Abend, als der Sabbat vorbei
der ganzen Welt die Gemeinschaft mit war (s. Mk 1,21-34), brachten die Leute
den jüdischen Patriarchen genießen wür- viele Besessene zu ihm. Diese bedauerns-
den, während die Söhne des Reiches in werten Menschen wurden von bösen
die äußere Finsternis hinausgeworfen Geistern besessen und kontrolliert. Oft
werden würden, wo sie heulen und mit zeigten sie übersinnliches Wissen und
den Zähnen knirschen würden. Die Söh- Kräfte, andere wiederum wurden ge-
ne des Reiches sind die, die durch Geburt quält. Ihr Verhalten ähnelte manchmal
Juden waren, die bekannten, daß sie Gott dem von Geisteskranken, aber die Ur-
als König anerkennen würden, die sich sache war hier dämonisch und nicht kör-
jedoch niemals wirklich bekehrten. Das perlich oder geistig. Jesus »trieb die Gei-
Prinzip gilt auch noch heute. Viele Kin- ster aus mit einem Wort«.
der, die das Privileg haben, in christ- Auch heilte er alle Leidenden und er-
lichen Familien geboren zu werden und füllte damit die Prophezeiung von Jesaja
dort aufzuwachsen, werden trotzdem 53,4: »Er selbst nahm unsere Schwach-
nicht vor der Hölle bewahrt bleiben, weil heiten und trug unsere Krankheiten.«
sie Jesus abgelehnt haben, während Wil- Vers 17 wird oft von sogenannten »Glau-
de aus dem Urwald die ewige Herrlich- bensheilern« benutzt, um zu zeigen, daß
keit des Himmel genießen dürfen, weil Heilung zum Sühnewerk Jesu gehörte,
sie der Botschaft des Evangeliums ge- und daß körperliche Heilung deshalb
glaubt haben. vom Gläubigen durch den Glauben in
8,13 »Und Jesus sprach zu dem Anspruch genommen werden kann.
Hauptmann: Geh hin, und dir geschehe, Aber hier wendet der Geist Gottes die
wie du geglaubt hast.« Glaube wird im Prophezeiung nur auf den Heilungs-
Verhältnis zum Vertrauen in die Eigen- dienst Jesu auf Erden an und nicht auf
schaften Gottes belohnt. Der Diener wur- seinen Kreuzestod.
de sofort geheilt, obwohl Jesus weit ent- In diesem Kapitel haben wir die vier
fernt war. Wir können darin ein Bild für folgenden Wunder gesehen:
den gegenwärtigen Dienst Christi sehen, 1. Heilung des jüdischen Aussätzigen,
der die nicht bevorzugten Heiden von Jesus ist anwesend.
der Lähmung der Sünde heilt, obwohl er 2. Heilung des Dieners des Haupt-
selbst nicht mehr körperlich anwesend manns, Jesus ist nicht am Ort des
ist. Geschehens.

57
Matthäus 8

3. Heilung der Schwiegermutter des und oft übernachtete. Die eigentliche


Petrus, Jesus ist im Haus. Bedeutung seiner Worte scheint jedoch
4. Heilung aller Kranken und Besesse- geistlich zu sein: Diese Welt konnte ihm
nen in der Anwesenheit Jesu. keinen wirklichen, dauernden Ruheort
Gaebelein meint, daß diese vier Wun- bieten. Er hatte sein Werk zu vollbringen
der Stufen im Dienst unseres Herrn und konnte nicht ruhen, bis es vollendet
bedeuten: war. Dasselbe gilt für seine Nachfolger:
1. Christi erstes Kommen, sein Dienst Diese Welt ist kein Ruheort für sie – sie
an seinem Volk Israel. sollte es zumindest nicht sein!
2. Das Zeitalter der Heiden, Jesus ist 8,21 Ein anderer wohlmeinender
abwesend. Nachfolger drückte seinen Willen zur
3. Seine Wiederkunft, wenn er das Nachfolge aus, hatte jedoch noch etwas
»Haus« betreten wird, seine Bezie- wichtigeres zu erledigen: »Herr, erlaube
hung zu Israel wiederherstellt und mir, zuvor hinzugehen und meinen Vater
die kranke Tochter Zion heilt. zu begraben.« Es ist nicht so entschei-
4. Das Tausendjährige Reich, in dem dend, ob der Vater bereits gestorben ist
alle Besessenen und Kranken geheilt oder nicht. Das Grundproblem wird in
12)
werden. der Widersprüchlichkeit der Worte:
Das ist eine faszinierender Glie- »Herr, . . . mir zuvor« (oder »ich zuerst)«
derung des Fortgangs der Unterwei- deutlich. Er stellte seine eigenen Interes-
sung durch Wunder und sollte uns sen vor die Christi. Es ist zwar völlig in
ermutigen, die verborgenen Tiefen der Ordnung, für seinen Vater ein ordent-
Bedeutung in der Heiligen Schrift zu liches Begräbnis zu organisieren, doch es
erforschen. Wir sollten jedoch vorsichtig wird falsch, wenn solch eine ehrenwerte
sein, diese Methode nicht zu extrem zu Handlung die Priorität über den Ruf des
betreiben, indem wir Bedeutungen in Retters erhält.
irgendetwas hineinlesen, die einfach 8,22 Jesus antwortete ihm praktisch:
lächerlich sind. »Deine erste Pflicht ist es, mir nachzu-
folgen. Laß die geistlich Toten die kör-
E. Das Wunder der menschlichen perlich Toten begraben. Auch ein unge-
Ablehnung (8,18-22) retteter Mensch kann das erledigen. Aber
Wir haben gesehen, wie Christus seine es gibt Aufgaben, die nur du allein aus-
Macht über Krankheit und Dämonen aus- führen kannst. Opfere deine beste Kraft
übte. Nur wenn er Männern und Frauen für Ewiges. Verschwende sie nicht für
begegnet, stößt er auf Widerstand – Nebensächliches.« Uns wird hier nicht
das Wunder der menschlichen Ableh- erzählt, wie diese beiden Jünger reagier-
nung. ten. Aber sehr wahrscheinlich verließen
8,18-20 Als Jesus sich bereitmachte, sie Christus, um sich einen bequemeren
den See Genezareth von Kapernaum Platz in der Welt zu sichern und um ihr
nach Osten zu überqueren, kam ein Leben damit zu verbringen, untergeord-
selbstbewußter Schriftgelehrter auf ihn nete Dinge zu tun. Aber ehe wir sie ver-
zu und versprach ihm zu folgen »wohin urteilen, sollten wir uns selbst prüfen,
du auch gehst«. In seiner Antwort for- wie wir auf die beiden Forderungen an
derte der Herr ihn auf, die Kosten, näm- die Jüngerschaft reagieren, die Jesus in
lich ein Leben in Selbstverleugnung, zu diesem Abschnitt betont hat.
überschlagen. »Die Füchse haben Höh-
len und die Vögel des Himmels Nester, F. Macht über die Naturgewalten
aber der Sohn des Menschen hat nicht, (8,23-27)
wo er das Haupt hinlege.« Während sei- 8,23-27 Der See Genezareth ist für plötz-
nes öffentlichen Dienstes hatte Jesus kein liche, starke Stürme bekannt, die den See
eigenes Haus, doch gab es Häuser, in in eine überschäumende brodelnde Tiefe
denen er ein willkommener Gast war verwandeln. Die Winde kommen von

58
Matthäus 8 und 9

Norden das Jordantal herunter und wer- 8,32 Seltsamerweise erfüllte Jesus
den durch eine enge Passage beschleu- ihren Wunsch. Warum sollte der unum-
nigt. Wenn sie den See erreichen, wird schränkte Herr in eine Bitte von Dä-
dieser für Schiffe äußerst unsicher. monen einwilligen? Um das zu ver-
In diesem Fall fuhr Jesus vom West- stehen, müssen wir uns zweierlei ver-
zum Ostufer. Als der Sturm losbrach, gegenwärtigen: Erstens scheuen Dämo-
schlief er im Boot. Die erschrockenen nen den entkörperlichten Zustand, sie
Jünger weckten ihn mit ihren Hilferufen. wollen entweder in Menschen, oder,
Man sollte ihnen zugute halten, daß sie wenn das nicht möglich ist, in anderen
sich immerhin an den Richtigen wand- Kreaturen wohnen. Zweitens ist es das
ten. Nachdem Jesus ihren Kleinglauben Ziel eines jeden Dämonen, zu zerstören.
getadelt hatte, bedrohte er die Winde Wenn Jesus sie aus den Männern ausge-
und den See. Als eine große Stille ent- trieben hätte, hätten sie sich auf die
stand, wunderten sich die Männer, daß anderen Menschen des Gebietes ge-
ihrem demütigen Mitfahrer sogar die stürzt. Indem er ihnen erlaubt, in die
Elemente gehorchten. Wie wenig hatten Schweine zu gehen, verhinderte er, daß
sie verstanden, daß der Schöpfer und sie Männer und Frauen anfielen und
Erhalter des Universums an diesem Tag beschränkte so ihre zerstörerische Macht
in ihrem Schiff war! auf Tiere. Es war noch nicht der Zeit-
Alle Jünger geraten früher oder spä- punkt gekommen, zu dem der Herr sie
ter in Stürme. Manchmal scheint es, daß endgültig vernichten würde.
wir von den Wellen hinweggespült wer- Dieses Ereignis zeigt, daß Dämonen
den. Welch ein Trost zu wissen, daß Jesus letztlich verderben wollen und unter-
mit uns im Boot ist. »Kein Wasser kann streicht die schreckliche Möglichkeit, daß
das Boot verschlingen, in dem der Herr zwei Männer von so vielen Dämonen be-
des Meeres, der Erde und des Himmel sessen sein können, wie nötig sind, um
liegt.« Niemand kann wie der Herr Jesus 2000 Schweine zu töten (Mk 5,13).
unsere Lebensstürme stillen. 8,33.34 Die Hirten rannten in die
Stadt und berichteten dort, was gesche-
G. Jesus heilt zwei von Dämonen hen war. Das Ergebnis war eine aufge-
besessene Männer (8,28-34) schreckte Bürgerschaft, die zu Jesus hin-
8,28 Am Ostufer des Sees Genezareth ausging und ihn bat, das Gebiet zu ver-
liegt das Land der Gergesener oder lassen. Seitdem ist Jesus immer wieder
13)
Gadarener. Als Jesu ankommt, begeg- vorgeworfen worden, daß er unnötiger-
nen ihm zwei ungwöhnliche Fälle dämo- weise Schweine vernichtet hat und ist
nischer Besessenheit. Diese Besessenen damit gebeten worden, zu gehen, weil er
lebten in höhlenartigen Gräbern und Menschenleben für höher als Tiere ach-
waren so bösartig, daß es gefährlich war, tet. Wenn diese Gergesener Juden gewe-
durch diese Gegend zu reisen. sen wären, dann wäre es sogar ungesetz-
8,29-31 Als Jesus sich näherte, lich gewesen, Schweine zu züchten. Aber
schrieen die Dämonen »und sprachen: ob sie Juden waren oder nicht, sie haben
Was haben wir mit dir zu schaffen, Sohn sich ihr Urteil selbst gesprochen, weil sie
Gottes? Bist du hierher gekommen, uns ein Herde Schweine für wertvoller hiel-
vor der Zeit zu quälen?« Sie wußten, wer ten als zwei arme Besessene.
Jesus war, und daß er sie schließlich ver-
nichten würde. In dieser Hinsicht war H. Macht der Sündenvergebung (9,1-8)
ihre Theologie exakter als die der mei- 9,1 Von den Gergasenern abgelehnt über-
sten heutigen liberalen Theologen. Sie querte der Retter den See Genezareth
merkten, daß Jesus sie austreiben wollte nochmals und kehrte nach Kapernaum
und fragten, ob sie nicht in eine Herde zurück, das »seine eigene Stadt« gewor-
Schweine fahren dürften, die in der Nähe den war, nachdem die Menschen in
weidete. Nazareth versucht hatten, ihm umzu-

59
Matthäus 9

bringen (Lk 4,29-31). Hier vollbrachte er 9,8 Als die Menge sah, wie er mit sei-
einige seiner machtvollsten Wunder. ner Matte davonging, wurde sie von
9,2 Vier Männer kamen zu ihm und zwei verschiedenen Gefühlen bewegt:
brachten einen Gelähmten, der auf einem Furcht und Verwunderung. Sie hatten
primitiven Bett oder einer Matte lag. Der Angst vor der Gegenwart einer so offen-
Bericht des Markus erzählt uns, daß sie sichtlich übernatürlichen Heimsuchung.
wegen der Menge das Dach abdecken Sie »verherrlichten Gott, der solche Voll-
mußten und den Mann vor Jesus hinab- macht den Menschen gegeben hat«.
ließen (Mk 2,1-12). »Als Jesus ihren Glau- Doch wurde ihnen nicht die Bedeutung
ben sah, sprach er zu dem Gelähmten: des Wunders klar. Die sichtbare Heilung
Sei guten Mutes, mein Sohn, deine Sün- des Gelähmten geschah, um zu bestä-
den sind vergeben.« Man beachte, daß er tigen, daß dem Mann die Sünden verge-
ihren Glauben sah. Der Glaube führte ben waren, was ein unsichtbares Wunder
diese Männer dazu, den Gelähmten zu ist. Daraus hätten sie schließen müssen,
Jesus zu bringen, der ihn heilen sollte, daß sie nicht Zeuge davon gewesen
und der Glaube des Gelähmten streckte waren, wie Gott seine Autorität an Men-
sich auch nach Jesus um Heilung aus. schen weitergibt, sondern daß Gott unter
Unser Herr belohnte diesen Glauben ihnen in der Person des Herrn Jesus Chri-
zuerst, indem er dem Mann seine Sün- stus gegenwärtig war. Doch das verstan-
den vergab. Der große Arzt heilte die den sie nicht.
Ursache, ehe er die Symptome behandel- Was die Schriftgelehrten angeht, so
te, er gab zuerst den größeren Segen. Das wissen wir durch spätere Ereignisse, daß
wirft die Frage auf, ob der Herr Jesus sie in ihrem Unglauben und Haß nur ver-
jemals einen Menschen geheilt hat, ohne härtet wurden.
ihm auch die Rettung zu geben.
9,3-5 Als einige Schriftgelehrte hör- I. Jesus beruft Matthäus, den Zöllner
ten, wie Jesus diesem Mann die Sünden (9,9-13)
vergab, klagten sie ihn »bei sich selbst« 9,9 Die gespannte Atmosphäre, die sich
der Gotteslästerung an. Schließlich konn- um unseren Retter aufbaut, wird zeit-
te nur Gott Sünden vergeben – und sie weilig entspannt durch Matthäus' einfa-
würden ihn sicherlich nicht als Gott che und demütige Schilderung seiner
annehmen. Der allwissende Herr Jesus eigenen Berufung. Er war ein Zöllner
las ihre Gedanken, tadelte sie wegen des und samt seinen Berufskollegen bei den
Argen in ihren ungläubigen Herzen und Juden sehr verhaßt, und zwar wegen
fragte sie dann, was leichter zu sagen seiner Unehrlichkeit, seinen ungerech-
wäre: »Deine Sünden sind vergeben, terweise überhöhten Steuern und Zoll-
oder zu sagen: Steh auf und geh umher.« einnahmen und vor allem weil er den
Eigentlich ist es ebenso einfach, das eine Interessen des Römischen Reiches dien-
wie das andere zu sagen, doch was ist te, das Israel beherrschte. Als Jesus am
leichter zu tun? Beides ist menschlich Zollhaus vorbeikam, sagte er zu Mat-
gesehen unmöglich, aber die Ergebnisse thäus: »Folge mir nach!« Die Reaktion
der ersten Aufforderung waren nicht kam sofort, er erhob sich und folgte
sichtbar, während die Auswirkung der Jesus nach. Er verließ damit seinen tra-
zweiten sofort wahrnehmbar war. ditionell unehrlichen Beruf, um sofort
9,6.7 Um den Schriftgelehrten zu zei- ein Jünger Jesu zu werden. Wie einmal
gen, daß er die Autorität hatte, »auf Erden jemand gesagt hat: »Er verlor einen be-
Sünden zu vergeben« (und deshalb als quemen Job, aber er fand seine Bestim-
Gott geehrt werden sollte), ließ sich Jesus mung. Er verlor seine gemütliche
herab, ihnen ein Wunder zu zeigen, das Sicherheit, aber er fand ein Abenteuer,
sie sehen konnten. Er wandte sich dem von dem er sich nie hätte träumen las-
Gelähmten zu und sagte: »Steh auf, nimm sen.« Sein Lohn war nicht zuletzt, daß er
dein Bett auf, und geh in dein Haus!« einer der Zwölf wurde und die Ehre

60
Matthäus 9

erhielt, das Evangelium zu schreiben, forderung weg, die Bedeutung der Worte
das nach ihm benannt ist. Jahwes zu lernen: Ich will Barmherzig-
9,10 Das beschriebene Essen wurde keit und nicht Schlachtopfer« (ein Zitat
von Matthäus zur Ehre Jesu gegeben aus Hosea 6,6). Obwohl Gott den Opfer-
(Lk 5,29). Das war seine Art, Jesus öffent- dienst eingeführt hatte, wollte er nicht,
lich zu bekennen und seine Bekannten daß bloße Rituale zum Ersatz für innere
mit dem Retter bekannt zu machen. Des- Gerechtigkeit würden. Gott gefallen Ri-
halb waren natürlich seine Gäste Zöllner tuale ohne persönliche Frömmigkeit
und andere, die als Sünder bekannt nicht – genau so verhielten sich die Pha-
waren. risäer nämlich. Sie beachteten jeden
9,11 Es war in dieser Zeit üblich, zu Buchstaben des Gesetzes, hatten jedoch
essen, indem man auf einer Art Couch mit denen, die geistliche Hilfe brauchten,
mit dem Gesicht zum Tisch lag. Als die kein Erbarmen. Sie hatten nur mit ande-
Pharisäer sahen, daß Jesus sich in dieser ren ähnlich Selbstgerechten Gemein-
Weise mit dem sozialen Abschaum schaft.
zusammentat, gingen sie zu seinen Jün- Dagegen sagte Jesus ihnen ausdrück-
gern, und klagten ihn an, daß er durch lich: »Ich bin nicht gekommen, Gerechte
seine Gemeinschaft gewissermaßen mit- zu rufen, sondern Sünder.« Er erfüllte
schuldig geworden sei, denn ein echter Gottes Forderung nach Opfern ebenso
Prophet würde niemals zusammen mit vollkommen wie die Forderung nach
Sündern essen! Barmherzigkeit. In einer Hinsicht gibt es
9,12 Das hatte Jesus gehört und ant- keine gerechten Menschen auf der Erde,
wortete: »Nicht die Starken brauchen deshalb kam er, um alle Menschen zur
einen Arzt, sondern die Kranken.« Die Umkehr zu rufen. Aber hier wird der
Pharisäer meinten, daß sie gesund seien, Gedanke zum Ausdruck gebracht, daß
und waren nicht gewillt zu bekennen, sein Ruf nur für diejenigen eine Bedeu-
daß sie Jesus brauchten. (In Wahrheit tung hat, die anerkennen, daß sie selbst
waren sie geistlich sogar sehr krank und Sünder sind. Jesus kann niemanden hei-
hätten Heilung dringend notwendig len, der stolz, selbstgerecht und unbuß-
gehabt.) Die Zöllner und Sünder waren fertig ist – wie die Pharisäer.
dagegen wesentlich eher gewillt, ihren
wahren Zustand zuzugeben und Christi J. Jesus wird zum Fasten befragt
rettende Gnade zu suchen. So war die (9,14-17)
Anklage also wahr! Jesus aß wirklich mit 9,14 Zu dieser Zeit war Johannes der
Sündern. Wenn er mit den Pharisäern Täufer wahrscheinlich schon im Gefäng-
gegessen hätte, wäre diese Behauptung nis. Seine Jünger kamen mit einer Frage
noch immer wahr gewesen, und viel- zu Jesus: Sie selbst fasteten sehr oft, aber
leicht noch mehr! Wenn Jesus nicht mit die Jünger Jesu taten das nicht. Warum
Sündern in unserer Welt zusammen nicht?
gegessen hätte, dann hätte er immer 9,15 Der Herr antwortete mit einem
allein essen müssen. Aber es ist wichtig, Bild. Er ist der Bräutigam und die Jünger
sich zu erinnern, daß er, wenn er mit die Hochzeitsgäste. Solange der Bräuti-
Sündern aß, nie ihre Sünden billigte gam bei ihnen ist, gibt es keinen Grund,
oder sein Zeugnis abschwächte. Er ge- als Zeichen der Trauer zu fasten. Wenn er
brauchte die Situation, um alle Men- von ihnen weggenommen werden wür-
schen zur Wahrheit und zur Heiligung de, dann würden auch seine Jünger
aufzurufen. fasten. Er wurde von ihnen genommen –
9,13 Das Problem der Pharisäer war, in Tod und Begräbnis, und seit seiner
daß ihre Herzen, obwohl sie den Gebräu- Himmelfahrt ist er nicht mehr körperlich
chen des Judentums mit großer Genauig- bei seinen Jüngern. Die Worte Jesu befeh-
keit folgten, kalt, hart und gnadenlos len zwar das Fasten nicht, billigen es aber
waren. So schickte Jesus sie mit der Auf- sicherlich als eine gute Übung für alle,

61
Matthäus 9

die auf die Rückkehr des Bräutigams tung aus Gnade wurde in die alten Schläuche
warten (s. Exkurs Kap. 6,16-18). der Gesetzlichkeit geschüttet, und was ist
9,16 Die Frage, die die Johannesjün- dabei herausgekommen? Nun, die Schläuche
ger stellten, ließ Jesus herausstellen, daß sind geplatzt und wertlos geworden und der
Johannes am Ende eines Zeitalter steht Wein ist verschüttet und das meiste des kost-
und das neue Zeitalter der Gnade ver- baren lebensspendenden Getränkes ist ver-
kündigt hat. Er zeigt, daß ihre Prinzipien loren. Das Gesetz hat seinen Schrecken ver-
nicht vermischt werden dürfen. Wenn loren, weil es mit der Gnade vermischt wor-
wir Gesetz und Gnade mischen wollten, den ist, und die Gnade hat ihre Schönheit und
so wäre das, als ob wir »einen Flicken ihr Wesen als Gnade verloren, weil sie mit
15)
von neuem Tuch auf ein altes Kleid« set- Gesetzeswerken vermischt worden ist.
zen würden. Wenn beides gewaschen
wird, dann läuft das neue Tuch ein und K. Macht zur Heilung Unheilbarer
löst sich von dem alten Tuch ab. Dieses und zur Totenauferweckung
Abreißen macht alles nur noch schlim- (9,18-26)
mer. Gaebelein merkt hierzu richtig an: 9,18.19 Jesu Ausführungen über den
Ein judaistisches Christentum, das zwar Wechsel der Zeitalter wurde von einem
die Gnade und das Evangelium bekennt, aber verzweifelten Vorsteher der Synagoge
auch noch versucht, das Gesetz zu halten und unterbrochen, dessen Tochter soeben
eine gesetzliche Gerechtigkeit fördert, ist in gestorben war. Er kniete vor dem Herrn
den Augen Gottes ein größerer Greuel als das nieder, bat ihn zu kommen und sie wie-
Israel der Vergangenheit, das seinen Gott der zum Leben zu erwecken. Es war
zwar bekannte, aber noch Götzendienst außergewöhnlich, daß dieser Vorsteher
14)
trieb. bei Jesus Hilfe suchte, denn die meisten
9,17 Diese Mischung konnte auch jüdischen Führer würden den Zorn und
damit verglichen werden, neuen Wein in die Verachtung der anderen Vorsteher
alte Weinschläuche zu füllen. Der Druck, über eine solche Handlung gefürchtet
der durch die Gärung des neuen Weins haben. Jesus belohnte diesen Glauben,
entsteht, würde die alten Schläuche zer- indem er sich mit seinen Jüngern zum
stören, weil sie nicht mehr elastisch sind. Hause des Vorstehers aufmachte.
Das Leben und die Freiheit des neuen 9,20 Schon wieder eine Unterbre-
Lebens zerstört die alten Schläuche des chung! Diesmal handelte es sich um eine
Ritualismus. Frau, die zwölf Jahre lang an einer
Die Einführung des christlichen Zeit- hämorrhoidenähnlichen Krankheit ge-
alters würde unausweichlich Spannun- litten hatte. Jesus ärgerte sich niemals
gen zur Folge haben. Die Freude, die über solche Unterbrechungen, er war
Christus brachte, konnte in den alten immer gelassen, verfügbar und zugäng-
Formen und Riten des AT keinen Aus- lich.
druck mehr finden. Alles mußte ganz 9,21.22 Medizinische Hilfe war bei
neu geordnet werden. Pettingill macht dieser Frau unwirksam geblieben, ihr
das deutlich: Zustand hatte sich sogar verschlechtert
So warnt der König seine Jünger vor der (Mk 5,26). Als es am schlimmsten mit ihr
Vermischung von Alt und Neu. Und doch stand, begegnete sie Jesus – zumindest
wurde gerade das in der Christenheit sehr oft sah sie ihn von der Menge umgeben. Da
getan. Das Judentum ist geflickt und überall sie glaubte, daß er in der Lage und wil-
von den den Kirchen aufgenommen worden lens war, sie zu heilen, drängte sie sich
und das alte Kleid wird dann »Christentum« durch die Menge und berührte die Qua-
genannt. Das Ergebnis ist eine verwirrende ste seines Kleides. Wahrer Glaube bleibt
Mischung, die weder Judentum noch Chri- bei Jesus niemals unbemerkt. Er drehte
stentum ist, sondern ein ritualistischer Er- sich um und erklärte, daß sie geheilt war.
satz aus toten Werken statt Vertrauen in den Sofort war sie zum ersten Mal seit zwölf
lebendigen Gott. Der neue Wein der Erret- Jahren wieder gesund.

62
Matthäus 9

9,23.24 Die Erzählung kehrt nun zu 9,29.30 Da rührte der große Arzt ihre
dem Vorsteher zurück, dessen Tochter Augen an und versicherte ihnen, sie wür-
gestorben war. Als Jesus das Haus er- den sehen, weil sie geglaubt hatten.
reichte, heulten unentwegte Klageweiber Sofort wurden ihre Augen vollständig
in Trauer, die jemand einmal »synthe- gesund.
tische Trauer« genannt hat. Jesus befahl, Der Mensch sagt: »Erst sehen, dann
daß alle Besucher den Raum verlassen glauben.« Aber Gott sagt: »Glauben heißt
sollten und erklärte gleichzeitig, daß das sehen.« Jesus sagte zu Martha: »Habe ich
Mädchen nicht gestorben sei, sondern dir nicht gesagt, wenn du glaubtest, so
schlafe. Die meisten Ausleger glauben, würdest du die Herrlichkeit Gottes
daß der Herr hier den Ausdruck »schla- sehen?« (Joh 11,40). Der Schreiber des
fen« im übertragenen Sinne verwendete, Hebräerbriefes sagt »Durch Glauben ver-
um damit den Tod zu bezeichnen. An- stehen wir . . .« (Hebr 11,3). Der Apostel
dere allerdings glauben, das Mädchen lag Johannes schrieb: »Dies habe ich euch
im Koma. Diese Interpretation verneint geschrieben, damit ihr wißt, . . . die ihr an
nicht, daß es Jesus möglich gewesen den Namen des Sohnes Gottes glaubt«
wäre, sie vom Tode zu erwecken, sondern (1. Joh 5,13). Gott ist über Glauben, der
will betonen, daß Jesus zu ehrlich war, erst ein Wunder fordert, nicht erfreut. Er
sich für eine Totenauferweckung loben will, daß wir ihm allein deshalb glauben,
zu lassen, wenn das Mädchen nicht wirk- weil er Gott ist.
lich tot war. Sir Robert Anderson zum Warum bedrohte Jesus die geheilten
Beispiel war dieser Meinung. Er wies dar- Männer so ernsthaft, daß sie niemanden
auf hin, daß der Vater und alle anderen von dem Wunder weitersagen sollten? In
gesagt hatten, sie sei gestorben, daß Jesus den Anmerkungen zu 8,4 deuteten wir
aber sagte, sie sei nicht gestorben. an, daß er eventuell verhindern wollte,
9,25.26 Jedenfalls nahm der Herr das vorzeitig auf den Königsthron erhoben
Mädchen bei der Hand und das Wunder zu werden. Die Leute hatten noch nicht
geschah – sie stand auf. Es dauerte nicht Buße getan; und er konnte nicht über sie
lange, da hatte sich die Nachricht von regieren, ehe sie nicht wiedergeboren
dem Wunder in der ganzen Gegend aus- waren. Auch würde ein Umsturz um
gebreitet. Jesu willen schreckliche Strafaktionen
der Römer gegen die jüdische Bevölke-
L. Macht, das Augenlicht rung nach sich ziehen. Außerdem mußte
wiederzugeben (9,27-31) Jesus zuerst ans Kreuz geschlagen wer-
9,27.28 Als Jesus aus der Nachbarschaft den, ehe er als König regieren konnte.
des Vorstehers »weiterging, folgten ihm Alles, was seinen Weg nach Golgatha
zwei Blinde, und baten ihn, daß er sie verhindern wollte, stand dem vorher-
wieder sehend mache«. Obwohl diese bestimmten Plan Gottes entgegen.
Männer kein natürliches Sehvermögen 9,31 In ihrer großen Freude über ihr
mehr hatten, hatten sie doch eine sehr Augenlicht verbreiteten die Männer die
deutliche geistliche Sicht. Indem sie Jesus Nachricht ihrer wunderbaren Heilung
als »Sohn Davids« anredeten, erkannten überall. Während wir versucht sind, mit
sie ihn als den lange erwarteten Messias ihnen zu fühlen und sie sogar für ihr
und rechtmäßigen König Israels an. Und überschwengliches Zeugnis zu bewun-
sie wußten, wenn der Messias käme, dern, bleibt die nackte Tatsache be-
wäre es ein Prüfstein für ihn, daß er Blin- stehen, daß sie äußerst ungehorsam wa-
de sehend machen würde (Jes 35,5; 42,7). ren und unausweichlich mehr Schlech-
Als Jesus ihren Glauben prüfte indem er tes als Gutes für Jesus taten, indem sie
fragte, ob sie denn glaubten, er sei dazu eher flache Neugier als geistgeleitetes
in der Lage (nämlich ihnen das Augen- Interesse erregten. Nicht einmal Dank-
licht wiederzugeben), da antworteten sie barkeit ist eine gültige Ausrede für Un-
ohne Zögern: »Ja, Herr.« gehorsam.

63
Matthäus 9

M. Macht, die Sprache zurückzugeben Glauben angeboten. Was wäre gesche-


(9,32-34) hen, wenn Israel darauf eingegangen
9,32 Erst gab Jesus einer Toten Leben, wäre? Die Bibel beantwortet uns diese
dann dem Blinden Augenlicht und nun Frage nicht. Wir wissen, daß Christus
einem Stummen die Sprache. Hier noch immer hätte sterben müssen, um
scheint eine geistliche Anordnung der eine gerechte Basis zu schaffen, auf der
Wunder vorzuliegen: erst Leben, dann Gott die Sünder aller Zeitalter rechtfer-
Verständnis und schließlich Zeugnis. tigen kann.
Ein böser Geist hatte diesen Mann mit Während Christus lehrte und predig-
Taubheit geschlagen. Jemand kümmerte te, heilte er auch alle Arten von Krank-
sich um ihn, indem er den Besessenen zu heiten. Geradeso, wie Wunder das erste
Jesus brachte. Gott segne die Menge der Kommen Christi in Niedrigkeit beglei-
Ungenannten, die Er dazu benützen teten, so werden sie das zweite Kommen
konnte, andere zu Jesus zu bringen! in Macht und Herrlichkeit begleiten
9,33 Sobald der Dämon ausgetrieben (man vgl. Hebr 6,5: »die Kräfte des zu-
war, redete der Stumme. Sicherlich kön- künftigen Zeitalters«).
nen wir annehmen, daß er seine wieder- 9,36 Als er die Menge der Israeliten
hergestellte Sprechfähigkeit benutzte, betrachtete, die erschöpft und hilflos
um den anzubeten, der ihn so gnädig war, da sah er sie als Schafe ohne Hirten.
geheilt hatte, um ihn zu bezeugen. Die Er hatte großes Mitleid mit ihnen. Ach,
einfachen Leute bekannten, daß Israel daß wir uns dieses Streben nach dem
Zeuge von nie dagewesenen Wundern geistlichen Wohlergehen der Verlorenen
wurde. und Sterbenden zu eigen machten! Wie
9,34 Aber die Pharisäer mißachteten nötig haben wir es, ständig zu beten:
das, indem sie sagten, Jesus triebe die Laß mich die Menge sehn,
Dämonen durch den Obersten der Dä- wie es der Retter tat,
monen aus. Diese Behauptung bezeich- bis mir ein Tränenschleier
nete Jesus später als die unvergebbare den Blick verschleiert hat.
Sünde (12,32). Wer ein Wunder, das er Laß mich verlorne Schafe
durch den Heiligen Geist vollbrachte, erbarmungsvoll betrachten
der Macht Satans zuschrieb, lästerte den und suchen, lieben, heilen,
Heiligen Geist. Während andere durch die ohne Dich verschmachten.
die heilende Berührung Christi gesegnet 9,37 Eine große geistliche Ernte war
wurden, blieben die Pharisäer geistlich einzubringen, doch der Arbeiter waren
tot, blind und taub. wenige. Dieses Problem besteht auch
heute noch, wie es scheint. Die Not ist
immer größer als die Arbeitskraft.
VI. Die Apostel des Messias-König 9,38 Der Herr Jesus befahl den Jün-
werden nach Israel gesandt gern, den Herrn der Ernte zu bitten, daß
(9,35 – 10,42) er Arbeiter aussende in seine Ernte. Man
beachte hierbei, daß die Not nicht unbe-
A. Der Bedarf an Arbeitern für die dingt einen Ruf bedeutet. Arbeiter soll-
Ernte (9,35-38) ten nicht gehen, ehe sie nicht gesandt
9,35 In diesem Vers beginnt Jesu so- sind.
genannte dritte Galiläische Rundreise. Christus, der Sohn Gottes,
Jesus reiste durch die Städte und Dörfer, hat mich gesandt
predigte die gute Nachricht vom Reich, ins Land der Mitternacht.
nämlich, daß er der König Israels sei, Ich habe die mächtige Berufung
und daß er über sie regieren würde, der Hände, die durchgraben sind.
wenn das Volk umkehren und ihn aner- Frances Bevan
kennen würde. Zu dieser Zeit wurde Jesus sagte nicht, wer der Herr der
dem Volk Israel das Reich auf Treu und Ernte ist. Einige meinen, daß der Heilige

64
Matthäus 9 und 10

Geist gemeint ist. In Kapitel 10,5 sendet 6. »Bartholomäus.« Man nimmt an, daß
Jesus selbst die Jünger aus, so daß es klar er mit Nathanael identisch ist, dem
scheint, daß er selbst derjenige ist, zu Israeliten, in dem Jesus keinen Trug
dem wir in dieser Angelegenheit der fand (Joh 1,47).
Weltmission beten sollen. 7. »Thomas«, auch genannt »Zwilling«.
Er ist allgemein als der »ungläubige
B. Die Berufung der zwölf Jünger Thomas« bekannt, doch wurde sein
(10,1-4) Unglaube durch ein wunderbares
10,1 Im letzten Vers von Kapitel 9 weist Zeugnis für Christus ersetzt
der Herr seine Jünger an, für mehr Arbei- (Joh 20,28).
ter zu bitten. Um diese Bitte ehrlich vor- 8. »Matthäus.« Der frühere Zöllner, der
tragen zu können, müssen die Gläubigen dieses Evangelium geschrieben hat.
gewillt sein, selbst zu gehen. Deshalb 9. »Jakobus, der Sohn des Alphäus.«
sehen wir jetzt, wie der Herr seine zwölf Von ihm ist sonst kaum etwas be-
Jünger beruft. Er hatte sie schon vorher kannt.
ausgewählt, doch nun beruft er sie zu 10. »Lebbäus, mit dem Zunamen Thad-
einem besonderen evangelistischen Ein- däus« (LU 1912). Er ist auch als Judas,
satz im Volk Israel. Mit der Berufung Sohn des Jakobus bekannt (Lk 6,16).
erhielten sie die Vollmacht, Dämonen Sein einziger überlieferter Satz findet
auszutreiben und alle verschiedenen sich in Johannes 14,22.
Arten von Krankheiten zu heilen. Wir 11. »Simon, der Kanaanäer«, den Lukas
können hier die Einzigartigkeit Jesu den »Eiferer« nennt (Lk 6,15).
sehen. Auch vor ihm gab es Männer, die 12. »Judas, der Iskariot«, der den Herrn
Wunder getan hatten, aber niemand hat- verraten hat.
te diese Fähigkeit je auf andere übertra- Die Jünger waren zu dieser Zeit
gen. wahrscheinlich Anfang zwanzig. Aus
10,2-4 Die zwölf Apostel waren: verschiedenen Lebensumständen kom-
1. »Simon, der Petrus genannt wird.« mend und sicherlich nur durchschnitt-
Als impulsiver, großzügiger und lie- lich begabt, lag ihre Größe in ihrer Ver-
bevoller Mann war er der geborene bindung zu Jesus.
Anführer.
2. »Andreas, sein Bruder.« Er wurde C. Die Sendung nach Israel (10,5-33)
Jesus durch Johannes den Täufer vor- 10,5.6 Der Rest des Kapitels enthält Jesu
gestellt (Joh 1,36.40) und brachte Anweisungen für eine besondere Pre-
dann seinen Bruder Petrus zu ihm. Er digtrundreise, die dem Hause Israel galt.
machte es danach zu seiner Aufgabe, Wir dürfen dies nicht mit der Aussen-
auch andere Menschen zu Jesus zu dung der siebzig Jünger verwechseln,
bringen. die später stattfindet (Lk 10,1) oder mit
3. »Jakobus, der Sohn des Zebedäus.« dem Missionsbefehl (Matth 28,19.20).
Er wurde später von Herodes umge- Hier haben wir einen zeitweiligen Auf-
bracht (Apg 12,2) – er war der erste trag mit dem besonderen Ziel der An-
der Zwölf, der als Märtyrer starb. kündigung, der Nähe des Reiches der
4. »Johannes, sein Bruder.« Auch er war Himmel. Während einige der Anwei-
ein Sohn des Zebedäus. Er war der sungen von bleibendem Wert für die Jün-
Jünger, den Jesus liebhatte. Wir ver- ger aller Zeitalter sind, beweist die Tat-
danken ihm das vierte Evangelium, sache, daß einige von ihnen vom Herrn
drei Briefe und die Offenbarung. später wieder aufgehoben worden sind,
5. »Philippus.« Er kam aus Bethsaida daß sie nicht für immer gedacht waren
und brachte Nathanael zu Jesus. Er ist (Lk 22,35.36).
nicht zu verwechseln mit dem Evan- Als erstes wird die Route angegeben.
gelisten Philippus in der Apostel- Sie sollten weder zu den Nationen noch
geschichte. zu den Samaritern gehen, einer Misch-

65
Matthäus 10

rasse, die die Juden verachteten. Diesmal 10,12-14 Wenn ein Haus sie empfing,
war ihr Dienst auf die »verlorenen Scha- sollten sie die Familie segnen und ihnen
fe des Hauses Israel« begrenzt. Freundlichkeit und Dankbarkeit für die-
10,7 Die Botschaft war die Verkün- se Gastfreundschaft erzeigen. Wenn an-
digung, daß das Reich der Himmel nahe dererseits sich ein Haus weigerte, die
gekommen war. Wenn Israel es ablehnte, Botschafter des Herrn aufzunehmen,
dann würden sie keine Entschuldigung waren sie nicht verpflichtet, Gottes Frie-
haben, weil es eigens für sie eine offi- den auf dieses Haus herabzuwünschen,
zielle Ankündigung gegeben hatte. Das das heißt, sie brauchten sie nicht zu seg-
Reich hatte sich in der Person des Königs nen. Nicht nur das, sondern sie sollten
genähert. Israel mußte sich entscheiden, das Mißfallen Gottes verdeutlichen, in-
ob es ihn anerkennen oder ablehnen dem sie den Staub von ihren Füßen
wollte. schütteln sollten. Wenn eine Familie sei-
10,8 Die Jünger erhielten Gaben, die ne Jünger ablehnte, dann lehnte sie Chri-
sie vor den Menschen zur Bestätigung der stus selbst ab.
Botschaft ausweisen sollten: Sie sollten 10,15 Jesus warnte davor, daß eine
16)
»Kranke heilen, Tote auferwecken , Aus- solche Ablehnung am Tag des Gerichts
sätzige reinigen und Dämonen austrei- schwere Bestrafung nach sich ziehen
ben«. Die Juden verlangten Zeichen (1. würde, schlimmer als die Strafe für die
Kor 1,22), deshalb ließ Gott sich großzü- Verderbtheiten in Sodom und Gomorra.
gig herab, ihnen diese Zeichen zu geben. Das beweist, daß es verschiedene Grade
Die Vertreter des Herrn sollten keinen der Bestrafung in der Hölle geben muß,
Lohn für ihren Dienst nehmen. Sie hatten wie sollte es sonst einigen »erträglicher«
ihre Segnungen kostenlos erhalten und als anderen ergehen?
sie sollten sie ebenso weitergeben. 10,16 In diesem Abschnitt berät Jesus
10,9.10 Sie sollten keinerlei Vorsorge die Jünger in bezug auf ihr Verhalten in
für die Reise treffen. Sie waren doch Is- der Verfolgung. Sie würden »wie Schafe
raeliten, die ihrem eigenen Volk predig- mitten unter Wölfen« sein, umgeben von
ten, und es war unter den Juden ein aner- hinterhältigen Menschen, die darauf aus
kanntes Prinzip, daß der Arbeiter seiner sind, sie zu vernichten. Sie sollten so klug
Nahrung wert ist. Deshalb war es für sie wie die Schlangen sein, indem sie unnö-
nicht nötig, Gold, Silber, Kupfer, eine tigen Anstoß vermieden und sich nicht in
Tasche für Essen, zwei Untergewänder, bloßstellende Situationen hineinziehen
Sandalen oder einen Stab mitzunehmen. ließen. Und sie sollten einfältig wie die
Das kann bedeuten, keine zusätzlichen Tauben sein, nur geschützt durch die
Sandalen und keinen zusätzlichen Stab Rüstung eines gerechten Charakters und
mitzunehmen. Wenn sie schon einen hat- ungetrübten Glaubens.
ten, dann durften sie ihn mitnehmen (Mk 10,17 Sie sollten vor ungläubigen
6,8). Der dahinterstehende Gedanke ist, Juden auf der Hut sein, die sie vor
daß Tag für Tag für sie gesorgt werden Gericht ziehen und in ihren Synagogen
würde. geißeln würden. Der Angriff würde mit
10,11 Wie sollten sie für Unterkunft öffentlichen und religiösen Mitteln ge-
sorgen? Wenn sie in eine Stadt kamen, führt werden.
sollten sie sich nach einem würdigen 10,18 Sie würden um Christi willen
Gastgeber umsehen – einer, der sie als vor Könige und Statthalter gezerrt wer-
Jünger des Herrn empfangen würde und den. Aber Gottes Sache würde über das
für ihre Botschaft offen wäre. Wenn sie Böse des Menschen triumphieren. »Der
einmal einen solchen Gastgeber gefun- Mensch geht den Weg der Bosheit, doch
den hatten, dann sollten sie so lange bei der Herr geht seinen Weg.« In der Stunde
ihm bleiben, wie sie in der Stadt blieben, ihrer scheinbaren Niederlage würden die
statt Ausschau nach einer bequemeren Jünger das unvergleichliche Vorrecht
Unterkunft zu halten. haben, vor Herrschern und Nationen

66
Matthäus 10

Zeugnis zu geben. Gott würde alle Dinge ohne Ausnahme, doch in allen Kulturen,
zum Guten verwenden. Das Christen- Nationen, Klassen usw. »Wer aber aus-
tum hat von offiziellen Behörden viel zu harrt bis ans Ende, der wird errettet wer-
leiden gehabt, doch es wurde »ihnen . . . den.« Wenn man diesen Satz isoliert
zum Zeugnis«. betrachtet, könnte man daraus schließen,
10,19.20 Sie brauchten nicht im vor- daß man die Errettung durch bestän-
aus zu üben, was sie in einer Verhand- diges Ausharren verdienen könne. Wir
lung sagen sollten. Wenn die Zeit gekom- wissen, daß dieser Satz nicht so gedeutet
men war, würde der Geist Gottes ihnen werden kann, weil in der Schrift die
göttliche Weisheit geben, so zu antwor- Errettung immer als großzügiges Ge-
ten, daß sie Christus verherrlichen, ihre schenk der Gnade Gottes durch den
Ankläger verwirren und aufhalten konn- Glauben dargestellt wird (Eph 2,8.9).
ten. Man sollte zwei Extreme bei der Auch kann dieser Vers nicht bedeuten,
Auslegung von Vers 19 vermeiden: Das daß diejenigen, die Christus treu sind,
erste Extrem ist zu meinen, daß ein vor dem leiblichen Tod bewahrt werden,
Christ niemals eine Botschaft vorbereiten denn die vorhergehenden Verse sagen
müsse. Das zweite Extrem ist die den Tod einiger treuer Jünger voraus. Die
Ansicht, daß dieser Vers für uns nicht einfachste Erklärung lautet, daß Aushar-
mehr gelte. Es ist für einen Prediger rich- ren ein wichtiges Kennzeichen des wah-
tig und wünschenswert, im Gebet auf ren Gläubigen ist. Wir finden dieselbe
Gott zu harren, daß er ihm das richtige Aussage in Matthäus 24,13, wo es sich
Wort für eine bestimmte Situation im auf den treuen Überrest der Juden
voraus gibt. Aber es ist auch wahr, daß in während der Trübsal bezieht, der sich
Krisen alle Gläubigen die Verheißung weigert, in bezug auf seine Treue zu
Gottes in Anspruch nehmen dürfen, mit Jesus Kompromisse einzugehen. Das
göttlicher Eingebung zu sprechen. Sie Ausharren weist diese Menschen als
werden dabei Sprachrohr des Geistes echte Jünger aus.
ihres Vaters sein. In Bibelabschnitten, die sich mit der
10,21 Jesus warnte seine Jünger, daß Zukunft beschäftigen, wechselt der Hei-
sie mit Verrat zu tun bekommen würden. lige Geist oft von der unmittelbaren zur
Der Bruder würde den Bruder anklagen, fernen Zukunft. Eine Prophezeiung kann
der Vater sein Kind verraten und die Kin- eine teilweise und sofortige Bedeutung
der ihre Eltern anzeigen, so daß diese haben und auch eine vollständige und
schließlich getötet würden. weiter entfernte Erfüllung. Zum Beispiel
J. C. Macaulay drückte das gut aus: können die beiden Kommen Christi ohne
Wir befinden uns in guter Gesellschaft, Erklärung in einem einzigen Atemzug
wenn wir den Haß der Welt ertragen müssen genannt sein (Jes 52,14.15; Mich 5,2-4). In
. . . Der Diener darf nicht erwarten, daß er in den Versen 22 und 23 redet der Herr
der Hand des Feindes besser behandelt wird Jesus auch in einem solch unmittelbaren
als der Herr selbst. Wenn die Welt nichts bes- Übergang. Er warnt die zwölf Jünger
seres als das Kreuz für Jesus hatte, dann wird davor, daß sie um seinetwillen leiden
sie für seine Nachfolger keine königliche Kut- müssen, dann scheint er sie als Vorbild
sche bereitstellen: Wenn es nur Dornen für seiner hingegebenen jüdischen Nachfol-
Ihn gibt, dann werden wir nicht mit Blüten ger während der großen Trübsal zu
bekränzt werden . . . Laßt uns nur darauf sehen. Er springt von der Verfolgung der
achthaben, daß der Haß der Welt wirklich ersten Christen zu den Drangsalen der
»um Jesu willen« auf uns liegt und nicht Gläubigen unmittelbar vor seiner Wie-
wegen etwas Hassenswertem oder etwas, das derkunft.
unwürdig des barmherzigen Herrn ist, den Der erste Teil von Vers 23 könnte sich
17)
wir vertreten. auf die Jünger beziehen: »Wenn sie euch
10,22.23 Die Jünger würden »von aber verfolgen in dieser Stadt . . .« Sie
allen gehaßt werden« – nicht von allen waren nicht verpflichtet, unter der

67
Matthäus 10

Tyrannei ihrer Feinde auszuhalten, wenn und beantwortet sie, indem er sie an ihre
es eine ehrliche Fluchtmöglichkeit gab. Beziehung zu ihm erinnert. Sie waren die
»Es ist falsch, vor der Pflicht, nicht aber Jünger, und er war der Lehrer. Sie waren
vor der Gefahr zu fliehen.« Sklaven, er war ihr Herr. Sie waren Haus-
Der zweite Teil von Vers 23 bringt uns genossen, er war der Herr des Hauses.
in die Tage vor der Herrschaft Christi Wenn die Menschen den ehrwürdigen
über die Erde: ». . . Ihr werdet mit den Hausherrn »Beelzebub« nennen würden
Städten Israels nicht zu Ende sein, bis der (»Herr der Fliegen«, eine ekronitische
Sohn des Menschen gekommen sein Gottheit, dessen Name von den Juden
wird.« Das kann sich nicht auf die Aus- für Satan verwendet wurde), würden sie
sendung der zwölf Jünger beziehen, weil seine Hausgenossen noch schlimmer
der Sohn des Menschen zu ihrer Zeit beleidigen. Jüngerschaft beinhaltet Teil-
schon gekommen war. Einige Ausleger habe an der Ablehnung, die der Meister
verstehen diesen Satz als einen Hinweis erfahren hat.
auf die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70 10,26.27 Dreimal sagte der Herr sei-
v. Chr. Dennoch ist es schwierig, wie man nen Nachfolgern, sie sollten sich nicht
von diesem Holocaust als dem »Kommen fürchten (V. 26.28.31). Erstens sollen sie
des Menschensohnes« sprechen kann. Es sich nicht vor dem scheinbaren Sieg ihrer
scheint weitaus annehmbarer zu sein, Feinde fürchten. Jesus würde einst in
hier einen Hinweis auf sein zweites Kom- Herrlichkeit gerechtfertigt werden. Bis-
men zu sehen. Während der großen Trüb- her war das Evangelium relativ »ver-
sal werden die treuen jüdischen Brüder deckt« und seine Lehre war vergleichs-
Christi das Evangelium vom Reich weiter weise verborgen. Aber bald sollten die
verbreiten. Sie werden dabei hart verfolgt Jünger die christliche Botschaft mutig
werden. Ehe sie alle Städte Israels errei- verkündigen, die ihnen bis zu diesem
chen können, wird der Herr Jesus wie- Zeitpunkt im verborgenen, das heißt
derkommen, um seine Feinde zu richten nicht öffentlich, gelehrt wurde.
und sein Reich zu errichten. 10,28 Zweitens sollten die Jünger
Hier liegt ein scheinbarer Wider- nicht den mörderischen Zorn der Men-
spruch zu Matthäus 24,14 vor. Hier lesen schen fürchten. Das schlimmste, was
wir, daß nicht alle Städte Israels erreicht Menschen zu tun vermögen, ist, den Leib
werden, ehe der Sohn des Menschen zu töten. Der körperliche Tod ist für
gekommen sein wird. Dort heißt es, daß einen Christen nicht die größte Tragödie.
das Evangelium vom Reich in aller Welt Sterben heißt, bei Christus zu sein, und
gepredigt werden wird, ehe Jesus wie- deshalb etwas besseres erreichen. Ster-
derkommt. Dennoch haben wir hier kei- ben bedeutet Befreiung von Sünde,
nen Widerspruch. Das Evangelium wird Kummer, Krankheit, Leiden und Tod; es
allen Völkern verkündigt werden, wenn ist nur ein Übergang in die ewige Herr-
auch nicht notwendigerweise jedem ein- lichkeit. So ist das schlimmste, was Men-
zelnen Menschen. Aber dieser Botschaft schen tun können, in Wirklichkeit das
wird viel Widerstand begegnen, und die beste, was einem Kind Gottes geschehen
Boten werden in Israel hart verfolgt und kann.
behindert werden. Deshalb werden nicht Die Jünger sollten nicht Menschen
alle Städte Israels erreicht werden. fürchten, sondern Ehrfurcht vor Gott
10,24.25 Die Jünger des Herrn wür- haben, der sowohl Seele als Leib zu ver-
den oft Gelegenheit haben sich zu fragen, derben vermag in der Hölle. Das ist der
warum sie solch schlechte Behandlung größte Verlust – ewige Trennung von
erfahren und ertragen müssen. Wenn Gott, von Christus und von der Hoff-
Jesus doch der Messias war, warum soll- nung. Geistlicher Tod ist ein Verlust, der
ten seine Nachfolger leiden statt mitzure- nicht zu ermessen ist und ein Verhäng-
gieren? In den Versen 24 und 25 nimmt nis, daß man, koste es was es wolle, ver-
der Herr Jesus ihre Verwirrung vorweg meiden muß.

68
Matthäus 10

Die Worte Jesu in Vers 28 erinnern an son unter Druck, wie im Falle des Petrus,
die Worte des Gottesmannes John Knox sondern auf die Art der Verleugnung, die
(1514 – 1572), dessen Grabspruch lautet: sich endgültig in einer Gewohnheit aus-
»Hier liegt einer, der Gott so sehr fürchte- drückt.
te, daß er nie einen Menschen fürchtete.«
10,29 Inmitten der schrecklichsten D. Nicht Frieden, sondern das Schwert
Anfechtungen sollten sich die Jünger der (10,34-39)
Fürsorge Gottes sicher sein. Der Herr 10,34 Die Worte unseres Herrn müssen
Jesus verdeutlicht das an den überall als sprachliches Bild verstanden werden,
vorhandenen Spatzen. Man konnte zwei in dem die sichtbaren Ergebnisse seines
dieser unbedeutenden Vögel für ein Kommens als scheinbares Ziel seiner
Kupferstück erwerben. Doch keiner von Ankunft umschrieben werden. Er sagt,
ihnen stirbt, ohne, daß der Vater es will, daß er nicht gekommen sei, Frieden zu
er es weiß oder dabei ist. Wie jemand ein- bringen, sondern das Schwert. In Wahr-
mal sagte: »Gott ist sogar beim Begräbnis heit kam er jedoch, um Frieden zu
eines Spatzen dabei.« machen (Eph 2,14-17). Er kam, damit die
10,30.31 Derselbe Gott, der sich per- Welt durch ihn gerettet würde (Joh 3,17).
sönlich für den kleinen Spatzen interes- 10,35-37 Hier wird dagegen betont,
siert, zählt genau die Haare auf dem daß, wann immer Menschen seine Nach-
Haupt seiner Kinder. Eine Haarsträhne folger würden, ihre Familien sich gegen
ist sicherlich wesentlich weniger wert als sie wenden würden. Einem bekehrten
ein Spatz. Das zeigt, daß Gottes Kinder Vater würde von seinem Sohn Wider-
ihm noch viel wichtiger sind als viele stand entgegengebracht werden, einer
Sperlinge. Wovor sollten sie sich also frommen Mutter von ihrer ungeretteten
fürchten? Tochter. Eine wiedergeborene Schwie-
10,32 Angesichts der eben geführten germutter würde von ihrer nicht wieder-
Überlegungen: Was kann vernünftiger geborenen Schwiegertochter gehaßt wer-
sein, als daß die Jünger Christi ihn ohne den. So stehen Christen oftmals vor der
Furcht vor den Menschen bekennen soll- Wahl zwischen Christus und der Familie.
ten? Jeder Spott oder jeder Tadel, den sie Keine natürlichen Bande dürfen den Jün-
ertragen müssen, wird ihnen im Himmel ger von der absoluten Treue zum Herrn
reichlich belohnt, wenn Jesus sie vor sei- abhalten. Der Retter muß wichtiger sein
nem Vater bekennt. Das Bekenntnis zu als Vater, Mutter, Sohn oder Tochter. Ein
Christus beinhaltet hier auch Hingabe an Preis der Jüngerschaft ist die Erfahrung
ihn als den Herrn und Retter und die von Spannung, Streit und Entfremdung
daraus resultierende Anerkennung sei- von der eigenen Familie. Diese Feind-
ner Herrschaft durch das Leben und schaft ist oftmals erbitterter als in an-
durch den Mund. Bei fast allen zwölf deren Lebensbereichen.
Jüngern führte das Bekenntnis zum 10,38 Aber es gibt etwas, das noch
Herrn ins Martyrium. eher als die Familie Christus seines recht-
10,33 Verleugnung Christi auf Erden mäßigen Platzes im Leben eines Men-
wird die Verleugnung durch Christus schen berauben kann – das ist die Liebe
vor dem Vater, der in den Himmeln ist, zum eigenen Leben. Deshalb setzt Jesus
nach sich ziehen. Christus in diesem Sin- hier hinzu: »Und wer nicht sein Kreuz
ne zu verleugnen bedeutet, daß man sich aufnimmt und mir nachfolgt, ist meiner
weigert, Jesu Anspruch auf das eigene nicht würdig.« Das Kreuz war natürlich
Leben anzuerkennen. Derjenige, dessen ein Hinrichtungsinstrument. Das Kreuz
Leben praktisch sagt: »Ich habe dich nie auf sich nehmen und Christus nachfol-
gekannt« wird schließlich von ihm zu gen bedeutet, so hingegeben zu leben,
hören bekommen: »Ich habe dich nie daß sogar der Tod selbst kein zu hoher
gekannt.« Der Herr bezieht sich nicht auf Preis dafür ist. Nicht alle Jünger müssen
eine zeitweilige Verleugnung seiner Per- ihr Leben für ihren Herrn opfern, aber

69
Matthäus 10 und 11

alle sind aufgerufen, Ihn so hoch zu an denken, wenn man geneigt ist, einen Pre-
schätzen, daß ihr eigenes Leben für sie diger zu kritisieren. Wenn du ihm hilfst, für
nicht mehr wertvoll ist. Gott zu sprechen, und ihn ermutigst, dann
10,39 Die Liebe zu Christus muß den wirst du einen Teil seines Lohnes erhalten.
Selbsterhaltungstrieb beherrschen kön- Aber wenn du es ihm erschwerst, seinen
nen. »Wer sein Leben findet wird es ver- Dienst zu tun, dann wirst du diesen Lohn
lieren, und wer sein Leben verliert um verlieren. Es ist eine großartige Sache, einem
Christi willen, wird es finden.« Die Ver- Mann zu helfen, der Gutes tun will. Du soll-
suchung besteht darin, das eigene Leben test nicht seine Kleidung, seine Manieren,
zu lieben, indem man die Schmerzen sein Auftreten oder seine Stimme betrachten,
und die Verluste eines völlig hingege- sondern hinter diese Dinge sehen und dich
benen Lebens umgehen will. Aber dies fragen: »Ist das eine Botschaft Gottes für
ist die größte Lebensverschwendung – es mich? Ist dieser Mann für meine Seele ein
in der Selbstsucht zu leben. Die groß- Prophet Gottes?« Und wenn er das ist, dann
artigste Verwendung eines Lebens ist, es nimm ihn auf, bestärke ihn in seinem Wort
im Dienst an Christus aufzuopfern. Wer und Werk und erhalte dann Anteil an seinem
18)
sein Leben in der Hingabe an Ihn ver- Lohn.
liert, wird seine wahre Fülle erfahren. Wer einen Gerechten aufnimmt, weil
er ein Gerechter ist, der soll eines Gerech-
E. Der Becher kalten Wassers ten Lohn empfangen. Diejenigen, die
(10,40-42) nach äußerlicher Attraktivität oder mate-
10,40 Nicht jeder wird die Botschaft der riellem Reichtum urteilen, erkennen oft
Jünger ablehnen. Einige werden die Jün- nicht, daß wirklicher moralischer Wert
ger als die Repräsentanten des Messias oft sehr bescheiden auftritt. Die Art, wie
anerkennen und sie freundlich aufneh- ein Mann mit einem höchst einfältigen
men. Die Jünger haben sicher nicht die Jünger umgeht, ist die Art, wie er mit
Mittel, solche Freundlichkeit zu beloh- Christus umgeht.
nen, aber sie brauchen darüber nicht 10,42 Keine Handreichung, die einem
traurig zu sein. Alles, was für sie getan Nachfolger Jesu getan wird, wird unbe-
werden wird, wird so belohnt, als ob es achtet bleiben. Sogar ein Becher kalten
für den Herrn getan wäre. Wassers wird großzügig belohnt, wenn
Einen Jünger zu empfangen heißt, er einem Jünger gegeben wird, weil er
Christus zu empfangen, und Ihn zu emp- ein Nachfolger des Herrn ist.
fangen bedeutet, den Vater zu empfan- So beschließt der Herr seine spezielle
gen, der ihn gesandt hat. Wer einen Bot- Rede an die Zwölf, indem er ihnen wirk-
schafter empfängt, der die Regierung liche Würde mitgibt. Wenn es auch
vertritt, die ihn sendet, der genießt diplo- zutraf, daß sie verfolgt, verachtet, einge-
matische Beziehungen mit diesem Land. sperrt, versucht, ins Gefängnis geworfen
10,41 Jeder, der einen Propheten auf- und womöglich getötet würden, so soll-
nimmt, weil er ein Prophet ist, wird den ten sie doch nie vergessen, daß sie Ver-
Lohn eines Propheten empfangen. A. T. treter des Königs waren und daß es ihr
Pierson kommentiert dazu: herrliches Vorrecht war, für ihn zu reden
Die Juden hielten den Lohn eines Prophe- und zu handeln.
ten für den größten, weil der König zwar das
Land im Namen des Herrn regiert und der VII. Wachsender Widerstand und
Priester im Namen des Herrn dient, der Pro- Ablehnung (Kap. 11 und 12)
phet jedoch vom Herrn gesandt ist, um beide
zu belehren. Christus sagt, schon wenn du A. Johannes der Täufer wird ins
nicht mehr tust als einen Propheten in seiner Gefängnis geworfen (11,1-19)
Eigenschaft als Propheten aufzunehmen, 11,1 Nachdem er seine zwölf Jünger zu
wird dir derselbe Lohn wie dem Propheten ihrer besonderen zeitweiligen Aufgabe
gegeben, wenn du ihm hilfst. Man sollte dar- am Hause Israel ausgesandt hatte, »ging

70
Matthäus 11

Jesus von dort weg«, um in den Städten Einsicht Jesus von Nazareth als den ver-
Galiläas zu lehren und zu predigen, wo heißenen Messias erkannten.
die Jünger vormals gelebt hatten. Vers 6 sollte nicht als Tadel für Johan-
11,2.3 Zu dieser Zeit war Johannes nes den Täufer verstanden werden. Der
schon durch Herodes gefangen genom- Glaube eines jeden muß von Zeit zu Zeit
men worden. Entmutigt und einsam gestärkt und bestätigt werden. Eine
begann er sich Gedanken zu machen. Sache ist es, zeitweilig das Vertrauen zu
Wenn Jesus wirklich der Messias war, verlieren, eine andere dagegen, sich dau-
warum erlaubte er es dann, daß sein Vor- ernd der wahren Person des Herrn Jesus
läufer im Gefängnis schmachten mußte? unsicher zu sein. Ein einziges Kapitel
Wie viele große Männer Gottes litt Jo- kann nie die ganze Geschichte eines
hannes zeitweilig an mangelndem Ver- Menschen erzählen. Wenn wir das Leben
trauen. Deshalb sandte er zwei seiner des Johannes als Ganzes nehmen, dann
Jünger um zu fragen, ob Jesus wirklich finden wir viele Aufzeichnungen über
der war, den die Propheten vorhergesagt seine Treue und Standhaftigkeit.
hatten oder ob sie noch immer nach dem 11,7.8 Sobald die Jünger des Johannes
Gesalbten Ausschau halten sollten. mit Jesu aufrichtender Nachricht zurück-
11,4.5 Jesus antwortete, indem er gekehrt waren, wandte sich der Herr an
Johannes daran erinnerte, daß er die die Volksmengen und pries den Täufer.
Wunder tat, die der vorhergesagte Mes- Dieselbe Menge war in die Wüste
sias auch tun sollte: »Blinde werden geströmt, als Johannes dort predigte.
sehend« (Jes 35,5), »Lahme gehen« Warum? Um ein schwaches, schwanken-
(Jes 35,6), »Aussätzige werden gereinigt« des Rohr zu sehen, das vom Wind jeder
(Jes 53,4, vgl. Matth 8,16.17), »Taube hö- menschlichen Meinung hin und her
ren« (Jes 35,5) »und Tote werden aufer- bewegt wird? Sicherlich nicht! Johannes
weckt« (nicht vom Messias prophezeit, war ein furchtloser Prediger, das leben-
das war ein größeres als die vorhergesag- dig gewordene Gewissen, einer, der eher
ten Wunder). Jesus erinnerte Johannes leiden als schweigen, eher sterben als
auch daran, daß das Evangelium den lügen würde. Waren sie gekommen,
Armen gepredigt würde als Erfüllung einen wohlgekleideten Höfling zu sehen,
der messianischen Prophezeiung in der es sich in seinem Luxus gut gehen
Jesaja 61,1. Normale religiöse Führer läßt? Sicherlich nicht! Johannes war ein
konzentrieren ihre Aufmerksamkeit einfacher Mann Gottes, dessen aufrech-
meist auf die Reichen und Adligen. Der tes Leben ein Tadel für die enorme Ver-
Messias dagegen brachte die gute Nach- weltlichung des Volkes war.
richt zu den Armen. 11,9 Waren sie gekommen einen Pro-
11,6 Dann fügte der Retter hinzu: pheten zu sehen? Nun – Johannes war
»Und glückselig ist, wer sich nicht an mir ein Prophet, ja sogar der größte der Pro-
ärgern wird!« Auf den Lippen eines pheten. Der Herr meinte hier nicht, daß
anderen wäre dies die Angeberei eines Johannes in bezug auf seinen Charakter
Egoisten. Auf den Lippen Jesu ist dies ein größer war, in seiner Beredsamkeit oder
berechtigter Ausdruck seiner persön- seiner Überzeugungskraft; er war größer,
lichen Vollkommenheit. Statt als glän- weil er der Vorläufer des Messias-Königs
zender General zu erscheinen, war der war.
Messias als einfacher Schreiner gekom- 11,10 Es wird in Vers 10 deutlich ge-
men. Seine Freundlichkeit, seine Einfach- sagt: Johannes war die Erfüllung der Pro-
heit und Demut entsprachen nicht dem phezeiung Maleachis (Mal 3,1) – der
allgemeinen Bild des streitbaren Messias. Bote, der vor dem Herrn hergehen und
Menschen, die sich vom Fleisch leiten das Volk für sein Kommen vorbereiten
ließen, konnten ruhig sein Königtum sollte. Andere Männer hatten das Kom-
anzweifeln. Aber Gottes Segen würde men Christi vorhergesagt, aber Johannes
auf denen ruhen, die durch geistliche war der Erwählte, der sein tatsächliches

71
Matthäus 11

Kommen ankündigen durfte. Das wurde Welche Bedeutung man auch favori-
sehr schön einmal so formuliert: »Johan- siert, der Gedanke ist, daß die Predigt
nes ebnete den Weg für Christus und dann des Johannes eine gewaltsame Reaktion
trat er für Christus aus dem Weg. hervorgerufen hat, die weitreichende
11,11 Die Aussage Jesu, daß der und tiefgreifende Folgen hatte.
Kleinste im Reich der Himmel größer als 11,13 »Denn alle Propheten und das
Johannes ist, beweist, daß Jesus von den Gesetz haben geweissagt bis auf Johan-
Vorrechten des Johannes, nicht aber von nes.« Die ganze Bibel vom ersten Buch
seinem Charakter spricht. Ein Mensch, Mose bis zu Maleachi sagte das Kommen
der der Kleinste im Reich der Himmel ist, des Messias voraus. Als Johhannes auf
hat nicht unbedingt einen besseren Cha- der Bühne der Geschichte erschien,
rakter als Johannes, aber er hat größere bestand seine einzigartige Rolle nicht
Vorrechte. Ein Bürger des Königreiches einfach darin, neue Prophezeiungen zu
zu sein ist herrlicher, als es nur anzukün- verkündigen, sondern die Erfüllung aller
digen. Das Vorrecht des Johannes, dem Prophezeiungen des ersten Kommens
Herrn den Weg zu bereiten, war groß- Christi anzukündigen.
artig, aber er lebte nicht dazu, in den 11,14 Maleachi hatte vorausgesagt,
Genuß der Segnungen des Reiches zu daß Elia als Vorläufer vor dem Messias
kommen. erscheinen würde (Mal 4,5.6). Wenn die
11,12 Vom Beginn des Dienstes des Menschen willig gewesen wären, Jesus
Johannes an bis zu seiner Gefangennah- als den Messias anzunehmen, dann hätte
me hatte das Reich der Himmel unter der Johannes die Rolle des Elia erfüllen kön-
Gewalt zu leiden. Die Pharisäer und nen. Johannes war kein wiederauferstan-
Schriftgelehrten waren strikt gegen die- dener Elia – er bestritt in Johannes 1,21
ses Reich. Der König Herodes hatte sein sogar, Elia zu sein. Aber er ging vor Chri-
Teil dazugetan, das Reich zu bekämpfen, stus her im Geist und in der Macht Elias
indem er den Herold dieses Reiches (Lk 1,17).
ergriff. 11,15 Nicht alle schätzten Johannes
». . . und Gewalttuende reißen es an den Täufer oder verstanden die tiefe
sich.« Diese Aussage kann man auf zwei Bedeutung seines Dienstes. Deshalb füg-
Arten interpretieren. Erstens haben die te der Herr hinzu: »Wer Ohren hat zu
Feinde des Reiches alles getan, um es an hören, der höre!« Mit anderen Worten:
sich zu reißen und zu zerstören. Daß sie »Paßt auf! Täuscht euch nicht über die
Johannes ablehnten, war nur eine Vor- Bedeutung dessen, was ihr gehört habt.«
ausschattung der Ablehnung des Königs Wenn Johannes die Prophezeiungen über
selbst und damit des Reiches. Aber diese Elia erfüllte, dann war Jesus der ver-
Aussage kann auch bedeuten, daß sol- heißene Messias! Indem er so Johannes
che, die für die Ankunft des Königs den Täufer anerkannte, bestätigte Jesus
bereit waren, voller Leidenschaftlichkeit seinen Anspruch, der Christus Gottes zu
auf die Ankündigung reagierten und sein. Die Annahme des einen würde auch
jeden Muskel anstrengten, um hineinzu- zur Annahme des anderen führen.
kommen. Das ist die Bedeutung von 11,16.17 Aber das Geschlecht, zu dem
Lukas 16,16: »Das Gesetz und die Pro- Jesus hier sprach, war nicht daran inter-
pheten gehen bis auf Johannes; von da an essiert, auch nur einen von ihnen anzu-
wird das Evangelium des Reiches Gottes nehmen. Die Juden, die das Vorrecht hat-
verkündigt, und jeder dringt mit Gewalt ten, die Ankunft ihres Messias-Königs zu
hinein.« Hier wird das Reich als belager- erleben, mochten weder ihn noch seinen
te Stadt dargestellt, um die von allen Sei- Vorläufer. Beide waren für sie wie ein
ten Männer stehen und auf sie einschla- Rätsel. Jesus verglich sie mit mürrischen
gen, um in sie hineinzukommen. Eine Kindern auf den Märkten, die sich wei-
gewisse geistliche Gewaltanwendung ist gerten, irgendwie aufeinander zuzuge-
nötig. hen. Wenn ihre Freunde pfeifen wollten,

72
Matthäus 11

damit sie tanzen könnten, dann wollten 11,21 Er begann mit Chorazin und
sie nicht. Wenn ihre Freunde eine Trauer- Bethsaida. Diese Städte hatten die gnä-
feier in Szene setzten, dann wollten sie digen flehentlichen Bitten ihres Retter-
nicht wehklagen. gottes gehört, hatten ihn jedoch absicht-
11,18.19 Johannes kam als Asket, und lich abgewiesen. Er erinnerte sich der
die Juden klagten ihn an, besessen zu Städte Tyrus und Sidon, die wegen ihres
sein. Der Sohn des Menschen aß und Götzendienstes und ihrer Bosheit unter
trank andererseits ganz normal. Wenn das Gericht Gottes gefallen waren. Wenn
das Asketentum des Johannes sie auf- sie das Vorrecht gehabt hätten, die Wun-
schreckte, dann wären sie vielleicht mit der Jesu zu sehen, hätten sie sich in tief-
Jesu Essensgewohnheiten zufriedener. ster Buße gedemütigt. Am Tage des Ge-
Aber nein! Sie nannten ihn einen Fresser, richtes würden Tyrus und Sidon deshalb
einen Trunkenbold, einen Freund der weit besser dastehen als Chorazin und
Zöllner und Sünder. Natürlich hat sich Bethsaida.
Jesus nie übersättigt oder zuviel getrun- 11,22 Die Worte »es wird ihnen er-
ken. Ihre Anklage war völlig aus der Luft träglicher ergehen am Tag des Gerichts«
gegriffen. Es stimmte, daß er ein Freund zeigen, daß es Unterschiede in der Be-
der Zöllner und Sünder war, aber nicht in strafung in der Hölle geben wird, ebenso,
dem Sinne, wie sie es auffaßten. Er schloß wie es verschiedene Belohnungen im
mit den Sündern Freundschaft, damit er Himmel geben wird (1. Kor 3,12-15). Die
sie von ihren Sünden erretten konnte, eine Sünde, die Menschen in die Hölle
aber er teilte ihre Sünden nie, noch hieß bringt, ist die Weigerung, sich Jesus zu
er sie gut. unterstellen (Joh 3,36b). Das Leidensmaß
»Und die Weisheit ist gerechtfertigt in der Hölle wird durch die Vorrechte,
worden aus ihren Werken.« Der Herr die man zurückgewiesen hat und die
Jesus ist natürlich die Weisheit in Person Sünden, die man begangen hat, be-
(1. Kor 1,30). Obwohl ungläubige Men- stimmt.
schen ihn verleumdeten, ist er in den 11,23.24 Wenige Städte waren so be-
Taten und dem Leben seiner Nachfolger vorzugt gewesen wie Kapernaum. Nach-
gerechtfertigt. Mochte die Masse der dem ihn die Menschen in Nazareth abge-
Juden sich auch weigern, ihn als Messias- lehnt hatten (Kap. 9,1; vgl. Mk 2,1-12)
König anzuerkennen, so wurden seine hatte er sich dort niedergelassen. Einige
Ansprüche vollständig durch seine Wun- seiner erstaunlichsten Wunder – nicht
der und die geistliche Veränderung sei- zurückweisbare Beweise seiner Messias-
ner hingegebenen Jünger bestätigt. schaft – wurden dort gewirkt. Wäre das
verdorbene Sodom, die Hauptstadt der
B. Wehrufe über die unbußfertigen Homosexuellen, so bevorzugt worden,
Städte Galiläas (11,20-24) dann hätte sie Buße getan und wäre ver-
11,20 Große Vorrechte bringen große Ver- schont geblieben. Aber das Vorrecht
antwortung mit sich. Keine Stadt war je Kapernaums war größer. Seine Men-
so begünstigt wie Chorazin, Bethsaida schen hätten Buße tun und sich froh zum
und Kapernaum. Der menschgewordene Herrn bekennen sollen. Aber Kaper-
Sohn Gottes war in ihren staubigen Gas- naum verpaßte den Tag, an dem es dazu
sen umhergegangen, hatte ihre bevor- Gelegenheit gehabt hätte. Die Sünde der
zugte Bevölkerung gelehrt und hatte die Perversion in Sodom war schrecklich.
meisten seiner Wunderwerke innerhalb Aber es gibt keine größere Sünde als die,
ihrer Mauern getan. Angesichts dieser welche Kapernaum mit der Ablehnung
überwältigenden Beweislast hatten sie des heiligen Sohnes Gottes auf sich gela-
sich starrsinnig geweigert, Buße zu tun. den hatte. Deshalb wird Sodom am Tage
Kein Wunder, daß der Herr ihnen dann des Gerichtes nicht so schwer bestraft
ein sehr ernstes Schicksal voraussagen werden wie Kapernaum. Kapernaum
mußte. war durch sein Privileg bis in den Him-

73
Matthäus 11

mel erhöht worden, doch am Tage des begrüßen. Sie hatten sich willentlich
Gerichtes wird sie bis zum Hades hinab- geweigert, sich ihm zu unterstellen. Da
gestoßen werden. Wenn das für Kaper- sie das Licht ablehnten, enthielt Gott es
naum gilt, wieviel mehr wird es für Orte ihnen nun vor. Aber Gottes Pläne können
gelten, an denen es mehr als genug nicht durchkreuzt werden. Wenn die
Bibeln gibt, wo die Botschaft durch die Intelligenz nicht glauben will, dann wird
Medien verbreitet wird und wo nur Gott sich den demütigen Herzen offen-
wenige, wenn überhaupt einige, ohne baren. »Hungrige hat er mit Gütern er-
Entschuldigung sind. füllt und Reiche leer fortgeschickt«
In den Tagen unseres Herrn gab es (Lk 1,53).
vier große Städte in Galiläa: Chorazin, Diejenigen, die sich zu klug und wei-
Bethsaida, Kapernaum und Tiberias. se vorkommen, um Christus nötig zu
Jesus sprach gegen die drei Ersten Weh- haben, werden mit Blindheit in ihrem
rufe aus, aber nicht über Tiberias. Was Beurteilungsvermögen bestraft. Aber
war das Ergebnis? Die Zerstörung von die, die ihren Mangel an Weisheit ein-
Chorazin und Bethsaida war so gründ- gestehen, erhalten eine Offenbarung
lich, daß man heute nicht mehr genau von ihm, »in dem alle Schätze der Weis-
weiß, wo sie gelegen haben. Die Lage heit und Erkenntnis verborgen sind«
von Kapernaum ist auch nicht sicher. (Kol 2,3). Jesus dankte dem Vater, der es
Tiberias gibt es noch heute. Dies ist eine so eingerichtet hatte, daß einige ihn zwar
bemerkenswerte Erfüllung der Prophe- ablehnten, andere ihn dagegen annah-
zeiung, die einmal mehr einen Beweis men. Angesichts großer Widerstände
für die Allwissenheit unseres Retters und fand er Trost in dem allumfassenden
die Inspiration der Bibel gibt. Plan und Ziel Gottes.
11,27 Jesus betonte, daß ihm alle Din-
C. Die Reaktion Jesu auf die ge von seinem Vater übergeben worden
Ablehnung (11,25-30) sind. Das wäre für jeden anderen eine
11,25.26 Die drei Städte Galiläas hatten überhebliche Behauptung gewesen,
weder Augen, den Christus Gottes zu aber für den Herrn Jesus ist es eine ein-
sehen, noch Ohren, ihn zu hören. Jesus fache, wahre Aussage. Zu diesem Zeit-
wußte, daß ihre Haltung nur ein Vorge- punkt hatte der Widerstand seinen
schmack der Ablehnung durch weitere Höhepunkt erreicht, und es war über-
Bevölkerungsteile war. Wie reagierte er haupt nicht erkennbar, daß Jesus alles
auf ihre Unbußfertigkeit? Weder mit Bit- unter seiner Kontrolle hatte. Dennoch
terkeit, Zynismus noch mit Rachsucht. war Jesus jederzeit Herr der Lage. Sein
Statt dessen erhob er seine Stimme, um Lebensprogramm näherte sich unaus-
Gott zu danken, daß nichts seinen sou- weichlich dem endgültigen herrlichen
veränen Willen zunichte machen kann. Sieg. »Niemand erkennt den Sohn als
»Ich preise dich, Vater, Herr des Him- nur der Vater.« Es gibt um die Person
mels und der Erde, daß du dies vor Wei- Christi ein undurchdringbares Geheim-
sen und Verständigen verborgen hast, nis. Die Einheit der Gottheit und
und hast es Unmündigen geoffenbart.« Menschheit in einer Person wirft Proble-
Wir sollten hier zwei möglichen Miß- me auf, die den menschlichen Geist völ-
verständnissen vorbeugen: Erstens hat lig verwirren. Da ist zum Beispiel das
Jesus hier nicht Gefallen an der Zerstö- Problem des Todes: Gott kann nicht ster-
rung galiläischer Städte geäußert. Zwei- ben. Dennoch ist Jesus gestorben und ist
tens meinte er mit seiner Äußerung Gott. Und andererseits sind seine gött-
nicht, daß Gott das Licht den Weisen und liche und menschliche Natur untrenn-
Klugen in hochmütiger Weise vorent- bar. Obwohl wir ihn also kennen und
halte. lieben und ihm vertrauen können, ver-
Die Städte hatten jede nur denkbare steht ihn in gewisser Hinsicht nur der
Chance erhalten, den Herrn Jesus zu Vater wirklich.

74
Matthäus 11

Aber die hohen Geheimnisse deines Obwohl das Volk Israel sich auf das Got-
Namens tesurteil des göttlichen Gerichtes zubewegt,
Übersteigen das Verständnis deiner öffnet der König in seinen abschließenden
Geschöpfe; Worten denen die Tür weit, die persönliche
Nur der Vater (welch herrliches Wort!) Errettung suchen. Und so beweist er, daß er
Kann ganz den Sohn verstehen. ein Gott der Gnade ist, sogar noch auf der
19)
Du allein, Lamm Gottes, bist es wert, Schwelle des Gerichtes.
Daß jedes Knie sich dir beugen soll! 11,28 Kommen heißt glauben
Josiah Conder (Apg 16,31), aufnehmen (Joh 1,12), es-
»Noch erkennt niemand den Vater als sen (Joh 6,35), trinken (Joh 7,37), sehen
nur der Sohn, und wem der Sohn ihn (Jes 45,22), bekennen (1. Joh 4,2), hören
offenbaren will.« Auch der Vater ist letzt- (Joh 5,24.25), durch eine Tür gehen
lich unergründlich. Denn nur Gott allein (Joh 10,9), eine Tür öffnen (Offb 3,20),
ist groß genug, um Gott zu verstehen. den Saum seines Gewandes berühren
Man kann ihn nicht durch eigene (Matth 9,20.21) und die Gabe des ewi-
Anstrengung oder Verstand erkennen. gen Lebens durch Christus, unseren
Aber der Herr Jesus kann und wird den Herrn annehmen (Röm 6,23).
Vater denen offenbaren, die er dazu »Zu mir.« Der Gegenstand des Glau-
erwählt hat. Wer immer den Sohn ken- bens ist nicht die Kirche, ein Glaubensbe-
nenlernt, wird auch den Vater kennenler- kenntnis oder ein Geistlicher, sondern
nen (Joh 14,7). der lebendige Christus. Rettung liegt in
Dennoch müssen wir, nachdem all einer Person. Wer Jesus hat, kann »ge-
das gesagt ist, bekennen, daß wir es bei retteter« nicht sein.
der Erklärung von Vers 27 mit Wahrhei- »Alle ihr Mühseligen und Bela-
ten zu tun haben, die für uns zu hoch denen.« Um wirklich zu Jesus kommen
sind. Denn wir sehen jetzt mittels eines zu können, muß man zugeben, daß man
Spiegels, undeutlich. Nicht einmal in der mit der Last der Sünde beschwert ist.
Ewigkeit wird unser begrenzter Verstand Nur diejenigen, die anerkennen, daß sie
ganz in der Lage sein, die Größe Gottes verloren sind, können gerettet werden.
auszuloten oder das Geheimnis der Ehe man an den Herrn Jesus Christus
Fleischwerdung zu verstehen. Wenn wir glauben kann, muß man vor Gott Buße
lesen, daß der Vater nur denen offenbart tun.
wird, die der Sohn dazu erwählt, könn- »Und ich werde euch Ruhe geben.«
ten wir versucht sein zu denken, dies als Man beachte, daß Ruhe hier ein Ge-
eine zufällige Auswahl einiger bevor- schenk ist, das weder verdient noch er-
zugter Weniger zu deuten. Der nächste worben werden kann. Sie ist die Ruhe der
Vers verbietet eine solche Interpretation. Erlösung, die aus der Erkenntnis ent-
Der Herr Jesus äußert hier eine univer- springt, daß Jesus das Werk der Erlösung
selle Einladung an alle, die müde oder am Kreuz von Golgatha vollendet hat. Sie
schwer beladen zu ihm kommen, um bei ist die Ruhe des Gewissens, die der Er-
ihm Ruhe zu finden. Mit anderen Wor- kenntnis folgt, daß die Strafe für die Sün-
ten, diejenigen, die er erwählt, um ihnen den ein für alle mal gezahlt ist, und daß
den Vater zu offenbaren, sind die, die auf Gott sich nicht zweimal bezahlen läßt.
ihn als ihren Retter vertrauen. Wenn wir 11,29 In den Versen 29 und 30 wech-
diese unendlich zarte Einladung unter- selt Jesus von der Einladung zur Er-
suchen, sollten wir uns daran erinnern, rettung zur Einladung zum Dienst.
daß sie nach der unverhohlenen Ableh- »Nehmt auf euch mein Joch.« Das
nung Jesu durch die bevorzugten Städte bedeutet, sich seinem Willen zu unter-
Galiläas erfolgt. Der Haß und die Wider- werfen und die Herrschaft über das eige-
spenstigkeit des Menschen konnten sei- ne Leben an Jesus abzugeben (Röm 12,1).
ne Liebe und Gnade nicht zerstören. »Und lernt von mir.« Wenn wir seine
A. J. McClain hat gesagt: Herrschaft auf jedem Gebiet unseres

75
Matthäus 11 und 12

Lebens anerkennen, dann wird er uns D. Jesus ist der Herr des Sabbats
seine Wege lehren. (12,1-8)
»Denn ich bin sanftmütig und von 12,1 Dieses Kapitel berichtet den Höhe-
Herzen demütig.« Im Gegensatz zu den punkt der Ablehnung. Die wachsende
Pharisäern, die hart und stolz waren, ist Bosheit und Feindschaft der Pharisäer
der wahre Lehrer sanft und demütig. wird nun zum Überlaufen gebracht. Das
Wer sein Joch auf sich nimmt, wird es ler- Ereignis, das die Schleusen öffnet, ist die
nen, den untersten Weg zu gehen. Sabbatfrage.
»Und ihr werdet Ruhe finden für eure An diesem Sabbat geht Jesus mit sei-
Seelen. »Das ist nicht die Ruhe des Ge- nen Jüngern durch die Saaten. Seine Jün-
wissens, sondern die Ruhe des Herzens, ger fingen an, Ähren zu pflücken und sie
die man findet, wenn man vor Gott und zu essen. Das Gesetz erlaubte es ihnen,
den Menschen den niedrigsten Platz ein- sich im Feld des Nächsten zu bedienen,
nimmt. Es ist auch die Ruhe, die man im solange sie nicht mit einer Sichel mähten
Dienste Christi erfahren kann, wenn man (5. Mose 23,25).
nicht mehr versucht, groß zu sein. 12,2 Aber die Pharisäer, gesetzliche
11,30 »Denn mein Joch ist sanft, und Kleinkrämer, behaupteten, daß dadurch
meine Last ist leicht.« Wieder sehen wir der Sabbat gebrochen worden sei.
den starken Kontrast zu den Pharisäern. Obwohl ihre genaue Anklage nicht auf-
Jesus sagte von ihnen: »Sie binden aber gezeichnet ist, ist es wahrscheinlich, daß
schwere Lasten und legen sie auf die sie die Jünger folgender Verbrechen
Schultern der Menschen, sie selbst aber anklagten:
wollen sie nicht mit ihrem Finger bewe- 1. ernten (Ähren pflücken),
gen« (Matth 23,4). Das Joch Jesu ist leicht, 2. dreschen (die Körner in der Hand
es scheuert uns nicht wund. Jemand hat zerreiben,
einmal gesagt, daß, wenn Jesus vor sei- 3. worfeln (die Körner von der Spreu
ner Werkstatt ein Schild hängen hatte, trennen).
dann würde darauf gestanden haben: 12,3.4 Jesus antwortete auf ihre
»Meine Joche passen.« lächerliche Klage, indem er sie an ein
»Und meine Last ist leicht.« Das heißt Ereignis aus dem Leben Davids erinner-
nicht, daß es keine Probleme, Versuchun- te. Als David einst im Exil leben mußte,
gen, Arbeit oder Kummer im Leben des gingen er und seine Männer in die Wild-
Christen gibt. Aber es bedeutet, daß wir nis und aßen von den Schaubroten, die
sie nicht alleine zu tragen haben. Wir sind zwölf Erinnerungsbrote, die niemand als
mit dem zusammengejocht, der uns in die Priester essen durften. Weder David
jeder Situation die Gnade gibt, die aus- noch seine Leute waren Priester, doch
reicht, um sie durchzustehen. Ihm zu die- Gott hat sich nie über diese Tat beklagt.
nen ist keine Knechtschaft, sondern die Warum nicht?
vollkommene Freiheit. J. H. Jowett sagt: Der Grund ist, daß Gottes Gesetz nie-
Der schlimmste Fehler, den ein Gläubiger mals Not über seine Getreuen bringen
machen kann, ist zu versuchen, die Last des will. Es war nicht Davids Fehler, daß er
Lebens unter einem Einzelgeschirr zu tragen. im Exil leben mußte. Ein sündiges Volk
Gott wollte nie, daß jemand seine Last alleine hatte ihn abgelehnt. Wäre Ihm sein recht-
tragen muß. Deshalb handelt Jesus nur mit mäßiger Platz gewährt worden, hätten er
Jochen! Ein Joch ist ein Geschirr für zwei, und seine Leute nicht von den Schaubro-
und der Herr selbst möchte einer von beiden ten essen müssen. Weil in Israel Sünde
sein. Er möchte die Arbeit jedes schweren war, erlaubte Gott eine Tat, die andern-
Auftrages mit uns teilen. Das Geheimnis für falls verboten gewesen wäre.
Sieg und Frieden im christlichen Leben findet Die Analogie ist deutlich. Der Herr
man, indem man das Einzelgeschirr des Jesus war der rechtmäßige König Israels,
»Selbst« ablegt und das befreiende Joch des aber das Volk wollte ihn nicht als seinen
Herrn annimmt.20) Herrscher anerkennen. Wenn ihm sein

76
Matthäus 12

ihm zustehender Platz gewährt worden tut er, um zu zeigen, wie schrecklich die Sün-
wäre, dann hätten seine Nachfolger es de ist, ihn abzulehnen und ihm seine Rechte
21)
nicht nötig gehabt, auf diese Weise am zu verweigern.
Sabbat oder einem anderen Tag ihr Essen Ehe wir mit dem nächsten Vorfall
zu suchen. Sie taten nichts, wofür der weitermachen – die Heilung der verdorr-
Herr sie hätte ermahnen müssen. ten Hand am Sabbat – wollen wir unter-
12,5 Jesus erinnerte die Pharisäer dar- brechen und kurz die biblische Lehre
an, daß die Priester den Sabbat enthei- vom Sabbat betrachten.
ligen, indem sie Tiere töten und opfern
und viele andere niedrige Arbeiten ver-
richten (4. Mose 28,9.10), aber dennoch Exkurs zum Sabbat
schuldlos blieben, weil sie im Dienst Got- Der Sabbat war der siebte Tag der Woche
tes beschäftigt waren. (Samstag), und wird es auch immer blei-
12,6 Die Pharisäer wußten, daß die ben. Gott ruhte am siebten Tag, nachdem
Priester an jedem Sabbat im Tempel er die Erde in sechs Tagen geschaffen hat-
arbeiteten, ohne ihn zu entheiligen. War- te (1. Mose 2,2). Er befahl das Halten des
um sollten sie dann die Jünger dafür Sabbats zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
tadeln dürfen, die doch in der Anwesen- Vielleicht war es seine Absicht, daß man
heit des König handelten. »Größeres als an einem der sieben Wochentage ruhen
der Tempel ist hier.« Das Wort »Grö- sollte.
ßeres« bedeutet hier das Reich Gottes, Dem Volk Israel war befohlen wor-
das in der Person des Königs anwesend den, den Sabbat zu halten, als ihm die
ist, der selbst natürlich auch weit größer zehn Gebote gegeben wurden (2. Mose
als der Tempel ist. 20,8-11). Das Gesetz des Sabbats war
12,7 Die Pharisäer haben Gottes Herz anders als die anderen neun Gebote, es
nie verstanden. In Hosea 6,6 hatte er war ein Zeremonialgesetz, während die
gesagt: »Ich will Barmherzigkeit und anderen ethische Gesetze waren. Der ein-
nicht Schlachtopfer.« Gott stellt Barmher- zige Grund, warum es falsch war, am
zigkeit vor das Ritual. Er wollte lieber Sabbat zu arbeiten, war, weil Gott es ge-
seine Leute sonntags Ähren pflücken sagt hatte. Die anderen Gebote hatten es
sehen, damit sie ihren Hunger stillen mit Handlungen zu tun, die an sich
konnten, als daß sie den Sabbat so sehr schlecht waren.
halten und dabei körperliche Not ertra- Das Verbot der Sabbatarbeit sollte
gen müssen. Wenn die Pharisäer das nur sich nach Gottes Absicht nie beziehen
erkannt hätten, hätten sie die Jünger auf:
nicht verurteilt. Aber sie werteten äußer- 1. den Dienst für Gott (Matth 12,5),
liche Genauigkeit höher als menschliches 2. notwendiges Handeln (Matth 12,3.4)
Wohlergehen. oder
12,8 Dann fügte der Herr hinzu: 3. barmherzige Taten (Matth 12,11.12).
»Denn der Sohn des Menschen ist Herr Neun der Zehn Gebote werden im
des Sabbats.« Er hatte dieses Gesetz zu NT wiederholt, nicht als Gesetz, sondern
Anfang gegeben, und deshalb war er als Anweisungen für Christen, die unter
derjenige, der am ehesten das Recht hat- der Gnade leben. Das einzige Gebot, das
te, seine wirkliche Bedeutung herauszu- nirgends wiederholt wird, ist das Sabbat-
stellen. E. W. Rogers schreibt dazu: gebot. Statt dessen lehrt Paulus, daß ein
Es scheint, als ob Matthäus, durch den Christ nicht verurteilt werden kann,
Geist geleitet, hier in schneller Folge die wenn er ihn nicht hält (Kol 2,16).
Namen und Dienstämter des Herrn Jesus Der wichtigere Tag für die Christen
durchgeht: Er ist der Sohn des Menschen, der ist der erste Tag der Woche. Der Herr
Herr des Sabbats, mein Diener, mein Gelieb- Jesus stand an diesem Tage von den
ter, der Sohn Davids, größer als der Tempel, Toten (Joh 20,1) auf, ein Beweis dafür,
größer als Jona und größer als Salomo. Das daß sein Errettungswerk vollendet und

77
Matthäus 12

göttlich gebilligt war. An den nächsten E. Jesus heilt am Sabbat (12,9-14)


zwei »Tagen des Herrn« traf er sich mit 12,9 Von den Feldern ging Jesus in eine
den Jüngern (Joh 20,19.26). Auch der Synagoge. Lukas erzählt, daß die Schrift-
Heilige Geist wurde an einem solchen gelehrten und Pharisäer ihn beobach-
ausgegossen (Apg 2,1; vgl. 3. Mose 23,15. teten, damit sie eine Anklage gegen ihn
16). Die ersten Jünger trafen sich an die- finden könnten (Lk 6,6.7).
sem Tag, um das Brot zu brechen, um 12,10 In der Synagoge war ein
den Tod des Herrn zu verkündigen Mensch mit einer verdorrten Hand – ein
(Apg 20,7). Der erste Tag (Sonntag) ist stummes Zeugnis der Machtlosigkeit der
der Tag, den Gott bestimmte, daß Pharisäer, die ihm nicht helfen konnten.
Christen an ihm Geld für das Werk des Bis jetzt hatten sie ihn mit kühler Nicht-
Herrn sammeln sollen (1. Kor 16,1.2). beachtung behandelt. Aber plötzlich war
Der Sabbat oder der siebente Tag war er für sie brauchbar, damit sie Jesus in
das Ende einer arbeitsreichen Woche; der eine Falle führen konnten. Sie wußten,
Tag des Herrn oder der Sonntag beginnt daß der Retter immer dazu geneigt war,
die Woche mit dem ruhespendenen Be- menschliches Leiden zu lindern. Wenn er
wußtsein, daß das Werk der Erlösung am Sabbat heilen würden, dann hätten sie
vollendet ist. Der Sabbat erinnerte an die ihn bei einer strafwürdigen Tat ertappt,
erste Schöpfung, der Tag des Herrn ist so dachten sie. Deshalb begannen sie mit
dagegen mit der Neuen Schöpfung ver- einer Streiterei über das Gesetz: »Ist es
bunden. Der Sabbat war der Tag der Ver- erlaubt, am Sabbat zu heilen?«
antwortung, der Sonntag ist ein Tag des 12,11 Der Retter antwortete mit einer
Vorrechtes. Gegenfrage: Würden sie nicht ein Schaf
Christen »halten« den Tag des Herrn aus einer Grube ziehen, wenn es am Sab-
nicht, um sich die Errettung zu verdie- bat hineinfallen würde? Natürlich wür-
nen oder »heiliger« zu werden, auch den sie das tun! Und warum? Vielleicht
fürchten sie sich nicht vor Bestrafung. Sie war ihr Vorwand, daß dies ein Akt der
sondern diesen Tag aus liebevoller Hin- Barmherzigkeit wäre – aber eine andere
gabe an den Einen aus, der sich selbst für Überlegung sagte ihnen, daß das Schaf ja
sie hingegeben hat. Weil sie von den etwas wert war und sie sich selbst am
routinemäßigen, weltlichen Dingen des Sabbat diesen finanziellen Verlust nicht
Lebens an diesem Tage befreit sind, kön- leisten wollten.
nen sie ihn auf besondere Weise zur 12,12 Unser Herr erinnerte sie, daß
Anbetung und zum Dienst für Christus ein Mensch mehr wert ist als ein Schaf.
nutzen. Wenn es richtig ist, einem Tier Barmher-
Es ist nicht richtig zu behaupten, daß zigkeit zu tun, wieviel mehr ist es ge-
der Sabbat zum Tag des Herrn geworden rechtfertigt, am Sabbat Gutes zu tun!
ist. Der Sabbat ist der Samstag, der Tag 12,13.14 Nachdem Jesus die jüdi-
des Herrn dagegen ist der Sonntag. Der schen Lehrer in ihrer eigenen Hinterhäl-
Sabbat war nur ein Schatten, Christus tigkeit gefangen hatte, heilte er die ver-
dagegen ist der Körper selbst (Kol 2,16. dorrte Hand. Indem er dem Mann sagte,
17). Die Auferstehung Jesu kennzeichne- er solle seine Hand ausstrecken, wurden
te einen Neuanfang, und der Tag des der Glaube und der menschliche Wille
Herrn ist ein Bild für diesen Anfang. angesprochen. Der Gehorsam wurde mit
Als gläubiger Jude, der unter dem der Heilung belohnt. Die Hand wurde
Gesetz lebte, hielt Jesus den Sabbat (trotz durch den wunderbaren Schöpfer wie-
der Anklagen der Pharisäer, die das derhergestellt, so gesund wie die andere.
Gegenteil behaupteten). Als Herr des Man könnte meinen, die Pharisäer hätten
Sabbats befreite er ihn von falschen sich jetzt freuen können, daß der Mann,
Regeln und Vorschriften, die sich immer dem sie weder durch ihre Macht noch
mehr verfestigt hatten. ihren Willen hatten helfen können, jetzt
geheilt war. Statt dessen wurden sie auf

78
Matthäus 12

Jesus wütend und hielten Rat, ihn zu 12,20 Er würde kein geknicktes Rohr
töten. Wenn sie eine verdorrte Hand abbrechen, noch einen glimmenden
gehabt hätten, wären sie froh gewesen, Docht auslöschen. Er würde nicht die
geheilt zu werden, ganz gleich an wel- Entrechteten und Benachteiligten miß-
chem Wochentag. brauchen, um seine Ziele zu erreichen. Er
würde die Unterdrückten, die zerbroche-
F. Heilung für alle (12,15-21) nen Herzens sind, ermutigen und stär-
12,15.16 Als Jesus die Gedanken seiner ken. Er würde jeden noch so kleinen Fun-
Feinde erkannte, entwich er. Doch wo ken des Glaubens zur Flamme anfachen.
immer er hinging, versammelte sich die Sein Dienst würde so lange weitergehen,
Menge, und wo immer sich die Kranken bis er das Gericht zum Sieg hinausführen
versammelten, da heilte er sie alle. Aber würde. Seine demütige, liebevolle Für-
er ermahnte sie, daß sie seine Wunder- sorge für andere würde sich durch den
heilungen nicht bekannt machen sollten, Haß und die Undankbarkeit der Men-
nicht, damit er selbst nicht gefährdet schen nicht auslöschen lassen.
würde, sondern um jede unüberlegte Be- 12,21 »Und auf seinen Namen wer-
wegung zu verhindern, die ihn zu einem den die Nationen vertrauen.« Bei Jesaja
populären Revolutionshelden machen wird diese Stelle so ausgedrückt: »Und
konnte. Der göttliche Zeitplan mußte die Inseln warten auf seine Weisung«,
eingehalten werden. Seine Revolution doch hier wird die gleiche Bedeutung
würde kommen, aber nicht, indem das nur mit anderen Worten ausgedrückt.
Blut der Römer, sondern sein eigenes »Die Inseln« bedeutet die Länder der
Blut vergossen werden würde. heidnischen Völker. Sie werden gezeigt,
12,17.18 Sein gnädiger Dienst war wie sie auf sein Reich warten, damit sie
eine Erfüllung der Prophezeiung aus seine treuen Untertanen werden könn-
Jesaja 41,9 und 42,1-4. Der Prophet hatte ten. Kleist und Lilly preisen dieses Jesaja-
den Messias als den sanften Eroberer zitat als
vorausgesehen. Er stellte Jesus als den . . . einen der Edelsteine des Evange-
Knecht dar, den Gott erwählt hatte, den liums, ein Bild Christi von wunderbarer
Geliebten, an dem Gottes Seele Wohlge- Schönheit . . .
fallen hatte. Gott würde ihm seinen Geist Jesaja zeigt Christi Einheit mit dem
geben – eine Prophezeiung, die sich bei Vater, seine Aufgabe, die Völker zu lehren,
der Taufe Jesu erfüllte. Und sein Dienst seine Zartheit, mit der er mit der leidenden
würde sich über die Grenzen Israels hin- Menschheit umgeht und seinen endgültigen
aus erstrecken, er würde den Nationen Sieg: Es gibt für die Welt keine Hoffnung
das Gericht ankündigen. Die letzte außer seinen Namen. Christus – Retter der
Ankündigung wird immer wichtiger, je Welt – wird hier nicht in trockenen, gelehrten
lauter das »Nein« Israels wird. Worten dargestellt, sondern in der reichhalti-
23)
12,19 Jesaja sagte weiter voraus, daß gen orientalischen Bildersprache.
der Messias weder streiten noch schreien
würde, und daß seine Stimme auf den G. Die Sünde, die nicht vergeben
Straßen nicht gehört werden würde. Mit werden kann (12,22-32)
anderen Worten, er würde kein poli- 12,22-24 Als Jesus einen Besessenen heilt,
tischer Volksverhetzer sein, der das Volk der blind und stumm ist, dachten die ein-
aufwiegelt. McClain schreibt dazu: fachen Leute ernsthaft darüber nach, ob
Dieser König, der Gottes Knecht ist, wird er nicht der Sohn Davids, der Messias
seinen rechtmäßigen hochangesehenen Platz Israels sein könnte. Das brachte die Pha-
nicht durch die normalen Mittel fleischlicher risäer auf. Da sie keinerlei Sympathie-
Gewaltanwendung oder berechneter Volks- bezeugung für Jesus ertragen konnten,
verführung an sich reißen, auch nicht durch brachten sie ihre Anklage vor, daß das
die übernatürlichen Mächte, die ihm zur Ver- Wunder durch die Macht Beelzebubs,
22)
fügung standen, einnehmen. des Obersten der Dämonen, vollbracht

79
Matthäus 12

worden sei. Diese seltsame Anschuldi- geisterfüllte Messias, den Jesaja ange-
gung war die erste offene Anklage, daß kündigt hatte (Jes 11,2; 42,1; 61,1-3). Des-
der Herr Jesus besessen sei. halb sagte er zu den Pharisäern: »Wenn
12,25.26 Als Jesus ihre Gedanken ich aber durch den Geist Gottes die
erkannt hatte, ging er daran, ihre Torheit Dämonen austreibe, so ist also das Reich
herauszustellen. Er zeigte auf, daß kein Gottes zu euch gekommen.« Diese An-
Reich, keine Stadt und kein Haus, das kündigung muß ein schwerer Schlag für
mit sich selbst entzweit ist, Bestand hat. sie gewesen sein. Sie waren stolz auf ihr
Wenn er die Dämonen Satans mit der theologisches Wissen, doch hatten sie
Macht Satans austreiben würde, dann nicht gemerkt, daß das Reich schon
würde Satan gegen sich selbst arbeiten. gekommen war, weil der König unter
Das aber wäre absurd. ihnen lebte.
12,27 Unser Herr hatte noch eine 12,29 Weit davon entfernt, mit Satan
zweite vernichtende Antwort für die im Bund zu sein, war der Herr Jesus der
Pharisäer bereit. Einige ihrer jüdischen Sieger über Satan. Das zeigt er durch die
Genossen, die als Dämonenaustreiber Geschichte vom Starken. Der Starke ist
wirkten, behaupteten, die Macht zu Satan. Sein Haus ist der Bereich, in dem
haben, Dämonen auszutreiben. Jesus er die Herrschaft hat. Sein Hausrat sind
bestritt ihre Behauptung nicht noch die Dämonen. Jesus ist derjenige, der den
bestätigte er sie, sondern benutzte diese Starken bindet, in sein Haus eindringt
Tatsache, um zu zeigen, daß, wenn er die und seinen Hausrat plündert. Es ist nun
Dämonen durch Beelzebub austreibe, die so, daß die Bindung Satans über mehrere
Söhne der Pharisäer (d. h. jene Dämo- Stufen erfolgte. Es begann mit Jesu
nenaustreiber) das gleiche taten. Die öffentlichem Dienst. Durch den Tod und
Pharisäer wollten dies jedoch nicht zuge- die Auferstehung Jesu wurde diese Bin-
ben, aber sie konnten der Logik dieses dung endgültig festgemacht. Während
Argumentes nicht mehr ausweichen. des Tausendjährigen Reiches wird sie
Ihre eigenen Verbündeten würden sie in noch weiterem Ausmaß gelten
sonst anklagen, weil sie den Eindruck (Offb 20,2). Schließlich wird die Gebun-
erwecken würden, daß sie als Handlan- denheit Satans für ewig festgeschrieben,
ger Satans Dämonen austreiben würden. wenn er in den Feuersee geworfen wird
Scofield sagte dazu: (Offb 20,10). Gegenwärtig scheint es so
Soweit sie und ihre Söhne betroffen zu sein, daß Satan noch nicht gebunden
waren, waren die Pharisäer schnell bereit, ist, denn er hat noch bemerkenswerte
jede Andeutung, daß hier satanische Mächte Macht. Aber sein Schicksal ist vorherbe-
im Spiel waren, abzuwehren. Aber mit der stimmt und seine Zeit kurz bemessen.
Einstellung, die sie angenommen hatten, 12,30 Dann sagte Jesus: »Wer nicht
d. h., daß Christus die Dämonen durch Beel- mit mir ist, ist gegen mich, und wer nicht
zebub austreibe, würden ihre Söhne sie zu mit mir sammelt, zerstreut.« Ihre gottes-
Recht als inkonsequent beurteilen. Denn lästerliche Haltung zeigte, daß die Pha-
wenn die Macht zur Dämonenaustreibung risäer nicht für den Herrn waren, deshalb
satanisch wäre, dann wäre jeder, der diese waren sie gegen ihn. Indem sie sich wei-
Macht hat, gleichzeitig mit der Quelle dieser gerten, mit ihm zu ernten, verstreuten sie
24)
Macht verbunden. das Korn. Sie hatten Jesus angeklagt, in
Sie dachten einfach unlogisch, wenn der Macht Satans Dämonen auszutrei-
sie die gleichen Folgen unterschiedlichen ben, während in Wirklichkeit sie selbst
Ursachen zuschreiben wollten. Knechte Satans waren, indem sie Jesus
12,28 Die Wahrheit war natürlich, daß von seinem göttlichen Werk abhalten
Jesus die Dämonen durch den Geist Got- wollten.
tes austrieb. Sein ganzes Leben als In Markus 9,40 sagte Jesus: »Denn
Mensch auf der Erde lebte er in der wer nicht gegen uns ist, ist für uns.« Dies
Macht des Heiligen Geistes. Er war der scheint die genaue Umkehrung seiner

80
Matthäus 12

Worte hier in Matthäus 12,30 zu sein. Das Gläubiger mag sich vom Herrn weit ent-
Problem wird gelöst, wenn wir sehen, fernen, doch kann er in die Gemeinschaft
daß es in Matthäus um die Errettung der Familie Gottes wieder aufgenommen
geht. Ein Mensch kann nur für oder ge- werden.
gen Christus sein, es gibt keine neutrale Viele Menschen fragen sich ängstlich,
Zone. In Markus geht es um den Dienst. ob sie die Sünde begangen haben, die
Es gibt sehr viele Unterschiede zwischen nicht vergeben werden kann. Sogar
den Jüngern Jesu – Unterschiede zwi- wenn diese Sünde heute begangen wer-
schen den Ortsgemeinden, in den Metho- den könnte, wäre die Tatsache, daß
den und in der Auslegung der Lehre. jemand sich darüber Gedanken macht,
Aber hier ist die Regel, daß, wenn jemand ein Zeichen dafür, daß er sie nicht began-
nicht gegen den Herrn ist, er für ihn ist gen hat. Diejenigen, die sich dieser Sün-
und entsprechend zu respektieren ist. de schuldig gemacht hatten, waren in
12,31.32 Hier sehen wir die gestörte ihrem Widerstand gegen Jesus verhärtet
Beziehung zwischen Jesus und den Füh- und uneinsichtig. Sie hatten keine
rern Israels zum Höhepunkt kommen. Gewissensbisse, ob sie etwa seinen Heili-
Jesus klagt sie an, die Sünde, die nicht gen Geist beleidigen könnten und zöger-
vergeben werden kann, begangen zu ten nicht, die Ermordung des Sohnes
haben, indem sie den Heiligen lästerten, Gottes zu planen. Sie zeigten weder Reue
d. h. indem sie behaupteten, daß Jesus noch Buße.
seine Wunder durch die Macht Satans
und nicht durch die Macht des Heiligen H. Man erkennt einen Baum an der
Geistes wirkte. Letztlich nannten sie Frucht (12,33-37)
damit den Heiligen Geist Beelzebub, den 12,33 Sogar die Pharisäer hätten anerken-
Herrn der Dämonen. nen müssen, daß der Herr durch die
Für alle anderen Formen der Sünde Austreibung der Dämonen Gutes getan
und der Gotteslästerung ist Vergebung hatte. Doch klagten sie ihn an, daß er
möglich. Es kann sogar sein, daß einem schlecht sei. Er enthüllt ihre Inkonse-
Menschen vergeben wird, der gegen den quenz und sagt letztlich: »Entscheidet
Sohn des Menschen redet. Aber wer den euch. Wenn ein Baum gut ist, ist auch die
Heiligen Geist lästert, der hat eine Sünde Frucht gut und umgekehrt.« Früchte zei-
begangen, die weder »in diesem Zeitalter gen die Qualität des Baumes, der sie her-
noch in dem zukünftigen« tausendjäh- vorgebracht hat. Die Frucht seines Dien-
rigen Reich vergeben wird. Wenn Jesus stes war gut gewesen. Er hatte die Kran-
von »diesem Zeitalter« sprach, dann ken, die Blinden, die Tauben und die
meinte er damit die Zeit seines öffent- Stummen geheilt, hatte Dämonen ausge-
lichen Dienstes auf Erden. Es ist ernsthaft trieben und Tote auferweckt. Hätte ein
zu bezweifeln, ob es heute überhaupt fauler Baum solch gute Frucht hervor-
noch möglich ist, die Sünde zu begehen, bringen können? Unmöglich! Doch war-
die nicht vergeben werden kann, da um weigerten sie sich dann so starr-
Jesus heute nicht mehr physisch auf sinnig, ihn anzuerkennen?
Erden ist und Wunder tut. 12,34.35 Der Grund dafür war, daß sie
Die Sünde, die nicht vergeben wer- »Otternbrut« waren. Ihre Bosheit gegen-
den kann, ist im wesentlichen dieselbe über dem Sohn Gottes, die sich in ihren
wie die Ablehnung des Evangeliums. Ein gehässigen Worten zeigte, war eine Folge
25)
Mensch kann den Retter jahrelang ableh- ihres verdorbenen Herzens. Ein Herz
nen, dann Buße tun, glauben und geret- voll Güte zeigt sich durch freundliche
tet werden. (Wenn er jedoch im Unglau- und gerechte Worte. Ein böses Herz zeigt
ben stirbt, ist ihm natürlich nicht verge- sich durch Gotteslästerung, Bitterkeit
ben). Auch ist die Sünde, die nicht verge- und Beschimpfungen.
ben werden kann, nicht mit dem 12,36 Jesus warnte sie (und uns)
»Zurückgehen« zu verwechseln. Ein ernsthaft, daß jeder von jedem unnützen

81
Matthäus 12

Wort, das er redet, Rechenschaft ablegen 12,40 Zusammenfassend sagte er


muß. Weil die Worte, die jemand spricht, ihnen, daß sie kein Zeichen erhalten wür-
ein genaues Bild seines Lebens zeigen, den als das des Propheten Jona. Damit
werden sie eine ausreichende Basis für bezog sich Jesus auf seinen Tod, sein Be-
die Verurteilung oder den Freispruch bil- gräbnis und seine Auferstehung. Jonas
den. Wie groß wird die Verdammung der Erlebnis, als er von dem Fisch verschlun-
Pharisäer für die bösen und verachten- gen und wieder ausgespien wurde
den Worte sein, die sie wider den hei- (Jona 1,17;2,10) war ein Hinweis auf das
ligen Sohn Gottes geredet haben! Leiden und die Auferstehung des Herrn.
12,37 »Denn aus deinen Worten wirst Jesu Auferstehung aus den Toten ist
du gerechtfertigt werden, und aus dei- allerdings das endgültige, größte Zei-
nen Worten wirst du verdammt wer- chen seines Dienstes am Volk Israel.
den.« Im Falle der Gläubigen ist die Stra- Genauso, wie Jona drei Tage im
fe für achtloses Reden durch den Tod Bauch des großen Fisches war, so, sagte
Christi bezahlt worden, dennoch wird unser Herr voraus, würde er drei Tage
unser achtloses Reden, das nicht bekannt und drei Nächte im Herzen der Erde
und vergeben worden ist, sich in einem sein. Diese Aussage wirft ein Problem
Verlust an Lohn vor dem Richterstuhl auf. Wenn, wie normalerweise angenom-
Christi auswirken. men wird, Jesus am Freitagnachmittag
begraben worden ist, und am dritten
I. Das Zeichen des Propheten Jona Tage auferstanden ist, wie kann man
(12,38-42) dann sagen, daß er drei Tage und drei
12,38 Trotz aller Wunder, die Jesus ge- Nächte im Grab verbrachte? Die Antwort
wirkt hatte, besaßen die Schriftgelehrten lautet folgendermaßen: Nach der jüdi-
und Pharisäer die Frechheit, ihn nach schen Zeitrechnung zählt jeder Teil eines
einem Zeichen zu fragen. Sie deuteten Tages und einer Nacht als ein vollständi-
damit an, daß sie glauben wollten, wenn ger Zeitraum. »Ein Tag und eine Nacht
er sich als Messias ausweisen könnte! sind ein onah, und ein Teil des onah ist wie
Aber ihre Heuchelei war leicht zu durch- das Ganze« (Jüdisches Sprichwort).
schauen. Wenn sie nach so vielen Wun- 12,41 Jesus stellte die Schuld der jüdi-
dern immer noch nicht glauben wollten, schen Führer durch zwei Gegensätze dar.
wie konnten sie durch weitere Wunder Erstens waren die Heiden in Ninive weit-
überzeugt werden? Die Haltung, die aus weniger bevorzugt, doch als sie die
Wunder und Zeichen als Bedingung für Predigt des ungehorsamen Propheten
den Glauben verlangt, gefällt Gott nicht. Jona hörten, taten sie Buße. Sie werden
Wie Jesus schon zu Thomas sagte: im Gericht aufstehen, um die Menschen
»Glückselig sind, die nicht gesehen und zu verdammen, die in den Tagen Jesu den
doch geglaubt haben« (Joh 20,29). Nach nicht annahmen, der größer war als Jona:
Gottes Plan folgt das Sehen dem Glau- den fleischgewordenen Sohn Gottes.
ben. 12,42 Zweitens führt Jesus die Köni-
12,39 Der Herr sprach sie als »böses gin von Saba an, eine Heidin, die außer-
und ehebrecherisches Geschlecht« an – halb der jüdischen Vorrechte lebte, die
böse, weil sie absichtlich für ihren Mes- »von den Enden der Erde« gereist kam,
sias blind waren und ehebrecherisch, und zwar unter großem Aufwand und
weil sie geistlich ihrem Gott untreu Kosten, um ein Gespräch mit Salomo zu
geworden waren. Ihr Schöpfer-Gott, eine führen. Die Juden in den Tagen Jesu
einzigartige Person, die in sich die abso- mußten noch nicht einmal eine Reise
lute Gottheit und die vollkommene machen, um ihn zu sehen, er war vom
Menschlichkeit verkörperte, stand in Himmel in ihre Nachbarschaft gekom-
ihrer Mitte und sprach zu ihnen, und sie men, um ihr Messias-König zu sein.
wagten es, ihn nach einem Zeichen zu Doch hatten sie in ihrem Leben keinen
fragen! Platz für ihn – der doch unendlich größer

82
Matthäus 12

als Salomo ist. Eine heidnische Königin sten verehren wird. Sich vor dem Men-
wird sie am Tage des Gerichtes für diese schen der Sünde niederzuwerfen und
mutwillige Unachtsamkeit verurteilen. ihn als Gott anzubeten, ist eine schreck-
In diesem Kapitel ist gezeigt worden, lichere Form des Götzendienstes, als die,
daß unser Herr größer als der Tempel der sich das Volk in seiner Vergangenheit
(V. 6), größer als Jona (V. 41) und größer schuldig gemacht hat. Und so wird »das
als Salomo ist. Er ist »größer als das Ende jenes Menschen schlimmer als der
Größte und weit besser als das Beste«. Anfang«. Das ungläubige Israel wird die
schrecklichen Gerichte der Trübsal zu
J. Ein unreiner Geist kehrt zurück erleiden haben und ihr Leiden wird das
(12,43-45) der Zeit der Gefangenschaft weit über-
12,43.44 Nun gibt Jesus uns in symbo- steigen. Der götzendienerische Teil des
lischer Form eine Zusammenfassung der Volkes wird schließlich bei Christi Wie-
Vergangenheit, der Gegenwart und der derkunft vernichtet werden.
Zukunft des ungläubigen Israel. Der »So wird es auch diesem bösen
Mann ist die Jüdische Nation, der un- Geschlecht ergehen.« Dasselbe abtrünni-
reine Geist ist der Götzendienst, der für ge, Christus ablehnende Geschlecht, das
das Volk seit der Knechtschaft in Ägyp- den Sohn Gottes bei seinem ersten Kom-
ten bis zur babylonischen Gefangen- men abgelehnt hat, wird bei seiner Wie-
schaft charakteristisch war. Diese Gefan- derkunft ein hartes Gericht über sich
genschaft hatte Israel zeitweilig von sei- ergehen lassen müssen.
nem Götzendienst geheilt. Es war als ob
ein unreiner Geist aus einem Menschen K. Die Mutter und die Brüder Jesu
ausgefahren wäre. Vom Ende der Gefan- (12,46-50)
genschaft bis heute hatte das jüdische 12,46-50 Diese Verse beschreiben ein
Volk keinen Götzendienst mehr betrie- scheinbar nebensächliches Ereignis, bei
ben. Sie sind wie ein Haus, das leer, dem die Familie Jesu kommt und ihn
gekehrt und geschmückt ist. Vor über sprechen will. Warum waren sie gekom-
neunzehnhundert Jahren versuchte men? Markus gibt uns einen Hinweis.
unser Herr, in dieses leere Haus zu gelan- Einige Freunde Jesu nahmen an, daß er
gen. Er war der rechtmäßige Besitzer des verrückt geworden sei (Mk 3,21.31-35),
Hauses, aber die Menschen weigerten und vielleicht kam seine Familie, um ihn
sich unbeirrbar, ihn einzulassen. Obwohl in aller Stille abzuholen (s. a. Joh 7,5). Als
sie nicht länger Götzen anbeteten, wei- ihm gesagt wurde, daß seine Mutter und
gerten sie sich doch auch, den wahren seine Brüder draußen warteten, um mit
Gott anzubeten. ihm zu sprechen, antwortete der Herr mit
Das leere Haus spricht von einem der Frage: »Wer ist meine Mutter, und
geistlichen Vakuum – ein gefährlicher wer sind meine Brüder?« Dann wies er
Zustand, wie die Folge zeigt. Verbesse- auf seine Jünger und sagte: »Wer den Wil-
rung reicht nicht aus. Der Herr muß len meines Vaters tun wird, der in den
wirklich angenommen werden. Himmeln ist, der ist mein Bruder und
12,45 In der Zukunft wird der Geist meine Schwester und meine Mutter.«
des Götzendienstes sich entschließen, Diese aufregende Ankündigung ist
zum Haus zurückzukehren, und zwar in voller geistlicher Bedeutung und mar-
Gemeinschaft mit sieben anderen Gei- kiert einen Wendepunkt im Handeln
stern, die schlimmer sind als er selbst. Da Jesu an Israel. Maria und ihr Sohn vertra-
die Zahl sieben die Zahl der Vollkom- ten das Volk Israel, die Blutsverwandten
menheit ist, bedeutet das, daß es sich hier Jesu. Bisher hatte er seinen Dienst im
um Götzendienst in seiner ausgereif- großen und ganzen auf die verlorenen
testen Form handelt. Dies ist eine Vor- Schafe des Hauses Israel beschränkt.
ausschau auf die große Trübsal, während Aber es wurde nun immer deutlicher,
der das abtrünnige Volk den Antichri- daß sein eigenes Volk ihn nicht wollte.

83
Matthäus 12 und 13

Statt sich vor ihrem Messias zu beugen, ten, haben sie notwendigerweise auch
hatten die Pharisäer ihn angeklagt, daß das Königreich der Himmel abgelehnt.
er von Satan geleitet werde. Nun gibt uns der Herr durch eine Reihe
Deshalb kündigt Jesus nun eine neue von Gleichnissen einen Ausblick auf die
Ordnung an. Von nun an würden die neue Form, die das Reich in der Zeit
Bande, die ihn mit Israel verbanden, zwischen seiner Ablehnung und Jesu
nicht mehr der ausschlaggebende Faktor endgültiger Einsetzung als König der
für sein Wirken sein. Obwohl sein mitlei- Könige und Herr der Herren annehmen
diges Herz sich noch immer zu seinem wird. Sechs dieser Gleichnisse beginnen
natürlichen Volk bekennen würde, zeigt mit den Worten: »Mit dem Reich der
das 12. Kapitel einen unmißverständ- Himmel ist es wie . . .«
lichen Bruch mit Israel. Das Ergebnis ist Um diese Gleichnisse richtig sehen
nun deutlich geworden. Israel will ihn zu können, sollten wir uns ins Gedächt-
nicht haben, deshalb wendet er sich jetzt nis zurückrufen, was wir in Kapitel 3
denen zu, die ihn wollen. Blutsver- über das Reich gesagt haben. Das Reich
wandtschaft wird nun durch geistliche der Himmel ist ein Gebiet, in dem die
Verbundenheit ersetzt. Gehorsam gegen Herrschaft Gottes akzeptiert wird. Es hat
Gott wird Männer und Frauen, ob sie zwei Bereiche:
Juden oder Heiden waren, in eine leben- 1. das äußerliche Bekenntnis, das alle
dige Beziehung zu ihm bringen. umfaßt, die von sich behaupten, Got-
Ehe wir dieses Ereignis hinter uns las- tes Regierung anzuerkennen und
sen, sollten wir noch zwei wichtige 2. eine innere Realität, die nur die
Punkte festhalten, die die Mutter Jesu umfaßt, die das Reich durch Bekeh-
betreffen. Erstens ist es deutlich, daß rung erlangen.
Maria keinen bevorzugten Platz hat, Das Reich hat 5 verschiedene Phasen:
soweit es die Möglichkeit betrifft, in sei- 1. Die Phase des AT, in der es nur vor-
ne Gegenwart zu treten. hergesagt wurde,
Zweitens wirft die Erwähnung der 2. die Phase, in der es in der Person des
Brüder Jesu die These um, daß Maria Königs »anwesend« oder »nahe« war,
Zeit ihres Lebens Jungfrau geblieben ist. 3. die Zwischenzeit nach der Ableh-
Es ist sehr wahrscheinlich, daß hier wirk- nung des Königs und seiner Rück-
liche Söhne Marias und damit Halbbrü- kehr in den Himmel, in der das Reich
der Jesu gemeint sind. Diese Sicht wird aus denen besteht, die auf Erden
durch andere Schriftstellen gestützt, wie bekennen, seine Untertanen zu sein,
etwa Ps 69,8; Matth 13,55; Mk 3,31.32; 6,3; 4. die Verwirklichung des Königreiches
Joh 7,3.5; Apg 1,14; 1. Kor 9,5; Gal 1,19. im Tausendjährigen Reich und
5. das endgültige, ewige Reich. Jede
VIII. Der König verkündigt eine neue Bibelstelle, die das Reich erwähnt,
Zwischenzeit des Königreiches, bezieht sich auf eine dieser fünf
weil Israel ihn abgelehnt hat Phasen.
(Kap. 13) In Kapitel 13 wird nun die Zwischen-
zeit besprochen. In dieser Phase von
Die Gleichnisse über das Reich der Pfingsten bis zur Entrückung besteht das
Himmel Reich Gottes seiner inneren Realität
Wir sind an einen Wendepunkt im Evan- (echte Gläubige) nach aus denselben
gelium des Matthäus gelangt. Der Herr Menschen wie die Gemeinde. Das ist das
hat angedeutet, daß irdische Beziehun- einzige, worin Königreich und Gemein-
gen nun durch geistliche Bande ersetzt de gleich sind. Sonst sind sie sehr unter-
sind, daß nicht länger die jüdische schiedlich.
Geburt ausschlaggebend ist, sondern der Vor dem Hintergrund dieser Aus-
Gehorsam gegenüber Gott, dem Vater. führungen wollen wir nun die Gleich-
Indem die Pharisäer den König ablehn- nisse auslegen.

84
Matthäus 13

A. Das Gleichnis vom Sämann (13,1-9) hat, der höre!« In dem Gleichnis teilte er
13,1 Jesus verließ das Haus, in dem er der Menge eine wichtige Botschaft mit,
den Besessenen geheilt hatte und »setzte eine andere den Jüngern. Keiner sollte
sich an den See« Genezareth. Viele Aus- die Bedeutung seiner Worte miß-
leger glauben, in dem Haus das Volk verstehen. Da der Herr selbst das Gleich-
Israel und in dem See die Heiden sehen nis in den Versen 18-23 interpretiert,
zu können. So symbolisiert das Weg- werden wir unsere Neugier bis dahin
gehen des Herrn den Bruch mit Israel. zügeln.
Während der Zwischenzeit wird das
B. Der Zweck der Gleichnisse
Reich den Nationen gepredigt.
(13,10-17)
13,2 Als sich eine große Volksmenge
am Strand zusammenfindet, steigt er in 13,10 Die Jünger waren verwirrt, daß der
ein Boot und lehrt die Menge in Gleich- Herr in der verschleierten Sprache der
nissen. Ein Gleichnis ist eine Geschichte Gleichnisse sprach. So baten sie ihn,
mit einer zugrundeliegenden geistlichen seine Rede näher zu erklären.
oder moralischen Lehre, die nicht immer 13,11 In seiner Antwort unterscheidet
sofort sichtbar wird. Die sieben Gleich- Jesus zwischen der ungläubigen Menge
nisse, die nun folgen, sagen uns, wie das und den gläubigen Jüngern. Die Menge,
Reich in der Zeit zwischen Jesu erstem ein Querschnitt durch die Bevölkerung,
und zweitem Kommen aussieht. lehnte ihn offensichtlich ab, obwohl ihre
Die ersten vier Gleichnisse erzählte Ablehnung erst vollendet sein würde,
Jesus vor der Menge, die drei letzten hör- wenn sie seinen Kreuzestod forderten.
ten nur die Jünger. Der Herr erklärte die Ihnen würde nicht gestattet sein, die
ersten beiden und das siebte seinen Jün- »Geheimnisse des Reiches der Himmel«
gern und überließ es ihnen (und uns), die zu kennen, während seine echten Nach-
anderen mit der Hilfe, die er uns bereits folger eine Hilfe zum Verständnis erhal-
gegeben hat, zu interpretieren. ten sollten.
13,3 Das erste Gleichnis beschäftigt Ein Geheimnis ist im NT eine Tat-
sich mit einem Sämann, der seine Saat auf sache, die die Menschen vorher nicht
vier verschiedenen Böden sät. Wie zu er- kannten, die man ohne göttliche Offen-
warten ist, unterscheiden sich die Ergeb- barung nicht erkennen kann, aber die
nisse auf den vier Böden voneinander. nun offenbart worden ist. Die Geheim-
13,4-8 nisse des Reiches sind bis dahin un-
bekannte Wahrheiten über das Reich in
Boden Ergebnisse
seiner Zwischenform. Allein die Tat-
1. Harter, festge- 1. Die Saat wird von
stampfter Weg Vögeln gefressen
sache, daß das Königreich überhaupt
2. Dünne Erdschicht 2. Die Saat geht schnell
eine Zwischenform hat, war bis dahin
über einem auf, hat aber keine ein Geheimnis. Die Gleichnisse beschrei-
Felsgrund Wurzel. Sie wird von ben einige Eigenschaften des Reiches
der Sonne verbrannt
und verdorrt. während der Zeit, in der der König
3. Erde mit Dornen 3. Die Saat geht auf, abwesend ist. Einige Menschen nennen
überwuchert aber wegen der das deshalb »die geheime Form des Rei-
Dornen ist Wachstum ches« – nicht, daß es irgend etwas ge-
unmöglich.
heimnisvolles um dieses Reich gäbe,
4. Gute Erde 4. Die Saat geht auf,
wächst und bringt sondern nur, weil diese Tatsachen vorher
Ernte ein. Einige nie bekannt waren.
Stengel tragen hun- 13,12 Es könnte scheinen, daß diese
dertfach, andere
sechzigfach, wieder Geheimnisse zufällig der Menge vorent-
andere dreißigfach. halten und den Jüngern offenbart wur-
den. Doch Jesus gibt hier den Grund an:
13,9 Jesus schloß das Gleichnis mit »Denn wer da hat, dem wird gegeben
der kurzen Ermahnung ab: »Wer Ohren werden, und er wird Überfluß haben;

85
Matthäus 13

wer aber nicht hat, von dem wird selbst, trotz ihrer Krankheit und Not lehnten sie
was er hat, genommen werden.« Die Jün- jede Hilfe ab. Deshalb war ihre Strafe,
ger glaubten an den Herrn Jesus, deshalb daß sie hörend nicht verstehen und
würde ihnen mehr gegeben werden. Sie sehend nicht sehen konnten.
hatten das Licht angenommen, also wür- 13,16.17 Die Jünger hatten ein großes
den sie mehr Licht erhalten. Das jüdische Vorrecht, denn sie durften sehen, was
Volk dagegen hatte das Licht der Welt sonst keiner vor ihnen sehen durfte. Die
abgelehnt, deshalb wurden sie jetzt nicht Propheten und andere gerechte Männer
nur davon ausgeschlossen, mehr Licht des AT hatten sich danach gesehnt, die
zu erhalten, sondern sie würden das Ankunft des Messias erleben zu dürfen,
wenige Licht, das sie schon hatten, auch aber ihr Wunsch war nicht erfüllt wor-
noch verlieren. Wer das Licht ablehnt, den. Die Jünger hatten das Vorrecht, an
der verleugnet es. diesem Wendepunkt der Geschichte zu
13,13 Matthew Henry vergleicht die leben, den Messias zu sehen, Zeugen sei-
Gleichnisse mit der Feuer- und Wolken- ner Wunder zu werden und die unver-
säule, die Israel erleuchtete, die Ägypter gleichliche Lehre von seinen Lippen zu
dagegen verwirrte. Die Gleichnisse soll- vernehmen.
ten denen offenbart werden, die ehrlich
interessiert waren, würden sich aber »für C. Erklärung des Gleichnisses vom
die, die Jesus feindlich gesinnt waren, als Sämann (13,18-23)
Ärgernis erweisen«. 13,18 Nachdem der Herr erklärt hatte,
So war es nicht eine Frage der Laune warum er in Gleichnissen sprach, fährt
des Herrn, sondern nur das Wirken eines der Herr nun fort und legt das Gleichnis
Prinzips, das im ganzen Leben gültig ist – von den vier verschiedenen Böden aus.
auf absichtliche Blindheit folgt als Ge- Er sagt uns nicht, wer der Sämann ist,
richtshandeln die wirkliche Blindheit. doch wir können uns sicher sein, daß er
Deshalb sprach Jesus zu den Juden in entweder Jesus selbst ist (V. 37) oder aber
Gleichnissen. H. C. Woodring drückte diejenigen, die die Botschaft des Reiches
das so aus: »Weil sie die Wahrheit nicht predigen. Er erklärt, daß die Saat das
liebten, sollten sie das Licht der Wahr- Wort vom Reich ist (V. 19). Die verschie-
26)
heit nicht empfangen.« Sie bekannten, denen Arten des Bodens sind diejenigen,
daß sie sähen, das heißt, mit den gött- die die Botschaft hören.
lichen Wahrheiten vertraut seien, aber 13,19 Der festgetretene Weg spricht
die fleischgewordene Wahrheit stand von Menschen, die sich weigern, die Bot-
vor ihnen und sie lehnten es entschlos- schaft anzunehmen. Sie hören zwar das
sen ab, sie zu sehen. Sie beteuerten, auf Evangelium, verstehen es aber nicht –
Gottes Wort zu hören, aber das leben- und zwar nicht, weil sie nicht dazu in der
dige Wort Gottes war unter ihnen und Lage wären, sondern weil sie nicht wol-
sie wollten ihm nicht gehorchen. Sie len. Die Vögel sind ein Bild Satans, er
wollten die wunderbare Tatsache der reißt die Saat aus den Herzen dieser
Fleischwerdung nicht verstehen, des- Hörer heraus. Er arbeitet mit ihnen ge-
halb wurde ihnen das Verständnis ent- meinsam an ihrer selbstgewählten Un-
zogen. fruchtbarkeit. Die Pharisäer waren sol-
13,14.15 Sie waren eine lebendige che Hörer mit festgetretener Erde.
Erfüllung der Prophezeiung in Jesaja 13,20.21 Als Jesus über den Fels
6,9.10. Das Herz Israels war taub gewor- sprach, dachte er an eine dünne Erd-
den und ihre Ohren waren für Gottes decke über einem Felsgrund. Er ist ein
Stimme nicht mehr empfänglich. Sie wei- Bild für die Menschen, die das Wort
gerten sich hartnäckig, mit ihren Augen hören und mit Freude reagieren. Zu
zu sehen. Sie wußten, daß, wenn sie Anfang mag der Sämann erfreut sein,
sehen, hören, verstehen und Buße tun daß seine Predigt so erfolgreich ist. Aber
würden, Gott sie heilen würde. Aber bald lernt er die tiefgründigere Lektion,

86
Matthäus 13

daß es nicht gut ist, wenn die Botschaft nimmt es auf und versteht es, indem er
mit Lächeln und Hochrufen angenom- dem Gehörten Gehorsam leistet. Obwohl
men wird. Wichtig ist, erst von der Sün- diese Gläubigen nicht alle die gleiche
de überzeugt zu sein, Buße zu tun und Frucht bringen, zeigen sie alle durch ihre
umzukehren. Es ist weitaus vielverspre- Frucht, daß sie göttliches Leben haben.
chender, einen Bittenden seinen Weg Frucht bedeutet hier wahrscheinlich eher
nach Golgatha weinend, als ihn mit die Entwicklung eines christlichen Cha-
leichtem Herzen und voller Über- rakters, als Menschen, die man für Chri-
schwang nach vorne gehen zu sehen. Die stus gewonnen hat. Wenn das Wort
nur oberflächliche Erddecke bringt nur Frucht im Neuen Testament benutzt
oberflächliches Bekenntnis, es fehlen tie- wird, ist damit meist die Frucht des Gei-
fe Wurzeln. Aber wenn das Bekenntnis stes gemeint (Gal 5,22.23).
durch die brennende Sonne der Drangsal Was sollte dieses Gleichnis der Men-
oder Verfolgung erprobt wird, dann ent- ge sagen? Offensichtlich warnte es vor
scheidet sich ein solcher Gläubiger oft, der Gefahr, das Wort zu hören, ohne ihm
daß es den Einsatz nicht wert ist und gibt gehorsam zu sein. Das Gleichnis sollte
jedes Bekenntnis der Herrschaft Christi auch einzelne ermutigen, das Wort ehr-
über sein Leben auf. lich anzunehmen und dann ihre Echtheit
13,22 Die mit Dornen überwucherte zu beweisen, indem sie für Gott Frucht
Erde steht für eine andere Gruppe, die brächten. Die Jünger und spätere Gläu-
das Wort nur oberflächlich hört. Diese bige wurden durch dieses Gleichnis auf
Menschen scheinen nach außen hin echte die andernfalls sehr entmutigende Tat-
Bürger des Reiches zu sein, aber nach sache vorbereitet, daß relativ wenige
einiger Zeit wird ihr Interesse daran Menschen, die die Botschaft hören, auch
durch die »Sorge der Zeit« und durch ihr wirklich gerettet werden. Es bewahrt
Streben nach Reichtum erstickt. Es gibt Christi treue Untertanen vor der Illu-
keine geistliche Frucht in ihrem Leben. sion, daß die ganze Welt durch die Ver-
G. H. Lang zeigt dies an einem Sohn breitung des Evangeliums bekehrt wer-
eines geldliebenden Vaters mit einem den wird. Die Jünger wurden durch die-
großen Geschäft. ses Gleichnis auch vor drei großen
Er mußte bald wählen, ob er seinem Gegenspielern des Evangeliums ge-
Herrn oder seinem Vater gefallen wollte. warnt:
Deshalb war die Erde, auf die der Same gesät 1. Satan (die Vögel – der Böse),
wurde und keimte, schon mit Dornen be- 2. das Fleisch (die brennende Sonne –
wachsen. Die Sorge der Zeit und der Betrug Drangsal oder Verfolgung) und
des Reichtums waren also schon da. Er ent- 3. die Welt (die Dornen – die Sorge der
schied sich für die Wünsche seines Vaters, Zeit und der Betrug des Reichtums).
arbeitete nur noch für das Geschäft, stieg bis Schließlich erhielten die Jünger eine
zur Konzernführung auf, und als es ihm gut Vorstellung von den großen Erträgen,
ging, mußte er erkennen, daß er seine himm- wenn man in Menschen investiert.
lischen Angelegenheiten vernachlässigt hat- Dreißigfach bedeutet 3000 %igen Ge-
te. Er wollte sich bald zur Ruhe setzen und winn, sechzigfach bedeutet 6000 %igen
sagte, er wolle sich nun mehr um geistliche Gewinn und hundertfach bedeutet sogar
Angelegenheiten kümmern. Doch Gott läßt 10 000 %igen Gewinn. Es ist wirklich un-
sich nicht spotten. Der Mann setzte sich zur möglich, die Bedeutung von nur einer
Ruhe und starb nur wenige Monate später. einzigen wirklichen Bekehrung zu er-
Er hinterließ 90 000 £ und ein geistlich ver- messen. Irgendein Sonntagsschullehrer
schwendetes Leben. Die Dornen hatten das hat in D. L. Moody investiert. Moody hat
Wort erstickt, deshalb brachte er keine wieder andere gewonnen, die wieder an-
27)
Frucht. dere gewannen. Der Sonntagsschullehrer
13,23 Die gute Erde steht für den hat eine Kettenreaktion in Gang gesetzt,
wahren Gläubigen. Er hört das Wort, die nie mehr aufhören wird.

87
Matthäus 13

D. Das Gleichnis vom Weizen und halb werden wir es hier nicht weiter
vom Unkraut (13,24-30) kommentieren.
Das vorige Gleichnis war ein lebendiges
E. Das Gleichnis vom Senfkorn
Beispiel für die Tatsache, daß das Reich
(13,31.32)
der Himmel sowohl aus denen besteht,
die nur Lippendienste für den König lei- 13,31.32 Als nächstes vergleicht der Herr
sten, als auch aus denen, die echte Jün- das Reich mit einem Senfkorn, das er das
ger sind. Die ersten drei Bodenarten zei- kleinste aller Samen nennt, das heißt, das
gen das Reich in seinem weitesten kleinste, das seine Zuhörer kennen.
Umkreis – äußeres Bekenntnis. Der vier- Wenn man eines dieser Senfkörner aus-
te Boden zeigt das Reich im engeren sät, dann wird es zu einem Baum, ein
Sinne – diejenigen, die wirklich bekehrt wahrhaft wunderbares Wachstum. Die
sind. normale Senfpflanze ist eher ein Strauch
13,24-26 Das zweite Gleichnis – vom als ein Baum. Der Baum war immerhin
Weizen und vom Unkraut – zeigt das groß genug, daß Vögel in seinen Zwei-
Reich auch in diesen beiden Aspekten. gen nisten konnten.
Der Weizen steht für die wahren Gläubi- Das Samenkorn steht für den beschei-
gen, das Unkraut sind Menschen, die nur denen Anfang des Reiches. Zu Beginn
mit den Lippen bekennen. Jesus ver- wurde das Reich durch die Verfolgung
gleicht das Reich »einem Menschen, der relativ klein und rein erhalten. Aber als
guten Samen auf seinen Acker säte. es durch den Staat geschützt und geför-
Während aber die Menschen schliefen, dert wurde, wuchs es übermäßig. Des-
kam sein Feind und säte Unkraut mitten halb konnten nun Vögel kommen und
unter den Weizen«. Unger schreibt, daß sich dort niederlassen. Hier wird das
es sich bei dem häufigsten Unkraut in gleiche Wort für Vögel verwendet wie in
einem Kornfeld um den Taumellolch Vers 4, wo Jesus sagt, daß die Vögel den
(Lolium temulentum) handelt, »ein gifti- Bösen symbolisieren (V. 19). Das Reich
ges Gras, das sich vom Weizen während wurde zu einem Nistplatz Satans und
des Wachstums fast nicht unterscheidet. seiner Handlanger. Heute finden sich
Wenn sie jedoch Ähren ansetzen und rei- unter dem Dach des Christentum solche
fen, dann können sie ohne Schwierigkeit christusleugnenden Lehren wie Unitaris-
voneinander getrennt werden«.28) mus, Christliche Wissenschaft, Mormo-
13,27.28 Als die Knechte sahen, daß nentum, Zeugen Jehovas und Vereini-
der Weizen mit Unkraut vermischt war, gungskirche (Mun-Sekte).
fragen sie den Hausherrn, wie das Deshalb warnte der Herr hier die Jün-
gekommen sei. Er erkannte das sofort als ger vorab, daß während seiner Abwesen-
Werk eines Feindes. Die Knechte waren heit das Reich gewaltig wachsen würde.
bereit, das Unkraut sofort zu jäten. Sie sollten sich jedoch dadurch nicht täu-
13,29.30 Aber der Bauer gab die schen lassen oder Wachstum mit Erfolg
Anweisung, bis zur Ernte zu warten. gleichsetzen. Obwohl das kleine Senf-
Dann würden die Schnitter beides von- korn zu einem unnormal großen Baum
einander trennen. Das Korn würde in die wüchse, würde es in seiner Größe »eine
Scheunen gesammelt, der Lolch jedoch Behausung von Dämonen geworden
verbrannt werden. und ein Gefängnis jedes unreinen Geistes
Warum ordnete der Bauer hier nun und ein Gefängnis jedes unreinen und
an, daß man mit der Trennung warten gehaßten Vogels« (Offb 18,2).
soll? In der Natur sind die Wurzeln von
Weizen und Lolch so verfilzt, daß es fast F. Das Gleichnis vom Sauerteig
unmöglich ist, nur eines von beiden aus- (13,33)
zurupfen. 13,33 Als nächstes vergleicht der Herr
Dieses Gleichnis wird von unserem Jesus das Reich mit »einem Sauerteig,
Herrn in den Versen 37-43 erklärt, des- den eine Frau nahm und unter drei Maß

88
Matthäus 13

Mehl mengte«. Schließlich war das ganze vergleichen würde, dann ist es eine ausrei-
Mehl »durchsäuert«. Viele interpretieren chende Antwort, wenn wir sagen, daß er das
hier so, daß das Mehl die Welt ist, und Reich mit Weizen und Unkraut und mit gut-
der Sauerteig das Evangelium, das in der en und schlechten Fischen vergleicht, daß es
ganzen Welt gepredigt wird, bis jeder im Reich der Himmel einen bösen Knecht
gerettet ist. Diese Ansicht wird jedoch gibt (Matth 18,23-32), daß es dort einen
von der Schrift, der Geschichte und den Mann gibt, der kein Hochzeitsgewand hatte
29)
gegenwärtigen Ereignissen nicht be- und der verloren war (Matth 22,1-13).
stätigt.
Sauerteig ist in der Bibel immer ein G. Die Verwendung der Gleichnisse
Bild des Bösen. Als Gott seinem Volk erfüllt Prophezeiungen (13,34.35)
befahl, den Sauerteig aus ihren Häusern 13,34.35 Jesus sprach die ersten vier
zu entfernen (2. Mose 12,15), verstanden Gleichnisse zu der Menge. Die Verwen-
sie das. Wenn jemand in der Zeit zwi- dung dieser Lehrmethode war eine
schen dem ersten und dem siebten Tage Erfüllung von Psalm 78,2, daß der Mes-
des Festes der ungesäuerten Brote ir- sias in Gleichnissen reden würde, und
gend etwas Gesäuertes aß, dann wurde aussprechen würde, »was von Grundle-
er aus dem Volk Israel ausgeschlossen. gung der Welt an verborgen war«. Diese
Jesus warnte vor dem Sauerteig der Pha- Eigenschaften des Reiches in seiner
risäer und Sadduzäer (Matth 16,6.12) Zwischenform, die bis zu dieser Zeit ver-
und vor dem Sauerteig des Herodes borgen gewesen waren, wurden nun
(Mk 8,15). In 1. Korinther 5,6-8 wird bekannt gemacht.
Sauerteig als Böses und Schlechtes defi-
niert, und der Zusammenhang in Galater H. Erklärung des Gleichnisses vom
5,9 zeigt uns, daß sich das Wort dort auf Unkraut und Weizen (13,36-43)
Irrlehre bezieht. Im allgemeinen bedeu- 13,36 Der Rest der Ansprache unseres
tet Sauerteig entweder falsche Lehre Herrn wurde nur vor den Jüngern gehal-
oder böses Verhalten. ten – in einem Haus. Hier könnten die
So warnt der Herr in diesem Gleich- Jünger für den gläubigen Überrest des
nis vor der durchdringenden Kraft des Volkes Israels stehen. Die neuerliche
Bösen, das im Reich der Himmel am Erwähnung eines Hauses erinnert uns
Werk ist. Das Gleichnis vom Senfkorn daran, daß Gott sein Volk, das er erkannt
zeigt das Böse im Äußeren des Reiches, hat, nicht für immer verstößt (Röm 11,2).
dieses Gleichnis zeigt den inneren 13,37 In seiner Interpretation des
Bereich des Reiches. Gleichnisses vom Weizen und vom Un-
Wir glauben, daß in diesem Gleichnis kraut zeigt Jesus, daß er selbst der
das Mehl die Speise des Volkes Gottes Sämann ist. Er säte direkt während sei-
bedeutet, wie wir sie in der Bibel finden. nes Dienstes auf Erden, und durch seine
Der Sauerteig ist die Irrlehre. Die Frau ist Knechte hat er in den folgenden Zeiten
die falsche Prophetin, die lehrt und ver- weiter gesät.
führt (Offb 2,20). Ist es nicht bezeich- 13,38 Das Feld ist die Welt. Es ist
nend, daß Frauen oft Gründerinnen von wichtig zu betonen, daß das Feld die
Irrlehren waren? Ihnen wird von der Welt ist, nicht die Gemeinde. Der gute
Bibel verboten, in der Gemeinde zu leh- Same sind die Söhne des Reiches. Es mag
ren (1. Kor 14,34; 1. Tim 2,12), doch haben bizarr und unpassend klingen, wenn
sich einige trotzig lehrmäßige Autorität man von Menschen sagt, daß sie in den
angemaßt und haben die Speise des Boden gesät werden. Aber der Punkt, der
Volkes Gottes mit zerstörerischen Irrleh- hier betont wird ist, daß die Söhne des
ren vermengt. Reiches in die Welt gesät worden sind.
J. H. Brookes schreibt: Während der Jahre seines öffentlichen
Wenn der Einwand erhoben wird, daß Dienstes besäte Jesus die Welt mit Jün-
Christus das Reich nicht mit etwas Bösem gern, die treue Untertanen des Reiches

89
Matthäus 13

waren. Das Unkraut sind die Söhne des die Nachahmung umfaßt, das Original
Bösen. Satan hat ein Gegenbild für jede und die Nachbildung, und daß dieser Zu-
göttliche Realität geschaffen. Er sät sol- stand bis an das Ende des Zeitalter beste-
che in die Welt, die aussehen, sprechen hen bleibt. Dann werden Gottes Boten die
und bis zu einem gewissen Grade leben Falschen aussortieren, die ins Gericht
wie Jünger. Aber sie sind keine echten kommen werden. Die Echten werden
Nachfolger des Königs. dagegen die Herrschaft Christi über diese
13,39 Der Feind ist Satan, der Feind Erde in Herrlichkeit miterleben dürfen.
Gottes und der Feind des Volkes Gottes.
»Die Ernte aber ist die Vollendung des I. Das Gleichnis vom verborgenen
Zeitalters«, das Ende des Zeitalters des Schatz (13,44)
Königreiches in seiner Zwischenform. Es 13,44 Bisher haben alle Gleichnisse
wird kommen, wenn Jesus in Macht und gelehrt, daß es im Reich gute und böse,
Herrlichkeit wiederkommt, um als Kö- gerechte und ungerechte Untertanen
nig zu herrschen. Der Herr bezieht sich geben wird. Die beiden nächsten Gleich-
hier nicht auf das Ende des Zeitalters der nisse zeigen, daß es zwei Arten von
Gemeinde. Es führt nur zu Verwirrun- gerechten Untertanen geben wird:
gen, wenn man hier die Gemeinde mit 1. Die gläubigen Juden in der Zeit vor
ins Spiel bringt. und nach dem Zeitalter der Gemein-
13,40-42 Die Schnitter sind die Engel de,
(s. Offb 14,14-20). Während der gegen- 2. die gläubigen Juden und Heiden des
wärtigen Phase des Reiches wird zwi- gegenwärtigen Zeitalters.
schen Weizen und Lolch nicht getrennt. Im Gleichnis vom Schatz vergleicht
Sie dürfen zusammen aufwachsen. Aber Jesus das Königreich mit einem Schatz,
bei der Wiederkunft Christi werden die der in einem Acker verborgen liegt. Ein
Engel alle Ärgernisse und alle, die Böses Mensch findet ihn, verbirgt ihn, und ver-
getan haben, sammeln und sie in den kauft dann freudig alles, was er besitzt,
Feuerofen werfen, wo sie weinen und um den Acker zu kaufen.
mit ihren Zähnen knirschen werden. Wir sind der Meinung, daß der
13,43 Die rechtmäßigen Untertanen Mensch der Herr Jesus selbst ist (er war
des Reiches, die während der Drangsal auch der Mensch, der im Gleichnis vom
auf der Erde leben, werden das Reich Weizen und Unkraut säte. V. 37). Der
ihres Vater erleben und die tausendjäh- Schatz ist der gottesfürchtige Überrest
rige Herrschaft Christi genießen dürfen. gläubiger Juden, wie er zur Zeit des
Sie werden leuchten wie die Sonne, das Dienstes Jesu auf Erden und auch wieder
heißt, sie werden überaus herrlich sein. nach der Entrückung der Gemeinde exi-
Jesus fügt hier wieder die sprichwört- stieren wird (s. Ps 135,4, wo Israel als
liche Ermahnung an: »Wer Ohren hat, Gottes wertvoller Schatz bezeichnet
der höre!« wird). Sie sind in einem Acker verbor-
Dieses Gleichnis rechtfertigt nicht, gen, indem sie über die Welt verstreut
wie manche irrtümlicherweise an- leben und niemanden außer Gott be-
nehmen, die Tolerierung gottloser Men- kannt sind. Jesus wird dargestellt, wie er
schen in der christlichen Ortsgemeinde. diesen Schatz entdeckt, dann ans Kreuz
Man bedenke dabei, daß das Feld die geht und alles hingibt, was er besitzt, um
Welt ist, nicht die Gemeinde. Die Orts- die Welt zu erkaufen (2. Kor 5,19; 1. Joh
gemeinde wird ausdrücklich aufgefor- 2,2), in der dieser Schatz verborgen liegt.
dert, aus ihrer Gemeinschaft alle auszu- Das erlöste Israel wird aus seinem Ver-
schließen, die sich bestimmter schwerer steck geholt werden, wenn der Erlöser
Formen der Sünde schuldig gemacht aus Zion kommt und das langerwartete
haben (1. Kor 5,9-13). Das Gleichnis lehrt messianische Reich aufrichtet.
einfach, daß das Reich der Himmel in sei- Das Gleichnis wird manchmal auch
ner geheimnisvollen Form das Echte und auf einen Sünder angewendet, der alles

90
Matthäus 13

aufgibt, um Christus, den größten Schatz über die erneuerte Erde herrschen. Die Beto-
zu finden. Aber diese Interpretation ver- nung liegt im zweiten Gleichnis auf dem
letzt die Lehre von der Gnade, die aus- König selbst und dem enormen Preis,
sagt, daß die Errettung ohne Bezahlung den er bezahlte, um um seine Braut zu
erlangt wird (Jes 55,1; Eph 2,8.9). werben und sie zu gewinnen, die seine
Herrlichkeit am Tage seiner Offenbarung
J. Das Gleichnis von der kostbaren mit ihm teilen wird.
Perle (13,45.46) Wie die Perle ihren Ursprung im
13,45.46 Das Reich wird auch mit »einem Meer hat, so stammt auch die Gemeinde,
Kaufmann« verglichen, »der schöne Per- die manchmal die heidnische Braut Chri-
len sucht«. Als er eine Perle von unge- sti genannt wird, hauptsächlich aus den
wöhnlich hohem Wert findet, opfert er Nationen. Das schließt die bekehrten
seinen ganzen Besitz, um sie zu erwer- Juden nicht aus, sondern weist nur auf
ben. In einem Lied, welches heißt »Ich ein Hauptmerkmal der Gemeinde hin,
habe die kostbarste Perle gefunden«, fin- als ein Volk, das aus den Nationen für
det der Sünder den Erlöser, den Herrn seinen Namen berufen ist. In Apostelge-
Jesus. Aber wir müssen hier wieder ein- schichte 15,14 bestätigt Jakobus dies als
wenden, daß ein Sünder nicht alles ver- das große Ziel Gottes im gegenwärtigen
kaufen muß und Christus nicht durch Zeitalter.
irgend etwas zu erwerben braucht.
Wir glauben eher, daß der Kaufmann K. Das Gleichnis vom Fischnetz
für den Herrn Jesus steht. Die kostbare (13,47-50)
Perle ist die Gemeinde. Auf Golgatha 13,47.48 Das letzte dieser Gleichnisse
verkaufte Jesus alles, um diese Perle zu vergleicht das Reich mit »einem Netz,
erwerben. Ebenso, wie eine Perle in einer das ins Meer geworfen wurde und von
Muschel durch Leiden, das durch einen jeder Gattung zusammenbrachte«. Die
Reiz verursacht ist, gebildet wird, so ent- Fischer sortierten die Fische dann aus,
stand die Gemeinde durch die Verwun- indem sie die Guten in Gefäße warfen,
dung und Verletzung des Leibes unseres und die Faulen aussortierten.
Erlösers. 13,49.50 Unser Herr legt das Gleich-
Es ist interessant, daß in dem Gleich- nis selbst aus. Die Zeit, zu der das
nis vom Schatz das Reich mit dem Schatz geschehen wird, ist »die Vollendung des
selbst verglichen wir. Hier wird jedoch Zeitalters«, das heißt, das Ende der
das Reich nicht mit der Perle, sondern Drangsalszeit. Zu dieser Zeit wird Chri-
mit dem Kaufmann verglichen. Warum stus wiederkommen. Die Fischer stehen
dieser Unterschied? für die Engel. Die guten Fische sind die
Im vorhergehenden Gleichnis liegt Gerechten, das heißt, die Erretteten aus
die Betonung auf dem Schatz – dem er- Juden und Heiden. Die faulen Fische
lösten Israel. Das Königreich ist eng mit sind die Ungerechten, nämlich die
dem Volk Israel verbunden. Es wurde Ungläubigen aus allen Völkern. Hier
ursprünglich diesem Volk angeboten, wird nun getrennt, wie wir es schon im
und in seiner zukünftigen Form werden Gleichnis vom Weizen und Unkraut
seine Untertanen in der Hauptsache gesehen haben (V. 30.39-43). Die Gerech-
Juden sein. ten kommen in das Reich ihres Vaters,
Wie wir bereits erwähnten, ist die während die Ungerechten in den Feuer-
Gemeinde nicht dasselbe wie das König- ofen geworfen werden, wo »das Weinen
reich. Alle, die zur Gemeinde gehören, und Zähneknirschen sein« wird. Das ist
gehören zum Reich, aber nicht alle, die nicht das endgültige Gericht, dieses
zum Reich gehören, sind Glieder der Gericht wird zu Anfang des Tausend-
Gemeinde. Die Gemeinde wird nicht zum jährigen Reiches vollzogen. Das endgül-
Königreich in seiner zukünftigen Form ge- tige Gericht wird nach diesen tausend
hören, sondern wird zusammen mit Christus Jahren sein (Offb 20,7-15).

91
Matthäus 13 und 14

Gaebelein kommentiert diese Gleich- die Menschen zwar über seine Weisheit
nis folgendermaßen: und die Wunder erstaunt, von denen
Das Netz wird in die See gelassen, die, andere ihnen berichteten. Aber für sie
wie wir schon gesehen haben, für die Na- war er nur »der Sohn des Zimmer-
tionen steht. Das Gleichnis bezieht sich auf manns«. Sie wußten, daß Maria seine
die Predigt des ewigen Evangeliums, das Mutter war, und seine Brüder Jakobus,
während der großen Drangsal verkündigt Joseph, Simon und Judas hießen und
wird (Offb 14,6.7). Die Trennung zwischen daß er Schwestern hatte, die noch in
Gut und Böse wird von den Engeln voll- Nazareth lebten. Wie konnte nur einer
zogen. All dies kann sich nicht auf die heuti- der ihren solches sagen und das tun, was
ge Zeit noch auf die Gemeinde beziehen, son- ihn überall so bekannt machte? Das er-
dern nur auf die Zeit, zu der das Reich aufge- staunte sie, und es war für sie einfacher,
richtet werden wird. Die Engel werden hier an ihrer Borniertheit festzuhalten, als die
zu dienen haben, wie wir es so deutlich in der Wahrheit anzuerkennen.
Offenbarung dargestellt finden. Die Bösen 13,57.58 Sie ärgerten sich an ihm. Des-
werden in den Feuerofen geworfen, die Ge- halb betonte der Herr, daß ein echter Pro-
rechten dagegen werden für die Zeit des Tau- phet fern von seiner Heimat meist mehr
30)
sendjährigen Reiches auf der Erde bleiben. geschätzt wird als zuhause. Seine eige-
nen Nachbarn und Verwandten ließen es
L. Der Schatz der Wahrheit (13,51.52) zu, daß ihre Bekanntheit mit ihm zur Ver-
13,51 Als der Meister seine Gleichnisse achtung führte. Es war hauptsächlich der
beendet hatte, fragte er seine Jünger, ob Unglaube, der Jesu Wirken in Nazareth
sie ihn verstanden hätten. Sie antworte- verhinderte. Er heilte dort nur einige
ten: »Ja.« Das mag uns erstaunen oder wenige Kranke (vgl. Mk 6,5). Es ging
sogar ein wenig neidisch auf sie machen. nicht darum, daß er hier nicht hätte wir-
Vielleicht können wir nicht so voller ken können, denn die Bosheit des Men-
Selbstvertrauen mit »Ja« antworten. schen kann die Macht Gottes nicht
13,52 Weil sie verstanden, waren sie begrenzen. Aber er segnet keine Men-
verpflichtet, dies anderen mitzuteilen. schen, die seinen Segen nicht wollen. Er
Jünger sollen Kanäle des Segens, nicht erfüllt keine Bedürfnisse, welche die
seine Sammelpunkte sein. Die Zwölf Menschen nicht haben, und er heilt nie-
waren nun Schriftgelehrte, die auf das manden, der sich beschweren würde,
Reich der Himmel vorbereitet waren, wenn man ihn krank nennt.
d. h. Lehrer und Deuter der Wahrheit. Sie
waren »gleich einem Hausherrn, der aus IX. Die unermüdliche Gnade des
seinem Schatz Neues und Altes hervor- Messias wird mit wachsender
bringt«. Im AT hatten sie eine reiche Feindseligkeit beantwortet
Quelle dessen, was man vielleicht »alte (14,1 – 16,12)
Wahrheit« nennen könnte. In den Gleich-
nisreden Jesu hatten sie eben etwas ganz A. Johannes der Täufer wird geköpft
Neues erhalten. Aus dieser reichen Quel- (14,1-12)
le des Wissens sollten sie nun schöpfen, 14,1.2 Die Nachricht von Jesu Dienst kam
um anderen die wunderbaren Wahrhei- nun bald zu Herodes dem Vierfürsten.
ten weiterzugeben. Dieser berüchtigte Sohn Herodes des
Großen war auch unter dem Namen
M. Jesus wird in Nazareth abgelehnt Herodes Antipas bekannt. Er hatte die
(13,53-58) Hinrichtung von Johannes dem Täufer
13,53-56 Nachdem Jesus diese Gleich- befohlen. Als er von den Wundern Chri-
nisse vollendet hatte, verließ er die Ufer sti hörte, begann sein Gewissen ihn zu
des Sees Genezareth und ging zum letz- quälen. Die Erinnerung an den Pro-
ten Mal hin, um Nazareth zu besuchen. pheten, den er hatte köpfen lassen, ließ
Als er hier in der Synagoge lehrte, waren ihn nicht los. Er sagte seinen Dienern:

92
Matthäus 14

»Dieser ist Johannes. Er kommt von den keinem besseren gehen, um ihren Kum-
Toten zu mir zurück. Das erklärt diese mer und ihre Entrüstung loszuwerden.
Wunder.« Auch hätten sie uns kein besseres Bei-
14,3 In den Versen 3-12 haben wir spiel geben können. In Zeiten der Verfol-
eine sogenannte literarische Rückschau. gung, Unterdrückung, des Leidens und
Matthäus unterbricht seine Erzählung, des Kummers sollten auch wir gehen
um die Umstände näher zu belichten, die und es Jesus sagen.
zur Ermordung des Johannes geführt Was Herodes angeht, so war sein Ver-
hatten. brechen abgeschlossen, aber die Erinne-
14,4.5 Herodes war geschieden und rung daran dauerte an. Als er von Jesu
lebte nun in Ehebruch und Blutschande Handeln hörte, verfolgte ihn die ganze
mit Herodias, der Frau seines Bruders Angelegenheit weiter.
Philippus. Als Gottes Prophet konnte
Johannes so etwas nicht ohne Ermah- B. Die Speisung der Fünftausend
nung durchgehen lassen. Entrüstet und (14,13-21)
furchtlos zeigte er auf Herodes und klag- 14,13.14 Als Jesus hörte, daß Herodes
te ihn wegen seines unmoralischen Le- durch die Berichte von seinen Wundern
benswandels an. geängstigt wurde, »zog er sich in einem
Der König war nun zornig genug, ihn Schiff« an einen einsamen Ort zurück.
zu töten, doch war das politisch nicht rat- Wir können sicher sein, daß er nicht floh,
sam. Die Menschen sagten von ihm, daß denn er wußte, ihm konnte nichts ge-
er ein Prophet wäre, und hätten even- schehen, ehe seine Zeit nicht gekommen
tuell mit einem Aufruhr auf seine Hin- war. Den Beweggrund für sein Wegge-
richtung reagiert. So befriedigte der hen wissen wir nicht genau, aber sicher
Tyrann seinen momentanen Zorn, indem war einer der weniger wichtigen Grün-
er Johannes ins Gefängnis werfen ließ. de, daß die Jünger gerade von ihrer Pre-
»Die Gottlosen lieben Religion in der digtreise zurückgekehrt waren (Mk 6,30;
gleichen Weise, wie sie Löwen lieben – Lk 9,10) und eine Zeit der Erholung und
entweder tot oder im Käfig: Sie fürchten Ruhe nötig hatten.
die Religion, wenn sie sich losreißt und Dennoch kam die Volksmenge ihm
31)
ihr Gewissen aufrütteln will.« zu Fuß nach. Als er an Land ging, war-
14,6-11 Zu Herodes' Geburtstag er- teten sie schon auf ihn. Weit davon ent-
freute die Tochter der Herodias den fernt, sich durch diese Unterbrechung
König durch ihr Tanzen so sehr, daß er irritieren zu lassen, machte sich unser
ihr im Überschwang alles anbot, was sie barmherziger Herr sofort ans Werk und
sich wünschen mochte. Von ihrer scham- heilte alle ihre Kranken.
losen Mutter veranlaßt, bat sie unver- 14,15 Als es Abend wurde, das heißt,
schämt um das »Haupt Johannes' des nach 15.00 Uhr, merkten seine Jünger,
Täufers auf einer Schüssel«. Bis dahin daß sich Unheil zusammenbraute. Hier
war des Königs Zorn über Johannes waren so viele Menschen, die nichts zu
etwas abgekühlt, vielleicht bewunderte essen hatten. Sie baten Jesus, die Menge
er den Propheten sogar für seinen Mut in die Dörfer zu schicken, damit sie sich
und seine Standhaftigkeit. Aber obwohl dort etwas zu essen kaufen könnten. Wie
er traurig wurde, begriff er, daß er sein wenig verstanden sie das Herz Christi
Versprechen erfüllen mußte. Der Befehl und wie wenig kannten sie seine Macht.
wurde gegeben. Johannes wurde geköpft 14,16-18 Der Herr versicherte ihnen,
und die grausige Bitte des tanzenden daß es nicht nötig sei, sie wegzuschicken.
Mädchens erfüllt. Warum sollten die Menschen den Einen
14,12 Die Jünger des Johannes beer- verlassen, der seine Hand für sie auftut
digten den Leib ihres Meisters mit allen und alles Lebendige nach seinem Wohl-
Ehren und gingen dann zu Jesus, um ihm gefallen sättigt (Ps 145,16)? Dann brachte
die Neuigkeit zu bringen. Sie konnten zu er seine Jünger in Verlegenheit, indem er

93
Matthäus 14

sie aufforderte: »Gebt ihr ihnen zu Schiff zu steigen, um an das andere Ufer
essen.« Sie waren betreten. Wie sollten zu fahren. Dann stieg er auf einen Berg,
sie den Menschen etwas zu essen geben? um zu beten. Als es Abend wurde, das
Sie hatten doch nichts als fünf Brote und heißt nach Sonnenuntergang, war er dort
zwei Fische! Sie hatten darüber ganz ver- allein. (In der jüdischen Zeitrechnung
gessen, daß sie auch noch Jesus hatten. gab es zwei »Abende«; s. 2. Mose 12,6,
Geduldig sagte der Retter: »Bringt sie Anmerkung Elberfelder Bibel. Der eine,
mir her!« Das war ihre Aufgabe. auf den sich Vers 15 bezieht, begann nach
14,19-21 Wir können uns den Herrn 15.00 Uhr, der andere, auf den hier Bezug
gut vorstellen, wie er der Menge befahl, genommen wird, nach Sonnenunter-
sich im Gras zu lagern. Er »nahm die fünf gang.)
Brote und die zwei Fische, blickte auf 14,24-27 In der Zwischenzeit war das
zum Himmel und dankte«. Dann »brach Schiff schon weit weg und kämpfte
er die Brote und gab sie den Jüngern«, gegen den Wind, »denn der Wind war
damit sie sie verteilen konnten. Es war ihnen entgegen«. Als die Wellen das Boot
genug für alle da. Als alle gesättigt hin und her warfen, sah Jesus, wie die
waren, sammelten die Jünger noch zwölf Jünger in Not waren. »In der vierten
Körbe mit Resten auf. Es war schließlich Nachtwache« (zwischen 3.00 und 6.00
mehr übriggeblieben, als Jesus vorher Uhr morgens) »kam er zu ihnen, indem
zur Verfügung gehabt hatte. Ironischer- er auf dem See einherging. Die Jünger
weise war für jeden der ungläubigen meinten, einen Geist zu sehen und gerie-
Jünger ein Korb da. Eine Menge von ten in Panik. Aber sofort hörten sie die
zehn- bis fünfzehntausend Menschen tröstliche Stimme ihres Meisters und
war versorgt worden (5000 Männer mit Freundes: »Seid guten Mutes! Ich bin's.
ihren Frauen und Kindern). Fürchtet euch nicht!«
Das Wunder ist eine geistliche Lek- Wie oft bewahrheitet sich dies in
tion für die Jünger jeder Generation. Die unserem Leben! Wie oft werden wir vom
hungrige Menge ist immer da. Und auch Sturm hin und her geworfen, sind ver-
sind immer nur wenige Jünger mit wirrt und verzweifelt. Der Herr scheint
scheinbar bemitleidenswerten Vorräten weit weg zu sein. Doch die ganze Zeit
da. Und immer ist der mitfühlende Ret- betet er für uns. Gerade dann, wenn die
ter da. Wenn die Jünger gewillt sind, das Nacht am dunkelsten zu sein scheint, ist
wenige, was sie haben, ganz hinzuge- er nahe. Doch wir sehen ihn dann oft
ben, dann vermehrt er ihr Kapital, so nicht und geraten in Panik. Aber dann
daß alle satt werden. Der Unterschied, hören wir seine tröstliche Stimme und
den wir hier festhalten sollten, besteht erinnern uns daran, daß die Wellen, die
jedoch darin, daß fünftausend Men- uns solche Angst eingejagt hatten, unter
schen in Galiläa nur für eine kurze Zeit seinen Füßen sind.
gesättigt worden sind, die jedoch, die 14,28 Als Petrus die wohlbekannte,
sich heute von dem lebendigen Christus von ihm geliebte Stimme hörte, sprudel-
ernähren, sind für immer gesättigt te seine Zuneigung und sein Über-
(s. Joh 6,35). schwang über. »Herr, wenn du es bist, so
befiehl mir, auf dem Wasser zu dir zu
C. Jesus geht auf dem See (14,22-33) kommen.« Anstatt das »wenn« des
Das vorhergehende Wunder sollte die Petrus zu einem schwachen Glauben
Jünger in der Gewißheit bestärken, daß herunterzuspielen, sollten wir seine
sie dem Einen folgten, der für ihre mutige Forderung als Zeichen großen
Bedürfnisse sorgen würde. Nun lernten Vertrauens werten. Petrus wußte, daß
sie, daß dieser sie auch beschützen und die Befehle Jesu immer die Befähigung
mit Kraft ausstatten kann. zum Gehorsam enthalten, daß er immer
14,22.23 Während Jesus die Menge die Kraft zu seinen Aufträgen gibt, was
entließ, befahl er den Jüngern, in das immer er auch gebieten mag.

94
Matthäus 14 und 15

14,29-33 Sobald Jesus sagte folge berichtet, in der sie auch ge-
»Komm!«, sprang Petrus aus dem Boot schahen.
und begann auf ihn zuzugehen. Solange In Kapitel 15 ergibt sich auch eine
er auf Jesus sah, war er in der Lage, das Ordnung nach den Heilszeiten. Erstens
Unmögliche zu tun. Aber sobald er sich sehen wir die Streiterei und Zankerei der
mit dem Wind beschäftigte, begann er zu Pharisäer und Schriftgelehrten, die für
sinken. Verzweifelt schrie er: »Herr, rette die Ablehnung des Messias durch Israel
mich!« Der Herr nahm ihn bei der Hand steht (V. 1-20). Zweitens weist der Glau-
und tadelte sanft seinen Kleinglauben be der Kanaaniterin auf die Verbreitung
und brachte ihn ins Boot zurück. Sobald des Evangeliums in unserem Zeitalter
Jesus an Bord war, »legte sich der Wind«. hin (V. 21-28). Und die Heilung vieler
In dem Boot wurde nun eine Anbetungs- Menschen (V. 29-31 und die Speisung der
stunde gehalten, als die Jünger zu Jesus Viertausend (V. 32-39) weisen auf das
sagten: »Wahrhaftig, du bist Gottes zukünftige Tausendjährige Reich mit sei-
Sohn!« ner weltweiten Gesundheit und seinem
Das christliche Leben ist menschlich allgemeinen Reichtum.
unmöglich, genauso wie es unmöglich 15,1.2 Die Schriftgelehrten und Pha-
ist, auf dem Wasser zu gehen. Es kann risäer waren in ihrem Versuch, Jesus eine
nur in der Kraft des heiligen Geistes ge- Falle zu stellen, nicht zu bremsen. Eine
führt werden. Solange wir von den ande- Abordnung von ihnen kam von Jeru-
ren Dingen weg nur auf Jesus schauen salem und klagte seine Jünger der Un-
(Hebr 12,2), können wir Übernatürliches reinheit an, weil sie mit ungewaschenen
in unserem Leben erfahren. Doch sobald Händen essen, und deshalb die »Über-
wir uns mit uns selbst oder unseren lieferung der Ältesten« übertreten wür-
Umständen beschäftigen, fangen wir an den.
zu sinken. Dann müssen wir Jesus um Um diesen Vorfall recht zu verstehen,
Wiederherstellung und göttliche Befähi- müssen wir begreifen, was »rein« und
gung anrufen. »unrein« bedeutet, und was die Pha-
risäer mit »waschen« meinten. Die
D. Jesus heilt im Land Genezareth ganzen Bestimmungen um »rein« und
(14,34-36) »unrein« gehen auf das AT zurück. Die
14,34-36 Das Boot legte in Genezareth an, Unreinheit, der sich die Jünger angeblich
an der Nordwestküste des galiläischen schuldig gemacht hatten, war eine rein
Meeres. Als die Menschen Jesus sahen, zeremonielle Unreinheit. Wenn jemand
durchstreiften sie die ganze Gegend nach etwa einen Toten berührte oder bestimm-
Kranken und brachten sie zu ihm, daß te Dinge aß, zog er sich diese zeremoniel-
die Kranken »nur die Quaste seines Klei- le Unreinheit zu, das heißt, er durfte
des anrühren dürften, und alle, die ihn nicht mehr am Gottesdienst teilnehmen.
anrührten, wurden völlig geheilt«. Und Ehe er sich Gott wieder nähern durfte,
so hatten die Ärzte in diesem Gebiet mußte er sich nach dem Gesetz einer Rei-
Ferien. Für einige Zeit gab es dort sicher nigungszeremonie unterziehen.
keine Kranken mehr. Die ganze Gegend Aber die Ältesten hatten ihre Tradi-
wurde durch den Besuch des großen tion zu den Reinigungszeremonien hin-
Arztes geheilt. zugefügt. Sie bestanden zum Beispiel
darauf, daß ein Jude, bevor er essen durf-
E. Verunreinigung kommt von innen te, seine Hände einer ausgedehnten Rei-
(15,1-20) nigungszeremonie zu unterziehen hatte,
Es wird oft darauf hingewiesen, daß bei der er nicht nur die Hände, sondern
Matthäus in seinen ersten Kapiteln nicht auch die Arme bis zu den Ellenbogen zu
chronologisch vorgeht. Aber vom An- waschen hatte. Wenn er auf dem Markt-
fang des 14. Kapitels bis zum Ende sind platz gewesen war, dann sollte er sogar
die Ereignisse größtenteils in der Reihen- ein zeremonielles Bad nehmen. Deshalb

95
Matthäus 15

kritisierten die Pharisäer die Jünger, weil Schuppen oder Gräten hatte. Gott hatte
sie die Feinheiten des Reinheitsgesetzes ganz genaue Anweisungen gegeben,
der jüdischen Tradition nicht beachten welche Speisen rein und welche unrein
würden. waren. Nun bereitete der Gesetzgeber
15,3-6 Der Herr Jesus erinnerte seine den Weg für die Abschaffung des ganzen
Kritiker daran, daß sie das Gesetz Gottes Systems zeremonischer Unreinheit. Er
übertreten würden, nicht nur die Über- sagte, daß die Speise, die seine Jünger
lieferung der Ältesten. Das Gesetz befahl mit ungereinigten Händen aßen, sie
den Menschen, ihre Eltern zu ehren, nicht verunreinigen würde. Aber die
wozu gehörte, daß sie die Eltern mit Geld Pharisäer und Schriftgelehrten waren
versorgen sollten, wenn das nötig wäre. durch ihre Heuchelei wirklich unrein.
Aber die Schriftgelehrten und Pharisäer 15,12-14 Als seine Jünger Jesus be-
(und viele andere) wollten kein Geld für nachrichtigten, daß die Pharisäer sich an
den Unterhalt ihrer altgewordenen seinem Wort ärgerten, antwortete Jesus
Eltern ausgeben. So erfanden sie eine ihnen, indem er die Pharisäer mit Pflan-
Tradition, durch die sie ihrer Verpflich- zen verglich, die nicht von Gott gepflanzt
tung entgehen konnten. Wenn ihre Eltern worden sind. Sie waren kein Weizen,
sie um Hilfe baten, brauchten sie nur sondern Unkraut. Sie und ihre Lehren
etwa folgende Worte zu äußern: »Alles würden schließlich ausgerissen werden,
Geld, das ich habe und für eure Unter- das heißt, zerstört. Dann fügte er hinzu:
stützung verwenden könnte, habe ich »Laßt sie! Sie sind blinde Leiter der Blin-
Gott geweiht und deshalb kann ich es den.« Obwohl sie von sich behaupteten,
euch nicht geben.« Wenn sie diese For- Autoritäten auf geistlichem Gebiet zu
mel gesprochen hatten, waren sie von sein, waren sie und die Menschen, die sie
der finanziellen Verantwortung ihren führten, für die geistlichen Realitäten
Eltern gegenüber befreit. Indem sie nun blind. Es war unausweichlich, daß Füh-
dieser betrügerischen Tradition folgten, rer und Verführte beide in eine Grube fal-
hatten sie »das Gebot Gottes ungültig len würden.
gemacht«, das ihnen befahl, für ihre 15,15 Die Jünger waren zweifellos
Eltern zu sorgen. durch diese völlige Umkehrung von
15,7-9 Durch ihre geschickte Wortver- allem, was sie über reine und unreine
dreherei hatten sie die Prophezeiung Speisen gelernt hatten, verwirrt. Es war
Jesajas erfüllt (Jes 29,13). Sie behaupte- für sie wie ein Gleichnis, das heißt, eine
ten, Gott mit den Lippen zu ehren, »aber verborgene, verschleierte Erzählung.
ihr Herz ist weit entfernt« von ihm. Ihr Petrus gab ihrer Verwirrung Ausdruck,
Gottesdienst war wertlos, weil sie der als er um eine Erklärung bat.
Überlieferung von Menschen mehr Be- 15,16.17 Der Herr drückte zuerst sei-
deutung zumaßen als dem Wort Gottes. ne Verwunderung aus, daß sie so schwer
15,10.11 Als Jesus sich nun an die begriffen und erklärte dann, daß wirkli-
Volksmenge wandte, gab er eine Er- che Verunreinigung moralisch und nicht
klärung von überragender Bedeutung äußerlich ist. Eßbares kann an sich weder
ab. Er erklärte, daß »nicht was in den rein noch unrein sein. In der Tat ist nichts
Mund eingeht« den Menschen verunrei- Materielles an sich schlecht, nur der
nigt, sondern »was aus dem Mund geht«. Mißbrauch einer Sache ist schlecht. Die
Wir können diese revolutionäre Aussage Nahrung, die ein Mensch zu sich nimmt,
kaum recht schätzen. Unter dem leviti- geht durch den Mund in den Bauch und
schen Gesetz war es so, daß das, was in wird dort verdaut, die unverdaulichen
den Mund einging, den Menschen ver- Überreste aber werden entleert. Sein
unreinigt. Den Juden war es verboten, moralischer Zustand wird dadurch kei-
das Fleisch von Tieren zu essen, die keine nesfalls beeinträchtigt – nur sein Leib.
Wiederkäuer oder Paarhufer sind. Sie Heute wissen wir, daß »jedes Geschöpf
durften keinen Fisch essen, der keine Gottes gut ist und nichts verwerflich,

96
Matthäus 15

wenn es mit Danksagung genommen Mittelmeerküste liegt. So weit wir wis-


wird; denn es wird geheiligt durch Got- sen, war das das einzige Mal während
tes Wort und durch Gebet« (1. Tim 4,4.5). seines öffentlichen Dienstes, daß er sich
Der Abschnitt redet natürlich nicht von außerhalb des jüdischen Gebietes beweg-
Giftpflanzen, sondern von Speisen, die te. Hier in Phönizien bat ihn eine
von Gott zum Verzehr des Menschen kanaanäische Frau, ihre Tochter zu hei-
bestimmt sind. Alle sind gut und sollten len, die besessen war.
mit Dankbarkeit gegessen werden. Wenn Es ist wichtig festzuhalten, daß diese
jemand gegen ein Nahrungsmittel eine Frau keine Jüdin, sondern eine Heidin
Allergie hat oder es nicht verträgt, dann war. Sie stammte von den Kanaanitern
sollte er sich dessen enthalten, doch im ab, dieser unmoralischen Rasse, die Gott
allgemeinen können wir alles mit dem zur Ausrottung bestimmt hatte. Durch
Bewußtsein essen, daß Gott die Nahrung den Ungehorsam Israels hatten einige
gebraucht, um uns materiell zu ernähren. die Einnahme Kanaans unter Josua über-
15,18 Wenn man sich nicht durch lebt, und diese Frau stammte von diesen
Essen verunreinigt, wodurch dann? Überlebenden ab. Als Heiden genoß sie
Jesus antwortete: »Was aber aus dem natürlich nicht die Vorrechte des erwähl-
Mund ausgeht, kommt aus dem Herzen ten irdischen Gottesvolkes. Sie war eine
hervor, und das verunreinigt den Men- Fremde, die keine Hoffnung hatte. Von
schen.« Hier ist mit »Herz« nicht das ihrer Stellung her hatte sie keinen
Organ genannt, das Blut durch unseren Anspruch auf Gott oder den Messias.
Körper pumpt, sondern die verdorbene Als sie zu Jesus redet, spricht sie ihn
Quelle menschlicher Ziele und Wünsche. als »Herr, Sohn Davids« an, ein Titel, den
Dieser Teil der sterblichen Natur des die Juden benutzten, wenn sie vom Mes-
Menschen zeigt sich durch unreine Ge- sias redeten. Obwohl Jesus der Sohn
danken, durch verdorbene Reden und Davids war, hatte eine Heidin kein Recht,
zuletzt durch böse Handlungen. ihn auf dieser Basis anzusprechen, des-
15,19.20 Einige der Dinge, die den halb antwortete er ihr zunächst nicht.
Menschen verunreinigen, sind »böse Ge- 15,23 »Seine Jünger traten hinzu und
danken, Mord, Ehebruch, Unzucht, Die- baten ihn: Entlaß sie«, weil sie sie störte.
berei, falsche Zeugnisse, Lästerungen« Für Jesus war sie jedoch ein willkom-
(dieses griechische Wort umfaßt auch die menes Beispiel des Glaubens und ein
Verleumdung anderer Menschen). Gefäß, in dem seine Gnade leuchten
Die Pharisäer und Schriftgelehrten konnte. Aber er mußte ihren Glauben
waren besonders sorgsam, wenn es dar- zunächst prüfen und weiterbilden.
um ging, die Waschungszeremonien 15,24.25 Er erinnerte sie, daß er nur
betont auffällig und peinlich genau aus- »zu den verlorenen Schafen des Hauses
zuführen. Aber ihr inneres Leben war Israel« gesandt sei, nicht zu den Heiden
verunreinigt. Sie kamen mit Nebensäch- und erst recht nicht zu den Kanaanitern.
lichem zurecht und übersahen dabei die Aber sie ließ sich von dieser scheinbaren
wirklich wichtigen Anliegen. Sie konn- Absage nicht entmutigen. Sie ließ den
ten die Jünger dafür kritisieren, daß sie Titel Sohn Davids nun aus und verehrte
die uninspirierten Traditionen nicht hiel- ihn, indem sie sagte: »Herr, hilf mir!«
ten, und gleichzeitig planen, den Sohn Wenn sie zu ihm nicht als eine Jüdin zu
Gottes zu töten und sich des ganzen Sün- ihrem Messias kommen könnte, dann
denkataloges schuldig zu machen, der in wollte sie sich als Geschöpf an ihren
Vers 19 aufgeführt ist. Schöpfer wenden.
15,26 Um die Echtheit ihres Glaubens
F. Eine Heidin wird um ihres zu erproben, sagte Jesus, daß es nicht gut
Glaubens willen gesegnet (15,21-28) für ihn wäre, sich von der Ernährung der
15,21.22 »Jesus zog sich in die Gegend jüdischen Kinder wegzuwenden, um das
von Tyrus und Sidon« zurück, die an der Brot den heidnischen »Hunden« zu

97
Matthäus 15 und 16

geben. Wenn uns das sehr hart erscheint, war. Die Menschen, die Jesus und seine
dann sollten wir uns daran erinnern, daß Jünger mit Israel in Verbindung brach-
dies dazu bestimmt war, zu heilen und ten, schlossen richtig, daß der Gott Is-
nicht zu verletzen, wie das Skalpell eines raels in ihrer Mitte am Werk war.
Chirurgen. Sie war eine Heidin. Die
Juden sahen die Heiden als streunende H. Die Speisung der Viertausend
Hunde an, die die Straßen durchstreifen, (15,32-39)
um Essensreste zu finden. Dennoch ver- 15,32 Sorglose (oder kritische) Leser, die
wandte Jesus an dieser Stelle das Wort dieses Ereignis mit der Speisung der
für Schoßhunde. Die Frage war: Würde Fünftausend verwechseln, haben die
sie ihre Unwürdigkeit eingestehen, um Bibel der Wiederholung, des Wider-
auch nur die kleinste seiner Gnaden zu spruchs oder der falschen Zählungen
erhalten? angeklagt. Tatsache ist jedoch, daß die
15,27 Ihre Antwort war wunderbar. beiden Ereignisse sehr unterschiedlich
Sie stimmte seiner Beschreibung voll zu. sind und einander eher ergänzen als
Sie nahm den Platz einer unwürdigen widersprechen.
Heidin ein und warf sich auf seine Gna- Nachdem die Menge drei Tage bei
de, Liebe und Barmherzigkeit. Sie sagte Jesus gewesen war, hatte sie kein Essen
praktisch: »Du hast recht! Ich bin nichts mehr. Er wollte sie nicht hungrig gehen
anderes als ein kleiner Hund unter dem lassen, weil sie auf dem Weg zusammen-
Tisch. Aber ich weiß, daß manchmal Kru- brechen könnten.
men vom Tisch auf den Boden fallen. 15,33.34 Wieder verzweifelten die
Warum darf ich nicht wenigstens einige Jünger bei der Aufgabe, eine solche Men-
Krümel haben? Ich bin es nicht wert, daß schenmasse zu speisen, diesmal hatten
du meine Tochter heilst, aber ich bitte sie nur sieben Brote und »wenige kleine
dich inständig, es für eine deiner unwür- Fische«.
digen Kreaturen zu tun.« 15,35.36 Wie schon bei der Speisung
15,28 Jesus lobte sie für ihren »großen der 5000 forderte Jesus die Menge auf
Glauben«. Während die ungläubigen sich zu lagern, nahm das Brot und die
Kinder das Brot nicht wollen, war hier Fische, dankte und brach das Brot und
ein »Hündchen«, das danach schrie. Der gab sie seinen Jüngern zum Verteilen. Er
Glaube wurde belohnt, denn ihre Tochter erwartet, daß seine Jünger tun, was sie
wurde sofort geheilt. Die Tatsache, daß können, dann greift er ein und tut, was
der Herr diese heidnische Tochter heilte, sie nicht können.
spiegelt seinen gegenwärtigen Dienst 15,37-39 Nachdem die Menschen
zur Rechten Gottes wider, den Heiden im gesättigt waren, gab es noch sieben Kör-
Laufe dieses Zeitalters geistliche Heilung be voll von Essensresten. 4000 Männer
zu gewähren, während sein altes Volk neben Frauen und Kindern waren ver-
zur Seite gesetzt ist. sorgt worden.
Im nächsten Kapitel werden wir
G. Jesus heilt eine große Menge sehen, daß die Statistik der zwei Spei-
(15,29-31) sungen wichtig ist (16,8-12). Jede Einzel-
15,29-31 In Markus 7,31 erfahren wir, daß heit des biblischen Berichtes ist von
der Herr Tyrus verließ, nordwärts nach Bedeutung. Nachdem unser Herr die
Sidon reiste, danach nach Osten über den Menge entlassen hatte, fuhr er mit dem
Jordan, dann nach Süden in das Gebiet Boot nach Magdala an der Westseite des
der Zehn Städte. Dort, in der Nähe des Sees Genezareth.
Sees Genezareth, heilte er die »Lahmen,
die Blinden, die Tauben und die Krüppel I. Der Sauerteig der Pharisäer und
und viele andere«. Die erstaunte Menge Sadduzäer (16,1-12)
verherrlichte den Gott Israels. Man muß 16,1 Die Pharisäer und Sadduzäer, die
annehmen, daß dieses Gebiet heidnisch traditionell theologische Gegner waren,

98
Matthäus 16

repräsentieren zwei lehrmäßige Extreme. Wie in den Anmerkungen zu Kapi-


Aber ihre Feindschaft wurde durch tel 12,39 ausgeführt, war dieses Zeichen
Zusammenarbeit ersetzt, als sie sich mit die Auferstehung Christi am dritten Tag.
dem gemeinsamen Ziel zusammentaten, »Ein böses und ehebrecherisches Ge-
den Retter in eine Falle zu führen. Um schlecht« würde seinen Messias kreuzi-
ihn zu versuchen, baten sie ihn, ein Zei- gen, doch Gott würde ihn von den Toten
chen vom Himmel zu zeigen. Auf eine auferwecken. Das sollte ein Zeichen der
Art, die uns heute nicht mehr unmittel- Verdammnis aller sein, die sich weigern,
bar verständlich ist, versuchten sie, ihn sich vor ihm als dem rechtmäßigen Herr-
in Verlegenheit zu bringen. Indem sie ihn scher zu beugen.
baten, ein Zeichen »aus dem Himmel« zu Der Abschnitt endet mit den ver-
zeigen, wollten sie vielleicht andeuten, hängnisvollen Worten »Und er verließ
daß seine bisherigen Wunder aus der sie und ging weg.« Die geistliche
entgegengesetzten Quelle entsprangen. Anwendung dieser Worte sollte eigent-
Oder sie wollten vielleicht ein übernatür- lich für jeden erkennbar sein.
liches Zeichen am Himmel sehen. Alle 16,5.6 Als seine Jünger wieder mit
Wunder Jesu waren auf der Erde voll- dem Herrn an der Ostseite des Sees zu-
bracht worden. Ob er wohl auch himm- sammentrafen, hatten sie vergessen,
lische Wunder tun konnte? etwas zu essen mitzunehmen. Als Jesus
16,2.3 Er antwortete, indem er das sie deshalb mit der Warnung begrüßte,
Thema des Himmels aufnahm. Wenn sie sich vor dem »Sauerteig der Pharisäer
abends sahen, daß der Himmel feuerrot und Sadduzäer« zu hüten, dachten sie, er
war, dann sagten sie für den nächsten würden damit meinen, daß sie nicht zu
Tag schönes Wetter voraus. Sie wußten diesen jüdischen Führern gehen sollten,
auch, daß ein roter und trüber Himmel um sich dort Essen zu holen. Ihre Be-
32)
am Morgen Stürme bedeutete. Sie wuß- schäftigung mit dem Essen ließ sie nach
ten, wie sie die Himmelserscheinungen einer wörtlichen, natürlichen Erklärung
zu deuten hatten, doch die Zeichen der suchen, wo eine geistliche Lehre gemeint
Zeiten konnten sie nicht beurteilen. war.
Was waren das für Zeichen? Der Pro- 16,7-10 Immer noch machten sie sich
phet, der die Ankunft des Messias an- Sorgen darüber, daß sie nicht genügend
kündigen sollte, war in der Person Johan- zu essen haben könnten, obwohl doch
nes' des Täufers erschienen. Die Wunder, Jesus bei ihnen war, der die 5000 und die
die vom Messias vorhergesagt waren – 4000 gesättigt hatte. So ging Jesus noch
Wunder, die sonst kein Mensch vor ihm einmal die beiden wunderbaren Speisun-
getan hatte – hatte er in ihrer Anwesen- gen durch. Die daraus folgende Lektion
heit getan. Ein weiteres Zeichen der Zeit betraf die göttliche Mathematik und die
war die offensichtliche Ablehnung des göttlichen unbegrenzten Mittel, denn je
Messias durch die Juden und die Gabe weniger Jesus hatte, desto mehr Menschen
des Evangeliums an die Heiden – alles hatte er gespeist und desto mehr war übrig
Erfüllung der Prophezeiungen. Doch geblieben. Als er nur fünf Brote und zwei
trotz dieser zwingenden Beweise hatten Fische hatte, hatte er über 5000 Menschen
sie keinen Sinn für die historische Stun- gespeist und 12 Körbe waren übriggeblie-
de, noch erkannten sie die erfüllten ben. Mit mehr Broten und Fischen hatte
Prophezeiungen. er nur 4000 Menschen gespeist und nur
16,4 Indem sie nach einem Zeichen sieben Körbe voll waren übriggebliegen.
Ausschau hielten, während Er doch in Wenn wir ihm unsere begrenzten Mittel
ihrer Mitte stand, zeigten die Pharisäer hinlegen, kann er sie im umgekehrten
und Sadduzäer, daß sie zu einem »bösen Verhältnis zu ihrer Größe vermehren.
und ehebrecherischen Geschlecht« ge- »Wenig ist viel, wenn Gott dabei ist.«
hörten. Ihnen würde »kein Zeichen gege- Hier wird ein anderes Wort für die
33)
ben werden als nur das Zeichen Jonas«. Körbe gebraucht als im Bericht von der

99
Matthäus 16

Speisung der 5000. Die sieben Körbe , die Für die Menschen war er einer unter vie-
hier verwendet worden waren, sollen len. Gut, aber nicht der Beste. Groß, doch
größer gewesen sein als vorher. Aber die nicht der Größte. Ein Prophet, aber nicht
Lehre dieses Abschnittes bleibt: Warum der Prophet. Diese Sicht kann aber nie-
sollen wir uns sorgen, daß wir hungern mals ausreichen. Damit würde ihm nicht
oder Mangel leiden könnten, wenn wir der gebührende Ruhm zukommen.
mit dem Einen verbunden sind, der un- Wenn er nur ein Mensch wie jeder ande-
endliche Macht und Mittel hat? re war, dann war er ein Betrüger, denn er
16,11.12 Als der Herr vom »Sauerteig behauptete, mit Gott, dem Vater, gleich
der Pharisäer und Sadduzäer« ge- zu sein.
sprochen hatte, meinte der Herr nicht 16,15.16 Deshalb fragte er nun seine
Brot, sondern falsche Lehre und böses Jünger, was sie von ihm dächten. Auf
Betragen. In Lukas 12,1 wird der Sauer- diese Frage gab Petrus seine klassische
teig der Pharisäer genannt: Es handelt Antwort: »Du bist der Christus, der Sohn
sich um die Heuchelei. Sie behaupteten, des lebendigen Gottes.« Mit anderen
dem Wort Gottes bis ins kleinste Detail Worten: Jesus ist der Messias Israels und
zu gehorchen, doch war ihr Gehorsam Gott, der Sohn.
äußerlich und oberflächlich. Innen 16,17.18 Unser Herr sprach nun über
waren sie böse und verdorben. Simon, den Sohn des Jona, seinen Segen
Der Sauerteig der Sadduzäer war der aus. Der Fischer hatte diese Auffassung
Rationalismus. Als Freidenker ihrer Zeit von Jesus nicht durch seinen Intellekt
hatten sie, wie heute die liberalen Theo- oder seine eigene Weisheit erworben,
logen, ein System von Zweifel und Leug- sondern sie war ihm von Gott, dem
nung aufgebaut. Sie bestritten die Exi- Vater, geoffenbart worden. Aber der
stenz der Engel und Geister, die Aufer- Sohn hatte auch Petrus noch etwas Wich-
stehung des Leibes, die Unsterblichkeit tiges zu sagen. So fügte Jesus noch hinzu:
der Seele und das ewige Gericht. Dieser »Aber auch ich sage dir, daß du bist
Sauerteig des Skeptizismus würde sich Petrus, und auf diesem Felsen werde ich
wie Sauerteig im Mehl verbreiten, wenn meine Gemeinde bauen, und des Hades
man ihn duldete. Pforten werden sie nicht überwältigen.«
Wir wissen alle, daß es über diesen Vers
X. Der König bereitet seine Jünger vor wohl den meisten Streit von allen Versen
(16,13-17,27) gegeben hat. Die Frage ist: Wer oder was
ist der Fels? Ein Teil des Problems ent-
A. Das Bekenntnis des Petrus steht durch die Tatsache, daß die griechi-
(16,13-20) schen Worte für Petrus und den Fels ähn-
16,13.14 Cäsarea Philippi lag etwa 65 lich sind, aber verschiedene Bedeutung
Kilometer nördlich vom See Genezareth haben. Das erste Wort, petros, bedeutet
und acht Kilometer östlich des Jordans. »Stein« oder »loser Felsbrocken«. Das
Als Jesus in die Dörfer dieses Gebietes zweite, petra, bedeutet Fels, ein durchge-
kam (Mk 8,27), geschah etwas, das im all- hender Felsgrund. So sagte Jesus eigent-
gemeinen als der Höhepunkt seiner lich: »Du bist Petrus (Stein), und auf die-
Lehrtätigkeit angesehen wird. Er hatte sem Felsen werde ich meine Gemeinde
die Jünger nun zur wahren Erkenntnis bauen.« Er sagte nicht, daß er seine
seiner Person gebracht. Als ihm das ge- Gemeinde auf einen Stein, sondern auf
lungen war, wandte er sich entschlossen einen Felsen bauen wolle.
seiner Aufgabe am Kreuz zu. Er begann, Wenn Petrus nun nicht der Fels ist,
indem er seine Jünger fragte, was die wer ist es dann? Wenn wir uns an den
Menschen von ihm sagten. Die Antwor- Zusammenhang halten, dann ist die
ten gaben das ganze Spektrum wieder: offensichtliche Antwort, daß der Fels das
von Johannes, dem Täufer, über Elia zu Bekenntnis des Petrus ist, eine Wahrheit,
Jeremia und zu »einem der Propheten«. auf der die Gemeinde gegründet ist. In

100
Matthäus 16

seiner Antwort bekennt Petrus, daß Jesus eine Zwischenzeit – das Zeitalter der
der Christus, der Sohn des lebendigen Gemeinde – und wird mit der Ent-
Gottes ist. Epheser 2,20 lehrt uns, daß die rückung abschließen. Danach wird Gott
Gemeinde auf Jesus Christus erbaut ist, sein Handeln mit Israel als Volk wieder
dem Eckstein. Seine Aussage, daß wir aufnehmen. So ist es nur passend, daß
auf dem Grund der Apostel und Prophe- Gott hier die Gemeinde als den nächsten
ten aufgebaut sind, bezieht sich nicht auf Schritt nach der Ablehnung durch Israel
sie, sondern auf die Grundlage, die in seinem Plan der Zeitalter einführt.
durch ihre Lehren über den Herrn Jesus »Des Hades Pforten werden sie nicht
Christus gelegt ist. überwältigen.« Diesen Satz kann man
Christus wird in 1. Korinther 10,4 auf zwei Arten verstehen. Als erstes wer-
»Fels« genannt. In dieser Beziehung erin- den die Pforten der Hölle in einem
nert uns Morgan an eine hilfreiche Tat- erfolglosen Angriff gegen die Gemeinde
sache: dargestellt – die Gemeinde wird alle
Man beachte, daß er zu Juden sprach. Angriffe überstehen. Oder die Gemeinde
Wenn wir die bildliche Bedeutung des Wor- geht in die Offensive und geht aus dem
tes »Fels« durch die hebräischen Schriften Kampf als Sieger hervor. In jedem Falle
hindurch verfolgen, dann sehen wir, daß die- wird die Macht des Todes durch die Ver-
ses Wort niemals ein Symbol für einen Men- wandlung der lebendigen Gläubigen
schen, sondern immer für Gott ist. So wird und durch die Auferstehung der Toten in
hier in Cäsarea Philippi die Kirche nicht auf Christus besiegt werden.
Petrus gebaut. Jesus spielte nicht mit festge- 16,19 »Ich werde dir die Schlüssel des
fügten Sprachbildern. Er nahm das alte Reiches der Himmel geben« bedeutet
hebräische Bild, den Felsen, der immer ein nicht, daß Petrus die Vollmacht gegeben
Zeichen der Gottheit ist – und sagte: »Auf worden wäre, Menschen den Eintritt in
Gott selbst – auf Christus, dem Sohn des den Himmel zu ermöglichen. Es handelt
lebendigen Gottes – werde ich meine Gemein- sich hier um das Reich der Himmel auf
34)
de bauen.« Erden – den Bereich, der alle umfaßt, die
Petrus sprach nie von sich als dem bekennen, eine Beziehung zum König zu
Grundstein der Gemeinde. Zweimal wies haben, alle die, die von sich behaupten,
er auf Christus als Stein hin (Apg 4,11.12; Christen zu sein. Die Schlüssel sprechen
1. Petr 2,4-8), aber dann ist das Bild an- vom Zugang. Die Schlüssel, die die Tür
ders, der Stein ist der Schlußstein eines zum Bekenntnis öffnen, werden im Mis-
Gewölbes, nicht der Grundstein. sionsbefehl genannt (Matth 28,19) – Jün-
»Ich werde meine Gemeinde bauen.« ger machen, taufen und lehren. (Taufe ist
Hier haben wir die erste Erwähnung der für die ewige Errettung nicht notwendig,
Gemeinde in der Bibel. Diese gibt es im ist aber der äußere Akt, wodurch sich der
AT nicht. Die Gemeinde, die zu der Zeit, Mensch vor der Welt zum König be-
als Jesus sprach, noch Zukunft war, wur- kennt.) Petrus benutzte diese Schlüssel
de am Pfingsttag gegründet und setzt zum ersten Mal an Pfingsten. Sie waren
sich aus allen echten Christusgläubigen ihm nicht alleine gegeben, sondern er
zusammen, sowohl aus Juden als auch stand gewissermaßen für die anderen
aus Heiden. Als herausgerufene Gemein- Jünger (s. Matth 18,18, hier sind diese
schaft, die auch unter dem Namen des Verheißungen an alle Jünger gerichtet.)
Leibes oder der Braut Christi bekannt ist, »Was immer du auf der Erde binden
hat sie eine einzigartige himmlische wirst, wird in den Himmeln gebunden
Berufung und Bestimmung. sein, und was immer du auf der Erde
Wir würden kaum erwarten, daß im lösen wirst, wird in den Himmeln gelöst
Evangelium des Matthäus die Gemeinde sein.« Diese und eine Parallelstelle in
eingeführt wird, wo doch Israel und das Johannes 20,23 werden manchmal zum
Reich die Hauptthemen des Buches sind. Beweis für die Lehre angeführt, daß
Dennoch folgt auf die Ablehnung Christi Petrus und seinen angeblichen Nachfol-

101
Matthäus 16

gern die Autorität der Sündenvergebung Der Tag in Cäsarea Philippi ist die Was-
gegeben sei. Wir wissen, daß dies nicht serscheide der Evangelien. Von diesem Punkt
sein kann, da nur Gott Sünden vergeben an fließen die Bäche in eine andere Richtung.
kann. Die anfängliche Popularität, die in den ersten
Es gibt zwei Arten, diesen Vers zu Tagen des Dienstes Jesu dazu geeignet war,
verstehen: Erstens kann er bedeuten, daß ihn auf den Thron zu setzen, liegt nun hinter
die Apostel eine Macht hatten, zu lösen Jesus. Alles strebt auf das Kreuz zu . . . In
und zu binden, die wir heute nicht mehr Cäsarea stand Jesus an einer Trennungslinie.
haben. Zum Beispiel hat Petrus die Sün- Cäsarea wurde ihm zu einer Bergspitze, von
den von Ananias und Saphira auf sie der er die hinter ihm liegende Straße, die er
gebunden, so daß sie mit sofortigem Tod bisher gegangen war, und den dunklen,
bestraft wurden (Apg 5,1-10), während bedrohlichen Weg, der ihn erwartete, betrach-
Paulus den in die Gemeindezucht ge- ten konnte. Er warf einen Blick zurück, wo
nommenen Mann in Korinth von den das Nachglühen der glücklichen Tage noch
Konsequenzen seiner Sünde löste, weil sichtbar war, dann wandte er sich um und
er bereut hatte (2. Kor 2,10). Andererseits marschierte auf die Schatten zu. Sein Ziel
36)
könnte der Vers bedeuten, daß alles, was war nun Golgatha.
die Apostel auf Erden binden oder lösen,
im Himmel schon gebunden oder gelöst B. Die Vorbereitung der Jünger
worden sein mußte. Deshalb sagt Ryrie: auf Jesu Tod und Auferstehung
»Der Himmel, nicht die Apostel, sind die (16,21-23)
Ursache für Binden oder Lösen. Die Apo- 16,21 Da nun die Jünger erkannt hatten,
stel verkündigen das Binden oder Lösen daß Jesus der Messias, der Sohn des
35)
nur.« lebendigen Gottes, ist, waren sie vorbe-
Dieser Vers hat für uns heute nur reitet, seine erste direkte Voraussage
noch eine erklärende Bedeutung. Wenn über seinen Tod und seine Auferstehung
ein Sünder sich wirklich von seiner Sün- zu hören. Sie wußten nun, daß sein
de bekehrt und Jesus Christus als seinen Anliegen niemals scheitern konnte, daß
Herrn und Retter annimmt, dann kann sie auf der Seite des Siegers standen und
ein Christ die Sünden für vergeben er- daß, ganz gleich, was auch geschehen
klären. Wenn ein Sünder den Retter ab- mochte, der Sieg sicher war. So eröffnete
lehnt, dann kann ein christlicher Arbeiter der Herr seine Nachricht vorbereiteten
seine Sünden für unvergeben erklären. Herzen. Er sagte, daß »er nach Jerusalem
William Kelly schreibt: »Wann immer die hingehen müsse und von den Ältesten
Gemeinde im Namen des Herrn handelt und Hohenpriestern und Schriftgelehr-
und wirklich seinen Willen tut, ist das ten vieles leiden und getötet und am drit-
Siegel Gottes auf ihren Taten.« ten Tag auferweckt werden müsse«. Die-
16,20 Wieder sehen wir, wie der Herr se Neuigkeit genügte, um das Ende jedes
Jesus seinen Jüngern befiehlt, nieman- weiteren Bestrebens anzudeuten – von
dem zu sagen, daß er der Messias ist. allen, außer der letzten Notwendigkeit,
Wegen Israels Unglauben konnte aus daß er am dritten Tag auferweckt werden
einer solchen Verkündigung nichts Gu- müsse. Das änderte die Sache!
tes entstehen. Und es würde sogar aus- 16,22 Petrus fand den Gedanken an
gesprochenen Schaden anrichten, wenn eine solche Behandlung seines Meisters
es eine Volksbewegung geben würde, die schrecklich. Er ergriff ihn, als wollte er
ihn zum König krönen wollte. Eine sol- ihm in den Weg treten und wandte ein:
che zeitlich fehlgeleitete Bewegung wür- »Gott behüte dich, Herr! Dies wird dir
de von den Römern unbarmherzig nie- nicht widerfahren.«
dergeschlagen werden. 16,23 Das erforderte einen Tadel vom
Steward, der diesen Abschnitt den Herrn Jesus. Der Herr Jesus war in diese
Wendepunkt des Dienstes Christi nennt, Welt gekommen, um für die Sünder zu
schreibt: sterben. Alles, was ihn daran hindern

102
Matthäus 16

wollte, stand außerhalb des Willens Got- auf das erste warnte uns Jesus, daß die,
tes. So sagte er zu Petrus: »Geh hinter die aus selbstsüchtigen Gründen an
mich, Satan! Du bist mir ein Ärgernis, ihrem Leben festhalten, niemals Erfül-
denn du sinnst nicht auf das, was Gottes, lung finden werden. Die jedoch, die ihr
sondern auf das, was der Menschen ist.« Leben rücksichtslos an ihn ausliefern und
Indem er Petrus »Satan« nannte, wollte dabei nicht auf die Kosten achten, wer-
er nicht andeuten, daß er von Dämonen den den Sinn ihrer Existenz erkennen.
besessen oder von Satan gelenkt war. Er 16,26 Die zweite Versuchung, näm-
meinte einfach, daß die Taten und Worte lich reich zu werden, ist völlig irrational.
von Petrus so waren, wie man sie von »Stellt euch einmal vor«, sagte Jesus,
Satan (dieser Name bedeutet Widersa- »daß ein Mann so geschäftstüchtig ist,
cher) erwarten konnte. Indem Petrus sich daß er schließlich die ganze Welt besitzt.
gegen Golgatha auflehnte, wurde Petrus Diese verrückte Jagd nach Reichtum
für den Retter ein Hindernis. würde so viel von seiner Zeit und Ener-
Jeder Christ ist aufgerufen, sein gie kosten, daß er das eigentliche Ziel sei-
Kreuz auf sich zu nehmen und dem nes Lebens verfehlen würde. Was wäre
Herrn Jesus zu folgen, doch wenn wir es nütze, so viel Geld zu verdienen, dann
sehen, daß das Kreuz vor uns wartet, zu sterben und die Ewigkeit mit leeren
dann sagt eine Stimme in uns: »Nur Händen zu verbringen?« Der Mensch ist
nicht! Bring dich lieber in Sicherheit!« auf der Erde, um größeres zu vollbrin-
Oder vielleicht versuchen die Stimmen gen, als ein Vermögen zusammenzuraf-
unserer Lieben, uns vom Pfad des Gehor- fen. Er ist gerufen, die Interessen seines
sams abzubringen. In solchen Zeiten Königs zu vertreten. Wenn er dieses Ziel
müssen auch wir sagen: »Geh hinter verfehlt, ist sein ganzes Leben umsonst.
mich, Satan! Du bist mir ein Ärgernis.« In Vers 24 hatte Jesus den Jüngern das
Schlimmste vorhergesagt. Das ist ein
C. Vorbereitung auf die wahre Kennzeichen des Christentums: Du
Jüngerschaft (16,24-28) weißt am Anfang genau, was im
16,24 Jetzt sagt der Herr Jesus uns offen, schlimmsten Falle auf dich zukommt.
was es bedeutet, sein Jünger zu sein: Aber du wirst nie damit zu Ende kom-
Selbstverleugnung, das Kreuz tragen men, die Schätze und Verheißungen zu
und ihm nachfolgen. Selbstverleugnung entdecken. Barnhouse hat das schön aus-
bedeutet nicht, was wir im allgemeinen gedrückt:
darunter verstehen, sondern daß man Wenn man alles Unerfreuliche der
seine Herrschaft über sich selbst so sehr Schrift gesehen hat, dann ist nichts, was
abgibt, daß man selbst keinerlei Rechte einen noch erstaunen könnte. Alles Neue, das
mehr hat. Das Kreuz auf sich zu nehmen wir in diesem Leben oder im nächsten Leben
bedeutet die Bereitschaft, um Jesu willen entdecken werden, wird für uns eine Freude
37)
Spott und Leiden zu erdulden, vielleicht sein.
sogar den Märtyrertod. Es bedeutet 16,27 Nun erinnert der Herr die Sei-
auch, der Sünde, dem Ich und der Welt nen an die Herrlichkeit, die auf das Lei-
zu sterben. Ihm nachfolgen bedeutet so den folgen wird. Er weist auf seine Wie-
zu leben wie er gelebt hat und zwar in derkunft hin, wenn »er mit seinen
jeder Hinsicht, was auch Demut, Armut, Engeln« in der überirdischen »Herrlich-
Mitleid, Liebe, Barmherzigkeit und jede keit seines Vaters« auf die Erde zurück-
andere Tugend einschließt. kehren wird. Dann wird er die belohnen,
16,25 Der Herr sieht zwei Hindernisse die für ihn leben. Der einzige Weg zu
der Jüngerschaft voraus. Das erste ist die einem erfolgreichen Leben ist, sich in
natürliche Versuchung, sich selbst vor diese wunderbare Zeit zu versetzen, sich
Unbequemlichkeit, Schmerzen, Einsam- zu entscheiden, was dann noch wirklich
keit oder Verlusten zu beschützen. Das wichtig ist, und dann mit aller Kraft
andere Hindernis ist Reichtum. In bezug danach zu handeln.

103
Matthäus 16 und 17

16,28 Als nächstes machte er die ver- sechs Tagen, d. h. nachdem die Arbeit und der
wirrende Aussage, daß einige, die dort Tag des Menschen vollendet ist, wird der Tag
mit ihm standen, »den Tod nicht des Herrn kommen, das Reich der Himmel.«
schmecken« würden, ehe sie ihn und Wenn Lukas sagt, daß die Verklärung
sein Reich kommen sehen würden. Das »etwa acht Tage« später geschah (9,28),
Problem, das sich hier natürlich ergibt, dann zählt er den ersten und den letzten
ist, daß alle diese Jünger gestorben sind Tag und natürlich die dazwischenliegen-
und doch ist Christus noch nicht in den Tage. Weil acht die Zahl der Aufer-
Macht und Herrlichkeit gekommen, um stehung und eines neuen Anfangs ist, ist
sein Reich aufzurichten. Das Problem es passend, daß Lukas das Reich mit
löst sich, wenn wir die Kapiteleinteilung einem Neubeginn gleichsetzt.
einmal übersehen und die ersten acht Petrus, Jakobus und Johannes, die
Verse des nächsten Kapitels als Erklä- anscheinend eine dem Herrn sehr nahe
rung für diese rätselhafte Aussage be- Stellung hatten, hatten das Vorrecht, sei-
trachten. Diese Verse beschreiben die ne Verklärung zu sehen. Bis dahin war
Vorgänge auf dem Berg der Verklärung. seine Herrlichkeit durch einen normalen
Petrus, Jakobus und Johannes sahen dort menschlichen Körper verhüllt gewesen.
den verklärten Christus. Sie hatten wirk- Aber nun leuchtete sein Gesicht »wie die
lich das Privileg, Jesus schon jetzt in der Sonne« und seine Kleider wurden strah-
Herrlichkeit seines Reiches zu sehen. lend hell, ein sichtbarer Beweis seiner
Es ist gerechtfertigt, Jesu Verklärung Gottheit, ebenso wie die Wolke oder
als ein Vorbild seines kommenden Kö- Schechina im AT die Gegenwart Gottes
nigreiches zu sehen. Petrus beschreibt symbolisierte. Die Szene war eine Vor-
das Ereignis als »die Macht und Ankunft ausschau auf die Erscheinung des Herrn,
unseres Herrn Jesus Christus« (2. Petr wenn er wiederkommen wird, um sein
1,16). Die Macht und Ankunft des Herrn Reich zu bauen. Er wird dann nicht län-
Jesus Christus ist seine Wiederkunft. ger als das Opferlamm erscheinen, son-
Und Johannes spricht von dem Erlebnis dern als der Löwe aus Juda. Alle, die ihn
auf dem Berg als die Zeit, als »wir seine sehen, werden ihn sofort als den Sohn
Herrlichkeit angeschaut haben, eine Gottes, den König der Könige und Herrn
Herrlichkeit als eines Eingeborenen vom der Herren erkennen.
Vater« (Joh 1,14). Das erste Kommen 17,3 Dann erschienen Mose und Elia
Christi fand in Demut statt, sein zweites auf dem Berg und besprachen Jesu be-
Kommen wird in Herrlichkeit erfolgen. vorstehenden Tod in Jerusalem (Lk 9,30.
So wurde die Vorhersage von Vers 28 auf 31). Mose und Elia vertreten eventuell die
dem Berg der Verklärung erfüllt. Petrus, Heiligen des AT. Oder, wenn wir Mose
Jakobus und Johannes sahen den Men- als Vertreter des Gesetzes und Elia als
schensohn, und zwar nicht länger als den Vertreter der Propheten nehmen, dann
demütigen Nazarener, sondern als den weisen beide Teile des AT auf die zukünf-
verherrlichten König. tigen Leiden des Christus und die nach-
folgende Herrlichkeit hin. Eine dritte
D. Die Vorbereitung der Jünger auf Möglichkeit besteht darin, daß Mose, der
die Herrlichkeit: Die Verklärung durch den Tod in den Himmel kam, alle
(17,1-8) die vertritt, die von den Toten auferste-
17,1.2 Sechs Tage nach dem Ereignis in hen werden, um ins Tausendjährige
Cäsarea Philippi führt Jesus Petrus, Jako- Reich zu kommen, während Elia, der
bus und Johannes auf einen hohen Berg durch Verwandlung in den Himmel kam,
irgendwo in Galiläa. Viele Kommentare ein Bild für die ist, die das Reich durch
betonen, daß diese sechs Tage eine Be- die Verwandlung erreichen werden.
deutung haben. Gaebelein sagt z. B.: Die Jünger Petrus, Jakobus und
»Sechs ist die Zahl des Menschen, die Johannes könnten für die neutestament-
Zahl, die die Werktage symbolisiert. Nach lichen Heiligen im allgemeinen stehen.

104
Matthäus 17

Sie könnten auch für den treuen jüdi- befreien, aber sie würden ihn nie als
schen Überrest stehen, der bei der Wie- Befreier von der Sünde wollen. Israel hat-
derkunft Christi noch leben wird und te aus praktischen Gründen seinen Mes-
das Reich mit ihm erlangen wird. sias abgelehnt und es wäre sinnlos gewe-
Die Menge am Fuße des Berges (V. 14, sen, den Juden von diesem Beweis der
vgl. Lk 9,37) ist mit den heidnischen messianischen Herrlichkeit zu berichten.
Nationen verglichen worden, die auch Aber nach der Auferstehung würde die-
an den Segnungen der tausendjährigen se Botschaft auf der ganzen Welt verbrei-
Herrschaft Christi teilhaben werden. tet werden.
17,4.5 Petrus wurde von den Ereignis- 17,10-13 Die Jünger hatten gerade
sen sehr ergriffen, er hatte einen wahren eben eine Vorausschau auf Christi Kom-
Sinn für das Historische des Augen- men in Macht und Herrlichkeit empfan-
blickes. Er wollte diese Herrlichkeit fest- gen. Aber sein Vorläufer war noch nicht
halten und schlug in seinem Über- erschienen. Maleachi hatte vorausgesagt
schwang vor, drei Erinnerungshütten zu »daß Elia zuerst kommen müsse«, ehe
bauen, für Jesus eine »und Mose eine und der Messias käme (Mal 3,23.24). Deshalb
Elia eine«. Sehr richtig setzte er Jesus an fragten Jesu Jünger danach. Der Herr
die erste Stelle, aber er tat Unrecht, daß er wußte, daß Elia vor ihm kommen mußte,
für ihn nicht auch etwas anderes als für doch er erklärte, daß Elia schon gekommen
die beiden Heiligen des AT vorschlug. war. Offensichtlich bezog er sich dabei
Jesus Christus ist nicht einer unter Glei- auf Johannes den Täufer (V. 13). Johan-
chen, sondern der Herr über alle. Um nes war nicht Elia (Joh 1,21), aber er war
ihnen das beizubringen, bedeckte sie »in dem Geist und der Kraft des Elia«
Gott der Vater mit einer »lichten Wolke«, gekommen (Lk 1,17). Hätte Israel Johan-
und verkündigte dann: »Dieser ist mein nes und seine Botschaft angenommen,
geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen hätte er die Rolle erfüllt, die über Elia
gefunden habe. Ihn hört!« Im Reich der vorausgesagt war (Matth 11,14). Aber
Himmel wird Christus derjenige sein, der das Volk hatte die Bedeutung der Sen-
ohne Herrscher ist, der oberste Monarch, dung von Johannes nicht erkannt und
dessen Wort endgültige Autorität haben behandelte ihn, wie es ihnen gefiel. Der
wird. So sollte es auch heute schon im Tod des Johannes war nur ein Hinweis
Herzen seiner Nachfolger sein. auf das, was sie mit dem Menschensohn
17,6-8 Gelähmt von der Wolke der tun würden. Sie lehnten den Vorläufer ab
Herrlichkeit und der Stimme Gottes fie- und sie würden auch den König ableh-
len die Jünger auf ihr Angesicht. Aber nen. Als Jesus das erklärte, »verstanden
Jesus forderte sie auf, aufzustehen und die Jünger, daß er von Johannes dem
sich nicht zu fürchten. Als sie sich erho- Täufer zu ihnen sprach«.
ben, »sahen sie niemand als Jesus allein«. Es gibt allen Grund zu glauben, daß
So wird es auch im Reich sein – der Herr sich vor der Wiederkunft Christi ein Pro-
Jesus wird »all die Herrlichkeit im Reiche phet erheben wird, um Israel auf den
Emmanuels sein«. kommenden König vorzubereiten. Ob er
Elia persönlich oder jemand mit einem
E. Über den Vorläufer (17,9-13) gleichen Dienst sein wird, kann man
17,9 »Als sie von dem Berg herabstiegen« jedoch unmöglich voraussagen.
befahl Jesus den Jüngern, daß sie nie-
mandem etwas von dem sagen sollten, F. Vorbereitung auf den Dienst durch
was sie gesehen hatten, bis er aus den Beten und Fasten (17,14-21)
Toten auferstanden wäre. Die Juden, die Das Leben ist alles andere als ein »Berg-
überängstlich nach jemandem Ausschau erlebnis«. Nach Augenblicken des geist-
hielten, der sie vom römischen Joch lichen Hochgefühls kommen Tage der
befreien würde, würden ihn willkom- Plage und der Verausgabung. Es kommt
men geheißen haben, sie von Rom zu die Zeit, da wir den Berg verlassen müs-

105
Matthäus 17

sen, um im Tal der menschlichen Bedürf- dann kann der Christ das äußerste Ver-
tigkeit zu dienen. trauen haben, daß Schwierigkeiten, die
17,14.15 Am Fuß des Berges wartete wie Berge aussehen, auf wunderbare
ein verzweifelter Vater auf den Retter. Er Weise verschwinden werden. Nichts ist
»fiel vor ihm auf die Knie« und breitete dem unmöglich, der glaubt.
vor ihm seine dringende Bitte aus, daß 17,21 »Diese Art aber fährt nicht aus
sein von Dämonen besessener Sohn ge- außer durch Gebet und Fasten« wird in
heilt werden möge. Der Sohn litt unter einigen moderneren Bibeln ausgelassen,
heftigen epileptischen Anfällen, die ihn weil es in vielen früh datierten Manus-
manchmal ins Feuer oder ins Wasser fal- kripten nicht erscheint. Dennoch findet
len ließen, deshalb wurde sein Leiden man es in der Mehrheit der Manuskripte
durch Verbrennungen und halbes Ertrin- und es paßt in den Kontext eines außer-
ken noch verschlimmert. Er war ein klas- ordentlich schwierigen Problems.
sisches Beispiel für Leiden, das durch
Satan verursacht wird, dem grausamsten G. Vorbereitung der Jünger auf seinen
aller Herren. Verrat (17,22.23)
17,16 Der Vater war zu den Jüngern 17,22.23 Wieder warnt der Herr Jesus sei-
gekommen, um Hilfe zu erhalten, aber er ne Jünger ohne Fanfare oder Dramatik
lernte nur, daß es vergeblich ist, sich auf vor, daß er getötet werden wird. Aber
Menschen zu verlassen. Sie hatten keine wieder war da das Wort der Rechtferti-
Macht zu heilen. gung und des Sieges – er würde »am drit-
17,17 Der Ausruf: »O ungläubiges ten Tag auferweckt« werden. Wenn er
und verkehrtes Geschlecht! Bis wann soll ihnen seinen Tod nicht angekündigt hätte,
ich bei euch sein?« ist an die Jünger wären sie zweifellos völlig desillusioniert
gerichtet. Sie hatten nicht den Glauben, gewesen, sobald es geschehen wäre. Ein
den Epileptiker zu heilen, sondern waren schmachvoller Tod unter Qualen ent-
in dieser Beziehung nicht besser als die sprach nicht ihren Erwartungen vom
anderen Juden ihrer Tage – glaubenslos Messias. Auch diesmal waren sie sehr
und verstockt. verzweifelt, weil er von ihnen gehen und
17,18 Als der Epileptiker zu ihm getötet würde. Sie hörten die Vorhersage
gebracht wurde, bedrohte Jesus den Dä- seines Leidens, aber scheinbar überhörten
mon und sofort war der Junge geheilt. sie das Versprechen seiner Auferstehung.
17,19.20 Verwirrt durch ihre Macht-
losigkeit, baten die Jünger ihn um eine H. Petrus und sein Meister bezahlen
Erklärung, als sie allein mit ihm waren. ihre Steuern (17,24-27)
Jesu Antwort war ebenso kurz wie ehr- 17,24.25 In Kapernaum fragten die Ein-
lich: Kleinglaube. Wenn sie Glauben nehmer der Tempelsteuer Petrus, ob sein
»wie ein Senfkorn« gehabt hätten (das Meister die Doppeldrachme für den
kleinste von allen Samenkörnern), dann kostspieligen Tempeldienst nicht zahle.
könnten sie einem Berg befehlen, sich ins Petrus antwortete: »Doch.« Vielleicht
Meer zu stürzen und es würde gesche- wollte der irregeleitete Jünger Jesus vor
hen. Natürlich ist hier eingeschlossen, einer Verlegenheit bewahren.
daß sich der echte Glaube immer auf Im folgenden sehen wir die Allwis-
einen Auftrag oder eine Verheißung Got- senheit des Herrn. Als Petrus heimkam,
tes gründen muß. Wenn man erwartet, sprach ihn Jesus sofort an – ehe Petrus
einen spektakulären Stunt vollbringen auch nur die Chance gehabt hatte, zu er-
zu können, um damit irgendeine persön- zählen, was passiert war. »Was meinst
liche Grille zu befriedigen, dann hat man du, Simon? Von wem erheben die Könige
es nicht mit Glauben, sondern mit Un- der Erde Zoll oder Steuer, von ihren Söh-
verschämtheit zu tun. Aber wenn Gott nen oder von den Fremden?« Die Frage
einen Gläubigen in eine bestimmte Rich- muß vor dem damaligen geschichtlichen
tung leitet oder einen Befehl ausspricht, Hintergrund gesehen werden. Der Herr-

106
Matthäus 17 und 18

scher legte Steuern auf seine Untertanen, zeigt die Richtlinien des Verhaltens auf,
um sein Reich und seine Familie zu erhal- die für diejenigen passend sind, die von
ten, aber er nahm natürlich von seiner Fa- sich behaupten, Untertanen Christus’,
milie keine Steuern. Bei unserem Steuer- des Königs, zu sein.
system werden alle besteuert, einschließ- 18,1 Die Jünger hatten das Reich der
lich des Herrschers und seiner Familie. Himmel immer als goldenes Zeitalter des
17,26 Petrus antwortete richtig, daß Friedens und des Reichtums angesehen.
die Herrscher nur von Fremden nehmen. Nun begannen sie, bevorzugte Stellun-
Jesus wies dann darauf hin, daß die Söh- gen in diesem Reich zu begehren. Ihr
ne frei sind. Es ging darum, daß der Tem- selbstsüchtiges Wesen drückte sich in der
pel das Haus Gottes war. Wenn also Frage aus: »Wer ist denn der Größte im
Jesus, der Sohn Gottes, Steuer für den Reiche der Himmel?«
Unterhalt dieses Tempels gegeben hätte, 18,2.3 Jesus antwortete mit einem
dann würde er gewissermaßen diese lebendigen Anschauungsobjekt. Er stellte
Steuer an sich selbst zahlen. ein Kind in ihre Mitte und sagte, daß die
17,27 Dennoch willigte der Herr ein, Menschen »umkehren und wie die Kin-
die Steuer zu bezahlen, statt unnötig der werden müssen«, um das Reich der
Anstoß zu erregen. Aber wie sollte er an Himmel zu erlangen. Er meinte dabei das
Geld kommen? Es ist nicht überliefert, Reich in seiner inneren Wirklichkeit. Um
daß Jesus je Geld gehabt hätte. Er sandte ein echter Gläubiger zu sein, muß der
Petrus zum See Genezareth und sagte Mensch die Gedanken an persönliche
ihm, er solle den ersten Fisch bringen, Größe verbannen und die niedrige Positi-
den er fangen würde. Im Maul dieses on eines Kindes annehmen. Das beginnt,
Fisches würde er einen Stater finden, den wenn er seine Sündhaftigkeit erkennt
er dann zum Bezahlen der Steuer ver- und einsieht, daß er von sich aus vor Gott
wenden konnte, die Hälfte für ihn und keinen Verdienst hat und Jesus Christus
die andere für Jesus. als seine einzige Hoffnung annimmt. Die-
Dieses erstaunliche Wunder, das mit se Haltung sollte sich durch das gesamte
äußerster Zurückhaltung erzählt wird, christliche Leben ziehen. Jesus wollte
zeigt ganz offensichtlich Jesu Allwissen- damit nicht sagen, daß seine Jünger nicht
heit. Er wußte, welcher von allen Fischen errettet seien. Alle außer Judas glaubten
im See Genezareth einen Stater im Maul an ihn und waren deshalb gerechtfertigt.
hatte. Er wußte, wo dieser Fisch war und Aber sie hatten noch nicht den Heiligen
er wußte auch, daß er der erste sein wür- Geist empfangen und hatten deshalb
de, den Petrus fangen würde. nicht die Kraft für echte Demut, die uns
Wäre es hier um ein göttliches Prin- heute durch den Geist in uns zur Verfü-
zip gegangen, dann hätte Jesus hier gung steht (von der wir allerdings nicht
sicherlich nicht bezahlt. Aber da es für so Gebrauch machen, wie wir es sollten).
ihn ethisch belanglos war, wollte er eher Aber sie mußten sich auch in dem Sinne
zahlen, als Anstoß zu erregen. Wir sind bekehren, all ihr falsches Denken zu ver-
als Gläubige frei vom Gesetz. Doch in ändern, damit es zum Reich paßte.
Angelegenheiten, die nicht die Ethik 18,4 Der größte Mensch im Reich der
betreffen, sollten wir das Gewissen der Himmel ist der, der sich selbst wie ein
anderen respektieren und nichts tun, das kleines Kind erniedrigt. Offensichtlich
einem anderen Anstoß sein könnte. sind die Maßstäbe und Werte im Reich
der Himmel denen der Welt direkt ent-
XI. Der König unterrichtet seine Jünger gegengesetzt. Unsere ganze Denkweise
(Kap. 18 – 20) muß verändert werden, damit wir den
Gedanken Christi »nach-denken« (s. Phil
A. Über die Demut (18,1-6) 2,5-8).
Kapitel 18 wurde einmal »Rede über 18,5 Hier geht der Herr übergangslos
Größe und Vergebung« genannt. Sie vom Thema eines natürlichen Kindes zu

107
Matthäus 18

dem eines geistliches Kindes über. Wer Auferstehungsleib vollständig und voll-
immer einen seiner demütigen Nachfol- kommen sein wird.
ger in seinem Namen aufnimmt, der 18,10 Als nächstes warnte der Herr
wird belohnt, als ob er den Herrn selbst davor, einen seiner »Kleinen« zu verach-
aufgenommen hätte. Was einem der Jün- ten, ob es ein Kind ist oder sonst jemand,
ger getan wird, ist gleichzeitig seinem der zum Reich gehört. Um die Bedeu-
Herrn getan. tung der »Kleinen« zu betonen, fügte er
18,6 Auf der anderen Seite zieht sich hinzu, daß ihre Engel ständig in der
jeder, der einen Gläubigen zu einer Sün- Gegenwart Gottes sind, wo sie sein
de verführt, ein schreckliches Urteil zu. Angesicht schauen. Mit Engeln sind hier
»Für den wäre es besser, daß ein Mühl- sicherlich die bewahrenden Engel ge-
stein an seinen Hals gehängt und er in meint (s. a. Hebr 1,14).
die Tiefe des Meeres versenkt würde.« 18,11 Während dieser Vers über die
(Ein solcher Mühlstein, wie er hier er- Aufgabe des Retters in vielen Bibelaus-
wähnt wurde, wurde von einem Tier gaben nur in einer Fußnote vorkommt,
bewegt, ein kleiner Mühlstein konnte mit ist er doch ein passender Höhepunkt die-
der Hand bewegt werden.) Es ist ses Abschnittes, und wird durch viele
38)
schlimm genug, gegen sich selbst zu sün- Manuskripte unterstützt.
digen, aber einen Gläubigen zur Sünde 18,12.13 »Diese Kleinen« sind auch
zu veranlassen, bedeutet, seine Un- Gegenstand des zartfühlenden rettenden
schuld zu zerstören, seinen Geist zu ver- Dienstes des Hirten. Sogar, wenn eines
derben und seinen Ruf zu schädigen. von hundert Schafen wegläuft, verläßt
Besser, einen gewaltsamen Tod zu ster- der Hirte die neunundneunzig und sucht
ben, als mit der Reinheit eines anderen nach dem verlorenen bis er es gefunden
zu spielen! hat. Die Freude des Hirten über das Wie-
derfinden eines abgeirrten Schafes sollte
B. Über die Versuchungen (18,7-14) uns lehren, seine »Kleinen« zu würdigen
18,7 Jesus fuhr fort, zu erklären, daß es und zu respektieren.
unvermeidlich ist, Versuchungen zu be- 18,14 Sie sind nicht nur den Engeln
gegnen. Die Welt, das Fleisch und der und dem Hirten wichtig, sondern auch
Teufel arbeiten zusammen, um uns zu Gott, dem Vater. Es ist nicht »der Wille
verführen. Aber wenn ein Mensch für die eures Vaters, daß eines dieser Kleinen ver-
Mächte des Bösen arbeitet, dann ist seine loren gehe«. Wenn sie wichtig genug sind,
Schuld sehr groß. Deshalb ermahnte der um Engel, den Herrn Jesus und Gott, den
Retter die Menschen, eher drastische Vater, auf den Plan zu rufen, dann sollten
Maßnahmen der Selbstdisziplinierung wir sie sicherlich niemals verachten, ganz
zu ergreifen, als ein Kind Gottes zu ver- gleich, wie wenig liebenswürdig oder
führen. niedrig sie uns erscheinen mögen.
18,8.9 Ob das sündige Glied eine
Hand, ein Fuß oder ein Auge ist, es zu C. Über Gemeindezucht (18,15-20)
opfern ist besser, als das Werk Gottes in Der Schluß des Kapitels beschäftigt sich
einem anderen Menschen zu zerstören. mit der Schlichtung von Streit zwischen
Es ist besser, ohne Gliedmaßen oder Gemeindegliedern. Außerdem wird die
Augenlicht »in das Leben einzugehen«, Notwendigkeit unbegrenzter Verge-
als gesund in die Hölle geworfen zu wer- bungsbereitschaft betont.
den. Unser Herr will damit nicht sagen, 18,15 Hier werden ausführliche An-
daß es im Himmel unvollständige Leiber weisungen gegeben, wie sich ein Christ
geben wird, sondern er beschreibt ledig- verantwortlich zu verhalten hat, wenn
lich die körperliche Verfassung des Gläu- ein anderer gegen ihn gesündigt hat. Als
bigen zu dem Zeitpunkt, da er dieses erstes sollte die Angelegenheit privat
Leben mit dem zukünftigen vertauscht. geregelt werden. Wenn der Schuldige
Es kann gar keine Frage sein, daß der seine Schuld eingesteht, dann ist Versöh-

108
Matthäus 18

nung erreicht. Das Problem ist, daß wir wenn er immer noch der allgemeinen
meist nicht in dieser Weise handeln. Wir Gemeinde angehört, sollten ihm die Pri-
sprechen mit allen in der Gemeinde dar- vilegien als Glied der Ortsgemeinde ver-
über, außer mit dem, den die Angelegen- wehrt werden. Solche Zuchtmaßnahmen
heit betrifft. Dann verbreitet sich die sind sehr ernst zu nehmen, sie liefern
Angelegenheit wie ein Steppenbrand nämlich den Schuldigen zeitweilig der
und der Hader wird vervielfältigt. Wir Macht Satans aus »zum Verderben des
sollten uns immer daran erinnern, daß Fleisches, damit der Geist errettet werde
der erste Schritt ist: »Geh hin, überführe am Tage des Herrn« (1. Kor 5,5). Der
ihn zwischen dir und ihm allein.« Zweck besteht darin, ihn zur Besinnung
18,16 Wenn der schuldige Bruder und zum Bekenntnis seiner Schuld zu
nicht hört, dann sollte derjenige, dem Un- bringen. Ehe er diesen Punkt erreicht hat,
recht geschehen ist, einen oder zwei an- sollte er zwar höflich behandelt werden,
dere mit sich nehmen, um zu einer Lö- doch sollten ihm die Gläubigen durch
sung zu finden. Das betont den wachsen- ihre Haltung zeigen, daß sie seine Sünde
den Ernst seiner Unbußfertigkeit. Aber nicht billigen und mit ihm keine Gemein-
noch mehr, hier geht es um kompetente schaft als Bruder haben können. Die Ge-
Zeugenschaft, wie sie von der Schrift meinde sollte ihn allerdings auch sofort
gefordert wird: »Damit aus zweier oder wieder annehmen, wenn er Zeichen gött-
dreier Zeugen Mund jede Sache bestätigt licher Buße zeigt.
werde« (5. Mose 19,15). Niemand kann 18,18 Vers 18 hängt eng mit dem vor-
die Schwierigkeiten ermessen, die der her gesagten zusammen. Wenn eine Ge-
Kirche dadurch entstanden sind, daß meinde unter Gebet und im Gehorsam
man vergessen hat, der einfachen Regel einem Menschen eine Handlung aufer-
zu gehorchen, daß eine Anklage gegen legt (bindet), dann wird diese Tat im
einen Bruder oder eine Schwester durch Himmel anerkannt sein. Wenn der Schul-
das Zeugnis von zwei oder drei anderen dige Buße getan und seine Sünde be-
bestätigt werden soll. In dieser Hinsicht kannt hat, und die Gemeinde ihn wieder
handeln weltliche Gerichte oft gerechter in ihre Gemeinschaft aufnimmt, dann ist
als christliche Gemeinden. diese lösende Handlung durch Gott ge-
18,17 Wenn sich der Angeklagte noch deckt (s. Joh 20,23).
immer weigert, zu bekennen und sich zu 18,19 Dabei erhebt sich die Frage:
entschuldigen, dann sollte die Angele- »Wie groß muß eine Gemeinde sein, ehe
genheit vor die örtliche Gemeinde ge- sie wie oben beschrieben binden oder
bracht werden. Es ist sehr wichtig zu be- lösen kann?« Die Antwort ist, daß bereits
achten, daß die Ortsgemeinde verant- zwei Gläubige eine solche Angelegenheit
wortlich ist, sich mit dem Fall zu be- vor Gott im Gebet mit der Gewißheit vor-
schäftigen, nicht jedoch ein weltliches bringen dürfen, daß sie gehört werden.
Gericht. Dem Christen ist es verboten, Man kann zwar Vers 19 als ganz allge-
das weltliche Gericht gegen einen ande- meine Verheißung für die Erhörung von
ren Gläubigen in Anspruch zu nehmen Gebeten nehmen, in diesem Zusammen-
(1. Kor 6,1-8). hang geht es jedoch um das Gebet bezüg-
Wenn der Beschuldigte sich weigert, lich der Gemeindezucht. Wenn dieser
seine Verfehlung vor der Gemeinde Vers im Zusammenhang mit gemeinsa-
zuzugeben, dann »sei er dir wie der Hei- mem Gebet im allgemeinen zitiert wird,
de und der Zöllner«. Die offensichtlich- dann sollte er im Licht aller anderen Leh-
ste Bedeutung dieses Ausdrucks ist, daß ren über das Gebet gesehen werden. So
er nun nicht mehr als zur Gemeinde muß z. B. für unser Gebet gelten:
gehörig betrachtet werden kann. Ob- 1. In Übereinstimmung mit dem Willen
wohl er ein echter Gläubiger sein mag, Gottes (1. Joh 5,14.15).
lebt er doch nicht als solcher und sollte 2. Im Glauben (Jak 1,6-8).
entsprechend behandelt werden. Auch 3. In Aufrichtigkeit (Hebr 10,22a), etc.

109
Matthäus 18

18,20 Auch Vers 20 sollte im Lichte Die Antwort lautet, daß es folgende
seines Zusammenhanges interpretiert Stufen in der Handhabung der Verge-
werden. Er bezieht sich nicht in erster bung gibt:
Linie auf die Zusammensetzung einer 1. Wenn ein Bruder mir unrecht tut oder
neutestamentlichen Gemeinde in ihrer gegen mich sündigt, dann sollte ich
einfachsten Form, noch auf eine allge- ihm sofort in meinem Herzen vergeben
meine Gebetsversammlung, sondern auf (Eph 4,32). Das befreit mich von
eine Versammlung, in der eine Gemeinde einem bitteren, nicht vergebungsbe-
bestrebt ist, zwei Christen zu versöhnen, reiten Geist und gibt die Verantwor-
die durch eine Sünde getrennt sind. Er tung dem anderen.
kann allerdings ohne Schwierigkeiten 2. Während ich dem anderen in meinem
auf alle Zusammenkünfte von Gläubigen Herzen vergeben habe, sage ich ihm
angewendet werden, in denen Christus dennoch nicht, daß ihm vergeben ist.
im Mittelpunkt steht, aber hier steht eine Es wäre nicht gerecht, ihm öffentlich
bestimmte Art von Zusammenkunft im Vergebung auszusprechen, ehe er
Mittelpunkt. bereut hat. So bin ich verpflichtet, zu
Sich »in seinem Namen« versammeln ihm zu gehen und ihn in Liebe zu
bedeutet, sich unter seiner Leitung und ermahnen, in der Hoffnung, ihn zum
Autorität zu versammeln, in Anerken- Bekennen zu führen (Lk 17,3).
nung all dessen, was er ist, und im 3. Sobald er sich entschuldigt und seine
Gehorsam gegen sein Wort. Keine Grup- Sünde bekennt, kann ich ihm zusa-
pe kann für sich beanspruchen, die einzi- gen, daß ihm vergeben ist (Lk 17,4).
ge zu sein, die sich in seinem Namen ver- 18,23 Jesus erzählt dann ein Gleichnis
sammelt, denn wenn das so wäre, dann vom Reich der Himmel, um vor den Fol-
wäre seine Gegenwart auf einen kleinen gen mangelnder Vergebungsbereitschaft
Bereich seines Leibes auf Erden be- bei solchen Untertanen zu warnen,
schränkt. Wo immer zwei oder drei ver- denen großzügig vergeben wurde.
sammelt sind, die ihn als Herrn und Ret- 18,24-27 In der Geschichte ging es um
ter anerkennen, ist er »in ihrer Mitte«. einen König, der seine Schulden eintrei-
ben wollte. Ein Diener, »der zehntausend
D. Über die unbegrenzte Vergebung Talente schuldete«, war zahlungsun-
(18,21-35) fähig, so daß sein Herr befahl, daß er und
18,21.22 An diesem Punkt bringt Petrus seine Familie als Sklaven verkauft wür-
die Frage auf, wie oft er denn seinem den, um die Schuld zurückzuzahlen. Der
Bruder vergeben solle, der gegen ihn verzweifelte Knecht bat um Zeit und ver-
gesündigt habe. Er dachte wahrschein- sprach, alles zu bezahlen, wenn er noch
lich, daß er schon sehr gnädig sei, wenn eine Chance bekäme.
er siebenmal als Grenze vorschlug. Jesus Wie viele Schuldner war er unglaublich
antwortete aber: »Nicht bis siebenmal, optimistisch bezüglich seiner Möglichkeiten,
sondern bis siebzigmal sieben.« Er mein- wenn er nur mehr Zeit hätte (V. 26). Das
te damit nicht, daß wir darunter wörtlich Steueraufkommen von ganz Galiläa betrug
490mal verstehen sollten, sondern das nur 300 Talente, und dieser Mann schuldete
war eine bildliche Ausdrucksweise für 10 000! Diese Einzelheit über die riesige
»unbegrenzt«. Summe wird uns ganz absichtlich genannt.
Man könnte vielleicht fragen: »War- Sie dient dazu, die Zuhörer zu schockieren
um soll man sich die Mühe machen, und so ihre Aufmerksamkeit zu erregen.
jedesmal die oben erwähnten Schritte zu Außerdem sollte so die Größe der Schuld vor
tun? Warum erst alleine hingehen, dann Gott dargestellt werden. Martin Luther pfleg-
mit ein oder zwei anderen und ihn dann te zu sagen, daß wir nichts als Bettler vor ihm
vor die Gemeinde bitten? Warum nicht sind. Wir haben keine Hoffnung, jemals unse-
einfach vergeben und damit hat sich die re Schulden bezahlen zu können. (Aus dem
Sache?« englischen Material des Bibellesebundes).

110
Matthäus 18 und 19

Als der Herr die reuige Haltung des wohl die genaue Reiseroute unbekannt
Knechtes sah, erließ er ihm die ganzen ist, scheint es klar zu sein, daß er durch
10 000 Talente. Das war ein Gnadenakt, Peräa am Ostufer des Jordan reiste. Mat-
keine Gerechtigkeit. thäus spricht etwas ungenau vom »Ge-
18,28-30 Nun hatte dieser Knecht biet von Judäa, jenseits des Jordan«. Der
einen Mitknecht, der ihm hundert Dena- Dienst in Peräa erstreckt sich entweder
re schuldete (einige hundert Mark). von Kapitel 19,1 bis Kapitel 20,16 oder
Anstatt sie ihm zu erlassen, »würgte er bis Kapitel 20,28. Es wird uns nicht deut-
ihn« und verlangte sofortige Zahlung. lich gesagt, wann er den Jordan nach
Der unglückliche Schuldner bat um Auf- Judäa überschritt.
schub, aber das nützte ihm nichts. Der 19,3 Es waren wahrscheinlich die
Gläubiger »warf ihn ins Gefängnis, bis er Volksmengen, – die ihm nachfolgten,
die Schuld bezahlt habe« – eine im besten weil sie Heilung suchten –, die den Pha-
Fall schwierige Aufgabe, da er kein Geld risäern sagten, wo sich der Herr aufhielt.
verdienen konnte, solange er im Gefäng- Wie eine Horde wilder Hunde begannen
nis war. sie ihn einzukreisen, in der Hoffnung,
18,31-34 Die anderen Knechte, die ihn mit den eigenen Worten zu fangen.
über dieses ungehörige Verhalten er- Sie fragten, ob Scheidung aus jedem
zürnt waren, »berichteten ihrem Herren Grund gesetzmäßig sei. Ganz gleich, wie
alles«. Er wurde sehr zornig über diesen er antworten würde, er würde auf jeden
gnadenlosen Geldverleiher. Ihm selbst Fall einen Teil der Juden erzürnen. Eine
war eine riesige Schuld erlassen worden, Richtung hatte eine sehr liberale Einstel-
doch er weigerte sich, eine Kleinigkeit zu lung zur Scheidung, die andere war
erlassen. So wurde nun er selbst den Fol- dagegen sehr streng.
terknechten übergeben, »bis er alles 19,4-6 Unser Herr erklärte, es sei Got-
bezahlt habe, was er ihm schuldig war«. tes ursprüngliche Absicht gewesen, daß
18,35 Die Anwendung ist eindeutig. ein Mann nur eine Frau haben solle. Der
Gott ist der König. Alle seine Knechte Gott, der »Mann und Weib« geschaffen
haben riesige Schulden der Sünde hatte, bestimmte, daß die Beziehung in
gehabt, die sie nie bezahlen könnten. In der Ehe wichtiger sei als die Beziehung
wunderbarer Gnade und Barmherzigkeit zu den Eltern. Er sagte auch, die Ehe sei
zahlte der Herr selbst die Schuld und eine Vereinigung von zwei Personen.
gewährte volle und großzügige Verge- Gottes Ideal ist, daß diese göttlich ange-
bung. Nun stelle man sich vor, daß ein ordnete Gemeinschaft nicht durch ir-
Christ einem anderen Unrecht tut. Als er gendeine menschliche Handlung oder
getadelt wird, entschuldigt er sich und Bestimmung gebrochen werden soll.
bittet um Vergebung. Aber der, dem 19,7 Die Pharisäer dachten, sie hätten
Unrecht geschehen ist, weigert sich, ihm den Herrn nun bei einem Widerspruch
zu vergeben. Ihm persönlich sind Millio- zum AT entdeckt. Hatte nicht Mose Ge-
nen von Mark erlassen worden, aber er setze bezüglich der Scheidung erlassen?
selbst will nicht ein paar Hundert erlas- Ein Mann konnte seiner Frau einfach
sen. Wird der König ein solches Verhalten eine schriftliche Bescheinigung über die
unbestraft durchgehen lassen? Natürlich Scheidung ausstellen und sie dann aus
nicht! Der Übeltäter wird in seinem seinem Haus verweisen (5. Mose 24,1-4).
Leben bestraft werden und wird vor dem 19,8 Jesus stimmte zu, daß Mose die
Richterstuhl Christi Schaden erleiden. Scheidung erlaubt habe, allerdings war
das nicht das Beste, was Gott mit der
E. Über Heirat, Scheidung und Menschheit vorhatte, sondern hatte seine
Ehelosigkeit (19,1-12) Ursache in der abtrünnigen Haltung
19,1.2 Nachdem er seinen Dienst in Israels: »Mose hat wegen eurer Herzens-
Galiläa abgeschlossen hatte, wandte sich härtigkeit euch gestattet, eure Frauen zu
der Herr südwärts nach Jerusalem. Ob- entlassen; von Anfang an aber ist es nicht

111
Matthäus 19

so gewesen.« Gottes eigentliche Absicht gegeben sei, könnten sich der Ehe enthal-
war es, daß es keine Scheidung geben ten. Der Ausdruck »Nicht alle fassen die-
sollte. Aber Gott toleriert manchmal ses Wort, sondern denen es gegeben ist«
Bedingungen, die nicht seinem direkten bedeutet nicht, daß nicht alle das folgen-
Willen entsprechen. de verstehen können, sondern daß sie
19,9 Dann stellte der Herr in absolu- kein enthaltsames Leben führen können,
ter Autorität fest, daß die vergangene wenn sie nicht dazu berufen sind.
Nachsicht mit Scheidungen jetzt aufhör- 19,12 Der Herr Jesus erklärte, daß es
te. Von dem Zeitpunkt an, da er sprach, drei Kategorien von »Verschnittenen«
gäbe es nur noch einen wirklichen Grund gibt. Einige Männer sind verschnitten,
zur Scheidung: Unzucht. Wenn jemand weil sie ohne Zeugungsfähigkeit geboren
sich aus irgendeinem anderen Grunde werden. Andere sind verschnitten, weil
scheiden ließe und wieder heiraten wür- sie als Männer kastriert wurden. Aber
de, dann würde er sich des Ehebruches Jesus hatte besonders diejenigen im Sinn,
schuldig machen. »die sich selbst verschnitten haben um
Obwohl es hier nicht direkt gesagt ist, des Reiches der Himmel willen«. Diese
scheint der Herr anzudeuten, daß dann, Männer könnten verheiratet sein und
wenn eine Scheidung aufgrund von Ehe- keinen körperlichen Mangel tragen.
bruch ausgesprochen worden ist, der un- Doch in der Hingabe an den König und
schuldige Teil frei ist, wieder zu heiraten. sein Reich würden sie willentlich die Ehe
Andernfalls würde eine Scheidung kei- aufgeben, um sich ganz und ohne Ablen-
nem anderen Zweck dienen, als sie eben- kung der Sache Christi widmen zu kön-
so durch eine Trennung zu erreichen nen. Wie Paulus später schrieb: »Der
wäre. Unverheiratete ist für die [Sache] des
Normalerweise versteht man unter Herrn besorgt, wie er dem Herrn gefallen
Ehebruch sexuell unmoralisches Ver- möge« (1. Kor 7,32). Ihre Ehelosigkeit ist
halten oder Unzucht. Dennoch sind nicht körperlich bedingt, sondern durch
viele Kommentatoren der Auffassung, freiwillige Enthaltsamkeit.
daß es sich hier nur um Unzucht vor der Nicht alle Menschen können so leben,
Ehe handelt, die nach der Ehe entdeckt sondern nur die, die durch Gott die Kraft
wird (s. 5. Mose 22,13-21). Andere mei- dazu erhalten: »Doch jeder hat seine
nen, der Text beziehe sich nur auf jüdische eigene Gnadengabe von Gott, der eine
Ehegebräuche, weil wir nur bei Matthäus so, der andere so« (1. Kor 7,7).
die »Ausnahmeregelung« finden, dem
einzigen jüdischen Evangelium. Eine F. Über Kinder (19,13-15)
ausführlichere Diskussion über Schei- 19,13-15 Es ist interessant, daß es hier nur
dung findet sich bei den Bemerkungen kurz nach der Rede über die Scheidung
zu Kapitel 5,31.32. um Kinder geht (s. a. Mk 10,1-16). Oft
19,10 Als die Jünger die Lehre des sind sie es, die am meisten unter einer
Herrn über die Scheidung gehört hatten, Scheidung zu leiden haben.
zeigten sie, daß sie selbst nur in Extre- Einige Eltern brachten ihre Kinder zu
men denken konnten, indem sie die Jesus, damit sie von dem Lehrer und Hir-
absurde Meinung vertraten, wenn man ten gesegnet würden. Die Jünger sahen
sich nur aus einem Grunde scheiden las- dies als eine Störung an und fuhren sie
sen könne, wäre es besser, gar nicht zu an. Aber Jesus greift hier mit den Worten
heiraten, als verheiratet zu sündigen. ein, die ihn jedem Kind in jedem Alter
Aber das würde sie nicht davor bewah- sympathisch machen: »Laßt die Kinder,
ren, als Ledige zu sündigen. und wehrt ihnen nicht, zu mir zu kom-
19,11 So erinnerte sie der Herr daran, men, denn solcher ist das Reich der Him-
daß der Stand der Ehelosigkeit nicht die mel.«
Regel sei. Nur diejenigen, denen in dieser Wir können aus diesen Worten ver-
Hinsicht eine besondere Gnadengabe schiedene wichtige Lehren ziehen.

112
Matthäus 19

Erstens sollten sie jeden Diener des Ein reicher Mann fing Jesus mit einer
Herrn darauf aufmerksam machen, wie scheinbar ernsthaften Anfrage ab. Er
wichtig es ist, auch die Kinder mit dem sprach Jesus mit »Lehrer« an und wollte
Wort Gottes zu erreichen, deren Geist wissen, was er zu tun habe, um das ewi-
noch höchst aufnahmefähig ist. ge Leben zu erlangen. Diese Frage zeigte
Zweitens sollten Kinder, die ihren schon seine Unkenntnis über Jesus und
Glauben an den Herrn Jesus bezeugen den Weg der Errettung. Er nannte Jesus
wollen, immer ermutigt und nicht zu- Lehrer – damit stellte er ihn auf eine Stu-
rückgehalten werden. Keiner kennt das fe mit anderen großen Männern. Und er
Alter des jüngsten Menschen in der Höl- sprach davon, daß er das ewige Leben
le. Wenn ein Kind wirklich will, daß es wie eine Verpflichtung erwerben könne,
errettet werden möge, dann sollte man anstatt es wie ein Geschenk zu empfan-
ihm nicht sagen, es sei zu jung. Gleichzei- gen.
tig sollte man Kinder jedoch nicht dazu 19,17 Unser Herr erprobte ihn genau
bringen, ein falsches Zeugnis abzulegen. an diesen beiden Punkten. Indem er frag-
So sehr sie auf emotionale Appelle rea- te: »Was fragst du mich über das Gute?
gieren, sollten sie vor den »Hochdruck- Einer ist der Gute«, wollte er nicht seine
methoden« mancher Evangelisten be- eigene Göttlichkeit in Abrede stellen,
schützt werden. Kinder müssen nicht erst sondern wollte dem Mann die Gelegen-
erwachsen werden, um gerettet zu wer- heit geben zu sagen: »Gerade deshalb
den, sondern Erwachsene müssen wie nenne ich dich gut – weil du Gott bist.«
Kinder werden (Kap. 18,3.4; Mk 10,15). Um ihn bezüglich der Errettung zu
Drittens geben diese Worte unseres prüfen, sagte Jesus: »Wenn du aber ins
Herrn eine Antwort auf die Frage, was Leben eingehen willst, so halte die Gebo-
mit Kindern geschieht, die sterben, ehe te.« Damit meinte der Retter natürlich
sie für ihre Sünden zur Rechenschaft nicht, daß man errettet werden kann,
gezogen werden können. Jesus sagte: indem man die Gebote hält. Er benutzte
»Solcher ist das Reich der Himmel.« Das vielmehr das Gesetz, um den Mann von
sollte als Verheißung für die Eltern genü- der Sünde in seinem Herzen zu über-
gen, die den Verlust eines ihrer Kleinen führen. Der Mann litt immer noch unter
erleiden mußten. der Illusion, er könne ins Reich aufge-
Manchmal wird dieser Abschnitt nommen werden, wenn er etwas
dazu herangezogen, um die Säuglings- bestimmtes täte. Deshalb forderte Jesus
taufe zu rechtfertigen, die sie angeblich ihn auf, dem Gesetz zu gehorchen, das
zu Gliedern Christi und Erben des Rei- ihm sagte, was er tun solle.
ches mache. Wenn man genauer liest, 19,18-20 Unser Herr zitierte fünf
dann brachten die Eltern ihre Kinder zu Gebote, die sich vor allem mit unseren
Jesus und nicht zur Taufe. Man wird Mitmenschen beschäftigen und als
außerdem feststellen, daß den Kindern Höhepunkt zitierte er: »Du sollst deinen
das Reich Gottes schon gehört. Und man Nächsten lieben wie dich selbst.« Blind
wird sehen, daß im ganzen Abschnitt in seiner Selbstsucht prahlte der Mann
nicht ein einziger Tropfen Wasser fließt. damit, daß er diese Gebote immer gehal-
ten habe.
G. Über den Reichtum: Der reiche 19,21 Dann aber stellte der Herr her-
Jüngling (19,16-26) aus, daß dieser Mann es versäumt hatte,
19,16 Dieser Vorfall bietet uns einen star- seinen Nachbarn wie sich selbst zu lie-
ken Kontrast zum vorhergehenden. ben, indem er ihn aufforderte, all seinen
Nachdem wir soeben gesehen haben, Besitz zu verkaufen und das Geld den
daß das Reich der Himmel den Kindern Armen zu geben. Dann aber solle er ihm
gehört, werden wir nun sehen, wie nachfolgen.
schwer es für Erwachsene ist, hineinzu- Der Herr wollte hier nicht sagen, daß
kommen. der Mann gerettet werden könnte, indem

113
Matthäus 19

er seinen Besitz verkaufte und den Erlös ten sie unter dem mosaischen Gesetz, in
wohltätigen Zwecken zukommen ließe. welchem Gott diejenigen, die ihm ge-
Es gibt nur einen einzigen Weg zur Ret- horchen würden, Reichtum versprach.
tung – Glaube an den Herrn. Deshalb folgerten sie richtig, daß Reich-
Aber um gerettet zu werden, muß tümer ein Zeichen des Segens Gottes
jeder Mensch einsehen, daß er ein Sün- seien. Wenn nun die, die unter dem
der ist und Gottes heiligen Ansprüchen Segen Gottes stehen, nicht gerettet wer-
nicht gerecht werden kann. Die fehlende den können, wer dann überhaupt?
Bereitschaft des reichen Mannes, seinen 19,26 Der Herr antwortete: »Bei Men-
Besitz zu teilen, zeigte, daß er seinen schen ist dies unmöglich, bei Gott aber
Nächsten nicht wie sich selbst liebte. Er sind alle Dinge möglich.« Menschlich
hätte sagen sollen: »Herr, wenn es darum gesprochen ist es für jeden unmöglich,
geht, dann bin ich ein Sünder. Ich kann gerettet zu werden, nur Gott kann einen
mich nicht durch meine eigenen An- Menschen erretten. Aber es ist für einen
strengungen erretten. Deshalb bitte ich reichen Menschen schwerer, seinen Wil-
dich, mich durch deine Gnade zu erret- len Christus zu übergeben, als für einen
ten.« Wenn er so auf die Lehre Jesu ge- Armen, wie es sich durch die Tatsache
antwortet hätte, dann hätte er den Weg zeigt, daß nur wenige reiche Menschen
zur Errettung gefunden. bekehrt sind. Sie finden es fast unmög-
19,22-24 Statt dessen »ging er betrübt lich, ihr Vertrauen auf sichtbare Dinge
weg«. Die Antwort des reichen Jünglings gegen den Glauben an einen unsichtba-
veranlaßte Jesus zu der Äußerung, daß ren Retter einzutauschen. Nur Gott kann
es schwer sei, daß »ein Reicher in das eine solche Veränderung herbeiführen.
Reich der Himmel« komme. Reichtum Immer wieder wenden Kommentato-
wird leicht zum Götzen. Es ist schwer, ren und Prediger hier ein, daß es völlig in
Besitz zu haben, ohne auf ihn zu vertrau- Ordnung ist, wenn ein Christ reich ist. Es
en. Der Herr erklärte, daß es leichter ist, ist merkwürdig, daß sie einen Abschnitt
»daß ein Kamel durch ein Nadelöhr ein- benutzen, in dem der Herr den Reichtum
gehe, als ein Reicher in das Reich Got- als ein Hindernis für das ewige Wohler-
tes«. Er benutzte hier ein sprachliches gehen des Menschen bezeichnet, um
Bild, welches man »Übertreibung« nennt damit die Anhäufung von Reichtümern
– eine Aussage in einer besonders beton- zu rechtfertigen. Und es ist schwierig, zu
ten Form, um einen lebhaften, unvergeß- sehen, wie ein Christ sich an Reichtü-
lichen Eindruck zu erzeugen. mern festklammern kann, obwohl er die
Es ist natürlich unmöglich, daß ein schrecklichen Nöte überall sieht, die
Kamel durch ein Nadelöhr geht! Das Nähe der Wiederkunft Christi und das
»Nadelöhr« ist oft als ein kleines Tor in deutliche Verbot unseres Herrn, sich auf
der Stadtmauer gedeutet worden. Ein der Erde Schätze zu sammeln. Ange-
Kamel konnte nur unter großen Schwie- häufter Reichtum überführt uns der Sün-
rigkeiten hindurchkommen, indem es de, unseren Nächsten nicht wie uns
sich niederkniete. Jedoch bezeichnet das selbst zu lieben.
Wort, das im Parallelbericht von Lukas
für »Nadel« gebraucht wird, im Griechi- H. Über die Belohnung eines auf-
schen die Nadel eines Chirurgen. Es opferungsvollen Lebens (19,27-30)
scheint aus dem Zusammenhang deut- 19,27 Petrus erkannte die Richtung die-
lich zu sein, daß der Herr nicht über eine ser Rede. Er erkannte, daß Jesus sagte:
Schwierigkeit, sondern über eine Un- »Laß alles zurück und folge mir nach.«
möglichkeit sprach. Menschlich gespro- Petrus brüstete sich damit, daß er und
chen ist es einfach unmöglich, daß ein die anderen Jünger genau das getan hät-
reicher Mann gerettet wird. ten und fragte deshalb: »Was wird uns
19,25 Die Jünger waren über diese nun werden?« Das Eigenleben des Petrus
Bemerkung sehr erstaunt. Als Juden leb- feierte fröhliche Auferstehung, die alte

114
Matthäus 19 und 20

Natur machte sich wieder einmal stark. daß diejenigen, die alles verlassen, mit
Das ist genau die Stimmung, vor der einer größeren Fähigkeit ausgestattet
jeder von uns auf der Hut sein muß. Er werden, das ewige Leben im Himmel zu
wollte mit dem Herrn feilschen. genießen. Alle Gläubigen werden dieses
19,28.29 Der Herr konnte Petrus beru- Leben haben, aber nicht alle werden es in
higen, daß alles, was man für ihn tun gleicher Weise genießen.
würde, auch entsprechend belohnt wer- 19,30 Der Herr schloß seine Aus-
den würde. Was die Stellung der Zwölf führungen mit einer Warnung vor einer
anging, so würden sie im Tausendjähri- berechnenden Haltung. Er sagte im Prin-
gen Reich eine Herrschaftsstellung erhal- zip zu Petrus: »Für alles, was du meinet-
ten. Die Wiedergeburt, die Jesus hier wegen aufgibst, wirst du belohnt werden,
erwähnt, bezieht sich auf die zukünftige aber sei vorsichtig, daß du dich nicht
Herrschaft Christi über die Erde. Der durch selbstsüchtige Betrachtungen len-
Ausdruck wird durch den Satz »wenn ken läßt. In diesem Fall werden –viele
der Sohn des Menschen auf seinem Erste Letzte und Letzte Erste sein–.« Das
Thron der Herrlichkeit sitzen wird« wird nun durch ein Gleichnis im näch-
erklärt. Wir haben diese Phase des Rei- sten Kapitel näher beleuchtet. Diese Aus-
ches zuvor die Phase der Verwirklichung sage könnte auch eine Warnung sein, daß
genannt. Zu dieser Zeit werden die es nicht reicht, einen guten Start auf dem
Zwölf »auf zwölf Thronen sitzen und die Weg der Jüngerschaft zu erleben. Es
zwölf Stämme Israels richten«. Lohn ist kommt darauf an, wie wir ankommen.
im neuen Testament eng mit der Stellung Ehe wir diesen Abschnitt verlassen,
in der Regierung im Tausendjährigen sollten wir noch festhalten, daß die Aus-
Reich verbunden (s. Lk 19,17.19). Sie drücke »Reich der Himmel« und »Reich
werden vor dem Richterstuhl Christi Gottes« in den Versen 23 und 24 wie
belohnt – verwirklicht wird diese Beloh- Synonyme verwendet werden, sie be-
nung jedoch erst, wenn der Herr auf die deuten ein und dasselbe.
Erde zurückkehrt, um dort zu regieren.
Bezüglich der Gläubigen allgemein I. Über den Lohn für die Arbeit im
fügte Jesus hinzu, »jeder, der Häuser Weinberg (20,1-16)
oder Brüder oder Schwestern oder Vater 20,1.2 Dieses Gleichnis ist eine Fortset-
oder Mutter oder Frau oder Kinder oder zung der Ausführungen über den Lohn
Äcker um meines Namens willen verlas- am Ende von Kapitel 19 und illustriert
sen hat, wird hundertfach empfangen die Wahrheit, daß zwar alle Jünger be-
und ewiges Leben erben«. In diesem lohnt werden, aber die Reihenfolge der
Leben werden sie die weltweite Gemein- Belohnung vom Geist bestimmt wird, je
schaft der Gläubigen genießen, die sie nachdem der Jünger treu gedient hat.
für die gespannten irdischen Beziehun- Das Gleichnis beschreibt einen
gen mehr als entschädigt. Für das eine »Hausherrn, der frühmorgens ausging,
Haus, das sie verlassen, erhalten sie hun- um Arbeiter in seinen Weinberg einzu-
dert christliche Häuser, in denen sie herz- stellen«. Diese Männer machten einen
lich willkommen sind. Und für Land Vertrag, daß sie für einen Denar am Tag
oder anderen Besitz, den sie aufgeben, für ihn arbeiten würden, was zu dieser
erhalten sie geistliche Reichtümer über Zeit ein vernünftiger Lohn war. Nehmen
jede Erwartung hinaus. wir an, sie fingen um 6 Uhr früh an zu
Der zukünftige Lohn für alle Gläubi- arbeiten.
gen ist das ewige Leben. Das bedeutet 20,3.4 Um 9 Uhr fand der Bauer eini-
nicht, daß wir uns das ewige Leben ver- ge andere noch nicht beschäftigte Arbei-
dienen können, indem wir alles verlas- ter auf dem Marktplatz. In diesem Fall
sen und opfern. Ewiges Leben ist ein Ge- wurde kein Lohn vereinbart. Sie gingen
schenk und kann weder verdient noch nur auf das Wort hin an die Arbeit, daß er
erworben werden. Der Gedanke hier ist, ihnen geben würde, »was recht ist«.

115
Matthäus 20

20,5-7 Zu Mittag und um 3 Uhr nach- hinzu: »Blickt dein Auge neidisch, weil
mittags stellte der Bauer noch mehr Leu- ich gütig bin?« Diese Frage enthüllt die
te an und sagte auch ihnen, daß er ihnen Selbstsucht der menschlichen Natur. Die
einen gerechten Lohn geben würde. Um Männer, die um 6 Uhr morgens angefan-
5 Uhr nachmittags fand er weitere Män- gen hatten, erhielten genau, was sie ver-
ner, die nicht arbeiteten. Sie waren nicht dient hatten, doch waren sie neidisch,
faul, sie wollten gerne arbeiten, aber hat- weil die anderen denselben Lohn für
ten bis dahin keine Arbeit gefunden. So weniger Arbeit erhielten. Viele von uns
sandte er sie einfach in den Weinberg, müssen zugeben, daß das auch auf uns
ohne auch nur Lohn zu erwähnen. ein wenig unfair wirkt. Das beweist aber
Es ist wichtig festzuhalten, daß die nur, daß wir im Reich der Himmel völlig
ersten Männer aufgrund eines Handels anders denken lernen müssen. Wir müs-
eingestellt wurden, bei allen anderen sen unser habsüchtiges, von Konkur-
war es dem Hausherrn überlassen, was renzdenken geprägtes Wesen aufgeben
er ihnen zahlen wollte. und lernen, wie der Herr zu denken.
20,8 Als der Tag vorbei war, gab der Der Hausherr wußte, daß alle diese
Bauer seinem Verwalter den Auftrag, die Männer Geld nötig hatten, und so be-
Männer zu bezahlen, »angefangen von zahlte er sie nach ihren Bedürfnissen und
den letzten bis zu den ersten«. Auf diese nicht nach der Geldgier. Keiner bekam
Weise sahen diejenigen, die zuerst ange- weniger als er verdient hatte, aber alle
stellt waren, was die anderen erhielten. erhielten, was sie für sich und ihre Fami-
20,9-12 Alle erhielten den gleichen lien benötigten. Die Lehre ist nach James
Lohn – einen Denar. Die Männer, die Stewart, »daß derjenige, der denkt, über
schon frühmorgens begonnen hatten, den endgültigen Lohn einen Handel ab-
erwarteten nun, mehr zu erhalten, aber schließen zu können, immer falsch liegt,
nein – auch sie erhielten einen Denar. Sie und daß Gottes liebevolle Fürsorge im-
wurden bitter und verärgert, weil sie mer das letzte, unanfechtbare Wort ha-
39)
doch viel länger gearbeitet und »die Last ben wird«. Je mehr wir das Gleichnis in
des Tages und die Hitze getragen« hatten. diesem Licht betrachten, desto mehr er-
20,13.14 Die Antwort des Hausherrn, kennen wir, daß diese Geschichte nicht
die er einem der Tagelöhner gab, zeigt nur gerecht, sondern außerordentlich
uns die vielen Lehren, die wir aus dem schön ist. Diejenigen, die um 6 Uhr ange-
Gleichnis ziehen können. Als erstes sagte stellt wurden, hätten es als zusätzliches
er: »Freund, ich tue dir nicht unrecht. Bist Vorrecht sehen sollen, daß sie den gan-
du nicht um einen Denar mit mir über- zen Tag einem so wunderbaren Herrn
eingekommen? Nimm das Deine und geh dienen konnten.
hin! Ich will aber diesem letzten geben 20,16 Jesus schloß das Gleichnis mit
wie auch dir.« Die ersten hatten einen den Worten: »So werden die Letzten
Denar ausgehandelt und erhielten den Erste und die Ersten Letzte sein«
Lohn, über den man sich geeinigt hatte. (s. 19,30). Es wird in bezug auf den Lohn
Die anderen hatten sich der Gnade des manche Überraschung geben. Einige, die
Bauern unterstellt und erlangten Gnade. dachten, sie würden die Ersten sein, wer-
Gnade ist besser als Gerechtigkeit. Es ist den die Letzen sein, weil ihr Dienst von
besser, unseren Lohn unserem Herrn zu Stolz und selbstsüchtigem Streben ge-
überlassen, als mit ihm zu handeln. prägt war. Andere, die aus Liebe und
20,15 Dann sagte der Hausherr: »Ist Dankbarkeit dienten, werden hoch be-
es mir nicht erlaubt, mit dem Meinen zu lohnt werden.
tun, was ich will?« Die Lehre, die wir Von vielen, wie wir meinten,
daraus ziehen sollen, ist, daß Gott sou- verdienstvollen Taten,
verän ist. Er kann tun, was ihm gefällt. wird Jesus uns zeigen,
Und was ihm gefällt, ist immer richtig, daß sie nichts als Sünde waren.
gerecht und fair. Der Hausherr fügt noch Von kleinen Taten,

116
Matthäus 20

die wir vergessen haben hoffte, spricht für sie. Aber sie hatte die
wird er uns zeigen, Prinzipien nicht verstanden, nach denen
daß sie ihm getan sind. im Reich Ehren verteilt werden würden.
Markus sagt uns, daß ihre Söhne
J. Über Jesu Tod und Auferstehung selbst kamen und fragten (Mk 10,35),
(20,17-19) vielleicht kamen sie auf ihre Aufforde-
20,17-19 Es ist offensichtlich, daß der rung, vielleicht kamen die drei aber auch
Herr Peräa verließ, um sich auf die Reise gemeinsam zum Herrn. Wir haben es
nach Jerusalem über Jericho zu machen hier nicht mit einem Widerspruch zu tun.
(s. V. 29). Und wieder nahm er die Zwölf 20,22 Jesus antwortete offen, daß sie
beiseite, um ihnen zu erklären, was ge- gar nicht wüßten, um was sie bäten. Sie
schehen würde, nachdem sie die Heilige wollten die Krone ohne das Kreuz, einen
Stadt erreichten. Er würde »den Hohen- Thron ohne den Opferaltar, die Herrlich-
priestern und Schriftgelehrten überlie- keit ohne die Leiden, die zu ihr führen.
fert werden« – eine offensichtliche An- So fragte er sie unverblümt: »Könnt ihr
spielung auf den Verrat des Judas. Er den Kelch trinken, den ich trinken wer-
würde von den jüdischen Führern zum de?« Es wird uns nicht überlassen, darü-
Tode verurteilt werden. Weil sie nicht das ber nachzugrübeln, was er mit dem
Recht haben, eine Todesstrafe zu vollzie- »Kelch« meinte, denn er hatte es eben in
hen, würden sie »ihn den Nationen über- den Versen 18 und 19 erst beschrieben. Er
liefern«, d. h. den Römern. Er würde ver- würde leiden und sterben müssen.
spottet, gegeißelt und gekreuzigt wer- Jakobus und Johannes betonten, daß
den. Aber der Tod würde seine Beute sie in der Lage seien, seine Leiden zu tei-
nicht behalten dürfen – »am dritten Tag len, obwohl ihr Selbstvertrauen hier wohl
wird er auferstehen«. mehr auf Eifer als auf Wissen beruhte.
20,23 Jesus versicherte ihnen nun,
K. Über die Stellung im Reich daß sie seinen Kelch wirklich trinken
(20,20-28) würden. Jakobus würde den Märtyrer-
Hier sehen wir, wie die menschliche tod sterben, Johannes würde verfolgt
Natur beschaffen ist. Sofort nach seiner und auf die Insel Patmos verbannt wer-
dritten Leidensankündigung dachten die den. Robert Little sagte: »Jakobus starb
Jünger an ihren eigenen Ruhm, statt an den Tod eines Märtyrers, Johannes lebte
Jesu Leiden. das Leben eines Märtyrers.«
Die erste Leidensankündigung veranlaß- Dann erklärte Jesus, daß er nicht ein-
te Petrus zum Widerspruch (Kap. 16,22). fach jemandem irgendeinen Ehrenplatz
Auf die zweite folgte bald die Frage der Jün- im Reich versprechen konnte, denn der
ger »Wer ist der größte . . .?« Und so finden Vater hatte schon ein besonderes Verfah-
wir hier, die dritte Leidensankündigung, ren bestimmt, nach dem diese Plätze ver-
begleitet von der ehrgeizigen Anfrage von teilt werden. Sie dachten, es ginge hier
Jakobus und Johannes. Sie verschlossen ihre um eine Art politische Beförderung, daß
Augen hartnäckig vor den Warnungen vor sie, weil sie so eng mit Christus lebten,
Schwierigkeiten und wollten nur das Ver- nun auch einen besonderen Anspruch
sprechen der Herrlichkeit sehen – damit auf bevorzugte Positionen hätten. Aber
erhielten sie aber eine falsche, materialisti- es geht hier nicht um eine Frage persönli-
sche Sicht des Reiches. (Aus dem englischen cher Günstlingswirtschaft. In der Vorse-
Material des Bibellesebundes.) hung Gottes werden die Plätze zur Rech-
20,20.21 Die Mutter von Jakobus und ten und Linken Jesus nach den Leiden für
Johannes kam zum Herrn und bat ihn, Jesus vergeben werden. Das bedeutet, die
daß ihre Söhne im Reich an seiner Seite ersten Plätze werden nicht nur an Chri-
sitzen dürften. Ihr Wunsch, daß sie in der sten aus dem ersten Jahrhundert verge-
Nähe Jesu seien, und daß sie selbst noch ben, es mag sein, daß einige der heute
immer auf seine zukünftige Herrschaft Lebenden sie erlangen – durch Leiden.

117
Matthäus 20

20,24 Den anderen Jüngern gefiel es deten Israel stehen, der ihn als Christus
gar nicht, daß die Söhne des Zebedäus anerkennt, wenn er wiederkommt, um
ein solches Ansinnen an Jesus heran- zu regieren (Jes 35,5; 42,7; Röm 11,25.26;
getragen hatten. Sie waren sicher un- 2. Kor 3,16; Offb 1,7).
willig, weil sie selbst die Größten sein 20,31-34 Die Menge versuchte, sie
wollten und lehnten deshalb jeden Erst- zum Schweigen zu bringen, aber sie
anspruch von Jakobus und Johannes »schrieen noch mehr«. Als Jesus fragte,
ab! was sie wollten, verloren sie sich nicht in
20,25-27 Das gab Jesus die Gelegen- »Allgemeinplätzen«, wie wir das oft im
heit, eine geradezu revolutionäre Aussa- Gebet tun. Sie kamen sofort auf ihr An-
ge über »Größe« in seinem Reich zu liegen zu sprechen: »Herr, daß unsere
machen. Die »Nationen« kennen Größe Augen aufgetan werden.« Ihre eindeuti-
nur in bezug auf Herrschaft. Im Reich ge Bitte wurde eindeutig erhört. »Jesus
Christi zeigt sich Größe durch Dienst. aber, innerlich bewegt, rührte ihre Augen
Wer immer groß sein will, muß ein Die- an; und sogleich wurden sie sehend, und
ner werden, und wer der erste sein will, sie folgten ihm nach.«
muß ein Sklave werden. Gaebelein macht in bezug auf die
20,28 Der Menschensohn ist das voll- Berührung durch Jesus eine hilfreiche
kommene Beispiel für den Dienst. Er Beobachtung:
kam in die Welt, nicht »um bedient zu Wir haben schon vorher die vorbildhafte
werden, sondern um zu dienen und sein Bedeutung der Heilung durch Berührung in
Leben zu geben als Lösegeld für viele«. diesem Evangelium gesehen. Wann immer
Den Zweck der Menschwerdung kann der Herr durch Berührung heilt, bezieht sich
man in zwei Worten zusammenfassen: das . . . auf seine persönliche Gegenwart auf
Dienen und Geben. Es ist unbegreiflich, der Erde und seine gnädigen Wege mit Isra-
wenn man bedenkt, wie der erhöhte Herr el. Wenn er durch sein Wort heilt, wenn er
sich selbst so erniedrigte, daß er mit einer selbst nicht anwesend ist, oder wenn er selbst
Krippe und mit einem Kreuz vorlieb im Glauben angerührt wird, so bezieht sich
nahm. Seine Größe zeigte sich in der Tie- das auf die Zeit, in der er nicht auf der Erde
fe seiner Demütigung. Und genauso soll ist, die Nationen sich ihm nähern und von
40)
es bei uns sein. ihm geheilt werden.
Er gab sein Leben als »Lösegeld für Manchen fällt es schwer, den Bericht
viele«. Sein Tod befriedigte alle gerech- von Matthäus mit dem Vorfall in Markus
ten Ansprüche Gottes gegen den Sünder. 10,46-52 und Lukas 18,35-43 und 19,1 zu
Das Lösegeld reichte aus, um alle Sün- vereinbaren. Hier haben wir zwei Blinde,
den der Welt wegzunehmen. Aber es in Markus und Lukas nur einen. Es ist
wirkt sich nur für die aus, die Jesus als vorgeschlagen worden, daß Markus und
Herrn und Retter annehmen. Hast Du Lukas nur den einen erwähnen, der mit
das schon getan? Namen (Bartimäus) bekannt ist, und daß
Matthäus, der sein Evangelium insbe-
L. Heilung zweier Blinder (20,29-34) sondere für Juden geschrieben hat, zwei
20,29.30 Jetzt hatte Jesus den Jordan von als Mindestzahl für ein gültiges Zeugnis
Peräa aus überschritten und Jericho er- nennt (2. Kor 13,1). In Matthäus und
reicht. Als er die Stadt verließ, riefen ihn Markus wird erwähnt, daß das Ereignis
zwei Blinde: »Erbarme dich unser, Herr, stattfand, als Jesus Jericho verließ, bei
Sohn Davids!« Indem sie den Titel »Sohn Lukas heißt es, daß er sich gerade der
Davids« verwendeten, zeigte sich, daß Stadt näherte. Es gab allerdings zwei ver-
sie zwar körperlich nicht sehen konnten, schiedene Städte namens Jericho, das alte
jedoch so eine scharfe geistliche Wahr- und das Neue, und das Wunder fand
nehmung besaßen, daß sie in Jesus den wahrscheinlich statt, als Jesus die eine
Messias erkennen konnten. Sie könnten Stadt verließ und die neue gerade be-
für den gläubigen Überrest des verblen- treten wollte.

118
Matthäus 21

XII. Vorstellung und Ablehnung des schweigen . . . Nach dieser Handlung war es
Königs (Kap 21-23) nicht mehr möglich, ihn zu beschuldigen, daß
er sich nie unmißverständlich ausgedrückt
A. Der Einzug in Jerusalem (21,1-11) hatte. Als Jerusalem später beschuldigt wur-
21,1-3 Auf dem Weg von Jericho herauf de, daß es seinen Messias umgebracht habe,
kam Jesus zur Ostseite des Ölberges, wo sollte es nicht sagen können, der Messias
Bethanien und Bethphage lagen. Von habe es versäumt, ihnen ein Zeichen zu ge-
41)
dort aus ging die Straße zum Südende ben, das für alle verständlich gewesen sei.
des Ölberges, verschwand im Tal Josa- 21,7.8 Der Herr ritt auf einem Teppich
phats, führte über den Bach Kidron und von Kleidern und Zweigen in die Stadt,
stieg nach Jerusalem hinauf. und die Jubelrufe des Volkes schallten in
Er sandte zwei seiner Jünger nach seinen Ohren wider. Für einen Augen-
Bethanien, denn er wußte im voraus, daß blick wenigstens wurde er als König
sie dort eine festgebundene Eselin und anerkannt.
ihr Fohlen finden würden. Sie sollten sie 21,9 Die Menge rief: »Hosanna dem
losbinden und zu Jesus bringen. Wenn Sohn Davids! Gepriesen sei, der da
jemand sie zur Rede stellen sollte, sollten kommt im Namen des Herrn!« Dieses
sie nur sagen, daß der Herr sie brauche. Zitat stammt aus Psalm 118,25.26 und
Dann würde der Eigentümer einwilli- bezieht sich offensichtlich auf die
gen. Vielleicht kannte der Besitzer Jesus Ankunft des Messias. »Hosanna« bedeu-
und hatte ihm schon vorher einmal Hilfe tet ursprünglich »Rette uns jetzt«; viel-
angeboten. Oder dieser Vorfall zeigt die leicht meinten die Leute damit: »Rette
Allwissenheit und die überragende uns von den römischen Unterdrückern.«
Autorität des Herrn. Alles kam so, wie Später wurde dieser Ausruf ein Lobpreis.
Jesus es vorausgesagt hatte. Die Ausdrücke »Sohn Davids« und
21,4.5 Die Beanspruchung des Esels »gepriesen sei, der da kommt im Namen
erfüllte eine der Prophezeiungen Jesajas des Herrn« zeigen beide deutlich, daß
und Sacharjas: »Sagt der Tochter Zion: Jesus als der Messias anerkannt wurde.
Siehe, dein König kommt zu dir, sanft- Er ist der Gepriesene des Herrn, der in
mütig und auf einer Eselin reitend, und der Vollmacht Jahwes kommt, um Gottes
[zwar] auf einem Fohlen, des Lasttiers Willen zu tun.
Jungen.« Markus berichtet, daß das Volk auch
21,6 Nachdem die Jünger ihre Kleider rief: »Gepriesen sei das kommende Reich
auf die Tiere gebreitet hatten, bestieg unseres Vaters David!« (Mk 11,10). Das
Jesus das Eselsfohlen (Mk 11,7) und ritt zeigt die Ansicht der Menge, daß das
auf ihm nach Jerusalem. Das war ein Reich nun errichtet werden und Christus
historischer Augenblick. Die neunund- sich auf den Thron Davids setzen würde.
sechzig Jahrwochen Daniels waren zu Mit dem Ruf »Hosanna in der Höhe« rie-
Ende (nach Sir Robert Anderson, s. seine fen sie den Himmel auf, in das Lob des
Berechnungen im dem Buch The Coming Messias auf Erden einzustimmen, und
Prince.) Als nächstes würde der Messias baten ihn vielleicht, sie vom höchsten
»ausgerottet« werden (Dan 9,26). Himmel aus zu erretten.
Indem Jesus auf diese Weise nach Markus 11,11 berichtet, daß Jesus
Jerusalem ritt, machte er bewußt und sofort in den Tempel ging, sobald er in
unverhüllt seinen Anspruch deutlich, Jerusalem angekommen war - nicht
daß er der Messias ist. Lange schreibt direkt in den Tempel, sondern in den
dazu: Vorhof. Sicherlich war dies das Haus
Er erfüllt absichtlich eine Prophezeiung, Gottes, doch er konnte sich in diesem
die zu seiner Zeit nur auf den Messias gedeu- Tempel nicht heimisch fühlen, weil die
tet wurde. Wenn er vorher die Verkündigung Priester und das Volk sich weigerten,
seiner Würde als gefährlich angesehen hatte, ihm seine rechtmäßige Stellung in die-
war es nun für ihn undenkbar, länger zu sem Tempel zukommen zu lassen. Nach-

119
Matthäus 21

dem er sich kurz umgesehen hatte, zog er Herrn für unseren Körper, der ein Tem-
sich mit den Zwölfen nach Bethanien pel des Heiligen Geistes ist.
zurück. Es war Sonntagabend.
21,10.11 In der Zwischenzeit gab es in C. Die Verärgerung der Hohenpriester
der Stadt Verwirrung, wer er sei. Die Fra- und Schriftgelehrten (21,14-17)
genden erhielten nur die Antwort, er sei 21,14 In der nächsten Szene sehen wir
»Jesus, der Prophet, von Nazareth in unseren Herrn, wie er die Blinden und
Galiläa«. Daraus läßt sich schließen, daß Lahmen im Vorhof heilt. Wo immer Jesus
nur wenige verstanden, daß er der Mes- hinging, zog er die Bedürftigen an, und
sias war. In weniger als einer Woche wür- er sandte sie nie weg, ohne daß er ihre
de die wankelmütige Menge fordern: Not gelindert hätte.
»Kreuzige ihn, kreuzige ihn!« 21,15.16 Aber wieder beobachteten
ihn feindlich gesinnte Augen. Und als
B. Die Tempelreinigung (21,12.13) diese Hohenpriester und Schriftgelehr-
21,12 Zu Beginn seines öffentlichen ten hörten, wie die Kinder Jesus als den
Dienstes hatte Jesus die Geschäftema- Sohn Davids priesen, da wurden sie
cher aus den Tempeleinrichtungen ver- wütend. Sie sagten: »Hörst du, was diese
trieben (Joh 2,13-16). Aber der Drang sagen?« – als wenn sie von Jesus erwarte-
nach einem guten Verdienst hatte sich im ten, daß er den Kindern verbieten würde,
Vorhof des Tempels schon wieder breit- ihn den Messias zu nennen! Wenn Jesus
gemacht. Opfertiere und Vögel wurden nicht der Messias gewesen wäre, dann
mit riesigen Gewinnspannen verkauft. wäre das die rechte Zeit gewesen, das ein
Geldwechsler tauschten fremde Wäh- für allemal auszusprechen. Aber seine
rungen in das halbe Schekel, das die Antwort zeigt, daß die Kinder recht hat-
jüdischen Männer als Tempelsteuer zu ten. Er zitierte Psalm 8,2 nach der Sep-
geben hatte – natürlich gegen Wucher- tuaginta: »Aus dem Mund der Unmün-
gebühren. Als sich nun der Dienst Jesu digen und Säuglinge hast du dir Lob
dem Ende zuneigte, trieb Jesus diejeni- bereitet!« Wenn die wahrscheinlich
gen aus dem Tempel, die an heiligen Ein- gebildeten Priester und Schriftgelehrten
richtungen und Bräuchen Geld ver- ihn nicht als den Gesalbten loben wür-
dienen wollten. den, dann würde der Herr von kleinen
21,13 Indem er zwei Zitate von Jesaja Kindern verehrt. Kinder haben oft geist-
und Jeremia miteinander verband, ver- liche Einsichten, die über ihr Alter hin-
urteilte er die Entheiligung, die Hab- ausgehen, und ihre Worte des Glaubens
sucht und den Luxus. Er zitierte Jesaja und der Liebe verherrlichen den Namen
56,7 und erinnerte die Menschen daran, Gottes auf ungewöhnliche Weise.
daß Gott wollte, daß der Tempel ein »Bet- 21,17 Er überließ es nun den religiö-
haus« sei. Sie aber hatten es zu einer sen Führern, über diese Wahrheit nachzu-
»Räuberhöhle« gemacht (Jer 7,11). denken und kehrte nach Bethanien
Diese Tempelreinigung war seine zurück, um dort die Nacht zu verbringen.
erste offizielle Handlung, nachdem er
nach Jerusalem gekommen war. Aber sie D. Der verdorrende Feigenbaum
bekräftigte unmißverständlich seine (21,18-22)
Herrschaft über den Tempel. 21,18.19 Als Jesus am nächsten Morgen
Der Vorfall hat für heute eine zweifa- nach Jerusalem zurückkehrte, kam er zu
che Botschaft. Wir brauchen in unserem einem Feigenbaum und hoffte, auf ihm
Gemeindeleben seine reinigende Macht, Furcht zu finden, um seinen Hunger zu
um Basare, Bankette und eine ganze Rei- stillen. Aber er »fand nichts an ihm als
he anderer Spielereien, die nur dem nur Blätter«. Deshalb sagte er: »– Nim-
Geldverdienen dienen, auszumerzen. In mermehr komme Frucht von dir in Ewig-
unserem persönlichen Leben brauchen keit! – Und sogleich verdorrte der Fei-
wir den reinigenden Dienst unseres genbaum.«

120
Matthäus 21

Im Bericht des Markus (11,12-14) Wir müssen uns daran erinnern, daß
wird die Anmerkung gemacht, daß es das zwar ungläubige Israel für immer
nicht die Jahreszeit für Feigen war. Des- ohne Frucht bleiben wird, daß aber ein
halb läßt die Verurteilung des Baumes, Überrest des Volkes sich nach der Ent-
weil er keine Frucht brachte, den Retter rückung zu seinem Messias bekehren
als unvernünftig und aufsässig erschei- wird. Sie werden ihm während der
nen. Wir wissen wohl, daß das nicht Drangsal und während seiner tausend-
stimmt. Doch wie können wir diese jährigen Herrschaft Frucht bringen.
Schwierigkeit erklären? Obwohl die wichtigste Deutung die-
Die Feigenbäume in den biblischen ses Abschnittes sich auf das Volk Israel
Ländern bringen eine frühe, eßbare bezieht, kann er doch auf die Menschen
Frucht, ehe sie Blätter ansetzten. Sie war aller Zeitalter bezogen werden, die hoch-
ein Vorbote der eigentlichen Ernte. Wenn fahrend reden und einen schlechten
keine frühen Feigen erschienen, wie es in Lebenswandel führen.
diesem Fall wohl war, dann zeigte das, 21,20-22 Als die Jünger sich darüber
daß es auch später keine normale Ernte wunderten, daß der Baum so schnell ver-
geben würde. dorrte, erklärte ihnen der Herr, daß sie
Dies ist das einzige Wunder, bei dem noch größere Wunder tun könnten, als
Jesus fluchte und nicht segnete – bei dem dieses, wenn sie nur genügend Glauben
er zerstörte, statt Leben wiederherzustel- hätten. Zum Beispiel könnten sie zu
len. Das ist als Schwierigkeit gewertet einem Berg sagen: »Hebe dich empor
worden. Solche Kritik verrät Unkenntnis und wirf dich ins Meer«, und es würde
der Person Christi. Er ist Gott, der souve- geschehen. »Und alles, was immer ihr im
räne Herrscher des Universums. Einige Gebet glaubend begehrt, werdet ihr
seiner Handlungen mögen uns unver- empfangen.«
ständlich erscheinen, aber wir müssen Und wieder müssen wir erklären,
immer davon ausgehen, daß er immer daß dieses scheinbar uneingeschränkte
richtig handelt. In diesem Fall wußte der Versprechen über das Gebet nur im Lich-
Herr, daß dieser Feigenbaum nie Feigen te der ganzen Lehre vom Gebet in der
bringen würde und er handelte wie ein Bibel verstanden werden kann. Vers 22
Bauer es tun würde, wenn er einen un- bedeutet nicht, daß jeder Christ alles bit-
fruchtbaren Baum aus seinem Obstgar- ten kann, was er will und erwarten kann,
ten fällt. es zu erhalten. Er muß in Übereinstim-
Sogar diejenigen, die unseren Herrn mung mit den in der Bibel festgelegten
dafür kritisieren, daß er den Feigenbaum Grundsätzen beten.
verfluchte, geben zu, daß dies eine sym-
bolische Handlung war. Der Vorfall ist E. Die Autorität Jesu wird in Frage
die Deutung des Herrn von dem aufge- gestellt (21,23-27)
regten Empfang, den man ihm erst kürz- 21,23 Als Jesus in den Hof kam, der noch
lich in Jerusalem bereitet hatte. Wie der vor dem eigentlichen Tempelbereich lag,
Weinstock und der Ölbaum ist der Fei- unterbrachen die Hohenpriester und die
genbaum ein Bild für das Volk Israel. Als Ältesten des Volkes sein Lehren, um ihn
Jesus zu diesem Volk kam, fand er Blätter, zu fragen, wer ihm die Vollmacht zu leh-
die von äußerlichem Bekenntnis spre- ren, Wunder zu tun und zur Tempelrei-
chen, aber keine Frucht für Gott. Jesus nigung gegeben habe. Sie hofften, ihm
hungerte nach Frucht aus diesem Volk. eine Falle stellen zu können, ganz gleich,
Weil es keine frühe Frucht gab, würde wie er antworten würde. Wenn er bean-
es auch keine Ernte von diesem ungläu- spruchte, als Sohn Gottes diese Voll-
bigen Volk geben, das wußte er, und des- macht in sich selbst zu haben, dann
halb verfluchte er den Baum. Dies sagte könnten sie ihn der Gotteslästerung an-
das Gericht voraus, unter das das Volk klagen. Würde er behaupten, daß er die
im Jahr 70 n. Chr. fallen würde. Vollmacht von Menschen erhalten ha-

121
Matthäus 21

ben, dann würden sie ihn in Mißkredit Jesus ist der Messias, dessen Vorläufer
bringen. Wenn er behauptete, seine Voll- Johannes war.
macht von Gott zu haben, dann würden 21,27 Aber sie wollten sich nicht den
sie ihn zum Beweis auffordern. Sie sahen Tatsachen stellen, und so schützten sie
sich als Hüter des Glaubens, als Leute, Unwissenheit vor. Sie konnten nicht
die sich berufsmäßig mit Religion be- sagen, aus welcher Quelle die Vollmacht
schäftigen und die durch ihre Ausbil- des Johannes kam. Darauf sagte Jesus:
dung und menschliche Ernennung be- »So sage auch ich euch nicht, in welcher
rechtigt waren, das religiöse Leben der Vollmacht ich diese Dinge tue.« Warum
Menschen zu regeln. Jesus hatte keine sollte er es ihnen sagen, wo sie doch ganz
theologische Ausbildung und sicherlich offensichtlich nicht gewillt waren, es
nicht das Vertrauen der Herrscher in anzunehmen?
Israel. Ihre Herausforderung spiegelt die
uralte Verachtung wider, die berufs- F. Das Gleichnis von den zwei
mäßig mit Religion beschäftigte Men- Söhnen (21,28-32)
schen gegenüber Männern mit der Kraft 21,28-30 Dieses Gleichnis ist eine scharfe
der göttlichen Salbung fühlen. Ermahnung an die Hohenpriester und
21,24.25 Der Herr bot ihnen an, die Ältesten für ihren Ungehorsam gegen-
Quelle seiner Vollmacht zu erklären, über dem Bußruf des Johannes. Es han-
wenn sie ihm die Frage beantworten delt von einem Mann, dessen zwei Söhne
könnten, ob die Taufe des Johannes »vom im Weinberg arbeiten sollen. Einer wei-
Himmel oder von Menschen« sei. Unter gerte sich, entschied sich dann jedoch
der »Taufe des Johannes« ist der Dienst anders und ging hin. Der andere war ein-
des Johannes insgesamt zu verstehen. verstanden, ging aber nie an die Arbeit.
Deshalb lautete die Frage: »Aus welcher 21,31.32 Als sie gefragt wurden, »wer
Vollmacht hat Johannes seinen Dienst von den beiden hat den Willen des Vaters
getan? War seine Einsetzung göttlich getan«, mußten sie wider Willen zu-
oder menschlich. Welche Referenzen hat- geben, daß es der erste gewesen sei.
te er von den Führern Israels erhalten?« Der Herr legte nun das Gleichnis aus.
Die Antwort war offensichtlich: Johan- Zöllner und Huren waren wie der erste
nes war von Gott gesandt. Seine Macht Sohn. Sie behaupteten nicht von sich,
entsprang göttlicher Bevollmächtigung, Johannes dem Täufer zu gehorchen, aber
nicht menschlicher Billigung. schließlich taten viele von ihnen Buße
Die Hohenpriester und Ältesten und glaubten an Jesus. Die religiösen
waren in einer Zwickmühle. Wenn sie zu- Führer waren wie der zweite Sohn. Sie
gaben, daß Johannes von Gott gesandt behaupteten zwar, daß sie mit der Pre-
war, dann saßen sie in der Falle. Johannes digt von Johannes einverstanden waren,
hatte Menschen auf Jesus, den Messias aber sie bekannten nie ihre Sünden noch
hingewiesen. Wenn Johannes göttliche vertrauten sie sich dem Retter an. Des-
Vollmacht hatte, warum hatten sie selbst halb würden die eigentlich ausgestoße-
dann nicht Buße getan und an Christus nen Sünder das Reich Gottes erlangen,
geglaubt? während die selbstzufriedenen religiö-
21,26 Hätten sie andererseits gesagt, sen Führer draußen bleiben würden.
daß Johannes nicht von Gott gesandt sei, Dasselbe gilt auch heute noch. Wirkliche
dann legten sie sich auf eine Position fest, Sünder nehmen das Evangelium viel
die von den meisten Leuten verlacht bereitwilliger an als solche mit einem
werden würde, denn die meisten waren Anstrich falscher Frömmigkeit.
der Meinung, daß Johannes ein Prophet Der Ausdruck »denn Johannes kam
von Gott gewesen sei. Wenn sie richtig zu euch im Weg der Gerechtigkeit«
geantwortet hätten, daß Johannes von bedeutet, er kam, um die Notwendigkeit
Gott gesandt war, dann hätten sie ihre der Gerechtigkeit durch Buße und Glau-
Frage selbst so beantworten müssen: ben zu predigen.

122
Matthäus 21

G. Das Gleichnis von den bösen ständnis. Unter einander waren sie der
Weingärtnern (21,33-46) Meinung, daß Jesus der Sohn Gottes war,
21,33-39 Um weiter auf die Frage nach obwohl sie es öffentlich abstritten und
seiner Vollmacht einzugehen, erzählte beantworteten so ihre eigene Frage nach
Jesus das Gleichnis von einem Haus- seiner Vollmacht. Seine Vollmacht ent-
herrn, »der einen Weinberg pflanzte und sprang seiner Gottessohnschaft.
einen Zaun darum setzte«, und eine Kel- Im Gleichnis sagen sie: »Dieser ist der
ter darin baute, außerdem einen Turm. Erbe. Kommt, laßt uns ihn töten und sein
»Er verpachtete ihn an Weingärtner und Erbe in Besitz nehmen!« (V. 38). Im wirk-
reiste außer Landes.« Als aber die Ernte lichen Leben sagten sie: »Wenn wir ihn
nahte, sandte er seine Knechte, um seinen so lassen, werden alle an ihn glauben,
Anteil an der Ernte zu erhalten, aber die und die Römer werden kommen und
Weingärtner schlagen den einen, »einen unsere Stadt wie auch unseren Staat
anderen töteten sie, einen anderen stei- wegnehmen« (Joh 11,48). Deshalb lehn-
nigten sie«. Als er andere Knechte schick- ten sie ihn ab, warfen ihn hinaus und
te, wurden sie genauso mißhandelt. Dann kreuzigten ihn.
sandte er seinen Sohn, denn er dachte, sie 21,42 Als der Retter fragte, was der
würden wenigstens diesen respektieren. Eigentümer des Weinberges tun würde,
Aber die Weingärtner wußten genau, daß verurteilte sie ihre eigene Antwort, wie er
er der Erbe war und töteten ihn, weil sie in Vers 42 und 43 zeigt. Jesus zitierte die
sein Erbe an sich bringen wollten. Worte aus Psalm 118,22: »Der Stein, den
21,40.41 An diesem Punkt fragte der die Bauleute verworfen haben, dieser ist
Herr die Hohenpriester und Ältesten, zum Eckstein geworden; von dem Herrn
was der Herr mit diesen Weingärtner tun her ist er dies geworden, und er ist wun-
würde. Sie antworteten: »Er wird jene derbar in unseren Augen.« Als Christus,
Übeltäter übel umbringen, und den der Stein, sich den Bauleuten zeigte – den
Weinberg wird er an andere Weingärtner Führern Is84 84raels – hatten sie keinen
verpachten, die ihm die Früchte abgeben Platz für ihn in ihrem Bauplan. Sie warfen
werden zu ihrer Zeit.« ihn als nutzlos beiseite. Aber nach seinem
Das Gleichnis ist einfach zu verste- Tod wurde er von den Toten auferweckt
hen. Gott ist der Hausherr, Israel der und erhielt einen bevorzugten Platz bei
Weinberg (s. Ps 80,8; Jes 5,1-7; Jer 2,21). Gott. Er wurde zum wichtigsten Stein in
Der Zaun ist das Gesetz Moses, das Isra- Gottes Bauwerk: »Darum hat Gott ihn
el von den Heiden trennte und sie als ein auch hoch erhoben und ihm den Namen
besonderes Volk des Herrn bewahrte. verliehen, der über jeden Namen ist . . .«
Die Kelter, als ein bildlich verwandter (Phil 2,9).
Begriff, bedeutet übertragen die Frucht, 21,43 Dann kündigte Jesus offen an,
die Israel für Gott bringen sollte. Der daß das Reich Gottes Israel genommen
Turm zeigt Gottes wachsame Fürsorge und einem anderen Volk gegeben wer-
für sein Volk. Die Weingärtner sind die den würde, das Früchte brächte. Und so
Hohenpriester und Schriftgelehrten. geschah es. Israel ist von Gott als erwähl-
Wiederholt sandte Gott seine Knech- tes Volk beiseite gesetzt worden und ist
te, die Propheten, zum Volk Israel, um bei durch Gerichtsbeschluß für Gottes Wahr-
ihm die Früchte der Gemeinschaft, der heit blind. Das Geschlecht, das den Mes-
Heiligung und der Liebe zu suchen. Aber sias abgelehnt hat, ist verhärtet worden.
das Volk verfolgte die Propheten und Die Prophezeiung, daß das Reich Gottes
tötete sogar einige von ihnen. Schließlich einer Nation gegeben würde, »die seine
sandte Gott seinen eigenen Sohn, weil er Früchte bringen wird«, ist auf zweierlei
sich sagte: »Sie werden sich vor meinem Weise verstanden worden:
Sohn scheuen!« (V. 37). Die Hohenprie- 1. Sie bezieht sich auf die Gemeinde, die
ster und Schriftgelehrten aber sagten: »Er aus gläubigen Juden und Heiden
ist der Erbe« – ein schreckliches Einge- besteht – »eine heilige Nation, ein

123
Matthäus 21 und 22

Volk zum Besitztum« (1. Petr 2,9); meine Einladung an alle, die gerne kom-
oder men wollten. Diesmal gab es keinen ein-
2. Sie bezieht sich auf die gläubigen zigen freien Platz im Hochzeitssaal.
Juden, die zur Zeit der Wiederkunft 22,11-13 Unter den Gästen war jedoch
Jesu leben werden. Das erlöste Israel einer, der kein Hochzeitskleid anhatte.
wird seine Frucht für Gott bringen. Als er wegen seines unpassenden Ge-
21,44 »Und wer auf diesen Stein fällt, wandes zur Rede gestellt wurde, war er
wird zerschmettert werden; aber auf wen sprachlos. Der König befahl, er solle in
er fallen wird, den wird er zermalmen.« die Nacht hinausgeworfen werden, wo
Im ersten Teil des Verses liegt der Stein »das Weinen und das Zähneknirschen«
noch am Boden, im zweiten fällt er von sein werden. Die Diener in Vers 13 sind
oben herunter. Damit sind die beiden nicht dieselben wie die Knechte in Vers 3.
Kommen Christi gemeint. Als er das 22,14 Unser Herr schloß das Gleich-
erste Mal kam, stolperten die jüdischen nis mit den Worten: »Denn viele sind
Führer über ihn und wurden in Stücke Berufene, wenige aber Auserwählte.«
zerschmettert. Wenn er wiederkommen Die Bedeutung des Gleichnisses ist
wird, wird er im Gericht kommen und folgende: Der König ist Gott und sein
seine Feinde wie Staub zerstreuen. Sohn ist der Herr Jesus. Das Hochzeits-
21,45.46 Die Hohenpriester und Pha- mahl ist eine geeignete Beschreibung der
risäer erkannten, daß diese Gleichnisse Festfreude, wie sie für das Reich der
auf sie gemünzt waren, und zwar als Himmel charakteristisch sein wird.
Antwort darauf, daß sie Christi Voll- Wenn man die Gemeinde in diesem
macht in Frage gestellt hatten. Sie hätten Gleichnis als die Braut Christi einführt,
ihn gerne sofort ergriffen, aber sie fürch- kompliziert man das Gleichnis unnötig.
teten die Masse, die noch immer der Mei- Es dreht sich in der Hauptsache darum,
nung war, Jesus sei ein Prophet. daß Israel zur Seite gesetzt wird – nicht
jedoch um den besonderen Ruf und die
H. Das Gleichnis vom Hochzeitsmahl Vorsehung der Gemeinde.
(22,1-14) Die erste Phase der Einladung zeigt
22,1-6 Jesus war aber mit den Hohenprie- Johannes den Täufer und die zwölf Jün-
stern noch nicht fertig. In dem Gleichnis ger, wie sie freundlich Israel zur Hoch-
vom Hochzeitsmahl zeigte er nochmals, zeitsfeier einluden. Aber das Volk wei-
wie das bevorzugte Israel zur Seite ge- gerte sich, diese Einladung anzunehmen.
setzt wird und die verachteten Heiden Die Worte »sie wollten nicht kommen«
als Gäste am Tisch sitzen. Er verglich das (V. 3) erreichten bei der Kreuzigung
Reich der Himmel »mit einem König, der ihren Höhepunkt.
seinem Sohn« die Hochzeit ausrichtet. Die zweite Stufe der Einladung
Die Einladung erfolgte in zwei Stufen. bedeutet die erneute Verkündigung des
Zuerst erhielten die Gäste eine Voreinla- Evangelium an die Juden in der Apostel-
dung, die durch Knechte persönlich geschichte. Einige behandelten die Bot-
überbracht wird. Sie wurde einfach abge- schaft mit Verachtung. Einige wendeten
lehnt. Dann erhalten sie eine zweite Ein- gegen die Boten Gewalt an, daher wur-
ladung, daß das Fest bereit sei. Einige den die meisten Apostel zu Märtyrern.
lehnten verächtlich ab, weil sie zu sehr Der König, der nun gerechterweise
mit ihren Höfen und Geschäften beschäf- zornig auf Israel ist, sandte nun »seine
tigt waren. Andere wurden sogar ge- Truppen«, d. h. Titus und seine römi-
walttätig, denn sie »mißhandelten und schen Legionen, um im Jahre 70 n. Chr.
töteten die Knechte«. Jerusalem zu zerstören und einen Groß-
22,7-10 Der König wurde so zornig, teil des Volkes umzubringen. Sie waren
daß er »jene Mörder« umbrachte und gewissermaßen »seine Truppen«, weil er
ihre Stadt verbrannte. Er zerriß die erste sie als seine Werkzeuge zur Bestrafung
Gästeliste und äußerte nun eine allge- Israels benutzte. Sie waren seine ernann-

124
Matthäus 22

ten Truppen, auch wenn sie ihn nicht I. Pflichten gegenüber dem Kaiser
persönlich kannten. und gegenüber Gott (22,15-22)
Nun ist Israel als Volk an die Seite Das Kapitel 22 behandelt Fragen, mit
gesetzt, und das Evangelium wird allen denen drei verschiedene Abordnungen
Heiden gepredigt, den schlechten und der Juden versuchen, dem Herrn Jesus
guten, d. h. ganz gleich, wie anständig eine Falle zu stellen.
oder weniger anständig sie leben (Apg 22,15.16 Diesmal haben wir einen
13,45.46; 28,28). Aber die Echtheit des Versuch der Pharisäer und Herodianer
Glaubens eines jeden wird geprüft wer- vor uns. Diese beiden Parteien waren
den. Der Mann ohne Hochzeitskleid ist zeitweilig erbitterte Feinde, die jedoch
einer, der zwar bekennt, für das Reich durch ihren gemeinsamen Haß auf den
Gottes bereit zu sein, aber der nie mit der Retter zu Freunden wurden. Ihr Ziel war
Gerechtigkeit Gottes durch den Herrn es, Christus zu einer gefährlichen politi-
Jesus Christus bekleidet worden ist (2. schen Aussage zu verleiten. Sie benutz-
Kor 5,21). Und es gab (und gibt) keine ten dazu eine Streitfrage unter den
Ausrede für den Mann ohne Hochzeits- Juden, nämlich, wie man sich dem Kaiser
kleid. Ryrie merkt hier an, daß es damals gegenüber zu verhalten habe. Einige
Sitte war, den Gästen ein Hochzeitskleid Juden weigerten sich, sich einem heidni-
zu stellen, wenn sie selbst keines hatten. schen Herrscher zu unterwerfen. Ande-
Der Mann hatte diese Sitte ganz offen- re, wie die Herodianer, waren in dieser
sichtlich nicht in Anspruch genommen. Beziehung etwas toleranter.
Ohne Christus ist er sprachlos, als nach 22,17 Erst schmeichelten sie ihm
seinem Recht gefragt wird, in das Reich wegen seines reinen Charakters, seiner
zu kommen (Röm 3,19). Sein Schicksal ist Ehrlichkeit und seinem Mut. Und dann
die äußere Finsternis, wo Weinen und stellten sie die schwierige Frage: »Ist es
Zähneknirschen sein wird. Das Weinen erlaubt, dem Kaiser Steuer zu geben,
deutet das Leiden der Hölle an. Einige oder nicht?« Wenn Jesus mit »Nein« ant-
meinen, daß das Zähneklappern den worten sollte, dann würde er sich nicht
fortgesetzten Haß auf Gott und die nur gegen die Herodianer stellen, son-
Rebellion gegen ihn bedeutet. Wenn dem dern würde der Rebellion gegen die
so ist, dann wäre hiermit bewiesen, daß römische Regierung angeklagt. Die Pha-
die Vorstellung falsch ist, die Feuer der risäer hätten ihn weggestoßen und ihn
Hölle könnten irgendeine reinigende angeklagt. Würde er »Ja« sagen, dann
Wirkung haben. würde er gegen den eingefleischten
Vers 14 bezieht sich auf das ganze Nationalismus der Juden sprechen. Er
Gleichnis und nicht nur auf den Vorfall würde beim einfachen Volk sehr viel
mit dem Mann ohne Hochzeitskleid. Sympathie verlieren – eine Sympathie,
»Viele sind Berufene«, d. h. die Botschaft die es bisher noch verhinderte, daß die
des Evangeliums erreicht viele Men- Führer ihn beseitigten.
schen. »Wenige aber sind Auserwählte.« 22,18.19 Jesus bezeichnete sie offen
Einige lehnen die Einladung ab, und als Heuchler, die nur versuchen, ihn zu
sogar bei denen, die sie annehmen, sind fangen. Dann bat er sie, ihm einen Denar
einige, die fälschlich bekennen. Alle, die zu geben, das Geldstück, mit dem man
auf das Evangelium wirklich hören, sind die Steuern an die Römer zu zahlen
erwählt. Man kann nur dann etwas über pflegte. Jedesmal, wenn die Juden das
seine Erwählung wissen, wenn man Bild und den Titel des Kaisers auf der
sagen kann, was man mit dem Herrn Münze sahen, wurden sie unangenehm
Jesus angefangen hat. Wie Jennings es daran erinnert, daß sie unter heidnischer
ausgedrückt hat: Alle sind aufgerufen, das Herrschaft und Besteuerung standen.
Festmahl zu feiern, aber nicht alle wollen Der Denar hätte sie daran erinnern sol-
dem Geber hinsichtlich eines passenden len, daß ihre Unfreiheit eine Folge ihrer
Hochzeitskleides vertrauen. Sünde war. Wären sie Jahwe treu ge-

125
Matthäus 22

blieben, dann hätte sich die Frage des Ein paar von ihnen kamen mit einer
Steuerzahlens an den Kaiser nie erhoben. Geschichte zu Jesus, die erfunden wor-
22,20.21 Jesus fragte sie nun: »Wessen den war, um die Idee der Auferstehung
Bild und Aufschrift ist das?« Sie waren lächerlich zu machen. Sie erinnerten ihn
gezwungen zu antworten: »Des Kai- an das Gesetz der Schwagerehe (5. Mose
sers.« Da sagte ihnen der Herr: »Gebt 25,5). Wenn ein Israelit ohne Kinder
denn dem Kaiser, was des Kaisers ist, starb, so mußte sein Bruder nach dem
und Gott, was Gottes ist.« Gesetz die Witwe heiraten, um den Fami-
Die Frage war wie ein Bumerang auf liennamen in Israel und das Erbe in der
sie selbst zurückgefallen. Sie hatten ge- Familie zu erhalten.
hofft, Jesus durch die Steuerfrage fangen 22,25-28 In ihrer Frage ging es um
zu können. Er aber stellte bloß, daß sie eine Frau, die ihren Ehemann verlor und
Gott nicht das gaben, was ihm zusteht. So dann einen seiner Brüder heiratete. Der
ärgerlich das war, sie zahlten dem Kaiser, zweite Bruder starb, deshalb heiratete sie
was ihm gebührte, aber sie hatten die den dritten – und so weiter bis zum sieb-
Ansprüche Gottes an ihr Leben verges- ten Bruder. Schließlich »starb auch die
sen. Und hier stand nun der Eine vor Frau«. Nun kam die Frage, die gestellt
ihnen, der die »Ausstrahlung seiner wurde, um den zu demütigen, der die
Herrlichkeit und Abdruck des Wesens Auferstehung ist (Joh 11,25): »Wessen
Gottes« ist (Hebr 1,3) und sie verweiger- Frau von den sieben wird sie nun in der
ten ihm seine rechtmäßige Stellung. Auferstehung sein? Denn alle hatten sie.«
Die Antwort Jesu zeigt, daß der Gläu- 22,29 Im Grunde argumentierten sie,
bige eine Doppelbürgerschaft hat. Er ist die Idee der Auferstehung werfe unlös-
verantwortlich, der menschlichen Regie- bare Probleme auf, weshalb sie nicht ver-
rung zu gehorchen und sie finanziell zu nünftig und folglich auch nicht wahr sei.
unterstützen. Es ist nicht seine Aufgabe, Jesus antwortete, daß die Schwierigkeit
abfällig von seinen Obersten zu reden nicht bei der Lehre, sondern bei ihnen
oder sogar die Regierung zu stürzen. Er selbst lag, denn sie kannten weder die
soll für die Machthaber beten. Als Bürger Schriften noch die Kraft Gottes.
des Himmels ist er verantwortlich, Gott Erstens kannten sie die Schriften
zu gehorchen. Wenn es jemals einen nicht. Nirgendwo sagt die Bibel etwas
Widerspruch zwischen beiden gibt, dann darüber, daß die eheliche Beziehung im
muß er zuerst Gott gehorchen (Apg 5,29). Himmel fortgeführt wird. Zwar werden
Wenn wir Vers 21 zitieren, dann beto- Männer noch Männer und Frauen noch
nen viele von uns den Teil über den Kai- Frauen sein, aber sie werden in der Bezie-
ser und übergehen leichtsinnig den Teil hung wie die Engel sein, indem sie
über Gott – das ist genau der Fehler, wes- weder heiraten noch verheiratet werden.
wegen Jesus die Pharisäer tadelte. Zweitens kannten sie die »Kraft Got-
22,22 Als die Pharisäer seine Antwort tes« nicht. Wenn er in der Lage war, Men-
gehört hatten, wußten sie, daß sie gegen schen aus Staub zu machen, konnte er
Jesus nicht bestehen konnten. Alles, was dann nicht ebenso den Staub derer wie-
sie noch tun konnten, war verwundert der zusammenholen und ihn wieder zu
wegzugehen. herrlichen Leibern machen?
22,30-32 Dann argumentiert der Herr
J. Die Sadduzäer und ihre Frage zur Jesus von der Schrift her, um zu zeigen,
Auferstehung (22,23-33) daß die Auferstehung absolut notwendig
22,23.24 Wie schon weiter oben bemerkt, ist. In 2. Mose 3,6 spricht Gott von sich als
waren die Sadduzäer die liberalen Theo- dem »Gott Abrahams, Isaaks und
logen ihrer Zeit, die die Auferstehung des Jakobs«. Doch ist, wie Jesus nun heraus-
Leibes, die Existenz der Engel und Wun- stellte, Gott »nicht ein Gott der Toten,
der ablehnten. Sie leugneten mehr, als sondern der Lebenden«. Gott machte
was sie tatsächlich glaubten. einen Bund mit diesen Männern, aber sie

126
Matthäus 22

starben, ehe dieser Bund wirklich erfüllt weitergeben würden. Und dann sollten
war. Wie kann Gott von sich als dem Gott wir danach handeln. Solches Verhalten
sprechen, der der Gott von drei Männern liegt uns nicht, es ist übernatürlich. Nur
ist, deren Leiber im Grab liegen? Wie diejenigen, die von neuem geboren sind,
kann der, der immer seine Verheißungen können so leben, und das auch nur, weil
erfüllt, sie denen erfüllen, die schon sie Christus gestatten, es durch sie zu tun.
gestorben sind? Es gibt nur eine einzige
Antwort: durch Auferstehung. L. Davids Sohn ist Davids Herr
22,33 Kein Wunder, daß die Volks- (22,41-46)
mengen über seine Lehre erstaunt waren; 22,41.42 Während die Pharisäer Jesus
wir sind es auch! noch wegen seiner Antwort an den Ge-
setzeslehrer anstaunten, stellte er ihnen
K. Das größte Gebot (22,34-40) nun eine provokative Frage: »Was haltet
22,34-36 »Als die Pharisäer hörten«, daß ihr von dem Christus? Wessen Sohn ist
Jesus seine Feinde, die Sadduzäer »zum er?«
Schweigen gebracht hatte«, kamen sie, Die meisten Pharisäer glaubten nicht,
um ihn nun selbst zu fragen. Ihr Spre- daß Jesus der Christus war, sie warteten
cher, ein Gesetzesgelehrter, bat Jesus, das noch immer auf ihren Messias. Deshalb
größte Gebot des Gesetzes zu nennen. fragt Jesus sie nicht »Was haltet ihr von
22,37.38 In meisterhafter Weise faßte mir?« (obwohl das in seiner Frage ent-
der Herr Jesus die Verpflichtung des halten war). Er fragte allgemeiner, wes-
Menschen gegenüber Gott in dem größ- sen Sohn der Messias sein würde, wenn
ten und ersten Gebot zusammen: »Du er erscheinen würde.
sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit Sie antworteten ganz richtig, daß der
deinem ganzen Herzen und mit deiner Messias ein Nachfahre Davids sein
ganzen Seele und mit deinem ganzen würde.
Verstand.« Im Bericht des Markus steht 22,43.44 Dann zitierte der Herr Jesus
zusätzlich noch der Ausdruck »und aus Psalm 110,1, wo David sagt: »Der Herr
deiner ganzen Kraft«. Das bedeutet, daß sprach zu meinem Herrn: Setze dich zu
es die erste Verpflichtung des Menschen meiner Rechten, bis ich deine Feinde lege
ist, Gott mit der Gesamtheit seines We- unter deine Füße.« Die erste Verwen-
sens zu lieben. Wie schon gesagt wurde: dung des Wortes »Herr« bezieht sich auf
Das Herz spricht von der Gefühlswelt, Gott den Vater, die zweite auf den Mes-
die Seele vom Willen, der Geist von der sias. So sprach David vom Messias als
Gedankenwelt und die Kraft vom Kör- seinem Herrn.
per. 22,45 Nun stellte Jesus die Frage:
22,39.40 Dann fügte Jesus die zweite »Wenn nun David ihn Herr nennt, wie ist
Verpflichtung des Menschen hinzu, näm- er sein Sohn?« Die Antwort lautet, daß
lich seinen Nächsten zu lieben wie sich der Messias sowohl der Herr Davids als
selbst. Barnes sagt: »Liebe zu Gott und auch der Sohn Davids ist – sowohl Gott
den Menschen ist der ganze Inhalt der als auch Mensch. Als Gott ist er Davids
Religion: Das zu erreichen war das Ziel Herr, als Mensch ist er Davids Sohn.
von Mose, den Propheten, dem Retter Wären die Pharisäer nur belehrbar
und den Aposteln.« Wir sollten diese gewesen, hätten sie erkannt, daß Jesus
Worte öfter bedenken: »Du sollst deinen der Messias war – der Sohn Davids
Nächsten lieben wie dich selbst.« Wir durch die Erblinie Marias, und Gottes
sollten nachdenken, wieviel wir tun, um Sohn, wie er sich durch seine Worte, Wer-
uns selbst zu lieben, wie viele unserer ke und Taten auszeichnete.
Handlungen sich um die Bequemlichkeit 22,46 Aber sie weigerten sich zu
von uns selbst drehen. Dann sollten wir sehen. Sie waren völlig erstaunt über sei-
versuchen uns vorzustellen, wie es wäre, ne Weisheit, deshalb gaben sie es auf, ihn
wenn wir diese Liebe unseren Nächsten weiter mit Fragen in Verlegenheit zu

127
Matthäus 22 und 23

bringen. Jetzt würden sie eine andere derung von den Nationen halten sollten.
Methode anwenden – Gewalt. Die Pharisäer übersahen die geistliche
Lehre und waren zufrieden damit, die
M. Wenn Worte und Taten nicht Quasten besonders groß und auffällig zu
übereinstimmen – eine Warnung machen.
(23,1-12) 23,6.7 Sie zeigten ihre Selbstsucht,
23,1-4 In den ersten Versen des Kapitels indem sie bei den Gastmählern und in
warnt der Retter die Menge und die Jün- den Synagogen nach den Ehrenplätzen
ger vor den Schriftgelehrten und Pha- strebten. Sie nährten ihr Ego durch
risäern. Diese Führer saßen »auf Moses Begrüßungen auf den Märkten und
Lehrstuhl«, d. h. sie lehrten das Gesetz genossen es besonders, wenn die Men-
des Mose. Im allgemeinen war auf ihre schen sie »Rabbi« nannten (das heißt
Lehre Verlaß, aber auf ihr Verhalten war »mein Großer« oder »Lehrer«).
kein Verlaß. Ihre Auffassungen waren 23,8-10 Hier warnte der Herr seine
besser als ihr Verhalten. Sie redeten groß Jünger davor, besondere Titel zu verwen-
daher, aber ihr Wandel war nichts wert. den, die nur Gott vorbehalten sind. Wir
Jesus sagte »Alles nun, was sie euch sollten nicht jemandem den besonderen
sagen, tut und haltet; aber handelt nicht Titel Rabbi geben, denn wir haben einen
nach ihren Werken, denn sie sagen es Lehrer, nämlich Jesus. Wir sollten nieman-
und tun es nicht.« den »Vater nennen, denn Gott ist unser
Sie stellten hohe Ansprüche (die oft Vater«. Weston schreibt dazu sehr weise:
nur extreme Auslegungen des Buchsta- Wir haben hier eine Erklärung über die
bens des Gesetzes waren) an das Volk, grundlegenden Beziehungen des Menschen
aber sie wollten keinem helfen, diese zu Gott. Dreierlei machen einen Christen aus
unerträgliche Last zu tragen. – was er ist, was er glaubt und was er tut, das
23,5 Sie hielten sich an religiöse Vor- heißt, Lehre, Erfahrung und Praxis. Der
schriften, um von Menschen gesehen zu Mensch braucht zu seinem geistlichen Wohl-
werden, nicht aus innerem Antrieb. Ihr ergehen dreierlei: Leben, Unterweisung und
Gebrauch von Gebetsriemen war ein Bei- Führung, eben das, was der Herr in den neun
spiel dafür. Der Herr hatte gesagt, daß Worten des Evangeliums verkündigt: »Ich
Israel sein Wort als ein Zeichen an ihrer bin der Weg, die Wahrheit und das Leben« . . .
Hand und an ihrer Stirn zwischen den Man soll keinen Menschen als Vater anerken-
Augen tragen sollten (2. Mose 13,9; 5. nen, denn kein Mensch kann geistliches
Mose 6,8; 11,18). Doch Gott meinte Leben schenken oder erhalten. Kein Mensch
damit, daß sie das Gesetz ständig vor soll als unfehlbarer Lehrer anerkannt werden,
Augen haben sollten, damit es sie in niemandem soll erlaubt werden, das Amt
ihrem Leben leiten konnte. Die Pharisäer eines geistlichen Leiters zu übernehmen,
reduzierten nun dieses geistliche Gebot denn deine Beziehung zu Gott und zu Chri-
42)
auf den wörtlichen, äußerlichen Sinn. Sie stus ist so eng wie die jeder anderen Person.
taten kleine Streifen mit Schriftabschnit- Die offensichtliche Bedeutung der
ten in Lederkapseln und banden sie an Worte des Retters ist, daß im Reich der
ihre Stirn oder an ihren Arm. Sie sorgten Himmel alle Gläubigen eine Bruder-
sich nicht darum, das Gesetz zu halten, schaft von Gleichgestellten bilden, in der
solange sie supergeistlich erschienen, kein Platz für Titel ist, die den einen über
indem sie lächerlich große Gebetsriemen den anderen stellen. Doch denken wir an
trugen. Das Gesetz befahl den Juden die teilweise pompösen Titel, die wir in
auch, Quasten mit blauen Bändern an unserer heutigen Christenheit kennen:
den Zipfeln ihrer Gewänder zu tragen (4. Herr Pastor, Herr Pfarrer, heiliger Vater,
Mose 15,37-41; 5. Mose 22,12). Dieser Hochwürden und viele, viele andere.
besondere Schmuck war dazu gedacht, Sogar der scheinbar harmlose lateinische
sie daran zu erinnern, daß sie ein abge- Titel »Doktor« bedeutet »Lehrer«. (Diese
sondertes Volk waren und sich in Abson- Warnung bezieht sich natürlich auf geist-

128
Matthäus 23

liche und nicht auf natürliche oder akade- manchmal unkritische Gläubige, dazu
mische Bezeichnungen. Zum Beispiel bringen, ihr Eigentum »der Kirche« zu
wird hier nicht verboten, daß ein Kind überschreiben. Solche frommen Heuch-
seinen Vater »Vater« nennt, ebenso nicht, ler werden ein »schwereres Gericht emp-
daß ein Arzt vom Patienten mit »Herr fangen«.
Doktor« angeredet wird.) So weit es um 23,15 Die dritte Anklage richtet sich
irdische Beziehungen geht, gilt die Regel gegen ihren fehlgeleiteten Eifer. Sie
»Furcht, dem die Furcht, die Ehre, dem machten unglaubliche Reisen, um einen
die Ehre gebührt« (Röm 13,7). einzigen Proselyten zu gewinnen, aber
23,11.12 Und wieder wird der revolu- nachdem sie ihn gewonnen hatten,
tionäre Charakter des Reiches der Him- machten sie ihn doppelt so schlimm wie
mel dadurch deutlich, daß wahre Größe sich selbst. Damit vergleichbar ist heute
das genaue Gegenteil von dem ist, was der Eifer falscher Religionen. Eine Grup-
die Menschen erwarten. Jesus sagt: »Der pe ist bereit, an 700 Türen zu klopfen, um
Größte aber unter euch soll euer Diener nur einen für ihr Anliegen zu gewinnen,
sein. Wer sich aber selbst erhöhen wird, aber das letztliche Ergebnis ist schlimm.
wird erniedrigt werden; und wer sich Wie jemand einmal sagte: »Die Bekehrte-
selbst erniedrigen wird, wird erhöht wer- sten sind oft die Verdrehtesten.«
den.« Wahre Größe beugt sich zum 23,16-22 Als viertes prangerte der
Dienst. Die Pharisäer, die sich selbst Herr ihre Spitzfindigkeit an, ihre oftmals
erhöhen, werden erniedrigt werden. absichtlich unehrlichen Argumente. Sie
Echte Jünger, die sich demütigen, wer- hatten ein falsches Argumentationssy-
den zu ihrer Zeit erhöht werden. stem aufgebaut, um die Erfüllung von
Gelübden zu umgehen. Zum Beispiel
N. Wehrufe gegen die Schriftgelehrten lehrten sie, daß jemand, der beim Tempel
und Pharisäer (23,13-36) schwört, seine Schuld nicht zahlen muß,
Als nächstes spricht der Herr Jesus acht wenn aber jemand beim Gold des Tem-
Wehrufe über die stolzen religiösen pels schwört, dann müsse er das Gelüb-
Heuchler seiner Zeit aus. Es sind keine de erfüllen. Sie sagten, daß ein Schwur
»Verfluchungen«, sondern Ausdruck der bei der Gabe auf dem Altar gelte, aber
Sorge über ihr Schicksal, etwa wie der nicht, wenn beim leeren Altar geschwo-
Ausdruck: »Ach, ich bin bekümmert um ren wurde. So war ihnen Gold mehr wert
Dich«. als Gott (der Tempel war das Haus Got-
23,13 Das erste »Wehe« richtet sich tes) und die Gabe auf dem Altar (wieder
gegen ihre Hartherzigkeit und ihr Hin- eine Form des Reichtums) mehr als der
dern anderer Menschen. Sie wollten Altar selbst. Sie waren mehr am Materi-
selbst nicht in das Reich und hinderten ellen als am Geistlichen interessiert. Sie
andere mit Gewalt, hineinzugehen. Be- waren mehr daran interessiert, etwas zu
fremdenderweise sind religiöse Führer erhalten (die Gabe) als selbst zu geben
oft die aktivsten Gegner des Evangeliums (der Altar war der Ort für die Gaben).
der Gnade. Sie können gegenüber allem Indem Jesus sie als »blinde Führer«
außer der guten Nachricht von der Erlö- bezeichnet, stellt er ihren Trugschluß
sung die größte Toleranz üben. Der na- bloß. Das Gold des Tempels hatte nur
türliche Mensch will nicht das Objekt der einen besonderen Wert, weil es mit Got-
Gnade Gottes sein und will auch nicht, tes Wohnung verbunden war. Außerdem
daß Gott anderen seine Gnade erzeigt. gab der Altar der Gabe seinen Wert.
43)
23,14 Das zweite »Wehe« zielt auf Menschen, die denken, daß Gold an sich
die Aneignung von Häusern von Wit- einen Wert besäße, sind blind. Es erhält
wen. Sie versuchen, diese Taten durch seinen Wert nur, wenn es zur Ehre Gottes
lange Gebete zu vertuschen. Einige mo- verwendet wird. Gaben, die aus fleischli-
derne Religionen benutzen ähnliche chen Motiven heraus gegeben werden,
Techniken, indem sie ältere Witwen, sind wertlos. Was aber dem Herrn oder

129
Matthäus 23

im Namen des Herrn gegeben wird, hat durch Buße und Glauben gereinigt
ewigen Wert. waren. Dann, und nur dann, wäre ihr
Es war eine Tatsache, daß, wobei äußerliches Verhalten annehmbar. Es gibt
immer die Pharisäer schwören mochten, einen Unterschied zwischen mir als
Gott im Spiel war und sie verpflichtet Mensch und als Persönlichkeit. Wir sind
waren, ihren Eid zu halten. Der Mensch zu oft dazu geneigt, die Persönlichkeit
kann seinen Verpflichtungen nicht durch mehr zu betonen – das, was andere von
geschicktes Argumentieren ausweichen. uns glauben sollen. Aber Gott betont
Schwüre sind bindend und Versprechen unser Wesen als Mensch – das, was wir
müssen gehalten werden. Es ist nutzlos, wirklich sind. Er will, daß der Mensch
sich auf irgendwelche Details zu berufen, von innen heraus ehrlich ist (Ps 51,6).
um Verpflichtungen auszuweichen. 23,27.28 Das siebte »Wehe« wendet
23,23.24 Das fünfte »Wehe« richtet sich ebenfalls gegen Äußerlichkeiten.
sich gegen die Beachtung von Ritualen Der Unterschied zum sechsten »Wehe«
ohne geistliche Substanz. Die Schriftge- ist, daß es dort um die Verheimlichung
lehrten und Pharisäer waren äußerst der Habsucht geht, während es im sieb-
genau, wenn es darum ging, auch von ten um die Verheimlichung von Heuche-
den unbedeutendsten Küchenkräutern lei und Gesetzlosigkeit geht.
den Zehnten zu geben. Jesus fand es Gräber waren damals weiß getüncht,
nicht verurteilungswürdig, auch in die- so daß Juden sie nicht unabsichtlich
sen kleinen Dingen gehorsam zu sein, berührten und sich damit unrein mach-
aber er griff sie deshalb an, weil sie so ten. Jesus verglich die Schriftgelehrten
außerordentlich skrupellos wurden, und Pharisäer mit solchen »übertünch-
wenn es darum ging, anderen gegenüber ten Gräbern«, die von außen sehr sauber
Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Zu- aussahen, aber voll von Verfall waren.
verlässigkeit zu zeigen. Er verwendete Die Menschen meinten, daß Kontakt mit
ein unübertroffenes ausdrucksstarkes diesen religiösen Führern heiligen wür-
Sprachbild, indem er sie beschrieb, wie de, aber in Wirklichkeit war das eine
sie zwar Mücken aussieben, aber Kamele verunreinigende Erfahrung, weil sie vol-
verschlucken. Die Mücke, ein kleines ler Heuchelei und Gesetzlosigkeit waren.
Insekt, das manchmal in einen Becher 23,29.30 Das letzte »Wehe« könnte
süßen Weins fiel, wurde oft ausgesiebt, man mit »außen Verehrung, innen Mord-
indem man den Wein beim Trinken gedanken« beschreiben. Die Schriftge-
durch die Zähne zog. Wie lächerlich, sol- lehrten und Pharisäer gaben vor, die Pro-
chen Nebensächlichkeiten eine derartige pheten des Alten Testamentes zu ehren,
Aufmerksamkeit zu schenken, und dann indem sie ihnen Grabmäler bauten
das größte in Israel bekannte unreine und/oder diese instand hielten und sie
Tier zu verschlucken! Die Pharisäer wa- dann mit Kränzen schmückten. In Ge-
ren unaufhörlich mit Kleinigkeiten be- denkreden sagten sie, sie würden nie
schäftigt, aber sie waren äußerst blind daran teilgenommen haben, als ihre Vor-
gegenüber wirklich schlimmen Sünden fahren die Propheten umbrachten.
wie Heuchelei, Unehrlichkeit, Grausam- 23,31 Jesus sagte ihnen: »So gebt ihr
keit und Habsucht. Sie hatten ihr Gefühl euch selbst Zeugnis, daß ihr Söhne derer
für Proportionen verloren. seid, welche die Propheten ermordet
23,25.26 Das sechste »Wehe« betrifft haben.« Aber wie bezeugten sie das? Es
die Äußerlichkeit. Die Pharisäer, die sorg- scheint aus dem vorhergehenden Vers
fältig darauf achteten, daß ein äußerer hervorzugehen, daß sie sich von ihren
Schein der Religiosität und Sitte gewahrt Vorfahren lossagen wollten, die die Pro-
blieb, hatten Herzen, die voll Raub und pheten getötet haben. Erstens gaben sie
44)
Unenthaltsamkeit sind. Sie sollten zu, daß ihre Väter, von denen sie leibliche
»zuerst das Inwendige des Bechers« rei- Söhne waren, das Blut der Propheten
nigen, d. h. sichergehen, daß ihre Herzen vergossen hatten. Aber Jesus benutzte

130
Matthäus 23

das Wort so, daß es diejenigen meint, religiösen Führer Israels die angesammel-
deren Charakter genauso ist. Er wußte, te Schuld der Geschichte des Märtyrer-
auch wenn sie die Gräber der Propheten tums auf sich laden. Auf sie würde »alles
schmückten, planten sie bereits seinen gerechte Blut, das auf der Erde vergossen
Tod. Zweitens sagten sie, indem sie den wurde, von dem Blut Abels, des Gerech-
toten Propheten solche Ehre erwiesen: ten, bis zu dem Blut Zacharias« kommen,
»Die einzigen guten Propheten sind tote dessen gewaltsamer Tod in 2. Chronika
Propheten.« In diesem Sinne waren sie 24,20.21 geschildert wird, dem letzten
also echte Söhne ihrer Vorfahren. Buch des hebräischen AT.
23,32 Dann fügte unser Herr hinzu: 23,36 Die Schuld der gesamten Ver-
»Und ihr, macht nur das Maß eurer Väter gangenheit, sollte über das Geschlecht
voll!« Die Väter hatten sich das Maß des oder die Rasse kommen, von der Chri-
Mordes durch ihren Mord an den Pro- stus sprach, als ob alles vorhergehende
pheten gefüllt. Die Schriftgelehrten und Vergießen unschuldigen Blutes irgend-
Pharisäer füllten es bis zum Rand, indem wie im Tod des sündlosen Retters zusam-
sie den Herrn Jesus und seine Nachfolger mengefaßt und zu seinem Höhepunkt
töteten, und so zu einem schrecklichen geführt würde. Eine schreckliche Strafe
Höhepunkt führten, was ihre Väter würde über das Volk kommen, das sei-
begonnen hatten. nen Messias ohne Grund haßte und ihn
23,33 An diesem Punkt spricht der ans Verbrecherkreuz schlug.
Christus Gottes die donnernden Worte:
»Schlangen! Otternbrut! Wie solltet ihr O. Jesus klagt über Jerusalem
dem Gericht der Hölle entfliehen?« Kann (23,37-39)
die menschgewordene Liebe solche ver- 23,37 Es ist von großer Bedeutung, daß
nichtenden Worte äußern? Ja, weil wahre das Kapitel, das sich mehr als jedes ande-
Liebe auch gerecht und heilig sein muß. re mit den Wehrufen des Herrn Jesus
Das populäre Bild von Jesus als harmlo- beschäftigt, mit seinen Tränen endet!
ser Reformer, der keines Gefühls als der Nach seiner bitteren Anklage gegen die
Liebe fähig ist, ist unbiblisch. Liebe kann Pharisäer klagt er über die Stadt, die ihre
hart, aber sie muß immer gerecht sein. Chance vertan hat. Die Wiederholung
Es ist eine wichtige Tatsache, der wir des Namens »Jerusalem, Jerusalem« ist
uns erinnern sollten, daß diese verurtei- sehr gefühlsgeladen. Jerusalem hat seine
lenden Worte religiösen Führern gelten Propheten getötet und Gottes Botschaf-
und nicht etwa Trunkenbolden oder Her- ter gesteinigt, und doch liebte der Herr
untergekommenen. In einem Zeitalter die Stadt und hatte oft beschützend und
der Ökumene, in dem einige evangelika- liebevoll ihre Kinder zu sich versammelt
le Christen sich mit den erklärten Fein- – »wie eine Henne ihre Küken versam-
den des Kreuzes Christi zusammentun, melt« – aber sie wollte nicht.
ist es gut, das Beispiel Jesu zu bedenken 23,38 Der Herr Jesus beendet seine
und sich der Worte Jehus an Josaphat zu Klage mit den Worten: »Siehe, euer Haus
erinnern: »Sollst du so dem Gottlosen wird euch öde gelassen.« Zunächst ist
helfen und die lieben, die den Herrn has- mit dem Haus der Tempel gemeint, aber
sen?« (2. Chron 19,2). auch die Stadt Jerusalem und die Nation
23,34.35 Jesus sah nicht nur seinen selbst könnten darin einbezogen sein. Es
eigenen Tod voraus, er sagte den Schrift- würde eine Zeitphase zwischen seinem
gelehrten und Pharisäern auch offen, daß Tod und seinem zweiten Kommen ge-
sie einige seiner Boten, die er senden wür- ben, in welcher das ungläubige Israel ihn
de, ermorden würden – Propheten und nicht sehen würde (nach seiner Aufer-
Weise und Schriftgelehrte. Einige, die stehung ist der Herr nur noch von Gläu-
dem Märtyrertod entgingen, würden in bigen gesehen worden).
den Synagogen geschlagen und von Stadt 23,39 Dieser Vers weist auf die Wie-
zu Stadt verfolgt werden. So würden die derkunft Christi voraus, wenn ein klei-

131
Matthäus 23 und 24

ner gläubiger Teil Israels ihn als ihren daran, wie bei Hesekiels Schilderung die
Messias-König annehmen wird. Diese Herrlichkeit den Tempel verläßt (Hes 9,3;
Annahme zeigt sich durch die Worte: 10,4; 11,23).
»Gepriesen sei, der da kommt im Namen Die Jünger wollten, daß der Herr mit
des Herrn!« ihnen die architektonische Schönheit des
Es wird hiermit jedoch keinesfalls Tempels bewundere. Sie beschäftigten
angedeutet, daß diejenigen, die Christus sich mit dem Vergänglichen statt mit dem
umgebracht haben, eine zweite Chance Ewigen, mit Schatten statt mit dem Ei-
bekommen. Er sprach hier von Jerusalem gentlichen. Jesus sagte voraus, daß dieses
und damit bildlich von ihren Einwohnern Gebäude so gründlich zerstört werden
und von Israel im allgemeinen. Der näch- würde, daß »nicht ein Stein auf dem ande-
ste Zeitpunkt, an dem die Einwohner ren gelassen« werden würde. Titus ver-
Jerusalem Jesus sehen werden ist die Zeit, suchte vergeblich, den Tempel zu retten,
wenn sie auf ihn schauen, den sie durch- doch seine Soldaten hatten schon eine
bohrt haben und um ihn trauern werden Fackel hineingeworfen und vollführten so
wie um den einzigen Sohn (Sach 12,10). die Prophezeiung Jesu. Als das Feuer die
Nach jüdischer Ansicht ist keine Trauer so Goldverzierungen schmolz, lief das Gold
tief wie die um den einzigen Sohn. zwischen den Steinen entlang. Um dieses
Gold zu erhalten, mußten die Soldaten
XIII. Die Königsrede auf dem Ölberg jeden Stein wegnehmen, wie es unser
(Kap. 24 und 25) Herr vorausgesagt hatte. Dieses Gericht
Die Kapitel 24 und 25 bilden eine Rede, erfüllte sich im Jahr 70 n. Chr., als die
die als Ölbergrede bekannt ist. Sie wurde Römer unter Titus Jerusalem eroberten.
so genannt, weil diese wichtigen Aussa-
gen auf dem Ölberg gemacht wurden. B. Die erste Hälfte der Drangsalszeit
Die Rede ist vollständig prophetisch und (24,3-14)
zeigt uns die Drangsalszeit und die Wie- 24,3 Nachdem Jesus zum Ölberg hin-
derkunft Christi. Sie betrifft in erster übergegangen war, »traten seine Jünger
Linie Israel, aber nicht ausschließlich. Ihr für sich allein zu ihm« und stellten ihm
Ort ist offensichtlich das Land Palästina – drei Fragen:
beispielsweise »dann sollen die in Judäa 1. »Wann wird das sein«, d. h. wann soll
auf die Berge fliehen« (24,16). Sie ist im der Tempel zerstört werden?
jüdischen Umfeld angesiedelt – z. B. 2. »Was ist das Zeichen seiner Wieder-
»Betet aber, daß eure Flucht nicht . . . kunft«, d. h. welche übernatürlichen
geschehe . . . am Sabbat« (24,20). Der Ereignisse würden seiner Wieder-
Hinweis auf die »Auserwählten« (24,22) kunft auf die Erde und der Errich-
bezieht sich auf die jüdischen Auserwähl- tung des Reiches vorausgehen?
ten Gottes, nicht auf die Gemeinde. Die 3. Was ist das Zeichen für die »Vollen-
Gemeinde wird weder in den Prophezei- dung des Zeitalters?«, d. h. was wür-
ungen noch in den Gleichnissen der Rede de das Ende der Welt kurz vor seiner
erwähnt, wie wir zu zeigen versuchen Herrschaft in Herrlichkeit anzeigen?
werden. (Die zweite und die dritte Frage sind
im wesentlichen gleich).
A. Jesus sagt die Zerstörung des Wir müssen uns erinnern, daß das
Tempels voraus (24,1.2) Denken dieser jüdischen Jünger sich mit
24,1.2 Die Rede wird durch die wichtige dem herrlichen Zeitalter des Messias auf
Aussage eingeleitet, daß Jesus hinaustrat Erden beschäftigte. Sie dachten nicht an
und vom Tempel wegging. Dieser Auf- das Kommen Christi für die Gemeinde,
bruch ist in Anbetracht der Worte, die er denn sie wußten wenig, wenn überhaupt
gerade geäußert hatte, besonders be- etwas, über diesen Abschnitt seiner Wie-
deutsam: »Siehe, euer Haus wird euch derkunft. Sie erwarteten sein Kommen in
öde gelassen« (23,38). Sie erinnert uns Macht und Herrlichkeit, wenn er seine

132
Matthäus 24

Feinde vernichten und über die Welt rer werden Juden sein, die behaupten,
herrschen würde. »der Christus« zu sein.
Außerdem sollten wir uns klarma- 24,6.7 Es wird Kriege und Kriegs-
chen, daß sie nicht nach dem Ende der gerüchte geben. »Denn es wird sich Nati-
Welt fragten (wie die Lutherbibel on gegen Nation erheben und Königreich
schreibt), sondern nach dem Ende des gegen Königreich.« Man könnte leicht
»Zeitalters« (gr. aion). meinen, daß wir die Erfüllung dieser Pro-
Ihre erste Frage wurde nicht direkt phetie heute erleben, aber was wir heute
beantwortet. Es scheint, daß der Retter sehen, ist mit der Wiederkunft verglichen
hier die Eroberung Jerusalems im Jahr 70 harmlos. Die nächste Station des Planes
n. Chr. (s. Lk 21,20-24) mit einer ähnli- Gottes ist die Entrückung der Gemeinde
chen Eroberung in den letzten Tagen (Joh 14,1-6; 1. Kor 15,51-57). Keine dieser
zusammen sieht. Wenn wir die Prophetie Prophezeiungen wird sich vorher erfül-
studieren, dann sehen wir oft, wie der len. Wenn die Gemeinde weggenommen
Herr scheinbar ohne Übergang von einer ist, dann wird Gottes prophetische Uhr
frühen, teilweisen Erfüllung zur späte- schlagen und diese Bedingungen werden
ren, endgültigen Erfüllung übergeht. sich schnell einstellen. In verschiedenen
Die zweite und die dritte Frage wer- Teilen der Erde wird es »Hungersnöte,
den in den Versen 4-44 von Kapitel 24 Seuchen und Erdbeben« geben. Schon
beantwortet. Die Verse beschreiben die heute sind die Führer der Welt wegen der
sieben Jahre der Drangsalszeit, die Christi Gefahr von Hungersnöten als Folge der
Wiederkunft in Herrlichkeit vorausgehen Bevölkerungsexplosion besorgt. Aber die
wird. Die ersten dreieinhalb Jahre werden Not wird durch die Auswirkungen von
in den Versen 4-14 beschrieben. Die zwei- Kriegen noch größer werden.
ten dreieinhalb Jahre, die auch unter dem »Erdbeben« ziehen immer mehr Auf-
Namen »die große Trübsal« und als »Zeit merksamkeit auf sich, und zwar nicht
der Bedrängnis Jakobs« bekannt sind, nur die, die schon stattgefunden haben,
werden eine Zeit nie dagewesener Leiden sondern auch die, die erwartet werden.
für die Menschen auf Erden werden. Aber wieder ist es nur Spreu im Wind,
Viele der Bedingungen, die die erste nicht jedoch die wirkliche Erfüllung der
Hälfte der Drangsalszeit bestimmen, hat Worte unseres Retters.
es bis zu einem gewissen Maß in der 24,8 Vers 8 bezeichnet diese Zeit sehr
gesamten menschlichen Geschichte ge- genau als den »Anfang der Wehen« – der
geben, jedoch werden sie in der Drang- Beginn der Schmerzen einer Geburt, die
salszeit in vermehrter Weise erscheinen. eine neue Ordnung unter Israels Mes-
Den Gliedern der Gemeinde ist Drangsal sias-König bringen wird.
vorhergesagt (Joh 16,33), aber sie unter- 24,9.10 Treue Gläubige werden wäh-
scheidet sich sehr von der Drangsal, die rend der Drangsal schwer erprobt wer-
über eine Welt kommen wird, die den den. Die Nationen werden bittere Haß-
Sohn Gottes abgelehnt hat. kampagnen gegen alle führen, die dem
Wir glauben, daß die Gemeinde aus Herrn treu sind. Sie werden nicht nur vor
der Welt genommen wird (1. Thess 4,13- zivile und religiöse Gerichte geführt wer-
18), ehe der Tag des Zornes Gottes be- den (Mk 13,9), sondern viele werden den
ginnt (1. Thess 1,10; 5,9; 2. Thess 2,1-12; Märtyrertod sterben, weil sie sich wei-
Offb 3,10). gern zu widerrufen. Es gab zwar solche
24,4.5 In der ersten Hälfte der Erprobungen schon zu allen Zeiten des
Drangsal werden viele falsche Messiasse Christentums, doch bezieht sich diese
auftreten, denen es gelingen wird, die Erwähnung besonders auf die 144 000
Massen zu verführen. Das gegenwärtige jüdischen Gläubigen, die in dieser Zeit
Entstehen von Sekten und Kulten mag eine besondere Mission haben.
ein Vorspiel dazu sein, aber noch keine Viele werden lieber widerrufen, als
Erfüllung. Diese falschen religiösen Füh- leiden und sterben. Familienangehörige

133
Matthäus 24

werden ihre eigenen Verwandten denun- 4,23 schon erklärt haben, ist »das Evange-
zieren und sie in die Hand ihrer Verfol- lium des Reiches« die gute Nachricht, daß
ger überliefern. Christus kommt, um sein Reich auf Erden
24,11 »Viele falsche Propheten« wer- zu errichten, und daß diejenigen, die ihn
den erscheinen und viele Menschen ver- während der Drangsal im Glauben an-
führen. Man darf sie nicht mit den nehmen, die Segnungen seines Tausend-
falschen Messiassen in Vers 5 verwech- jährigen Reiches genießen werden.
seln. Falsche Propheten behaupten, im Vers 14 wird oft mißbraucht, um zu
Namen Gottes zu reden. Sie können auf beweisen, daß Christus nicht jederzeit
zweierlei Weise geprüft werden: Ihre wiederkommen kann, um seine Gemein-
Prophezeiungen treffen nicht immer zu de zu sich zu nehmen, weil so viele Völ-
und ihre Predigt lenkt die Menschen ker und Stämme das Evangelium noch
immer vom wahren Gott weg. Die Er- nicht gehört haben. Die Schwierigkeit
wähnung falscher Propheten bestätigt entfällt, wenn wir erkennen, daß sich
unsere Behauptung, daß die Drangsal dies auf sein Kommen mit seinen Hei-
sich im wesentlichen auf Juden bezieht. ligen und nicht für seine Heiligen be-
Falsche Propheten gehören zu Israel, in zieht. Außerdem bezieht sich der Vers
der Gemeinde dagegen liegt die Gefahr auf das Evangelium des Reiches, nicht auf
bei falschen Lehrern (2. Petr 2,1). das Evangelium von der Gnade Gottes
24,12 »Weil die Gesetzlosigkeit über- (s. Anmerkungen zu Kap. 4,23).
hand nimmt« werden die menschlichen Es gibt eine erstaunliche Parallele
Gefühle verkümmern und Lieblosigkei- zwischen den Vorgängen in den Versen
ten normal werden. 3-14 und denen in Offenbarung 6,1-11.
24,13 »Wer aber ausharrt bis ans Der Reiter auf dem weißen Pferd –
Ende, der wird errettet werden.« Das »falsche Messiasse«. Der Reiter auf dem
bedeutet offensichtlich nicht, daß die roten Pferd – »Kriege«. Der Reiter auf
Seelen der Menschen dieses Zeitalters dem schwarzen Pferd – »Hungersnot«.
durch ihr Ausharren gerettet werden. Der Reiter auf dem fahlen Pferd – »Seu-
Die Rettung ist in der Bibel immer ein chen« oder Tod. Die Seelen unter dem
Geschenk der Gnade Gottes, das im Altar sind die Märtyrer. Die Vorgänge,
Glauben an den stellvertretenden Tod die in Offenbarung 6,12-17 beschrieben
Jesu Christi und seine Auferstehung werden, sind mit denen in Matthäus
erlangt wird. Auch kann es nicht bedeu- 24,19-31 eng verbunden.
ten, daß alle, die ausharren, körperlich
unversehrt bleiben, denn wir haben C. Die große Trübsal (24,15-28)
schon gehört, daß viele Gläubige den 24,15 Hier haben wir die Mitte der Trüb-
Märtyrertod sterben werden (V. 9). Wir salszeit erreicht. Wir sehen dies, wenn
haben hier die allgemeine Aussage, daß wir Vers 15 mit Daniel 9,27 vergleichen.
die, die standhaft bleiben und die Verfol- Daniel sagte voraus, daß in der Mitte der
gung durchstehen ohne abzufallen, bei siebzigsten Woche, das heißt nach drei-
der Wiederkunft Christi befreit werden. einhalb Jahren, ein Götzenbild im Heilig-
Niemand soll auf die Idee kommen, Ab- tum, d. h. im Tempel von Jerusalem, er-
fall sei ein Mittel, um zu entkommen richtet werden wird. Allen Menschen
oder sogar Sicherheit zu erlangen. Nur wird befohlen werden, dieses abscheuli-
diejenigen, die wirklich glauben, werden che Götzenbild zu verehren. Wer sich
errettet werden. Auch wenn der rettende weigert, wird mit dem Tode bestraft wer-
Glaube manchmal schwach wird, so ist den (Offb 13,15).
er doch immer von dauerhafter Qualität. »Wenn ihr nun den Greuel der Ver-
24,14 In der hier beschriebenen Zeit wüstung, von dem durch Daniel, dem
wird »das Evangelium des Reiches« welt- Propheten, geredet ist, an heiliger Stätte
weit verkündigt, »allen Nationen zu einem stehen seht – wer es liest, der merke auf!«
Zeugnis«. Wie wir in den Bemerkungen zu Die Errichtung des Götzenbildes ist ein

134
Matthäus 24

Signal für diejenigen, die das Wort Got- während der die meisten Morde und
tes kennen, daß die Große Trübsal begon- Kämpfe stattfinden. »Um der Auser-
nen hat. Man beachte, daß der Herr wählten willen« (diejenigen, die Jesus
möchte, daß diejenigen, die die Prophe- angenommen hatten) wird der Herr die
zeiung lesen, sie auch »verstehen« (An- Fluchtmöglichkeit in längerer Dunkel-
merkung Elberfelder Bibel). heit schaffen.
24,16 Wer dann in Judäa ist, soll »auf 24,23-26 Die Verse 23 und 24 enthal-
die Berge fliehen«, weil schnell entdeckt ten eine erneute Warnung vor falschen
würde, daß sie sich vor dem Götzenbild Messiassen und falschen Propheten. In
nicht beugen wollen, würden sie in der einer Zeit der Krise werden viele Gerüch-
Gegend von Jerusalem bleiben. te umgehen, daß der Messias sich an
24,17-19 Das soll in äußerster Eile einem geheimen Ort aufhält. Solche Ge-
geschehen. Wenn jemand auf dem Dach rüchte könnten benutzt werden, um die-
sitzt, so soll er all seinen Besitz zurück- jenigen in die Falle zu führen, die ernst-
lassen. Die Zeit, die er bräuchte, um sei- haft und voller Liebe nach Christus Aus-
ne Habe zusammenzupacken, kann den schau halten. Deshalb warnt der Herr
Unterschied zwischen Tod und Leben alle Jünger, solche Bericht von einer örtli-
entscheiden. Wer auf dem Feld arbeitet, chen, geheimen Wiederkunft nicht zu
»soll nicht zurückkehren, um seinen glauben. Sogar diejenigen, die offensicht-
Mantel zu holen«, wo immer er liegen lich Wunder tun, sind nicht notwendi-
mag. Schwangere und Stillende werden gerweise von Gott gesandt, denn Wun-
sehr benachteiligt sein, da es für sie der können auch satanischen Ursprungs
schwierig ist, schnell zu fliehen. sein. Der Mensch der Sünde wird satani-
24,20 Die Gläubigen sollen Beten, daß sche Macht erhalten, damit er Wunder
diese Krise nicht in den Winter fällt, wo tun kann (2. Thess 2,9.10).
es schwierig ist zu reisen, und auch nicht 24,27 Die Wiederkunft Christi kann
auf einen Sabbat, weil an diesem Tage niemand verpassen – sie wird plötzlich,
ihre Reisedistanz durch das Gesetz be- offen, universell und herrlich sein. Wie
schränkt ist (2. Mose 16,29). Ein Sabbat- der Blitz wird sie gleichzeitig und deut-
weg wäre für sie nicht genug, um aus der lich für alle sichtbar sein.
Gefahrenzone zu kommen. 24,28 Keine moralische Verdorben-
24,21 »Denn dann wird große heit wird seinem Zorn und Gericht ent-
Drangsal sein, wie sie von Anfang der gehen können. »Wo das Aas ist, da wer-
Welt bis jetzt nicht gewesen ist noch je den sich die Adler versammeln.« Die
sein wird.« Diese Beschreibung nimmt Kadaver stehen für das abgefallene
diese Zeit aus von allen Zeiten, die wir Juden- und Christentum und das gesam-
bisher erlebt haben: Inquisition, Progro- te Weltsystem, das sich gegen Gott und
me, Säuberungsaktionen, Massaker und seinen Christus vereinigt hat. Die Adler
Völkermorde. Diese Prophezeiung kann oder Geier sind Bilder der Gerichte Got-
sich nicht durch eine der bisherigen Ver- tes, die im Zusammenhang mit der Wie-
folgungen erfüllt haben, weil klar ausge- derkunft des Messias entfacht werden.
sagt ist, daß diese Zeit mit der Wieder-
kunft Christi endet. D. Die Wiederkunft (24,29-31)
24,22 Die Trübsal wird so schwer 24,29 Am Ende der Großen Trübsal wird
sein, daß, »wenn jene Tage nicht verkürzt es am Himmel beängstigende Erschei-
würden«, kein Mensch überleben würde. nungen geben. Die Sonne wird »verfin-
Das kann nicht bedeuten, daß die Große stert«, und da der Mond sein Licht von
Trübsal, von der so oft gesagt wird, daß der Sonne erhält, wird auch er nicht
sie dreieinhalb Jahre andauert, kürzer mehr scheinen. »Die Sterne werden vom
gemacht wird. Es bedeutet wahrschein- Himmel fallen« und Planeten werden
lich, daß Gott auf wunderbare Weise die ihre Bahnen verlassen. Es ist nicht not-
Zeit des Tageslichtes verkürzen wird – wendig zu erwähnen, daß solch ein Auf-

135
Matthäus 24

ruhr im Weltall das Wetter, die Gezeiten Dann werden sie »den Sohn des Men-
und Jahreszeiten auf der Erde beeinflus- schen kommen sehen auf den Wolken
sen wird. des Himmels mit großer Macht und
Eine schwache Vorstellung dieser Herrlichkeit«. Welch ein wunderbarer
Vorgänge mag uns eine Beschreibung der Augenblick! Der Eine, der angespuckt
Ereignisse geben, die geschehen würden, und gekreuzigt worden ist, wird vor den
wenn ein Himmelskörper die Erde tref- Menschen als Herr des Lebens und der
fen und die Erdachse verschieben würde. Herrlichkeit gerechtfertigt werden. Der
Sofort würde ein Erdbeben die Erde demütige und bescheidene Jesus wird als
erschüttern, Luft und Wasser würden sich Jahwe selbst erscheinen. Das Opferlamm
durch die Trägheit weiterbewegen, Hurrikans kommt als der erobernde Löwe. Der ver-
würden über Land und Meer fegen, das Meer achtete Zimmermann aus Nazareth wird
würde die Kontinente überfluten und dabei als König der Könige und Herr der Her-
Sand, Steine und Meerestiere mit sich führen ren kommen. Er wird in königlicher
und an Land werfen. Überall würde Rei- Macht und Herrlichkeit kommen – der
bungshitze entstehen, Felsen schmelzen, Augenblick, auf den die Schöpfung seit
Vulkane ausbrechen, Lava aus Erdspalten Tausenden von Jahren sehnsüchtig ge-
treten und große Gebiete bedecken. Berge wartet hat.
würden in Ebenen entstehen und sich über 24,31 Wenn er herabkommt, dann
andere Berge schieben, dabei entstehen Ver- wird er »seine Engel aussenden mit star-
werfungen und Erdspalten. Seen würden kem Posaunenschall, und sie werden sei-
erschüttert und geleert, Flüsse neue Betten ne Auserwählten versammeln«, das
suchen, große Landflächen mit allen Bewoh- gläubige Israel in das Land Palästina.
nern würden im Meer versinken. Wälder Von den Enden der Erde werden sie sich
würden brennen, Stürme und Meeresmassen versammeln, um ihren Messias zu emp-
würden sie aus dem Boden reißen, auf dem sie fangen und seine herrliche Herrschaft zu
wachsen und sie mit Ästen und Wurzeln zu genießen.
hohen Bergen auftürmen. Seen würden zu
Wüsten, weil ihr Wasser abfließt.
45) E. Das Gleichnis vom Feigenbaum
24,30 »Und dann wird das Zeichen (24,32-35)
des Sohnes des Menschen am Himmel 24,32 »Von dem Feigenbaum aber lernt
erscheinen.« Uns wird nicht gesagt, wel- das Gleichnis.« Wieder benutzt der Herr
ches Zeichen das sein wird. Sein erstes ein Bild aus der Natur, um eine geistliche
Kommen auf Erden war von einem Him- Wahrheit zu verdeutlichen. Wenn die
melszeichen begleitet, dem Stern. Viel- Zweige am Feigenbaum grün und »weich
leicht wird auch ein wunderbarer Stern geworden« sind, »so erkennt ihr, daß der
sein zweites Kommen ankündigen. Eini- Sommer nahe ist«. Wir haben gesehen,
ge sind der Auffassung, daß der Sohn des daß der Feigenbaum ein Bild für das Volk
Menschen selbst das Zeichen sein wird. Israel ist (21,18-22). Hunderte von Jahren
Was immer damit gemeint ist, es wird für hat Israel geschlafen, hatte keine eigene
alle eindeutig sein, wenn es erscheint. Regierung, kein Land, keinen Tempel und
»Dann werden wehklagen alle Stämme keine Priesterschaft – es gab kein Zeichen
des Landes« – zweifellos deshalb, weil sie für seine Staatlichkeit. Die Israeliten sind
ihn abgelehnt haben. Aber in erster Linie über die ganze Welt verstreut worden.
46)
werden die Stämme des Landes wehkla- Dann, 1948, wurde Israel wieder ein
gen – die zwölf Stämme Israels. ». . . und Volk mit einem eigenen Land, einer Re-
sie werden auf mich blicken, den sie gierung, eigener Währung, eigenen
durchbohrt haben, und werden über ihn Briefmarken usw. Geistlich ist dieses
wehklagen, wie man über den einzigen Volk noch immer verwüstet und kalt, es
Sohn wehklagt, und werden bitter über gibt keine Frucht für Gott. Aber als Staat,
ihn weinen, wie man bitter über den Erst- können wir sagen, sind seine Zweige
geborenen weint« (Sach 12,10). grün und weich.

136
Matthäus 24

24,33 »So sollt auch ihr, wenn ihr dies sias anzuerkennen. Ich denke, er sagte
alles seht, erkennen, daß es nahe an der voraus, daß das Volk Israel so lange in
Tür ist.« Israels Grünen zu einem eige- seiner ablehnenden Haltung ihm gegen-
nen Staat bedeutet nicht nur, daß die über verharren würde, bis er wiederkä-
Trübsal, sondern der Herr selbst nahe ist, me. Dann würde alle Auflehnung zer-
»nahe an der Tür!« stört, und nur die, die sich willentlich sei-
Wenn das Kommen Christi zur Herr- ner Herrschaft unterwerfen, werden ver-
schaft so nahe ist, wieviel näher ist dann schont, um in das Tausendjährige Reich
die bevorstehende Entrückung der zu gelangen.
Gemeinde? Wenn wir schon die Schatten 24,35 Um den unfehlbaren Charakter
der Ereignisse sehen, die seiner Wieder- seiner Voraussagen zu unterstreichen,
kunft in Herrlichkeit vorausgehen, wie- fügte Jesus hinzu: »Der Himmel und die
viel näher sind wir dann der ersten Pha- Erde werden vergehen, meine Worte
se seiner Parusie, oder Wiederkunft (1. aber sollen nicht vergehen.« Indem er
Thess 4,13-18)? davon sprach, daß der Himmel vergehen
24,34 Nachdem Jesus auf den Feigen- würde, bezog er sich auf den Himmel,
baum hingewiesen hat, fügt er hinzu: wie wir ihn sehen: unsere Atmosphäre
»Wahrlich, ich sage euch: Dieses Ge- und das Weltall – das blaue Firmament
schlecht wird nicht vergehen, bis dies alles über uns; nicht jedoch auf den Himmel,
geschehen ist.« »Dieses Geschlecht« kann als den Wohnort Gottes (2. Kor 12,2-4).
nicht die Menschen bedeuten, die lebten, Das Vergehen von Himmel und Erde ist
als Christus auf der Erde war, denn sie in 2. Petrus 3,10-13 beschrieben und
sind alle gestorben, obwohl die Ereignisse nochmals in Offenbarung 20,11 erwähnt.
von Kapitel 24 noch nicht stattgefunden
haben. Was meinte unser Herr nun mit F. Tag und Stunde sind unbekannt
dem Ausdruck »dieses Geschlecht«? Es (24,36-44)
gibt zwei plausible Erklärungen: 24,36 Was den genauen Tag und die ge-
F. W. Grant und andere glauben, daß naue Stunde seines zweiten Kommens
der Gedanke dahintersteht: »Die Genera- angeht, so »weiß niemand, auch nicht die
48)
tion, die die Anfänge hiervon erlebt, Engel in den Himmeln , sondern mein
47)
wird auch das Ende erleben.« Die glei- Vater allein« davon. Das sollte uns vor der
chen Menschen, die sehen, wie Israel sei- Versuchung bewahren, Daten zu berech-
ne Eigenstaatlichkeit zurückgewinnt nen oder denen zu glauben, die das tun.
(oder die den Anfang der Trübsal erle- Wir sind nicht erstaunt, daß die Engel es
ben), werden auch den Herrn Jesus in nicht wissen; sie sind begrenzte Geschöp-
den Wolken des Himmels kommen fe mit ebenso begrenztem Wissen.
sehen, um zu regieren. Während diejenigen, die vor der Wie-
Die andere Erklärung ist, daß »Ge- derkunft Christi leben, den Tag oder die
schlecht« so viel wie Rasse bedeutet. Das Stunde nicht kennen werden, scheint es
ist eine gerechtfertigte Übersetzung des doch möglich zu sein, daß diejenigen, die
griechischen Wortes, es bedeutet so viel mit der Prophetie vertraut sind, das Jahr
wie Menschen der gleichen Art, Herkunft herausfinden könnten. Sie werden zum
oder Familie (s. Matth 12,45; 23,35. 36). Beispiel wissen, daß es noch etwa drei-
Demnach sagte Jesus voraus, daß die jüdi- einhalb Jahre dauern wird, nachdem das
sche Rasse überleben würde, um die Voll- Götzenbild im Tempel errichtet worden
endung von all diesem zu erleben. Ihr ist (Dan 9,27; s. a. Dan 7,25; 12,7.11;
Überleben bis heute, trotz schärfster Ver- Offb 11,2.3; 12,14; 13,5).
folgungen, ist ein Wunder der Geschichte. 24,37-39 In diesen Tagen werden
Aber ich meine, es gibt hier noch jedoch die meisten Menschen, genau wie
einen weiteren Gedanken. In den Tagen zur Zeit Noahs, gleichgültig sein. Ob-
Jesu war »dieses Geschlecht« eine Rasse, wohl die Menschen in der Zeit vor der
die sich standhaft weigerte, ihn als Mes- Flut schrecklich verdorben waren, wird

137
Matthäus 24 und 25

dieser Umstand hier nicht weiter er- durch sein Verhalten im Ausblick auf die
wähnt. Die Menschen »aßen und tran- Rückkehr seines Herrn seinen wahren
ken, sie heirateten und verheirateten« Charakter offenbart. Von allen Knechten
sich, mit anderen Worten, sie lebten so, wird erwartet, daß sie den Leuten des
als ob sie ewig leben würden. Obwohl sie Hauses zur rechten Zeit zu essen geben.
vor der kommenden Flut gewarnt wor- Aber nicht alle, die bekennen, zu Chri-
den waren, lebten sie, als ob ihnen die stus zu gehören, sind wirklich sein.
Flut nichts anhaben könne. Als sie dann Der treue Knecht ist einer, der zur
kam, waren sie unvorbereitet und außer- Zeit der Wiederkunft bei der Sorge für
halb des einzigen sicheren Ortes, der Gottes Volk gefunden wird. Solch ein
Arche. Genauso wird es sein, wenn Chri- Knecht wird im Reich mit großer Verant-
stus wiederkommen wird. Nur diejeni- wortung geehrt werden. Der Herr »wird
gen, die in Christus sind, in der sicheren ihn über seine ganze Habe setzen«.
Arche, werden befreit werden. 24,48-51 Der böse Knecht stellt den
24,40.41 »Dann werden zwei auf dem Namenschristen dar, dessen Verhalten
Feld sein, einer wird genommen« wer- durch die Aussicht auf die Wiederkunft
den und ins Gericht kommen, der andere seines Herrn nicht beeinflußt wird. Er
wird »gelassen« werden, damit er ins fängt an, »seine Mitknechte zu schlagen,
Tausendjährige Reich eingeht. »Zwei und ißt und trinkt mit den Betrunkenen«.
Frauen werden an dem Mühlstein mah- Solches Verhalten zeigt, daß er nicht für
len«, doch sie werden sofort getrennt. das Reich vorbereitet ist. Wenn der König
Eine wird durch die Flut des Gerichtes kommt, wird er ihn bestrafen und »ihm
hinweggeschwemmt, die andere wird sein Teil setzen mit den Heuchlern«, wo
dort bleiben dürfen, um die Segnungen die Menschen weinen und mit den Zäh-
der Herrschaft Christi zu erfahren. (Die nen knirschen.
Verse 40 und 41 werden oft als eine War- Dieses Gleichnis bezieht sich auf
nung für die Ungeretteten in bezug auf Christi sichtbare Wiederkunft auf die
die Entrückung benutzt – der jener ersten Erde als Messias-König. Aber das Prin-
Phase des Kommens Christi, wenn er alle zip gilt auch für die Entrückung. Viele
Gläubigen in den Himmel nimmt und Namenschristen zeigen durch ihre
die Ungläubigen zum Gericht zurück- Feindschaft gegen das Volk Gottes und
läßt. Das mag zwar eine mögliche An- ihre Verbrüderung mit den Gottlosen,
wendung des Abschnittes sein, doch der daß sie nicht auf die Wiederkunft Christi
Zusammenhang macht hier deutlich, warten. Für sie wird das Kommen Chri-
daß die Auslegung etwas mit dem Kom- sti Gericht und nicht Segen bedeuten.
men Christi zur Herrschaft zu tun hat.)
24,42-44 In Anbetracht der Unsicher- H. Das Gleichnis von den zehn
heit, wann Jesus wiederkommt, werden Jungfrauen (25,1-13)
die Menschen zum Wachen aufgefordert. 25,1-5 Das erste Wort, »dann«, weist auf
Wenn jemand weiß, daß in sein Haus ein- Kapitel 24 zurück und zeigt, daß dieses
gebrochen werden soll, dann wird er be- Gleichnis seinen Platz in der Zeit vor und
reit sein, auch wenn er die genaue Zeit während der Wiederkunft des Königs
nicht kennt. Der Sohn des Menschen auf die Erde hat. Jesus vergleicht das
wird dann wiederkommen, wenn die Reich der Himmel zu dieser Zeit »mit
Masse der Menschen ihn am wenigsten zehn Jungfrauen, die ihre Lampen nah-
erwartet. Deshalb sollten seine Leute be- men und ausgingen, dem Bräutigam ent-
reit sein und ihn aufmerksam erwarten. gegen. Fünf aber von ihnen waren klug«
und hatten Öl für ihre Lampen, die ande-
G. Das Gleichnis vom treuen und ren hatten keines. Während sie warteten,
untreuen Knecht (24,45-51) schliefen alle ein.
24,45-47 Im letzten Teil dieses Kapitels Die fünf weisen Jungfrauen stehen für
zeigt der Herr Jesus, daß ein Knecht die wahren Jünger Christi während der

138
Matthäus 25

Trübsal. Die Lampen sprechen vom Be- nicht kenne – ein deutliches Zeichen
kenntnis und das Öl wird allgemein als dafür, daß sie nie wiedergeboren wurden.
Bild des Heiligen Geistes gesehen. Die 25,13 Die Lehre, die wir nach Jesu
törichten Jungfrauen verkörpern diejeni- Worten aus diesem Gleichnis ziehen sol-
gen, die bekennen, an der messianischen len, ist zu wachen, weil Tag und Stunde
Hoffnung festzuhalten, die sich aber nie seines Kommens unbekannt sind. Die
bekehrt haben und deshalb den Heiligen Gläubigen sollten leben, als wenn der
Geist nicht haben. Der Bräutigam ist Chri- Herr jeden Augenblick zurückkommen
stus der König, die Zeit des Wartens ist die könnte. Sind unsere Lampen geschmückt
Zeit zwischen seinen beiden Kommen. und mit Öl gefüllt?
Die Tatsache, daß alle zehn Jungfrauen
schliefen, zeigt, daß es äußerlich kaum I. Das Gleichnis von den
einen Unterschied zwischen beiden gab. anvertrauten Talenten (25,14-30)
25,6 Zu Mitternacht wurde der Bräu- 25,14-18 Auch dieses Gleichnis lehrt, daß
tigam angekündigt. Im vorhergehenden es treue und untreue Knechte gibt, wenn
Kapitel haben wir gesehen, daß seine der Herr zurückkehrt. In der Geschichte
Ankunft durch erschreckende Zeichen geht es um einen Mann, der seine Knech-
angekündigt wird. te zusammenrief, ehe er auf eine lange
25,7-9 »Da standen alle jene Jungfrau- Reise ging, und jedem einen bestimmten
en auf und schmückten ihre Lampen«, Geldbetrag gab, »einem jeden nach sei-
denn alle wollten bereit sein. Die törichten ner eigenen Fähigkeit«. Einer erhielt fünf
jedoch, denen das Öl fehlte, baten die an- Talente, ein anderer zwei und der letzte
deren, ihnen etwas abzugeben, doch wur- eines. Sie sollten mit diesem Geld arbei-
den sie gesandt, welches zu kaufen. Die ten, damit es für den Herrn Gewinn
Weigerung der Klugen scheint selbstsüch- brächte. Der Mann mit den fünf Talenten
tig zu sein, aber im geistlichen Bereich gewann »andere fünf Talente« hinzu.
kann niemand dem anderen den Geist Auch der Mann mit den zwei Talenten
geben. Natürlich kann der Geist nicht konnte das Kapital verdoppeln. Aber der
gekauft werden, aber die Bibel verwendet Mann mit dem einen Talent vergrub das
hier das sprachliche Bild des Kaufens der Geld seines Herrn.
Erlösung ohne Geld und ohne Preis. Es ist nicht schwer zu sehen, daß
25,10-12 Während die törichten Jung- Christus der Herr der Knechte ist und die
frauen fort waren, »kam der Bräutigam«. lange Reise sich auf die Zeit zwischen
Die syrische Bibelübersetzung und die der Entrückung und der Wiederkunft
Vulgata sagen hier, daß er mit seiner Christi auf Erden bezieht. Die drei
Braut kam. Das paßt ausgezeichnet in das Knechte sind Israeliten, die während der
prophetische Bild. Der Herr Jesus wird Trübsal leben und dafür verantwortlich
von seiner Hochzeit mit seiner Braut, der sind, die Interessen des abwesenden
Gemeinde, zurückkehren (1. Thess 3,13). Herrn zu vertreten. Ihnen wird Verant-
(Die Hochzeit findet im Himmel nach der wortung entsprechend ihren persönli-
Entrückung statt s. Offb 19,7; 21,2.9). Der chen Fähigkeiten übertragen.
treue Überrest der Heiligen der Trübsals- 25,19-23 »Nach langer Zeit aber
zeit wird mit ihm zum Hochzeitsfest kommt der Herr jener Knechte und rech-
gehen. Das Hochzeitsfest ist eine passen- net mit ihnen ab.« Das ist ein Bild für die
de Bezeichnung der Freude und der Seg- Wiederkunft des Herrn. Die beiden
nungen des irdischen Reiches Christi. Die ersten bekommen exakt das gleiche Lob:
klugen Jungfrauen »gingen mit ihm ein »Recht so, du guter und treuer Knecht!
zur Hochzeit; und die Tür wurde ver- Über weniges warst du treu, über vieles
schlossen«. Es ist dann für alle anderen werde ich dich setzen; geh ein in die
zu spät, in das Reich zu gelangen. Als die Freude deines Herrn.« Die Probe für
anderen Jungfrauen kamen und hinein- ihren Dienst war nicht so sehr, wieviel sie
wollten, betonte der Bräutigam, daß er sie verdient hatten, sondern wie sehr sie sich

139
Matthäus 25

angestrengt hatten. Jeder hatte alle seine wenden können, wir ihn anderen geben
Fähigkeiten eingesetzt und hundert Pro- sollten, die das können. Die Wechsler
zent Gewinn gemacht. Diese beiden ste- sind in diesem Falle Missionare, Bibelge-
hen für die wahren Gläubigen, deren sellschaften, christliche Verlage, Gesell-
Belohnung die Segnungen des Messiani- schaften, die biblische Botschaften im
schen Reiches sein werden. Radio verbreiten usw. In einer Welt wie
25,24.25 Der dritte Knecht hatte sei- der unseren gibt es keine Entschuldi-
nem Herrn nichts als Beleidigungen und gung dafür, Geld nicht arbeiten zu las-
Ausreden zu bieten. Er klagte ihn an, sen. Pierson empfiehlt:
hart und unvernünftig zu sein: »Du ern- Ängstliche Menschen, die für den muti-
test, wo du nicht gesät, und sammelst, gen und unabhängigen Dienst im Reich des
wo du nicht ausgestreut hast.« Er ent- Herrn nicht geeignet sind, können ihre man-
schuldigte sich, daß er, vor Angst ge- gelnden Fähigkeiten mit dem Mut und der
lähmt, das Talent vergraben habe. Dieser Weisheit anderer verbinden, die ihre Gaben
Knecht war zweifellos ungläubig, denn und ihren Besitz für den Herrn und seine
kein echter Knecht des Herrn würde sol- Gemeinde verwenden . . . Der Verwalter hat
che Gedanken über seinen Herrn haben. Geld oder andere Gaben, die von Nutzen sein
25,26.27 Sein Herr tadelte ihn, daß er können, aber er hat nicht genug Glauben,
böse und faul sei. Wenn er schon so von Voraussicht, praktische Energie und Weisheit.
seinem Herrn dachte, warum hatte er das Die »Wechsler« des Herrn können ihm zeigen,
Geld nicht auf die Bank gelegt, um wie sie für den Herrn Gewinn machen können
wenigstens Zinsen zu erwirtschaften? . . . Die Gemeinde existiert teilweise dadurch,
Ganz nebenbei zeigt der Meister, daß er daß die Kraft eines Gliedes der Schwachheit
nicht einer Meinung mit den Anklagen eines anderen aufhilft, und durch die Zusam-
gegen ihn ist. Mit anderen Worten will er menarbeit aller kann die Stärke des Gering-
49)
sagen: »Wenn du meinst, ich sei ein sol- sten und Schwächsten verstärkt werden.
cher Meister, dann hättest du weitaus 25,30 Der »unnütze Knecht« wurde
mehr Grund gehabt, mit dem Talent zu hinausgeworfen – vom Reich ausge-
arbeiten. Deine Worte verurteilen dich, schlossen. Er teilte das schreckliche
statt zu entschuldigen.« Schicksal der Verlorenen. Er wurde nicht
25,28.29 Wenn dieser Mann ebenso für die Tatsache verdammt, daß er das
ein Talent mit seinem Talent erwirtschaf- Geld nicht investiert hatte, sondern sein
tet hätte, hätte er dasselbe Lob wie die Mangel an guten Werken zeigte nur, daß
anderen erhalten. So aber hatte er nur ein er den rettenden Glauben nicht hatte.
Loch im Boden vorzuweisen! Das Talent
wurde ihm genommen und demjenigen J. Der König richtet die Nationen
gegeben, der zehn Talente hatte. Das ent- (25,31-46)
spricht einem festen geistlichen Gesetz: 25,31 Dieser Abschnitt beschreibt das
»Jedem, der da hat, wird gegeben wer- Gericht der Nationen, welches vom
den, und er wird Überfluß haben; von Richterstuhl Christi und dem Gericht vor
dem aber, der nicht hat, von dem wird dem großen weißen Thron unterschie-
selbst, was er hat, weggenommen wer- den werden muß.
den.« Diejenigen, die sich für die Ehre Das Gericht des Richterstuhles Chri-
Gottes einsetzen wollen, werden auch sti, wo nur die Gläubigen geprüft und
die Mittel dazu empfangen. Je mehr sie belohnt werden, liegt zeitlich nach der
tun, desto mehr werden sie auch be- Entrückung (Röm 14,10; 1. Kor 3,11-15;
fähigt, für Gott zu tun. Andererseits ver- 2. Kor 5,9.10). Das Gericht vor dem
lieren wir, was wir nicht nutzen. Un- großen weißen Thron findet in der Ewig-
fruchtbarkeit ist der Lohn für Trägheit. keit nach dem Tausendjährigen Reich
Die Erwähnung der »Wechsler« in statt. Die ungläubigen Toten werden dort
Vers 27 deutet an, daß, wenn wir unseren gerichtet und dem Feuersee übergeben
Besitz nicht direkt für den Herrn ver- (Offb 20,11-15).

140
Matthäus 25

Das Gericht der Nationen oder Hei- selbst entschuldigen, sie hätten ihn nie
den (das griechische Wort kann beides gesehen, erinnert er sie, daß sie ihn selbst
bedeuten), findet auf der Erde statt, nach- vernachlässigten, indem sie seine Jünger
dem Christus wiedergekommen ist, um vernachlässigt haben.
zu regieren, wie Vers 31 unmißverständ- 25,46 So gehen die Böcke »in die ewi-
lich sagt: »Wenn aber der Sohn des Men- ge Pein«, die Schafe »aber in das ewige
schen kommen wird in seiner Herrlich- Leben«. Dadurch tun sich jedoch zwei
keit und alle Engel mit ihm.« Wenn wir Probleme auf. Erstens scheint dieser Ab-
richtig in der Annahme gehen, es mit der schnitt zu lehren, daß die Nationen als
Prophezeiung aus Joel 4 gleichzusetzen, ganze gerettet oder verloren gehen. Zwei-
dann ist sein Ort das Tal Josaphat bei Jeru- tens erweckt die Erzählung den Ein-
salem (Joel 4,2). Die Nationen werden druck, die Schafe würden durch gute
danach gerichtet, wie sie Christi jüdische Werke gerettet werden, und die Böcke
Brüder während der Drangsal behandelt deshalb verloren gehen, weil sie nichts
haben (Joel 4,1.2.12-14; Matth 25,31-46). Gutes getan haben. Zur ersten Schwie-
25,32 Es ist wichtig festzuhalten, daß rigkeit sollte man sich daran erinnern,
hier drei Gruppen von Menschen er- daß Gott an ganzen Völkern handelt. In
wähnt werden – Schafe, Böcke und Chri- der Geschichte des AT finden wir viele
sti Brüder. Die ersten beiden Gruppen, Beispiele, wo ganze Völker wegen ihrer
über die Christus zu Gericht sitzt, sind Sünde bestraft werden (Jes 10,12-19; 47,5-
die Nationen, die während der Trübsal 15; Hes 25,6.7; Amos 1,3.6.9.11.13; 2,1.4.6;
leben. Die dritte Gruppe besteht aus den Ob 10; Sach 14,1-5). Es ist nicht unver-
treuen jüdischen Brüdern Christi wäh- nünftig zu glauben, daß Völker auch spä-
rend der Drangsal, die sich weigern, ter noch göttliche Vergeltung erfahren.
trotz der zunehmenden Verfolgung sei- Das bedeutet nicht, daß jede einzelne
nen Namen zu verleugnen. Person eines Volkes am Ergebnis beteiligt
25,33-40 Der König stellt »die Schafe sein wird, sondern es wird das Prinzip
zu seiner Rechten, . . . die Böcke aber zur der göttlichen Gerechtigkeit sowohl auf
Linken«. Er bittet dann die Schafe in sein der Volkes- als auch auf der persönlichen
Reich, das ihnen »bereitet ist von Grund- Ebene angewandt.
legung der Welt an«. Als Grund wird Das Wort ethne, das in diesem
angegeben, daß sie ihn speisten, als er Abschnitt mit »Nationen« übersetzt wird,
Hunger hatte, ihm zu trinken gaben, als kann genausogut mit dem Wort »Hei-
er Durst hatte, ihn als Fremden aufnah- den« übersetzt werden. Einige glauben,
men, ihm Kleider gaben als er nackt war, dieser Abschnitt beschreibe das Gericht
ihn in Krankheit und Gefängnis besucht einzelner Heiden. Ob es um ganze Natio-
haben. Die gerechten Schafe geben an, nen oder Einzelne geht, es bleibt das Pro-
von all dem nichts zu wissen, da er doch blem, wie eine solche große Menschen-
zu ihrer Zeit gar nicht auf der Erde gelebt masse in Israel vor dem Herrn versam-
hat. Er erklärt ihnen, daß sie, indem sie melt werden kann. Vielleicht ist es das
»einem der geringsten dieser meiner beste, hier an Repräsentanten von Natio-
Brüder« eine Freundlichkeit erwiesen, nen oder Gruppen von Menschen zu den-
ihm selbst diese Freundlichkeit erwiesen ken, die zum Gericht versammelt sind.
haben. Was immer für einen seiner Jün- Wenn wir das zweite Problem beden-
ger getan wird, wird so belohnt, als habe ken, so ist festzuhalten, daß dieser Ab-
man es ihm selbst getan. schnitt nicht dazu benutzt werden kann,
25,41-45 Die ungerechten Böcke sol- die Erlösung durch Werke zu lehren. Das
len von ihm weggehen, »in das ewige einheitliche Zeugnis der Bibel lautet, daß
Feuer, das bereitet ist dem Teufel und sei- Errettung durch den Glauben und nicht
nen Engeln«, weil sie während der durch Werke geschieht (Eph 2,8.9). Aber
schrecklichen Zeit der Trübsal Jakobs die Bibel lehrt ebenso deutlich, daß wah-
nicht für ihn gesorgt haben. Als sie sich rer Glaube gute Werke hervorbringt.

141
Matthäus 25 und 26

Wenn es keine guten Werke gibt, dann ist (16,21; 17,23; 20,18). Seine Ankündigung
das ein Zeichen dafür, daß dieser Mensch macht die enge zeitliche Beziehung zwi-
nie wiedergeboren wurde. So müssen schen dem Passah und seiner Kreuzi-
wir hier verstehen, daß die Heiden nicht gung deutlich: »Ihr wißt, daß nach zwei
gerettet werden, indem sie dem jüdi- Tagen das Passah ist, und der Sohn des
schen Überrest Beistand erwiesen haben, Menschen wird überliefert, um gekreu-
sondern daß ihre Freundlichkeit in ihrer zigt zu werden.« In diesem Jahr würde
Liebe zum Herrn wurzelt. das Passah seine wahre Bedeutung
Drei andere Punkte sollten hier noch erfahren. Das Passahlamm war nun end-
erwähnt werden. Erstens wird vom lich angekommen und würde bald ge-
Reich gesagt, daß es für die Gerechten schlachtet werden.
von Grundlegung der Welt an bereitsteht 26,3-5 Sobald er diese Worte ausge-
(V. 34), während die Hölle für den Teufel sprochen hatte, »versammelten sich die
und seine Engel bereitet ist (V. 41). Gottes Hohenpriester und die Ältesten des Vol-
Wille ist es, daß Menschen gesegnet wer- kes in den Hof des Hohenpriesters, der
den, die Hölle ist ursprünglich nicht für Kaiphas hieß«, um ihr Vorgehen zu pla-
Menschen geschaffen worden. Aber nen. Sie wollten, daß er heimlich ergrif-
wenn Menschen das Leben willentlich fen und ermordet würde. Aber sie hiel-
ablehnen, dann wählen sie damit ten es nicht für ratsam, das während des
zwangsläufig den Tod. Festes geschehen zu lassen, weil das Volk
Der zweite Punkt ist, daß der Herr mit Gewalt auf seine Hinrichtung reagie-
Jesus vom »ewigen Feuer« sprach (V. 41), ren könnte. Es ist unglaublich, daß die
von »ewiger Pein« (V. 46) und von »ewi- religiösen Führer Israels auch diejenigen
gem Leben« (V. 46). Derselbe, der das waren, die den Tod ihres Messias plan-
ewige Leben lehrte, lehrte auch die ewi- ten. Sie hätten die ersten sein sollen, die
ge Strafe. Weil dasselbe Wort für »ewig« ihn erkannten und ihn auf den Thron
benutzt wird, um beides zu beschreiben, setzten. Statt dessen bildeten sie die
ist es inkonsequent, wenn man das eine Führung seiner Feinde.
ohne das andere akzeptiert. Wenn das
Wort, das mit »ewig« übersetzt wird, B. Jesus wird in Bethanien gesalbt
nicht »für immer« bedeutet, dann gibt es (26,6-13)
kein anderes Wort mehr im Griechi- 26,6.7 Dieser Vorfall lieferte eine will-
schen, welches diese Bedeutung haben kommene Wohltat inmitten des Verrates
könnte. Aber wir wissen, daß es »ewig« der Priester, der Kleinlichkeit der Jünger
bedeutet, weil das Wort auch benutzt und der Hinterlist des Judas. »Als aber
wird, um die Ewigkeit Gottes zu be- Jesus in Bethanien war, im Hause
schreiben (1. Tim 1,17). Simons, des Aussätzigen, kam eine
Schließlich erinnert uns das Gericht Frau« herein und goß ein Fläschchen teu-
der Heiden stark daran, daß Christus erstes Salböl über sein Haupt. Die Kost-
und sein Volk eine Einheit sind; was sein barkeit ihres Opfers drückte die Tiefe
Volk trifft, trifft auch ihn. Wir haben sehr ihrer Hingabe an den Herrn Jesus aus,
viel Gelegenheit zu zeigen, daß wir ihn nämlich daß ihr nichts zu gut für ihn war.
lieben, indem wir denen Freundlichkeit 26,8.9 Seine Jünger, und zwar Judas
erweisen, die ihn lieben. im Besonderen (Joh 12,4.5), sahen das als
unglaubliche Verschwendung an. Sie
XIV. Das Leiden des Königs und sein dachten, daß das Geld besser den Armen
Tod (Kap. 26 und 27) hätte gegeben werden sollen.
26,10-12 Jesus korrigierte jedoch ihr
A. Der Plan, Jesus zu töten (26,1-5) verzerrtes Denken. Ihre Tat war keine
26,1.2 Zum vierten und letzten Mal in Verschwendung, sondern beste Verwen-
diesem Evangelium kündigt unser Herr dung. Und nicht nur das, sie tat es genau
seinen Jüngern an, daß er sterben muß zur rechten Zeit. Den Armen kann im-

142
Matthäus 26

mer geholfen werden. Aber nur zu einer D. Das letzte Passahmahl (26,17-25)
Zeit in der Weltgeschichte konnte der 26,17 Es war »am ersten Tag der unge-
Retter für sein Begräbnis gesalbt werden. säuerten Brote« – eine Zeit, in der in den
Genau diesen Moment hatte eine einzel- jüdischen Häusern kein Sauerteig mehr
ne Frau mit ihrer geistlichen Unterschei- vorhanden war. Welche Gedanken müs-
dungsgabe ergriffen. Sie glaubte den sen dem Herrn durch den Kopf gegan-
Voraussagen des Herrn über seinen Tod gen sein, als er die Jünger nach Jerusalem
und muß erkannt haben, daß sie ihm die- sandte, um das Passah zu bereiten. Jede
sen Dienst jetzt oder nie mehr tun konn- Einzelheit dieses Mahles hatte außeror-
te. Wie sich herausstellte, hatte sie recht. dentliche Bedeutung.
Diejenigen Frauen, die seinen Leib nach 26,18-20 Jesus sandte die Jünger nach
seinem Begräbnis salben wollten, wur- einem bestimmten, nicht mit Namen
den durch die Auferstehung daran ge- genannten, Mann, der sie zu dem Haus
hindert (Mk 16,1-6). führen würde, in dem er mit ihnen Passah
26,13 Der Herr machte ihre einfache feiern wollte. Vielleicht war die Unbe-
Liebestat unsterblich: »Wahrlich, ich sage stimmtheit der Anweisungen notwendig,
euch: Wo dieses Evangelium gepredigt um eventuelle Mithörer zu täuschen. Je-
werden wird in der ganzen Welt, wird denfalls sehen wir, wie gut Jesus einzelne
auch von dem geredet werden, was sie Menschen kennt, wo sie sind und wie
getan hat, zu ihrem Gedächtnis.« Jede sehr sie gewillt sind, für ihn zu arbeiten.
Tat, die aus echter Anbetung geschehen Man beachte seine Worte: »Der Lehrer
ist, erfüllt die Vorhöfe des Himmels mit sagt: Meine Zeit ist nahe; bei dir halte ich
Wohlgeruch und ist im Gedächtnis des das Passah mit meinen Jüngern.« Er ging
Herrn unauslöschlich eingeprägt. seinem Tod mit Haltung entgegen. In
vollkommener Ruhe bereitete er das Mahl
C. Der Verrat des Judas (26,14-16) vor. Welch ein Vorrecht für diesen uns
26,14.15 »Dann ging einer von den Zwöl- unbekannten Mann, sein Haus für dieses
fen« – einer der Jünger, die mit dem letzte Passah zur Verfügung zu stellen!
Herrn Jesus gelebt hatten, mit ihm gereist 26,21-24 Als sie aßen, machte Jesus
waren, seine Wunder gesehen hatten, sei- die schockierende Ankündigung, daß
ne unvergleichliche Predigt gehört hat- einer von ihnen ihn verraten würde. Die
ten und das Wunder seines sündlosen Jünger waren von Sorge, Verdruß und
Lebens gesehen hatten – einer, den Jesus Selbstmißtrauen erfüllt. Jeder fragte: »Ich
»mein Freund, auf den ich vertraute, der bin es doch nicht, Herr?« Als alle außer
mein Brot aß« nennen konnte (Ps 41,9) – Judas gefragt hatten, sagte Jesus ihnen,
er war derjenige, der seine Ferse gegen daß es der wäre, der mit ihm die Hand in
den Sohn Gottes erhob. Judas Iskariot die Schüssel eintauchen würde. Dann
ging zu den Hohenpriestern und kam nahm der Herr ein Stück Brot, tauchte es
mit ihnen überein, seinen Meister für in den Fleischsaft und gab es Judas
dreißig Silberlinge zu verkaufen. Die (Joh 13,26) – ein Zeichen besonderer Zu-
Priester bezahlten ihn sofort – eine neigung und Freundschaft. Er erinnerte
lächerliche Summe von etwa fünfund- sie daran, daß sich nicht vermeiden ließ,
zwanzig Mark. was ihm geschehen würde. Aber das be-
Es ist erschreckend, den Unterschied freite den Verräter nicht von seiner Ver-
zwischen der Frau, die Jesus im Haus des antwortung. Es wäre besser für ihn,
Simon gesalbt hatte, und Judas zu sehen. »wenn er nicht geboren wäre«. Judas ent-
Ihr war der Herr viel wert, Judas nur sehr schied sich in vollem Bewußtsein, den
wenig. Retter zu verkaufen und war deshalb für
26,16 Und so ging einer, der von Jesus sein Handeln voll verantwortlich.
nur Freundlichkeit erfahren hatte, hin, 26,25 Als Judas schließlich offen frag-
um seinen Teil des schrecklichen Han- te, ob er derjenige sei, antwortete Jesus
dels zu erfüllen. mit »Ja«.

143
Matthäus 26

E. Das erste Herrenmahl (26,26-29) argumentieren, daß gesäuertes Brot den


In Johannes 13,30 sehen wir, daß Judas Symbolcharakter zerstört (Sauerteig als
hinausging, als er das Brot erhalten hatte, Bild der Sünde), sollten bedenken, daß
und es Nacht war. Wir können daraus das gleiche für die Gärung gilt. Es ist tra-
schließen, daß er bei der Einsetzung des gisch, wenn wir uns mit den materiellen
Herrenmahles nicht dabei war (obwohl Dingen beschäftigen, statt auf den Herrn
dieser Punkt recht umstritten ist). selbst zu sehen. Paulus betonte, es gehe
26,26 Nachdem Jesus sein letztes Pas- um die geistliche Bedeutung des Brotes,
sah gegessen hatte, setzte er das Mahl nicht um das Brot an sich. »Denn auch
ein, das wir unter dem Namen »Herren- unser Passah, Christus, ist geschlachtet.
mahl« oder »Abendmahl« kennen. Die Darum laßt uns Festfeier halten, nicht
notwendigen Bestandteile – Brot und mit altem Sauerteig, auch nicht mit Sau-
Wein – waren schon auf dem Tisch, weil erteig der Bosheit und Schlechtigkeit,
sie auch zum Passahmahl gehörten. sondern mit Ungesäuertem der Lauter-
Jesus gab ihnen nun eine neue Bedeu- keit und Wahrheit« (1. Kor 5,7.8). Es geht
tung. Zuerst »nahm Jesus Brot, segnete, nicht um den Sauerteig im Brot, sondern
brach und gab es den Jüngern und um den Sauerteig in unserem Leben!
sprach: – Nehmt, eßt, dies ist mein
F. Die selbstbewußten Jünger
Leib! – « Weil sein Leib noch nicht am
(26,30-35)
Kreuz hingegeben war, ist es eindeutig,
daß er hier sinnbildlich spricht, er be- 26,30 Nach dem Herrenmahl sang die
nutzt das Brot als Symbol seines Leibes. kleine Gruppe ein Loblied, wahrschein-
26,27.28 Das gleiche gilt für den lich aus den Psalmen 113-118, dem
Kelch; das Behältnis steht hier für seinen »großen Hallel«. Dann verließen sie Jeru-
Inhalt. Der Kelch enthielt die Frucht des salem, überquerten den Kidron und stie-
Weinstocks, welche wiederum ein Sym- gen den Westhang des Ölberges zum
bol für das »Blut des Bundes« war. Der Garten Gethsemane hinauf.
neue Bund der Gnade, der ohne Voraus- 26,31 Während seines ganzen irdi-
setzungen geschlossen wurde, würde schen Dienstes hatte der Herr Jesus seine
durch sein kostbares Blut unterzeichnet Jünger vor dem vor ihnen liegenden Weg
werden, das er für viele zur Vergebung gewarnt. Nun sagte er ihnen, daß sie sich
der Sünden vergießen würde. Sein Blut noch in dieser Nacht alle von ihm tren-
reichte hin, um für alle Sündenvergebung nen würden. Die Angst würde sie über-
zu schaffen. Aber hier sagt er, es würde mannen, sobald der Sturm losbrechen
für viele vergossen, weil es sich nur für würde. Um ihre eigene Haut zu retten,
diejenigen auswirkt, die daran glauben. würden sie ihren Meister verlassen. Die
26,29 Dann erinnerte der Retter seine Prophezeiung Sacharjas würde sich
Jünger daran, daß er »von nun an nicht erfüllen: »Ich werde den Hirten schlagen,
mehr von diesem Gewächs des Wein- und die Schafe der Herde werden zer-
stocks trinken werde«, bis er zur Erde streut werden« (Sach 13,7).
zurückkommt, um zu herrschen. Dann 26,32 Aber er ließ sie nicht ohne Hoff-
hat der Wein eine neue Bedeutung, er nung. Obwohl sie sich ihrer Verbindung
spricht dann von der Freude und dem mit ihm schämen würden, würde er sie
Segen des Reiches seines Vaters. doch nie verlassen. Nachdem er von den
Oft wurde die Frage gestellt, ob man Toten auferweckt sein würde, würde er
zum Herrenmahl gesäuertes oder unge- sie in Galiläa wiedertreffen. Welch ein
säuertes Brot verwenden solle, Trauben- wunderbarer Freund, der nie enttäuscht!
saft oder Wein. Es gibt kaum Zweifel, 26,33.34 Petrus wandte nun voreilig
daß der Herr ungesäuertes Brot und ver- ein, daß ihn zwar die anderen verlassen
gorenen Traubensaft verwendet hat würden, er selbst aber »niemals«. Jesus
(damals war jeder Traubensaft vergoren, korrigierte sein niemals: »In dieser Nacht
d. h. zu Wein geworden). Diejenigen, die . . . dreimal.« Ehe der Hahn krähen wür-

144
Matthäus 26

de, würde der impulsive Jünger seinen Ehe wir denken, daß dieses Gebet
Meister dreimal verleugnet haben. Zögern oder die Bitte nach einem ande-
26,35 Aber Petrus bestand weiter auf ren Weg ausdrückt, sollten wir uns an
seiner Treue: er würde eher mit Christus Jesu Worte in Johannes 12,27.28 erinnern:
sterben als ihn verleugnen. Alle anderen »Jetzt ist meine Seele bestürzt. Und was
Jünger schlossen sich seiner Meinung an. soll ich sagen? Vater, rette mich aus die-
Sie meinten es ehrlich, sie sagten, was sie ser Stunde? Doch darum bin ich in diese
dachten. Sie kannten eben nur ihre eige- Stunde gekommen. Vater, verherrliche
nen Herzen noch nicht richtig. deinen Namen!« Als er bat, daß dieser
Kelch an ihm vorübergehen möge, bat er
G. Der Kampf in Gethsemane nicht darum, nicht ans Kreuz zu müssen.
(26,36-46) Das war doch der Grund, warum er in
Niemand kann diesen Bericht aus dem diese Welt gekommen war!
Garten Gethsemane lesen, ohne zu mer- Bei diesem Gebet ging es nicht darum,
ken, daß er heiliges Land betritt. Jeder, eine Antwort zu erhalten, sondern uns
der hier versucht zu kommentieren, ver- etwas zu lehren. Jesus sagte praktisch:
spürt eine enorme Ehrfurcht und den »Mein Vater, wenn es einen anderen Weg
Wunsch zur Zurückhaltung. Wie Guy gibt, damit gottlose Sünder gerettet wer-
King schrieb: »Der überragende Charak- den können, als ans Kreuz zu gehen, dann
ter des Ereignisses läßt einen fürchten, offenbare das jetzt! Aber bei allem soll
man könne es durch die Berührung deutlich werden, daß ich nichts möchte,
irgendwie verderben.« das deinem Willen zuwiderläuft.«
26,36-38 Nachdem Jesus den Garten Wie lautete die Antwort? Es gab kei-
Gethsemane betreten hatte (Gethsemane ne, der Himmel schwieg. Doch diese
bedeutet soviel wie Olivenpresse), befahl beredte Stille zeigt uns, es gab für Gott
er seinen elf Jüngern, sich mit ihm nie- keinen anderen Weg, um schuldige Sün-
derzusetzen und zu warten. Dann nahm der zu rechtfertigen, als daß Christus, der
er »Petrus und die zwei Söhne des Zebe- sündlose Retter, an unserer Statt starb.
däus« weiter mit in den Garten hinein. 26,40.41 Als er zu den Jüngern zu-
Könnte das bedeuten, daß verschiedene rückkam, schliefen sie. Ihr Geist zwar
Jünger unterschiedlich fähig sind, mit war willig, aber ihr Fleisch war schwach.
dem Herrn seine Todesangst mitzu- Wir wagen es nicht, sie zu verurteilen,
fühlen? wenn wir an unser eigenes Gebetsleben
Er »fing an, betrübt und geängstigt zu denken, unser Schlaf ist meist besser als
werden«. Er sagte Petrus, Jakobus und unser Gebet, und unsere Gedanken wan-
Johannes offen, daß seine Seele bis zum dern umher, wenn wir wachsam sein
Tod betrübt sei. Das war zweifellos der sollten. Wie oft muß der Herr zu uns das
Abscheu, der seine heiligen Seele erfüll- gleiche sagen wie zu Petrus: »Also nicht
te, als er voraussah, was es für ihn bedeu- eine Stunde konntet ihr mit mir wachen?
tete, für uns das Sündopfer zu sein. Wir, Wacht und betet, damit ihr nicht in Ver-
die wir sündig sind, können nicht ermes- suchung kommt.«
sen, was es für ihn, den Sündlosen, be- 26,42 »Wiederum, zum zweiten Mal,
deutet haben mag, für uns zur Sünde ging er hin und betete.« Wieder unter-
gemacht zu werden (2. Kor 5,21). stellte er sich dem Willen Gottes. Er wür-
26,39 Es überrascht nicht, daß er die de den Kelch des Leidens und des Todes
drei verließ und »ein wenig weiter« in bis zur Neige trinken.
den Garten hineinging. Niemand konnte In seinem Gebetsleben war er not-
an seinem Leiden teilhaben oder mit sei- wendigerweise allein. Er lehrte die Jün-
nen Worten beten: »Mein Vater, wenn es ger beten und er betete in ihrer An-
möglich ist, so gehe dieser Kelch an mir wesenheit, aber er betete niemals mit
vorüber; doch nicht wie ich will, sondern ihnen. Die Einzigartigkeit seiner Person
wie du willst.« und seines Werkes schlossen andere von

145
Matthäus 26

der Beteiligung an seinem Gebetsleben verwendet, das wiederholtes oder de-


aus. monstratives Küssen bedeutet.
26,43-45 Als er zum zweitenmal zu 26,50 Gelassen und mit durchdrin-
seinen Jüngern kam, schliefen sie schon gender Kraft fragte Jesus: »Freund, wozu
wieder und beim drittenmal war es eben- bist du gekommen?« Zweifellos brannte
so: Er betete, sie schliefen. Da sagte er diese Frage wie Feuer, doch alles ging auf
dann zu ihnen: »So schlaft denn fort und einmal sehr schnell. Die Menge kam und
ruht aus. Siehe, die Stunde ist nahe ergriff den Herrn Jesus ohne Zögern.
gekommen, und der Sohn des Menschen 26,51 Einer der Jünger – wir wissen
wird in Sünderhände überliefert.« aus Johannes 18,10, daß es Petrus war –
26,46 Die Gelegenheit des Wachens »zog sein Schwert und schlug den Knecht
mit ihm war vorbei. Die Tritte des Verrä- des Hohenpriesters und hieb ihm das Ohr
ters waren schon zu hören. Jesus sagte ab«. Es ist unwahrscheinlich, daß Petrus
nicht »Steht auf, laßt uns gehen!«, um zu nach dem Ohr gezielt hatte, er wollte den
fliehen, sondern um dem Feind ins An- Knecht zweifellos töten. Dieses Ziel war
gesicht zu sehen. so erbärmlich wie die Beurteilung der
Ehe wir den Garten verlassen, sollten göttlichen Vorsehung durch Petrus.
wir noch einmal anhalten und sein 26,52 Die moralische Vollkommenheit
Schluchzen hören, seine Schmerzen be- des Herrn Jesus strahlt hier in aller Herr-
denken und ihm von Herzen danken. lichkeit. Erst tadelt er Petrus: »Stecke dein
Schwert wieder an seinen Ort! Denn alle,
H. Jesus wird in Gethsemane verraten die das Schwert nehmen, werden durchs
und gefangengenommen (26,47-56) Schwert umkommen.« Im Reich Christi
Der Verrat des Retters durch eines seiner werden Siege nicht mit fleischlichen Mit-
eigenen Geschöpfe ist der größte Wider- teln errungen. Wenn man sich im geistli-
sinn der Geschichte. Wenn wir nicht um chen Kampf auf materielle Waffen ver-
die Verdorbenheit des Menschen wüß- läßt, dann ruft man Katastrophen gerade-
ten, könnten wir uns diesen gemeinen, zu herbei. Mögen die Feinde des Reiches
unentschuldbaren Verrat des Judas nicht Schwerter gebrauchen, sie werden
erklären. schließlich geschlagen werden. Der Sol-
26,47 Während Jesus noch redete, dat Christi sollte sich auf das Gebet, das
kam Judas »und mit ihm eine große Men- Wort Gottes und die Macht eines geister-
ge mit Schwertern und Stöcken«. Sicher- füllten Lebens verlassen.
lich waren die Waffen nicht Judas' Idee Wir erfahren von dem Arzt Lukas, daß
gewesen, denn er hatte noch nie gesehen, Jesus das Ohr von Malchus – denn so hieß
daß sich der Herr gewehrt oder zurück- der verletzte Knecht – heilte (Lk 22,51; Joh
geschlagen hätte. Vielleicht bedeuteten 18,10). Ist das nicht ein wunderbarer Gna-
die Waffen die Entschlossenheit der denerweis? Er liebte die, die ihn haßten
Hohenpriester und Ältesten, Jesus ohne und war freundlich zu denen, die ihm
Möglichkeit des Entkommens zu fangen. nach dem Leben trachteten.
26,48 Judas plante, einen Kuß zu ver- 26,53.54 Wenn Jesus gewollte hätte,
wenden, damit die Menge Jesus von den hätte er der Menge leicht ohne die Hilfe
andern Jüngern unterscheiden konnte. des Schwertes von Petrus widerstehen
Das allgemeine Liebeszeichen wurde können. Er hätte sofort »mehr als zwölf
hier auf das niedrigste pervertiert. Legionen Engel« anfordern und erhalten
26,49 Als Judas sich dem Herrn können. Aber dadurch wäre Gottes Plan
näherte, sagte er: »Sei gegrüßt, Rabbi!« nur vereitelt worden. Die Schriften muß-
und küßte ihn überschwenglich. Hier ten erfüllt werden: Daß er verraten wür-
werden zwei griechische Worte für unser de, leiden müßte, daß er gekreuzigt und
Wort küssen verwendet. Das erste in Vers wieder auferweckt würde.
48 ist das normale Wort für einen Kuß. 26,55 Dann erinnerte Jesus die Menge
Aber in Vers 49 wird ein stärkeres Wort daran, wie töricht es war, ihn mit Waffen-

146
Matthäus 26

gewalt zu holen. Sie hatten nie gesehen, Feste versammeln. Sie durften keine
daß er sich auf Gewalt verlassen hätte Zeugen bestechen, um einen Meineid zu
oder auf Raub aus gewesen wäre. Statt leisten. Ein Todesurteil durfte nicht aus-
dessen war er ein ruhiger Lehrer, der sich geführt werden, ehe nicht eine weitere
täglich im Tempel aufhielt. Sie hätten ihn Nacht vergangen war. Und ihre Recht-
dort leicht fangen können, hatten es aber sprechung war nicht verbindlich, solan-
nicht getan. Warum kamen sie nun »mit ge sie sich nicht in der »Halle aus gehau-
Schwertern und Stöcken«? Menschlich enem Stein« im Tempelbezirk versam-
gesprochen war ihr Verhalten mehr als melten. Aber sie wollten Jesus gerne
irrational. schnell loswerden, und so zögerte das
26,56 Doch erkannte der Retter, daß jüdische Establishment nicht, seine eige-
die Bosheit des Menschen nur soviel aus- nen Gesetze zu brechen.
richten konnte, wie sie den Plan Gottes 26,58 Kaiphas war der Vorsitzende
erfüllte. »Aber dies alles ist geschehen, des Gerichtes. Der Sanhedrin übte sein
damit die Schriften der Propheten erfüllt Amt offensichtlich als Ankläger und zu-
werden.« Als die Jünger erkannten, daß gleich als die Geschworenen aus, eine, um
es für ihren Meister kein Entkommen es vorsichtig auszudrücken, ungewöhnli-
gab, verließen sie ihn alle und flohen er- che Kombination. Jesus war der Ange-
schreckt. Wenn ihre Feigheit nicht zu ent- klagte. Und Petrus war Zuschauer – aus
schuldigen war, so ist es unsere noch viel sicherer Entfernung, denn er »setzte sich
weniger. Sie hatten noch nicht den Heili- zu den Dienern, um das Ende zu sehen«.
gen Geist, den wir jedoch empfangen 26,59-61 Die jüdischen Führer hatten
haben. es schwer, falsche Zeugen gegen Jesus
aufzustellen. Sie wären sicher erfolgrei-
I. Jesus vor Kaiphas (26,57-68) cher gewesen, hätten sie ihre wichtigste
26,57 Es gab zwei Hauptverhandlungen Verpflichtung im Prozeß wahrgenommen
Jesu: Einen religiösen Prozeß vor den und Beweise für Jesu Unschuld gesucht.
jüdischen Führern, und einen Zivilpro- Schließlich gaben zwei falsche Zeugen
zeß vor der römischen Verwaltung. Jesu Worte verzerrt wieder. Eigentlich
Wenn man die Berichte der vier Evange- hatte Jesus gesagt: »Brecht diesen Tempel
lien zusammen sieht, erkennt man, daß ab, und in drei Tagen werde ich ihn auf-
jeder Prozeß drei Stufen hatte. Der richten« (Joh 2,19-21). Nach diesen Zeu-
Bericht von Johannes über den jüdischen gen jedoch hatte er damit gedroht, den
Prozeß zeigt, daß Jesus zuerst zu Han- Tempel in Jerusalem zu zerstören, um ihn
nas, dem Schwiegervater des Kaiphas dann wieder aufzubauen. In Wahrheit
geführt wurde. Der Bericht des Matthäus hatte er jedoch seinen eigenen Tod und
beginnt mit der zweiten Stufe bei »Kai- seine Auferstehung vorhergesagt. Die
phas, dem Hohenpriester«. Der Sanhe- Juden benutzten nun diese Voraussage
drin war dort versammelt. Normalerwei- als Entschuldigung für ihren Mord.
se wurde Angeklagten die Gelegenheit 26,62.63 Zu diesen Anklagen sagte
gegeben, ihre Verteidigung vorzuberei- der Herr Jesus nichts. »Wie ein Schaf, das
ten. Aber die verzweifelten religiösen stumm ist vor seinen Scherern; und er tat
Führer führen ihr Vorhaben schnell aus. seinen Mund nicht auf« (Jes 53,7). Der
Sie verweigerten ihm in jeder Hinsicht Hohepriester, der sich durch sein
eine faire Verhandlung. Schweigen irritieren ließ, drängte ihn zu
In dieser Nacht zeigten die Pharisäer, einer Aussage, doch noch immer sagte
Sadduzäer, Schriftgelehrten und Älte- der Retter nichts. Da sagte der Hoheprie-
sten, aus denen sich der Sanhedrin zu- ster zu ihm: »Ich beschwöre dich bei dem
sammensetzt, eine ausgesprochene Miß- lebendigen Gott, daß du uns sagst, ob du
achtung der Regeln, nach denen sie sonst der Christus bist, der Sohn Gottes!« Das
vorzugehen hatten. Sie durften sich nicht mosaische Gesetz verlangte, daß ein Jude
nachts und zu keinem der jüdischen Zeugnis ablegt, sobald er vom Hohen-

147
Matthäus 26

priester unter Eid genommen wurde indem sie ihn aufforderten, zu sagen,
(3. Mose 5,1). wer ihn geschlagen habe. Ihr gesamtes
26,64 Da Jesus ein gehorsamer Jude Vorgehen war nicht nur ungesetzlich,
und unter das Gesetz gestellt war, ant- sondern ein einziger Skandal.
wortete er: »Du hast es gesagt.« Dann
bestätigte er mit eindeutigen Worten, J. Petrus verleugnet Jesus und weint
daß er göttlich und der Messias ist: bitterlich (26,69-75)
»Doch ich sage euch: Von nun an werdet 26,69-72 Die dunkelste Stunde im Leben
ihr den Sohn des Menschen sitzen sehen des Petrus war nun gekommen. Als er im
zur Rechten der Macht und kommen auf Hof saß, kam eine junge Frau und klagte
den Wolken des Himmels.« Im Prinzip ihn an, zu Jesus zu gehören. Er verneinte
sagte er damit: »Ich bin der Christus, der heftig und prompt: »Ich weiß nicht, was
Sohn Gottes, wie du gesagt hast. Meine du sagst.« Dann ging er in das Torgebäu-
Herrlichkeit verbirgt sich jetzt in einem de, vielleicht, damit man sich nicht wei-
menschlichen Körper und ich sehe aus ter um ihn kümmerte. Aber ein anderes
wie jeder andere Mensch. Du siehst mich Mädchen sagte öffentlich von ihm, daß er
in den Tagen meiner Erniedrigung. Aber einer von denen gewesen sei, die »mit
der Tag kommt, an dem ihr Juden mich Jesus, dem Nazaräer« gegangen seien.
als den Verherrlichten sehen werdet, in Diesmal schwur er, daß er »den Men-
jeder Hinsicht Gott gleich, sitzend zu sei- schen« nicht kenne. »Der Mensch« war
ner Rechten und in den Wolken des sein Meister.
Himmels wiederkommend.« 26,73.74 Wenig später kamen einige
In Vers 64 wird zunächst Kaiphas der Umstehenden und sagten: »Wahrhaf-
angesprochen, dann jedoch die Juden, tig, auch du bist einer von ihnen, denn
die für diejenigen Israeliten stehen, die auch deine Sprache verrät dich.« Jetzt
zur Zeit der Wiederkunft Christi in Herr- genügte einfaches Leugnen nicht mehr,
lichkeit noch leben und die deutlich diesmal verstärkte er seine Aussage mit
sehen werden, daß er der Sohn Gottes ist. Verwünschungen und Schwüren: »Ich
Lenski schreibt: »Manchmal wird ge- kenne diesen Menschen nicht!« Und als
sagt, Jesus habe sich niemals ›Sohn Got- ob er nur auf diesen Satz gewartet hätte,
tes‹ genannt. Hier sagt er unter Eid aus, »krähte der Hahn«.
50)
daß er kein Geringerer ist.« 26,75 Der vertraute Ton durchschnitt
26,65-67 Kaiphas begriff sehr gut. nicht nur die Stille der Morgenstunde,
Jesus hatte auf eine messianische Prophe- sondern auch das Herz des Petrus. Der
zeiung Daniels angespielt: »Ich schaute in aufgeblasene Jünger erinnerte sich dar-
Gesichten der Nacht: und siehe, mit den an, was sein Herr gesagt hatte, »ging hin-
Wolken des Himmels kam einer wie der aus und weinte bitterlich«.
Sohn eines Menschen. Und er kam zu dem Es gibt einen scheinbaren Wider-
Alten an Tagen, und man brachte ihn vor spruch zwischen den einzelnen Evange-
ihn« (Dan 7,13). Die Reaktion des Hohen- lien bezüglich der Anzahl und der Zeit
priester beweist, daß er Jesu Anspruch der einzelnen Leugnungen. In Matthäus,
verstand, Gott gleich zu sein (s. Joh 5,18). Lukas und Johannes wird berichtet, daß
Er zerriß seine Priesterkleidung zum Zei- Jesus sagt: »Ehe der Hahn kräht, wirst du
chen, daß der Zeuge Gott gelästert hatte. mich dreimal verleugnen« (Matth 26,34;
Seine brennenden Worte an den Sanhe- s. a. Lk 22,34; Joh 13,38). In Markus sagt
drin sprachen Jesus praktisch schuldig. Jesus voraus: »ehe der Hahn zweimal
Als er nach ihrem Urteil fragte, antworte- kräht, wirst du mich dreimal verleug-
ten sie: »Er ist des Todes schuldig.« nen« (Mk 14,30).
26,68 Der zweite Teil des Prozesses Vielleicht gab es mehr als einen
endete damit, daß die Richter Jesus Hahn, der gekräht hat, einer in der
schlugen und ihn anspuckten. Einige Nacht, ein anderer in der Dämmerung.
verhöhnten seine Macht als Messias, Es ist auch möglich, daß die Evangelien

148
Matthäus 26 und 27

von sechs verschiedenen Leugnungen beitet hatten, wollten mit der Sache nun
berichten. Er verleugnetete Christus vor: nichts mehr zu tun haben. Das ist der
1. einer jungen Frau (Matth 26,69.70), Lohn des Verrates. Judas bereute seine
2. einer anderen jungen Frau (Matth 26, Tat, aber das war nicht die göttliche
71.72), Buße, die zur Bekehrung führt. Er bereu-
3. vor den Umstehenden (Matth 26,73. te die Tat wegen ihrer Folgen. Er war
74; Mk 14,70.71), weiterhin nicht gewillt, Jesus Christus als
4. einem Mann (Lk 22,58), Herrn und Retter anzuerkennen.
5. einem anderen Mann (Lk 22,59.60), 27,5 In seiner Verzweiflung warf er
6. vor einem Knecht des Hohenpriesters »die Silberlinge in den Tempel«, wohin
(Joh 18,26.27). nur die Priester gehen konnten. Dann
Wir glauben daß dieser Knecht ein brachte er sich um. Wenn wir diesen
anderer als die anderen sein muß, denn Bericht mit dem in Apostelgeschichte
er sagte: »Sah ich dich nicht in dem Gar- 1,18 vergleichen, dann können wir
ten bei ihm?« Von den anderen wird das schließen, daß er sich an einem Baum
nicht ausgesagt. aufhängte und entweder der Ast brach
oder das Seil riß, worauf sein Körper in
K. Die Verhandlung am Morgen vor einen Abgrund fiel und aufplatzte, so
dem Sanhedrin (27,1.2) daß seine Eingeweide heraustraten.
27,1.2 Die dritte Phase des religiösen Pro- 27,6 Die eigentlichen Schuldigen wa-
zesses fand am Morgen vor dem Sanhe- ren die Hohenpriester, die nun zu »geist-
drin statt. Kein Fall durfte am gleichen lich« waren, das Geld »in den Tempel-
Tag abgeschlossen werden, an dem er schatz zu werfen, weil es Blutgeld ist«.
begonnen worden war, es sei denn, der Aber sie hatten dieses Geld gegeben, da-
Angeklagte wurde freigesprochen. Ehe mit ihnen der Messias übergeben würde.
das Urteil verkündet wurde, sollte eine Das schien sie jedoch nicht zu stören. Wie
Nacht vergehen, »damit Gefühle der der Herr gesagt hatte, hielten sie die
Gnade Zeit haben, zu entstehen«. In die- Außenseite des Bechers rein, doch inner-
sem Falle scheint es so, als ob die religiö- lich waren sie voller Hinterlist, Verrat
sen Führer jede Regung der Barmherzig- und Mord.
keit ausschließen wollten. Immerhin 27,7-10 Sie verwendeten das Geld,
kamen sie zu einer morgendlichen Sit- um den Acker eines Töpfers zu kaufen,
zung zusammen, um ihrem Urteil auch auf dem dann unreine Heiden beerdigt
Gültigkeit zu verleihen, denn nächtliche werden sollten. Sie wußten ja nicht, wie-
Prozesse waren verboten. viele Heiden in ihr Land strömen und
Unter der römischen Verwaltung hat- ihre Straßen mit Blut besprengen wür-
ten die Juden nicht das Recht, ein Todes- den. Für dieses schuldige Volk ist er seit-
urteil zu fällen. Deshalb führten sie Jesus dem der »Blutacker« geworden.
nun schnell vor den »Statthalter Pontius Die Hohenpriester erfüllten unwis-
Pilatus«. Obwohl sie die Römer sehr haß- sentlich die Prophezeiung Sacharjas, daß
ten, waren sie doch gewillt, diese zu be- mit dem Lohn etwas von einem Töpfer
nutzen, um ihren größeren Haß zu stillen. gekauft werden würde (Sach 11,12.13).
In der Gegnerschaft gegen Jesus werden Erstaunlicherweise gibt es für den Ab-
die größten Feinde zu Freunden. schnitt bei Sacharja eine zweite Lesart,
dort steht »Schatz« statt »Töpfer«.
L. Judas Reue und Tod (27,3-10) Die Priester scheuten sich, das Blutgeld in
27,3.4 Judas erkannte seine Sünde, daß er den Tempelschatz zu tun, und so erfüllten sie
»schuldloses Blut überliefert« hatte. Des- die Weisagung der anderen Lesart, indem sie
halb wollte er das Geld den Hohenprie- es dem Töpfer für sein Feld gaben. (Aus dem
stern und Ältesten zurückbringen. Diese englischen Material des Bibellesebundes.)
Erzverräter, die nur wenige Stunden Matthäus schreibt diese Prophezei-
zuvor eifrig mit Judas zusammengear- ung Jeremia zu, während sie offensicht-

149
Matthäus 27

lich aus Sacharja stammt. Er nennt hier Mordes schuldig gemacht hatte (Mk 15,7).
wahrscheinlich Jeremia als Autor, weil Als Rebell gegen die römische Herrschaft
dieser Prophet als erster in der von ihm war er womöglich bei seinen Landsleuten
benutzten und zitierten Buchrolle stand. beliebt. Als Pilatus das Volk deshalb vor
Dies war nach der alten Anordnung so, die Wahl stellte, entweder Jesus oder Bar-
wie sie in vielen hebräischen Manuskrip- rabas freizulassen, riefen sie nach dem
ten erhalten und aus der talmudischen letzteren. Der Statthalter war nicht er-
Tradition geläufig ist. Eine ähnliche Ver- staunt und wußte, daß die öffentliche
wendung finden wir in Lukas 24,44, wo Meinung von den Hohenpriestern beein-
das Buch der Psalmen als Bezeichnung flußt worden war, die Jesus beneideten.
für den ganzen dritten Abschnitt des 27,19 Die Vorgänge wurden einen
hebräischen Kanons dient. Augenblick durch einen Boten von Pila-
tus' Frau unterbrochen. Sie bat ihren Ehe-
M. Jesus wird das erste Mal vor Pilatus mann inständig, sich auf diese Sache mit
geführt (27,11-14) Jesus nicht einzulassen, weil sie einen
27,11-14 Die wirklichen Anklagen der sehr beunruhigenden Traum über ihn
Juden gegen Jesus waren religiöser Natur, gehabt hatte.
und die Verhandlung geschah auf dieser 27,20-23 Hinter den Kulissen aber
Basis. Aber religiöse Anklagen hatten vor redeten die Hohenpriester und Ältesten
der römischen Gerichtsbarkeit kein Ge- für die Befreiung des Barrabas und für
wicht. Das wußten sie, deshalb brachten den Tod Jesu. Als Pilatus das Volk
sie drei politische Anklagen gegen ihn vor, nochmals fragte, welchen er freigeben sol-
als sie ihn vor Pilatus brachten (Lk 23,2): le, riefen sie deshalb nach dem Mörder.
1. Er war ein Revolutionär, der eine Ge- Pilatus fragte aus seiner Unentschlossen-
fahr für das Römische Reich darstellte, heit heraus: »Was soll ich denn mit Jesus
2. er brachte Menschen dazu, keine tun, der Christus genannt wird?« Alle
Steuern zu zahlen und gefährdete waren sich einig, daß er gekreuzigt wer-
damit die Einnahmen des Reiches, den sollte, eine Haltung, die Pilatus nicht
3. er behauptete von sich, ein König zu verstand. Warum sollte er gekreuzigt wer-
sein und bedrohte damit die Macht den? Welches Verbrechens hatte er sich
und die Stellung des Kaisers. denn schuldig gemacht? Aber es war zu
Im Matthäusevangelium befragt Pila- spät für eine ruhige Lösung, denn die
tus unseren Herrn wegen der dritten Massenhysterie hatte schon gesiegt. Laut
Anklage. Als Jesus gefragt wurde, ob er tönte der Schrei: »Er werde gekreuzigt!«
der König der Juden sei, antwortete er, 27,24 Es war für Pilatus offensicht-
daß er es ist. Darauf wurde er von den lich, daß er das Volk nicht besänftigen
Hohenpriestern und Ältesten mit Ankla- konnte und ein Aufruhr drohte. So
gen überschüttet. Pilatus wunderte sich wusch er vor der Menge seine Hände
sehr, warum der Angeklagte schwieg und erklärte sich unschuldig am Blut des
und keine der Anklagen auch nur einer Angeklagten. Aber Wasser wird niemals
Antwort für würdig befand. Wahrschein- die Schuld des Pilatus beim größten
lich hatte der Statthalter bisher nieman- Justizskandal der Geschichte weg-
den gesehen, der bei solchen Angriffen waschen können.
schweigen konnte. 27,25 Die Menge, die zu aufgebracht
war, um noch an Schuld zu denken, nahm
N. Jesus oder Barrabas? (27,15-26) die Schuld gerne auf sich: »Sein Blut kom-
27,15-18 Es war bei den Römern üblich, me über uns und über unsere Kinder!«
die Juden ruhig zu halten, indem sie zur Seit dieser Zeit stolpert das Volk der Ju-
Passahzeit einen jüdischen Gefangenen den aus Gettos in Verfolgungen, aus Kon-
freiließen. Einer der dafür in Frage zentrationslagern in Gaskammern und
kommenden Gefangenen war Barrabas, leidet ständig für die schreckliche Blut-
ein Jude, der sich des Aufstandes und des schuld ihres Messias, den sie abgelehnt

150
Matthäus 27

haben. Sie haben noch die schreckliche Sie gaben ihm auch ein Rohr – als
Zeit der Trübsal Jakobs vor sich – die sie- Königszepter. Sie wußten nicht, daß die
ben Jahre der Drangsalszeit, die in Mat- Hand, die dieses Rohr hielt, die Hand ist,
thäus 24 und Offenbarung 6 – 19 beschrie- die die Welt regiert. Die nageldurchgra-
ben werden. Der Fluch wird bleiben, bis bene Hand Jesu hält jetzt das Zepter der
sie den Jesus, den sie abgelehnt haben, als unumschränkten Herrschaft.
ihren Messias-König anerkennen. »Sie fielen vor ihm auf die Knie« und
27,26 Pilatus gab Barrabas frei, und redeten ihn als König der Juden an. Damit
seitdem hat sein Geist die Welt beherrscht. nicht zufrieden, spuckten sie dem einzi-
Der Mörder sitzt noch immer auf dem gen vollkommenen Menschen ins Ge-
Thron und der gerechte König wird abge- sicht, der je gelebt hat, »nahmen das Rohr
lehnt. Danach wurde, wie es üblich war, und schlugen ihn auf das Haupt«.
der Verurteilte gegeißelt. Eine große Le- Alles ertrug Jesus geduldig, er sagte
derpeitsche, in die kleine Metallstücke kein Wort. »Denn betrachtet den, der so
eingearbeitet worden waren, fiel auf Jesu großen Widerspruch von den Sündern
Rücken nieder, wobei jeder Schlag die gegen sich erduldet hat, damit ihr nicht
Haut aufriß und Ströme von Blut flossen. ermüdet und in euren Seelen ermattet«
Nun gab es für den rückgratlosen Statt- (Hebr 12,3).
halter nichts mehr zu tun, außer ihn den 27,31 Schließlich zogen sie ihm »seine
Soldaten zur Kreuzigung zu überliefern. eigenen Kleider an; und sie führten ihn
ab, um ihn zu kreuzigen«.
O. Die Soldaten verspotten Jesus
(27,27-31) P. Die Kreuzigung des Königs
27,27.28 Die Soldaten des Statthalters (27,32-44)
nahmen Jesus nun in das Prätorium, den 27,32 Einen Teil des Weges trug unser
Palast des Pilatus, und »versammelten Herr selbst das Kreuz (Joh 19,17). Dann
um ihn die ganze Schar« – wahrschein- zwangen sie einen Mann mit Namen
lich einige hundert Männer. Man kann Simon (aus Kyrene in Nordafrika) es für
sich kaum vorstellen, was dann folgte! ihn zu tragen. Einige sind der Meinung,
Der Schöpfer und Erhalter des Univer- daß er ein Jude war, andere halten ihn für
sums wurde auf unerhörte Weise von einen Schwarzen. Wichtig ist, daß er das
den grausamen, gemeinen Soldaten ent- wunderbare Vorrecht hatte, das Kreuz zu
ehrt – von seinen unwürdigen, sündigen tragen.
Geschöpfen. »Sie zogen ihn aus und leg- 27,33 Golgatha ist der aramäische
ten ihm einen scharlachroten Mantel Begriff für »Schädel«. Der Name »Kalva-
um.« Damit wollten sie einen Königs- rienberg«, der eher selten vorkommt,
mantel nachahmen. Aber dieser Mantel enthält die eingedeutschte lateinische
hat eine Botschaft für uns. Weil Scharlach Übersetzung des griechischen Wortes
mit der Sünde in Verbindung steht kranion. Vielleicht war dieser Hügel wie
(Jes 1,18), liebe ich den Gedanken, daß ein Schädel geformt oder er hieß so, weil
der Mantel für meine Sünden steht, die er eine Hinrichtungsstätte war. Wo dieser
auf Jesus gelegt wurden, damit ich Got- Ort genau liegt, ist heute nicht mit
tes Mantel der Gerechtigkeit angetan Sicherheit zu sagen.
bekommen kann (2. Kor 5,21). 27,34 Ehe er ans Kreuz geschlagen
27,29.30 »Sie flochten eine Krone aus wurde, boten die Soldaten Jesus »mit
Dornen« und drückten sie ihm auf das Galle vermischten Wein« an, ein Betäu-
Haupt. Aber wir blicken hinter ihre rohe bungsmittel für die Verurteilten. Jesus
Verspottung und verstehen, daß er die weigerte sich davon zu trinken. Es war
Krone aus Dornen trug, damit wir die Kro- notwendig, daß er die volle Last der
ne der Gerechtigkeit tragen dürfen. Sie ver- menschlichen Sünde trug, ohne seine
spotteten ihn als König der Sünde, wir Sinne zu betäuben oder die Schmerzen
verehren ihn als Retter der Sünder. zu erleichtern.

151
Matthäus 27

27,35 Matthäus beschreibt die Kreuzi- übergehenden nahmen sich die Zeit, den
gung einfach und emotionslos. Er will Hirten zu verspotten, als er für die Scha-
nicht dramatisch werden, Sensationslust fe starb: »Der du den Tempel abbrichst
liegt ihm fern, auch ergeht er sich nicht in und in drei Tagen aufbaust, rette dich
grausamen Details. Er stellt einfach fest, selbst. Wenn du Gottes Sohn bist, so stei-
daß sie ihn kreuzigten. Und doch wird ge herab vom Kreuz.« Das ist die Sprache
die Ewigkeit selbst die Tiefe dieser Worte rationalistischen Unglaubens. »Wir glau-
nicht ausloten können. ben nur, was wir sehen.« »Steig herab
Wie in Psalm 22,18 vorausgesagt, ver- vom Kreuz«, mit anderen Worten:
teilten die Soldaten seine Kleider. Um »Nimm den Anstoß des Kreuzes weg
das nahtlose Gewand, welches sein gan- und wir werden glauben.« William
zer irdischer Besitz gewesen war, losten Booth sagte einmal: Sie behaupteten, sie
sie. Denney sagt: Das einzige vollkommene würden glauben, wenn er vom Kreuz herun-
Leben, das auf dieser Welt je geführt wurde, terkäme, aber wir glauben, weil er oben blieb.
ist das Leben dessen, der nichts besaß und der 27,41-44 Auch die Hohenpriester,
nichts als die Kleider auf seinem Leib hinter- Schriftgelehrten und Ältesten fielen in
ließ. den Chor mit ein. Ohne Einsicht schrieen
27,36 Die Soldaten waren Vertreter sie: »Andere hat er gerettet, sich selbst
einer Welt der kleinen Leute. Sie hatten kann er nicht retten.« Sie wollten ihn ver-
sicherlich keinen Sinn für den histori- spotten, aber für uns ist es ein Anlaß zum
schen Augenblick. Wenn sie darum Lob:
gewußt hätten, hätten sie sich nicht ein- Sich selbst konnte er nicht retten,
fach hingesetzt, um Wache zu halten, sie Am Kreuz mußte er sterben,
wären niedergekniet, um anzubeten. Sonst gäb' es keine Gnade
27,37 Über dem Haupt Jesu hatten sie Für Sünder, die ihm nah'n
seinen Titel geschrieben: »DIES IST JESUS, Ja, Christus, der Sohn Gottes
DER KÖNIG DER JUDEN.« Die genauen Wor- mußte bluten,
te sind in den einzelnen Evangelien Damit Sünder von der Sünde
51)
etwas unterschiedlich. In Markus heißt befreit würden. Albert Midlane
es: »Der König der Juden« (Mk 15,26), bei Das galt sowohl für Jesus als auch für
Lukas: »Dieser ist der König der Juden« uns. Wir können andere nicht retten,
(Lk 23,38), bei Johannes: »Jesus, der Na- wenn wir noch versuchen, uns selbst zu
zoräer, der König der Juden.« Der Hohe- retten.
priester wandte ein, daß der Titel nicht Die religiösen Führer verhöhnten sei-
den Tatsachen entspräche, sondern nur nen Anspruch, der Retter, der König von
eine Behauptung des Angeklagten sei. Israel und der Sohn Gottes zu sein. Sogar
Pilatus aber setzte sich durch. Die unge- »die Räuber, die mit ihm gekreuzigt wa-
rechtfertigte Anschuldigung war für alle ren«, fielen in die Schmähreden ein. Die
zu sehen – in Hebräisch, Lateinisch und religiösen Führer vereinten sich mit Kri-
Griechisch (Joh 19,19-22). minellen, um ihren Gott zu verhöhnen.
27,38 Der sündlose Sohn Gottes war
von zwei Räubern umgeben. War es nicht, Q. Drei Stunden Dunkelheit (27,45-50)
weil Jesaja 700 Jahre vorher prophezeit 27,45 Alle Leiden und Beschimpfungen,
hatte, er werde sich zu den Verbrechern die er von Menschen zu ertragen hatte,
zählen lassen (Jes 53,12)? Zunächst be- waren verglichen mit dem, was ihn nun
schimpften ihn beide Räuber (V. 44). Aber erwartete, verhältnismäßig harmlos. »Von
einer tat Buße und wurde sofort gerettet, der sechsten Stunde an« (Mittag) »bis zur
schon wenige Stunden später war er mit neunten Stunde« (15 Uhr) »kam eine Fin-
Christus im Paradies (Lk 23,42.43). sternis«, und zwar nicht nur über das
27,39.40 Wenn das Kreuz die Liebe Land Palästina sondern auch über seine
Gottes offenbart, so offenbart es auch die heilige Seele. Während dieser Zeit trug er
Verdorbenheit des Menschen. Die Vor- den unbeschreiblichen Fluch für unsere

152
Matthäus 27

Sünden. In diesen drei Stunden war die mein Leben, um es wiederzunehmen.


Hölle zusammengefaßt, die wir eigentlich Niemand nimmt es von mir, sondern ich
verdient hätten, der Zorn Gottes gegen lasse es von mir selbst. Ich habe Voll-
alle unsere Übertretungen. Wir sehen das macht, es zu lassen, und habe Vollmacht,
nur sehr schwach, wir können einfach es wiederzunehmen« (Joh 10,17.18)?
nicht wissen, was es für ihn bedeutet ha- Der Schöpfer des Universums
ben muß, Gottes gerechte Ansprüche an wurde als Mensch für den Menschen
den Sünder zu erfüllen. Wir wissen nur, zum Fluch gemacht.
daß er in diesen drei Stunden den Preis Den Anspruch des Gesetzes Gottes
bezahlte, die Schuld beglich und das Werk bezahlte er bis zum letzten.
zur Errettung der Menschheit vollendete. Seine heiligen Hände hatten den Zweig
27,46 Etwa um 15 Uhr »schrie Jesus geschaffen,
mit lauter Stimme auf und sagte: Eli, Eli, der die Dornen hervorbrachte, die seine
lama sabachthani? Das heißt: Mein Gott, Stirn krönten.
mein Gott, warum hast du mich verlas- Die Nägel wurden aus Minen gewonnen,
sen?« Die Antwort finden wir in Psalm deren Verstecke er angelegt hatte,
22,4: »Du bist heilig, der du wohnst unter Er hatte auch den Wald geschaffen, in
den Lobgesängen Israels.« Weil Gott hei- dem der Stamm wuchs,
lig ist, kann er Sünde nicht einfach über- an dem sein Leib dann hing.
sehen. Im Gegenteil, er muß sie bestra- Er starb an einem hölzernen Kreuz
fen. Der Herr Jesus hatte keine eigene und hatte doch den Berg gemacht,
Sünde, aber er nahm unsere Sünden auf auf dem es stand.
sich. Als Gott, der Richter, hinabblickte Der Himmel, der sich über ihm
und unsere Sünden auf ihm, dem sünd- verdunkelte,
losen Opfer, liegen sah, zog er sich von war von ihm über der Erde ausgebreitet
dem Sohn seiner Liebe zurück. worden.
27,47.48 Als Jesus schrie: »Eli, Eli . . .«, Die Sonne, die sich vor seinem Angesicht
meinten »einige von den Umstehenden«, verbarg,
er rufe Elia. Ob sie ihn wirklich nicht wurde durch seinen Befehl ans
verstanden hatten oder ob sie ihn ver- Firmament geheftet.
spotteten, ist nicht klar. Einer »nahm Der Speer, der sein kostbares Blut vergoß,
einen Schwamm, füllte ihn mit Essig und wurde in den Feuern Gottes geschmiedet.
steckte ihn auf ein Rohr und gab ihm zu Das Grab, in das sein Leib gelegt wurde
trinken«. Nach Psalm 69,22 war das kein war in einen Fels gehauen, den seine
Liebesdienst, sondern zählte zu seinen Hand bereitet hatte.
Leiden. Der Thron, auf dem er jetzt erscheint,
27,49 Die meisten meinten, man solle gehörte ihm von Anbeginn der Welt.
warten, ob Elia die Rolle erfüllen würde, Aber neue Herrlichkeit krönt sein Haupt,
die die jüdische Tradition ihm zuschrieb und vor ihm soll sich jedes Knie beugen.
– nämlich den Gerechten zu Hilfe zu F. W. Pitt
kommen. Aber es war nicht die Zeit der
Wiederkehr Elias (Mal 3,23), sondern der R. Der zerrissene Vorhang (27,51-54)
Zeitpunkt des Todes Jesu. 27,51 Als Jesus starb, zerriß der schwere,
27,50 Nachdem Jesus »wieder mit lau- gewebte Vorhang, der die zwei Haupt-
ter Stimme« geschrieen hatte, gab er den räume des Tempels voneinander trennte,
Geist auf. Der laute Schrei zeigt, daß er in durch eine unsichtbare Hand von oben
Kraft und nicht in Schwäche starb. Die nach unten. Bis dahin hatte dieser Vor-
Tatsache, daß er seine Geist aufgab, hang jeden außer dem Hohenpriester aus
unterscheidet seinen Tod von allen an- dem Allerheiligsten ferngehalten, wo
deren. Wir sterben, weil wir sterben müs- Gott selbst wohnte. Nur ein einziger
sen, er starb, weil er sich dazu entschie- Mensch durfte das Allerheiligste be-
den hatte. Hat er nicht gesagt: »Ich lasse treten, und das auch nur einmal im Jahr.

153
Matthäus 27

Im Hebräerbrief erfahren wir, daß der gedient hatten und dem Herrn den
Vorhang für den Leib Jesu stand. Sein ganzen Weg von Galiläa nach Jerusalem
Zerreißen symbolisierte, daß er seinen gefolgt waren. »Maria Magdalena und
Leib in den Tod gegeben hatte. Durch sei- Maria, des Jakobus und Joses Mutter,
nen Tod haben wir »durch das Blut Jesu und die Mutter der Söhne des Zebedäus«
Freimütigkeit zum Eintritt in das Heilig- waren da, außerdem Salome, die Frau
tum, den er uns bereitet hat als einen des Zebedäus. Die furchtlose Verehrung
neuen und lebendigen Weg durch den dieser Frauen leuchtet mit besonderem
Vorhang – das ist durch sein Fleisch« Glanz hervor. Sie blieben bei Jesus, als
(Hebr 10,19.20). Nun darf der kleinste die männlichen Jünger um ihr Leben lie-
der Gläubigen jederzeit zum Gebet und fen!
Lob in die Gegenwart Gottes kommen.
Aber laßt uns nie vergessen, daß dieses T. Das Begräbnis in Josephs Grab
Vorrecht für einen enormen Preis erlangt (27,57-61)
wurde – das kostbare Blut Jesu. 27,57.58 Joseph von Arimathia, »ein rei-
Der Tod des Sohnes Gottes war auch cher Mann« und Mitglied des Sanhe-
die Ursache für die Auflehnung der drins, hatte an der Entscheidung des
Natur – als ob zwischen der unbelebten Rates, Jesus an Pilatus zu überliefern,
Schöpfung und ihrem Schöpfer ein Mit- nicht teilgenommen (Lk 23,51). Bis zu
fühlen geherrscht hätte. Es gab ein Erd- diesem Zeitpunkt war er ein heimlicher
beben, das Felsen zerriß und viele Gräber Jünger gewesen, doch nun ließ er alle
öffnete. Vorsicht fahren. Mutig ging er zu Pilatus
27,52.53 Man beachte, daß es erst und bat um die Erlaubnis, seinen Herrn
nach der Auferstehung Jesu war, daß die zu begraben. Wir müssen versuchen, uns
in den Gräbern liegenden Menschen auf- das erstaunte Gesicht des Pilatus vorzu-
erstanden und nach Jerusalem kamen, stellen, außerdem die Provokation für
wo sie vielen erschienen. Die Bibel sagt die Juden. Für sie bedeutete diese Bitte,
nicht, ob diese auferstandenen Heiligen daß ein Mitglied des Sanhedrins sich
wieder starben oder mit dem Herrn Jesus öffentlich für den Gekreuzigten einsetz-
in den Himmel auffuhren. te. In Wahrheit begrub Joseph sich selbst
27,54 Das außergewöhnliche Aufbäu- in sozialer, wirtschaftlicher und reli-
men der Natur überzeugte den römi- giöser Hinsicht, als er den Leib Jesu bei-
schen Hauptmann und seine Leute, daß setzte. Diese Handlung trennte ihn für
Jesus der Sohn Gottes war (obwohl im immer von den Herrschenden, die den
Griechischen kein bestimmter Artikel Herrn Jesus getötet hatten.
steht, wird durch die Wortstellung aus- 27,59.60 Pilatus genehmigte die Beer-
gedrückt, daß er der Sohn Gottes war, digung und Joseph konservierte den
52)
nicht ein Sohn Gottes ). Was meinte der Leib liebevoll, indem er ihn »in ein reines
Hauptmann damit? War dies ein volles Leinentuch« wickelte und Kräuter zwi-
Bekenntnis zu Jesus Christus als Herr schen die einzelnen Lagen tat. Dann leg-
und Retter, oder nur die Anerkennung, te er ihn in sein eigenes, neues Grab, daß
daß Jesus mehr als ein normaler Mensch aus dem Felsen ausgehauen war. Die Öff-
gewesen war? Wir wissen es nicht genau. nung des Grabes wurde durch einen
Man sieht, daß die Soldaten von Ehr- großen Stein verschlossen, der die Form
furcht erfüllt waren und erkannt hatten, eines Mühlsteins hatte und hochkant in
daß das Aufbäumen der Natur mit dem einer Laufrinne stand, die ebenfalls in
Tode Jesu zu tun hatte, nicht mit dem Tod den Felsen gehauen war.
derer, die mit ihm gekreuzigt waren. Viele Jahrhunderte zuvor hatte Jesaja
vorausgesagt: »Und man gab ihm bei
S. Die treuen Frauen (27,55.56) Gottlosen sein Grab, aber bei einem Rei-
27,55.56 Die Frauen werden hier beson- chen [ist er gewesen] in seinem Tod«
ders erwähnt, die dem Herrn treu (Jes 53,9). Seine Feinde hatten zweifellos

154
Matthäus 27 und 28

geplant, seinen Leib in das Hinnomtal zu XV. Der Sieg des Königs (Kap. 28)
werfen, um ihn auf dem dort schwelen-
den Abfallhaufen zu verbrennen oder A. Das leere Grab und der auferstan-
von den Füchsen fressen zu lassen. Aber dene Herr (28,1-10)
Gott ließ ihre Pläne mißlingen und 28,1-4 Am Sonntag morgen kamen die
benutzte Joseph, um sicherzustellen, daß zwei Marias noch vor der Dämmerung,
er bei einem Reichen begraben wurde. »um das Grab zu besehen«. Als sie an-
27,61 Nachdem Joseph gegangen kamen, »geschah ein großes Erdbeben;
war, blieben Maria Magdalena und die denn ein Engel des Herrn kam aus dem
Mutter von Jakobus und Joses, um dem Himmel herab, trat hinzu, wälzte den
Grab gegenüber die Totenwache zu hal- Stein weg und setzte sich darauf«. Die
ten. römische Wache, die vor seiner strah-
lenden Erscheinung und den weißen
U. Das bewachte Grab (27,62-66) Kleidern erschrak, fiel in Ohnmacht.
27,62-64 Der erste Tag des Passahfestes, 28,5.6 Der Engel versicherte den
der »Rüsttag« genannt wurde, war der Frauen, daß sie nichts zu fürchten hätten.
Tag der Kreuzigung Jesu. Am nächsten Der, den sie suchten, sei auferstanden,
Tag wurde den Hohenpriestern und Pha- »wie er gesagt hat. Kommt her, seht die
risäern bei der Angelegenheit ungemüt- Stätte, wo der Herr gelegen hat«. Der
lich. Sie erinnerten sich daran, was Jesus Stein war nicht weggerollt worden, um
über seine Auferstehung gesagt hatte den Herrn aus dem Grab zu befreien,
und gingen deshalb zu Pilatus und baten sondern damit die Frauen sehen konn-
um eine Wache für das Grab. Sie sollte ten, daß er auferstanden war.
verhindern, daß seine Jünger den Leib 28,7-10 Der Engel sandte dann die
stehlen und so den Eindruck erwecken Frauen, diese wunderbare Nachricht
könnten, er wäre auferstanden. Wenn schnell zu den Jüngern zu bringen. Der
das passieren würde, so fürchteten sie, Herr lebte wieder und würde sie in Ga-
wäre »die letzte Verführung . . . schlim- liläa treffen. Als sie auf dem Weg waren,
mer . . . als die erste«, d. h. die Nachricht um es den Jüngern zu berichten, erschien
seiner Auferstehung wäre schädlicher, ihnen Jesus und begrüßte sie mit einen
54)
als seine Behauptung, der Messias und einzigen Wort: »Friede.« Sie reagierten,
Sohn Gottes zu sein. indem sie ihm zu Füßen fielen und ihn
27,65.66 Pilatus antwortete: »Ihr habt anbeteten. Dann beauftragte er sie noch
eine Wache. Geht hin, sichert es, so gut einmal selbst, den Jüngern zu sagen, daß
ihr könnt!« (nach der englischen KJ- er sie in Galiläa wiedertreffen wolle.
Übersetzung). Das kann bedeuten, daß
sie schon eine Wache zugeteilt bekom- B. Die Soldaten werden bestochen
men hatten oder aber, daß ihnen ihre Bit- (28,11-15)
te gewährt wurde. Lag nicht Ironie in der 28,11 Als die Soldaten wieder aufwach-
Stimme des Pilatus, als er sagte »sichert ten, gingen einige von ihnen kleinlaut zu
es, so gut ihr könnt«? Sie taten ihr Bestes. den Hohenpriestern, um ihnen die Neu-
Sie versiegelten den Stein und plazierten igkeit zu bestellen. Sie hatten ihre Aufga-
die Wache, aber ihre besten Sicherheits- be nicht erfüllt! Das Grab war leer!
vorkehrungen reichten eben doch nicht 28,12.13 Es ist einfach, sich die Bestür-
aus. Unger sagt: zung der religiösen Führer vorzustellen.
Die Vorsichtsmaßnahmen, die seine Fein- Die Priester hielten einen Rat mit den
de trafen – Versiegelung des Grabes, Aufstel- Ältesten, um ihre Strategie zu planen. In
len einer Wache – mußten am Ende dazu die- ihrer Verzweiflung bestachen sie die Sol-
nen, daß Gott die Pläne der Gottlosen daten, die fantastische Geschichte zu
zunichte machte, und brachten den unwider- erzählen, daß, während sie schliefen, die
legbaren Beweis der Auferstehung des Jünger gekommen seien und den Leib
53)
Königs. Jesus gestohlen hätten.

155
Matthäus 28

Diese Erklärung wirft mehr Fragen zum Grab und fanden es leer. Glauben
auf als sie beantwortet. Warum schliefen Sie, daß auch sie zum falschen Grab gin-
die Soldaten, wo sie doch hätten wachen gen? Und noch mehr als das, als sie zum
sollen? Wie konnten die Jünger den Stein Grab kamen und es leer vorfanden, war
wegrollen, ohne sie zu wecken? Wie dort ein Engel, der sagte: »Er ist nicht
konnten alle Soldaten zur gleichen Zeit hier, er ist auferstanden. Siehe da, die
einschlafen? Wenn sie geschlafen hatten, Stätte, wo sie ihn hingelegt hatten.«
woher wußten sie dann, daß die Jünger Glauben Sie, daß der Engel auch zum
den Leib gestohlen hatten? Wenn wahr falschen Grab kam? Vergessen sie aber
war, was sie erzählten, warum mußten nicht, daß intelligente Menschen diese
sie dann bestochen werden, um es zu Theorien erdacht haben. Diese sind völlig
erzählen? Wenn die Jünger den Leib aus der Luft gegriffen.
gestohlen haben, warum haben sie sich 2. Andere habe vorgeschlagen, daß Jesus
dann die Zeit genommen, das Grabtuch nicht gestorben ist, sondern nur ohn-
zu entfernen und das Schweißtuch zu- mächtig wurde und dann irgendwie im
sammenzufalten (Lk 24,12; Joh 20,6.7)? kühlen Grab wieder aufgewacht und her-
28,14 In Wirklichkeit wurden die Sol- ausgekommen sei. Sie hatten einen gro-
daten bezahlt, eine Geschichte zu er- ßen schweren Stein vor sein Grab ge-
zählen, die ihnen selbst gefährlich wer- wälzt, der zudem noch mit dem römi-
den konnte, denn Schlafen im Dienst schen Siegel verschlossen war. Niemand
stand im Römischen Reich unter Todes- im Grab konnte diesen Stein je weggerollt
strafe. Deshalb mußten die jüdischen haben, der in einer Rinne lag, die in der
Führer versprechen, für sie einzutreten, Mitte eine Vertiefung zur Sicherung des
»wenn dies dem Statthalter zu Ohren Steines hatte. Er wäre als Verletzter, der
kommen sollte«. viel Blut verloren hatte, nie aus dem Grab
Der Sanhedrin lernte bald, daß sich herausgekommen.
Wahrheit zwar immer selbst beweist, Die einfache Wahrheit ist, daß die Aufer-
aber daß eine Lüge von vielen anderen stehung des Herrn Jesus eine wohlbezeugte
Lügen gestützt werden muß. geschichtliche Tatsache ist. Er zeigte sich sei-
28,15 Dennoch hält sich diese nen Jüngern nach seinem Leiden durch viele
Geschichte »bei den Juden bis auf den unbestreitbare Beweise als der Lebendige.
heutigen Tag«, und auch bei den Heiden. Man denke an seine vielen in der Bibel ein-
Und es gibt noch andere Mythen. Wilbur zeln aufgeführten Erscheinungen vor seiner
Smith faßt zwei von ihnen zusammen: Himmelfahrt:
1. Als erstes ist behauptet worden, daß die 1. Vor Maria Magdalena (Mk 16,9-11).
Frauen zum verkehrten Grab gegangen 2. Vor den Frauen (Matth 28,8-10).
waren. Wir wollen darüber einen Augen- 3. Vor Petrus (Lk 24,34).
blick nachdenken. Würden Sie das Grab 4. Vor den beiden Jüngern auf der Straße
des innig Geliebten nach der Zeit von nach Emmaus (Lk 24,13-35).
Freitag bis Sonntag morgen verfehlen 5. Vor allen Jüngern außer Thomas
können? Außerdem war dies kein Fried- (Joh 20, 19-25).
hof. Es war ein privater Garten. Es gab 6. Vor allen Jüngern einschließlich Thomas
dort kein anderes Grab. (Joh 20,26-31).
Nehmen wir einmal an, es habe doch noch 7. Vor den sieben Jüngern am See Geneza-
andere Gräber dort gegeben, auch wenn reth (Joh 21).
es nicht so war. Man stelle sich nun vor, 8. Vor über 500 Gläubigen (1. Kor 15,7).
daß die Frauen mit ihren tränennassen 9. Vor Jakobus (1. Kor 15,7).
Augen herumstolperten und ins falsche 10. Vor den Jüngern auf dem Ölberg
Grab geraten wären. Lassen wir das ein- (Apg 1,3-12).
mal für die Frauen gelten. Aber die hart- Einer der großen Grundpfeiler unseres
gesottenen Fischer Simon Petrus und christlichen Glaubens sind die historischen
Johannes, die nicht weinten, gingen auch Beweise für die Auferstehung des Herrn Jesus

156
Matthäus 28

Christus. Hier können Sie und ich einen fest- 2. Tauft sie »auf den Namen des Vaters
en Stand haben, um für den Glauben zu kämp- und des Sohnes und des Heiligen
fen, weil wir eine Sachlage vorfinden, der Geistes«. Die Verantwortung liegt bei
nicht widersprochen werden kann. Sie kann den Botschaftern Christi, über die
55)
geleugnet, aber nicht widerlegt werden. Taufe zu lehren und sie als Befehl dar-
zustellen, dem man gehorsam sein
C. Die große Aussendung (28,16-20) muß. In der Gläubigentaufe bekennt
28,16.17 In Galiläa erschien der auferstan- sich der Christ öffentlich zum dreiei-
dene Herr Jesus den Jüngern auf einem nen Gott. Er erkennt an, daß Gott sein
nicht näher genannten Berg. Das ist die Vater ist, daß Jesus Christus sein Herr
gleiche Erscheinung, wie sie in Markus und Retter ist, und daß der Heilige
16,15-18 und in 1. Korinther 15,6 berichtet Geist in ihm wohnt, ihm Kraft gibt
wird. Welch ein wunderbares Wie- und ihn lehrt. Das Wort »Name« in
dersehen! Seine Leiden waren für immer Vers 19 steht in der Einzahl. Ein
vollendet. Weil er lebte, würden auch sie Name oder Wesenheit, aber drei Per-
leben. Er stand vor ihnen in seinem ver- sonen – Vater, Sohn und Heiliger
herrlichten Leib. Sie beteten diesen leben- Geist.
digen, liebevollen Herrn an – obwohl 3. Lehrt sie »alles zu bewahren, was ich
noch immer Zweifel an einigen nagte. euch geboten habe!« Dieser Auftrag
28,18 Dann erklärte der Herr, daß ihm geht über die Evangelisation hinaus.
»alle Macht im Himmel und auf Erden« Es ist nicht genug, einfach möglichst
gegeben sei. In gewissem Sinne hatte er viele zu »bekehren« und sie dann für
diese Macht schon immer gehabt. Aber sich allein kämpfen zu lassen. Sie
er sprach nun von seiner Macht als müssen gelehrt werden, den Geboten
Haupt der neuen Schöpfung. Seit seinem Christi zu gehorchen, wie wir sie im
Tod und seiner Auferstehung hatte er die NT finden. Das Wesen der Jünger-
Macht, allen, die ihm Gott gegeben hat, schaft besteht darin, wie der Meister
ewiges Leben zu geben (Joh 17,2). Schon zu werden, und das erreicht man
immer hatte er die Macht als Erstgebore- durch systematische Lehre des Wor-
ner der Schöpfung. Aber nun hatte er das tes Gottes und durch Unterwerfung
Werk der Erlösung vollbracht und hat unter dieses Wort.
auch die Macht als der Erstgeborene aus Dann fügte der Retter noch die Ver-
den Toten – »damit er in allem den Vor- heißung seiner ständigen Gegenwart bei
rang habe« (Kol 1,15.18). den Jüngern hinzu, bis dieses Zeitalter
28,19.20 Als Haupt der neuen Schöp- vollendet ist. Sie brauchten nicht allein
fung gab er dann den großen Auftrag und ohne Führung zu gehen. Bei all ihren
weiter, der praktisch die »Geschäftsord- Diensten und Reisen konnten sie sich der
nung« für alle Gläubigen in der gegen- Gemeinschaft des Sohnes Gottes sicher
wärtigen Phase des Reiches bildet – der sein.
Zeit zwischen der Ablehnung des Königs Viermal haben wir hier das Wort
und seiner Wiederkunft. »alle«: Alle Macht, alle Nationen, alles
Der Auftrag enthält drei Befehle, kei- bewahren und alle Tage.
ne Bitten: So endet dieses Evangelium mit der
1. »Geht nun hin und machte alle Natio- Aussendung und dem Trost von unse-
nen zu Jüngern.« Dies geht nicht rem herrlichen Herrn. Fast zwei Jahrtau-
davon aus, daß sich die ganze Welt sende später haben seine Worte noch die
bekehrt. Indem sie das Evangelium gleiche Stichhaltigkeit, Bedeutung und
predigten, sollten die Jünger andere Anwendung. Die Aufgabe ist noch
Menschen dazu bringen, Schüler immer nicht vollbracht.
oder Nachfolger des Retters zu wer- Was tun wir, um seinen letzten Befehl
den – Menschen aus jedem Volk, auszuführen?
Stamm, jeder Nation und Sprache.

157
Anmerkungen

Anmerkungen wohl der Textus Receptus etwas an-


deres sagt, sind sie meist im Recht. In
solchen Fällen hat die Tradition der
1) (1,1)Jahwe oder Jehova ist die deut- KJ wenig textliche Unterstützung.
sche Form des hebräischen Gottes- 10) (7,28.29) Jamieson, Fausset and Bro-
namens jhwh, der normalerweise mit wn, Critical and Explanatory Commen-
»HERR« übersetzt wird. Eine ähnli- tary on the New Testament, Bd. V, S. 50.
che Situation haben wir bei dem 11) (8,2) Einige Formen des Aussatzes
Namen Jesus, der deutschen Form sind nicht mit der Lepra identisch,
des hebräischen Namens Jeschua. die auch unter dem Namen »Han-
2) (4,2.3) Konditional I, ei wird mit dem sensche Krankheit« bekannt ist. Im
Indikativ verwendet. Man kann hier 3. Buch Mose gehören zum Aussatz
umschreiben: »Wenn, und davon sogar Phänomene, die ein Haus oder
gehe ich aus, du der Sohn Gottes ein Kleidungsstück befallen können.
bist« oder »Weil du der Sohn Gottes 12) (8,16,17) Arno C. Gaebelein, The Gos-
bist«. pel of Matthew, S. 193.
3) (Exkurs) Eine »Haushaltung« ist eine 13) (8,26) Nestlé-Aland liest Gadarener.
Verwaltung oder Amtszeit. Sie Die Namen der Stadt und der Region
beschreibt die Weisen Gottes, die er könnten sich ein wenig überschnei-
gebraucht, um mit dem Menschen den.
zu einem geschichtlichen Zeitpunkt 14) (9,16) Gaebelein, Matthäus, S. 193.
umzugehen. Das Wort bedeutet 15) (9,17) W. L. Pettingill, Simple Studies
nicht eine Zeitspanne an sich, son- in Matthew, S. 111-112.
dern eher ein göttliches Programm, 16) (10,8) Die Mehrheit der Handschrif-
das während dieser Zeitspanne gül- ten läßt »Tote auferwecken« hier aus.
tig ist. 17) (10,21): J. C. Macauley, Obedient Unto
4) (5,13) Albert Barnes, Notes on the New Death: Devotional Studies in John's
Testament, Mathew and Mark, S. 47. Gospel, Band II, S. 59.
5) (5,22) Der kritische Text (Nestlé- 18) (10,41) A. T. Pierson, »The Work of
Aland) läßt die Worte »ohne Grund« Christ for the Believer«, in: The Mini-
aus, womit jede Form des Zorns aus- stry of Keswick, First Series, S. 114.
geschlossen wäre. 19) (11,27) Alva J. Gospel McClain, The
6) (5,44-47) Der kritische Text liest Greatness of the Kingdom, S. 311.
»Heiden« statt »Zöllner«. 20) (11,30) J. H. Jowett, Zitiert nach »Our
7) (5,44-47) Der Mehrheitstext, der sich Daily Bread«.
auf die Mehrheit der Zeugen stützt, 21) (12,8) E. W. Rogers, Jesus, der Chri-
hat statt »Brüder« »Freunde«. stus, S. 65-66.
8) (6,13) Einige Gelehrte glauben, daß 22) (12,19): McClain, Kingdom, S. 283.
es sich hierbei um ein liturgisch ver- 23) (12,21) Kleist und Lilly, keine weite-
ändertes Zitat aus 1. Chronika 29,11 ren Angaben verfügbar.
handelt. Das ist jedoch eine reine 24) (12,17) Ella E. Pole, C. I. Scofields Que-
Vermutung. Die traditionelle prote- stion Box, S. 97
stantische Form des Gebets läßt sich 25) (12,34.35) Obwohl NA und der
durchaus glaubwürdig verteidigen. Mehrheitstext »des Herzens« in Vers
9) (7,13.14) Sowohl Nestlé-Aland als 35 auslassen, ist diese Bedeutung in
auch der Mehrheitstext haben hier den Worten enthalten.
einen Ausruf: »Wie eng ist die Pforte 26) (13,13) H. Chester Woodring, unver-
und wie schwer der Weg, und wie öffentlichte Mitschrift einer Vorle-
wenige sind es, die ihn finden.« Wenn sung über Matthäus, Emmaus Bible
die ältesten Manuskripte (normaler- School, 1961.
weise NA) und die Mehrheit der 27) (13,22) G. H. Lang, The Parabolic Tea-
Manuskripte übereinstimmen, ob- ching of Scripture, S. 68.

158
Anmerkungen

28) (13,24-26) Merrill F. Unger, Unger's 45) (24,29) I. Velikovsky, Earth in Uphea-
Bible Dictionary, S. 1145. val, S. 136.
29) (13,33) J. H. Brookes, I Am Coming, S. 46) (24,30) Das gleiche griechische Wort
65. (gé, vgl. das dt. Präfix »geo-«) be-
30) (13,49.50) Gaebelein, Matthew, S. 302. deutet sowohl Land als auch Erde.
31) (14,4.5) Quelle unbekannt. 47) (24,34) F. W. Grant, »Matthäus«,
32) (16,2.3) Natürlich gelten diese Wet- Numerical Bible, The Gospels, S. 230.
tervorzeichen für Israel, nicht jedoch 48) (24,36) NA fügt hier hinzu: »auch
für Mitteleuropa! nicht der Sohn.«
33) (16,7-10) Es kann sein, daß die zwölf 49) (25,28.29) A. T. Pierson, keine weite-
kophinoi weniger fassen konnten als ren Angaben verfügbar.
die sieben spurides bei der Speisung 50) (26,64) R. C. H. Lenski, The Interpre-
der 4000. tation of St. Matthew's Gospel, S. 1064.
34) (16,17.18) G. Campbell Morgan, Das 51) (27,37) Wenn man alle zitierten Teile
Evangelium nach Matthäus, S. 211. zusammentut, ergibt sich: »Dies ist
35) (16,19) Charles C. Ryrie (Hrsg), The Jesus von Nazareth, der König der
Ryrie Study Bible, New King James Ver- Juden.« Eine andere Möglichkeit ist,
sion, S. 1506. daß jeder Evangelist die gesamte
36) (16,20) James S. Steward, The life and Inschrift zitiert, aber jeweils eine
Teaching of Jesus Christ, S. 106. andere Version in einer anderen
37) (16,26) Donald G. Barnhouse, keine Sprache, die leicht unterschiedlich
weiteren Angaben verfügbar. gewesen sein können.
38) (18,11) In NA ist er ausgelassen, ist 52) (27,54) Im Griechischen haben
jedoch in den meisten Handschirften bestimmte prädikative Nomen,
enthalten. wenn sie vor dem Verb stehen, nor-
39) (20,15) James S. Stewart, A Man in malerweise keinen Artikel (Teil der
Christ, S. 252. sogen. »Colwell'schen Regel«).
40) (20,31-34) Gaebelein, Matthew, S. 420. 53) (27,65.66) Merril F. Unger, Unger's
41) (21,6) J. P. Lange, A Commentary on großes Bibelhandbuch, S. 380.
the Holy Scriptures, 25 Bde, Seite 54) (28,8) »Seid gegrüßt« heißt wörtlich
unbekannt. übersetzt »Freut euch!« Das war der
42) (23,9.10) H. G. Weston, Matthew, the übliche griechische Gruß. Hier bei
Genesis of the New Testament, S. 110. der Auferstehung erscheint diese
43) (23,14) Nestlé-Ahland läßt das zwei- wörtliche Übersetzung (Anmer-
te »Wehe« aus. kung der Scofield-Bibel) am pas-
44) (23,25.26) Der Mehrheitstext hat hier sendsten.
Ungerechtigkeit (adiakia) statt Unent- 55) (28,15) Wilbur Smith, »In the Study«,
haltsamkeit (akrasia). Moody Monthly April 1969.

159
Bibliographie

Bibliographie Tasker, R. V. G.,


The Gospel according to St.Matthew, TBC,
Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans
Gaebelein, A. C., Publishing Company, 1961.
The Gospel of Matthew, Thomas, W. H. Griffith,
New York: Loizeaux Bros., 1910. Outline Studies in Matthew,
Kelly, William, Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans
Lectures on Matthew – Gospel, Publishing Company, 1961.
Minneapolis: Augsburg Publishing Weston, H. G.,
House, 1933. Matthew, the Genesis of the New Testament,
Macaulay, J. C., Philadelphia: American Baptist
Behold Your King, Publication Society, o. J.
Chicago: The Moody Bible Institute, Periodica und unveröffentlichtes
1982 Material
Morgan, G. Campbell, Smith, Wilbur,
The Gospel According to Matthew, »In the Study«, Moody Monthly,
New York: Fleming H. Revell Company, April 1969.
1929.
Woodring, H. Chester,
Pettingill, W. L., Aufzeichnung: Vorlesung über
Simple Studies in Matthew, Matthäus, Emmaus Bible School
Harrisburg: Fred Kelker, 1910. (jetzt Emmaus Bible College), 1961.

160
Das Evangelium nach Markus
Markus besitzt eine Frische und Kraft,
die den christlichen Leser ergreift und ihn sich danach sehnen läßt,
mit seinen schwachen Kräften dem Beispiel seines wunderbaren Herrn zu dienen.
August van Ryn

Einführung Eine weitverbreitete Ansicht ist, daß


Markus der junge Mann ist, der nackt
davonläuft (14,51), und daß dies seine
I. Die einzigartige Stellung im Kanon bescheidene Signatur im Buch ist. (Die
Markus ist das kürzeste Evangelium und Titel der Evangelien waren zu Beginn
über neunzig Prozent seines Inhaltes kein Bestandteil der Bücher selbst.) Weil
erscheint auch in Matthäus, Lukas oder Johannes Markus in Jerusalem lebte und
in beiden. Welchen Beitrag leistet Mar- es keinen Grund gibt, diese kleine Ge-
kus, daß wir nicht ohne ihn auskommen? schichte einzufügen, wenn der junge
Als allererstes macht die Kürze und Mann nicht in irgendeinem Zusammen-
journalistische Einfachheit von Markus hang mit dem Evangelium steht, hat die
dieses Evangelium zu einer idealen Ein- Tradition wahrscheinlich recht.
führung in den christlichen Glauben.
Auf neuen Missionsfeldern ist das Mar-
kusevangelium oft das erste Buch, wel- II. Verfasserschaft
ches in eine neue Sprache übersetzt wird. Die meisten Autoren nehmen an, daß die
Aber es ist nicht nur der direkte, frühe und ungeteilte Meinung der Ge-
lebendige Stil – der sich besonders für meinde richtig ist, daß das zweite Evan-
die Römer und ihre heutigen Nachfahren gelium von Johannes Markus geschrie-
eignet –, sondern auch der Inhalt, der die ben wurde. Er war der Sohn der Maria
Besonderheit des Markusevangeliums aus Jerusalem, die dort ein Haus besaß,
ausmacht. das die Christen als Versammlungsort
Während Markus größtenteils diesel- nutzten.
ben Ereignisse behandelt wie Matthäus Die äußeren Beweise dafür sind früh zu
und Lukas – mit einigen wenigen Aus- datieren, stichhaltig und stammen aus
nahmen – erzählt er viele lebendige Ein- verschiedenen Teilen des römischen Rei-
zelheiten, die die anderen auslassen. ches. Papias (etwa 110 n. Chr.) zitiert den
Zum Beispiel erwähnt er, wie Jesus die Ältesten Johannes (vielleicht identisch
Jünger sah, wie er zornig wurde und wie mit dem Apostel Johannes, doch wahr-
er auf der Straße nach Jerusalem den Jün- scheinlich ein anderer der ersten Jünger),
gern vorausging. Er hatte diese Einzel- der gesagt hat, daß Markus, der Mit-
heiten zweifellos von Petrus gehört, mit arbeiter des Petrus, das Evangelium
dem er kurz vor dessen Tod zusammen- geschrieben habe. Justin der Märtyrer,
arbeitete. Die Überlieferung sagt, und Irenäus, Tertullian, Clemens von Alex-
wahrscheinlich hat sie recht, daß das andria, Origines und der Prolog gegen
Markusevangelium im wesentlichen die die Marcioniten einigen sich alle auf
Erinnerungen von Petrus enthält. Das Markus.
würde die vielen persönlichen Details, Die inneren Beweise für die Verfasser-
die Lebendigkeit und den Eindruck schaft des Markus sind zwar nicht viele,
erklären, den man beim Lesen dieses doch stimmen sie mit der allgemeinen
Buches erhält, nämlich daß es von einem Tradition der frühen Christenheit über-
Augenzeugen stammt. ein.
161
Markus

Der Schreiber kennt das Land Israel Gelehrte datieren Markus in die frühen
gut, insbesondere Jerusalem. (Die Berich- fünfziger Jahre, aber ein Datum zwi-
te über das Obergemach sind ausführli- schen 57 und 60 scheint recht wahr-
cher als in den anderen Evangelien – scheinlich.
nicht verwunderlich, wenn dies das
Haus war, in dem er aufgewachsen ist!) IV. Hintergrund und Thema
Das Evangelium zeigt an einigen Stellen In diesem Evangelium wird uns die
aramäischen Hintergrund (die Um- wunderbare Geschichte des vollkomme-
gangssprache in Israel), jüdische Gebräu- nen Knechtes Gottes erzählt, unseres
che sind bekannt und die Lebhaftigkeit Herrn Jesus Christus. Es ist die Geschich-
der Erzählung legt die enge Verbindung te des Einen, der die Insignien seiner
zu einem Augenzeugen nahe. Die himmlischen Herrlichkeit beiseite legte,
Grundstruktur des Buches entspricht der um auf Erden die Gestalt eines Knechtes
Predigt des Petrus in Apostelgeschichte anzunehmen (Phil 2,7). Es ist die unver-
10. gleichliche Geschichte des Einen, der
Die Überlieferung, daß Markus in »nicht gekommen ist, um bedient zu
Rom schrieb, wird durch eine größere werden, sondern um zu dienen und sein
Anzahl lateinischer Wörter als in den Leben zu geben als Lösegeld für viele«
anderen Evangelien belegt (etwa centu- (Mk 10,45).
rio, census, denarius, legion und praeto- Wenn wir daran denken, daß dieser
rium). vollkommene Knecht kein anderer als
Zehnmal wird der Autor im NT bei Gott der Sohn war, und daß er sich willig
seinem heidnischen (lateinischen) Na- die Sklavenschürze umband und ein
men genannt, Markus; dreimal wird sein Knecht der Menschen wurde, dann wird
jüdischer Name mit dem heidnischen dieses Evangelium desto heller erstrah-
Namen zusammen genannt, Johannes len. Hier sehen wir den menschgeworde-
Markus. Markus, der »Knecht« oder Mit- nen Sohn Gottes als abhängigen Men-
arbeiter zuerst von Paulus, dann von sei- schen auf der Erde leben. Alles, was er
nem Vetter Barnabas und schließlich, tat, geschah im vollkommenen Gehor-
nach der in dieser Hinsicht zuverlässigen sam gegenüber dem Willen seines Vaters,
Tradition, von Petrus bis zu dessen Tod, und seine großartigen Taten wurden in
war der ideale Verfasser für das Evange- der Kraft des Heiligen Geistes gewirkt.
lium des vollkommenen Knechtes. Der Autor, Johannes Markus, war ein
Knecht des Herrn, der gut anfing, eine
III. Datierung Weile vom Weg abkam (Apg 15,38), aber
Die Datierung des Markusevangeliums schließlich wieder zur Brauchbarkeit für
ist selbst bei konservativen, bibelgläubi- den Herrn zurückkam (2. Tim 4,11).
gen Gelehrten umstritten. Während wir Sein Stil ist knapp, eindrücklich und
kein Datum sicher festlegen können, so umfassend. Er betont eher die Taten als
deutet sich doch an, daß wir auf jeden die Worte des Herrn. Das sieht man dar-
Fall an eine Zeit vor der Zerstörung Jeru- an, daß er 19 Wunder des Herrn berich-
salems zu denken haben. tet, aber nur vier Gleichnisse wiedergibt.
Die Tradition ist sich nicht einig, ob Wenn wir das Evangelium untersu-
Markus die Predigt des Petrus über das chen, wollen wir versuchen, dreierlei
Leben unseres Herrn vor dem Tode des herauszufinden:
Apostels (vor 64-68) oder erst nachher 1. Was steht da?
aufgeschrieben hat. 2. Was bedeutet es?
Insbesondere, wenn Markus das erste 3. Was kann ich daraus für mich lernen?
Evangelium ist, das geschrieben wurde, Für alle, die wirklich treue Knechte des
wie die meisten lehren, ist ein frühes Herrn sein wollen, wird das Markus-
Datum nötig, damit Lukas das Material evangelium ein wertvolles Diensthand-
des Markus benutzen konnte. Einige buch sein.

162
Markus 1

Einteilung IV. Der Knecht reist nach Jerusalem


(Kap. 9 – 10)
V. Der Knecht dient in Jerusalem
I. Der Knecht wird vorbereitet (Kap. 11 – 12)
(1,1-13) VI. Der Knecht hält am Ölberg eine
II. Der Knecht dient in Galiläa Rede (Kap. 13)
(1,14 – 3,12) VII. Der Knecht leidet und stirbt
III. Der Knecht beruft und lehrt seine (Kap. 14 – 15)
Jünger (3,13 – 8,38) VIII. Der Knecht siegt (Kap. 16)

Kommentar digung des Johannes reagiert zu haben.


Aber das war nicht der Fall. Es mag sein,
daß es einen anfänglichen Ausbruch von
I. Der Knecht wird vorbereitet (1,1-13) Begeisterung gab, bei dem viele Men-
schen in die Wüste hinausgingen, den
A. Der Vorläufer des Knechtes bereitet feurigen Prediger zu hören, doch die
den Weg (1,1-8) Mehrheit bekannte und ließ ihre Sünden
1,1 Das Thema des Markus ist das Evan- nicht. Das wird sich im weiteren Verlauf
gelium von Jesus Christus. Weil er die des Berichts zeigen.
Knechtsrolle des Herrn Jesus betonen 1,6 Was für ein Mann war Johannes?
will, beginnt er nicht mit einem Stamm- Heute würde man ihn einen fanatischen
baum, sondern mit dem öffentlichen Asketen nennen. Er wohnte in der
Dienst des Retters. Dieser wurde durch Wüste. Seine Kleidung war – wie die von
Johannes den Täufer, den Herold des Elia – grob und sehr einfach. Seine Nah-
Evangeliums, angekündigt. rung reichte gerade eben aus, um sein
1,2.3 Sowohl Maleachi als auch Leben und seine Kraft zu erhalten, war
1)
Jesaja sagten voraus, daß ein Bote vor aber wohl kaum luxuriös zu nennen. Er
dem Messias hergehen würde, der die war ein Mann, der alle diese Dinge dem
Menschen aufrufen würde, sich geistlich einen Ziel unterordnete: Christus zu ver-
und moralisch auf sein Kommen vor- kündigen. Er hätte vielleicht reich wer-
zubereiten (Mal 3,1; Jes 40,3). Johannes den können, aber er wollte arm sein. So
der Täufer war die Erfüllung dieser wurde er ein passender Verkündiger des
Prophezeiungen. Er war der Bote, die Herrn, der keinen Ort hatte, sein Haupt
»Stimme eines Rufenden in der Wüste«. niederzulegen. Wir lernen hier, daß Ein-
1,4 Seine Botschaft lautete, daß die fachheit alle Diener des Herrn kenn-
Menschen Buße tun sollten (ihren Sinn zeichnen sollte.
ändern und ihre Sünden lassen sollten), 1,7 Seine Botschaft war die Überle-
um »Vergebung der Sünden« zu erlan- genheit des Herrn Jesus. Er sagte, daß
gen. Andernfalls wären sie nicht in der Jesus größere Macht hat, persönlich vor-
Lage, den Herrn zu empfangen. Nur hei- trefflicher und sein Dienst vollmächtiger
lige Menschen können den Heiligen ist. Johannes erachtete sich nicht würdig,
Sohn Gottes schätzen. ihm die Riemen seiner Sandalen zu lösen
1,5 Sobald ein Zuhörer Buße tat, tauf- – ein Sklavendienst. Geisterfüllte Predigt
te Johannes ihn als äußeres Zeichen sei- erhebt immer den Herrn Jesus und er-
ner Umkehr. Die Taufe trennte ihn öffent- niedrigt sich selbst.
lich von der Menge des Volkes Israel, das 1,8 Die Taufe des Johannes fand mit
seinen Gott vergessen hatte. Sie vereinig- Wasser statt. Sie war ein äußerliches Zei-
te ihn mit einem Überrest, der bereit war, chen, bewirkte jedoch keine Verände-
Christus anzunehmen. Nach Vers 5 rung im persönlichen Leben eines Men-
scheinen alle Menschen auf die Verkün- schen. Jesus würde »mit Heiligem Geist«

163
Markus 1

taufen, diese Taufe würde eine große sucht. Der Geist führte ihn in diese Erfah-
Zunahme geistlicher Kraft bringen (Apg rung – nicht um zu sehen, ob er sündigen
1,8). Außerdem würde sie alle Gläubigen würde, sondern um zu beweisen, daß er
in den Leib Christi, die Gemeinde, auf- nicht sündigen konnte. Wenn Jesus als
nehmen (1. Kor 12,13). Mensch auf Erden hätte sündigen kön-
nen, welche Gewißheit hätten wir dann,
B. Der Vorläufer tauft den Knecht daß er als Mensch im Himmel nicht sün-
(1,9-11) digen kann?
1,9 Die sogenannten dreißig stillen Jahre Warum betont Markus, daß Jesus
in Nazareth waren zu Ende. Der Herr »unter den wilden Tieren« war? Waren
Jesus war bereit, seinen öffentlichen diese Tiere von Satan gerufen worden,
Dienst zu beginnen. Als erstes reiste er um den Herrn zu töten? Oder waren sie
die etwa 100 Kilometer von Nazareth an in der Gegenwart ihres Schöpfers zahm?
den Jordan bei Jericho. Dort wurde er Wir können hier nur Fragen aufwerfen.
von Johannes getauft. In seinem Falle Gegen Ende der vierzig Tage (vgl.
war natürlich keine Buße notwendig, da Matth 4,11) dienten ihm die Engel. Wäh-
er keine Sünden zu bekennen hatte. Für rend der Zeit seiner Versuchung fastete
den Herrn war die Taufe eine symbo- er (Lk 4,2).
lische Handlung, die seine Taufe in den Prüfungen sind für jeden Gläubigen
Tod auf Golgatha und seine Aufer- unausweichlich. Je enger man dem
stehung von den Toten darstellen sollte. Herrn folgt, desto schwerer werden sie
So haben wir schon zu Beginn seines sein. Satan verschwendet seine Geschüt-
Dienstes eine lebhafte Vorausschau auf ze nicht an Namenschristen, sondern
das Kreuz und das leere Grab. eröffnet das Feuer auf diejenigen, die im
1,10.11 »Sobald er aus dem Wasser geistlichen Kampf Gebiete erobern. Es ist
heraufstieg, sah er die Himmel sich teilen keine Sünde, versucht zu werden. Mit
und den Geist wie eine Taube auf ihn her- eigener Kraft können wir nicht widerste-
abfahren.« Man hörte die Stimme Gottes, hen. Aber durch den in uns wohnenden
der Jesus seinen geliebten Sohn nannte. Geist ist uns die Kraft gegeben, daß die
Es gab im Leben unseres Herrn keine eigene Lust nicht über uns herrsche.
Zeit, zu der er nicht mit dem Heiligen
Geist erfüllt gewesen war. Doch nun kam II. Der Knecht dient in Galiläa
der Heilige Geist auf ihn und salbte ihn (1,14-3,12)
so zum Dienst und gab ihm Vollmacht.
Dies war eine besondere Darreichung A. Der Knecht beginnt seinen Dienst
des Geistes, der auf die drei Jahre Dienst (1,14.15)
vorbereitete, die jetzt vor dem Herrn 1,14.15 Markus geht nun zum Dienst des
Jesus lagen. Die Macht des Heiligen Gei- Herrn in Juda über (s. Joh 1,1-4,54) und
stes ist nicht teilbar. Ein Mensch mag beginnt mit dem großen Wirken in
gebildet, talentiert, redegewandt sein, Galiläa, das sich über einen Zeitraum
aber ohne die geheimnisvolle Bevoll- von einem Jahr und neun Monaten
mächtigung, die wir die Salbung nennen, erstreckte (1,14-9,50). Dann behandelt er
ist sein Dienst ohne Leben und wir- kurz den zweiten Teil des Dienstes in
kungslos. Die grundlegende Frage lau- Peräa (10,1-10,45), ehe er zur letzten
tet: »Habe ich den Heiligen Geist emp- Woche in Jerusalem übergeht.
fangen und bin ich bevollmächtigt zum Jesus kam »nach Galiläa und predig-
Dienst für den Herrn?« te das Evangelium Gottes«. Seine Bot-
schaft lautete insbesondere:
C. Der Knecht wird von Satan 1. Die Zeit war erfüllt. Nach dem pro-
versucht (1,12.13) phetischen Zeitplan gab es ein festes
1,12.13 Der Knecht Gottes wurde von Datum für die öffentliche Erschei-
Satan in der Wüste vierzig Tage lang ver- nung des Königs. Es war gekommen.

164
Markus 1

2. Das Reich Gottes war nahe ge- Christus ruft auch heute noch Men-
kommen, der König war da und bot schen, alles zu verlassen und ihm nach-
das Reich dem gesamten Volk Israel zufolgen (Lk 14,33). Weder Besitz noch
an. Das Reich war in dem Sinne Verwandtschaft dürfen ein Hindernis für
nahe, daß der König nun erschienen den Gehorsam sein.
war.
3. Menschen wurden aufgerufen, Buße C. Ein unreiner Geist wird ausge-
zu tun und an das Evangelium zu trieben (1,21-28)
glauben. Um in das Reich kommen Die Verse 21-34 beschreiben einen ty-
zu können, mußten sie von ihren pischen Tag im Leben unseres Herrn. Ein
Sünden umkehren und an die gute Wunder folgte auf das andere, als der
Nachricht vom Herrn Jesus glauben. Herr die Besessenen und Kranken heilte.
Die Heilungswunder unseres Herrn
B. Vier Fischer werden berufen zeigen, wie er die Menschen von den Fol-
(1,16-20) gen der Sünde befreit. Das kann man der
1,16-18 Als Jesus »am See von Galiläa nachfolgenden Übersicht entnehmen.
entlangging, sah er Simon und Andreas« Obwohl der Prediger von heute nicht
beim Fischen. Er kannte sie schon, sie aufgerufen ist, solche körperlichen Hei-
waren sogar ganz zu Beginn seines Dien- lungen durchzuführen, ist er doch stän-
stes schon Jünger geworden (Joh 1,40.41). dig gerufen, sich mit der geistlichen Hei-
Nun berief er sie, mit ihm zu leben und lung von Sünde zu beschäftigen. Sind
versprach ihnen, sie zu Menschenfi- dies nicht die größeren Wunder, die der
schern zu machen. Sofort gaben sie ihr Herr Jesus in Johannes 14,12 erwähnt:
einträgliches Geschäft als Fischer auf, um »Wer an mich glaubt, der wird auch die
ihm nachzufolgen. Ihr Gehorsam war Werke tun, die ich tue, und wird größere
gleich, gern und ganz. als diese tun?«
Fischen ist eine Kunst, mit der sich 1,21.22 Jetzt wollen wir uns wieder
das Seelengewinnen vergleichen läßt: der Erzählung des Markus zuwenden. In
1. Es erfordert Geduld. Es gibt oft einsa- Kapernaum ging Jesus in die Synagoge
me Stunden des Wartens. und lehrte am Sabbat. Die Menschen
2. Es erfordert Geschick, mit Ködern und erkannten, daß er kein gewöhnlicher
Netzen umzugehen. Lehrer war. Mit seinen Worten war eine
3. Es erfordert Unterscheidungsgabe und unbestreitbare Kraft verbunden, die die
gesunden Menschenverstand, um Schriftgelehrten nicht hatten, die mecha-
dorthin zu gehen, wo die Fische sind. nisch vor sich hin redeten. Jesu Sätze wa-
4. Es erfordert Ausdauer. Ein guter ren Pfeile des Allmächtigen. Seine Lehre
Fischer gibt nicht so schnell auf. war fesselnd, überzeugend und heraus-
5. Es erfordert Stille. Das ist der beste fordernd. Die Schriftgelehrten gaben
Weg, Störungen zu meiden und sich eine Religion aus zweiter Hand weiter.
selbst im Hintergrund zu halten. Aber die Predigt des Herrn war durch
Wir werden zu Menschenfischern, und durch echt. Er hatte die Vollmacht,
indem wir Jesus nachfolgen. Je ähnlicher so zu reden, weil er war, was er lehrte.
wir ihm sind, desto erfolgreicher werden Jeder, der das Wort Gottes weitergibt,
wir dabei, andere für ihn zu gewinnen. sollte mit Vollmacht sprechen oder es
Unsere Verantwortung ist es, ihm zu fol- lassen. Der Psalmist sagte: »Ich habe
gen, er wird für alles andere sorgen. geglaubt, darum kann ich reden«
1,19.20 Ein wenig später traf der Herr (Ps 116,10). Paulus wiederholte diese
Jesus Jakobus und Johannes, die Söhne Worte in 2. Korinther 4,13. Diese Bot-
des Zebedäus, als sie ihre Netze flickten. schaft ist aus tiefer Überzeugung ge-
Als er sie rief, verabschiedeten sie sich boren.
von ihrem Vater und »gingen weg, ihm 1,23 In dieser Synagoge gab es einen
nach«. Mann, der von einem Dämon besessen

165
Markus 1

Wunder: Befreiung von:


1. Heilung eines Mannes mit einem 1. Unreinheit der Sünde
unreinen Geist (1,23-26)
2. Heilung der Schwiegermutter des 2. Fieber und Rastlosigkeit der Sünde
Petrus (1,29-31)
3. Heilung des Aussätzigen (1,40-45) 3. Abscheulichkeit der Sünde
4. Heilung des Gelähmten (2,1-12) 4. Hilflosigkeit verursacht durch Sünde
5. Heilung des Mannes mit der 5. Nutzlosigkeit verursacht durch
Verdorrten Hand (3,1-5) Sünde
6. Befreiung des Besessenen (5,1-20) 6. Unglück, Gewalttätigkeit und
Schrecken der Sünde
7. Heilung der Frau mit Blutfluß 7. Macht der Sünde, die Lebenskraft zu
(5,25-34) rauben
8. Auferweckung der Tochter des 8. Geistlicher Tod durch Sünde
Jairus (5,21-24; 35-43)
9. Heilung der Tochter der 9. Knechtschaft durch Sünde und Satan
Syrophynizierin (7,24-30)
10. Heilung des Taubstummen (7, 31-37) 10. Unfähigkeit, Gottes Wort zu hören
und von Geistlichem zu sprechen
11. Heilung des Blinden (8,22-26) 11. Blindheit gegenüber dem Licht des
Evangeliums
12. Heilung des besessenen Knaben 12. Grausamkeit der Herrschaft Satans
(9,14-29)
13. Heilung des blinden Bartimäus 13. Der blinde und ärmliche Zustand, in
(10,46-52) den die Sünde führt

oder beherrscht wurde. Der Dämon wird gekommen, uns zu verderben? Ich kenne
als »unreiner Geist« beschrieben. Das dich . . .« Zuerst spricht der Dämon in
bedeutet wahrscheinlich, daß dieser Verbindung mit dem Mann, dann spricht
Geist sich dadurch bemerkbar machte, er nur noch für sich selbst.
daß er den Mann entweder körperlich 1,25.26 Jesus wollte das Zeugnis eines
oder moralisch unrein machte. Niemand Dämonen nicht annehmen, so wahr es
sollte Besessenheit mit Geisteskrankhei- auch sein mochte. Deshalb befahl er dem
ten verwechseln. Beides ist ein großer bösen Geist zu schweigen und aus dem
Unterschied. Ein besessener Mensch Mann auszufahren. Es muß seltsam aus-
wird von einem bösen Geist bewohnt gesehen haben, wie der Geist an dem
und beherrscht. Solch ein Mensch kann Mann zerrte und wie er schrie, als er sein
häufig übernatürlich handeln und wird Opfer verlassen mußte.
oft gewalttätig oder lästert, wenn er mit 1,27.28 Das Wunder erregte Entset-
der Person und dem Werk des Herrn zen. Das war für diese Menschen ganz
Jesus Christus konfrontiert wird. neu und aufregend, daß ein Mensch mit
1,24 Man beachte, daß der böse Geist einem bloßen Befehl einen Dämon aus-
Jesus erkannte und von ihm als dem treiben konnte. Sie fragten sich, ob dies
Nazarener und dem »Heiligen Gottes« der Anfang einer neuen religiösen Lehr-
sprach. Man beachte auch den Wechsel richtung war. Die Botschaft von dem
von der Mehrzahl in die Einzahl: »Was Wunder »ging sogleich aus überall in der
haben wir mit dir zu schaffen? . . . Bist du ganzen Umgebung Galiläas«. Ehe wir

166
Markus 1

diesen Abschnitt verlassen, sollten wir liegen, bei denen Christus ihren Dienst
dreierlei festhalten: begehrt. Echter Dienst Christi besteht in
1. Das erste Kommen Christi verursach- erster Linie darin, die täglichen Pflichten gut
2)
te offensichtlich zahlreiche dämo- zu erledigen.
nische Aktivitäten auf Erden. Es ist beachtenswert, daß der Herr bei
2. Die Macht Christi über die bösen Gei- jeder Heilung eine andere Methode ver-
ster ist ein Hinweis auf seinen end- wendet. Das erinnert uns daran, daß kei-
gültigen Sieg über Satan und seine ne zwei Bekehrungen auf die gleiche
Handlanger. Weise geschehen. Jeder Mensch muß
3. Wo immer Gott am Werk ist, wehrt individuell behandelt werden.
Satan sich. Alle, die dem Herrn die- Daß Petrus eine Schwiegermutter
nen wollen, müssen damit rechnen, hatte, zeigt uns, daß die Vorstellung
daß jeder Schritt auf ihrem Weg ver- eines ehelosen Priestertums dieser Zeit
hindert werden soll. »Denn unser äußerst fremd war. Das Zölibat ist eine
Kampf ist nicht gegen Fleisch und menschliche Tradition, die durch das
Blut, sondern gegen die Gewalten, Wort Gottes nicht gestützt wird und vie-
gegen die Mächte, gegen die Weltbe- lerlei Übel nach sich zieht.
herrscher dieser Finsternis, gegen die
Geister der Bosheit in der Himmels- E. Heilung bei Sonnenuntergang
welt« (Eph 6,12). (1,32-34)
1,32-34 Die Neuigkeit, daß Jesus da war,
D. Heilung der Schwiegermutter des hatte sich während des Tages verbreitet.
Petrus (1,29-31) Während noch Sabbat war, hatten die
»Sobald« und »sofort« sind Schlüssel- Menschen es nicht gewagt, die Notlei-
worte dieses Evangeliums und eignen denden zu Jesus zu bringen. Aber als
sich besonders für den Bericht, der die »die Sonne unterging« und damit der
Stellung des Herrn Jesus als Knecht Sabbat zu Ende war, strömten die Men-
betont. schen zum Haus des Petrus. Dort erleb-
1,29.30 Aus der Synagoge ging unser ten die Kranken und Besessenen die
Herr zu Simons Haus. Als er ankam, er- Macht, die von jeder Art der Sünde und
fuhr er, daß »die Schwiegermutter Simons ihren Folgen befreit.
aber fieberkrank darniederlag«. Vers 30
sagt, daß sie ihm sofort davon erzählten. F. Predigt in Galiläa (1,35-39)
Sie verschwendeten ihre Zeit nicht damit, 1,35 Jesus stand schon »frühmorgens, als
ihre Not erst einem Arzt zu sagen. es noch sehr dunkel war« auf und ging
1,31 Ohne ein Wort nahm Jesus sie bei an einen Platz, wo er nicht abgelenkt
der Hand und richtete sie auf. Sofort war wurde, und verbrachte dort eine Zeit im
sie geheilt. Normalerweise ist ein Gebet. Der Knecht Gottes öffnete jeden
Mensch nach Fieber sehr geschwächt. In Morgen sein Ohr, um von Gott dem Vater
diesem Fall nahm der Herr nicht nur das Anweisungen für den Tag zu erhalten
Fieber weg, sondern gab der Frau auch (Jes 50, 4,5). Wenn der Herr Jesus es nötig
gleich die Kraft zum Dienst. »Und sie hatte, morgens eine »Stille Zeit« einzule-
diente ihnen.« J. R. Miller sagt dazu: gen – wieviel mehr haben wir es nötig!
Jeder Genesene, sei er durch gewöhnliche Man beachte, daß er zu einer Zeit betete,
oder ungewöhnliche Mittel gesund gewor- die von ihm ein Opfer verlangte. Er stand
den, sollte sich beeilen, das Leben, das er auf und ging hinaus, als es noch sehr
zurückerhalten hat, dem Herrn zu weihen . . . dunkel war, d. h., sehr früh am Morgen.
Viele Menschen sehnen sich oft nach Gele- Das Gebet sollte nicht eine Sache der per-
genheiten, Christus zu dienen, und haben sönlichen Bequemlichkeit sein, sondern
dabei einen guten und ehrenvollen Dienst im der Selbstzucht und der Hingabe. Erklärt
Auge, den sie gerne tun würden. In der Zwi- das vielleicht, warum heute so viel
schenzeit lassen sie gerade die Aufgaben links unfruchtbarer Dienst getan wird?

167
Markus 1

1,36.37 In der Zwischenzeit waren 2. Er ist ehrfürchtig: Er »kniet nieder«.


auch Simon und die anderen aufgestan- 3. Er ist demütig und unterwürfig:
den, und die Menge versammelte sich »Wenn du willst.«
schon wieder vor dem Haus. Die Jünger 4. Er glaubt: »Du kannst.«
gingen und erzählten Jesus von seiner 5. Er gibt seine Not zu: »Reinige mich.«
wachsenden Beliebtheit. 6. Er hat ein bestimmtes Anliegen: nicht
1,38 Erstaunlicherweise ging er nicht verschwommen »segne mich«, son-
in den Ort zurück, sondern nahm die dern »reinige mich«.
Jünger in die »benachbarten Markt- 7. Er betet persönlich: »reinige mich.«
flecken« mit und erklärte, daß er dort 8. Er betet kurz, im Grundtext sind es
auch predigen müsse. Warum kehrte er nur fünf Worte.
nicht nach Kapernaum zurück? Man beachte, was nun geschieht!
1. Er hatte gerade im Gebet erfahren, Jesus war »innerlich bewegt«. Wir
was Gott heute für ihn vorsah. sollten diese Worte niemals ohne Freude
2. Er erkannte, daß die Volksbewegung und Dankbarkeit lesen.
in Kapernaum oberflächlich war. Der Er »streckte seine Hand aus«. Man
Retter ließ sich nie durch große Men- denke sich nur: Die Hand Gottes streckt
schenmengen beeindrucken. Er sich als Antwort auf demütiges, gläubi-
schaute tiefer und erkannte, was in ges Gebet aus!
den Herzen vorging. Er »rührte ihn an«. Nach dem Gesetz
3. Er kannte die Gefahren der Beliebt- wurde ein Mensch unrein, wenn er einen
heit und lehrte die Jünger durch sein Aussätzigen berührte. Natürlich gab es
Vorbild, sich in acht zu nehmen, auch die Gefahr der Ansteckung. Aber
wenn alle Welt sie lobt. der Heilige Sohn Gottes machte sich mit
4. Er vermied konsequent jede ober- den Menschen in ihren Leiden eins und
flächliche und gefühlsbetonte Be- heilte die Folgen der Sünde, ohne von
weisführung, die ihm die Krone vor ihnen berührt zu werden.
dem Kreuz hätte einbringen können. Er sagte: »Ich will.« Er ist gewillter
5. Er legte besonderen Wert auf das Pre- zum Heilen als wir, Heilung zu empfan-
digen des Wortes. Die Heilungswun- gen. Dann sagte er: »Sei gereinigt.«
der waren zwar dazu bestimmt, Sofort war die Haut des Aussätzigen
menschliches Leiden zu lindern, aber glatt und rein.
sie waren auch dazu da, die Auf- Jesus verbot es, das Wunder zu ver-
merksamkeit der Zuhörer für die Pre- breiten, ehe der Mann nicht vor dem
digt zu gewinnen. Priester erschienen war und das erfor-
1,39 So ging Jesus durch »ganz derliche Opfer gebracht hatte (3. Mose
Galiläa« durch die Synagogen, predigte 14,2ff). Das sollte zuerst einmal den
und »trieb die Dämonen aus«. Er ver- Gehorsam des Mannes erproben. Würde
band immer die Praxis mit der Predigt, er er tun, wie ihm geheißen war? Er
sprach und handelte. Es ist interessant zu gehorchte nicht, denn er breitete die
sehen, wie oft er in Synagogen Dämonen Sache aus und hinderte als Ergebnis die
austrieb. Wären heutige liberale Gemein- Arbeit des Herrn (V. 45). Auch war es
den in der gleichen Lage wie damals die eine Probe für die Urteilsfähigkeit des
Synagogen? Priesters. Würde er erkennen, daß der
langersehnte Messias gekommen war
G. Reinigung eines Aussätzigen und wunderbare Heilungen vollbrachte?
(1,40-45) Wenn der Priester dem Volk Israel gleich
1,40-45 Die Erzählung über den Aussät- war, würde er es nicht erkennen.
zigen gibt uns ein wunderbares Beispiel Wieder sehen wir, daß Jesus sich von
für ein Gebet, das von Gott erhört wird: der Menge zurückzog und an einem ein-
1. Dem Mann ist ernst mit seinem Anlie- samen Ort diente. Er beurteilte seinen
gen, er ist verzweifelt: Er »bittet ihn«. Erfolg nicht nach Zahlen.

168
Markus 2

H. Heilung eines Gelähmten (2,1-12) hatten genug Bibelkenntnis, um zu wis-


2,1-4 Sobald der Herr wieder nach sen, daß nur Gott Sünden vergeben
Kapernaum kam, »versammelten sich kann. Jeder, der daher behauptete, Sün-
viele« vor dem Haus, in dem er war. Die den zu vergeben, beanspruchte damit
Nachricht verbreitete sich schnell, denn gleichzeitig, Gott zu sein. Bis dahin war
die Menschen wollten alle den Wunder- ihre Logik richtig. Aber anstatt den
täter sehen. Wann immer Gott in Voll- Herrn Jesus als Gott anzuerkennen, klag-
macht handelt, werden die Menschen ten sie ihn in ihren Herzen der Gotteslä-
angezogen. Der Retter »sagte ihnen das sterung an.
Wort«, als sie das Haus bis zur Tür füll- 2,8.9 Jesus konnte ihre Gedanken
ten. Ganz hinten in der Menge war ein lesen, ein Beweis seiner übernatürlichen
Gelähmter, der von vier anderen auf Macht. Er fragte sie herausfordernd:
einer improvisierten Bahre getragen »Was ist leichter? Zu dem Gelähmten zu
wurde. Wegen der vielen Menschen sagen: Deine Sünden sind vergeben oder
konnten sie nicht zu Jesus kommen. Es den Gelähmten zu heilen?« Eigentlich ist
gibt fast immer Hindernisse, wenn man es sehr einfach, sowohl das eine als auch
einen anderen zu Jesus bringen will. das andere zu sagen. Aber es ist mensch-
Aber Glaube macht erfinderisch! Die vier lich gesehen ebenso unmöglich, das eine
Träger kletterten die Außentreppe auf wie das andere zu tun .
das Dach hinauf, »deckten das Dach ab« 2,10-12 Der Herr hatte die Sünden des
und ließen den Gelähmten auf den Mannes schon für vergeben erklärt. Aber
Boden hinunter – vielleicht in einen Hof waren sie wirklich vergeben? Die Schrift-
in der Mitte des Hauses – und brachten gelehrten konnten nicht sehen, daß die
ihn so in die Nähe des Sohnes Gottes. Sünden des Mannes vergeben waren,
Jemand hat den vieren einmal die cha- deswegen wollten sie es nicht glauben.
rakteristischen Namen Mitgefühl, Zu- Um zu zeigen, daß dem Mann wirklich
sammenarbeit, Ideenreichtum und Aus- vergeben war, gab der Retter den Schrift-
dauer gegeben. Jeder von uns sollte gelehrten etwas Sichtbares. Er befahl
danach streben, ein Freund mit diesen dem Gelähmten aufzustehen, seine Mat-
Eigenschaften zu sein. te zu nehmen und zu gehen. Der Mann
2,5 Jesus, durch ihren Glauben beein- gehorchte sofort. Alle Leute »gerieten
druckt, sagte zu dem Gelähmten: »Kind, außer sich«. So etwas hatten sie noch nie
deine Sünden sind vergeben.« Das schi- gesehen. Aber die Schriftgelehrten
en nun eine recht seltsame Äußerung zu glaubten trotz der massiven Beweise
sein. Es ging doch um Lähmung und nicht. Glaube betrifft auch den Willen,
nicht um Sünde, oder? Ja, doch Jesus sah und sie wollten nicht glauben.
mehr als die Symptome: die Ursache. Er
wollte nicht den Körper heilen und die I. Die Berufung Levis (2,13-17)
Seele vernachlässigen. Er wollte nicht 2,13.14 Während Jesus am See lehrte, sah
einen nur zeitlichen Zustand erleichtern, er Levi am Zoll sitzen. Wir kennen Levi
ohne den ewigen Zustand zu verändern. unter dem Namen Matthäus, der später
Deshalb sagte er: »Deine Sünden sind das erste Evangelium schrieb. Er war ein
vergeben.« Das war eine wunderbare Jude, aber sein Beruf war äußerst unjü-
Ankündigung. Jetzt, auf dieser Erde und disch, wenn man bedenkt, daß er für die
in diesem Leben, war die Sünde des verachtete römische Regierung Steuern
Mannes vergeben. Er brauchte nicht bis einnahm! Solche Männer waren nicht
zum Tag des Gerichtes zu warten. Er hat- gerade für ihre Ehrlichkeit bekannt. Statt
te jetzt die Sicherheit der Vergebung. Die- dessen sah man auf sie – wie auf Huren –
se Sicherheit haben alle, die an Jesus als den Abschaum der Gesellschaft her-
glauben. ab. Doch spricht es in der Ewigkeit für
2,6.7 Die Schriftgelehrten erfaßten Levi, daß er alles aufgab, als er den Ruf
sofort die Bedeutung dieser Aussage. Sie Christi hörte und ihm nachfolgte. Möge

169
Markus 2

jeder von uns ihm in seinem schnellen wenn sie ihn einen Freund der Sünder
und kritiklosen Gehorsam ähnlich sein. nannten. Aber ihr beleidigend gemeintes
Manchmal scheint dieser Gehorsam ein Reden hat eine wunderbare Wirkung
großes Opfer zu sein, aber in der Ewig- gehabt. Alle Erlösten erkennen Jesus
keit werden wir es nicht mehr als Opfer glücklich als Freund der Sünder an und
empfinden. Der Missionar und Märtyrer lieben ihn deswegen auf ewig.
Jim Elliot sagte: »Der ist kein Narr, der
hingibt, was er nicht behalten kann, um J. Streitgespräch über das Fasten
zu erlangen, was er nicht verlieren (2,18-22)
kann.« 2,18 »Die Jünger des Johannes und die
2,15 In Levis Haus wurde nun ein Pharisäer fasteten« regelmäßig. Das war
großes Essen veranstaltet, bei dem er für sie eine Glaubensübung. Im AT war
Jesus seinen Freunden vorstellen konnte. das Fasten als Zeichen tiefer Trauer ein-
Die meisten seiner Freunde waren wie er gesetzt worden. Aber es hatte viel von
selbst – »Zöllner und Sünder«. Jesus seiner Bedeutung verloren und war zu
nahm die Einladung an, um mit ihnen einem Ritual erstarrt. Sie bemerkten, daß
zusammenzukommen. Jesu Jünger nicht fasteten, und deshalb
2,16 Die Schriftgelehrten und Pha- wurden sie vielleicht neidisch und
risäer dachten, sie hätten ihn bei einem bemitleideten sich selbst in ihren Herzen,
schweren Fehler erwischt. Statt sofort als sie den Herrn um eine Erklärung
mit ihrer Klage zu ihm zu gehen, gingen baten.
sie »zu seinen Jüngern« und versuchten, 2,19.20 Als Antwort verglich Jesus sei-
ihr Vertrauen und ihre Treue zu unter- ne Jünger mit den Hochzeitsgästen. Der
graben. Wie kam es, daß ihr Meister mit Bräutigam war er selbst. So lange er bei
den Zöllnern und Sündern aß? ihnen war, gab es keinen Grund, nach au-
2,17 »Jesus hörte es« und erinnerte ßen hin Trauer zu zeigen. »Es werden aber
sie, daß Gesunde keinen Arzt brauchen – Tage kommen, da der Bräutigam von ih-
nur die Kranken. Die Schriftgelehrten nen weggenommen sein wird, und dann,
meinten, gesund zu sein und erkannten an jenem Tag, werden sie fasten.« Dann
deshalb nicht ihr Bedürfnis nach dem würden sie noch genug Zeit dafür haben.
Großen Arzt. Die Zöllner und Sünder 2,21 Sofort fügt der Herr zwei Bilder
gaben ihre Schuld und ihre Hilfsbedürf- an, mit denen er den Beginn eines neuen
tigkeit zu. Jesus kam, um Sünder wie sie Zeitalters ankündigt, das mit dem vor-
zu rufen – nicht die Selbstgerechten. hergehenden nicht vereinbar ist. Das
Das sollte uns eine Lehre sein. Wir erste Bild handelt von einem Flicken aus
sollten uns nicht in christianisierten neuem Tuch, das noch nicht eingelaufen
Gemeinschaften abschließen. Wir sollten ist. Wenn man es verwendet, um ein altes
lieber danach trachten, Gottlosen behilf- Kleid zu flicken, wird es unausweichlich
lich zu sein, um ihnen unseren Herrn einlaufen und eines von beiden wird
und Retter vorzustellen. Wenn wir Sün- nachgeben müssen. Da das Kleid aus
dern Freundschaft erweisen, sollten wir älterem Tuch ist, wird der Stoff weniger
nichts tun, das unser Zeugnis verwi- stabil sein und an der geflickten Stelle
schen könnte, noch den Ungeretteten wieder reißen. Jesus vergleicht die alte
erlauben, uns auf ihre Ebene herabzuzie- Haushaltung mit dem alten Gewand.
hen. Wir sollten die Initiative ergreifen, Gott wollte nie, daß das Christentum auf
die Beziehung in gute, geistlich hilfreiche das Judentum geflickt würde, weil es
Kanäle zu leiten. Es ist viel einfacher, sich etwas völlig Neues darstellt. Die Trauer
von der bösen Welt zu isolieren; aber der alten Haushaltung, die sich im
Jesus tat dies nicht, also sollten es seine Fasten ausdrückte, muß der Freude der
Nachfolger auch nicht tun. neuen weichen.
Die Schriftgelehrten meinten, sie 2,22 Das zweite Bild handelt von
könnten den Ruf des Herrn schädigen, neuem Wein in alten Schläuchen. Die

170
Markus 2

ledernen Schläuche verloren ihre Dehn- König einnehmen konnte, erlaubte Gott
fähigkeit. Wenn man neuen Wein hinein- ihm Dinge, die normalerweise ungesetz-
tat, dann sprengte der Druck, der durch lich gewesen wären.
die Gärung entsteht, die Schläuche. Der Das gleiche galt für den Herrn Jesus.
neue Wein steht für die Freude und Voll- Er war zwar gesalbt, regierte aber nicht.
macht des christlichen Glaubens. Die Allein die Tatsache, daß sich die Jünger
alten Schläuche sind ein Bild für die For- während ihrer Reise Getreide pflücken
men und Riten des Judentums. Neuer mußten, zeigte, daß Israel nicht richtig
Wein braucht neue Schläuche. Es war handelte. Die Pharisäer selbst hätten
sinnlos, daß die Johannesjünger und die Jesus und seinen Jüngern Gastfreund-
Pharisäer den Jüngern des Herrn die Last schaft gewähren sollen, statt sie zu kriti-
des Fastens aufladen wollten, wie es bis- sieren.
her praktiziert worden war. Die Freude Wenn David wirklich das Gesetz
und das überschäumende neue Leben gebrochen hatte, indem er die Schaubro-
mußten sich ausdrücken dürfen. Das te aß, und trotzdem von Gott nicht geta-
Christentum hat immer unter dem Ver- delt wurde, wieviel weniger schuldig
such von Menschen gelitten, es mit waren die Jünger, die unter gleichen
Gesetzlichkeit zu vermischen. Der Herr Umständen nichts weiter als die Überlie-
Jesus lehrte, daß beide nicht vereinbar ferung der Ältesten gebrochen hatten!
sind. Gesetz und Gnade sind zwei sich Vers 26 erwähnt, daß David die
widersprechende Prinzipien. Schaubrote aß, als Abjathar Hoherprie-
ster war. Nach 1. Samuel 21,1 war zu die-
K. Streitgespräch über den Sabbat ser Zeit Ahimelech Priester. Abjathar war
(2,23-28) sein Vater. Es mag sein, daß die Treue des
2,23.24 Dieser Vorfall zeigt den Konflikt, Hohenpriesters zu David ihn dazu führ-
über den Jesus gerade eben gesprochen te, diese ungewöhnliche Abweichung
hatte: zwischen der Tradition des Juden- vom Gesetz zu erlauben.
tums und der Freiheit des Evangeliums. 2,27.28 Unser Herr schloß seine Rede,
Als er »am Sabbat durch die Saaten indem er die Pharisäer daran erinnerte,
ging«, pflückten seine Jünger ein wenig daß der Sabbat von Gott eingesetzt wur-
Korn, um es zu essen. Das verstieß nicht de, um dem Menschen zu nützen, nicht
gegen Gottes Gesetz. Aber nach den um ihn zu fesseln. Dann fügte er an, daß
haarspalterischen Überlieferungen der »der Sohn des Menschen Herr auch des
Ältesten hatten die Jünger den Sabbat Sabbats« ist – er war es, der den Sabbat
gebrochen, indem sie »ernteten« und zu Beginn verordnet hatte. Deshalb hatte
vielleicht sogar »droschen« (sie rieben er die Autorität zu entscheiden, was an
die Ähren zwischen den Händen, um sie diesem Tag erlaubt und was verboten ist.
von Spelzen zu befreien). Sicherlich war der Sabbat nie dazu ge-
2,25.26 Der Herr antwortete den Pha- dacht gewesen, Arbeiten zu verhindern,
risäern, indem er einen Vorfall aus dem die notwendig sind oder aus Barmher-
AT anführt. David, der zwar als König zigkeit nicht unterlassen werden dürfen.
gesalbt war, war abgelehnt worden und Christen sind nicht verpflichtet, den Sab-
statt zu regieren, wurde er wie ein Wild bat zu halten. Dieser Tag ist dem Volk
gejagt. Als eines Tages seine Vorräte aus- Israel gegeben. Der besondere Tag der
gingen, ging er in das Haus Gottes und Christen ist der Tag des Herrn, der erste
aß mit seinen Männern die Schaubrote. Tag der Woche. Dennoch soll man ihn
Normalerweise durften nur die Priester nicht mit gesetzlichen Verboten und
von den Schaubroten essen, doch David Erlaubnissen überfrachten. Es ist eher ein
wurde von Gott nicht dafür getadelt. Vorrecht, einen solchen Tag zu haben,
Warum? Weil in Israel nichts mehr dem der von weltlicher Arbeit frei ist, an dem
Willen Gottes entsprach. Solange David die Gläubigen beten, Gottesdienst halten
nicht seinen rechtmäßigen Platz als und ihre Seelen nähren dürfen. Für uns

171
Markus 2 und 3

stellt sich nicht die Frage: »Ist dies und tet. Vielleicht waren dieselben Leute
das am Tag des Herrn erlaubt?« Wir soll- auch in der Lage, Jesus zu ermorden. Das
ten eher fragen: »Wie kann ich diesen Tag war die Hoffnung der Pharisäer.
am besten zur Ehre Gottes, zum Segen
meiner Mitmenschen und meinem geist- M. Eine große Menge bedrängt den
lichen Wohlergehen verwenden?« Knecht (3,7-12)
3,7-10 Nachdem er die Synagoge verlas-
L. Der Knecht heilt am Sabbat (3,1-6). sen hatte, »entwich« er »mit seinen Jün-
3,1.2 Es gab noch eine weitere Gelegen- gern an den See« Genezareth. Der See
heit, bei der sich Jesus an diesem Tag in symbolisiert in der Bibel oftmals die Hei-
bezug auf den Sabbat unbeliebt machen den. Deshalb mag diese Handlung seine
konnte. Jesus »ging wieder in die Syna- Abwendung von den Juden zu den Hei-
goge« und traf dort einen Mann mit einer den zeigen. »Eine große Menge« versam-
verdorrten Hand. Schon erhob sich die melte sich nicht nur aus Galiläa, sondern
Frage: Wird Jesus es wagen, »ihn am Sab- kam auch von weiter her. Die Menge war
bat zu heilen«? Wenn er das täte, hätten so groß, daß Jesus um ein kleines Boot
die Pharisäer eine Anklage gegen ihn – bat, so daß er vom Ufer ein wenig weg-
so dachten sie jedenfalls. Man stelle sich fahren konnte, damit er nicht von denen
ihre Heuchelei und Unehrlichkeit einmal zu sehr bedrängt wurde, die bei ihm Hei-
vor! Sie selbst konnten nichts tun, um lung suchten.
diesem Mann zu helfen und verachteten 3,11.12 Als die unreinen Geister in der
jeden, der es konnte. Sie suchten einen Menge schrieen: »Du bist der Sohn Got-
Anlaß, um den Herrn des Lebens zu ver- tes!« verbot er ihnen strikt, dies zu ver-
urteilen. Wenn er am Sabbat heilen wür- kündigen. Wie schon angemerkt, wollte
den, dann würden sie wie ein Rudel Wöl- er nicht von bösen Geistern bezeugt wer-
fe über ihn herfallen, um ihn zu töten. den. Er stellte nicht in Abrede, daß er der
3,3.4 Der Herr forderte den Mann auf, Sohn Gottes war. Aber er wachte über die
in die Mitte zu treten. Die Atmosphäre Zeit und die Art, wann und wie er als sol-
war voll gespannter Erwartung. Dann cher verkündigt wurde. Jesus hatte die
fragte er die Pharisäer: »Ist es erlaubt, am Macht zu heilen, aber seine Wunder
Sabbat Gutes zu tun oder Böses zu tun, konnten nur die erleben, die ihn um Hil-
das Leben zu retten oder zu töten?« Sei- fe baten. Genauso ist es mit der Erret-
ne Frage enthüllte die Bosheit der Pha- tung. Seine Macht zur Errettung reicht
risäer. Sie meinten, daß es falsch sei, ein für alle aus, aber sie wird nur da wirk-
Heilungswunder am Sabbat zu vollbrin- sam, wo man auf ihn vertraut.
gen, jedoch nicht, daß es falsch sei, an Wir lernen aus dem Dienst unseres
einem Sabbat den Mord an ihm voraus- Herrn, daß Not noch kein Auftrag ist.
zuplanen. Überall gab es Not. Jesus verließ sich
3,5 Kein Wunder, daß sie nicht ant- ganz auf die Anweisungen seines Vaters,
worten wollten. Nach einer verlegenen wann und wo er zu dienen hatte. So muß
Pause befahl der Retter dem Mann, die es auch bei uns sein.
Hand auszustrecken. Als er das tat, kehr-
te ihre ganze Kraft zurück, das Fleisch III. Der Knecht beruft und lehrt seine
hatte wieder seine normale Ausdehnung Jünger (3,13-8,38)
und die Falten verschwanden.
3,6 Das war mehr, als die Pharisäer A. Die Berufung der zwölf Apostel
ertragen konnten. Sie »gingen hinaus«, (3,13-19)
nahmen mit den Herodianern, mit denen 3,13-18 In Voraussicht der Aufgabe der
sie traditionell verfeindet waren, Kon- Weltevangelisation ernannte Jesus zwölf
takt auf und planten, »wie sie ihn um- Jünger. An diesen Männern war an sich
brächten«. Noch immer war Sabbat. nichts Besonderes. Nur ihre Verbindung
Herodes hatte Johannes den Täufer getö- mit Jesus machte sie groß.

172
Markus 3

Alle waren sie junge Männer. James Freunden ausgelacht, Feinde stellten ihnen
E. Steward schreibt in seinem ausge- Fallen, manchmal erhoben Zweifel ihre laute
zeichneten Kommentar über das Alter Stimme in ihren Herzen, bis sie fast wünsch-
der Jünger: ten, sie hätten mit der ganzen Sache nichts
Das Christentum begann als eine Bewe- mehr zu tun – doch noch immer hielten sie an
gung junger Leute . . . Unglücklicherweise ihm fest und wurden durch die Zerstörung
ist diese Tatsache in der christlichen Kunst all ihrer Hoffnungen zu einer besseren Treue
und Predigt häufig verdreht worden. Aber es geführt und verdienten schließlich siegreich
ist ziemlich sicher, daß die Jünger zu Anfang den großartigen Namen, den das Te Deum
eine Schar junger Männer waren. Die mei- ihnen verleiht: »Die herrliche Gemeinschaft
sten Apostel waren wahrscheinlich weniger der Apostel.« Es ist gut, sie zu beobachten,
als dreißig Jahre alt, als sie Jesus nachfolgten. denn auch wir können dadurch von ihrem
Jesus selbst, das sollten wir nicht vergessen, Geist beeinflußt werden und anfangen, mit
3)
ging »im Tau seiner Kindheit« (Elberfelder ihm zu gehen.
Bibel, Anmerkung zu Ps 110,3) zu seinem Jesus hatte ein dreifaches Ziel mit der
Dienst aus (Psalm 103 wird von Jesus selbst Berufung der Jünger:
auf sich bezogen, was in der Gemeinde der 1. »damit sie bei ihm seien«,
Apostel weiter so gehalten wurde). Es war 2. »damit er sie aussende, zu predigen«
echtes Einfühlungsvermögen, das die frühen 3. »und Vollmacht zu haben, die Dämo-
Christen dazu führte, ihren Meister auf den nen auszutreiben«.
Wänden der Katakomben nicht als alten, Erstens mußten sie eine Ausbildung
müden und von Schmerz gebrochenen Mann mitmachen – eine Vorbereitung in der
darzustellen, sondern als jungen Hirten, der Zurückgezogenheit, ehe sie öffentlich
frühmorgens auf den Hügeln seine Herde predigen konnten. Wir müssen Zeit mit
weidet. Die Originalversion des wunderba- ihm verbringen, ehe wir als Gottes Bot-
ren Liedes von Isaak Watts gab die Tatsachen schafter hinausgehen können.
wieder: Zweitens wurden sie zum Predigen
Wenn ich das wunderbare Kreuz ausgesandt. Die Verkündigung des Wor-
betrachte, tes Gottes, ihre grundlegende Evangeli-
an dem der junge Herr der Herrlichkeit sationsmethode, muß immer im Mittel-
starb. punkt stehen. Nichts darf sie verdrän-
Und niemand hat jemals die Jugend in gen.
ihrer Freude und Lebenslust und Großzügig- Und schließlich wurde ihnen noch
keit und Hoffnung verstanden, ihre plötzli- übernatürliche Macht verliehen. Das
che Einsamkeit und Alpträume und verbor- Austreiben von Dämonen würde den
genen Konflikte und starken Versuchungen, Menschen beweisen, daß Gott durch die
keiner hat sie auch nur annähernd so gut ver- Apostel sprach. Die Bibel war noch nicht
standen wie Jesus. Und keiner erkannte deut- vollständig. Wunder waren die »Beglau-
licher als Jesus, daß die Jahre des Erwachsen- bigungsschreiben« der Boten Gottes.
werdens, in denen fremde schlummernde Heute haben die Menschen Zugang zum
Gedanken erwachen und sich die ganze Welt gesamten Wort Gottes, sie sind heute ver-
entfaltet, Gottes beste Chance sind, um die antwortlich, ohne den Beweis von Wun-
Seele anzusprechen . . . Wenn wir die dern zu glauben.
Geschichte der ersten zwölf Jünger überden- 3,19 Der Name Judas Iskariot steht in
ken, dann lesen wir von den Abenteuern jun- der Jüngerliste einsam da. Ein Geheimnis
ger Männer. Wir sehen sie, wie sie ihrem umgibt diesen Mann, der als Apostel be-
Herrn ins Unbekannte folgen, nicht genau rufen und schließlich zum Verräter un-
wissend, wer er ist oder warum sie es tun seres Herrn wurde. Es ist im christlichen
oder wo er sie hinführen wird. Sie waren ein- Dienst am schmerzhaftesten, wenn man
fach nur von ihm angezogen, fasziniert, jemanden sieht, der strahlend, ernsthaft
ergriffen und festgehalten von irgendetwas und augenscheinlich hingebungsvoll
Unwiderstehlichem an ihm. Sie wurden von lebte, aber später seinem Retter den

173
Markus 3

Rücken zudreht und in die Welt, die »außer sich« wären. Es ist eine viel schlim-
Jesus kreuzigte, zurückkehrt. mere Geisteskrankheit, die uns in unserer
Elf erwiesen sich dem Herrn treu, Welt nie an andere Länder denken läßt, die
und durch sie kehrte er in der Welt das nie die verlorenen Menschen bedauert, die ihr
Unterste zuoberst. Sie vermehrten sich in täglich begegnen, keinen Gedanken an ihren
immer größeren Kreisen, und in gewis- verlorenen Zustand verschwendet und
sem Sinne sind wir heute die fortwähren- nichts unternimmt, um sie zu erretten. Es ist
de Frucht ihres Dienstes. Wir können nie- weitaus leichter, einen kühlen Kopf und ein
mals voraussagen, wie weitreichend kälteres Herz zu bewahren und sich keine
unser Einfluß für Christus einmal sein Gedanken um verlorene Seelen zu machen.
wird. Aber wir sind Hüter unserer Brüder, und kei-
ne Pflichtverletzung kann schlimmer sein,
B. Die Sünde, die nicht vergeben wer- als die, welche auf ihre ewige Errettung nicht
den kann (3,20-30) achtgibt.
4)

3,20.21 Jesus kehrte von dem Berg zurück, Es ist immer so, daß ein Mensch, der
auf dem er seine Jünger berufen hatte. Er für Gott brennt, irgendwie seltsam auf
geht in eine galiläische Familie. Eine so seine Zeitgenossen wirkt. Je mehr wir
große Volksmenge hatte sich gesammelt, Christus ähneln, desto mehr werden wir
so daß er und seine Apostel zu beschäftigt das Leid erleben, durch Verwandte und
waren und nicht einmal essen konnten. Freunde mißverstanden zu werden.
Als seine eigenen Angehörigen davon Wenn wir uns vornehmen, ein Vermögen
hörten, waren sie der Meinung, er sei zu machen, dann werden uns die Men-
nicht mehr bei Sinnen und wollten ihn schen beglückwünschen. Wenn wir
ergreifen. Zweifellos waren sie durch den jedoch Eiferer für Jesus Christus werden,
Eifer dieses religiösen Fanatikers in ihrer dann werden sie uns verachten.
Familie peinlich berührt. 3,22 Die Schriftgelehrten hielten Jesus
J. R. Miller sagt dazu: nicht für geisteskrank. Sie klagten ihn an,
Sie konnten seinen unaufhörlichen Eifer Dämonen durch die Macht »Beelzebubs,
nur damit erklären, daß er geisteskrank sei. . . . den Obersten der Dämonen«, auszu-
Wir hören in der heutigen Zeit sehr viel ähn- treiben. Der Name Beelzebub bedeutet
liches, wenn ein hingegebener Nachfolger »Herr der Schmeißfliegen« oder »Herr
Christi sich selbst in Liebe zu seinem Meister des Schmutzes«. Das war eine ernste,
vergißt. Die Leute sagen: »Er muß verrückt bösartige und gotteslästerliche Anklage!
sein.« Sie denken, daß jeder Mensch geistes- 3,23 Erst widerlegte Jesus diese An-
krank ist, dessen Religion zu irgendeiner Art klage, dann verkündigte er das Schicksal
ungewöhnlichem Eifer führt, oder der seine derer, die diese Anklage erhoben hatten.
Aufgabe im Werk des Herrn ernster nimmt, Wenn er Dämonen mit Beelzebub aus-
als der Durchschnittschrist . . . triebe, dann würde Satan gegen sich
Das ist jedoch eine gute Form der Gei- selbst arbeiten und seine eigenen Ziele
steskrankheit. Es ist außerordentlich bedau- verraten. Sein Ziel ist es, Menschen
erlich, daß sie nicht häufiger ist. Wenn es sie durch Dämonen zu binden und nicht, sie
mehr geben würde, dann würden nicht so von ihnen zu befreien.
viele ungerettete Seelen im Schatten unserer 3,24-26 Ein Reich, ein Haus oder eine
Kirchen sterben. Es wäre nicht so schwer, Person, die »mit sich selbst entzweit ist«,
Missionare zu berufen und Geld zu bekom- kann nicht bestehen. Das Überleben
men, um das Evangelium in die dunkelsten hängt von innerem Zusammenwirken ab,
Ecken der Erde zu senden. Es gäbe nicht so Zerrissenheit zerstört jeden Fortbestand.
viele leere Kirchenbänke und nicht so lange 3,27 Die Anklage der Schriftgelehrten
Pausen in unseren Gebetsgemeinschaften war deshalb grotesk. In der Tat bewirkte
und nicht so wenige Menschen in unseren Jesus das Gegenteil von dem, was sie
Bibelstunden. Es wäre herrlich, wenn alle behaupteten. Seine Wunder zeigten den
Christen wie ihr Meister oder wie Paulus Zerfall des Reiches Satans an, nicht des-

174
Markus 3 und 4

sen Aufstieg. Das meinte unser Retter, als Durch die Menge konnten sie nicht zu
er sagte: »Niemand aber kann in das ihm kommen, deshalb »sandten sie zu
Haus des Starken eindringen und seinen ihm«, daß sie draußen warten würden.
Hausrat rauben, wenn er nicht zuvor den Als Jesus hörte, daß seine Mutter und sei-
Starken gebunden hat, und dann wird er ne Brüder ihn sprechen wollten, »blickte
sein Haus berauben.« er umher« und kündigte an, daß seine
Satan ist in diesem Gleichnis der Star- Mutter und seine Brüder diejenigen sei-
ke. Das Haus ist sein Reich, er ist der Gott en, die »den Willen Gottes« tun.
dieses Zeitalters. Sein Hausrat sind die Aus dieser Äußerung ergeben sich
Menschen, die er beherrscht. Jesus ist der für uns mehrere Lehren:
Eine, der Satan bindet und sein Haus 1. Die Worte des Herrn sind ein Tadel
beraubt. Bei der Wiederkunft Christi der Marienverehrung (eine Form des
wird Satan gebunden und für tausend Götzendienstes). Er ehrte sie als seine
Jahre in den Abgrund geworfen. Die natürliche Mutter, aber er sagte, daß
Austreibung von Dämonen während des geistliche Beziehungen wichtiger als
Dienstes Jesu auf Erden war nur die natürliche sind. Es sprach eher für
Ankündigung des endgültigen Sieges Maria, wenn sie Gottes Willen tat, als
über den Teufel. daß sie seine Mutter war.
3,28-30 In den Versen 28-30 verkün- 2. Wir haben hier den Gegenbeweis für
digt der Herr das Schicksal der Schriftge- die Lehre, daß Maria Jungfrau geblie-
lehrten, die sich der Sünde schuldig ben sei. Jesus hatte Brüder. Er war
gemacht hatten, die nicht vergeben wer- Marias Erstgeborener, aber sie gebar
den kann. Indem sie Jesus anklagten, er später noch andere Söhne und Töch-
würde Dämonen durch dämonische ter (s. Matth 13,55; Mk 6,3; Joh 2,12;
Kräfte austreiben, während er sie in 7,3.5.10; Apg 1,14; 1. Kor 9,5; Gal 1,19.
Wirklichkeit durch die Kraft des Heiligen S. a. Ps 69,9).
Geistes austrieb, nannten sie den Heili- 3. Jesus stellte Gottes Interessen über
gen Geist praktisch einen Dämon. Das ist die Familienbande. Seinen Nachfol-
Lästerung wider den Heiligen Geist. Alle gern sagt er auch heute noch: »Wenn
Sünden können vergeben werden, aber jemand zu mir kommt und haßt nicht
für diese besondere Sünde gibt es keine seinen Vater und seine Mutter und
Vergebung. Sie ist eine »ewige Sünde«. seine Frau und seine Kinder und sei-
Können Menschen diese Sünde heute ne Brüder und Schwestern, dazu aber
noch begehen? Wohl nicht. Diese Sünde auch sein eigenes Leben, so kann er
konnte nur begangen werden, solange nicht mein Jünger sein« (Lk 14,26).
Jesus auf der Erde Wunder tat. Weil er 4. Dieser Abschnitt erinnert uns daran,
heute nicht mehr physisch anwesend ist daß Gläubige durch engere Bande
und Dämonen austreibt, gibt es diese zusammengehalten werden, als
Möglichkeit der Lästerung des Heiligen Blutsverwandschaft je sein kann,
Geistes nicht mehr. Menschen, die sich wenn die Verwandten nicht gerettet
sorgen, die Sünde, die nicht vergeben sind.
werden kann, begangen zu haben, haben 5. Schließlich betont der Absatz die
sie mit Sicherheit nicht begangen. Allein Bedeutung, die Jesus der Erfüllung
die Tatsache, daß sie sich Sorgen darüber des Willens Gottes zumißt. Kann ich
machen, beweist, daß sie sich nicht der mich an diesem Maßstab messen las-
Lästerung des Heiligen Geistes schuldig sen? Bin ich Jesu Bruder und Mutter?
gemacht haben.
D. Das Gleichnis vom Sämann (4,1-20)
C. Die wahren Verwandten des 4,1.2 »Wiederum« lehrt Jesus am See.
Knechtes (3,31-35) Und wieder war es wegen der Volksmen-
3,31-35 Maria, »seine Mutter«, und seine ge nötig, als Kanzel ein Boot zu benut-
Brüder kamen, um Jesus zu sprechen. zen, das ein wenig vom Ufer entfernt

175
Markus 4

war. Und wieder lehrte er geistliche Tat- nem äußeren Bereich eingehen, aber
sachen in Bildern aus der ihn umgeben- nur die Wiedergeborenen werden das
den Natur. Er konnte geistliche Tatsa- Reich in seinem inneren Bereich errei-
chen in der Natur dargestellt sehen. Sie chen.
sind dort für uns alle sichtbar. Die Verse 11 und 12 erklären, warum
4,3.4 In diesem Gleichnis geht es um diese Wahrheit in Gleichnissen gelehrt
einen Sämann, um Samen und um den wird. Gott offenbart seine Familienge-
Boden. Der Boden des Weges ist zu hart, heimnisse denen, die offene, gehorsame
als daß die Saat dort aufgehen konnte. und aufnahmebereite Herzen haben. Er
»Die Vögel kamen und fraßen« den Sa- enthält sie aber absichtlich denen vor, die
men. das ihnen angebotene Licht ablehnen.
4,5.6 »Das Steinige« war ein Fels- Das sind die Leute, die Jesus als »die
grund, der dünn mit Erde bedeckt war. draußen sind« bezeichnet. Die Worte von
Weil die Erdschicht so dünn war, konnte Vers 12 mögen dem oberflächlichen
die Saat nicht tief wurzeln. Leser unfair und hart erscheinen: »Damit
4,7 Auf dem nächsten Boden standen sie sehend sehen und nicht wahrnehmen
Dornbüsche, die der Saat Licht und und hörend hören und nicht verstehen,
Nährstoffe wegnahmen und sie so damit sie sich nicht etwa bekehren und
erstickten. ihnen vergeben werde.«
4,8.9 Die gute Erde war tief und Aber wir müssen uns des enormen
fruchtbar – das waren ideale Bedingun- Vorrechtes erinnern, das diese Menschen
gen für die Saat. Einige Körner ergaben genossen. Der Sohn Gottes selbst hatte in
eine dreißigfache, andere sechzig- und ihrer Mitte gelehrt und viele mächtige
einige hundertfältige Ernte. Wunder getan. Statt ihn als wahren Mes-
4,10-12 Als die Jünger mit ihm allein sias anzuerkennen, lehnten sie ihn sogar
waren, fragten sie ihn, warum er in ab. Weil sie das Licht der Welt ausge-
Gleichnissen spreche. Er antwortete, daß schlagen hatten, sollte ihnen das Licht
es nur denjenigen, die ein aufnahmebe- seiner Lehre nicht gegeben werden. Von
reites Herz haben, erlaubt ist, »das nun an würden sie seine Wunder sehen,
Geheimnis des Reiches Gottes« zu erken- aber ihre geistliche Bedeutung nicht ver-
nen. Ein Geheimnis im NT ist eine Wahr- stehen, und seine Worte hören, aber doch
heit, die bisher unbekannt ist und nur die wunderbaren Lehren in ihnen nicht
durch besondere Offenbarung erkannt erkennen können.
werden kann. Das Geheimnis des König- Es gibt so etwas wie »das Evangelium
Reiches Gottes besteht in folgendem: zum letzten Mal hören«. Es ist möglich,
1. Der Herr Jesus wurde abgelehnt, als den Tag der Gnade durch fortgesetztes
er sich selbst Israel als König anbot. Sündigen zu verpassen. Es gibt Männer
2. Es würde einige Zeit vergehen, ehe und Frauen, die den Retter abgelehnt
das Königreich buchstäblich auf haben und nie wieder die Gelegenheit
Erden errichtet würde. zur Buße und Vergebung erhalten wer-
3. In der Zwischenzeit würde es in sei- den. Sie mögen das Evangelium hören,
ner geistlichen Form bestehen. Alle, aber es trifft auf harte Ohren und ein
die Christus als König anerkennen, gefühlloses Herz. Wir sagen: »Wo Leben
gehören zu dem Reich, auch wenn ist, ist auch Hoffnung«, aber die Bibel
der König selbst nicht anwesend ist. spricht von Menschen, die zwar erweckt,
4. Das Wort Gottes würde in der Zwi- aber jenseits jeder Hoffnung der Buße
schenzeit mit unterschiedlichem Er- sind (z. B. in Hebr 6,4-6).
folg ausgesät werden. Einige Men- 4,13 In bezug auf dieses Gleichnis
schen würden wirklich bekehrt wer- fragte der Herr Jesus seine Jünger, wie sie
den, andere würden nur Namen- erwarten konnten, kompliziertere
schristen bleiben. Alle bekennenden Gleichnisse zu verstehen, wenn sie noch
Christen würden in das Reich in sei- nicht einmal dieses einfache verstanden.

176
Markus 4

4,14 Der Retter sagte nicht, wer der Aber auch unter den Zuhörern, bei
Sämann ist. Es könnte er selbst sein oder denen das Wort auf gute Erde fällt, gibt
die, die in seinem Namen predigen. Aber es verschiedene Grade der Fruchtbarkeit.
er sagte, daß die Saat das Wort sei. Einige tragen dreißig-, andere sechzig-
4,15-20 Die verschiedenen Bodenar- und einige hundertfältig. Was bestimmt
ten stehen für menschliche Herzen und ihr Ausmaß an Fruchtbarkeit? Das
dafür, wie sie das Wort aufnehmen: fruchtbarste Leben ist das eines Men-
Der Boden des Weges (V. 15). Dieses schen, der dem Wort gleich, gerne und
Herz ist verhärtet. Der Mensch sagt zu ganz gehorcht.
dem Retter störrisch und ungebrochen:
»Nein«. Satan, durch die Vögel darge- E. Die Verantwortung der Zuhörer
stellt, nimmt das Wort weg. Der Sünder (4,21-25)
bleibt von der Botschaft ungerührt. Er ist 4,21 Die Lampe steht hier für die Wahr-
ihr gegenüber später gleichgültig und heiten, die der Herr seinen Jüngern wei-
unempfindsam. tergab. Diese Wahrheiten sollten nicht
Das Steinige (V. 16.17). Diese Men- unter den Scheffel oder das Bett gestellt
schen reagieren nur sehr oberflächlich werden, sondern gehören nach draußen,
auf das Wort. Vielleicht bekennen sie sich wo die Menschen sie sehen können. Der
in der emotionalen Atmosphäre einer Scheffel könnte für das Geschäft stehen,
Evangelisationsveranstaltung zum Glau- welches, wenn ihm Gelegenheit dazu
ben. Aber sie stimmen nur mit dem Ver- gegeben wird, Zeit stiehlt, die eigentlich
stand zu. Sie haben sich nie wirklich göttlichen Aufgaben gewidmet werden
Christus hingegeben. Sie nehmen das sollte. Das Bett könnte von Bequemlich-
Wort »mit Freuden« auf, es wäre jedoch keit und Faulheit sprechen, den beiden
besser für sie, wenn sie es in tiefer Buße Feinden der Evangeliumsverkündigung.
und Zerknirschung annähmen. Für eine 4,22 Jesus sprach zur Menge in
Zeit scheinen sie gut voranzukommen, Gleichnissen. Die Wahrheiten, die darin
aber wenn »Drangsal oder Verfolgung« enthalten waren, waren verborgen. Aber
ihrem Bekenntnis folgen, dann entschei- es war die göttliche Absicht, daß die Jün-
den sie sich, daß die Kosten zu hoch sind, ger denen, die bereit waren zu hören,
und geben alles auf. Sie behaupten so diese verborgenen Wahrheiten weiterge-
lange von sich Christen zu sein, wie es ben sollten. Vers 22 kann allerdings auch
opportun erscheint, aber Verfolgung bedeuten, daß die Jünger immer in dem
zeigt, daß sie keine echten Gläubigen Bewußtsein leben sollten, daß offenbart
sind. wird, ob Geschäft oder Faulheit über
Der Boden mit Dornen (V. 19.20). Diese dem Zeugnis für unseren Herrn stehen
Menschen beginnen auch sehr vielver- durfte.
sprechend. Nach allem äußeren An- 4,23 Die Bedeutung dieser Worte
schein sind sie echte Gläubige. Aber zeigt sich in Jesu Ermahnung: »Wenn
dann beschäftigen sie sich mit ihrem jemand Ohren hat zu hören, der höre!«
Geschäft, weltlichen Sorgen und wollen 4,24 Dann fügte der Retter noch eine
reich werden. Sie verlieren das Interesse andere Warnung hinzu: »Seht zu, was ihr
an geistlichen Aktivitäten und schließ- hört.« Wenn ich ein Gebot des Wortes
lich behaupten sie nicht mehr, Christen Gottes höre, aber nicht gehorche, kann
zu sein. ich es anderen schlecht weitergeben.
Die gute Erde (V. 20). Hier wird das Wenn Menschen sehen, daß sich die
Wort wirklich angenommen, koste es, Wahrheit bei Predigern auswirkt, dann
was es wolle. Diese Menschen sind wirk- hat die Lehre dieser Prediger Vollmacht
lich wiedergeboren. Sie sind treue Unter- und Weite.
tanen des Königs Christus. Weder Welt Was immer wir anderen durch das
noch Fleisch noch der Teufel können ihr Mitteilen der Wahrheit »messen«,
Vertrauen auf ihn erschüttern. kommt mit vielfachem Gewinn zu uns

177
Markus 4

zurück. Der Lehrer lernt normalerweise Anfang als Senfkorn zu einem Baum
mehr bei der Vorbereitung eines Themas oder großen Strauch wieder, der groß
als die Schüler. Und der zukünftige Lohn genug ist, daß die Vögel darin nisten
wird noch größer als unsere kläglichen können. Das Reich begann mit einer klei-
Ausgaben sein. nen, verfolgten Minderheit. Dann wurde
4,25 Immer, wenn wir eine neue es beliebter und wurde von den Regie-
Wahrheit begreifen und ihr erlauben, in rungen als Staatsreligion gefördert. Das
unserem Leben zu wirken, können wir Wachstum war nun immens, aber unge-
sicher sein, daß uns mehr gegeben wer- sund, weil es durch viele Menschen
den wird. Andererseits, wenn wir auf erreicht wurde, die dem König nur Lip-
Wahrheiten nicht mehr reagieren, dann pendienst erwiesen, aber nicht wirklich
werden wir verlieren, was wir schon bekehrt waren.
erworben haben. Wie Vance Havner sagte:
Solange die Kirche ihre Wunden trug,
F. Das Gleichnis vom Aufwachsen der ging sie vorwärts. Sobald sie jedoch mit
Saat (4,26-29) Medaillen behängt wurde, wurde ihr Anlie-
4,26-29 Dieses Gleichnis findet sich nur gen nicht mehr gefördert. Es waren für die
bei Markus. Man kann es auf mindestens Gemeinde ruhmreichere Tage, als die Chri-
zwei Arten interpretieren. Der Mann sten an die Löwen verfüttert wurden. Später
kann für den Herrn Jesus stehen, der saßen sie schließlich selbst mit einem Abon-
5)
während seines öffentlichen Diestens nement auf den besten Plätzen der Arena.
»Samen auf das Land wirft« und dann in Der Senfstrauch steht deshalb für das
den Himmel zurückkehrt. Die Saat Christentum, das ein Nistplatz für alle
beginnt zu wachsen – auf geheimnisvol- möglichen Irrlehrer geworden ist. Er
le Weise, kaum zu bemerken, aber unauf- steht für den äußeren Bereich des Rei-
haltsam. Aus kleinen Anfängen ent- ches, wie es heute existiert.
wickelt sich eine große Ernte echter 4,33.34 Die Verse 33 und 34 führen
Gläubiger. uns zu einem wichtigen Lehrprinzip.
Oder das Gleichnis ist als Ermunte- Jesus lehrte die Menschen »wie sie es zu
rung für die Jünger gedacht. Ihre Aufga- hören vermochten«. Er baute auf ihrem
be ist es zu säen. Sie mögen nachts schla- Vorwissen auf und gab ihnen genug Zeit,
fen, am Tag aufstehen, aber sie wissen, eine Lektion zu verarbeiten, ehe er ihnen
daß Gottes Wort nicht leer zurückkehren Neues zumutete. Er war sich stets des
wird, sondern ausrichtet, wozu er es ge- Aufnahmevermögens seiner Zuhörer
sandt hat. Durch einen geheimnisvollen bewußt und überfütterte sie nicht mit
und wunderbaren Vorgang, ohne Mithil- mehr Lehren, als sie vertragen konnten
fe menschlicher Kraft und Geschicklick- (s. a. Joh 16,12; 1. Kor 3,2; Hebr 5,12). Die
keit, arbeitet das Wort an menschlichen Methoden einiger Prediger könnten uns
Herzen und bringt Frucht für Gott her- glauben machen, daß Jesus gesagt habe:
vor. Der Mann sät und begießt, aber Gott »Weide meine Giraffen« statt »Weide
gibt das Wachstum. Bei dieser Interpreta- meine Schafe«.
tion ist die Auslegung von Vers 29 Obwohl er im allgemeinen in Gleich-
schwierig. Nur Gott kann die Sichel zur nissen lehrte, erklärte er sie seinen Jün-
Erntezeit schicken. Aber im Gleichnis ist gern, wenn sie alleine waren. Er gibt de-
es derselbe Mann, der sät, der später nen Licht, die ehrlich danach verlangen.
auch die Sichel schickt, wenn das Korn
reif ist. H. Wind und Wellen dienen dem
Knecht (4,35-41)
G. Das Gleichnis vom Senfkorn 4,35-37 Am Abend desselben Tages fuh-
(4,30-34) ren Jesus und seine Jünger über den See
4,30-32 Dieses Gleichnis gibt das Wachs- Genezareth an das Ostufer. Sie hatten
tum des Königreiches von einem kleinen keine Vorbereitungen getroffen. Andere

178
Markus 4 und 5

kleine Schiffe folgten ihm. Dann erhob haßerfüllt, ablehnend und ängstlich ist.
sich plötzlich ein »heftiger Sturmwind«. Er hat eine gespaltene Persönlichkeit,
Hohe Wellen drohten das Boot zu ver- sehnt sich nach Freiheit und hängt doch
senken. an seinem Zustand« (aus dem englischen
4,38-41 Jesus schlief im Heck des Boo- Material des Bibellesebundes).
tes. Die verängstigten Jünger weckten Die genaue Reihenfolge der Ereignis-
ihn und beklagten sich darüber, daß er se ist nicht klar, es könnte sich etwa so
sich nicht um ihre Sicherheit kümmere. abgespielt haben:
Der Herr »wachte auf, bedrohte den 1. Der Besessene wirft sich vor Jesus
Wind« und die Wellen. Sofort entstand nieder (V. 6).
eine große Stille. Dann rügte Jesus seine 2. Jesus befiehlt dem unreinen Geist,
Jünger kurz, sich gefürchtet und kein ihn zu verlassen (V. 8).
Vertrauen in ihn gehabt zu haben. Durch 3. Der Geist erkennt Jesus an, bestreitet
das Wunder waren sie wie gelähmt. aber sein Recht, hier einzugreifen. Er
Obwohl sie wußten, wer Jesus war, bittet Jesus mit einem Schwur, ihn
waren sie doch wieder ganz neu von der nicht zu quälen (V. 7).
Macht des Einen beeindruckt, dem auch 4. Jesus fragt nach dem Namen des
die Naturgesetze untertan sind. Mannes. Er lautete »Legion«, damit
Der Vorfall zeigt uns sowohl die wird angedeutet, daß er von vielen
Menschlichkeit als auch die Göttlichkeit Dämonen besessen war (V. 9). Das
des Herrn Jesus. Er schlief hinten im widerspricht offensichtlich nicht Vers
Boot, das zeigt seine Menschlichkeit. Er 2, wo es heißt, daß er einen unreinen
sprach, und die See war ruhig, das zeigt Geist habe (Einzahl).
seine Göttlichkeit. 5. Vielleicht war es der Sprecher der
Dieses Wunder zeigt uns seine Macht Dämonen, der um Erlaubnis bat, in
über die Natur, die vorhergehenden die Schweine zu fahren (V. 10-12).
Wunder dagegen zeigen seine Macht 6. Jesus gab die Erlaubnis. Folglich
über Krankheit und Dämonen. rasten die zweitausend Schweine den
Schließlich ermutigt uns diese Ge- Berg hinunter und »ertranken in dem
schichte, in den Stürmen des Lebens zu See« (V. 13).
Jesus zu gehen, weil wir wissen, daß das Der Herr ist oft kritisiert worden,
Schiff nie sinken kann, wenn er in ihm weil er den Tod dieser Schweine verur-
ist. sacht habe. Dazu sollten folgende Punk-
te festgehalten werden:
I. Heilung des besessenen Geraseners 1. Er war nicht die Ursache des Todes,
(5,1-20) er ließ ihn zu. Es war die zerstöreri-
5,1-5 Das Land der Gerasener oder Gada- sche Macht Satans, die die Schweine
rener lag am Ostufer des Sees Geneza- tötete.
reth. Dort begegnete Jesus einem unge- 2. Es gibt keine Aufzeichnungen darü-
wöhnlich gewalttätigen, besessenen ber, daß der Besitzer Jesus für sein
Mann, der ein Schrecken für die Umge- Verhalten getadelt habe. Vielleicht
gend war. Jeder Versuch, ihn zu bändi- war es ein Jude, dem es eigentlich
gen, war fehlgeschlagen. Er lebte in den verboten war, Schweine zu halten.
Grabstätten und den Bergen, schrie stän- 3. Die Seele des Mannes war mehr wert
dig und schlug sich selbst mit scharfen als alle Schweine der Welt.
Steinen. 4. Wenn wir so weise wie Jesus wären,
5,6-13 Als der Besessene Jesus sah, hätten wir auf die gleiche Weise
reagierte er zunächst respektvoll, doch gehandelt wie er.
dann beklagte er sich bitterlich. »Welch 5,14-17 Diejenigen, die Zeugen des
wahres und schreckliches Bild haben wir Todes der Schweine geworden waren,
da vor uns – ein Mann, der sich in Anbe- rannten in die Stadt zurück und verbrei-
tung, Bitte und Furcht beugt und doch teten die Nachricht. Eine Menschenmen-

179
Markus 5

ge kam zurück und fand den ehemals Es ist interessant, daß sofort auf die Aus-
Besessenen »bekleidet und vernünftig« sage, daß die Menge ihn drängte, wir den
zu Jesu Füßen sitzen. Jemand hat einmal Bericht über jemanden lesen, der ihn ihm
gesagt: »Sie fürchteten sich, als er den Glauben anrührt.
Sturm auf dem See stillte, und sie fürch- 5,25-29 Eine verzweifelte Frau schnitt
teten sich wieder, als er den Sturm in ihm den Weg zum Haus des Jairus ab.
einer menschlichen Seele stillte.« Die Unser Herr war weder entrüstet noch ließ
Zeugen erzählten den neu hinzugekom- er sich aus der Ruhe bringen. Wie reagie-
menen noch einmal die ganze Geschich- ren wir auf solche Unterbrechungen?
te. Das war für das Volk zuviel, sie baten Ich glaube, daß es mir am meisten hilft,
Jesus, »daß er aus ihrem Gebiet wegge- wenn ich alle Unterbrechungen und Hinder-
he«. Dieses Verhalten und nicht der Tod nisse bei der Arbeit so ansehe, daß jemand sie
der Schweine ist das eigentlich Schockie- für mich als Erziehungsmittel geplant hat,
rende an dieser Geschichte. Christus war als Prüfungen, die Gott mir sendet, um mir
ihnen ein zu kostspieliger Gast! zu helfen, über meiner Arbeit nicht selbst-
Viele Menschen wünschen auch heu- süchtig zu werden . . . Sie sind keine Zeitver-
te noch Jesus weit weg, weil sie fürchten, schwendung, wie man leicht denken könnte,
daß seine Gemeinschaft sie sozial, finan- sondern der wichtigste Teil der Arbeit des
ziell oder persönlich zu viel kosten könn- Tages – nämlich der Teil, den man am besten
te. Sie versuchen, ihren Besitz zu retten, Gott hinlegen kann (aus einem Andachts-
verlieren dabei jedoch ihre Seelen. buch).
5,18-20 Als Jesus mit dem Schiff wie- Diese Frau litt seit zwölf Jahren an
der wegfahren wollte, bat ihn der ehe- chronischen Blutungen. Die vielen Ärzte,
mals Besessene, ihn begleiten zu dürfen. die sie schon aufgesucht hatte, haben
Das war eine gute Bitte, die sein neues offensichtlich einige harte Behandlungen
Leben zeigte, doch Jesus sandte ihn als mit ihr durchgeführt, ihr Geld dabei auf-
lebendigen Zeugen für Gottes große gebraucht, und hatten damit ihren
Macht und Barmherzigkeit nach Hause. Zustand verschlimmert statt gebessert.
Der Mann gehorchte und verbreitete die Als alle Hoffnung auf Heilung zerstört
gute Nachricht im Zehnstädtegebiet. war, erzählte ihr jemand von Jesus. Sie
Wir haben hier einen »Dauerauftrag« verlor keine Zeit, ihn zu finden. Sie bahn-
an alle vor uns, die die rettende Gnade te sich ihren Weg durch die Menge und
Gottes erfahren haben: »Geh in dein »rührte sein Kleid an«. Sofort hörte die
Haus zu den Deinen und verkünde Blutung auf und sie konnte sich wieder
ihnen, wieviel der Herr an dir getan und völlig wohl fühlen.
wie er sich deiner erbarmt hat.« Evange- 5,30 Sie hatte vor, sich still zurückzu-
lisation beginnt zu Hause! ziehen, aber der Herr wollte ihr den
Segen zukommen lassen, ihren Retter
J. Jesus heilt die Unheilbaren und öffentlich zu bekennen. Er hatte gemerkt,
weckt Tote auf (5,21-43) daß göttliche Kraft von ihm ausgegan-
5,21-23 Als Jesus ans Westufer des Sees gen war, als sie ihn angerührt hatte; es
zurückgekehrt war, stand er schon bald kostete ihn etwas, sie zu heilen. Deshalb
wieder im Mittelpunkt einer großen fragte er: »Wer hat meine Kleider
Volksmenge. Ein verzweifelter Vater lief angerührt?« Er wußte, wer es gewesen
zu ihm. Es war Jairus, »einer der Synago- war, aber er fragte, um die Frau aus der
genvorsteher«. Sein Töchterchen lag im Menge zu locken.
Sterben. Würde Jesus so gut sein zu kom- 5,31 Seine Jünger dachten, daß diese
men und seine Hände auf sie zu legen, Frage unsinnig sei. Viele Menschen
»damit sie gerettet wird«? drängten ihn ständig. Wie konnte er da
5,24 Der Herr reagierte auf die Bitte fragen: »Wer hat meine Kleider ange-
und ging zu dem Haus. »Eine große rührt?« Aber es ist für den Herrn ein
Volksmenge folgte ihm«, die ihn drängte. Unterschied, ob er körperlich berührt

180
Markus 5 und 6

wird oder die Berührung verzweifelten Macht Jesu über Dämonen, Krankheit
Glaubens spürt. Es ist möglich, ihm sehr und Tod. Nicht alle Gelehrten sind sich
nahe zu sein, ohne ihm zu vertrauen, jedoch darüber einig, ob sie wirklich
aber unmöglich, ihn im Glauben zu gestorben war. Jesus hatte gesagt, daß sie
berühren, ohne daß er es weiß und ohne nur schlief. Vielleicht lag sie in einem tie-
geheilt zu werden. fen Koma. Doch hätte er sie ebenso leicht
5,32.33 Die Frau kam nun nach vorn, von den Toten auferwecken können.
»voll Furcht und Zittern«, fiel vor ihm Wir sollten die abschließenden Worte
nieder und bekannte sich zum ersten Mal dieses Kapitels nicht übersehen: »Er sag-
öffentlich zu Jesus. te, man solle ihr zu essen geben.« Im
5,34 Da sprach er ihrer Seele ermuti- geistlichen Dienst entspricht das der
gende Worte zu. Offenes Bekenntnis zu »Nacharbeit«. Menschen, die den Puls-
Christus ist ungeheuer wichtig. Ohne schlag des neuen Lebens bemerken,
dieses Bekenntnis gibt es nur wenig müssen ernährt werden. Ein Weg, wie
Wachstum im Christenleben. Wenn wir ein Jünger dem Herrn seine Liebe zeigen
mutig für Jesus eintreten, dann erfüllt er kann, besteht darin, seine Schafe zu wei-
unsere Seele mit neuer Glaubenszu- den.
versicht. Die Worte des Herrn Jesus
bestätigten nicht nur ihre körperliche K. Der Knecht wird in Nazareth abge-
Heilung, sondern enthielten zweifellos lehnt (6,1-6)
auch den großen Segen der Rettung ihrer 6,1-3 Jesus kehrte mit seinen Jüngern
Seele. nach Nazareth zurück. Das war seine
5,35-38 Zu dieser Zeit waren Boten Vaterstadt, in der er als Zimmermann
mit der Nachricht gekommen, daß Jairus' gearbeitet hatte. Am Sabbat lehrte er in
Tochter gestorben war. Es war nun nicht der Synagoge. Die Menschen waren
mehr nötig, den Lehrer zu bemühen. Der erstaunt, denn sie konnten weder die
Herr aber gab Jairus neuen Mut und Weisheit seiner Lehre noch seine Wunder
nahm dann Petrus, Jakobus und Johan- bestreiten. Aber sie waren tief im Inner-
nes mit in das Haus. Sie begegneten sten nicht gewillt, ihn als den Sohn Got-
ungezügeltem Weinen, das für die orien- tes anzuerkennen. Sie meinten, er sei
talischen Familien dieser Zeit typisch »der Zimmermann, der Sohn der Maria«,
war, wenn sie trauerten. Einige Familien dessen Brüder und Schwestern noch
beschäftigten dazu sogar beauftragte immer dort lebten. Wäre er als mächtiger
Klageweiber. Held nach Nazareth zurückgekehrt, hät-
5,39-42 Als Jesus ihnen versicherte, ten sie ihn eher angenommen. Aber er
daß das Kind nicht gestorben sei, ver- kam in demütiger Haltung und Niedrig-
wandelten sich ihre Tränen in Hohn. Er keit. Das ärgerte sie.
ließ sich davon nicht beirren, nahm die 6,4-6 Hier bemerkte Jesus dann, daß
engere Familie des Mädchens mit an ihr ein Prophet im allgemeinen anderswo
Bett und nahm sie bei der Hand. Dabei besser aufgenommen wird als zu Hause.
sagte er auf aramäisch: »Mädchen, ich Seine Verwandten und Freunde sind ihm
sage dir, steh auf!« Sofort stand das zwöl- zu nahe, um seinen Dienst und seine Per-
fjährige Mädchen auf und ging umher. son schätzen zu können. »Es gibt keinen
Die Verwandten waren vor Freude wie Platz, an dem es schwieriger ist, dem
gelähmt. Herrn zu dienen als zu Hause.« Die Na-
5,43 Der Herr verbot ihnen, dieses zarener selbst waren ein verachtetes
Wunder zu verbreiten. Er war nicht an Volk. Eine geläufige Haltung war: »Kann
der Zustimmung der Massen interes- aus Nazareth etwas Gutes kommen?«
siert. Er mußte nun entschlossen auf das Und doch sahen diese sozial Unterprivi-
Kreuz zugehen. legierten auf Jesus herab. Welch ein
Wenn das Mädchen wirklich gestor- Kommentar zum Stolz und zum Unglau-
ben war, dann zeigt dieses Kapitel die ben des menschlichen Herzens! Der

181
Markus 6

Unglaube war es auch, der das Werk des Gürtel.« Sie sollten vertrauen, daß er für
Herrn in Nazareth behinderte. Jesus heil- ihre Bedürfnisse sorgen würde.
te nur »wenige Schwache«. »Er wun- 6,9 Sie durften einen Stab und Sanda-
derte sich über ihren Unglauben.« len mitnehmen, die letzteren waren
J. G. Miller warnt uns: sicher als Schutz vor Tieren gedacht. Sie
Solcher Unglaube hat außerordentlich sollten nur ein Unterkleid haben. Sicher-
schlimme Konsequenzen. Er verschließt die lich würde niemand die Jünger um ihre
Kanäle der Gnade und Barmherzigkeit, so Besitztümer beneiden. Auch würde kei-
daß nur ein kleines Rinnsal zu den Menschen ner zum Christentum hingezogen, weil
6)
gelangt, die in Not sind. er sich Hoffnungen machte, dadurch
Und wieder erfuhr Jesus die Einsam- reich zu werden! Und was immer für
keit, die der Mißverstandene und Unbe- Macht die Jünger haben würden – sie
achtete empfindet. Viele seiner Nachfol- würde ausschließlich von Gott kommen.
ger haben diesen Schmerz geteilt. Oft So waren sie ganz auf ihn geworfen. Sie
haben Knechte des Herrn ein bescheide- wurden unter den kärglichsten Umstän-
nes Äußeres. Sind wir in der Lage, hinter den ausgesandt, und doch waren sie Ver-
das Äußere zu blicken und echten geist- treter des Sohnes Gottes, die mit seiner
lichen Wert zu erkennen? Unverzagt Macht ausgestattet waren.
durch seine Ablehnung in Nazareth zog 6,10 Sie sollten Gastfreundschaft an-
der Herr »durch die Dörfer ringsum und nehmen, wann immer sie ihnen angebo-
lehrte« das Wort. ten wurde, und sie sollten bei ihren Gast-
gebern bleiben, solange sie sich in der
L. Der Knecht sendet seine Jünger aus Gegend aufhielten. Diese Anweisung
(6,7-13) sollte verhindern, daß sie ihre Zeit damit
6,7 Nun war für die Zwölf die Zeit verbrachten, eine bequemere Unterkunft
gekommen hinauszugehen. Sie hatten zu finden. Ihre Aufgabe war es, die Bot-
unter der unvergleichlichen Lehre des schaft des Einen zu predigen, der nicht
Retters gelebt, und nun sollten sie als gekommen war, sich bedienen zu lassen,
Verkündiger einer wunderbaren Bot- der nicht selbstsüchtig war. Sie sollten
schaft hinausgehen. Er sandte sie »zwei ihre Botschaft nicht dadurch in Mißkre-
zu zwei« aus. Die Predigt würde so dit bringen, indem sie für sich selbst nach
durch den Mund von zwei Zeugen Luxus, Bequemlichkeit und Gemütlich-
bestätigt werden. Auch könnten sie sich keit strebten.
auf der gemeinsamen Reise gegenseitig 6,11 Wenn ein Ort die Jünger und ihre
stärken und helfen. Außerdem war es Botschaft ablehnen würde, brauchten sie
sicher hilfreich, zu zweit zu sein, wenn nicht dort zu bleiben. Hätten sie das ge-
man in eine Gegend geriet, in der die tan, hätten sie Perlen vor die Säue gewor-
Moral nicht sehr angesehen war. Außer- fen. Wenn sie gingen, sollten sie den Staub
dem gab Jesus »ihnen Vollmacht über die unter ihren Füßen abschütteln und damit
unreinen Geister«. Das sollte man beach- zeigen, daß Gott die ablehnt, die seinen
ten. Es war eine große Sache, Dämonen geliebten Sohn nicht haben wollen.
auszutreiben, doch nur Gott konnte Obwohl einige der Anweisungen nur
Menschen diese Gabe verleihen. einen zeitweisen Charakter haben und
6,8 Wenn das Reich unseres Herrn später vom Herrn Jesus wieder zurück-
von dieser Welt wäre, hätte er niemals die genommen wurden (Lk 22,35.36), zeigen
Anweisungen gegeben, die wir in den sie uns doch bleibende Prinzipien für die
folgenden Versen (V. 8-11) finden. Sie Diener Christi in jedem Zeitalter.
sind das genaue Gegenteil von dem, was 6,12.13 Die Jünger zogen nun aus und
ein durchschnittlicher weltlicher Leiter predigten Umkehr und »trieben viele
an Anweisungen geben würde. Die Jün- Dämonen aus und salbten viele Schwa-
ger sollten ohne Vorräte hinausgehen: che mit Öl und heilten sie«. Die Salbung
»Kein Brot, keine Tasche, keine Münze im mit Öl ist unserer Meinung nach eine

182
Markus 6

symbolische Handlung, die die lindern- N. Die Speisung der Fünftausend


de und wohltuende Macht des Heiligen (6,30-44)
Geistes darstellen sollte. 6,30 Dieses Wunder, das in allen vier
Evangelien berichtet wird, fand zu
M. Der Vorläufer des Knechtes wird
Beginn des dritten Jahres des öffentli-
enthauptet (6,14-29)
chen Auftretens Jesu statt. Die Apostel
6,14-16 Als die Nachricht den König waren gerade von ihrer ersten Predigtrei-
Herodes erreicht, daß ein Wundertäter se zurückgekehrt (s. V. 7-13). Vielleicht
durch das Land reiste, schloß er sofort, waren sie von ihrem Erfolg ganz erregt,
daß es sich um Johannes den Täufer han- vielleicht aber auch müde und fußlahm.
dele, der von den Toten auferstanden Der Herr erkannte, daß sie eine Ruhe-
wäre. Andere sagten, er sei Elia oder pause nötig hatten und nahm sie im
»einer der Propheten«, aber Herodes Schiff an einen abgeschlossenen Ort am
war überzeugt, daß der Mann, den er Ufer des Sees Genezareth mit.
hatte enthaupten lassen, auferstanden 6,31.32 Wir hören oft, wie der Vers
war. Johannes der Täufer war eine Stim- »Kommt, ihr selbst allein, an einen öden
me Gottes gewesen. Herodes hatte diese Ort und ruht ein wenig aus« zitiert wird,
Stimme zum Schweigen gebracht. Nun um damit luxoriösen Urlaub für Christen
quälten Herodes heftige Gewissensbis- zu rechtfertigen. Kelly schrieb:
se, weil er das getan hatte. Er mußte nun Es wäre gut für uns, wenn wir öfter in
lernen, daß die Wege der Gottlosen dieser Weise ruhen müßten, d. h. wenn die
schwer sind. Arbeit so übermäßig viel ist, und unsere
6,17-20 Die Erzählung wendet sich selbstverleugnenden Bemühungen um die
nun zu der Zeit zurück, als Johannes ent- Segnung anderer Menschen so ständig ist,
hauptet wurde. Der Täufer hatte Hero- daß wir sicher sein könnten, daß dieses Wort
des getadelt, weil er eine ungesetzliche des Herrn wirklich für uns gilt.7)
Ehe mit der Frau seines Bruders einge- 6,33.34 Eine Volksmenge folgte dem
gangen war. Herodias, die nun mit Hero- Herrn und seinen Jüngern auf dem
des verheiratet war, wurde wütend und Landweg am Ufer des Sees entlang. Jesus
schwur ihm Rache. Aber Herodes »wurde innerlich bewegt über sie«. Sie
respektierte Johannes als heiligen Mann irrten ohne geistliche Leitung umher,
und unterband alle ihre Racheversuche. hungrig und hilflos. Deshalb »fing er an,
6,21-25 Schließlich kam jedoch ihre sie vieles zu lehren«.
große Chance. Bei der Geburtstagsfeier 6,35.36 Später am Tag wurden seine
des Herodes, an der die örtliche Schicke- Jünger wegen der Menge unruhig – so
ria teilnahm, ließ Herodias ihre Tochter viele Menschen und nichts zu essen! Sie
vor den Gästen tanzen. Das gefiel Hero- baten den Herrn, sie wegzuschicken.
des so gut, daß er versprach, ihr alles zu Dieselbe Menge, die den Herrn zu Mit-
geben, »bis zur Hälfte meines Reiches«. leid veranlaßt hatte, störte nun die Jün-
Durch ihre Mutter angestiftet, bat sie ger. Sind Menschen für uns ein Störfak-
»um das Haupt Johannes' des Täufers«. tor, oder lieben wir sie?
6,26-28 Jetzt saß der König in der Fal- 6,37.38 Jesus wandte sich an die
le. Gegen seinen eigenen Wunsch und Jünger und sagte: »Gebt ihr ihnen zu
wider besseres Wissen gewährte er die essen!« Das ganze schien grotesk –
Bitte. Die Sünde hatte ihr Netz um ihn fünftausend Männer, dazu Frauen und
gesponnen, und der Vasallenkönig wur- Kinder, und nichts als fünf Brote und
de das Opfer einer bösen Frau und eines zwei Fische. Aber sie hatten Gott ver-
erotischen Tanzes. gessen!
6,29 Als die treuen Jünger des Johan- 6,39-44 Im folgenden Wunder sahen
nes hörten, was geschehen war, baten sie die Jünger ein Bild dafür, wie der Retter
um seinen Leichnam, begruben ihn und sich selbst hingeben würde, um zum
sagten es Jesus. Brot des Lebens für eine hungernde Welt

183
Markus 6

zu werden. Sein Leib würde gebrochen 7. Die Brocken, die übrig waren (»zwölf
werden, damit andere ewiges Leben Handkörbe voll«), waren mehr, als sie
erhalten können. Die hier verwendeten am Anfang zur Verfügung gehabt
Worte spielen stark auf das Mahl des hatten. Gott gibt reichlich. Doch man
Herrn an, das Erinnerung an seinen Tod beachte, daß nichts verschwendet
ist: Er nahm, dankte, brach und teilte wurde. Der Überfluß wurde gesam-
aus. melt. Verschwendung ist Sünde.
Die Jünger lernten hier auch wertvol- 8. Eines der größten Wunder Jesu hätte
le Hinweise für ihren Dienst für ihn: nie stattgefunden, wenn die Jünger
1. Jünger Jesu sollten nie seine Macht an ihrem Plan festgehalten hätten,
bezweifeln, für ihre Bedürfnisse zu sich eine Ruhepause zu gönnen. Wie
sorgen. Wenn er fünftausend Männer oft gilt das für uns!
mit fünf Broten und zwei Fischen
ernähren kann, dann kann er auch O. Jesus geht auf dem See (6,45-52)
seine vertrauensvollen Jünger unter 6,45-50 Der Herr kann nicht nur für den
allen Umständen versorgen. Sie kön- Unterhalt seiner Knechte sorgen, son-
nen für ihn arbeiten, ohne sich Sorgen dern auch für ihre Sicherheit.
machen zu müssen, woher sie ihr Nachdem er die Jünger in einem
Essen bekommen. Wenn sie zuerst Schiff zurück zum Westufer geschickt
das Reich Gottes und seine Gerech- hatte, ging Jesus »auf den Berg, um zu
tigkeit suchen, dann werden alle ihre beten«. Er sah sie in der Dunkelheit der
Bedürfnisse erfüllt. Nacht »beim Rudern Not leiden«, denn
2. Wie kann die vergehende Welt je sie mußten gegen den Wind kämpfen.
evangelisiert werden? Jesus fordert Um ihnen zu helfen, ging er über den
uns auf: »Gebt ihr ihnen zu essen!« See. Zu Anfang waren sie verängstigt,
Wenn wir ihm geben, was wir haben, denn sie »meinten, es sei ein Gespenst«.
so unscheinbar es aussehen mag, Doch er redete ihnen Mut zu und »stieg
kann er es zum Segen für viele wer- zu ihnen in das Schiff«. Sofort legte sich
den lassen. der Wind.
3. Jesus tat sein Werk in einer bestimm- 6,51.52 Der Bericht schließt mit dem
ten Ordnung, indem er die Menge Kommentar: »Und sie entsetzten sich
sich in Gruppen zu je hundert und sehr über die Maßen; denn sie waren
fünfzig lagern ließ. durch die Brote nicht verständig gewor-
4. Er dankte, brach die Brote und ver- den, sondern ihr Herz war verhärtet.«
teilte die Fische. Ohne seinen Segen Hier scheint der Gedanke zu sein, daß sie
hätten sie niemals gereicht. Ungebro- immer noch nicht erkannt hatten, daß
chen wäre es nie genug gewesen. Der ihm nichts unmöglich ist, obwohl sie die
Grund, warum wir nicht hingegeben Macht des Herrn gerade eben erst im
genug für die Menschen da sind, ist, Wunder der Brotvermehrung gesehen
daß wir noch nicht richtig zerbrochen hatten. Sie hätten nicht überrascht sein
sind. sollen, als sie ihn auf dem Wasser gehen
5. Jesus verteilte das Essen nicht selbst. sahen. Das war kein größeres Wunder als
Er erlaubte seinen Jüngern, dies zu das, welchem sie eben noch beigewohnt
tun. Sein Plan lautet, die Welt durch hatten. Mangel an Glauben hatte ihr
seine Jünger zu ernähren. Herz verhärtet und ihre geistliche Wahr-
6. Es war für alle ausreichend vorhan- nehmungsfähigkeit getrübt.
den. Wenn die Gläubigen heutzutage Die Gemeinde hat in diesem Wunder
alles über das unmittelbar Notwendi- ein Bild für unser Zeitalter und sein Ende
ge ihres Lebensunterhalts hinaus für gesehen. Jesus auf dem Berg verkörpert
das Werk des Herrn gäben, könnte Christus in seinem gegenwärtigen
die ganze Welt das Evangelium noch himmlischen Dienst, wo er für sein Volk
in dieser Generation hören. eintritt. Die Jünger stehen für seine

184
Markus 6 und 7

Nachfolger, die von den Stürmen und und Pfannen. Über die Pharisäer schreibt
Versuchungen des Lebens gebeutelt wer- E. Stanley Jones:
den. Bald wird der Retter zu den Seinen Sie waren den ganzen Weg von Jerusalem
zurückkehren, sie aus der Gefahr und gekommen, um ihn zu treffen, und ihre
Verzweiflung befreien und sie sicher zur Lebenshaltung war so negativ und sie waren
himmlischen Küste geleiten. so bedacht, an allem etwas auszusetzen, daß
sie nur die ungewaschenen Hände der Jünger
P. Der Knecht heilt am See sahen. Sie konnten die größte Erweckungsbe-
Genezareth (6,53-56) wegung nicht sehen, die je auf unserem Pla-
6,53-56 Als der Herr wieder zurück am neten stattfand – eine Bewegung, die den
Westufer des Sees war, wurde er von Geist, die Seele und den Leib der Menschen
Kranken umlagert. Wo auch immer er reinigte . . . Ihre Augen waren für Kleinigkei-
hinkam, brachten die Leute ihm die ten und Nebensächlichkeiten so weit geöffnet,
bedürftigen Kranken auf ihren Matten. daß sie für das Große blind waren. So vergißt
Marktplätze wurden so zu Krankenhäu- die Geschichte sie – die Negativen – sie ver-
sern. Sie wollten nur nahe genug an ihn gißt sie soweit, daß sie nur noch der Hinter-
kommen, um »die Quaste seines Klei- grund für Jesu positives Wirken sind. Sie
des« anzurühren. »Alle, die ihn anrühr- hinterließen nichts als Kritiksucht, er hinter-
ten, wurden geheilt.« ließ bekehrte Menschen. Sie sammelten Feh-
8)
ler, er Nachfolger.
Q. Die Tradition steht gegen das Wort 7,5-8 Jesus prangerte sofort die Heu-
Gottes (7,1-23) chelei solchen Verhaltens an. Diese Män-
7,1 »Die Pharisäer und . . . Schriftgelehr- ner waren genau so, wie Jesaja vorausge-
ten« waren jüdische religiöse Führer, die sagt hatte. Sie gaben große Hingabe an
ein ungeheures System von streng den Herrn vor, waren aber innerlich ver-
durchgeführten Traditionen aufgerichtet dorben. Sie gaben vor, durch ausgefeilte
hatten, das so mit dem Gesetz Gottes ver- Rituale Gott zu verehren, aber sie hatten
woben war, daß es fast die gleiche Auto- die Lehren der Bibel durch ihre eigenen
rität wie die Schriften erhalten hatte. In Traditionen ersetzt. Statt das Wort Gottes
einigen Fällen widersprach es sogar der als einzige Autorität in allen geistlichen
Schrift oder schwächte Gottes Gesetz ab. und moralischen Fragen zu betrachten,
Die religiösen Führer liebten es, Regeln versuchten sie, den deutlichen Ansprü-
aufzustellen, und die Menschen nahmen chen der Schrift durch ihre Tradition aus-
sie demütig an und gaben sich mit einem zuweichen oder sie wegzuerklären.
System von Ritualen ohne geistliche 7,9.10 Jesus verdeutlichte nun durch
Bedeutung zufrieden. ein Beispiel, wie ihre Tradition das
7,2-4 Wir sehen nun die Pharisäer Gesetz Gottes wertlos gemacht hatte.
und Schriftgelehrten, wie sie Jesus kriti- Eines der Zehn Gebote verlangte, daß
sieren, weil seine Jünger »mit . . . unge- Kinder ihre Eltern ehren sollten (dazu
waschenen Händen Brot essen«. Das gehörte, daß sie für sie sorgten, wenn sie
bedeutet nicht, daß sich die Jünger nicht bedürftig waren). Die Todesstrafe war
die Hände wuschen, ehe sie aßen, son- über jeden verhängt, der über Vater oder
dern daß sie das ausgedehnte Ritual Mutter abfällig sprach.
nicht beachteten, das durch die Tradition 7,11-13 Aber die jüdische Tradition
vorgeschrieben war. Ehe sie sich zum hatte ein Gesetz unter dem Namen »Kor-
Beispiel nicht bis zu den Ellenbogen ban« aufgestellt, was soviel bedeutete
gewaschen hatten, waren sie religiös wie »gegeben« oder »bestimmt«. Man
»unrein«. Wenn sie vorher auf dem stelle sich vor, daß jüdische Eltern in
Marktplatz gewesen waren, mußten sie großer Not lebten. Ihr Sohn hatte Geld,
sich sogar rituell baden. Das ausführliche wollte es ihnen aber nicht geben. Er
System der Waschung erstreckte sich brauchte nur »Korban« sagen, und damit
sogar auf das Eintauchen von Töpfen andeuten, daß es für Gott oder den Tem-

185
Markus 7

pel bestimmt war. Das befreite ihn von eher Hungers sterben, als daß dieser böse
aller weiteren Verantwortung, seine Eid gebrochen werden konnte.
Eltern zu ernähren. Er konnte sein Geld Eine wichtige Lehre dieses Abschnit-
unbegrenzt behalten und damit arbeiten. tes ist, daß wir immer alle Lehre und alle
Ob der Tempel es jemals wirklich erhielt, Tradition am Wort Gottes prüfen, dem
war nicht weiter wichtig. Kelly schreibt gehorchen, was von Gott ist und ableh-
dazu: nen müssen, was von Menschen ist. Am
Die Führer hatten diese Regel aufgestellt, Anfang mag jemand eine deutliche, bi-
um Vermögen für religiöse Zwecke sicherzu- blische Botschaft predigen und damit die
stellen und Menschen vor Gewissensbissen Zustimmung bibelgläubiger Menschen
bezüglich des Wortes Gottes zu bewahren . . . gewinnen. Wenn er diese Zustimmung
Gott jedoch hatte die Menschen aufgerufen, gewonnen hat, beginnt er vielleicht, eini-
ihre Eltern zu ehren. Er war es, der sich ge menschliche Lehren hinzuzufügen.
gegen jede Beleidigung der Eltern ausgespro- Seine Anhänger, die meinen, daß er nicht
chen hatte. Doch hier waren Menschen, die irren könne, folgen ihm blindlings, auch
unter dem Deckmäntelchen der Religion die- wenn seine Lehre die Spitze des Wortes
se beiden Gebote Gottes vergewaltigten! Die- abstumpft oder seine Bedeutung verwäs-
se Tradition, »Korban« zu sagen, beurteilt sert.
der Herr nicht nur als Unrecht gegen die Auf diese Weise hatten auch die
Eltern, sondern als einen Akt der Rebellion Schriftgelehrten und Pharisäer als Lehrer
9)
gegen das ausdrückliche Gebot Gottes. des Wortes ihre Autorität gewonnen.
7,14-16 Von Vers 14 an machte der Aber nun hoben sie die Absicht des Wor-
Herr die revolutionäre Aussage, daß tes auf. Der Herr Jesus mußte die Men-
nicht das, was in den Mund eines Men- schen ermahnen, daß das Wort einen
schen hineinkommt, ihn unrein macht Menschen glaubwürdig macht, nicht
(wie etwa Essen, das mit ungewaschenen umgekehrt. Immer muß der große Prüf-
Händen zu sich genommen wird), son- stein bleiben: »Was sagt das Wort?«
dern das, was aus dem Menschen her-
auskommt (so wie die Traditionen, die R. Eine Heidin wird durch ihren Glau-
Gottes Wort beiseite setzten). ben gesegnet (7,24-30)
7,17-19 Sogar die Jünger wunderten 7,24.25 Durch das vorige Ereignis zeigte
sich über diese Aussage. Sie waren unter Jesus, daß alle Lebensmittel rein sind.
den Lehren des Gesetzes aufgewachsen Hier beweist er nun, daß die Heiden
und hatten immer gehört, daß bestimmte nicht länger gemein oder unrein sind.
Lebensmittel wie Schweinefleisch, Hase Jesus reiste nach Nordwesten »in das
oder Garnele unrein seien und sie des- Gebiet von Tyrus«, das auch als Syro-
halb selbst durch sie unrein würden. Phönizien bekannt ist. Er versuchte,
Jesus sagt nun deutlich, daß der Mensch unerkannt in ein Haus zu kommen, aber
nicht durch das verunreinigt wird, was sein Ruf war ihm vorausgeeilt und man
er aufnimmt. In gewissem Sinne deutete wußte bald, daß er dort war. Eine heidni-
diese Aussage das Ende des Zeitalters sche Frau kam zu ihm und bat für ihr
des Gesetzes an. besessenes Töchterchen um Hilfe.
7,20-23 Ein Mensch wird durch das 7,26 Wichtig ist hier die Tatsache, daß
wirklich verunreinigt, was aus seinem sie »eine Griechin« war, keine Jüdin. Die
Herzen kommt: »Unzucht, Dieberei, Juden, Gottes erwähltes Volk, hatten eine
Mord, Ehebruch, Habsucht, Bosheit, bevorrechtigte Stellung bei Gott. Er hatte
Arglist, Ausschweifung, Neid, Läste- mit ihnen einen wunderbaren Bund ge-
rung, Hochmut, Torheit.« Dahinter steht schlossen, ihnen die Schrift gegeben und
der Gedanke, daß hier auch noch wohnte bei ihnen in der Stiftshütte, spä-
menschliche Tradition aufgeführt wer- ter im Tempel. Im Gegensatz dazu waren
den müßte. Die »Korban«-Tradition kam die Heiden ausgeschlossen vom Bürger-
einem Mord gleich. Die Eltern konnten recht Israels, Fremdlinge hinsichtlich der

186
Markus 7 und 8

Bündnisse der Verheißung, ohne Chri- Sprechen, oder er sprach deshalb so


stus, ohne Hoffnung, ohne Gott in der mühselig, weil er die Laute nie deutlich
Welt (Eph 2,11.12). Der Herr Jesus kam in hören konnte und es für ihn deshalb
erster Linie für das Volk Israel. Er zeigte schwierig war, sie richtig wiederzuge-
sich ihnen als der König des Volkes. Das ben. Jedenfalls steht er hier für den Sün-
Evangelium wurde zuerst dem Haus der, der für die Stimme Gottes taub ist
Israel gepredigt. Es ist wichtig, dies zu und deshalb vor anderen nicht über Gott
erkennen, um sein Verhalten gegenüber reden kann.
der Syrophönizierin zu verstehen. Als sie 7,33.34 Erst einmal nahm Jesus ihn
ihn bat, »daß er den Dämon von ihrer von der Volksmenge beiseite. Er »legte
Tochter austreibe«, erteilte er ihr schein- seine Finger in seine Ohren und berührte
bar eine barsche Abfuhr. mit Speichel seine Zunge« und zeigte
7,27 Jesus sagte, daß die Kinder (die dem Mann so durch eine Art Zeichen-
Israeliten) zuerst satt werden sollten, da sprache, daß er ihm nun die Ohren öff-
es nicht schön sei, »das Brot der Kinder nen und die Zunge lösen wolle. Dann
zu nehmen und den Hunden (den Hei- blickte Jesus »zum Himmel«, um darauf
den) hinzuwerfen«. Seine Antwort war hinzuweisen, daß seine Macht von Gott
keine Ablehnung der Bitte. Er sagte: stammte. Sein Seufzen drückte seine
»Laßt zuerst die Kinder satt werden.« Trauer über das Leid aus, das die Sünde
Das hört sich hart an. In Wirklichkeit über die Menschheit gebracht hat.
wollte er ihre Buße und ihren Glauben Schließlich sagte er noch: »Ephata!«, das
prüfen. Jesu Dienst war zu dieser Zeit in aramäische Wort für »Werde aufgetan!«
erster Linie an die Juden gerichtet. Als 7,35.36 Der Mann bekam sofort ein
Heidin hatte sie keinerlei Ansprüche auf normales Gehör und normale Sprech-
seine Unterstützung. Würde sie diese fähigkeit. Der Herr bat die Menschen,
Wahrheit annehmen können? dieses Wunder nicht zu verbreiten, aber
7,28 Ja, das konnte sie. Sie sagte ja sie hörten nicht auf seine Anweisung.
praktisch: »Ja, Herr. Ich bin nur ein klei- Ungehorsam kann niemals gerechtfer-
nes heidnisches Hündchen. Aber ich tigt sein, so gut man es auch meinen
weiß, daß kleine Hunde die Angewohn- mag.
heit haben, die Krümel zu fressen, die die 7,37 Die Zuschauer waren über die
Kinder unter den Tisch fallen lassen. wunderbaren Werke Jesu erstaunt. Sie
Mehr will ich gar nicht – einige Krümel, sagten: »Er hat alles wohl gemacht; er
die bei deinem Dienst an den Juden macht sowohl die Tauben hören als auch
abfallen!« die Stummen reden.« Sie erkannten
7,29.30 Dieser Glaube war bemer- nicht, welche Wahrheit sie da äußerten.
kenswert. Der Herr belohnte ihn sofort, Hätten sie jenseits von Golgatha gelebt,
indem er das Mädchen aus der Ferne dann hätten sie mit noch mehr Überzeu-
heilte. Als die Frau nach Hause kam, war gung und Begeisterung gesprochen.
ihre Tochter völlig wiederhergestellt. Und seit unsere Seelen seine Liebe ken-
nengelernt haben,
S. Heilung eines Taubstummen Welche Barmherzigkeiten hat er uns
(7,31-37) erwiesen,
7,31.32 Von der Mittelmeerküste kehrte Barmherzigkeiten, die all unser Lob über-
unser Herr nun an das Ostufer des Sees steigen,
Genezareth zurück, in das Zehnstädte- Unser Jesus hat alles wohl gemacht.
gebiet. Hier fand ein Ereignis statt, das Samuel Medley
nur im Markusevangelium berichtet
wird. Engagierte Freunde brachten T. Die Speisung der Viertausend
»einen Tauben zu ihm, der mit Mühe (8,1-10)
redete«. Vielleicht bereitete eine Defor- 8,1-9 Dieses Wunder ähnelt der Speisung
mation der Mundhöhle diese Mühe beim der Fünftausend, doch sollte man die

187
Markus 8

Die Speisung der Fünftausend Die Speisung der Viertausend


1. Die Menge bestand aus Juden 1. Die Menge bestand wahrscheinlich
(Joh 6,14.15). aus Heiden (sie lebten in Dekapolis).
2. Die Menge war einen Tag bei Jesus 2. Die Menge war drei Tage bei Jesus
gewesen (6,35). gewesen (8,2).
3. Jesus hatte fünf Brote und zwei 3. Jesus hatte sieben Brote und einige
Fische zur Verfügung (Matth 14,17). kleine Fische zur Verfügung (8,5.7).
4. Fünftausend Männer mit Frauen 4. Viertausend Männer mit Frauen
und Kindern wurden gespeist und Kindern wurden gespeist
(Matth 14,21). (Matth 15,38).
5. Die Reste füllten zwölf Handkörbe 5. Die Reste füllten sieben Weiden-
(Matth 14,20) körbe (8,8).

Unterschiede beachten, die in der (obi- großartigste Zeichen überhaupt – der


gen) Tabelle aufgeführt sind: Herr Jesus selbst. Er war wirklich ein Zei-
Je weniger der Herr Jesus zur Verfü- chen, das vom Himmel gekommen war,
gung hatte, desto mehr erreichte er und aber sie würdigten ihn nicht. Sie hörten
desto mehr blieb übrig. In Kapitel 7 seine unvergleichlichen Worte, sahen sei-
sahen wir, wie die Krümel für eine heid- ne wunderbaren Taten, kamen mit einem
nische Frau vom Tisch fallen. Hier wird absolut sündlosen Menschen in Kontakt
nun eine große Menge von Heiden über- – Gott geoffenbart im Fleisch – und baten
reichlich gespeist. Erdman kommentiert: in ihrer Blindheit noch um ein Zeichen
Das erste Wunder dieser Periode zeigte, vom Himmel!
daß Brotkrümel für die bedürftigen Heiden 8,12.13 Kein Wunder, daß der Herr
vom Tisch fallen. Hier wird nun angedeutet, »in seinem Geist tief seufzte!« Wenn
daß Jesus, der von seinem eigenen Volk abge- irgendeine Generation auf der Welt be-
lehnt wurde, sein Leben für die ganze Welt vorrechtigt vor den anderen Genera-
geben und zum Brot des Lebens für alle tionen war, dann war es die jüdische, zu
10)
Nationen wird. der diese Pharisäer gehörten. Doch sie
Es gibt die Gefahr, solche Ereignisse baten – blind für die eindeutigsten
wie die Speisung der Viertausend als Beweise, daß der Messias erschienen war
unbedeutende Wiederholung abzutun. – um ein Wunder vom Himmel statt auf
Wir sollten jedoch unsere Bibel mit der der Erde. Jesus aber sagte ihnen: »Es
Überzeugung studieren, daß jedes Wort wird keine weiteren Wunder geben. Ihr
der Schrift voll geistlicher Wahrheit ist, habt eure Chance schon gehabt.« Er
auch wenn wir es mit unserem jetzigen »stieg wieder in das Schiff und fuhr« an
Verständnis noch nicht sehen können. das Ostufer.
8,10 Von Dekapolis aus überquerten
Jesus und seine Jünger den See Geneza- V. Der Sauerteig der Pharisäer und
reth in Richtung Westufer und landeten des Herodes (8,14-21)
an einem Ort namens Dalmanutha (Mag- 8,14.15 Die Jünger hatten vergessen, Brot
dala in Matth 15,39). mit auf die Reise zu nehmen. Jesus dach-
te allerdings noch immer an seine Begeg-
U. Die Pharisäer verlangen ein nung mit den Pharisäern, als er sie »vor
Zeichen vom Himmel (8,11-13) dem Sauerteig der Pharisäer und dem
8,11 Die Pharisäer erwarteten ihn schon Sauerteig des Herodes« warnte. Sauer-
und forderten »ein Zeichen vom Him- teig ist in der Bibel immer ein Bild des
mel«. Ihre Blindheit und Frechheit waren Bösen, das sich langsam und still aus-
außerordentlich. Vor ihnen stand das breitet und alles beeinflußt, mit dem es in

188
Markus 8

Berührung kommt. Zum Sauerteig der es einen guten Grund für alles, was er tat,
Pharisäer gehören Heuchelei, krampf- auch wenn wir das vielleicht nicht erken-
haftes Festhalten an Ritualen, Selbstge- nen können. Jeder Fall einer Heilung ist
rechtigkeit und Bigotterie. Die Pharisäer anders, wie auch jede Bekehrung anders
waren sehr darauf bedacht, die äußer- verläuft. Manche haben gleich nach der
lichen Zeichen der Heiligkeit zu bewah- Bekehrung eine bemerkenswerte geistli-
ren, während sie innerlich verdorben che Wahrnehmung. Andere sehen
und böse waren. Zum Sauerteig des zunächst noch verschwommen, um erst
Herodes gehören Skeptizismus, Unsitt- später die volle Überzeugung von ihrer
lichkeit und Weltlichkeit. Die Herodianer Errettung zu haben.
waren für diese Sünden bekannt.
8,16-21 Die Jünger verstanden Jesus X. Das Bekenntnis des Petrus (8,27-30)
überhaupt nicht. Alles, woran sie denken 8,27-30 Die beiden letzten Abschnitte
konnten, war Essen. So stellte Jesus dieses Kapitels bringen uns zum Höhe-
ihnen neun Fragen hintereinander. punkt der Ausbildung der Zwölf. Die
Durch die ersten fünf wurden sie wegen Jünger mußten eine tiefe persönliche
ihrer Begriffsstutzigkeit getadelt. Durch Überzeugung vom Wesen Jesu gewin-
die letzten vier, weil sie sich immer noch nen, ehe sie ihn auf dem Weg begleiten
darum sorgten, wie ihre Bedürfnisse konnten, der vor ihm lag, und ehe er sie
gestillt werden würden, obwohl er bei bitten konnte, ihm in ein Leben der Hin-
ihnen war. Hatte er nicht Fünftausend gabe und des Opfers zu folgen. Dieser
mit fünf Broten gespeist, und waren Abschnitt bringt uns zum Kern der Jün-
nicht zwölf Körbe voll Brocken übrigge- gerschaft. Wir haben es hier mit dem
blieben? Ja! Hatte er nicht viertausend vielleicht heute am meisten vernachläs-
mit sieben Broten gespeist, und sieben sigten Gebiet christlichen Glaubens und
Körbe, mit Brocken gefüllt, waren übrig- christlicher Praxis zu tun.
gebieben? Ja, das hatte er. Warum ver- 8,27.28 Jesus und seine Jünger such-
standen sie dann nicht, daß er die ten nun im Norden die Einsamkeit. Auf
Bedürfnisse einer Handvoll Jünger in dem Weg nach Cäsarea Philippi riß er
einem Schiff überreichlich erfüllen konn- das Thema an, indem er die Jünger nach
te? Erkannten sie denn nicht, daß der der öffentlichen Meinung über ihn frag-
Schöpfer und Erhalter des Universums te. Im allgemeinen waren sich die Men-
mit ihnen im Boot saß? schen einig, daß er ein großer Mann sei,
wie etwa Johannes der Täufer, Elia oder
W. Heilung des Blinden von Bethsaida ein anderer Prophet. Aber für Jesus ist
(8,22-26) die Ehre eines Menschen eigentlich eine
8,22-26 Dieses Wunder, das sich nur bei Entwürdigung. Wenn Jesus nicht Gott
Markus findet, wirft mehrere interessan- ist, dann ist er ein Betrüger, ein Verrück-
te Fragen auf: Warum führte Jesus den ter oder aber eine Legende. Es gibt keine
Mann »aus dem Dorf hinaus«, ehe er ihn andere Möglichkeit.
heilte? Warum heilte er ihn nicht, indem 8,29.30 Dann fragte der Herr die Jün-
er ihn einfach anrührte? Warum benutz- ger direkt, was sie von ihm hielten.
te er ein so ungewöhnliches Mittel wie Petrus erklärte sofort, daß er »der Chri-
Speichel? Warum erhielt der Mann nicht stus« sei, d. h., der Messias oder der
11)
sofort sein volles Augenlicht zurück? Gesalbte. Rein intellektuell wußte Petrus
(Das ist die einzige Heilung in den Evan- das schon. Aber es war etwas in seinem
gelien, die in mehreren Phasen verläuft.) Leben geschehen, daß dies bei ihm nun
Und schließlich: Warum verbot Jesus zu einer begründeten, persönlichen
dem Mann, in seinem Dorf von dem Überzeugung wurde. Das Leben konnte
Wunder zu erzählen? Unser Herr ist sou- nicht mehr weitergehen wie bisher.
verän und ist nicht verpflichtet, uns seine Petrus konnte sich nie mehr mit einem
Handlungsweise zu erklären. Sicher gab selbstsüchtigen Leben zufriedengeben.

189
Markus 8

Wenn Jesus der Messias war, dann muß- das Verlangen, sich selbst in Sicherheit zu
te Petrus in völliger Hingabe an ihn bringen, dem leichten Weg den Vorzug vor
leben. dem Kreuz zu geben. Ist es nicht wahr, daß
wir von Natur aus versuchen, Anfechtung,
Y. Der Knecht sagt seinen Tod und Schande und Ablehnung aus dem Weg zu
seine Auferstehung voraus (8,31-38) gehen oder daß wir vor dem Leiden zurück-
Bisher haben wir den Knecht Jahwes in schrecken, das das Tun des Willens Gottes in
einem Leben ruhelosen Dienstes für einer Welt wie dieser immer nach sich ziehen
andere gesehen. Wir haben gesehen, wie muß, daß wir einen ruhigen, anständigen
er von seinen Feinden gehaßt und von Weg auf Erden vorziehen – kurz, das Beste
seinen Freunden mißverstanden wurde. beider Welten? Wie schnell ist man darin
Wir haben ein Leben dynamischer Kraft, gefangen! Petrus konnte nicht verstehen,
sittlicher Vollkommenheit und ausge- warum der Messias diesen ganzen Leidens-
sprochener Liebe und Demut gesehen. weg gehen sollte. Wären wir dort gewesen,
8,31 Aber der Weg des Dienstes Got- wir hätten womöglich Schlimmeres gesagt
tes führt nun weiter zu Leid und Tod. oder gedacht. Der Protest des Petrus kam aus
Deshalb sagt der Retter den Jüngern nun inniger menschlicher Zuneigung. Auch er
offen, daß er liebte den Retter von Herzen. Doch, und das
1. leiden, wußte er noch nicht, war da noch der Geist
12)
2. verworfen werden, der Welt, den er noch nicht gerichtet hatte.
3. getötet werden und Man beachte, daß Jesus erst seine Jün-
4. auferstehen müsse. ger sah und dann erst Petrus tadelte, als
Für ihn würde der Weg zur Herrlich- wolle er sagen: »Wenn ich nicht ans
keit durch Kreuz und Grab führen. »Das Kreuz gehe, wie sollen dann diese meine
Wesen seines Dienstes sollte sich im Jünger gerettet werden?«
Opfer offenbaren«, hat F. W. Grant das 8,34 Dann sagte Jesus sinngemäß zu
einmal ausgedrückt. ihnen: »Ich gehe um zu leiden und zu
8,32.33 Petrus konnte den Gedanken sterben, damit Menschen gerettet wer-
nicht annehmen, daß Jesus leiden und den. Wenn ihr mir nachfolgen wollt,
sterben müsse, denn das stand in völli- dann müßt ihr jede selbstsüchtige Re-
gem Gegensatz zu dem Bild, das er sich gung ablegen, absichtlich den Pfad der
vom Messias gemacht hatte. Auch wollte Ablehnung, des Leidens und des Todes
er nicht denken, daß sein Herr und Mei- wählen und mir nachfolgen. Es kann
ster von seinen Feinden geschlagen wür- sein, daß ihr persönliche Bequemlichkeit,
de. Deshalb tadelte er den Retter dafür, gesellschaftliche Vergnügungen, irdische
so etwas zu erwähnen. Da mußte Jesus Bindungen, großartige Ziele, materiellen
zu Petrus sagen: »Geh weg hinter mich, Reichtum und sogar das Leben aufgeben
Satan! Denn du sinnst nicht auf das, was müßt.« Worte wie diese stellen uns die
Gottes, sondern auf das, was der Men- Frage, wie wir eigentlich glauben kön-
schen ist.« Nicht, daß Jesus Petrus etwa nen, das es richtig ist, in Luxus und An-
beschuldigt hätte, Satan selbst, oder von nehmlichkeit zu leben. Wie können wir
ihm besessen zu sein. Er meinte: »Du den Materialismus, die Selbstsucht und
sprichst, wie Satan reden würde. Er die Kälte unserer Herzen rechtfertigen?
möchte uns immer davon abhalten, Gott Seine Worte rufen uns alle, ein Leben der
ganz zu gehorchen. Er versucht uns, Selbstverleugnung, der Hingabe, des
indem er uns dazu bringen will, den Leidens und des Opfers zu führen.
bequemen Weg zu gehen.« Die Worte des 8,35 Immer wieder stehen wir vor der
Petrus hatten satanischen Ursprung und Versuchung, unser Leben zu retten –
Inhalt, dadurch wurde der Unwillen des bequem zu leben, für die Zukunft vorzu-
Herrn hervorgerufen. Kelly sagt dazu: sorgen, unsere eigenen Entscheidungen
Was erregte unseren Herrn so sehr? zu treffen, wobei das Ich dann im Mittel-
Gerade die Falle, vor der wir alle oft stehen: punkt bleibt. Es gibt keinen sichereren

190
Markus 8 und 9

Weg, sein Leben zu verlieren. Christus vorhergesagt hatte, den er nun gehen
ruft uns auf, unser Leben für ihn und das würde, und sie eingeladen hatte, ihm in
Evangelium hinzugeben, indem wir ihm seinem Leben des Opfers und der Selbst-
unseren Geist, unsere Seele und unseren verleugnung zu folgen, zeigt der Herr
Leib weihen. Er wartet, daß wir unser ihnen nun die andere Seite: Obwohl Jün-
Leben in seinen heiligen Dienst stellen gerschaft sie in diesem Leben viel kosten
und es, wenn nötig, für die Evangelisie- würde, würden sie schließlich in der
rung der Welt hingeben. Das ist gemeint, Herrlichkeit belohnt werden.
wenn Jesus davon redet, das Leben zu 9,1-7 Der Herr begann mit der
verlieren. Es gibt keinen sichereren Weg, Erklärung, daß einige Jünger »den Tod
es zu gewinnen. nicht schmecken werden, bis sie das
8,36.37 Selbst wenn ein Gläubiger Reich Gottes in Kraft haben kommen
allen Reichtum der Welt während seines sehen«. Er bezog sich damit auf Petrus,
Lebens erlangen könnte, was würde ihm Jakobus und Johannes. Auf dem Berg der
das nützen? Er würde die Gelegenheit Verklärung sahen sie »das Reich Gottes in
verpaßt haben, sein Leben zur Ehre Got- Kraft«. Der Abschnitt erklärt uns, daß
tes und für die Errettung der Verlorenen alles, was wir um Christi willen leiden
zu leben. Das wäre ein schlechter Han- müssen, uns überreichlich vergolten wer-
del. Unser Leben ist mehr wert als alles, den wird, wenn er wiederkommt und sei-
was diese Welt zu bieten hat. Sollen wir ne Knechte mit ihm in Herrlichkeit
unser Leben für Christus oder für uns erscheinen. Der Zustand auf dem Berg
leben? der Verklärung weist auf die Herrschaft
8,38 Unser Herr erkannte, daß einige Christi im Tausendjährigen Reich hin.
seiner Jünger auf dem Weg der Jünger- 1. Jesus wurde verklärt – verwirrende
schaft aus Angst vor Schmach straucheln Pracht ging von ihm aus. Sogar seine
könnten. Deshalb erinnerte er sie daran, Kleider leuchteten, weißer als jede
daß diejenigen, die versuchen, Angriffe Bleiche sie bleichen konnte.
um Jesu willen zu vermeiden, größere Während seines erstens Kommens
Schande erleben werden, wenn er in war die Herrlichkeit Christi verdeckt.
Macht und Herrlichkeit auf die Erde Er kam in Demut, ein Mann der
zurückkommt. Welch ein Gedanke! Bald Schmerzen, mit Leiden vertraut. Aber
wird unser Herr auf die Erde zurück- er wird in Herrlichkeit wiederkehren.
kommen, diesmal nicht in Knechtsge- Niemand kann dieses Ereignis miß-
stalt, sondern in seiner Herrlichkeit und verstehen oder verpassen. Es wird
in der Herrlichkeit des Vaters, zusam- sichtbar sein, daß er der Herr der Her-
men mit den heiligen Engeln. Das wird ren und der König der Könige ist.
ein Anblick blendender Pracht sein. 2. Elia und Mose waren anwesend. Sie
Dann wird Jesus sich derer schämen, die repräsentieren entweder
sich jetzt seiner schämen. Mögen seine a) die Heiligen des AT oder
Worte »Wer sich meiner . . . schämt unter b) das Gesetz (Mose) und die Pro-
diesem ehebrecherischen und sündigen pheten (Elia) oder
Geschlecht« unsere Herzen ansprechen. c) die Heiligen, die gestorben sind,
Wie inkonsequent, uns des sündlosen und die Heiligen, die verwandelt
Retters in einer Welt zu schämen, die worden sind.
voller Untreue und Sündhaftigkeit ist! 3. Petrus, Jakobus und Johannes waren
anwesend. Sie können für die Heili-
IV. Der Knecht reist nach Jerusalem gen des NT allgemein stehen oder für
(Kap. 9-10) die, die noch leben werden, wenn das
Reich aufgerichtet wird.
A. Der Knecht wird verklärt (9,1-13) 4. Jesus ist die Hauptperson. Der Vor-
Nachdem er den Jüngern den Weg der schlag von Petrus, drei Hütten zu
Ablehnung, des Leidens und des Todes bauen, wurde durch die Wolke und

191
Markus 9

die Stimme vom Himmel getadelt. In se. Aber die wichtigere und aktuellere
allen Dingen muß Christus den Vor- Frage lautet: Sagen die Schriften nicht
rang haben. Er wird die Herrlichkeit voraus, daß der Sohn des Menschen
des Landes des Immanuel sein. große Leiden erdulden muß und mit Ver-
5. Die Wolke könnte die Schechina (d. h. achtung behandelt wird? Soweit es Elia
die Wolke der Herrlichkeit) sein, die betrifft: Er ist schon gekommen (und
im Allerheiligsten in der Stiftshütte zwar in Person und Dienst Johannes des
und im alten Tempel wohnte. Sie war Täufers), aber die Menschen »haben ihm
der sichtbare Ausdruck der Gegen- getan, was sie wollten« – ebenso wie sie
wart Gottes. Elia behandelt hatten. Der Tod Johannes
6. Die Stimme war die Stimme Gottes, des Täufers war ein Bild für das, was sie
des Vaters, der Jesus Christus als sei- dem Menschensohn antun würden. Sie
nen geliebten Sohn bezeugte. haben den Vorläufer abgelehnt, und
9,8 Als die Wolke sich erhob, sahen ebenso werden sie den König verwerfen.
die Jünger »niemand mehr bei sich außer
Jesus allein«. Das war ein Bild für die ein- B. Ein besessener Junge wird geheilt
zigartige, herrliche und vorrangige Stel- (9,14-29)
lung, die Christus einnehmen wird, 9,14-16 Die Jünger durften nicht auf dem
wenn das Reich in Macht kommt, und Berg der Verklärung bleiben. Im Tal war-
die er heute schon im Herzen seiner tete eine seufzende, weinende Mensch-
Nachfolger haben sollte. heit auf sie. Eine Welt der Bedürftigkeit
9,9.10 »Als sie von dem Berg herab- lag zu ihren Füßen. Als Jesus und die drei
stiegen, gebot er ihnen«, daß sie nicht Jünger den Fuß des Berges erreichten,
darüber sprechen sollten, »was sie ge- war eine lebhafte Diskussion zwischen
sehen hatten, ehe nicht der Sohn des den Schriftgelehrten, der Volksmenge
Menschen aus den Toten auferstanden und den anderen Jüngern im Gange. So-
sei«. Diese letzte Aussage verwirrte sie. bald der Herr erschien, brach die Unter-
Vielleicht verstanden sie nicht, daß er haltung ab, und die Menge strömte zu
sterben und wieder auferstehen sollte. ihm. »Und er fragte sie: Worüber streitet
Sie fragten sich, was der Ausdruck »aus ihr mit ihnen?«
den Toten auferstehen« bedeuten könne. 9,17.18 Ein verzweifelter Vater
Als Juden kannten sie die Wahrheit, daß erzählte dem Herrn von seinem Sohn,
alle auferstehen würden. Aber Jesus der von einem »stummen Geist« beses-
sprach von einer Auferstehung, die nur sen war. Der Dämon warf das Kind zu
ihn betraf. Er würde »aus den Toten« auf- Boden, ließ es schäumen und mit den
erstehen, d. h. nicht alle würden auf- Zähnen knirschen. Diese starken Krämp-
erstehen, wenn er aufersteht. Das ist eine fe belasteten die Gesundheit des Kindes
Wahrheit, die sich nur im NT findet. sehr. Der Vater hatte die Jünger um Hilfe
9,11 Die Jünger hatten aber auch noch gebeten, aber »sie konnten es nicht«.
eine andere Frage. Sie hatten eben eine 9,19 Jesus rügte die Jünger wegen
Vorausschau auf das Reich erhalten. ihres Unglaubens. Hatte er ihnen nicht
Aber hatte nicht Maleachi vorausgesagt, die Macht gegeben, Dämonen auszutrei-
daß »Elia zuerst kommen müsse«, und ben? Wie lange mußte er noch bei ihnen
zwar als Vorläufer des Messias, mit der sein, ehe sie die Autorität nutzten, die er
Wiederherstellung aller Dinge beginnen ihnen verliehen hatte? Wie lange würde
und den Weg frei machen müsse, damit er noch mit ihrem Leben der Kraftlosig-
der Messias seine Herrschaft errichten keit und Niederlage leben müssen?
könne (Mal 4,5)? Wo war nun Elia? Wür- 9,20-23 Als sie das Kind zum Herrn
de er »zuerst« kommen, wie die Schrift- brachten, verursachte der Dämon einen
gelehrten sagten? schweren Anfall. Der Herr fragte, wie
9,12.13 Jesus gab zur Antwort, daß es lange das schon so ginge. »Von Kindheit
stimme, daß Elia erst zurückkehren müs- an«, erklärte der Vater. Diese Krämpfe

192
Markus 9

hatten das Kind oft ins Feuer oder ins haben, um sie für den vor ihnen liegen-
Wasser geworfen. Das Kind war öfter den Weg unterweisen und vorbereiten
knapp dem Tode entronnen. Dann bat zu können.
der Vater inständig, etwas zu tun, wenn 9,31.32 Er sagte ihnen einfach, daß er
er könne – ein herzzerreißender Schrei, gefangen genommen und getötet wer-
der die langen Jahre der Verzweiflung den und am dritten Tage wieder aufer-
vor Jesus brachte. Jesus sagte ihm, daß es stehen würde. Das verstanden die Jünger
nicht darum ging, ob er fähig zur Hei- nicht so recht und »fürchteten sich, ihn
lung sei, sondern um den Glauben des zu fragen«. Auch wir fürchten uns oft,
Vaters. Glaube an den lebendigen Gott ihn zu fragen, und verpassen so manche
wird immer belohnt. Kein Fall ist für ihn Segnung.
zu schwierig.
9,24 Der Vater drückte das Paradox D. Größe im Reich (9,33-37)
von Glaube und Unglaube aus, das Got- 9,33.34 Als sie das Haus in Kapernaum
tes Volk zu allen Zeiten empfunden hat: erreichten, in dem sie wohnen würden,
»Ich glaube. Hilf meinem Unglauben!« fragte Jesus sie, worüber sie sich auf dem
Wenn wir glauben wollen, dann sehen Weg unterhalten hätten. Sie schämten
wir, daß wir voller Unglauben sind. Wir sich zuzugeben, daß sie darüber gespro-
hassen diesen Zustand, die unvernünfti- chen hatten, »wer der Größte sei«. Viel-
ge Auflehnung, und scheinen doch ver- leicht hatte die Verklärung in ihnen neue
geblich dagegen anzukämpfen. Hoffnungen auf ein diesseitiges Reich
9,25-27 Als Jesus dem Geist gebot geweckt, und sie stritten sich über die
auszufahren, erlitt der Junge einen letz- Ehrenplätze darin. Es ist herzzerreißend,
ten schlimmen Anfall, dann war er be- wenn man sieht, daß gerade zu der Zeit,
freit und lag wie tot da. Der Retter half da Jesus ihnen von seinem bevorstehen-
ihm auf und gab ihn seinem Vater wie- den Tod erzählt, sie sich für besser hiel-
der. ten als andere. »Das Herz des Menschen
9,28.29 Als unser Herr später mit sei- ist trügerisch, mehr als alles, unheilbar
nen Jüngern im Haus war, fragten sie ist es«, wie Jeremia sagte (Jer 17,9).
ihn, warum sie nicht in der Lage gewesen 9,35-37 Jesus, der wußte, worüber sie
waren, den Dämon auszutreiben. Er geredet hatten, gab ihnen nun eine Lekti-
erklärte, daß bestimmte Wunder Gebet on in Demut. Er sagte, daß sie dann die
und Fasten erfordern. Wer von uns wird ersten wären, wenn sie freiwillig den
in seinem christlichen Dienst nicht von niedrigsten Dienst auf sich nehmen und
Zeit zu Zeit von einem Gefühl der Nie- für andere statt für sich selbst leben wür-
derlage und Frustration überfallen? Wir den. Er stellte ihnen ein Kind vor und
haben unermüdlich und gewissenhaft umarmte es. Er betonte, daß Liebe, die in
gearbeitet, doch sehen wir nicht den seinem Namen den am wenigsten
Geist Gottes in Kraft wirken. Auch wir Geachteten erwiesen wird, eine große Tat
hören, daß der Herr uns daran erinnert: ist. Das ist, als ob man diese Liebe Jesus
»Diese Art kann durch nichts ausfahren selbst erweist, ja, sogar Gott dem Vater.
als nur durch Gebet und Fasten.« »O gepriesener Herr Jesus, deine Lehren
prüfen mein fleischliches Herz und stel-
C. Jesus sagt nochmals seinen Tod und len es bloß. Brich mein Ich und lebe Du
seine Auferstehung voraus (9,30-32) durch mich.«
9,30 Der Besuch unseres Herrn in Cä-
saräa Philippi war zu Ende. Sie zogen E. Der Knecht verbietet das
nun durch Galiläa – eine Reise, die Jesus Sektenwesen (9,38-42)
nach Jerusalem und ans Kreuz führen Dieses Kapitel scheint voller Mißver-
würde. Er wollte unerkannt reisen. Sein ständnisse zu sein. Erst unterschätzt
öffentlicher Dienst lag größtenteils hinter Petrus am Berg der Verklärung die Größe
ihm. Nun wollte er Zeit für seine Jünger des Herrn (V. 5.6), dann konnten die Jün-

193
Markus 9

ger den stummen Dämon nicht austrei- den. »Weil ihr Christus angehört« ist das
ben (V. 18), danach diskutierten sie darü- Band, das die Gläubigen zusammenbin-
ber, wer der Größte sei (V. 34), und nun den sollte. Diese Worte, wenn wir sie uns
sehen wir, daß sich auch bei ihnen der ständig vor Augen hielten, würden uns
Sektengeist regt (V. 38-40). vor jedem Parteigeist, vor kleinlichem
9,38 Es war Johannes, der Geliebte, Gezänk und vor Eifersucht im christli-
der Jesus berichtete, daß sie einen Mann chen Dienst bewahren.
gefunden hatten, der in Jesu Namen 9,42 Immer wieder muß der Christ
Dämonen austrieb. Die Jünger sagten beachten, welche Auswirkungen sein
ihm, er solle damit aufhören, weil er Reden und Handeln auf andere haben.
nicht zu ihnen gehören wolle. Der Mann Es ist möglich, über einen Mitgläubigen
verbreitete weder eine Irrlehre noch leb- zu straucheln und lebenslang geistlichen
te er in Sünde. Er verband sich nur ein- Schaden zu nehmen. Es wäre besser, mit
fach nicht mit den Jüngern. einem Mühlstein um den Hals ertränkt
9,39 Jesus sagte dagegen: »Haltet ihn zu werden, als Anlaß für einen Kleinen
nicht auf. Wenn er genug Glauben an zu sein, vom Weg der Heiligung und
mich hat, um in meinem Namen Dämo- Wahrheit abzukommen.
nen auszutreiben, dann ist er auf meiner
Seite und arbeitet gegen Satan. Er wird F. Schonungslose Selbstdisziplin
sicher nicht so schnell kehrtmachen, um (9,43-50)
schlecht von mir zu reden oder mein 9,43 Die übrigen Verse des Kapitels beto-
Feind zu werden.« nen die Notwendigkeit von Disziplin
9,40 Vers 40 scheint Matthäus 12,30 und Entsagung. Diejenigen, die den Pfad
zu widersprechen, wo Jesus sagte: »Wer echter Jüngerschaft gehen wollen, müs-
nicht mit mir ist, ist gegen mich, und wer sen dauernd mit natürlichen Wünschen
nicht mit mir sammelt, zerstreut.« Aber und Verlangen kämpfen. Wenn man sie
es gibt keinen wirklichen Konflikt zwi- zu sehr hegt, bringt das Verderben. Wenn
schen beiden Aussagen. Bei Matthäus man über sie die Kontrolle gewinnt, ist
ging es darum, ob Christus der Sohn Got- geistlicher Sieg sicher.
tes ist oder aber ob er seine Macht von Der Herr sprach von Hand, Fuß und
Dämonen erhalten hat. Bei solch einer Auge und erklärte dabei, daß es besser
grundlegenden Frage arbeitet jeder, der sei, eines von ihnen zu verlieren, als
nicht mit Jesus ist, gegen ihn. durch dieses Glied in die Hölle zu kom-
Hier bei Markus ging es nicht um die men. Um das Ziel zu erreichen, lohnt sich
Person oder das Werk Christi, sondern jedes Opfer.
um die Frage, mit wem man im Dienst für Die Hand steht für unsere Taten, der
den Herrn zusammenarbeitet. Hier müs- Fuß für unseren Wandel und das Auge
sen Toleranz und Liebe herrschen. Wer für Dinge, die wir begehren. Das sind
auch immer in seinem Dienst nicht gegen mögliche Gefahrenpunkte. Wenn wir
Jesus arbeitet, muß gegen Satan sein, und hierin nicht hart bleiben, können sie uns
deshalb auf Christi Seite stehen. ins ewige Verderben führen.
9,41 Sogar die kleinste Freundlich- Lehrt dieser Abschnitt, daß echte
keit, die in Christi Namen erwiesen wird, Gläubige schließlich doch noch verloren
wird belohnt werden. Ein Becher Wasser, gehen können und die Ewigkeit in der
der einem Jünger gegeben wird, weil er Hölle zubringen müssen? Wenn man die-
zu Christus gehört, wird nicht unbe- sen Abschnitt allein nimmt, scheint diese
merkt bleiben. Dämonenaustreibung in Schlußfolgerung nahe zu liegen. Aber
Jesu Namen ist dagegen eher spekta- wenn wir diesen Abschnitt im Zusam-
kulär. Einen Becher Wasser reichen ist menhang der neutestamentlichen Lehre
etwas sehr Gewöhnliches. Aber beide sehen, müssen wir feststellen, daß jeder,
Handlungen sind dem Herrn sehr viel der in die Hölle kommt, niemals ein
wert, wenn sie zu seiner Ehre getan wer- wirklicher Christ gewesen sein kann. Ein

194
Markus 9

Mensch kann behaupten, er sei wiederge- 2. sich selbst vor Verderbnis bewahren,
boren, und scheinbar auch eine Zeitlang indem sie Selbstdisziplin und -ver-
so leben. Aber wenn solch ein Mensch leugnung üben, oder
ständig sein Fleisch verwöhnt, wird 3. vor dem Richterstuhl Christi geprüft
deutlich, daß er nie errettet worden ist. werden.
13)
9,44-48 Der Herr spricht wiederholt »Und jedes Schlachtopfer wird mit
von der Hölle als einem Ort, »wo ihr Salz gesalzen werden.« (Anmerkung
14)
Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht Elberfelder Bibel). Dieser Satz ist ein
erlischt«. Das ist sehr ernst zu nehmen. Zitat aus 3. Mose 2,13 (s. a. 4. Mose 18,19;
Wenn wir daran wirklich glauben wür- 2. Chron 13,5). Salz, Zeichen für den
den, würden wir nicht für Dinge, sondern Bund zwischen Gott und seinem Volk,
für unsterbliche Seelen leben. »O Herr, sollte die Menschen daran erinnern, daß
gib mir die Leidenschaft für Seelen!« der Bund ein ernstgemeinter Vertrag
Glücklicherweise ist es jedoch nie- war, der nicht verletzt werden durfte.
mals sittlich notwendig, eine Hand oder Wenn wir unsere Leiber Gott als lebendi-
einen Fuß zu amputieren oder ein Auge ges Opfer darbringen (Röm 12,1.2), soll-
auszustechen. Der Herr meinte auch ten wir das Opfer mit Salz würzen,
nicht, daß wir zu solchen Extremen grei- indem wir eine nicht mehr zurücknehm-
fen sollten. Er sagte nur, daß es besser bare Hingabe vollziehen.
wäre, diese Organe zu opfern als durch 9,50 »Das Salz ist gut.« Christen sind
ihren Mißbrauch in die Hölle zu ge- das Salz der Erde (Matth 5,13). Gott
langen. erwartet von ihnen, daß sie einen gesun-
9,49 Die beiden nächsten Verse sind den, reinigenden Einfluß ausüben. So
besonders schwierig. Deshalb werden lange sie ihre Jüngerschaft ernst nehmen,
wir sie Stück für Stück untersuchen. sind sie für alle ein Segen.
»Denn jeder wird mit Feuer gesalzen »Wenn aber das Salz salzlos gewor-
werden.« Die drei Hauptfragen lauten: den ist, womit wollt ihr es würzen?« Salz
1. Welches Feuer ist gemeint? ohne Kraft ist wertlos. Ein Christ, der sei-
2. Was ist mit »gesalzen« gemeint? ne Pflichten als treuer Jünger nicht
3. Bezieht sich »jeder« auf Gerettete, auf erfüllt, ist verdorrt und unnütz. Es reicht
Ungerettete oder auf beide? nicht, als Christ gut anzufangen. Wenn
Feuer kann sowohl Hölle (wie in Vers das Kind Gottes sich nicht ständig und
44.46.48) als auch Gericht jeder Art gründlich selbst richtet, dann verfehlt es
bedeuten, einschließlich des göttlichen das Ziel, für das Gott es gerettet hat.
Gerichtes über die Werke des Gläubigen »Habt Salz in euch selbst.« Wir sollen
und des Selbstgerichts. Gottes Kraft in der Welt sein. Wir sollen
Salz steht für etwas, das vor Fäulnis zur Ehre Christi einen günstigen Einfluß
bewahrt, reinigt und würzt. In östlichen ausüben. Wir sollen allem in unserem Le-
Ländern ist es auch ein Zeichen für ben gegenüber intolerant sein, was unse-
Treue, Loyalität, Freundschaft oder für re Nützlichkeit für ihn vermindern kann.
das Halten eines Versprechens. »Und haltet Frieden untereinander.«
Wenn unter »jeder« die Ungläubigen Dies bezieht sich offensichtlich auf die
zu verstehen sind, dann geht es um den Verse 33 und 34 zurück, wo die Jünger
Gedanken, daß sie in den Feuern der gestritten hatten, wer der Größte unter
Hölle bewahrt werden, d. h., daß sie ewi- ihnen sei. Der Stolz muß weggetan und
ge Strafe erleiden. durch demütigen Dienst an allen Men-
Wenn »jeder« sich auf Gläubige be- schen ersetzt werden.
zieht, dann lehrt uns der Abschnitt, daß Zusammenfassend kann man sagen,
sie daß die Verse 49 und 50 ein Bild des
1. durch die Feuer der Züchtigung Got- Lebens des Gläubigen als Opfer für Gott
tes in diesem Leben gereinigt werden sind. Es ist mit Feuer gesalzen, d. h. ver-
müssen, oder bunden mit Selbstgericht und Selbstver-

195
Markus 9 und 10

leugnung. Es ist mit Salz gesalzen, das 10,11.12 Als die Jünger den Herrn
heißt, es wird mit dem Gelöbnis unver- genauer befragten, sagte er deutlich, daß
änderbarer Hingabe dargebracht. Wenn Wiederheirat nach der Scheidung Ehe-
ein Gläubiger hinter seinen Gelöbnissen bruch ist, gleich, ob der Mann oder die
zurückbleibt oder sündiges Verlangen Frau die Scheidung eingereicht hat.
nicht drastisch behandelt, dann wird sein Wenn man nur diesen Vers sieht, dann
Leben geschmack-, wert- und sinnlos. würde das heißen, daß Scheidung unter
Deshalb sollte er alles aus seinem Leben allen Umständen verboten ist. Aber in
entfernen, das mit seiner Aufgabe, die er Matthäus 19,9 machte Jesus eine Aus-
von Gott erhalten hat, in Konflikt gerät. nahme. Wenn ein Partner sich des Ehe-
Außerdem sollte er friedliche Beziehun- bruchs schuldig gemacht hat, dann ist
gen zu allen Gläubigen unterhalten. der andere Teil frei, sich scheiden zu las-
sen und wahrscheinlich ist es ihm sogar
G. Ehe und Ehescheidung (10,1-12) erlaubt, wieder zu heiraten. Es ist auch
10,1 Von Galiläa reiste unser Herr südöst- möglich, daß 1. Korinther 7,15 Scheidung
lich nach Peräa, dem Bezirk östlich des erlaubt, wenn ein ungläubiger Partner
Jordans. Sein Dienst in Peräa erstreckt seinen christlichen Ehegatten verläßt.
sich bis Kapitel 10,45. Sicherlich sind mit dem gesamten
10,2 Schon bald hatten ihn die Pha- Thema der Heirat und Wiederheirat ern-
risäer gefunden. Sie kreisten ihn wie eine ste Schwierigkeiten verbunden. Es gibt
Meute Wölfe ein. Sie versuchten, ihn in in manchen Ehen solche Verwicklungen,
eine Falle zu locken, indem sie ihn frag- daß es wirklich die Weisheit Salomos
ten, ob Scheidung nach dem Gesetz er- erfordert, ein solches Durcheinander
laubt sei. Er verwies sie auf die fünf wieder zu ordnen. Scheidung wirft
Bücher Mose: »Was hat euch Mose gebo- einen Schatten und ein Fragezeichen auf
ten?« das Leben derer, die betroffen sind.
10,3-9 Sie umgingen seine Frage, Wenn Geschiedene die Gemeinschaft
indem sie feststellten, was Mose gestattet einer Ortsgemeinde suchen, dann müs-
habe. Er erlaubte eine Scheidung, wenn sen die Ältesten den Fall in der Furcht
der Mann der Frau »einen Scheidebrief« Gottes untersuchen. Jeder Fall ist ver-
schrieb. Aber das lag eigentlich nicht in schieden und muß individuell behandelt
Gottes Absicht, es war nur »wegen der werden.
Herzenshärtigkeit« der Menschen er- Dieser Abschnitt zeigt, daß es Chri-
laubt worden. Nach göttlichem Plan sind stus nicht nur an der Heiligkeit der Ehe
Mann und Frau in der Ehe verbunden, so gelegen ist, sondern auch an den Rechten
lange sie leben. Das geht zurück auf Got- der Frau. Das Christentum gibt der Frau
tes Schöpfung des Menschen als Mann eine Ehrenstellung, die man in anderen
und Frau. Ein Mann soll seine Eltern ver- Religionen nicht findet.
lassen und mit seiner Frau so verbunden
sein, daß sie »ein Fleisch« sind. Weil sie H. Jesus segnet die Kinder (10,13-16)
so von Gott verbunden sind, sollten sie 10,13 Nun sehen wir die Besorgtheit Jesu
nicht durch menschliche Anordnungen um Kinder. Eltern, die ihre Kinder zu
voneinander geschieden werden. Jesus bringen wollten, damit sie durch
10,10 Offensichtlich war diese Aussa- den Hirten und Lehrer gesegnet werden,
ge selbst für die Jünger nur schwer zu wurden von den Jüngern abgewiesen.
akzeptieren. Zu dieser Zeit hatten die 10,14-16 Der Herr wurde sehr »un-
Frauen keine sichere oder ehrenvolle Stel- willig« und erklärte, daß den Kindern
lung. Sie wurden oft nur mit Verachtung und denen, die kindlichen Glauben und
behandelt. Ein Mann konnte seine Frau kindliche Demut haben, »das Reich Got-
entlassen, wenn sie ihm nicht mehr gefiel. tes gehört«. Erwachsene müssen wie
Sie hatte keine Wahl. In vielen Fällen wur- Kinder werden, um in das Reich Gottes
de sie wie ein Stück Ware behandelt. zu kommen.

196
Markus 10

George MacDonald sagte immer, daß tätige Zwecke gespendet hätte. Es gibt
er nicht an das Christentum eines Men- nur einen Weg zur Errettung: Glaube an
schen glauben könne, wenn niemals Jun- den Herrn. Aber um gerettet zu werden,
gen oder Mädchen vor seiner Tür spielen. mußte dieser Mann einsehen, daß er ein
Sicherlich sollten diese Verse dem Diener Sünder ist, der die heiligen Anforderun-
des Herrn die Bedeutung verdeutlichen, gen Gottes nicht erfüllen kann. Der Herr
die dem Erreichen der Kleinen mit dem zitierte zunächst aus den Zehn Geboten,
Wort Gottes zukommt. Der Geist eines um ihn von seiner Sündhaftigkeit zu
Kindes ist noch sehr formbar und auf- überzeugen. Daß der Reiche sich weiger-
nahmefähig. W. Graham Scroggie sagte: te, seine Reichtümer zu teilen, zeigt, daß
»Sei am besten und gib dein Bestes, wenn er seinen Nächsten nicht wie sich selbst
du mit Kindern zusammen bist.« liebte. Er hätte sagen sollen: »Herr, wenn
das verlangt wird, dann bin ich ein Sün-
I. Der reiche Jüngling (10,17-31) der. Ich kann mich durch eigene An-
10,17 Ein reicher Mann unterbrach den strengung nicht retten. Deshalb bitte ich
Herrn mit einer offensichtlich ernst- dich: Rette mich durch deine Gnade.«
gemeinten Frage. Er sprach Jesus als Aber er liebte seinen Reichtum zu sehr.
»Guter Lehrer« an und fragte dann, was Er war nicht willens, ihn aufzugeben. Er
er tun solle, um ewiges Leben zu erhalten. weigerte sich, zerbrochen zu werden.
10,18 Der Herr Jesus nahm die Worte Als Jesus dem Mann sagte, er solle
»guter Lehrer« auf. Er lehnte diesen Titel alles verkaufen, sagte er ihm das nicht,
nicht ab, sondern brauchte ihn, um den damit er auf diese Weise die Errettung
Glauben des Mannes zu erproben. Nur erlangen sollte. Er zeigt dem Mann, daß er
Gott ist gut. War der junge Mann gewillt das Gesetz Gottes gebrochen und deshalb
zu bekennen, daß Jesus Gott ist? Offen- Rettung nötig hatte. Wenn er die Lehre
sichtlich nicht. des Herrn angenommen hätte, wäre ihm
10,19.20 Als nächstes wandte der der Weg zur Errettung gezeigt worden.
Herr das Gesetz an, um in dem Mann das Aber es bleibt noch ein Problem. Wird
Bewußtsein seiner Sünde zu erwecken. von uns Gläubigen erwartet, den Näch-
Der Mann lebte noch in der Illusion, daß sten wie uns selbst zu lieben? Sagt Jesus
er das Reich erben könne, wenn er etwas auch uns: »Verkaufe alles, was du hast,
täte. Deshalb sollte er das Gesetz befol- und gib es den Armen, und du wirst
gen, welches ihm sagte, was er tun sollte. einen Schatz im Himmel haben, und
Unser Herr zitierte die fünf Gebote, die komm, folge mir nach«? Jeder muß hier
sich in erster Linie mit unserem Verhält- selbst die Antwort finden, aber ehe er es
nis zu unseren Mitmenschen beschäfti- tut, sollte er die folgenden, unbestreitba-
gen. Diese fünf Gebote sagen zusammen- ren Fakten überdenken:
gefaßt: »Du sollst deinen Nächsten lieben 1. Täglich sterben tausende von Men-
wie dich selbst.« Der Mann bekannte von schen den Hungertod.
sich, diese Gebote von Jugend auf gehal- 2. Mehr als die Hälfte der Menschheit
ten zu haben. hat niemals das Evangelium gehört.
10,21.22 Aber liebte er seinen Näch- 3. Unsere materiellen Güter können
sten wirklich wie sich selbst? Wenn, dann benutzt werden, um in geistlichen
sollte er das beweisen, indem er seinen und körperlichen Nöten zu helfen.
Besitz verkaufte und es den Armen gab. 4. Das Beispiel Christi lehrt uns, daß wir
O, das war eine ganz andere Sache. »Er arm werden sollten, damit andere
ging . . . traurig weg, denn er hatte viele reich werden können (2. Kor 8,9).
Güter.« 5. Die Kürze des Lebens und die Nähe
Der Herr Jesus meinte mit seiner Auf- der Wiederkunft des Herrn lehren
forderung nicht, daß der Mann hätte uns, unser Geld jetzt für ihn arbeiten
gerettet werden können, wenn er seinen zu lassen. Wenn er wiedergekommen
Besitz verkauft und das Geld für wohl- ist, wird es dafür zu spät sein.

197
Markus 10

10,23-25 Als er sah, wie der reiche gilt für den Reichen noch mehr als für
Mann in der Menge verschwand, sprach andere. Er hat Hindernisse zu überwin-
Jesus darüber, wie schwierig es für einen den, deren sich der Arme nicht bewußt
Reichen ist, ins Reich Gottes zu kom- ist. Der Gott Mammon muß von seinem
men. Die Jünger waren über diese Be- Thron im Herzen des Menschen gerissen
merkung erstaunt, weil sie Reichtum mit werden, und man muß vor Gott als Bett-
dem Segen Gottes in Verbindung brach- ler stehen. Diese Veränderung herbeizu-
ten. Deshalb wiederholte Jesus: »Liebe führen, ist einem Menschen nicht mög-
Kinder, wie schwer ist’s, daß die, so ihr lich. Das kann nur Gott.
15)
Vertrauen auf Reichtum setzen, ins Christen, die auf Erden Reichtum
Reich Gottes kommen!« (LU 1912) Er sammeln, bezahlen für ihren Ungehor-
fuhr fort: »Es ist leichter, daß ein Kamel sam meist im Leben ihrer Kinder. Nur
durch das Öhr der Nadel geht, als daß wenige Kinder aus solchen Familien
ein Reicher in das Reich Gottes hinein- leben wirklich mit dem Herrn.
kommt.« 10,28-30 Petrus erfaßte die Anwen-
10,26.27 Deshalb fragten sich die Jün- dung der Lehre des Herrn. Er erkannte,
ger nun, wer überhaupt errettet werden daß Jesus sinngemäß meinte: »Verlaß
könne. Als Juden lebten sie unter dem alles, und folge mir nach.« Jesus bestätig-
Gesetz und deuteten Reichtum richtig als te das, indem er gegenwärtigen und ewi-
ein Zeichen für den Segen Gottes. Unter gen Lohn denen versprach, die um sei-
dem mosaischen Gesetz hatte Gott denen netwillen und wegen des Evangeliums
Reichtum versprochen, die ihm gehor- alles verlassen.
chen. Die Jünger schlossen daraus, daß, 1. Die gegenwärtige Belohnung beträgt
wenn ein Reicher das Reich nicht erlan- 10 000 Prozent, nicht in Geld, son-
gen könne, es dann auch kein anderer dern:
könne. Jesu Antwort darauf lautete, daß a. »Häuser« – den Familien oder
das, was menschlich unmöglich scheint, Häusern anderer Menschen, wo
bei Gott möglich ist. der Betreffende Unterkunft als
Was können wir aus diesem Ab- Diener des Herrn findet.
schnitt lernen? b. »Brüder und Schwestern und
Es ist für Reiche besonders schwierig, Mütter und Kinder« – christliche
gerettet zu werden (V. 23), weil diese Freunde, deren Gemeinschaft das
Menschen dazu neigen, ihren Reichtum ganze Leben bereichert.
mehr als Gott zu lieben. Sie geben eher c. »Äcker« – Land, das der Diener
Gott als ihre Geld auf. Sie vertrauen auf des Herrn für Gott bestellt hat.
ihren Reichtum mehr als auf den Herrn. d. »Verfolgungen« – sie sind ein Teil
Solange diese Bedingungen bestehen, der gegenwärtigen Belohnung. Es
können sie nicht gerettet werden. ist ein Grund zur Freude, wenn
Im AT galt, daß Reichtum ein Zeichen man für würdig befunden wird,
von Gottes Wohlgefallen war. Das hat um Jesu willen zu leiden.
sich nun verändert. Statt ein Zeichen des 2. Die zukünftige Belohnung ist das
Segens Gottes zu sein, ist Besitz heute ewige Leben. Das bedeutet nicht, daß
eine Prüfung für die Hingabe eines Men- wir uns das ewige Leben verdienen
schen. würden, indem wir alles verlassen.
Ein Kamel kann leichter durch ein Ewiges Leben ist ein Geschenk. Der
Nadelöhr gelangen als ein reicher Mann Gedanke lautet hier, daß die, die alles
durch die Pforte des Reiches. Menschlich verlassen, mit einer intensiveren
gesprochen ist es schlichtweg unmög- Freude am ewigen Leben im Himmel
lich, daß ein Reicher gerettet wird. Man belohnt werden. Alle Gläubigen wer-
wird vielleicht einwenden, daß – den ewiges Leben haben, aber nicht
menschlich gesprochen – niemand geret- alle werden es auf die gleiche Weise
tet werden kann. Das ist wahr. Aber es genießen können.

198
Markus 10

10,31 Dann fügte unser Herr ein Wort Bedeutung und das Geheimnis dieses
17)
der Warnung hinzu: »Aber viele Erste Todes?
werden Letzte und Letzte Erste sein.« Ein »Die ihm aber nachfolgten, fürchte-
guter Anfang reicht auf dem Weg der ten sich.« Sie wußten, daß die religiösen
Jüngerschaft nicht. Wie wir ins Ziel ge- Führer in Jerusalem seinen Tod planten.
langen, das zählt. Ironside sagte: 10,33.34 Zum dritten Mal gab der
Nicht jeder, der zu Anfang ein treuer und Herr den Jüngern eine ausführliche
hingegebener Nachfolger des Herrn zu sein Beschreibung der kommenden Ereignis-
scheint, wird den Weg der Selbstverleug- se. Dieses prophetische Reden zeigt, daß
nung um Christi willen weitergehen. Und er mehr als ein Mensch ist:
einige, die zurückgeblieben scheinen und 1. »Siehe, wir gehen hinauf nach Jerusa-
deren Hingabe fragwürdig aussieht, erweisen lem« (11,1-13,37).
sich in der Stunde der Erprobung als treu 2. »Der Sohn des Menschen wird den
16)
und selbstvergessen. Hohenpriestern und den Schriftge-
lehrten überliefert werden« (14,1.2.
J. Die dritte Ankündigung des 43-53).
Leidens des Knechtes (10,32-34) 3. »Sie werden ihn zum Tod verurtei-
10,32 Nun war die Zeit gekommen, »hin- len« (14,55-65).
auf nach Jerusalem« zu gehen. Für den 4. »Und werden ihn den Nationen über-
Herrn Jesus bedeutete das, das Leiden liefern« (15,1).
und den Kummer von Gethsemane und 5. »Sie werden ihn verspotten und ihn
die Schande und die Qual des Kreuzes zu anspeien und ihn geißeln und töten«
ertragen. (15,2-38).
Was empfand er zu dieser Zeit? Kön- 6. »Und nach drei Tagen wird er aufer-
nen wir seine Gefühle nicht aus den Wor- stehen« (16,1-11).
ten »Jesus ging vor ihnen her« herausle-
sen? Er war entschlossen, Gottes Willen K. Größe bedeutet Dienst (10,35-45)
zu tun, obwohl er genau wußte, was es 10,35-37 Nach dieser deutlichen Ankün-
ihn kosten würde. Er war einsam – er digung seiner bevorstehenden Kreu-
ging vor den Jüngern her, ganz allein. zigung kamen Jakobus und Johannes mit
Aber er freute sich sicher auch – mit der einer Bitte, die edel, aber dennoch fehl
tiefen, festen Freude, im Willen Gottes zu am Platze war. Sie war edel, weil sie
leben. Er schaute auf die kommende Christus nahe sein wollten, aber es war
Herrlichkeit, die Freude, die Braut für fehl am Platze, hier Großartiges für sich
sich zu erwerben. Wegen der vor ihm lie- selbst zu suchen. Sie zeigten Glauben
genden Herrlichkeit ertrug er das Kreuz daran, daß Jesus sein Reich aufrichten
trotz aller Schande. würde, aber sie hätten eher an sein
Wenn wir auf ihn schauen, wie er an bevorstehendes Leiden denken sollen.
der Spitze der Jünger daherschreitet, 10,38.39 Jesus fragte sie, ob sie in der
sind auch wir vielleicht erschrocken. Lage seien, seinen Kelch zu trinken
Doch er ist unser unerschrockener Füh- (damit bezog er sich auf sein Leiden) und
rer, der Anfänger und Vollender unseres seine Taufe zu teilen (damit bezog er sich
Glaubens, unser herrlicher Meister, der auf seinen Tod). Sie behaupteten, dazu in
göttliche Fürst. Erdman schreibt: der Lage zu sein, und Jesus bestätigte es.
Wir sollten anhalten, um sein Gesicht Sie würden aus Treue zu ihm leiden müs-
und seine Züge, den Sohn Gottes, anzu- sen, zumindest Jakobus würde den Mär-
schauen, wie er festen Schrittes auf das Kreuz tyrertod sterben (Apg 12,2).
zugeht! Erweckt es nicht neues Heldentum 10,40 Aber dann erklärte er, daß
in uns, wenn wir ihm nachfolgen, erweckt es Ehrenplätze im Reich Gottes nicht nach
nicht neue Liebe, wenn wir sehen, wie frei- Gutdünken verteilt werden. Sie werden
willig er für uns in den Tod ging, und wun- verdient. Es ist gut, hier anzumerken,
dern wir uns nicht immer wieder über die daß der Zugang zum Reich aus Gnade

199
Markus 10 und 11

durch den Glauben erfolgt, aber die Stel- fand ebenso deutliche Erhörung. Seine
lung im Reich durch Treue für Christus Dankbarkeit drückte sich in treuer Jün-
bestimmt wird. gerschaft aus: Er folgte Jesus auf seiner
10,41-44 Die anderen zehn Jünger letzten Reise nach Jerusalem. Es muß das
waren »unwillig . . . über Jakobus und Herz des Herrn erfreut haben, solchen
Johannes«, weil sie versuchten, mehr zu Glauben in Jericho zu finden, während er
sein als sie. Aber ihre Unwilligkeit ver- auf sein Kreuz zuging. Es war gut, daß
riet die Tatsache, daß sie den gleichen Bartimäus den Herrn an diesem Tag
Geist hatten. Das gab dem Herrn Jesus suchte, denn der Herr ging diesen Weg
die Gelegenheit, eine wunderschöne und nie wieder.
revolutionäre Lektion über Größe zu
erteilen. Unter den unbekehrten großen V. Der Knecht dient in Jerusalem
Männern gibt es viele, die nach Gutdün- (Kap. 11-12)
ken regieren, die anmaßend und herrsch-
süchtig sind. Aber in Christi Reich ist A. Ein triumphaler Empfang (11,1-11)
wahre Größe durch Dienst gekennzeich- 11,1-3 Hier beginnt der Bericht über die
net: »Wer von euch der Erste sein will«, letzte Woche. Jesus hatte am Osthang des
soll zuvor Diener aller sein. Ölbergs bei Bethphage (Haus der unrei-
10,45 Das überragende Beispiel ist fen Feigen) und Bethanien (Haus der
der Sohn des Menschen selbst. Er »ist Armen oder Unterdrückten) Rast ge-
nicht gekommen, um bedient zu werden, macht.
sondern um zu dienen und sein Leben zu Die Zeit war gekommen, sich dem
geben als Lösegeld für viele«. Daran soll- jüdischen Volk offen als ihr Messias-
te man immer denken! Er kam durch eine König zu zeigen. Er erfüllte die Prophe-
wunderbare Geburt. Er diente sein gan- zeiung aus Sacharja 9,9, indem er auf
zes Leben. Und in seinem schrecklichen einem Füllen ritt. Er sandte »zwei seiner
Tod gab er sogar sein Leben. Jünger« von Bethanien nach Bethphage.
Wie schon weiter oben erwähnt, ist Er wußte genau, was kam und beauf-
Vers 45 der Schlüsselvers dieses Evange- tragte sie voller Autorität, ein noch nicht
liums. Er enthält die ganze Theologie in gerittenes Fohlen zu holen, das sie ange-
Kurzform, der Rahmen des großartigsten bunden finden würden. Wenn jemand
Lebens, das die Welt je gesehen hat. sie deshalb zur Rede stellen sollte, sollten
sie sagen: »Der Herr braucht es.« Die All-
L. Die Heilung des blinden Bartimäus wissenheit des Herrn, wie wir sie hier
(10,46-52) sehen, hat jemanden zu der Aussage ver-
10,46 Die Szene wechselt nun von Peräa anlaßt: »Das ist nicht der Jesus der
nach Judäa. Der Herr und seine Jünger modernen Theologie, sondern der Jesus
hatten den Jordan überquert und waren der Geschichte und des Himmels.«
nach Jericho gekommen. Hier trafen sie 11,4-6 Alles geschah so, wie Jesus es
auf den blinden Bartimäus, einen Mann, vorausgesagt hatte. Sie »fanden ein Foh-
der sehr litt, der seine Not kannte und len« an einer Hauptkreuzung des Dorfes.
entschlossen war, sie behandeln zu las- Als sie zur Rede gestellt wurden, spra-
sen. chen die Jünger »zu ihnen, wie Jesus
10,47 Bartimäus erkannte unseren gesagt hatte«. Da ließen die Leute sie
Herrn als den »Sohn Davids« und sprach gewähren.
ihn als solchen an. Es ist Ironie, daß das 11,7.8 Obwohl das Fohlen bisher noch
Volk Israel für die Anwesenheit des Mes- nicht eingeritten war, bäumte es sich
sias blind war, aber ein blinder Jude nicht auf, als es seinen Schöpfer nach
wirkliche geistliche Einsicht besaß! Jerusalem tragen sollte. Der Herr ritt auf
10,48-52 Sein anhaltendes Bitten um einem Teppich von Kleidern und Palm-
Erbarmen blieb nicht unbeantwortet. zweigen in die Stadt, während er die
Sein deutliches Gebet um das Augenlicht Hochrufe des Volkes hörte. Für einen

200
Markus 11

Augenblick wenigstens war er als König dies nicht sein kann, doch wie können
anerkannt. wir diesen seltsamen Vorfall erklären?
11,9.10 Das Volk schrie: Die Feigenbäume der biblischen Län-
1. »Hosanna« – was ursprünglich be- der brachten vor den Blättern eine frühe,
deutet: »Wir bitten, rette«, aber was eßbare Frucht hervor. Sie war Vorbote
später ein Ausruf des Lobes wurde. der normalen Ernte, was hier als »Zeit
Vielleicht meinten die Leute auch: der Feigen« beschrieben wird. Wenn es
»Wir bitten, rette uns von unseren keine frühen Feigen gab, war das ein Zei-
römischen Unterdrückern!« chen dafür, daß es später auch keine nor-
2. »Gepriesen sei, der da kommt im male Ernte geben würde. Als Jesus zum
Namen des Herrn!« – damit erkann- Volk Israel kam, fand er Blätter, die vom
ten sie deutlich an, daß Jesus der ver- Bekenntnis reden, aber er fand keine
heißene Messias ist (Ps 118,26). Frucht für Gott. Er sah Versprechen, aber
3. »Gepriesen sei das kommende Reich keine Erfüllung. Jesus suchte beim Volk
unseres Vaters David!« – sie dachten, Israel nach echter Frucht. Weil es keine
daß das Königreich nun errichtet frühen Früchte gab, wußte er, daß er von
werden würde und daß Christus auf diesem ungläubigen Volk auch später
dem Thron Davids sitzen werde. keine Früchte ernten würde. Deshalb
4. »Hosanna in der Höhe!« – ein Lobruf, verfluchte er den Feigenbaum. Dies ist
um den Herrn im Himmel zu preisen, ein Zeichen, das auf die Eroberung Israe-
oder eine Bitte, aus der Höhe zu erret- ls im Jahre 70 n. Chr. hinweist.
ten. Doch lehrt dieser Bericht nicht, daß
11,11 Sobald Jesus in Jerusalem war, Israel zu ewiger Unfruchtbarkeit verur-
ging er in den Tempel – nicht ins Aller- teilt worden ist. Das jüdische Volk ist nur
heiligste, sondern in den Vorhof. Sicher- zeitweilig beiseite gesetzt worden, doch
lich war der Tempel das Haus Gottes, wenn Christus wiederkehrt, um zu herr-
aber Jesus war in diesem Tempel nicht zu schen, dann wird das Volk wiederge-
Hause, weil die Priester und das Volk boren und von Gott wieder in seine Vor-
ihm nicht seine ihm gebührende Stellung rechte eingesetzt.
gewähren wollten. Deshalb ging er, »als Dies ist das einzige Wunder, bei dem
er über alles umhergeblickt hatte . . . mit Jesus verfluchte und nicht segnete, bei
den Zwölfen nach Bethanien hinaus«. Es dem er vernichtet, statt Leben wiederher-
war Sonntag abend. zustellen. Auch das ist als Problem ge-
wertet worden. Doch ist ein solcher Ein-
B. Der unfruchtbare Feigenbaum wand nicht stichhaltig. Der Schöpfer hat
(11,12-14) das unumschränkte Recht, ein unbeleb-
Mit dieser Gleichnishandlung deutet tes Wesen zu vernichten, um damit eine
unser Herr das tumulthafte Willkom- wichtige geistliche Lehre zu verdeutli-
men, mit dem er soeben in Jerusalem chen, und so Menschen vor dem ewigen
empfangen worden war. Er sah das Volk Verderben zu erretten.
Israel als unfruchtbaren Feigenbaum – er Obwohl sich die Interpretation dieses
hatte zwar Blätter, aber keine Früchte. Abschnittes in erster Linie auf das Volk
Der Hosanna-Ruf würde sich bald in den Israel bezieht, kann er auch auf Men-
blutrünstigen Ruf nach Kreuzigung ver- schen aller Zeitalter angewendet wer-
wandeln. den, die zwar großartig daherreden,
Scheinbar ist es schwierig, die Verflu- deren Lebenswandel jedoch nicht mit
chung des Feigenbaumes zu rechtferti- ihren Worten übereinstimmt.
gen, nur weil er keine Früchte trug. Denn
es heißt ausdrücklich: »Denn es war nicht C. Der Knecht reinigt den Tempel
die Zeit der Feigen.« Dadurch erscheint (11,15-19)
uns der Herr Jesus eine unvernünftige 11,15.16 Zu Beginn seines öffentlichen
Forderung zu stellen. Wir wissen, daß Dienstes hatte Jesus den Kommerz aus

201
Markus 11

dem Tempelbereich ausgetrieben (Joh Dennoch geben uns diese Verse nicht
2,13-22). Als sein Dienst nun dem Ende die Vollmacht, um Wunderkräfte zur
entgegenging, betrat er nochmals den eigenen Selbstdarstellung oder Bestäti-
Tempelvorhof und trieb diejenigen aus, gung zu bitten. Jeder Glaubensakt muß
die mit Religion Geld verdienen wollten. in den Verheißungen Gottes begründet
Er verhinderte sogar, daß normales »Ge- sein. Wenn wir wissen, daß es Gottes Wil-
rät durch den Tempel« getragen wurde. le ist, eine bestimmte Schwierigkeit weg-
11,17 Er zitierte zwei Stellen aus zunehmen, dann dürfen wir im Gebet
Jesaja und Jeremia und verurteilte damit darauf vertrauen, daß es geschieht. Wir
die Entheiligung, den Luxus und den können voller Gewißheit alles erbitten,
Kommerz. Gott hatte den Tempel zum so lange wir sicher sind, daß es dem Wil-
»Bethaus für alle Nationen« bestimmt len Gottes, wie er in der Bibel oder durch
(Jes 56,7), nicht allein für Israel. Sie hatten das innere Zeugnis des Geistes offenbart
den Tempel zu einem religiösen Markt ist, entspricht.
und einer Zuflucht für Gauner und Hals- 11,24 Wenn wir wirklich im engen
abschneider gemacht (Jer 7,11). Kontakt mit dem Herrn leben und beten,
11,18 Die Hohenpriester und Schrift- dann können wir die Gewißheit der
gelehrten fühlten sich durch seine Ankla- Gebetserhörung bereits erhalten, ehe die
ge angegriffen. Sie wollten ihn umbrin- Antwort wirklich da ist.
gen, aber sie konnten es nicht offen tun, 11,25.26 Aber eine der Grundbedin-
weil die Menschen Jesus immer noch mit gungen für ein erhörliches Gebet ist ein
Ehrfurcht betrachteten. vergebungsbereiter Geist. Wenn wir eine
11,19 Abends »gingen sie zur Stadt harte, unversöhnliche Haltung anderen
hinaus«. Die Zeitform des Griechischen gegenüber pflegen, dann können wir von
deutet hier an, daß es ihre Gewohnheit Gott nicht erwarten, daß er uns erhört.
war, vielleicht aus Sicherheitsgründen. Wir müssen vergeben, wenn uns verge-
Jesus fürchtete dabei nichts für sich ben werden soll. Das bezieht sich jedoch
selbst. Aber wir müssen uns vor Augen nicht auf die Vergebung der Sünden zur
halten, daß es zu seinem Dienst gehörte, Zeit der Bekehrung, wo wir uns selbst
die Schafe zu bewahren, d. h. seine Jün- verurteilt haben. Diese Vergebung ist eine
ger (Joh 17,6-9). Außerdem wäre es gro- Angelegenheit der Gnade durch Glau-
tesk gewesen, sich den Wünschen seiner ben. Es bezieht sich auf Gottes väterliches
Feinde zu beugen, ehe die Zeit gekom- Handeln mit seinen Kindern. Hat ein
men war. Gläubiger einen unversöhnlichen Geist,
so ist die Gemeinschaft mit dem Vater im
D. Was der verdorrte Feigenbaum lehrt Himmel unterbrochen und der Zufluß
(11,20-26) neuen Segens wird verhindert.
11,20-23 Am Morgen nach der Verflu-
chung des Feigenbaumes kamen die Jün- E. Die Vollmacht des Knechtes wird
ger dort auf ihrem Weg nach Jerusalem in Frage gestellt (11,27-33)
vorbei. Er war von den Wurzeln bis in die 11,27.28 Sobald Jesus den Tempelbezirk
Spitzen verdorrt. Als Petrus das vor dem betreten hatte, belästigten ihn die religiö-
Herrn erwähnte, sagte dieser einfach: sen Führer und stellten seine Vollmacht
»Habt Glauben an Gott!« Aber was haben infrage, indem sie zwei Fragen stellten:
diese Worte mit dem Feigenbaum zu tun? 1. »In welcher Vollmacht tust du diese
Die folgenden Verse zeigen, daß Jesus Dinge?«
den Glauben der Jünger stärken wollte, 2. »Wer hat dir diese Vollmacht gege-
damit sie ein Mittel hätten, Schwierigkei- ben, daß du diese Dinge tust?« (d. h.,
ten zu überwinden. Wenn Jünger an Gott den Tempel zu reinigen, den Feigen-
glauben, dann können sie das Problem baum zu verfluchen und siegreich
der Unfruchtbarkeit beseitigen und berg- nach Jerusalem einzureiten). Sie hoff-
hohe Hindernisse überwinden. ten, ihn in eine Falle zu führen, ganz

202
Markus 11 und 12

gleich, welche Antwort er geben wür- derte und sie als ein auserwähltes Volk
de. Wenn er behauptete, diese Voll- für den Herrn bewahrte. Die Weingärt-
macht aus sich selbst als Sohn Gottes ner waren die religiösen Führer wie die
zu haben, konnten sie ihn der Gottes- Pharisäer, Schriftgelehrten und Ältesten.
lästerung anklagen. Wenn er jedoch 12,2-5 Wiederholt sandte Gott seine
behaupten würde, diese Vollmacht Diener, die Propheten, zum Volk Israel
von Menschen zu haben, würden sie und suchte Gemeinschaft, Heiligung
ihn in Verruf bringen. Wenn er und Liebe. Aber das Volk verfolgte die
behaupten würde, diese Vollmacht Propheten und tötete einige von ihnen.
von Gott erhalten zu haben, würden 12,6-8 Schließlich sandte Gott seinen
sie diese Vollmacht weiter infrage geliebten Sohn. Er erwartete, daß sie
stellen, weil sie sich selbst als von wenigstens ihn respektieren würden.
Gott eingesetzte religiöse Führer des Aber das taten sie nicht. Sie planten sei-
Volkes ansahen. nen Tod und ermordeten ihn schließlich.
11,29-32 Aber der Herr Jesus antwor- So sagte der Herr seinen eigenen Tod
tete mit einer Gegenfrage: »War Johannes voraus und stellte seine Mörder bloß.
der Täufer von Gott gesandt worden 12,9 Was würde Gott nun mit diesen
oder nicht?« (Die »Taufe des Johannes« verdorbenen Männern tun? Er würde sie
steht hier für seinen gesamten Dienst.) umbringen und die Vorrechte anderen
Sie konnten nicht antworten, ohne sich geben. Die anderen sind hier entweder
selbst in Verlegenheit zu bringen. Wenn die Heiden oder der bekehrte Überrest
der Dienst des Johannes von Gott Israels in den letzten Tagen.
bestätigt worden war, dann hätten sie 12,10.11 All das war eine Erfüllung
seinem Bußruf folgen müssen. Wenn sie der Schriften des AT. In Psalm 118,22.23
den Dienst des Johannes verunglimpfen z. B. wurde vorausgesagt, daß der Mes-
würden, dann würden sie es riskieren, sias von den jüdischen Führern – von den
sich den Zorn der Bevölkerung zuzuzie- Bauleuten – verworfen würde. Sie wür-
hen, die noch immer Johannes als einen den für diesen Stein keinen Platz finden.
Gesandten Gottes ansah. Aber nach seinem Tode würde er von den
11,33 Als sie sich weigerten, eine Ant- Toten auferweckt und den ersten Platz
wort zu geben, indem sie so taten, als bei Gott einnehmen. Er würde zum »Eck-
wüßten sie es nicht, weigerte sich der stein« des Hauses Gottes werden.
Herr, mit ihnen über seine Vollmacht zu 12,12 Die jüdischen Führer verstan-
diskutieren. So lange sie nicht gewillt den Jesus sehr gut. Sie wußten, daß
waren, die Zeichen des Vorläufers zu Psalm 118 vom Messias spricht. Sie hat-
akzeptieren, würden sie noch weniger ten nun gehört, wie der Herr Jesus diese
die weitaus größeren Zeichen des Königs Verse auf sich selbst bezog. »Sie suchten
selbst annehmen. ihn zu greifen«, aber seine Zeit war noch
nicht gekommen. Die Volksmenge wür-
F. Das Gleichnis von den bösen Wein- de sich auf die Seite des Herrn schlagen.
gärtnern (12,1-12) So ließen sie Jesus vorläufig in Ruhe.
12,1 Der Herr Jesus war mit den jüdi-
schen Gelehrten noch nicht zu Ende G. Was Gott und dem Kaiser zusteht
gekommen, auch wenn er sich geweigert (12,13-17)
hatte, ihre Frage zu beantworten. In der Kapitel 12 enthält Angriffe der Pharisäer
Form eines Gleichnisses hielt er nun eine und Herodianer und der Sadduzäer auf
harte Anklage über ihre Ablehnung des den Herrn. Man könnte es »Fragenkapi-
Sohnes Gottes. Der Mann, der den Wein- tel« nennen (s. V. 9.10.14.15.16.23.24.26.
berg pflanzte, ist Gott selbst. Der Wein- 28.35.37).
berg war die Vorrangstellung Israels zu 12,13.14 Die Pharisäer und Herodia-
dieser Zeit. Der Zaun ist das Gesetz ner – ursprünglich bitter verfeindet –
Moses, das Israel von den Heiden abson- verbanden sich miteinander durch ihren

203
Markus 12

gemeinsamen Haß auf den Herrn. Ver- Gottes kommen immer zuerst. Solange
zweifelt versuchten sie, ihn zu einer Aus- er diese Ansprüche erfüllen kann, sollte
sage zu verleiten, die sie als Anklage der Christ immer seinen guten Ruf vor
gegen ihn verwenden könnten. So frag- der Welt bewahren.
ten sie ihn, ob es erlaubt sei, »dem Kaiser
Steuern zu geben oder nicht«. H. Die Sadduzäer und ihre Frage zur
Kein Jude freute sich über die Fremd- Auferstehung (12,18-27)
herrschaft der Heiden. Die Pharisäer 12,18 Die Sadduzäer waren die Liberalen
haßten sie von Herzen, während die oder Rationalisten jener Zeit. Sie spotte-
Herodianer etwas toleranter waren. ten über den Gedanken an eine leibliche
Wenn Jesus offen die Steuerzahlung an Auferstehung. So kamen sie mit einer
den Kaiser billigte, würde er sich bei vie- hinterhältigen Geschichte zu Jesus, um
len Juden unbeliebt machen. Wenn er diese Wahrheit lächerlich zu machen.
jedoch gegen den Kaiser sprach, würden 12,19 Sie erinnerten Jesus daran, daß
sie ihn vor die römische Verwaltung das Gesetz des Mose für Witwen beson-
führen, damit er eingesperrt und als Ver- dere Vorkehrungen getroffen hatte. Um
räter verurteilt würde. den Familiennamen und das Eigentum
12,15.16 Jesus bat jemanden, ihm in der Familie zu halten, bestimmte das
einen Denar zu bringen. Offensichtlich Gesetz, daß, wenn ein Mann kinderlos
hatte er selbst keinen. Die Münze trug starb, sein Bruder die Witwe zu heiraten
das Bild von Kaiser Tiberius, ein Zeichen hatte (5. Mose 25,5-10).
dafür, daß die Juden unter Fremdherr- 12,20-23 Die Pharisäer legten Jesus
schaft standen. Warum mußten sie unter einen konstruierten Fall vor, in dem eine
diesen Zuständen leben? Wegen ihrer Frau sieben Brüder hintereinandner hei-
Untreue und Sünde. Sie hätten gede- ratet, einen nach dem anderen. Schließ-
mütigt sein sollen, daß sie Münzen ver- lich »starb auch die Frau«. Man beachte
wenden mußten, die das Bild eines heid- nun ihre schlaue Frage! »Wessen Frau
nischen Diktators trugen. von allen wird sie in der Auferstehung
12,17 Der Herr sagte ihnen nun: sein?«
»Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, 12,24 Sie dachten, daß sie klug seien,
und Gott, was Gottes ist.« Ihr Fehlver- aber der Herr zeigte ihnen, daß sie weder
halten betraf weniger ihr Verhältnis zum die Schriften kannten, die die Auferste-
Kaiser, als vielmehr zu Gott. Sie hatten, hung lehrt, noch »die Kraft Gottes«, die
wenn auch zögernd, den Römern die Toten auferweckt.
Steuern gezahlt, aber die Ansprüche Got- 12,25 Als erstes sollten sie wissen,
tes auf ihr Leben mißachtet. Die Münze daß die Ehebeziehung im Himmel nicht
trug das Bild des Kaisers, deshalb gehör- fortbesteht. Die Gläubigen werden ein-
te sie ihm. Der Mensch trägt das Bild ander im Himmel erkennen und werden
Gottes – Gott schuf den Menschen nach ihre Unterschiede als Mann und Frau
seinem Bilde (1. Mose 1,26.27) – und des- nicht verlieren, aber sie werden weder
halb gehört er Gott. heiraten, »noch werden sie verheiratet«.
Der Gläubige hat der Regierung, In dieser Beziehung sind sie »wie Engel
unter der er lebt, zu gehorchen und sie zu in den Himmeln«.
unterstützen. Er sollte nicht schlecht 12,26.27 Dann verwies der Herr die
über die Herrschenden sprechen oder Sadduzäer, die die Bücher Mose höher
mitarbeiten, die Regierung zu stürzen. Er schätzten als die übrigen Schriften des
soll Steuern zahlen und für die Machtha- AT, zurück auf den Bericht von Mose
ber beten. Wenn er jedoch aufgefordert und dem brennenden Dornbusch (2. Mo-
wird, etwas zu tun, das seine höherste- se 3,6). Dort sprach Gott von sich selbst
hende Loyalität Christus gegenüber ver- als dem »Gott Abrahams und dem Gott
letzen würde, sollte er sich weigern und Isaaks und dem Gott Jakobs«. Der Herr
(ggf.) die Strafe ertragen. Die Ansprüche benutzte diesen Vers um zu zeigen, daß

204
Markus 12

Gott der Gott der Lebenden, nicht der len Gott mehr als uns selbst lieben und
Toten ist. den Nächsten wie uns selbst. So ist das
Aber wie kommt das? Waren nicht Leben, das sich wirklich lohnt, in erster
Abraham, Isaak und Jakob schon gestor- Linie mit Gott und in zweiter Linie mit
ben, als Gott Mose erschien? Ja, ihre Lei- anderen beschäftigt. Gegenstände wer-
ber lagen im Grab in Machpela bei den hier nicht erwähnt. Gott ist wichtig,
Hebron. Aber wie ist Gott dann der Gott und Menschen sind wichtig.
der Lebenden? 12,32.33 Der Schriftgelehrte stimmte
Es wird folgendermaßen argumen- von Herzen zu und stellt deutlich fest,
tiert: daß Liebe zu Gott und zum Nächsten
1. Gott hat den Patriarchen Verheißun- wichtiger ist als irgendwelche Rituale. Er
gen bezüglich des Landes und des erkannte, daß Menschen sich religiösen
Messias gegeben. Zeremonien unterziehen und ihre Fröm-
2. Diese Verheißungen wurden wäh- migkeit nach außen zeigen, aber dabei
rend ihrer Lebzeiten nicht erfüllt. ohne persönliche innere Heiligung blei-
3. Als Gott aus dem Dornbusch zu ben können. Er gab zu, daß Gott sowohl
Mose sprach, lagen die Leiber der am äußeren als auch am inneren des
Patriarchen schon im Grab. Menschen interessiert ist.
4. Dennoch sprach Gott von sich als 12,34 Als Jesus diese bemerkenswerte
Gott der Lebendigen. Einstellung hörte, konnte er dem Schrift-
5. Er muß seine Verheißungen an Abra- gelehrten sagen, daß er »nicht fern vom
ham, Isaak und Jakob erfüllen. Reich Gottes« sei. Echte Untertanen des
6. Deshalb ist die Auferstehung nach Reiches versuchen nicht, Gott, ihre Mit-
dem, was wir über den Charakter menschen oder sich selbst mit religiösen
Gottes wissen, eine absolute Notwen- Formen zu betrügen. Sie wissen, daß
digkeit. Gott das Herz anschaut, und suchen ihn,
Darum erging das letzte Wort des um von ihm Reinigung von ihren Sün-
Herrn an die Sadduzäer: »Ihr irrt sehr.« den und Kraft für ein ihm wohlgefälliges
Leben zu erhalten.
I. Das größte Gebot (12,28-34) Danach »wagte es niemand mehr«,
12,28 Einer der Schriftgelehrten, der be- ihn in eine Falle zu locken, indem er hin-
eindruckt war, wie geschickt der Herr mit terhältige Fragen stellte.
den Fragen seiner Kritiker umging, frag-
te Jesus nach dem wichtigsten Gebot. Das J. Davids Sohn ist Davids Herr
war eine ehrliche und – in gewisser Wei- (12,35-37)
se – des Lebens grundlegendste Frage. Er 12,35-37 Die Schriftgelehrten hatten
fragte wirklich nach einer festen Aussage immer gelehrt, daß der Messias aus der
des Hauptziels menschlicher Existenz. Erblinie Davids stammen würde. Ob-
12,29 Der Herr Jesus zitierte zuerst wohl das stimmte, war es doch nicht die
das »Shema«, ein jüdisches Glaubensbe- ganze Wahrheit. So stellt Jesus nun sei-
kenntnis aus 5. Mose 6,4: »Höre, Israel: nerseits denen, die im Tempelvorhof um
Der Herr, unser Gott, ist allein Herr.« ihn versammelt waren, eine Frage. In
12,30 Dann faßte er die Verantwor- Psalm 110,1 spricht David vom kommen-
tung des Menschen vor Gott zusammen: den Messias als seinem Herrn. Wie konn-
Gott mit dem gesamten Herzen, Seele, te das sein? Wie konnte der Messias
Verstand und Kraft zu lieben. Gott soll gleichzeitig Davids Sohn und Davids
den ersten Platz im Leben eines Men- Herr sein? Für uns ist die Antwort klar.
schen haben. Keine andere Liebe darf die Der Messias war sowohl Mensch als
Liebe zu Gott verdrängen. auch Gott. Als Davids Sohn ist er ein
12.31 Die zweite Hälfte der Zehn Mensch. Als Gott aber ist er Davids Herr.
Gebote sagt uns, daß wir unseren Näch- »Die große Volksmenge hörte ihn
sten wie uns selbst lieben sollen. Wir sol- gern.« Offensichtlich waren sie gewillt,

205
Markus 12 und 13

diese Tatsache anzunehmen, auch wenn schätzt unsere Gaben nach den Motiven,
sie sie nicht ganz verstanden. Aber von unseren Mitteln und wieviel uns nachher
den Pharisäern und Schriftgelehrten übrig bleibt. Dies ist für diejenigen eine
wird nichts gesagt. Ihr Schweigen ist große Ermutigung, die zwar nicht viel
bezeichnend. besitzen, aber ein großes Verlangen
haben, Gott etwas zu geben.
K. Warnung vor den Schriftgelehrten Es ist doch erstaunlich, wie wir die
(12,38-40) Tat der Witwe immer wieder loben und
12,38.39 Die Schriftgelehrten waren der Aussage unseres Herrn zustimmen
äußerlich religiös eingestellt. Sie liebten können, ohne ihr Beispiel nachzuahmen.
es, in »langen Gewändern« umherzuge- Wenn wir wirklich glaubten, was wir be-
hen. Das unterschied sie von den norma- haupten zu glauben, würden wir genau
len Juden und gab ihnen ein feierliches das tun, was sie tat. Ihre Gabe drückte
Aussehen. Das war gut für das Ego! Sie aus, daß alles dem Herrn gehört, daß er
strebten nach Ehrenplätzen in den Syna- es wert ist, alles zu erhalten und daß er
gogen, als ob ein Sitzplatz etwas mit auch alles bekommen muß. Heutzutage
Frömmigkeit zu tun habe. Sie wollten würden viele Christen sie kritisieren,
nicht nur religiös etwas gelten, sondern weil sie nicht für ihre Zukunft vorsorgte.
auch sozial. Sie wollten die »ersten Plät- Zeigt das nicht einen Mangel an Voraus-
ze bei Gastmählern«. sicht und Klugheit? So würden Men-
12,40 Aber innerlich waren sie gierig schen argumentieren. Aber das ist ein
und unehrlich. Sie beraubten Witwen Leben aus Glauben – alles jetzt für das
ihres Eigentums und ihres Lebensunter- Werk des Herrn zu geben und ihm
haltes, um sich zu bereichern, und gaben bezüglich der Zukunft zu vertrauen. Hat
vor, daß das Geld für den Herrn bestimmt er nicht verheißen, für die zu sorgen, die
sei! Sie hielten lange Gebete – großartige, als erstes sein Reich und seine Gerechtig-
eitle Worte. Es waren jedoch Gebete, die keit suchen (Matth 6,33)?
nur Lippenbekenntnisse waren. Kurz Ist das zu radikal? Ist das revolu-
gesagt, sie liebten Auffälligkeit (lange tionär? Ehe wir nicht einsehen, daß die
Gewänder), Beliebtheit (Begrüßungen), Lehre Christi radikal und revolutionär
Bekanntheit (erste Sitze), Vorrechte (erste ist, haben wir das Ziel seines Dienstes
Plätze), Reichtum (Häuser der Witwen) völlig mißverstanden.
und Scheinheiligkeit (lange Gebete).
VI. Der Knecht hält am Ölberg eine
L. Das Scherflein der Witwe (12,41-44) Rede (Kap. 13)
12,41-44 Im lebhaften Kontrast zur Bos-
heit der Schriftgelehrten steht die Hinga- A. Jesus sagt die Zerstörung des
be dieser Witwe. Die Schriftgelehrten Tempels voraus (13,1.2)
verschlangen die Häuser der Witwen, sie 13,1 Als der Herr Jesus den Tempelbe-
aber gab »alles, was sie hatte« dem reich zum letzten Mal vor seinem Tode
Herrn. Dieser Vorfall zeigt die Allwissen- verließ, versuchte einer seiner Jünger,
heit des Herrn. Als er beobachtete, wie seine Begeisterung für die Großartigkeit
die Reichen große Gaben in den Kasten des Tempels und der umgebenden
für den Tempelschatz warfen, wußte er, Gebäude zu wecken. Die Jünger beschäf-
daß ihre Gaben keine Opfer bedeuteten. tigten sich mit den architektonischen
Sie gaben aus ihrem Überfluß. Und er Meisterleistungen, die zu erbringen ge-
wußte auch, daß die zwei Scherflein, die wesen waren, um dieses Bauwerk zu
die Witwe gab, ihr ganzer Lebensunter- errichten.
halt waren. Er urteilte deshalb, daß sie 13,2 Der Herr stellte jedoch heraus,
mehr gegeben hatte als alle anderen daß dieses alles bald zerstört werden
zusammen. Vom Geldwert her gesehen, würde. »Es wird nicht ein Stein auf dem
gab sie nur sehr wenig. Aber der Herr anderen gelassen werden«, wenn die

206
Markus 13

Römer im Jahre 70 Jerusalem erobern unerschrocken Zeugnis von ihm geben.


würden. Warum sich mit Dingen beschäf- Sie sollen vor religiöse und öffentliche
tigen, die doch nur vergänglich sind? Gerichte geführt werden.
Zwar läßt sich dieser Teil auf alle Zei-
B. Der Anfang der Wehen (13,3-8) ten des christlichen Zeugnisses anwen-
In seiner Ölbergrede lenkte der Herr die den, er scheint sich jedoch ganz beson-
Aufmerksamkeit der Jünger auf Tatsa- ders auf die 144 000 jüdischen Gläubigen
chen von größerer Bedeutung. Einige der zu beziehen, die das Evangelium des Rei-
Prophezeiungen scheinen auf die Zer- ches zu allen Völkern bringen werden,
störung Jerusalems im Jahre 70 hinzu- ehe Christus auf der Erde regiert.
weisen, aber die meisten gehen doch 13,10 Dieser Vers darf nicht dazu
offensichtlich über dieses Datum hinaus. benutzt werden zu lehren, daß das Evan-
Sie weisen uns in die Drangsalszeit und gelium allen Nationen vor der Entrückung
auf die persönliche Wiederkehr Christi in gepredigt wird. Es sollte weltweit ver-
Macht und Herrlichkeit hin. Die Ermah- kündigt werden, und vielleicht wird es
nungen zur Wachsamkeit, die sich auf das auch, aber wenn ich sage, daß es so
Gläubige jedes Zeitalters beziehen, sind: kommen muß, dann behaupte ich etwas,
1. »Seht zu« (V. 5.23.33), das die Bibel so nicht sagt. Keine Prophe-
2. »erschreckt nicht« (V. 7), zeiung muß erfüllt werden, ehe Christus
3. »harrt aus« (V. 13), für seine Heiligen kommt, er kann jeder-
4. »betet« (V. 18.), zeit kommen!
5. »wacht« (V. 33.35.37). 13,11 Der Herr versprach, daß Gläu-
13,3.4 Die Rede wurde durch eine bige, die um seines Namens willen vor
Frage von Petrus, Jakobus, Johannes und Gericht gestellt werden, göttliche Hilfe
Andreas angeregt. Wann sollte das bei ihrer Verteidigung erfahren würden.
geschehen, und welche Zeichen würden Sie brauchen sich ihre Verteidigungsrede
den vorhergesagten Ereignissen voraus- nicht im voraus zurechtzulegen, viel-
gehen? Die Antwort des Herrn umfaßte leicht haben sie noch nicht einmal die
die Zerstörung eines späteren Tempels, Zeit dazu. Der Heilige Geist wird ihnen
die während der Großen Trübsal vor sei- genau die richtigen Worte eingeben. Die-
ner Wiederkunft stattfinden würde. se Verheißung sollte nicht dazu
13,5.6 Erstens sollten sie sich in acht mißbraucht werden, heute keine Predig-
nehmen, daß sie sich nicht verführen las- ten oder Evangeliumsbotschaften mehr
sen durch jemanden, der behauptet, der vorzubereiten. Wir haben es hier mit
Messias zu sein. Viele falsche Christusse einer Garantie übernatürlicher Hilfe für
würden auftreten, wie man heute schon Krisenzeiten zu tun. Der Vers ist eine Ver-
in dem Aufleben vieler Religionen sehen heißung für Märtyrer, nicht für Prediger!
kann, die jede ihren eigenen Antichristen 13,12.13 Ein anderes Kennzeichen der
hat. Trübsal wird die weitverbreitete Denun-
13,7.8 Zweitens sollten sie Kriege und ziation derer sein, die dem Herrn treu fol-
Kriegsgerüchte nicht als Zeichen der gen. Familienangehörige werden In-
Endzeit deuten. Die ganze Zeit über wür- formanten gegen Gläubige werden. Die
de es internationale Konflikte geben. Welt wird von einer großen Welle anti-
Außerdem würde es viele Naturerschei- christlicher Meinung überschwemmt
nungen z. B. Erdbeben und Hungersnöte werden. Es wird Mut erfordern, dem
geben. Diese sind nur anfängliche Ge- Herrn Jesus treu zu bleiben, »wer aber
burtswehen, die zu einer Zeit ungeahn- ausharrt bis ans Ende, der wird errettet
ter Not führen werden. werden«. Das kann nicht bedeuten, daß
diese Menschen ewige Errettung durch
C. Die Verfolgung der Jünger (13,9-13) ihr Ausharren erlangen. Auch bedeutet
13,9 Drittens sagte der Herr große per- es nicht, daß treue Gläubige während der
sönliche Prüfungen für die voraus, die Trübsal vor dem körperlichen Tod be-

207
Markus 13

wahrt werden, weil wir an anderer Stelle strophen, des Chaos und des Blutver-
lesen, daß viele ihr Zeugnis mit ihrem gießens sein. Das Ausmaß der Drangsal
Blut besiegeln werden. Wahrscheinlich wird so groß sein, daß Gott auf über-
bedeutet dieser Satz, daß das Ausharren natürliche Weise die Zeit des Tages ver-
bis ans Ende ein Beweis für Treue ist, das kürzen wird, weil andernfalls niemand
heißt, Ausharren wird eine Eigenschaft überleben würde.
derer sein, die wirklich errettet sind. 13,21.22 Die »große Trübsal« wird
wieder den Aufstieg vieler falscher Mes-
D. Die große Trübsal (13,14-23) siasse sehen. Die Menschen werden so
13,14-18 Dieser Vers bezeichnet die Mitte verzweifelt sein, daß sie sich jedem
der Trübsal, den Anfang der großen Trüb- zuwenden, der ihnen Sicherheit ver-
sal. Wir wissen dies durch einen Ver- spricht. Aber die Gläubigen werden wis-
gleich dieses Abschnittes mit Daniel 9,27. sen, daß Christus nicht in der Stille oder
Zu dieser Zeit wird im Tempel in Jerusa- ohne Ankündigung erscheinen wird.
lem ein großes Greuelbild aufgerichtet Auch wenn die falschen Christusse über-
werden. Die Menschen werden gezwun- natürliche Wunder vollbringen werden
gen werden, es anzubeten. Andernfalls (und das werden sie), werden die Auser-
werden sie ermordet. Die wahren Gläu- wählten nicht getäuscht werden können.
bigen werden die Anbetung natürlich Sie werden erkennen, daß diese Wunder
verweigern. satanischen Ursprungs sind.
Das Errichten dieses Greuelbildes Wunder sind nie notwendigerweise
wird das Zeichen für den Beginn einer göttlicher Natur. Sie stellen nur über-
großen Verfolgung sein. Diejenigen, die menschliche Abweichungen von dem
die Bibel lesen und ihr glauben, werden dar, was wir als Naturgesetze kennen.
wissen, daß nun die Zeit gekommen ist, Aber sie können das Werk von Satan
aus Judäa zu fliehen. Es wird nicht genug oder Dämonen sein. Der Mensch der
Zeit bleiben, persönliche Habe einzu- Sünde wird satanische Macht erhalten,
packen. Schwangere und Stillende wer- um Wunder zu tun (2. Thess 2,9).
den es in dieser Zeit besonders schwer 13,23 Deshalb sollten sich die Gläu-
haben. Sollte es im Winter geschehen, bigen in acht nehmen und sich warnen
werden noch mehr Schwierigkeiten da- lassen.
zukommen.
13,19 Es wird eine Zeit größter E. Die Wiederkunft (13,24-27)
Drangsal sein, schlimmer als alles Ver- 13,24.25 »Nach jener Drangsal« wird es
gangene oder Zukünftige. Es ist die große verwirrende Störungen am Himmel
Trübsal. Der Herr Jesus spricht hier nicht geben. Dunkelheit wird die Erde Tag und
von der allgemeinen Trübsal, die Gläubi- Nacht umgeben. »Die Sterne werden
ge in jedem Zeitalter zu erdulden hatten. vom Himmel herabfallen, und die Kräfte
Die »große Trübsal« wird eine Zeit in den Himmeln (die Kräfte, die die Pla-
außergewöhnlicher Nöte sein. neten auf ihren Bahnen halten) werden
Man beachte, daß die Drangsal in erschüttert werden.«
erster Linie jüdischen Charakter trägt. Wir 13,26.27 Dann wird die erschütterte
lesen vom Tempel (V. 14, vgl. Matth 24,15) Menschheit »den Sohn des Menschen
und von Judäa (V. 14). Sie ist die Zeit der kommen sehen«, wie er zur Erde zurück-
»Trübsal Jakobs« (Jer 30,7). Die Gemeinde kehrt. Diesmal kommt er nicht als der
ist hier nicht genannt. Sie wird schon in demütige Nazarener, sondern als herrli-
den Himmel genommen worden sein, ehe cher Eroberer. Er wird »in Wolken« kom-
der Tag des Herrn beginnt (1. Thess 4,13- men, von hunderttausenden Engelwesen
18, vgl. 1. Thess 5,1-3). und den verwandelten Gläubigen beglei-
13.20 Die Zornesschalen Gottes wer- tet. Das wird eine überaus machtvolle
den in diesen Tagen über die Welt aus- und blendend prächtige Szene sein. Er
gegossen. Es wird eine Zeit der Kata- wird Engel aussenden, um »seine Auser-

208
Markus 13

wählten zu versammeln«, d. h., alle die, Volk, das von Unglauben und Ableh-
die ihn während der Drangsal als Herrn nung des Messias gekennzeichnet ist.«
und Retter anerkannt haben. Von einem Das Zeugnis der Geschichte sagt uns,
Ende der Erde bis zum anderen – vom daß »dieses Geschlecht« nicht vergangen
Norden bis Süden, vom Osten bis Westen ist. Das Volk hat nicht nur als Ganzes
– werden sie kommen, um die Segnun- überlebt, sondern hat auch seine tiefsit-
gen seiner wunderbaren tausendjährigen zende Feindschaft dem Herrn Jesus
Herrschaft auf Erden zu erleben. Seine gegenüber beibehalten. Jesus sagte vor-
Feinde jedoch werden zu dieser Zeit ver- aus, daß das Volk mitsamt seinem natio-
nichtet werden. nalen Wesen bis zu seiner Wiederkunft
bestehen würde.
F. Das Gleichnis vom Feigenbaum 13,31 Unser Herr betonte, daß jede
(13,28-31) seiner Voraussagen absolut sicher eintre-
13,28 Der Feigenbaum ist ein Symbol ten würden. Der Himmel (die Atmos-
(oder Bild) für das Volk Israel. Jesus lehrt phäre) und der Sternenhimmel »werden
hier, daß vor seiner Wiederkunft der Fei- vergehen«. Auch die Erde selbst wird
genbaum »Blätter hervortreibt«. 1948 aufgelöst werden. Aber jedes Wort, das
wurde der unabhängige Staat Israel ge- Jesus gesprochen hat, wird auch ein-
gründet. Heute übt dieses Land einen treffen.
Einfluß auf die Weltpolitik aus, der in
keinem Verhältnis zu seiner Größe steht. G. Tag und Stunde sind unbekannt
Man kann von Israel sagen, daß es »Blät- (13,32-37)
ter hervortreibt«. Bisher gibt es noch kei- 13,32 Jesus sagte: »Von jenem Tag aber
ne Frucht, und es wird auch keine Frucht oder der Stunde weiß niemand, weder
geben, bis der Messias zu einem Volk zu- die Engel im Himmel noch der Sohn,
rückkehrt, das gewillt ist, ihn zu empfan- sondern nur der Vater.« Es ist bekannt,
gen. daß dieser Vers von vielen Feinden des
13,29 Die Gründung und das Wachs- Evangeliums benutzt worden ist, um zu
tum des Volkes Israel sagt uns, daß der beweisen, daß Jesus nicht mehr als ein
18)
König »nahe vor der Tür ist«. Wenn Mensch mit begrenztem Wissen wie wir
sein Kommen zur Herrschaft so nahe ist, selbst gewesen sei. Er ist auch von wohl-
wie nahe muß dann sein Kommen für meinenden, aber fehlgeleiteten Gläubi-
seine Gemeinde sein! gen benutzt worden, um zu zeigen, daß
13,30 Dieser Vers wird oft so verstan- Jesus die Zeichen seiner Göttlichkeit ab-
den, daß alles, was in diesem Kapitel vor- gelegt hat, als er als Mensch auf die Erde
ausgesagt wird, noch während der Zeit kam.
geschehen sein muß, in der die Men- Aber keine dieser Deutungen ist
schen aus der Zeit Christi lebten. Aber exakt. Jesus war sowohl Gott als auch
das kann seine Bedeutung nicht sein, Mensch. Er hatte alle göttlichen Eigen-
weil viele der Vorgänge, insbesondere schaften, aber er besaß auch die Eigen-
die der Verse 24-27, einfach zu dieser Zeit schaften eines vollkommenen Menschen.
nicht stattgefunden haben. Andere ver- Es ist wahr, daß seine Gottheit durch
stehen diesen Vers so, daß die Generati- einen menschlichen Körper verhüllt war,
on, die lebt, wenn der Feigenbaum Blät- aber sie war nichts desto weniger wirk-
ter hervortreibt, d. h. diejenigen, die die sam. Es hat nie eine Zeit gegeben, zu der
Gründung des Staates Israel im Jahre er nicht ganz Gott gewesen wäre.
1948 miterlebt haben, die Wiederkunft Warum kann er dann sagen, daß er
des Herrn miterleben würden. Wir be- die Zeit seiner Wiederkunft nicht kennt?
vorzugen eine dritte Auffassung. »Dieses Wir glauben, daß der Schlüssel zur Ant-
Geschlecht« kann auch »dieses Volk« wort in Johannes 15,15 liegt: »Der Sklave
oder »diese Rasse« bedeuten. Wir glau- weiß nicht, was sein Herr tut.« Als voll-
ben, daß es bedeutet: »Dieses jüdische kommener Knecht des Herrn war es

209
Markus 13 und 14

Jesus nicht gegeben, die Zeit seiner Wie- Obwohl die Hohenpriester und die
derkunft zu wissen. Als Gott kannte er Schriftgelehrten entschlossen waren, ihn
sie selbstverständlich. Aber als Knecht »nicht an dem Fest« zu töten, waren sie
war es ihm nicht gegeben, um es anderen gegen die göttliche Vorsehung machtlos,
zu offenbaren. H. Brookes erklärt das so: und das Passahlamm wurde genau zur
Das ist nicht die Bestreitung der göttli- richtigen Zeit geschlachtet (s. Matth
chen Allwissenheit unseres Herrn, sondern 26,2).
einfach die Feststellung, daß im Zeitalter der
Errettung der Menschheit es ihm nicht gege- B. Jesus wird in Bethanien gesalbt
ben war »Zeiten oder Zeitpunkte zu wissen, (14,3-9)
die der Vater in seiner eigenen Vollmacht Wie ein Juwelier seine Diamanten auf
festgesetzt hat« (Apg 1,7). Jesus wußte, daß schwarzem Samt präsentiert, plazieren
er wiederkommen würde, und sprach auch oft der Heilige Geist und sein menschlicher
von dieser Wiederkunft, aber er verließ sei- Schreiber Markus den Glanz der Liebe
nen Weg als Sohn nicht so weit, um das einer Frau zu unserem Herrn zwischen
Datum seiner Wiederkunft festzulegen, und den dunklen Machenschaften der religiö-
daher konnte er ihn für seine Nachfolger als sen Hierarchie und des Judas.
Ziel ständiger Erwartung und Sehnsucht 14,3 Simon der Aussätzige gab Jesus
19)
aufrecht erhalten. zu Ehren ein Fest, vielleicht aus Dank-
13,33-37 Das Kapitel endet hinsicht- barkeit für seine Heilung. Eine nicht wei-
lich der Wiederkunft des Herrn mit der ter genannte Frau (wahrscheinlich Maria
Ermahnung zu Wachsamkeit und Gebet. aus Bethanien, Joh 12,3) salbte Jesu
Die Tatsache, daß wir die festgelegte Zeit Haupt großzügig mit einem kostbaren
nicht kennen, sollte unsere Aufmerksam- Parfüm. Ihre Liebe zu ihm war groß.
keit aufrecht erhalten. 14,4.5 Einige der Gäste hielten dies
Eine ähnliche Situation gibt es im all- für eine außerordentliche Verschwen-
täglichen Leben. Ein Mann geht auf eine dung. Sie argumentierten, daß die Frau
große Reise. Er hinterläßt Anweisungen rücksichtslos und verschwenderisch sei.
an seinen Knecht und sagt dem Wächter, Warum hatte sie das Parfüm nicht ver-
er solle auf seine Wiederkehr warten. kauft und das Geld »den Armen gege-
Jesus vergleicht sich mit dem Reisenden. ben?« (Dreihundert Denare war etwa der
Er kann zu jeder Tag- und Nachtzeit wie- Jahreslohn eines Arbeiters.) Die Men-
derkommen. Seine Leute, die als Türhü- schen glauben heute immer noch, daß es
ter dienen, sollten nicht schlafend gefun- Verschwendung ist, wenn jemand nur
den werden. So hinterließ er uns dieses ein Jahr seines Lebens für Gott investiert.
Wort an alle Menschen: »Wacht!« Wieviel mehr sehen sie es als Verschwen-
dung an, wenn jemand sein ganzes
VII. Der Knecht leidet und stirbt Leben dem Herrn gibt!
(Kap. 14-15) 14,6-8 Jesus tadelte ihr Murren. Die
Frau hatte ihre einmalige Gelegenheit
A. Der Plan zur Ermordung Jesu erkannt, dem Herrn diese Ehrung zu
(14,1.2) erzeigen. Wenn die anderen so für die
14,1.2 Nun war es Mittwoch dieser Armen engagiert waren, konnten sie
schicksalhaften Woche. In zwei Tagen ihnen immer helfen, »denn die Armen
sollte das Passah gehalten werden, an habt ihr allezeit bei euch«. Aber er würde
das sich die sieben Tage des Festes der bald sterben und begraben werden. Die-
ungesäuerten Brote anschlossen. Die reli- se Frau wollte ihre Freundlichkeit zei-
giösen Führer waren entschlossen, den gen, solange es noch möglich war. Es
Herrn Jesus umzubringen, aber sie woll- konnte sein, daß sie nicht mehr in der
ten es nicht während der Feiertage Lage war, für seinen Leib im Tod zu sor-
machen, weil viele Menschen Jesus noch gen, deshalb wollte sie ihm ihre Liebe
immer für einen Propheten hielten. erzeigen, solange er noch lebte.

210
Markus 14

14,9 Der Duft dieses Parfüms erreicht E. Jesus sagt voraus, daß er verraten
auch unsere Generation. Jesus sagte, daß wird (14,17-21)
ihrer in der ganzen Welt gedacht werden 14,17-21 Am selben Abend kam »er mit
würde. Das ist in Erfüllung gegangen – den Zwölfen« in das Obergemach, das
durch die Aufzeichnungen der Evange- vorbereitet worden war. Als sie sich nie-
listen. derließen und aßen, kündigte Jesus an,
daß einer der Jünger ihn verraten würde.
C. Der Verrat des Judas (14,10.11) Sie alle erkannten, daß ihre eigene Natur
14,10.11 Die Frau hatte den Herrn hoch zu allem fähig war. Mit einem gesunden
verehrt. Judas dagegen verehrte ihn viel Mißtrauen gegenüber sich selbst fragte
weniger. Obwohl er mit dem Herrn lan- jeder, ob er der Schuldige sei. Jesus offen-
ge Zeit zusammengelebt und nichts als barte dann den Täter als den, der mit ihm
Freundlichkeit von ihm erlebt hatte, das Brot in den Fleischsaft eintauchte,
schlich sich Judas jetzt weg zu den d. h. dem er das Brotstück reichte. »Der
Hohenpriestern, um ihnen zu ver- Sohn des Menschen« ging wie vorausge-
sprechen, den Sohn Gottes »an sie zu sagt auf seinen Tod zu, doch das Schick-
überliefern«. Froh ergriffen sie das sal des Verräters würde fürchterlich sein,
Angebot und versprachen, ihn für sei- so fürchterlich, daß »jenem Menschen
nen Verrat zu bezahlen. Er mußte nur gut wäre, wenn er nicht geboren wäre«.
noch die Einzelheiten mit ihnen aus-
machen. F. Das erste Herrenmahl (14,22-26)
14,22-25 Nachdem Judas das Brot geges-
D. Vorbereitungen für das Passah sen hatte, ging er hinaus in die Nacht
(14,12-16) (Joh 13,30). Jesus setzte dann das Herren-
14,12-16 Obwohl die exakte Reihenfolge mahl ein. Seine Bedeutung wird durch
nicht geklärt ist, befinden wir uns nun drei Worte wunderbar umrissen:
am Donnerstag der Passahwoche. Die 1. er nahm – das Menschsein auf sich,
Jünger erkannten kaum, daß dies die 2. er brach – bald würde sein Leib am
Erfüllung und der Höhepunkt aller Pas- Kreuz gebrochen werden,
sahfeiern werden würde, die je gehalten 3. er gab – sich selbst für uns.
wurden. Sie baten den Herrn um Das Brot stand für seinen hingegebe-
Anweisungen, wo sie das Passah feiern nen Leib, der Kelch für sein vergossenes
sollten. Er sandte sie nach Jerusalem mit Blut. Durch sein Blut unterzeichnete er
der Anweisung, nach einem Mann zu den neuen Bund. Für ihn würde es keine
suchen, »der einen Krug Wasser trägt« – Festfreude mehr auf Erden geben, bis er
eine Seltenheit, weil normalerweise auf die Erde zurückkehrte, um sein Reich
Frauen das Wasser holten. Dieser Mann aufzurichten.
würde sie zum richtigen Haus führen. 14,26 Nun sangen sie ein Loblied –
Sie sollten den Eigentümer bitten, ihnen wahrscheinlich einen Teil des »großen
einen Raum zu zeigen, wo der Lehrer Hallel« – die Psalmen 113-118. Dann ver-
mit seinen Jüngern das Passah essen ließen sie Jerusalem, überquerten den
könne. Kidron und kamen »zum Ölberg«.
Es ist wundervoll zu sehen, wie der
Herr in dieser Weise auswählt und be- G. Das Selbstbewußtsein des Petrus
fiehlt. Er handelt als unumschränkter (14,27-31)
Herr über Menschen und Eigentum. Es 14,27.28 Auf dem Weg warnte der Herr
ist auch wundervoll zu sehen, wie emp- die Jünger davor, daß sie sich in den fol-
fängliche Herzen ihm ihren Besitz zur genden Stunden alle seiner schämen
Verfügung stellen. Es tut uns gut, wenn würden und Angst hätten, als seine
Jesus sofortigen, freien Zutritt zu allen Nachfolger bekannt zu sein. Es würde
Räumen unseres Lebens hat! sein, wie Sacharja vorausgesagt hatte:

211
Markus 14

»Ich werde den Hirten schlagen, und die ihm vorübergehe«. Wenn es einen ande-
Schafe werden zerstreut werden« (Sach ren Weg gäbe, Sünder zu retten, als seinen
13,7). Aber gütig versicherte er ihnen, Tod, sein Begräbnis und seine Auferste-
daß er sie nicht verlassen werde. Nach hung, dann sollte Gott diesen Weg offen-
seiner Auferstehung würde er sie in baren. Aber der Himmel schwieg. Es gab
Galiläa erwarten. keinen anderen Weg, uns zu erretten.
14,29.30 Petrus war über den Gedan- 14,36 Und wieder betete er: »Abba,
ken entrüstet, den Herrn zu verleugnen. Vater, alles ist dir möglich. Nimm diesen
Die anderen vielleicht – aber er? Niemals! Kelch von mir weg! Doch nicht, was ich
Jesus berichtigte jedoch das »niemals« zu will, sondern was du willst!« Man beach-
»bald«. »Ehe der Hahn zweimal kräht«, te, daß er Gott hier als seinen geliebten
würde Petrus ihn dreimal verleugnen. Vater anspricht, dem alles möglich ist.
14,31 »Das ist absurd«, rief Petrus, Aber das hier war nicht so sehr eine Fra-
»eher sterbe ich, als daß ich dich verleug- ge der tatsächlichen, sondern der gott-
ne«. Petrus war nicht der einzige, der so gewollten Möglichkeit. Konnte der all-
lautstark prahlte. Sie alle ergingen sich in mächtige Vater eine andere gerechte
forschen, selbstsicheren Ausrufen. Wir Grundlage finden, auf der er gottlosen
sollten das nie vergessen, denn wir sind Sündern vergeben konnte? Der schwei-
nicht im geringsten besser. Wir müssen gende Himmel zeigt an, daß es keine
alle die Feigheit und Schwäche unserer andere Möglichkeit gibt. Der heilige Sohn
Herzen erkennen lernen. Gottes mußte leiden und sterben, um die
Sünder von ihrer Sünde zu befreien!
H. Der Kampf in Gethsemane 14,37-40 Als er zu den drei Jüngern
(14,32-42) zurückkommt, »findet er sie schlafend« –
14,32 Dunkelheit hatte sich über das ein trauriger Hinweis auf ihre gefallene
Land gesenkt. Es war in der Nacht vom menschliche Natur. Jesus warnt nun
Donnerstag auf Freitag. Als Jesus und Petrus davor, in dieser entscheidenden
die Jünger zu einem umfriedeten Grund- Stunde zu schlafen. Gerade erst hatte
stück, namens Gethsemane, kamen, ließ Petrus von seiner unerschütterlichen
der Herr Jesus acht Jünger in der Nähe Standhaftigkeit geprahlt. Nun konnte er
des Eingangs zurück. noch nicht einmal wach bleiben. Wenn
14,33.34 »Und er nimmt den Petrus man nicht eine Stunde lang beten kann,
und Jakobus und Johannes mit sich« tie- ist es unwahrscheinlich, daß man in der
fer in den Garten hinein. Dort empfand Lage ist, in einer Extremsituation der
er die überwältigende Last seiner Aufga- Versuchung zu widerstehen. Es ist dabei
be, für uns als Sündopfer zu sterben. Wir ganz gleichgültig, wieviel Begeisterung
können nicht erfassen, was es für ihn, man aufbringt, es ist notwendig, mit der
den Sündlosen, bedeutete, für uns zur Schwäche des Fleisches zu rechnen.
Sünde gemacht zu werden. Er verließ die 14,41.42 Dreimal kam der Herr Jesus
drei Jünger mit der Anweisung, zu blei- zurück und fand die Jünger schlafend.
ben und zu wachen. »Er ging ein wenig Dann sagte er: »So schlaft denn fort und
weiter« in den Garten – allein. Ebenso ruht aus! Es ist genug; die Stunde ist
allein würde er später ans Kreuz gehen gekommen, siehe, der Sohn des Men-
und das schreckliche Gericht Gottes über schen wird in die Hände der Sünder
unsere Sünden tragen. überliefert.« Damit standen sie auf, als
14,35 Mit Verwunderung und Erstau- wenn sie weggehen wollten, aber sie
nen sehen wir, wie der Herr sich auf den kamen nicht weit.
Boden niederwirft und zu Gott betet.
Wollte er das Kreuz umgehen? Keines- I. Jesus wird verraten und gefangen
falls, denn das war der Zweck seines genommen (14,43-52)
Kommens auf diese Erde. Erst betete er, 14,43 Judas war schon mit einer Schar in
»daß, wenn es möglich sei, die Stunde an den Garten gekommen. Seine Männer

212
Markus 14

trugen Schwerter und Stöcke, als ob sie und des Schmerzes verlassen war. Er
einen gefährlichen Verbrecher fangen weiß, was es bedeutet, in Einsamkeit lei-
wollten. den zu müssen.«
14,44.45 Der Verräter hatte ein Zei-
chen vereinbart: Er würde den küssen, J. Jesus vor dem Hohenpriester
den sie ergreifen sollten. So näherte er (14,53.54)
sich Jesus, nannte ihn Rabbi und küßte Der Bericht der religiösen Gerichtsver-
ihn überschwenglich (die Form im Grie- handlung erstreckt sich von Vers 53 bis
chischen bedeutet so viel wie wiederhol- Kapitel 15,1 und ist dreigeteilt:
tes oder betontes Küssen). Warum verriet 1. Verhandlung vor dem Hohenpriester
Judas den Herrn? War er enttäuscht, daß (V. 53.54),
Jesus nicht die Herrschaft übernommen 2. mitternächtliche Versammlung des
hatte? Waren seine Hoffnungen auf einen Sanhedrin (V. 55-65),
Ehrenplatz im Reich zerstört worden? 3. morgendliche Versammlung des San-
War er von Gier erfüllt? Alle diese Grün- hedrin (Kap. 15,1).
de könnten zu seiner schrecklichen Tat 14,53 Die Ausleger sind sich weitge-
beigetragen haben. hend einig, daß Markus hier von der Ver-
14,46-50 Ein bewaffneter Kamerad handlung vor Kaiphas berichtet. Die Ver-
des Verräters trat vor und verhaftete den handlung vor Hannas finden wir in
Herrn. Da zog Petrus schnell sein Johannes 18,13.19-24.
Schwert und »hieb dem Knecht des 14,54 »Petrus folgte« dem Herrn Jesus
Hohenpriesters das Ohr ab«. Das war »bis hinein in den Hof des Hohenprie-
eine natürliche, keine geistliche Reak- sters«, und zwar, wie er dachte, in siche-
tion. Petrus benutzte fleischliche Waf- rer Entfernung. Jemand hat seinen Fall
fen, um einen geistlichen Kampf zu einmal wie folgt nachgezeichnet:
führen. Der Herr tadelte Petrus deswe- 1. Er kämpfte – fehlgeleitete Begeiste-
gen und heilte das Ohr auf wunderbare rung,
Weise, wie wir in Lukas 22,51 und 2. Er floh – feiger Rückzug,
Johannes 18,11 lesen. Dann erinnerte 3. Er folgt aus der Entfernung – halb-
Jesus seine Häscher daran, wie inkonse- herzige Jüngerschaft bei Nacht.
quent sie waren, ihn mit Waffengewalt »Er saß mit bei den Dienern« und
zu fangen! Er war »täglich . . . im Tem- wärmte sich gemeinsam mit den Feinden
pel« gewesen. Warum hatten sie ihn da des Herrn am Feuer.
nicht ergriffen? Er kannte die Antwort.
Die Schriften mußten erfüllt werden, die K. Jesus vor dem Sanhedrin (14,55-65)
voraussagen, daß er verraten (Ps 41,9), 14,55-59 Obwohl es hier nicht ausdrück-
gefangengenommen (Jes 53,7), mißhan- lich erwähnt wird, scheint in Vers 55 der
delt (Ps 22,12) und verlassen würde Bericht über die mitternächtliche Ver-
(Sach 13,7). sammlung des Sanhedrin vorzuliegen.
14,51.52 Nur Markus berichtet von Die 77 religiösen Führer hatten den Ho-
diesem kleinen Vorfall am Rande. Viele henpriester zum Vorsitzenden. In dieser
Ausleger glauben, daß Markus selbst besonderen Nacht mißachteten die Pha-
dieser junge Mann war, der in seiner Not, risäer, Sadduzäer, Schriftgelehrten und
entkommen zu können, sein Gewand in Ältesten, aus denen sich der Sanhedrin
den Händen der Bewaffneten ließ. Das zusammensetzte, die Regeln, die für ihren
»Leinen(hemd)« war kein normales Klei- Dienst galten, aufs äußerste. Sie durften
dungsstück, sondern ein Tuch, das er sich nicht während der Nacht oder eines
sich in Eile umgebunden hatte. jüdischen Festes versammeln. Sie durften
Erdman kommentiert: »Wahrschein- natürlich ebenfalls keine Zeugen beste-
lich wurde dieser kleine Zwischenfall chen, damit diese einen Meineid leisteten.
aufgenommen, um zu zeigen, wie voll- Ein Todesurteil durfte nicht vollstreckt
ständig Jesus in den Stunden der Gefahr werden, ehe nicht eine weitere Nacht

213
Markus 14

nach dem Urteilsspruch vergangen war. gelästert hatte und sie »verurteilten ihn
Wenn sie sich nicht in der Halle aus . . ., daß er des Todes schuldig sei«.
gehauenem Stein im Tempelbezirk ver- 14,65 Die nun folgende Szene war
sammelten, war ihr Urteil nicht bindend. außerordentlich grotesk. Einige Mitglie-
Im Bestreben, den Herrn Jesus aus der des Sanhedrin fingen an, den Sohn
dem Weg zu schaffen, zögerte die öffent- Gottes anzuspeien, ihm die Augen zu ver-
liche Gewalt nicht, ihre eigenen Gesetze binden und ihn herauszufordern, ihnen
zu brechen. Ihre energischen Bemühun- die Namen seiner Peiniger zu nennen. Es
gen förderten eine ganze Gruppe fal- ist fast unglaublich, daß der hochge-
scher Zeugen zutage, doch konnten sie priesene Retter solch einen Widerspruch
kein gemeinsames Zeugnis geben. Einige der Sünder gegen sich selbst zu erdulden
zitierten den Herrn falsch, indem sie haben sollte. Die Diener (die Tempelpoli-
behaupteten, der Herr habe gedroht, den zei) beteiligten sich an dem Skandal,
Tempel, »der mit Händen gemacht ist«, indem sie ihn ins Gesicht schlugen.
abzubrechen, »und in drei Tagen . . .
einen anderen« aufzubauen, »der nicht L Petrus verleugnet Jesus und weint
mit Händen gemacht ist«. Was Jesus bitterlich (14,66-72)
wirklich gesagt hat, steht in Johannes 14,66-68 Petrus wartete »unten im Hof«
2,19. Die Zeugen verwechselten absicht- des Gebäudes. »Eine von den Mägden
lich den Tempel in Jerusalem mit dem des Hohenpriesters« kam vorbei. Sie
Tempel seines Leibes. schaute ihn sich an und klagte ihn dann
14,60-62 Als der Hohepriester Jesus an, ein Jünger des Nazareners Jesus zu
befragte, antwortete er zunächst nicht. sein. Der erbärmliche Jünger gab vor,
Als er jedoch unter Eid (Matth 26,33) davon nichts zu wissen, und ging gerade
gefragt wurde, ob er der Messias sei, »der rechtzeitig hinaus in den Vorhof, um den
Sohn des Hochgelobten«, antwortete der Hahn krähen zu hören (Anmerkung
Herr, daß er es sei. Er handelte damit im Elberfelder Bibel). Das war ein gespensti-
Gehorsam gegen 3. Mose 5,1. Dann, um scher Augenblick. Die Sünde forderte ihr
jeden Zweifel auszuräumen, welchen Opfer.
Anspruch er stelle, sagte er dem Hohen- 14,69.70 Die Magd sah ihn nochmals
priester, daß er »den Sohn des Menschen und bezeichnete ihn als einen Jünger
sitzen . . . zur Rechten der Macht und Jesu. Wieder leugnete Petrus kalt und
kommen mit den Wolken des Himmels« fragte sich vielleicht, warum die Leute
sehen werde. Damit meinte er, daß der ihn nicht in Ruhe lassen konnten. Dann
Hohepriester ihn öffentlich als Gott ein- sagten die Dabeistehenden zu Petrus:
gesetzt sehen werde. Während seiner »Wahrhaftig, du bist einer von ihnen,
Zeit auf Erden war die Göttlichkeit Jesu denn du bist auch ein Galiläer.«
in einem menschlichen Körper verbor- 14,71.72 Fluchend und schimpfend
gen. Aber wenn er in Macht und großer verteidigte sich Petrus, diesen Menschen
Herrlichkeit wiederkehren wird, dann nicht zu kennen. Sobald er das gesagt hat-
wird der Schleier weggenommen und te, »krähte zum zweiten Mal der Hahn«.
jeder wird genau wissen, wer er ist. Die Natur schien so gegen diese feige
14,63.64 Der Hohepriester verstand Lüge zu protestieren. Blitzartig erkannte
genau, was Jesus meinte. Er »zerriß seine Petrus, daß geschehen war, was der Herr
Kleider« zum Zeichen seiner gerechten vorhergesagt hatte. Er brach zusammen
Entrüstung über diese angebliche Gott- und weinte. Es ist bedeutsam, daß alle
eslästerung. Der Israelit, der der erste vier Evangelien die Verleugnung des
hätte sein sollen, den Messias zu erken- Petrus berichten. Wir müssen alle lernen,
nen und zu empfangen, schrie am laute- daß Selbstvertrauen zur Demütigung
sten bei seiner Verurteilung. Aber nicht führt. Wir müssen lernen, uns selbst zu
er allein, sondern der gesamte San- mißtrauen und uns ausschließlich auf die
20)
hedrin war sich einig, daß Jesus Gott Macht Gottes zu verlassen.

214
Markus 15

M. Die morgendliche Verhandlung vor 15,9-14 Pilatus fragte nun, was er mit
dem Sanhedrin (15,1) dem tun solle, den sie den »König der
15,1 Dieser Vers beschreibt eine weitere, Juden« nannten. Die Menge schrie bru-
am Morgen stattfindende Versammlung tal: »Kreuzige ihn!« Pilatus fragte nach
des Sanhedrin, die vielleicht zusammen- einem Grund, aber es gab keinen. Eine
gerufen worden war, um die ungesetzli- Massenhysterie war ausgebrochen. Sie
che Handlung der Nacht zu legitimieren. konnten nur noch schreien: »Kreuzige
Als Ergebnis wurde Jesus gebunden und ihn!«
vor Pilatus geführt, den römischen Statt- 15,15 So tat der rückgratlose Pilatus,
halter in Israel. was sie verlangten – »er gab ihnen den
Barabbas los«, ließ Jesus geißeln und
N. Jesus vor Pilatus (15,2-5) überlieferte ihn den Soldaten, damit sie
15,2 Bisher fand die Verhandlung Jesu ihn kreuzigten. Und doch haben wir hier
vor den religiösen Führern wegen Gott- ein Gleichnis unserer Erlösung vor uns –
eslästerung statt. Nun wurde er vor ein der Schuldlose wird dem Tode überlie-
weltliches Gericht geführt und wegen fert, damit der Schuldige ohne Strafe
Verrats angeklagt. Auch der weltliche bleiben kann.
Prozeß fand in drei Stufen statt – erst vor
Pilatus, dann vor Herodes und dann wie- P. Die Soldaten verspotten den
der vor Pilatus. Knecht Gottes (15,16-21)
»Pilatus fragte ihn«, ob er »der König 15,16-19 »Die Soldaten führten ihn in den
der Juden« sei. Wenn er es wäre, dann Hof« der Statthalterresidenz. Nachdem
wollte er sicher den Kaiser beseitigen die ganze Schar zusammengerufen war,
und wäre damit des Verrats schuldig. führten sie eine Krönungsszene auf, um
15,3-5 Die Hohenpriester klagten den König der Juden zu verspotten.
Jesus heftig an. Pilatus konnte seine Wenn sie nur geahnt hätten, wen sie vor
Selbstsicherheit angesichts solcher über- sich hatten! Es war der Sohn Gottes, dem
wältigender Anklagen nicht wieder- sie ein Purpurgewand umlegten. Sie
gewinnen. Er fragte ihn, warum er sich krönten ihren eigenen Schöpfer mit Dor-
nicht verteidige, aber Jesus weigerte sich, nen. Sie verspotteten den Erhalter des
seinen Feinden zu antworten. Universums als König der Juden. Sie
schlugen den Herrn des Lebens und der
O. Jesus oder Barrabas? (15,6-15) Herrlichkeit auf das Haupt. Sie spieen
15,6-8 Es war für den römischen Statthal- den Friedensfürsten an. Spottend beug-
ter üblich, zu diesem Fest einen jüdischen ten sie ihre Knie vor dem König der
Gefangenen freizugeben – eine Art politi- Könige und dem Herrn aller Herren.
sche Beruhigungspille für das unzufrie- 15,20.21 Als ihr derber Spott vorbei
dene Volk. Einer dieser Gefangenen, der war, »zogen sie ihm seine Kleider« wie-
freigegeben werden konnte, war Barra- der an und »führten ihn hinaus, um ihn
bas, ein Aufrührer und Mörder. Als Pila- zu kreuzigen«. Markus erwähnt hier, daß
tus dem Volk anbot, Jesus freizugeben, die Soldaten einen Passanten, Simon aus
um die neidischen Hohenpriester zu Kyrene (in Nordafrika), aufforderten,
ärgern, wurde das Volk aufgewiegelt, um sein Kreuz zu tragen. Es kann sein, daß er
Barrabas zu bitten. Gerade die Männer, ein Schwarzer war, doch ist es wahr-
die eben noch Jesus wegen Verrates scheinlicher, daß es sich um einen helle-
gegen den Kaiser angeklagt hatten, erba- nistischen Juden handelte. Er hatte zwei
ten nun die Freilassung eines Mannes, Söhne, Alexander und Rufus, die eventu-
der sich dieses Verbrechens wirklich ell gläubig waren (wenn Rufus derselbe
schuldig gemacht hatte! Die Haltung der ist, wie der in Römer 16,13 erwähnte).
Hohenpriester war irrational und haar- Indem er Jesus das Kreuz nachtrug, zeig-
sträubend – aber so ist die Sünde nun ein- te er uns, was uns als Jünger des Herrn
mal; hier war sie Neid und Eifersucht. kennzeichnen sollte.

215
Markus 15

Q. Die Kreuzigung (15,22-32) 15,29.30 Der Herr Jesus wurde von


Der Geist Gottes beschreibt die Kreuzi- den Vorübergehenden (V. 29.30), den
gung einfach und ohne Gefühlsüber- Hohenpriestern und Schriftgelehrten
schwang. Er beschreibt weder ausführ- (V. 31.32a) und den Räubern (V. 32b) ver-
lich die außerordentliche Grausamkeit spottet.
dieser Art der Hinrichtung noch die Lei- Die »Vorübergehenden« waren wahr-
den, die mit ihr verbunden waren. scheinlich Juden, die sich darauf vorbe-
Der genaue Ort, an dem die Kreuzi- reiteten, das Passah in der Stadt zu hal-
gung stattfand, ist heute unbekannt. ten. Draußen nahmen sie sich die Zeit
Obwohl die Stelle, wo die Kreuzigung anzuhalten, um das wahre Passahlamm
nach der Überlieferung stattfand, näm- zu schmähen. Sie zitierten ihn wieder ein-
lich bei der Grabeskirche, heute inner- mal falsch, daß er gedroht habe, ihren ge-
halb der Mauern Jerusalems liegt, sagen liebten Tempel abzubrechen und in drei
diejenigen, die sie für die richtige Stätte Tagen wieder aufzubauen. Wenn er so
halten, daß sie zur Zeit Christi außerhalb mächtig wäre, könne er sich doch selbst
der Mauern lag. Ein anderer Ort, der vor- retten und vom Kreuz heruntersteigen.
geschlagen wurde, ist »Gordons Golga- 15,31 Die Hohenpriester und Schrift-
tha«, nördlich der Stadtmauer in der gelehrten schmähten ihn wegen seines
Nähe eines Gartens gelegen. Anspruchs, andere zu retten: »Andere
15,22 Golgatha ist die aramäische hat er gerettet, sich selbst kann er nicht
Bezeichnung für Schädel. Das Wort retten.« Das war wirklich grausam, aber
»Kalvarienberg«, das im Deutschen sel- dennoch unbeabsichtigt wahr. Es gilt
tener verwendet wird, stammt aus dem sowohl für das Leben unseres Herrn als
Lateinischen. Vielleicht sah der Ort auch für das unsrige. Wir können nicht
einem Schädel ähnlich oder erhielt sei- andere retten, wenn wir noch uns selbst
nen Namen, weil er eine Hinrichtungs- retten wollen.
stätte war. 15,32 Die religiösen Führer forderten
15,23 Die Soldaten boten Jesus »mit ihn auch auf, vom Kreuz herabzusteigen,
Myrrhe vermischten Wein« an. Das war wenn er der Messias, »der König Israels«,
eine Art Droge, die seine Sinne benebelt wäre. Dann, so sagten sie, würden sie
hätte. Er war jedoch entschlossen, die glauben. Sie wollten glauben, sobald sie
22)
Sünden der Menschheit bei vollem Be- etwas sähen. Aber die Reihenfolge Got-
wußtsein zu tragen, und wollte das tes lautet: »Glaube, und du wirst sehen.«
Getränk deshalb nicht annehmen. Sogar die Verbrecher verspotteten
15,24 Die Soldaten spielten um die ihn!
Kleider der Gekreuzigten. Als sie das
R. Drei Stunden Finsternis (15,33-41)
Gewand des Retters nahmen, nahmen sie
ihm seinen ganzen irdischen Besitz. 15,33 Zwischen 12 und 15 Uhr war das
15,25-28 Es war nun 9 Uhr morgens, ganze Land von einer Finsternis bedeckt.
als sie ihn kreuzigten. Über seinem Kopf Jesus trug zu dieser Zeit das ganze
hatten sie die Inschrift »Der König der Gericht Gottes über unsere Sünden. Er
Juden« angebracht. (Markus gibt nicht erlitt völlige Verlassenheit und Trennung
die gesamte Inschrift wieder, sondern von Gott. Kein Mensch kann je die Qual
beschränkt sich auf die Hauptaussage, s. verstehen, die er erlitt, als er für uns zur
Matth 27,37; Lk 23,38; Joh 19,19.) Zwei Sünde gemacht wurde.
Räuber wurden mit ihm gekreuzigt, auf 15,34 Gegen Ende seiner Qual »schrie
jeder Seite einer – wie Jesaja vorausge- Jesus mit lauter Stimme« (auf ara-
sagt hatte, daß er in seinem Tod zu den mäisch): »Mein Gott, mein Gott, warum
Verbrechern gezählt werden würde hast du mich verlassen?« Gott hatte ihn
(Jes 53,12).
21) verlassen, weil er sich in seiner Heiligkeit
von der Sünde trennen muß. Der Herr
Jesus hatte nun alle unsere Sünden auf

216
Markus 15 und 16

sich geladen und erduldete die volle den Leib Jesu zu bestatten. Joseph war
Strafe dafür. ein strenger Jude, eventuell sogar ein
15,35.36 Einige in der grausamen Mitglied des Sanhedrin (Lk 23,50; s. a.
Menge meinten, er rufe Elia mit den Wor- Matth 27,57; Joh 19,38).
ten »Eloi, Eloi«. Als letzte Entehrung 15,44.45 Pilatus konnte kaum glau-
tränkte einer von ihnen »einen ben, daß Jesus schon tot war. Als der
Schwamm mit Essig« und bot ihn ihm Hauptmann diese Tatsache bestätigte,
auf einem Rohr an. »schenkte« der Statthalter Joseph den
15,37 Jesus schrie noch einmal voller Leib. (In diesem Abschnitt werden für
Kraft und im Triumph auf – dann starb den Leib Jesu zwei verschiedene Worte
er. Sein Tod war eine willentliche Hand- verwendet. Joseph bat um den Leib des
lung, kein unbeabsichtigter Zusammen- Herrn Jesus, und Pilatus »schenkte« ihm
bruch. den Leichnam.)
15,38 In diesem Augenblick zerriß 15,46 Mit liebevoller Fürsorge balsa-
»der Vorhang des Tempels . . . in zwei mierte Joseph (zusammen mit Nikode-
Stücke, von oben bis unten«. Das war mus – s. Joh 19,38.39) den Leib ein,
eine Tat Gottes, die zeigen sollte, daß »wickelte ihn in das Leinentuch und leg-
durch den Tod Christi von nun an der te ihn« in ein neues Grab, das ihm selbst
Zugang in das Heiligtum Gottes das Vor- gehörte. Das Grab oder die Gruft war
recht aller Gläubigen sei (s. Hebr 10,19- eine kleine, aus dem Fels gehauene Kam-
22). Nun war ein neues, großartiges Zeit- mer. Die Öffnung wurde durch einen fla-
alter angebrochen. Es sollte ein Zeitalter chen, runden Stein verschlossen, der in
der Nähe, nicht der Ferne von Gott sein. eine Vertiefung gerollt wurde, die eben-
15,39 Das Bekenntnis des Haupt- falls aus dem Stein gehauen worden war.
manns war zwar edel, muß jedoch nicht 15,47 Und wieder werden Frauen
unbedingt bedeuten, daß er anerkannte, erwähnt, die dabei sind, diesmal die
daß Jesus mit Gott identisch war. Der zwei Marias. Wir bewundern sie für ihre
heidnische Hauptmann erkannte ihn als unveränderte und furchtlose Zunei-
»Gottes Sohn« an. Zweifellos merkte er, gung. Man sagt, daß die meisten Missio-
daß hier ein Stück Geschichte gemacht nare heute Frauen sind. Wo sind die
wurde. Aber ob er echten Glauben hatte, Männer?
wird nicht deutlich gesagt.
15,40.41 Markus erwähnt, daß einige VIII. Der Knecht siegt (Kap. 16)
Frauen beim Kreuz blieben. Man sollte
erwähnen, daß Frauen in den Berichten A. Die Frauen am leeren Grab (16,1-8)
der Evangelien immer besonders heraus- 16,1-4 Am Samstag abend kamen die bei-
gehoben sind. Die Männer versteckten den Marias und Salome zum Grab, um
sich, weil sie um ihre persönliche Sicher- den Leib Jesu mit wohlriechenden Ölen
heit fürchteten. Die Hingabe der Frauen zu salben. Sie wußten, daß es nicht leicht
stellte die Liebe zu Christus über ihr werden würde. Sie wußten, daß ein
eigenes Wohlergehen. Sie waren die letz- schwerer Stein vor die Öffnung des Gra-
ten beim Kreuz und die ersten am Grab. bes gerollt worden war. Sie wußten, daß
die Römer das Grab versiegelt und eine
S. Das Begräbnis in Josephs Grab Wache davor postiert hatten. Aber Liebe
(15,42-47) überwindet Berge, um den Gegenstand
15,42 Der Sabbat begann am Freitag bei der Liebe erreichen zu können.
Sonnenuntergang. Der »Vorsabbat« oder »Sehr früh« am Sonntag morgen frag-
andere Feiertag war auch als »Rüsttag« ten sie sich laut, »wer den Stein von der
23)
bekannt. Tür der Gruft wegwälzen« würde. Sie
15,43 Die Notwendigkeit, schnell zu blickten auf und sahen, daß das schon
handeln, flößte Joseph von Arimathäa erledigt war! Wie oft geschieht es, daß,
Mut ein, Pilatus um Erlaubnis zu bitten, wenn wir den Retter ehren wollen, die

217
Markus 16

Schwierigkeiten schon beseitigt sind, ehe dann wäre das Wort unseres Herrn
wir auf sie treffen. über die Bewahrung seines Wortes
16,5.6 »Und als sie in die Gruft eintra- (Matth 24,35) nicht in Erfüllung ge-
ten«, sahen sie einen Engel in der Gestalt gangen.
eines jungen Mannes in weißen Kleidern. 4. Der Inhalt dieses Abschnittes steht in
Er zerstreute ihre Angst sofort mit der Übereinstimmung mit anderen bibli-
Ankündigung, daß Jesus auferstanden schen Stellen.
sei. Das Grab war leer. 5. Der Stil, und besonders die Wort-
16,7 Der Engel beauftragte sie dann wahl, entsprechen sehr eng dem
24)
als Boten der Auferstehung. Sie sollten es ersten Kapitel des Buches.
»seinen Jüngern und Petrus« sagen, daß 16,9 Der Retter erschien zuerst Maria
Jesus sie in Galiläa treffen wolle. Man Magdalena. Als sie Jesus das erste Mal be-
beachte, daß Petrus, der Jünger, der sei- gegnet war, hatte er ihr sieben Dämonen
nen Herrn verleugnet hatte, hier aus- ausgetrieben. Von da an diente sie ihm
drücklich erwähnt wird. Der auferstan- voller Liebe mit ihrem Eigentum. Sie war
dene Herr hatte ihn nicht verstoßen, son- bei der Kreuzigung dabei und hatte gese-
dern liebte ihn noch immer und sehnte hen, wohin sein Leib gelegt worden war.
sich danach, ihn zu sehen. Er mußte be- Von den anderen Evangelisten wis-
sonders betreut werden. Das irrende sen wir, daß sie, als sie das Grab leer
Schaf mußte in die Gemeinschaft seines fand, loslief und es Petrus und Johannes
Hirten zurückgeführt werden. Der Zu- sagte. Als sie mit ihr zurückkamen, fan-
rückgefallene mußte ins Vaterhaus zu- den sie das Grab leer, wie sie gesagt hat-
rückkehren. te. Sie kehrten nach Hause zurück, aber
16,8 Die Frauen flohen mit gemisch- sie blieb bei dem leeren Grab. Da er-
ten Gefühlen vom Grab. Sie waren zu schien ihr Jesus.
verängstigt, irgend jemandem zu erzäh- 16,10.11 Wieder ging sie in die Stadt
len, was geschehen war. Das ist nicht er- zurück, um den trauernden Jüngern die
staunlich. Das Wunder ist, daß sie bis zu gute Nachricht zu überbringen. Aber das
diesem Zeitpunkt so mutig, treu und hin- war für sie zu schön, um wahr zu sein.
gegeben gewesen waren. Sie glaubten nicht.

B. Die Erscheinung vor C. Die Erscheinung vor zwei Jüngern


Maria Magdalena (16,9-11) (16,12.13)
Weil in zwei wichtigen alten Manuskrip- 16,12 Der vollständige Bericht über die-
ten des Markusevangeliums die Verse 9- ses Ereignis finden wir in Lukas 24,13-31.
20 fehlen, glauben viele moderne Theolo- Hier lesen wir nur, daß »er sich zweien
gen, daß sie nicht authentisch sind. Den- von ihnen in anderer Gestalt unterwegs«
noch gibt es wichtige Argumente dafür, auf dem Weg nach Emmaus offenbarte.
daß sie zum Text gehören: Maria erschien er als Gärtner. Hier
1. Fast alle anderen griechischen Ma- erschien er nun als Mitreisender. Aber es
nuskripte und viele Kirchenväter war derselbe Jesus, der in seinem ver-
haben diesen Abschnitt im Text. herrlichten Leib erschien.
2. Vers 8 wäre ein äußerst seltsamer 16,13 Als die beiden Jünger nach Jeru-
Schluß, insbesondere im Griechi- salem zurückkehrten und über ihre
schen, wo das letzte Wort gar (denn) Gemeinschaft mit dem Auferstandenen
lautet. Dieses Wort steht nur äußerst berichteten, trafen sie auf denselben
selten am Ende eines Satzes, noch viel Unglauben wie vorher Maria.
weniger am Ende eines Buches.
3. Wenn, wie einige lehren, der origina- D. Die Erscheinung von den Elfen
le Schluß des Markusevangeliums (16,14-18)
verloren gegangen ist, und dies eine 16,14 Diese Erscheinung vor den Elfen
spätere Zusammenfassung darstellt, fand noch am gleichen Sonntagabend

218
Markus 16

statt (Lk 24,36; Joh 20,19-24; 1. Kor 15,5). bunden, nicht jedoch mit der geist-
Obwohl die Jünger mit »die Elf« bezeich- lichen Wiedergeburt.
net werden, waren doch nur zehn von Aber was bedeutet Vers 16 dann? Wir
ihnen anwesend. Thomas war diesmal sind der Meinung, daß er die Taufe als das
nicht dabei. Jesus tadelte die Seinen für normale äußere Zeichen des Glaubens
ihre Weigerung, die Berichte seiner Auf- erwähnt. Taufe ist keine Bedingung für die
erstehung von Maria und den anderen Errettung, sondern die äußere Verkündi-
anzunehmen. gung, daß der Betreffende errettet ist.
16,15 Dieser Vers berichtet von der 16,17.18 Jesus beschreibt hier be-
Sendung, die der Herr am Abend seiner stimmte Wunder, die denjenigen, die
Himmelfahrt aussprach. Deshalb liegt dem Evangelium glauben, folgen wer-
zwischen Vers 14 und 15 eine längere den. Wenn wir diese Verse lesen, ist
Zeitspanne. Die Jünger wurden beauf- sicherlich die erste Frage: »Gibt es diese
tragt, »das Evangelium der ganzen Zeichen noch heute?« Wir glauben, daß
Schöpfung« zu predigen. Das Ziel des diese Zeichen in erster Linie für das apo-
Herrn war die Evangelisation der ganzen stolische Zeitalter bestimmt waren, ehe
Welt. Er wollte es mit elf Jüngern erreich- die ganze Bibel in geschriebener Form
ten, die im wahrsten Sinne des Wortes zugänglich war. Die meisten dieser
alles verlassen sollten, um ihm nachzu- Zeichen finden sich in der Apostelge-
folgen. schichte:
16,16 Ihre Predigt würde zweierlei 1. Dämonenaustreibung (Apg 8,7; 16,18;
Auswirkung haben. Einige würden glau- 19,11-16).
ben, getauft und errettet werden, einige 2. Andere Sprachen (Apg 2,4-11; 10,46;
würden nicht glauben und verdammt 19,6).
werden. 3. Schlangen aufheben (Apg 28,5).
Vers 16 wird von manchen benutzt, 4. Gift trinken, ohne Schaden zu neh-
um die Heilsnotwendigkeit der Wasser- men – dies ist in der Apostelgeschich-
taufe zu begründen. Wir wissen jedoch te nicht überliefert. Allerdings berich-
aus folgenden Gründen, daß dies nicht tet der Geschichtsschreiber Eusebius,
richtig sein kann: daß Johannes und Barnabas das
1. Der Schächer am Kreuz war nicht erlebt haben.
getauft, dennoch wurde ihm versi- 5. Schwachen die Hände auflegen,
chert, daß er mit Christus ins Para- um sie zu heilen (Apg 3,7; 19,11;
dies käme (Lk 23,43). 28,8.9).
2. Die Heiden in Cäsarea wurden Was war der Zweck dieser Wunder?
getauft, nachdem sie errettet wurden Wir glauben, daß wir die Antwort in
(Apg 10,44-48). Hebräer 2,3.4 finden: Ehe das NT vollen-
3. Jesus selbst taufte nicht (Joh 4,1.2) – det war, würden die Menschen die Apo-
ein seltsames Verhalten, wenn Taufe stel und andere um Beweise bitten, daß
zur Rettung notwendig wäre. das Evangelium von Gott ist. Um die
4. Paulus dankte Gott, daß er nur we- Predigt zu bestärken, gab Gott mit Zei-
nige Korinther getauft habe (1. Kor 1, chen, Wundern und verschiedenen Gei-
14-16) – ein unmögliches Dankgebet, stesgaben davon Zeugnis.
wenn die Taufe zur Errettung not- Diese Wunder werden heute nicht
wendig wäre. mehr benötigt. Wir haben die gesamte,
5. Etwa 150 Stellen im NT sagen aus, vollständige Bibel. Wenn die Menschen
daß die Rettung allein aus Glauben der nicht glauben, werden sie sowieso
geschieht. Kein einzelner Vers oder nicht glauben. Markus sagte nicht, daß
Abschnitt könnte dieses überragende diese Wunder andauern würden. Die
Zeugnis ungültig machen. Worte »bis zur Vollendung des Zeit-
6. Die Taufe ist im NT mit Tod und alters« finden sich hier nicht wie in
Begräbnis des alten Menschen ver- Matthäus 28,18-20.

219
Markus 16

Dennoch schlug Martin Luther vor, Hier endet die Erzählung – Christus
daß »diese Zeichen je nach Bedürfnis ist im Himmel, einige hingegebene Jün-
noch in Anspruch genommen werden ger tragen die Last der Evangelisation
können. Wenn Not da ist und das Evan- und widmen sich ganz dieser Aufgabe,
gelium hart verfolgt wird, dann müssen die ewige Auswirkungen hat.
wir diese Wunder wirken, ehe wir erlau- Auch wir sind in unserer Generation
ben, daß das Evangelium schlechtge- mit dieser Aufgabe betraut. Unsere Auf-
macht und niedergestürzt wird«. gabe ist es, jeden Menschen mit dem
Evangelium zu erreichen. Ein Drittel der
E. Die Himmelfahrt des Knechtes gesamten Menschheit, die je gelebt hat,
(16,19.20) lebt heute. Im Jahr 2000 wird es die Hälf-
16,19 Vierzig Tage nach seiner Auferste- te der Gesamtmenschheit sein, die zu
hung wurde unser Herr »in den Himmel dieser Zeit lebt. Je mehr die Bevöl-
aufgenommen und setzte sich zur Rech- kerungszahlen steigen, desto größer
ten Gottes«. Dies ist seine Ehren- und wird die Aufgabe. Aber die Methode
Machtstellung. bleibt immer dieselbe – hingegegebene
16,20 In Gehorsam gegenüber seinem Jünger mit unbegrenzter Liebe zu Chri-
Gebot gingen die Jünger wie ein Lauf- stus, die kein Opfer zu groß für ihn
feuer hinaus, predigten das Evangelium erachten.
und gewannen Menschen für den Retter. Der Wille Gottes ist die Weltevangeli-
Die Macht des Herrn war mit ihnen. Die sation. Was tun wir dafür?
verheißenen Zeichen begleiteten ihre
Predigt und bestätigten ihre Worte.

220
Anmerkungen

Anmerkungen lismus (Textus Receptus und Mehr-


heitstext) wird unserer Meinung
nach durch den kritischen Text (NA)
1) (1,2.3) Nestlé Aland liest »Prophet verwässert, der den Text zweimal
Jesaja«, aber das erste Zitat stammt ausläßt.
von Maleachi. Die traditionelle Les- 14) (9,49) NA läßt diesen Satz aus.
art »in den Propheten«, die durch die 15) (10,23-25) NA läßt »für die, die ihr
Mehrzahl der Manuskripte unter- Vertrauen auf Reichtum setzen« aus.
stützt wird, ist genauer. 16) (10,31) H. A. Ironside, Expository
2) (1,31) J. R. Miller, Come ye apart, Notes on the Gospel of Mark, S. 157.
Andacht für den 28. März. 17) (10,32) Erdman, Mark, S. 147.
3) (3,13-18) James E. Stewart, The Life 18) (13,29) Das Subjekt des Satzes ist im
and Teaching of Jesus Christ, S. 55-56. Griechischen nur die Endung des
4) (3,20.21) Miller, a. a. O., Andacht für Wortes »ist« (estin), was in diesem
den 6. Juni. Zusammenhang entweder »er«,
5) (4,30-32) Vance Havner, keine weite- (d. h. Christus) oder »es« (d. h. Som-
ren Angaben verfügbar. mer, die vorhergesagten Vorgänge)
6) (6,4-6) J. G. Miller, keine weiteren bedeuten könnte. Aber die Gesamt-
Angaben. bedeutung bleibt dieselbe.
7) (6,31.32) W. Kelly, An Exposition of the 19) (13,32) James H. Brookes, »I am
Gospel of Mark, S. 85. coming«, S. 40.
8) (7,2-4) E. S. Jones, Growing Spriritual- 20) (14,63.64) Josef von Arimathäa und
ly, S. 109. Nikodemus sind nach einhelliger
9) (7,11-13) Kelly, Markus, S. 105. Meinung nicht bei dieser ungesetzli-
10) (8,1-9) Charles R. Erdman, The Gospel chen Versammlung zugegen gewe-
of Mark, S. 116. sen.
11) (8,22-26) Es ist möglich, daß der 21) (15,25-28) Der kritische Text (NA)
Mann das volle Augenlicht auf die läßt dieses Zitat bei Markus aus.
gleiche Weise erhielt, wie ein Neuge- 22) (15,32) Die Mehrzahl der Manus-
borenes: Ein Neugeborenes hat auch kripte fügt »ihm« hinzu. Damit per-
volles Augenlicht, muß jedoch noch sonalisieren sie das (eventuell
lernen, seine Augen auf die richtige falsche) Versprechen der Priester.
Entfernung einzustellen, damit es 23) (15,42) Im modernen Griechisch
die Gegenstände erkennen kann. bedeutet dieses Wort »Rüsttag«
12) (8,32.33) Kelly, Mark, S. 136. »Freitag«.
13) (9,44-48) Dreimal (V. 44.46 u. 48) 24) Weitere Argumente s. George Sal-
zitiert unser Herr Jesaja 66,24, um mon. Historical Introduction to the Stu-
vor den Gefahren der Hölle zu war- dy of the Books of the New Testament,
nen. Dieser betonte formale Paralle- S. 144-151.

221
Bibliographie

Bibliographie Ironside, Harry A.,


Expository Notes on the Gospel of Mark,
Neptune, N. J.: Loiseaux Bros.
Alexander, Joseph Addison, Publishers, 1948.
The Gospel According to Mark,
Edinburgh: The Banner of Truth Trust, Kelly, William,
1960. An Exposition of the Gospel of Mark,
London: C. A. Hammond, 1934.
Coates, C. A.,
An Outline of Mark’s Gospel and other Lenski, R. C. H.,
Ministry, The Interpretation of St. Mark’ Gospel,
Kingston-on-Thames: Stow Hill Bible Minneapolis: Augsburg Publishing
and Tract Depot, 1964. House, 1946.
Cole, Alan, Swete, Henry Barclay,
The Gospel According to St. Mark, The Gospel According to St. Mark,
Grand Rapids: Wm. B. Erdmans London: MacMillan & Co, Ltd., 1902.
Publishing Company, 1961.
Erdman, Charles R.,
The Gospel of Mark,
Philadelphia: The Westminster Press,
1917.

222
Das Evangelium nach Lukas
»Das schönste Buch, das es gibt.«
Ernest Renan

Einführung Historia Ecclesiastica (III,4), und stimmt


mit der Beurteilung der Verfasserschaft
des dritten Evangeliums in der frühen
I. Die einzigartige Stellung im Kanon Christenheit überein. Andere Unterstüt-
»Das schönste Buch, das es gibt« ist ein zung durch frühe Autoren erhält diese
großes Lob, insbesondere von einem Auffassung durch Justin den Märtyrer,
Skeptiker. Doch so beurteilte der franzö- Hegesipp, Clemens von Alexandria und
sische Kritiker Renan das Lukasevange- Tertullian. In Marcions tendenziös verän-
lium. Und welcher empfindsame Gläubi- derten und gekürzten Ausgabe des NT
ge, der das inspirierte Meisterwerk des ist Lukas das einzige Evangelium, das
Evangelisten liest, wollte seine Worte von diesem bekannten Häretiker ange-
anfechten? Lukas ist wahrscheinlich der nommen wird. Das muratorische Frag-
einzige heidnische Autor, den Gott er- ment nennt als drittes Evangelium
wählt hat, um sein Wort niederzuschrei- »Lukas«.
ben, und das kann teilweise seine be- Lukas ist der einzige Evangelist, der
sondere Anziehungskraft für uns west- einen »zweiten Band« zu seinem Evan-
liche Erben der griechisch-römischen gelium schrieb, und aus diesem Buch,
Kultur erklären. der Apostelgeschichte, geht die lukani-
Ohne den einzigartigen Schwerpunkt sche Verfasserschaft am deutlichsten her-
des Dr. Lukas wären wir sehr viel ärmer vor. Die sogenannten »Wir-Abschnitte«
in unserer Bewertung des Herrn Jesus der Apostelgeschichte sind Berichte, bei
und seines Dienstes. Die Liebe unseres denen der Schreiber selbst persönlich
Herrn für alle Menschen und das Ange- anwesend war (16,10; 20,5.6; 21,15; 27,1;
bot der Erlösung an sie, nicht nur an die 28,16; vgl. 2. Tim 4,11). Wenn man alle in
Juden, sein besonderes Interesse an Ein- Frage kommenden Autoren für alle Stel-
zelnen, ja sogar an den Armen und Aus- len vergleicht und dann aussortiert,
gestoßenen werden hier besonders be- kommt nur Lukas für alle diese Zeiträu-
leuchtet. Lukas betont den Lobpreis sehr me in Frage. Aus den Widmungen an
stark (er gibt uns in Lukas 1 und 2 Bei- Theophilus und dem Schreibstil wird
spiele für die frühesten christlichen recht deutlich, daß das Lukasevangelium
Hymnen), außerdem das Gebet und den und die Apostelgeschichte vom selben
Heiligen Geist. Autor stammen.
Paulus nennt Lukas den »geliebten
Arzt« und führt ihn getrennt von den
II. Verfasserschaft Judenchristen auf (Kol 4,14), was ihn
Lukas, der von der Herkunft her Antio- zum einzigen heidnischen Schriftsteller
chier war und von Beruf Arzt, war lange des NT macht. Vom Umfang her ist die
ein Wegbegleiter des Paulus, und hat die Apostelgeschichte des Lukas größer als
anderen Apostel sorgfältig befragt, und alle Briefe des Paulus zusammen.
in den beiden Büchern hinterließ er uns Die inneren Beweise untermauern die
Beispiele der Medizin für Seelen, die er äußeren und die kirchliche Tradition.
von ihnen erfahren hatte. Das Vokabular (oft präziser in der Ver-
Dieser äußere Beweis der Verfasser- wendung medizinischer Ausdrücke als
schaft durch Euseb findet sich in seiner die anderen neutestamentlichen Schrift-

223
Lukas

steller), zusammen mit dem gebildeten IV. Hintergrund und Thema


Griechisch, unterstützen die Annahme Die Griechen suchten nach einem voll-
eines kultivierten heidenchristlichen kommenen göttlich-menschlichen Wesen
Arztes, der jedoch völlig bewandert in – einem, das die besten Eigenschaften von
jüdischen Fragen war. Lukas liebt kor- Mann und Frau, doch keine ihrer Mängel
rekte Daten und genaue Recherchen, und in sich vereinigen sollte. Deshalb wird
damit wird er zum ersten Kirchenhisto- Christus bei Lukas als Menschensohn
riker. dargestellt – stark, doch mitfühlend. Seine
Menschlichkeit steht im Vordergrund.
III. Datierung Sein Gebetsleben wird zum Beispiel
Das wahrscheinlichste Datum für die öfter erwähnt als in den anderen Evange-
Abfassung des Lukasevangeliums liegt lien, auch wird sein Mitgefühl und seine
in den frühen sechziger Jahren des Barmherzigkeit öfter erwähnt. Vielleicht
ersten Jahrhunderts. Zwar siedeln eini- spielen deshalb Frauen und Kinder eine
ge das Evangelium zwischen 75 und 85 so wichtige Rolle. Das Lukasevangelium
an (oder sogar im zweiten Jahrhundert), ist auch als das »missionarische« Evange-
jedoch geht diese Datierung zumindest lium bekannt. Hier wird das Evangelium
teilweise davon aus, daß Christus die den Heiden verkündigt, und der Herr
Zerstörung Jerusalems nicht genau vor- Jesus wird als Erlöser der Welt vorge-
aussagen konnte. Die Stadt wurde 70 stellt. Und schließlich ist dieses Evange-
nach Christus zerstört, deshalb muß die lium ein Handbuch für die Jüngerschaft.
Prophezeiung des Herrn eher vor die- Wir verfolgen den Weg der Jüngerschaft
sem Datum niedergeschrieben worden im Leben unseres Herrn und hören, wie
sein. er ihn in seiner Jüngerschulung auslegt.
Weil alle der Meinung sind, daß das Diese Eigenschaft werden wir in unserer
Lukasevangelium vor der Apostelge- Auslegung besonders beachten. Im Le-
schichte geschrieben worden ist, und die ben des vollkommenen Menschen wer-
Apostelgeschichte mit dem Jahr 63 und den wir die Elemente finden, die zum
der Anwesenheit des Paulus in Rom idealen Leben aller Menschen gehören. In
endet, ist ein Datum vor diesem Zeit- seinen unvergleichlichen Worten werden
punkt notwendig. Der große Brand wir auch den Weg des Kreuzes wiederfin-
Roms und die darauffolgende Verfol- den, zu dem er uns beruft.
gung der Christen als Sündenböcke Wenn wir nun beginnen, das Lukas-
Neros (64 n. Chr.) und der Märtyrertod evangelium zu studieren, kann es sein,
von Petrus und Paulus hätten vom daß wir den Ruf des Erlösers vernehmen,
ersten Kirchenhistoriker kaum ausgelas- alles zu verlassen und ihm zu folgen.
sen werden können, wenn sie zum Zeit- Gehorsam ist die Voraussetzung für
punkt der Abfassung schon geschehen geistliches Wissen. Die Bedeutung der
gewesen wären. Daher ist eine Datie- Schrift wird uns deutlicher und lieber,
rung zwischen 61 und 62 am wahr- wenn wir die beschriebenen Erfahrun-
scheinlichsten. gen selbst machen.

224
Lukas 1

Einteilung VI. Der Menschensohn dehnt seinen


Dienst aus (7,1 – 9,50)
VII. Wachsender Widerstand gegen
I. Vorwort: Ziel und Methode des den Menschensohn (9,51 – 11,54)
Lukas (1,1-4) VIII. Lehren und Heilen auf dem Weg
II. Das Kommen des Menschensohnes nach Jerusalem (Kap. 12 – 16)
und seines Vorläufers (1,5 – 2,52) IX. Der Menschensohn unterrichtet
seine Jünger (17,1 – 19,27)
III. Die Vorbereitung des Menschen-
X. Der Menschensohn in Jerusalem
sohnes auf den Dienst (3,1 – 4,30)
(19,28 – 21,38)
IV. Der Menschensohn beweist seine XI. Leiden und Sterben des
Macht (4,31 – 5,26) Menschensohnes (Kap. 22 und 23)
V. Der Menschensohn erklärt seinen XII. Der Triumph des Menschensohnes
Dienst (5,27 – 6,49) (Kap. 24)

Kommentar Wort« als Namen Christi, ebenso, wie


Johannes es in seinem Evangelium tut.
Mit »Anfang« ist hier der Beginn des
I. Vorwort: Ziel und Methode des christlichen Zeitalters gemeint, das von
Lukas (1,1-4) Johannes dem Täufer angekündigt wur-
In seinem Vorwort zeigt sich Lukas als de. Der Sachverhalt, daß Lukas sowohl
Historiker. Er beschreibt die Materialien, schriftliche als auch mündliche Quellen
zu denen er Zugang hatte und die verwendet hat, leugnet nicht die Tatsa-
Methode, mit der er vorging. Dann er- che der Wortinspiration seiner Schriften.
klärt er das Ziel seines Buches. Vom Es bedeutet einfach, daß der Heilige
menschlichen Standpunkt aus gesehen Geist ihn bei Auswahl und Anordnung
hatte er zweierlei Quellen – die schrift- seiner Quellen anleitete.
lichen Aufzeichnungen über das Leben James S. Stewart kommentiert:
Christi und die mündlichen Berichte der Lukas stellt eindeutig klar, daß inspirier-
Augenzeugen. te Verfasser nicht auf wunderbare Weise von
1,1 Die schriftlichen Quellen werden der Notwendigkeit der harten historischen
in Vers 1 genannt: »Da es nun schon vie- Forschung befreit waren . . . Inspiration
le unternommen haben, einen Bericht übergeht nicht einfach auf geheimnisvolle
von den Ereignissen zu verfassen, die Weise den menschlichen Geist und seine
sich unter uns zugetragen haben . . .« Wir Fähigkeiten, sondern Gott drückt seinen Wil-
wissen nicht, wer diese Schriftsteller len durch hingegebene menschliche Geister
waren. Matthäus und Markus mögen und ihre Fähigkeiten aus. Die Inspiration
dabei gewesen sein, doch auch einige übergeht nicht einfach die Persönlichkeit des
andere, die offensichtlich nicht inspiriert heiligen Verfassers und macht ihn zu einer
waren. (Johannes schrieb erst später.) Maschine Gottes, sie verstärkt eher seine Per-
1,2 Lukas bezieht sich auch auf sönlichkeit und macht ihn zu Gottes lebendi-
1)
mündliche Berichte derer, »die von gem Zeugen.
Anfang an Augenzeugen und Diener des 1,3 Lukas gibt eine kurze Erklärung
Wortes gewesen sind«. Lukas selbst zu seiner Motivation und seiner verwen-
behauptet nicht, Augenzeuge zu sein, deten Methode: »hat es auch mir gut
doch er hat die befragt, die es waren. Er geschienen, der ich allem von Anfang an
beschreibt diese Begleiter unseres Herrn genau gefolgt bin, es dir, vortrefflichster
als »Augenzeugen und Diener des Wor- Theophilus, der Reihe nach zu schrei-
tes«. Hier benutzt er den Ausdruck »das ben.« Seine Motivation beschreibt er

225
Lukas 1

schlicht so: »es hat auch mir gut geschie- wurde. Wir wissen, daß Lukas inspiriert
nen«. Auf der rein menschlichen Ebene war. Er erwähnt das hier nicht, es sei
hatte er die stille Überzeugung, daß er denn, daß er es in den Worten von Anfang
2)
das Evangelium schreiben sollte. Wir an andeutet, die man auch mit von oben
wissen natürlich daß göttlicher Zwang übersetzen kann.
auf wunderbare Weise mit diesem
menschlichen Entschluß vermischt war. II. Das Kommen des Menschensohnes
Bezüglich seiner Methode schreibt er, und seines Vorläufers (1,5 – 2,52)
daß er zuerst »allem« genau »von An-
fang an« auf den Grund ging, und es A. Die Ankündigung der Geburt des
dann der Reihe nach aufschrieb. Sein Vorläufers (1,5-25)
Vorhaben erforderte eine sorgfältige wis- 1,5.6 Lukas beginnt seine Erzählung mit
senschaftliche Erforschung der Vorgänge der Vorstellung der Eltern Johannes des
des Lebens Jesu. Lukas prüfte auch die Täufers. Sie lebten zu der Zeit, als der
Zuverlässigkeit seiner Quellen, sonderte böse »Herodes« der Große »König von
alles aus, das historisch falsch und geist- Judäa« war. Er war ein Idumäer, d. h. ein
lich unbedeutsam war, und ordnete sein Nachkomme Esaus.
Material dann in der Weise an, wie wir es »Zacharias« (das bedeutet: der Herr
heute vorliegen haben. Wenn Lukas sagt, gedenkt) war ein »Priester« und gehörte
daß er es »der Reihe nach« aufgeschrie- zur »Abteilung des Abia«, einer der 24
ben habe, so ist damit nicht notwendi- Abteilungen, in die die jüdische Priester-
gerweise die zeitliche Reihenfolge ge- schaft von David eingeteilt worden war
meint. Die Vorgänge im Evangelium sind (1. Chron 24,10). Jede Abteilung mußte
nicht immer in der Reihenfolge aufge- zweimal im Jahr im Tempel in Jerusalem
schrieben, in der sie geschehen sind. Sie von einem bis zum nächsten Sabbat
haben vielmehr eine sittliche oder geistli- Dienst tun. Es gab zu dieser Zeit so viele
che Reihenfolge, das heißt, sie sind mehr Priester, daß das Vorrecht, im Allerheilig-
durch Thema und sittliche Anweisungen sten zu räuchern, jedem nur einmal im
verbunden als durch zeitliche Aufeinan- Leben, wenn überhaupt, zuteil wurde.
derfolge. Obwohl dieses Evangelium Elisabeth (das bedeutet: Eid Gottes)
und die Apostelgeschichte an »Theophi- stammte auch aus der Priesterfamilie
lus« gerichtet sind, wissen wir erstaun- Aarons. Sie und ihr Mann waren fromme
lich wenig über diesen Mann. Sein Titel Juden, die sehr sorgfältig in der Erfül-
»vortrefflichster« legt nahe, daß er ein lung der Schriften des AT waren, sowohl
Beamter der Regierung war. Sein Name des Sitten- als auch des Zeremonialgeset-
bedeutet »Freund Gottes«. Vielleicht war zes. Natürlich waren sie nicht sündlos,
er ein Christ, der eine Ehren- und Verant- doch wenn sie gesündigt hatten, dann
wortungsstelle im Auswärtigen Amt des stellten sie sicher, daß ein Opfer dafür
Römischen Reiches bekleidete. gebracht wurde oder andere rituelle
1,4 Das Ziel von Lukas war, Theophi- Anforderungen erfüllt wurden.
lus einen schriftlichen Bericht zu liefern, 1,7 Dieses Paar hatte keine Kinder, für
der bestätigen würde, daß alles, was er jeden Juden ein schlimmer Zustand.
über das Leben und den Dienst des Doktor Lukas hält als Grund dafür fest,
Herrn Jesus gelehrt worden war, vertrau- daß Elisabeth unfruchtbar war. Das Pro-
enswürdig war. Die schriftliche Botschaft blem wurde noch durch die Tatsache ver-
sollte der Ungenauigkeit der fortgesetz- schlimmert, daß beide »in ihren Tagen
ten mündlichen Überlieferung Einhalt weit vorgerückt« waren.
gebieten. 1,8-10 Eines Tages war Zacharias im
Und so geben uns die Verse 1-4 den »Tempel«, um seinen Pflichten als Prie-
kurzen, doch erhellenden Hintergrund ster nachzukommen. Das war ein
über die menschlichen Umstände, unter großartiger Tag in seinem Leben, weil er
denen dieses Buch der Bibel geschrieben durch das Los bestimmt worden war, um

226
Lukas 1

im Tempel »zu räuchern«. Das Volk hatte die richtige Beziehung zu Gott zu brin-
sich »betend« vor dem Tempel versam- gen. G. Coleman Luck stellt heraus:
melt. Niemand scheint genau die Zeit zu Seine Predigt sollte die Herzen von sorg-
kennen, die als »Stunde des Räucherns« losen Eltern zum wirklichen geistlichen
bezeichnet wird. Bemühen um ihre Kinder bringen. Auch soll-
Es ist inspirierend zu bemerken, daß te er die Herzen von ungehorsamen, aufrüh-
das Evangelium mit dem »betenden« rerischen Kindern zurück zur »Gesinnung
3)
Volk vor dem Tempel beginnt und mit der Gerechten« bringen.
Menschen endet, die Gott im Tempel Mit anderen Worten, er würde da-
preisen. Die Kapitel dazwischen berich- nach streben, aus der Welt eine Gemein-
ten, wie ihre Gebete in der Person und schaft von Gläubigen zu versammeln,
dem Werk des Herrn Jesus beantwortet die bereit wäre, dem Herrn zu begegnen,
wurden. wenn er erscheinen würde. Das ist ein
1,11-14 Es war eine geeignete Zeit würdiger Dienst für uns alle.
und ein geeigneter Ort für eine göttliche Man beachte, wie die Gottheit Christi
Offenbarung, als der Priester und das in den Versen 16 und 17 vorausgesetzt
Volk beteten. »Ein Engel des Herrn wird. In Vers 16 heißt es: »viele der Söh-
erschien . . . zur Rechten des Räucheral- ne Israels wird er zu dem Herrn, ihrem
tars« – ein Zeichen des Wohlgefallens. Gott, bekehren«. Dann heißt es in Vers 17,
Zunächst war Zacharias sehr er- daß Johannes »vor ihm hergehen« sollte.
schrocken, noch keiner seiner Zeitgenos- Auf wen bezieht sich das Wort ihm?
sen hatte je einen Engel gesehen. Doch Offensichtlich auf den Herrn, ihren Gott
der Engel ermunterte ihn mit wunderba- im vorhergehenden Vers. Doch wissen
ren Nachrichten. »Ein Sohn« sollte seiner wir, daß Johannes der Vorläufer Jesu war.
Frau Elisabeth geboren werden, und er Die Schlußfolgerung ist eindeutig: Jesus
sollte »Johannes« (Wohlwollen oder Gnade ist Gott.
Gottes) genannt werden. Außer, daß er 1,18 Der betagte Zacharias war durch
seinen Eltern »Freude und Wonne« brin- die Unmöglichkeit der Verheißung er-
gen würde, sollte er für »viele« zum staunt. Sowohl er als auch seine Frau
Segen werden. waren zu alt, um noch Eltern zu werden.
1,15 Dieses Kind sollte »groß sein vor Seine schwermütige Frage drückte allen
dem Herrn« (die einzige Größe, die wirk- aufgestauten Zweifel seines Herzens
lich zählt). Erstens sollte er »groß« in sei- aus.
ner persönlichen Absonderung für Gott 1,19 Der Engel antwortet, indem er
sein; er sollte »weder Wein (aus Tauben sich selbst als »Gabriel« (der Starke Gottes)
hergestellt) noch starkes Getränk (aus vorstellt. Obwohl er gemeinhin als Erz-
Getreide hergestellt) . . . trinken«. Zwei- engel gilt, wird er in der Schrift nur als
tens sollte er »groß« in seinem geistlichen einer beschrieben, »der vor Gott steht«,
Erbe sein, er sollte »schon von Mutterlei- der den Menschen Botschaften von Gott
be an mit Heiligem Geist erfüllt werden«. bringt (Dan 8,16; 9,21).
(Das kann nicht bedeuten, daß Johannes 1,20 Weil Zacharias gezweifelt hatte,
von Geburt aus gerettet oder bekehrt sollte er seine Sprache verlieren, bis das
war, sondern daß der Geist Gottes von Kind geboren wäre. Wann immer ein
Anfang an in ihm war, um ihn für seine Gläubiger Zweifel am Wort Gottes hegt,
besondere Aufgabe als Vorläufer Christi verliert er sein Zeugnis und sein Lied.
vorzubereiten.) Unglaube versiegelt die Lippen, und sie
1,16.17 Drittens würde er »groß« sein bleiben verschlossen, bis der Glaube wie-
in seiner Rolle als Herold des Messias. Er derkehrt und in Lobpreis und Zeugnis
würde »viele« aus dem jüdischen Volk neu zum Durchbruch kommt.
»zu dem Herrn . . . bekehren«. Sein 1,21.22 Draußen wartete das Volk
Dienst würde wie der des »Elia«, des ungeduldig. Nomalerweise hätte der
Propheten, sein – das Volk durch Buße in Priester, der räucherte, viel schneller wie-

227
Lukas 1

der erscheinen müssen. Als Zacharias Die volle Menschlichkeit des Mes-
schließlich herauskam, mußte er sich mit sias – »Du wirst schwanger werden und
Gesten verständlich machen. Da erkann- einen Sohn gebären.«
ten sie »daß er im Tempel ein Gesicht Seine Göttlichkeit und seine Sendung
gesehen hatte«. als Erlöser – »Du sollst ihm seinen Na-
1,23 Nachdem seine Dienstpflicht am men Jesus nennen« (das bedeutet Gott ist
Tempel »zu Ende« war, ging der Priester Retter).
heim, noch immer stumm, wie der Engel Seine Größe – »Dieser wird groß
vorausgesagt hatte. sein« in Bezug auf seine Person und sein
1,24.25 Als Elisabeth schwanger wur- Werk.
de, sonderte sie sich zu Hause für »fünf Seine Gottessohnschaft – »Dieser
Monate« ab, und freute sich, daß der wird . . . Sohn des Höchsten genannt
Herr sie von der »Schmach« der Kinder- werden.«
losigkeit befreit hatte. Sein Anrecht auf den Thron Davids –
»Der Herr, Gott, wird ihm den Thron sei-
nes Vaters David geben.« Das war ein
B. Die Ankündigung der Geburt des Zeichen dafür, daß er der Messias war.
Menschensohnes (1,26-38) Sein ewiges und universelles Reich –
1,26.27 »Im sechsten Monat« nach seiner »Er wird über das Haus Jakobs herrschen
Erscheinung bei Zacharias (oder nach- in Ewigkeit, und seines Königtums wird
dem Elisabeth schwanger geworden kein Ende sein.«
war), kam Gabriel wieder – diesmal »zu Die Verse 31 und 32a beziehen sich
einer Jungfrau« namens Maria. Sie lebte offensichtlich auf das erste Kommen
»in einer Stadt von Galiläa, mit Namen Jesu, während die Verse 32b und 33 seine
Nazareth«. Maria war »einem Mann Wiederkunft als König der Könige und
namens Joseph, aus dem Haus Davids, Herrn der Herren beschreiben.
verlobt«. Dieser hatte das Anrecht auf 1,34.35 Marias Frage »Wie wird dies
den Thron Davids von ihm geerbt, auch zugehen?« drückte Verwunderung, je-
wenn er selbst nur Zimmermann war. doch keinen Zweifel aus. Wie konnte sie
Verlobung war damals viel verbindlicher ein Kind bekommen, da sie doch keine
als heute. Sie konnte nur durch eine der Beziehung zu einem Mann hatte? Ob-
Scheidung ähnliche öffentliche Entschei- wohl der Engel das nicht so ausdrückte,
dung gelöst werden. lautet die Antwort »durch Jungfrauenge-
1,28 Der Engel redete Maria als »Be- burt«. »Der Heilige Geist« würde ein
gnadigte« an, eine, die der Herr mit Wunder tun. Er würde »über sie kom-
einem besonderen Vorrecht ausstatten men, und Kraft des Höchsten« würde sie
wollte. Zwei Punkte sollten hier ange- »überschatten«. Gottes Antwort auf
merkt werden: Marias Frage »Wie?« – nach menschli-
1. Der Engel betete Maria nicht an, er chem Ermessen war es einfach unmög-
begrüßte sie einfach. lich – lautet: Durch den Heiligen Geist:
2. Er sagte nicht, daß sie »voll der Gna- »Darum wird auch das Heilige, das
4)
den«, sondern »begnadigt« sei. geboren werden wird, Sohn Gottes ge-
1,29.30 Maria war durch diese Be- nannt werden.« Hier haben wir die still-
grüßung verständlicherweise »bestürzt« schweigende Feststellung der Mensch-
und fragte sich, was sie zu bedeuten ha- werdung. Marias Sohn sollte »Gott im
be. Der Engel besänftigte ihre Angst und Fleisch geoffenbart« sein. Die Sprache
berichtete ihr, daß Gott sie auserwählt vermag nicht, das Geheimnis zu ergrün-
habe, die Mutter des langersehnten Mes- den, das hier verborgen liegt.
sias zu sein. 1,36.37 Der Engel überbrachte dann
1,31-33 Man beachte die wichtigen noch die weitere Nachricht, daß Elisa-
Wahrheiten, die diese Ankündigung ent- beth, Marias »Verwandte«, im sechsten
hält: Monat schwanger war – »bei ihr, die

228
Lukas 1

unfruchtbar genannt wird«. Dieses Wun- Keine Spur von Eifersucht sprach aus
der sollte Maria ermuntern, daß »bei ihrem Herzen, nur Freude, daß das unge-
Gott kein Ding unmöglich« (Elb) ist. borene Kind ihr »Herr« sein würde.
1,38 In wunderschöner Unterwer- Maria war in der Hinsicht »gesegnet
fung gab Maria sich dem Herrn hin, unter den Frauen«, weil ihr das Vorrecht
damit er seine wunderbaren Ziele durch gegeben war, den Messias zur Welt zu
sie erfüllen könnte. Dann »schied der bringen. »Die Frucht« ihres Leibes war
Engel von ihr«. gesegnet, weil er der Herr und Erlöser
ist. Die Bibel spricht von Maria an keiner
C. Maria besucht Elisabeth (1,39-45) Stelle als »Mutter Gottes«. Es ist zwar
1,39.40 Uns wird nicht mitgeteilt, warum wahr, daß sie die Mutter Jesu war, und
Maria sich »aufmachte« und zu dieser Jesus Gott war, aber es ist dennoch eine
Zeit Elisabeth besuchte. Es kann sein, lehrmäßige Absurdität, wenn man da-
daß sie den Skandal meiden wollte, der von spricht, daß Gott eine Mutter habe.
in Nazareth unausweichlich entstehen Jesus existierte schon vor aller Ewigkeit,
würde, wenn ihr Zustand bekannt wür- während Maria ein begrenztes Geschöpf
de. Sollte das so sein, dann war der Emp- war, das an einem bestimmten Datum
fang und die Liebe, die Elisabeth ihr ent- angefangen hatte zu existieren. Sie war
gegenbrachte, doppelt aufmunternd. nur in der Menschwerdung die Mutter
1,41 Sobald Elisabeth die Stimme Jesu.
Marias »hörte, hüpfte das Kind in ihrem Elisabeth berichtet von der scheinbar
Leib« – eine geheimnisvolle, unwillkürli- intuitiven Erregung ihres ungeborenen
che Reaktion des ungeborenen Vorläu- Kindes, als Maria sie begrüßte. Dann ver-
fers auf die Ankunft des ungeborenen sicherte sie Maria, daß ihr Glaube über-
Messias. »Elisabeth wurde mit Heiligem reichlich belohnt werden würde. Marias
Geist erfüllt«, d. h. er übernahm die Kon- Glaube war nicht vergeblich. Ihr Kind
trolle und leitete so ihre Rede und ihre würde wie verheißen geboren werden.
Handlungen.
In Kapitel 1 werden drei Menschen D. Maria erhebt den Herrn (1,46-56)
genannt, die vom Heiligen Geist erfüllt 1,46-49 Das Magnificat ähnelt dem Lied
werden: Johannes der Täufer (V. 15), Elis- Hannas (1. Sam 2,1-10). Zuerst lobte
abeth (V. 41), und Zacharias (V. 67). Maria »den Herrn« für das, was er für sie
Eines der Kennzeichen eines geister- getan hat (V. 46b-49). Man beachte, daß
füllten Lebens ist das Reden in Psalmen, sie sagte (V. 48): »von nun an werden
Lobliedern und geistlichen Gesängen mich glückselig preisen alle Geschlech-
(Eph 5,18.19). Wir sind deshalb nicht ter«. Sie würde keinen Segen weiterge-
überrascht, drei Gesänge in diesem Kapi- ben, sondern selbst gesegnet werden. Sie
tel und zwei weitere im nächsten zu fin- spricht von »Gott, meinem Heiland«.
den. Vier dieser Gesänge sind auch unter Damit können wir die Vorstellung aus-
ihren lateinischen Titeln allgemein be- räumen, daß Maria sündlos geboren ist,
kannt geworden: sonst hätte sie keinen Erlöser nötig.
1. Der Gruß Elisabeths (1,42-45), 1,50-53 Zweitens pries sie den Herrn
2. Das Magnificat (übersetzt: erhebe, für »seine Barmherzigkeit . . . über die,
1,46-55) welche ihn fürchten«. Er erniedrigt die
3. Benedictus (gesegnet, 1,68-79) »Hochmütigen« und »Mächtigen«, und
4. Gloria in Excelsis Deo (Ehre sei Gott in erhöht die »Niedrigen« und »Hungri-
der Höhe, 2,14) gen«.
5. Nunc Dimittis (Nun entläßt du, 1,54.55 Schließlich erhebt sie den
2,29-32). Herrn wegen seiner Treue zu Israel, die
1,42-45 Elisabeth spricht jetzt durch sich darin zeigt, daß er die Verheißungen
besondere Inspiration und begrüßt erfüllt hat, die er »Abraham und seinen
Maria als »die Mutter meines Herrn«. Nachkommen« gegeben hat.

229
Lukas 1

1,56 Nachdem Maria »ungefähr drei vom Kommen Christi als vollendete Tat-
Monate« bei Elisabeth geblieben war, sache, ehe es geschehen war. Der Glaube
»kehrte sie zu ihrem Haus« in Nazareth erlaubte ihm zu sagen, daß Gott seinem
»zurück«. Sie war noch nicht verheiratet. Volk schon »Erlösung geschafft hat«,
Zweifellos wurde sie verdächtigt und in indem er den Erlöser gesandt hat. Jahwe
der Nachbarschaft wurde über sie gere- hatte »ein Horn des Heils aufgerichtet«
det. Doch Gott würde sie rechtfertigen, im Königshause »Davids«. (Ein Horn
sie konnte es sich leisten, zu warten. wurde benutzt, um das Salböl für die Sal-
bung des Königs aufzubewahren, des-
E. Die Geburt des Vorläufers (1,57-66) halb kann es hier bedeuten ein König des
1,57-61 Als sich »für Elisabeth die Zeit Heils aus der königlichen Linie Davids.
erfüllte, . . . gebar sie einen Sohn«. Ihre Auch kann es ein Symbol für Macht sein
Verwandten und Freunde »freuten sich und von daher ein mächtiger Erlöser
mit ihr«. »Am achten Tag«, als man den bedeuten.)
Knaben beschnitt, waren sie der Mei- 1,70.71 Lob Gottes für die Erfüllung der
nung, daß schon beschlossen sei, daß er Prophezeiung. Das Kommen des Messias
nach seinem Vater Zacharias genannt war von den »heiligen Propheten von
werden sollte. Als die Mutter ihnen sag- Ewigkeit her« vorausgesagt. Das würde
te, daß das Kind »Johannes heißen« soll- »Rettung« vor Feinden und Sicherheit
te, waren sie überrascht, weil »niemand« vor den Widersachern bedeuten.
in ihrer »Verwandtschaft . . . diesen Na- 1,72-75 Lob Gottes für die Erfüllung sei-
men trägt«. ner Verheißung. Der Herr hatte einen be-
1,62.63 Um zu einer Entscheidung zu dingungslosen »Bund« der Erlösung mit
kommen, »winkten« sie Zacharias. (Dar- Abraham geschlossen. Diese Verheißung
aus geht hervor, daß er nicht nur stumm, wurde durch das Kommen des Samens
sondern auch taub war.) Er löste das Pro- Abrahams, nämlich des Herrn Jesus Chri-
blem, indem er »ein Täfelchen forderte« stus, erfüllt. Die Erlösung, die er brachte,
und darauf schrieb, daß der Name geschah sowohl äußerlich als auch inner-
Johannes lauten solle. »Und sie wunder- lich. Äußerlich bedeutete sie Befreiung
ten sich alle.« »aus der Hand« der »Feinde«. Innerlich
1,64-66 Doch überraschte es sie noch bedeutete sie Dienst »ohne Furcht, . . . in
mehr, als sie bemerkten, daß Zacharias Heiligkeit und Gerechtigkeit«.
sofort wieder sprechen konnte, als er den G. Campbell Morgan äußert zwei
Namen aufgeschrieben hatte. Die Nach- treffende Gedanken zu diesem Ab-
5)
richt verbreitete sich »auf dem ganzen schnitt. Erstens zeigt er auf, daß ein
Gebirge von Judäa« und die Menschen atemberaubender Zusammenhang zwi-
fragten sich, welche Aufgabe dieses schen dem Namen des Johannes und
ungewöhnliche Kind einmal haben soll- dem Thema dieses Liedes besteht: in bei-
te. Sie wußten, daß das besondere Wohl- den geht es um die Gnade Gottes. Dann
wollen »des Herrn . . . mit ihm« war. findet er Anspielungen auf die Namen
von Johannes, Zacharias und Elisabeth in
F. Die Prophezeiung des Zacharias den Versen 72 und 73.
über Johannes (1, 67-80) – Johannes: verheißene Barmherzigkeit
1,67 Von den Fesseln des Unglaubens (V. 72)
befreit und »erfüllt mit Heiligem Geist« – Zacharias: gedenken (V. 72)
wurde Zacharias nun inspiriert, eine – Elisabeth: der Schwur (V. 73)
besonders schöne Lobeshymne zu dich- Gottes Gnade, durch Johannes ange-
ten, die ausführlich das AT zitiert. kündigt, ist das Ergebnis davon, daß er
1,68.69 Lob Gottes für das, was er getan sich »des Eides seines heiligen Bundes«
hat. Zacharias erkannte, daß die Geburt erinnert.
seines Sohnes Johannes die Nähe des 1,76.77 Die Sendung des Johannes, des
kommenden Messias anzeigte. Er sprach Heroldes des Erlösers. Johannes sollte

230
Lukas 1 und 2

»Prophet des Höchsten« werden und die 2,4-7 Das Dekret des Augustus brach-
Herzen des Volkes auf das Kommen »des te Joseph und Maria genau zur richtigen
Herrn« vorbereiten. Er würde »seinem Zeit nach Bethlehem, damit der Messias
Volk« das »Heil« durch die »Vergebung dort in Erfüllung der Prophezeiung (Mi-
ihrer Sünden« verkündigen. Hier sehen cha 5,1) geboren werden könnte. Bethle-
wir wieder, wie Aussagen über Jahwe im hem war überfüllt, als sie aus Galiläa
AT im NT auf Jesus angewendet werden. ankamen. Der einzige Platz, den sie fan-
Maleachi sagte einen Botschafter voraus, den, war in einem Stall. Das war ein Zei-
der den Weg Jahwes vorbereiten sollte chen, ein Bild dafür, wie die Menschen
(Mal 3,1). Zacharias identifiziert Johan- ihren Erlöser empfangen würden. Wäh-
nes als diesen Botschafter. Wir wissen, rend das Paar aus Nazareth dort war, ge-
daß Johannes kam, um Jesus den Weg bar Maria »ihren erstgeborenen Sohn«.
»zu bereiten«. Die offensichtliche Schluß- Sie »wickelte ihn in Windeln und legte«
folgerung lautet, daß Jesus Jahwe ist. ihn liebevoll »in eine Krippe«.
1,78.79 Das Kommen Christi wird mit So suchte Gott unseren Planeten in
dem Sonnenaufgang verglichen. Seit Jahr- der Person eines hilflosen Säuglings und
hunderten hatte das Land »in Finsternis« in der Armut eines übelriechenden Stal-
gelegen. Nun sollte der Tag durch die les auf. Welch ein Wunder! Darby hat das
»herzliche Barmherzigkeit unseres Gott- sehr schön ausgedrückt:
es« anbrechen. Er würde in der Person Er begann sein Leben in einer Krippe,
Christi erscheinen. Er sollte den Heiden beendete es am Kreuz, und in der Zwi-
leuchten, »die in Finsternis und Todes- schenzeit hatte er nichts, seinen Kopf
6)
schatten« saßen, und Israels Füße »auf hinzulegen.
den Weg des Friedens« richten (s.
Mal 3,20). H. Die Engel und die Hirten (2,8-20)
1,80 Das Kapitel schließt mit der ein- 2,8 Die erste Nachricht über diese einzig-
fachen Feststellung, daß das Kind kör- artige Geburt ging nicht an die religiösen
perlich und geistlich »wuchs« und »bis Führer in Jerusalem, sondern an be-
zum Tag« seines öffentlichen »Auftretens schauliche Hirten in den Hügeln Judäas,
vor« dem Volk »Israel« in der Wüste leb- einfache Menschen, die treu ihren Dienst
te. versahen. James S. Stewart beobachtet:
Ist es nicht außerordentlich bedeutungs-
G. Die Geburt des Menschensohnes voll, daß es ganz gewöhnliche Leute waren,
(2,1-7) die mit ganz gewöhnlichen Aufgaben
2,1-3 »Kaiser Augustus« gab »eine Ver- beschäftigt waren, die als erste die Herrlich-
ordnung« heraus, daß »der ganze Erd- keit des gekommenen Messias erblickten? Es
kreis« sich registrieren lassen sollte, d. h. bedeutet, daß am Ort der Pflicht, so einfach
eine Zählung sollte in seinem gesamten sie auch sein mag, der Ort der Offenbarung
Reich durchgeführt werden. »Diese Ein- Gottes ist. Und es bedeutet zweitens, daß für
schreibung geschah als erste, als Cyreni- die Männer, die sich an die tiefe einfache
us Statthalter von Syrien war.« Viele Jah- Frömmigkeit des Lebens gehalten haben, und
re lang wurde die Genauigkeit des Luka- die sich ihr kindliches Herz bewahrt haben,
sevangeliums angezweifelt, weil hier sich die Pforten des Reiches am leichtesten
7)
dieser Cyrenius genannt wird. Neuere öffnen.
archäologische Funde bestätigen jedoch 2,9-11 »Ein Engel des Herrn« kam zu
die Existenz dieses Stadthalters. Von sei- den Hirten, und ein helles, herrliches
nem Standpunkt aus zeigte der Kaiser Licht »umleuchtete sie«. Als sie vor
seine Macht über die griechisch-römi- Angst zurückwichen, trösteten die Engel
sche Welt. Doch von Gottes Standpunkt sie und brachten ihnen die Botschaft.
aus war dieser heidnische Kaiser nur ein Diese Nachricht bedeutete »große Freu-
Werkzeug, um seine göttlichen Vorhaben de, die für das ganze Volk sein wird«.
zum Ziel zu bringen (s. Spr 21,1). Am gleichen Tag war im nahegelegenen

231
Lukas 2

Bethlehem ein Kind geboren worden. Joseph und das Kind in der Krippe lie-
Dieser Säugling ist »ein Retter . . ., der ist gend«. Sie berichteten ausführlich vom
Christus, Herr«. Hier haben wir Theolo- Besuch der Engel und erstaunten damit
gie im Kleinstformat. Erstens ist er »ein viele, die sich im Stall versammelt hatten.
Retter«, was in seinem Namen Jesus aus- Aber Maria hatte ein tieferes Verständ-
gedrückt wird. Dann ist er »Christus«, nis, für das, was hier vorging. Sie »be-
der Gesalbte Gottes, der Messias Israels. wahrte alle diese Worte und erwog sie in
Und schließlich ist er »Herr«, der fleisch- ihrem« wissenden »Herzen«.
gewordene Gott. 2,20 »Die Hirten kehrten« zu ihren
2,12 Wie sollten die Hirten ihn erken- Herden »zurück«, voller Freude über
nen? Die Engel gaben ihnen ein zweifa- alles, »was sie gehört und gesehen hat-
ches Zeichen. Erstens sollte das Kind »in ten«, und »priesen und lobten Gott«.
Windeln gewickelt« sein. Doch sie hatten
sicher schon öfter Kinder in Windeln I. Die Beschneidung und Darstellung
gesehen. Aber die Engel hatten gerade Jesu im Tempel (2,21-24)
eben angekündigt, daß dieses Kind der 2,21-24 In diesem Abschnitt werden min-
Herr war. Niemand hatte je den Herrn destens drei verschiedene Riten be-
als kleines »Kind . . . in Windeln ge- schrieben:
wickelt« gesehen. Der zweite Teil des 1. Erstens haben wir die Beschneidung
Zeichens besagte, daß er »in einer Krip- Jesu. Sie fand statt, als er »acht Tage«
pe« liegen sollte. Es ist zweifelhaft, ob die alt war. Es war ein Zeichen des Bun-
Hirten je ein Kind an einem solch unge- des, den Gott mit Abraham gemacht
eigneten Platz haben liegen sehen. Diese hatte. An diesem Tag wurde ihm nach
Entehrung war dem Herrn des Lebens jüdischem Brauch der Name gege-
und der Herrlichkeit vorbehalten, als er ben. Der Engel hatte Maria und
auf unsere Welt kam. Es macht uns Joseph befohlen, ihn Jesus zu nennen.
schwindelig, daran zu denken, daß der 2. Die zweite Zeremonie betrifft die
Schöpfer und Erhalter des Universums »Reinigung« Marias. Sie fand vierzig
die Bühne der menschlichen Geschichte Tage nach der Geburt Jesu statt
nicht als erobernder Kriegsheld, sondern (s. 3. Mose 12,1-4). Normalerweise
als kleines Kind betritt. Doch gerade dies mußten die Eltern ein Lamm als
ist die Wahrheit der Fleischwerdung Brandopfer und eine Taube oder Tur-
Christi. teltaube als Sündopfer bringen.
2,13.14 »Plötzlich« bricht sich die auf- Doch wenn jemand arm war, dann
gestaute Freude des Himmels Bahn. Eine durfte man »ein Paar Turteltauben
»Menge der himmlischen Heerscharen« oder zwei junge Tauben« bringen
erschien und lobte Gott. Ihr Lied, das (3. Mose 12,6-8). Die Tatsache, daß
heute unter seinem lateinischen Titel Maria kein Lamm als Opfer brachte,
»Gloria in Excelsis Deo« bekannt ist, sondern nur »zwei junge Tauben« ist
nimmt die Bedeutung der Geburt dieses ein Zeichen für die Armut, in die
Kindes auf. Jesu Leben und Dienst wür- Jesus hineingeboren wurde.
den »Gott in der Höhe Herrlichkeit« 3. Das dritte Ritual war die Darstellung
bringen, außerdem »Friede auf Erden in Jesu im Tempel in Jerusalem.
den Menschen seines Wohlgefallens«, Ursprünglich hatte Gott angeordnet,
oder »und den Menschen ein Wohlgefal- daß die erstgeborenen Söhne ihm
8)
len« (LU 1912). Die Menschen »seines gehören sollten, sie sollten die Prie-
Wohlgefallens« sind diejenigen, die ihre ster sein (2. Mose 13,2). Später son-
Sünden bereuen und Jesus Christus als derte er den Stamm Levi aus, damit
ihren Herrn und Erlöser annehmen. diese als Priester dienten (2. Mose
2,15-19 Sobald die Engel wieder ver- 28,1.2). Dann wurde den Eltern
schwunden waren, eilten die Hirten nach erlaubt, ihren erstgeborenen Sohn für
Bethlehem und »fanden Maria und fünf Schekel »zurückzukaufen« oder

232
Lukas 2

zu »erlösen«. Das geschah, als sie ihn phetisch zu Maria. Die Prophezeiung
»dem Herrn darstellten«. bestand aus vier Teilen:
1. Dieses Kind war »gesetzt zum Fall
J. Simeon erlebt die Ankunft des und Aufstehen vieler in Israel«. Die
Messias (2,25-35) Arroganten, die Unbußfertigen und
2,25-26 Simeon war einer aus dem gläu- die Ungläubigen würden fallen und
bigen Überrest der Juden, der auf das bestraft werden. Wer sich jedoch
Kommen des Messias wartete. »Ihm war demütigte, Buße für seine Sünden tat
von dem Heiligen Geist eine göttliche und den Herrn Jesus annahm, der
Zusage zuteil geworden, daß er« nicht würde »aufstehen« und gesegnet
sterben »solle, ehe er den Christus des werden.
Herrn« oder seinen Gesalbten »gesehen 2. Dieses Kind war »gesetzt . . . zu ei-
habe«. »Der Herr zieht ins Vertrauen, die nem Zeichen, dem widersprochen
ihn fürchten« (Ps 25,14). Es gibt eine wird«. Mit der Person Christi war
geheimnisvolle Weitergabe göttlichen eine besondere Bedeutung verbun-
Wissens an diejenigen, die in stiller, den. Allein seine Gegenwart auf der
beschaulicher Gemeinschaft mit dem Erde verwarf die Unfrömmigkeit und
Herrn leben. Sünde dieser Welt, und brachte so die
2,27.28 Es geschah, daß er genau an bittere Feindschaft des menschlichen
dem Tag in den Tempelbezirk kam, an Herzens zum Vorschein.
dem Jesus von seinen Eltern Gott darge- 3. »Aber auch deine eigene Seele wird
bracht wurde. Simeon wurde auf über- ein Schwert durchdringen.« Simeon
natürliche Weise unterrichtet, daß dieses sagte hier den Kummer voraus, der
Kind der verheißene Messias sei. Er das Herz Marias erfüllen würde,
nahm das Kind »auf seine Arme« und wenn ihr Sohn am Kreuz sterben
sprach die wunderschönen Worte, die würde (Joh 19,25).
wir als das »Nunc Dimittis« kennen (Nun 4. ». . . damit die Überlegungen aus vie-
entläßt du). len Herzen offenbar werden.« Die Art
2,29-32 Die Aussage dieses Liedes und Weise, in der ein Mensch auf den
lautet folgendermaßen: »Nun, Herr, ent- Erlöser reagiert, ist ein Test seiner
läßt du mich in Frieden. Ich habe dein verborgenen Motive und inneren
Heil in der Person dieses Kindes gese- Haltung.
hen, den verheißenen Erlöser, wie du mir So beinhaltet das Lied Simeons den
versprochen hast. Du hast ihn bestimmt, Gedanken an den Prüfstein, den Stein
die Erlösung für alle Menschen zu erwir- des Anstoßes, den Stolperstein und an
ken. Er wird ein Licht zur Erleuchtung das Schwert.
der Nationen sein (sein erstes Kommen)
und kommt, um in Herrlichkeit über dei- K. Die Prophetin Hanna (2,36-39)
nem Volk Israel zu scheinen (seine Wie- 2,36.37 »Hanna«, die »Prophetin«, war
derkunft).« Simeon war bereit zu ster- wie Simeon Teil des treuen Überrestes
ben, nachdem er dem Herrn Jesus begeg- Israels, der auf das Kommen des Messias
net war. Dem Tod war der Stachel wartete. Sie stammte »aus dem Stamm
genommen. Asser« (das bedeutet: glücklich, glückse-
2,33 Lukas achtet sorgfältig auf die lig), aus einem der zehn Stämme, die von
Lehre von der Jungfrauengeburt, als er den Assyrern 721 v. Chr. in die Gefan-
schreibt: »Joseph und seine Mutter«, genschaft geführt worden waren. Hanna
wie die Lesart in der Tradition der engli- muß über hundert Jahre alt gewesen
schen King-James-Übersetzung und im sein, da sie »sieben Jahre« verheiratet
9)
Mehrheitstext lautet. und dann »vierundachtzig Jahre« ver-
2,34.35 Nach diesem anfänglichen witwet war. Als Prophetin empfing sie
Lobesausbruch über den Messias segnete zweifellos göttliche Offenbarungen und
Simeon die Eltern und sprach dann pro- »diente« als Sprachrohr Gottes. Sie war

233
Lukas 2

treu beim Besuch der öffentlichen Got- Meinung, daß Jesus sich mit einigen
tesdienste im Tempel, und betete ihn Gleichaltrigen für die Reise zusammen-
»Nacht und Tag mit Fasten und Flehen« getan hatte.
an. Ihr Alter hielt sie nicht vom Dienst Ehe wir Joseph und Maria verurtei-
am Herrn ab. len, sollten wir uns erinnern, wie leicht es
2,38 Gerade als Jesus dem Herrn dar- für uns ist, »eine Tagereise weit« zu rei-
gebracht wurde und Simeon mit Maria sen, und zu »meinen, er sei unter der Rei-
sprach, kam Hanna zu dieser kleinen segesellschaft«, wenn wir in Wirklichkeit
Menschengruppe. Sie »lobte Gott« für den Kontakt durch eine Sünde, die wir
den verheißenen Erlöser und »redete nicht bekannt haben, verloren haben.
von« Jesus zu den Treuen in Jerusalem, Um den Kontakt mit ihm wiederherzu-
»die auf die Erlösung . . . warteten«. stellen, müssen wir an den Ort zurück-
2,39 Nachdem Joseph und Maria die kehren, an dem die Gemeinschaft gestört
Reinigungsriten und die Darbringung wurde, und dann die Sünde bekennen
vollendet hatten, »kehrten sie nach und loslassen.
Galiläa zurück« in ihre Heimatstadt 2,45-47 Als die verzweifelten Eltern
Nazareth. Lukas läßt jede Erwähnung »nach Jerusalem« zurückkamen, fanden
der Weisen aus dem Morgenland und die sie Jesus »im Tempel . . ., wie er inmitten
Flucht nach Ägypten aus. der Lehrer saß und ihnen zuhörte und sie
befragte«. Hier wird nicht im geringsten
L. Die Kindheit Jesu (2,40-52) angedeutet, daß Jesus wie ein ungezoge-
2,40 Das normale Wachstum des »Kind- nes Kind gehandelt hat, das seine Lehrer
leins« Jesus wird so beschrieben: Leiblich herausfordert. Sondern er nahm seinen
»wuchs« er »und ward stark im Geist« Platz als normales Kind ein und lernte in
10)
(LU 1912). Er durchlief alle Stufen der Demut und Stille von seinen Lehrern.
leiblichen Entwicklung, lernte laufen, Und doch mußte er im Laufe des Unter-
sprechen, spielen und arbeiten. Deshalb richtes einiges Außergewöhnliche gesagt
kann er mit uns in jeder Entwicklungs- haben, weil die Menschen »außer sich
stufe mitfühlen. Geistig war er »erfüllt gerieten über sein Verständnis und seine
mit Weisheit«. Er lernte nicht nur lesen Antworten«.
und schreiben und alles andere Wissen 2,48 Sogar seine Eltern »wurden be-
dieser Zeit kennen, sondern wuchs in der stürzt«, als sie Jesus so einsichtig an der
»Weisheit«, das heißt, in der praktischen Diskussion mit Menschen teilnehmen
Anwendung seines Wissens auf seine sahen, die so viel älter und erfahrener als
Lebensprobleme. Geistlich »war Gottes er waren. Seine Mutter drückte nun ihre
Gnade auf ihm«. Er lebte in Gemein- angestaute Angst und Sorge durch einen
schaft mit Gott und in Abhängigkeit vom Tadel aus. Wußte er denn nicht, daß sie
Heiligen Geist. Er las die Bibel, verbrach- sich Sorgen um ihn gemacht hatten?
te Zeit im Gebet und freute sich, den Wil- 2,49 Die Antwort des Herrn (seine
len des Vaters zu tun. ersten uns überlieferten Worte) zeigt, daß
2,41-44 Ein jüdischer Junge wird mit er genau wußte, daß er der Sohn Gottes
zwölf Jahren zum »Sohn des Gesetzes«. war und welche Aufgabe er als solcher
Als unser Herr »zwölf Jahre alt war«, hatte. »Was ist es, daß ihr mich gesucht
machte seine Familie sich auf ihre jährli- habt? Wußtet ihr nicht, daß ich in dem
che Pilgerreise »nach Jerusalem« zum sein muß, was meines Vaters ist?« Sie hat-
»Passahfest«. Doch als sie fortgingen, um te gesagt: »Dein Vater und ich.« Er sagte:
nach Galiläa zurückzukehren, bemerk- »Was meines Vaters ist.«
ten sie nicht, daß Jesus nicht bei ihnen 2,50 Zu dieser Zeit »verstanden
war. Das mag uns seltsam erscheinen, sie . . . nicht«, was er mit seiner knappen
wenn wir nicht wissen, daß die Familie Bemerkung gemeint hatte. Es war recht
wahrscheinlich mit einer recht großen ungewöhnlich, daß ein Zwölfjähriger so
Karawane zog. Sie waren sicherlich der redete!

234
Lukas 2 und 3

2,51 Jedenfalls waren sie wieder zu- das Volk Israel in Unterdrückung gehal-
sammen und konnten nach Nazareth zu- ten wurde. Die Tatsache, daß es zwei
rückkehren. Die sittliche Größe Jesu zeigt Hohepriester in Israel gab, zeigt, daß das
sich in den Worten: »Er war ihnen unter- Volk sowohl auf religiösem als auch auf
tan.« Obwohl er der Schöpfer des Uni- politischem Gebiet in Unordnung gera-
versums war, nahm er doch seinen Platz ten war. Obwohl sie in den Augen der
als gehorsames Kind dieser einfachen Welt hoch angesehen waren, waren sie in
jüdischen Familie ein. Doch die ganze Gottes Augen böse, skrupellose Männer.
Zeit »bewahrte« Maria »alle diese Worte Deshalb ging Gott, als er zu den Men-
in ihrem Herzen«. schen sprechen wollte, am Palast und der
2,52 Auch hier wird wieder die echte Synagoge vorbei und sandte seine Bot-
Menschlichkeit und die normale Ent- schaft »zu Johannes, dem Sohn des
wicklung unseres Herrn gezeigt: Zacharias, in der Wüste«.
1. Seine geistige Entwicklung – »nahm 3,3 Johannes reiste sofort »in die
zu an Weisheit«. ganze Landschaft am Jordan«, wahr-
2. Seine leibliche Entwicklung – »nahm scheinlich in die Nähe von Jericho. Dort
zu an . . . Alter«. rief er das Volk Israel zur Buße »zur Ver-
3. Seine geistliche Entwicklung – gebung der Sünden« auf, um es dadurch
»nahm zu an . . . Gunst bei Gott«. für das Kommen des Messias vorzube-
4. Seine soziale Entwicklung – »nahm reiten. Er rief die Menschen auch auf,
zu an . . . Gunst bei . . . Menschen«. sich als äußeres Zeichen ihrer echten
Er war in jeder Hinsicht seiner Ent- Buße taufen zu lassen. Johannes war ein
wicklung vollkommen. Hier übergeht echter Prophet, ein personifiziertes Ge-
nun Lukas stillschweigend 18 Jahre in wissen des Volkes, indem er gegen die
seiner Erzählung, die der Herr Jesus in Sünde predigte und zu einer geistlichen
Nazareth als Sohn des Zimmermanns Erneuerung aufrief.
verbrachte. Diese Jahre lehren uns die 3,4 Sein Dienst geschah also in Erfül-
Bedeutung von Vorbereitung und Schu- lung der Prophezeiung in Jesaja 40,3-5.
lung, die Notwendigkeit der Geduld und Er war die »Stimme eines Rufenden in
den Wert der gewöhnlichen Arbeit. Sie der Wüste«. Geistlich gesprochen war
warnen uns vor der Versuchung, nach Israel zu dieser Zeit eine »Wüste«. Als
der Wiedergeburt sogleich in einen Volk war es freudlos und brachte Gott
öffentlichen Dienst zu gehen. Diejenigen, keine Frucht mehr. Um für das Kommen
die keine normale geistliche Kindheit des Herrn vorbereitet zu sein, mußte das
und Jugend durchmachen, laden sich für Volk eine sittliche Veränderung durch-
ihr späteres Leben und Zeugnis das machen. Wenn ein König in diesen Tagen
Scheitern geradezu ein. seinen Besuch abstattete, wurden überall
sorgfältig die Straßen vorbereitet, indem
III. Die Vorbereitung des Menschen- man sie glättete, damit seine Ankunft so
sohnes auf den Dienst (3,1 – 4,30) einfach wie möglich sein konnte. Dazu
rief Johannes das Volk auf, doch ging es
A. Die Vorbereitung durch seinen Vor- nicht darum, irdische Straßen zu reparie-
läufer (3,1-20) ren, sondern das eigene Herz für die
3,1.2 Als Historiker bezeichnet Lukas das Aufnahme Jesu vorzubereiten.
»Jahr«, in dem Johannes zu predigen 3,5 Die Auswirkungen des Kommens
begann, indem er die politischen und Christi werden wie folgt beschrieben:
religiösen Führer nennt, die zu der Zeit »Jedes Tal wird ausgefüllt« – wer
an der Macht waren – ein Kaiser (Cae- wirklich Buße tat und demütig war, soll-
sar), ein »Statthalter«, drei mit dem Titel te gerettet und befriedigt werden.
»Vierfürst« und zwei Hohepriester. Die »Jeder Berg und Hügel« wird »er-
politischen Machthaber, die erwähnt niedrigt werden« – Menschen wie die
werden, zeigen, mit welch eisernem Griff Schriftgelehrten und Pharisäer, die hoch-

235
Lukas 3

näsig und arrogant waren, sollten »Otternbrut«, »kommender Zorn«, »Axt«,


gedemütigt werden. »abhauen« und »ins Feuer werfen«. Die Pro-
»Das Krumme wird zum geraden pheten des Herrn redeten niemals sanft und
Weg« – der Charakter der Unehrlichen, säuselnd: sie stellten hohe moralische An-
wie mancher Steuereinnehmer, sollte sprüche, und oft schlugen ihre Worte auf das
geradlinig gemacht werden. Volk ein, wie die Streitäxte unserer Vorfahren
»Die holprigen« sollten »zu ebenen auf die Helme ihrer Feinde (aus dem eng-
Wegen werden« – Soldaten und andere lischen Material des Bibellesebundes).
mit einem rauhen, derben Charakter soll- 3,10 Die Menschen wurden ihrer Sün-
ten gezähmt und gesittet werden. den überführt und »fragten« Johannes
3,6 Das endgültige Resultat sollte nach praktischen Vorschlägen, wie sie
sein, daß »alles Fleisch« – sowohl Juden die Echtheit ihrer Buße zeigen sollten.
als auch Heiden – »das Heil Gottes 3,11-14 In den Versen 11-14 nannte er
sehen« sollten. Bei seinem ersten Kom- ihnen im einzelnen Möglichkeiten, wie
men ging das Angebot der Errettung an sie ihre Ehrlichkeit beweisen konnten. Im
alle Menschen, wenn ihn auch nicht alle allgemeinen sollten sie ihre Nächsten wie
annahmen. Wenn er wiederkommt, um sich selbst lieben, indem sie Kleidung
zu regieren, dann wird dieser Vers voll- und »Speise« mit den Armen teilen soll-
kommen erfüllt werden. Dann wird ganz ten.
Israel gerettet werden und auch die Hei- Soweit es die »Zöllner« betraf, sollten
den werden an den Segnungen seines sie in allen ihren Handlungen äußerst
herrlichen Reiches teilhaben. genau und ehrlich sein. Weil sie als Klas-
3,7 Als »die Volksmengen . . . hinaus- se für ihre Betrügereien bekannt waren,
gingen«, um von Johannes getauft zu wäre das ein besonderer Beweis für ihre
werden, erkannte er, daß nicht alle ehr- echte Bekehrung.
lich waren. Einige waren Heuchler, die Und schließlich sollten die Soldaten
weder Hunger noch Durst nach Gerech- im aktiven Dienst drei Sünden meiden,
tigkeit hatten. Diese bezeichnete Johan- die es viel unter Soldaten gibt – Erpres-
nes als »Otternbrut«. Die Frage: »Wer hat sung, Gewalttätigkeit und Unzufrieden-
euch gewiesen, dem kommenden Zorn heit. Es ist wichtig zu erkennen, daß die
zu entfliehen?« bedeutet, daß Johannes Menschen nicht dadurch gerettet wur-
selbst es nicht gewesen ist. Seine Bot- den, daß sie diese Dinge taten. Das war
schaft war an die gerichtet, die gewillt nur ein äußeres Zeichen dafür, daß ihre
waren, ihre Sünden zu bekennen. Herzen vor Gott gerecht waren.
3,8 Wenn sie es wirklich ernst mit Gott 3,15.16a Die Selbsterkenntnis des
meinen würden, dann sollten sie zeigen, Johannes war bemerkenswert. Wenig-
daß sie wirklich Buße getan hatten, stens für eine Zeit hätte er als Messias
indem sie ein verändertes Leben führten. gelten und sich so eine große Gefolg-
Echte Buße bringt »Früchte«. Sie sollten schaft schaffen können. Doch statt des-
nicht meinen, daß ihre Abstammung von sen stellte er einen für ihn sehr ungünsti-
»Abraham« ausreiche; Verwandtschaft gen Vergleich mit Christus an. Er erklär-
mit gottesfürchtigen Menschen macht te, daß seine Taufe nur äußerlich und
einen selbst noch nicht fromm. leiblich war, während die des Christus
3,9 »Die Axt«, die »an die Wurzel der innerlich und geistlich war. Er stellte fest,
Bäume gelegt« ist, ist ein bildlicher Aus- daß er »nicht würdig« sei, dem Messias
druck und bedeutet, daß das Kommen »den Riemen seiner Sandalen zu lösen«.
Christi die Echtheit der Buße der Men- 3,16b.17 Die Taufe Christi sollte mit
schen erproben würde. Diejenigen, die »Heiligem Geist und Feuer« geschehen.
nicht die Früchte der Buße brächten, Er würde einen doppelten Dienst tun.
würden verdammt werden. Erstens würde er die Gläubigen »mit
Die Worte und Ausdrücke des Johannes Heiligem Geist taufen« – eine Verhei-
kamen aus seinem Munde wie Schwerter: ßung, die am Pfingsttag erfüllt werden

236
Lukas 3

sollte, an dem alle Gläubigen in den Leib des Lukas überein, Jesus als den Men-
Christi getauft werden sollten. Doch schensohn darzustellen, der immer
zweitens sollte er »mit Feuer taufen«. von Gott dem Vater abhängig ist. Das
Aus Vers 17 scheint deutlich zu wer- Gebetsleben unseres Herrn ist eines
den, daß die Taufe »mit Feuer« eine der Hauptthemen dieses Evangeli-
Gerichtstaufe ist. Hier wird der Herr als ums. Er betete hier zu Beginn seines
Drescher dargestellt, der das Korn rei- öffentlichen Wirkens. Er betete, als er
nigt. Er wirft das Korn in die Luft, und bekannt wurde, und viele Menschen
»die Spreu« wird vom Wind an den Rand ihm nachfolgten (Kap. 5,16). Er ver-
der Tenne geweht. Dann wird sie zusam- brachte eine ganze Nacht im Gebet,
mengekehrt und verbrannt. ehe er die zwölf Jünger auswählte
Als Johannes vor einer gemischten (6,12). Er betete vor den Ereignissen
Volksmenge sprach – er sprach vor Gläu- in Caesarea Philippi, die den Höhe-
bigen und Ungläubigen – erwähnte er punkt seines Lehrdienstes darstellten
sowohl die Taufe mit dem Geist als auch (9,18). Er betete auf dem Berg der Ver-
die Taufe mit Feuer (Matt 3,11 und hier). klärung (9,28). Er betete in Anwesen-
Als er jedoch nur zu Gläubigen sprach heit seiner Jünger und begann damit
(Mk 1,5) ließ er die Taufe mit Feuer aus eine Predigt über das Gebet (11,1). Er
(Mk 1,8). Kein echter Gläubiger wird je betete für den abgefallenen Petrus
die Feuertaufe erleben müssen. (22,32) und er betete im Garten Geth-
3,18-20 Lukas ist nun bereit, seine semane (22,41.44).
Aufmerksamkeit von Johannes zu Jesus 3. Die Taufe Jesu ist eines von drei
zu wenden. Deshalb faßt er in diesen Ver- Ereignissen, bei denen Gott in Verbin-
sen den restlichen Dienst des Johannes dung mit dem Dienst seines eigenen
zusammen und nimmt uns schon in die geliebten Sohnes »vom Himmel« her
Zeit seiner Gefangenschaft unter »Hero- sprach. Dreißig Jahre lang hatte Gott
des« mit. Die Gefangennahme des Johan- das makellose Leben in Nazareth
nes fand in Wirklichkeit jedoch erst acht- untersucht, und hier lautet sein
zehn Monate später statt. Johannes hatte Urteil: »Ich habe Wohlgefallen an dir
Herodes dafür »zurechtgewiesen«, daß gefunden.« Die beiden anderen Male,
er in einer ehebrecherischen Beziehung bei denen der Vater öffentlich vom
mit seiner Schwägerin lebte. »Herodes« Himmel sprach, waren: Als Petrus
krönte seine Untaten dadurch, »daß er vorschlug, auf dem Berg der Ver-
Johannes ins Gefängnis einschloß«. klärung drei Hütten zu bauen (Lk
9,35) und als die Griechen zu Philip-
B. Vorbereitung durch die Taufe pus kamen und Jesus sehen wollten
(3,21.22) (Joh 12,20-28).
3,21.22 Johannes wird nun unserer Auf-
merksamkeit entzogen, dafür kommt der C. Vorbereitung durch Teilhabe am
Herr Jesus mehr ins Blickfeld. Er beginnt Menschsein (3,23-38)
sein öffentliches Wirken im Alter von 3,23-38 Ehe Lukas über das öffentliche
etwa dreißig Jahren mit der Taufe im Jor- Wirken unseres Herrn berichtet, unter-
dan. bricht er, um uns Jesu Stammbaum zu
Es gibt einige interessante Punkte in nennen. Wenn Jesus wirklich Mensch
diesem Bericht über die Taufe Jesu: war, dann mußte er von »Adam« ab-
1. Alle drei Personen der Dreieinigkeit stammen. Dieser Stammbaum beweist,
sind anwesend: »Jesus« (V. 21), der daß es so war. Man glaubt allgemein, daß
»Heilige Geist« (V. 22a) und der Vater dieser Stammbaum die Linie über Maria
(V. 22b). wiedergibt. Man beachte, daß Vers 23
2. Nur Lukas berichtet von der Tatsa- nicht sagt, daß Jesus ein Sohn Josephs
che, daß Jesus bei seiner Taufe »bete- war, sondern er »war, wie man meinte,
te« (V. 21). Das stimmt mit dem Ziel ein Sohn des Joseph«. Wenn diese

237
Lukas 3 und 4

Ansicht richtig ist, dann war »Eli« (V. 23) Nachkomme dieses bösen Königs je
der Schwiegervater Josephs und der herrschen würde (Jer 22,30).
Vater Marias. Als leiblicher Sohn Marias erfüllte
Die Ausleger glauben aus folgenden Jesus den Teil des Bundes Gottes mit
Gründen allgemein, daß dieser Stamm- David, in dem er ihm verhieß, daß
baum Jesu die Linie über Maria wieder- sein Same für immer auf dem Thron
gibt: sitzen würde. Und dadurch, daß
1. Der einfachste Grund lautet, daß die Jesus über Nathan von David ab-
Familienlinie Josephs im Matthäus- stammte, stand er nicht unter dem
evangelium (Matth 1,2-16) wiederge- Fluch, der über Konja ausgesprochen
geben ist. worden war.
2. In den ersten Kapiteln des Lukase- 2. »Adam« wird als »des Gottes«
vangeliums ist Maria wichtiger als bezeichnet (V. 38). Damit ist einfach
Josef, während es im Matthäusevan- gemeint, daß er von Gott geschaffen
gelium umgekehrt ist. wurde.
3. Die Namen von Frauen wurden 3. Es scheint offensichtlich zu sein, daß
normalerweise nicht bei den Juden die messianische Linie mit Jesus
als Teil eines Stammbaums angege- endete. Niemand anders kann je einen
ben. Das würde erklären, warum legalen Anspruch auf den Thron
Maria hier nicht mit Namen genannt Davids erheben.
ist.
4. In Matthäus 1,16 heißt es ausdrück- D. Vorbereitung durch Erprobung
lich, daß Jakob Joseph gezeugt hat. (4,1-13)
Hier in Lukas heißt es nicht, daß Eli 4,1 Es gab keinen Zeitpunkt im Leben
Joseph gezeugt habe, sondern daß unseres Herrn, zu dem er nicht voll des
Joseph der Sohn Elis ist. Sohn könnte Heiligen Geistes gewesen wäre, doch
hier Schwiegersohn bedeuten. wird diese Tatsache hier im Zusammen-
5. In der Sprache der Stammbäume hang mit seiner Versuchung noch einmal
erscheint der definitive Artikel (tou) besonders erwähnt. »Voll Heiligen Gei-
im Genitiv (des) vor jedem Namen im stes« sein bedeutet, daß man ihm voll-
Stammbaum außer einem, nämlich kommen hingegeben ist, und jedem Wort
dem Josephs. Diese Ausnahme be- Gottes vollkommen gehorcht. Wer mit
deutet wahrscheinlich, daß Joseph dem Heiligen Geist erfüllt ist, duldet in
nur deshalb hier erscheint, weil er mit seinem Leben keine bewußte Sünde und
Maria verheiratet war. ist frei vom Selbst, außerdem wohnt das
Obwohl es nicht notwendig ist, die- Wort Gottes reichlich in ihm. Als Jesus
sen Stammbaum in allen Einzelheiten zu »vom Jordan zurückkehrte«, wo er
studieren, ist es hilfreich, einige wichtige getauft worden war, wurde er »durch
Punkte festzuhalten: den Geist« in die Wüste geführt – wahr-
1. Diese Liste zeigt, daß Maria über scheinlich in die Wüste Judäas an der
»Nathan« von »David« abstammt Westküste des Toten Meeres.
(V. 31). Im Matthäusevangelium erbt 4,2.3 Hier wurde er »vierzig Tage«
Jesus die rechtliche Thronfolge durch lang »von dem Teufel versucht« – vierzig
Salomo. Als rechtlicher Sohn Josephs Tage, in denen der Herr »nichts aß«. Am
erfüllte der Herr diesen Teil des Bun- Ende der vierzig Tage kam die dreifache
des Gottes mit David, daß der Thron Versuchung, die wir besser kennen. Die
ihm immer gehören würde. Doch drei Versuchungen fanden in Wirklich-
Jesus konnte nicht der leibliche Sohn keit an drei verschiedenen Orten statt –
Josephs werden, ohne unter den in der Wüste, auf einem Berg und im
Fluch Gottes über Konja (auch unter Tempel in Jerusalem. Die wahre Mensch-
dem Namen Jojachin bekannt) zu lichkeit Jesu wird mit den Worten »ihn
kommen, der bestimmte, daß kein hungerte« ausgedrückt. Das war auch

238
Lukas 4

das Ziel der ersten Versuchung. Satan nur Gott allein »anbeten« und ihm »die-
flüsterte dem Herrn ein, er solle seine nen« sollte.
göttliche Macht benutzen, um seinen 4,9-11 In der dritten Versuchung
leiblichen Hunger zu befriedigen. Das nahm Satan Jesus mit »nach Jerusa-
Hinterhältige an dieser Verführung war, lem . . . auf die Zinne des Tempels« und
daß die Tat an sich völlig gerechtfertigt wollte ihn dazu bringen, sich hinunter zu
gewesen wäre. Doch wäre es eine Sünde werfen. Hatte nicht Gott selbst in Psalm
gewesen, wenn Jesus es im Gehorsam 91,11.12 verheißen, daß er den Messias
gegen Satan getan hätte. Er durfte nur in bewahren würde? Vielleicht wollte Satan
Übereinstimmung mit dem Willen seines Jesus dazu verführen, sich als Messias zu
Vaters handeln. zeigen, indem er diese Wunder voll-
4,4 Jesus widerstand der Versuchung, brächte. Maleachi hatte vorausgesagt,
indem er aus der Schrift zitierte (5. Mose daß der Messias plötzlich zu seinem
8,3). Wichtiger als die Befriedigung leib- Tempel kommen sollte (Mal 3,1). Hier
licher Bedürfnisse ist der Gehorsam war nun Jesus die Möglichkeit gegeben,
gegen das Wort Gottes. Er diskutierte Ruhm und Berühmtheit als der verheiße-
nicht mit Satan. Darby sagt: »Eine einzi- ne Befreier zu erlangen, ohne nach Gol-
ge Zeile bringt Satan zum Schweigen, gatha zu gehen.
wenn sie in der Macht des Heiligen Gei- 4,12 Zum dritten Mal widerstand
stes zitiert wird. Das ganze Geheimnis Jesus der Versuchung, indem er die Bibel
der Macht in Anfechtung ist die richtige zitierte. 5. Mose 6,16 verbietet, Gott auf
Anwendung des Wortes Gottes.« die Probe zu stellen.
4,5-7 In der zweiten Versuchung 4,13 Durch das Schwert des Geistes
»zeigte« Satan Jesus »in einem Augen- abgewehrt verließ »der Teufel« Jesus »für
blick alle Reiche des Erdkreises«. Satan eine Zeit«. Versuchungen kommen meist
braucht nicht lange, um alles zu zeigen, gehäuft, nicht jedoch im ständigen Fluß.
was er anzubieten hat. Es war nicht die Einige Punkte sollten noch im
Welt selbst, sondern die »Reiche« dieser Zusammenhang mit der Versuchung
Welt, die er anbot. In gewissem Sinne hat erwähnt werden:
Satan die »Macht« über die Reiche dieser 1. Die Reihenfolge bei Lukas unter-
Welt. Weil der Mensch in Sünde gefallen scheidet sich von der bei Matthäus.
ist, ist Satan zum »Fürst dieser Welt« (Joh Die zweite und die dritte Versuchung
12,31; 14,30; 16,11), »Gott dieser Welt« sind vertauscht, der Grund dafür ist
(2. Kor 4,4) und zum »Fürsten der Macht nicht bekannt.
der Luft« (Eph 2,2) geworden. Gott hat 2. In allen drei Fällen war das Ziel an
bestimmt, daß »das Reich dieser Welt« sich nicht schlecht, sondern das Mit-
einst »das Reich der Welt unseres Herrn tel zur Erreichung dieses Zieles. Es ist
und seines Christus« wird (Offb 11,15). immer falsch, Satan zu gehorchen
So bot Satan Jesus nur das an, was er und ihn oder ein anderes Geschöpf
auch ohne ihn erhalten sollte. anzubeten. Es ist verkehrt, Gott zu
Doch es gab für ihn keine Abkürzung versuchen.
zum Thron. Zuerst kam für ihn das 3. Die erste Versuchung betraf den Leib,
Kreuz. Nach dem Ratschluß Gottes muß- die zweite die Seele, die dritte den
te der Herr Jesus leiden, ehe er in seine Geist. Sie wandten sich jeweils an
Herrlichkeit eingehen konnte. Er konnte die Lust des Fleisches, die Lust der
nicht ein legitimes Ziel verfolgen und Augen und den Hochmut des Lebens.
dabei illegitime Mittel verwenden. Unter 4. Die drei Versuchungen drehen sich
keinerlei Umständen würde Jesus Satan um die drei stärksten Triebe im
»anbeten«, ganz gleich, welchen Preis er menschlichen Leben – leiblicher Hun-
für seine Weigerung zahlen mußte. ger, Streben nach Macht und Besitz
4,8 Deshalb zitiert der Herr 5. Mose und Streben nach öffentlicher Aner-
6,13, um zu zeigen, daß er als Mensch kennung. Wie oft werden Jünger ver-

239
Lukas 4

sucht, einen Weg der Bequemlichkeit zu beginnen, verbreitete sich sein Ruhm
und Behaglichkeit zu gehen, in der »durch die ganze Umgegend«. Als er »in
Welt Berühmtheit zu erlangen und ihren Synagogen lehrte«, war er überall
eine hohe Position in der Kirche zu anerkannt.
erstreben. 4,16-21 In »Nazareth«, in der Stadt, in
5. In allen drei Versuchungen benutzte der er seine Kindheit verbracht hatte,
Satan religiöse Sprache und ver- ging Jesus »nach seiner Gewohnheit am
schleierte seine Versuchungen mit Sabbattag in die Synagoge«, d. h. am
einem Gewand äußerlicher Anstän- Samstag. Es gibt noch zwei andere Dinge,
digkeit. Er zitierte sogar die Schrift (V. die Jesus regelmäßig tat. Er betete regel-
10.11). mäßig (Lk 22,39) und es war seine Ge-
Wie James Steward so deutlich her- wohnheit, andere zu lehren (Mk 10,1). Bei
ausstellt: einem Besuch der »Synagoge« erhob er
Das Studium der Versuchungserzählung sich, um aus dem AT »vorzulesen«. Der
erhellt zwei wichtige Punkte. Auf der einen Synagogendiener reichte ihm die Schrift-
Seite beweist sie, daß Versuchung noch nicht rolle mit den Prophezeiungen Jesajas. Der
Sünde ist. Auf der anderen Seite ist die Herr rollte die Rolle bis zu der Stelle auf,
Erzählung eine Illustration des großen Aus- die uns heute als Jesaja 61 bekannt ist,
spruchs, den ein Jünger später niederschrei- und las Vers 1 und die erste Hälfte von
ben sollte: »Worin er selbst gelitten hat, als er Vers 2. Dieser Abschnitt ist schon immer
versucht worden ist, kann er denen helfen, als eine Beschreibung des Dienstes des
11)
die versucht werden« (Hebräer 2,18). Messias gedeutet worden. Als Jesus sag-
Es wird manchmal behauptet, daß te: »Heute ist diese Schrift vor euren
die Versuchung sinnlos gewesen wäre, Ohren erfüllt«, sagte er auf die deutlich-
wenn Jesus nicht hätte sündigen können. ste nur mögliche Art, daß er der Messias
Die Tatsache ist jedoch, daß Jesus Gott Israels ist.
ist, und Gott kann nicht sündigen. Der Man beachte die revolutionären Aus-
Herr Jesus hat niemals auf eine Eigen- wirkungen der Sendung des Messias. Er
schaft der Gottheit verzichtet. Seine Gött- kam, um mit den großen Problemen fer-
lichkeit war während seines Erdenlebens tig zu werden, die die Menschheit wäh-
zwar verhüllt, doch sie wurde und konn- rend ihrer Geschichte bedrängt haben:
te nicht aufgegeben werden. Einige – Armut: »Armen gute Botschaft zu
sagen, daß Jesus zwar als Gott nicht hät- verkündigen.«
te sündigen können, als Mensch jedoch – Leid: »Zu heilen die zerstoßenen Her-
sehr wohl. Doch er ist immer Gott und zen.« (LU 1912)
Mensch, und es ist undenkbar, daß er – Knechtschaft: »Er hat mich gesandt,
sündigen könnte. Der Zweck seiner Ver- Gefangenen Befreiung auszurufen.«
suchung war nicht festzustellen, ob er – Krankheit: »Blinden, daß sie wieder
sündigen würde, sondern der Beweis, sehen.«
daß er nicht sündigen konnte. Nur ein hei- – Unterdrückung: »Zerschlagene in
liger sündloser Mensch konnte unser Freiheit hinzusenden.«
Erlöser werden. Kurz, er kam, »auszurufen ein ange-
nehmes Jahr des Herrn« – den Beginn
E. Vorbereitung durch Lehre (4,14-30) eines neuen Zeitalters für die seufzen-
4,14.15 Zwischen den Versen 13 und 14 den, weinenden Massen dieser Welt. Er
liegt eine Zeitspanne von etwa einem stellte sich selbst als die Antwort auf alle
Jahr. Während dieser Zeit diente der Herr Probleme, die uns quälen, vor. Und das
in Judäa. Der einzige Bericht über die Zeit gilt, gleich, ob wir diese Probleme im
dieses Dienstes steht in Johannes 2-5. leiblichen oder geistlichen Bereich sehen.
Als Jesus »in der Kraft des Geistes Christus ist die Antwort.
nach Galiläa« zurückkehrte, um das Es ist bedeutsam, daß er mit den
zweite Jahr seines öffentlichen Wirkens Worten: »auszurufen ein angenehmes

240
Lukas 4

Jahr des Herrn« endete. Er fügte nicht zu den Heiden gesandt wurden. Als
mehr den Rest aus Jesaja hinzu: »und »eine große Hungersnot« in Israel war,
den Tag der Rache für unsern Gott«. Der wurde »Elia« zu keiner jüdischen »Wit-
Zweck seines ersten Kommens war, ein we« – und davon gab es genug – sondern
angenehmes Jahr des Herrn zu predi- zu einer heidnischen »gesandt«. Und
gen. Dieses gegenwärtige Zeitalter der obwohl es »viele Aussätzige . . . in Isra-
Gnade ist die angenehme Zeit und der el« gab, als Elisa seinen Dienst tat, wurde
Tag der Errettung. Wenn der Herr Jesus er zu keinem von ihnen gesandt. Statt
auf die Erde zurückkommt, dann wird dessen wurde er zu dem Heiden Naa-
er den Tag der Rache für unseren Gott man gesandt, dem Befehlshaber der syri-
ausrufen. Man beachte, daß von der schen Armee. Man stelle sich den Ein-
»angenehmen« Zeit nicht als von einem druck vor, den die Worte Jesu auf die
Tag, sondern von einem »Jahr« gespro- Juden gemacht haben müssen. Bei ihnen
chen wird. standen Frauen, Heiden und Aussätzige
4,22 Die Menschen waren offensicht- ganz unten auf der sozialen Skala. Doch
lich beeindruckt. Sie sprachen positiv der Herr setzt sie alle drei hier über
von ihm, weil sie von seinen »Worten der ungläubige Juden! Er wollte damit
Gnade« angezogen worden waren. Es sagen, daß sich die Geschichte des AT
war ihnen ein Geheimnis, wie »der Sohn bald wiederholen würde. Trotz aller sei-
Josephs«, der Zimmermann, sich so gut ner Wunder würde er nicht nur von der
entwickeln konnte. Stadt Nazareth, sondern vom ganzen
4,23 Der Herr wußte jedoch, daß sei- Volk Israel abgelehnt werden. Er würde
ne Popularität nur oberflächlich war. sich dann zu den Heiden wenden, genau,
Man schätzte ihn nicht wegen seiner wie Elia und Elisa es getan hatten.
Eigenschaften oder seinem Wert. Für die- 4,28 Die Menschen in Nazareth ver-
se Menschen war er einfach einer ihrer standen genau, was er meinte. Sie waren
»Jungs«, die in der Stadt aufgewachsen schon über die Vorstellung erbost, daß
waren, der in Kapernaum berühmt den Heiden Gnade gezeigt werden kön-
geworden war. Er sah voraus, daß sie ne. Bischof Ryle kommentiert:
ihm »sagen« würden: »Arzt, heile dich Der Mensch haßt die Lehre von der
selbst!« Normalerweise würde dieses Souveränität Gottes, die Christus hier
Bild heißen: »Tu für dich selbst, was du verkündet. Gott hatte keinerlei Verpflich-
12)
für andere getan hast. Verbessere deinen tung, auch unter ihnen Wunder zu tun.
eigenen Zustand, wenn du behauptest, 4,29.30 Die Menschen »stießen ihn
anderen helfen zu können.« Doch hier ist zur Stadt hinaus . . . an den Rand des
die Bedeutung ein wenig anders. Sie Berges«, und wollten ihn »hinabstür-
wird durch die folgenden Worte erklärt: zen«. Zweifellos war dies ein weiterer
»Alles, was wir gehört haben, daß es in Versuch Satans, den königlichen Erben
Kapernaum geschehen sei, tu auch hier zu vernichten. Doch Jesus ging auf wun-
in deiner Vaterstadt!« d. h. in Nazareth. derbare Weise unbehelligt durch die
Es war eine zornige Forderung, auch in Menschenmenge und verließ die Stadt.
Nazareth die Wunder zu tun, die er Seine Feinde konnten ihn nicht halten.
andernorts getan hatte und sich so vor Soweit wir wissen, kehrte er nie mehr
Spott zu bewahren. nach Nazareth zurück.
4,24-27 Der Herr antwortete, indem
er ein tief verwurzeltes Prinzip in IV. Der Menschensohn beweist seine
menschlichen Angelegenheiten erwähn- Macht (4,31-5,26)
te: Große Männer werden in ihrer Hei-
mat nur selten anerkannt. Er zitierte A. Die Macht über einen unreinen
dann zwei Ereignisse des AT, in denen Geist (4,31-37)
die Propheten Gottes vom Volk Israel 4,31-34 Der Schade Nazareths war
nicht angenommen wurden und deshalb Gewinn für Kapernaum. Die Menschen

241
Lukas 4

der letzteren Stadt erkannten, daß Jesu – Die Heilung des Gelähmten (5,17-26)
Lehre vollmächtig war. Seine Worte – Freiheit von der Lähmung durch
waren überzeugend. Die Verse 31-41 be- die Sünde und Befreiung zum Dienst
schreiben einen typischen Sabbat im für Gott.
Leben des Herrn. Sie zeigen ihn als Mei- – Die Auferweckung des Sohnes der
ster über Dämonen und Krankheit. Erst Witwe zu Nain (7,11-17) – Sünder
ging er in die »Synagoge« und traf dort sind tot in ihren Übertretungen und
auf einen »Menschen« mit einem »unrei- Sünden und brauchen Leben (s. a.
nen Dämon«. Das Adjektiv »unrein« 8,49-56).
wird häufig benutzt, um böse Geister zu – Die Stillung des Sturmes (8,22-25) –
beschreiben. Es bedeutet, daß sie selbst Christus kann die Stürme besänfti-
unrein sind und im Leben ihrer Opfer gen, die im Leben seiner Jünger
Unreinheit verbreiten. Die Möglichkeit wüten.
von dämonischer Besessenheit wird in – Die Heilung des besessenen Gerase-
diesem Abschnitt deutlich. Zuerst schrie ners (8,26-39) – Sünde bringt Gewalt-
der Dämon vor Angst: »Ach, was haben tätigkeit und geistige Verwirrung mit
wir mit dir zu schaffen?« Dann zeigte sich und scheidet den Menschen von
der Dämon, daß er genau wußte, daß der zivilisierten Gesellschaft. Der
Jesus »der Heilige Gottes« ist, der Herr bringt Ordnung und geistige
schließlich die Heerscharen Satans ver- Gesundheit, außerdem führt er in die
nichten wird. Gemeinschaft mit sich selbst.
4,35 Jesus befahl dem Dämon zweier- – Die Frau, die den Saum seines
lei: »Verstumme und fahre aus von ihm!« Gewandes berührte (8,43-48) – Die
Das tat der Dämon, nachdem er den Verarmung und Depression, die die
Mann zu Boden geworfen hatte. Dabei Sünde bringt.
war dem Mann jedoch nichts geschehen. – Die Speisung der Fünftausend (9,10-
4,36.37 Die Menschen waren er- 17) – Die sündige Welt braucht das
staunt. Was war an Jesu Worten so an- Brot Gottes. Christus erfüllt die Be-
ders, daß ihm »die unreinen Geister« dürfnisse durch seine Jünger.
gehorchten? Was war das für eine unde- – Die Frau mit dem Geist der Schwäche
finierbare »Vollmacht und Kraft«, mit (13,10-17) – Sünde verunstaltet und
der er sprach? Kein Wunder, daß »die verkrüppelt, doch die Berührung
Kunde von ihm« sich »in jeden Ort der Jesu bringt vollkommene Wiederher-
Umgegend« verbreitete! stellung.
Alle Wunder Jesu, die den Leib – Heilung eines Wassersüchtigen (14,1-
betreffen, sind Bilder für gleiche Wunder, 6) – Sünde verursacht Unbehagen,
die er im geistlichen Bereich tut. So leh- Verzweiflung und Gefahr.
ren uns die folgenden Wunder bei Lukas – Der blinde Bettler (18,35-43) – Sünde
diese geistlichen Lektionen: macht den Menschen für geistliche
– Austreiben eines unreinen Geistes Realitäten blind. Die Wiedergeburt
(4,31-37) – Befreiung vom Schmutz bringt geöffnete Augen.
und der Verunreinigung durch die
Sünde. B. Macht über das Fieber (4,38.39)
– Heilung der Schwiegermutter des 4,38.39 Als nächstes macht Jesus einen
Petrus von ihrem Fieber (4,38.39) – Krankenbesuch im »Haus Simons«, wo
Befreiung von der Ruhelosigkeit und die »Schwiegermutter des Simon . . . von
Schwäche, die durch die Sünde ver- einem starken Fieber befallen« war. Als
ursacht sind. der Herr »das Fieber bedrohte, . . . ver-
– Die Heilung des Aussätzigen (5,12- ließ es sie«. Die Heilung fand sofort und
16) – Wiederherstellung aus der Hoff- vollständig statt. Das sieht man daran,
nungslosigkeit und Abscheulichkeit daß die Frau in der Lage war, aufzuste-
der Sünde (s. a. 17,11-19). hen, und im Haushalt zu dienen.

242
Lukas 4 und 5

Normalerweise ist man nach einem Fie- E. Vollmacht durch die Ausbildung
ber eher schwach und teilnahmslos. (Ver- anderer: Die Berufung der Jünger
fechter des Zölibats finden gerade in die- (5,1-11)
sem Abschnitt alles andere als Unterstüt- 5,1-11 Einige wichtige Lehren können
zung für ihre Vorstellungen: Petrus war wir aus diesem einfachen Bericht über
ein verheirateter Mann!) die Berufung des Petrus ziehen:
1. Der Herr benutzte das Schiff des
Petrus als Kanzel, von der aus er die
C. Macht über Krankheit und
»Volksmenge« lehrte. Wenn wir all
Dämonen (4,40.41)
unseren Besitz und unser Eigentum
4,40 Als der Sabbat sich dem Ende dem Erlöser ausliefern, ist es wunder-
näherte, waren die Menschen von ihrer voll, wie er beides benutzt und uns
erzwungenen Ruhe befreit. Nun »brach- auch dafür belohnt.
ten« sie eine große Menge Behinderter 2. Er konnte Petrus ganz genau sagen,
und Besessener »zu ihm«. Niemand kam wo es viele Fische zu fangen gab –
vergeblich. Er »heilte« jeden Kranken nachdem Petrus und die anderen sich
und trieb die Dämonen aus. Viele derje- »die ganze Nacht« ohne Erfolg
nigen, die von sich behaupten, Glau- gemüht hatten. Der allwissende Herr
bensheilungen zu vollbringen, be- weiß, wo die Fische schwimmen.
schränken ihre Wunder auf vorher aus- Dienst, den wir in unserer eigenen
gewählte Kandidaten. Doch Jesus heilte Weisheit und Kraft tun, ist vergeblich.
jeden. Das Geheimnis des Erfolges christli-
4,41 Die ausgetriebenen »Dämonen« cher Arbeit ist die Leitung durch
wußten, daß Jesus »der Christus, . . . der Jesus.
Sohn Gottes« ist. Doch er wollte nicht das 3. Obwohl Petrus selbst ein erfahrener
Zeugnis von Dämonen annehmen. Sie Fischer war, nahm er den Rat eines
mußten zum Schweigen gebracht werden. Zimmermanns an. Als Ergebnis hat
»Sie wußten, daß er der« Messias war, er volle Netze. ». . . aber auf dein
doch Gott hat andere und bessere Werk- Wort will ich das Netz hinablassen«.
zeuge, um diese Tatsache zu verkünden. Das zeigt den Wert von Demut,
Belehrbarkeit und Gehorsam.
4. In tiefem Wasser wurden die Netze bis
D. Vollmacht durch Wanderpredigt zum Zerreißen gefüllt. So sollen auch
(4,42-44) wir das sichere Ufer loslassen und
4,42-44 Am nächsten Tag zog Jesus sich uns »auf die Tiefe« der vollen Hinga-
»an einen einsamen Ort« in der Nähe be wagen. Auch der Glaube hat seine
von Kapernaum zurück. »Die Volks- Tiefen in Leiden, Angst und Verlu-
mengen suchten ihn«, bis sie ihn fanden. sten. Doch gerade diese füllen die
Sie drängten ihn, nicht zu gehen. »Er Netze mit Fruchtbarkeit.
aber« erinnerte sie daran, daß er in »den 5. »Ihr Netz riß« und »sie drohten zu
anderen Städten« Galiläas noch eine sinken« (V. 6.7). Dienst in der Leitung
Aufgabe hatte. So ging er von Synagoge durch Christus verursacht Probleme
zu Synagoge und »predigte« die gute – doch welch schöne Probleme sind
Nachricht »vom Reich Gottes«. Jesus das! Das sind die Probleme, die das
selbst war der König. Er wollte sie gerne Herz eines jeden echten Fischers
regieren, doch vorher mußten sie sich höher schlagen lassen.
bekehren. Er wollte nicht über ein Volk 6. Die Erkenntnis der Herrlichkeit des
regieren, das an seinen Sünden hing. Herrn Jesus ließ Petrus seine eigene
Das war das Hindernis: Sie wollten sich Unzulänglichkeit spüren. So erging
zwar von ihren politischen Problemen es auch Jesaja (Jes 6,5) und so geht es
erlösen lassen, doch nicht von ihren allen, die »den König in seiner Schön-
Sünden. heit« (Jes 33,17) sehen.

243
Lukas 5

7. Als Petrus mit seiner gewöhnlichen eine Welle von Heilung und Gesundheit.
Arbeit beschäftigt war, wurde er von Es war keine allmähliche Heilung: »So-
Christus berufen, Menschenfischer gleich wich der Aussatz von ihm.« Man
zu werden. Während man auf Füh- denke, was das für diesen hoffnungs-
rung wartet, sollte man tun, was man und hilflosen Aussätzigen bedeutet ha-
gerade kann. Tu es von ganzem Her- ben muß, in einem einzigen Augenblick
zen! Tu es von Herzen dem Herrn! geheilt zu sein!
Genau, wie ein Ruder nur ein Schiff 5,14 Jesus »gebot ihm, . . . niemand«
steuern kann, das sich bewegt, so lei- von seiner Heilung zu erzählen. Der
tet Gott nur Menschen, wenn sie auch Herr wollte nicht lauter Neugierige
in Bewegung sind. anlocken oder eine Volksbewegung in
8. Christus berief Petrus vom Fischfang Gang setzen, die ihn zum König machen
zum »Menschen fangen« oder wörtli- wollte. Statt dessen gab er ihm den Auf-
cher: »Zum Einfangen lebendiger trag, zum »Priester« zu gehen und das
Menschen.« Was sind alle Fische des von »Mose gebotene« Opfer zu bringen
Ozeans verglichen mit dem unver- (3. Mose 14,4). Jede Einzelheit dieses
gleichlichen Vorrecht, auch nur einen Opfers spricht von Christus. Es war die
Menschen für Christus und für die Aufgabe des Priesters, den Aussätzigen
Ewigkeit errettet zu sehen? zu untersuchen und zu bestimmen, ob er
9. Petrus, Jakobus und Johannes zogen wirklich geheilt worden war. Der Prie-
ihre Schiffe an den Strand und »ver- ster konnte nicht heilen, sondern nur für
ließen alles und folgten« Jesus an geheilt erklären. Dieser Priester hatte nie
einem ihrer besten Geschäftstage zuvor einen geheilten Aussätzigen gese-
nach. Und wieviel hing von ihrer Ent- hen. Dieser Anblick war einzigartig, er
scheidung ab! Wir hätten sicher nie hätte ihn erkennen lassen sollen, daß der
von ihnen gehört, wenn sie bei ihren Messias gekommen war. Es hätte ein
Schiffen geblieben wären. »Zeugnis« für alle Priester sein müssen.
Doch ihre Herzen waren durch ihren
F. Macht über den Aussatz (5,12-16) Unglauben verblendet.
5,12 Doktor Lukas erwähnt nun beson- 5,15.16 Trotz des Verbotes, das Wun-
ders die Tatsache, daß dieser »Mann voll der nicht öffentlich weiterzusagen, ver-
Aussatz« war. Es war ein fortgeschritte- breitete sich die Nachricht davon schnell
nes Stadium der Krankheit, menschlich und »große Volksmengen versammelten
gesprochen ziemlich aussichtslos. Der sich, ihn zu hören und von ihren Krank-
Glaube des Aussätzigen war bemerkens- heiten geheilt zu werden«. Jesus »zog
wert. Er sagte: »Du kannst mich reini- sich« oft »in einsame Gegenden« zurück,
gen.« Er hätte das zu keinem anderen um eine Zeit im Gebet zu verbringen. Es
Menschen der Welt sagen können. Doch ist angemessen, daß dieses Evangelium,
er hatte absolutes Vertrauen auf die das ihn als Menschensohn darstellt,
Macht des Herrn. Als er sagte: »Wenn du mehr über sein Gebetsleben aussagt als
willst . . .«, drückte er damit keinen jedes andere.
Zweifel an der Bereitschaft Jesu aus. Er
kam als Bittsteller, der kein Recht darauf G. Macht über Lähmung (5,17-26)
hatte, geheilt zu werden, der sich jedoch 5,17 Als sich die Nachricht über den
ganz auf die Gnade und Barmherzigkeit Dienst Jesu verbreitete, wurden ihm die
des Herrn warf. »Pharisäer und Gesetzeslehrer« zuneh-
5,13 Einen Aussätzigen zu berühren mend feindlich gesinnt. Hier sehen wir,
war medizinisch gesehen nicht ganz wie sie sich in »Galiläa« versammeln,
ungefährlich, verunreinigte religiös und offensichtlich mit dem Ziel, irgendeine
entehrte sozial. Doch der Erlöser zog sich Anklage gegen ihn zu finden. »Des
keinerlei Verunreinigung zu. Statt dessen Herrn Kraft war da, um« die Kranken
strömte in den Körper des Aussätzigen »zu heilen.« In Wirklichkeit hatte Jesus

244
Lukas 5

immer die Macht zu heilen, doch waren 5,24 »Damit ihr aber wißt, daß der
die Umstände nicht immer günstig. In Sohn des Menschen Vollmacht hat, auf
Nazareth zum Beispiel konnte er wegen der Erde Sünden zu vergeben« – Der
des Unglaubens der Menschen nicht vie- Titel »Sohn des Menschen« betont die
le Machttaten tun (Matth 13,58). vollkommene Menschlichkeit des Herrn.
5,18.19 Vier »Männer« brachten einen In gewissem Sinne sind wir alle Men-
Gelähmten »auf einem Bett« in das Haus, schensöhne, doch dieser Titel »der Sohn
in dem Jesus lehrte. »Wegen der Volks- des Menschen« setzt Jesus von jedem
menge« konnten sie nicht zu ihm gelan- anderen Menschen ab, der bisher gelebt
gen, deshalb kletterten sie über die hat. Er bezeichnet ihn als Menschen nach
Außentreppe auf das Dach des Hauses. den Gedanken Gottes, einen, der mora-
Dann ließen sie den Mann durch eine lisch vollkommen ist, der leiden, bluten
Öffnung hinab, die sie gemacht hatten, und sterben würde, und als den Einen,
indem sie einige Ziegel abdeckten. dem die universelle Macht gegeben ist.
5,20.21 Jesus »sah ihren Glauben«, 5,25 Im Gehorsam gegen Jesu Wort
der sie solche Mittel ergreifen ließ, um stand der Gelähmte auf, nahm seine
einen Bedürftigen zu ihm zu bringen. Schlafmatte und ging nach Hause »und
»Als er ihren Glauben sah«, das heißt den verherrlichte Gott«.
Glauben der Vier und des Gelähmten, 5,26 Die Menge war (wörtlich über-
»sprach er« zu dem Gelähmten: setzt) »erstaunt« und auch sie »verherr-
»Mensch, deine Sünden sind dir verge- lichte Gott«, weil sie anerkannten, daß
ben.« Diese noch nie dagewesene Aussa- sie an diesem Tag Unglaubliches gesehen
ge verärgerte die »Schriftgelehrten und hatten, nämlich die Verkündigung der
die Pharisäer«. Sie wußten, daß niemand Vergebung und das Wunder, das die Ver-
außer »Gott . . . Sünde vergeben« kann. gebung bewies.
Da sie nicht zugeben wollten, daß Jesus
Gott ist, erhoben sie ein Geschrei, daß V. Der Menschensohn erklärt seinen
Jesus lästere. Dienst (5,27-6,49)
5,22.23 Der Herr jedoch fuhr fort, um
ihnen zu beweisen, daß er dem Mann A. Die Berufung Levis (5,27.28)
wirklich die Sünden vergeben hatte. Erst 5,27.28 Levi war ein jüdischer »Zöllner«
fragte er sie, was »leichter zu sagen« sei: der römischen Verwaltung. Solche Män-
»Dir sind deine Sünden vergeben, oder ner wurden von ihren Mitjuden gehaßt,
zu sagen: Steh auf und geh umher?« In nicht nur, weil sie mit Rom zusammenar-
gewissem Sinne kann man das eine wie beiteten, sondern weil sie auch betrogen.
das andere leicht sagen, obwohl beides Eines Tages war Levi wieder an der
menschlich gesprochen unmöglich ist. Es Arbeit, als Jesus vorbeikam und ihn ein-
geht hier darum, daß es einfacher ist, lud, sein Nachfolger zu werden. Es ist
»Dir sind deine Sünden vergeben« zu erstaunlich, wie spontan Levi »alles ver-
sagen, weil man nicht nachweisen kann, ließ, aufstand und ihm nachfolgte«. Man
daß es geschehen ist. Wenn man sagt: denke an die außerordentlichen Konse-
»Steh auf und geh umher«, dann ist es quenzen, die diese einfache Entschei-
ganz leicht zu sehen, ob der Patient dung nach sich zog. Levi, oder Matthäus,
geheilt ist. wurde der Autor des ersten Evangeli-
Die Pharisäer konnten nicht sehen, daß ums. Es zahlt sich aus, auf Jesu Ruf in die
die Sünden des Mannes vergeben waren, Nachfolge zu hören.
deshalb wollten sie es nicht glauben. Des-
halb vollbrachte Jesus ein Wunder, das sie B. Warum der Menschensohn Sünder
sehen konnten, um ihnen zu beweisen, beruft (5,29-32)
daß er dem Mann wirklich die Sünden 5,29.30 Die Ausleger glauben, daß Levi
vergeben hatte. Er gab dem Gelähmten drei Gründe gehabt hat, dieses »große
die Fähigkeit zum Gehen zurück. Mahl« zu veranstalten. Er wollte den

245
Lukas 5

Herrn ehren, öffentlich seine neue Zu- seine Jünger zum Fasten gebe, solange er
gehörigkeit zu ihm bekennen und seine noch »bei ihnen« war. Er verbindet hier
Freunde mit Jesus bekannt machen. Die das Fasten mit Leid und Trauer. Wenn er
meisten Juden hätten niemals mit einer »von ihnen weggenommen sein« würde,
Gruppe von »Zöllnern« gegessen. Jesus das heißt, wenn man ihn umbringen
verband sich natürlich nicht mit ihren würde, dann würden seine Jünger als
Sünden, noch tat er irgendetwas, das sein Ausdruck ihrer Trauer fasten.
Zeugnis in Frage stellen konnte, sondern
er benutzte diese Gelegenheit, um zu leh- D. Drei Gleichnisse über das neue
ren, zu ermahnen und zu segnen. Zeitalter der Gnade (5,36-39)
»Und die Pharisäer und ihre Schrift- 5,36 Drei Gleichnisse folgen nun, die leh-
13)
gelehrten« kritisierten die Jünger Jesu ren, daß ein neues Zeitalter begonnen
dafür, daß sie (wohl auch der Herr selbst) hat, und es keine Vermischung des alten
sich mit diesen Verachteten zusammen und des neuen geben kann.
taten, mit dem Abschaum der damaligen Im ersten Gleichnis spricht das »alte
Gesellschaft. Kleid« vom alten Zeitalter des Gesetzes,
5,31 Doch »Jesus antwortete«, daß während das »neue Kleid« für das neue
seine Handlungen ganz im Einklang mit Zeitalter der Gnade steht. Sie sind nicht
seiner Aufgabe in dieser Welt standen. miteinander zu vereinbaren. Der Ver-
Gesunde brauchen keinen Arzt, nur »die such, Gnade und Gesetz miteinander zu
Kranken«. vermischen, verdirbt das neue Zeitalter,
5,32 Die Pharisäer waren der Mei- und die Gnade »paßt nicht« zum alten,
nung, daß sie »Gerechte« seien. Sie hat- weder im Aussehen noch in der Voll-
ten kein Empfinden für ihre Sünde oder macht. J. N. Darby drückt das sehr gut
ihre Not. Deshalb konnten sie nicht von aus: »Jesus wollte nicht das Christentum
den Vorzügen des Dienstes unseres an das Judentum anflicken. Fleisch und
Großen Arztes profitieren. Doch die Zöll- Gesetz gehören zusammen, doch Gesetz
ner und Sünder erkannten, daß sie »Sün- und Gnade, Gottes Gerechtigkeit und die
der« waren, und daß sie von ihren Sün- des Menschen lassen sich nie miteinan-
den errettet werden mußten. Für solche der vermischen.«
Leute ist der Heiland gekommen. Natür- 5,37.38 Das zweite Gleichnis lehrt, daß
lich waren die Pharisäer nicht gerecht. Sie es töricht ist, »neuen Wein in alte Schläu-
brauchten ebenso wie die Zöllner die che« zu füllen. Die Gärung des neuen
Vergebung ihrer Sünde. Doch sie wollten Weines würde Druck auf die Schläuche
ihre Sünden nicht bekennen und ihre ausüben, die nicht mehr elastisch und
Schuld zugeben. Und deshalb kritisier- stark genug sind, um ihn auszuhalten.
ten sie den Arzt dafür, daß er dorthin Die Schläuche bersten und der Wein
ging, wo er auf ernsthaft kranke Men- »selbst wird verschüttet«. Die veralteten
schen traf. Formen, Vorschriften, Traditionen und
Riten des Judentums waren zu eng, um
C. Erklärung für das Nicht-Fasten der die Freude, den Überschwang und die
Jünger (5,33-35) Kraft des neuen Zeitalters auszuhalten.
5,33 Der nächste Schritt der Pharisäer Der neue Wein wird in diesem Kapitel im
bestand darin, Jesus über das Fasten zu unkonventionellen Handeln der vier
befragen. »Die Jünger des Johannes« Männer gesehen, die den Gelähmten zu
waren schließlich dem asketischen Leben Jesus brachten. Man sieht ihn auch in der
ihres Meisters gefolgt. Und die Anhän- Frische und dem Eifer Levis. »Die alten
ger der Pharisäer hielten verschiedene Schläuche« sind ein Bild für die Schwer-
Fastenzeiten ein. Doch die Jünger Jesu fälligkeit und den kalten Formalismus
taten das nicht. Warum? der Pharisäer.
5,34-35 Die Antwort des Herrn lief 5,39 Das dritte Gleichnis sagt aus, daß
darauf hinaus, daß es keinen Grund für keiner, der »alten« Wein »getrunken hat,

246
Lukas 5 und 6

neuen« bevorzugt, »denn er spricht: Der Hier war nun eine ähnliche Situation.
alte ist milde«. Dies ist ein Bild für das Christus und seine Jünger waren hung-
natürliche Zögern der Menschen, das rig. Die Pharisäer hätten sie eher verhun-
Alte für das Neue aufzugeben, das gern lassen, als am Sabbat Weizen zu
Judentum für das Christentum, das pflücken. Doch »der Sohn des Menschen
Gesetz für die Gnade, den Schatten für ist Herr auch des Sabbats«. Er war derje-
die Wirklichkeit. Wie Darby sagt: »Ein nige, der das Gesetz gegeben hatte, und
Mensch, der an die Formen, menschli- niemand war qualifizierter als er, seine
chen Einrichtungen und an die Religion wahre geistliche Bedeutung zu erkennen
der Vorväter gewöhnt ist, liebt selten die und es von Mißverständnissen zu befrei-
neuen Prinzipien und die neue Macht en.
des Reiches.« 6,6-8 Ein zweites Ereignis geschah
»an einem anderen Sabbat« und betraf
E. Der Menschensohn ist der Herr des eine Wunderheilung. »Die Schriftgelehr-
Sabbats (6,1-11) ten und die Pharisäer aber lauerten«, und
6,1.2 Zwei Ereignisse, die beide an einem beobachteten Jesus ganz genau, um zu
Sabbat geschahen, werden nun erzählt, sehen, »ob er am Sabbat« einen Mann mit
um uns zu zeigen, daß der wachsende »einer verdorrten Hand . . . heilen wür-
Widerstand der religiösen Führer seinen de«. Aus ihrer vorherigen Erfahrung und
Höhepunkt erreicht hatte. Das erste ihrer Kenntnis von ihm hatten sie guten
Ereignis fand am »zweitersten Sabbat« Grund, das von ihm anzunehmen. Der
statt (so die wörtliche Übersetzung). Das Herr enttäuschte sie nicht. Zuerst befahl
erklärt sich wie folgt: Der erste Sabbat er dem Mann, sich »in die Mitte« der
war der erste nach dem Passah. Der Menge in der Synagoge zu stellen. Diese
zweite war der nächste. Am zweiten Sab- dramatische Handlung zog alle Auf-
bat nach dem ersten gingen der Herr merksamkeit auf das folgende Ge-
»und seine Jünger . . . durch die Saaten«. schehen.
Die Jünger »pflückten« einige »Ähren« 6,9 Dann fragte Jesus seine Kritiker,
ab, rieben sie in ihren Handflächen »und ob es »erlaubt ist, am Sabbat Gutes zu
aßen«. Die »Pharisäer« konnten eigent- tun oder Böses zu tun«. Wenn sie ihm
lich nichts dagegen haben, daß das Korn richtig geantwortet hätten, hätten sie
genommen wurde, das wurde im Gesetz gesagt, daß es richtig war, am Sabbat
eindeutig erlaubt (5. Mose 23,25). Sie kri- Gutes zu tun, und verkehrt, Böses zu tun.
tisierten, daß es »am Sabbat« geschah. Wenn es richtig war, Gutes zu tun, dann
Sie nannten das Ährenpflücken eine war es richtig, den Mann zu heilen. Wenn
»Erntearbeit«, und das »Zerreiben« eine es verkehrt war, am Sabbat Böses zu tun,
Drescharbeit. dann brachen sie das Gesetz, indem sie
6,3-5 Die Antwort des Herrn lautete, am Sabbat seinen Tod planten.
daß es niemals verboten ist, eine notwen- 6,10 Von seinen Feinden antwortete
dige Arbeit am Sabbat zu tun. Er keiner. Jesus befahl dem Mann, seine ver-
gebrauchte dazu ein Beispiel aus Davids dorrte rechte Hand auszustrecken. (Nur
Leben. Als David abgelehnt und verfolgt der Arzt Lukas erwähnt, daß es die rech-
wurde, wurden er und seine Männer te Hand war.) Mit dem Gebot war auch
hungrig. Sie gingen »in das Haus Gottes« die Kraft dazu verbunden. Als der Mann
und aßen »die Schaubrote«, die norma- gehorchte, »wurde seine Hand wieder-
lerweise für die Priester bestimmt waren. hergestellt«.
Gott machte in Davids Fall eine Ausnah- 6,11 Die Pharisäer und Schriftgelehr-
me. Israel lebte in Sünde. Es hatte seinen ten »wurden mit Unverstand erfüllt«. Sie
König abgelehnt. Das Gesetz über das wollten Jesus dafür verurteilen, daß er
Schaubrot sollte nie so sklavisch einge- den Sabbat gebrochen habe. Alles, was er
halten werden, daß der von Gott einge- getan hatte, war, ein paar Worte zu spre-
setzte König verhungern mußte. chen. Daraufhin war der Mann geheilt.

247
Lukas 6

Es war keine anstrengende Arbeit gelei- 9. »Jakobus, des Alphäus Sohn.« Er


stet worden. Und doch planten sie, wie könnte einer von denen sein, die in
sie ihn fangen könnten. der Jerusalemer Gemeinde die Ver-
Der Sabbat ist von Gott als gute Gabe antwortung übernahmen, nachdem
für den Menschen geplant. Wenn er rich- Jakobus, der Sohn des Zebedäus, von
tig verstanden wird, dann verhindert er Herodes getötet worden war.
keine notwendigen Arbeiten oder barm- 10. »Simon, genannt Eiferer.« Über ihn ist
herzige Taten. aus der Schrift nur wenig bekannt.
11. »Judas, des Jakobus Bruder.« Wahr-
F. Berufung der zwölf Apostel scheinlich derselbe Judas, der auch
(6,12-19) den gleichnamigen Brief schrieb. Die
6,12 Jesus »verbrachte die Nacht im meisten sind der Auffassung, daß er
Gebet zu Gott«, ehe er die Zwölf erwähl- mit Lebbäus identisch ist, dessen Vor-
te. Welch ein Tadel ist das für unsere Vor- name Thaddäus lautete (Matth 10,3;
eiligkeit und Unabhängigkeit von Gott! Mk 3,18).
Lukas ist der einzige Evangelist, der die- 12. »Judas Iskariot«, der wahrscheinlich
se Gebetsnacht erwähnt. aus Keriot in Juda stammte, und so
6,13-16 Die »zwölf« aus dem weiteren der einzige Apostel war, der nicht aus
Jüngerkreis, die Jesus »erwählte«, waren: Galiläa stammte. Er war der »Verrä-
1. »Simon, den er auch Petrus nannte«, ter« unseres Herrn, weshalb er auch
Sohn des Jona, und einer der bekann- »Sohn des Verderbens« genannt wur-
testen Apostel. de.
2. »Andreas, sein Bruder.« Es war And- Die Jünger waren nicht alle von her-
reas gewesen, der Petrus zum Herrn vorragendem Intellekt oder Fähigkeiten.
geführt hatte. Sie repräsentierten den Durchschnitt der
3. »Jakobus«, Sohn des Zebedäus. Er Menschheit. Was sie groß machte, war
hatte das Vorrecht, mit Petrus und ihre Beziehung zu Jesus und ihre Hinga-
Johannes auf den Berg der Ver- be an ihn. Sie waren wahrscheinlich
klärung zu steigen. Er wurde von »Twens«, als der Herr sie erwählte. Die
Herodes Agrippa I ermordet. Jugend ist die Zeit, in der die Menschen
4. »Johannes«, Sohn des Zebedäus. am leichtesten zu begeistern und zu
Jesus nannte Jakobus und Johannes belehren sind. Außerdem halten sie
»Donnersöhne«. Dieser Johannes Schwierigkeiten in dieser Zeit am leichte-
schrieb das Evangelium und die Brie- sten durch. Er wählte nur zwölf Jünger
fe, die seinen Namen tragen, und die aus. Er war mehr an Qualität als an
Offenbarung. Quantität interessiert. Wenn er nur die
5. »Philippus«, gebürtig aus Bethsaida , richtigen Menschen nähme, konnte er sie
der Nathanael zu Jesus brachte. Er ist aussenden, und durch ihre geistliche
nicht mit Philippus, dem Evangeli- Reproduktion so die gesamte Welt evan-
sten in der Apostelgeschichte, zu ver- gelisieren.
wechseln. Als die Jünger erwählt waren, war es
6. »Bartholomäus«, wahrscheinlich ein wichtig, daß sie gründlich in den
anderer Name für Nathanael. Er wird Grundsätzen des Reiches Gottes ausge-
nur in der Liste der zwölf Apostel bildet wurden. Der Rest dieses Kapitels
genannt. ist einer Besprechung des Menschentyps
7. »Matthäus«, der Zöllner, auch Levi gewidmet, dessen Charakter und Verhal-
genannt. Er schrieb das erste Evange- ten allen Jüngern Jesu zu eigen sein soll-
lium. te.
8. »Thomas«, auch Zwilling genannt. Er 6,17-19 Die folgende Predigt ist nicht
sagte, er könne nicht glauben, daß dieselbe wie die Bergpredigt (Matth 5-7).
der Herr auferstanden sei, ehe er kei- Jene wurde auf einem Berg gehalten, die-
ne Beweise gesehen habe. se auf einem »ebenen Platz«. Jene enthält

248
Lukas 6

nur Seligpreisungen, aber keine Weheru- lig sind nicht die Armen, sondern ihr
fe; diese enthält beide. Es gibt noch mehr Armen. Armut an sich ist kein Segen, viel
Unterschiede – in der Wortwahl, der öfter ist sie ein Fluch. Hier sprach Jesus
14)
Länge und der Gewichtung. von der selbstauferlegten Armut um sei-
Man beachte, daß diese Predigt über netwillen. Er sprach nicht von Menschen,
konsequente Nachfolge sowohl einer die arm sind, weil sie faul sind, weil eine
»Menge« als auch den Zwölf gehalten Tragödie in ihrem Leben stattgefunden
wurde. Es scheint so, daß Jesus, wann hat oder aus Gründen, die sich ihrer Kon-
immer ihm eine große Menschenmenge trolle entziehen. Sondern er bezog sich
folgte, die Aufrichtigkeit ihrer Nachfolge auf diejenigen, die absichtlich arm sein
prüfen wollte, indem er sehr hart und wollten, um anderen Menschen ihren
offen zu ihnen sprach. Wie jemand ein- Erlöser bringen zu können. Und wenn
mal sagte: »Erst wirbt Jesus, dann sichtet man darüber nachdenkt, ist dies der ein-
er.« zig vernünftige Ansatz. Man stelle sich
Menschen waren aus »ganz Judäa vor, die Jünger wären reich gewesen. Die
und Jerusalem« im Süden gekommen, Menschen hätten sich unter der Fahne
aus »Tyrus und Sidon« im Nordwesten, Jesu versammelt, um reich zu werden.
und zwar sowohl Juden als auch Heiden. Doch so konnten die Jünger ihnen weder
Kranke und Besessene drängten vor- Silber noch Gold bieten. Wenn die Men-
wärts, um Jesus anzurühren, denn sie schen also kommen würden, dann
wußten, daß eine heilende »Kraft von wegen des geistlichen Segens. Auch hät-
ihm . . . ausging«. ten die Jünger den Segen nicht gehabt,
Es ist wichtig zu erkennen, wie revo- der darin liegt, ständig vom Herrn
lutionär die Lehren unseres Erlösers abhängig zu sein und seine Treue täglich
sind. Man muß sich dabei vor Augen hal- zu spüren. Das Reich Gottes gehört
ten, daß er den Gang ans Kreuz vor denen, die damit zufrieden sind, daß ihre
Augen hatte. Er wußte, daß er getötet, jeweiligen Bedürfnisse gedeckt sind, so
begraben und auferweckt werden wür- daß alles, was sie darüber hinaus bekom-
de, und daß er anschließend in den Him- men, in das Werk des Herrn fließen kann.
mel zurückkehren würde. Die gute 6,21 »Glückselig, die ihr jetzt hun-
Nachricht von der Erlösung ohne Gegen- gert.« Wieder geht es nicht um die Men-
leistung mußte in die Welt gebracht wer- schenmassen der Erde, die unterernährt
den. Die Erlösung von Menschen hing sind oder verhungern. Es geht um Jünger
davon ab, daß sie die Botschaft zu hören Christi, die mit Absicht ein Leben der
bekamen. Wie würde man die Welt evan- Selbstverleugnung führen, um menschli-
gelisieren können? Gerissene Führer die- che Nöte befriedigen zu können, und
ser Welt würden eine ungeheure Armee zwar auf geistlichem und leiblichem
ins Leben rufen, ihnen ausreichend Geld Gebiet. Es geht um Menschen, die bereit
zur Verfügung stellen, sie großzügig ver- sind, einfach und billig zu leben, um
pflegen, ihnen Unterhaltung zur Unter- andere nicht durch ihre Völlerei des
stützung der Moral bieten und ihnen Evangeliums zu berauben. Solche Selbst-
eine gute Werbung vorausschicken. verleugnung wird an einem zukünftigen
Tag belohnt werden.
G. Seligpreisungen und Weherufe »Glückselig, die ihr jetzt weint.« Leid
(6,20-26) an sich ist kein Segen, das Weinen unge-
6,20 Jesus erwählte zwölf »Jünger« und retteter Menschen hat keine besondere
sandte sie zu den Armen, Hungernden Verheißung. Hier spricht Jesus von Trä-
und Verfolgten. Kann man die Welt auf nen, die um seinetwillen vergossen wer-
diese Weise evangelisieren? Ja, und zwar den, von Tränen über die verlorene
auf keine andere Art! Der Erlöser begann Menschheit, die zerstrittene, machtlose
mit vier Seligpreisungen und vier Wehe- Gemeinde Christi, von Leid, das durch
rufen. »Glückselig ihr Armen.« Glückse- den Dienst für Christus verursacht wird.

249
Lukas 6

Die mit Tränen säen, werden mit Jubel Wort »Glückselig ihr Armen« in Vers 20,
ernten. wo er nicht die Armen im Geiste meint.
6,22 »Glückselig seid ihr, wenn die Andernfalls müßte Vers 24 bedeuten:
Menschen euch hassen, . . . absondern, . . . »Wehe euch, ihr Reichen im Geiste.« Eine
schmähen und euren Namen als böse solche Bedeutung kommt jedoch nicht in
verwerfen werden.« Diese Seligpreisung Frage. Diejenigen, die Reichtümer besit-
gilt nicht für diejenigen, die wegen ihrer zen und sie nicht für das ewige Wohler-
eigenen Sünde oder aus Dummheit lei- gehen der Menschen einsetzen, haben
den. Sie gilt für diejenigen, die verachtet, den einzigen Lohn schon erhalten, den
ausgeschlossen, verleumdet und be- sie je bekommen werden – die selbst-
schimpft werden, weil sie Christus treu süchtige Erfüllung ihrer Begierden.
sind. 6,25 »Wehe euch, die ihr voll seid.«
Der Schlüssel zum Verständnis dieser Das sind die Gläubigen, die in teuren
vier Seligpreisungen liegt in dem Satz: Restaurants essen gehen, die von fein-
»um des Sohnes des Menschen willen«. sten Delikatessen leben, die nicht sparen,
Die aufgezählten Dinge an sich wären wenn es um ihren Speisezettel geht. Ihr
ein Fluch, werden jedoch zum Segen, Motto lautet: »Für die Kinder Gottes ist
wenn sie freiwillig für Jesus erduldet nichts zu gut.« Der Herr sagt, daß sie in
werden. Doch das Motiv muß Liebe zu Zukunft »hungern« werden, daß heißt,
Christus sein, sonst werden die heroisch- wenn den treuen, aufopferungsbereiten
sten Opfer wertlos. Jüngern ihr Lohn ausgeteilt wird.
6,23 Verfolgung um Christi willen ist »Wehe euch, die ihr jetzt lacht.« Die-
Grund zu großer Freude. Erstens wird sie ses Wehe richtet sich gegen die, die stän-
großen »Lohn« im Himmel einbringen. dig ihren Vergnügungen, der Unterhal-
Zweitens verbindet sie den Leidenden tung und dem Wohlleben nachstreben.
mit den treuen Zeugen Jesu der vergan- Sie handeln, als ob das Leben zum Spaß
genen Zeiten. und zur Ausgelassenheit da wäre, und
Die vier Seligpreisungen beschreiben werden nicht vom verzweifelten Zu-
den Idealbürger des Reiches Gottes – stand der Menschheit ohne Christus
denjenigen, der opferbereit, fest, nüch- berührt. Wer »jetzt lacht«, wird »trauern
tern und ausdauernd ist. und weinen«, wenn er auf verpaßte Ge-
6,24 »Aber« auf der anderen Seite legenheiten, selbstsüchtige Bequemlich-
haben wir die vier Weherufe über dieje- keit und seine eigene geistliche Ver-
nigen, die in der neuen Gesellschaft Chri- armung zurückblicken wird.
sti am wenigsten geschätzt werden. Tra- 6,26 »Wehe, wenn alle15) Menschen
gischerweise sind es genau die, die in wohl von euch reden.« Warum? Weil es
unserer heutigen Welt etwas gelten! ein sicheres Anzeichen dafür ist, daß wir
»Wehe euch Reichen!« Mit dem Aufhäu- nicht das rechte Leben führen noch die
fen von Reichtümern sind ernsthafte sitt- Botschaft treu verkündigen. Es liegt in
liche Probleme in einer Welt verbunden, der Natur des Evangeliums begründet,
in der täglich viele Tausend Menschen an daß es die Gottlosen ärgert. Wer ihren
Hunger sterben und in der so viele Men- Beifall erntet, gehört in die Gemeinschaft
schen die Gute Nachricht von der Erret- der »falschen Propheten« des AT, die den
tung durch Glauben an Jesus Christus Menschen Ohrenkitzel boten, indem sie
nicht hören können. Diese Worte des ihnen nach dem Mund redeten. Sie waren
Herrn Jesus sollten sorgfältig von allen mehr am Ansehen bei Menschen als an
Christen bedacht werden, die versucht der Anerkennung Gottes interessiert.
sind, sich Schätze auf der Erde zu sam-
meln, die für schlechte Tage Geld horten H. Die Geheimwaffe des Menschen-
und zusammenkratzen. Wer das tut, lebt sohnes: Liebe (6,27-38)
für die verkehrte Welt. Übrigens ist die- 6,27-29a Nun enthüllt der Herr Jesus sei-
ses Wehe nur eine Konsequenz aus Jesu nen Jüngern eine Geheimwaffe aus dem

250
Lukas 6

Arsenal Gottes – die Waffe der »Liebe«. erwidert. Sie reagiert außerordentlich
Diese Waffe sollte eine der effektivsten verwirrt auf solches Verhalten, das einer
bei der Evangelisation der Welt werden. anderen Welt entstammt.
Doch wenn Jesus von Liebe spricht, 6,29b-31 Wenn die Liebe ihres Man-
bezieht er sich nicht auf das menschliche tels beraubt wird, dann bietet sie auch
Gefühl mit dem gleichen Namen. Er noch das Unterkleid an. Sie wendet sich
spricht von übernatürlicher Liebe. Nur nie von echter Not ab. Wenn sie unge-
diejenigen, die wiedergeboren sind, kön- rechterweise ihres Eigentums beraubt
nen sie kennen oder zeigen. Sie kann von wird, dann bittet sie nicht um Rückgabe.
keinem, der nicht den Heiligen Geist Ihre goldene Regel lautet, andere mit
besitzt, empfunden werden. Ein Mörder derselben Freundlichkeit und Beachtung
kann auch seine Kinder lieben, doch das zu bedenken, die sie selbst gerne erfah-
ist nicht die Liebe, die Jesus gemeint hat. ren würde.
Es gibt einerseits menschliche Zunei- 6,32-34 Ungerettete können »lieben,
gung, auf der anderen Seite steht die die sie lieben«. Das ist ein natürliches
göttliche Liebe. Die erste erfordert nur Verhalten, und so allgemein, daß es auf
leibliches Leben, die zweite göttliches. die Welt der ungeretteten Menschen kei-
Die erste ist größtenteils eine Sache des nen Eindruck macht. Banken und andere
Gefühls, die zweite eher eine Sache des Kreditgeber verleihen Geld in der Hoff-
Willens. Jeder kann seine Freunde lieben, nung, Zinsen einzunehmen. Das erfor-
doch braucht man übernatürliche Kraft, dert kein göttliches Leben.
um seine Feinde zu lieben. Und das ist 6,35 Deshalb wiederholte Jesus, daß
die Liebe (gr. agape) des NT. Sie bedeu- wir unsere »Feinde« lieben sollen, Gutes
tet: »Tut wohl denen, die euch hassen; tun und leihen, »ohne etwas wieder zu
segnet, die euch fluchen; betet für die, erhoffen«. Solches Verhalten ist aus-
welche euch beleidigen« und haltet schließlich christlich und kennzeichnet
immer wieder die andere Backe hin. die, welche »Söhne des Höchsten« sind.
F. B. Meyer erklärt: Natürlich ist das keine Methode, wie
Die Liebe ist in ihrem tiefsten Sinne Menschen »Söhne des Höchsten« werden
. . . Christentum. Seinen Feinden gegenüber können. Das kann nur geschehen, indem
zu fühlen, was andere ihren Freunden man den Herrn Jesus Christus als Herrn
gegenüber empfinden, sich wie Sonne und und Erlöser annimmt (Joh 1,12). Doch ist
Regen mit Gerechten wie Ungerechten ein- es die Art und Weise, mit der echte Gläu-
zulassen, sowohl denen zu dienen, die weni- bige zeigen, daß sie Kinder Gottes sind.
ger angenehm oder sogar abstoßend sind als Gott hat uns auf die Weise behandelt, wie
auch denen, die anziehend und gefällig sind, sie in Vers 27-35 beschrieben ist. »Er ist
immer gleich zu sein, nicht Stimmungen, gütig gegen die Undankbaren und
Vorstellungen und Launen untertan zu sein, Bösen.« Wenn wir so handeln, dann zeigt
langmütig sein; das Böse nicht zurechnen, sich bei uns die Familienähnlichkeit. Wir
sich der Wahrheit freuen, alles ertragen, zeigen damit, daß wir von Gott geboren
glauben, hoffen und erdulden, niemals auf- sind.
hören – das ist Liebe, und solche Liebe kann 6,36 Barmherzig sein heißt, zu verge-
nur im Heiligen Geist erreicht werden. Wir ben, auch wenn es in unserer Macht stän-
16)
können sie nicht selbst erlangen. de, zurückzuschlagen. Der Vater erzeigte
Eine solche Liebe ist unschlagbar. Die uns Barmherzigkeit, indem er uns nicht
Welt kann normalerweise die Menschen so bestrafte, wie wir es verdient hätten.
erobern, die zurückschlagen. Ihr ist das Er möchte, daß wir auch anderen
Gesetz des Dschungels vertraut, ebenso gegenüber barmherzig sind.
das Prinzip der Vergeltung. Doch sie 6,37 Es gibt zweierlei, das die Liebe
weiß nicht, wie sie mit einem Menschen nicht tut – sie »richtet« und sie »verur-
umgehen soll, der jedes Unrecht, das ihm teilt« nicht. Jesus sagte: »Richtet nicht,
zugefügt wird, mit einer Freundlichkeit und ihr werdet nicht gerichtet werden.«

251
Lukas 6

Als allererstes sollen wir nie versuchen, vergeben, wenn wir nicht bereit sind,
die Beweggründe eines Menschen zu einander zu vergeben. Er selbst handelt
beurteilen. Wir können nicht ins Herz nicht so, und kann deshalb auch nicht
sehen, und wissen deshalb nicht, warum Gemeinschaft mit denen haben, die nicht
jemand in einer bestimmten Weise han- vergebungsbereit sind. Und auf diese
delt. Dann geht es darum, daß wir nicht elterliche Vergebung bezieht Jesus sich,
den Dienst eines anderen Christen beur- wenn er sagt: »So wird euch vergeben.«
teilen sollen (1 Kor 4,1-5), weil allein Gott 6,38 Die Liebe zeigt sich im Geben
dies richten wird. Und ganz allgemein (s. Joh 3,16; Eph 5,25). Der christliche
sollen wir nicht tadelsüchtig sein. Ein Dienst ist ein Dienst der Verausgabung.
kritischer Geist, der überall Fehler findet, Wer großzügig gibt, wird großzügig
verletzt das Gesetz der Liebe. belohnt werden. Jesus benützt hier das
Es gibt jedoch bestimmte Gebiete, auf Bild eines Menschen, der sein Gewand
denen der Christ urteilen muß. Wir müs- vorne wie eine Schürze ausbreitet, damit
sen oft beurteilen, ob andere Menschen er etwas hineintun kann. Er benutzt es,
echte Christen sind, andernfalls könnten um Samen damit zu transportieren. Je
wir nie erkennen, ob wir nicht mit an großzügiger er den Samen ausstreut,
einem fremden Joch ziehen (2. Kor 6,14). desto reichlicher wird seine Ernte sein. Er
Sünde muß im eigenen Leben und in der wird mit einem »guten, gedrückten und
Gemeinde verurteilt werden. Kurz gerüttelten und überlaufenden Maß«
gesagt: wir müssen zwischen Gut und belohnt werden. Er erhält es in seinen
Böse unterscheiden, doch wir dürfen nie Schoß, d. h. in die Falte seines Gewandes
die Motive eines Menschen in Frage stel- hinein. Es ist ein feststehendes Leben-
len oder seinen Charakter beurteilen. sprinzip, daß wir entsprechend unserer
»Vergebt, so wird euch vergeben« Saat ernten, daß unsere Taten Rückwir-
(LU 1984). Durch diesen Satz wird die kungen auf uns selbst haben, daß wir mit
Frage, ob uns vergeben wird, davon »demselben Maß, mit dem« wir messen,
abhängig gemacht, ob wir bereit sind zu »wieder gemessen werden«. Wenn wir
vergeben. Doch andere Schriftstellen irdische Güter säen, dann ernten wir
scheinen zu lehren, daß uns, wenn wir geistliche Schätze unermeßlichen Wertes.
Jesus Christus im Glauben annehmen, Und es stimmt auch, daß wir verlieren,
ohne Vorbedingung vergeben wird. Wie was wir festhalten und haben, was wir
kann man diesen scheinbaren Wider- geben.
spruch auflösen? Die Antwort lautet, daß
es sich hier um zweierlei Arten der Ver- I. Das Gleichnis vom blinden
gebung handelt – die juristische und die Heuchler (6,39-45)
elterliche. Die juristische Vergebung ist die- 6,39 Im vorhergehenden Abschnitt gibt
jenige, die Gott, der Richter, jedem der Herr den Jüngern den Dienst des
schenkt, der an den Herrn Jesus Christus Gebens als Auftrag mit. Nun warnt er,
glaubt. Sie bedeutet, daß die Strafe für daß das Ausmaß, in welchem sie ande-
die Sünden von Christus bezahlt worden ren Menschen zum Segen werden kön-
ist und der gläubige Sünder nicht mehr nen, durch ihren eigenen geistlichen
bestraft wird. Sie wird ohne Bedingung Zustand begrenzt wird. »Ein Blinder«
gewährt. kann keinen anderen »Blinden leiten«.
Die elterliche Vergebung ist diejenige, Beide werden schließlich »in eine Grube
die Gott, der Vater, seinem abgewiche- fallen«. Wir können nicht geben, was wir
nen Kind gewährt, wenn es seine Sünde selbst nicht besitzen. Wenn wir blind
bekennt und losläßt. Diese Vergebung gegenüber bestimmten Lehren des Wor-
bewirkt, daß die Gemeinschaft in der tes Gottes sind, können wir auf diesem
Familie Gottes wiederhergestellt wird, Gebiet keinem anderen helfen. Wenn es
und hat nichts mit der Strafe für die Sün- in unserem geistlichen Leben »blinde
de zu tun. Als Vater kann Gott uns nicht Flecken« gibt, dann können wir sicher

252
Lukas 6

sein, daß dies auch die »blinden Flecken« und geistlich gesund ist, kann »aus dem
derer sind, die wir lehren. guten Schatz seines Herzens« Segen für
6,40 »Ein Jünger ist nicht über dem andere hervorbringen. Auf der anderen
Lehrer; jeder aber, der vollendet ist, wird Seite wird ein Mensch, der im Grunde
sein wie sein Lehrer.« Jemand kann nicht unrein lebt, nur »Böses hervorbringen«.
lehren, was er nicht gelernt hat. Er kann
seine Schüler nicht auf eine höhere Ebene J. Der Herr verlangt Gehorsam
bringen, als die, die er selbst erreicht hat. (6,46-49)
Je mehr er sie lehrt, desto ähnlicher wer- 6,46 »Was nennt ihr mich aber: Herr,
den die Schüler ihm sein. Doch sein eige- Herr! und tut nicht, was ich sage?« Das
ner Stand im Wachstum ist die Grenze, Wort Herr bedeutet hier soviel wie Mei-
zu der er seine Schüler führen kann. Ein ster; es bedeutet, daß er vollständige
Schüler ist als Jünger »vollendet«, wenn Autorität über unser Leben hat, daß wir
er wie sein Lehrer wird. Fehler im Leben ihm gehören, und daß wir verpflichtet
oder in der Lehre des Lehrers werden sei- sind, alles zu tun, was er uns sagt. Ihn
ne Jünger übernehmen, und wenn die »Herr« zu nennen und nicht zu gehor-
Lehrzeit der Jünger beendet ist, dann chen ist ein absurder Widerspruch. Es
kann man von ihnen nicht erwarten, daß reicht nicht, wenn wir seine Herrschaft
sie mehr als ihr Lehrer können. nur äußerlich bekennen. Echte Liebe und
6,41.42 Diese wichtige Wahrheit wird echter Glaube beinhalten Gehorsam. Wir
noch eindrücklicher in dem Bild vom lieben ihn nicht wirklich und wir glau-
»Splitter« und vom »Balken« ausge- ben ihm nicht wirklich, wenn wir nicht
drückt. Eines Tages geht ein Mann an tun, was er uns sagt.
einer Tenne vorbei, wo gerade Korn Ihr nennt mich »Weg« und geht mich
gedroschen wird. Ein Windstoß fegt nicht,
einen kleinen Strohsplitter in sein Auge. Ihr nennt mich »Leben« und lebt mich
Er reibt sein Auge, um den Splitter wie- nicht,
der loszuwerden, doch je mehr er reibt, Ihr nennt mich »Meister« und gehorcht
desto mehr entzündet sich das Auge. Da mir nicht,
kommt gerade ein anderer Mann vorbei, Wenn ich euch verurteile, beschuldigt
sieht die Not des ersten und bietet seine mich nicht.
Hilfe an. Doch dieser Mann hat im eige- Ihr nennt mich »Brot« und eßt mich
nen Auge einen Balken! Er wird kaum nicht,
helfen können, da er nicht sieht, was er Ihr nennt mich »Wahrheit« und glaubt
tut. Die offensichtliche Lehre ist, daß ein mir nicht,
Lehrer nicht mit seinen Jüngern über Ihr nennt mich »Herr« und dient mir
Fehler in ihrem Leben sprechen kann, nicht,
wenn er denselben Fehler in noch größe- Wenn ich euch verurteile, beschuldigt
rem Ausmaß in seinem Leben toleriert mich nicht.
Geoffrey O'Hara
und nicht sieht. Wenn wir anderen eine
Hilfe sein wollen, dann muß unser Leben 6,47-49 Um diese wichtige Wahrheit
vorbildlich sein. Andernfalls wird man weiter auszuführen, erzählt der Herr die
uns raten: »Arzt, hilf dir selbst!« Geschichte von zwei Bauherren. Wir
6,43-45 Das vierte Bild, das unser wenden diese Geschichte normalerweise
Herr benutzt, ist das des »Baumes« und auf das Evangelium an. Wir sind der
seiner »Frucht«. Jeder Baum bringt Ansicht, daß der weise Mann eine
Früchte, gute oder faule. Das hängt Beschreibung desjenigen ist, der glaubt
davon ab, wie er selbst beschaffen ist. und errettet wird, der törichte Mann
Wir beurteilen einen Baum nach der Art dagegen ist derjenige, der Christus
und Qualität der Früchte, die er trägt. ablehnt und verloren geht. Dies ist eine
Genauso ist es auf dem Gebiet der Jün- richtige Anwendung. Doch wenn wir die-
gerschaft. Ein Mensch, der sittlich rein se Geschichte in ihrem Zusammenhang

253
Lukas 6 und 7

auslegen, dann finden wir noch eine tie- guten Licht dargestellt (Lk 23,47; Apg
fergehende Bedeutung. 10,1-48).
Der weise Mann ist derjenige, der Es ist für einen Herrn sehr unge-
»zu« Jesus »kommt« (Erlösung), der sei- wöhnlich, sich so besorgt um einen Skla-
ne »Worte hört« (Lehre) »und sie tut« ven zu zeigen, wie es dieser Zenturio tat.
(Gehorsam). Er ist derjenige, der sein Als der »Knecht . . . krank war, bat der
Leben auf solchen Grundsätzen der Jün- Zenturio die »Ältesten der Juden«, bei
gerschaft aufbaut, wie sie in diesem Jesus zu bitten, daß er ihn heile. Dieser
Kapitel beschrieben sind. Das ist die rich- römische Soldat ist der einzige, der von
tige Weise, sein Leben zu führen. Wenn Jesus Hilfe für einen »Knecht« erbat,
das Haus von Überschwemmungen soweit wir es wissen.
geschüttelt wird, dann steht es fest, weil 7,4-7 Das war für die Ältesten eine
»es auf den Felsen gegründet« ist, auf seltsame Situation. Sie glaubten nicht an
17)
Christus und seine Lehre. Jesus, doch ihre Freundschaft zu dem
Der Törichte ist jemand, der hört Hauptmann zwang sie, in der Zeit der
(Lehre) doch der Lehre nicht folgt (Unge- Not zu Jesus zu gehen. Sie sagten über
horsam). Er baut sein Leben auf einem den Hauptmann: »Er ist würdig.« Doch
Grund, den er nach Gutdünken auswählt als der Hauptmann Jesus begegnete, sag-
und folgt damit den fleischlichen te er: »Ich bin nicht würdig.« Damit
Grundsätzen der Welt. Wenn die Stürme meinte er: »Ich bin nicht wichtig genug.«
des Lebens wüten, dann ist sein Haus Nach Matthäus ging der Hauptmann
»ohne Grundmauer« und wird hinweg- direkt zu Jesus. Hier in Lukas sendet er
geschwemmt. Es mag sein, daß seine die Ältesten. Beide haben recht. Erst
Seele gerettet ist, doch sein Leben ist ver- sandte er die Ältesten, dann ging er
loren. selbst zu Jesus hinaus.
Der Weise ist der selbe, der auch arm Die Demut und der Glaube des
und hungrig ist und der trauert und ver- Hauptmannes sind bemerkenswert. Er
folgt wird – alles um des Menschensoh- war der Meinung, »nicht würdig« genug
nes willen. Die Welt würde ihn töricht zu sein, daß Jesus in sein Haus käme.
nennen, doch Jesus nennt ihn weise. Auch fühlte er sich »selbst . . . nicht wür-
Der törichte Mensch ist der Reiche, dig«, persönlich zu Jesus zu kommen.
der in Luxus und in Freuden lebt und der Doch er glaubte, daß Jesus heilen konnte,
bei allen beliebt ist. Die Welt nennt ihn ohne leiblich anwesend zu sein. Ein
weise, doch Jesus nennt ihn töricht. »Wort« von ihm würde reichen, um die
Krankheit zu vertreiben.
VI. Der Menschensohn dehnt seinen 7,8 Der Hauptmann erklärte weiter,
Dienst aus (7,1-9,50) daß er etwas über »Befehlsgewalt« und
Verantwortung wußte. Er selbst hatte
A. Heilung des Dieners eines genügend Erfahrung auf diesem Gebiet.
Hauptmanns (7,1-10) Er selbst stand »unter Befehlsgewalt« der
7,1-3 Am Ende seiner Predigt verließ Römer und war verantwortlich, ihre
Jesus die Volksmenge und »ging hinein Anweisungen zu verwirklichen. Außer-
nach Kapernaum«. Dort wurde er von dem hatte er »Soldaten unter« sich, die
den »Ältesten der Juden« belagert, die seinen Befehlen sofort gehorchten. Er
gekommen waren, um für einen heidni- erkannte, daß Jesus dieselbe Befehlsge-
schen Knecht eines Hauptmannes um walt, die das Römische Reich über ihn
Hilfe zu bitten. Dieser Hauptmann war selbst hatte und die er über seine Unter-
anscheinend zu den Juden besonders gebenen hatte, über Krankheiten hatte.
freundlich gewesen und war sogar so 7,9.10 Es ist nicht weiter erstaunlich,
weit gegangen, daß er ihnen eine Syna- daß Jesus sich »über« den Glauben dieses
goge gebaut hatte. Wie alle anderen heidnischen Hauptmannes »wunderte«.
Hauptmänner im NT wird er in einem Keiner »in Israel« hatte solch ein mutiges

254
Lukas 7

Zeugnis über die absolute Autorität Jesu C. Der Menschensohn ermutigt


vorgebracht. »So großer Glaube« konnte seinen Vorläufer (7,18-23)
nicht unbelohnt bleiben. Als sie zum 7,18-20 Die Nachricht von den Wundern
»Haus« des Zenturio zurückkehrten, Jesu gelangte auch zu »Johannes« dem
»fanden sie den kranken Knecht ge- Täufer im Gefängnis der Feste Machärus
sund«. am Ostufer des Toten Meeres. Wenn
Das ist eines der beiden Ereignisse, Jesus wirklich der Messias war, warum
bei denen von Jesus gesagt wird, daß er gebrauchte er dann nicht seine Macht,
sich wunderte. Er wunderte sich über um Johannes aus den Händen des Hero-
den Glauben dieses heidnischen Haupt- des zu befreien? Deshalb sandte Johan-
mannes, und er wunderte sich über den nes »zwei seiner Jünger«, um Jesus zu
Unglauben Israels (Mk 6,6). fragen, ob er wirklich der Messias sei,
oder ob der Christus erst noch kommen
B. Die Auferweckung des Jünglings
müsse. Es mag seltsam erscheinen, daß
von Nain (7,11-17)
Johannes hier anzweifelt, daß Jesus der
7,11-15 »Nain« war eine kleine Stadt süd- Messias ist. Doch wir müssen uns daran
westlich von Kapernaum. Als Jesus zu erinnern, daß auch die gläubigsten Men-
dieser Stadt kam, sah er eine Beerdi- schen Tiefpunkte in ihrem Glauben erle-
gungsprozession »aus der Stadt« kom- ben. Auch körperliches Leiden kann zu
men. Der Tote war »der einzige Sohn sei- schweren geistlichen Depressionen
ner Mutter, und sie war eine Witwe«. Der führen.
Herr war »innerlich bewegt über« die 7,21-23 Jesus beantwortet die Frage
trauernde Mutter. Er »rührte die Bahre des Johannes, indem er ihn daran erin-
an«, auf der der Leib getragen wurde – nert, daß er die Wunder getan habe, die
offensichtlich, um die Prozession anzu- der Messias nach den Prophezeiungen
halten – und befahl dem »Jüngling« auf- tun sollte (Jes 35,5; 61,1). Dann fügte er
zustehen. Sofort kehrte Leben in den gewissermaßen als Postscriptum an
Leichnam zurück und der Junge »setzte Johannes hinzu: »Glückselig ist, wer sich
sich auf«. So »gab« der Herr über Tod nicht an mir ärgern wird.« Das kann man
und Krankheit »ihn seiner Mutter« wie- als Tadel verstehen, denn Johannes hatte
der. sich an der Tatsache geärgert, daß Jesus
7,16.17 »Furcht« ergriff die Men- nicht die Zügel der Herrschaft in seine
schen. Sie hatten ein vollmächtiges Wun- Hand genommen hatte und sich den
der gesehen. Der Tote war zum Leben Menschen in der Weise offenbart hatte,
auferweckt worden. Sie glaubten, daß wie sie es von ihm erwarteten. Doch
der Herr Jesus »ein großer Prophet« sei, kann man diese Stelle auch als Ermah-
der von Gott gesandt ist. Doch als sie sag- nung an Johannes auffassen, seinen
ten: »Gott hat sein Volk besucht«, da Glauben nicht aufzugeben.
erkannten sie wahrscheinlich nicht, daß C. G. Moore sagt dazu:
Jesus selbst Gott ist. Sie waren der Mei- Ich kenne keine für den Glauben schwie-
nung, daß das Wunder ein Beweis dafür rigere Zeiten, als die, wenn Jesus zwar jede
war, daß Gott in ihrer Mitte auf eine Menge Beweise seiner Macht liefert, sie
unpersönliche Art und Weise am Werk jedoch nicht gebraucht . . . Man braucht viel
war. Ihre »Rede« über das Wunder ver- Gnade, wenn die Boten zurückkommen und
breitete sich »in der ganzen Umgegend«. sagen: »Ja, er hat alle Macht, und er ist genau
Die Aufzeichnungen des Dr. Lukas der, für den du ihn hältst, doch er hat nichts
enthalten die Auferweckung bzw. Hei- davon gesagt, daß er dich aus dem Gefängnis
lung von drei Kindern, die jeweils das holen wolle . . .« Keine Erklärung, der Glau-
einzige Kind ihrer Eltern sind: Der Jüng- be zwar bestätigt, doch die Gefängnistüren
ling zu Nain, Jairus’ Tochter (8,42) und noch immer verschlossen, und dann die Bot-
das Kind, das von Dämonen besessen schaft »Glückselig ist, wer sich nicht an mir
war (9,38). ärgern wird«. Das ist alles!18)

255
Lukas 7

D. Der Menschensohn lobt seinen Jahwe spricht von Jesus, daher wird hier die
Vorläufer (7,24-29) Form »deinen« benutzt. Wenn wir diese
7,24 Was immer Jesus Johannes privat zu Beweise betrachten, folgt dann nicht aus die-
sagen hatte, er hatte für ihn in der Öffent- sem Zitat, daß sowohl nach des Propheten als
lichkeit nur Lob. Als die Menschen hin- auch Jesu Ansicht, das Erscheinen des Mes-
aus in die Wüste an den Jordan geströmt sias das Erscheinen Jahwes ist?19)
waren, was hatten sie denn erwartet? 7,28 Jesus lobt Johannes weiter,
Einen Schwächling, der bei jeder Gele- indem er versichert, daß »unter den von
genheit umkippte? Niemand konnte Frauen Geborenen kein größerer Prophet
Johannes je anklagen, »ein Rohr, vom als Johannes der Täufer« war. Doch die
Wind hin und her bewegt« zu sein. Segnungen des »Reiches Gottes« zu
7,25 Hatten sie etwa erwartet, einen erfahren ist »größer« als Vorläufer des
Hollywood-Playboy zu finden, der Königs zu sein.
modisch gekleidet war und in Luxus und 7,29 Jesus spricht eventuell noch in
Bequemlichkeit schwelgte? Nein, das ist Vers 29. Das Wort »ihn«, das in vielen
die Sorte Menschen, die an »königlichen Übersetzungen aus Verständnisgründen
Höfen« herumlungern, die alle Bequem- eingefügt ist, bezieht sich dann wahr-
lichkeit des Palastes suchen und die jede scheinlich auf Johannes. Lukas erinnert
»Beziehung«, die sie dorthin haben, zu hier an die Aufnahme der Predigt des
ihren Gunsten und Gewinn ausnutzen. Johannes. Die einfachen Leute wie »die
7,26 Oder wollten sie »einen Prophe- Zöllner« wurden im Jordan getauft.
ten« sehen? Da waren sie an der richtigen Indem sie der Botschaft des Johannes
Adresse – er war das personifizierte glaubten und danach handelten, gaben
Gewissen, das das Wort des lebendigen sie »Gott recht«, d. h. sie erkannten an,
Gottes weitersagte, ganz gleich, was es daß Gott gerecht ist, wenn er vom Volk
ihn kosten mochte. Er war sogar »mehr Israel verlangte, daß es erst Buße tun sol-
als ein Prophet«. le, ehe Christus über sie regieren könne.
7,27 Er selbst war von den Propheten
vorhergesagt worden, und er hatte das E. Der Menschensohn kritisiert die
einzigartige Vorrecht, den König Menschen seiner Zeit (7,30-35)
anzukündigen. Jesus zitierte aus Malea- 7,30-34 »Die Pharisäer . . . und die Geset-
chi 3,1, um zu zeigen, daß Johannes im zesgelehrten« weigerten sich, sich der
AT vorausgesagt worden war, doch Taufe des Johannes zu unterziehen, und
dabei veränderte er auf interessante Wei- so lehnten sie Gottes Plan für ihr Wohler-
se die Pronomen in dem Satz. In Malea- gehen ab. Es war sogar unmöglich, »die-
chi 3,1 lesen wir: »Siehe, ich sende mei- ses Geschlecht« zu befriedigen, deren
nen Boten, damit er den Weg vor mir her Führer sie waren. Jesus vergleicht sie mit
bereite.« Doch Jesus zitierte: »Siehe, ich »Kindern«, die »auf dem Markt« spielen.
sende meinen Boten vor deinem Ange- Sie wollten weder Hochzeit noch Begräb-
sicht her, der deinen Weg vor dir bereiten nis spielen. Sie waren pervers, verwöhnt,
wird.« Das Pronomen mein wird zu unberechenbar und störrisch. Ganz
»dein« verändert. gleich, wie Gott unter ihnen wirkte, sie
Godet erklärt diese Veränderung fol- nahmen daran Anstoß. »Johannes der
gendermaßen: Täufer« gab ihnen ein Beispiel der Stren-
In der Sicht des Propheten waren der ge, der Askese und der Selbstverleug-
Sendende und der, dem der Weg bereitet wur- nung. Sie mochten es nicht, sondern
de, ein und dieselbe Person, nämlich Jahwe. beschuldigten ihn, von Dämonen beses-
Daher das »vor mir« bei Maleachi. Doch für sen zu sein. Der »Sohn des Menschen« aß
Jesus, der, wenn er von sich selbst sprach, und trank mit den »Zöllnern und Sün-
sich nie mit dem Vater verwechselte, wird dern«, d. h. er identifizierte sich mit
eine Unterscheidung notwendig. Hier denen, die er segnen wollte. Doch noch
spricht Jahwe nicht von sich selbst, sondern immer waren die Pharisäer nicht zufrie-

256
Lukas 7

den und nannten ihn einen »Weinsäufer« ließ, seinen Kopf gegen den Tisch gewen-
und Völler. Fasten oder Feiern, Begräbnis det, »trat sie von hinten an seine Füße
oder Hochzeit, Johannes oder Jesus – nie- heran«. Sie wusch »seine Füße mit Trä-
mand konnte es ihnen recht machen! nen . . ., trocknete sie mit den Haaren
Ryle ermahnt uns: ihres Hauptes« und »küßte« sie immer
Wir müssen den Gedanken aufgeben, wieder. Dann »salbte sie« sie mit dem
jedem gefallen zu können. Das ist unmöglich kostbaren Parfum. Diese Verehrung und
und allein der Versuch ist Zeitverschwen- Opferbereitschaft, die sie Jesus erzeigte,
dung. Wir müssen zufrieden sein, in den offenbarte, daß ihr für Jesus nichts zu
Fußstapfen Jesu zu gehen und die Welt sagen kostbar war.
zu lassen, was sie will. Wir können tun, was 7,39 Die Haltung Simons war ganz
wir wollen, wir werden sie nie befriedigen anders. Er war der Ansicht, daß sich Pro-
noch ihr den bösen Mund stopfen können. Sie pheten, ganz wie die Pharisäer, von den
kritisierte zuerst Johannes den Täufer und Sündern absondern sollten. Wenn Jesus
dann seinen wunderbaren Herrn. Und sie »ein Prophet wäre«, so schloß er, dann
wird weiter nörgeln und auch an den Jün- hätte er nicht zugelassen, daß »eine Sün-
gern des Meisters kein gutes Haar lassen, derin« ihm solche Liebe erweist.
solange noch einer von ihnen auf der Erde
lebt.
20) G. Das Gleichnis von den zwei
7,35 Doch »die Weisheit ist gerecht- Schuldnern (7,40-50)
fertigt worden von allen ihren Kindern«. 7,40-43 Jesus konnte seine Gedanken
»Weisheit« steht hier für den Retter lesen und bat Simon höflich um Erlaub-
selbst. Die kleine Minderheit seiner Jün- nis, ihm »etwas zu sagen«. Mit unüber-
ger, die ihn ehrt, sind die »Kinder« der troffener Fertigkeit erzählte der Herr die
Weisheit. Auch wenn die Masse ihn Geschichte vom »Gläubiger« und seinen
ablehnt, so werden doch seine echten »zwei Schuldnern«. »Der eine schuldete«
Nachfolger seine Behauptungen durch hundert Mark, der andere zehn. Als bei-
ein Leben voll Liebe, Heiligung und Hin- de »nicht zahlen konnten«, erließ er bei-
gabe rechtfertigen. den die Schuld. An diesem Punkt fragte
Jesus Simon, welcher von den beiden
F. Eine Sünderin salbt den Erlöser Schuldnern den Gläubiger »am meisten
(7,36-39) lieben« werde. Der Pharisäer antwortete
7,36 In dem folgenden Ereignis haben ganz richtig: »Ich denke, dem er das mei-
wir ein Bild davon, wie die Weisheit von ste geschenkt hat.« Indem er das zugab,
einem ihrer Kinder gerechtfertigt wird, verurteilte er sich selbst, wie Jesus ihm
nämlich durch eine Sünderin. Wie nun zeigte.
Dr. H. C. Woodring so treffend sagt: 7,44-47 Von dem Zeitpunkt an, als
»Wenn es Gott nicht gelingt, die religiö- Jesus »hereingekommen« war, hatte die-
sen Führer dazu zu bringen, Jesus zu se Frau ihre Liebe über ihn ausgeschüt-
ehren, dann wird es ihm bei den Huren tet. Der Pharisäer dagegen hatte ihn recht
gelingen.« Simon, der Pharisäer, hatte kühl empfangen und ihm noch nicht ein-
Jesus eingeladen, »mit ihm« zu »essen«, mal die üblichen Höflichkeiten erwiesen,
vielleicht aus Neugier, vielleicht aber wie die Fußwaschung, den Freund-
auch aus Feindschaft. schaftskuß und Öl für das Haupt. War-
7,37.38 Eine sündige »Frau« kam um dieser Unterschied? Die Frau wußte,
gleichzeitig herein. Wir wissen nicht, wer daß ihr viel »vergeben« worden war,
sie war. Die Überlieferung, daß es sich während sich Simon überhaupt nicht als
um Maria Magdalena handele, findet in Sünder fühlte. »Wem aber wenig verge-
der Schrift keine Unterstützung. Diese ben wird, der liebt wenig.«
Frau »brachte eine« weiße durchschei- Jesus wollte damit nicht sagen, daß
nende »Flasche« mit Parfum. Als Jesus der Pharisäer nicht auch ein großer Sün-
sich auf einem Sofa zum Essen nieder- der sei, sondern er betonte, daß Simon

257
Lukas 7 und 8

noch nie seine große Schuld erkannt hat- H. Einige Frauen dienen Jesus (8,1-3)
te und ihm vergeben worden war. Wenn 8,1-3 Es ist immer gut, sich in Erinnerung
das der Fall gewesen wäre, so hätte er zu rufen, daß die Evangelien nur einige
den Herrn so sehr wie die Hure geliebt. der Ereignisse des Lebens und Dienstes
Wir sind alle große Sünder. Wir alle wis- unseres Herrn berichten. Der Heilige
sen, wie groß Jesu Vergebung ist. Wir Geist wählte die Themen, die ihm gut
alle können den Herrn deshalb »viel erschienen, doch viele andere ließ er aus.
lieben«. Hier haben wir die einfache Feststellung,
7,48 Jesus erklärte dann öffentlich, daß Jesus mit seinen Jüngern in den
daß die Sünden der Frau »vergeben« »Städten und Dörfern« Galiläas diente.
waren. Ihr war nicht vergeben, weil sie Bei seiner Predigt verkündigte er die
Jesus liebte, sondern ihre Liebe war die gute Nachricht »vom Reich Gottes«.
Folge der Vergebung. Sie liebte viel, weil Während dieser Predigtreisen »dienten«
ihr viel vergeben war. Jesus nahm ihm einige »Frauen«, die durch ihn
diese Gelegenheit wahr, um ihr öffent- gesegnet worden waren, wahrscheinlich,
lich die Vergebung der Sünden zuzu- indem sie ihm Essen und Unterkunft
sprechen. boten. Da war zum Beispiel »Maria,
7,49.50 Die anderen Gäste stellten bei genannt Magdalena«. Einige denken,
sich das Recht Jesu in Frage, »Sünden« daß sie eine hochstehende Frau aus Mag-
zu vergeben. Das natürliche Herz haßt dala (heute Migdol) war. Wie auch
die Gnade. Doch Jesus versicherte »der immer, sie war auf wunderbare Weise
Frau« nochmals, daß ihr »Glaube« sie »von sieben Dämonen« befreit worden.
»gerettet« habe und daß sie »in Frieden« Dann war da Johanna, deren Mann »Ver-
gehen solle. Das ist etwas, das kein Psy- walter des Herodes« war. Susanna war
chiater kann. Sie mögen zwar Schuld- eine weitere, und es gab noch »viele
komplexe wegerklären können, doch sie andere«. Ihre Freundlichkeit gegenüber
können niemals den Frieden und die dem Herrn sollte nicht unbeachtet blei-
Freude geben, die Jesus schenkt. ben. Sie dachten wahrscheinlich wenig
Das Verhalten unseres Herrn, hier mit daran, daß Christen aller Zeitalter von
einem Pharisäer am Tisch zu sitzen, wird ihrer Großzügigkeit und Gastfreund-
von einigen Menschen ins Feld geführt, schaft lesen würden.
wenn sie Freundschaften mit unbekehr- Das Thema der Predigt des Herrn
ten Menschen rechtfertigen wollen oder Jesus war die Gute Nachricht »vom
die Gewohnheit, an ihren Vergnügen teil- Reich Gottes«. Das »Reich Gottes« ist das
zunehmen. Ryle warnt hier: Gebiet, sichtbar oder unsichtbar, in wel-
Wer ein solches Argument benutzt, sollte chem die Herrschaft Gottes anerkannt
wohl daran tun, sich des Verhaltens des wird. Matthäus verwendet den Aus-
Herrn bei dieser Gelegenheit zu erinnern. Er druck »Reich der Himmel«, doch das ist
nahm das »Werk seines Vaters« mit an den im wesentlichen dasselbe. Es bedeutet
Tisch des Pharisäers. Er legte gegen die einfach, »daß der Höchste Macht hat
Schuld des Pharisäers Zeugnis ab. Er erklär- über das Königtum der Menschen« (Dan
te dem Pharisäer das Wesen der geschenkten 4,14) oder daß »die Himmel herrschen«
Vergebung der Sünden und das Geheimnis (Dan 4,23).
echter Liebe zu ihm. Wenn Christen, die für Es gibt verschiedene Entwicklungs-
enge Freundschaften zu Unbekehrten plädie- stufen des Reiches im NT:
ren, ihre Häuser im Geist unseres Herrn 1. Erstens wurde das Reich von Johan-
besuchen, so reden und sich verhalten, wie er nes dem Täufer angekündigt, daß es
es tat, dann sollen sie auf jeden Fall damit »nahe« gekommen sei (Matth 3,1.2).
fortfahren. Doch reden und verhalten sie sich 2. Dann war das Reich wirklich anwe-
am Tisch ihrer unbekehrten Freunde so wie send in der Person des Königs (»das
Jesus am Tisch Simons? Diese Frage sollten Reich Gottes ist mitten unter euch«
21)
sie vorher beantworten. Lk 17,21). Das war die Gute Nach-

258
Lukas 8

richt des Reiches, die Christus ver- Möglichkeit, jedoch nicht als Notwen-
kündigte. Er bot sich selbst als König digkeit betrachtet, wird das zum eigenen
Israels an (Lk 23,3). Schaden tun. Doch wer hört und ge-
3. Als nächstes sehen wir, wie das Reich horcht, wird mehr Licht von Gott erhal-
vom Volk Israel abgelehnt wird ten. Das Gleichnis wurde vor einer »gro-
(Lk 19,14; Joh 19.15). ßen Volksmenge« erzählt, später dann
4. Heute besteht das Reich in einer den Jüngern erklärt.
geheimnisvollen Form (Matth 13, 11). In dem Gleichnis geht es um einen
Christus, der König, ist zur Zeit ab- »Sämann«, »seinen Samen«, vier ver-
wesend, doch seine Herrschaft wird schiedene Ackerböden, die den Samen
in den Herzen einiger Menschen auf aufnehmen, und vier Folgen.
der Erde anerkannt. In gewissem Sin- Art des
ne gehören zum Reich Gottes alle, die Ackerbodens Ergebnis
sich zur Herrschaft Gottes bekennen, 1. Weg »zertreten« von Men-
auch wenn sie nicht wirklich bekehrt schen und von Vögeln
sind. Das ist der Bereich des äußeren gefressen.
Bekenntnisses, den wir im Gleichnis 2. Fels »verdorrt« wegen
vom Sämann (Lk 8,4-15) und vom mangelnder »Feuchtig-
Unkraut und Weizen sehen (Matth keit«.
13,24-30), und im Gleichnis vom 3. Dornen Wachstum durch »Dor-
Fischnetz (Matth 13,47-50). Doch in nen . . . erstickt«.
seinem tieferen, wahren Sinne ge- 4. Gute Erde Für jedes gesäte Korn
hören zum Reich nur die Bekehrten »hundertfache Frucht«.
(Matth 18,3) oder die Wiedergebore- Der Herr beendete das Gleichnis mit
nen (Joh 3,3). Das ist der Bereich der den Worten: »Wer Ohren hat zu hören,
inneren Redlichkeit (Siehe auch das der höre!« Mit anderen Worten, wenn du
Schaubild bei Matthäus 3,2). das Wort Gottes hörst, achte darauf, wie
5. Das Reich wird eines Tages wörtlich du es aufnimmst! Die Saat muß auf »gute
hier auf Erden errichtet werden und Erde« fallen, damit sie Frucht bringt.
der Herr Jesus wird tausend Jahre als 8,9.10 Als seine Jünger den Herrn
König der Könige und Herr der Her- fragten, »was dieses Gleichnis bedeute«,
ren regieren (Offb 11,15; 19,16; 20,4). erklärte er, daß nicht jeder »die Geheim-
6. Die abschließende Phase ist unter nisse des Reiches Gottes« versteht. Weil
dem Namen »das ewige Reich unse- die Jünger bereit waren, zu vertrauen
res Herrn und Heilandes Jesus Chri- und zu gehorchen, sollte ihnen die Fähig-
stus« (2. Petr 1,11) bekannt. Das ist keit »gegeben« werden, die Lehren Chri-
das Reich der Ewigkeit. sti zu verstehen. Doch Jesus kleidete
absichtlich viele Wahrheiten in die Form
I. Das Gleichnis vom Sämann (8,4-15) von »Gleichnissen«, damit diejenigen,
8,4-8 Das »Gleichnis« vom »Sämann« die ihn nicht wirklich liebten, sie »nicht
beschreibt das Reich, wie es jetzt aus- verstehen« könnten, so daß sie »sehend
sieht. Es lehrt uns, daß das Reich Gottes nicht sehen und hörend nicht verstehen«
sowohl äußerliche Bekenner als auch sollten. In gewissem Sinne konnten diese
echte Gläubige enthält. Und es ist die Menschen natürlich sehen und hören. Sie
Grundlage für eine äußerst ernste War- verstanden zum Beispiel, daß Jesus von
nung, das Wort Gottes recht »zu hören«. einem Sämann und seiner Saat geredet
Es ist Verantwortung damit verbunden, hatte. Doch sie verstanden die tiefere
das Wort Gottes gepredigt und gelehrt zu Bedeutung des Bildes nicht. Sie erkann-
bekommen. Wer zuhört, wird für mehr ten nicht, daß ihre Herzen verhärtet,
verantwortlich sein als je zuvor. Wer über starrsinnig und wie dorniger Boden
die Botschaft leichtfertig hinweggeht, waren, und daß sie keinen Nutzen von
oder den Gehorsam gegen sie zwar als dem Wort haben würden, das sie hörten.

259
Lukas 8

8,11-15 Nur den Jüngern legte Jesus J. Die Verantwortung der Zuhörer
das Gleichnis aus. Sie hatten schon die (8,16-18)
Lehren angenommen, die sie bisher 8,16 Auf den ersten Blick scheint zwi-
gehört hatten, und deshalb konnten sie schen diesem und dem vorhergehenden
Neues erfahren. Jesus erklärte, daß der Abschnitt keine Beziehung zu bestehen.
Same »das Wort Gottes« ist, d. h. die Doch in Wirklichkeit haben wir hier
Wahrheit Gottes – seine eigene Lehre. einen durchgehenden Gedankengang.
Die Hörer »an dem Weg« hörten das Der Erlöser redet immer noch von der
Wort zwar, doch nur sehr oberflächlich. Bedeutung dessen, was seine Jünger mit
Es blieb an der Oberfläche ihres Lebens. seinen Lehren anfangen. Er vergleicht
Das machte es »dem Teufel« (für den die sich selbst mit einem Mann, »der eine
Vögel des Himmels ein Bild sind) mög- Lampe angezündet hat«, die man nicht
lich, das Wort wieder wegzunehmen. unter »ein Gefäß« oder »ein Bett« stellt,
Die Hörer »auf dem Felsen« hatten sondern auf ein »Lampengestell«, damit
auch das Wort gehört, doch sie wollten alle »das Licht sehen«. Als Jesus den Jün-
nicht, daß es sie aufbreche. Sie wollten gern die Grundsätze des Reiches Gottes
sich nicht bekehren. Dem Samen wurde lehrte, zündete er eine Lampe an. Was
keine Ermutigung (Feuchtigkeit) gege- sollten sie nun damit tun?
ben, so welkte er dahin und starb. Viel- Erstens sollten sie sie nicht »mit
leicht bekannten sie zuerst eifrig ihren einem Gefäß bedecken«. In Matthäus
Glauben, doch war ihr Glaube nicht echt 5,15, Markus 4,21 und Lukas 11,33
und tief. Scheinbar lebten sie, doch unter spricht Jesus statt vom Gefäß von einem
der Oberfläche hatten sie »keine Wur- Scheffel. Dies ist natürlich eine Maßein-
zel«. Als Probleme kamen, verließen sie heit, die in der Geschäftswelt verwendet
ihr christliches Bekenntnis. wird. So könnte das Bild von der unterm
Die Hörer auf dem dornenverseuch- Scheffel versteckten Lampe davon spre-
ten Boden schienen für eine Weile ganz chen, daß man sein Zeugnis durch das
gut vorwärtszukommen, doch sie zeig- harte Geschäftsleben verzerren oder ver-
ten, daß sie keine echten Gläubigen dunkeln läßt. Es wäre besser, die Lampe
waren, indem sie nicht unerschütterlich auf den Scheffel zu stellen, das heißt, das
weitergehen. »Sorgen und Reichtum und Christentum mit auf den Marktplatz zu
Vergnügungen des Lebens« übernahmen nehmen und das Geschäft als Kanzel zur
die Leitung, und das Wort wurde erstickt Verkündigung des Evangeliums zu nut-
und erdrückt. zen.
»Die gute Erde« steht für die Gläubi- Zweitens sollten die Jünger die Lam-
gen, deren Herzen »redlich und gut« pe nicht »unter einem Bett« verstecken.
waren. Sie hörten das Wort nicht nur, Das Bett spricht von Ruhe, Bequemlich-
sondern erlaubten ihm auch, ihr Leben keit, Trägheit und Verwöhnung. Wie sehr
zu verändern. Sie waren belehrbar und können sie das Licht hindern zu schei-
gehorsam, und entwickelten einen echt nen! Der Jünger sollte seine Lampe auf
christlichen Charakter und brachten »die ein »Lampengestell« stellen. Mit anderen
Frucht« für Gott. Worten, er sollte die Wahrheit so ausle-
Darby faßte die Botschaft dieses ben und predigen, daß alle sie sehen kön-
Abschnittes wie folgt zusammen: nen.
Wenn ich nach dem Hören das Gehörte 8,17 Vers 17 scheint nahezulegen,
besitze, und nicht nur Freude daran habe, es daß, wenn wir die Botschaft durch unser
zu besitzen, sondern es als mein Eigentum in Geschäft oder unsere Faulheit beschrän-
Anspruch nehme, dann wird es ein Teil mei- ken wollen, unsere Vernachlässigung
ner Seele, und ich werde mehr empfangen, herausgestellt werden wird. Verborgene
denn wenn die Wahrheit Bestandteil meiner Wahrheit wird »offenbar« werden und
Seele geworden ist, dann ist Platz für weite- trotz Geheimhaltung wird sie »ans Licht
22)
res geworden. kommen«.

260
Lukas 8

8,18 Deshalb sollten wir sehr sorgfäl- Satans, den Erlöser der Welt zu vernich-
tig darauf achten, »wie« wir »hören«. ten.
Wenn wir die Wahrheit treu anderen 8,23 Jesus »schlief«, während der
Menschen weitersagen, dann wird Gott Sturm losbrach. Die Tatsache, daß er
uns neue und tiefere Wahrheiten offen- schlief, zeigt seine echte Menschlichkeit.
baren. Wenn wir auf der anderen Seite Der Sturm mußte schlafen, als Jesus
diesen Geist evangelistischen Eifers nicht sprach, das zeigt seine vollkommene
haben, wird uns Gott der Wahrheit Göttlichkeit.
berauben, die wir meinen zu haben. Was 8,24 Die Jünger »weckten« den Erlö-
wir nicht nützen, verlieren wir. ser und sprachen von ihrer Furcht um
G. H. Lang kommentiert: ihre eigene Sicherheit. Mit vollkomme-
Die Jünger hörten mit einem Geist, der ner Ruhe »bedrohte er den Wind« und
gerne verstehen wollte, und in der Bereit- die Wellen, »und es trat Stille ein«. Was er
schaft zu Glaube und Gehorsam. Die anderen auf dem See Genezareth getan hat, das
hörten entweder teilnahmslos zu, oder aus kann er für den besorgten, sturmgeschüt-
Neugier oder aus offener Feindschaft. Den telten Jünger auch heute noch tun.
Jüngern sollte mehr Wissen geschenkt wer- 8,25 Er fragte die Jünger: »Wo ist euer
den, die anderen sollten auch noch das Wis- Glaube?« Sie hätten sich keine Sorgen
23)
sen verlieren, das sie schon hatten. machen müssen. Sie hätten ihn nicht
wecken müssen. »Kein Wasser kann das
K Die wahren Verwandten Jesu Schiff verschlingen, in dem der Herr des
(8,19-21) Ozeans, der Erde und des Himmels
8,19-21 An diesem Punkt seiner Rede liegt.« Wer bei Christus im Boot sitzt, ist
wird Jesus gesagt, daß »seine Mutter und absolut sicher.
seine Brüder« auf ihn warteten, um ihn Die Jünger erkannten nicht die ganze
zu besuchen. »Sie konnten wegen der Macht ihres Meisters. Ihr Verständnis
Volksmenge nicht zu ihm gelangen.« Die von ihm war äußerst unvollkommen.
Antwort des Herrn lautete, daß echte »Sie erstaunten« über die Tatsache, daß
Verwandtschaft zu ihm nicht von leibli- die Naturgewalten ihm gehorchten. Sie
cher Verwandtschaft abhängt, sondern sind nicht anders als wir selbst. In den
vom Gehorsam gegenüber dem »Wort Stürmen des Lebens verzweifeln wir oft.
Gottes«. Er erkennt alle als Glieder seiner Wenn dann der Herr uns zur Hilfe
Familie an, die vor dem Wort Gottes zit- kommt, dann sind wir erstaunt, wie er
tern, es in Demut annehmen und ihm seine Macht zeigt. Und wir fragen uns,
genau gehorchen. Keine Volksmenge ist warum wir ihm nicht mehr vertraut
in der Lage, seine geistliche Familie von haben.
einer Audienz bei ihm abzuhalten.
M. Die Heilung eines besessenen
L. Der Menschensohn stillt den Sturm Geraseners (8,26-39)
(8,22-15) 8,26.27 Als Jesus und seine Jünger das
8,22 In den restlichen Versen des Kapitels Ufer erreichten, waren sie im Bezirk »der
24)
sehen wir, wie Jesus seine Herrschaft Gerasener«. Sie begegneten »einem
über Naturgewalten, Dämonen, Krank- Mann«, der von »Dämonen« besessen
heit und sogar über den Tod ausdehnt. war. Matthäus erwähnt zwei Besessene,
Diese alle gehorchen seinem Wort, nur während Markus und Lukas nur einen
der Mensch weigert sich. erwähnen. Solche scheinbaren Diskre-
Auf dem See Genezareth kommen oft panzen könnten anzeigen, daß es sich
sehr plötzlich Stürme auf, die für die hier in Wirklichkeit um zwei verschiede-
kleinen Schiffe sehr gefährlich werden ne Ereignisse handeln könnte, oder daß
können. Doch vielleicht hatte dieser ein Autor einen vollständigeren Bericht
Sturm einen satanischen Ursprung, viel- als die anderen liefern. Dieser besondere
leicht war es der vergebliche Versuch Fall von Besessenheit ließ das Opfer ohne

261
Lukas 8

Kleider herumlaufen, die menschliche eine große Menge versammelte, sahen


Gesellschaft meiden und »in den Grab- sie den ehemals Besessenen vollkommen
stätten« leben. geheilt und ordentlich. »Die ganze Men-
8,28.29 »Als er aber Jesus sah«, bettel- ge aus der Umgegend der Gerasener«
te er, ihn in Ruhe zu lassen. Natürlich war so aufgeregt darüber, daß sie Jesus
war das der »unreine Geist«, der durch baten, »von ihnen wegzugehen«. Sie
den bedauernswerten Mann sprach. dachten mehr an ihre Schweine als an
Besessenheit ist eine echte Gefahr. den Erlöser, mehr an ihre Sauen als an
Diese Dämonen waren nicht nur ihre Seelen. Darby beobachtete:
»schlechte Einflüsse«. Sie sind über- Die Welt bittet Jesus, wegzugehen, da sie
natürliche Wesen, die in Menschen woh- ihre eigene Bequemlichkeit liebt, die durch die
nen können und dann ihre Gedanken, Gegenwart und Macht Gottes mehr gestört
Äußerungen und ihr Verhalten kontrol- wird als durch eine Legion Dämonen. Jesus
lieren. Die Dämonen, um die es sich hier geht weg. Der Geheilte . . . würde gerne bei
handelt, waren die Ursache dafür, daß ihm bleiben, doch Jesus sendet ihn zu-
dieser Mann extrem gewalttätig war, so rück . . ., damit er ein Zeugnis der Gnade
25)
sehr, daß er, als er einen seiner Anfälle und Macht ist, die ihn geheilt hat.
hatte, Ketten »zerbrochen« hatte, die ihn Als Jesus später noch einmal das
zähmen sollten. Anschließend war er »in Gebiet der Zehn Städte besucht, emp-
die Wüsteneien« gerannt. Das ist nicht fängt ihn eine wohlgesonnene Menge
weiter erstaunlich, wenn man erfährt, (Mk 7,31-37). Lag das an dem treuen
daß in diesem Mann genug Dämonen Zeugnis des Mannes, der von seinen
saßen, um eine Herde von zweitausend Dämonen befreit worden war?
Schweinen zu töten (s. Mk 5,13).
8,30.31 Der Name des Mannes war N. Jesus heilt die Unheilbaren und
»Legion«, weil er von einer Legion »Dä- erweckt Tote zum Leben (8,40-56)
monen« besessen war. Diese Dämonen 8,40-42 Jesus fuhr über den See Geneza-
erkannten Jesus als Sohn Gottes, des reth zurück ans Westufer. Dort »erwarte-
Höchsten. Sie wußten auch, daß ihr te« ihn schon wieder eine Menschen-
Schicksal unausweichlich war. Doch sie menge. Besonders »Jairus«, der »Vorste-
baten um Begnadigung und bettelten her der Synagoge« wartete auf ihn, denn
darum, »daß er ihnen nicht gebieten er hatte eine »Tochter von etwa zwölf
möchte«, sofort »in den Abgrund zu fah- Jahren, und diese lag im Sterben«. Er bat
ren«. Jesus dringlich, schnell mit ihm zu kom-
8,32.33 Sie wollten die Genehmigung men. Doch »die Volksmenge drängte
erlangen, in eine »Herde von vielen ihn«, und hinderte ihn am Vorwärtskom-
Schweinen« zu fahren, die in der Nähe men.
an einem Berg »weideten«. Das wurde 8,43 In der Menge war ein furchtsa-
ihnen mit dem Ergebnis erlaubt, daß »die me, doch verzweifelte »Frau, die seit
Herde sich den Abhang hinab in den See zwölf Jahren« an »Blutfluß« litt. Lukas
stürzte und ertrank«. Heutzutage klagt der Arzt gibt zu, daß sie »ihren ganzen
man den Herrn an, daß er das Eigentum Lebensunterhalt« und ihre Ersparnisse
fremder Menschen damit beschädigt »an die Ärzte verwandt hatte«, ohne Hil-
habe. Wenn diese Schweinezüchter fe zu erlangen. (Markus fügt die laien-
jedoch Juden gewesen sind, dann hatten hafte Aussage hinzu, daß es ihr sogar
sie ein unreines und dem Gesetz wider- schlechter ging!)
sprechendes Geschäft. Und ob sie nun 8,44.45 Sie fühlte, daß Jesus die Macht
Juden oder Heiden waren, ihnen sollte hatte, sie zu heilen, und so bahnte sie sich
ein Mensch mehr wert sein als zweitau- ihren Weg durch die Menge bis zu ihm.
send Schweine. Sie beugte sich nieder und »rührte die
8,34-39 Die Nachricht verbreitete sich Quaste seines Kleides an«, den Saum
schnell in der ganzen Gegend. Als sich oder die Fransen, die den unteren

262
Lukas 8 und 9

Abschluß eines jüdischen Gewandes bil- den Raum, in dem das Kind lag. Alle
deten (4. Mose 15,38.39; 5. Mose 22,12). klagten voller Verzweiflung, doch Jesus
»Sogleich hörte ihr Blutfluß auf«, und sie sagte ihnen, daß sie damit aufhören soll-
war vollständig geheilt. Sie versuchte, ten, weil sie »nicht gestorben« sei, son-
sich still wegzustehlen, doch ihre Flucht dern nur schlafe. Da »lachten sie ihn
wurde von der Frage Jesu gestoppt: »Wer aus«, weil sie sich sicher waren, »daß sie
ist es, der mich angerührt hat?« Petrus gestorben war«.
und die anderen Jünger dachten, daß War sie nun wirklich tot, oder lag sie
dies eine recht müßige Frage sei, da alle nur in einem tiefen Schlaf, etwa einem
Menschen ihn drängten, schoben und Koma? Die meisten Ausleger sind der
drückten! Meinung, daß sie tot war. Sie weisen dar-
8,46 »Jesus aber« hatte eine besonde- auf hin, daß Jesus auch von Lazarus sag-
re Berührung bemerkt. Wie jemand ein- te, er schlafe, und damit meinte, daß er
mal sagte: »Das Fleisch drängt, aber der gestorben sei. Sir Robert Anderson ist
Glaube berührt.« Er wußte, daß ihn jedoch der Ansicht, daß das Mädchen
26)
jemand im Glauben »angerührt« hatte, nicht tot war. Er argumentiert wie folgt:
weil er spürte, »daß Kraft von mir ausge- 1. Jesus sagte, daß das Mädchen »geret-
gangen ist« – die Kraft, die die Frau tet« werden solle. Das Wort, das er
geheilt hatte. Nicht daß er in irgendeiner verwendete, ist dasselbe wie in Vers
Weise weniger stark gewesen wäre als 48 dieses Kapitels, wo es sich auf Hei-
vorher, sondern es kostete ihn einfach lung, nicht auf Auferstehung bezieht.
etwas, zu heilen. Er hatte sich in gewisser Das Wort wird im NT niemals für die
Weise verausgabt. Auferstehung der Toten benutzt.
8,47.48 »Die Frau . . . kam . . . zit- 2. Jesus benutzte bei Lazarus ein ande-
ternd« zu ihm und entschuldigte sich, res Wort für schlafen.
daß »sie ihn angerührt habe« und gab ein 3. Die Menschen waren der Überzeu-
frohes Zeugnis des Geschehens. Ihr gung, das das Mädchen tot war, doch
öffentliches Bekenntnis wurde von Jesus Jesus wollte nicht das Lob dafür, daß
mit einem öffentlichen Lob für ihren er sie von den Toten auferweckt habe,
»Glauben« belohnt, und er erklärte wenn sie in Wirklichkeit nur geschla-
öffentlich seinen »Frieden« über sie. Nie- fen hatte.
mand legt je von Jesus öffentlich Zeugnis Anderson sagt, es geht einfach dar-
ab, ohne in der Zuversicht seiner Erlö- um, wem man glauben will. Jesus sagte,
sung bestärkt zu werden. sie schlafe. Die anderen meinten zu wis-
8,49 Die Heilung der Frau mit dem sen, daß sie tot war.
Blutfluß hat Jesus wahrscheinlich nicht 8,54-56 Jedenfalls sagte Jesus zu ihr:
lange aufgehalten, doch reichte die »Kind, steh auf! . . . sogleich stand sie
Unterbrechung, daß ein Bote mit der auf.« Nachdem er sie ihren Eltern
Nachricht kommen konnte, daß Jairus’ zurückgegeben hatte, befahl Jesus ihnen,
Tochter »gestorben« sei, und daß man das Wunder nicht zu verbreiten. Er war
deshalb die Dienste des Lehrers nicht nicht an Berühmtheit, dem schwanken-
mehr benötige. Man hatte den Glauben, den Eifer der Menge und an eitler Neu-
daß er heilen könne, doch nicht, daß er gier interessiert.
die Toten auferwecken könne. So endet das zweite Jahr des Dienstes
8,50 Jesus jedoch ließ sich nicht so ein- Jesu. Mit Kapitel 9 beginnt das dritte Jahr
fach fortschicken. Er antwortete mit mit der Aussendung der Zwölf.
tröstlichen Worten: »Fürchte dich nicht,
glaube nur! Und sie wird gerettet wer- O. Der Menschensohn sendet seine
den.« Jünger aus (9,1-11)
8,51-53 Sobald er in dem Haus 9,1.2 Dieses Ereignis ist ganz ähnlich wie
ankam, ging er mit den Eltern und mit die Aussendung der Zwölf in Matthäus
»Petrus und Johannes und Jakobus« in 10,1-15, doch gibt es bemerkenswerte

263
Lukas 9

Unterschiede. Zum Beispiel werden in seinem Gebiet große Wunder tat. Sofort
Matthäus die Jünger beauftragt, nur zu fing sein Gewissen an zu fragen. Das
den Juden zu gehen, sie sollten Tote auf- Gedächtnis an Johannes verfolgte ihn
erwecken und »Krankheiten« heilen. Es noch immer. Herodes hatte diese furcht-
gibt offensichtlich einen Grund für die lose Stimme zum Schweigen gebracht,
gekürzte Version bei Lukas, doch ist die- indem er Johannes köpfen ließ, doch
ser Grund nicht offensichtlich. Der Herr wurde er noch immer von der Kraft die-
hatte nicht nur die Macht und Autorität, ses Mannes verfolgt. Wer war das, der
Wunder zu tun, sondern er übertrug die- Herodes immer wieder an Johannes den-
se »Kraft und Vollmacht« auch auf ande- ken ließ? »Von einigen wurde gesagt, daß
re. »Kraft« bedeutet die Stärke oder auch Johannes aus den Toten auferweckt wor-
die Möglichkeit zur Tat. »Vollmacht« ist den sei.«
das Recht, sie auch zu gebrauchen. Die 9,8.9 Andere sagten dagegen, daß es
Botschaft der Jünger wurde durch Zei- »Elia« oder »einer der« anderen »Pro-
chen und Wunder bestätigt (Heb 2,3.4), pheten« sei. Herodes versuchte seine
als die Bibel noch nicht vollständig in Angst zu bewältigen, indem er die Men-
schriftlicher Form vorlag. Gott kann auf schen am Hof daran erinnerte, daß er den
wunderbare Weise heilen, doch ob Hei- Täufer »enthauptet« habe. Doch die
lungen heute immer noch die Predigt des Furcht blieb. Wer war dieser andere? »Er
Evangeliums begleiten, ist sehr in Frage suchte ihn zu sehen«, doch das sollte ihm
zu stellen. bis kurz vor der Kreuzigung nicht gelin-
9,3-5 Nun sollten die Jünger eine gen.
Gelegenheit erhalten, die Prinzipien in Hier sieht man die Macht eines gei-
die Praxis umzusetzen, die Jesus sie sterfüllten Lebens! Der Herr Jesus, der
gelehrt hatte. Sie sollten ihm in Bezug auf seltsame Zimmermann aus Nazareth,
materielle Versorgung vertrauen – sie ließ Herodes zittern, ohne daß dieser ihn
sollten keine »Tasche«, kein Essen und je zu Gesicht bekommen hätte. Man soll-
kein »Geld« mitnehmen. Sie sollten sehr te nie den Einfluß eines Menschen unter-
einfach leben – sie brauchten keinen Stab schätzen, der voll des Heiligen Geistes
noch zusätzliche Kleidungsstücke. Sie ist!
sollten im ersten Haus bleiben, das sie 9,10 Als »die Apostel zurückgekehrt«
empfangen würde und nicht in der Hoff- waren, erzählten sie dem Herrn Jesus
nung umziehen, irgendwo bequemer sofort die Ergebnisse ihrer Mission. Viel-
unterzukommen. Sie sollten weder bei leicht ist dies eine gute Arbeitsweise für
denen, die ihre Botschaft ablehnten, län- alle christlichen Arbeiter. Zu oft führt die
ger bleiben, noch sollten sie Druck ausü- Veröffentlichung von Erfolgen zu Eifer-
ben, sondern sollten »auch den Staub sucht und Spaltung. Und G. Campbell
von euren Füßen, zum Zeugnis gegen Morgan kommentiert dazu, daß »unsere
sie« abschütteln. Vorliebe für Statistiken sehr selbstbezo-
9,6 Wahrscheinlich predigten die Jün- gen und fleischlich, jedoch nicht geist-
ger in den »Dörfern« Galiläas »das Evan- lich ist«. Unser Herr »nahm« die Jünger
gelium« und heilten die Kranken. Es soll- mit an eine einsame Stätte in der Gegend
te hier erwähnt werden, daß ihre Bot- von Bethsaida (Fischerhaus). Anschei-
schaft vom Reich handelte – sie kündig- nend gab es zu dieser Zeit zwei Orte
ten die Anwesenheit des Königs in ihrer namens Bethsaida, einer an der Westkü-
Mitte und seine Bereitschaft, über ein ste und einer an der Ostküste des Sees
bußfertiges Volk zu herrschen, an. Genezareth. Die genaue Lage ist unbe-
9,7 »Herodes« Antipas war zu dieser kannt.
Zeit »Vierfürst« über Galiläa und Peräa. 9,11 Schon bald wurde die Aussicht
Er regierte über ein Viertel des Gebietes auf eine ruhige Zeit zusammen wieder
seines Vaters, Herodes des Großen. Ihn zerstreut. Eine große Menge sammelte
erreichte die Botschaft, daß jemand in sich. Der Herr Jesus ist immer für die

264
Lukas 9

Menschen da. Er hielt ihre Anwesenheit Die Jünger sind das Bild für hilflose Chri-
nicht für eine störende Unterbrechung. sten, die offensichtlich begrenzte Mittel
Er war nie zu beschäftigt, um andere zu haben, diese jedoch nicht teilen wollen.
segnen. In der Tat heißt es sogar aus- Das Gebot des Herrn: »Gebt ihr ihnen zu
drücklich, daß er »sie aufnahm«, sie über essen« ist nur eine Wiederholung des
das »Reich Gottes« belehrte und »gesund Missionsbefehles. Die Lehre ist, daß,
machte, die Heilung brauchten«. wenn wir Jesus geben, was wir haben, er
es vermehren kann, um eine geistlich
P. Die Speisung der Fünftausend hungrige Menge damit zu sättigen. Man
(9,12-17) denke nur an den Diamantring, die
9,12 Als es später wurde, wurden »die Lebensversicherung, das Bankkonto und
Zwölf« unruhig. So viele Menschen, die die Sportausrüstung! Sie können zum
Nahrung brauchten! Eine unmögliche Beispiel in Evangeliumsliteratur verwan-
Situation. Sie baten deshalb den Herrn, delt werden, die zur Errettung von See-
»die Volksmenge« wegzuschicken. Wie len führen kann, die wiederum Anbeter
sehr ähneln wir ihnen doch im Herzen! des Lammes Gottes in der Ewigkeit wer-
In Angelegenheiten, die uns selbst den.
betreffen, sagen wir wie Petrus: »Befiehl Die Welt könnte noch in dieser Gene-
mir, zu dir zu kommen.« Doch wie leicht ration evangelisiert werden, wenn die
geht es uns von den Lippen, wenn es um Christen alles, was sie sind und haben,
andere geht: »Entlasse sie!« ausliefern würden. Das ist die bleibende
9,13 Jesus wollte sie nicht in die Lektion der Speisung der Fünftausend.
umliegenden Dörfer schicken, um sich
Essen zu besorgen. Warum sollten die Q. Das Bekenntnis des Petrus (9,18-22)
Jünger auf Predigtreisen durch die Lande 9,18 Sofort nach der Speisung der
ziehen und die vernachlässigen, die vor Fünftausend finden wir das große
ihrer eigenen Haustür lebten? Die Jünger Bekenntnis des Petrus, das er in Caes-
sollten dieser Menge Nahrung beschaf- area Philippi ablegte. Hatte das Wunder
fen. Die Jünger wandten ein, daß sie nur mit den Broten und Fischen den Jüngern
»fünf Brote und zwei Fische« hätten, und die Augen geöffnet, so daß sie die Herr-
vergaßen dabei, daß sie sich auf die uner- lichkeit des Herrn Jesus als Gottes
schöpflichen Vorräte des Herrn Jesus Gesalbten erkannten? Dieses Ereignis in
verlassen konnten. Caesarea Philippi wird allgemein als die
9,14-17 Er bat die Jünger einfach, die Wasserscheide des Lehrdienstes Jesu
Menge von »fünftausend Mann« plus seinen Jüngern gegenüber angesehen.
Frauen und Kinder sich lagern zu lassen. Bis zu diesem Punkt hatte er ihnen
Dann dankte er, »brach« das Brot und geduldig gezeigt, wer er ist, und was er
gab es »den Jüngern«. Sie wiederum ver- in ihnen und durch sie tun konnte. Nun
teilten es an die Menschen. Für jeden war hatte er dieses Ziel erreicht, und von
genügend Speise vorhanden. Als das nun an bewegte er sich entschlossen auf
Mahl vorüber war, war sogar mehr Essen das Kreuz zu. Jesus betete »für sich
übriggeblieben als am Anfang da gewe- allein«. Es wird nicht berichtet, daß der
sen war. Die Überreste füllten »zwölf Herr Jesus jemals gemeinsam mit seinen
Körbe«, für jeden Jünger einen. Wer ver- Jüngern gebetet habe. Er betete für sie,
sucht, dieses Wunder wegzuerklären, er betete in ihrer Gegenwart, und er
der füllt vergeblich das Papier mit wirren lehrte sie beten, doch sein eigenes
Aussagen. Gebetsleben fand ohne sie statt. Nach
Dieser Vorfall ist für die Jünger voller einer seiner Gebetszeiten fragte er seine
Bedeutung, die mit der Evangelisierung Jünger, was »die Volksmengen« sagten,
der Welt beauftragt sind. Die Fünftau- wer er sei.
send stehen für die verlorene Mensch- 9,19.20 Sie berichteten von verschie-
heit, die nach dem Brot Gottes hungert. denen Meinungen: Einige sagten: »Jo-

265
Lukas 9

hannes der Täufer«, andere sagten, er sei che wie ihn gäbe, daß er zwar in der ersten
»Elia«, und wieder andere sagten, er sei Reihe stünde, doch wäre er nur primus inter
ein auferstandener »Prophet« des AT. pares, der erste unter gleichen. Doch ganz
Doch als Jesus seine Jünger fragte, sicher ist das nicht das, was der Christus des
bezeugte Petrus ihn mutig als den »Chri- Neuen Testamentes für sich beansprucht. Die
stus« (oder Messias) Gottes. Menschen können Jesu Anspruch zustim-
James Stewart kommentiert dieses men oder ihn ablehnen, doch die Tatsache,
Ereignis in Caesarea Philippi so exzel- daß er diesen Anspruch gestellt hat, kann
lent, daß wir ihn hier in voller Länge nicht im geringsten bezweifelt werden. Chri-
zitieren wollen: stus behauptete, jemand und etwas zu sein,
Er begann mit der unpersönlichen Frage: das oder den es noch nie gegeben hatte, ein-
»Was sagen die Volksmengen, wer ich bin?« zigartig, ohne Parallele (z. B. in Matth 10,37;
27)
Das war jedenfalls keine Frage, die schwer zu 11,27; 24,35; Joh 10,30; 14,6).
beantworten gewesen wäre. Denn überall 9,21.22 Nach dem historischen Be-
sprachen die Menschen über Jesus. Meinun- kenntnis des Petrus gab der Herr den
gen wurden zu Dutzenden verbreitet. Alle Jüngern den Auftrag, »dies niemand zu
Arten von Gerüchten und Ansichten sagen«, da nichts seinen Weg zum Kreuz
schwirrten herum. Jesus war in aller Munde. behindern durfte. Dann offenbarte ihnen
Und die Menschen redeten nicht nur über der Erlöser seine nächste Zukunft. Jesus
ihn, sie redeten sehr vorteilhaft von ihm. mußte »vieles leiden«, mußte von den
Einige waren der Meinung, daß er der wie- religiösen Führern Israels »verworfen
derauf-erstandene Johannes der Täufer sei. werden, . . . getötet und am dritten Tag
Andere sagten, er erinnere sie an Elia. Ande- auferweckt werden«. Das war eine
re sprachen von Jeremia oder anderen Pro- erstaunliche Ankündigung. Wir sollten
pheten. Mit anderen Worten, man war sich nicht vergessen, daß diese Worte von
zwar nicht genau einig, wer Jesus war, doch dem einzigen sündlosen, gerechten
man war sich einig, daß er jemand sehr wich- Menschen gesprochen wurden, der je
tiges war. Er hatte seinen Platz unter den auf dieser Erde lebte. Sie wurden vom
Helden seines Volkes gefunden. wahren Messias Israels geäußert. Sie
Es ist wichtig zu sehen, wie sich hier die waren Worte des fleischgewordenen
Geschichte wiederholt. Wieder einmal ist Gottes. Sie sagen uns, daß das Leben der
Jesus in jeder Munde. Er wird heute weit Erfüllung, das vollkommene Leben, das
über den Kreis der christlichen Kirchen hin- Leben des Gehorsams gegenüber dem
aus diskutiert. Man hat eine Menge ver- Willen Gottes Leiden, Ablehnung und
schiedener Urteile über ihn auf Lager. Papini Tod in der einen oder anderen Form
sieht Jesus als den Poeten. Bruce Barton sieht beinhaltet, und eine Auferstehung zu
in ihm den Mann der Tat. Middleton Murry einem Leben, das keinen Tod mehr
sieht den Mystiker. Männer, die alles andere kennt. Es ist ein Leben, das für andere
als evangelikal sind, sind bereit, Jesus als das ausgegossen wird.
Vorbild für jeden Heiligen und als Führer Das war natürlich das genaue Gegen-
von sämtlichen moralischen Führer aller teil der normalen Ansicht über den Mes-
Zeiten herauszustellen. Wie die Männer sei- sias. Die Menschen sehnten sich nach
ner Tage, die Jesus für Johannes, Elia oder einem säbelrasselnden, den Feind be-
Jeremia hielten, so sind sich die Menschen kämpfenden Volksführer. Diese Aussage
heute einig, daß unter den Heiligen und Hel- Jesu muß für die Jünger ein Schock gewe-
den aller Zeiten Jesus an der ersten Stelle sen sein. Doch wenn Jesus, wie sie be-
steht. kannt hatten, wirklich der Christus Gott-
Doch Jesus gab sich mit dieser Sorte es war, dann hatten sie keinen Grund,
Anerkennung nicht zufrieden. Die Men- desillusioniert oder enttäuscht zu sein.
schen sagten, daß er Johannes, Elia oder Jere- Wenn er der Gesalbte Gottes war, dann
mia sei. Doch das bedeutete, daß er einer konnte er sein Ziel nie verfehlen. Ganz
unter vielen wäre. Es bedeutete, daß es ähnli- gleich, was ihm oder ihnen geschehen

266
Lukas 9

würde, sie waren immer auf der Seite des ge und belanglose Existenz zu füllen. Wir
Gewinners. Sieg und Überwindung wa- mögen unseren Vorlieben und Begierden
ren unausweichlich. durch Schwelgen in Komfort, Luxus und
Bequemlichkeit frönen, indem wir nur
R. Einladung, das Kreuz auf sich zu für die Gegenwart leben, indem wir der
nehmen (9,23-27) Welt unsere besten Talente für einige Jah-
9,23 Nachdem er seine eigene Zukunft re in eingebildeter Sicherheit hingeben.
umrissen hatte, lud der Herr seine Jünger Doch es bleibt eine Tatsache, daß wir so
ein, ihm zu »folgen«. Das würde bedeu- unser Leben »verlieren« werden, das
ten, sich selbst zu verleugnen und »sein heißt, daß wir das wahre Ziel unseres
Kreuz« auf sich zu nehmen. Sich »ver- Lebens nicht erreichen und die daraus
leugnen« bedeutet, freiwillig auf jedes resultierende Freude nicht erleben. Auf
sogenannte Recht auf Planung oder Ent- der anderen Seite können wir unser
scheidung zu verzichten, und Jesu Herr- Leben um des Erlösers willen »verlie-
schaft in jedem Bereich des Lebens anzu- ren«. Die Menschen werden denken, daß
erkennen. »Sein Kreuz aufnehmen« wir verrückt seien, wenn wir unsere
heißt, freiwillig das Leben zu führen, das selbstsüchtigen Pläne über Bord werfen,
auch er führte. Dazu gehört: wenn wir das Reich Gottes und seine
– Der Widerstand derer, die man liebt. Gerechtigkeit suchen, wenn wir uns ihm
– Die Verachtung der Welt. ohne Vorbehalte hingeben. Doch nur die-
– Das Verlassen von Familie, Haus, ses Leben der Hingabe ist echtes Leben.
Land und den Bequemlichkeiten des Es bietet eine Freude, eine heilige Sorglo-
Lebens. sigkeit und eine tiefe innere Befriedi-
– Vollständige Abhängigkeit von Gott. gung, die jede Beschreibung übertreffen.
– Gehorsam gegenüber der Führung 9,25 Als der Retter mit den Zwölfen
des Heiligen Geistes. redete, erkannte er, daß das Streben nach
– Verkündigung einer unbeliebten Bot- materiellem Besitz ein mächtiges Hin-
schaft. dernis gegen eine völlige Hingabe sein
– Ein Weg der Einsamkeit. kann. Deshalb sagte er praktisch: »Stellt
– Organisierte Angriffe von etablierten euch vor, ihr könntet alles Gold und Sil-
religiösen Autoritäten. ber der ganzen Welt aufhäufen, könntet
– Leiden um der Gerechtigkeit willen. allen Landbesitz und alle Güter besitzen,
– Böse Nachrede und Schmach. alle Aktien und Wertpapiere – alles, was
– Das Leben für andere hingeben. auch nur den geringsten materiellen
– Gegenüber dem Ich und der Welt Wert hat – und stellt euch dann vor, daß
abgestorben sein. ihr in dem verzweifelten Versuch, alle
Doch dazu gehört auch, das Leben zu diese Reichtümer anzusammeln am
erhalten, das echtes Leben ist! Es bedeu- wahren Sinn eures Lebens vorübergeht,
tet, den letzten Grund unserer Existenz was würde es euch nützen? Ihr könntet
zu erfahren. Und es bedeutet ewige Be- alle diese Güter nur kurz besitzen. Es
lohnung. Wir zucken instinktiv vor wäre ein verrückter Handel, wenn ihr
einem Leben zurück, in welchem wir das eine kurze Leben für einige Spielzeu-
unser Kreuz auf uns nehmen. Unser Ver- ge aus Staub hergeben würdet.«
stand zögert zu glauben, daß dies der 9,26 Ein anderes Hindernis, sich Chri-
Wille Gottes für uns sein könnte. Doch stus völlig hinzugeben, ist die Angst vor
die Worte Christi: »Wenn jemand mir Verachtung. Es ist völlig irrational, wenn
nachkommen will« bedeuten, daß nie- ein Geschöpf sich seines Schöpfers
mand ausgenommen oder entschuldigt schämt, oder ein Sünder seines Erlösers.
ist. Und doch, wer von uns hat sich dessen
9,24 Unser natürlicher Impuls geht noch nicht schuldig gemacht? Der Herr
dahin, unser Leben durch eine selbst- erkannte die Möglichkeit des Schämens
süchtige, selbstzufriedene, routinemäßi- und warnte uns davor. Wenn wir der

267
Lukas 9

Verachtung ausweichen, indem wir ein dem Kreuz kommt die Herrlichkeit. Die
Namenschristentum leben, indem wir Belohnung steht in keinem Verhältnis zu
mit der Masse laufen, dann »wird der den Kosten.«
Sohn des Menschen sich« unserer schä-
men »wenn er kommen wird in seiner S. Der Sohn des Menschen wird
Herrlichkeit und der des Vaters und der verklärt (9,28-36)
heiligen Engel«. Er betont die dreifache 9,28.29 Es war »etwa acht Tage« später,
Herrlichkeit seiner Wiederkunft, als ob er als Jesus »Petrus und Johannes und Jako-
sagen wollte, daß jede Verachtung oder bus mitnahm und auf den Berg stieg, um
jeder Spott, den wir heute für ihn ertra- zu beten.« Die genaue Lage dieses Berges
gen, unbedeutend sein wird, wenn er in ist unbekannt, obwohl der hohe, schnee-
seiner Herrlichkeit erscheinen wird und bedeckte Hermon wahrscheinlich dieser
wenn wir ihn mit der Schande verglei- Berg war. Als der Herr betete, veränderte
chen, die die tragen werden, die ihn nun sich sein »Aussehen«. Das ist eine aufre-
verleugnen. gende Wahrheit: Daß eines der Dinge,
9,27 Diese Erwähnung seiner Herr- die durch Gebet geändert werden kön-
lichkeit ist die Verbindung zum nun Fol- nen, das Aussehen eines Menschen ist.
genden. Jesus sagt voraus, daß »einige« »Sein Angesicht« strahlte in einem hellen
der Jünger, die dort standen, »das Reich Licht und »sein Gewand« leuchtete in
Gottes sehen« würden, ehe sie sterben. einem nie gesehenen Weiß. Wie schon
Diese Worte fanden ihre Erfüllung in den oben erwähnt, war dies ein Vorge-
Versen 28-36, dem Ereignis der Verklä- schmack auf die Herrlichkeit im künfti-
rung. Die erwähnten Jünger waren gen Reich Christi. Während Jesus noch
Petrus, Jakobus und Johannes. Auf dem auf der Erde lebte, war seine Herrlichkeit
Berg der Verklärung sahen sie eine Vor- normalerweise in seinem Leib aus
schau auf die Zeit, zu der der Herr Jesus Fleisch und Blut verhüllt. Er kam in
sein Reich auf Erden errichten wird. Erniedrigung als Knecht Gottes. Doch im
Petrus schrieb darüber in seinem zweiten Tausendjährigen Reich wird seine Herr-
Brief: lichkeit ganz offenbar sein. Alle werden
Denn wir haben euch die Macht und ihn in seiner Herrlichkeit und Majestät
Ankunft unseres Herrn Jesus Christus kund- sehen.
getan, nicht indem wir ausgeklügelten Professor W. H. Rogers drückt das
Fabeln folgten, sondern weil wir Augenzeu- sehr gut aus:
gen seiner herrlichen Größe gewesen sind. Bei der Verherrlichung sehen wir alle
Denn er empfing von Gott, dem Vater, Ehre wichtigen Eigenschaften des zukünftigen
und Herrlichkeit, als von der erhabenen Königreiches in Miniaturausgabe. Wir sehen
Herrlichkeit eine solche Stimme an ihn den Herrn in seiner Herrlichkeit statt in den
erging: Dies ist mein geliebter Sohn, an dem Lumpen der Erniedrigung. Wir sehen den
ich Wohlgefallen gefunden habe. Und diese verherrlichten Mose, den Vertreter der Wie-
Stimme hörten wir vom Himmel her ergehen, dergeborenen, die durch den Tod Eintritt in
als wir mit ihm auf dem heiligen Berg waren. das Königreich gefunden haben. Wir sehen
(2. Petr 1,16-18) Elia in Herrlichkeit gekleidet, den Vertreter
Man beachte die Folgerichtigkeit der der Erlösten, die durch die Verwandlung
Lehre unseres Herrn in diesem Ab- Eintritt in das Königreich gefunden haben.
schnitt. Soeben hat er angekündigt, daß Und wir sehen die drei Jünger, Petrus, Jako-
er selbst abgelehnt werde und leiden und bus und Johannes, die nicht verherrlicht sind,
sterben müsse. Er hat seine Jünger aufge- als die Vertreter Israels im Fleisch während
rufen, ihm in ein Leben der Selbstver- des Tausendjährigen Reiches. Dann gibt es
leugnung, des Leidens und des Opfers noch die Volksmenge am Fuß des Berges, die
zu folgen. Nun sagt er praktisch: »Aber für die Nationen stehen, die in das Reich
denkt daran: Wenn ihr mit mir leidet, gebracht werden, nachdem es eingesetzt wor-
28)
werdet ihr auch mit mir herrschen. Nach den ist.

268
Lukas 9

9,30.31 Mose und Elia »redeten mit« in das Tal menschlicher Not zurück. Das
Jesus über seinen »Ausgang« (so wörtl, Leben bietet Augenblicke geistlicher Er-
gr. exodus), »den er in Jerusalem erfüllen hebung, doch Gott gleicht sie durch die
sollte«. Man beachte, daß hier von sei- alltägliche Mühe und Arbeit wieder aus.
nem Tod als etwas Erstrebenswertem »Aus der Volksmenge« kam ihm ein
gesprochen wird. Auch sollte man Mann entgegen und bat Jesus, seinem
beachten, daß der Tod einfach ein »Aus- besessenen »Sohn« zu helfen. Er war der
gang«, ein exodus ist – kein Einschnitt in »einzige« Sohn und deshalb die Freude
der Existenz, sondern ein Übergang von seines Herzens. Welch unausprechliches
einem Ort an einen anderen. Leid bedeutete es für diesen Vater, seinen
9,32.33 Die Jünger schliefen während- Jungen von dämonischen Krämpfen be-
dessen. Bischof Ryle sagt: fallen zu sehen. Diese Anfälle kamen
Wir sollten festhalten, daß genau diesel- ohne Warnung. Der Junge schrie und
ben Jünger, die während dieser herrlichen schäumte. Erst nach einem angstvollen
Vision schliefen, auch im Garten Gethsemane Kampf ließ ihn der Dämon verletzt
während Jesu schrecklichem Kampf schlafend zurück.
gefunden wurden. Fleisch und Blut müssen 9,40 Der verzweifelte Vater war schon
wirklich verändert werden, ehe sie in den zu den »Jüngern« gegangen, doch sie
Himmel kommen können. Unsere armen waren machtlos. Warum konnten die
schwachen Leiber können weder mit Christus Jünger dem Jungen nicht helfen? Viel-
in der Zeit seiner Versuchung noch seiner leicht übten sie ihren Dienst routi-
Verherrlichung wachen. Unsere leibliche nemäßig aus. Vielleicht dachten sie, sie
Verfassung muß sehr verwandelt werden, ehe könnten sich auf einen geisterfüllten
wir den Himmel genießen können.29) Dienst ohne ständige geistliche Übung
»Als sie aber völlig aufgewacht verlassen. Vielleicht nahmen sie alles ein
waren, sahen sie« den hellen Schein der wenig zu selbstverständlich.
Herrlichkeit Christi. In einem Versuch, 9,41 Der Herr Jesus war über das
diesen heiligen Augenblick zu bewah- gesamte Spektakel traurig. Ohne jeman-
ren, schlägt Petrus vor, »drei Hütten« zu den bestimmten anzusprechen, sagte er:
bauen, eine für Jesus, eine für Mose und »O ungläubiges und verkehrtes Ge-
eine für Elia. Doch diese Idee basierte auf schlecht . . .« Das kann sich an die Jünger,
Eifer ohne Nachdenken. die Menschenmenge, den Vater des Jun-
9,34-36 Gottes »Stimme« kam »aus gen oder an alle drei Gruppen richten.
der Wolke«, die sie umgab und bezeich- Sie waren angesichts menschlicher Not
nete Jesus als seinen »geliebten Sohn«, alle hilflos, obwohl ihnen seine unendli-
und gab den Jüngern den Auftrag, ihn zu che Macht zur Verfügung stand. »Bis
hören, d. h. ihm zu gehorchen. Sobald wann« sollte Jesus noch gezwungen sein,
die Stimme vergangen war, waren Mose bei ihnen zu sein und sich mit ihnen
und Elia wieder verschwunden. »Jesus abfinden zu müssen? Dann befahl er
allein« stand vor ihnen. So wird es auch dem Vater: »Bring deinen Sohn her!«
im Reich Gottes sein: Er wird über allen 9,42.43a Als der Sohn »noch . . . her-
Dingen stehen. Er wird seine Herrlich- beikam«, wurde er von dem »Dämon«
keit mit niemandem teilen. ergriffen und auf die Erde geworfen.
Die Jünger gingen voller Ehrfurcht Doch Jesus konnte dieser Machtbeweis
weg. Sie waren so ergriffen, daß sie mit eines bösen Geistes nicht beeindrucken,
den anderen nicht über diesen Vorfall es war der Unglaube der Menschen, der
sprachen. ihn eher hinderte als die Macht der
Dämonen. Er trieb den »unreinen Geist«
T. Ein besessener Junge wird geheilt aus, »heilte den Knaben und gab ihn sei-
(9,37-43a) nem Vater zurück«. Alle Menschen
9,37-39 Vom Berg der Verklärung kehrten waren »erstaunt«. Sie erkannten, daß
Jesus und die Jünger »am folgenden Tag« Gott hier ein Wunder getan hatte. Sie

269
Lukas 9

sahen in dem Wunder einen Erweis der ist groß«, bezog er sich auf den, der sich
»Herrlichen Größe Gottes«. so demütigte, sich mit Gläubigen zusam-
menzutun, die unbekannt, unbedeutend
U. Der Menschensohn sagt seinen und verachtet sind.
Tod und seine Auferstehung voraus In Matthäus 18,4 sagte der Herr, daß
(9,43b-45) der Größte im Reich der Himmel sein
9,43b.44 Die »Jünger« hätten nun denken werde, wer sich wie ein kleines Kind
können, daß ihr Meister weiter solche demütigt. Hier im Lukasevangelium
Wunder tun würde, bis das ganze Volk geht es darum, sich mit den einfachsten
ihn als König ausrufen werde. Um ihre der Kinder Gottes zu identifizieren. In
Gedanken von solch einer Idee abzubrin- beiden Fällen geht es darum, sich zu
gen, erinnerte sie der Herr nochmals, daß demütigen, wie der Erlöser selbst es
»der Sohn des Menschen überliefert wer- getan hat.
den« mußte »in die Hände der Men-
schen«, d. h. daß er umgebracht würde. W. Der Menschensohn verbietet das
9,45 Warum »begriffen« sie diese Vor- Sektierertum (9,49.50)
hersage nicht? Einfach, weil sie immer 9,49 Dieser Vorfall zeigt anscheinend das
noch von dem Messias als Volksheld Verhalten, von dem der Herr den Jün-
träumten. Sein Tod würde für diesen gern gerade eben gesagt hatte, daß sie es
Zweck eine Niederlage bedeuten, jeden- vermeiden sollten. Sie hatten jemanden
falls nach ihrem Denken. Ihre eigenen gefunden, der »in deinem Namen Dämo-
Hoffnungen waren so ausgeprägt, daß nen« austrieb. Sie »wehrten ihm« aus
sie nicht in der Lage waren, eine andere keinem anderen Grund, als daß er keiner
Ansicht anzunehmen. Nicht Gott ver- ihrer Nachfolger war. Mit anderen Wor-
hüllte ihnen die Wahrheit, sondern ihre ten, sie weigerten sich, ein Kind Gottes in
eigenen Weigerung zu glauben. »Sie Jesu Namen aufzunehmen. Sie waren
fürchteten sich« sogar, ihn um Klärung engherzig und sektiererisch geworden.
»zu fragen« – als ob sie sich fürchteten, Sie hätten froh sein sollen, daß der
ihre Ängste bestätigt zu bekommen. Dämon ausgetrieben worden war. Sie
hätten niemals auf einen Mann oder eine
V. Echte Größe im Reich Gottes Gruppe neidisch sein dürfen, die viel-
(9,46-48) leicht mehr Dämonen austrieb als sie
9,46 Die Jünger erwarteten nicht nur, daß selbst. Doch jeder Jünger heute muß sich
in Kürze ein herrliches Reich errichtet auch vor diesem Bestreben nach Exklusi-
werden würde, sondern sie wollten auch vität hüten – vor dem Monopol auf geist-
in diesem Reich die höchsten Positionen liche Macht und geistliches Ansehen.
bekleiden. Schon stritten sie unter sich, 9,50 Jesus sprach zu ihm: »Wehrt
»wer wohl der Größte unter ihnen sei«. nicht! Denn wer nicht gegen euch ist, ist
9,47.48 Jesus wußte, welche Frage sie für euch.« Soweit die Person und das
umtrieb, und brachte »ein Kind« herbei Werk Christi betroffen sind, gibt es keine
und erklärte, daß jeder, der »ein Kind in« Neutralität. Wenn Menschen nicht für
seinem »Namen aufnehmen wird«, ihn Christus sind, sind sie gegen ihn. Doch
selbst aufnehmen würde. Auf den ersten wenn es um christlichen Dienst geht,
Blick scheint diese Äußerung nichts mit sagt A. L. Williams:
der Frage zu tun zu haben, wer der Größ- Ernsthafte Christen müssen sich daran
te unter den Jüngern sei. Doch obwohl es erinnern, daß, wenn Außenseiter irgendet-
nicht offensichtlich ist, ist die Verbin- was in Jesu Namen tun, es im Ganzen gese-
dung wohl folgende: Echte Größe sieht hen seine Sache fördern muß. . . . Die Ant-
man an liebevoller Fürsorge für die Klei- wort des Meister enthielt eine große, weitrei-
nen, die Hilflosen, an denen die Welt ein- chende Wahrheit. Keine christliche Gemein-
fach vorübergeht. Deshalb, als Jesus sag- schaft auf dieser Erde, wie heilig auch immer
te: »Der Kleinste ist unter euch allen, der sie sein mag, könnte je göttliche Vollmacht

270
Lukas 9

für sich allein beanspruchen, die nämlich nur ten Eifer und war sich der Kosten seines
mit einem echten und gläubigen Verwenden Unternehmens nicht bewußt. Er wußte
30)
des Namens Jesu einhergeht. nicht, was er sagte.
9,58 Auf den ersten Blick scheint die
VII. Wachsender Widerstand gegen Antwort keinen Bezug auf das Angebot
den Menschensohn (9,51 – 11,54) des Mannes zu haben. Aber natürlich
gibt es eine solche enge Verbindung.
A. Samaria lehnt den Menschensohn Jesus sagte praktisch: »Weißt du eigent-
ab (9,51-54) lich, was es bedeutet, mir nachzufolgen?
9,51 »Die Tage« der Himmelfahrt Jesu Es bedeutet, die Bequemlichkeiten und
kamen näher. Er wußte das sehr gut. Er Vorzüge des normalen Lebens hinter sich
wußte auch, daß dazwischen noch das zu lassen. Ich habe keine Wohnung, die
Kreuz vor ihm lag, deshalb wandte er ich mein eigen nennen könnte. Diese
sich entschlossen nach »Jerusalem« und Erde bietet mir keinerlei Ruhestatt. Füch-
auf alles hin, was ihn dort erwarten wür- se und Vögel haben mehr persönlichen
de. Komfort und mehr Sicherheit als ich. Bist
9,52.53 Ein samaritisches »Dorf« du gewillt, mir zu folgen, auch wenn es
erwies sich auf seinem Weg als wenig bedeutet, Dinge aufzugeben, deren
gastfreundlich. Die Menschen wußten, Besitz die meisten Menschen für ihr
daß er »nach Jerusalem« gehen wollte, unverbrüchliches Recht halten?« Wenn
und das war für sie Grund genug, ihn wir lesen: »Der Sohn des Menschen hat
abzulehnen. Es gab schließlich zwischen nicht, wo er sein Haupt hinlege«, so sind
Samaritern und Juden eine ausgeprägte wir versucht, ihn zu bedauern. Ein Aus-
Feindschaft. Ihr sektiererischer, bigotter leger bemerkt dazu: »Er braucht unser
Charakter, ihre rassistische Haltung und Bedauern nicht. Wir sollten uns lieber
ihr Stolz auf ihre Volkszugehörigkeit selbst bedauern, wenn wir ein Haus
ließen sie den Herrn der Herrlichkeit haben, das uns zurückhält, wenn Jesus
»nicht aufnehmen«. uns auf den Märkten dieser Welt haben
9,54-56 »Jakobus und Johannes« möchte. Wir hören von diesem Men-
waren durch diese Unhöflichkeit so schen nichts mehr und müssen anneh-
erbost, daß sie anboten, »Feuer vom men, daß er nicht bereit war, die gewöhn-
Himmel« auf diese Menschen herabzu- lichen Bequemlichkeiten des Lebens auf-
rufen. Sofort tadelte der Herr sie. Er war zugeben, um dem Sohn Gottes nachzu-
»nicht gekommen, der Menschen Seelen folgen.
zu verderben, sondern zu erhalten« (LU 9,59 Der zweite hatte den Ruf Christi
1912). Es war das »angenehme Jahr des vernommen, ihm zu »folgen«. Er war
Herrn«, nicht der »Tag der Rache für dazu in gewisser Weise bereit, doch woll-
unseren Gott«. Die Jünger hätten sich te er »zuvor« noch etwas erledigen. Er
durch Barmherzigkeit, nicht durch Rach- wollte »hingehen« und seinen »Vater
sucht auszeichnen sollen. begraben«. Man beachte, wie er sich aus-
drückt: »Herr, erlaube mir, zuvor . . .«,
B. Hindernisse für die Jüngerschaft mit anderen Worten: »Herr, ich zuerst.«
(9,57-62) Er nannte zwar Jesus »Herr«, doch er
9,57 In diesen Versen begegnen wir drei stellt seine eigenen Interessen an die
Menschen, die gerne Jünger werden wol- erste Stelle. Die Worte »Herr« und »ich
len und die drei Haupthindernisse für zuerst« stehen im völligen Widerspruch
hingegebene Jüngerschaft demonstrie- zueinander, wir müssen uns für das eine
ren. Der erste war sich ganz sicher, daß er oder das andere entscheiden. Ob der
Jesus überall hin »nachfolgen« wolle. Er »Vater« schon tot war, oder ob der Sohn
wartete nicht, bis er gerufen wurde, son- solange zu Hause bleiben wollte, bis er
dern bot sich stürmisch selbst an. Er hat- starb, spielt keine Rolle – er erlaubte sich,
te großes Selbstvertrauen, fehlgerichte- eine andere Angelegenheit höher als Jesu

271
Lukas 9 und 10

Ruf einzustufen. Es ist vollkommen legi- res Herrn Jesus Christus. Sie wird uns
tim und gut, seinem sterbenden oder durch den Glauben an ihn geschenkt.
toten Vater die Ehre zu erweisen, doch So haben wir hier nun die drei Haupt-
wenn irgendetwas oder irgendwer höher hindernisse für die Jüngerschaft in der
als Christus steht, dann wird es zur Sün- Erfahrung dieser drei Männer beschrie-
de. Dieser Mann hatte anderes zu tun – ben:
wir könnten sagen, einen Job oder eine 1. Materielle Bequemlichkeit.
Aufgabe – und das hielt ihn von einem 2. Ein Job oder eine Beschäftigung.
Weg hingegebener Jüngerschaft ab. 3. Familie und Freunde.
9,60 Der Herr tadelte diese Gespal- Christus muß ohne Rivalen über das
tenheit mit den Worten: »Laß die Toten Herz des Menschen regieren können.
ihre Toten begraben, du aber geh hin und Alle andern Vorlieben oder Verbindlich-
verkündige das Reich Gottes.« Die geist- keiten müssen an zweiter Stelle stehen.
lich Toten können die leiblich Toten begra-
ben, doch sie können nicht das Evange- C. Die Aussendung der Siebzig
lium predigen. Jünger sollten nicht Auf- (10,1-16)
gaben Vorrang geben, die unerlöste Men- 10,1-12 Dies ist der einzige Evangelien-
schen genau so gut tun können wie bericht über die Aussendung von »sieb-
32)
Christen. Der Gläubige sollte sich sicher zig« Jüngern. Er ähnelt stark der Aus-
sein, daß er an der Stelle, an der er sendung der Zwölf in Matthäus 10. Doch
hauptsächlich arbeitet, unersetzbar ist. wurden da die Jünger nach Norden
Seine vorrangige Beschäftigung sollte geschickt, während sie hier nach Süden
die Sache Christi auf Erden weiterbrin- den Weg entlang geschickt wurden, den
gen. der Herr nach Jerusalem nahm. Jesus
9,61 Der dritte, der gerne ein Jünger sandte die Jünger wohl aus, damit sie
geworden wäre, war dem ersten darin den Weg des Herrn auf seiner Reise von
ähnlich, daß er auf Christus zukam und Caesarea Philippi im Norden über
ihm »nachfolgen« wollte. Er war dem Galiläa und Samaria, über den Jordan,
zweiten ähnlich, als auch er »zuvor« durch Süd-Peräa und dann zurück über
noch von seiner Familie Abschied neh- den Jordan nach Jerusalem bereiteten.
men wollte. An sich war dieses Vorhaben Während der Dienst und das Amt den
vernünftig und gut, doch sogar die nor- Siebzig nur auf Zeit gegeben war, sind in
male Höflichkeit im Alltagsleben ist ver- den Anweisungen unseres Herrn doch
kehrt, wenn sie über sofortigen und völ- viele Lebensprinzipien angegeben, die
ligen Gehorsam gestellt wird. auf Christen jedes Zeitalters zutreffen.
9,62 Jesus sagte ihm, daß er, sobald er Einige dieser Prinzipien könnte man
»seine Hand an den Pflug« der Jünger- so zusammenfassen:
schaft »gelegt« habe, nicht »zurück- 1. Er sandte sie »zu je zwei« aus (V. 1).
31)
blicken« dürfe, sonst sei er nicht »taug- Es geht dabei um gültige Zeugen-
lich für das Reich Gottes«. Christi Nach- schaft. »Durch zweier oder dreier
folger sind nicht halbherzig oder senti- Zeugen Mund wird jede Sache festge-
mental. Keine Rücksichtnahme auf stellt werden« (2. Kor 13,1).
Familie oder Freunde, so berechtigt sie 2. Der Diener des Herrn sollte ständig
auch sein mag, darf sie von der völligen »bitten, . . . daß er Arbeiter aussende
Hingabe an ihn ablenken. Der Ausdruck in seine Ernte« (V. 2). Der Bedarf ist
nicht »tauglich für das Reich Gottes« immer größer als die Zahl der Arbei-
bezieht sich nicht auf die Erlösung, son- ter. Wer für Arbeiter betet, muß offen-
dern auf den Dienst. Es geht nicht um sichtlich auch bereit sein, selbst zu
den Zugang zum Reich, sondern um den gehen. Man beachte die Worte »bit-
Dienst nach Erreichen desselben. Unsere ten« (V. 2) und »gehen« (V. 3).
Tauglichkeit für den Zugang zum Reich 3. Die Jünger Jesu werden in eine feind-
ist allein die Person und das Werk unse- lich gesinnte Umgebung gesandt

272
Lukas 10

(V. 3). Sie sind ihrem äußeren 8. Sie sollen nicht zögern, alles zu essen
Anschein nach so hilflos »wie Läm- und zu trinken, was ihnen angeboten
mer mitten unter Wölfen«. Sie kön- wird (V. 7). Als Diener des Herrn
nen nicht erwarten, von der Welt wie werden sie ihren Unterhalt empfan-
Könige behandelt zu werden, son- gen.
dern eher verfolgt und sogar getötet 9. Dörfer und Städte können sich ent-
zu werden. weder für oder gegen den Herrn ent-
4. Sie dürfen keinerlei Rücksicht auf scheiden, genauso wie es einzelne
ihre persönliche Bequemlichkeit neh- Menschen tun (V. 8.9). In einem
men (V. 4a). »Tragt weder Börse noch Gebiet, in dem die Botschaft ange-
Tasche noch Sandalen.« Die Börse nommen wird, sollen die Jünger pre-
spricht von Geldreserven. Die Tasche digen, ihre Gastfreundschaft anneh-
spricht von Nahrungsreserven. Die men und ihnen die Segnungen des
Sandalen bedeuten entweder ein Evangeliums bringen. Die Diener
Ersatzpaar, oder Schuhe, die zusätzli- Christi sollen essen, »was euch vorge-
che Bequemlichkeit bieten. Alle drei setzt wird«, nicht wählerisch im
sprechen von der Armut, die, obwohl Essen sein oder den Gastgebern Ver-
sie nichts besitzt, alles besitzt und legenheit bereiten. Überdies ist Essen
viele reich macht (2. Kor 6,10). doch nicht die Hauptsache in ihrem
5. »Grüßt niemand auf dem Weg« Leben. In Städten, die auch heute die
(V. 4b). Christi Diener sollen keine Botschafter des Herrn aufnehmen,
Zeit mit langen, rituellen Begrüßun- werden die an der Sünde krankenden
gen verschwenden, wie sie in den Einwohner geheilt. Auch ihnen
Ländern des Ostens üblich waren. Sie kommt der König sehr »nahe« (V. 9).
sollen zwar höflich sein, doch sollen 10. Eine Stadt kann das Evangelium auch
sie ihre Zeit damit verbringen, die ablehnen, dann wird ihr das Vorrecht
herrlichen Wahrheiten des Evangeli- verweigert, es noch einmal zu hören
ums zu verkündigen, statt nutzlos zu (V. 10-12). Es gibt im Handeln Gottes
schwatzen. Es ist keine Zeit für nutz- mit den Menschen einen Zeitpunkt,
losen Aufenthalt. zu dem sie die Botschaft zum letzten
6. Sie sollen Gastfreundschaft anneh- Mal hören. Die Menschen sollen mit
men, wo immer sie ihnen entgegen- dem Evangelium nicht spielen, weil
gebracht wird (V. 5.6). Wenn ihre es ihnen sonst für immer genommen
Begrüßung wohlwollend aufgenom- werden könnte. Abgelehntes Licht ist
men wird, dann ist der Gastgeber ein verweigertes Licht. Städte und Dör-
»Sohn des Friedens«. Er hat den Cha- fer, die das Vorrecht haben, die Gute
rakterzug der Friedfertigkeit, und ist Nachricht zu hören und die sie ableh-
einer, der die Friedensbotschaft nen, werden härter als »Sodom« be-
annimmt. Wenn die Jünger abgelehnt straft werden. Je größer die Vorrechte,
werden, sollen sie sich nicht entmuti- desto größer ist auch die Verantwor-
gen lassen, ihr Friede wird zu ihnen tung.
»zurückkehren«, d. h. es gibt keine 10,13.14 Als Jesus diese Worte sprach,
Verschwendung und keinen Verlust, erinnerte er sich an drei galiläische Städ-
und andere werden ihn empfangen. te, die höher als alle anderen ausgezeich-
7. Die Jünger sollen »in diesem Haus net worden waren. Sie hatten ihn mächti-
bleiben«, das ihnen zuerst Unter- ge Wunder auf ihren Straßen tun sehen.
kunft gewährt (V. 7). Wenn sie von Sie hatten seine barmherzige Lehre
Haus zu Haus gehen, dann könnte sie gehört. Sie hatten ihn abgelehnt. Wenn
das in den Ruf bringen, nur nach der die Wunder, die er in »Chorazin« oder
luxuriösesten Unterkunft zu suchen, »Bethsaida« getan hatte, in »Tyrus und
während sie doch einfach und dank- Sidon . . . geschehen wären«, hätten die-
bar leben sollten. se Küstenstädte wahrscheinlich von Her-

273
Lukas 10

zen Buße getan. Weil die Städte Galiläas Fausset und Brown umschreiben seine
von Jesu Werk unbeeindruckt waren, Worte folgendermaßen:
wird ihr Gericht am jüngsten Tag sehr Ich bin euch bei eurer Mission gefolgt,
viel strenger ausfallen als das von »Tyrus und habe auch die Siege gesehen, die ihr
und Sidon«. Die historische Tatsache errungen habt. Während ihr euch über die
bleibt bestehen, daß Chorazin und Beth- Unterwerfung der Dämonen in meinem
saida so gründlich zerstört worden sind, Namen gewundert habt, bot sich mir ein
daß ihre genaue Lage heute nicht mehr großartigeres Schauspiel. So schnell, wie ein
bekannt ist. Blitz vom Himmel auf die Erde hinabzuckt,
10,15 Kapernaum wurde Jesu Hei- siehe, so schnell sah ich Satan vom Himmel
matstadt, nachdem er von Nazareth herabfallen.
weggezogen war. Die Stadt war durch Dieser Fall Satans liegt noch in der
dieses Vorrecht »bis zum Himmel erhöht Zukunft. Er wird von Michael und sei-
worden«. Doch sie verachtete ihren wun- nen Engeln aus dem Himmel geworfen
derbarsten Bürger und verpaßte so den werden (Offb 12,7-9). Das wird während
Tag des Heils. Deshalb wird sie »bis zum der Drangsalszeit geschehen, bevor Jesus
Hades hinabgestoßen werden«. in Herrlichkeit über die Erde regieren
10,16 Jesus schloß seine Anweisun- wird.
gen an die Siebzig mit der Feststellung, Eine zweite mögliche Interpretation
daß sie seine Botschafter waren. Sie der Worte Jesu ist eine Warnung vor dem
abzulehnen, hieß ihn ablehnen, und ihn Stolz. Es ist, als ob er sagen wollte: »Ja,
ablehnen, bedeutet, Gott den Vater abzu- ihr seid ganz begeistert, weil euch die
lehnen. Dämonen untertan sind. Doch denkt dar-
Ryle kommentiert: an, die erste Sünde war der Stolz. Es war
Es gibt wohl keine eindeutigeren Aussa- der Stolz, der zum Fall Luzifers und sei-
gen im Neuen Testament über die Ehre des nem Sturz aus dem Himmel führte. Seht
treu verwalteten Hirtenamtes, und die zu, daß ihr diesem Schicksal entgeht.«
Schuld, die diejenigen auf sich ziehen, die 10,19 Der Herr hatte seinen Jüngern
sich weigern, die Botschaft zu hören. Diese »die Macht« über die bösen Mächte
Aussagen – das sollten wir nicht vergessen – gegeben. Ihnen wurde während ihres
wurden nicht über die zwölf Apostel, sondern Auftrages in dieser Hinsicht Unver-
über siebzig Jünger gemacht, deren Namen wundbarkeit gegeben. Das gilt für alle
und deren späteres Schicksal wir nicht ken- Diener Gottes: Sie werden beschützt.
nen. Scott bemerkt dazu: »Einen Botschafter 10,20 Doch sie sollten sich »nicht«
abzulehnen, oder ihn verächtlich zu behan- über ihre Macht über »die Geister . . .
deln, ist ein Affront gegen den Herrscher, der freuen«, sondern über ihre eigene Erret-
ihn beauftragt und gesandt hat, und den er tung. Das ist das einzige Mal, daß berich-
vertritt. Die Apostel und die siebzig Jünger tet wird, daß der Herr Jesus seinen Jün-
waren die Botschafter und Vertreter Christi, gern befohlen hat, sich nicht zu freuen.
diejenigen, die sie ablehnten und verachteten, Mit Erfolg im christlichen Dienst sind
verachteten in Wirklichkeit ihn und lehnten ganz subtile Gefahren verbunden,
33)
ihn ab.« während die Tatsache, daß unsere
»Namen in den Himmeln angeschrieben
D. Die Rückkehr der Siebzig (10,17-24) sind«, uns an unsere unendliche Schuld
10,17.18 Als sie von ihrer Reise »zurück- vor Gott und seinem Sohn erinnert. Es ist
kehrten«, freuten sich »die Siebzig«, daß sicherer, sich der Errettung durch seine
ihnen sogar »die Dämonen . . . untertan« Gnade zu freuen.
waren. Die Antwort Jesu kann auf zwei- 10,21 Jesus wurde zwar von der Mas-
erlei Weise verstanden werden. Erstens se der Menschen abgelehnt, doch als er
kann sie bedeuten, daß er in ihrem Erfolg seine bescheidenen Nachfolger ansah,
den Anfang des endgültigen Falls »frohlockte Jesus im Geist« und dankte
»Satans . . . vom Himmel« sah. Jamieson, dem Vater für seine unvergleichliche

274
Lukas 10

Weisheit. Die Siebzig gehörten nicht zu Messias »zu sehen, . . . und haben es
den »Weisen und Verständigen« dieser nicht gesehen«. Der Herr Jesus behauptet
Welt. Sie waren weder Intellektuelle hier, derjenige zu sein, auf den die Pro-
noch Gelehrte. Sie waren nur »Unmündi- pheten des AT hingewiesen haben – der
ge!« Doch diese Unmündigen hatten Messias. Die Jünger hatten das Vorrecht,
Glauben, Hingabe und einen Gehorsam, die Wunder zu »sehen« und die Lehre
der Jesus nie in Frage stellte. Die Intellek- der Hoffnung Israels zu »hören«.
tuellen waren zu weise, zu schlau und
wissend, um zu sehen, was ihnen E. Der Gesetzesgelehrte und der
tatsächleich zum Nutzen gewesen wäre. barmherzige Samariter (10,25-37)
Ihr Stolz verblendete sie gegenüber dem 10,25 Der »Gesetzesgelehrte«, ein Exper-
wirklichen Wert des geliebten Sohnes te im Fach »mosaisches Gesetz«, hatte
Gottes. Oftmals kann der Herr am besten wahrscheinlich kein echtes Anliegen. Er
durch »Unmündige« wirken. Unser Herr wollte den Erlöser in eine Falle führen.
freute sich über alle, die der Vater ihm Vielleicht dachte er, daß der Herr gegen
gegeben hatte, und über diesen anfängli- das Gesetz verstoßen würde. Für ihn war
chen Erfolg der Siebzig, der ein Vorzei- Jesus nur ein »Lehrer«, und das »ewige
chen des endgültigen Sturzes Satans war. Leben« etwas, das man sich verdienen
10,22 »Alles« war dem Sohn von sei- kann.
nem »Vater« übergeben, ob es sich um 10,26-28 Der Herr zog all dies in sei-
Himmlisches, Irdisches oder Dinge unter ner Antwort mit in Erwägung. Wenn der
der Erde handelte. Gott hat Jesus das Gesetzesgelehrte demütig und bußfertig
gesamte Universum als Machtbereich gewesen wäre, hätte der Erlöser ihm
gegeben. »Niemand erkennt, wer der direkter antworten können. Unter den
Sohn ist, als nur der Vater.« Ein Geheim- gegebenen Umständen lenkte Jesus seine
nis ist mit der Menschwerdung verbun- Aufmerksamkeit auf »das Gesetz«. Was
den, das niemand als nur »der Vater« verlangte es? Es verlangte, daß der
ergründen kann. Wie Gott Mensch wer- Mensch »Gott« über alles lieben solle,
den und in einem menschlichen Leib und seinen »Nächsten« wie sich selbst.
wohnen konnte, liegt jenseits des Ver- Jesus sagte ihm, daß er »leben« werde,
ständnishorizonts der Geschöpfe Gottes. wenn er dies täte.
Niemand weiß, »wer der Vater ist, als Zunächst mag es so scheinen, als ob
nur der Sohn, und wem der Sohn ihn der Herr hier lehre, daß man die Erlö-
offenbaren will«. Auch Gott steht über sung durch Halten des Gesetzes erlangen
aller menschlichen Erkenntnis. Der Sohn könne. Doch das war nicht der Fall. Gott
kennt ihn vollkommen, und der Sohn hat hatte nie vor, irgend jemanden durch das
ihn den schwachen, armen und verachte- Halten des Gesetzes zu retten. Die Zehn
ten Menschen offenbart, die an ihn glau- Gebote wurden Menschen gegeben, die
ben (1. Kor 1,26-29). Diejenigen, die den schon Sünder waren. Der Zweck des
Sohn gesehen haben, haben auch den Gesetzes ist nicht die Erlösung von der
Vater gesehen. »Der eingeborene Sohn, Sünde, sondern die Sündenerkenntnis.
der in des Vaters Schoß ist, der hat ihn Die Aufgabe des Gesetzes ist es, dem
kundgemacht« (Joh 1,18). Menschen zu zeigen, wie schuldig er ist.
Kelly sagt: »Der Sohn offenbart den Es ist unmöglich, daß ein sündiger
Vater, doch der Geist des Menschen Mensch Gott von »ganzem Herzen« und
scheitert an dem Versuch, das unlösbare seinen »Nächsten wie sich selbst« liebt.
Rätsel der Herrlichkeit Christi zu ergrün- Wenn er das von seiner Geburt an bis zu
den.« seinem Tode tun würde, dann brauchte
10,23.24 Nur seinen Jüngern sagte der er keine Erlösung. Er wäre nicht verlo-
Herr, daß sie nie dagewesene Privilegien ren. Doch auch dann wäre seine Beloh-
genossen. Die »Propheten und Könige« nung nur ein langes Leben auf Erden,
des AT haben »begehrt«, die Tage des kein ewiges Leben im Himmel. Solange

275
Lukas 10

er ohne Sünde leben würde, würde er in der Lage ist, dem toten Sünder zu hel-
weiterleben. Das ewige Leben ist nur für fen. Das Gesetz gebot: »Liebe deinen
Sünder bestimmt, die ihre Verlorenheit Nächsten wie dich selbst«, doch es gab
einsehen und die durch Gottes Gnade nicht die Kraft zum Gehorsam. Auch ist
erlöst werden. es nicht schwer, in dem barmherzigen
Deshalb war die Aussage Jesu: »Tu Samariter den Herrn Jesus zu sehen, der
dies, und du wirst leben« rein hypothe- zu uns kam, uns von unseren Sünden
tisch. Wenn seine Erwähnung des Geset- erlöste und der für uns auf dem Weg von
zes die gewünschte Wirkung auf den der Erde zum Himmel und in alle Ewig-
Gesetzesgelehrten gehabt hätte, dann keit Sorge trägt. Priester und Leviten
hätte er gesagt: »Wenn Gott das verlangt, mögen uns enttäuschen, doch der barm-
dann bin ich verloren, hilflos und ohne herzige Samariter niemals.
Hoffnung. Ich werfe mich auf deine Lie- Die Geschichte vom barmherzigen
be und Barmherzigkeit. Rette mich durch Samariter gab der Angelegenheit eine
deinen Gnade!« unerwartete Wendung. Sie begann mit
10,29 Statt dessen wollte er »sich der Frage: »Wer ist mein Nächster?«
selbst rechtfertigen«. Warum? Es hatte Doch sie endete mit der Frage: »Wem
ihn doch niemand angeklagt. Sein gegenüber erweist du dich als Näch-
Gewissen schlug, doch sein Herz erhob ster?«
sich stolz, um zu widerstehen. Er fragte:
»Und wer ist mein Nächster?« Er wollte F. Maria und Martha (10,38-42)
hier einfach den Tatsachen ausweichen. 10,38-41 Der Herr Jesus lenkt seine Auf-
10,30-35 Auf diese Frage hin antwor- merksamkeit nun auf das Wort Gottes
tete der Herr Jesus mit der Geschichte und das Gebet, den beiden wichtigsten
vom barmherzigen Samariter. Die Ein- Mitteln, durch die Gott uns segnen
zelheiten der Geschichte sind allgemein möchte (10,38-11,13).
bekannt. Das Opfer des Überfalls (mit »Maria setzte sich . . . zu den Füßen
ziemlicher Sicherheit ein Jude) lag »halb- Jesu nieder«, während »Martha . . . sehr
tot« an der Straße »nach Jericho«. Die bei- beschäftigt« durch ihre Vorbereitungen
den Juden, ein »Priester« und ein für den königlichen Gast war. Martha
»Levit«, weigerten sich zu helfen. Viel- wollte, daß der Herr ihre »Schwester«
leicht fürchteten sie eine Falle, oder hat- dafür tadelte, doch der Herr tadelte statt
ten Angst, daß sie auch ausgeraubt wür- dessen Martha milde für ihre Unruhe!
den, wenn sie anhielten. Es war einer der 10,42 Unser Herr schätzt unsere Liebe
verhaßten »Samariter«, der ihn rettete, mehr als unseren Dienst. Dienst kann
der ihm Erste Hilfe leistete, den Mann in durch Stolz und Selbstsucht gefärbt sein.
eine »Herberge« brachte und für ihn Doch die Beschäftigung mit Jesus selbst
sorgte. Für den Samariter war ein in Not ist das »eine«, das »nötig ist, . . . das gute
geratener Jude sein Nächster. Teil, das« keinem genommen werden
10,36.37 Dann stellte der Erlöser die wird. »Der Herr will dich von einer Mart-
unausweichliche Frage. »Wer von diesen ha zu einer Maria machen«, kommentiert
dreien« erwies sich dem Mann als Näch- C. A. Coates, »genau wie er uns von
ster? Natürlich derjenige, »der die Barm- Gesetzesgelehrten zu Nächsten machen
35)
herzigkeit an ihm übte«. Ja, natürlich. will«.
Dann sollte der Gesetzesgelehrte »hinge- Charles R. Erdman schreibt:
hen und ebenso handeln«. »Wenn ein Der Meister schätzt zwar alles, was wir
Samariter sich als wahrer Nächster für für ihn tun, doch er weiß, daß wir es am
einen Juden zeigen konnte, dann waren nötigsten haben, zu seinen Füßen zu sitzen
34)
alle Menschen Nächste.« und seinen Willen zu erkennen. Dann wer-
Es ist für uns nicht schwer, im Priester den wir ruhig, friedlich und freundlich, und
und dem Leviten ein Bild für die Macht- endlich wird unser Dienst die Vollkommen-
losigkeit des Gesetzes zu sehen, das nicht heit der Maria erreichen, die einige Zeit spä-

276
Lukas 11

ter die Salbe über die Füße Jesu ausgießt, eigenen Bedürfnisse und Nöte vor Gott
36)
deren Duft noch immer die Welt erfüllt. zu bringen. Ein immer wiederkehrendes
Bedürfnis wird hier vorgebracht: die
G. Das Gebet der Jünger (11,1-4) Speise, sowohl leibliche Speise als auch
Zwischen den Kapiteln 10 und 11 liegt geistliche. Wir sollen in täglicher Abhän-
eine Zeitspanne, die in Johannes 9,1- gigkeit von Gott leben und ihn als Geber
10,21 ausführlicher beschrieben ist. aller guten Gaben anerkennen.
11,1 Hier haben wir wieder eine der 11,4 Als Nächstes kommt das Gebet
häufigen Erwähnungen des Gebetsle- um die Vergebung der »Sünden«, das auf
bens unseres Herrn bei Lukas. Es gehört der Tatsache basiert, daß wir auch ande-
zum Plan des Lukas, uns Christus als ren vergeben. Offensichtlich bezieht sich
Menschensohn zu zeigen, der immer in das nicht auf die Vergebung, die mit der
Abhängigkeit vom Vater lebt. Die Jünger ewigen Strafe für unsere Sünden in Ver-
merkten, daß das Gebet eine echte und bindung steht. Diese Vergebung basiert
notwendige Kraft im Leben Jesu bildete. auf dem vollbrachten Werk Christi auf
Als sie ihn beten hörten, wollten sie auch Golgatha und wird allein durch den
beten lernen. Und deshalb »sprach, als er Glauben empfangen. Nachdem wir aber
aufhörte, einer seiner Jünger zu ihm: gerettet sind, behandelt uns Gott als Kin-
Herr, lehre uns beten«. Er sagte nicht: der. Wenn der Vater merkt, daß wir einen
»Lehre uns wie wir beten sollen«, son- harten und nicht vergebungsbereiten
dern: »Lehre uns beten.« Doch beinhaltet Geist in unseren Herzen hegen, dann
diese Bitte sowohl die Frage nach dem straft er uns, bis wir gebrochen und in die
Beten an sich als auch nach der Methode. Gemeinschaft mit ihm zurückgeführt
11,2 Das Modellgebet, das der Herr sind. Diese Vergebung hat etwas mit der
Jesus den Jüngern hier gibt, unterschei- Gemeinschaft mit Gott dem Vater zu tun,
det sich etwas vom sogenannten »Gebet nicht mit unserer Stellung zu ihm.
des Herrn« im Matthäusevangelium. Die Bitte »und führe uns nicht in Ver-
Diese Unterschiede haben einen Zweck suchung« stellt für einige Ausleger eine
und eine Bedeutung. Kein einziger Schwierigkeit dar. Wir wissen, daß Gott
Unterschied ist bedeutungslos. niemanden zur Sünde verführt. Doch er
Als allererstes lehrte der Herr die Jün- erlaubt, daß wir im Leben Proben und
ger, Gott als »Unser Vater« (LU 1912) Versuchungen bestehen, und sie sind zu
anzusprechen. Diese enge familiäre unserem Nutzen da. Hier scheint der
Beziehung war den Gläubigen des AT Gedanke zu sein, daß wir uns ständig
unbekannt. Es bedeutet einfach, daß die unseres Bestrebens bewußt sein müssen,
Gläubigen nun zu Gott als ihrem lieben- vom Pfad abzukommen und in Sünde zu
den himmlischen Vater reden sollen. Als fallen. Wir sollten den Herrn bitten, uns
nächstes lernen wir, daß Gottes Name davor zu bewahren, in Sünde zu fallen,
»geheiligt« werden soll. Das drückt die auch wenn wir selbst dem Hang zur Sün-
Sehnsucht des Gläubigen aus, daß Gott de gerne nachgeben würden. Wir sollten
verehrt, erhöht und angebetet werden Bitten, daß die Gelegenheit und die
soll. In der Bitte »dein Reich komme« Bereitschaft zur Sünde nie zur gleichen
haben wir ein Gebet, daß der Tag bald Zeit gegeben sind. Das Gebet drückt ein
komme möge, an dem Gott die Mächte gesundes Mißtrauen gegen unsere
des Bösen besiegen und in der Person Fähigkeit aus, der Versuchung zu wider-
Christi über die »Erde« herrschen wird stehen. Das Gebet endet mit der Bitte um
37)
und an dem sein »Wille . . . wie im Him- Befreiung »von dem Übel« (LU 1912).
mel . . . auch auf Erden« geschehen wird
(LU 1912). H. Die beiden Gleichnisse vom Beten
11,3 Nachdem der Bittende so zuerst (11,5-13)
das Reich Gottes und seine Gerechtigkeit 11,5-8 Der Herr behandelt weiter das
gesucht hat, wird er nun gelehrt, seine Thema Gebet und erzählt nun ein

277
Lukas 11

Gleichnis, um Gottes Bereitschaft zum Das Gleichnis lehrt verschiedene


Hören und Erhören der Bitten seiner Kin- Grade von Hartnäckigkeit – bitten,
der zu beschreiben. Die Geschichte dreht suchen, klopfen.
sich um einen Mann, bei dem »um Mit- 11,10 Es lehrt, daß »jeder Bittende
ternacht« ein Gast ankommt. Unglückli- empfängt«, jeder »Suchende findet«, und
cherweise hat er nicht genug Essen im jedem »Anklopfenden aufgetan werden
Haus. So geht er zu einem Nachbarn, wird«. Hier haben wir die Verheißung,
klopft an der Tür und bittet um »drei daß Gott, wenn wir beten, uns immer
Brote«. Zuerst ärgert sich der Nachbar gibt, um was wir bitten, oder aber etwas
darüber, im Schlaf gestört worden zu besseres. Eine negative Antwort bedeu-
sein, und will nicht aufstehen. Doch weil tet nur, daß er weiß, daß die Erfüllung
der Gastgeber immer länger anklopft unserer Bitte nicht das Beste für uns ist,
und ruft, steht er schließlich auf und und seine Weigerung ist besser als die
»gibt ihm, soviel er braucht«. Erfüllung der Bitte für uns.
Wenn wir dieses Bild übertragen, 11,11.12 Das Gleichnis lehrt, daß Gott
müssen wir sorgfältig einige falsche uns niemals betrügen wird, indem er uns
Schlüsse vermeiden. Es bedeutet zum Bei- »einen Stein« gibt, wenn wir um »Brot«
spiel nicht, daß Gott sich über unsere Bit- (LU 1912) bitten. Brot hatte zu dieser Zeit
ten ärgert. Und es geht auch nicht darum, die Form eines flachen Fladen, die einem
daß die einzige Möglichkeit, Erhörung Stein ähnelte. Gott wird uns niemals
unserer Gebete zu finden, darin besteht, betrügen, indem er uns etwas Ungenieß-
daß wir immer wieder dasselbe bitten. bares gibt, wenn wir um Nahrung bitten.
Was uns das Gleichnis lehren will, ist Wenn wir »um einen Fisch bitten«, wird
die Tatsache, daß, wenn ein Mann bereit er uns »doch nicht eine Schlange geben«,
ist, seinem Freund wegen seiner Unver- d. h. etwas, das uns töten wird. Und
schämtheit zu helfen, Gott dann noch viel wenn wir »um ein Ei« bitten, dann gibt er
mehr bereit ist, auf die Rufe seiner Kinder uns keinen »Skorpion«, d. h. etwas, das
zu hören. uns schlimme Schmerzen bereiten wür-
11,9 Außerdem lehrt das Gleichnis, de.
daß wir in unserem Gebetsleben nicht 11,13 Ein menschlicher Vater würde
müde oder entmutigt werden sollen. keine schlechten Gaben geben. Auch
»Bittet ständig, . . . sucht ständig, . . . wenn er sündig ist, weiß er, seinen »Kin-
38)
klopft ständig.« Manchmal beantwor- dern gute Gaben zu geben«. »Wieviel
tet Gott unsere Gebete sofort. Doch in mehr wird« unser himmlischer »Vater«
anderen Fällen antwortet er nur, wenn bereit sein, »den Heiligen Geist . . . de-
wir ihn immer wieder bitten. nen« zu geben, »die ihn bitten!« J. G. Bel-
Gott erhört Gebet: let sagt dazu: »Es ist von Bedeutung, daß
Manchmal, wenn unsere Herzen die Gabe, die er auswählt, die wir am
schwach sind, meisten brauchen, und die er uns am
Gibt er sofort genau die Gaben, um die liebsten geben will, der Heilige Geist ist.«
die Gläubigen bitten, Als Jesus diese Worte sprach, war der
Doch oft muß der Glaube einen tieferen Heilige Geist noch nicht gegeben
Frieden kennenlernen (Joh 7,39). Wir sollten heute nicht darum
Und Gottes Schweigen vertrauen, wenn bitten, daß der Heilige Geist in uns woh-
er nicht redet, nen möge, weil er schon bei unserer
Denn der, dessen Name Liebe ist, wird Bekehrung gekommen ist, um in uns
das beste schicken Wohnung zu nehmen (Röm 8,9b;
Sterne mögen vergehen oder Berge wan- Eph 1,13.14).
ken, Doch es ist sicherlich angemessen
Doch Gott ist treu, seine Verheißungen und notwendig für uns, auf andere Wei-
fest. se um den Heiligen Geist zu bitten. Wir
Er ist unsere Stärke. M. G. P. sollten beten, daß wir bereit sind, vom

278
Lukas 11

Heiligen Geist zu lernen, daß wir uns zutreiben. »Andere« hingegen verlang-
von ihm führen lassen, und daß seine ten, daß er ein »Zeichen aus dem Him-
Macht bei jedem Dienst für Jesus Chri- mel« vollbringen solle, vielleicht wollten
stus auf uns ausgegossen wird. sie damit die Anklage aus dem Weg räu-
Es ist möglich, daß, als Jesus die Jün- men, die gegen ihn erhoben wurde.
ger lehrte, um »den Heiligen Geist« zu 11,17.18 Die Anklage, daß Jesus die
bitten, er sich auf die Macht des Heiligen Dämonen austreibe, weil er selbst von
Geistes bezog, die es ihnen ermöglichen Beelzebub besessen sei, wird in den Ver-
sollte, die Jüngerschaft in einer Art zu sen 17-26 beantwortet. Die Bitte um ein
leben, die nicht von dieser Welt ist, und Zeichen beantwortet Jesus in V. 29.
die er sie in den vorhergehenden Kapi- Zuerst erinnerte der Herr Jesus seine
teln gelehrt hatte. Zu dieser Zeit wußten Feinde daran, daß »jedes Reich, das mit
sie wohl schon, wie ausgesprochen sich selbst entzweit ist«, zerstört wird,
unmöglich es ist, diesen Anforderungen und daß »Haus gegen Haus entzweit«,
an sie mit Hilfe ihrer eigenen Kraft zu einstürzt. Wenn er ein Werkzeug
genügen. Das ist natürlich wahr. »Der »Satans« wäre, und Dämonen austrieb,
Heilige Geist« ist die Macht, die es uns dann kämpfte »Satan« gegen seine eige-
ermöglicht, ein christliches Leben zu nen Untertanen. Es ist lächerlich zu den-
führen. Deshalb zeigte Jesus uns, daß ken, daß der Teufel so gegen sich selbst
Gott uns diese Kraft gerne gibt, wenn wir kämpfen und seine Ziele vereiteln wür-
ihn darum bitten. de.
Im griechischen Original heißt es in 11,19 Zweitens erinnert der Herr sei-
Vers 13 nicht, daß Gott uns den Heiligen ne Kritiker daran, daß einige ihrer eige-
Geist geben will, sondern daß er »Heili- nen Landsleute zur gleichen Zeit böse
gen Geist geben« (ohne Artikel) will. Pro- Geister austrieben. Wenn er dies durch
fessor H. B. Swete zeigte auf, daß der die Macht Satans täte, dann würde dar-
Artikel, wenn er gebraucht wird, auf die aus konsequenterweise folgen, daß sie
Person selbst hinweist, wenn er jedoch die Dämonen auf dieselbe Art austrie-
nicht verwendet wird, weist das auf sei- ben. Natürlich würden die Juden das nie-
ne Gaben oder Handlungen für uns hin. mals eingestehen. Doch wie konnten sie
Deshalb geht es in diesem Abschnitt abstreiten, daß Jesu Argumentation
nicht so sehr um das Gebet um die Person stichhaltig war? Die Vollmacht, Dämo-
des Heiligen Geistes, sondern um seinen nen auszutreiben, mußte entweder von
Dienst in unserem Leben. Das wird in Gott oder von Satan kommen. Einer von
der Parallele in Matthäus 7,11 noch wei- beiden mußte diese Kraft verleihen, bei-
ter ausgeführt, wo es heißt: ». . . wieviel de konnten es nicht sein. Wenn Jesus
mehr wird euer Vater, der in den Him- durch die Macht Satans handelte, dann
meln ist, Gutes geben denen, die ihn bit- waren die jüdischen Exorzisten von der-
ten! selben Macht abhängig. Wer also Jesus
verurteilte, verurteilte auch sie.
I. Jesus antwortet seinen Kritikern 11,20 Die Wahrheit war, daß Jesus
(11,14-26) »durch den Finger Gottes die Dämonen«
11,14-16 Indem Jesus »einen Dämon aus- austrieb. Was meint Jesus hier mit »Fin-
trieb«, der sein Opfer »stumm« gemacht ger Gottes?« Im Bericht des Matthäuse-
hatte, verursachte er unter den Men- vangeliums (12,28) lesen wir: »Wenn ich
schen eine gewisse Aufregung. Während aber durch den Geist Gottes die Dämo-
»die Volksmengen sich wunderten«, nen austreibe, so ist also das Reich Gott-
feindeten andere den Herrn immer offe- es zu euch gekommen.« So können wir
ner an. Die Feindschaft nahm zwei ver- schlußfolgern, daß der »Finger Gottes«
schiedene Formen an. »Einige« klagten dasselbe wie der Geist Gottes ist. Die Tat-
ihn an, »die Dämonen . . . durch Beelze- sache, daß Jesus die Dämonen durch den
bub, den Obersten der Dämonen«, aus- Geist Gottes austrieb, war in der Tat ein

279
Lukas 11

Beweis, daß »das Reich Gottes zu« den Vor ihrer Gefangenschaft war Israel vom
Menschen dieser Generation »gekom- Dämon des Götzendienstes besessen.
men« war. Das Reich war in der Person Doch die Gefangenschaft befreite sie von
des Königs selbst gekommen. Die einfa- diesem »unreinen Geist«, und seitdem
che Tatsache, daß der Herr Jesus anwe- haben die Juden nie wieder Götzendienst
send war und solche Wunder tat, war ein betrieben. Ihr Haus war »gekehrt und
Beweis dafür, daß der von Gott gesalbte geschmückt«, doch sie weigerten sich,
Herrscher auf der Weltbühne der den Herrn Jesus hereinzulassen, um es in
Geschichte erschienen war. Besitz zu nehmen. Deshalb sagte Jesus
11,21.22 Bis dahin war Satan ein voraus, daß »der unreine Geist« eines
»Starker«, der »bewaffnet« war, und der Tages »sieben andere Geister« sammeln
über seinen »Hof« unangefochten herr- werde, die »schlimmer als er selbst« sind,
schte. Wer von Dämonen besessen war, und sie in das Haus »hineingehen und
blieb in seinen Fängen, und keiner konn- dort wohnen« werden. Das bezieht sich
te Satan herausfordern. »Seine Habe« auf die schreckliche Form des Götzen-
war »in Frieden«, d. h. niemand hatte die dienstes, in die das jüdische Volk
Macht, seine Beute zu fordern. Der Herr während der Drangsal verfallen wird. Sie
Jesus aber war der »Stärkere«, kam »über werden den Antichristen als Gott anbe-
ihn, . . . besiegte« ihn, nahm ihm »seine ten (Joh 5,43) und die Strafe für diese
ganze Waffenrüstung weg«, und verteil- Sünde wird schlimmer sein als alles, was
te »seine Beute«. dieses Volk je vorher erduldet hat.
Noch nicht einmal seine Feinde leug- Während dieses Bild sich in erster
neten, daß Jesus böse Geister austrieb. Linie auf die nationale Geschichte Israels
Das konnte nur bedeuten, daß Satan bezieht, weist es auch darauf hin, daß
besiegt worden war, und daß seine Opfer einfache Buße oder Erneuerung im
nun befreit wurden. Das ist die Zielrich- Leben eines Einzelnen nicht ausreicht. Es
tung dieser Verse. reicht nicht, eine neue Seite im Buch sei-
11,23 Dann fügte Jesus noch hinzu, nes Lebens aufzuschlagen. Der Herr
daß jeder, »der nicht mit« ihm ist, Jesus muß ins Herz und ins Leben einge-
»gegen« ihn ist, und daß jeder, der »nicht laden werden. Andernfalls ist das Leben
mit« ihm »sammelt, zerstreut«. Wie ein- offen für schlimmere Formen der Sünde,
mal jemand gesagt hat: »Jeder ist entwe- als man sich je vorher erlaubt hat.
der auf dem Weg oder im Weg.« Wir
haben schon den scheinbaren Wider- J. Glückseliger als Maria (11,27.28)
spruch dieses Verses zu 9,50 erwähnt. 11,27.28 »Eine Frau aus der Volksmenge«
Wenn es um die Person und das Werk preist Jesus mit den Worten: »Glückselig
Christi geht, gibt es keine neutrale Zone. der Leib, der dich getragen, und die Brü-
Jeder Mensch ist entweder für oder ste, die du gesogen hast!« Die Antwort
gegen Christus. Wer nicht für Christus unseres Herrn ist von größter Bedeu-
ist, ist damit automatisch gegen ihn. tung. Er bestritt nicht, daß Maria, seine
Doch wenn es um den christlichen Mutter, glückselig ist, doch er ging darü-
Dienst geht, dann sind diejenigen, die ber hinaus, und sagte, daß es noch wichti-
nicht gegen die Diener Christi sind, für ger sei, »das Wort Gottes zu hören und zu
sie. Im ersten Fall geht es um die Erlö- befolgen«. Mit anderen Worten, sogar die
sung, im zweiten um den Dienst. Jungfrau Maria wurde durch den Glau-
11,24-26 Es scheint so, als ob der Herr ben an Christus und in seiner Nachfolge
nun den Spieß umdreht. Seine Kritiker glückseliger als durch die Tatsache, daß
hatten ihn angeklagt, daß er von Dämo- sie seine Mutter war. Natürliche Bezie-
nen besessen sei. Nun vergleicht er ihr hungen sind nicht so wichtig wie geistli-
Volk mit einem Mann, der zeitweilig von che. Das sollte ausreichen, um alle die
dämonischer Besessenheit geheilt wor- zum Schweigen zu bringen, die in Maria
den ist. Das traf auf ihre Geschichte zu. eine anbetungswürdige Person sehen.

280
Lukas 11

K. Das Zeichen Jonas (11,29-32) Jonas hin«, weigerten sich die Israeliten,
11,29 In Vers sechzehn hatten einige auf die Predigt dessen hin Buße zu tun,
Menschen den Herrn Jesus versucht, der »mehr als Jona« war.
indem sie »ein Zeichen« vom Himmel Die Ungläubigen heute spotten über
von ihm forderten. Er beantwortet ihre die Geschichte Jonas und wollen daraus
Forderung nun, indem er sie einem eine jüdische Legende machen. Jesus
»bösen Geschlecht« zuschreibt. Er sprach von Jona als einer wirklichen Per-
spricht in erster Linie vom jüdischen son, genauso, wie er von Salomo sprach.
»Geschlecht«, das zu dieser Zeit lebte. Menschen, die behaupten, sie würden
Die Menschen hatten das Vorrecht der glauben, wenn sie nur ein Wunder sähen,
Gegenwart des Sohnes Gottes. Sie hatten irren sich. Glaube gründet sich nicht auf
seine Worte gehört und seine Wunder die Beweise durch sinnliche Erfahrung
gesehen. Doch damit waren sie nicht sondern auf das lebendige Wort Gottes.
zufrieden. Sie gaben nur vor, daß sie ihm Wenn ein Mensch dem Wort Gottes nicht
nur dann glauben würden, wenn sie ein glaubt, dann wird er auch nicht glauben,
mächtiges, übernatürliches Werk im wenn jemand von den Toten auferstün-
Himmel sehen konnten. Die Antwort des de. Die Haltung, die Zeichen fordert,
Herrn lautete, daß es »kein« weiteres gefällt Gott nicht. Es geht dann nicht um
»Zeichen« für sie geben würde »als nur Glauben, sondern um Sehen. Der Un-
das Zeichen Jonas«. glaube sagt: »Laß mich erst sehen, dann
11,30 Jesus sprach von seiner Aufer- will ich auch glauben.« Gott antwortet
stehung von den Toten. So »wie Jona« darauf: »Glaube, dann wirst du sehen.«
aus dem Meer gerettet wurde, nachdem
er drei Tage und drei Nächte im Bauch L. Das Gleichnis von der
des Fisches verbracht hatte, so würde der angezündeten Lampe (11,33-36)
Herr Jesus von den Toten auferstehen, 11,33 Zuerst mögen wir denken, daß
nachdem er drei Tage und drei Nächte im zwischen diesen und den vorhergehen-
Grab gelegen habe. Mit anderen Worten, den Versen kein Zusammenhang be-
das letzte und größte Wunder seines irdi- steht. Wenn wir jedoch genauer hin-
schen Dienstes würde die Auferstehung schauen, sehen wir eine sehr wichtige
des Herrn Jesus sein. »Jona war den Nini- Verbindung. Jesus erinnert seine Zuhö-
viten ein Zeichen.« Als er in die heidni- rer daran, daß niemand eine angezünde-
sche Metropole ging, um dort zu predi- te Lampe in den Keller oder »unter den
gen, ging er als einer, der, zumindest Scheffel« stellt. Er stellt sie auf ein »Lam-
bildlich gesprochen, von den Toten auf- pengestell«, wo sie gesehen wird und
erstanden war. wo sie für alle Eintretenden Licht spen-
11,31.32 Die »Königin des Südens«, det.
die heidnische Königin von Saba, reiste Die Anwendung ist die Folgende:
von weither nach Jerusalem, »um die Gott ist derjenige, der die Lampe ange-
Weisheit Salomos zu hören«. Sie sah kein zündet hat. In der Person und dem Werk
einziges Wunder. Wenn sie das Vorrecht des Herrn Jesus gab Gott uns ein helles
gehabt hätte, zur Zeit unseres Herrn zu Licht zur Erleuchtung der Welt. Wenn
leben, wie bereitwillig hätte sie ihn ange- jemand dieses Licht nicht sieht, ist das
nommen! Deshalb wird sie »im Gericht« nicht Gottes Schuld. In Kapitel 8 hat der
gegen diese bösen Menschen »aufste- Herr Jesus von der Verantwortung derer
hen«, die die übernatürlichen Werke des gesprochen, die schon Jünger sind, den
Herrn Jesus gesehen und ihn dennoch Glauben weiterzugeben und nicht unter
abgelehnt haben. Jemand der »mehr als einem Scheffel zu verstecken. Hier in
Salomo« und »mehr als Jona« war, hatte 11,33 stellt er den Unglauben seiner wun-
die Bühne der menschlichen Geschichte dersüchtigen Kritiker bloß, der durch
betreten. Während die »Männer von ihre Begierde und ihre Angst vor Schan-
Ninive . . . Buße taten auf die Predigt de verursacht war.

281
Lukas 11

11,34 Ihr Unglaube war die Folge siert, daß unser inneres Leben rein ist.
ihrer falschen Motive. Im irdischen »Denn der Mensch sieht auf das, was vor
Bereich ist das »Auge« das Organ, das Augen ist, aber der Herr sieht auf das
dem »ganzen Leib« Licht gibt. Wenn das Herz« (1. Sam 16,7).
Auge gesund ist, kann man das Licht 11,41 Der Herr wußte, wie habgierig
sehen. Doch wenn das Auge krank ist, und selbstsüchtig diese Pharisäer waren,
d. h. blind, dann kann kein Licht herein- deshalb forderte er seinen Gastgeber
kommen. zuerst auf, »als Almosen« zu geben,
Genauso ist es auf geistlichem Gebiet. »was darin ist«. Wenn er diese erste
Wenn ein Mensch ehrlich erkennen will, Erprobung seiner Liebe zu anderen
ob Jesus der Christus Gottes ist, dann bestehen würde, dann würde ihm »alles
wird Gott es ihm offenbaren. Doch wenn rein« sein. H. A. Ironside kommentiert:
er für dieses Verlangen die falschen Wenn die Liebe Gottes unser Herz so
Motive hegt, wenn er an seiner Habgier erfüllt, daß wir uns um die Bedürfnisse von
festhalten will, wenn er immer noch vor anderen kümmern, dann allein haben diese
dem Gerede der anderen Angst hat, dann äußeren Maßnahmen echten Wert. Derjeni-
wird er für den wahren Wert des Erlösers ge, der immer nur für sich selbst sammelt,
blind. ohne die Armen und Bedürftigen um sich zu
11,35 Die Männer, die Jesus anspricht, sehen, zeigt, daß die Liebe zu Gott nicht in
39)
meinten, daß sie sehr weise seien. Sie ihm wohnt.
dachten, daß sie sehr viel Licht hätten. Ein unbekannter Schreiber faßt zu-
Doch der Herr Jesus riet ihnen, die Tatsa- sammen:
che zu bedenken, daß das »Licht«, das sie Die harten Aussagen in Vers 39-52 gegen
hatten, in Wirklichkeit »finster« war. Ihre die Pharisäer und Schriftgelehrten wurden
eingebildete Weisheit und Überlegenheit am Mittagstisch eines Pharisäers geäußert
hielten sie von ihm entfernt. (Vers 37). Was wir »guten Geschmack« nen-
11,36 Der Mensch, dessen Motive rein nen, wird oft als Ersatz für Wahrheitstreue
sind, der sein ganzes Wesen Jesus, dem mißbraucht. Wir lächeln, wenn wir die Stirn
Licht der Welt öffnet, wird mit geistlicher runzeln sollten, wir schweigen, wo wir reden
Erleuchtung durchflutet. Sein inneres sollten. Man sollte eher eine Party sprengen
Leben wird von Christus erleuchtet, als die Treue zu Gott zu verraten.
genauso wie der Leib erleuchtet wird,
wenn er direkt im Lichtstrahl einer Lam- N. Wehrufe gegen die Pharisäer
pe sitzt. (11,42-44)
11,42 Die Pharisäer achteten sehr auf
M. Äußere und innere Reinheit Äußerlichkeiten. Sie achteten genau auf
(11,37-41) die kleinsten Einzelheiten des Zeremoni-
11,37-40 Als Jesus die Einladung »eines algesetzes, wie etwa den Zehnten selbst
Pharisäers« zum Mittagessen annahm, vom kleinsten »Kraut« zu geben. Doch in
war sein Gastgeber schockiert, weil »er ihrer Beziehung zu Gott und Menschen
sich nicht erst vor dem Essen gewaschen waren sie sorglos. Sie unterdrückten die
hatte«. Jesus las seine Gedanken und Armen und liebten Gott nicht. Der Herr
ermahnte ihn ernsthaft wegen dieser tadelte sie nicht dafür, daß sie »Minze
Heuchelei. Jesus erinnerte ihn daran, daß und Raute« und jedes Kräutlein verzehn-
nicht zählt, wenn das »Äußere des teten, sondern stellte heraus, daß sie lie-
Bechers« rein ist, sondern wie das »Inne- ber nicht so eifrig in diesen Einzelheiten
re« aussieht. Nach außen hin erschienen sein sollten und dabei nicht die Grund-
die Pharisäer ziemlich gerecht, doch verpflichtungen des Lebens wie »das
innerlich waren sie unehrlich und böse. Gericht und die Liebe Gottes« vernach-
Derselbe Gott, »welcher das Äußere« des lässigen sollten. Sie betonten das Unter-
Menschen »gemacht hat«, hat »auch das geordnete, doch sie übersahen das Wich-
Innere gemacht« und ist daran interes- tigere. Sie übten sich in allem, was ande-

282
Lukas 11

re sehen konnten, doch sie waren sorglos mit im Grunde unwichtigen Nebensäch-
bei Handlungen, die nur Gott sehen lichkeiten.
kann. 11,47.48 Die Gesetzesgelehrten waren
11,43 Sie liebten es, sich selbst darzu- heuchlerische Mörder. Sie gaben vor, die
stellen, »in den Synagogen« wichtige Propheten Gottes zu bewundern. Sie gin-
Plätze innezuhaben und so viel wie mög- gen sogar soweit, Denkmäler über den
lich Aufmerksamkeit »auf den Märkten« »Grabmälern der Propheten« zu errich-
auf sich zu ziehen. Sie machten sich ten. Dies war scheinbar ein echtes Zei-
damit nicht nur der Oberflächlichkeit, chen ihres tiefen Respektes vor den altte-
sondern auch des Stolzes schuldig. stamentlichen Propheten. Doch der Herr
11,44 Schließlich verglich der Herr sie Jesus wußte es besser. Während sie sich
mit versteckten »Grüften«. Unter dem äußerlich von ihren jüdischen Vorfahren
Gesetz des Mose machte sich jeder für distanzierten, die die Propheten »getötet«
sieben Tage unrein, der ein Grab berühr- haben, folgten sie ihnen in Wahrheit auf
te (19,16), auch wenn er nicht wußte, daß dem Fuße. Während sie »die Grabmäler
es sich um ein Grab handelte. Die Pha- der Propheten« bauten, planten sie den
risäer gaben nach außen den Anschein, Tod des größten aller Propheten Gottes,
daß sie hingegebene religiöse Führer nämlich des Herrn Jesus selbst. Und sie
waren. Doch sie hätten eigentlich ein würden fortfahren, die treuen Propheten
Schild tragen müssen, das die Menschen und Apostel Gottes zu ermorden.
warnte, daß es verunreinigend war, mit 11,49 Wenn wir Vers 49 mit Matthäus
ihnen in Kontakt zu kommen. Sie waren 23,34 vergleichen, sehen wir, daß Jesus
»wie die Grüfte, die verborgen sind«, selbst »die Weisheit Gottes« ist. Hier
voll Unreinheit und Verdorbenheit und zitiert er »die Weisheit Gottes«: »Ich wer-
steckten andere mit ihrer Oberflächlich- de Propheten und Apostel zu ihnen sen-
keit und ihrem Stolz an. den.« Im Matthäusevangelium zitiert
Jesus nicht aus dem AT oder aus einer
O. Gegen die Gesetzesgelehrten anderen Quelle, sondern stellt es als eine
(11,45-52) eigene Aussage hin. (Siehe auch 1. Ko-
11,45 Die »Gesetzesgelehrten« waren die rinther 1,30, wo von Christus als der
Schriftgelehrten. Sie waren Experten auf Weisheit gesprochen wird.) Der Herr
dem Gebiet der Auslegung und Er- Jesus verheißt, daß er »Propheten und
klärung des mosaischen Gesetzes. Doch Apostel« zu den Menschen seiner Gene-
ihre Fähigkeiten beschränkten sich dar- ration »senden« werde, und daß diese
auf, anderen zu sagen, was sie zu tun Menschen sie »töten und vertreiben«
hätten. Sie handelten selbst jedoch nicht würden.
danach. Einer der Gesetzesgelehrten 11,50.51 Er würde »von diesem
bemerkte die Schärfe der Worte Jesu und Geschlecht . . . das Blut aller« Sprecher
erinnerte ihn daran, daß er, als er gegen Gottes fordern, angefangen vom ersten
die Pharisäer redete, auch die Gesetzes- Fall, der im AT verzeichnet ist, »dem Blut
gelehrten beleidigte. Abels«, bis hin zum letzten Fall, »dem
11,46 Der Herr benutzte dies als Gele- Blut Zacharias, der zwischen dem Altar
genheit, auch einige der Sünden der und dem Haus umkam« (2. Chron 24,21).
Gesetzesgelehrten herauszustellen. In Das 2. Chronikbuch war das letzte Buch
erster Linie bedrückten sie die Menschen in der jüdischen Reihenfolge der Bücher
mit allerlei gesetzlichen »Lasten«, doch des AT. Deshalb erinnerte der Herr an die
halfen sie ihnen nicht beim Tragen dieser Skala der Märtyrer, als er Abel und
Lasten. Wie Kelly anmerkt: »Sie waren Zacharias erwähnte. Als er diese Worte
bekannt für die Verachtung der Men- aussprach, wußte er genau, daß die zu
schen, von denen sie sich rühmen seiner Zeit lebende Generation ihn zum
40)
ließen.« Viele ihrer Regeln waren reines Tod am Kreuz verurteilen würde und so
Menschenwerk und beschäftigten sich die Reihe der Verfolgungen der Männer

283
Lukas 11 und 12

Gottes zu einem schlimmen Höhepunkt Jüngern« und warnte sie: »Hütet euch
führen würden. Weil sie ihn ermorden vor dem Sauerteig der Pharisäer.« Er
wollten, würde »das Blut aller« vorher- erklärte, daß Sauerteig ein Bild für »Heu-
gehender Zeitalter über sie kommen. chelei« ist. Ein Heuchler ist jemand, der
11,52 Schließlich beschuldigt der eine Maske trägt, dessen äußere Erschei-
Herr Jesus die »Gesetzesgelehrten«, daß nung sich von der inneren Realität ganz
sie »den Schlüssel der Erkenntnis weg- stark unterscheidet. Die Pharisäer woll-
genommen« hätten, d. h. daß sie den ten als Beispiele für alle Tugenden gelten,
Menschen das Wort Gottes vorenthalten doch in Wahrheit waren sie nur Meister
hätten. Obwohl sie nach außen hin sich der Verstellung.
zur Schrifttreue bekannten, weigerten 12,2.3 Der Tag ihrer Entdeckung wird
sie sich jedoch störrisch, den Einen kommen. Alles, was sie »verdeckt« hat-
anzunehmen, von dem die Schrift ten, wird »aufgedeckt« werden, und
spricht, und sie »hinderten« andere dar- alles, was sie »in der Finsternis gespro-
an, zu Christus zu kommen. Sie wollten chen haben« wird ans »Licht« gezogen
selbst nicht zu ihm kommen und sie werden.
wollten auch nicht, daß andere ihn Ebenso unausweichlich wie die Auf-
annahmen. deckung der Heuchelei würde der Sieg
der Wahrheit sein. Bis dahin wurde die
P. Die Antwort der Schriftgelehrten Botschaft, die die Jünger verkündeten,
und Pharisäer (11,53.54) mehr im Verborgenen und nur wenigen
11,53.54 Die »Schriftgelehrten und Pha- Menschen verkündigt. Doch nach der
risäer« waren offensichtlich durch die Ablehnung des Messias durch Israel und
offenen Anklagen des Herrn verärgert. dem Kommen des Heiligen Geistes, wür-
Sie »fingen . . . an, hart auf ihn einzu- den die Jünger ohne Furcht im Namen
dringen« und vermehrten ihre Be- Jesu losziehen und die Gute Nachricht
mühungen, ihn mit seinen eigenen Wor- überall verkündigen. Dann würde die
ten zu fangen. Mit allen möglichen Tricks Botschaft im Vergleich zum gegenwärti-
versuchten sie, ihn dazu zu verführen, gen Zeitpunkt »auf den Dächern ausge-
»etwas« zu sagen, weswegen sie ihn zum rufen« werden. Godet bemerkt dazu:
Tode verurteilen konnten. Indem sie das »Diejenigen, deren Stimmen nicht gehört
taten, bewiesen sie nur, wie genau Jesus werden, außer in begrenzten und gehei-
ihr wahres Wesen erkannt hatte. men Kreisen, sollen die Lehrer der Welt
41)
werden.«
VIII. Lehren und Heilen auf dem Weg 12,4.5 Mit den ermutigenden und
nach Jerusalem (Kap. 12 – 16) herzlichen Worten »meine Freunde«
warnt Jesus seine Jünger davor, sich die-
A. Warnung und Ermutigung (12,1-12) ser unbezahlbaren Freundschaft in der
12,1 »Viele Tausende der Volksmenge . . . Bedrängnis zu schämen. Die weltweite
hatten sich versammelt«, während Jesus Verkündigung der christlichen Botschaft
die Pharisäer und Schriftgelehrten verur- würde den treuen Jüngern Tod und Ver-
teilte. Jede Diskussion zieht normaler- folgung einbringen. Doch es gibt eine
weise viele Menschen an, doch diese Grenze für das, was Menschen wie die
Menge war zweifellos durch Jesu furcht- Pharisäer ihnen antun konnten. Die
lose Bloßstellung dieser heuchlerischen Grenze ist der leibliche Tod. Den sollten
religiösen Führer angezogen worden. sie nicht fürchten. Gott würde ihre Ver-
Obwohl eine kompromißlose Haltung folger weitaus schlimmer strafen, näm-
gegenüber der Sünde nicht immer lich mit ewigem Tod in der »Hölle«. Und
populär ist, spricht sie doch das Herz des deshalb sollten die Jünger Gott mehr
Menschen durch ihre Gerechtigkeit an. fürchten als die Menschen.
Die Wahrheit rechtfertigt sich immer 12,6.7 Um zu betonen, daß Gott dar-
selbst. Jesus wandte sich nun »zu seinen an interessiert ist, die Jünger zu beschüt-

284
Lukas 12

zen, erwähnt der Herr die Fürsorge des Diese Sünde kann nicht von einem
Herrn für die »Sperlinge«. In Matthäus echten Gläubigen getan werden, auch
10,29 lesen wir, daß zwei Spatzen für wenn einige sich mit Ängsten quälen,
einen Pfennig verkauft wurden. Hier daß sie diese Sünde durch Zurückgehen
erfahren wir, daß »fünf Sperlinge für begangen haben könnten. Zurückgehen
zwei Pfennig« verkauft werden. Das hat mit der Sünde, die nicht vergeben
heißt, daß man einen als »Mengenra- werden kann, nichts zu tun. Jemand, der
batt« bekommt, wenn man vier kauft. zurückgefallen ist, kann wieder in die
Und doch ist sogar dieser überzählige Gemeinschaft des Herrn aufgenommen
Spatz, der keinen Geldwert hat, von werden. Die bloße Tatsache, daß sich ein
Gott nicht vergessen. Wenn Gott für die- Mensch Sorgen macht, er könne diese
sen überzähligen Spatz sorgt, wieviel Sünde begangen haben, ist ein Beweis
mehr wird er dann über denen wachen, dafür, daß er sie nicht begangen hat.
die das Evangelium seines Sohnes ver- Auch wenn ein Ungläubiger Jesus
breiten! Er zählt sogar »die Haare« auf ablehnt, hat er nicht die Sünde getan, die
ihrem Kopf. nicht vergeben werden kann. Ein
12,8 Der Erlöser sagt den Jüngern, Mensch mag Jesus immer wieder ver-
daß »jeder, der« ihn jetzt »bekennt«, von schmähen, doch später kann er sich zum
ihm »vor den Engeln Gottes« bekannt Herrn bekehren. Wenn er natürlich im
werden wird. Hier spricht er von allen Unglauben stirbt, kann er sich nicht län-
wahren Gläubigen. Ihn bekennen heißt, ger bekehren. Damit kann seine Sünde
ihn als den einzigen Herrn und Erretter dann nicht mehr vergeben werden. Doch
anzunehmen. die Sünde, die unser Herr als die Sünde,
12,9 Wer ihn »vor den Menschen ver- die nicht vergeben werden kann be-
leugnet haben wird, der wird vor den schreibt, ist die Sünde, die die Pharisäer
Engeln Gottes verleugnet werden«. In begangen, als sie sagten, daß Jesus seine
erster Linie scheint es hier um die Pha- Wunder in der Macht Beelzebubs, des
risäer zu gehen, doch natürlich umfaßt Fürsten der Dämonen, vollbringe.
der Satz alle, die Christus annehmen und 12,11.12 Es war unausweichlich, daß
sich schämen, ihn anzuerkennen. An je- die Jünger eines Tages vor »die Obrigkei-
nem Tag wird er sagen: »Ich kenne euch ten und die Machthaber« geführt würden,
nicht.« um dort verurteilt zu werden. Der Herr
12,10 Als Nächstes erklärte der Erlö- Jesus sagte ihnen nun, daß es unnötig
ser den Jüngern, daß ein Unterschied wäre, im voraus zu üben, was sie »sagen
besteht, ob man ihn selbst kritisiert, oder sollten«. »Der Heilige Geist« würde ihnen
»gegen den Heiligen Geist lästert«. Wer die richtigen Worte in den Mund legen,
»gegen den Sohn des Menschen« spricht, wann immer das nötig werden würde.
dem kann »vergeben« werden, wenn er Das bedeutet nicht, daß Diener des Herrn
bereut und glaubt. Doch Lästerung keine Zeit im Gebet und Bibelstudium
»gegen den Heiligen Geist« ist die Sün- verbringen sollten, wenn sie predigen
de, die nicht vergeben werden kann. Die- oder Bibelstunden halten. Man darf die-
ser Sünde hatten sich die Pharisäer schul- sen Vers nicht als Ausrede für Faulheit
dig gemacht (s. Matth 12,22-32). Was ist mißbrauchen! Jedenfalls haben wir hier
aber diese Sünde? Sie besteht darin, die eine ausdrückliche Verheißung des
Wunder des Herrn Jesus dem Teufel Herrn, daß diejenigen, die wegen ihres
zuzuschreiben. Das ist Lästerung »gegen Zeugnisses für Christus verurteilt wer-
den Heiligen Geist«, weil Jesus alle seine den, die besondere Hilfe des »Heiligen
Wunder in der Kraft des Heiligen Geistes Geistes« erhalten werden. Und es ist eine
tat. Damit sagte man dann, daß der Hei- allgemeine Verheißung an alle Kinder
lige Geist Gottes Satan sei. Es gibt für die- Gottes, daß ihnen, wenn sie im Geist wan-
se Sünde weder in diesem Zeitalter noch deln, die richtigen Worte in den Krisen-
in einem kommenden Vergebung. momenten ihres Lebens gegeben werden.

285
Lukas 12

B. Warnung vor Habsucht (12,13-21) Wenn man sich umschaut, dann hat man
12,13 Nun trat »einer aus der Volksmen- den Eindruck, daß der Mensch doch davon
ge« vor und bat den Herrn, einen Erb- lebt, daß er viele Güter hat. Die Menschen
streit zwischen ihm und seinem »Bru- denken, daß ihre Größe von ihrem Reichtum
der« zu schlichten. Man hat oft gesagt, abhängt. Und das scheint auch so zu sein,
wo es ein Testament gibt, gibt es auch denn die Welt mißt Menschen nach ihrem
viele Verwandte. Das scheint hier zuzu- Bankkonto. Und doch hat es nie einen schlim-
treffen. Uns wird allerdings nicht gesagt, meren Fehler gegeben. Ein Mensch wird im
ob dem Mann sein rechtmäßiger Anteil Gericht danach beurteilt, was er ist, nicht
vorenthalten werden sollte oder ob er danach, was er hat.42)
nach mehr als seinem Anteil gierte. 12,16-18 Das »Gleichnis« vom reichen
12,14 Der Erlöser erinnerte ihn gleich Toren verdeutlicht die Tatsache, daß
daran, daß er nicht in die Welt gekom- Besitz nicht das wichtigste im Leben ist.
men sei, sich mit solch trivialen Streite- Weil ein reicher Bauer eine außerordent-
reien abzugeben. Der Zweck seines lich gute Ernte hatte, schien er mit einem
Kommens war die Erlösung sündiger sehr schlimmen Problem konfrontiert zu
Menschen. Er wollte sich nicht von die- sein. Er wußte nicht mehr, wohin mit all
ser großen und herrlichen Aufgabe dem Korn. Alle seine Scheunen und Silos
abbringen lassen, um ein mickriges Erbe waren voll. Da dachte er nach. Er löste
aufzuteilen. (Außerdem hatte er auch sein Problem. Er entschied sich, seine
kein Recht dazu, solche Streitigkeiten zu »Scheunen niederzureißen und größere
schlichten. Seine Entscheidung wäre zu bauen«. Er hätte sich die Ausgabe und
nicht rechtsverbindlich gewesen.) die Mühe dieses riesigen Bauprojektes
12,15 Doch der Herr benutzte diesen sparen können, wenn er nur die notlei-
Vorfall, um seine Hörer vor einem der denden Menschen um sich herum gese-
schlimmsten Laster des menschlichen hen hätte und seinen Reichtum benutzt
Herzens zu warnen, nämlich vor der hätte, um ihren Hunger zu stillen,
»Habsucht«. Das unersättliche Streben sowohl den geistlichen als auch den leib-
nach materiellem Besitz ist einer der lichen. Ambrosius hat gesagt: »Der
stärksten Antriebe im menschlichen Schoß der Armen, die Häuser der Wit-
Leben. Und doch geht man dabei am wen und die Münder der Kinder sind die
Sinn menschlicher Existenz vorbei. »Nie- Scheunen, die ewig bleiben.«
mand lebt davon, daß er viele Güter hat« 12,19 Als seine neuen Scheunen fertig
(LU 1984). Wie J. R. Miller betont: waren, plante er, sich zur Ruhe zu setzen.
Das ist eines der Warnzeichen, die unser Man beachte seinen Geist der Unabhän-
Herr aufgestellt hat, die die meisten Men- gigkeit: »Meine Scheunen, mein Korn,
schen heute anscheinend nicht mehr beach- meine Güter, meine Seele.« Er hatte seine
ten. Christus sagte sehr viel über die Gefah- Zukunft schon geplant. Er wollte »ausru-
ren des Reichtums, doch es gibt nur wenige hen, essen, trinken und fröhlich sein«.
Menschen, die sich vor Reichtum fürchten. 12,20.21 Doch als er dachte, daß auch
Habsucht wird heutzutage kaum noch als die Zeit ihm gehöre, brach über ihn das
Sünde angesehen. Wenn jemand das sechste ewige Verderben Gottes herein. Gott sag-
oder achte Gebot bricht, dann wird er als Kri- te ihm, daß er noch »in dieser Nacht«
mineller hingestellt und wird mit Schande sterben müsse. Dann würde er all seinen
überschüttet, doch wenn er das zehnte bricht, irdischen Besitz verlieren. Er würde
dann ist er nur geschäftstüchtig. Die Bibel anderen gehören. Jemand hat einmal
sagt, daß die Geldliebe die Wurzel alles Übels einen Toren als jemanden beschrieben,
ist, doch jeder, der diesen Spruch zitiert, der nur bis zu seinem Grab plant. Dieser
betont immer das Wort »Liebe« und erklärt Mann war ganz sicher ein Tor.
schnell, daß nicht das Geld an sich, sondern »Für wen wird es sein?« fragt Gott
die Liebe zum Geld eine so schlimme »Wur- ihn. Wir könnten uns auch selbst die Fra-
zel« ist. ge stellen: »Wenn Jesus heute wieder-

286
Lukas 12

kommen würde, wem würde all mein schen sich keinen weltlichen Arbeiten
Besitz zufallen?« Wie viel besser, wenn mehr zuwenden dürften. Es bedeutet
wir ihn heute für Gott benutzen, als ihn nur, daß Gott die Bedürfnisse derer
morgen in die Hände Satans fallen zu las- kennt, die er geschaffen hat, die er aus
sen. Wir können uns jetzt im Himmel Gnaden errettet hat und die er zu seinen
Schätze sammeln, und so »reich im Blick Dienern berufen hat. Die Raben haben
auf Gott« werden. Oder wir können sie keine Scheunen und Vorratskammern,
für unser Fleisch verschwenden und so und doch sorgt Gott jeden Tag für sie.
vom Fleisch Verderben ernten. Warum sollten wir dann unser Leben
damit verbringen, größere Scheunen und
C. Angst kontra Glaube (12,22-34) Vorratskammern zu bauen?
12,22.23 Eine der größten Gefahren des 12,25.26 Jesus fragte dann: »Wer aber
christlichen Lebens ist, daß die Beschaf- unter euch kann mit Sorgen seiner
fung von Essen und Kleidung das erste Lebenslänge eine Elle zusetzen?« Es geht
und wichtigste Ziel in unserem Leben hier darum, wie töricht es ist, sich wegen
wird. Wir sind so damit beschäftigt, für Angelegenheiten Sorgen zu machen
diese Dinge Geld zu verdienen, daß das (etwa über die Zukunft), die wir nicht
Werk des Herrn den zweiten Platz ein- beeinflussen können. Niemand »kann
nimmt. Das NT betont, daß das Anliegen mit Sorgen« seine Körpergröße (wie man
Christi in unserem Leben den ersten auch übersetzen kann) oder seine
Platz einnehmen sollte. »Essen« und Lebenslänge vergrößern. Wenn das so
»Kleidung« sollten untergeordnet blei- ist, warum machen wir uns dann immer
ben. Wir sollten hart für den gegenwärti- Sorgen wegen der Zukunft? Wir sollten
gen Bedarf arbeiten und dann auf Gott lieber unsere Kraft und unsere Zeit ein-
vertrauen, wenn wir uns seinem Dienst setzen, um Jesus zu dienen und die
widmen. Das ist das Leben aus Glauben. Zukunft getrost ihm überlassen.
Als unser Herr sagte, wir sollten nicht 12,27.28 Als nächstes werden die
um Nahrung und Kleidung »besorgt« »Lilien« angeführt, um zu zeigen, wie
sein, meinte er damit nicht, daß wir faul töricht es ist, die besten Fähigkeiten
herumsitzen und darauf warten sollten, dafür zu verwenden, um für Kleider zu
daß wir versorgt werden. Das Christen- sorgen. Mit »Lilien« sind wahrscheinlich
tum ist keine Entschuldigung für Faul- wilde scharlachrote Anemonen gemeint.
heit! Doch er meinte sicherlich, daß wir, »Sie mühen sich nicht und spinnen auch
wenn wir unser tägliches Brot verdienen, nicht.« Trotzdem haben sie eine natürli-
es nicht zulassen dürfen, daß diese che Schönheit, die »Salomo in all seiner
Arbeit eine Bedeutung erhält, die ihr Herrlichkeit« übertrifft. »Wenn aber
nicht zusteht. Es gibt schließlich wichti- Gott« solche Schönheit an Blumen ver-
geres im Leben als Essen und Kleidung. schwendet, die heute blühen und mor-
Wir sind hier als Botschafter des Königs, gen verbrannt werden, wird er dann die
und alle Überlegungen zu unserer per- Bedürfnisse seiner Kinder nicht erfüllen?
sönlichen Bequemlichkeit und unser Wir beweisen, daß wir »Kleingläubige«
Aussehen müssen dem einen herrlichen sind, wenn wir sorgen und jammern und
Ziel untergeordnet werden, ihn bekannt uns in unaufhörlicher Mühe plagen, um
zu machen. mehr und mehr materiellen Reichtum
12,24 Jesus benutzte »die Raben« als aufzuhäufen. Wir verschwenden unser
Beispiel, wie »Gott« für seine Geschöpfe Leben damit, das zu tun, was Gott
sorgt. Sie verbringen ihr Leben nicht in eigentlich für uns tun wollte, wenn wir
verzweifelter Jagd nach Essen noch im nur unsere Zeit und unsere Fähigkeiten
Aufhäufen von Besitz für ihren zukünfti- ihm mehr zur Verfügung gestellt hätten.
gen Bedarf. Die Tatsache, daß sie »nicht 12,29-31 In Wirklichkeit sind unsere
säen noch ernten«, sollte nicht so weit täglichen Bedürfnisse recht klein. Es ist
gedehnt werden, zu lehren, daß die Men- wunderbar, wie einfach wir leben kön-

287
Lukas 12

nen. Warum sollten wir dann Essen und abgesichert. Das Problem mit materiel-
Kleidern solch einen wichtigen Platz in lem Reichtum ist, daß man ihn normaler-
unserem Leben einräumen? Und warum weise nicht besitzen kann, ohne auch
sollten wir »in Unruhe« sein und uns darauf zu vertrauen. Deshalb sagte der
wegen unserer Zukunft Sorgen machen? Herr Jesus: »Wo euer Schatz ist, da wird
So leben nur Menschen, die nicht errettet auch euer Herz sein.« Wenn wir unser
sind. Die »Nationen der Welt«, die Gott Geld voraussenden, dann wird unsere
nicht als ihren Vater kennen, konzentrie- Liebe vom vergänglichen Besitz dieser
ren sich auf Essen, auf Kleidung und auf Welt weggewendet.
ihr Vergnügen. Diese Dinge bilden das
Zentrum und den Rahmen ihres Lebens. D. Das Gleichnis vom wachsamen
Doch Gott hatte nie im Sinn, daß seine Knecht (12,35-40)
Kinder ihre Zeit in der verrückten Hast 12,35 Die Jünger sollten ihrem Herrn
nach irdischer Bequemlichkeit vergeu- nicht nur in bezug auf ihre Versorgung
den sollten. Er hat noch ein Werk auf vertrauen, sondern auch in ständiger
Erden zu vollbringen, und er hat denen Erwartung seiner Wiederkunft leben. Sie
versprochen, für sie zu sorgen, die sich sollten ihre »Lenden umgürten« und ihre
ihm von ganzem Herzen hingeben. »Lampen brennend« erhalten. In östli-
Wenn wir »sein Reich« suchen, dann chen Ländern wurde ein Gürtel um die
wird er uns niemals verhungern oder Taille geschlungen, um die langen, wei-
nackt herumlaufen lassen. Wie traurig ten Gewänder zu halten, wenn ein
wäre es, am Ende des Lebens angekom- Mensch schnell gehen oder laufen woll-
men zu sein, und zu erkennen, daß wir te. Die gegürtete Taille spricht von einem
die meiste Zeit damit verbracht haben, Auftrag, der zu erfüllen ist, die brennen-
uns für etwas abzuarbeiten, das schon in de Lampe spricht vom Zeugnis, das zu
der Fahrkarte heim in den Himmel ent- erhalten ist.
halten war! 12,36 Die Jünger sollten jeden Augen-
12,32 Die Jünger bildeten eine »kleine blick die Wiederkunft des Herrn erwar-
Herde« von hilflosen Schafen, die mitten ten, als ob er ein Mann wäre, der »von der
in eine unfreundliche Welt hinausge- Hochzeit« kommt. Kelly merkt dazu an:
sandt wurden. Es ist wahr, daß sie keine Sie sollten von allen irdischen Belastun-
sichtbaren Mittel zu ihrem Unterhalt gen frei sein, so daß sie sofort, wenn der Herr
oder ihrer Verteidigung hatten. Doch die- wie in dem Gleichnis anklopft, aufmachen
se bedrängte Gruppe junger Männer war können – ohne Ablenkung und ohne sich erst
bestimmt, »das Reich« mit Christus fertig machen zu müssen. Ihre Herzen war-
zusammen zu ererben. Sie würden eines ten auf ihn, ihren Herrn, sie lieben ihn und
Tages mit ihm über die ganze Erde regie- sie warten auf ihn. Er klopft an und sie öffnen
43)
ren. Angesichts dessen ermutigte sie der ihm sofort.
Herr, sich nicht zu fürchten. Weil der Die Einzelheiten dieses Gleichnisses
»Vater« solche wunderbaren Ehren für sollten nicht überstrapaziert werden, um
sie bereit hielt, brauchten sie sich um den die prophetische Zukunft aus ihnen zu
Weg, der dazwischen lag, nicht zu sor- lesen. Wir sollten hier die Hochzeit nicht
gen. mit dem Hochzeitsmahl des Lammes
12,33.34 Statt materielle Reichtümer oder der Entrückung gleichsetzen. Diese
anzuhäufen und für diese Zeit vorzusor- Geschichte des Herrn wurde nur erzählt,
gen, sollten sie diesen Besitz in das Werk um eine einfache Wahrheit zu lehren,
des Herrn einbringen. Auf diese Weise nämlich, daß wir bereit für seine Wieder-
würden sie für den Himmel und die kehr sein sollen. Sie war nicht dazu
Ewigkeit investieren. Die Zerstörung bestimmt, die Reihenfolge der Ereignisse
durch Alter konnte ihren Besitz dann bei seiner Wiederkunft darzulegen.
nicht angreifen. Himmlische Schätze 12,37 Als der Mann von der Hochzeit
sind ganz gegen Verderb und Diebstahl zurückkehrte, warteten seine »Knechte«

288
Lukas 12

aufmerksam auf ihn, und waren fertig, steht im Einklang mit dem Gesamtzu-
sofort auf seinen Befehl hin zu handeln. sammenhang, in dem die Jünger vor
Er ist mit ihnen so zufrieden, daß er hier Materialismus und Habsucht gewarnt
die Rollen tauscht. Er »gürtet« sich selbst werden. Menschen sind wichtig, nicht
mit einer Dienerschürze, läßt sie »sich zu Sachen.
Tisch legen« und »bedient« sie. Das ist 12,43.44 »Wenn« der Herr »kommt«
eine sehr ergreifende Aussage, daß Er, und sieht, daß sein »Knecht« echtes
der in diese Welt als Knecht gekommen Interesse am geistlichen Wohlergehen
ist, sich gnädig herablassen wird, sein der Menschen hat, wird er ihn freigiebig
Volk in ihrer himmlischen Heimat zu belohnen. Die Belohnung hat eventuell
bedienen. Der hingegebene Bibelausle- etwas mit der Herrschaft Christi wäh-
ger Bengel war der Meinung, daß Vers 37 rend des Tausendjährigen Reiches zu tun
die größte Verheißung des Wortes Gottes (1. Petr 5,1-4).
sei. 12,45 Der Knecht in diesem Vers
12,38 Die »zweite Wache« ging von 21 bekennt, für Christus zu arbeiten, doch
Uhr bis Mitternacht. Die »dritte Wache« in Wirklichkeit ist er ungläubig. Statt das
ging von Mitternacht bis 3 Uhr. Gleich, Volk Gottes zu weiden, schlägt er sie,
zu welcher Nachtwache der Herr wie- beraubt sie und lebt maßlos. (Das könnte
derkam, seine Diener warteten auf ihn. ein Hinweis auf die Pharisäer sein.)
12,39.40 Der Herr benutzt nun ein 12,46 Das Kommen des Herrn wird
anderes Bild, nämlich das eines Mannes, seinen Unglauben entlarven, und er wird
der ein Haus besitzt, in das in einem »mit den Ungläubigen« bestraft werden.
unbewachten Augenblick eingebrochen Der Ausdruck »entzweischneiden« kann
wird. »Der Dieb« kam völlig unerwartet. auch übersetzt werden: »hart strafen«.
»Wenn der Hausherr« davon »gewußt 12,47.48 In den Versen 47 und 48 wird
hätte«, hätte er »nicht erlaubt, daß sein ein fundamentales Prinzip für allen
Haus durchgraben würde«. Die Lehre Dienst dargelegt. Das Prinzip lautet, daß
hier ist, daß die Zeit des Kommens Chri- die Verantwortung um so größer ist, je
sti unsicher ist, und niemand kennt den größere Vorrechte man genießt. Für die
Tag oder die Stunde seines Erscheinens. Gläubigen heißt das, daß im Himmel
Wenn er kommen wird, dann werden die verschieden belohnt werden wird. Für
Gläubigen, die sich auf Erden einen die Ungläubigen heißt es, daß es in der
Schatz aufgehäuft haben, alles verlieren, Hölle verschiedene Grade der Bestra-
weil, wie jemand einmal gesagt hat: »der fung geben wird. Diejenigen, die Gottes
Christ entweder seinen Besitz verläßt »Willen« kennen, wie er in der Heiligen
oder zu ihm hingeht«. Wenn wir die Wie- Schrift offenbart ist, haben die große Ver-
derkunft Christi wirklich erwarten, dann antwortung, ihm zu gehorchen. Ihnen ist
verkaufen wir alles, was wir haben und »viel gegeben . . . – viel wird von« ihnen
legen uns im Himmel Schätze an, wo »verlangt werden«. Diejenigen, die die-
kein Dieb sie erreichen kann. ses Vorrecht nicht hatten, werden eben-
falls für ihre Sünden bestraft, doch ihre
E. Vom treuen und vom untreuen Bestrafung wird nicht so hart sein.
Knecht (12,41-48)
12,41.42 An diesem Punkt fragte Petrus, F. Die Folgen des Kommens Christi
ob das »Gleichnis« über die Wachsam- (12,49-53)
keit nur für die Jünger oder für »alle« 12,49 Der Herr Jesus wußte, daß sein
bestimmt ist. »Der treue und kluge Ver- Kommen »auf die Erde« zunächst keinen
walter« ist derjenige, der über den Haus- Frieden bringen würde. Zuerst würde es
halt des Meisters gestellt ist und Gottes Spaltung, Eifer, Verfolgung und Blutver-
Volk »Speise« gibt. Die Hauptaufgabe gießen bringen. Er kam zwar nicht in
des Verwalters ist hier die Sorge für die erster Linie, um dieses »Feuer auf die
Menschen, nicht für Materielles. Das Erde zu werfen«, Doch es war das Ergeb-

289
Lukas 12 und 13

nis oder die Folge seines Kommens. »Südwind« sengende Hitze und
Obwohl Verfolgung und Meinungsver- Trockenheit bringen. Die Menschen hat-
schiedenheiten während seines irdischen ten die Weisheit, so etwas zu erkennen.
Dienstes ausbrachen, wurde das Herz Sie sollten es wissen.
des Menschen erst am Kreuz entlarvt. 12,56 In geistlichen Angelegenheiten
Der Herr wußte, daß dies alles geschehen war es jedoch ganz anders. Obwohl sie
mußte, und er wünschte sich, daß das ganz normal intelligent waren, erkann-
»Feuer« der Verfolgung so bald wie mög- ten sie nicht, welch eine bedeutende
lich gegen ihn ausbrechen würde. »Zeit« der menschlichen Geschichte
12,50 Er hatte »eine Taufe, womit« er angebrochen war. Der Sohn Gottes war
»getauft werden« mußte. Das bezieht auf diese Erde gekommen und stand nun
sich auf seine Taufe bis zum Tod am mitten unter ihnen. Der Himmel war nie
Kreuz. Er stand unter dem ungeheuren näher. Doch sie erkannten die Zeit ihrer
Zwang, ans Kreuz zu gehen, um die Erlö- Heimsuchung nicht. Sie hatten zwar die
sung für die verlorene Menschheit zu intellektuellen Fähigkeiten, ihn zu erken-
erreichen. Die Schande, das Leid und der nen, doch sie wollten ihn nicht erkennen,
Tod waren des Vaters Wille für ihn, und und deshalb betrogen sie sich selbst.
er wollte natürlich gehorchen. 12,57-59 Wenn sie wirklich die Bedeu-
12,51-53 Er wußte der gut, daß sein tung der Zeit erkennen würden, in der
Kommen zu dieser Zeit keinen »Frieden sie lebten, würden sie eilen, sich mit
auf der Erde zu geben« vermochte. Und ihrem »Gegner« zu versöhnen. Hier wer-
deshalb warnte er die Jünger vor, daß die den vier juristische Ausdrücke benutzt:
Menschen, die zu ihm kommen würden, Gegner, Obrigkeit, Richter und Gerichts-
von ihrer Familien verfolgt und ausge- diener – und alle beziehen sich auf Gott.
stoßen werden würden. Wenn das Chri- Zu dieser Zeit wandelte Gott unter
stentum in eine Familie mit »fünf« Men- ihnen, bat sie und gab ihnen die Mög-
schen kam, dann würde es die Familie lichkeit, sich erretten zu lassen. Sie soll-
spalten. Es ist ein seltsames Zeichen für ten Buße tun und an ihn glauben. Wenn
die verdorbene Natur des Menschen, daß sie sich weigerten, würden sie vor Gott
die nicht bekehrten Eltern oft lieber als ihrem Richter stehen müssen. Die
sähen, daß ihr Sohn ein Trinker und loser Beweise würden sicher zum Urteil
Bursche wäre, als daß er öffentlich führen. Sie würden für schuldig befun-
bekennt, ein Jünger des Herrn Jesus den und für ihren Unglauben verurteilt
Christus zu sein! Dieser Abschnitt werden. Sie würden »ins Gefängnis« ge-
beweist, daß die Theorie falsch ist, daß worfen werden, d. h. sie würden für alle
Jesus gekommen sei, um die ganze Ewigkeit bestraft werden. Sie würden
Menschheit (Gottlose und Fromme) zu nicht herauskommen, bis sie nicht »auch
einer einzigen »allgemeinen Bruder- den letzten Heller bezahlt« hätten – was
schaft der Menschen« zu vereinigen. bedeutet, daß sie niemals wieder heraus-
Statt dessen trennt er sie mehr als je kämen, da man eine solch riesige Schuld
zuvor! niemals begleichen kann.
Deshalb sagte Jesus ihnen, daß sie die
G. Die Zeichen der Zeit (12,54-59) Zeit erkennen sollten, in der sie lebten.
12,54.55 Die vorhergehenden Verse Dann sollten sie mit Gott in Ordnung
waren an die Jünger gerichtet. Doch jetzt kommen, indem sie ihre Sünden bereuen
wandte sie Jesus wieder »zu den Volks- und sich ihm völlig zur Verfügung stell-
mengen«. Er erinnerte sie an ihre Fähig- ten.
keit, das Wetter vorherzusagen. Sie wuß-
ten, daß es einen Regenschauer geben H. Die Bedeutung der Buße (13,1-5)
würde, wenn sie »eine Wolke vom 13,1-3 Kapitel 12 schloß damit, daß Isra-
Westen aufsteigen« sehen (über dem Mit- el nicht die Zeit erkannte, in der es lebte,
telmeer). Andererseits würde ihnen der und mit der Warnung des Herrn, schnell

290
Lukas 13

Buße zu tun, wenn sie nicht verloren »fand keine«. So sagte er »zu dem Wein-
gehen wollten. Kapitel 13 führt dieses gärtner« (Jesus), daß er schon »drei Jah-
allgemeine Thema fort und richtet sich re« vergeblich »Frucht an diesem Fei-
im wesentlichen an Israel als Volk, genbaum suche«. Die einfachste Inter-
obwohl die Prinzipien sich auch auf ein- pretation deutet die drei Jahre als die
zelne Menschen anwenden lassen. Zwei ersten drei Jahre des öffentlichen Auftre-
nationale Katastrophen waren ein tens Jesu. Die Idee des Abschnitts ist,
Grund sich zu bekehren. Das erste war daß dem Feigenbaum genug Zeit gege-
ein Massaker an einigen »Galiläern«, die ben worden ist, Frucht zu bringen. Wenn
nach Jerusalem gekommen waren, um in drei Jahren keine Frucht käme, dann
anzubeten. »Pilatus«, der Statthalter war es vernünftig zu folgern, daß er nie
von Judäa, hatte angeordnet, sie zu welche bringen würde. Wegen seiner
töten, während sie »Schlachtopfer« dar- Fruchtlosigkeit ordnete der Herr an, den
brachten. Es ist nichts bekannt, das die- Baum abzuhauen. Er beanspruchte nur
ser Bosheit gleichkäme. Wir nehmen an, »Land« für sich, das anderweitig besser
daß die Opfer Juden waren, die in genutzt werden konnte. Der Weingärt-
Galiläa lebten. Die Juden in Jerusalem ner trat für den Baum ein und bat, daß
mochten denken, »daß diese Galiläer« ihm noch ein weiteres Jahr gewährt wer-
schlimme Sünden begangen haben den solle. Wenn er am Ende dieser Zeit
müßten, und daß ihr Tod ein Beweis für immer noch fruchtlos wäre, könne man
Gottes Mißfallen war. Doch der Herr »ihn künftig abhauen«. Und genau das
Jesus korrigierte diese Ansicht, indem er geschah. Nachdem das vierte Jahr des
die Juden warnte, daß sie »alle ebenso Dienstes Jesu begonnen hatte, lehnte
umkommen« würden, wenn sie nicht Israel den Herrn Jesus ab und kreuzigte
»Buße« tun würden. ihn. Als Folge davon wurde seine
13,4.5 Bei der anderen Tragödie han- Hauptstadt zerstört und die Menschen
delte es sich um den Einsturz eines »Tur- zerstreut.
mes in Siloah«, bei dem »achtzehn« Men- G. H. Lang erklärt das so:
schen getötet wurden. Über diesen Der Sohn Gottes kannte den Willen sei-
Unfall ist nichts bekannt außer der nes Vaters, des Herrn des Weinberges, und
Erwähnung hier in der Bibel. Glückli- daß die gefürchtete Anweisung »hau ihn ab«
cherweise ist es nicht notwendig, weitere gegeben worden war. Israel hatte die Geduld
Einzelheiten darüber zu erfahren. Jesus Gottes überstrapaziert. Weder ein Volk noch
betonte, daß diese Katastrophe nicht als ein einzelner Mensch hat das Recht, Gottes
Gericht für irgendeine große Sünde Fürsorge für sich in Anspruch zu nehmen,
angesehen werden solle. Sie sollte besser wenn sie nicht Früchte der Gerechtigkeit zur
als Warnung an das gesamte Volk Israels Ehre und zum Lob Gottes bringen. Der
gesehen werden, daß ihnen ein ähnliches Mensch existiert zur Ehre und zur Freude
Schicksal drohen würde, wenn sie »nicht des Schöpfers: Wenn er diesem gerechten
Buße tun« würden. Dieses Schicksal kam Zweck nicht dient, warum sollte seinem
im Jahr 70 n. Chr. über sie, als Titus Jeru- sündhaften Fall nicht die Todesstrafe folgen
salem eroberte. und er von seinem bevorrechtigten Platz ent-
44)
fernt werden?
I. Das Gleichnis vom unfruchtbaren
Feigenbaum (13,6-9) J. Die Heilung der zusammen-
13,6-9 In engem Zusammenhang mit gekrümmten Frau (13,10-17)
dem Vorangehenden erzählte der Herr 13,10-13 Die wirkliche Haltung Israels
Jesus das »Gleichnis« vom »Feigen- gegenüber dem Herrn Jesus sehen wir im
baum«. Es ist nicht schwierig, in dem Synagogenvorsteher. Die »Frau« hatte
»Feigenbaum« Israel zu erkennen, das in »achtzehn Jahre« lang eine schlimme
Gottes »Weinberg gepflanzt« war, d. h. Verkrümmung der Wirbelsäule. Ihre Ent-
in die Welt. Gott »suchte Frucht«, aber er stellung war schlimm, sie konnte sich

291
Lukas 13

noch nicht einmal »aufrichten«. Ohne K. Die Gleichnisse vom Reich


gebeten worden zu sein, sprach der Herr (13,18-21)
Jesus das heilende Wort zu ihr, »legte ihr 13,18.19 Nachdem die Menschen dieses
die Hände auf« und richtete damit ihre wunderbare Heilungswunder gesehen
Wirbelsäule. hatten, konnten sie versucht sein zu den-
13,14 »Der Synagogenvorsteher« sag- ken, daß das Reich nun sofort errichtet
te ungehalten, daß die Leute an den werden würde. Der Herr Jesus befreite
ersten »sechs« Tagen der Woche kommen sie jedoch durch zwei Gleichnisse über
sollten, um sich heilen zu lassen, doch das »Reich Gottes« von dieser Vorstel-
nicht am siebten. Er war von berufs lung. In ihnen wird beschrieben, wie es
wegen fromm und hatte kein Herz für zwischen der Zeit der Ablehnung des
die Nöte der Menschen. Auch wenn sie Königs und seiner Rückkehr auf die Erde
an den ersten sechs Tagen der Woche sein würde. Sie sind ein Bild für das
gekommen wären, hätte er ihnen nicht Wachstum des Christentums und
helfen können. Er hing an den äußerli- beschreiben sowohl den echten Glauben
chen Vorschriften des Gesetzes, doch als auch das Namenschristentum (s. An-
sein Herz kannte weder Liebe noch merkungen zu 8,1-3).
Barmherzigkeit. Wenn er achtzehn Jahre Als erstes verglich Jesus das »Reich
lang eine verkrümmte Wirbelsäule Gottes« mit »einem Senfkorn«, eines der
gehabt hätte, wäre es ihm auch gleich- kleinsten Samenkörner. Wenn es in die
gültig gewesen, an welchem Tag er Erde geworfen wird, wird es zu einem
geheilt wurde! Busch, doch nicht zu einem Baum. Als
13,15.16 »Der Herr« tadelte seine Jesus sagte, daß der Same »zu einem
Heuchelei und die der anderen Oberen. großen Baum« wurde, meinte er damit,
Er erinnerte sie daran, daß sie nicht daß dieses Wachstum im höchsten Maße
zögerten, »am Sabbat« ihren »Ochsen unnormal war. Die Pflanze wurde so
oder Esel von der Krippe« loszubinden, groß, daß »die Vögel des Himmels« auf
um ihn trinken zu lassen. Wenn sie sich ihr wohnen konnten. Hier liegt die Idee
so am Sabbat um stumme Tiere küm- zugrunde, daß das Christentum einen
mern konnten, war es dann falsch, daß bescheidenen Anfang nahm, so klein
Jesus diese Frau heilte, »die eine Tochter wie ein Senfkorn. Doch als es wuchs,
Abrahams« war? Der Ausdruck »eine wurde das Christentum überall beliebt,
Tochter Abrahams« zeigt, daß sie nicht und die Christenheit, wie wir sie heute
nur eine Jüdin, sondern auch eine echte kennen, entwickelte sich. Die Christen-
Gläubige war, eine fromme Frau. Die heit besteht aus allen Menschen, die von
Verkrümmung der Wirbelsäule hatte sich sagen, in Verbindung mit dem
Satan verursacht. Wir wissen aus ande- Herrn zu stehen, ob sie nun wiedergebo-
ren Teilen der Bibel, daß in einigen Fällen ren sind oder nicht. »Die Vögel des Him-
Krankheit eine direkte Auswirkung der mels« sind Geier oder andere Raubvö-
Machenschaften Satans war. Satan such- gel. Sie sind Symbole des Bösen und sind
te zum Beispiel Hiob mit Beulen heim. ein Bild für die Tatsache, daß das Chri-
Paulus’ Dorn im Fleisch war ein Bote stentum ein Unterschlupf für verschie-
Satans, um ihn zu schlagen. Der Teufel dene Formen der Korruption geworden
darf dies aber einem Gläubigen nie ohne ist.
die Erlaubnis des Herrn antun. Und Gott 13,20.21 Das zweite Gleichnis ver-
überwindet solche Krankheiten und Lei- gleicht das »Reich Gottes« mit Sauerteig,
den zu seiner eigenen Ehre. den eine Frau »unter drei Maß Mehl«
13,17 Die Kritiker unseres Herrn wur- mengte. Wir sind der Meinung, daß Sau-
den durch seine Worte gründlich erteig in der Bibel immer ein Symbol des
»beschämt«. Die kleinen Leute »freuten Bösen ist. Hier ist der Gedanke, daß die
sich«, weil sie wußten, daß ein »herrli- böse Lehre in die reine Speise des Gottes-
ches« Wunder geschehen war. volkes gemischt wurde. Diese böse Lehre

292
Lukas 13

ist nicht nur einfach da, sie trägt in sich das Herz des Menschen nicht verändern.
auch die Macht, sich zu verbreiten. Die ungläubigen Israeliten werden
»Abraham und Isaak und Jakob und alle
L. Die enge Pforte in Reich (13,22-30) Propheten im Reich Gottes sehen«. Sie
13,22.23 Als Jesus »nach Jerusalem« zog, selbst erwarteten dort zu sein, weil sie
trat einer aus der Menge vor, um ihn zu mit Abraham, Isaak und Jakob verwandt
fragen, ob es nur »wenige« seien, »die sind, doch sie werden »hinausgewor-
errettet werden«. Es mag sein, daß dies fen«. Heiden werden zur Herrlichkeit
eine müßige Frage war, die nur aus Neu- des Reiches Christi aus allen Ecken der
gier gestellt wurde. Erde angereist kommen und seine wun-
13,24 Der Herr beantwortete diese derbaren Segnungen genießen. So wer-
spekulative Frage mit einem direkten den viele Juden, die bisher nach Gottes
Gebot. Er befahl dem Fragenden, sicher Plan gesegnet werden sollten, abgelehnt,
zu gehen, daß er selbst »durch die enge während die Heiden, auf die man als
Pforte« hineinkommen würde. Als Jesus Hunde niedersah, die Segnungen der
sagte, wir sollten danach »ringen . . ., tausendjährigen Regierung Jesu erleben
durch die enge Pforte einzugehen«, werden.
meinte er damit nicht, daß die Errettung
eine Anstrengung unsererseits zur Be- M. Klage über Jerusalem (13,31-35)
dingung habe. Die enge Pforte ist hier die 13,31 Zu dieser Zeit war der Herr Jesus
Wiedergeburt – die gnädige Errettung offensichtlich schon in Herodes’ Reich.
durch den Glauben. Jesus warnte den »Einige Pharisäer . . . kamen . . . herbei«
Mann davor zu versuchen, an einer an- und rieten ihm, »hinauszugehen«, weil
deren Stelle als an dieser hineinzugelan- Herodes ihn »töten« wolle. Die Pharisäer
gen. »Viele . . . werden einzugehen su- scheinen hier ganz gegen ihre Gewohn-
chen und werden es nicht vermögen«, heit ein Interesse am Wohlergehen und
wenn die Tür einmal geschlossen wird. der Sicherheit Jesu zu haben. Vielleicht
Das bedeutet nicht, daß sie versuchen hatten sie mit Herodes einen Plan ausge-
werden, durch die Tür der Bekehrung zu heckt, ihn durch Drohungen davon
kommen, sondern daß sie am Tag der abzuhalten, nach Jerusalem zu gehen,
Macht und Herrlichkeit Christi den wo er ganz sicher von den Menschen
Zutritt zum Reich verlangen werden, angenommen werden würde.
doch dann wird es zu spät sein. Der Tag 13,32 Unser Herr ließ sich jedoch von
der Gnade, in dem wir heute leben, wird dieser Drohung nicht beeinflussen. Er
dann zu Ende sein. erkannte sie als ein Teil eines Planes des
13,25-27 »Der Hausherr« wird sich Herodes und sagte den Pharisäern, sie
erheben und »die Tür« verschließen. Das sollten »hingehen und diesem Fuchs«
jüdische Volk wird hier im Bild darge- eine Botschaft überbringen. Einige Ausle-
stellt, wie es »an der Tür« klopft und den ger haben Schwierigkeiten mit der Tatsa-
Herrn bittet, zu öffnen. Er wird sie ableh- che, daß der Herr Jesus Herodes eine
nen, weil er sie nicht kennt. Sie werden »Füchsin« nannte (die Form ist im Gr.
dagegen Einspruch erheben und vorge- weiblich). Sie sind der Meinung, daß es
ben, daß sie gut mit ihm bekannt gewe- eine Verletzung der Schrift sei, die es ver-
sen seien. Doch er wird sich durch diese bietet, böse von einem Herrscher zu reden
Anmaßung nicht bewegen lassen. Sie (2. Mose 22,27). Doch dies hier ist nicht
sind »Übeltäter« und dürfen nicht hin- üble Nachrede, sondern die reine Wahr-
ein. heit. Jesu Botschaft besagte im wesentli-
13,28-30 Seine Weigerung wird zu chen, daß er noch eine kurze Zeit zu wir-
»Weinen und Zähneknirschen« führen. ken hatte. Er wollte »Dämonen austrei-
Das »Weinen« zeugt von Reue und das ben« und Heilungswunder in der kurzen
»Zähneknirschen« von großem Haß auf Zeit vollbringen, die ihm noch verblieb.
Gott. Das zeigt, daß die Leiden der Hölle Dann, am dritten Tag, d. h. am letzten,

293
Lukas 13 und 14

wollte er das Werk vollendet haben, das 14,4-6 So gerne sie gesagt hätten, daß
mit seinem irdischen Dienst verbunden es nicht erlaubt sei, konnten sie doch ihre
war. Keine Macht der Erde konnte ihm Antwort nicht beweisen, deshalb
vor der festgesetzten Zeit schaden. »schwiegen sie«. Jesus »heilte« deshalb
13,33 Außerdem konnte er nicht in den Mann »und entließ ihn«. Für ihn war
Galiläa umgebracht werden. Dieses Vor- es ein Werk der Barmherzigkeit, und die
recht war Jerusalem vorbehalten. Es war göttliche Liebe hört nie zu wirken auf,
diese Stadt, die immer die Diener des auch nicht an einem Sabbat (Joh 5,17).
Höchsten Gottes ermordet hatte. Jerusa- Dann wandte er sich an die Juden und
lem hatte mehr oder weniger ein Mono- erinnerte sie, daß sie, wenn eines ihrer
pol auf die Tötung der Sprachrohre Gott- Tiere »in einen Brunnen« falle, sie es
es. Das war gemeint, als der Herr Jesus sicherlich »am Tag des Sabbats herauszö-
sagte: »Es geht nicht an, daß ein Prophet gen«. Es lag in ihrem eigenen Interesse,
außerhalb Jerusalems umkomme.« denn das Tier war viel Geld wert. Wenn
13,34.35 Nachdem er so die Wahrheit es jedoch um das Leiden eines Mitmen-
über diese böse Stadt gesagt hatte, wand- schen ging, scherten sie sich nicht darum,
te sich Jesus kummervoll ab und weinte und sie hätten Jesus gerne dafür verur-
über die Stadt. Diese Stadt, die »da tötet teilt, daß er dem Wassersüchtigen gehol-
die Propheten« und Gottes Botschafter fen hat. Obwohl sie dem Erlöser »darauf
»steinigt«, wurde von ihm sehr geliebt. nicht antworten konnten«, sind wir
»Wie oft« hatte er das Volk der Stadt sicher, daß sie umso mehr über ihn erbost
»versammeln wollen wie eine Henne waren.
ihre Brut unter die Flügel«, doch sie
haben »nicht gewollt«. Das Problem war O. Das Gleichnis vom ehrsüchtigen
ihr Eigenwille. Als Folge davon sollte Gast (14,7-11)
ihre Stadt, ihr Tempel und ihr Land zer- 14,7-11 Als der Herr Jesus das Haus des
stört werden. Sie würden lange im Exil Pharisäers betrat, hatte er vielleicht gese-
bleiben müssen. Sie würden sogar den hen, wie die Gäste sich bemühten, die
Herrn »nicht sehen«, bis sie ihre Haltung »besten Plätze« zu erhaschen. Sie such-
ihm gegenüber änderten. Vers 35b ten Plätze, die ihre Ehre und Wichtigkeit
bezieht sich auf die Wiederkunft Christi. betonten. Die Tatsache, daß auch Jesus
Ein Überrest des Volkes Israel wird zu ein Gast war, hielt ihn nicht davon ab,
dieser Zeit Buße tun und sprechen: geradeheraus und in Gerechtigkeit zu
»Gepriesen sei, der da kommt im Namen sprechen. Er warnte sie vor dieser Art
des Herrn!« Sein Volk wird am Tag seiner der Selbstsucht. Wenn sie zu einer
Macht bereit sein. »Hochzeit« eingeladen seien, sollten sie
eher einen niedrigeren »Platz« einneh-
N. Heilung eines Wassersüchtigen men als einen höheren. Wenn wir uns
(14,1-6) selbst Ehrenplätze suchen, dann besteht
14,1-3 An einem »Sabbat« bat ein »Ober- immer wieder die Gefahr, daß wir in
ster der Pharisäer« den Herrn in sein »Schande« geraten und gedemütigt wer-
Haus zum Mahl. Es war nicht eine echte den. Wenn wir wirklich demütig vor
Geste der Gastfreundschaft, sondern ein Gott sind, dann gibt es nur eine Rich-
Versuch von Seiten der religiösen Führer, tung, in die wir uns bewegen können,
den Menschensohn einer Sünde zu über- und die ist aufwärts. Jesus lehrte, daß es
führen. Jesus sah einen »wassersüchtigen besser ist, auf einen Ehrenplatz geholt zu
Menschen«, d. h. jemanden, der davon werden, statt sich einen Platz zu ergat-
aufschwillt, daß sich Wasser in seinen tern, den man bald wieder verlassen
Körpergeweben ansammelt. Der Erlöser muß. Er selbst ist das lebendige Beispiel
las die Gedanken seiner Kritiker, indem der Selbsterniedrigung (Phil 2,5-8).
er sie ausdrücklich fragte, ob es »erlaubt« »Denn jeder, der sich selbst erhöht, wird«
sei, »am Sabbat zu heilen«. von Gott »erniedrigt werden«.

294
Lukas 14

P. Gottes Gästeliste (14,12-14) um die Einladung abzulehnen. Jesus


14,12-14 Der Oberste der Pharisäer hatte stellt Gott als einen »Mensch« dar, der
zweifellos lauter örtliche Bekanntheiten »ein großes Abendmahl machte und vie-
zu seinem Mahl geladen. Jesus bemerkte le« Gäste einlud. Als das Essen fertig
dies sofort. Er sah, daß die Minderbemit- war, befahl er seinem Diener, »den Gela-
telten des Ortes nicht beteiligt waren. Er denen zu sagen«, daß »alles bereit« sei.
ergriff deshalb die Gelegenheit, eines der Das erinnert uns an die großartige Tatsa-
großen Prinzipien des Christentums zu che, daß der Herr Jesus das Werk der
verkündigen – nämlich daß wir diejeni- Erlösung auf Golgatha vollbracht hat,
gen lieben sollen, die abstoßend sind und und daß die Einladung des Evangeliums
uns nichts wiedergeben können. Norma- aufgrund dieses vollendeten Werkes
lerweise lädt man seine »Freunde, . . . ergeht. Einer der Eingeladenen entschul-
Brüder, . . . Verwandten« oder »reiche digte sich, weil er »einen Acker gekauft«
Nachbarn« ein, immer in der Hoffnung, habe und »ihn besehen« wolle. Norma-
daß uns dafür vergolten wird. Man lerweise hätte er ihn ansehen sollen,
braucht nicht wiedergeboren zu sein, um bevor er ihn kaufte. Doch selbst dann
so zu handeln. Doch es ist ausgesprochen hätte er die Liebe zum Irdischen der gnä-
übernatürlich, freundlich zu den »Ar- digen Einladung vorgezogen.
men, Krüppeln, Lahmen« und »Blinden« 14,19.20 Der nächste hatte »fünf Joch
zu sein. Gott hat für diejenigen, die die- Ochsen gekauft« und wollte sie »erpro-
sen Menschen Barmherzigkeit erweisen, ben«. Jesus zeigt uns hier im Bild diejeni-
einen besonderen Lohn vorgesehen. gen, die ihre Arbeit, Beschäftigung oder
Auch wenn diese Gäste uns nicht »ver- das Geschäft wichtiger als den Ruf Gott-
gelten« können, verspricht Gott selbst, es nehmen. Der dritte sagte, er »habe eine
uns »bei der Auferstehung der Gerech- Frau geheiratet« und könne deshalb
ten« zu belohnen. Die »Auferstehung der »nicht kommen«. Familienbande und
Gerechten« ist in der Schrift auch als die soziale Bindungen hindern oft Menschen
erste Auferstehung bekannt, bei der alle daran, die Einladung des Evangeliums
echten Gläubigen auferweckt werden. anzunehmen.
Sie findet bei der Entrückung statt und, 14,21-23 Als »der Knecht . . . seinem
unserer Ansicht nach, nochmals am Ende Herrn . . . berichtete«, daß alle die Einla-
der Drangsal. Das heißt, die erste Aufer- dung ablehnten, sandte ihn der Herr aus
stehung ist nicht ein einzelnes Ereignis, in die »Stadt«, um »die Armen und
sondern sie findet in zwei Stufen statt. Krüppel und Lahmen und Blinden« ein-
zuladen. »Sowohl der Natur als auch der
Gnade ist das Vakuum zuwider«, sagte
Q. Das Gleichnis vom großen Bengel. Vielleicht stehen die zuerst Gela-
Abendmahl (14,15-24) denen für die Führer des jüdischen
14,15-18 Einer der Gäste, die sich mit Volkes. Als sie das Evangelium ablehn-
Jesus beim Mahl niederließen, bemerkte, ten, sandte es Gott zu den einfachen Leu-
wie wunderbar es doch wäre, an den ten Jerusalems. Viele von ihnen reagier-
Segnungen des »Reiches Gottes« teilzu- ten auf diesen Ruf, doch war immer
haben. Vielleicht war er von den Verhal- »noch Raum« im Haus des Herrn. Und
tensregeln beeindruckt, die der Herr deshalb befahl der Herr dem Knecht,
gelehrt hatte. Oder vielleicht war es nur »auf die Wege und Zäune« zu gehen und
eine allgemeine Bemerkung, die er ohne Menschen zu »nötigen, hereinzukom-
weiteres Nachdenken machte. Jedenfalls men«. Das ist zweifellos ein Bild für das
antwortete der Herr, daß, so wundervoll Evangelium, das den Heiden verkündigt
es sein mag, »im Reich Gottes« zu wird. Sie mußten nicht durch Waffenge-
»essen«, die traurige Tatsache besteht, walt genötigt werden (wie es in der
daß diejenigen, die eingeladen sind, alle Geschichte des Christentums oft vorge-
möglichen dummen Ausreden finden, kommen ist), sondern durch Überzeu-

295
Lukas 14

gungskraft. Liebevolle Überredung sollte flußt, müssen wir sorgfältig fragen, wie
verwendet werden, um sie hereinzuho- sie Christus und seine Herrlichkeit
len, damit das »Haus« des Herrn »voll beeinflußt. Überlegungen zur eigenen
werde«. Bequemlichkeit und Sicherheit müssen
14,24 So war die ursprüngliche Gäste- dem großen Ziel untergeordnet werden,
liste wertlos geworden, als das Mahl Christus zu verherrlichen und ihn
gehalten wurde, weil »nicht einer« der bekannt zu machen. Die Worte des Herrn
ursprünglich Geladenen gekommen war. sind absolut. Er sagte, wenn wir ihn nicht
mehr als alles andere lieben, mehr als
R. Die Kosten echter Jüngerschaft unsere Familien und unser eigenes
(14,25-35) Leben, dann könnten wir nicht seine Jün-
14,25 Nun »ging aber eine große Volks- ger sein. Es gibt keinen Mittelweg.
menge mit« dem Herrn Jesus. Die mei- 14,27 Zweitens lehrte Jesus, daß ein
sten Führer würden von solch großem echter Jünger »sein Kreuz« auf sich neh-
Interesse begeistert sein. Doch der Herr men und ihm »nachkommen« müsse.
suchte nicht nach Menschen, die ihm aus Das Kreuz ist nicht irgendeine Krankheit
Neugier und ohne echtes Interesse im oder Kummer, sondern ein Weg der
Herzen folgten. Er suchte nach denjeni- Schande, des Leidens, der Einsamkeit
gen, die bereit waren, ihn hingegeben und sogar des Todes, den ein Mensch
und leidenschaftlich zu lieben und sogar freiwillig um Christi willen wählt. Nicht
für ihn zu sterben, wenn das notwendig alle Gläubigen tragen ein Kreuz. Es ist
wäre. Deshalb begann er nun, die Menge möglich, es zu umgehen, indem man als
zu sichten, indem er ihnen die harten Namenschrist lebt. Doch wenn wir uns
Grundsätze der Jüngerschaft nannte. entscheiden, alles für Christus hinzuge-
Manchmal warb der Herr um Menschen, ben, dann werden wir den gleichen sata-
doch wenn sie ihm folgten, sichtete er sie. nischen Widerstand erleben, den der
Das machte er an dieser Stelle. Sohn Gottes hier auf Erden zu erdulden
14,26 Als erstes sagte er denen, die hatte. Das ist das Kreuz. Der Jünger muß
ihm folgten, daß sie ihn über alles lieben Jesus »nachkommen«. Das bedeutet, daß
müßten, wenn sie ihm folgen wollten. Er er ein Leben führt, wie Jesus es auf dieser
meinte jedoch nicht, daß man einen bitte- Erde geführt hat – ein Leben der Selbst-
ren Haß in ihren Herzen gegenüber »sei- verleugnung, der Demütigung, der Ver-
nem Vater und seiner Mutter und seiner folgung, der Schande, der Versuchung
Frau und seinen Kindern und seinen und des Widerspruchs der Sünder gegen
Brüdern und Schwestern« hegen sollte, sich selbst.
sondern betonte, daß die Liebe zu Chri- 14,28-30 Dann benutzte der Herr
stus so groß sein muß, daß alle andere zwei Bilder, um die Notwendigkeit zu
Liebe im Vergleich dazu wie Haß erscheint betonen, »die Kosten« zu überschlagen,
(vgl. Matth 10,37). Keine Familienbande ehe man ihm nachfolgt. Er vergleicht das
dürfen einen Jünger von seinem Pfad des christliche Leben zuerst mit einem Bau-
völligen Gehorsams gegenüber dem projekt und danach mit einem Krieg. Ein
Herrn abbringen. Mann, der »einen Turm bauen will, setzt
Eigentlich ist der schwerste Teil des sich . . . zuvor hin und berechnet die
ersten Grundsatzes der Jüngerschaft der Kosten«. Wenn er nicht genug Geld »zur
Ausdruck »dazu aber auch sein eigenes Ausführung« hat, macht er nicht weiter.
Leben«. Es geht nicht nur darum, unsere Andernfalls muß die Arbeit abgebrochen
Verwandten weniger zu lieben, sondern werden, wenn »der Grund« gelegt ist,
wir müssen sogar unser »eigenes Leben« und die Zuschauer fangen an, »ihn« zu
hassen! Statt ein Leben zu führen, das »verspotten und« zu »sagen: Dieser
sich um uns selbst dreht, muß sich unser Mensch hat angefangen zu bauen und
Leben um Christus drehen. Statt zu fra- konnte nicht vollenden«. So geht es auch
gen, wie jede Handlung uns selbst beein- den Jüngern. Sie sollten zuerst die

296
Lukas 14

Kosten überschlagen, ob sie wirklich ihr aufopferungsbereit für den Herrn lebt,
Leben von ganzem Herzen Christus hat etwas Schönes und Angenehmes an
übergeben wollen. Andernfalls werden sich. Doch dann lesen wir davon, daß
sie vielleicht mit viel Herrlichkeit anfan- »das Salz kraftlos geworden ist«. Moder-
gen und dann ausbrennen. Wenn das so nes Tafelsalz kann seinen Geschmack
ist, werden die Zuschauer sie verhöhnen, nicht verlieren, weil es sich um reines
daß sie gut angefangen, aber schmählich Salz handelt. Doch in den biblischen
geendet haben. Die Welt hat für halbher- Ländern war Salz oft mit verschiedenen
zige Christen nichts als Verachtung Unreinheiten durchsetzt. Deshalb war es
übrig. möglich, daß das Salz weggewaschen
14,31.32 Ein »König, der auszieht, um wurde und doch ein Rest im Gefäß übrig-
sich mit einem anderen König in Krieg blieb. Dieser Rest war wertlos. Er konnte
einzulassen«, der zahlenmäßig stärker noch nicht einmal zur Düngung des Lan-
ist, als er selbst, muß sorgfältig nachden- des verwendet werden. Er mußte wegge-
ken, ob seine kleinere Truppe eine Chan- worfen werden.
ce hat, den Feind zu besiegen. Er erkennt In diesem Bild geht es um einen Jün-
klar, daß er entweder gewinnen oder ger, der einen glänzenden Anfang im
eine elende Niederlage einstecken muß. Glauben macht, dann aber zurückgeht.
Genauso ist es mit dem Christentum. Der Jünger hat nur eine Aufgabe in sei-
Man kann hier keine halben Sachen nem Leben, wenn er die verfehlt, dann ist
machen. er wirklich bedauernswert. Wir lesen von
14,33 Vers dreiunddreißig ist wohl dem Salz, daß die Menschen es »hinaus-
einer der am wenigsten beliebten Verse werfen«. Es heißt nicht, daß Gott es hin-
der Bibel. Er sagt ausdrücklich, daß »kei- auswirft, weil das nicht geschehen kann.
ner von euch, der nicht allem entsagt, Doch die Menschen »werfen es hinaus«,
was er hat, mein Jünger sein« kann. Man d. h. sie trampeln das Zeugnis dessen,
kann der Bedeutung dieses Verses nicht der zu bauen begonnen hat und nicht
ausweichen. Es geht hier nicht darum, vollenden kann, in den Staub. Kelly
daß man bereit sein müsse, alles zu ver- merkt an:
lassen, sondern es heißt, daß man alles Hier wird die Gefahr gezeigt, daß das,
verlassen muß. Wir sollten annehmen, was gut begann, sich zum Schlechten wen-
daß der Herr Jesus wußte, was er sagte. det. Was gibt es auf der Welt wertloseres als
Er erkannte, daß sonst niemand so han- Salz, das die eine Kraft verloren hat, wegen
deln würde, wenn er sich nicht genau der es geschätzt wird? Es ist schlimmer als
ausdrücken würde. Er möchte Männer wertlos für alle anderen Zwecke. So ist es mit
und Frauen, die ihn mehr als alles ande- dem Jünger, der nicht mehr Christi Jünger
re in der Welt schätzen. Ryle beobachtet: ist. Er ist für die Zwecke der Welt nicht mehr
Wer gut für sich selbst sorgt, ist derjeni- geeignet, und und Gottes Zweck erfüllt er
ge, der alles um Christi willen aufgibt. Er ebenfalls nicht mehr. Er hat zu viel Licht, um
macht das beste Geschäft: Er trägt wenige die Eitelkeiten und Sünden der Welt mitzu-
Jahre in dieser Welt sein Kreuz und hat in der machen, und er hat keine Freude an der Gna-
zukünftigen Welt das ewige Leben. Er de und Wahrheit, die ihn auf dem Weg Chri-
bekommt den besten Besitz, er kann seine sti halten. . . . Geschmackloses Salz wird ver-
46)
Reichtümer auch nach dem Grab noch ver- achtet und unterliegt dem Gericht.
wenden. Er ist hier reich an Gnade und im Der Herr Jesus schließt seine Predigt
Himmel reich an Herrlichkeit. Und das beste über die Jüngerschaft mit den Worten:
von allem ist, daß er alles, was er durch den »Wer Ohren hat zu hören, der höre!«
Glauben an Christus gewinnt, niemals ver- Diese Worte bedeuten, daß nicht jeder
lieren kann. Es ist »das gute Teil, das ihm bereit ist, die strengen Bedingungen der
45)
nicht genommen werden soll«. Jüngerschaft zu hören. Doch wenn je-
14,34.35 »Salz« ist ein Bild für den mand gewillt ist, dem Herrn Jesus nach-
Jünger. Ein Mensch, der hingegeben und zufolgen, ganz gleich, was es ihn kosten

297
Lukas 14 und 15

mag, dann sollte er hören und ihm fol- wirklich echte Freude und Befriedigung
gen. empfindet, wenn er sieht, daß Sünder
Johannes Calvin sagte: »ich habe für Buße tun, während er keine Befriedigung
Christus alles aufgegeben, und was habe über selbstgerechte Heuchler empfindet,
ich gefunden? Ich habe alles in Christus die zu stolz sind zuzugeben, daß sie sün-
gefunden.« Henry Drummond bemerk- dig sind.
te: »Der Eintrittspreis ins Reich der Him- 15,3.4 Hier wird der Herr Jesus im
mel kostet nichts: Die ständige Hingabe Bild des Hirten dargestellt. Die »neun-
kostet alles.« undneunzig« Schafe stehen für die
Schriftgelehrten und Pharisäer. Das »ver-
S. Das Gleichnis vom verlorenen lorene« Schaf ist ein Bild für einen Zöll-
Schaf (15,1-7) ner oder notorischen Sünder. Wenn der
15,1.2 Der Lehrdienst unseres Herrn in Hirte bemerkt, daß »eins« von seinen
Kapitel 14 hat anscheinend die verachte- Schafen »verloren« ist, dann »läßt« er
ten »Zöllner« angezogen, sowie andere, »die neunundneunzig in der Wüste«
die nach außen hin als »Sünder« erkenn- (nicht im Stall) und »geht dem verlore-
bar waren. Obwohl Jesus ihre Sünden nen nach, bis er es findet«. Für den Herrn
tadelte, gaben jedoch viele von ihnen zu, Jesus bedeutete diese Reise sein Kom-
daß er recht habe. Sie stellten sich auf men auf die Erde, seine Jahre des öffent-
Christi Seite gegen sich selbst. In echter lichen Wirkens, seine Ablehnung, sein
Buße erkannten sie ihn als den Herrn an. Leiden und sein Tod. Wie wahr sind doch
Wo immer Jesus Menschen fand, die die Zeilen aus dem Lied »Die Neunund-
bereit waren, ihre Sünde zuzugeben, neunzig«:
wurde er von ihnen angezogen und Doch keiner der Erlösten wußte je,
schüttete seine geistliche Hilfe und sei- wie tief die Wasser waren, die er über-
nen Segen über sie aus. querte,
»Die Pharisäer und die Schriftgelehr- Noch wie dunkel die Nacht, durch die
ten« nahmen es Jesus übel, daß er sich unser Herr ging,
mit Menschen zusammentat, die doch Ehe er sein Schaf fand, das verloren war.
bekanntermaßen »Sünder« waren. Sie Elizabeth C. Clephane
kannten keine Gnade mit diesen sozial 15,5 Nachdem er sein Schaf »gefun-
und moralisch Aussätzigen, und sie den« hat, »legt er es . . . auf seine Schul-
ärgerten sich, daß Jesus es tat. Und so tern« und nimmt es mit nach Hause. Das
schleuderten sie ihm ihre Anklage entge- bedeutet, daß das gerettete Schaf einen
gen: »Dieser nimmt Sünder auf und ißt bevorrechtigten Platz erhält und eine
mit ihnen.« Diese Anklage war auf jeden Nähe zum Herrn, die es nicht kannte, als
Fall berechtigt. Sie dachten, daß dies ein es noch zu den anderen Schafen gehörte.
tadelnswertes Verhalten sei, doch in 15,6 Der Hirte fordert seine »Freunde
Wahrheit war das die Erfüllung des Zie- und die Nachbarn« auf, sich mit ihm
les, das Jesus in diese Welt führte. über die Errettung seines verlorenen
Als Antwort auf diese Anklage Schafes zu »freuen«. Das bedeutet, daß
erzählte der Herr Jesus die Gleichnisse der Herr sich freut, wenn ein Sünder
vom verlorenen Schaf, von der verlore- Buße tut.
nen Drachme und vom verlorenen Sohn. 15,7 Die Lehre hier ist eindeutig: »Im
Diese Geschichten zielten direkt auf die Himmel« ist »Freude über einen Sünder,
Pharisäer und Schriftgelehrten, die sich der Buße tut«, doch keine Freude über
von Gott nicht soweit bringen ließen, die neunundneunzig Sünder, die nie ihre
ihre Verlorenheit einzugestehen. Sie Verlorenheit erkannt haben. Vers 7
waren ebenso verloren wie die Zöllner bedeutet nicht, daß es einige Menschen
und Sünder, doch sie weigerten sich gibt, die keine Buße notwendig haben.
starrsinnig, das zuzugeben. Das Ziel der Alle Menschen sind Sünder, und alle
drei Gleichnisse ist zu zeigen, daß Gott müssen Buße tun, um errettet zu werden.

298
Lukas 15

Dieser Vers beschreibt diejenigen, die auf warten, daß sein Vater starb, und bat
nach ihrer eigenen Ansicht »die Buße deshalb vorzeitig um seinen »Teil des
nicht nötig haben«. Vermögens«. Der Vater teilte an seinen
Sohn sein ihm zustehendes Teil aus. Kurz
T. Das Gleichnis von der verlorenen danach machte sich der Sohn »in ein fer-
Drachme (15,8-10) nes Land« auf und gab sein Geld freizü-
15,8-10 Die »Frau« in dieser Geschichte gig für sündige Vergnügungen aus.
könnte für den Heiligen Geist stehen, der Sobald seine Mittel erschöpft waren, kam
die Verlorenen mit der »Lampe« des eine schlimme »Hungersnot« über das
Wortes Gottes sucht. Die neun Drachmen Land und er sah sich völlig verarmt. Die
sind die Unbußfertigen, während die einzige Arbeit, die er bekommen konnte,
eine verlorene Drachme für die Men- war als Schweinehirt – eine Arbeit, wie
schen steht, die bereit sind zu bekennen, man sie schlimmer einem Juden nicht
daß sie den Kontakt zu Gott verloren anbieten konnte. Als er die Schweine ihre
haben. Im vorhergehenden Gleichnis Bohnenschoten fressen sah, beneidete er
ging das Schaf aus eigenem Antrieb von sie. Sie hatten mehr zu essen, als er selbst
der Herde weg. Ein Geldstück ist jedoch und »niemand« schien ihm helfen zu
ein unbelebtes Ding und könnte hier für wollen. Die Freunde die er hatte, als er
den toten Zustand des Sünders stehen. sein Geld verpraßte, waren alle ver-
Der Sünder ist tot in seinen Sünden. schwunden.
Die Frau »sucht« solange »sorgfältig« 15,17-19 Die Hungersnot erwies sich
nach der Münze, »bis sie sie findet«. als verborgener Segen. Sie ließ ihn nach-
Dann »ruft sie die Freundinnen und denklich werden. Er erinnerte sich, daß
Nachbarinnen zusammen«, um mit die »Tagelöhner« seines »Vaters« weitaus
ihnen zu feiern. Das verlorene Geld- bequemer lebten als er. Sie hatten genug
stück, das sie wiedergefunden hat, zu essen, während er »vor Hunger« fast
brachte ihr mehr echte Freude als die starb. Als er darüber nachdachte, ent-
neun, die nie verloren gegangen sind. So schied er sich, daran etwas zu tun. Er ent-
ist es auch bei Gott. Der »Sünder«, der schied sich, zu seinem Vater zu gehen,
sich selbst demütigt und seine Verloren- seine Sünde anzuerkennen und Verge-
heit eingesteht, bringt dem Herzen Gott- bung zu erbitten. Er erkannte, daß er
es Freude. Gott hat keine Freude an »nicht mehr würdig« war, sein »Sohn zu
denen, die niemals die Notwendigkeit heißen« und plante, um eine Stelle als
der Buße bemerkt haben. »Tagelöhner« zu bitten.
15,20 Lange, ehe er sein Vaterhaus
U. Das Gleichnis vom verlorenen erreicht hatte, »sah ihn sein Vater und
Sohn (15,11-32) wurde innerlich bewegt und lief hin und
15,11-16 Gott der Vater wird hier als fiel ihm um seinen Hals und küßte ihn
Mensch dargestellt, der »zwei Söhne hat- zärtlich«. Das ist wohl das einzige Mal in
te«. »Der jüngere« steht für den Sünder, der Bibel, wo Gott in gutem Sinne eilt.
der Buße tut, während der ältere für die Stewart gibt das gut wieder:
Schriftgelehrten und Pharisäer steht. Die Liebevoll stellt Jesus Gott dar, der nicht
letzteren sind durch die Schöpfung Kin- auf sein beschämtes Kind wartet, bis es nach
der Gottes, nicht jedoch durch Erlösung. Hause geschlichen kommt, noch auf seiner
Der jüngere Sohn ist auch als der »ver- Würde beharrt, als der Sohn kommt, sondern
schwenderische« Sohn bekannt. Ein hinausläuft, um ihn zu begrüßen, so be-
»Verschwender« ist jemand, der rück- schämt und zerlumpt und schmutzig wie der
sichtslos aufwendig lebt und sein Geld Sohn auch war, um ihn in seinen Armen zu
mit vollen Händen zum Fenster hinaus- begrüßen. Derselbe Name »Vater« hat gleich-
wirft. Dieser Sohn wurde seines Vater- zeitig die Sünde dunkler gemacht und die
hauses müde und entschied sich, den wunderbare Herrlichkeit der Vergebung ver-
47)
Vater zu verlassen. Er konnte nicht dar- stärkt.

299
Lukas 15 und 16

15,21-24 Der Sohn bekennt seine Sün- ein widerspenstiger, undankbarer und
de bis zu dem Punkt, wo er um Arbeit unversöhnter Sohn kein Grund zum Fei-
bitten will. »Der Vater aber« unterbricht ern ist.
ihn, indem er den Sklaven befiehlt, sei- Der ältere Sohn ist ein sprechendes
nem Sohn »das beste Kleid« anzuziehen, Bild für die Schriftgelehrten und Pha-
»einen Ring an seine Hand« und »Sanda- risäer. Sie ärgerten sich, daß Gott den
len an seine Füße« zu tun. Er befiehlt schlimmen Sündern Gnade schenkte.
auch ein großes Festmahl, um die Wie- Ihrer Meinung nach hatten sie ihm treu
derkehr seines Sohnes zu feiern, der gedient, seine Gebote niemals übertreten
»verloren war und gefunden worden und waren doch in ihren Augen dafür
ist«. Für den Vater war er »tot« gewesen nie gebührend belohnt worden. Die
und nun war er »wieder lebendig«. Wahrheit war jedoch, daß sie religiöse
Jemand hat einmal gesagt: »Der junge Heuchler und schuldige Sünder waren.
Mann suchte nach einem guten Leben, Ihr Stolz verblendete sie, so daß sie
doch er fand es nicht in einem fernen weder ihre Entfernung von Gott noch die
Land. Er fand es erst, als er den guten Tatsache sahen, daß er Segen über Segen
Einfall hatte, in seines Vaters Haus über sie ausgegossen hatte. Wenn sie nur
zurückzukehren.« Man hat auch willig gewesen wären, Buße zu tun und
bemerkt, daß sie »anfingen, fröhlich zu ihre Sünden zuzugeben, wäre das Herz
sein«, doch nirgends berichtet wird, daß des Vater erfreut worden und auch sie
sie wieder aufhörten. So ist es bei der hätten Anlaß für ein großes Fest geboten.
Errettung des Sünders.
15,25-27 Als der »ältere Sohn« vom V. Das Gleichnis vom ungerechten
»Feld« zurückkommt und den Festlärm Verwalter (16,1-13)
hört, fragt er einen Sklaven, »was das 16,1.2 Der Herr Jesus wendet sich nun
wäre«. Der erzählt ihm, daß sein jüngerer von den Pharisäern und Schriftgelehrten
»Bruder« wiedergekommen ist, und daß an die Jünger mit einer Lektion über die
sein »Vater« sich überschwenglich freue. Verwalterschaft. Dieser Abschnitt ist
15,28-30 Der ältere Sohn wurde von zugegebenermaßen einer der schwierig-
eifersüchtiger Wut verzehrt. Er weigerte sten bei Lukas. Der Grund für diese
sich, an der Freude seines Vaters teilzu- Schwierigkeit ist, daß die Geschichte des
haben. J. N. Darby hat es sehr gut ausge- ungerechten Verwalters scheinbar Un-
drückt: »Wo Gottes Freude ist, kann der ehrlichkeit empfiehlt. Während wir wei-
Selbstgerechte nicht hinkommen. Wenn tergehen, werden wir sehen, daß das
Gott dem Sünder gut ist, was nützt mir jedoch nicht der Fall ist. Der »reiche
meine Gerechtigkeit?« Als »sein Vater« Mann« ist ein Bild für Gott selbst. Ein
ihn bittet, am Fest teilzunehmen, weigert »Verwalter« ist jemand, der mit der Ver-
er sich und klagt, daß der Vater ihn »nie- waltung des Besitzes eines anderen
mals« für seinen treuen Dienst und sei- beauftragt ist. Soweit es um diese Ge-
nen Gehorsam belohnt habe. Er habe nie schichte geht, ist jeder Jünger des Herrn
»ein Böckchen« empfangen, noch viel auch ein Verwalter. Dieser bestimmte
weniger ein gemästetes Kalb. Er beklagte Verwalter war angeklagt, seines Herrn
sich, daß der Vater nicht zögerte, ein Güter zu veruntreuen. Er wurde aufge-
großes Fest zu feiern, nachdem der ver- fordert, »Rechnung« abzulegen, und ihm
schwenderische Sohn zurückgekehrt ist, wurde gedroht, entlassen zu werden.
nachdem er das Geld seines Vater »mit 16,3-6 »Der Verwalter« dachte schnell
Huren durchgebracht« hat. Man beachte, nach. Er erkannte, daß er für seine Zu-
daß er sagt: »dieser dein Sohn« und kunft Vorsorge tragen mußte. Doch er
nicht: »mein Bruder«. war zu alt, um noch körperlich hart zu
15,31.32 Die Antwort des Vaters zeigt, arbeiten, und er war zu stolz »zu betteln«
daß Freude mit der Wiederherstellung (allerdings nicht zum Stehlen). Wie
eines Verlorenen verbunden ist, während konnte er für seine soziale Sicherheit vor-

300
Lukas 16

sorgen? Er verfiel auf einen Plan, durch und so Freundschaften schließen, die
den er Freunde gewinnen konnte, die auch in der Ewigkeit fortbestehen. Pier-
ihm Freundlichkeit erweisen würden, son stellte klar fest:
wenn er in Not geriete. Der Plan war fol- Geld kann benutzt werden, Bibeln,
gender: Er ging zu einem »Schuldner sei- Bücher und Traktate zu kaufen und damit,
nes Herrn« und fragte ihn, wieviel er jedenfalls indirekt, menschliche Seelen. So
schulde. Als der Schuldner sagte: »Hun- wird, was einst materiell und zeitlich
dert Bath Öl«, befahl ihm der Verwalter, begrenzt war, unsterblich, wird geistlich und
fünfzig zu zahlen und die Sache wäre ewig. Hier haben wir einen Mann, der hun-
erledigt. dert Dollar hat. Er kann sie ausgeben, um ein
16,7 Ein anderer Schuldner war »hun- Essen oder eine Party zu geben. Dann ist am
dert Kor Weizen« schuldig. Der Verwal- nächsten Tag nichts mehr davon übrig.
ter befahl ihm, für achtzig zu bezahlen Andererseits kann er Bibeln zu 1 Dollar das
und es würde als bezahlt gelten. Stück kaufen. Dann kann er hundert Exem-
16,8 Der schockierende Teil der plare des Wortes Gottes erwerben. Diese sät
Geschichte kommt, als »der Herr den er als Saat des Reiches sorgfältig aus, und aus
ungerechten Verwalter lobte, weil er klug dieser Saat wächst eine Ernte, keine Bibeln,
gehandelt hatte«. Warum sollte man sondern errettete Menschen. Aus dem Unge-
solch eine Unehrlichkeit loben? Was der rechten hat er sich unsterbliche Freunde
Verwalter getan hatte, war Unrecht. Die geschaffen, die, wenn er einmal fehlt, ihn in
folgenden Verse zeigen, daß der Verwal- den ewigen Wohnungen empfangen wer-
48)
ter keinesfalls für seine Bosheit, sondern den.
für seine Vorsicht gelobt wurde. Er hatte Das ist die Lehre unseres Herrn.
umsichtig gehandelt. Er hatte für die Durch die weise Investition unseres
Zukunft vorgesorgt. Er hatte gegenwärti- materiellen Besitzes können wir an der
gen Gewinn für eine zukünftige Beloh- ewigen Segnung von Menschen teilha-
nung aufgegeben. Wenn wir das auf ben. Wir können veranlassen, daß uns
unser eigenes Leben übertragen wollen, ein Empfangskomitee derer bei unserer
dann müssen wir uns jedoch dieses einen Ankunft im Himmel empfängt, die
Punktes klar sein: Die Zukunft des Kin- durch unser aufopferndes Geben und
des Gottes liegt nicht auf dieser Erde, unsere Gebete errettet worden sind. Die-
sondern im Himmel. So wie der Verwal- se Menschen werden uns danken, indem
ter Schritte unternimmt, daß er Freunde sie sagen: »Du warst es, der uns hierher
hat, wenn er sich hier unten zur Ruhe eingeladen hat.«
setzt, so sollte der Christ die Güter seines Darby kommentiert:
Herrn benutzen, so daß ihm ein Will- Der Mensch ist ganz allgemein Gottes
kommensfest sicher ist, wenn er in den Verwalter. In anderem Sinne und auf andere
Himmel kommt. Art war auch Israel Gottes Verwalter, der in
Der Herr sagte: »Die Söhne dieser Gottes Weinberg gesetzt wurde, dem das
Welt sind klüger als die Söhne des Lichts Gesetz, die Verheißungen, der Bund und der
gegen ihr eigenes Geschlecht.« Das Gottesdienst anvertraut wurde. Doch alle
bedeutet, daß die Gottlosen, nicht wie- diese Güter hat Israel veruntreut. Auch der
dergeborenen Menschen mehr Weisheit, Mensch, der Gottes Verwalter sein sollte, ist
für ihre Zukunft in dieser Welt zu sorgen, ausgesprochen untreu gewesen. Nun, was
zeigen, als die echten Gläubigen beim kann man tun? Gott kommt und in der Sou-
Aufhäufen von Reichtümern im Him- veränität seiner Gnade verwandelt er das,
mel. was der Mensch auf Erden veruntreut, in ein
16,9 Wir sollten uns »Freunde mit« Mittel zur Erlangung himmlischer Frucht.
Hilfe des »ungerechten Mammons« Das Materielle soll vom Menschen nicht für
machen. Das heißt, wir sollten unser den gegenwärtigen Genuß dieser Welt ver-
Geld und anderen Besitz so verwenden, wendet werden, die von Gott getrennt ist,
daß wir Seelen für Christus gewinnen, sondern in Hinblick auf die Zukunft. Wir sol-

301
Lukas 16

len nicht das Gegenwärtige zu besitzen stre- fen, müssen wir unsere besten Bemühun-
ben, sondern den richtigen Gebrauch von all gen diesem Ziel widmen. Wenn wir das
dem machen, um für spätere Zeiten vorzu- tun, dann berauben wir Gott dessen, was
sorgen. Es ist besser, alles für einen zukünfti- ihm zusteht. Es geht hier um eine geteil-
gen Tag einem Freund zu geben, als jetzt das te Loyalität. Die Motive sind dann mehr-
Geld zu besitzen. Der Mensch ist hier auf schichtig. Entscheidungen sind nicht
Erden zum Verderben bestimmt. Deshalb ist mehr unparteilich. Wo unser Schatz ist,
der Mensch hier ein Verwalter am falschen da ist auch unser Herz. Im Versuch,
49)
Ort. Reichtum zu scheffeln, dienen wir »dem
16,10 Wenn wir in unserer Verwalter- Mammon«. Und es ist unmöglich, gleich-
schaft des »Geringsten . . . treu« sind zeitig »Gott« zu »dienen«. Der Mammon
(Geldangelegenheiten), dann werden verlangt von uns alles, was wir haben
wir auch treu sein, wenn es um »viel« und sind – unseren Feierabend, unsere
geht (geistliche Schätze). Andererseits, Wochenenden, die Zeit, die wir für den
wenn ein Mensch das Geld ungerecht Herrn bereithalten sollten.
verwendet, das Gott ihm anvertraut hat,
dann ist er auch ungerecht, wenn größe- W. Die habgierigen Pharisäer (16,14-18)
re Dinge anstehen. Daß Geld relativ 16,14 »Die Pharisäer« waren nicht nur
unbedeutend ist, wird durch den Aus- stolz und heuchlerisch, sondern auch
druck »im Geringsten« betont. habgierig. Sie waren der Auffassung, daß
16,11 Jemand, der »nicht« ehrlich im Gottesfurcht eine Form des Geldverdie-
Umgang »mit dem ungerechten Mam- nens sei. Sie wählten Religion als Beruf,
mon« ist, kann kaum erwarten, daß ihm so wie man einen anderen Beruf wählt,
»das Wahrhaftige« anvertraut wird. Geld um viel Geld zu verdienen. Ihr Dienst
wird hier »ungerechter Mammon« zielte nicht darauf ab, Gott zu verherrli-
genannt. Es ist nicht an sich schlecht. chen und ihren Nächsten zu helfen, son-
Doch wäre vielleicht Geld gar nicht dern sich selbst zu bereichern. Als sie
nötig, wenn die Sünde nicht in die Welt den Herrn Jesus lehren »hörten«, daß sie
gekommen wäre. Und Geld ist »unge- den Reichtum dieser Welt aufgeben und
recht«, weil es normalerweise für ihre Reichtümer im Himmel sammeln
Zwecke benutzt wird, die ganz und gar sollten, »verhöhnten sie ihn«. Für sie war
nicht zur Verherrlichung Gottes dienen. Geld realer als die Verheißungen Gottes.
Es steht hier im Gegensatz zum »Wahr- Nichts sollte sie hindern, Reichtümer
haftigen«. Der Wert des Geldes ist unsi- aufzuhäufen.
cher und zeitlich, der Wert geistlicher 16,15 Äußerlich erschienen die Pha-
Reichtümer ist unveränderlich und ewig. risäer fromm und geistlich. Sie meinten,
16,12 Vers 12 unterscheidet zwischen daß sie »vor den Menschen« gerecht
dem, was »dem Fremden« gehört und wären. Doch hinter dieser betrügeri-
dem »Euren«. Alles was wir haben, unser schen Maske sah »Gott« die Habsucht in
Geld, unsere Zeit und unsere Fähigkeiten ihren »Herzen«. Er wurde durch ihr
gehören dem Herrn. Das »Unsere« Äußeres nicht irregeführt. Das Leben,
bezieht sich auf die Belohnung, die wir in das sie führten und das andere an ihnen
diesem und dem zukünftigen Leben als schätzten (Psalm 49,19), war »ein Greuel
Ergebnis unseres treuen Dienstes für vor Gott«. Sie meinten, daß sie erfolg-
Christus ernten. Wenn wir nicht mit reich seien, weil sie einen religiösen
Gottes Eigentum treu umgehen, wie Beruf mit finanziellem Überfluß vereini-
kann er uns Eigenes geben? gen konnten. Doch in Gottes Augen
16,13 Es ist ausgesprochen unmög- waren sie geistliche Ehebrecher. Sie
lich, für Dinge zu leben und gleichzeitig gaben vor, Jahwe zu lieben, doch in
für Gott. Wenn wir vom Geld beherrscht Wirklichkeit war Mammon ihr Gott.
werden, können wir nicht wirklich dem 16,16 Der Zusammenhang der Verse
Herrn dienen. Um Reichtum anzuhäu- 16-18 ist schwierig zu verstehen. Wenn

302
Lukas 16

man sie oberflächlich liest, scheinen sie großartige Sittengesetz Gottes verletzen
nichts mit dem Vorhergehenden zu tun und noch immer einen Platz im Reich
zu haben und auch keine Verbindung Gottes beanspruchen.« Vielleicht fragten
zum Folgenden zu haben. Doch wir sind sie: »Welches sittliche Gesetz haben wir
der Auffassung, daß sie am besten ver- denn verletzt?« Der Herr wies sie darauf
standen werden können, wenn wir uns hin, daß das Ehegesetz niemals vergehen
erinnern, daß das Thema von Kapitel 16 würde. Jeder Mann, »der seine Frau ent-
die Habgier und die Untreue der Pha- läßt und eine andere heiratet, begeht
risäer ist. Gerade diejenigen, die stolz Ehebruch; und jeder, der die von einem
darauf waren, daß sie sorgfältig dem Mann Entlassene heiratet, begeht Ehe-
Gesetz gehorchten, werden hier als hab- bruch«. Genau das taten die Pharisäer
süchtige Heuchler entlarvt. Der Geist des auf geistlichem Gebiet. Das Jüdische
Gesetzes steht im scharfen Kontrast zum Volk hatte von Gott einen Bund erhalten.
Geist der Pharisäer. Doch diese Pharisäer kehrten Gott den
»Das Gesetz und die Propheten Rücken, indem sie wie verrückt nach
gehen bis auf Johannes.« Mit diesen Wor- materiellem Reichtum strebten. Und
ten beschreibt der Herr das Zeitalter des vielleicht legt dieser Vers auch nahe, daß
Gesetzes, das mit Mose begann und mit sie sich wörtlich des Ehebruches schul-
Johannes dem Täufer endete. Doch nun dig gemacht hatten, nicht nur des geistli-
sollte ein neues Zeitalter beginnen. Von chen.
der Zeit des Johannes an »wird das Evan-
gelium des Reiches Gottes verkündigt«. X. Der reiche Mann und der arme
Der Täufer ging aus, um die Ankunft des Lazarus (16,19-31)
rechtmäßigen Königs von Israel zu ver- 16,19-21 Der Herr beendete seine Rede
kündigen. Er sagte den Menschen, daß über die Verwaltung der materiellen
der Herr Jesus über sie regieren würde, Güter mit diesem Bericht über zwei Men-
wenn sie Buße tun würden. Als Ergebnis schen, deren Leben, Tod und endgültiges
dieser und der späteren Predigten des Schicksal er schilderte. Es muß ange-
Herrn selbst und der Jünger reagierten merkt werden, daß hier nicht von einem
viele Menschen voller Eifer. Gleichnis die Rede ist. Wir erwähnen
»Jeder dringt mit Gewalt hinein« das, weil einige Kritiker die ernste
bedeutet, daß diejenigen, die auf die Bot- Schlußfolgerungen dieser Geschichte ab-
schaft reagierten, das Reich regelrecht wenden wollen, indem sie sie zu einem
erstürmten. Die Zöllner und Sünder zum bloßen Gleichnis herabwürdigen.
Beispiel mußten über die Hindernisse Zu Beginn sollte deutlich gemacht
springen, die die Pharisäer ihnen aufge- werden, daß der »reiche Mann« nicht
richtet hatten. Andere mußten die Geld- wegen seines Reichtums in den Hades
liebe in ihren Herzen mit Gewalt bezwin- kam. Der Grund zur Errettung eines
gen. Vorurteile mußten überwunden Menschen ist der Herr, und Menschen
werden. werden verurteilt, weil sie nicht an ihn
16,17.18 Doch das neue Zeitalter glauben. Doch dieser reiche Mann zeigte,
bedeutete nicht, daß die grundsätzlichen daß er nicht den errettenden Glauben
sittlichen Wahrheiten nun nicht mehr hatte, weil er achtlos gegenüber dem
gelten würden. »Es ist aber leichter, daß »Armen« war, der »an dessen Tor lag«.
der Himmel und die Erde vergehen, als Wenn er die Liebe Gottes gekannt hätte,
daß ein Strichlein des Gesetzes wegfal- hätte er nicht in Luxus und Bequemlich-
le.« Ein »Strichlein des Gesetzes« kann keit leben können, während ein Mit-
mit dem Querbalken des kleinen »t« oder mensch an seiner Tür lag und um einige
einem I-Punkt verglichen werden. »Abfälle vom Tisch des Reichen« bat. Er
Die Pharisäer meinten, zum Reich hätte das Reich Gottes erstürmt, indem
Gottes zu gehören, doch der Herr sagte er seine Liebe zum Geld aufgegeben
ihnen praktisch: »Ihr könnt nicht das hätte.

303
Lukas 16

Ebenso gilt, daß Lazarus nicht errettet Es muß ein Schock für die Jünger
wurde, weil er arm war. Er hatte dem gewesen sein zu sehen, daß dieser reiche
Herrn vertraut, daß der seine Seele erret- Jude in den Hades kam. Sie waren aus
te. dem AT gelehrt worden, daß Reichtum
Nun betrachte man das Bild des Rei- ein Zeichen von Gottes Segen und
chen, das manchmal »Dives« genannt Zuneigung war. Ein Israelit, der dem
wird (lat. für reich). Er trug nur kostbarste Herrn gehorchte, hatte die Verheißung,
Gewänder und sein Tisch war mit den materiell reich zu werden. Wie konnte
erlesensten Speisen bedeckt. Er lebte nur dann dieser reiche Jude in den Hades
für sich selbst und sorgte für seinen leib- kommen? Der Herr Jesus hatte gerade
lichen Genuß. Er hatte keine echte Liebe eben angekündigt, daß eine neue Ord-
zu Gott und kümmerte sich nicht um sei- nung mit der Predigt des Johannes
nen Mitmenschen. begonnen hatte. Daher war Reichtum
Den krassen Gegensatz dazu bildet nicht länger ein Zeichen für Segen. Er ist
Lazarus. Er war ein erbarmungswürdi- eine Prüfung für die Treue in der Ver-
ger Bettler, der jeden Tag vor der Tür des walterschaft des Menschen. Wem viel
Reichen abgesetzt wurde, »voller Ge- gegeben ist, von dem wird man viel for-
schwüre«, vor Hunger ausgemergelt und dern.
von unreinen Hunden belästigt, die Vers 23 ist ein Gegenbeweis gegen die
»kamen und seine Geschwüre leckten«. Vorstellung eines »Seelenschlafes«, der
16,22 Als der »Arme starb«, wurde er Theorie, daß die Seele zwischen Tod und
»von den Engeln in Abrahams Schoß Auferstehung kein Bewußtsein hat. Er
getragen«. Viele bezweifeln, daß die beweist, daß es eine bewußte Existenz
Engel Anteil daran haben, die Seelen der jenseits des Grabes gibt. Wir sind sogar
Gläubigen in den Himmel zu bringen. über das Ausmaß des Wissens des Rei-
Wir sehen jedoch keinen Grund, diese chen erstaunt. Er sah »Abraham von fern
einfachen Worte zu bezweifeln. Die und Lazarus in seinem Schoß«. Er war
Engel dienen dem Gläubigen während sogar in der Lage, sich mit Abraham zu
seines Lebens und es ist kein Grund vor- verständigen. Er sprach ihn als »Vater
handen, warum sie es nicht auch nach Abraham« an und bat um Gnade. Er sol-
seinem Tode noch tun sollten. »Abra- le Lazarus »senden«, damit der ihm mit
hams Schoß« ist ein Bild für den Ort der Wasser die »Zunge kühle«. Man muß
Glückseligkeit. Für jeden Juden wäre der sich jedoch die Frage stellen, wie eine
Gedanke der Gemeinschaft Abrahams Seele ohne Leib Hunger und »Pein« in
ein unaussprechliches Glück. Wir sind einer »Flamme« spüren kann. Wir kön-
der Ansicht, daß »Abrahams Schoß« das nen hier nur schließen, daß die Sprache
gleiche wie Himmel bedeutet. Als »der hier bildhaft ist, doch das bedeutet nicht,
Reiche« starb, wurde sein Leib »begra- daß sein Leiden nicht echt war.
ben« – der Leib, den er gepflegt hatte 16,25 Abraham sprach ihn als »Kind«
und für den er so viel Geld ausgegeben an. Damit meinte er, daß er sein leibli-
hatte. cher Nachkomme war, nicht jedoch sein
16,23.24 Doch das war nicht alles. Sei- geistlicher Nachkomme. Der Patriarch
ne Seele, oder sein bewußtes Ich, kam in erinnerte ihn an sein »Leben« in Luxus,
den »Hades«. »Hades« steht im Griechi- Trägheit und Verwöhntheit. Er erinnerte
schen für das alttestamentliche Wort ihn auch an die Armut des Lazarus. Im
Scheol, das den Zustand der Entschlafe- Jenseits nun waren die Rollen ver-
nen bezeichnet. Zur Zeit des AT bezeich- tauscht. Die Ungleichheit, die auf der
net Scheol den Aufenthaltsort sowohl Erde bestanden hatte, war nun ausge-
der Erretteten als auch der Verlorenen. tauscht.
Hier wird damit der Aufenthaltsort der 16,26 Wir lernen hier, daß die Ent-
Verlorenen bezeichnet, weil wir lesen, scheidungen unseres Lebens unser ewi-
daß der Reiche »in Qualen« war. ges Schicksal bestimmen und daß nach

304
Lukas 16 und 17

dem Tod dieses Schicksal »festgelegt« ist. IX. Der Menschensohn unterrichtet
Es gibt keinen Weg vom Aufenthaltsort seine Jünger (17,1-19.27)
der Erlösten zu dem der Verlorenen und
umgekehrt. A. Über die Gefahr der Verführung
16,27-31 Im Tod wurde der Reiche auf (17,1.2)
einmal zum Evangelisten. Er wollte zu 17,1.2 Der Gedankengang dieses Kapi-
seinen »fünf Brüdern« gehen und sie tels ist verworren. Es scheint fast so, als
davor warnen, »an diesen Ort der Qual ob Lukas hier verschiedene Themen, die
zu kommen«. Abrahams Antwort laute- nichts miteinander zu tun haben, verbin-
te, daß diese fünf Brüder das AT hatten, det. Dennoch könnten die Anfangsworte
weil sie Juden waren, und dieses sollte Jesu über die Gefahr der Verführung mit
zur Warnung ausreichen. Der Reiche der Geschichte vom Reichen Mann am
widersprach Abraham und behauptete, Ende von Kapitel 16 verbunden sein. In
daß sie sicherlich »Buße tun« würden, Luxus, Selbstgefälligkeit und Behaglich-
»wenn jemand von den Toten zu ihnen keit zu leben könnte sehr wohl ein An-
geht«. Doch Abraham hatte hier das letz- stoß für Menschen sein, die noch jung im
te Wort. Er legte dar, daß man sich end- Glauben sind. Besonders wenn jemand
gültig entschieden hat, wenn man sich den Ruf hat, ein guter Christ zu sein,
weigert, auf das Wort Gottes zu hören. wird sein Beispiel von anderen befolgt.
Wenn Menschen nicht auf die Bibel Wie schlimm ist es, wenn man so ver-
hören, dann werden sie auch nicht glau- heißungsvolle Jünger des Herrn Jesus
ben, wenn jemand »aus den Toten aufer- Christus zu einem materialistischen Le-
steht«. Das läßt sich durch den »Fall« bensstil und der Verehrung des Mam-
Jesu am besten belegen. Er stand von den mon verführt.
Toten auf, und doch wollten die Men- Natürlich gilt dieses Prinzip jedoch
schen nicht an ihn glauben. auch viel allgemeiner. Die »Kleinen«
Aus dem NT wissen wir, daß der Leib können zu Fall gebracht werden, indem
eines Gläubigen, wenn er stirbt, ins Grab man sie ermutigt, ein weltliches Leben
gelegt wird, seine Seele jedoch in den zu führen. Sie können zu Fall gebracht
Himmel kommt, um bei Christus zu sein werden, indem sie in sexuelle Sünden
(2. Kor 5,8; Phil 1,23). Wenn ein Ungläu- verwickelt werden. Sie können durch
biger stirbt, dann kommt sein Leib eben- jede Lehre zu Fall gebracht werden, die
falls ins Grab, doch seine Seele kommt in die offensichtliche Bedeutung der Schrift
den Hades. Für ihn ist der Hades ein Ort verwässert. Alles, was sie von einem
des Leidens und der Reue. Weg des einfachen Glaubens, von der
Bei der Entrückung werden die Lei- Hingabe und der Heiligung wegführt, ist
ber der Gläubigen aus dem Grab aufer- ein Stein des Anstoßes.
weckt und mit ihrem Geist und ihrer See- Da Jesus die menschliche Natur und
le wiedervereinigt (1. Thess 4,13-18). Sie die Bedingungen dieser Welt kannte,
werden dann ewig bei Christus wohnen. sagte er voraus, daß es unausweichlich
Beim Gericht vor dem Großen Weißen sei, »daß es . . . zu Verführungen kom-
Thron werden der Leib, der Geist und die me«. Doch das vermindert nicht die
Seele der Ungläubigen wiedervereint Schuld derer, die die Verführungen brin-
(Offb 20,12.13). Sie werden dann in den gen. Für solch einen Menschen »wäre es
Feuersee geworfen, den Ort der ewigen nützlicher, wenn ein Mühlstein um sei-
Verdammnis. nen Hals gelegt und er ins Meer gewor-
Und so endet Kapitel 16 mit einer ern- fen würde«. Es scheint so, daß solch star-
sten Warnung an die Pharisäer und alle, ke Ausdrücke wie diese nicht nur ein
die gerne für den Reichtum leben möch- Bild für den leiblichen Tod, sondern auch
ten. Sie werden dabei um ihre Seele kom- für die ewige Verdammnis sind.
men. Besser, auf Erden um Brot zu bet- Als der Herr Jesus davon spricht,
teln als in der Hölle um Wasser. »einen dieser Kleinen« zu verführen,

305
Lukas 17

meint er sicherlich mehr als nur Kinder. umkehrt und spricht: Ich bereue es, so
Dieser Vers bezieht sich anscheinend sollst du ihm vergeben.« Das ist die lie-
auch auf Jünger, die noch jung im Glau- bevolle Art, mit der uns auch der Vater
ben sind. behandelt. Ganz gleich, wie oft wir
gegen ihn sündigen, haben wir immer
B. Über die Notwendigkeit eines ver- noch die Verheißung, daß, »Wenn wir
gebungsbereiten Geistes (17.3.4) unsere Sünden bekennen, ist er treu und
17,3.4 Im christlichen Leben gibt es nicht gerecht, daß er uns die Sünden vergibt
nur die Gefahr, andere zu verführen. Es und uns reinigt von jeder Ungerechtig-
gibt auch die Gefahr, Bitterkeit anzuhäu- keit« (1. Joh 1,9).
fen und sich zu weigern, einem anderen
zu vergeben, obwohl er sich entschuldigt C. Über den Glauben (17,5.6)
hat. Darum geht es dem Herrn hier. Das 17,5 Der Gedanke, jemandem siebenmal
NT lehrt zu diesem Thema die folgende an einem Tag zu vergeben, stellte für die
Vorgehensweise: »Apostel« eine Schwierigkeit, wenn
1. Wenn einem Christen von einem nicht Unmöglichkeit dar. Sie bemerkten,
anderen Unrecht geschieht, dann daß sie nicht in der Lage waren, so barm-
sollte er als erstes dem anderen in sei- herzig zu sein. Und so baten sie den
nem Herzen vergeben (Eph 4,32). Das Herrn: »Mehre uns den Glauben!«
hält seine eigene Seele frei von Groll 17,6 Die Antwort des Herrn zeigte,
und Bosheit. daß es beim Glauben nicht so sehr um
2. Dann sollte er persönlich zu dem die Quantität, sondern um die Qualität
anderen hingehen und ihn »zurecht- geht. Auch ging es nicht darum, mehr
weisen« (V. 3; s. a. Matth 18,15). Glauben zu bekommen, sondern den
»Wenn er bereut«, so soll er ihm ver- Glauben, den sie hatten, anzuwenden. Es
geben. Auch wenn er immer wieder ist unser eigener Stolz und Hochmut, die
sündigt und bereut, sollte ihm verge- uns davon abhalten, unserem Bruder zu
ben werden (V. 4). vergeben. Dieser Stolz muß aus unserem
3. Wenn eine persönliche Ermahnung Herzen ausgerissen und hinausgeworfen
nicht hilft, dann sollte derjenige, dem werden. Wenn Glaube von der Größe
Unrecht geschehen ist, einen oder eines »Senfkorns« in der Lage ist, einen
zwei Zeugen mitnehmen (Matth »Maulbeerfeigenbaum« auszureißen
18,16). Wenn er auf die nicht hören und ins »Meer« zu verpflanzen, dann
will, dann sollte die Angelegenheit kann er uns noch viel leichter Sieg über
vor der gesamten Gemeinde verhan- die Verhärtung und Widerspenstigkeit
delt werden. Wenn der Schuldige unseres Herzens geben, die uns daran
dann immer noch nicht hört, dann hindern, unserem Bruder unbegrenzt zu
soll er aus der Gemeinde ausge- vergeben.
schlossen werden (Matth 18,17).
Der Zweck der Zurechtweisung und D. Vom nützlichen Diener (17,7-10)
anderer disziplinarischer Maßnahmen 17,7-9 Der echte Sklave Christi hat keinen
ist nicht, Genugtuung zu erlangen oder Grund zum Stolz. Selbstgefälligkeit muß
den Schuldigen zu demütigen, sondern mit der Wurzel ausgerissen werden und
seine Gemeinschaft mit dem Herrn und statt dessen müssen wir einen echten
seinen Geschwistern wiederherzustellen. Sinn dafür bekommen, daß wir unwür-
Zurechtweisungen sollten im Geist der dig sind. Das ist die Lehre, die wir aus
Liebe ausgesprochen werden. Wir haben der Geschichte vom Sklaven lernen. Die-
keine Möglichkeit festzustellen, ob die ser Sklave hat den ganzen Tag »gepflügt
Buße eines Schuldigen echt ist. Wir müs- oder gehütet«. »Wenn er vom Feld her-
sen uns auf sein Wort verlassen. Deshalb einkommt«, am Ende eines langen Tages,
sagt Jesus: »Und wenn er siebenmal am dann bittet ihn sein Herrn nicht »zu
Tag an dir sündigt und siebenmal zu dir Tisch«. Statt dessen wird er ihm befehlen,

306
Lukas 17

seine Schürze umzubinden und das belohnte ihren Glauben, indem er sie zu
Abendessen zu bereiten. Erst nachdem er »den Priestern« schickte, damit sie sich
das getan hat, darf der Sklave »essen und dort zeigten. Das bedeutete, daß sie vom
trinken«. Der Herr dankt ihm dafür Aussatz geheilt werden würden, sobald
nicht. Das wird vom Sklaven erwartet. sie dort ankamen. Die Priester hatten kei-
Schließlich gehört ein Sklave seinem ne Macht, sie zu heilen, sondern sollten
Herrn und seine erste Pflicht ist Gehor- sie für »gereinigt« erklären. Die Aussät-
sam. zigen gehorchten dem Wort des Herrn
17,10 Genauso sind Jünger Sklaven und machten sich auf zu den Priestern,
des Herrn Jesus Christus. Sie gehören und »während sie hingingen, wurden
ihm mit Leib, Seele und Geist. Im Lichte sie« von der Krankheit »gereinigt«.
Golgathas ist nichts, was sie je für den 17,15-18 Sie hatten alle Glauben, um
Erlöser tun können, ausreichend, um geheilt zu werden, doch nur einer der
ihm seine Tat zu vergelten. Deshalb muß Zehn kam zurück, um dem Herrn zu
ein Jünger Jesu, nachdem er »alles getan danken. Dieser eine war interessanter-
hat, was« im NT »befohlen« ist, eingeste- weise »ein Samariter«, einer der verach-
hen, daß er ein »unnützer« Knecht war, teten Nachbarn der Juden, mit denen sie
der nur getan hat, was er »zu tun schul- nichts zu tun haben wollten. »Er fiel aufs
dig« war. Angesicht« – die wahre Anbetungshal-
Nach Roy Hession sind die fünf tung – »zu seinen Füßen« – der wahre
Kennzeichen eines Sklaven: Anbetungsort. Jesus fragte, ob es nicht
1. Er muß bereit sein, daß ihm eine um stimmte, daß zehn gereinigt worden sei-
die andere Aufgabe aufgeladen wird, en, doch nur »dieser Fremdling« war
ohne daß ihm irgendeine Aufmerk- zurückgekehrt, um zu danken. Wo
samkeit dafür geschenkt wird. waren die andern geblieben? Keiner kam
2. Wenn er seine Aufgaben erfüllt, muß zurück, »um Gott Ehre zu geben«.
er bereit sein zu ertragen, daß nie- 17,19 Jesus wandte sich an den Sama-
mand ihm dankt. riter und sagte: »Steh auf und geh hin!
3. Wenn er all das getan hat, darf er sei- Dein Glaube hat dich gerettet.« Nur die
nen Herrn nicht des Egoismus ankla- dankbaren zehn Prozent der Christen
gen. erben Jesu wahren Reichtum. Jesus erwi-
4. Er muß bekennen, daß er ein unnüt- dert unsere Umkehr (V. 15) und unseren
zer Knecht ist. Dank (V. 16) mit neuem Segen. »Dein
5. Er muß eingestehen, daß er nicht Glaube hat dich gerettet« bedeutet, daß
mehr als seine Pflicht getan hat, wenn zwar die anderen ebenfalls von ihrem
er alles in Demut und Sanftmut ertra- Aussatz befreit waren, daß aber der
50)
gen und getan hat. zehnte auch noch von der Sünde gerei-
nigt wurde.
E. Jesus reinigt zehn Aussätzige
(17,9-11) F. Über das Kommen des Reiches
17,11 Die Sünde der Undankbarkeit ist (17,20-27)
eine andere Gefahr im Leben eines Jün- 17,20.21 Man kann kaum sagen, ob die
gers. Das wird in der Geschichte der »Pharisäer« wirklich etwas über »das
zehn Aussätzigen deutlich. Wir lesen, Reich Gottes« wissen wollten oder ob sie
daß der Herr Jesus auf dem Weg »nach einfach nur spotteten. Doch wir wissen,
Jerusalem« an der Grenze von »Samaria daß sie als Juden die Hoffnung auf ein
und Galiläa« entlangging. Reich hatten, das mit großer Macht und
17,12-14 »Als er in ein Dorf einzog, Herrlichkeit eingeläutet werden würde.
begegneten ihm zehn aussätzige Män- Sie sehnten sich nach äußeren Zeichen
ner.« Wegen ihrer Krankheit kamen sie und großen politischen Umwälzungen.
nicht näher, sondern riefen aus einiger Der Erlöser erklärte ihnen: »Das Reich
Entfernung, er möge sie heilen. Er Gottes kommt nicht so, daß man es beob-

307
Lukas 17

achten könnte«, d. h. zumindest in seiner 17,25 Und wieder erklärte der Herr
gegenwärtigen Form kam Gottes Reich Jesus den Jüngern, daß er »vieles leiden
nicht mit äußeren Zeichen. Es war nicht und verworfen werden« müsse »von die-
ein sichtbares, irdisches und zeitliches sem Geschlecht«, ehe das Vorhergesagte
Reich, auf das man mit den Worten geschehen würde.
»hier« und »dort« hinweisen könnte. Der 17,26.27 Dann kam Jesus auf das The-
Erlöser sagte, daß »das Reich Gottes« ma seiner zukünftigen Herrschaft zu-
statt dessen »mitten unter« ihnen war. rück und lehrte, daß die Tage unmittel-
Der Herr Jesus konnte nicht meinen, daß bar vor diesem herrlichen Ereignis »wie«
es in den Herzen der Pharisäer war, wie die Tage »Noahs« werden würden. Die
einige Übersetzungen nahezulegen Menschen zur Zeit Noahs »aßen, sie tran-
scheinen, weil diese verhärteten religiö- ken, sie heirateten« und »sie wurden ver-
sen Heuchler keinen Platz für Christus, heiratet«. Diese Dinge sind an sich nichts
den König, hatten. Er war der rechtmäßi- Falsches, sie sind normale, legitime
ge König Israels und hatte die entspre- menschliche Handlungen. Das Böse war,
chenden Wunder gewirkt, und er hatte daß die Menschen für diese Dinge lebten
seine Beglaubigung vor allen erhalten. und keinen Gedanken und keine Zeit für
Doch die Pharisäer hatten kein Bedürf- Gott übrig hatten. Nachdem Noah mit
nis, ihn zu empfangen. Und so hatte sich seiner Familie »in die Arche« gegangen
ihnen das Reich Gottes selbst vorgestellt war, »kam die Flut und brachte« den Rest
und doch hatten sie es nicht wahrgenom- der Bevölkerung »um«. So wird die Wie-
men. derkunft Jesu das Gericht für alle diejeni-
17,22 Als der Herr zu den Pharisäern gen bedeuten, die sein Gnadenangebot
sprach, stellte er das Reich Gottes als ausschlagen.
etwas dar, das schon gekommen sei. Als 17,28-30 Und hier erklärt der Herr
er sich »zu den Jüngern« wandte, sprach nun, daß die Tage vor seiner Wieder-
er vom Reich als einer zukünftigen Zeit, kunft »den Tagen Lots« gleichen wür-
die bei seiner Wiederkunft beginnen den. Die Zivilisation war zu dieser Zeit
würde. Doch zunächst beschrieb er noch schon etwas fortgeschrittener, die Men-
die Zeit, die zwischen seinem ersten und schen »aßen und tranken« nicht nur, »sie
seinem zweiten Kommen liegt. »Es wer- kauften, sie verkauften, sie pflanzten, sie
den Tage kommen«, an denen die Jünger bauten«. Die Menschen versuchten, ein
gerne »einen der Tage des Sohnes des goldenes Zeitalter des Friedens und des
Menschen« sehen würden, es jedoch Wohlstandes ohne Gott aufzurichten.
nicht möglich wäre. Mit anderen Wor- Genau »an dem Tag aber, da Lot von
ten, sie würden sich nach einem der Sodom ausging, regnete es Feuer und
Tage sehnen, an denen er auf Erden bei Schwefel vom Himmel und brachte alle
ihnen war und sie seine Gemeinschaft um«. Diejenigen, die sich auf das Verg-
genossen. Diese Tage waren gewisser- nügen, die Selbstbeschäftigung und das
maßen ein Vorgeschmack auf die Zeit Geldverdienen konzentrieren, werden
seiner Wiederkunft in Macht und Herr- vernichtet werden.
lichkeit. 17,31 Das wird ein Tag sein, an dem
17,23.24 Viele falsche Christusse wür- das Hängen an Dingen die Menschen in
den aufstehen und die Herrschenden Gefahr bringen wird. Wenn jemand »auf
würden ankündigen, daß der Messias dem Dach« sein wird, dann sollte er nicht
gekommen sei. Doch Jesu Jünger sollten versuchen, irgendwelchen Besitz aus sei-
sich nicht von solchen falschen Alarmen nem Haus zu retten. Wenn er »auf dem
betrügen lassen. Die Wiederkunft Jesu Feld ist«, sollte er nicht zu seinem Haus
wird so sichtbar und unmißverständlich umkehren. Er sollte von den Orten flie-
»wie der Blitz« sein, der »von einem hen, die unter dem Gericht stehen.
Ende . . . des Himmels bis zum anderen 17,32 Obwohl »Lots Frau« fast aus
Ende« leuchtet. Sodom hinausgezwungen wurde, blieb

308
Lukas 17 und 18

ihr Herz in der Stadt. Das zeigte sich dar- auf sie zukommen würden. Vor der Zeit
in, daß sie zurückblickte. Sie war zwar seiner Wiederkunft in Herrlichkeit müß-
aus Sodom heraus, doch Sodom war ten sie durch tiefe Anfechtung gehen.
nicht aus ihrem Herzen verschwunden. Um sie darauf vorzubereiten, unterweist
Die Folge war, daß Gott sie zum Gericht der Herr sie nun im Gebet. In den folgen-
zur Salzsäule werden ließ. den Versen finden wir eine betende Wit-
17,33 »Wer sein Leben zu retten we, einen betenden Pharisäer, einen
sucht«, indem er nur für seine äußere betenden Zöllner und einen betenden
Sicherheit sorgt, aber nicht für seine See- Bettler.
le, »wird es verlieren«. Andererseits wird
jeder, der sein Leben in jenen Tagen der G. Das Gleichnis vom ungerechten
Drangsal um des Herrn willen »verliert«, Richter (18,1-8)
es in Wirklichkeit für die Ewigkeit 18,1 Dieses Gleichnis wird auch »Gleich-
»erhalten«. nis von der bittenden Witwe« genannt.
17,34-3551) Das Kommen des Herrn Es lehrt, daß man »allezeit beten und
wird eine Zeit der Trennung sein. »Zwei« nicht ermatten sollte«. Das gilt ganz all-
werden »auf einem Bett« schlafen. »Einer gemein für alle Menschen und für jede
wird« zum Gericht »genommen« wer- Art des Gebets. Doch wie es hier im
den, der andere, ein Gläubiger, »wird engeren Sinne verwandt wird, geht es
gelassen werden«, damit er in Christi um das Gebet um Befreiung in Zeiten der
Reich eingehen kann. »Zwei werden Erprobung. Es geht um das Beten, das
zusammen mahlen, die eine«, eine Un- auch in der langen Zeit zwischen den
gläubige, wird im Sturm des Zornes Gott- beiden Kommen Christi nicht »ermat-
es »genommen, die andere«, ein Kind ten« soll.
Gottes, wird »gelassen« werden, damit In dem Gleichnis finden wir einen
sie die Segnungen des Tausendjährigen ungerechten Richter, der normalerweise
Reiches mit Christus genießen kann. »Gott nicht fürchtete und vor keinem
Übrigens passen die Verse 34 und 35 Menschen sich scheute«. Wir haben aller-
zu der Tatsache, daß die Erde eine Kugel dings auch eine Witwe, die von einem
ist. Es wird in einem Teil der Welt Nacht nicht genannten »Widersacher« be-
und in anderen Teilen Tag sein, wie es drängt wird. Diese Witwe kam immer
durch die verschiedenen Aktivitäten wieder zu dem Richter und bat ihn um
angedeutet wird. Das zeigt, daß hier wis- »Recht«, damit sie von der unmenschli-
senschaftliches Wissen verborgen ist, das chen Behandlung durch ihren Widersa-
erst viele Jahrhunderte später entdeckt cher befreit würde.
wurde. 18,2.3 Das Gleichnis handelt von
17,36 Die Jünger verstanden durch einem ungerechten »Richter«, der nor-
die Worte des Herrn vollkommen, daß malerweise »Gott nicht fürchtete und vor
seine Wiederkunft ein Gericht durch keinem Menschen sich scheute«. Es war
Katastrophen an einer abgefallenen Welt aber auch eine »Witwe«, die von einem
sein würde. Deshalb fragten sie den ungenannten »Widersacher« bedrängt
Herrn, »wo« dieses Gericht niedergehen wurde. Diese Witwe »kam« immer wie-
würde. Seine Antwort lautete: »Wo der der »zu ihm« und bat um »Recht«, so daß
Leichnam ist, da sammeln sich auch die sie von der menschenunwürdigen Be-
Adler.« Die »Adler« oder Geier symboli- handlung befreit werden möge.
sieren das bevorstehende Gericht. Die 18,4.5 Der Richter ließ sich von der
Antwort lautet deshalb, daß das Gericht Berechtigung der Klage der Witwe nicht
über jede Form des Unglaubens und der beeindrucken. Die Tatsache, daß sie
Rebellion gegen Gott verhängt würde, ungerecht behandelt wurde, bewegte ihn
ganz gleich, wo man sie finden würde. zu keiner Handlung zu ihren Gunsten.
In Kapitel 17 warnte der Herr die Jün- Doch die Regelmäßigkeit, mit der sie
ger, daß Anfechtungen und Verfolgung immer wieder zu ihm kam, ließ ihn

309
Lukas 18

schließlich handeln. Ihre Beharrlichkeit Wirklichkeit war, verglich er sich mit


und Aufdringlichkeit brachte ihr eine anderen Menschen seiner Umgebung
Entscheidung zu ihren Gunsten. und war stolz darauf, besser zu sein. Sei-
18,6.7 Dann erklärte »der Herr« den ne häufige Verwendung des Pronomens
Jüngern, daß Gott, wenn ein »ungerech- »Ich« enthüllt den wirklichen Zustand
ter Richter« für die Witwe einschreiten seines Herzens, das hinterhältig und
würde, weil sie so aufdringlich war, selbstzufrieden war.
umso mehr »für seine Auserwählten« 18,13 Der Zöllner war das genaue
einschreiten würde, weil er ein gerechter Gegenteil. Er »stand« vor Gott und be-
Gott ist. Die Bezeichnung »die Auser- merkte dabei seine eigene Unwürdigkeit.
wählten« könnte sich hier im engeren Er war tief gedemütigt. Er »wollte sogar
Sinne auf den jüdischen Überrest die Augen nicht aufheben zum Himmel,
während der Drangsalszeit beziehen, sondern schlug an seine Brust« und rief
doch es gilt auch für alle unterdrückten Gott um Gnade an: »O Gott, sei mir, dem
Gläubigen aller Zeitalter. Der Grund, aus Sünder, gnädig!« Er meinte nicht, daß er
dem Gott nicht schon lange eingeschrit- ein Sünder unter vielen wäre, sondern der
ten ist, lautet, daß er mit den Menschen Sünder, der nicht würdig war, auch nur
viel Geduld hat und nicht möchte, daß das geringste von Gott zu empfangen.
einer von ihnen verloren gehe. 8,14 Der Herr Jesus erinnerte seine
18,8 Doch wird der Tag kommen, an Zuhörer daran, daß nur der Geist des
dem sein Geist nicht länger den Men- Demütigen und Bußfertigen vor Gott
schen nachgehen wird, und dann wird er angenehm ist. Im Gegensatz zu dem, was
die bestrafen, die seine Anhänger verfol- man nach außen hin annehmen mochte,
gen. Der Herr Jesus schloß das Gleichnis war es der Zöllner, der »gerechtfertigt
mit einer Frage: »Doch wird wohl der hinab in sein Haus« ging. Gott erhöht die
Sohn des Menschen, wenn er kommt, Demütigen, doch er demütigt die, die
den Glauben finden auf der Erde?« Das sich selbst erhöhen.
bedeutet sicherlich die Art des Glaubens
der Witwe. Doch es kann auch bedeuten, I. Jesus und die Kinder (18,15-17)
daß bei der Wiederkunft des Herrn ihm 18,15-17 Dieser Vorfall bekräftigt, was
nur noch ein Überrest treu geblieben ist. wir soeben gehört haben, nämlich, daß
In der Zwischenzeit sollte jeder von uns die Demut eines kleinen Kindes notwen-
zu dem Glauben angeregt werden, der dig ist, um Eingang in »das Reich Gottes«
Tag und Nacht zu Gott schreit. zu erhalten. Viele Mütter versammelten
sich um den Herrn Jesus mit ihren Kin-
H. Das Gleichnis vom Pharisäer und dern, damit sie gesegnet würden. Seine
Zöllner (18,9-14) »Jünger« ärgerten sich über diese Bean-
18,9-13 Das nächste Gleichnis ist an Men- spruchung der Zeit ihres Meisters. Aber
schen gerichtet, die stolz darauf sind, Jesus tadelte die Jünger, »rief« die Kinder
»daß sie gerecht seien«, und die alle liebevoll »herbei« und sprach: »Solchen
anderen verachten, weil sie ihrer Mei- gehört das Reich Gottes.« Vers 16 gibt
nung nach niedriger in Gottes Gunst Antwort auf die Frage: »Was geschieht
stünden. Indem der Erlöser den ersten mit Kindern, wenn sie sterben?« Die Ant-
Mann als »Pharisäer« bezeichnete, läßt er wort lautet, daß sie in den Himmel kom-
keinen Zweifel daran, welche Gruppe men. Der Herr sagte ausdrücklich: »Sol-
von Menschen er ansprach. Obwohl der chen gehört das Reich Gottes.«
Pharisäer ein Gebet sprach, sprach er Kinder können schon in sehr zartem
doch nicht wirklich mit Gott. Er rühmte Alter gerettet werden. Das Entwicklung
sich nur seiner eigenen sittlichen Stärke ist bei jedem Kind sehr unterschiedlich,
und seiner frommen Lebensweise. Statt doch bleibt die Tatsache bestehen, daß
sich an Gottes vollkommenem Maßstab jedem Kind, das zum Herrn Jesus kom-
zu messen und zu sehen, wie sündig er in men will, erlaubt werden sollte das zu

310
Lukas 18

tun, ganz gleich wie klein es ist. Man soll- war eine traurige Tatsache, daß er seinen
te es im Glauben ermutigen. Nächsten nicht wie sich selbst liebte. Er
Kleine Kinder müssen nicht erst führte ein selbstsüchtiges Leben, in dem
Erwachsene werden, um gerettet zu wer- für andere Menschen keine echte Liebe
den, doch die Erwachsenen brauchen Platz hatte. Das wurde durch die Tatsa-
den einfachen Glauben und die Demut che bewiesen, daß er, »als er aber dies
»eines Kindes, um in »Gottes Reich . . . hörte, . . . sehr betrübt« wurde, »denn er
hineinzukommen«. war sehr reich«.
18,24 Als der Herr Jesus ihn beobach-
J. Der reiche Jüngling (18,18-30) tete, machte er eine Bemerkung darüber,
18,18.19 Dieser Abschnitt behandelt den »wie schwer« die Reichen »in das Reich
Fall eines Mannes, der das Reich Gottes Gottes kommen«. Die Schwierigkeit liegt
nicht wie ein Kind annehmen wollte. darin, reich zu sein, ohne diesem Reich-
Eines Tages kam ein »Oberster« zum tum zu vertrauen oder ihn zu lieben.
Herrn Jesus, nannte ihn »Guter Lehrer« Dieser ganze Abschnitt wirft für
und fragte, was er tun müsse, »um ewi- Christen beunruhigende Fragen auf. Wie
ges Leben zu erben«. Der Herr stellt können wir sagen, daß wir wirklich
zunächst einmal seine Verwendung des unseren Nächsten lieben, wenn wir in
Ausdruckes guter Lehrer in Frage. Jesus Reichtum und Bequemlichkeit leben,
erinnerte ihn daran, daß nur »Gott . . . während andere verloren gehen, weil sie
gut ist«. Unser Herr wollte damit nicht die Botschaft des Evangeliums Christi
bestreiten, daß er Gott ist, sondern er nicht hören?
wollte den Obersten dazu bringen, diese 18,25 Jesus sagte: »Es ist leichter, daß
Tatsache zu bekennen. Wenn Jesus gut ein Kamel durch ein Nadelöhr eingeht, als
war, dann mußte er Gott sein, weil nur daß ein Reicher in das Reich Gottes
Gott von seinem Wesen her gut ist. kommt.« Viele Erklärungen sind zu dieser
18,20 Dann behandelte Jesus die Fra- Aussage gefunden worden. Einige sind
ge: »Was muß ich getan haben, um ewiges der Meinung, daß das »Nadelöhr« ein
Leben zu erben?« Wir wissen, daß man kleines Tor in der Mauer einer Stadt sei,
das ewige Leben nicht »erben« kann, und und daß ein Kamel dort nur durchkom-
es wird ebenfalls nicht durch gute Werke men könne, wenn es niederkniete. Doch
erlangt. Ewiges Leben ist das Geschenk Dr. Lukas benutzt ein Wort, das die Nadel
Gottes in Jesus Christus. Als Jesus den eines Chirurgen bezeichnet, und die
Obersten auf die zehn »Gebote« hinweist, Bedeutung der Aussage unseres Herrn ist
will er nicht sagen, daß dieser Mann doch recht eindeutig. Mit anderen Wor-
durch das Halten des Gesetzes gerettet ten: Genauso, wie es unmöglich ist, »daß
werden könne. Er wollte damit den Mann ein Kamel durch ein Nadelöhr eingeht«,
zur Sündenerkenntnis bringen. Der Herr so ist es unmöglich, »daß ein Reicher in das
Jesus zitierte die fünf »Gebote«, Gebote Reich Gottes kommt«. Es reicht nicht zu
der sogenannten »zweiten Tafel«, die sich erklären, daß der Reiche nur durch seine
mit unseren Pflichten unseren Mitmen- eigenen Bemühungen nicht in das Reich
schen gegenüber befassen. Gottes kommen kann, das gilt sowohl für
18,21-23 Es ist offensichtlich, daß das Reiche als auch Arme. Die Bedeutung ist,
Gesetz seine Aufgabe im Leben dieses daß es unmöglich ist, als reicher Mann »in
Obersten nicht erfüllen konnte, weil er das Reich Gottes« zu kommen. Solange
ganz stolz verkündet, daß er »dies alles der Reichtum sein Gott ist und er ihn zwi-
von« seiner »Jugend an . . . befolgt« ha- schen sich und der Errettung seiner Seele
be. Jesus erklärte ihm, daß ihm »eins« stehen läßt, kann er nicht bekehrt werden.
fehle – Liebe zu seinem Nächsten. Wenn Die einfache Tatsache bleibt bestehen, daß
er wirklich diese Gebote gehalten hätte, nicht viele Reiche gerettet werden, und
dann hätte er all seinen Besitz »verkauft« daß diejenigen, die gerettet werden, erst
und »an die Armen . . . verteilt«. Doch es von Gott zerbrochen werden müssen.

311
Lukas 18

18,26.27 Als die Jünger darüber nach- sein Leiden eine Erfüllung dessen wäre,
dachten, fragten sie sich, »wer dann ge- was »die Propheten« des AT »geschrie-
rettet werden kann«. Für sie war Reich- ben« haben. Mit göttlicher Voraussicht
tum immer ein Zeichen des Segens Gottes prophezeite er ruhig, daß er »den Natio-
gewesen (5. Mose 28,1-8). Wenn ein rei- nen überliefert« würde. »Es war eigent-
cher Jude nicht gerettet werden könne, lich wahrscheinlicher, daß man ihn ins-
wer dann? Der Herr Jesus antwortete, daß geheim ermorden oder in einem Aufruhr
52)
»Gott« tun kann, was der Mensch nicht steinigen würde«. Doch die Propheten
vermag. Mit anderen Worten, Gott kann hatten seinen Verrat vorhergesagt, daß er
einen habsüchtigen, raffgierigen und »verspottet und geschmäht und angespi-
rücksichtslosen Materialisten ergreifen, en werden« würde, und deshalb mußte
ihm seine Liebe zum Gold nehmen und es so kommen. Er sollte gegeißelt und
sie durch echte Liebe zum Herrn ersetzen. getötet werden, doch »am dritten Tag«
Das ist ein Wunder göttlicher Gnade. würde er wieder »auferstehen«.
Und wieder wirft dieser Abschnitt Die noch bleibenden Kapitel entfalten
beunruhigende Fragen für das Kind uns das Drama, das Jesus schon vorher
Gottes auf. Der Diener ist nicht über dem kannte und uns vorausgesagt hat:
Herrn. Der Herr Jesus verließ seine »Wir gehen hinauf nach Jerusalem«
himmlischen Reichtümer, um unsere (18,35-19,45).
schuldigen Seelen zu erretten. Es ist Der Sohn des Menschen »wird den
unpassend, wenn wir in der Welt, in der Nationen überliefert werden« (19,47-
er arm war, reich sind. Der Wert von See- 23,1).
len, »das baldige Kommen Christi« und Er »wird verspottet und geschmäht
die Liebe Christi sollten uns dazu führen, werden« (23,1-32).
jedes irgendwie entbehrliche Gut in das Sie »werden ihn töten« (23,33-56).
Werk des Herrn zu investieren. »Am dritten Tag wird er auferstehen«
18,28-30 Als Petrus den Herrn daran (24,1-12).
erinnert, daß die Jünger ihre Familien 18,34 Erstaunlicherweise »verstan-
und ihre Häuser »verlassen« hatten, um den« die Jünger »nichts von diesen Din-
ihm nachzufolgen, antwortete der Herr, gen«. Die Bedeutung der Worte Jesu
daß solch ein Opfer in diesem Leben »war vor ihnen verborgen«. Es scheint
großzügig belohnt wird, und noch weiter für uns kaum zu verstehen, warum sie in
in der Ewigkeit belohnt werden wird. dieser Angelegenheit so schwer von
Der zweite Teil von Vers 30 (»und in dem Begriff waren, doch der Grund ist wahr-
kommenden Zeitalter ewiges Leben«) scheinlich folgender: Ihre Gedanken
bedeutet nicht, daß man das ewige Leben waren so erfüllt von einem zeitlichen
erlangt, indem man alles verläßt, son- Befreier, durch den sie das Joch Roms
dern bezieht sich auf eine gesteigerte abschütteln konnten und der sofort das
Fähigkeit, die Herrlichkeit des Himmels verheißene Reich aufrichten würde, daß
zu genießen und eine höhere Belohnung sie eine andere Reihenfolge nicht mehr
im himmlischen Reich. Es bedeutet »die verstehen konnten. Wir glauben oft, was
völlige Verwirklichung des Lebens, das wir glauben wollen, und widerstehen der
zur Zeit der Bekehrung erworben wurde, Wahrheit, wenn sie nicht in unsere vorge-
d. h. Leben in seiner Fülle«. faßten Vorstellungen paßt.

K. Jesus sagt nochmals seinen Tod L. Die Heilung eines blinden Bettlers
und seine Auferstehung voraus (18,35-43)
(18,31-34) 18,35-37 Der Herr Jesus hatte nun Peräa
18,31-33 Zum dritten Mal »nahm« Jesus verlassen, indem er den Jordan über-
»die Zwölf zu sich« und sagte ihnen aus- schritten hatte. Lukas gibt an, daß der
führlich voraus, was ihn erwartete folgende Vorfall »geschah, als er Jericho
(s. Kap. 9,22.44). Er sagte voraus, daß nahte«. Matthäus und Markus sagen,

312
Lukas 18 und 19

daß er sich zutrug, als er Jericho verließ Menschen unmöglich ist, ist möglich bei
(Matth 20,29; Mk 10,46). Auch sagt Mat- Gott.« Zachäus war ein reicher Mann
thäus, daß es zwei Blinde waren, bei und normalerweise ist es unmöglich, daß
Markus und Lukas ist es nur einer. Es ist ein Reicher in das Reich Gottes kommt.
möglich, daß Lukas von der neuen Stadt Doch Zachäus demütigte sich vor dem
spricht, während Matthäus und Markus Erlöser und er ließ es nicht mehr zu, daß
sich auf die alte Stadt beziehen. Es ist sein Reichtum zwischen ihm und Gott
auch möglich, daß hier von mehr als stand.
einem Wunder berichtet wird, bei dem 19,1-5 Es geschah, als der Herr »durch
Blinde ihr Augenlicht an diesem Ort wie- Jericho zog«, auf seiner dritten und letz-
dererhielten. ten Reise nach Jerusalem, daß Zachäus
18,38 Auf irgendeine Weise erkannte »Jesus zu sehen suchte«. Das war zweifel-
der Blinde Jesus als Messias, weil er ihn los das Suchen eines Neugierigen.
als »Sohn Davids« anspricht. Er bat den Obwohl er »Oberzöllner« war, schämte er
Herrn, sich seiner zu »erbarmen«, d. h. sich nicht, etwas so Ungewöhnliches zu
ihm das Augenlicht wiederzugeben. tun, wie auf einen Baum zu klettern, um
18,39 Trotz der Versuche, ihn zum den Erlöser zu sehen. Weil er »klein von
Schweigen zu bringen, »schrie« der Blin- Gestalt« war, wußte er, daß er Jesus
de »umso mehr« zum Herrn Jesus. Die anders nicht gut sehen könnte. So »lief er
Menschen waren an einem Bettler nicht voraus und stieg auf einen Maulbeerfei-
interessiert, aber Jesus war es. genbaum«, der an dem Weg stand, den
18,40.41 »Jesus aber blieb stehen.« der Herr nehmen wollte. Diese Glaubens-
Darby kommentiert mit großem Ein- handlung wurde nicht übersehen. Als er
blick: »Josua bat einst die Sonne, am sich näherte, »sah Jesus auf und erblick-
Himmel stillzustehen, doch hier steht auf te« Zachäus. Er befahl ihm, schnell von
Bitten eines blinden Bettlers der Herr der dem Baum zu steigen und lud sich selbst
Sonne, des Mondes und des Himmels in das Haus des Zöllners ein. Das ist der
still.« Auf den Befehl Jesu hin wurde der einzige Bericht, in dem der Herr sich
Bettler zu ihm gebracht. Jesus »fragte selbst in ein Haus eingeladen hat.
ihn«, was er wolle. Ohne Zögern und 19,6 Zachäus tat, wie ihm geheißen
umständliche Umschreibung wiederhol- war, und »nahm ihn auf mit Freuden«.
te der Bettler seine Bitte, daß er wieder Wir können mit einiger Sicherheit seine
»sehend werde«. Sein Gebet war kurz, Bekehrung auf diesen Zeitpunkt datieren.
genau und voll Glauben. 19,7 Die Kritiker des Erlösers »murr-
18,42.43 Jesus erhörte seine Bitte und ten alle« gegen ihn, weil er hinging, »um
»sofort wurde er sehend«. Nicht nur das, bei einem . . . Mann zu herbergen«, der
sondern »er folgte ihm nach und verherr- bekanntermaßen ein Sünder war. Sie
lichte Gott«. Wir können aus diesem Vor- übersahen dabei die Tatsache, daß Jesus,
fall lernen, daß wir wagen sollten zu als er in unsere Welt kam, nur auf Häuser
glauben, daß Gott das Unmögliche tun von Sündern angewiesen war!
kann. Großer Glaube ehrt Gott sehr. Wie 19,8 Die Errettung brachte eine radi-
der Dichter geschrieben hat: kale Veränderung im Leben dieses Zöll-
Du kommst zu einem König, ners mit sich. Er berichtete dem Erlöser,
Du bringst große Bitten mit, daß er nun vorhatte, »die Hälfte« seiner
Denn seine Gnade und Macht sind so »Güter . . . den Armen« zu geben. (Bis zu
beschaffen, diesem Zeitpunkt hatte er versucht, aus
Daß niemand je zu viel bitten kann. den Armen soviel Geld wie nur möglich
John Newton herauszupressen.) Er plante auch, jeden
Betrag »vierfach« zurückzuerstatten, den
M. Die Bekehrung des Zachäus. er auf unehrliche Weise eingenommen
Die Bekehrung des Zachäus führt die hatte. Das war mehr, als das Gesetz ver-
Wahrheit aus Lukas 18,27 vor: »Was bei langte (2. Mose 22,4.6; 3. Mose 5,24;

313
Lukas 19

4. Mose 5,7). Es zeigte, daß Zachäus nun ist gekommen, zu suchen und zu erret-
von der Liebe beherrscht war, statt wie ten, was verloren ist.« Mit anderen Wor-
früher von der Habgier. ten, die Bekehrung des Zachäus war die
Es gab keinen Zweifel, daß Zachäus Erfüllung des Zweckes, zu dem Christus
sich Geld ungerechterweise angeeignet in diese Welt gekommen ist.
hatte. Wuest übersetzt V. 8b: »Und weil
ich . . . durch falsche Anklage genom- N. Das Gleichnis von den
men habe . . .« Es gibt hier kein »wenn«. anvertrauten Pfunden (19,11-27)
Es klingt fast so, als ob sich Zachäus 19,11 Als sich der Erlöser Jerusalem von
seiner guten Werke hier rühmte und auf Jericho aus näherte, dachten viele seiner
sie vertraute, daß sie ihn retteten. Doch Nachfolger, »daß das Reich Gottes
darum geht es hier gar nicht. Er sagte sogleich erscheinen sollte«. Im »Gleich-
53)
damit, daß sein neues Leben in Christus nis« von den anvertrauten Pfunden
dazu führte, daß er sich wünschte, für zerstreute er solche Hoffnungen. Er zeig-
die Vergangenheit Entschädigung zu te, daß es zwischen seinem ersten und
geben, und daß er aus Dankbarkeit zweiten Kommen eine Zeitspanne geben
gegen Gott nun sein Geld zur Ehre Gott- würde, während der seine Jünger für ihn
es und zum Segen seines Nächsten arbeiten sollten.
benutzen wollte. 19,12.13 Das Gleichnis von dem
Vers 8 ist einer der drastischsten Ver- »hochgeborenen Mann« hat eine Paralle-
se zum Thema Entschädigung in der le in der Geschichte: Archelaus. Er wurde
ganzen Bibel. Die Erlösung befreit einen von Herodes gewählt, sein Nachfolger
Menschen nicht davon, Unrecht, das er zu werden, wurde jedoch vom Volk
in der Vergangenheit angerichtet hat, so abgelehnt. Er reiste nach Rom, um seinen
gut es geht wieder zu bereinigen. Schul- Thron bestätigen zu lassen, kehrte zu-
den, die man in der Zeit gemacht hat, als rück, belohnte seine Anhänger und ver-
man noch nicht errettet war, werden nichtete seine Feinde.
durch die neue Geburt nicht hinfällig. Im Gleichnis ist der Herr Jesus selbst
Und wenn man vor der Bekehrung Geld der »hochgeborene Mann«, der in den
gestohlen hat, dann erfordert ein wirkli- Himmel »zog«, um auf die Zeit zu war-
ches Gespür für die Gnade Gottes, daß ten, zu der er »wiederkommen« und sein
man das Geld zurückgibt, nachdem man »Reich« auf Erden aufrichten wird. Die
zu einem Kind Gottes geworden ist. »zehn Knechte« stehen für die Jünger. Er
19,9 Jesus verkündigte schlicht, daß gab jedem von ihnen ein Pfund und be-
dem Haus des Zachäus »Heil widerfah- fahl ihnen, »damit« zu »handeln«, bis er
ren« sei, »weil auch er ein Sohn Abra- »wiederkomme«. Während es Unter-
hams ist«. Er wurde nicht errettet, weil er schiede in den Talenten und Fähigkeiten
von Geburt aus Jude gewesen wäre. Hier der Diener des Herrn gibt (siehe auch das
bedeutet der Ausdruck »Sohn Abra- Gleichnis von den anvertrauten Talenten
hams« mehr als natürliche Verwandt- in Matth 25,14-30), gibt es einiges, das sie
schaft, es bedeutet, daß Zachäus densel- gemeinsam haben, etwa das Vorrecht,
ben Glauben an den Herrn hatte, den das Evangelium weitergeben zu dürfen
auch Abraham hatte. Auch kam die und Christus vor der Welt zu repräsen-
Errettung oder das Heil nicht in das tieren oder das Vorrecht des Gebets. Das
Haus des Zachäus, weil er so viel den Gleichnis spricht zweifellos von diesen
Armen gab oder seine alten Schulden Vorrechten.
wieder gut gemacht hatte (V. 8). Solche 19,14 Die »Bürger« stehen für das
Taten sind Ergebnis der Errettung, aber jüdische Volk. Sie lehnten den Herrscher
nicht ihre Ursache. nicht nur ab, sondern schickten sogar
19,10 Als Antwort an diejenigen, die nach seiner Abreise »eine Gesandtschaft
ihn kritisierten, weil er bei einem Sünder hinter ihm her und ließen sagen: Wir
aß, sagte Jesus: »Der Sohn des Menschen wollen nicht, daß dieser über uns König

314
Lukas 19

sei«. Diese Gesandtschaft könnte für die 19,22 Als Jesus die Worte des »hoch-
Behandlung der Diener Christi wie Step- geborenen Mannes« zitierte, meinte er
hanus und anderer Märtyrer stehen. nicht, daß die Aussage des Knechtes
19,15 Hier sehen wir in einem Vorbild wahr sei. Es war einfach das sündige
(Typus), wie Christus zurückkehrt und Herz des Knechtes, das dem Herrn sei-
sein »Reich« errichtet. Dann wird er mit ne eigene Faulheit anhängen wollte.
denen abrechnen, »denen er das Geld Doch wenn er seine Ausrede wirklich
gegeben hatte«. geglaubt hätte, hätte er danach handeln
Die Gläubigen des gegenwärtigen sollen.
Zeitalters werden beim Richterstuhl 19,23 Vers 23 scheint nahezulegen,
Christi wegen ihres Dienstes beurteilt daß wir entweder alles, was wir haben,
werden. Dieses Gericht findet nach der für das Werk des Herrn verwenden sol-
Entrückung im Himmel statt. len, oder aber es jemandem geben soll-
Der gläubige jüdische Überrest, der ten, der es für Jesus einsetzt.
während der »Großen Trübsal« für Chri- 19,24-26 Das Urteil des »Hochgebore-
stus Zeugnis ablegt, wird bei Christi Wie- nen« über den dritten Knecht lautete,
derkunft beurteilt werden. Das ist das »ihm . . . das Pfund zu nehmen« und es
Gericht, das hier in diesem Abschnitt dem ersten Knecht zu geben, »der die
anscheinend so stark im Blick steht. zehn Pfunde« verdient hatte. Wenn wir
19,16 »Der erste« Knecht hatte mit unsere Gelegenheiten nicht für den
dem einen Pfund »zehn Pfunde hinzuge- Herrn nutzen, werden sie uns genom-
wonnen«. Er war sich bewußt, daß es men. Wenn wir andererseits über Weni-
nicht sein Geld war (»dein Pfund«) und gem treu sind, dann wird Gott darauf
er hatte es so gut er konnte für die Inter- achten, daß uns nie die Mittel fehlen, um
essen seines Herrn eingesetzt. ihm noch mehr zu dienen. Es mag eini-
19,17 Der Herr lobte ihn, daß er »im gen ungerecht erscheinen, daß das Pfund
Geringsten treu« gewesen sei – eine Erin- dem gegeben wurde, der schon zehn hat-
nerung daran, daß wir »unnütze Knech- te, doch es ist ein festes Prinzip im geist-
te« sind, nachdem wir unser Bestes getan lichen Leben, daß diejenigen, die den
haben. Sein Lohn war »Vollmacht über Herrn Jesus lieben und ihm hingegeben
zehn Städte«. Lohn für treuen Dienst ist dienen, immer größere Möglichkeiten
offensichtlich mit Herrschaft in Christi des Dienstes erhalten. Wer die Möglich-
Reich verbunden. Das Ausmaß, in dem keiten jedoch nicht ausschöpft, verliert
ein Jünger herrschen wird, wird von dem sie alle.
Ausmaß seiner Hingabe und Selbstver- Der dritte Knecht verlor seinen Lohn,
leugnung bestimmt. doch keine andere Strafe wird hier
19,18.19 »Der zweite« Knecht hatte erwähnt. Es geht hier offensichtlich nicht
»fünf Pfunde« mit seinem Pfund ver- um seine Erlösung.
dient. Sein Lohn war Vollmacht »über 19,27 Die Bürger, die den »Hochgebo-
fünf Städte«. renen« nicht als Herrscher wollten, wer-
19,20.21 Der dritte »kam« mit nichts den als »Feinde« bezeichnet und zum
als Ausreden. Er brachte das Pfund »in Tode verurteilt. Das war eine traurige
einem Schweißtuch verwahrt«. Er hatte Vorhersage des Schicksals des Volkes,
damit nichts erwirtschaftet. Warum das den Messias abgelehnt hat.
nicht? Er schob die Schuld dafür dem
Herrn zu. Er sagte, daß der Herr »ein X. Der Menschensohn in Jerusalem
strenger Mann« sei, der Gewinn ohne (19,28-21,38)
Investition erwarte. Doch seine eigenen
Worte verurteilten ihn. Wenn er so von A. Der triumphale Einzug (19,28-40)
seinem Herrn dachte, hätte er das Pfund 19,28-34 An diesem Tag war der Sonntag
wenigstens zur Bank tragen und Zinsen vor Jesu Kreuzigung. Jesus näherte sich
damit verdienen können. Jerusalem über den Osthang des Ölber-

315
Lukas 19

ges. »Als er Bethphage und Bethanien aus, die ihre große Gelegenheit verpaßt
nahte, . . . sandte er zwei seiner Jünger« hatte. Wenn die Menschen ihn nur als
in ein »Dorf«, um ein »Fohlen« zu holen, Messias anerkannt hätten, würde das für
auf dem er nach Jerusalem einziehen sie »Frieden« bedeutet haben. Doch sie
wollte. Er sagte seinen Jüngern, wo erkannten nicht, daß Jesus die Quelle
genau sie das Tier finden würden und dieses Friedens war. Jetzt war es zu spät.
was die Besitzer dazu sagen würden. Sie hatten bereits beschlossen, was sie
Nachdem die Jünger ihren Auftrag er- mit dem Menschensohn machen wollten.
klärt hatten, waren die Besitzer ganz Weil sie ihn abgelehnt hatten, waren ihre
bereit, ihr Fohlen Jesus zum Gebrauch zu »Augen« nun verblendet. Weil sie nicht
überlassen. Vielleicht waren sie früher sehen wollten, konnten sie ihn nun nicht
einmal durch den Dienst des Herrn mehr sehen.
gesegnet worden und hatten ihm ange- Man halte hier ein wenig inne, um
boten, ihm Hilfe zu leisten, wann immer über die Tränen unseres Erlösers nachzu-
er sie nötig haben würde. denken. Wie W. H. Griffith Thomas sag-
19,35-38 Die Jünger machten aus te: »Laßt uns zu Christi Füßen sitzen, bis
»ihren Kleidern« einen Sattel für den wir das Geheimnis seiner Tränen kennen
Herrn zurecht. »Sie breiteten ihre Klei- und die Sünden und Leiden der Stadt
der aus auf den Weg« Jesu, als er vom und des Landes wahrnehmen und auch
54)
westlichen Fuß des Ölberges nach Jeru- über sie weinen.«
salem hinaufging. Dann brachen die 19,43.44 Jesus gab nun eine ernstliche
Nachfolger Jesu einmütig in Lobpreis Beschreibung der Eroberung Jerusalems
aus »über alle die Wunderwerke, die durch Titus – wie der römische General
sie« von Jesu Hand »gesehen hatten«. Sie die Stadt »umzingeln«, die Bewohner
priesen ihn als Gottes »König« und san- einschließen, jung und alt erschlagen
gen, daß die Folge seines Kommens und die Mauer und die Gebäude »zu
»Friede im Himmel und Herrlichkeit in Boden werfen« würde. »Nicht ein Stein«
der Höhe« sei. Es ist bedeutsam, daß sie würde »auf dem andern« bleiben. Und
»Friede im Himmel« riefen und nicht alles, weil Jerusalem »die Zeit« seiner
»Friede auf Erden«. Es konnte keinen »Heimsuchung nicht erkannt« hat. Der
Frieden auf Erden geben, weil der Frie- Herr hatte die Stadt mit dem Angebot
densfürst abgelehnt worden war und der Erlösung besucht. Doch die Men-
bald gekreuzigt werden würde. Doch schen wollten ihn nicht. Sie hatten für ihn
würde »Friede im Himmel« sein, weil keinen Platz in ihren Plänen.
Jesus für uns stellvertretend am Kreuz
gestorben ist und nun zur Rechten Gott- C. Die zweite Tempelreinigung
es im Himmel sitzt. (19,45.46)
19,39.40 »Die Pharisäer« störten sich 19,45.46 Jesus hatte zu Beginn seines
daran, daß Jesus so öffentlich geehrt Dienstes »den Tempel« gereinigt
wurde. Sie legten ihm nahe, seine Jünger (Joh 2,14-17). Nun ging sein öffentliches
deswegen zurechtzuweisen. Doch Jesus Wirken schnell seinem Ende entgegen
antwortete, daß solche Ausrufe gar nicht und er betrat den heiligen Bezirk und
verhindert werden konnten. Wenn die trieb diejenigen aus, die das »Bethaus«
Jünger nicht so riefen, dann würden »die zu einer »Räuberhöhle« gemacht hatten.
Steine schreien«. So tadelte der Herr die Die Gefahr, den Materialismus in göttli-
Pharisäer dafür, daß sie härter und unbe- che Angelegenheiten hineinzuholen, ist
weglicher waren als leblose Steine. immer gegeben. Das Christentum heute
ist von diesem Übel durchsäuert: Kir-
B. Der Menschensohn weint über chenbasare und Gesellschaftsabende,
Jerusalem (19,41-44) organisierte Finanzunternehmungen,
19,41.42 Als Jesus sich Jerusalem »näher- Predigen um des Geldes willen – und das
te«, rief er seine Klage über »die Stadt« alles im Namen Jesu.

316
Lukas 19 und 20

Christus zitierte die Schrift (Jes 56,7 und den Messias angenommen, den er
und Jer 7,11) um seine Handlungsweise verkündigte? Doch wenn sie sagten, daß
zu rechtfertigen. Jede Reformation von Johannes nur ein normaler Lehrer war,
Mißbräuchen in der Kirche muß auf dann würden sie sich den Zorn der Mas-
Gottes Wort bauen. se zuziehen, die noch immer Johannes
als »Prophet« ansahen. Deshalb »ant-
D. Tägliche Lehre im Tempel (19,47.48) worteten sie, sie wüßten nicht, woher«
19,47.48 Jesus »lehrte täglich im Tempel« Johannes diese Vollmacht habe. Jesus
– wahrscheinlich jedoch nicht innerhalb, sagte: »So sage auch ich euch nicht, in
sondern in den Vorhöfen, die der Öffent- welcher Vollmacht ich lehre.« Wenn sie
lichkeit zugänglich waren. Die religiösen ihm noch nicht einmal so viel über Johan-
Führer warteten auf einen Grund, »ihn nes sagen konnten, wie konnten sie dann
umzubringen«, doch »das Volk« war die Autorität dessen in Frage stellen, der
noch von dem Wundertäter aus Naza- so viel größer als Johannes war? Dieser
reth ergriffen. Seine Zeit war noch nicht Abschnitt zeigt, daß es sehr wichtig ist,
gekommen. Doch schon bald würde sei- mit dem Heiligen Geist erfüllt zu sein,
ne Stunde schlagen und dann würden wenn man das Wort Gottes lehrt. Wer die
»die Hohenpriester aber und die Schrift- Salbung hat, kann über die Menschen
gelehrten und die« Pharisäer sich zu dem den Sieg davontragen, deren Macht sich
Mord zusammenschließen. auf akademische Grade, menschliche
Es war Montag geworden. Der näch- Titel und menschliche Anerkennung
ste Tag, der Dienstag, der der letzte Tag beschränkt.
seines öffentlichen Lehrens sein sollte, »Wo haben Sie ihren Abschluß
wird in Kapitel 20,1 bis 22,6 beschrieben. gemacht? Wer hat Sie ordiniert?« Diese
alten Fragen werden auch heute noch,
E. Die Vollmacht des Menschensoh- möglicherweise aus Eifersucht, gestellt.
nes wird in Frage gestellt (20,1-8) Der erfolgreiche Prediger, der noch nicht
20,1.2 Welch ein Bild! Der Meister ver- die heiligen Hallen der theologischen
kündigt unermüdlich die Gute Nachricht Fakultät einer bekannten Universität
im Schatten des Tempels, und die Führer oder sonst einer Institution betreten hat,
Israels bezweifeln unverschämt sein wird deshalb in Frage gestellt, ob er fähig
Recht zu lehren. Für sie war Jesus nur der sei und seine Berufung und Ordination
einfache Zimmermann aus Nazareth. Er echt sei.
hatte so gut wie keine Schulbildung, kei-
nen akademischen Grad und keine Beru- F. Das Gleichnis von den bösen Wein-
fung durch eine Religionsgemeinschaft. gärtnern (20,9-18)
Welche Zeugnisse konnte er bringen? 20,9-12 Das ständige Sehnen Gottes nach
Wer gab ihm »diese Vollmacht«, zu leh- dem Volk Israel wird in dem Gleichnis
ren, anderen zu predigen und den Tem- vom »Weinberg« wiedergegeben. Gott ist
pel zu reinigen? Das wollten sie gerne der »Mensch«, der »einen Weinberg«
wissen! (Israel) »an Weingärtner« (die Führer des
20,3-8 Jesus antwortete, indem er Volkes, s. Jes 5,1-7) »verpachtete«. Er
ihnen eine Frage stellte. Wenn sie sie sandte Knechte »zu den Weingärtnern«,
richtig beantwortet hätten, so hätte er um »von der Frucht des Weinbergs«
ihnen auch ihre Frage beantwortet. »War etwas zu erhalten. Diese Knechte waren
die Taufe des Johannes« von Gott die Propheten Gottes wie Jesaja und
bestätigt oder war sie nur in menschli- Johannes der Täufer, die Israel zur Buße
cher Vollmacht geschehen? Damit hatte und zum Glauben rufen wollten. Doch
Jesus sie gefangen. Wenn sie anerkann- Israels Führer verfolgten immer wieder
ten, daß Johannes mit göttlicher Salbung die Propheten.
predigte, warum hatten sie dann nicht 20,13 Schließlich sandte Gott seinen
seiner Botschaft gehorcht, Buße getan »geliebten Sohn«. Er hoffte, daß sie ihn

317
Lukas 20

»scheuen« würden (obwohl Gott natür- Himmel fällt und die Ungläubigen zu
lich wußte, daß Christus abgelehnt wer- Staub »zermalmt«.
den würde). Man beachte, daß Christus
sich von allen anderen unterscheidet. Sie G. Die Frage nach der Steuer
waren Knechte, er ist der Sohn. (20,19-26)
20,14 Getreu ihrer Geschichte be- 20,19.20 »Die Hohenpriester und die
schlossen »die Weingärtner, . . . den Er- Schriftgelehrten« erkannten, daß Jesus
ben« loszuwerden. Sie wollten das aus- »auf sie hin« gesprochen hatte, und des-
schließliche Recht, das Volk zu führen halb waren sie entschlossener denn je,
und zu lehren – »daß das Erbe unser wer- »die Hände an ihn zu legen«. Sie »sand-
de«. Sie wollten ihre religiöse Stellung ten Auflauerer aus«, um ihm eine Falle
nicht an Jesus verlieren. Wenn sie ihn zu stellen, damit er etwas sage, für das er
töteten, wäre ihre Macht in Israel unan- gefangen genommen und vom »Statthal-
fechtbar – so dachten sie. ter« verurteilt würde. Diese »Auflaue-
20,15-17 »Und als sie ihn aus dem rer« lobten ihn zunächst, daß er Gott treu
Weinberg hinausgeworfen hatten, töte- sei, koste es, was es wolle, und daß er
ten sie ihn.« An diesem Punkt fragte nicht auf Menschenmeinung achte – in
Jesus seine jüdischen Zuhörer, was »der der Hoffnung, daß er sich gegen den Kai-
Herr des Weinbergs« wohl mit diesen ser aussprechen würde.
»Weingärtnern« tun werde. In Matthäus 20,21.22 Dann »fragten sie ihn«, ob es
verurteilten die Hohenpriester und Älte- richtig sei, »dem Kaiser Steuer zu geben
sten sich selbst, indem sie antworteten, oder nicht«. Wenn Jesus nein sagte, dann
daß er sie töten werde (Matth 21,41). Hier konnten sie ihn des Hochverrats ankla-
gibt der Herr selbst die Antwort: »Er gen und ihn den Römern zur Verhand-
wird kommen und diese Weingärtner lung übergeben. Wenn er ja sagte, dann
umbringen und den Weinberg anderen würde er sich von den Herodianern tren-
geben.« Das bedeutet, daß die Juden, die nen (und das war in dieser Angelegen-
Christus ablehnten, vernichtet würden, heit die Masse des Volkes).
und daß Gott »anderen« diese Vorrechts- 20,23.24 Jesus erkannte die Falle. Er
stellung einräumen würde. Die »ande- bat sie um einen »Denar«, vielleicht besaß
ren« können die Heiden oder aber das er noch nicht einmal selbst einen. Die Tat-
wiedergeborene Israel der letzten Tage sache, daß sie diese Münzen besaßen und
sein. Die Juden graute vor solch einer verwendeten, zeigte ihre Abhängigkeit
Aussage. »Das sei fern!« riefen sie. Der von einer heidnischen Macht. »Wessen
Herr bestätigte die Vorhersage, indem er Bild und Aufschrift hat er?« wollte Jesus
Psalm 118,22 zitierte. Die jüdischen wissen. Sie gaben zu, daß es Bild und
»Bauleute« hatten Christus, »den Stein, Aufschrift »des Kaisers« seien.
. . . verworfen«. In ihren Plänen war kein 20,25.26 Da brachte Jesus sie mit dem
Platz für ihn. Doch Gott hatte beschlos- Gebot zum Schweigen: »Gebt daher dem
sen, daß er ihm einen ganz bevorrechtig- Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was
ten Platz einräumen wollte, indem er ihn Gottes ist.« Sie waren anscheinend so an
zum »Eckstein« machte, einem Stein, der des Kaisers Sache interessiert, doch Gott-
unersetzbar ist und den höchsten Ehren- es Sache interessierte sie nicht annähernd
platz erhält. so viel. »Das Geld gehört dem Kaiser,
20,18 In Vers 18 werden die beiden und ihr gehört Gott. Gebt der Welt ihre
55)
Kommen Christi erwähnt. Sein erstes Münzen, und gebt Gott seine Geschöp-
Kommen wird als »Stein« dargestellt, der fe.« Es ist so leicht, über Unwichtiges zu
auf dem Boden liegt. Die Menschen stol- streiten, während man die Hauptsache
perten über seine Demut und Niedrig- vergißt. Und es ist so leicht, unserem
keit, und sie wurden »zerschmettert«, als Nächsten unsere Schulden aufzulasten
sie ihn ablehnten. Im zweiten Teil des und Gott dabei seiner rechtmäßigen
Verses sieht man, wie der Stein vom Abgaben zu berauben.

318
Lukas 20

H. Die Sadduzäer und ihr Rätsel über Toten, sowohl die Geretteten als auch die
die Auferstehung (20,27-44) Verlorenen zur gleichen Zeit auferweckt
20,27 Weil der Versuch, Jesus eine politi- werden, findet sich nicht in der Bibel.
sche Falle zu stellen, fehlgeschlagen war, 20,36 Die Überlegenheit des himmli-
»kamen aber einige der Sadduzäer her- schen Zustandes wird in Vers 36 weiter
bei«, und brachten ihm eine theologische ausgeführt. Es wird keinen Tod mehr
Streitfrage. Sie leugneten die Möglich- geben, und in dieser Hinsicht werden die
keit, daß die Leiber der Toten je wieder- Menschen »Engeln gleich« sein. Auch
auferweckt würden, und deshalb ver- werden sie »Söhne Gottes« sein. Die
suchten sie, die Lehre von der »Auferste- Gläubigen sind schon Söhne Gottes,
hung« durch ein extremes Beispiel doch sieht man es nicht. Im Himmel wer-
lächerlich zu machen. den sie sichtbar als Söhne Gottes erschei-
20,28-33 Sie erinnerten Jesus daran, nen. Die Tatsache, daß sie an der ersten
daß nach dem Gesetz des »Mose« ein Auferstehung teilhatten, beweist das.
lediger Mann die Witwe seines Bruders »Wir wissen, daß wir, wenn es offenbar
heiraten solle, um den Namen der Fami- werden wird, ihm gleich sein werden,
lie und das Familieneigentum zu erhal- denn wir werden ihn sehen, wie er ist«
ten (5. Mose 25,5). Eine Frau heiratete (1. Joh 3,2). »Wenn der Christus, unser
nun in dieser Geschichte hintereinander Leben, geoffenbart werden wird, dann
»sieben Brüder«. Als der siebte starb, war werdet auch ihr mit ihm geoffenbart
sie noch immer »kinderlos«. Dann »starb werden in Herrlichkeit« (Kol 3,4).
auch die Frau. In der Auferstehung nun, 20,37.38 Um die Auferstehung zu
wessen Frau von ihnen wird sie sein?« beweisen, zitierte Jesus 2. Mose 3,6, wo
wollten die Schriftgelehrten wissen. Sie »Mose . . . den Herrn« als »den Gott
hielten sich für sehr schlau, daß sie eine Abrahams und den Gott Isaaks und den
Frage gestellt hätten, die man nicht Gott Jakobs« bezeichnet. Wenn nun die
beantworten kann. Sadduzäer einen Augenblick lang nach-
20,34 Jesus antwortete, daß die eheli- gedacht hätten, hätten sie erkannt:
che Beziehung nur für »dieses Leben« 1. Gott »ist nicht der Gott der Toten,
gelte und im Himmel nicht fortgesetzt sondern der Lebenden«;
werde. Er sagte damit nicht, daß sich 2. Abraham, Isaak und Jakob waren tot.
Ehegatten im Himmel nicht mehr erken- Die notwendige Schlußfolgerung lau-
nen würden, doch würde ihr Verhältnis tet, daß Gott sie von den Toten aufer-
dort auf ganz anderen Voraussetzungen wecken muß. Der Herr sagte nicht
beruhen. »Ich war der Gott Abrahams . . .«,
20,35 Der Ausdruck »die würdig sondern »ich bin der Gott Abrahams.
geachtet werden, jener Welt teilhaftig zu Der Charakter Gottes, der ein Gott
sein« bedeutet nicht, daß irgendjemand der Lebenden ist, verlangt notwendig
an sich würdig wäre, in den Himmel zu nach der Auferstehung.
kommen. Die einzige Würdigkeit, die ein 20,39-44 »Einige der Schriftgelehr-
Sünder erlangen kann, ist die Würdigkeit ten« mußten zugeben, daß Jesu Argu-
des Herrn Jesus Christus. »Diejenigen mentation stichhaltig war. Doch Jesus
werden für würdig erachtet, die sich war noch nicht fertig, er zitierte noch-
selbst gerichtet haben, durch Christus mals Gottes Wort. In Psalm 110,1 nannte
gerechtfertigt sind und denen alle Wür- David den Messias seinen »Herrn«. Die
digkeit zukommt, die Christus zu- Juden waren allgemein der Ansicht, daß
kommt.«56) Der Ausdruck »Auferstehung der Messias »Davids Sohn« sei. Wie
aus den Toten« bezieht sich nur auf die konnte er gleichzeitig Davids »Herr« und
Auferstehung der Gläubigen. Er bedeu- Davids »Sohn« sein? Der Herr Jesus
tet wörtlich »Auferstehung aus (gr. ek) selbst war die Antwort auf die Frage. Als
den Toten heraus«. Der Gedanke einer Menschensohn war er ein Nachfahre
allgemeinen Auferstehung, in der die Davids, und doch war er gleichzeitig

319
Lukas 20 und 21

Davids Schöpfer. Doch die Schriftgelehr- Jerusalems im Jahr 70 und dann von den
ten waren zu verblendet, um das zu Bedingungen vor seiner Wiederkunft
erkennen. sprechen. Wir haben hier ein Beispiel für
Prophetie, die sich auf mehrere zukünfti-
I. Warnung vor den Schriftgelehrten ge Ereignisse bezieht. Jesu Vorhersagen
(20,45-47) sollten bald eine teilweise Erfüllung durch
20,45-47 Darauf warnte Jesus die Menge die Eroberung Jerusalems unter Titus fin-
öffentlich »vor den Schriftgelehrten«. Sie den, doch werden sie eine weitergehende
trugen »lange Gewänder« und spiegel- vollständige Erfüllung gegen Ende der
ten damit Frömmigkeit vor. Sie ließen Drangsalszeit finden.
sich gerne mit besonderen Titeln anre- Die Gliederung der Rede ist folgende:
den, wenn sie »auf den Märkten« umher- 1. Jesus sagt die Zerstörung Jerusalems
gingen. Sie versuchten, wichtige Plätze voraus (V. 5.6).
»in den Synagogen und . . . bei den Gast- 2. Die Jünger fragen, wann das gesche-
mählern« zu erhalten. Doch sie beraub- hen würde (V. 7).
ten eine hilflose Witwe der Ersparnisse 3. Jesus gibt zunächst ein allgemeines
ihres Lebens und versuchten, ihre Bos- Bild der Ereignisse, die seiner Wie-
heit mit »langen Gebeten« zu übertün- derkunft unmittelbar vorangehen
chen. Solche Heuchelei würde umso (V. 8-11).
mehr bestraft werden. 4. Dann beschreibt er die Zerstörung
Jerusalems und des Zeitalters danach
J. Das Scherflein der Witwe (21,1-4) (V. 12-24).
21,1-4 Als Jesus beobachtete, wie »die 5. Schließlich berichtet er von den Zei-
Reichen ihre Gaben in den Schatzkasten« chen, die seiner Wiederkunft voraus-
des Tempels legten, war er von dem Kon- gehen würden und ermahnt seine
trast zwischen »den Reichen« und »einer Nachfolger, in Erwartung seiner Wie-
armen Witwe« beeindruckt. Sie gaben derkunft zu leben (V. 25.26).
etwas, aber die Witwe gab alles. Vor Gott 21,5.6 »Als einige« der Menschen die
hat sie »mehr eingelegt als alle«. »Denn Herrlichkeit des herodianischen »Tem-
alle diese haben von ihrem Überfluß ein- pels« priesen, warnte Jesus sie davor, sich
gelegt zu den Gaben; diese aber hat aus zu sehr mit irdischen »Dingen« zu befas-
ihrem Mangel heraus« gegeben. Die Rei- sen, die bald vergehen würden. »Tage«
chen gaben, was sie nichts oder nur sollten kommen, in denen der Tempel
wenig kostete, doch sie gab »den ganzen dem Erdboden gleichgemacht würde.
Lebensunterhalt, den sie hatte«. »Das 21,7 Die Jünger wurden sofort neugie-
Gold des Überflusses, das gegeben wird, rig und wollten wissen, »wann« das ge-
weil es nicht gebraucht wird, wirft Gott schehen würde und »was das Zeichen«
in den Abgrund, doch das Kupfer, das sei, das diesen Ereignissen vorangehe.
mit Blut gebracht wird, nimmt er und Ihre Frage bezog sich zweifellos aus-
57)
küßt es zu Gold für die Ewigkeit.« schließlich auf die Zerstörung Jerusalems.
21,8-11 Die Antwort des Erlösers
K. Skizze der zukünftigen Ereignisse führt sie zunächst zum Ende des Zeital-
(21,5-11) ters, wenn der Tempel vor Aufrichtung
21,5-11 Die Verse 5-33 bilden eine große des Reiches Gottes zerstört werden wird.
prophetische Rede. Obwohl sie der Es würden falsche Messiasse und
Ölbergrede in Matthäus 24 und 25 Gerüchte aufkommen, Kriege und Revo-
ähnelt, ist sie jedoch nicht gleich. Wieder lutionen. Es würde nicht nur zu Konflik-
sollten wir uns daran erinnern, daß die ten zwischen den Völkern kommen, son-
Unterschiede in den Evangelien eine tie- dern auch große Naturkatastrophen
fe Bedeutung haben. geben – »Erdbeben . . . und Hungersnöte
In diesem Abschnitt finden wir den und Seuchen, . . . Schrecknisse und große
Herrn abwechselnd von der Zerstörung Zeichen vom Himmel«.

320
Lukas 21

L. Die Zeit vor dem Ende (21,12-19) Stadt von römischen »Heerscharen um-
21,12-15 Im vorhergehenden Abschnitt zingelt« würde.
hat Jesus die Ereignisse unmittelbar vor Die Christen der frühen Gemeinde – der
dem Ende des Zeitalter beschrieben. Vers des Jahres 70 – hatten ein besonderes Zei-
12 wird eingeleitet mit den Worten: »Vor chen, das der Zerstörung Jerusalems und des
diesem allem aber . . .« Wir glauben des- Tempels vorausgehen sollte. »Wenn ihr aber
halb, daß die Verse 12-24 die Zeitspanne Jerusalem von Heerscharen umzingelt seht,
zwischen dem Halten der Rede und der dann erkennt, daß seine Verwüstung nahe
zukünftigen Drangsalszeit beschreibt. gekommen ist.« Dies sollte ein Zeichen für
Seine Jünger würden verhaftet und ver- die Zerstörung Jerusalems sein, und auf die-
folgt werden und sie würden vor religiö- ses Zeichen hin sollten sie fliehen. Der
se und weltliche Gerichte geschleppt Unglaube mag argumentieren, daß eine
und ins Gefängnis geworfen werden. Es Flucht nicht möglich sei, wenn ein Heer die
mag ihnen wie eine Niederlage erschei- Stadt belagert, doch Gottes Wort irrt nie. Der
nen, doch in Wirklichkeit würde der Römische General zog seine Armee für eine
Herr all dies überwinden, um es »zu kurze Zeit ab, so daß die gläubigen Juden die
einem Zeugnis« für seine Herrlichkeit zu Gelegenheit zur Flucht nutzen konnten. Sie
machen. Sie sollten ihre Verteidigungs- taten das und flohen an einen Ort namens
58)
worte nicht im voraus planen. Wenn die Pella, wo sie bewahrt wurden.
Stunde gekommen wäre, würde Gott Jeder Versuch, wieder in die Stadt zu
ihnen besondere »Weisheit« geben, um gelangen, würde tödlich sein. Die Stadt
so zu sprechen, daß ihre »Widersacher« sollte für ihre Ablehnung des Sohnes
völlig verblüfft wären. Gottes bestraft werden. »Schwangere«
21,16-18 Es wird in den Familien Ver- und »Stillende« würden ganz erheblich
rat geben, unerlöste »Verwandte« wer- im Nachteil sein, weil sie gehindert wur-
den Christen verraten, und »einige« wer- den, dem Gericht Gottes zu entgehen,
den sogar für ihr Zeugnis für Christus das er »über das Land« und »über das
getötet werden. Zwischen Vers 16 »und Volk« verhängt hatte. Viele würden
sie werden einige von euch töten« und erschlagen werden und die Überleben-
Vers 18 »Und nicht ein Haar von eurem den würden als Gefangene in andere
Haupt wird verloren gehen« besteht ein Länder verschleppt werden.
scheinbarer Widerspruch. Das kann nur Der zweite Teil von Vers 24 ist eine
bedeuten, daß zwar einige als Märtyrer bemerkenswerte Prophezeiung: Von die-
für Christus sterben werden, daß sie sem Zeitpunkt an »bis die Zeiten der
jedoch geistlich vollständig bewahrt Nationen erfüllt sein werden« soll Jeru-
werden. Sie werden sterben, jedoch nicht salem der heidnischen Herrschaft unter-
verloren gehen. stehen. Das bedeutet nicht, daß die Juden
21,19 Vers 19 weist darauf hin, daß nicht für kurze Zeit über die Stadt herr-
diejenigen, die geduldig für Christus lei- schen könnten. Der Gedanke hier ist, daß
den, statt ihn zu verleugnen, dadurch die Jerusalem immer wieder heidnischen
Echtheit ihres Glaubens beweisen. Dieje- An- und Übergriffen ausgesetzt sein
nigen, die wirklich errettet sind, werden werde, »bis die Zeiten der Nationen
unter allen Umständen treu und hinge- erfüllt sein werden«.
geben sein. In einer Übersetzung heißt Das NT unterscheidet zwischen dem
es: »Durch euer Ausharren werdet ihr »Reichtum der Nationen«, der »Vollzahl
euer Leben gewinnen.« der Nationen« und den »Zeiten der
Nationen«.
M. Das Schicksal Jerusalems (21,20-24) 1. Der Reichtum der Nationen (Röm
21,20-24 Nun nimmt der Herr eindeutig 11,12) bezieht sich auf die Vorrechts-
das Thema der Zerstörung Jerusalems im stellung, die die Heiden gegenwärtig
Jahr 70 auf. Dieses Ereignis sollte da- genießen, während Israel zeitweilig
durch angekündigt werden, daß die von Gott beiseite gesetzt ist.

321
Lukas 21

2. Die Vollzahl der Nationen (Röm 11,25) auf und hebt eure Häupter empor, weil eure
ist die Zeit der Entrückung, wenn die Erlösung naht.«
heidnische Braut Christi vollendet
sein und von der Erde genommen O. Der Feigenbaum und alle Bäume
und Gott seinen Plan mit Israel fort- (21,29-33)
führen wird. 21,29-31 Ein anderes Zeichen, das die
3. Die Zeiten der Nationen (Lk 21,24) Nähe seiner Wiederkunft anzeigen wird,
begannen mit der babylonischen ist das »Ausschlagen« des »Feigenbaums
Gefangenschaft im Jahr 521 v. Chr., und aller Bäume«. Der »Feigenbaum« ist
und werden bis zu dem Zeitpunkt ein Bild für das Volk Israel. Er wird in der
dauern, an dem die heidnischen letzten Zeit Zeichen neuen Lebens zei-
Nationen nicht länger die Kontrolle gen. Sicherlich ist es nicht ohne Bedeu-
über die Stadt Jerusalem ausüben tung, daß nach Jahrhunderten der Zer-
werden. streuung und der Verborgenheit die
Während aller Jahrhunderte von der Nation Israel im Jahr 1948 wiederge-
Zeit der Worte unseres Erlösers an wurde gründet wurde, und nun als Mitglied der
Jerusalem im großen und ganzen von Völkerfamilie anerkannt ist.
heidnischen Mächten beherrscht. Kaiser Das Ausschlagen der anderen Bäume
Julian der Abtrünnige (331-363) wollte mag das phänomenale Wachstums des
das Christentum in Mißkredit bringen, Nationalismus und die Entstehung neu-
indem er diese Prophezeiung des Herrn er Regierungen in den erst kürzlich ent-
als falsch erwies. Er ermutigte deshalb wickelten Ländern der Welt symbolisie-
die Juden, den Tempel wieder aufzubau- ren. Diese Zeichen bedeuten, daß Christi
en. Sie gingen eifrig ans Werk und herrliches Reich bald aufgerichtet wird.
benutzten in ihrer Eitelkeit sogar silberne 21,32 Jesus sagte, daß »dieses
Schaufeln und trugen die Erde in reinen Geschlecht nicht vergehen wird, bis alles
Schleiern weg. Doch während sie arbeite- geschehen wird«. Wen meinte er jedoch
ten, wurden sie durch ein Erdbeben und mit »diesem Geschlecht«?
Feuerbälle aus der Erde unterbrochen. 1. Einige sind der Ansicht, daß er sich
59)
Sie mußten das Projekt aufgeben. auf die Generation bezog, die zu der
Zeit lebte, als diese Worte gesprochen
N. Die Wiederkunft (21,25-28) wurden, und daß alles erfüllt wurde,
21,25-28 Diese Verse beschreiben die als Jerusalem zerstört wurde. Doch
Naturkatastrophen »auf der Erde«, die dies kann nicht so sein, weil Christus
der Wiederkunft Christi vorangehen noch nicht »in einer Wolke und mit
werden. Es wird Störungen der »Sonne«, Macht und großer Herrlichkeit« wie-
des »Mondes« und der »Sterne« geben, dergekehrt ist.
die auf Erden eindeutig sichtbar sein 2. Andere glauben, daß »diese Genera-
werden. Himmelskörper werden aus tion« die Menschen bezeichnet, die
ihren Umlaufbahnen geworfen. Es leben, wenn diese Zeichen anfangen
könnte sein, daß die Erde von ihrer Dre- werden, und daß diejenigen, die den
hachse geworfen wird. Es wird große Anfang dieser Zeichen sehen, auch
Flutwellen geben, die sich über das Land noch die Wiederkunft Christi erleben
ergießen werden. Panik wird die werden. Alle vorhergesagten Zeichen
Menschheit ergreifen, weil Himmelskör- würden dann innerhalb einer Gene-
per sich auf Kollisionskurs mit der Erde ration geschehen. Das ist eine mögli-
befinden. Doch für die Frommen gibt es che Erklärung.
Hoffnung: 3. Eine andere Möglichkeit ist, daß sich
»Und dann werden sie den Sohn des »dieses Geschlecht« auf die Juden in
Menschen kommen sehen in einer Wolke mit ihrer feindseligen Haltung Christus
Macht und großer Herrlichkeit. Wenn aber gegenüber bezieht. Der Herr wollte
diese Dinge anfangen zu geschehen, so blickt damit sagen, daß das jüdische Volk

322
Lukas 21 und 22

überleben würde, daß es zwar zer- das gesamte Fest. Wenn Lukas in erster
streut, doch nicht zu vernichten sei, Linie für Juden geschrieben hätte, dann
und daß seine Haltung ihm gegenü- wäre es für ihn nicht notwendig gewe-
ber sich nicht verändern würde. Viel- sen, die Verbindung zwischen »dem Fest
leicht sind die Deutungen 2. und 3. der ungesäuerten Brote« und dem »Pas-
beide richtig. sah« zu erwähnen.
21,33 Die Atmosphäre und der Ster- 22,2 »Die Hohenpriester und die
nenhimmel mögen zwar vergehen. Auch Schriftgelehrten« überlegten unaufhör-
die Erde in ihrer gegenwärtigen Form lich, »wie sie« den Herrn Jesus »umbrin-
mag einmal so vergehen. Doch diese Vor- gen könnten«. Doch sie erkannten, daß
hersagen des Herrn Jesus werden nicht sie dabei Aufsehen vermeiden mußten,
unerfüllt bleiben. »denn sie fürchteten das Volk«. Sie wuß-
ten, daß Jesus bei vielen noch immer
P. Ermahnung zur Wachsamkeit und hoch angesehen war.
zum Beten (21,34-38)
21,34.35 In der Zwischenzeit sollten sich B. Der Verrat des Judas (22,3-6)
die Jünger hüten, sich so sehr mit Essen, 22,3 »Aber Satan fuhr in Judas mit Beina-
Trinken und irdischen »Sorgen« zu men Iskariot, der« einer der zwölf Jünger
beschäftigen, daß er »plötzlich« und war. In Johannes 13,27 wird gesagt, daß
unerwartet wiederkomme. So wird er dies stattfand, nachdem Jesus ihm das
jedenfalls für »alle« kommen, deren Hei- Brotstück während des Passahmahles
mat der »Erdboden« ist. gegeben hatte. Wir schlußfolgern, daß
21,36 Wahre Jünger sollten jederzeit diese Inbesitznahme entweder in mehre-
»wachen . . . und beten« und sich so von ren Stufen erfolgte, oder daß Lukas hier
der gottlosen Welt absondern, die dazu mehr die Tatsache beschreibt, als den
bestimmt ist, den Zorn Gottes zu erleben. exakten Zeitpunkt des Geschehens anzu-
Die Jünger sollten sich mit denen identi- geben.
fizieren, die »vor dem Sohn des Men- 22,4-6 Jedenfalls machte Judas ein
schen stehen«. Geschäft »mit den Hohenpriestern und
21,37.38 Jeden Tag lehrte der Herr »in Hauptleuten, d. h. mit den Führern der
dem Tempel«, doch er »übernachtete auf jüdischen Tempelwache. Er hatte sorgfäl-
dem« Ölberg, heimatlos auf der Erde, die tig einen Plan ausgearbeitet, wie er Jesus
er erschaffen hatte. Und jeden Morgen »überliefern« könnte, ohne einen Auf-
kam »das ganze Volk« und versammelte stand zu riskieren. Der Plan war voll-
sich um ihn, »ihn zu hören«. ständig akzeptabel, und sie »kamen
überein, ihm Geld zu geben« – dreißig
XI. Leiden und Sterben des Silberstücke, wie wir an anderer Stelle
Menschensohnes (Kap. 22 und 23) erfahren. So ging Judas weg, um die Ein-
zelheiten seines verräterischen Plans
A. Der Plan zur Ermordung Jesu auszuarbeiten.
(22,1.2)
22,1 »Das Fest der ungesäuerten Brote« C. Vorbereitungen für das Passah
ist hier die Zeit, die mit dem »Passah« (22,7-13)
begann und noch sieben weitere Tage 22,7 Es gibt besondere Probleme im
dauerte, während der kein gesäuertes Zusammenhang mit den verschiedenen
Brot gegessen wurde. Das Passah wurde Zeitspannen, die in diesen Versen
am vierzehnten Tag des Monats Nisan erwähnt werden. »Der Tag der ungesäu-
gefeiert, dem ersten Monat das jüdischen erten Brote« wäre normalerweise der
Jahres. Die Tage vom 15. Tag des Monats dreizehnte Nisan, an dem alles gesäuerte
bis zum einundzwandzigsten waren als Brot aus dem jüdischen Haus hinausge-
»Fest der ungesäuerten Brote« bekannt, tan werden mußte. Doch hier heißt es,
doch in Vers 1 bezieht sich der Name auf daß es der Tag war, »an dem das Passah

323
Lukas 22

geschlachtet werden mußte«, was am herrlichen Befreiung aus Ägypten und


vierzehnten Nisan der Fall war. Leon der Erlösung vom Tod durch das Blut
Morris schlägt gemeinsam mit anderen des fehlerlosen Lammes gefeiert. Wie
Auslegern vor, daß zwei verschiedene lebhaft muß das alles vor den Augen
Kalender für das Passah verwendet wur- unseres Erlösers gestanden haben, als
den, nämlich ein offizieller und einer, der »er sich« mit den Aposteln »zu Tisch leg-
60)
von Jesus und anderen befolgt wurde. te, um dieses Fest ein letztes Mal mit
Wir sind der Auffassung, daß hier die ihnen zu feiern. Er war das wirkliche
Schilderung der Ereignisse des Grün- Passahlamm, dessen Blut bald für alle
donnerstag vorliegt und sich bis Vers 53 vergossen werden sollte, die ihm ver-
erstreckt. trauen.
22,8-10 Der Herr »sandte Petrus und 22,15.16 »Dieses« besondere »Pas-
Johannes« nach Jerusalem, um die Pas- sah« hatte für ihn eine unaussprechliche
sahfeier vorzubereiten. Er zeigte durch Bedeutung, und er »sehnte« sich sehr
seine Anweisungen seine Allwissenheit. danach, ehe er »leiden« mußte. Er würde
»In der Stadt« würde ihnen »ein Mensch das Passah nicht mehr halten, ehe er
begegnen, der einen Krug Wasser trägt«. nicht zur Erde zurückgekehrt wäre und
Das war in einer nahöstlichen Stadt ein sein herrliches »Reich Gottes« errichtet
ungewohnter Anblick, weil normaler- haben würde. Der Ausdruck »Mit Sehn-
weise die Frauen Wasser holen gingen. sucht habe ich mich gesehnt« bedeutet
Der Mann hier ist ein schönes Bild für eine intensive, leidenschaftliche Sehn-
den Heiligen Geist, der suchende Seelen sucht. Diese enthüllenden Worte laden
an den Ort der Begegnung mit dem alle Gläubigen jedes Zeitalters und jedes
Herrn führt. Ortes ein zu überlegen, wie leidenschaft-
22,11-13 Der Herr wußte nicht nur im lich Jesus sich nach Gemeinschaft an sei-
voraus, wo der Mann sich befand und nem Tisch sehnt.
wohin er wollte, sondern er wußte auch, 22,17.18 Als »er einen Kelch nahm«,
daß ein bestimmter Hausbesitzer bereit der ein Teil des Passahrituals war, »dank-
war, seinen »großen, mit Polstern beleg- te« er dafür und gab ihn an die Jünger
ten Obersaal« ihm und seinen Jüngern weiter, und erinnerte sie nochmals, daß
zur Verfügung zu stellen. Vielleicht er »nicht von dem Gewächs des Wein-
kannte dieser Mann den Herrn und hatte stocks trinken werde«, bis er im Tau-
seine ganze Person und seinen Besitz in sendjährigen Reich regieren würde. Die
seinen Dienst gestellt. Es besteht ein Beschreibung des Passahmahles endet
Unterschied zwischen dem »Gastzim- mit Vers 18.
mer« und dem »großen, mit Polstern
belegten Obersaal«. Der großzügige E. Das erste Herrenmahl (22,19-23)
Gastgeber stellte eine bessere Unterkunft 22,19.20 Auf das Passahmahl folgte
zur Verfügung als die Jünger erwartet sofort das Herrenmahl. Der Herr Jesus
hatten. Als Jesus in Bethlehem geboren setzte dieses heilige Gedenkmahl ein,
wurde, war für ihn kein Raum in der damit seine Nachfolger in allen Jahrhun-
Herberge (gr. kataluma). Hier beauftrag- derten sich dadurch an seinen Tod erin-
te er seine Jünger, nach einem »Gastzim- nern sollten. Zuerst gab er den Jüngern
mer« zu fragen (gr. kataluma), doch »Brot«, ein Symbol für seinen »Leib«, der
ihnen wurde besseres gegeben: ein schon bald für sie »gegeben« werden
»großer, mit Polstern belegter Obersaal«. sollte. Dann redete »der Kelch« ausführ-
Alles traf ein wie vorhergesagt, und lich von seinem kostbaren »Blut«, das
so »bereiteten« die Jünger »das Passah«. am Kreuz von Golgatha vergossen wer-
den sollte. Er nannte den Kelch »Kelch
D. Das letzte Passah (22,14-18) des neuen Bundes in« seinem »Blut«, das
22,14 Viele Jahrhunderte lang hatten die für die Seinen »vergossen« werden soll-
Juden das Passah gefeiert und dabei der te. Das bedeutet, daß »der neue Bund«,

324
Lukas 22

den er in erster Linie mit dem Volk Isra- unter sich diskutierten, »wer von ihnen
el geschlossen hatte, durch sein Blut für den Größten zu halten sei«! Der Herr
besiegelt wurde. Die vollkommene Er- Jesus erinnerte sie daran, daß in diesem
füllung des Neuen Bundes wird wäh- Zeitalter wahre Größe den Vorstellungen
rend des Reiches unseres Herrn Jesus der Menschen zuwiderliefe. »Die Könige
Christus auf Erden stattfinden, doch wir der Nationen« waren allgemein als
als Gläubige haben schon heute den »Größen« anerkannt, sie wurden sogar
Nutzen davon. »Wohltäter« genannt. Doch das waren
Man sollte annehmen, daß man nicht nur Titel, in Wirklichkeit waren sie grau-
erwähnen braucht, daß Brot und Wein same Tyrannen. Sie ließen sich zwar gut
»Vorbilder« für seinen Leib und sein Blut nennen, doch ihre Eigenschaften ent-
waren, daß sie stellvertretend für sie stan- sprachen dem in keiner Weise.
den. Sein Leib war zu diesem Zeitpunkt 22,26 So sollte es bei den Jüngern
nicht hingegeben noch sein Blut vergos- nicht sein. Wer groß sein will im Reich
sen worden. Deshalb ist es absurd zu Gottes, sollte die Stellung »des Jüngsten«
meinen, daß die Symbole sich auf wun- einnehmen. Und diejenigen, die über
derbare Weise in den echten Leib und andere herrschen wollen, sollen sich zum
das echte Blut Christi verwandelt hätten. niedrigsten Dienst an den anderen beu-
Den Juden war es verboten, Blut zu gen. Diese revolutionären Anweisungen
essen, und die Jünger wußten deshalb, kehrten die überlieferte Tradition völlig
daß Jesus nicht von leiblichem Blut um, nach der der Jüngere niedriger als
sprach, sondern daß der Wein stellvertre- der Ältere war und die Oberen ihre
tend für sein Blut stand. Macht durch Befehle zeigten.
22,21 Es scheint deutlich zu sein, daß 22,27 Nach der Meinung der Men-
Judas beim letzten Abendmahl anwe- schen war es besser, Gast bei einem Mahl
send war. Doch in Johannes 13 scheint es zu sein, als bei dem Mahl zu dienen.
ebenso deutlich zu sein, daß er den Doch der Herr Jesus kam als Diener der
Raum verließ, nachdem Jesus ihm das Menschen, und alle, die ihm folgen wol-
Stück Brot gegeben hatte. Weil dies vor len, müssen ihn darin nachahmen.
der Einsetzung des Herrenmahles statt- 22,28-30 Es war liebenswürdig vom
fand, glauben viele, daß Judas nicht Herrn, die Jünger dafür zu loben, daß sie
wirklich anwesend war, als Brot und in seinen »Versuchungen« mit ihm »aus-
Wein herumgereicht wurden. geharrt« hätten. Sie hatten gerade unter-
22,22 Die Leiden und der Tod Jesu einander gestritten. Schon bald würden
waren »beschlossen«, doch Judas verriet sie ihn verlassen und fliehen. Und doch
ihn willentlich. Deshalb sagte Jesus: wußte er, daß sie ihn von Herzen liebten
»Wehe aber jenem Menschen, durch den und um seines Namens willen Schande
er überliefert wird!« Obwohl Judas einer erduldet hatten. Ihr Lohn wird es sein,
der Zwölf war, war er doch kein echter »auf Thronen« zu sitzen und »die zwölf
Gläubiger. Stämme Israels zu richten«, wenn Chri-
22,23 Vers 23 enthüllt etwas von der stus wiederkommt, um den Thron
Überraschung und dem Selbstmißtrauen Davids zu übernehmen und über die
der Jünger. Sie wußten nicht, »wer es Erde zu herrschen. So sicher, wie der
wohl von ihnen sein möchte«, der sich Vater Christus dieses Reich versprochen
dieser schlimmen Sache schuldig hat, so sicher werden sie mit ihm über
machen würde. das erneuerte Israel herrschen.

F. Wahre Größe besteht im Dienen G. Jesus kündigt die Verleugnung des


(22,24-30) Petrus an (22,31-34)
22,24.25 Es ist eine schlimme Anklage Nun folgt das letzte von drei dunklen
gegen das menschliche Herz, daß die Kapiteln in der Geschichte der menschli-
Jünger sofort nach dem Herrenmahl chen Treulosigkeit. Das erste war der

325
Lukas 22

Verrat durch Judas, das zweite der selbst- 6. dem Diener des Hohenpriesters
süchtige Eifer der Jünger und nun kom- (Joh 18,26.27) Dieser Mann ist wahr-
men wir zur Feigheit des Petrus. scheinlich keiner der bisher genann-
22,31.32 Die Wiederholung »Simon, ten, weil er sagte: »Sah ich dich nicht
Simon« spricht von der Liebe und Güte im Garten mit ihm?« (V. 26).
des Herzens Christi für seinen schwan-
kenden Jünger. »Satan« hatte alle Jünger H. Die neue Marschordnung (22,35-38)
»begehrt«, sie »zu sichten wie den Wei- 22,35 Früher einmal hat der Herr die Jün-
zen«. Jesus sprach Petrus als Vertreter ger »ohne Börse und Tasche und Sanda-
aller Jünger an. Doch der Herr hatte für len« ausgesandt« – nur mit dem absolu-
Simon »gebetet«, daß sein »Glaube« ten Minimum. Das Allernötigste sollte
nicht Schaden erleide. (»Ich aber habe für für sie reichen. Und so war es auch gewe-
dich gebetet« sind ungeheuerliche Wor- sen. Sie mußten bekennen, daß ihnen
te.) Nachdem Petrus zu Jesus »zurückge- »nichts« gefehlt habe.
kehrt« sein würde, sollte er seine »Brüder 22,36 Doch nun würde er sie bald ver-
stärken«. Dieses Zurückkehren bedeutet lassen, und sie mußten in eine neue Pha-
nicht das zurückkehren zur Errettung, se des Dienstes für ihn eintreten. Sie wür-
sondern die Wiederherstellung, nach- den Armut, Hunger und Gefahren aus-
dem er vom Glaubensweg abgewichen gesetzt sein, und es würde notwendig
ist. werden, für ihre laufenden Bedürfnisse
22,33.34 Mit unangemessenem Vorsorge zu tragen. Nun sollten sie »eine
Selbstvertrauen verkündigte Petrus, daß Börse, . . . eine Tasche« mitnehmen, und
er »bereit« sei, Jesus »ins Gefängnis und wenn sie kein »Schwert« hätten, sollten
in den Tod« zu folgen. Doch Jesus mußte sie ihr »Kleid« verkaufen und »ein
ihm sagen, daß er, noch ehe der Morgen Schwert« dafür kaufen. Was meinte der
grauen würde, »dreimal geleugnet« Retter, als er den Jüngern befahl, »ein
haben werde, daß er den Herrn auch nur Schwert zu kaufen?« Es ist eindeutig,
kenne! daß er nicht gemeint haben kann, daß die
In Markus 14,30 wird der Herr Jünger das Schwert als Angriffswaffe
zitiert, daß er gesagt habe, daß Petrus gegen andere Menschen einsetzen soll-
ihn dreimal verleugnen würde, ehe der ten. Das wäre eine Verletzung seiner Leh-
Hahn zweimal krähte. In Matthäus ren in solchen Abschnitten wie:
26,34, Lukas 22,34 und Johannes 13,38 »Mein Reich ist nicht von dieser Welt;
sagt der Herr, daß Petrus ihn dreimal wenn mein Reich von dieser Welt wäre,
verraten würde, ehe der Hahn kräht. Es so hätten meine Diener gekämpft«
ist zugegebenermaßen schwierig, die- (Joh 18,36).
sen scheinbaren Widerspruch aufzulö- »Denn alle, die das Schwert nehmen,
sen. Es ist möglich, daß mehr als ein werden durchs Schwert umkommen«
Hahn kräht, einer in der Nacht und (Matth 26,52).
einer in der Dämmerung. Auch sollte »Liebt eure Feinde (Matth 5,44).
man beachten, daß die Evangelien min- »Wenn jemand dich auf deine rechte
destens sechs verschiedene Leugnun- Backe schlagen wird, dem biete auch die
gen durch Petrus berichten. Petrus ver- andere dar« (Matth 5,39; s. a. 2. Kor 10,4).
leugnete Jesus vor Was meinte also Jesus mit Schwert?
1. einer jungen Frau (Matth 26,69.70; 1. Einige sind der Meinung, daß er das
Mk 14,66-68), Schwert des Geistes meinte, welches
2. einer anderen jungen Frau (Matth das Wort Gottes ist (Eph 6,17). Das ist
26,71.72), möglich, doch müßte man dann die
3. der Menge, die dabei stand (Matth Börse, die Tasche und das Kleid eben-
26,73.74; Mk 14,70.71), falls geistlich deuten.
4. einem Mann (Lk 22,58), 2. Williams ist der Ansicht, daß das
5. einem anderen Mann (Lk 22,59.60), Schwert für den Schutz einer ordent-

326
Lukas 22

lichen Regierung steht und verweist 22,41.42 Dann verließ Jesus die Jün-
auf Römer 13,4, wo das Schwert für ger, ging weiter in den Garten hinein und
die Macht der Verwaltung steht. »betete« allein. Er betete, daß der »Vater
3. Lange sagt, daß das Schwert zur Ver- . . . diesen Kelch« doch an ihm vorüber-
teidigung gegen menschliche Feinde gehen lassen möge, wenn er es wolle.
bestimmt war, jedoch nicht zum »Doch« war ihm wichtig, daß nicht sein
Angriff. Doch Matthäus 5,39 scheint Wille, sondern seines Vaters Wille »ge-
den Gebrauch des Schwertes auszu- schehe«. Wir meinen, daß dieses Gebet
schließen, selbst zur Verteidigung. folgendes bedeutet: »Wenn es irgendei-
4. Einige Ausleger sind der Ansicht, nen anderen Weg gibt, auf dem Sünder
daß das Schwert nur zur Verteidi- errettet werden können, als daß ich ans
gung gegen wilde Tiere gedacht war. Kreuz gehen muß, dann offenbare ihn
Das ist durchaus möglich. jetzt.« Die Himmel schwiegen, weil es
22,37 Vers 37 erklärt, warum es not- keinen anderen Weg gab.
wendig geworden war, daß die Jünger Wir glauben nicht, daß die Leiden
nun eine Börse, eine Tasche und ein Christi im Garten Gethsemane Teil seines
Schwert mitnehmen sollten. Der Herr Sühnewerkes waren. Das Erlösungswerk
war bis zu diesem Zeitpunkt bei ihnen wurde während der drei Stunden der
gewesen und sorgte für ihre zeitlichen Finsternis am Kreuz vollendet. Doch
Bedürfnisse. Schon bald würde er jedoch Gethsemane war ein Vorgeschmack auf
von ihnen gehen, um die Prophezeiung Golgatha. Dort verursachte der bloße
von Jesaja 53,12 zu erfüllen. Seine Aufga- Gedanke daran, unsere Sünden aufgela-
be war »vollendet«, daß heißt, sein irdi- den zu bekommen, dem Herrn Jesus die
sches Leben und sein irdischer Dienst schlimmsten Leiden.
würden schließen, indem er »unter die 22,43.44 Seine vollkommene
Gesetzlosen gerechnet« würde. Menschlichkeit sehen wir in seinem Rin-
22,38 Die Jünger mißverstanden den gen, das sein Gebet begleitete. »Es
Herrn vollständig. Sie zeigten ihm »zwei erschien ihm aber ein Engel vom Him-
Schwerter«, und meinten, daß sie damit mel, der ihn stärkte.« Nur Lukas berich-
für alle kommenden Schwierigkeiten ge- tet diese Tatsache, ebenso wie die Tatsa-
rüstet wären. Der Herr Jesus beendete che, daß »sein Schweiß wie große Bluts-
das Gespräch, indem er sagte: »Es ist ge- tropfen, die auf die Erde herabfielen«,
nug.« Sie dachten offensichtlich, daß sie wurde. Diese letzte Einzelheit mußte
den Versuch seiner Feinde ihn umzubrin- den aufmerksamen Arzt Lukas natürlich
gen mit Schwertern verhindern könnten. interessieren.
Doch nichts lag ihm ferner! 22,45.46 Als Jesus zu seinen Jüngern
zurückkam, sah er, daß sie »eingeschla-
I. Gethsemane (22,39-46) fen« waren, nicht jedoch aus Gleichgül-
22,39 Der Garten Gethsemane lag am tigkeit, sondern vor Erschöpfung durch
Westhang des »Ölberges«. Jesus ging Trauer. Und wieder mahnte Jesus sie,
dort oft zum Beten hin, und die »Jünger« aufzustehen und zu beten, denn seine
einschließlich des Verräters wußten das. Stunde war gekommen und sie würden
22,40 Nach Schluß des Herrenmahls versucht sein, ihn vor den Behörden zu
verließen Jesus und seine Jünger das verleugnen.
Obergemach und gingen in diesen Gar-
ten. Dort angekommen forderte Jesus sie J. Jesus wird verraten und gefangen
auf, daß sie »beten« sollten, damit sie genommen (22,47-53)
nicht »in Versuchung« fielen. Vielleicht 22,47.48 Nun war Judas mit einer Grup-
dachte Jesus an die besondere »Versu- pe von Ältesten und Hauptleuten der
chung«, Gott und seinen Christus zu ver- Tempelwache und den Hohenpriester
lassen, wenn Feinde auf sie eindringen gekommen, um den Herrn festzuneh-
würden. men. Auf eine Vereinbarung hin sollte

327
Lukas 22

der Verräter Jesus durch einen Kuß Eine »Magd« sah zu Petrus hinüber und
bezeichnen. Stewart kommentiert: rief, daß er einer der Nachfolger Jesu sei.
Das war die Krönung des Schreckens die- Erbärmlicherweise »leugnete« Petrus,
ser Stunde, die letzte Schändlichkeit, über die daß er ihn kenne.
menschliche Schändlichkeit nicht mehr hin- 22,58-62 Kurz darauf zeigte jemand
ausgehen kann, als Judas dort im Garten sei- anders mit anklagendem Finger auf
nen Meister verriet, nicht mit einem Schrei, Petrus, daß er einer der Nachfolger des
einem Schlag oder einem Stoß, sondern mit Jesus von Nazareth sei. Wieder leugnete
61)
einem Kuß. Petrus. »Nach Verlauf von etwa einer
Mit unendlicher Ergriffenheit fragte Stunde« erkannte jemand anders Petrus
Jesus: »Judas, überlieferst du den Sohn als Galiläer, der auch ein Jünger Jesu sei.
des Menschen mit einem Kuß?« Petrus behauptete nicht zu wissen,
22,49-51 Die Jünger erkannten, »was wovon der Mann sprach. Doch diesmal
es werden würde«, und waren zum wurde seine Leugnung durch das
Angriff bereit. »Einer von ihnen«, um Krähen eines »Hahnes« beendet. In die-
genau zu sein, Petrus, nahm ein Schwert sem dunklen Augenblick »wandte sich
und »schlug den Knecht des Hohenprie- der Herr um und blickte Petrus an; und
sters und hieb ihm das rechte Ohr ab«. Petrus« erinnerte sich an die Vorhersa-
Jesus wies ihn dafür zurecht, daß er ge, daß er, ehe der Hahn krähen würde,
fleischliche Mittel benutzt habe, um ihn »dreimal verleugnen« werde. Der
einen geistlichen Kampf zu führen. Seine Blick des Sohnes Gottes sandte Petrus
Stunde war gekommen und Gottes Pläne hinaus in die Nacht, wo er »bitterlich
mußten durchgeführt werden. Gütiger- weinte«.
weise »rührte« Jesus das »Ohr« des Man-
nes an »und heilte ihn«. L. Die Soldaten verspotten den
22,52.53 Jesus wandte sich nun an die Menschensohn (22,63-65)
jüdischen Führer und Hauptleute und 22,63-65 Es waren die Offiziere gewesen,
fragte sie, warum sie »ausgezogen« sei- die dem heiligen Tempel zu Jerusalem
en, als ob er ein flüchtiger »Räuber« sei. zugeteilt worden waren, die Jesus gefan-
Hatte er nicht täglich »im Tempel« gengenommen hatten. Nun begannen
gelehrt? Warum hatten sie nicht ver- diese Männer, die dazu bestimmt waren,
sucht, ihn dort zu greifen? Doch er kann- das heilige Haus Gottes zu bewachen,
te die Antwort: »Dies« war ihre »Stunde, Jesus zu »verspotten« und ihn zu »schla-
und die Macht der Finsternis«. Es war gen«. Nachdem sie ihm das Gesicht »ver-
nun etwa Mitternacht zwischen Grün- hüllt« hatten, »fragten sie ihn und spra-
donnerstag und Karfreitag. chen: Weissage, wer ist es, der dich
Anscheinend fand der Prozeß un- schlug?« Das war noch nicht alles, doch
seres Herrn in drei Phasen statt. Zu- Jesus ertrug geduldig diesen Wider-
nächst führte man ihn vor Hannas, dann spruch der Sünder gegen sich.
vor Kaiphas und schließlich noch vor
den Sanhedrin. Die folgenden Ereignis- M. Die morgendliche Verhandlung vor
se bis Vers 65 fanden etwa zwischen ein dem Sanhedrin (22,66-71)
und fünf Uhr morgens am Karfreitag 22,66-69 Als es dämmerte (zwischen fünf
statt. und sechs Uhr morgens), »führte
ihn . . . die Ältestenschaft des Volkes . . .
K. Petrus verleugnet Jesus und weint in ihren Hohen Rat« oder den Sanhe-
bitterlich (22,54-62) drin. Die Mitglieder des Sanhedrin frag-
22,54-57 Als der Herr »in das Haus des ten ihn ohne Umschweife, ob er der Mes-
Hohenpriesters« gebracht wurde, »folgte sias sei. Jesus antwortete ihnen prak-
Petrus von fern«. Drinnen nahm er sei- tisch, daß es nutzlos sei, mit ihnen zu
nen Platz bei denen ein, die sich an einem diskutieren. Sie waren nicht offen, die
»Feuer . . . mitten im Hof« wärmten. Wahrheit anzunehmen. Doch er warnte

328
Lukas 22 und 23

sie, daß derjenige, der vor ihnen in von Galiläa bis« nach Jerusalem. »Als
Erniedrigung stände, eines Tages »zur aber Pilatus« das Wort »Galiläa hörte«,
Rechten der Macht Gottes« sitzen werde dachte er, er habe einen Ausweg gefun-
(s. Ps 110,1). den. Galiläa gehörte zum »Machtbereich
22,70.71 Dann fragten sie ihn einfach, des Herodes«, und deshalb versuchte
ob er der »Sohn Gottes« sei. Für sie war Pilatus zu verhindern, weiter in diesen
ein »Sohn Gottes« Gott selbst gleich. Der Fall verwickelt zu werden, indem er
Herr Jesus antwortete: »Ihr sagt, daß ich Jesus Herodes übergab. Es hatte sich
es bin« (vgl. Mk 14,62). Das war alles, ergeben, daß Herodes »in jenen Tagen«
was sie brauchten. Hatten sie nicht Jerusalem besuchte.
»gehört«, wie er lästerte, indem er Herodes Antipas war der Sohn von
behauptete, Gott gleich zu sein? Weiteres Herodes dem Großen, der den Kinder-
»Zeugnis« war nicht mehr nötig. Doch mord in Bethlehem befohlen hatte. Anti-
gab es noch ein Problem. Nach ihrem pas hatte Johannes den Täufer ermordet,
Gesetz stand auf Lästerung die Todes- weil der seine illegale Verbindung zur
strafe. Doch die Juden standen unter Frau seines Bruders gebrandmarkt hatte.
römischer Herrschaft und sie durften die Derselbe Herodes war von Jesus auch
Todesstrafe nicht vollstrecken. Deshalb »dieser Fuchs« genannt worden
mußten sie Jesus vor Pilatus führen, und (Lk 13,32).
er war am wenigsten an einer religiösen
Klage wegen Blasphemie interessiert. So O. Die geringschätzige Befragung
mußten sie auch eine politische Klage durch Herodes (23,8-12)
gegen ihn finden. 23,8 Herodes »freute sich« ziemlich, daß
Jesus vor ihn geführt wurde. Er hatte
N. Jesus vor Pilatus (23,1-7) »vieles über ihn gehört«, und »seit langer
23,1.2 Nachdem er vor dem Sanhedrin Zeit . . . wünschte er sich, ihn zu sehen,
erschienen war (der »ganzen Menge der- weil er . . . irgend ein Zeichen« von ihm
selben«), wurde Jesus eilig weggeführt, erhoffte.
damit die zivile Verhandlung vor »Pila- 23,9-11 Doch so sehr Herodes den
tus«, dem römischen Statthalter, erfolgen Erlöser »befragen« mochte, er bekam
könne. Drei politische Anklagen wurden keine Antwort. Die Juden wurden
von den religiösen Führern gegen ihn immer heftiger in ihren Anschuldigun-
vorgebracht. Als erstes klagten sie ihn gen, doch Jesus öffnete seinen Mund
an, die »Nation zu verführen«, d. h. die nicht. Alles, was Herodes seiner Mei-
Loyalität der Untertanen gegenüber nung nach tun konnte, war, seinen Sol-
Rom zu untergraben. Zweitens behaup- daten zu erlauben, Jesus zu »verspot-
teten sie, daß er den Juden »wehre, dem ten«, indem er ihn in »ein glänzendes
Kaiser Steuer zu geben«. und die dritte Gewand« kleidete und ihn »zu Pilatus«
Anklage lautete, daß er sich selbst zum zurückschickte.
»König« mache. 23,12 »Vorher« hatte zwischen »Pila-
23,3-7 Als Pilatus Jesus »fragte«, ob er tus und Herodes« eine »Feindschaft«
»der König der Juden« sei, antwortete bestanden, doch nun verwandelte sie
Jesus, daß dies so sei. Für Pilatus war sich in Freundschaft. Sie beide standen
sein Anspruch jedoch keinesfalls eine auf der gleichen Seite gegen Jesus, und
Gefahr für den römischen Kaiser. Nach- das verband sie. Theophylactus klagt in
dem er Jesus privat verhört hatte dieser Hinsicht: »Es ist eine Schande für
(Joh 18,33-38a) wandte er sich »zu den Christen, daß es dem Teufel gelingt, böse
Hohenpriestern und den Volksmengen« Menschen zu überreden, ihre Feind-
und sagte: »Ich finde keine Schuld an schaft zu begraben, um Böses zu tun,
diesem Menschen.« Die Menge beharrte aber Christen ihre Freundschaft nicht
aber auf ihrer Forderung und klagten einmal aufrecht erhalten können, um
Jesus der Aufwiegelei an, »angefangen Gutes zu tun.«

329
Lukas 23

P. Der Urteilsspruch des Pilatus: daß seine zwei Söhne später bekannte
Unschuldig, doch trotzdem Christen wurden (Mk 15,21).
verurteilt (23,13-25) 23,27-30 Eine Menge teilnahmsvoller
23,13-17 Weil Pilatus es versäumt hatte, Nachfolger weinte über Jesus, als er weg-
seinen königlichen Gefangenen selbst zu geführt wurde. Jesus sprach die Frauen
richten, fand er sich nun in einer Falle. Er in der Menge als »Töchter Jerusalems«
berief eilig eine Versammlung jüdischer an. Sie sollten nicht um ihn, sondern um
Führer ein und erklärte ihnen, daß weder sich selbst trauern. Er bezog sich damit
er noch Herodes in der Lage waren, auf die schreckliche Zerstörung, die über
irgendeinen Beweis für staatszersetzen- Jerusalem im Jahre 70 kommen sollte.
de Umtriebe Jesu zu finden. »Siehe, Die Leiden dieser Tage würden so
nichts Todeswürdiges ist von ihm ge- schrecklich werden, daß »Unfruchtbare«,
tan.« Deshalb schlug er vor, unseren die bis dahin verachtet wurden, nun für
Herrn geißeln zu lassen und dann freizu- besonders glücklich gehalten würden.
geben. Wie Stewart deutlich macht: Die Schrecken der Belagerung durch
Dieser bedauernswerte Kompromiß war Titus würden so schlimm werden, daß
natürlich weder legal noch logisch. Er war die Menschen sich wünschen würden,
der Versuch einer armen, von Furcht geplag- daß »die Berge« auf sie »fallen« und die
ten Seele, an Jesus seine Pflicht zu tun und »Hügel« sie »bedecken«.
gleichzeitig die Menge zu befriedigen. Doch 23,31 Dann fügte der Herr Jesus noch
dieser Kompromiß erfüllte weder die eine die Worte an: »Denn wenn man dies tut
noch die andere Aufgabe, und es ist kein an dem grünen Holz, was wird an dem
Wunder, daß die aufgebrachten Priester die- dürren geschehen?« Er selbst war dieser
ses Urteil um keinen Preis akzeptieren woll- »grüne« Baum, das ungläubige Israel der
ten.
62) »dürre«. Wenn die Römer solche Schan-
23,18-23 Die Hohenpriester und de und solches Leid über den sündlosen
Obersten waren erregt. Sie verlangten unschuldigen Sohn Gottes brächten, wel-
Jesu Tod und die Freilassung von Barra- che schreckliche Strafe würde die schul-
bas, einem bekannten Kriminellen, der digen Mörder des Sohnes Gottes ereilen?
»wegen eines Aufruhrs . . . und wegen
R. Die Kreuzigung (23,33-38)
eines Mordes ins Gefängnis geworfen«
worden war. Und wieder versuchte Pila- 23,33 Der Ort der Hinrichtung wurde
tus schwach, den Herrn zu entlasten, »Schädelstätte genannt«. Vielleicht äh-
doch die böse Forderung der Menge ließ nelte der Ort einem Schädel, oder der
ihn wieder wanken. Ganz gleich, was er Platz wurde so genannt, weil es eine Hin-
sagte, sie »forderten« den Tod des Sohnes richtungsstätte war, und der Schädel oft
Gottes. als Symbol für den Tod verwendet wird.
23,24.25 Und obwohl er schon Jesus Die Zurückhaltung der Schrift bei der
für unschuldig erklärt hatte, verurteilte Beschreibung der Kreuzigung ist beach-
er ihn nun zum Tode, um dem Volk einen tenswert. Man hält sich nicht bei den
Gefallen zu tun. Gleichzeitig »gab er« schrecklichen Einzelheiten auf. Wir ha-
Barrabas »los«. ben nur die einfache Feststellung: »Sie
kreuzigten ihn dort.« Und wieder be-
merkt Stewart treffend:
Q. Der Menschensohn wird nach Daß der Messias sterben sollte, war
Golgatha geführt (23,26-32) schon schwer anzunehmen, doch daß er solch
23,26 Es war nun etwa 9 Uhr morgens am eines Todes sterben sollte, ging über jedes
Karfreitag. auf dem Weg zum Ort der Vorstellungsvermögen hinaus. Und doch
Kreuzigung befahlen die Soldaten einem war es so. Alles, was Christus berührte,
»gewissen Simon von Kyrene«, das einschließlich des Kreuzes, schmückte und
Kreuz zu tragen. Wir wissen nicht viel verwandelte er und bedachte es mit Schönheit
von diesem Mann, doch es scheint so, und Glanz, doch wir sollten nie vergessen,

330
Lukas 23

aus welchen schrecklichen Tiefen er das weise – immer ein Symbol dafür gesehen, daß
63)
Kreuz erhoben hat. Christus über alles Herr ist. Denn es waren
O lehre mich, was es bedeutet, die drei großen Weltsprachen, deren jede
Dieses Kreuz, das hoch erhoben wurde, einer bestimmten Idee zu dienen hatte. Grie-
An dem der Eine hing, der Mann der chisch war die Sprache der Kultur und des
Schmerzen Wissens, und in diesem Bereich, sagte die
und verurteilt war, zu bluten und zu Aufschrift, ist Jesus der König! Latein war
sterben. die Sprache der Verwaltung und des Geset-
Lucy A. Bennet
zes; und auch hier ist Jesus König! Hebräisch
Es gab auf Golgatha an diesem Tage war die Sprache der offenbarten Religion;
drei Kreuze. Das Kreuz Jesu stand in der und auch hier ist Jesus König! Daher stimm-
Mitte, und auf jeder Seite stand das te selbst zu dem Zeitpunkt, als er sterbend am
Kreuz eines Verbrechers. Damit erfüllte Kreuz hing, die Aussage, daß »auf seinem
65)
sich Jesaja 53,12: »Er ließ sich zu den Ver- Haupt viele Kronen« (LU 84) sind.
brechern zählen.«
23,34 Mit unendlicher Liebe und S. Die beiden Räuber (23,39-41)
Gnade rief Jesus vom Kreuz her: »Vater, 23,39-41 Wir erfahren aus den Erzählun-
vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was gen der anderen Evangelien, daß beide
sie tun!« Wer weiß, welch ein Wasserfall Räuber Jesus zunächst lästerten. Wenn er
göttlichen Zorns durch dieses Gebet der Christus war, warum »rettete« er sie
abgehalten wurde! Morgan kommentiert dann nicht alle? Doch dann änderte einer
die Liebe des Erlösers: der beiden seine Meinung. Er wandte
Die Seele Jesu kannte keinen Groll, kei- sich an seinen Genossen und »strafte
nen Ärger, keinen Rachedurst nach Bestra- ihn« für seine Respektlosigkeit. Schließ-
fung der Menschen, die ihn mißhandelten. lich litten sie beide für Verbrechen, die sie
Die Menschen haben voller Bewunderung begangen hatten. Sie hatten ihre Strafe
von der gepanzerten Faust des Imperialismus verdient. Doch »dieser« an dem mittle-
gesprochen. Wenn ich jedoch Jesus so beten ren Kreuz hatte »nichts Ungeziemendes
höre, dann weiß ich, daß der einzige Ort für getan«.
64)
die gepanzerte Faust in der Hölle ist. 23,42 Er wandte sich an Jesus und bat
66)
Dann teilten die Soldaten »seine Klei- den »Herrn« (LU 1912), seiner zu »ge-
der« unter sich auf und »warfen das Los« denken«, wenn er wiederkehren und
über seinen ungenähten Rock. sein »Reich« auf Erden gründen würde.
23,35-38 »Die Obersten« standen am Solch ein Glaube ist bemerkenswert. Der
Kreuz, verspotteten ihn und forderten sterbende Verbrecher glaubte, daß Jesus
ihn heraus, daß er »sich selbst retten« von den Toten auferstehen und einmal
möge, wenn er wirklich der Messias, die Welt regieren würde.
»der Auserwählte Gottes« sei. »Auch die 23,43 Jesus belohnte seinen Glauben
Soldaten verspotteten ihn, indem sie ihm mit der Verheißung, daß sie beide noch
Essig brachten« und seine Fähigkeit anz- an diesem Tage gemeinsam »im Para-
weifelten, sich selbst zu »retten«. Und sie dies« sein würden. Das »Paradies« ent-
nagelten auch eine Aufschrift oben an spricht dem dritten Himmel (2. Kor
das Kreuz: 12,2.4) und bedeutet den Aufenthaltsort
DIESER IST DER KÖNIG DER JUDEN. Gottes. »Heute« – welch eine Geschwin-
Und wieder zitieren wir Stewart: digkeit! »Mit mir« – welch eine Beglei-
Wir können die Bedeutung der Tatsache, tung! »Im Paradies« – Welch eine Freude!
daß die Aufschrift in drei Sprachen, nämlich Charles R. Erdman schreibt:
Griechisch, Lateinisch und Hebräisch, ausge- Die Geschichte enthüllt uns die Wahr-
führt war, nicht mißverstehen. Zweifellos heit, daß die Erlösung von Buße und Glauben
geschah das, damit sicher war, daß jeder in abhängt. Doch sie enthält auch noch andere
der Volksmenge es lesen könnte, doch die wichtige Aussagen. Sie erklärt, daß die Erlö-
Gemeinde Christi hat darin – rechtmäßiger- sung unabhängig von Sakramenten ist. Der

331
Lukas 23

Dieb ist nie getauft worden, noch konnte er 23,46.47 Während dieser drei Stun-
am Abendmahl teilnehmen. . . . Er bekannte den der Finsternis trug Jesus die Strafe
mutig seinen Glauben vor einer feindlichen für unsere Sünden am Kreuz. Gegen
Menschenmenge und inmitten der Spöttelei- Ende dieser Zeit »übergab« er seinen
en und schadenfreudigen Bemerkungen der Geist in die »Hände« Gottes, des
Oberen und Soldaten, doch wurde er ohne »Vaters«, und übergab ihm willentlich
jeden formellen Ritus errettet. Auch zeigt die sein Leben. Ein römischer »Hauptmann«
Geschichte, daß die Errettung ohne gute war von der Szene so überwältigt, daß er
Werke geschieht. . . . Auch zeigt sie, daß es »Gott verherrlichte und sagte: Wirklich,
den sogenannten »Seelenschlaf« nicht gibt. dieser Mensch war gerecht«.
Die Leiber der Menschen mögen schlafen, 23,48.49 »Die ganzen Volksmengen«,
doch das Bewußtsein bleibt nach dem Tode wurden von einem schrecklichen Gefühl
wach. Und wieder wird deutlich, daß es kein des Leides und böser Vorahnung bewegt.
»Fegefeuer« gibt. Aus einem Leben voll Einige der treuen Nachfolger Jesu,
Schmach und Sünde ging der reuige Verbre- einschließlich der »Frauen, die ihm von
cher sofort in einen Zustand der Seligkeit Galiläa nachgefolgt waren, . . . standen
über. Und wieder müssen wir anmerken, daß von fern . . . und sahen diese« grausam-
die Errettung nicht universal ist. Es waren ste Szene der Weltgeschichte.
zwei Verbrecher, und nur einer wurde erret-
tet. Und als letztes sollten wir noch anmer- U. Das Begräbnis in Josephs Grab
ken, daß die Grundlage echter Freude, die (23,50-56)
über den Tod hinausgeht, im persönlichen 23,50-54 Bis zu dieser Zeit war »Joseph«
Umgang mit Christus liegt. Das Zentrum nur heimlich ein Jünger des Herrn.
der Verheißung an den sterbenden Verbre- Obwohl er ein »Ratsherr« im Sanhedrin
cher war: »Du wirst bei mir sein.« Das ist war, wollte er ihrem Urteil im Falle Jesu
unsere selige Sicherheit, daß abscheiden nicht zustimmen. Joseph ging nun mutig
bedeutet, »bei Christus zu sein«, was »weit- »hin zu Pilatus und bat« um das Vor-
67)
aus besser« ist. recht, »den Leib Jesu« vom Kreuz zu neh-
Es ist möglich, daß von zwei Men- men und ihn ordentlich zu begraben.
schen, die an der Seite Jesu sind, einer in (Das fand zwischen drei und sechs Uhr
den Himmel kommt, der andere in die nachmittags statt.) Er erhielt die Erlaub-
Hölle. Auf welcher Seite des Kreuzes nis und sofort »wickelte« Joseph ihn »in
stehst du? ein feines Leinentuch und legte ihn in
eine in Felsen gehauene Gruft«, die bis
T. Drei Stunden der Finsternis dahin noch nicht benutzt worden war.
(23,44-49) Das geschah noch am Freitag, dem
23,44 »Finsternis« bedeckte »das ganze »Rüsttag«. Wenn es heißt, daß »der Sab-
Land (oder die Erde, das gr. Wort kann bat anbrach«,dann müssen wir uns dar-
beides bedeuten) von der »sech- an erinnern, daß der jüdische Sabbat am
sten . . . bis zur neunten Stunde«, d. h. Freitag mit Sonnenuntergang beginnt.
von Mittag bis drei Uhr nachmittags. Das 23,55.56 Die treuen »Frauen . . . aus
war ein Zeichen für das Volk Israel. Sie Galiläa . . . folgten Joseph, als er den
hatten das Licht abgelehnt, und nun »Leib« in die »Gruft« legte. »Als sie aber
würde das Gericht der geistlichen Blind- zurückgekehrt waren, bereiteten sie
heit über sie kommen. wohlriechende Öle und Salben«, damit
23,45 »Der Vorhang des Tempels aber sie zurückkommen und den Leib des
riß mitten entzwei« von oben bis unten. Herrn, den sie liebten, einbalsamieren
Das ist ein Bild für die Tatsache, daß konnten. Als Joseph den Leib Jesu
durch den Tod des Herrn Jesus Christus begrub, begrub er in gewissem Sinne sich
ein Weg zu Gott für alle eröffnet worden selbst. Er trennte sich damit für immer
ist, die zu ihm im Glauben kommen wol- von dem Volk, das den Herrn des Lebens
len (Heb 10,20-22). und der Herrlichkeit gekreuzigt hatte. Er

332
Lukas 23 und 24

sollte nie mehr ein Teil des Judentums 24,11.12 Die Jünger »glaubten ihnen
werden können, sondern würde in mora- nicht«. Das war doch weibliche Über-
lischer Trennung von ihm leben und spanntheit! Unglaublich! Völlige Dumm-
Zeugnis gegen es geben. heit! So dachten sie, – bis Petrus selbst
Am Samstag ruhten die Frauen im das Grab besuchte und »nur die leinenen
Gehorsam gegen das Sabbatgebot. Tücher liegen« sah. Diese Tücher waren
Jesus stramm um den Leib gewickelt
XII. Der Triumph des worden. Uns wird nicht gesagt, ob sie
Menschensohnes (Kap. 24) aufgerollt worden waren oder ob sie
noch immer in der Form des Leibes dala-
A. Die Frauen am leeren Grab (24,1-12) gen, doch wir können annehmen, daß
24,1 Dann am Sonntag machten sie sich das letztere der Fall war. Es scheint so zu
»ganz in der Frühe« auf »zu der Gruft sein, daß der Herr die Grabtücher wie
und brachten die wohlriechenden Öle, eine Raupe ihren Kokon verlassen hat.
die sie« für den Leib Jesu »bereitet hat- Die Tatsache, daß die Grabtücher
ten«. Doch wie wollten sie an seinen Leib zurückblieben zeigt, daß der Leib nicht
kommen? Wußten sie nicht, daß ein gestohlen worden war, weil Grabräuber
großer Stein vor die Öffnung des Grabes sich nie die Zeit hätten nehmen können,
gewälzt worden war? Wir erhalten auf die Grabtücher zu entfernen. Petrus
diese Frage keine Antwort. Wir wissen kehrte in sein Haus zurück und versuch-
nur, daß sie Jesus sehr liebten, und die te, dieses Geheimnis zu lüften. Was hatte
Liebe vergißt manchmal die Schwierig- das alles zu bedeuten?
keiten, die sich ihr entgegenstellen.
»Ihre Liebe ließ sie ›früh‹ aufstehen B. Die Emmausjünger (24,13-35)
(V. 1) und wurde reichlich belohnt (V. 6). 24,13 Einer der »zwei« Emmausjünger
Wer früh aufsteht, wird den auferstande- war ein Mann namens Kleopas. Den
nen Herrn finden (Spr 8,17).« Namen des anderen kennen wir nicht. Es
24,2-10 Als sie ankamen, »fanden sie« könnte sein, daß es seine Frau war. Die
daß »der Stein« vom Eingang der Tradition sagt, daß es Lukas selbst gewe-
»Gruft . . . weggewälzt« worden war. sen sei. Wir können nur sicher sein, daß
»Als sie hineingingen«, fehlte der »Leib er nicht einer der Elf war (s. V. 33). Jeden-
des Herrn Jesus«. Man kann sich ihre falls überdachten die beiden niederge-
68)
Verwirrung gut vorstellen. Während sie schlagen den Tod und das Begräbnis
noch versuchten, Klarheit zu gewinnen, des Herrn, als sie »von Jerusalem . . .
erschienen »zwei« Engel »in strahlenden nach Emmaus« zurückgingen, eine Ent-
Kleidern« und versicherten ihnen, daß fernung von etwa elf Kilometern.
Jesus lebe und es müßig sei, ihn im Grab 24,14-18 Da kam ein Fremder zu
zu suchen. Er sei »auferstanden«, wie er ihnen. Es war der auferstandene Herr,
versprochen hatte, »als er noch« mit doch sie »erkannten ihn nicht«. Er fragte
ihnen »in Galiläa war«. Hatte er ihnen sie, worüber sie geredet hätten. Zunächst
nicht vorhergesagt, daß der »Sohn des hielten sie »niedergeschlagen« inne.
Menschen« den »sündigen Menschen Dann sprach Kleopas sein Erstaunen aus,
überliefert und gekreuzigt« werden daß ein Fremder »in Jerusalem« nicht
müsse und »am dritten Tage« wieder erfahren haben könnte, »was dort
»auferstehen« würde? (Lk 9,22; 18,33). geschehen ist«.
Da erinnerten sie sich wieder an alles. 24,19-24 Jesus forderte sie noch wei-
Eilig »kehrten sie . . . zurück« in die Stadt ter mit der Frage heraus, »was denn«
und »verkündeten dies alles den elf Jün- geschehen sei. Ihre Antwort fing damit
gern«. Zu den ersten Boten der Auferste- an, daß sie Jesus ihren Tribut zollten und
hung gehörten »Maria Magdalena und dann seine Verhandlung und Kreuzi-
Johanna und Maria, des Jakobus Mut- gung erzählten. Sie erzählten weiter von
ter«. ihren zerstörten Hoffnungen, dann von

333
Lukas 24

den Berichten, daß »sein Leib« nicht ihnen die Schriften öffnete« und mit
mehr in der Gruft liege. Es seien sogar ihnen »redete«. Ihr Lehrer und Begleiter
Engel erschienen, die versichert hatten, war der auferstandene Herr Jesus Chri-
»daß er lebe«. stus gewesen.
24,25-27 Jesus ermahnte sie liebevoll 24,33 Statt die Nacht nun in Emmaus
dafür, daß sie nicht erkannten, daß das zu verbringen, eilten sie »nach Jerusalem
genau der Weg war, den die »Propheten« zurück«, wo sie »die Elf fanden« und
des AT für den Messias vorausgesagt noch einige andere, die sich »versam-
hatten. Er mußte erst leiden, um dann melt« hatten. »Die Elf« bezeichnet hier
verherrlicht werden zu können. »von den Kreis der Apostel ohne Judas. Es
Mose . . . anfangend« bis zu allen Bü- waren allerdings nicht alle elf anwesend,
chern der »Propheten« führte sie der wie wir aus Johannes 20,24 schließen
Herr durch »alle Schriften« und zeigte können, doch wird dieser Ausdruck ein-
ihnen »das, was ihn betraf«, den Messias. fach für die Gruppe der Apostel
Das war eine wunderbare Bibelarbeit, gebraucht.
und wie gerne wären wir dabeigewesen! 24,34 Ehe die Emmausjünger ihre
Doch wir haben das gleiche AT, und wir freudenvolle Nachricht weitergeben
haben den Heiligen Geist, der uns lehrt, konnten, verkündigten die Jerusalemer
und so können auch wir alles entdecken, Jünger voller Freude, daß »der Herr
was »in allen Schriften . . . ihn betraf«. wirklich auferweckt worden und dem
24,28.29 Nun näherten sich die Jünger Simon« Petrus »erschienen« sei.
ihrem Haus. Sie luden ihren Mitreisen- 24,35 Und dann waren die Emmaus-
den ein, die Nacht bei ihnen zu verbrin- jünger an der Reihe zu sagen, »Ja, das
gen. Zunächst tat er höflich so, als wolle wissen wir, denn er ging mit uns, kam in
er seine Reise fortsetzen, denn er wollte unser Haus und offenbarte sich uns beim
sich nicht aufdrängen. Doch als sie dar- ›Brechen des Brotes‹«.
auf bestanden, daß er bei ihnen bleibe –
wie reich wurden sie da belohnt! C. Die Erscheinung vor den Elf
24,30.31 Als sie sich zum Abendessen (24,36-43)
setzten, nahm der Gast den Platz des 24,36-41 Die Auferstehungsleib des
Gastgeber ein. Herrn Jesus war ein echter Leib, den man
Das reichliche Essen wurde zum Sakra- berühren konnte, aus »Fleisch und Bein«.
ment, und das Wohnhaus wurde zum Haus Das war derselbe Leib, der begraben
Gottes. Das geschieht immer dann, wenn worden war, doch war er auch verwan-
Jesus in ein Haus einkehrt. Diejenigen, die delt, weil er nicht länger sterblich war.
ihn eingeladen haben, werden nun von ihm Mit diesem verherrlichten Leib konnte
selbst bedient. Die beiden hatten ihm ihr Jesus einen Raum betreten, auch wenn
Haus geöffnet, und nun öffnet er ihre Augen die Türen geschlossen waren (Joh 20,19).
(aus dem englischen Material des Bibellese- Das tat er am ersten Sonntagabend.
bundes). Die Jünger schauten auf und sahen ihn
Als er »das Brot . . . gebrochen hatte«, und hörten ihn sagen: »Friede euch.« Sie
und es ihnen gereicht hatte, »wurden waren von Furcht ergriffen, weil sie
ihre Augen aufgetan und sie erkannten dachten, »sie sähen einen Geist«. Erst als
ihn« zum ersten Mal. Hatten sie die er ihnen die Zeichen seines Leidens in
Nägelmale an seinen Händen gesehen? seinen »Händen und Füßen« zeigte,
Wir wissen nur, daß ihre Augen auf begannen sie zu verstehen. Auch zu die-
wunderbare Weise »aufgetan« worden sem Zeitpunkt war es alles noch zu
sind. Sobald das geschehen war, »wurde schön, um es glauben zu können.
er . . . unsichtbar«. 24,42.43 Um ihnen zu zeigen, daß er
24,32 Dann überdachten sie nochmals es wirklich selbst war, aß Jesus »ein Stück
die Reise des Tages. Kein Wunder, daß gebratenen Fisch« und »Honigseim«
ihre »Herzen« gebrannt hatten, »wie er (LU 1912).

334
Lukas 24

D. Den Jüngern wird das Verständnis 24,48.49 Die Jünger waren »Zeugen«
für alles Geschehene geschenkt der Auferstehung. Sie sollten als Herolde
(24,44-49) der herrlichen Botschaft ausziehen. Doch
24,44-47 Diese Verse könnten eine Zu- als erstes mußten sie auf »die Ver-
sammenfassung der Lehren unseres heißung« des »Vaters« warten, d. h. auf
Herrn sein, die er zwischen seiner Auf- das Kommen des Heiligen Geistes zu
erstehung und seiner Himmelfahrt wei- Pfingsten. Dann sollten sie »mit Kraft aus
tergab. Er erklärte, daß seine Auferste- der Höhe« angetan werden, um für den
hung eine Erfüllung seiner »Worte« sei, auferstandenen Christus Zeugnis abzu-
die er zu ihnen geredet hatte. Hatte er legen. Der Heilige Geist war durch den
ihnen nicht gesagt, daß alle Prophetien Vater in solchen alttestamentlichen
des AT über ihn »erfüllt werden« müs- Schriftstellen wie Jesaja 44,3, Hesekiel
sen? Das »Gesetz Moses und die Prophe- 36,27 und Joel 2,28 verheißen worden.
ten und Psalmen« waren die drei Haupt-
teile des AT. Wenn sie zusammen ge- E. Die Auferstehung des Menschen-
nannt werden, bezeichnen sie das ge- sohnes (24,50-53)
samte AT. Welche Prophezeiungen 24,50.51 Die Himmelfahrt Christi fand
fanden die Jünger im AT über Christus? vierzig Tage nach seiner Auferstehung
Dazu gehörte: statt. Er nahm seine Jünger »bis nach Bet-
1. Christus mußte »leiden« (Ps 22,1-21; hanien . . . hinaus«, welches am Osthang
Jes 53,1-9) des Ölberges liegt, »und hob seine Hän-
2. Christus mußte »am dritten Tag auf- de auf und segnete sie«. Während er das
erstehen aus den Toten« (Ps 16,10; tat, wurde er »hinaufgetragen in den
Jona 1,17; Hos 6,2) Himmel«.
3. »In seinem Namen« mußte »Buße 24,52.53 »Sie warfen sich vor ihm nie-
und Vergebung der Sünden gepre- der«, dann »kehrten« sie »nach Jerusa-
digt werden allen Nationen, anfan- lem zurück mit großer Freude«. Wäh-
gend von Jerusalem.« rend der nächsten zehn Tage verbrachten
Jesus »öffnete ihnen das Verständ- sie viel Zeit »im Tempel und priesen
nis«, damit sie all diese Schriften verste- Gott«.
hen konnten. Wir haben es hier mit Das Lukasevangelium begann mit
einem Kapitel voller geöffneter Dinge zu hingegebenen Gläubigen im Tempel, die
tun: um den langerwarteten Messias beteten.
1. das geöffnete Grab (V. 12), Es endet am selben Ort mit hinge-
2. das geöffnete Haus (V. 29), gebenen Gläubigen, die Gott »lobten
69)
3. die geöffneten Augen (V. 31), und priesen«, weil er ihre Gebete erhört
4. die geöffnete Schrift (V. 32), und die Erlösung gebracht hat. Dies ist
5. die geöffneten Lippen (V. 35), ein wunderschöner Höhepunkt für das
6. das geöffnete Verständnis (V. 45) und Buch, das Renan das schönste Buch der
7. den geöffneten Himmel (V. 51). Welt genannt hat. »Amen.«

335
Anmerkungen

Anmerkungen der zentralen Aussage und der


redaktionellen (von Gott inspirier-
ten) Bearbeitung des Materials her-
1) (1,2) James S. Stewart, The Life and aus.
Teaching of Jesus Christ, S. 9. 15) (6,26) Die Mehrheit der Manuskripte
2) (1,4) Dasselbe Wort (anothen) läßt »alle« aus, und deutet damit an,
kommt in Johannes 3,7 vor: »Ihr daß nur einige die Kompromißberei-
müßt von neuem geboren werden.« ten loben werden.
3) (1,16.17) G. Coleman Luck, Luke, 16) (6,27-29a) F. B. Meyer, The Heavenlies,
S. 17. S. 26.
4) Im gr. steht hier ein passives Partizip, 17) (6,47-49) Die kritische Lesart (gut
was zeigt, daß sie Gnade empfängt. gebaut, LU 1984), welche in den mei-
Das Lateinische gratia plena (voll der sten modernen Bibeln verwendet
Gnaden) ist mißbraucht worden, um wird, ist nicht treffend. Es geht nicht
zu lehren, daß Maria Quelle der Gna- darum, wie es gebaut ist, sondern
de sei. Das zeigt uns die Notwendig- worauf (Christus) man sein Leben
keit von genauesten Übersetzungen. aufbaut.
5) (1,72-75) G. Campbell Morgan, The 18) (7,21-23) C. G. Moore, zitiert bei
gospel According to Luke, S. 30-31. W. H. Griffith Thomas, Outline Stu-
6) (2,4-7) J. N. Darby Synopsis of the dies in The Gospel of Luke, Bd. 1,
Books of the Bible, Bd. 3, S. 293. S. 350.
7) (2,8) Stewart, Life and Teaching, S. 24. 19) (7,27) F. L. Godet, Commentary on the
8) (2,13.14) Der kritische Text (NA) liest Gospel of Luke, S. 61.
»den Menschen guten Willens«, was 20) (7,30-34) Ryle, St. Luke, Bd. 1, S. 230.
der biblischen Lehre der Verloren- 21) (7,49.50) Ebd., S. 239.
heit des Menschen widerspricht. 22) (8,11-15) J. N. Darby, The Gospel of
Evangelikale, die die kritische Lesart Luke, S. 61.
akzeptieren, paraphrasieren diese 23) (8,18) G. H. Lang, The Parabolic Tea-
Stelle meist. Die Tradition der ching of the Scripture, S. 60.
Lutherbibel ist wahrscheinlich hier 24) (8,26.27) Der Mehrheitstext liest hier
die beste. und in Vers 37 Gardarener.
9) (2,33) Die Lesart von NA »sein Vater 25) (8,34-39) Darby, Synopsis, Bd. 3,
und seine Mutter« leugnet die Jung- S. 340.
frauengeburt nicht, sondern ist ein- 26) (8,51-53) Sir Robert Anderson,
fach weniger eindeutig. Man verglei- Misunderstood Texts of the New Testa-
che auch V. 43 in Mehrheitstext und ment, S. 51.
NA. 27) (9,19.20) Stewart, Life and Teaching,
10) (2,40) NA läßt »im Geist« aus. S. 109-110.
11) (4,13) Stewart, Life and Teaching, S. 45. 28) (9,28.29) W. H. Rogers, keine weite-
12) (4,28) John Charles Ryle, Expository ren Angaben verfügbar.
Thoughts on the Gospels, St. Luke, 29) (9,32.33) Ryle, Gospels, St. Luke, Bd 1,
Bd. 1, S. 121. S. 320.
13) (5,29.30) NA liest wie ER: »Die Pha- 30) (9,50) A. L. Williams, keine weiteren
risäer und ihre Schriftgelehrten«, Angaben verfügbar.
was bedeutet: Die Schriftgelehrten, 31) (9,62) Damit ist wahrscheinlich nicht
die zur pharisäischen Partei ge- ein kurzer Blick zurück gemeint,
hören. sondern die Mentalität der Israeliten
14) (6,17-19) Viele Ausleger sind jedoch in der Wüste, die sagten: »Zurück
der Meinung, daß der »ebene Platz« nach Ägypten.«
nur ein flacher Berghang war und 32) (10,1-12): Hier und in V. 17 liest NA
erklären die Unterschiede nur aus »zweiundsiebzig«.
der Zusammenfassung, der Wahl 33) (10,16) Ryle, St. Luke, Bd. 1, S. 357-58.

336
Anmerkungen

34) (10,36.37) F. Davidson, Hrg., The New 52) (18,31-33) Ryle, Gospels, St. Luke,
Bible Commentary, S. 851. Bd. 2, S. 282.
35) (10,42) C. A. Coates, An Outline of 53) (19,11) Ein Pfund (Hebr. minah, Gr.
Luke's Gospel, S. 112. mna) war sehr viel mehr wert als das
36) (10,42) Charles R. Erdman, The Gos- britische »Pfund«. Günstiger wäre
pel of Luke, S. 112. es, wenn man hier einfach den Na-
37) (11,4) Lukas hat eine kürzere Version men dieser Währung stehen ließe.
des »Vaterunsers«, was vielleicht 54) (19,41.42) Griffith Thomas, Luke,
nahelegen sollte, daß es nicht dazu S. 303.
bestimmt ist, Wort für Wort nachge- 55) (20,18) Andere Ausleger sind der
betet zu werden. Die Auslassungen Meinung, daß der Stein sich auf den
bei NA (denen auch ER folgt) wer- bußfertigen Sünder bezieht, der sich
den von dessen Herausgebern all- in echtem Gebrochensein auf Jesus
gemein als spätere Ergänzungen wirft und gerettet wird, während
nach der Fassung bei Matthäus ange- derjenige, der Christus ablehnt, beim
sehen. Die in ER ausgelassenen Vers- zukünftigen Gericht zu Staub zer-
teile sind hier nach LU 1912 zitiert. schmettert werden wird.
38) (11,9) Die griechische Form der Ver- 56) (20,35) Coates, Luke's Gospel, S. 252.
ben, der Imperativ Präsens, legt eine 57) (21,1-4) Dr. Joseph Parker, keine wei-
dauernde Handlung nahe. teren Angaben verfügbar.
39) (11,41) Harry A. Ironside, Addresses 58) (21,20-24) Christian Truth Magazine,
on the Gospel of Luke, S. 390. November 1962, S. 303.
40) (11,46) William Kelly, An Exposition of 59) (21,20-24) Edward Gibbon, The Decli-
the Gospel of Luke, S. 199. ne and Fall of the Roman Empire, Bd. 2,
41) Godet, Luke, Bd. 2, S. 89. S. 95-101.
42) (12,15) J. R. Miller, Come Ye Apart, 60) (22,7) Leon Morris, The Gospel Accor-
Abschnitt für den 10. Juni. ding to Luke, S. 302-304.
43) (12,36) Kelly, Luke, S. 214. 61) (22,47.48) Stewart, Life and Teaching,
44) (13,6-9) Lang, Parabolic Teaching, S. 154.
S. 230. 62) (23,13-17) Ebd., S. 161.
45) (14,33) Ryle, Gospels, St. Luke, Bd. 2, 63) (23,33) Stewart, Life and Teaching,
S. 86. S. 166.
46) (14,34.35) Kelly, Luke, S. 249. 64) (23,34) Morgan, Luke, S. 269.
47) (15,20) Stewart, Life and Teaching, 65) (23,35-38) Stewart, Life and Teaching,
S. 77,78. S. 168.
48) (16,9) Arthur T. Pierson, keine weite- 66) (23,43) Die traditionelle Lesart des
ren Angaben verfügbar. Mehrheitstextes »Herr, gedenke an
49) (16,9) J. N. Darby, The Man of Sorro- mich« ist wesentlich eindrücklichr
ws, S. 178. als die Lesart des kritischen Textes
50) Roy Hession, The Calvary Road, S. 49. (NA) »Jesus, gedenke meiner«. Der
51) In vielen Bibelausgaben gibt es einen Titel, durch den sein Respekt ausge-
weiteren Vers, so daß das Kapitel drückt wird, zeigt tieferen Glauben,
dann 37 Verse hat. Er lautet: »Zwei als die (damals übliche) Anrede mit
werden auf dem Felde sein; der eine dem Vornamen.
wird angenommen, der andere wird 67) (23,43) Erdman, Luke, S. 217-218.
preisgegeben werden.« (LU 84) So- 68) (24,13) Diese Anmerkung ist durch
wohl in den ältesten Handschriften Er überflüssig.
wie auch im Mehrheitstext fehlt die- 69) (24,52.53) Der kritische Text (NA)
ser Vers, was bedeutet, daß er mit läßt sowohl die Worte »lobten und«
großer Wahrscheinlichkeit nicht zum als auch das »Amen« am Schluß des
Original gehört. Textes aus.

337
Bibliographie

Bibliographie Ironside, H. A.,


Addresses on The Gospel of Luke,
New York: Loizeaux Brothers, 1947.
Coates, C. A.,
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338
Das Evangelium nach Johannes
»Das tiefgründigste Buch der Welt.«
A. T. Robertson

Einführung eines unbekannten »religiösen Genies«,


das 50 bis 100 Jahre später gelebt hat.
Deshalb war man der Ansicht, daß es das
I. Die einzigartige Stellung im Kanon Denken der Kirche über Christus wider-
Johannes sagt uns ausdrücklich, daß sein spiegelt, nicht jedoch, was Jesus wirklich
Buch evangelistisch ausgerichtet ist – war, sagte oder getan hat.
»damit ihr glaubt« (20,31). In der letzten Das Evangelium selbst schweigt zu
Zeit ist die Kirche dem apostolischen Bei- seiner Verfasserschaft, aber es gibt viele
spiel gefolgt: Die Millionen Johannes- gute Gründe für die Annahme, daß es
evangelien im Taschenformat, die in den vom Apostel Johannes, einem der Zwölf,
letzten hundert Jahren verteilt worden geschrieben worden ist.
sind, geben von dieser Tatsache Zeugnis. Clemens von Alexandria berichtet,
Aber das Johannesevangelium ist daß gegen Ende des langen Lebens des
auch eines der Lieblingsbücher – wenn Johannes dieser von engen Freunden, die
nicht das Lieblingsbuch – der reifen und ihn in Ephesus besuchten, gebeten wur-
hingegebenen Christen. Johannes zählt de, ein Evangelium zu schreiben, das die
nicht einfach die Fakten des Lebens Synoptiker ergänzen sollte. Unter dem
unseres Herrn auf, sondern bringt lange Einfluß des Geistes Gottes verfaßte
Ausführungen und reife Reflexionen Johannes so ein geistliches Evangelium.
eines Apostels, der wahrscheinlich von Damit ist nicht gemeint, daß die anderen
seinen späten Teenagerjahren in Galiläa als ungeistlich angesehen wurden, aber
an bis ins hohe Alter in der Provinz Asi- die Betonung, die Johannes auf die Wor-
en mit dem Herrn gewandelt ist. Sein te Christi und die tiefere Bedeutung der
Evangelium enthält den bekanntesten Zeichen gelegt hat, erklären, warum gera-
Vers des NT, den Martin Luther »das de dieses Evangelium »geistlich« ge-
Evangelium in der Nußschale« genannt nannt werden konnte.
hat, nämlich Johannes 3,16.
Wenn das Johannesevangelium das Äußere Beweise
einzige Buch des NT wäre, so würde es Theophilus von Antiochia (um 170) ist
doch noch genug Fleisch (und Milch) des der erste uns bekannte Autor, der aus-
Wortes enthalten, um uns ein Leben lang drücklich Johannes als Verfasser nennt.
zu beschäftigen. Doch gibt es in früherer Zeit Anspielun-
gen auf das vierte und Zitate aus dem
II. Verfasserschaft vierten Evangelium von Ignatius, even-
Die Verfasserschaft des vierten Evangeli- tuell von Justin, dem Märtyrer, von Tati-
ums ist in den letzten 150 Jahren aus- an, dem Muratorischen Kanon und den
führlich diskutiert worden. Die Ursache Häretikern Basilides und Valentin.
ist wahrscheinlich, daß dieses Evangeli- Irenäus zeigt eine Überlieferungsket-
um ein so deutliches Zeugnis von der te vom Herrn Jesus bis zu sich auf, die
Gottheit unseres Herrn Jesus Christus von Jesus, Johannes und Polykarp bis zu
gibt. Diejenigen, die die Verfasserschaft ihm reicht. Diese Linie führt uns vom
des Johannes bezweifeln, versuchten zu Ende des zweiten Jahrhunderts bis zur
beweisen, daß das Evangelium nicht das Morgenröte des Christentums. Irenäus
Werk eines Augenzeugen war, sondern zitiert das Evangelium ausführlich und
339
Johannes

schreibt es dem Apostel zu, wie schon in und der Hintergrund des AT, der in
der gesamten Kirche anerkannt. Seit diesem Evangelium besonders her-
Irenäus ist das Evangelium von vielen vortritt, bestätigen diese Annahme.
anerkannt, einschließlich solcher Zeugen 2. Er war ein Jude, der in Israel gelebt hat-
wie Clemens von Alexandria und Ter- te (1,28; 2,1.11; 4,46; 11,18.54; 21,1.2).
tullian. Er kannte Jerusalem und den Tempel
Bis ins frühe 19. Jahrhundert bestritt genau (5,2; 9,7; 18,1; 19,13.17.20.41;
nur eine seltsame Sekte namens »Alogi« s. a. 2, 4-16; 8,20; 10,22).
die johannäische Verfasserschaft. 3. Er war ein Augenzeuge des Berichte-
Der Schluß des 21. Kapitels wurde ten. Er beschreibt viele Einzelheiten
eventuell von Gemeindeleitern in Ephe- über Orte, Menschen, Zeiten und
sus im späten ersten Jahrhundert ge- Umstände (4,46; 5,14; 6,59; 12,21; 13,1;
schrieben, um die Gläubigen zu ermun- 14,5.8; 18,6; 19,31).
tern, das Johannesevangelium anzuneh- 4. Er war ein Apostel und zeigt eine
men. Vers 24 weist auf den »Jünger, den genaue Kenntnis des engeren Jünger-
Jesus liebte« von Vers 21 und Kapitel 13 kreises und des Herrn selbst (6,19.
hin. Dies hat man immer als einen Hin- 60.61; 12,16; 13,22.28; 16,19).
weis auf den Apostel Johannes verstan- 5. Weil der Autor die anderen Jünger
den. ausdrücklich nennt, nur sich selbst
Lange wurde von der liberalen Theo- nicht, ist wahrscheinlich dieser unge-
logie allgemein gelehrt, daß das vierte nannte Jünger in 13, 23; 19,26; 20,2;
Evangelium erst im späten zweiten Jahr- 21,7.20 der Apostel Johannes. Drei wei-
hundert geschrieben worden sei. 1920 tere Stellen, die nahelegen, daß der
wurde jedoch in Ägypten ein Fragment Autor ein Augenzeuge ist, sind 1,14;
von Johannes 18 gefunden (Papyrus 52, 19,35 und 21,24.
durch objektive Methoden auf die erste
Hälfte des zweiten Jahrhunderts datiert III. Datierung
und wahrscheinlich um 125 n. Chr. einzu- Irenäus behauptet ausdrücklich, daß
ordnen). Die Tatsache, daß es in einer Pro- Johannes sein Evangelium von Ephesus
vinzstadt gefunden wurde (und nicht aus schreibt. Sollte er recht haben, so ist
etwa in Alexandria), bestätigt das tradi- das frühestmögliche Datum das Jahr 69
tionelle Abfassungsdatum im späten oder 70, als der Apostel in der Stadt ein-
ersten Jahrhundert, weil es einige Zeit traf. Weil Johannes die Zerstörung Jeru-
brauchen würde, bis diese Schrift von salems nicht erwähnt, ist es möglich, daß
Ephesus nach Oberägypten (Südägypten) sie noch nicht stattgefunden hat, so daß
gelangen konnte. Ein ähnliches Fragment wir ein Datum vor diesem schrecklichen
aus Johannes 5, das Egerton-Papyrus Ereignis anzunehmen hätten.
Nr. 2, das auch aus dem frühen zweiten Einige sehr liberale Theologen schrei-
Jahrhundert stammt, bekräftigt ein Da- ben dem Johannesevangelium ein sehr
tum zu Lebzeiten des Apostels Johannes. frühes Datum zwischen 45 und 66 zu,
weil sie mögliche Verbindungen mit den
Innere Beweise Qumran-Manuskripten sehen. Das ist
Im späten 19. Jahrhundert argumentierte jedoch relativ ungewöhnlich, da es im
der bekannte anglikanische Gelehrte allgemeinen eher konservative Theolo-
Bischof Westcott für die Verfasserschaft gen sind, die für frühe Daten plädieren
des Johannes in immer enger werdenden und die liberalen für die späten Datie-
konzentrischen Kreisen. Man kann seine rungen. In diesem Fall stehen die frühen
Argumentation wie folgt zusammen- Zeugnisse der Kirche auf Seiten der spä-
fassen: teren Datierung.
1. Der Autor war Jude – der Stil, die Die Argumente für eine Abfassungs-
Wortwahl, die Vertrautheit mit jüdi- zeit im späten ersten Jahrhundert sind
schen Gebräuchen und Eigenschaften recht stichhaltig. Die meisten Theologen

340
Johannes

glauben wie Irenäus, Clemens von Alex- Charles R. Erdman schreibt, daß das
andrien und Hieronymus, daß Johannes vierte Evangelium »mehr Menschen be-
als letzter der vier Evangelisten geschrie- wegt hat, Christus nachzufolgen, mehr
ben hat, und zwar teilweise, weil er auf Gläubige zum treuen Dienst ermutigt hat
den Synoptikern aufzubauen scheint und und den Theologen mehr schwierige
sie ergänzt. Die Tatsache, daß die Zer- Probleme bereitet hat, als jedes andere
störung Jerusalems nicht erwähnt wird, Buch.«
mag eher darauf hinweisen, daß es fünf- Die Chronologie des irdischen Lebens
zehn bis zwanzig Jahre später geschrieben unseres Herrn wird durch den Rahmen
worden ist, als der Schock dieses Ereignis- dieses Evangeliums festgelegt. Nach den
ses schon verblaßt war. Irenäus schreibt, anderen Evangelien könnte man anneh-
daß Johannes bis zur Regierungszeit des men, das öffentliche Wirken Jesu habe
Kaisers Trajan lebte (er regierte ab 98). Ein nur ein Jahr gedauert. Die Hinweise auf
Datum nicht allzulange vor dieser Zeit ist die jährlichen Feste im Johannesevange-
wahrscheinlich. Die Hinweise auf »die lium weisen jedoch auf eine Dauer von
Juden« in diesem Evangelium weisen etwa drei Jahren hin. Man beachte dieses
ebenfalls auf eine spätere Zeit hin, als die Hinweise: Das erste Passah (2,12. 13);
jüdische Opposition gegen den christli- »ein Fest« (Wahrscheinlich Passah oder
chen Glauben sich schon verhärtet und Purim; das zweite (oder dritte) Passah
zur Verfolgung geworden war. (6,4); das Laubhüttenfest (7,2); das Fest
Man kann zwar kein genaues Datum der Tempelweihe (10,22) und das letzte
angeben, doch bildet das Jahrzehnt zwi- Passahfest (21,1).
schen 85 und 95 den wahrscheinlichsten Johannes gibt uns auch genaue Zeit-
Zeitraum für die Abfassung des vierten angaben. Während die anderen drei
Evangeliums. Evangelisten sich oft mit ungefähren An-
gaben zufrieden geben, erwähnt Johan-
IV. Hintergrund und Thema nes solche genauen Daten wie die siebte
Johannes baut sein Evangelium um sie- Stunde (4,52); den dritten Tag (2,1), zwei
ben öffentliche Wunder oder »Zeichen« Tage (11,6) und sechs Tage (21,1).
auf. Jedes dieser Wunder wird vollführt, Der Stil und das Vokabular dieses
um zu zeigen, daß Jesus Gott ist: Evangeliums finden sich nur noch in den
1. Die Verwandlung von Wasser in Johannesbriefen. Die Sätze sind kurz und
Wein in der Stadt Kana in Galiläa einfach. Sie drücken hebräisches Denken
(2,9); in der griechischen Sprache aus. Je kür-
2. die Heilung des Sohnes eines könig- zer die Sätze, desto tiefgründiger sind oft
lichen Beamten (4,46-54); die darin enthaltenen Wahrheiten. Das
3. Heilung des Lahmen am Teich Vokabular ist das beschränkteste aller
Bethesda (5,2-9); vier, jedoch auch das mit dem höchsten
4. die Speisung der Fünftausend Maß an Bedeutung. Man beachte folgen-
(6,1-14); de wichtige Worte und ihr häufiges Auf-
5. Jesu Wandel auf dem Wasser, um sei- treten: Vater (118mal), Glauben (100mal),
ne Jünger vor dem Sturm zu bewah- Welt (78mal), Liebe (45mal), Zeugnis,
ren (6,16-21); Zeugnis geben (47mal), Leben (37mal)
6. die Heilung des Blindgeborenen und Licht (24mal).
(9,1-7); Ein Charakteristikum des Johannese-
7. die Erweckung des Lazarus von den vangeliums ist das häufige Vorkommen
Toten (11,1-44). der Zahl sieben mit ihren Mehrfachen. In
Zusätzlich zu diesen öffentlichen der gesamten Bibel steht diese Zahl für
Wundern wird von einem achten Zei- die Vorstellung der Vollkommenheit und
chen berichtet, das er nach seiner Aufer- der Vollendung (s. 1. Mose 2,1-3). In die-
stehung nur für seine Jünger wirkte – der sem Evangelium vervollkommnet und
wunderbare Fischzug (21,1-14). vollendet der Geist Gottes die Offenba-

341
Johannes

rung Gottes in der Person Jesu Christi, Im sechsten Kapitel, das vom Brot des
daher ist die Zahl sieben als Ordnungs- Lebens handelt, erscheint das griechi-
muster in diesem Evangelium vorherr- sche Wort für Brot oder Laib Brot ein-
schend. undzwanzig Mal, ein Vielfaches von sie-
Die sieben »Ich bin«-Worte sind be- ben. In der Rede über das Brot des Le-
kannt: »Das Brot des Lebens« (6,35.41.48. bens erscheint der Ausdruck »Brot vom
51), »das Licht der Welt« (8,12; 9,5), »die Himmel« exakt siebenmal, ein ähnlicher
Tür« (10,7.9), »der gute Hirte« (10,11.14), Ausdruck, »kommt vom Himmel«, er-
»die Auferstehung und das Leben« scheint ebenfalls siebenmal.
(11,25), »der Weg, die Wahrheit und das Die Absicht des Johannes bei der Ab-
Leben« (14,6) und »der Weinstock« fassung seines Evangeliums war, wie wir
(15,1.5). Nicht so bekannt sind die sieben gesehen haben, daß seine Leser glauben
»Ich-bin«-Worte ohne Zusatz, wo einfach möchten, »daß Jesus der Christus ist, der
nur diese Tatsache betont wird: 4,26; 6,20; Sohn Gottes, und damit ihr durch den
8,24.28.58; 13,19; 18,5.8. Im letzten ange- Glauben Leben habt in seinem Namen«
gebenen Vers erscheint das Wort zweimal. (20,31).

Einteilung VI. Der Dienst des Sohnes Gottes –


drittes Jahr: Peräa (10,40 – 11,57)
VII. Der Dienst des Sohnes Gottes an
I. Prolog: Das erste Kommen des Soh-
den Seinen (Kap. 12 – 17)
nes Gottes (1,1-18)
II. Der Dienst des Sohnes Gottes – VIII. Das Leiden und Sterben des Sohnes
erstes Jahr (1,19-4,54) Gottes (Kap. 18 und 19)
III. Der Dienst des Sohnes Gottes – IX. Der Sieg des Sohnes Gottes
zweites Jahr (Kap. 5) (Kap. 20)
IV. Der Dienst des Sohnes Gottes –
drittes Jahr: Galiläa (Kap. 6) X. Epilog: Der Auferstandene bei den
Seinen (Kap. 21).
V. Der Dienst des Sohnes Gottes –
drittes Jahr: Jerusalem (7,1 – 10,39)

342
Johannes 1

Kommentar 1,2 Vers 2 erscheint als eine bloße


Wiederholung des eben gesagten, ist es
in Wirklichkeit aber nicht. Dieser Vers
I. Prolog: Das erste Kommen des lehrt, daß die Person Christi und seine
Sohnes Gottes (1,1-18) Gottheit ohne Anfang waren. Er wurde
Johannes beginnt sein Evangelium mit nicht erst eine Person, als er in Bethlehem
dem Wort – aber zunächst erklärt er nicht, zur Welt kam. Auch wurde er nicht auf
wer oder was dieses Wort ist. Ein Wort ist irgendeine Weise Gott, nachdem er auf-
eine Spracheinheit, mit der wir uns ande- erstanden war, wie einige heute lehren.
ren gegenüber äußern. Aber Johannes Er ist Gott von Ewigkeit her.
schreibt nicht über unsere Sprache, son- 1,3 »Alles wurde durch dasselbe.« Er
dern von einer Person. Diese Person ist selbst war kein Geschöpf, sondern er war
der Herr Jesus Christus, der Sohn Gottes. der Schöpfer aller Dinge. Dies schließt die
Gott hat sich der Menschheit in der Per- Menschen, die Tiere, die Himmelskörper,
son des Herrn Jesus gezeigt. Indem er in die Engel ein – alles Sichtbare und
diese Welt kam, hat uns Christus voll- Unsichtbare. »Ohne dasselbe wurde auch
kommen offenbart, wie Gott ist. Indem er nicht eines, das geworden ist.« Es gibt
für uns am Kreuz starb, hat er uns zu hiervon keine Ausnahme. Wenn etwas
erkennen gegeben, wie sehr Gott uns geschaffen wurde, dann hat er es geschaf-
liebt. So ist Christus Gottes lebendiges fen. Als Schöpfer ist er selbstverständlich
Wort an den Menschen, der Ausdruck allen seinen Geschöpfen überlegen. Alle
der Gedanken Gottes. drei Personen der Gottheit waren an der
Schöpfung beteiligt: »Im Anfang schuf
A. Das Wort in Zeit und Ewigkeit Gott (Im Hebräischen steht das Wort
(1,1-5) »Gott« hier in der Mehrzahl) die Himmel
1,1 »Im Anfang war das Wort.« Es hatte und die Erde« (1. Mose 1,1). »Der Geist
selbst keinen Anfang, sondern bestand Gottes schwebte über den Wassern«
vor aller Zeit in der Ewigkeit. Soweit sich (1. Mose 1,2). »Alles ist durch ihn (Chri-
Menschen zurückerinnern können – der stus) und für ihn geschaffen« (Kol 1,16b).
Herr Jesus war da. Er ist nie geschaffen 1,4 »In ihm war Leben.« Das bedeutet
worden. Er hat keinen Anfang. (Ein Ge- nicht einfach, daß er selbst lebte, son-
schlechtsregister wäre in diesem Evan- dern, daß er die Quelle des Lebens war
gelium über den Sohn Gottes fehl am und ist. Das Wort schließt hier sowohl
Platz.) »Das Wort war bei Gott.« Jesus das leibliche als auch das geistliche Le-
war eine eigene, von Gott unterschiede- ben ein. Wenn wir wiedergeboren wer-
ne Person. Er war nicht nur eine Idee, ein den, empfangen wir geistliches Leben.
Gedanke oder irgendeine Art von Bei- Beides empfangen wir von Ihm.
spiel, sondern eine echte Person, die »mit »Das Leben war das Licht der Men-
Gott« zusammenlebte. »Das Wort war schen.« Derselbe, der uns das Leben ge-
Gott.« Er lebte nicht nur »mit Gott«, son- geben hat, ist auch das Licht der Men-
dern war selbst Gott. schen. Er schenkt dem Menschen die
Die Bibel lehrt, daß es einen Gott gibt nötige Führung und Leitung. Man kann
und daß es drei Personen der Gottheit zwar leben, doch ist es etwas ganz ande-
gibt – den Vater, den Sohn und den Hei- res, wenn man weiß, wie man leben soll,
ligen Geist. In diesem Vers werden zwei den wahren Sinn des Lebens kennt und
Personen der Gottheit erwähnt – Gott der den Weg zum Himmel weiß. Derselbe,
Vater und Gott der Sohn. Wir haben hier der uns das Leben gegeben hat, gibt uns
die erste von vielen Aussagen in diesem auch das Licht, für unseren Weg.
Evangelium vorliegen, daß Jesus Christus Wir finden sieben wunderbare Titel
Gott ist. Es reicht nicht zu sagen, er sei unseres Herrn Jesus Christus im ersten
»ein Gott«, daß er göttlich oder gottähn- Kapitel dieses Evangeliums. Er wird
lich sei. Die Bibel lehrt, daß er Gott ist. genannt:

343
Johannes 1

1. das Wort (V. 1.14), schen auf Jesus hin, nicht jedoch auf sich
2. das Licht (V. 5.7), selbst.
3. das Lamm Gottes (V. 29.36),
4. der Sohn Gottes (V. 34.49), C. Das erste Kommen des Sohnes
5. der Christus (Messias) (V. 41), Gottes (1,9-18)
6. der König von Israel (V. 49) und 1,9 »Das war das wahrhaftige Licht.«
7. der Menschensohn (V. 51). Andere Menschen haben durch die Jahr-
Die ersten vier Titel, von denen jeder hunderte behauptet, Führer und Retter
mindestens zweimal genannt wird, schei- zu sein, statt des einen, von dem Johan-
nen universal in der Anwendung zu sein. nes bezeugte, daß Er das wahre Licht, das
Die drei anderen, die jeweils nur einmal beste und wahrhaftigste Licht war. Da-
genannt werden, hatten nur für Israel, durch, daß dieses Licht in die Welt kam,
das irdische Volk Gottes, Bedeutung. hat jeder Mensch Licht empfangen. Das
1,5 »Das Licht scheint in der Finster- bedeutet nicht, daß jeder Mensch irgend-
nis.« Als die Sünde in die Welt kam, ein inneres Wissen von Christus hat.
brachte sie Finsternis für die Menschen. Auch bedeutet es nicht, daß jeder Mensch
Die Welt wurde in dem Sinne finster, daß irgendwann einmal von dem Herrn Jesus
die Menschen im allgemeinen Gott we- hört. Es bedeutet statt dessen, daß das
der kannten noch kennen wollten. In die- Licht allen Menschen scheint, gleichgül-
se Dunkelheit kam der Herr Jesus: ein tig, welcher Nationalität, Rasse oder Far-
Licht an einem dunklen Ort. be sie sind. Es bedeutet auch, daß der
»Die Finsternis hat es nicht erfaßt.« Herr Jesus den wahren Charakter der
Das kann bedeuten, daß die Dunkelheit Menschen bloßgestellt hat, indem er sein
den Herrn Jesus nicht verstehen konnte, Licht auf alle Menschen wirft. Er hat
als er in diese Welt kam. Die Menschen gezeigt, wie unvollkommen der Mensch
erkannten nicht, wer er wirklich war und ist, indem er als der vollkommene
warum er gekommen war. Die andere Mensch in diese Welt gekommen ist.
Bedeutung des Wortes »erfassen« deutet Wenn ein Zimmer dunkel ist, dann sieht
darauf hin, daß die Dunkelheit das Licht man weder Staub noch Möbel. Geht das
nicht besiegen konnte. Darin drückt sich Licht jedoch an, dann kann man das Zim-
der Gedanke aus, daß die Feindschaft mer sehen, wie es wirklich ist. In diesem
und Ablehnung des Menschen das wah- Sinne enthüllt das Leuchten des wahren
re Licht nicht vom Leuchten abhalten Lichtes, wie der Mensch wirklich ist.
konnte. 1,10 Von der Zeit seiner Geburt an bis
zu dem Tag, als er in den Himmel zu-
B. Der Dienst Johannes des Täufers rückkehrte, war er »in der Welt«, in der
(1,6-8) wir auch heute leben. Er hat die ganze
1,6 Vers 6 bezieht sich auf Johannes den Welt ins Dasein gerufen und ist von
Täufer, nicht auf den Schreiber des Evan- daher ihr rechtmäßiger Eigentümer. Statt
geliums. Johannes der Täufer war »von ihn als Schöpfer anzuerkennen, dachten
Gott gesandt«, und zwar als Vorläufer die Menschen, daß er genau solch ein
des Herrn Jesus. Seine Aufgabe war, die Mensch wie sie selbst sei. Sie behandel-
Ankunft des Christus zu verkündigen ten ihn als Fremden und Ausgestoßenen.
und die Menschen aufzufordern, sich auf 1,11 »Er kam in das Seine.« Er über-
seinen Empfang vorzubereiten. schritt nicht seine Eigentumsgrenze, son-
1,7 Er »kam zum Zeugnis«, daß Jesus dern lebte auf dem Planeten, den er
wirklich das Licht der Welt war, damit selbst erschaffen hatte. »Die Seinen nah-
alle Menschen auf Jesus vertrauten. men ihn nicht an.« Allgemein gesehen
1,8 Hätte Johannes die Aufmerksam- könnte man dies auf die gesamte
keit der Menschen auf sich selbst gerich- Menschheit beziehen, denn es ist wahr,
tet, wäre er seiner ausdrücklichen Auf- daß der größte Teil der Menschheit ihn
gabe untreu geworden. Er wies Men- ablehnte. Doch in einem engeren Sinne

344
Johannes 1

war das jüdische Volk sein erwähltes, sen, aber nun entschied er sich, in einem
irdisches Volk. Als er in die Welt kam, menschlichen Körper auf diese Welt zu
stellte er sich den Juden als ihr Messias kommen. Er »wohnte unter uns.« Es ging
vor, aber sie wollten ihn nicht annehmen. hier nicht um eine kurze Erscheinung,
1,12 So bietet er sich nun der gesam- über die es eventuell Mißverständnisse
ten Menschheit an, und denen, die ihn geben könnte. Gott kam wirklich auf die-
aufnehmen, gibt »er das Recht, Kinder se Erde und lebte hier als Mensch unter
Gottes zu werden.« Menschen. »Das Wort wohnte« bedeutet
Dieser Vers zeigt uns eindeutig, wie wörtlich »errichtete sein Zelt.« Sein Leib
wir Kinder Gottes werden können. Nicht war das Zelt, in dem er dreiunddreißig
durch gute Werke, nicht durch Mitglied- Jahre Lang unter uns Menschen lebte.
schaft in einer Kirche, nicht dadurch, daß »Und wir haben seine Herrlichkeit
wir versuchen, immer unser Bestes zu angeschaut.« In der Bibel bedeutet Herr-
tun, werden wir Kinder Gottes, – son- lichkeit oft das leuchtende Licht, das
dern indem wir ihn annehmen und an Gottes Anwesenheit verkündigt. Aber
seinen Namen glauben. Herrlichkeit bedeutet auch die Vollkom-
1,13 Um ein Kind im leiblichen Sinne menheit und Unvergleichlichkeit Gottes.
zu werden, muß man geboren werden. Als der Herr Jesus hier auf der Erde leb-
Um ein Kind Gottes zu werden, muß man te, verbarg er seine Herrlichkeit in einem
wiedergeboren werden. Dieses Ereignis menschlichen Leib. Aber auf zwei Arten
wird auch Wiedergeburt, Bekehrung oder wurde seine Herrlichkeit doch offenbart.
Errettung genannt. Der Vers beschreibt Erstens war da seine sittliche Herrlich-
drei Arten, auf die die neue Geburt nicht keit. Wir bezeichnen damit die Ausstrah-
stattfindet und einen Weg, auf dem sie lung seines vollkommenen Lebens und
stattfindet. Erst haben wir die drei Wege, Charakters. Es gab kein Makel an ihm. Er
die nicht zur Wiedergeburt führen. »Nicht war in jeder Hinsicht vollkommen. Jede
aus Geblüt.« Das bedeutet, daß man nicht Tugend war in seinem Leben in ausgegli-
Christ durch seine christlichen Eltern chener Weise vorhanden. Zweitens wur-
wird. Die Errettung kann nicht durch de seine Herrlichkeit auf dem Berg der
Blutsverwandtschaft vererbt werden. Verklärung sichtbar (Matth 17,1.2). Da
Außerdem geschieht sie nicht aus »dem sahen Petrus, Jakobus und Johannes sein
Willen des Fleisches.« Mit anderen Wor- Gesicht leuchten wie die Sonne und seine
ten: kein Mensch hat in seinem eigenen Kleider in hellem Licht scheinen. Diesen
Fleisch die Macht, die neue Geburt zu drei Jüngern wurde eine Vorausschau
bewirken. Auch wenn es nötig ist, daß er der Herrlichkeit zuteil, die Jesus haben
errettet werden will, ist sein eigener Wille wird, wenn er auf die Erde zurückkehren
nicht ausreichend, ihn zu erretten. Nicht und für tausend Jahre regieren wird.
»aus dem Willen des Mannes.« Niemand Als Johannes sagte: »Wir haben seine
kann einen anderen retten. Ein Prediger Herrlichkeit angeschaut«, da bezog er
mag sich etwa sehr bemühen, daß gewis- sich zweifellos in erster Linie auf die sitt-
se Menschen wiedergeboren werden, aber liche Herrlichkeit des Herrn Jesus. Er und
er hat nicht die Macht, diese wunderbare die anderen Jünger sahen das Wunder
Geburt herbeizuführen. Wie geschieht eines absolut vollkommenen Lebens, das
dann die Wiedergeburt? Die Antwort auf dieser Erde geführt wurde. Aber es
liegt in den Worten »sondern aus Gott.« ist wahrscheinlich, daß Johannes auch
Das bedeutet schlicht, daß nichts und nie- das Ereignis auf dem Berg der Ver-
mand außer Gott selbst die Macht hat, klärung meint. Die Herrlichkeit, die die
eine Wiedergeburt herbeizuführen. Jünger dort sahen, zeigte ihnen, daß er
1,14 »Das Wort wurde Fleisch«, als wahrhaftig der Sohn Gottes ist. Jesus ist
Jesus als Kind in Bethlehem geboren der »Eingeborene vom Vater«, d. h. Chri-
wurde. Er war schon immer als Sohn stus ist Gottes einzigartiger Sohn. Gott
Gottes mit dem Vater im Himmel gewe- hatte keinen anderen Sohn wie ihn. In

345
Johannes 1

gewissem Sinne sind alle wahren Gläubi- die Welt zu richten, sondern um die
gen Söhne Gottes. Doch Jesus ist der Sohn Unwürdigen zu retten, die sich nicht
Gottes, er ist etwas ganz besonderes. Als selbst erretten konnten und seine Feinde
der Sohn Gottes ist er Gott gleich. waren. Das ist Gnade – das Beste des
Der Retter war »voller Gnade und Himmels für die Schlechtesten der Erde.
Wahrheit.« Einerseits erzeigte er anderen Aber nicht nur die Gnade kam durch
unverdiente Freundlichkeit, doch war er Jesus Christus, sondern auch die Wahr-
gleichzeitig völlig ehrlich und aufrecht heit. Er sagte von sich selbst: »Ich bin . . .
und entschuldigte niemals eine Sünde die Wahrheit.« Er war in seinen Taten und
noch begünstigte er das Böse. Vollkom- Worten absolut ehrlich und aufrichtig. Er
men gnädig und gleichzeitig vollkommen gewährte keine Gnade auf Kosten der
wahrhaftig sein kann nur Gott allein. Wahrheit. Obwohl er die Sünder liebte,
1,15 Johannes der Täufer »zeugte« liebte er doch nicht ihre Sünden. Er wuß-
davon, daß Jesus der Sohn Gottes war. te, daß der Lohn der Sünde der Tod ist.
Ehe der Herr sein öffentliches Wirken be- Deshalb starb er selbst, um die Todesstra-
gann, hat Johannes den Menschen schon fe zu erleiden, die wir verdient hätten. Er
von ihm erzählt. Als Jesus dann erschien, erwies uns unverdiente Freundlichkeit,
sagte Johannes nur noch: »Das ist der indem er unsere Seelen errettete und uns
Eine, den ich euch beschrieben habe.« eine Heimat im Himmel schenkte.
Jesus kam nach Johannes, soweit es seine 1,18 »Niemand hat Gott jemals gese-
Geburt und seinen Dienst betraf. Er wur- hen.« Gott ist Geist und deshalb unsicht-
de sechs Monate nach Johannes geboren bar. Er hat keinen Leib. Obwohl er den
und zeigte sich dem Volk Israel erst einige Menschen des AT sichtbar als Engel oder
Zeit nachdem Johannes zu predigen und Mensch erschien, offenbarten diese Er-
zu taufen begonnen hatte. Aber Jesus war scheinungen nicht, wer Gott wirklich ist.
»vor« ihm. Er war größer als Johannes, er Sie waren nur zeitweise Erscheinungen,
war größerer Ehre wert, eben weil er durch die er zu seinem Volk sprechen
»eher« war als Johannes. Er hat schon vor wollte. Der Herr Jesus ist Gottes »einge-
1)
aller Ewigkeit existiert – der Sohn Gottes. borener Sohn«, er ist Gottes einzigarti-
1,16 Alle, die an den Herrn Jesus ger Sohn, es gibt keinen anderen Sohn
glauben, erhalten geistliche Kraft aus wie ihn. Er hat immer einen Platz der
»seiner Fülle.« Seine Fülle ist so groß, daß besonderen Nähe zum Vater inne. Sogar
er für alle Christen in allen Ländern und als er hier auf Erden war, war Jesus noch
allen Zeitaltern genug hat. Der Ausdruck immer »in des Vaters Schoß.« Er war eins
»Gnade um Gnade« bedeutet wahr- mit Gott und ihm gleich. Dieser wunder-
scheinlich »Gnade über Gnade« oder bare Sohn hat den Menschen vollständig
»überfließende Gnade.« Gnade bedeutet offenbart, wer Gott ist. Wenn die Men-
hier Gottes gnädiges Wohlwollen, das er schen Jesus sahen, dann sahen sie Gott.
über seine geliebten Kinder ausgießt. Sie hörten Gott sprechen. Sie empfanden
1,17 Johannes stellt nun die Zeit des Gottes Liebe und Freundlichkeit. Gottes
NT der des AT gegenüber. »Das Gesetz«, Gedanken und seine Haltung gegenüber
welches »durch Mose gegeben« war, war der Menschheit sind durch Christus voll-
kein Gnadenerweis. Es befahl den Men- kommen »kundgemacht« worden.
schen den Gehorsam und verurteilte sie
zum Tode, wenn sie nicht gehorchten. Es
sagte den Menschen, was richtig ist, gab II. Der Dienst des Sohnes Gottes –
ihnen aber nicht die Fähigkeit, es zu tun. erstes Jahr (1,19 – 4, 54)
Es wurde gegeben, um den Menschen zu
zeigen, daß sie Sünder sind, nicht jedoch A. Das Zeugnis Johannes des Täufers
um sie von den Sünden zu erretten. »Die (1,19-34)
Gnade und die Wahrheit ist durch Jesus 1,19 Als die Nachricht Jerusalem erreich-
Christus geworden.« Er kam nicht, um te, daß ein Mann namens Johannes die

346
Johannes 1

Menschen aufforderte, umzukehren, sich einfach als von einer Stimme – man
weil der Messias käme, sandten die sieht sie nicht, man hört sie nur. Johannes
Juden eine Abordnung von »Priestern war die Stimme, doch Christus war das
und Leviten«, um herauszufinden, wer Wort. Das Wort benötigt eine Stimme,
dieser war. Die Priester waren diejeni- um sich bekannt zu machen, doch ohne
gen, die die wichtigeren Dienste im Tem- das Wort ist die Stimme wertlos. Das
pel verrichteten, während die Leviten die Wort ist unendlich größer als die Stimme,
Diener waren, die die gröberen Arbeiten aber es kann auch ein Vorrecht sein, Stim-
zu erledigen hatten. »Wer bist du?« frag- me für ihn zu sein.
ten sie. »Bist du der langersehnte Mes- Die Botschaft des Johannes lautete:
sias?« »Macht gerade den Weg des Herrn.« Mit
1,20 Andere Menschen hätten diese anderen Worten: »Der Messias kommt.
Gelegenheit ergriffen, sich Ruhm zu ver- Beseitigt alles in eurem Leben, das euch
schaffen, indem sie behauptet hätten, der daran hindert, ihn zu empfangen. Kehrt
Christus zu sein. Doch Johannes war ein um von euren Sünden, so daß er kom-
treuer Zeuge. Sein Zeugnis lautete, er sei men und über euch als König von Israel
»nicht der Christus (der Messias)«. regieren kann.«
1,21.22 Die Juden erwarteten, daß 1,24.25 Die Pharisäer waren eine
Elia vor dem Erscheinen des Messias auf strenge Sekte der Juden, die sich ihres
die Erde kommen würde (Mal 3,23). Des- großen Wissens vom Gesetz und ihrer
halb dachten sie, daß, wenn Johannes Bemühungen rühmten, auch die kleinste
schon nicht der Messias sei, er vielleicht Anweisung des AT zu befolgen. In Wahr-
Elia sein könnte. Doch Johannes versi- heit waren viele von ihnen Heuchler, die
cherte ihnen, daß er es nicht sei. Im versuchten, religiös zu scheinen, aber in
5. Buch Mose hatte Mose gesagt: »Einen Sünde lebten. Sie wollten wissen, welche
Propheten wie mich wird dir der HERR, Autorität Johannes zum Taufen bevoll-
dein Gott, aus deiner Mitte, aus deinen mächtigt hatte, wenn er keiner der wich-
Brüdern, erstehen lassen. Auf ihn sollt tigen Personen war, die sie aufgezählt
ihr hören.« Die Juden erinnerten sich an hatten.
diese Vorhersage und dachten, daß 1,26.27 Johannes antwortete: »Ich tau-
Johannes dieser Prophet sein könnte, der fe mit Wasser.« Er wollte nicht, daß
von Mose erwähnt wird. Aber auch hier irgendwer meinte, daß er wichtig sei. Sei-
sagte Johannes, daß dem nicht so sei. Die ne Aufgabe war einfach, die Menschen
Abordnung hätte sich schämen müssen, auf Christus vorzubereiten. Wann immer
wenn sie ohne eine Antwort nach Jerusa- seine Hörer Buße taten, taufte er sie mit
lem gekommen wären, und deshalb Wasser, um ihre innere Umkehr durch
baten sie ihn nun um eine Aussage, wer ein äußeres Symbol darzustellen. »Mit-
er wäre. ten unter euch steht, den ihr nicht
1,23 »Er sprach: Ich bin die ›Stimme kennt«, fuhr Johannes fort. Damit meinte
eines Rufenden in der Wüste‹.« Als Ant- er natürlich Jesus. Die Pharisäer erkann-
wort auf ihre Frage antwortete der Täu- ten ihn nicht als den langerwarteten Mes-
fer mit einem Zitat aus Jesaja 40,3, wo sias. Praktisch sagte Johannes zu den
vorhergesagt wird, daß ein Vorläufer Pharisäern: »Haltet mich nicht für einen
erscheinen würde, der das Kommen des großartigen Menschen. Auf den Herrn
Christus ankündigen würde. Mit ande- Jesus sollt ihr achtgeben, doch ihr wißt
ren Worten, Johannes sagte von sich, daß nicht, wer er wirklich ist.« Er ist der Eine,
er der vorhergesagte Vorläufer sei. Er der würdig ist. Er kam zwar nach Johan-
war »die Stimme«, Israel war »die nes dem Täufer, doch gebührt ihm alle
Wüste.« Wegen ihrer Sünde und weil sie Ehre und der Vorrang. Es war die Pflicht
sich von Gott entfernt hatten, war das eines Sklaven oder Dieners, dem Herrn
Volk trocken und unfruchtbar geworden, die Sandalen auszuziehen. Aber Johan-
wie eine Wüste. Johannes sprach von nes hielt sich selbst nicht für würdig,

347
Johannes 1

Christus einen solchen bescheidenen, stentums alle Sünden hinweg. »Er


niedrigen Dienst zu tun. nahm die Sünde hinweg, indem er
1,28 Es ist nicht genau bekannt, wo sich selbst hingab.«
das Bethanien lag. Wir wissen nur, daß es 3. Es ist in Hinblick auf das Ausmaß der
sich um einen Ort östlich des Jordan han- Gültigkeit größer. Während die jüdi-
delt. Es kann sich jedoch nicht um Betha- schen Opfer nur für ein einziges Volk
nien bei Jerusalem handeln. gültig waren, ist das Opfer der Chri-
1,29 »Am folgenden Tag« nach dem stenheit für alle Völker bestimmt,
Besuch der Pharisäer von Jerusalem, sah denn »es nimmt die Sünde der Welt
2)
Johannes auf und sieht »Jesus zu sich weg.«
kommen.« In seiner Aufregung rief er: 1,30.31 Johannes wurde nie müde, die
»Siehe, das Lamm Gottes, das die Sünde Menschen daran zu erinnern, daß er nur
der Welt wegnimmt.« Das Lamm war bei den Weg für einen bereitete, der größer
den Juden ein Opfertier. Gott hatte sein war als er selbst, und der noch kommen
erwähltes Volk gelehrt, ein Lamm zu sollte. Jesus war in dem Maße größer als
schlachten und sein Blut als Opfer zu Johannes, wie Gott größer ist als der
versprengen. Das Lamm wurde als Stell- Mensch. Johannes war wenige Monate
vertreter geschlachtet und sein Blut ver- vor Jesus geboren, aber Jesus war von
gossen, damit die Sünden vergeben wer- Ewigkeit her gewesen. Als Johannes sag-
den konnten. te: »Ich kannte ihn nicht«, da meinte er
Dennoch nahm das Blut der Lämmer, nicht unbedingt, daß er ihn nie vorher
die zur Zeit des AT geschlachtet worden gesehen habe.
waren, nicht wirklich die Sünde weg. Da sie Vettern waren, ist es möglich,
Diese Lämmer waren Bilder oder Typen, daß Johannes und Jesus miteinander
die auf die Tatsache hinwiesen, daß Gott wohlbekannt waren. Aber Johannes hat-
eines Tages ein Lamm schenken würde, te vor der Taufe Jesu seinen Vetter nicht
das wirklich die Sünde »wegnehmen« als den Messias erkannt. Der Auftrag des
würde. All die Jahre hatten gottesfürchti- Johannes war es, den Weg des Herrn zu
ge Juden auf das Kommen dieses Lam- bereiten, und dann das Volk Israel auf
mes gewartet. Nun war schließlich die ihn hinzuweisen, wenn er käme. Aus
Zeit gekommen und Johannes der Täufer diesem Grunde taufte Johannes Men-
verkündete siegreich die Ankunft des schen mit Wasser – um sie für das Kom-
wahren Lammes Gottes. men Christi vorzubereiten. Es war nie
Als er sagte, daß Jesus »die Sünde der seine Absicht, sich eine eigene Jünger-
Welt« trägt, meinte er damit nicht, daß schaft aufzubauen.
deshalb schon jedem seine Sünden ver- 1,32 Hier erinnert Johannes an die
geben seien. Der Tod Christi war wert- Taufe Jesu im Jordan. Nachdem der Herr
voll genug, um die Sünden der ganzen aus dem Wasser gestiegen war, kam »der
Welt zu sühnen, aber nur denjenigen Geist« Gottes »wie eine Taube aus dem
Sündern ist vergeben, die den Herrn Himmel« herab (vgl. Matth 3,16). Der
Jesus als Retter annehmen. Schreiber erklärt nun die Bedeutung die-
J. C. Jones weist darauf hin, daß die- ses Vorganges.
ser Vers die Überlegenheit der christli- 1,33 Gott hatte Johannes offenbart,
chen Sühne zeigt: daß der Messias käme und wenn er
1. Das Wesen des Opfers ist größer. käme, der Geist auf ihn herabkommen
Während die Opfer der Juden norma- und auf ihm bleiben werde. Als dies nun
le Lämmer waren, ist das Opfer des mit Jesus geschah, erkannte Johannes,
Christentums das Lamm Gottes. daß dieser der Eine wäre, »der mit Heili-
2. Die Wirksamkeit des Werkes ist gem Geist tauft.« Der Heilige Geist ist
größer. Während die Opfer der Juden eine Person, und zwar eine der drei Per-
nur einmal im Jahr an die Sünden sonen Gottes. Er ist gleich mit Gott dem
erinnerten, nahm das Opfer des Chri- Vater und Gott dem Sohn.

348
Johannes 1

Während Johannes mit Wasser taufte, nenlernen wollten. Sie waren nicht ein-
sollte Jesus »mit Heiligem Geist« taufen. fach damit zufrieden, ihm begegnet zu
Die Taufe mit dem Heiligen Geist fand zu sein. Sie sehnten sich nach Gemeinschaft
Pfingsten statt (Apg 1,5;2,4.38). Zu dieser mit ihm. Rabbi ist das Hebräische Wort
Zeit kam der Heilige Geist vom Himmel für Lehrer (wörtl. »mein Großer«).
herab, um in jedem Gläubigen zu woh- 1,39 »Er spricht zu ihnen: Kommt,
nen und so jeden Gläubigen zu einem und ihr werdet sehen!« Niemand, der
Glied der Gemeinde, dem Leib Christi, das ehrliche Verlangen hat, den Retter
zu machen (1. Kor 12,13). besser kennenzulernen, wird wegge-
1,34 Aufgrund der Ereignisse bei der schickt. Jesus lud die beiden an den Ort
Taufe Jesu bezeugt Johannes ausdrück- ein, an dem er zu dieser Zeit wohnte –
lich die Tatsache, daß Jesus von Nazareth wahrscheinlich eine sehr bescheidene
der »Sohn Gottes« ist, von dem vorher- Bleibe verglichen mit unseren heutigen
gesagt war, daß er in die Welt kommen Wohnungen.
sollte. Als Johannes sagte, daß Christus »Sie kamen nun und sahen, wo er
der »Sohn Gottes« war, meinte er damit, sich aufhielt, und blieben jenen Tag bei
daß er Gott der Sohn ist. ihm. Es war um die zehnte Stunde.« Nie-
mals war diesen Männern eine solche
B. Die Berufung von Andreas, Johan- Ehre widerfahren. Sie verbrachten den
nes und Petrus (1,35-42) Abend im gleichen Haus wie der Schöp-
1,35.36 »Am folgenden Tag« bezieht sich fer des Universums. Sie waren unter den
auf den dritten hier erwähnten Tag. ersten Juden, die den Messias erkannten.
Johannes war mit »zwei von seinen Jün- »Die zehnte Stunde« bedeutet ent-
gern« anwesend. Diese hatten Johannes weder zehn Uhr vormittags oder vier
predigen gehört und seiner Predigt Glau- Uhr nachmittags. Normalerweise nimmt
ben geschenkt. Aber sie waren noch nicht man das erstere an (römische Zeitrech-
dem Herrn Jesus begegnet. Nun gab nung).
Johannes öffentlich Zeugnis vom Herrn. 1,40 Einer der beiden Jünger war
Am vorhergehenden Tag hatte er von Andreas. Andreas ist heute nicht so
Jesu Person (dem Lamm Gottes) und von bekannt wie sein »Bruder Simon« Petrus,
seiner Aufgabe (die Sünden der Welt hin- aber es ist interessant festzuhalten, daß
wegnehmen) gesprochen. Nun richtet er er als erster von beiden Jesus begegnete.
einfach die Aufmerksamkeit auf Jesus. Der Name des anderen Jüngers wird
Seine Botschaft war kurz, einfach und hier nicht angegeben, aber die meisten
selbstlos und drehte sich nur um den Bibelausleger nehmen an, daß es sich um
Retter. Johannes, den Schreiber dieses Evangeli-
1,37 Durch seine treue Predigt verlor ums, handelt. Sie argumentieren, daß ihn
Johannes zwei Jünger, aber er freute sich, die Bescheidenheit davon abhielt, hier
daß sie Jesus folgten. So sollten wir auch seinen Namen zu nennen.
mehr darauf bedacht sein, daß unsere 1,41 Wenn jemand zu Jesus findet,
Bekannten dem Herrn folgen, als daß sie dann will er normalerweise auch, daß
besonders viel von uns halten. seine Verwandten ihm ebenfalls begeg-
1,38 Der Retter ist immer an denen nen. Die Rettung ist zu groß, als daß man
interessiert, die ihm nachfolgen. Hier sie nur für sich behalten möchte. So ging
zeigte er sein Interesse, indem er sich an Andreas mit der aufregenden Nachricht
die beiden Jünger wandte und fragte: »schnell zu seinem eigenem Bruder
»Was sucht ihr?« Er kannte die Antwort Simon . . . Wir haben den Messias gefun-
auf die Frage schon, denn er weiß alle den.« War das eine erstaunliche Nach-
Dinge. Aber er wollte, daß sie ihr Anlie- richt! Mindestens viertausend Jahre hat-
gen in Worte faßten. Ihre Antwort »Rab- ten die Menschen auf den verheißenen
bi, wo hältst du dich auf?« zeigte, daß sie Christus gewartet, den Gesalbten Gottes.
bei dem Herrn sein und ihn besser ken- Nun hört Simon aus dem Mund seines

349
Johannes 1

eigenen Bruders die aufrüttelnde Nach- pus« und lädt ihn zur Nachfolge ein.
richt, daß der Messias nahe ist. Und sie »Folge mir nach!« Dies sind erhabene
lebten wirklich an einem Brennpunkt der Worte, wunderbar wegen ihres Spre-
Geschichte. Wie einfach waren die Worte chers und großartig wegen des Vorrech-
von Andreas. Ihm reichten fünf Worte – tes, das sie anbieten. Der Herr lädt auch
»Wir haben den Messias gefunden« – heute noch alle Menschen auf diese ein-
doch Gott benutzte sie, um Petrus zu fache, doch subtile Weise ein.
gewinnen. Das zeigt uns, daß wir nicht 1,44 Bethsaida war eine Stadt an der
große Prediger oder geschickte Redner Küste des Sees Genezareth. Nur wenige
sein müssen. Wir brauchen den Men- Städte der Welt sind je so geehrt worden.
schen nur in einfachen Worten von dem Der Herr tat hier einige seiner großen
Herrn Jesus zu erzählen, um den Rest Wunder (Lk 10,13). Es war die Heimat-
kümmert Gott sich dann selbst. stadt von Philippus, Andreas und Petrus.
1,42 Andreas führte seinen Bruder an Doch lehnte sie den Herrn ab, und wur-
den richtigen Ort und zu dem richtigen de deshalb so völlig zerstört, daß wir
Mann. Er brachte ihn nicht zur Kirche, heute nicht mehr sagen können, wo sie
zum Glauben oder zum Geistlichen. »Er genau gelegen hat.
führte ihn zu Jesus.« Das war sehr wich- 1,45 Philippus wollte seine neuge-
tig! Weil Andreas so viel daran lag, wur- wonnene Freude mit jemandem teilen
de Simon später ein großer Menschenfi- und so ging er hin und »findet den Nat-
scher und der Führer der Apostel des hanael.« Neubekehrte sind meist die
Herrn. Simon ist sicherlich berühmter besten Seelengewinner. Die Botschaft des
geworden als sein Bruder, aber Andreas Philippus war einfach und direkt. Er sag-
wird zweifellos an der Belohnung des te Nathanael, daß er den Messias gefun-
Petrus Anteil haben, weil er es war, der den habe, der von Mose und den Pro-
ihn zu Jesus brachte. Der Herr kannte pheten verkündigt worden war – »Jesus,
den Namen des Petrus, ohne daß man den Sohn des Joseph, von Nazareth.«
ihn ihm gesagt hätte. Er wußte auch, daß Eigentlich war seine Botschaft nicht ganz
Simon ein solch unzuverlässiges Wesen korrekt. Er sagte, daß Jesus der Sohn
hatte. Und letztlich wußte er auch, daß Josephs sei. Jesus hatte aber keinen
Petrus sich verändern würde, so daß er natürlichen Vater, denn er war von der
fest wie ein Fels stehen würde. Aber Jungfrau Maria geboren worden. Joseph
woher wußte Jesus das alles? Er war und hatte Jesus adoptiert und wurde so recht-
ist eben Gott. lich sein Vater, auch wenn er nicht der
Simon bekam den Namen Kephas leibliche Vater war. James S. Stewart
(aramäisch: Stein), und er wurde ein cha- merkt dazu an:
rakterfester Mann, insbesondere nach Es war nie Christi Art, direkt zu Beginn
der Auferstehung des Herrn und dem einen völlig reifen Glauben zu verlangen. Es
Kommen des Heiligen Geistes. war nie seine Art, Menschen von der Jünger-
schaft auszuschließen, nur weil sie noch
C. Die Berufung von Philippus und nicht alle Einzelheiten des Glaubens kennen.
Nathanael (1,43-51) Und ganz sicherlich ist das auch heute noch
1,43 Das ist nun der vierte Tag, von dem nicht seine Art. Er stellt sich an die Seite sei-
wir in diesem Kapitel lesen. Bosch weist ner Brüder. Er bittet sie, sich in jeder Hin-
darauf hin, daß wir am ersten Tag nur sicht an ihn zu binden. Er nimmt sie mit dem
Johannes sehen (V. 15-28), am zweiten Glauben an, den sie ihm bringen können. Er
sehen wir Johannes und Jesus (V. 29-34), gibt sich zunächst damit zufrieden und weist
am dritten sehen wir Jesus und Johannes sie von da als seine Freunde weiter, so wie er
(V 35-42) und am vierten Tag sehen wir die ersten Jünger Schritt für Schritt weiter-
nur Jesus (V. 43-51). Der Herr wanderte führte, bis sie das Geheimnis seiner Person
nach Norden in das Gebiet, das Galiläa und die Herrlichkeit der Jüngerschaft
3)
genannt wurde. Dort »findet er Philip- erkannten.

350
Johannes 1 und 2

1,46 Nathanael hatte Probleme. Naza- 1,51 Wann immer Jesus eine Aussage
reth war eine verachtete Stadt in Galiläa. mit den Worten »wahrlich, wahrlich«
4)
Es schien ihm unmöglich, daß der Mes- einleitete (wörtlich: Amen, Amen ), sag-
sias in so einer armen Gegend wohnen te er etwas außerordentlich Wichtiges.
würde. Und so gab er der Frage Aus- Hier beschrieb er Nathanael ein zukünf-
druck, die ihn beschäftigte. Philippus tiges Bild, das auf die Zeit hinwies, wenn
diskutierte nun nicht mit ihm herum. Er er wiederkommen würde, um über die
war der Meinung, daß es am einfachsten Erde zu regieren. Die Welt wird dann
war, allen Einwänden zu begegnen, in- wissen, daß der Zimmermannssohn, der
dem man die Menschen direkt mit Jesus in dem verachteten Nazareth gelebt hat,
bekannt machte – eine wertvolle Lektion wirklich der Sohn Gottes und der König
für alle, die versuchen, andere für Chri- Israels ist. An diesem Tag wird »der
stus zu gewinnen. Keine großartigen Himmel geöffnet« sein. Das Wohlwollen
Argumente, keine langen Diskussionen. Gottes wird auf dem König liegen, wenn
Lade einfach Menschen ein »zu kommen er von Jerusalem aus regiert.
und zu sehen.« Es ist wahrscheinlich, daß Nathanael
1,47 Dieser Vers zeigt, daß Jesus alles über die Geschichte von der Jakobsleiter
weiß. Ohne vorher mit Nathanael be- nachgedacht hatte (1. Mose 28,12). Diese
kannt zu sein, erklärte er, daß er »ein Leiter, auf der die Engel herab und hin-
Israelit, in dem kein Trug ist« sei. Jakob, aufsteigen, ist ein Bild für den Herrn
der später von Gott den Namen Israel Jesus Christus selbst, dem einzigen
erhielt, war berüchtigt für seine nicht Zugang zum Himmel. »Die Engel Gottes
ganz ehrlichen Geschäftsmethoden, aber werden auf- und niedersteigen auf den
Nathanael war ein »Israel«, in dem kein Sohn des Menschen.« Engel sind Diener
»Jakob« war. Gottes, die wie Feuerflammen in seinem
1,48 Nathanael war offensichtlich Auftrag handeln. Wenn Jesus als König
überrascht, daß ein total Fremder zu ihm regiert, werden diese Engel zwischen
reden konnte, als ob er ihn schon kennen Himmel und Erde hin und her reisen, um
würde. Offensichtlich war er ganz ver- seinen Willen zu erfüllen.
steckt gewesen, als er »unter dem Feigen- Jesus sagte Nathanael damit, daß er
baum« gesessen hatte. Wahrscheinlich nur eine sehr kleine Demonstration sei-
hatten die niederhängenden Zweige von ner Messianität gesehen hatte. Während
Bäumen und Gestrüpp ihn verdeckt. Aber der zukünftigen Herrschaft Christi wür-
Jesus sah ihn, obwohl er so versteckt war. de er den Herrn Jesus als Gottes gesalb-
1,49 Vielleicht war es die Fähigkeit ten Sohn in voller Offenbarung sehen.
des Herrn Jesus, ihn zu sehen, wo er Dann würde die ganze Menschheit wis-
doch vor allen menschlichen Blicken ver- sen, daß aus Nazareth jemand Gutes
borgen gewesen war, die Nathanael da- kommen konnte.
von überzeugte, wer der Herr Jesus war,
oder dieses Wissen wurde ihm auf über- D. Das erste Zeichen: Die
natürliche Weise gegeben. Jedenfalls Verwandlung von Wasser in Wein
wußte er nun, daß Jesus »der Sohn Gott- (2,1-11)
es, der König Israels« ist. 2,1 »Am dritten Tag« bezieht sich zwei-
1,50 Der Herr hatte Nathanael zwei fellos auf den dritten Tag des Aufenthal-
Beweise seiner Messianität gegeben. Er tes Jesu in Galiläa. In 1,43 ging Jesus in
hatte Nathanaels Charakter beschrieben dieses Gebiet. Wir wissen nicht genau,
und er hatte Nathanael gesehen, als nie- wo Kana lag, aber aus Vers 12 dieses
mand anders ihn hätte sehen können. Kapitels können wir schließen, daß es bei
Diese beiden Beweise waren für Nat- Kapernaum und höher als dieses lag.
hanael ausreichend und er glaubte. Aber Es »war eine Hochzeit zu Kana in
nun versprach der Herr Jesus ihm, daß er Galiläa« an diesem Tag, »und die Mutter
»Größeres als dies sehen« sollte. Jesu war dort.« Es ist interessant, daß

351
Johannes 2

hier von Maria als der »Mutter Jesu« de Christus zeigen konnte, mußte er erst
gesprochen wird. Jesus war nicht be- auf den Opferaltar steigen, was er am
rühmt, weil er der Sohn der Jungfrau Kreuz von Golgatha tat.
Maria war, sondern sie war bekannt, weil Williams weist auf Folgendes hin:
sie die Mutter unseres Herrn war. Die Der Ausdruck »Was habe ich mit dir zu
Schrift gibt immer Jesus den ersten Platz, schaffen?« findet sich öfters in der Bibel. Er
nicht Maria. bedeutet: »Was haben wir gemeinsam?« Die
2,2 »Es war aber auch Jesus mit sei- Antwort lautet: »Nichts.« David benutzt ihn
nen Jüngern zu der Hochzeit geladen.« zweimal in bezug auf seine Vettern, die Söhne
Es war ein weiser Entschluß derer, die der Zerujah. Wie unmöglich war es für sie, im
die Hochzeit ausrichteten, auch Christus geistlichen Leben etwas mit ihm gemeinsam
einzuladen. So ist es auch heute noch ein zu haben! Elisa benutzt den Ausdruck in
weiser Entschluß, wenn Menschen heute 2. Könige 2 um auszudrücken, welch eine tie-
den Herrn zu ihrer Hochzeit einladen. fe Kluft zwischen ihm und Joram, Sohn des
Um das tun zu können, müssen natürlich Ahab bestand. Dreimal zeigen die Dämonen,
Braut und Bräutigam echte Gläubige indem sie denselben Ausdruck benützen, daß
sein. Dann müssen sie ihr gemeinsames Satan nichts mit Christus gemein oder Chri-
Leben dem Retter übergeben und be- stus mit Satan gemein hat. Und schließlich
stimmen, daß ihre Familie ein Ort sein verwandte der Herr den Ausdruck gegenüber
soll, an dem er sich gerne aufhält. der Jungfrau Maria, um zu zeigen, wie unü-
2,3 Der Vorrat an Wein ging aus. Als berbrückbar die Kluft zwischen seiner sündlo-
»die Mutter Jesu« erkannte, was passiert sen Gottheit und ihrer sündigen Menschlich-
war, ging sie mit diesem Problem zu keit ist, und daß er nur einer Stimme gehor-
5)
ihrem Sohn. Sie wußte, daß er ein Wun- chen konnte.
der tun konnte, um Wein zu beschaffen, 2,5 Maria verstand die Bedeutung
und vielleicht wollte sie auch, daß ihr dieser Worte. Deshalb wies sie die Diener
Sohn sich den versammelten Gästen als an, »was er euch sagen mag« auch zu
Sohn Gottes offenbarte. Wein steht in der tun. Ihre Worte sind für jeden von uns
Schrift oft symbolisch für Freude. Als wichtig. Man beachte, daß sie die Men-
Maria sagte: »Sie haben keinen Wein«, schen nicht anwies, ihr zu gehorchen,
gab sie deshalb eine sehr genaue Be- oder sonst einem Menschen. Sie verwies
schreibung von Menschen, die nicht ge- sie an den Herrn Jesus, und sagte ihnen,
rettet sind. Für die Ungläubigen gibt es daß er derjenige sei, dem man gehorchen
keine echte, dauerhafte Freude. sollte. Die Lehren des Herrn Jesus finden
2,4 Die Antwort des Herrn an seine wir im NT. Wenn wir dieses wertvolle
Mutter scheint kalt und unfreundlich. Buch lesen, dann sollten wir die letzten
Aber sie enthält keine so scharfe Zurecht- uns überlieferten Worte Marias im Ge-
weisung, wie uns scheinen mag. Das dächtnis halten: »Was er euch sagen mag,
Wort »Frau«, das hier verwendet wurde, tut.«
ist eine respektvolle Anrede, ähnlich 2,6 Es gab in dem Haus, in dem die
dem Wort »Madame.« Als unser Herr Hochzeit gefeiert wurde, sechs große
fragte: »Was habe ich mit dir zu schaffen, »steinerne Wasserkrüge, . . . wovon jeder
Frau?« wollte er zeigen, daß er bei der zwei oder drei Maß faßte«. Dieses Wasser
Ausführung seines göttlichen Auftrages wurde normalerweise von den Juden
nicht den Anweisungen seiner Mutter benutzt, um sich von zeremonieller Ver-
unterstand, sondern daß er ausschließ- unreinigung zu befreien. Wenn etwa ein
lich im Gehorsam gegen den Willen sei- Jude einen Toten berührt hatte, war er
nes Vaters im Himmel handelte. Maria »unrein«, bis er sich einer bestimmten
wollte, daß ihr Sohn geehrt wurde, aber Reinigungszeremonie unterzogen hatte.
er mußte sie daran erinnern, daß seine 2,7 Jesus gab nun die Anweisung,
»Stunde noch nicht gekommen ist.« Ehe »die Wasserkrüge mit Wasser« zu füllen.
er sich der Welt als der alles beherrschen- Das taten die Diener sofort. Der Herr

352
Johannes 2

benutzte immer die Möglichkeiten, die er ten. Nachdem sie viel gegessen und
vorfand, um ein Wunder zu tun. Er getrunken hatten, würden sie auf die
gestattet den Menschen, ihm Wasserkrü- Qualität des Weins nicht mehr so achtge-
ge zur Verfügung zu stellen und sie mit ben. Aber auf dieser Hochzeit wurde der
Wasser zu füllen, aber dann tat er, was beste Wein zum Schluß gereicht. Das hat
kein Mensch je hätte tun können – er ver- für uns eine geistliche Bedeutung. Die
wandelte Wasser in Wein! Es waren die Welt bietet uns normalerweise das Beste
Diener und nicht die Jünger, die die Krü- zuerst an. Junge Leute werden durch ihre
ge mit Wasser füllten. Auf diese Art und besten Angebote verlockt. Wenn sie dann
Weise schloß der Herr jede Möglichkeit ihr Leben bei leeren Vergnügungen ver-
eines Betruges aus. Auch wurden die schwendet haben, hat die Welt im Alter
Krüge »bis oben an« gefüllt, so daß kei- nichts anderes mehr als den bitteren
ner behaupten konnte, daß Wein zu dem Bodensatz zu bieten. Das christliche
Wasser geschüttet worden wäre. Leben verläuft genau umgekehrt. Es
2,8 Das Wunder hatte nun stattgefun- wird immer besser. Christus hebt uns
den. Der Herr wies die Diener an, aus den besten Wein für den Schluß auf, auf
den Krügen zu schöpfen und »es dem das Fasten folgt ein Fest.
Speisemeister« zu bringen. Daran wird Dieser Schriftabschnitt kann sehr
deutlich, daß das Wunder sofort gesch- direkt auf das Volk Israel angewendet
ah. Das Wasser wandelte sich nicht in werden. Zu dieser Zeit gab es im Juden-
längerer Zeit in Wein um, sondern in tum keine wahre Freude. Das Volk unter-
Sekundenschnelle. zog sich einer ermüdenden Reihe von
2,9 Der Speisemeister hatte für das Riten und Zeremonien, aber ihr Leben
Decken der Tische und für die Speisen zu war geschmacklos. Sie kannten die gött-
sorgen. Als er »das Wasser gekostet hat- liche Freude nicht. Der Herr Jesus ver-
te«, merkte er, daß etwas ungewöhnli- suchte, sie zu lehren, an ihn zu glauben.
ches damit geschehen war. »Er wußte Er wollte ihr tristes Leben zur Fülle der
nicht, woher der Wein war«, aber er wuß- Freude führen. Das Wasser der jüdischen
te, daß er von sehr guter Qualität war, so Riten und Zeremonien konnte in den
daß er sofort den Bräutigam rief. Wein der freudigen Realität in Christus
Wie sollten Christen heute zum Wein- verwandelt werden.
trinken stehen? Manchmal wird Wein 2,11 Die Aussage, daß dies der
(oder anderer Alkohol) aus medizini- »Anfang der Zeichen« Jesu war, schließt
schen Gründen verschrieben, und das die dummen sogenannten »Wunder«
deckt sich einwandfrei mit der Lehre des aus, die unserem Herrn in seiner Kind-
NT (1. Tim 5,23). Dennoch werden die heit zugeschrieben wurden. Diese findet
meisten Christen sich des Weins trotz- man in apokryphen Evangelien, etwa im
dem enthalten wollen, weil so viel Petrusevangelium. Sie schreiben unse-
Schlimmes im Zusammenhang mit Alko- rem Herrn Wunder zu, die er angeblich
holmißbrauch geschieht. Jeder kann vom in seiner Kindheit vollbracht haben soll
Alkohol abhängig werden. Diese Gefahr und die hart an die Grenze der Blasphe-
umgeht man, indem man alkoholische mie reichen. Der Heilige Geist sah das
Getränke meidet. Und außerdem muß voraus und bewahrte die Zeit der Kind-
man ständig die Folgen des eigenen Han- heit und auch seinen Charakter durch
delns für andere berücksichtigen. diese kleine Anmerkung vor Legenden-
2,10 Der Speisemeister lenkt unsere bildung.
Aufmerksamkeit darauf, wie anders als Wasser in Wein zu verwandeln, war
wir Menschen unser Herr Jesus handelt. ein »Zeichen«, d. h. ein Wunder mit einer
Normalerweise war es bei einer Hochzeit Bedeutung. Es war eine übermenschliche
üblich, den besten Wein dann zu servie- Tat mit einer geistlichen Lehre. Diese
ren, wenn die Leute noch am besten sein Wunder sollten zeigen, daß Jesus wirk-
Bukett wahrnehmen und genießen konn- lich der Christus Gottes war. Indem er

353
Johannes 2

dieses Wunder tat, »offenbarte er seine Wechsler die so weit Angereisten oft
Herrlichkeit.« Er offenbarte den Men- schamlos ausnützten.
schen, daß er wirklich Gott war – im 2,15 Die »Geißel«, die der Herr mach-
Fleisch gekommen. »Seine Jünger glaub- te, war wahrscheinlich eine kleine Peit-
ten an ihn.« Natürlich glaubten sie in sche »aus Stricken.« Es wird nicht gesagt,
gewissem Sinne schon vorher an ihn, daß er wirklich jemanden damit schlug.
aber nun wurde ihr Glaube gestärkt und Es ist wahrscheinlicher, daß sie nur ein
sie vertrauten ihm vollkommener. Cynd- Symbol seiner Autorität war, das er in
dylan Jones erwähnt: der Hand hielt. Er schwenkte sie wahr-
Moses erstes Wunder war es, Wasser in scheinlich vor sich und trieb die Händler
Blut zu verwandeln, was einen sehr zerstöre- so »zum Tempel hinaus« und die Tische
rischen Charakter hat. Aber das erste Wun- der Geldwechsler »warf er um.«
der Christi war es, Wasser in Wein zu ver- 2,16 Das Gesetz erlaubte es den
wandeln, was eher einen tröstenden Effekt Armen, ein Paar Tauben zu opfern, weil
6)
hatte. sie sich die teureren Tiere nicht leisten
konnten. »Den Taubenverkäufern«
E. Der Sohn Gottes reinigt seines befahl er: »Nehmt dies weg von hier.« Es
Vaters Haus (2,12-17) gehörte sich nicht, das Haus seines
2,12 Jesus verließ nun Kana und »ging . . . Vaters »zu einem Kaufhaus« zu machen.
hinab nach Kapernaum«, zusammen mit Zu allen Zeiten hat Gott sein Volk
seiner Mutter, seinen Brüder und seinen gewarnt, sich nicht durch religiöse Dien-
Jüngern. Sie blieben nur wenige Tage in ste zu bereichern. Es gab nichts Grausa-
Kapernaum. Schon bald ging der Herr mes oder Unrechtes an all diesen Taten
hinauf nach Jerusalem. Jesu. Sie waren nur Ausdruck seiner Hei-
2,13 Hier an diesem Punkt haben wir ligkeit und Gerechtigkeit.
das erste Zeugnis unseres Herrn in Jeru- 2,17 Als seine Jünger sahen was
salem. Diese Phase seines Dienstes er- geschah, erinnerten sie sich an
streckt sich bis Kapitel 3,21. Er begann Psalm 69,9, in dem vorausgesagt wurde,
und beendete sein öffentliches Wirken daß, wenn der Messias käme, er regel-
mit einer Tempelreinigung zur Zeit des recht vom Eifer für Gott »verzehrt« wür-
Passah (vgl. Matth 21,12.13; Mk 11,15-18; de. Nun sahen sie, wie Jesus darauf be-
Lk 19,45.46). Das Passah war ein jährli- stand, daß der Gottesdienst rein erhalten
ches Fest zur Erinnerung an die Zeit, als wurde und sie erkannten, daß er es war,
die Kinder Israel aus der Sklaverei in von dem der Psalmist redete.
Ägypten und durch das Rote Meer zu- Wir sollten uns daran erinnern, daß
nächst in die Wüste und dann ins gelob- der Leib des Christen der Tempel des
te Land geführt wurden. Die erste Pas- Heiligen Geistes ist. Ebenso wie der Herr
sahfeier ist in 2. Mose 12 erwähnt. Da Jesus darauf bedacht war, daß der Tem-
Jesus ein treuer Jude war, ging er zu die- pel in Jerusalem rein gehalten wurde, so
sem bedeutsamen Datum »hinauf nach müssen auch wir dafür sorgen, daß unse-
Jerusalem.« re Leiber dem Herrn zur ständigen Reini-
2,14 Als er zum Tempel kam, fand er, gung hingegeben werden.
daß dieser zum Marktplatz geworden
war. Ochsen, Schafe und Tauben wurden F. Jesus sagt seinen Tod und seine
verkauft, und auch die Geldwechsler Auferstehung voraus (2,18-22)
gingen ihren Geschäften nach. Die Tiere 2,18 Es scheint, daß das Jüdische Volk
wurden den Gläubigen als Opfertiere immer nach Zeichen und Wundern Aus-
verkauft. Die Wechsler nahmen das Geld schau hielt. Sie sagten praktisch: »Wenn
derer, die aus fernen Ländern kamen und du für uns ein großes übermächtiges
tauschten es in Jerusalemer Geld um, so Werk tust, dann werden wir glauben.«
daß die Pilger die Tempelsteuer zahlen Doch der Herr Jesus wirkte ein Wunder
konnten. Es ist bekannt, daß diese nach dem anderen und trotzdem ver-

354
Johannes 2 und 3

schlossen sie ihre Herzen vor ihm. In G. Viele behaupten, an Christus zu


Vers 18 stellten sie seine Autorität in Fra- glauben (2,23-25)
ge, mit der er die Geschäftsleute aus dem 2,23 Als Folge der Zeichen, die Jesus in
Tempel ausgetrieben hatte. Sie verlang- Jerusalem tat, »glaubten viele an seinen
ten, daß er ein Zeichen tun sollte, um sei- Namen«. Daß heißt nicht unbedingt, daß
nen Anspruch zu untermauern, der Mes- sie ihm wirklich im einfachen Vertrauen
sias zu sein. ihr Leben hingaben, sondern, daß sie
2,19 Als Antwort machte der Herr behaupteten, ihn anzunehmen. Doch
Jesus eine erstaunliche Aussage über sei- war ihre Tat nicht echt, sie gaben nur
nen Tod und seine Auferstehung. Er sag- nach außen hin vor, daß sie Jesus folgten.
te ihnen, daß sie seinen Tempel zerstören Es war den Zuständen ähnlich, die wir
würden, doch er würde ihn in drei Tagen heute in der Welt haben, in der viele
wieder aufrichten. Wieder sehen wir in Menschen behaupten, Christen zu sein,
diesem Vers die Gottheit Christi. Nur die niemals wirklich durch den Glauben
Gott konnte sagen: »In drei Tagen werde an den Herrn Jesus Christus wiedergebo-
ich ihn aufrichten.« ren worden sind.
2,20 Die Juden verstanden ihn jedoch 2,24 Obwohl viele an ihn glaubten,
nicht. Sie waren an materiellen Gütern glaubte Jesus doch nicht an sie (im grie-
mehr interessiert als an geistlichen. Der chischen Text steht hier das gleiche
einzige Tempel, den sie sich vorstellen Wort). Das heißt, er »vertraute sich ihnen
konnten, war der Tempel Herodes’, der nicht an«. Er wußte, daß sie aus Neugier
zu dieser Zeit in Jerusalem stand. Es hat- zu ihm gekommen waren. Sie suchten
te »sechsundvierzig Jahre« gedauert, nach etwas Neuem, nach Spektakulärem.
um diesen Tempel zu bauen, und sie »Er kannte alle« – ihre Gedanken und
sahen keine Möglichkeit, wie jemand Motive. Er wußte, warum sie sich so ver-
ihn in drei Tagen wieder aufbauen hielten. Er wußte, ob ihr Glaube echt
könnte. oder nur vorgetäuscht war.
2,21 Der Herr Jesus sprach jedoch von 2,25 Niemand kannte die Menschen
»seinem Leib«, welcher der Tempel war, besser als der Herr. Er »hatte nicht nötig,
in dem die Fülle der Gottheit wohnte. So daß jemand . . . von den Menschen« ihn
wie die Juden den Tempel in Jerusalem etwas lehre. Er wußte genau, was »in
entweihten, so würden sie auch ihn in dem Menschen war«, und warum er sich
wenigen Jahren töten. auf eine bestimmte Weise verhält.
2,22 Später, nachdem der Herr Jesus
gekreuzigt und »aus den Toten aufer-
weckt war, gedachten seine Jünger dar- H. Jesus belehrt Nikodemus über die
an, daß er« vorausgesagt hatte, daß er Wiedergeburt (3,1-21)
nach drei Tagen wieder auferstehen wür- 3,1 Die Geschichte von Nikodemus steht
de. Mit dieser wunderbaren Erfüllung im starken Kontrast zum eben Berichte-
der Prophetie vor Augen glaubten sie ten. Viele Juden in Jerusalem behaupte-
»der Schrift und dem Wort, das Jesus ten, an den Herrn zu glauben, doch der
gesprochen hatte.« Herr wußte, daß ihr Glaube nicht echt
Oft begegnen uns schwerverständli- war. Nikodemus war eine Ausnahme.
che Wahrheiten. Aber wir lernen hieraus, Der Herr wußte, daß er ein ernstes Ver-
daß wir das Wort Gottes in unseren Her- langen nach der Erkenntnis der Wahrheit
zen bewahren sollten. Der Herr wird es hatte. Vers 1 schließt deshalb mit einem
uns später erklären, auch wenn wir es verbindenden »aber« an: »Es war aber ein
jetzt noch nicht verstehen. Wenn es heißt, Mensch aus den Pharisäern mit Namen
daß sie »der Schrift glaubten«, dann Nikodemus, ein Oberster der Juden.«
bedeutet das, daß sie den alttestamentli- Nikodemus war ein in seinem Volk
chen Verheißungen über die Auferste- anerkannter Lehrer. Vielleicht kam er
hung des Messias glaubten. zum Herrn, um Unterweisung zu emp-

355
Johannes 3

fangen, damit er mit dieser zusätzlichen »von neuem geboren« werden muß,
Information zu den Juden zurückkehren wenn er in dieses Reich kommen will.
konnte. Ebenso wie die leibliche Geburt als
3,2 Die Bibel sagt uns nicht, warum Beginn des irdischen Lebens notwendig
Nikodemus »bei Nacht« zu Jesus kam. ist, so ist für das göttliche Leben eine
Die einfachste Erklärung ist, daß er sich zweite Geburt vonnöten. (Der Ausdruck
geschämt hätte, wenn er dabei gesehen »von neuem geboren« könnte auch mit
worden wäre, zu Jesus zu gehen, weil der »von oben geboren« übersetzt werden.)
Herr bisher noch keinesfalls von der Mit anderen Worten, das Reich Christi
Mehrheit der Juden anerkannt wurde. kann nur von denen erreicht werden,
Und dennoch kam er zu Jesus. Nikode- deren Leben verändert worden ist. Weil
mus erkannte an, daß Jesus ein »Lehrer« seine Herrschaft gerecht ist, müssen auch
sei, »von Gott gekommen«, weil nie- seine Untertanen gerecht sein. Er kann
mand solche Wunder tun konnte, ohne nicht über Menschen herrschen, die noch
daß er dabei Hilfe von Gott habe. Trotz in ihrer Sünde leben.
seiner großen Gelehrtheit erkannte Niko- 3,4 Hier sehen wir wieder, wie
demus nicht, daß mit Jesus Gott im schwer es für Menschen war, die Worte
Fleisch gekommen war. Er war wie so des Herrn Jesus zu verstehen. Nikode-
viele Menschen heute, die sagen, daß mus bestand darauf, alles wörtlich zu
Jesus ein großer Mensch war, ein wun- verstehen. Er konnte nicht verstehen, wie
derbarer Lehrer und ein großes Vorbild. ein Erwachsener noch einmal geboren
Aber alle diese Aussagen über ihn kom- werden kann. Er machte sich Gedanken
men nicht annähernd an die Wahrheit darüber, daß es physisch unmöglich ist,
heran. Jesus war und ist Gott. daß ein Mensch »zum zweiten Mal in
3,3 Oberflächlich betrachtet scheint den Leib seiner Mutter eingehen und
Jesu Antwort nichts mit dem zu tun zu geboren werden« kann. Nikodemus ist
haben, was Nikodemus soeben gesagt ein Beispiel für die Aussage: »Ein natür-
hat. Doch der Herr sagt: »Nikodemus, du licher Mensch aber nimmt nicht an, was
bist zu mir gekommen, um noch gelehr- des Geistes Gottes ist, denn es ist ihm
ter zu werden, aber was du wirklich eine Torheit, und er kann es nicht erken-
brauchst, ist eine Wiedergeburt. Da ist nen, weil es geistlich beurteilt wird«
der Anfang. Du mußt ›von neuem gebo- (1. Kor 2,14).
ren‹ werden. Andernfalls wirst du nie in 3,5 Zur weiteren Erklärung sagte
das Reich Gottes kommen.« Jesus, daß Nikodemus aus »Wasser und
Der Herr beginnt diese wunderbaren Geist geboren« werden müsse. Anderen-
Worte mit dem Ausdruck »Wahrlich, falls würde er nie ins Reich Gottes kom-
wahrlich« (wörtl. Amen, Amen). Diese men.
Worte bestätigen uns die Tatsache, daß er Was meinte Jesus damit? Viele beste-
hier eine wichtige Wahrheit ausspricht. hen darauf, daß Jesus hier Wasser wört-
Als Jude hatte Nikodemus auf einen lich verstanden wissen will und daß der
Messias gewartet, der kommen und Isra- Herr Jesus von der Notwendigkeit der
el von der Herrschaft Roms befreien soll- Taufe für die Errettung spreche. Doch hat
te. Das römische Reich beherrschte zu eine solche Lehre den Rest der Bibel
dieser Zeit die ganze Welt, und die Juden gegen sich. In der gesamten Bibel lesen
waren seinen Gesetzen und seiner Regie- wir, daß die Erlösung nur aus dem Glau-
rung unterstellt. Nikodemus sehnte sich ben an den Herrn Jesus Christus
nach der Zeit, zu der der Messias sein geschieht. Die Taufe ist für solche Men-
Reich auf Erden errichten und das jüdi- schen bestimmt, die schon für die Ewig-
sche Volk die Völkergemeinschaft keit errettet sind, aber sie ist kein Mittel
anführen würde und alle Feinde Israels der ewigen Errettung. Einige Ausleger
besiegt sein würden. Nun sagte der Herr schlagen vor, daß »Wasser« in diesem
Jesus dem Nikodemus, daß der Mensch Vers sich auf das Wort Gottes bezieht. In

356
Johannes 3

Epheser 5,25 wird Wasser in enge Verbin- dert. Der Ausdruck »was aus dem
dung zum Wort Gottes gebracht. Auch Fleisch geboren ist, ist Fleisch« bedeutet,
wird in 1. Petrus 1,23 und Jakobus 1,18 daß Kinder, die von menschlichen Eltern
ausgesagt, daß die Wiedergeburt durch geboren werden, in Sünde geboren sind,
das Wort Gottes geschieht. Es ist deshalb und hoffnungs- und hilflos sind, wenn es
gut möglich, daß das Wort »Wasser« sich darum geht, sich selbst zu erretten.
in unserem Vers auf die Bibel bezieht. Andererseits gilt: »Was aus dem Geist
Wir wissen, daß es ohne die Schrift keine geboren ist, ist Geist.« Wenn jemand dem
Errettung gibt. Es ist die Botschaft der Herrn Jesus sein Vertrauen schenkt, dann
Schrift, die vom Sünder angenommen findet eine geistliche Geburt statt. Wer
werden muß, ehe er wiedergeboren wer- durch den Geist wiedergeboren wird,
den kann. empfängt eine neue Natur, die es mög-
Doch kann »Wasser« hier auch für lich macht, ins Reich Gottes zu kommen.
den Heiligen Geist stehen. In Johan- 3,7 Nikodemus sollte sich nicht über
nes 7,38.39 spricht Jesus von »Strömen die Lehren des Herrn Jesus wundern. Er
lebendigen Wassers.« Uns wird ansch- mußte erkennen, daß man wiedergebo-
ließend ausdrücklich gesagt, daß Jesus ren werden muß. Er mußte verstehen,
vom Heiligen Geist sprach, als er das daß die menschliche Natur völlig
Wort »Wasser« verwendete. Wenn »Was- unfähig ist, sich selbst von ihrem Fall zu
ser« in Kapitel 7 für den Heiligen Geist erlösen. Er mußte erkennen, daß jeder,
steht, warum sollte dasselbe nicht für der ein Bürger des Reiches Gottes sein
Kapitel 3 gelten? wollte, heilig, rein und geistlich sein
Dennoch scheint es eine Schwierig- muß.
keit zu geben, wenn man diese Interpre- 3,8 Wie der Herr Jesus es oft tat,
tation annimmt. Jesus sagt: »Wenn benutzte er nun ein Beispiel aus der
jemand nicht aus Wasser und Geist gebo- Natur, um eine geistliche Wahrheit zu
ren wird, kann er nicht in das Reich Gott- verdeutlichen. Er erinnerte Nikodemus
es eingehen.« Wenn man annimmt, daß daran, daß »der Wind weht, wo er will«,
Wasser hier Geist bedeutet, so würde der und daß man »sein Sausen« hören kann,
Geist in diesem Vers zweimal erwähnt. ohne zu wissen, »woher er kommt und
Aber das Wort und könnte auch mit wohin er geht.« Die Wiedergeburt hat
»oder sogar« übersetzt werden. Dann viel mit dem Wind gemein. Als erstes fin-
würde der Vers lauten: »Wenn jemand det sie nach dem Willen Gottes statt. Der
nicht aus Wasser, oder sogar nicht aus Mensch hat keine Gewalt über sie. Zwei-
Geist geboren wird, kann er nicht in das tens ist die Wiedergeburt unsichtbar.
Reich Gottes eingehen.« Wir glauben, Man kann nicht sehen, wann sie stattfin-
daß dies die eigentliche Bedeutung des det, aber man kann ihre Auswirkungen
Verses ist. Die leibliche Geburt reicht im Leben des Wiedergeborenen erken-
7)
nicht aus. Eine geistliche Geburt ist not- nen. Wenn jemand errettet ist, dann ver-
wendig, um in das Reich der Himmel zu ändert er sich. Das Böse, das er einstmals
gelangen. Diese geistliche Geburt wird geliebt hat, haßt er nun. Das Göttliche,
durch den Heiligen Geist bewirkt, wenn das er früher verachtete, liebt er nun. So,
man an den Herrn Jesus Christus glaubt. wie man den Wind nicht völlig verstehen
Diese Interpretation wird von der Tatsa- kann, ist die Wiedergeburt ein wunder-
che unterstützt, daß der Ausdruck »aus bares Werk des Geistes Gottes, das der
Geist geboren« in den folgenden Versen Mensch nicht völlig verstehen kann.
zweimal zu finden ist (V. 6.8). Außerdem ist die Wiedergeburt, wie der
3,6 Auch wenn es Nikodemus auf Wind, nicht vorhersagbar. Es ist unmög-
irgendeine Art gelungen wäre, in den lich zu sagen, wann und wo eine Wieder-
Leib seiner Mutter zurückzukehren und geburt stattfinden wird.
zum zweiten Mal geboren zu werden, 3,9 Und wieder beweist uns Nikode-
hätte das seine Sündennatur nicht verän- mus die Unfähigkeit des menschlichen

357
Johannes 3

Geistes, göttliche Angelegenheiten zu ist hinaufgestiegen in den Himmel«,


begreifen. Zweifellos dachte er noch meinte er nicht, daß solche Heiligen des
immer an die Wiedergeburt als einen AT wie Henoch oder Elia nicht in den
natürlichen oder leiblichen Vorgang, statt Himmel aufgenommen wurden, sondern
sich über einen geistlichen Vorgang Ge- daß sie hinaufgenommen wurden, wäh-
danken zu machen. Deshalb fragte er den rend er durch seine eigene Macht »in den
Herrn Jesus: »Wie kann dies geschehen?« Himmel hinaufgestiegen« ist. Eine ande-
3,10 »Jesus antwortete«, daß Nikode- re Erklärung wäre, daß kein anderer
mus das als »Lehrer Israels« hätte wissen Mensch so Zugang zur Gegenwart Gottes
müssen. Die Schriften des AT lehrten hat wie Jesus. Er konnte auf einzigartige
deutlich, daß der Messias, wenn er auf die Weise zu dem Ort hinaufsteigen, an dem
Erde zurückkehren würde, zuerst seine Gott wohnt, weil er aus dem Himmel auf
Feinde richten und alles zerstören würde, diese Erde hinabgestiegen war. Sogar als
was ihm entgegensteht. Nur diejenigen, der Herr Jesus auf der Erde war und mit
die ihre Sünden bekannt und gelassen Nikodemus sprach, sagte er, daß er im
haben, würden in das Reich gelangen. Himmel sei (Anmerkung Elberfelder
3,11 Der Herr Jesus unterstrich dann Bibel). Wie ist das möglich? Hier haben
nochmals die Unfehlbarkeit seiner Lehre. wir die Aussage, daß unser Herr, da er
Auch betonte er, daß die Menschen ihm Gott ist, allgegenwärtig ist. Er ist zu jeder
trotz dieser Unfehlbarkeit nicht glauben Zeit an allen Orten anwesend. Viele Über-
würden. Seit aller Ewigkeit kannte er die setzungen lassen diese Worte aus, doch
Wahrheit dieser Aussagen und hatte nur werden sie von vielen Handschriften be-
gelehrt, was er wußte und gesehen hatte. zeugt und gehören zum Text.
Aber Nikodemus und die meisten Juden 3,14 Der Herr Jesus wollte Nikode-
seiner Tage weigerten sich, seinem Zeug- mus nun einige himmlische Wahrheiten
nis zu glauben. entfalten. Wie kann die Wiedergeburt
3,12 Worum handelt es sich bei dem geschehen? Zuerst muß die Strafe für die
»Irdischen« von dem der Herr in diesem Sünden der Menschen bezahlt werden.
Vers spricht? Er spricht von seinem irdi- Die Menschen können nicht in ihren Sün-
schen Reich. Als eifriger Leser des AT den in den Himmel kommen. Genau, wie
wußte Nikodemus, daß eines Tages der »Mose in der Wüste die Schlange« aus
Messias kommen würde und ein tatsäch- Bronze auf einem Pfahl aufrichtete, als
liches Reich auf der Erde errichten wür- die Kinder Israel von Schlangen gebissen
de, dessen Hauptstadt Jerusalem sein wurden, »so muß der Sohn des Men-
würde. Nikodemus verstand jedoch schen erhöht werden.« (Lies dazu
nicht, daß man, um in dieses Reich zu ge- 4. Mose 21,4-9.) Als die Kinder Israel
langen, wiedergeboren werden muß. durch die Wüste ins Gelobte Land wan-
Worauf bezog Jesus sich, als er von dem derten, wurden sie entmutigt und unge-
»Himmlischen« sprach? Das sind die duldig. Sie murrten wider den Herrn.
Wahrheiten, die er in den folgenden Ver- Um sie zu bestrafen, sandte der Herr feu-
sen ausspricht – die wundervollen Vor- rige Schlangen unter sie, und viele star-
gänge bei der Wiedergeburt eines Men- ben. Als die Überlebenden den Herrn
schen. reuig anriefen, befahl der Herr Mose,
3,13 Es gab nur einen einzigen Men- eine Schlange aus Bronze zu machen und
schen, der berechtigt war, vom »Himmli- sie an einem Pfahl aufzurichten. Die ge-
schen« zu reden, nämlich Jesus, der als bissenen Israeliten, die auf diese Schlan-
einziger im Himmel gewesen war. Der ge schauten, wurden auf wunderbare
Herr Jesus war nicht nur einfach ein Weise geheilt.
menschlicher Lehrer, den Gott gesandt Jesus zitiert diesen Vorfall aus dem
hatte, sondern er hatte seit aller Ewigkeit AT, um zu zeigen, wie die Wiedergeburt
bei Gott gelebt und war in diese Welt vonstatten geht. Die Menschen sind von
»herabgestiegen.« Als er sagte: »niemand der Schlange der Sünde gebissen und

358
Johannes 3

sind zum ewigen Tod verdammt. Die bis alle großen Reiche erobert worden sind,
eherne Schlange war ein Vorbild auf den bis jede kleine Koralleninsel gewonnen wor-
8)
Herrn Jesus. Bronze spricht in der Bibel den ist.
vom Gericht. Der Herr Jesus war ohne 3,17 Gott ist kein harter, grausamer
Sünde und hätte niemals bestraft werden Herrscher, der nur darauf wartet, seinen
müssen, aber er nahm unseren Platz ein Zorn über die Menschheit auszugießen.
und trug das Gericht, das wir verdienten. Sein Herz ist von liebevoller Zuneigung
Der Pfahl spricht vom Kreuz von Golgat- zur Menschheit erfüllt und er hat das
ha, an dem der Herr Jesus erhöht wurde. äußerste gewagt, um die Menschheit zu
Wir werden gerettet, wenn wir zu ihm im erretten. Er hätte »seinen Sohn in die
Glauben aufschauen. Welt« senden können, damit »er die Welt
3,15 Der Retter wurde für uns zur richte«, aber das tat er nicht. Im Gegen-
Sünde gemacht, er, der keine Sünde teil, er sandte ihn, um auf dieser Erde zu
kannte, damit wir zur Gerechtigkeit vor leiden, zu bluten und zu sterben, damit
Gott würden. Jeder, der an den Herrn »die Welt durch ihn errettet werde.« Das
Jesus Christus glaubt, hat »ewiges Werk des Herrn Jesus am Kreuz war von
Leben.« solch großem Wert, daß alle Sünder übe-
3,16 Dies ist einer der bekanntesten rall auf der Welt gerettet werden könn-
Verse der ganzen Bibel, zweifellos, weil ten, wenn sie ihn nur annähmen.
er das Evangelium so klar und deutlich 3,18 Nun ist die Menschheit in zwei
ausspricht. Er faßt zusammen, was der Klassen eingeteilt: in Gläubige und Un-
Herr Jesus soeben über die Wiedergeburt gläubige. Unser Schicksal wird durch die
gelehrt hat. Wir lesen: »So hat Gott die Haltung bestimmt, die wir dem Sohn
Welt geliebt.« Das Wort »Welt« beinhaltet Gottes gegenüber einnehmen. Wer dem
hier die gesamte Menschheit. Gott liebt Retter vertraut, »wird nicht gerichtet; wer
nicht die Sünden der Menschen oder das aber nicht glaubt, ist schon gerichtet.«
böse Weltsystem, sondern die Menschen. Der Herr Jesus hat das Werk der Erret-
Er möchte nicht, daß auch nur ein einzi- tung vollendet, und nun kommt es auf
ger verloren geht. jeden Einzelnen an, sich zu entscheiden,
Das Ausmaß seiner Liebe zeigt sich ob er ihn annehmen oder ablehnen will.
darin, »daß er seinen eingeborenen Sohn Wenn ein Mensch nicht an den Herrn
gab.« Gott hat keinen anderen Sohn als Jesus glauben will, dann kann Gott nichts
den Herrn Jesus. Es war Ausdruck seiner anderes tun, als ihn verurteilen.
unendlichen Liebe, daß er willig war, sei- An seinen Namen glauben bedeutet
nen einzigen Sohn für ein rebellisches an ihn glauben. In der Bibel steht der Na-
Geschlecht von Sündern zu opfern. Das me für die Person. Wenn du an seinen
heißt jedoch nicht, daß jeder gerettet ist. Namen glaubst, dann vertraust du ihm
Ein Mensch muß annehmen, was Gott selbst.
für ihn getan hat, ehe Gott ihm das ewige 3,19 Jesus ist das »Licht«, das »in die
Leben gibt. Deshalb sind hier die Worte Welt gekommen ist«. Er war das sündlo-
angefügt: »Damit jeder, der an ihn se, makellose Lamm Gottes. Er starb für
glaubt, nicht verloren gehe.« Niemand die Sünden der ganzen Welt. Aber lieben
muß verloren gehen. Es ist ein Weg ihn die Menschen dafür? Nein – sie ver-
gefunden, der zur Erlösung führt, auf achten ihn. Sie ziehen es vor, in ihren
dem alle gerettet werden, wenn sie nur Sünden zu leben statt Jesus als Retter
den Herrn Jesus Christus als persönli- anzunehmen, deshalb lehnen sie ihn ab.
chen Heiland anerkennen. Wer das tut, So wie einige Kleintiere vor dem Licht
hat das ewige Leben als sofortiges Eigen- flüchten, so flüchten böse Menschen vor
tum. Boreham sagt dazu: der Gegenwart Christi.
Wenn die Kirche versteht, mit welcher 3,20 Diejenigen, die die Sünde lieben,
Liebe Gott die Welt geliebt hat, dann wird sie hassen das Licht, weil das Licht ihre
so lange rastlos sein und nicht ruhen können, Sündhaftigkeit herausstellt. Als Jesus auf

359
Johannes 3

dieser Welt war, wurde es sündigen Men- 3,25 Aus diesem Vers geht hervor,
schen in seiner Gegenwart ungemütlich, daß einige »der Jünger des Johannes« ein
weil er ihren schlimmen Zustand durch Streitgespräch »mit einem Juden über die
seine eigene Heiligkeit enthüllte. Wenn Reinigung« führten. Was heißt das? Das
man zeigen will, wie krumm ein Knüp- Wort »Reinigung« bezieht sich hier
pel ist, so braucht man nur einen geraden wahrscheinlich auf die Taufe. Es ging
Stab danebenhalten. Als der Herr Jesus darum, ob die Taufe des Johannes besser
als vollkommener Mensch in diese Welt war als die Jesu. Welche Taufe hatte die
kam, zeigte er, wie »krumm« alle ande- größere Kraft? Welche hatte größeren
ren Menschen im Vergleich zu ihm sind. Wert? Vielleicht dachten einige Johanne-
3,21 Wenn ein Mensch vor Gott wirk- sjünger naiv, daß keine Taufe besser sein
lich ehrlich ist, dann kommt er »zu dem könne als die ihres Meisters. Vielleicht
Licht«, das heißt, zum Herrn Jesus, und wollten die Pharisäer die Johannesjünger
erkennt, daß er selbst absolut unwürdig auf Jesus und seine offensichtliche Popu-
und sündig ist. Dann vertraut er sich larität eifersüchtig machen.
dem Retter an, und wird so durch den 3,26 »Sie kamen zu Johannes«, um
Glauben an Christus gerettet. ihn darüber entscheiden zu lassen. Sie
scheinen zu ihm gesagt zu haben: »Wenn
I. Der Dienst von Johannes dem Täu- deine Taufe besser ist, warum verlassen
fer in Judäa dich dann so viele Menschen und gehen
3,22 Der erste Teil dieses Kapitels zu Jesus?« (Der Ausdruck: »der jenseits
beschreibt den Zeugendienst des Herrn des Jordan bei dir war« bezieht sich auf
Jesus in Jerusalem. Von diesem Vers an Christus.) Johannes gab vom Herrn Jesus
beschreibt Johannes den Dienst Christi in Zeugnis und das Ergebnis davon war,
Judäa, wo er zweifellos weiterhin die daß viele seiner eigenen Jünger ihn ver-
gute Nachricht von der Errettung ver- ließen und Jesus nachfolgten.
kündete. Wenn die Menschen zum Licht 3,27 Wenn sich die Antwort des Jo-
kamen, wurden sie getauft. Aus diesem hannes auf den Herrn Jesus bezog, dann
Vers scheint hervorzugehen, daß Jesus bedeutet sie, daß jeder Erfolg Jesu zeigte,
selbst getauft habe, aber in Kapitel 4,2 daß er mit Gottes Einverständnis handel-
lesen wir, daß seine Jünger tauften. te. Wenn Johannes hier von sich selbst
3,23 Der Johannes, der hier im Vers spricht, betont er, daß er nie behauptet
erwähnt wird, ist Johannes der Täufer. Er hat, von Bedeutung zu sein. Er hatte nie-
predigte in der Region Judäa noch immer mals behauptet, daß seine Taufe größer
seine Bußbotschaft und taufte die Juden, als die Jesu war. Er sagte hier einfach, daß
die als Vorbereitung auf den kommen- er nichts hatte, was er nicht vom Himmel
den Messias Buße tun wollten. »Johannes erhalten hat. Das gilt für uns alle, und es
taufte zu Änon, . . . weil dort viel Wasser gibt nichts an uns, worauf wir stolz sein
war.« Das beweist nicht zwingend, daß sollten, oder unseren Ruf bei anderen
er durch Untertauchen taufte, legt es Menschen aufbauen könnten.
aber sicherlich nahe. Wenn er durch Be- 3,28 Johannes erinnerte seine Jünger
sprengen oder Übergießen getauft hätte, daran, daß er immer wieder darauf hinge-
dann wäre es nicht nötig gewesen, dort wiesen hatte, daß er selbst nicht der Chri-
»viel Wasser« zu haben. stus war, sondern »vor ihm hergesandt«
3,24 Dieser Vers erklärt den weiteren sei, und dem Messias den Weg zu berei-
Dienst des Johannes und die weitere ten. Warum sollten sie über ihn streiten?
Reaktion frommer Juden auf ihn. Schon Warum sollten sie eine Sekte um ihn bil-
in naher Zukunft würde Johannes »ins den? Er war nicht wichtig, sondern wollte
Gefängnis geworfen« und für sein stand- nur Menschen auf Jesus hinweisen.
haftes Zeugnis geköpft. Aber in der Zwi- 3,29 Der Herr Jesus Christus war »der
schenzeit führte er noch immer eifrig sei- Bräutigam«. Johannes der Täufer war
ne Aufgabe aus. nur »der Freund des Bräutigams«, der

360
Johannes 3

Trauzeuge. Die Braut gehört nicht dem niedriger als die Jesu, weil »der von oben
Freund des Bräutigams, sondern dem kommt, über allen ist«. Christus ist der
Bräutigam selbst. Deshalb gehörte es höchste Herrscher im Universum. Es war
sich, daß die Menschen eher Jesus folg- deshalb nur richtig, daß die Menschen
ten als Johannes. »Die Braut« bedeutet ihm und nicht seinem Boten folgten.
hier in einem allgemeinen Sinne alle, die 3,32 Als der Herr Jesus redete, sprach
Jünger des Herrn Jesus werden würden. er mit Autorität. Er berichtete den Men-
Im AT wurde von Israel als der Ehefrau schen, was er »gesehen und gehört« hat.
des Herrn geredet. Später, im NT, wer- Er konnte sich nicht irren oder betrügen.
den diejenigen, die Glieder der Gemein- Doch wie befremdlich: »Sein Zeugnis
de Christi sind, mit dem Bild der Braut nimmt niemand an.« Der Ausdruck »nie-
beschrieben. Aber hier im Evangelium mand« darf nicht im absoluten Sinne ver-
des Johannes wird das Wort allgemein standen werden. Es gibt Menschen, die
gebraucht und umfaßt die, die Johannes die Worte des Herrn Jesus annehmen.
verließen, als der Messias kam. Es geht Aber Johannes sah die Menschheit im all-
hier weder um Israel noch um die Ge- gemeinen und sagt einfach, daß die Leh-
meinde. Johannes war nicht unglücklich ren des Retters von der Mehrheit abge-
über die Tatsache, daß er Anhänger ver- lehnt werden. Jesus war der Eine, der
lor. Es war seine größte Freude, »die vom Himmel kam, aber es waren nur
Stimme des Bräutigams« zu hören. Er vergleichsweise wenige, die ihn hören
war zufrieden, wenn Jesus nur alle Auf- wollten.
merksamkeit auf sich zog. Seine Freude 3,33 Dieser Vers beschreibt die weni-
war »erfüllt«, als die Menschen Christus gen, die das Wort des Herrn als Wort
priesen und ihn ehrten. Gottes annahmen. Durch ihr Annehmen
3,30 Das ganze Ziel des Dienstes des »besiegelten« sie, »daß Gott wahrhaftig
Johannes wird in diesem Vers zusam- ist«. So ist es auch heute. Wenn Men-
mengefaßt. Er arbeitete unablässig, um schen die Botschaft des Evangeliums an-
Männer und Frauen auf den Herrn hin- nehmen, dann stellen sie sich gegen sich
zuweisen und ihnen zu helfen, seinen selbst und gegen den Rest der Mensch-
wirklichen Wert zu erkennen. Dabei er- heit auf die Seite Gottes. Sie erkennen,
kannte Johannes, daß er sich selbst im daß, wenn Gott etwas gesagt hat, es wahr
Hintergrund halten mußte. Wenn ein sein muß. Man beachte, wie deutlich hier
Diener Christi versucht, die Aufmerk- die Gottheit Christi gelehrt wird. Dieser
samkeit auf sich selbst zu lenken, dann Vers sagt, wer immer an das Zeugnis von
ist er seiner Aufgabe untreu geworden. Christus glaubt, dadurch anerkennt, daß
Man beachte das dreifache »muß« in Gott wahrhaftig ist. Das ist nur eine
diesem Kapitel: für den Sünder (3,7), für andere Ausdrucksweise dafür, daß das
den Retter (3,14) und für den Zeugen Zeugnis des Christus das Zeugnis Gottes
(3,30). ist, und den einen anzunehmen bedeutet,
3,31 Jesus ist der Eine, der »von oben den anderen auch anzunehmen.
kommt« und über allen ist. Diese Aussa- 3,34 Jesus war der Eine, »den Gott
ge soll seine himmlische Herkunft und gesandt hat«. Er »redete die Worte Got-
überragende Stellung zeigen. Um seine tes«. Um diese Aussage zu untermauern,
eigene Niedrigkeit zu beweisen, sagte stellte Johannes fest, daß »Gott den Geist
Johannes der Täufer, daß er selbst »von nicht nach Maß gibt«. Christus ist durch
der Erde« war und »von der Erde her« den Geist Gottes auf eine Art gesalbt
redete. Das bedeutet einfach, daß er worden, die für niemanden anderen gilt.
durch seine Geburt ein Mensch von Andere sind sich der Hilfe des Heiligen
menschlichen Eltern war. Er hatte keinen Geistes in ihrem Dienst bewußt, doch
himmlischen Rang und konnte nicht mit niemand hat je einen solch geisterfüllten
der gleichen Autorität wie der Sohn Dienst getan wie der Sohn Gottes. Die
Gottes sprechen. Seine Stellung war Propheten erhielten eine teilweise Offen-

361
Johannes 3 und 4

barung von Gott, aber »der Geist offen- und daß die Beliebtheit des Johannes
barte den Menschen in und durch Chri- offensichtlich zurückging. Vielleicht hat-
stus die Weisheit, das Herz Gottes in all ten sie alles versucht, diese Tatsache zu
seiner unendlichen Liebe«. benutzen, um Eifersucht und Feind-
3,35 Hier haben wir eine von sieben schaft zwischen den Jüngern des Johan-
Stellen im Evangelium des Johannes, an nes und des Herrn Jesus zu entfachen. In
denen es heißt, daß »der Vater den Sohn Wirklichkeit »taufte Jesus selbst nicht«.
liebt«. Hier zeigt sich diese Liebe darin, Das war die Aufgabe seiner Jünger. Den-
daß er ihm die Kontrolle über »alles« noch wurden die Menschen als Nachfol-
gegeben hat. Dazu gehört die völlige ger oder Jünger des Herrn getauft.
Kontrolle über das Schicksal der Men- 4,3 Indem er Judäa verließ und nach
schen, wie es in Vers 36 erklärt wird. Galiläa ging, wollte Jesus verhindern,
3,36 Gott hat Christus die Macht daß die Pharisäer in ihrem Bemühen
gegeben, all denen »ewiges Leben« zu Erfolg hatten, Spaltungen zu verursa-
geben, die an ihn glauben. Dies ist einer chen. Aber dieser Vers enthält noch etwas
der eindeutigsten Verse der ganzen anderes von Bedeutung. Judäa war das
Bibel, die sagen, wie ein Mensch errettet Hauptquartier des jüdischen religiösen
werden kann. Es geht einfach um den Establishment, während Galiläa als ziem-
Glauben an den Sohn. Wie wir in diesem lich heidnisches Gebiet galt. Der Herr
Vers lesen, sollten wir erkennen, daß hier Jesus erkannte, daß die jüdischen Führer
Gott spricht. Er gibt hier ein Versprechen, ihn und sein Zeugnis schon ablehnten,
das niemals gebrochen werden kann. Er und deshalb wandte er sich nun mit der
sagt ausdrücklich und deutlich, daß Botschaft der Errettung an die Heiden.
jeder, der »an den Sohn glaubt, ewiges 4,4 Samaria lag auf dem direkten
Leben hat«. Wenn man dieses Verspre- Wege von Judäa nach Galiläa. Aber nur
chen ernst nimmt, so ist das kein Sprung wenige Juden nahmen jemals diesen
ins kalte Wasser. Man glaubt einfach an direkten Weg. Das Gebiet von Samaria
etwas, das kein Betrug sein kann. Diejeni- war von den Juden so verachtet, daß sie
gen, die dem Sohn Gottes nicht gehor- meist einen Umweg durch Peräa in Kauf
chen, werden »das Leben nicht sehen, nahmen, wenn sie nach Norden nach
sondern der Zorn Gottes bleibt auf« Galiläa wollten. Wenn es deshalb heißt,
ihnen. Aus diesem Vers lernen wir, daß daß Jesus »durch Samaria ziehen muß-
unser ewiges Schicksal davon abhängt, te«, geht es nicht so sehr darum, daß er
was wir mit dem Sohn Gottes anfangen. durch geographische Gegebenheiten da-
Wenn wir ihn annehmen, dann gibt Gott zu gezwungen gewesen wäre, sondern
uns als Geschenk das ewige Leben. Wenn daß er gehen mußte, weil es dort in Sa-
wir ihn ablehnen, werden wir niemals maria einen Menschen gab, der in Not
ewiges leben haben, und nicht nur das, war und dem er helfen konnte.
sondern Gottes Zorn hängt schon wie ein 4,5 Als er nach Samaria kam, kam er
Damoklesschwert über uns, bereit, jeden in ein kleines Dorf mit dem Namen
Augenblick zu fallen. Sychar. Nicht weit von dem Dorf entfernt
Man beachte, daß wir in diesem Vers lag ein »Feld, das Jakob seinem Sohn
nichts davon lesen, daß wir das Gesetz Joseph gab« (1. Mose 48,22). Als Jesus
halten, die Goldene Regel beachten, zur durch dieses Gebiet reiste, standen alle
Kirche gehen, unser Bestes tun oder Geschichten der Patriarchenzeit vor sei-
unseren Weg in den Himmel erarbeiten nem inneren Auge.
müßten. 4,6 Es gab dort eine Quelle, die man
»Quelle Jakobs« nannte. Diesen alten
J. Die Bekehrung einer Samariterin Brunnen kann man heute noch sehen,
(4,1-30) einer der wenigen biblischen Orte, die
4,1.2 »Die Pharisäer hatten gehört, daß man auch heute noch zweifelsfrei aus-
Jesus mehr Jünger . . . taufe als Johannes« machen kann.

362
Johannes 4

Es war Mittag, nach römischer Zeit- 4,8 Dieser Vers erklärt, warum, vom
rechnung die sechste Stunde, als Jesus menschlichen Standpunkt aus gesehen,
den Brunnen erreichte. Durch die lange der Herr sie um etwas zu trinken bitten
Wanderung des Tages war er »ermüdet«, mußte. »Seine Jünger waren weggegan-
deshalb setzte er »sich ohne weiteres an gen in die Stadt (Sychar), um Speise zu
die Quelle nieder«. Obwohl Jesus Gottes kaufen.« Sie hatten normalerweise Eimer
Sohn ist, war er doch Mensch. Als Gott mit, um sich damit Wasser aus Brunnen
konnte er niemals müde werden, als holen zu können, doch die Jünger hatten
Mensch aber wurde er es. Für uns ist es diese wohl mitgenommen. So hatte der
schwer, diese Tatsachen zu verstehen. Herr allem äußeren Anschein nach keine
Aber die Person unseres Herrn Jesus Möglichkeit, Wasser aus dem Brunnen
Christus kann niemals von einem sterbli- zu schöpfen.
chen Menschen völlig verstanden wer- 4,9 Die Frau erkannte, daß Jesus ein
den. Die Wahrheit, daß Gott in die Welt Jude war, und war erstaunt, daß er zu ihr,
kommen konnte und als Mensch unter »einer samaritischen Frau«, redete. Die
Menschen lebte, ist ein Geheimnis, das Samariter behaupteten, von Jakob abzu-
unser Verstehen übersteigt. stammen und hielten sich selbst für ech-
4,7 Als der Herr Jesus an dem Brun- te Israeliten. In Wirklichkeit waren sie
nen saß, »kommt eine Frau« aus dem jedoch ein Mischvolk aus Heiden und
Dorf, »Wasser zu schöpfen«. Wenn es, Juden. Der Berg Garizim war ihre offizi-
wie einige Ausleger sagen, zu dieser elle Kultstätte. Das war ein Berg in Sama-
Zeit Mittag war, dann war das eine sehr ria, den der Herr und die Frau deutlich
ungewöhnliche Zeit, um zum Brunnen sehen konnten, als sie miteinander spra-
zu gehen, denn es war die heißeste Zeit chen. Die Juden mochten die Samariter
des Tages. Aber diese Frau war eine nicht. Sie hielten sie wegen ihrer unsiche-
stadtbekannte Sünderin, und vielleicht ren Herkunft für wertlos. Deshalb sagte
wählte sie diese Zeit aus Scham, weil sie die Frau zu dem Herrn Jesus: »Wie bittest
wußte, daß dann keine andere Frau da du, der du ein Jude bist, von mir zu trin-
sein würde, die sie sehen konnte. Natür- ken, die ich eine samaritische Frau bin?«
lich wußte der Herr Jesus die ganze Zeit, Sie erkannte eben nicht, daß sie mit
daß sie jetzt kommen würde. Er wußte, ihrem eigenen Schöpfer sprach, dessen
daß sie in großer seelischer Not war, Liebe alle kleinlichen Unterscheidungen
und so beschloß er, ihr zu begegnen und der Menschen überwindet.
sie von ihrem sündigen Leben zu er- 4,10.11 Indem Jesus die Frau um etwas
retten. bat, hatte er ihr Interesse und ihre Neu-
In diesem Abschnitt finden wir den gier geweckt. Er stachelt beides nun wei-
Meister der Seelengewinner am Werk, ter an, indem er sagt, daß er sowohl Gott
und wir tun gut daran, die Methoden zu als auch Mensch ist. Als allererstes war er
studieren, die er verwandte, um diese »die Gabe Gottes« – die der eine Gott gab,
Frau zur Erkenntnis ihrer Not zu bringen damit er, der eingeborene Sohn, die Welt
und ihr die Lösung ihrer Probleme anzu- rette. Aber er war auch Mensch – der Eine,
bieten. Der Herr sprach siebenmal zu der der, von seiner Reise ermüdet, sie um
Frau. Auch die Frau sprach siebenmal – etwas zu trinken bat. Mit anderen Worten,
sechsmal zum Herrn und einmal zu den wenn sie erkannt hätte, daß sie mit Gott
Leuten in ihrem Dorf. Vielleicht hätten im Fleisch gekommen sprach, dann hätte
wir mehr Erfolg mit unserem Zeugnis, sie ihn um einen Segen gebeten und »er
wenn wir so viel mit dem Herrn gespro- hätte« ihr »lebendiges Wasser gegeben«.
chen hätten, wie sie, als sie mit den Leu- Die Frau konnte nur an normales Wasser
ten in der Stadt redete. Jesus eröffnete denken und daran, wie unmöglich es war,
das Gespräch, indem er sie um einen es ohne geeignete Mittel zu schöpfen. So
Gefallen bat. Müde von der Reise sprach erkannte sie den Herrn nicht und konnte
er zu ihr: »Gib mir zu trinken!« auch seine Worte nicht verstehen.

363
Johannes 4

4,12 Ihre Verwirrung steigerte sich erfüllen nicht nur das Herz, sie sind viel
nur, als sie an den Patriarchen Jakob zu groß, als daß irgendein Herz sie zu
dachte, der ihrer Stadt diesen Brunnen fassen vermöchte. Die Freuden dieser
gegraben hatte. Er selbst hatte ihn be- Erde dauern nur einige wenige Jahre,
nutzt »und seine Söhne und sein Vieh«. aber die Freuden, die uns Christus
Und nun kam hier ein müder Reisender schenkt, dauern bis »ins ewige Leben«.
einige Jahrhunderte später, und bat um 4,15 Als die Frau von diesem wun-
Wasser aus dem Brunnen Jakobs und derbaren Wasser hörte, wollte sie es
behauptete dennoch, etwas besseres bie- sofort haben. Aber sie dachte immer
ten zu können als das Wasser, das Jakob noch an normales Wasser. Sie wollte es
gegeben hatte. Wo er doch etwas besseres nicht mehr nötig haben, jeden Tag zum
hatte, warum sollte er dann noch um Brunnen zu gehen, »um zu schöpfen«.
Wasser aus dem Jakobsbrunnen bitten? Der Eimer war schließlich schwer. Sie
4,13 Deshalb begann der Herr nun erkannte nicht, daß das Wasser, von dem
den Unterschied zwischen normalem der Herr Jesus gesprochen hatte, geistli-
Wasser aus Jakobs Brunnen und dem cher Natur war, daß er sich auf all die
Wasser, das er geben wollte, zu erklären. Segnungen bezog, die eine menschliche
»Jeden, der von diesem Wasser trinkt, Seele durch den Glauben an ihn erhält.
wird wieder dürsten.« Das konnte die 4,16 Wir haben hier nun einen harten
samaritische Frau sicher verstehen. Je- Bruch in der Unterhaltung. Die Frau hat-
den Tag war sie zu diesem Brunnen ge- te gerade eben noch um Wasser gebeten,
kommen und hatte Wasser geschöpft, und der Herr Jesus gab ihr den Auftrag,
doch konnte ihr Bedarf niemals völlig zu gehen und ihren Mann zu rufen. War-
befriedigt werden. Genauso ging es mit um? Ehe diese Frau gerettet werden
allen anderen Brunnen dieser Welt. Die konnte, mußte sie anerkennen, daß sie
Menschen suchen ihr Vergnügen und eine Sünderin war. Sie mußte in echter
ihre Befriedigung an allen Brunnen die- Buße zu Christus kommen, ihre Schuld
ser Welt, aber dieses Wasser ist nicht in und ihre Not bekennen. Der Herr Jesus
der Lage, den Durst in den Herzen der wußte alles über das sündige Leben, das
Menschen zu stillen. Wie Augustinus in sie geführt hatte, und er wollte ihr Stück
seinen »Bekenntnissen« gesagt hat: »O für Stück dieses Leben vor Augen führen.
Herr, zu dir hin hast du uns geschaffen, Nur diejenigen, die sich selbst ken-
und unruhig ist unser Herz, bis es ruhet nen, können gerettet werden. Alle Men-
in dir.« schen sind verloren, aber das wollen
4,14 Nur das Wasser, das Jesus gibt, nicht alle zugeben. Wenn wir versuchen,
befriedigt wirklich. »Wer aber von dem Menschen für Christus zu gewinnen,
Wasser« der Segnungen und der Barm- dürfen wir die Frage der Sünde nie aus-
herzigkeit Christi trinkt, »den wird nicht klammern. Wir müssen ihnen zeigen,
dürsten in Ewigkeit«. Nicht nur, daß Jesu daß sie in ihren Sünden und Übertretun-
Güte sein Herz erfüllen wird, sondern es gen tot sind, einen Retter brauchen, sich
wird überfließen. Jesu Güte ist wie eine nicht selbst erlösen können, daß Jesus
sprudelnde Quelle, die ständig über- der Retter ist, den sie brauchen und daß
fließt, nicht nur in diesem Leben, son- er sie retten will, wenn sie für ihre Sün-
dern ebenso in der Ewigkeit. Der Aus- den Buße tun und auf ihn vertrauen.
druck »das ins ewige Leben quillt« 4,17 Zunächst wollte die Frau die
bedeutet, daß die Segnungen des Was- Wahrheit verschleiern, ohne zu lügen. Sie
sers, das Christus gibt, nicht auf die Erde sagte: »Ich habe keinen Mann.« Vielleicht
beschränkt sind, sondern für immer gül- war ihre Aussage im rein rechtlichen Sin-
tig sind. Der Gegensatz ist sehr krass. ne wahr. Doch sie wollte damit die
Was die Welt auch zu bieten haben mag, schreckliche Tatsache verschleiern, daß
es reicht nicht, um das menschliche Herz sie mit einem Mann in Sünde zusam-
zu erfüllen. Aber die Segnungen Christi menlebte, mit dem sie nicht verheiratet

364
Johannes 4

war. Weil der Herr Jesus Gott ist, wußte 4,21 Jesus übergeht nun ihren Kom-
er das alles. Und so spricht er zu ihr: »Du mentar nicht, sondern benutzt ihn, um
hast recht gesagt: Ich habe keinen ihr weitere geistliche Erkenntnisse zu
Mann.« Obwohl sie in der Lage gewesen vermitteln. Er sagt ihr, daß eine Zeit
sein mag, ihre Mitmenschen zu täuschen, kommen würde, zu der weder Jerusalem
so konnte sie Jesus doch nicht täuschen. noch der Berg Garizim der Ort der Anbe-
Er wußte alles. tung sein werde. Im AT wurde Jerusalem
4,18 Der Herr mißbrauchte sein voll- als die Stadt auserwählt, wo Gottesdienst
ständiges Wissen nie, um einen Men- gefeiert werden sollte. Der Tempel in
schen grundlos bloßzustellen oder zu Jerusalem war der Ort der Gegenwart
beschämen. Aber er benutzte es, um wie Gottes, und fromme Juden kamen mit
hier einen Menschen von der Knecht- ihren Opfern nach Jerusalem. Natürlich
schaft der Sünde zu befreien. Wie ist dies im Zeitalter des Evangeliums
erstaunt muß die Frau gewesen sein, als nicht mehr der Fall. Gott hat heute kei-
er ihr ihre Vergangenheit vorhielt! Sie nen bestimmten Ort mehr, zu dem die
hatte »fünf Männer . . . gehabt«, und der, Menschen pilgern müßten, um anzube-
den sie jetzt hatte, war nicht ihr Mann. ten. Der Herr erklärte das weiter in den
Es gibt zu diesem Vers einige unter- nächsten Versen.
schiedliche Meinungen. Einige sind der 4,22 Als der Herr sagte: »Ihr betet an,
Ansicht, daß die früheren fünf Ehemän- was ihr nicht kennt«, verurteilte er die
ner dieser Frau entweder gestorben Form des Gottesdienstes der Samariter.
waren oder aber sie verlassen hatten, Das steht im scharfen Kontrast zu den
und daß in der Beziehung zu ihnen religiösen Lehrern heute, die sagen, daß
nichts Sündiges gewesen war. Ob das alle Religionen gut sind, und daß sie
nun so ist oder nicht, aus dem zweiten schließlich alle den Weg in den Himmel
Teil des Verses geht hervor, daß diese weisen würden. Der Herr Jesus zeigte
Frau eine Ehebrecherin war. »Der, den du dieser Frau, daß der Gottesdienst der
jetzt hast, ist nicht dein Mann.« Das ist Samariter von Gott weder eingesetzt
das Wichtige. Die Frau war eine Sünde- noch gewollt war. Er war von Menschen
rin, und ehe sie nicht bereit war, dies erfunden und ohne Billigung durch ein
anzuerkennen, konnte der Herr sie nicht Wort Gottes weitergeführt worden. Das
mit lebendigem Wasser segnen. galt nicht für den Gottesdienst der Juden.
4,19 Als nun ihr Leben offen vor ihr Gott hatte das jüdische Volk als sein
liegt, erkannte die Frau, daß der, der mit erwähltes irdisches Volk ausgesondert.
ihr redete, kein gewöhnlicher Mensch Er hatte ihnen vollständige Anweisun-
war. Dennoch erkannte sie nicht, daß er gen gegeben, wie sie ihn anbeten sollten.
Gott war. Die höchste Anerkennung, die Indem er sagte, daß »das Heil . . . aus
sie für ihn übrig hatte, war, daß er ein den Juden« ist, lehrte der Herr, daß das
»Prophet« sei, das heißt, jemand, der im jüdische Volk von Gott ernannt worden
Namen Gottes spricht. war, sein Bote zu sein, und daß ihnen die
4,20 Es scheint nun, daß die Frau von Heiligen Schriften anvertraut waren.
ihren Sünden überführt worden ist, und Auch ist durch das jüdische Volk der
deshalb versucht sie, das Thema zu Messias auf die Erde gekommen. Er
wechseln, indem sie die Frage bezüglich selbst wurde von einer jüdischen Mutter
des rechten Ortes der Anbetung aufwirft. geboren.
Zweifellos zeigte sie auf den Berg Gari- 4,23 Als nächstes informiert Jesus die
zim, als sie sagte: »Unsere Väter haben Frau darüber, daß Gott mit Jesu Kommen
auf diesem Berg angebetet.« Dann erin- nicht länger einen bestimmten Ort auf
nerte sie den Herrn (unnötigerweise) der Erde hat, an dem er angebetet werden
daran, daß die Juden behaupteten, »daß will. Nun können diejenigen, die an den
in Jerusalem der Ort sei, wo man anbeten Herrn Jesus glauben, Gott jederzeit und
müsse.« an jedem Ort anbeten. Echte Anbetung

365
Johannes 4

bedeutet, daß der Gläubige im Glauben es weder Heuchelei noch Schein geben.
in die Gegenwart Gottes tritt und dort den Man braucht sich nicht den Anschein des
Herrn lobt und preist. Sein Leib mag in Religiösen zu geben, während das innere
einer Scheune, einem Gefängnis oder auf Leben verdorben ist. Man braucht nicht
freiem Feld sein, doch sein Geist kann zu denken, daß man Gott gefallen könne,
sich Gott in seinem himmlischen Heilig- indem man eine Reihe von Zeremonien
tum durch den Glauben nahen. Jesus ver- durchläuft. Sogar wenn Gott selbst diese
kündigte der Frau, daß von nun an die Zeremonien eingesetzt hat, besteht er
Anbetung des Vaters »in Geist und Wahr- immer noch darauf, daß sich der Mensch
heit« stattfinden würde. Die Juden hatten ihm mit einem zerbrochenen und zer-
den Gottesdienst auf äußere Formen und schlagenen Herzen nähert. In diesem Ka-
Zeremonien beschränkt. Sie dachten, daß pitel finden wir noch zweimal das »Muß«
sie durch religiöse Hingabe an den Buch- – das »Muß« des Seelengewinners (4,4)
staben den Gesetzes und durch die und das »Muß« für den Anbeter (4,24).
Durchführung bestimmter Rituale den 4,25 Als die Frau aus Samaria dem
Vater ehren würden. Doch sie beteten Herrn zuhörte, wurde sie an das Kom-
nicht im Geist an. Ihr Gottesdienst war men des Messias erinnert. Der Heilige
äußerlich, nicht innerlich. Ihre Leiber Geist Gottes hatte in ihr ein Verlangen
mochten sich verneigen, doch ihre Her- nach diesem Kommen geweckt. Sie war
zen hatten vor Gott nicht die rechte Hal- der Meinung, daß der Messias, wenn er
tung. Vielleicht unterdrückten sie die käme, »alles verkündigen« würde. Mit
Armen oder benutzten hinterhältige Ge- dieser Aussage zeigte sie ein deutliches
schäftsmethoden. Verständnis einer der großen Aufgaben
Die Samariter hatten ihrerseits eine des Messias.
Form des Gottesdienstes, die falsch war. Der Ausdruck »Messias, der Christus
Ihr Gottesdienst basierte nicht auf der genannt wird« ist einfach eine Erklärung
Schrift. Sie hatten ihre eigene Religion der Tatsache, daß diese beiden Worte
erfunden und führten selbsterfundene dasselbe bedeuten. Messias ist das he-
Rituale durch. Als der Herr sagte, daß bräische Wort für den Gesalbten Gottes,
Anbetung »im Geist und in der Wahr- Christus ist das griechische Wort dafür.
heit« geschehen müsse, tadelte er also 4,26 Wörtlich sagt Jesus zu ihr: »Ich
beide, Juden wie Samariter. Aber er sagte bin, der mit dir redet.« Das Wort »es« ist
ihnen auch, daß nun, da er gekommen kein Bestandteil des Textes. Obwohl der
war, es für die Menschen möglich war, Text mit dem »es« klarer ist, haben die
sich Gott durch ihn in echter und wahrer wirklichen Worte des Herrn Jesus eine
Anbetung zu nähern. Man denke einmal tiefe Bedeutung. Indem er die Worte »Ich
darüber nach, was das heißt! »Denn auch bin« gebraucht, verwendet er einen der
der Vater sucht solche als seine Anbeter.« Namen, den Gott sich im AT gab. Jesus
Gott interessiert sich für die Anbetung sagt: »Der ›ICH BIN‹ redet mit dir.« Oder
durch sein Volk. Erhält er diese Anbe- mit anderen Worten: »Jahwe ist der eine,
tung auch von mir? der mit dir spricht.« Jesus verkündigt ihr
4,24 »Gott ist Geist« ist eine Definition die erregende Wahrheit, daß der, der mit
Gottes. Er ist kein einfacher Mensch, der ihr spricht, der Messias ist, auf den sie
allen Irrtümern und Begrenzungen der wartet, und daß er Gott selbst ist. Der
Menschheit unterworfen wäre. Auch ist Jahwe des AT ist der Jesus des NT.
er nicht auf einen Ort oder eine Zeit 4,27 Als die Jünger aus Sychar
beschränkt. Er ist eine unsichtbare Per- zurückkamen, sahen sie, daß Jesus mit
son, die an allen Orten gleichzeitig anwe- dieser Frau sprach. Sie waren überrascht,
send ist, die allwissend und allmächtig daß er mit ihr sprach, denn sie war eine
ist. Er ist in jeder Hinsicht vollkommen. Samariterin. Vielleicht konnten sie auch
Deshalb gilt: »Die ihn anbeten, müssen in sehen, daß sie eine Ehebrecherin war.
Geist und Wahrheit anbeten.« Dabei darf Dennoch fragte niemand den Herrn, was

366
Johannes 4

er von dieser Frau wolle oder was er mit Jesus auf zu essen. Offensichtlich waren
ihr rede. Jemand hat es einmal gut ausge- sie sich der großartigen Ereignisse nicht
drückt: »Die Jünger wundern sich darü- bewußt, die gerade vor sich gegangen
ber, daß er mit der Frau spricht, sie hätten waren. In diesem historischen Augen-
sich jedoch eher darüber wundern sol- blick, als eine samaritische Stadt dem
len, daß er mit ihnen spricht!« Herrn der Herrlichkeit zugeführt wurde,
4,28 »Die Frau nun ließ ihren Wasser- konnten sie ihre Gedanken auf nichts
krug stehen!« Er symbolisiert die ver- Wichtigeres richten als auf Speise für
schiedenen Dinge in ihrem Leben, mit ihren Leib.
denen sie versucht hatte, ihren Lebens- 4,32 Der Herr Jesus betrachtete es als
durst zu befriedigen. Sie hatten alle ver- seine Speise und seine Aufgabe, für sei-
sagt. Nun, wo sie den Herrn Jesus gefun- nen Vater Anbeter zu gewinnen. Vergli-
den hat, braucht sie nichts mehr von chen mit dieser Freude war Speise für
dem, was in ihrem Leben vorher eine so den Körper für ihn unwichtig. Wir
große Rolle gespielt hat. Sie ließ aber bekommen, wonach wir im Leben stre-
nicht nur ihren Wasserkrug stehen, son- ben. Die Jünger waren an Nahrung inter-
dern ging auch »weg in die Stadt«. essiert. Sie gingen in das Dorf, um Nah-
Sobald ein Mensch errettet ist, denkt er rung zu kaufen. Sie kamen damit zurück.
sofort an andere, die auch das Wasser des Der Herr war an Menschen interessiert.
Lebens brauchen. J. Hudson Taylor sagte: Er wollte Männer und Frauen von der
»Einige wollen so gerne Nachfolger der Sünde erretten und ihnen das Wasser des
Apostel sein. Ich würde lieber ein Nach- ewigen Lebens geben. Auch er bekam,
folger der samaritischen Frau sein, die, wonach er strebte. Woran sind wir inter-
während die Jünger etwas zu essen kauf- essiert?
ten, in ihrem Eifer für die Seelen ihrer 4,33 Wegen ihrer irdischen Gesin-
Mitmenschen ihren Wasserkrug vergaß.« nung konnten die Jünger die Bedeutung
4,29.30 Ihr Zeugnis war einfach, aber der Worte des Herrn nicht verstehen. Sie
effektiv. Sie lud die Einwohner des Dor- kannten die Tatsache nicht, daß »die
fes ein zu kommen und sich den Mann Freude und das Glück eines geistlichen
anzuschauen, »der mir alles gesagt hat, Erfolges den Menschen für einige Zeit
was ich getan habe«. Auch deutete sie an, über alle körperlichen Bedürfnisse erhe-
daß dieser Mensch möglicherweise der ben und den Platz von materiellem Essen
Messias sei. Sie selbst zweifelte wohl und Trinken einnehmen kann«. Und des-
kaum daran, weil er ihr schon gesagt hat- halb schlossen sie, daß jemand vorbeige-
te, daß er der Christus sei. Doch sie ent- kommen sein mußte, der Jesus etwas »zu
fachte diese Frage in den Herzen der Ein- essen gebracht« hatte.
wohner von Sychar, damit sie zu Jesus 4,34 Und wieder versucht Jesus ihre
gehen und es selbst herausfinden konn- Aufmerksamkeit vom Materiellen auf
ten. Zweifellos war diese Frau in dem das Geistliche zu richten. Seine Speise
Dorf für ihre Sünde und Schande be- war es, »den Willen« Gottes zu tun, und
kannt. Wie erregend muß es für die Leu- »sein Werk zu vollbringen«, welches
te gewesen sein, sie hier auf einem öffent- Gott ihm aufgetragen hat. Das bedeutet
lichen Platz zu sehen, wie sie öffentlich nicht, daß der Herr Jesus sich der materi-
vom Herrn Jesus Christus Zeugnis gab! ellen Speise enthalten hätte, sondern daß
Das Zeugnis der Frau war effektiv. Die das große Ziel seines Lebens nicht die
Dorfleute verließen ihre Häuser und ihre Sorge für den Leib war, sondern die Er-
Arbeit und liefen, um Jesus zu finden. füllung des Willens Gottes.
4,35 Vielleicht hatten die Jünger über
K. Die Freude des Sohnes am Tun des die kommende Ernte geredet. Vielleicht
Vaterwillens (4,31-38) war es aber auch ein Sprichwort: »Von
4,31 Da nun die Jünger mit dem Essen Saat zu Ernte sind es vier Monate.«
zurückgekommen waren, forderten sie Jedenfalls benutzt der Herr Jesus wieder

367
Johannes 4

eine materielle Tatsache, nämlich die Später wird dann das Korn geerntet. So
Ernte, um eine geistliche Lehre weiterzu- ist es auch im geistlichen Leben. Zuerst
geben. Die Jünger sollten nicht denken, muß die Botschaft gepredigt, dann mit
daß die Zeit der Ernte noch in der Ferne Gebet gegossen werden, und wenn dann
lag. Sie konnten es sich nicht leisten, ihr die Erntezeit kommt, freuen sich alle mit-
Leben im Streben nach Essen und Klei- einander, die an dieser Arbeit Anteil hat-
dung in dem Gedanken zu verbringen, ten.
daß das Werk Gottes auch noch später 4,37 Darin sah der Herr eine Erfül-
getan werden könne. Sie mußten erken- lung des Spruches, der zu dieser Zeit
nen, daß die »Felder . . . schon weiß zur geläufig war: »Ein anderer ist es, der da
Ernte« sind. Im gleichen Augenblick, als sät, und ein anderer, der da erntet.« Eini-
Jesus diese Worte sprach, war er inmitten ge Christen sind berufen, das Evangeli-
eines Erntefeldes, auf dem sich die See- um viele Jahre lang zu predigen, ohne
len der samaritischen Männer und Frau- viel Frucht zu sehen. Andere steigen am
en befanden. Er teilt den Jüngern nun Ende dieser Jahre in die Arbeit ein und
mit, daß die schwere und großartige viele Herzen wenden sich zum Herrn.
Arbeit des Einsammelns vor ihnen lag 4,38 Jesus sandte seine Jünger in
und sie sich dieser Arbeit sofort und eif- Gebiete, die schon von anderen vorberei-
rig widmen sollten. tet worden waren. Im gesamten AT hat-
So sagt der Herr auch zu denen unter ten die Propheten das kommende Zeital-
uns, die glauben: »Hebt eure Augen auf ter des Evangeliums und des Messias
und schaut die Felder an.« Wenn wir vorhergesagt. Dann kam noch Johannes
unsere Zeit damit verbringen, über die der Täufer als Vorläufer des Herrn und
große Not in der Welt nachzudenken, versuchte, die Herzen der Menschen dar-
wird der Herr eine Last für die verlore- auf vorzubereiten, ihn anzunehmen. Der
nen Menschen auf unser Herz legen. Herr selbst hatte den Samen in Samaria
Dann wird es unsere Aufgabe sein, für gesät und eine Ernte für die Schnitter
ihn hinauszugehen, um die Garben rei- bereitet. Nun kamen die Jünger auf das
fen Korns für ihn einzubringen. Erntefeld, und der Herr wollte, daß sie
4,36 Der Herr Jesus belehrt die Jünger das wußten. Obwohl sie die Freude
nun über das Werk, das ihnen aufgetra- haben würden zu sehen, wie sich viele zu
gen war. Er hatte sie erwählt, Schnitter zu Christus wandten, sollten sie verstehen,
sein. Sie würden nicht nur in diesem daß sie in die Arbeit anderer Menschen
Leben Lohn erhalten, sondern sie wür- »eingetreten« waren.
den auch »Frucht zum ewigen Leben« Nur wenige Seelen werden durch
sammeln. Der Dienst für Christus hat den Dienst eines einzigen Menschen
schon in der Gegenwart reichen Lohn. gerettet. Die meisten Menschen haben
Aber in der Zukunft werden die Schnit- das Evangelium schon oft vorher gehört,
ter die zusätzliche Freude haben, Men- ehe sie den Retter annehmen. Deshalb
schen im Himmel wiederzufinden, die soll sich derjenige, der einen Menschen
dort sind, weil sie in Treue das Evangeli- schließlich zu Christus führt, nicht selbst
um verkündigt haben. großmachen, als ob er das einzige Werk-
Vers 36 lehrt nicht, daß man das ewi- zeug gewesen sei, das Gott bei dieser
ge Leben durch die Erntearbeit verdie- wunderbaren Arbeit benutzt hat.
nen könnte, sondern daß die Frucht die-
ser Arbeit bis ins ewige Leben hinein L. Viele Samariter glauben an Jesus
Bestand hat. (4,39-42)
Im Himmel werden sich sowohl der 4,39 Als Ergebnis des einfachen, aufrich-
Sämann als auch der Schnitter »zugleich tigen Zeugnisses der samaritischen Frau
freuen«. Im irdischen Leben muß das glaubten viele ihres Volkes an den Herrn
Feld erst für den Samen vorbereitet wer- Jesus. Alles was sie gesagt hatte, war: »Er
den, dann muß der Same gesät werden. hat mir alles gesagt, was ich getan habe«,

368
Johannes 4

und doch war das genug, um andere war Galiläa sein Vaterland, weil Nazareth
zum Herrn zu bringen. Das sollte uns eine Stadt in diesem Gebiet war. Viel-
ermutigen, in unserem Zeugnis für Chri- leicht bedeutet dieser Vers, daß Jesus in
stus einfach, mutig und direkt zu sein. einen anderen Teil Galiläas ging, nicht
4,40 Der Empfang, den die Samariter jedoch nach Nazareth. Jedenfalls ist die
dem Herrn Jesus bereiteten, steht im Aussage sicherlich wahr, daß ein Mensch
markanten Gegensatz zu dem der Juden. normalerweise weniger in seiner Hei-
Die Samariter schienen seine wundervol- matstadt als in anderen Orten geschätzt
le Person recht zu schätzen zu wissen, wird. Seine Verwandten und Freunde
denn sie »baten ihn, bei ihnen zu blei- denken, daß er ein unreifer Jüngling und
ben«. Als Antwort auf ihre Bitte blieb der einer der ihren ist, also nichts besonde-
Herr »dort zwei Tage.« Man denke nur, res. Sicherlich wurde der Herr Jesus in
wie bevorrechtigt die Stadt Sychar war, seinem eigenen Volk nicht so geschätzt,
daß sie den Herrn des Lebens und der wie es der Fall hätte sein sollen.
Herrlichkeit während dieser Zeit zu Gast 4,45 Als der Herr »nach Galiläa« kam,
haben durfte! wurde er freundlich empfangen, denn
4,41.42 Keine zwei Bekehrungen sind die Menschen hatten »alles gesehen, was
gleich. Einige glaubten wegen des Zeug- er in Jerusalem auf dem Fest getan hat-
nisses der Frau. »Noch viel mehr glaub- te«. Offensichtlich waren die hier
ten um seines Wortes willen.« Gott be- genannten »Galiläer« Juden. Sie waren in
nutzt verschiedene Mittel, um Sünder zu Jerusalem gewesen, um dort anzubeten.
sich zu bringen. Was jedoch wichtig ist, Sie hatten den Herrn gesehen und hatten
ist der Glaube an den Herrn Jesus Chri- von einigen seiner Wundertaten berich-
stus. Es ist wunderbar zu hören, wie die- tet. Nun waren sie gewillt, ihn in ihre
se Samariter solch ein deutliches Zeugnis Mitte dort in Galiläa aufzunehmen,
vom Retter bringen. Kein Zweifel spricht nicht, weil sie ihn als Sohn Gottes aner-
aus ihren Worten. Sie waren sich auf- kannt hätten, sondern weil sie neugierig
grund des Wortes des Herrn Jesus selbst interessiert an dem waren, der überall so
ihrer Errettung sicher, nicht aufgrund viel von sich Reden machte.
der Worte der Frau. Nachdem sie ihn 4,46 Wieder war es das Dorf Kana,
gehört hatten und seinem Wort glaubten, das durch einen Besuch des Herrn geehrt
wußten die Samariter, »daß dieser ist wurde. Bei seinem ersten Besuch hatten
9)
wahrlich Christus, der Welt Heiland«. die Menschen gesehen, daß er Wasser zu
Nur der Heilige Geist konnte ihnen diese Wein machte. Nun wurden sie Zeugen
Einsicht geschenkt haben. Die Juden eines weiteren Wunders, dessen Auswir-
dachten offensichtlich, daß der Messias kungen sich bis nach Kapernaum er-
nur zu ihnen kommen würde. Doch die streckten. Der Sohn eines königlichen
Samariter erkannten, daß die Segnungen Beamten in Kapernaum war krank. Der
des Dienstes Christi sich auf die ganze Mann war zweifellos ein Jude, der bei
Welt erstrecken würden. Herodes, dem König, angestellt war.
4,47 Er hatte gehört, »daß Jesus aus
M. Das zweite Zeichen: Die Heilung Judäa nach Galiläa gekommen sei«. Er
des Sohnes eines königlichen mußte einigen Glauben an Jesu Fähigkeit
Beamten (4,43-54) zu heilen haben, weil er direkt »zu ihm
4,43.44 »Nach den zwei Tagen«, die Jesus hin ging und bat, daß er herabkomme«
bei den Samaritern zugebracht hatte, und seinen Sohn, der im Sterben lag, hei-
wandte der Herr seine Schritte nach Nor- le. In diesem Sinne schien er dem Herrn
den »nach Galiläa«. Vers 44 scheint mehr als die meisten seiner Volksgenos-
schwierig zu sein. Er stellt fest, daß der sen zu vertrauen.
Grund für die Reise von Samaria nach 4,48 Jesus sprach nun nicht nur zu
Galiläa war, »daß ein Prophet im eigenen dem Beamten, sondern zu den Juden all-
10)
Vaterland kein Ansehen hat«. Und doch gemein und erinnerte sie an einen Cha-

369
Johannes 4 und 5

rakterzug, der für sie als Volk charakteri- gegangen war, sie war plötzlich gekom-
stisch war, nämlich, daß sie erst Wunder men.
sehen wollten, ehe sie glaubten. Im allge- 4,53 Nun konnte es über dieses Wun-
meinen sehen wir, daß dem Herrn ein der nicht mehr den geringsten Zweifel
Glaube nicht so sehr gefiel, der mehr auf geben. Zur siebten Stunde am Tag zuvor
seinen Wundern als auf seinem Wort hatte Jesus dem königlichen Beamten
beruhte. Es ehrt den Herrn Jesus mehr, gesagt: »Dein Sohn lebt.« Und genau zur
wenn man ihm wegen seines gesproche- selben Stunde war der Sohn in Kaper-
nen Wortes glaubt, als wenn man glaubt, naum geheilt und das Fieber verließ ihn.
nur weil er einen sichtbaren Beweis Daraus lernte der königliche Beamte, daß
geliefert hat. Es ist für den Menschen es für Jesus nicht nötig war, körperlich
typisch, daß er erst sehen will, ehe er anwesend zu sein, um ein Wunder zu
glaubt. Aber der Herr Jesus lehrt uns, tun oder ein Gebet zu erhören. Das sollte
daß wir erst glauben sollen, um dann zu alle Christen in ihrem Gebetsleben ermu-
sehen. tigen. Wir haben einen mächtigen Gott,
Die Worte »Zeichen« und »Wunder« der unsere Bitten erhört und der zu jeder
stehen beide für übernatürlich Taten. Zeit und an jedem Ort seine Ziele errei-
»Zeichen« sind übernatürliche Taten, die chen kann.
eine tiefere Bedeutung haben. »Wunder« Der Beamte selbst »glaubte, er und
sind übernatürliche Taten, die die Men- sein ganzes Haus«. Aus diesem und
schen durch ihre Außerordentlichkeit anderen neutestamentlichen Versen wird
erstaunen. ersichtlich, daß es Gott gefällt, wenn
4,49 Der königliche Beamte glaubte Familien in Christus verbunden sind. Es
jedoch mit der Beständigkeit echten ist nicht sein Wille, daß es im Himmel
Glaubens, daß Jesus seinem Sohn Gutes nur halbe Familien gibt. Er legt wert dar-
tun konnte. In gewissem Sinne reichte auf, die Tatsache festzuhalten, daß das
sein Glaube jedoch nicht aus. Er meinte, »ganze Haus« an seinen Sohn glaubte.
daß Jesus an das Bett des Knaben treten 4,54 Die Heilung des Sohnes des
müsse, um ihn zu heilen. Dennoch tadel- königlichen Beamten war nicht erst das
te der Herr ihn nicht dafür, sondern be- zweite Wunder des gesamten Dienstes
lohnte ihn für den Glauben, den er hatte. des Herrn Jesus bis dahin. Es war das
4,50 Hier sehen wir den Glauben des »zweite Zeichen«, das Jesus in Galiläa
Mannes wachsen. Er kam mit dem Glau- tat, »als er aus Judäa nach Galiläa gekom-
ben, den er hatte, zu Jesus, und der Herr men war«.
vermehrte seinen Glauben. Jesus sandte
ihn mit dem Versprechen nach Hause: III. Der Dienst des Sohnes Gottes –
»Dein Sohn lebt.« Der Sohn war geheilt zweites Jahr (Kap. 5)
worden! Ohne Wunder oder sichtbaren
Beweis »glaubte der Mann dem Wort« A. Das dritte Zeichen: Heilung eines
des Herrn Jesus und ging nach Hause. Kranken am Teich Bethesda (5,1-9)
Das ist gelebter Glaube! 5,1 Zu Beginn von Kapitel 5 ist die Zeit
4,51.52 »Aber schon während er hin- eines jüdischen Festes herbeigekommen.
abging«, kamen seine Diener mit der Viele glauben, daß dies ein Passahfest
freudigen Nachricht, daß es seinem Sohn war, aber man kann es unmöglich mit
gut gehe. Der Mann war über diese Sicherheit festlegen. Als Jude in diese
Nachricht nicht erstaunt. Er glaubte der Welt geboren und dem Gesetz gehorsam,
Verheißung des Herrn Jesus, und nach- das Gott den Juden gegeben hatte, ging
dem er geglaubt hatte, würde er nun den »Jesus . . . hinauf nach Jerusalem« zum
Beweis sehen. Der Vater fragte nun nach Fest. Als Jahwe des AT war der Herr
dem Zeitpunkt, zu dem es seinem Sohn Jesus derjenige, der das Passah zu
besser gegangen war. Ihre Antwort zeigt, Anfang eingesetzt hatte. Nun als Mensch
daß die Heilung nicht allmählich vor sich gehorchte er im Gehorsam gegen seinen

370
Johannes 5

Vater genau den Gesetzen, die er verord- in das Wasser zu gelangen, wurde von
net hatte. seiner Krankheit geheilt. Man kann sich
5,2 In Jerusalem nun gab es einen vorstellen, welch ein ergreifender An-
11)
Teich namens Bethesda , was soviel wie blick es war, wenn man so viele Men-
»Haus der Barmherzigkeit« oder »Haus schen sah, die Hilfe nötig hatten, wie sie
des Mitleids« heißt. Dieser Teich lag »bei versuchten, das Wasser zu erreichen, und
dem Schaftor«. Heute ist der genaue Ort doch nur einer geheilt werden konnte.
bekannt und ausgegraben worden (in der In vielen Bibelübersetzungen fehlen
Nähe der Kreuzfahrerkirche St. Anna). der zweite Teil von Vers 3 (ab ». . . und
Um diesen Teich herum gab es fünf »Säu- bewegte das Wasser«) und der gesamte
lenhallen«, die viele Menschen fassen Vers 4. Doch die Mehrheit der Manus-
konnten. Einige Ausleger sind der Mei- kripte enthält diese Worte. Auch hat die
nung, daß diese fünf Säulenhallen für das Erzählung wenig Sinn, wenn nicht
Gesetz des Mose stehen und sprechen erklärt wird, warum diese kranken Men-
dabei von seiner Unfähigkeit, dem Men- schen alle dort waren.
schen aus seinen Sünden herauszuhelfen. 5,5.6 Einer der Männer, die dort an
5,3 Offensichtlich war Bethesda als dem Teich warteten, war »achtund-
ein Ort bekannt, an dem Heilungswun- dreißig Jahre mit seiner Krankheit behaf-
der stattfanden. Ob diese Wunder immer tet«. Das heißt, daß er in diesem Zustand
oder nur zu bestimmten Tagen wie den schon war, ehe der Retter geboren war.
Festzeiten stattfanden, wissen wir nicht. Der Herr Jesus wußte das alles. Er war
Um den Teich herum lagerten viele Kran- diesem Menschen nie vorher begegnet.
ke, die in der Hoffnung gekommen Doch wußte er, daß er »lange Zeit« krank
waren, geheilt zu werden. Einige waren war.
blind, gelähmt oder anderweitig behin- In liebevollem Mitgefühl »spricht er
dert. Diese verschiedenen Krankheiten zu ihm: Willst du gesund werden?« Jesus
sind ein Bild für den sündigen Menschen wußte, daß dies der größte Wunsch des
in seiner Hilflosigkeit, Blindheit, Lahm- Mannes war. Aber er wollte den Mann zu
heit und Nutzlosigkeit. einem Eingeständnis seiner eigenen Hilf-
Diese Menschen, die an den Auswir- losigkeit bringen. Er sollte zugeben, daß
kungen der Sünde an ihrem Leib zu lei- er auf Heilung angewiesen war. Ähnlich
den hatten, warteten »auf die Bewegung ist es mit der Errettung. Der Herr weiß,
des Wassers«. Ihre Herzen waren von der wie nötig wir die Errettung haben, aber
Sehnsucht erfüllt, von ihrer Krankheit er wartet darauf, daß wir mit unserem
geheilt zu werden, und sie wollten von eigenen Mund bekennen, daß wir verlo-
ganzem Herzen Heilung finden. Dazu ren sind, ihn brauchen und ihn als unse-
schreibt J. G. Bellet: ren Retter annehmen. Wir werden nicht
Sie warteten an diesem unsicheren, ent- durch unseren Willen gerettet, doch muß
täuschenden Wasser, obwohl der Sohn Gottes der menschliche Wille mitspielen, wenn
anwesend war . . . Sicherlich ist dies eine Gott einen Menschen rettet.
Lehre für uns: Der Teich war von vielen Men- 5,7 Die Antwort des Kranken war
schen umgeben und Jesus geht vorbei, ohne, sehr mitleiderregend. Jahr um Jahr hatte
daß sich jemand an ihn wendet. Welch ein er bei dem Teich gelegen, darauf gewar-
Zeugnis für menschliche Religionen! Riten tet, hineinzukommen, doch jedesmal,
werden mit all ihren komplizierten Verfahren »wenn das Wasser bewegt worden ist«,
hochgeschätzt, und die Gnade Gottes wird hatte er niemanden, der ihm geholfen
12)
ignoriert. hätte. Jedesmal hatte er versucht, hinein-
5,4 Die Erzählung reicht hier nicht zukommen, doch jedesmal war ein ande-
aus, um unsere Neugier zu befriedigen. rer schon eher da. Das erinnert uns dar-
Uns wird einfach erzählt, daß »ein Engel an, wie wir enttäuscht werden, wenn wir
in den Teich« herabstieg und das Wasser uns auf unsere Mitmenschen verlassen,
bewegte. Wem es gelang, dann als erster daß sie uns von unseren Sünden erretten.

371
Johannes 5

5,8 Das Bett des Kranken war eine sehr allgemein von ihm, doch mit echter
Matte oder eine leichte Matratze. Jesus Dankbarkeit.
forderte ihn auf, aufzustehen, seine Mat- 5,12 Die Juden wollten unbedingt
te zu nehmen und umherzugehen. Die herausfinden, wer es wagte, diesem
Lehre für uns lautet hier, daß wir, wenn Mann zu befehlen, ihre Sabbattraditio-
wir errettet werden, nicht nur aufgefor- nen zu brechen, und deshalb fragten sie
dert werden aufzustehen, sondern auch ihn, wer das gewesen war. Das Gesetz
umherzugehen. Der Herr Jesus heilt uns des Mose bestimmte, daß einer, der den
von der Krankheit der Sünde, und dann Sabbat brach, gesteinigt werden solle.
erwartet er von uns, daß wir ein Leben Die Juden kümmerte es wenig, daß ein
führen, das ihm Ehre macht. Gelähmter geheilt worden war.
5,9 Der Retter befiehlt niemals jeman- 5,13 »Der Geheilte aber wußte nicht«,
dem, etwas zu tun, ohne ihm nicht auch wer ihn geheilt hatte. Und es war
die Kraft dazu zu geben. Als er sprach, unmöglich, ihn den Juden zu zeigen,
flossen neue Kraft und neues Leben in denn Jesus hatte sich aus der Menge
den Leib des Kranken. Er wurde sofort zurückgezogen, die entstanden war.
geheilt. Es war keine allmähliche Hei- Dieser Vorfall markiert einen der
lung. Die Glieder, die jahrelang schwach großen Wendepunkte des öffentlichen
und unbrauchbar gewesen waren, strotz- Wirkens des Herrn Jesus. Weil er am Sab-
ten nur so vor Kraft. Und dann gehorch- bat ein Wunder tut, erregt er den Zorn
te der Geheilte sofort dem Wort des und den Haß der jüdischen Führer. Sie
Herrn. Er »nahm sein Bett auf und ging fangen an, ihn zu verfolgen und ihm
umher«. Wie aufregend muß das für ihn nach dem Leben zu trachten.
gewesen sein, nachdem er achtund- 5,14 Einige Zeit später »findet Jesus«
dreißig Jahre krank gewesen war. den Geheilten »im Tempel«, wo er zwei-
Das Wunder fand an einem Sabbat fellos Gott für die wunderbare Hilfe
statt, dem siebten Tag der Woche, unse- dankte, die sein Leben verändert hatte.
rem Samstag. Die Juden durften am Sab- Der Herr erinnerte ihn daran, daß er eine
bat keine Arbeit tun. Dieser Mann war wichtige Verpflichtung habe, weil ihm so
ein Jude, und doch zögerte er nicht, auf große Bevorzugung zuteil geworden
den Befehl des Herrn Jesus seine Matte war. Vorrechte bringen immer Verant-
zu tragen, trotz der jüdischen Tradition. wortung mit sich. »Siehe, du bist gesund
geworden; sündige nicht mehr, damit dir
B. Der Widerstand der Juden (5,10-18) nichts Ärgeres widerfahre.« Es scheint
5,10 Als die Juden den Mann seine Matte hierbei deutlich zu werden, daß die
am Sabbat tragen sahen, forderten sie Krankheit des Mannes ihren Ursprung in
von ihm eine Erklärung. Diese Menschen einer Sünde hatte. Das gilt nicht für alle
waren sehr streng und manchmal sogar Krankheiten. Sehr oft hat Krankheit
grausam, wenn es darum ging, ihre reli- nichts direkt mit einer Sünde zu tun, die
giösen Vorschriften zu halten. Sie hingen der Kranke getan hat. Kinder können
am Buchstaben, doch sie zeigten anderen z. B. krank werden, ehe sie alt genug
keine Barmherzigkeit oder Mitleid. sind, absichtlich zu sündigen.
5,11 Der Geheilte gab eine sehr einfa- »Sündige nicht mehr«, sagte Jesus
che Antwort. Er sagte, daß der, der ihn und gab damit Gottes Anforderungen an
geheilt habe, ihm befohlen habe, sein Bett unsere Heiligung bekannt. Wenn er
zu nehmen und umherzugehen. Jedem, gesagt hätte: »Sündige so wenig wie
der die Macht hat, einen Mann zu heilen, möglich«, wäre er nicht Gott gewesen.
der 38 Jahre lang krank war, sollte man Gott kann keinerlei Sünde billigen.
gehorchen, auch wenn er jemanden Außerdem fügte Jesus die Warnung hin-
anwies, sein Bett am Sabbat zu tragen! zu: »damit dir nichts Ärgeres widerfah-
Der Geheilte wußte zu dieser Zeit noch re.« Der Herr sagte nicht, was er mit
nicht, wer der Herr Jesus war. Er sprach »Ärgeres« meinte. Doch zweifellos woll-

372
Johannes 5

te er dem Mann damit zu verstehen er die Botschaft des Evangeliums brin-


geben, daß es noch schlimmere Folgen gen. Deshalb hat seit dem Fall Adams
der Sünde gibt, als körperliche Krank- Gott unaufhörlich »gewirkt«, und er
heit. Wer in seinen Sünden stirbt, ist zu wirkt noch immer. Dasselbe gilt für den
ewiger Not und Angst verurteilt. Herrn Jesus. Er arbeitete mit seinem
Es ist wesentlich ernster, wenn man Vater zusammen, und seine Liebe und
gegen die Gnade als gegen das Gesetz Gnade ließ sich nicht auf sechs Tage in
sündigt. Jesus hatte diesem Mann wun- der Woche beschränken.
derbare Liebe und Barmherzigkeit ge- 5,18 Dieser Vers ist sehr wichtig. Er
zeigt. Nun würde er ihm wenig Dank er- berichtet, daß die Juden immer mehr
weisen, wenn er hingehen würde und das danach trachteten, den Herrn Jesus »zu
gleiche sündige Leben weiterführen wür- töten, weil er nicht allein den Sabbat«
de, das zu seiner Krankheit geführt hat. gebrochen hatte, sondern behauptet hat-
5,15 Wie die samaritische Frau war es te, »Gott gleich« zu sein! Nach ihrer eng-
diesem Mann ein Anliegen, öffentlich stirnigen Meinung hatte der Herr den
Zeugnis von seinem Erretter abzulegen. Sabbat gebrochen, obwohl das nicht
Er »verkündete den Juden, daß es Jesus stimmte. Sie erkannten nicht, daß Gott
war, der ihn gesund gemacht habe«. Er niemals wollte, daß der Sabbat den Men-
wollte Jesus die Ehre geben, auch wenn schen unnötig belastet. Wenn ein Mensch
die Juden daran nicht interessiert waren. am Sabbat von seiner Krankheit geheilt
Ihr Hauptanliegen war, Jesus zu ergrei- werden konnte, dann verlangte Gott
fen und ihn zu bestrafen. nicht, daß er auch nur einen Tag länger
5,16 Hier wird die Bosheit des leiden mußte.
menschlichen Herzens besonders deut- Als Jesus von Gott als seinem Vater
lich. Der Retter war gekommen und hat- sprach, erkannten sie, daß er »sich so
te ein großes Heilungswunder voll- selbst Gott gleich machte«. Für sie war
bracht, doch diese Juden waren aufge- das eine schreckliche Gotteslästerung.
bracht. Sie kreideten ihm an, daß er das Aber es war natürlich nichts anderes als
Wunder »am Sabbat« getan hatte. Sie die Wahrheit.
waren kaltblütige religiöse Fanatiker, die Hat Jesus wirklich behauptet, Gott
mehr daran interessiert waren, daß gleich zu sein? Wenn er das nicht beab-
äußerliche Bestimmungen eingehalten sichtigt hätte, dann hätte er das den
wurden, als sich um den Segen und das Juden sicherlich erklärt. Statt dessen wie-
Wohlergehen ihrer Mitmenschen zu derholt er noch deutlicher in den folgen-
kümmern. Sie erkannten nicht, daß der den Versen, daß er wirklich mit dem
Gleiche, der den Sabbat eingesetzt hat, Vater eins ist. J. Sidlow Baxter hat das so
nun an diesem Tag einem Menschen ausgedrückt:
Barmherzigkeit erwies. Der Herr Jesus Jesus behauptet in siebenfacher Hinsicht,
hatte nicht den Sabbat gebrochen. Das Gott gleich zu sein:
Gesetz verbot an diesem Tag niedrige 1. Gleiches Werk: »denn was der (Vater)
Arbeiten, aber es verbot nicht die Durch- tut, das tut ebenso auch der Sohn«
führung notwendiger oder caritativer (V. 19).
Arbeiten. 2. Gleiches Wissen: »Denn der Vater hat
5,17 Nachdem Gott die Schöpfung in den Sohn lieb und zeigt ihm alles, was er
sechs Tagen vollendet hatte, ruhte er am selbst tut« (V. 20).
siebten Tag. Dieser Tag war der Sabbat. 3. Gleich in der Auferstehung: »Denn wie
Doch als die Sünde in die Welt kam, wur- der Vater die Toten auferweckt und leben-
de die Ruhe Gottes unterbrochen. Er dig macht, so macht auch der Sohn leben-
arbeitete nun ständig daran, Menschen dig, welche er will« (V. 21, dazu auch
in die Gemeinschaft mit ihm zurückzu- V. 28.29).
bringen. Er stellte das Mittel zur Rettung 4. Gleich im Gericht: »Denn der Vater rich-
zur Verfügung. Jeder Generation wollte tet auch niemand, sondern das ganze

373
Johannes 5

Gericht hat er dem Sohn gegeben« (V. 22, damit sich die Leute wundern sollten. Sie
dazu auch V. 27). hatten schon gesehen, wie der Herr Jesus
5. Gleich in der Ehre: »Damit alle den Sohn Wunder tat. Sie waren soeben Zeugen
ehren, wie sie den Vater ehren« (V. 23). gewesen, wie er einen Mann geheilt hat-
6. Gleich in bezug auf die Wiedergeburt: te, der seit 38 Jahren verkrüppelt war.
»Wer mein Wort hört und glaubt dem, Aber sie sollten noch größere Wunder als
der mich gesandt hat, der . . . ist aus dem dieses sehen. Das erste dieser Wunder
Tod in das Leben übergegangen« sollte die Auferstehung sein (V. 21), das
(V. 24.25). zweite das Gericht über die Welt (V. 22).
7. Gleiche Schöpferkraft: »Denn wie der 5,21 Hier haben wir eine weitere
Vater Leben in sich selbst hat, so hat er deutliche Aussage, daß der Sohn dem
auch dem Sohn gegeben, Leben zu haben Vater gleich ist. Die Juden klagten Jesus
13)
in sich selbst« (V. 26). an, er mache sich mit Gott gleich. Dieser
Anklage widersprach er nicht, sondern
C. Jesus verteidigt seinen Anspruch, legte nun diese außerordentlichen Be-
Gott gleich zu sein (5,19-29) weise für die Tatsache dar, daß er und
5,19 Jesus war so intensiv mit dem Vater der Vater eins sind. Ebenso, »wie der
verbunden, daß er nicht unabhängig Vater die Toten auferweckt und lebendig
handeln konnte. Er meint damit nicht, macht, so macht auch der Sohn lebendig,
daß er nicht die Macht gehabt habe, welche er will«. Könnte man so etwas je
etwas von sich selbst aus zu tun, sondern von Jesus sagen, wenn er bloß ein
daß er so eng mit Gott dem Vater ver- Mensch gewesen wäre? Die Frage beant-
bunden war, daß er nichts anderes tun wortet sich von selbst.
konnte, als nur, was er ihn tun sah. Denn 5,22 Das NT lehrt, daß Gott »der Vater
der Herr behauptete zwar, Gott gleich zu . . . das ganze Gericht . . . dem Sohn gege-
sein, erhob jedoch keinen Anspruch auf ben« hat. Damit der Herr Jesus dieses
Unabhängigkeit von ihm. Er ist nicht Gericht halten kann, muß er natürlich
unabhängig vom Vater, obwohl er ihm absolutes Wissen und vollkommene Ge-
völlig gleich ist. rechtigkeit besitzen. Er muß in der Lage
Der Herr Jesus wollte auf jeden Fall, sein, die Gedanken und Motive des
daß die Juden ihn für gottgleich halten menschlichen Herzens aufzudecken. Wie
sollten. Es wäre absurd, wenn ein einfa- seltsam war es, daß der Richter der
cher Mensch behaupten würde, genau ganzen Welt hier vor diesen Juden stehen
dasselbe zu tun wie Gott selbst. Jesus und seine Autorität verteidigen mußte,
behauptet zu sehen, was der Vater tut. und sie ihn doch nicht anerkennen woll-
Um solch eine Behauptung aufzustellen, ten!
muß er ständigen Zugang zum Vater und 5,23 Hier lesen wir, warum Gott sei-
vollständiges Wissen dessen haben, was nem Sohn die Autorität verliehen hat, die
im Himmel vor sich geht. Und nicht nur Toten aufzuerwecken und die Welt zu
das, sondern Jesus behauptet sogar, richten. Der Grund ist, »damit alle den
genau das zu tun, »was er den Vater tun Sohn ehren, wie sie den Vater ehren«.
sieht«. Das ist sicherlich eine Aussage Das ist eine äußerst wichtige Aussage,
über seine Gottgleichheit. Er ist allmäch- und einer der deutlichsten Beweise der
tig. Gottheit unseres Herrn Jesus Christus in
5,20 Es ist ein besonderes Kennzei- der Bibel. In der ganzen Bibel wird uns
chen der Liebe des Vaters zu seinem gesagt, daß wir nur Gott allein anbeten
Sohn, daß er ihm alles zeigt, »was er dürfen. In den Zehn Geboten wird dem
selbst tut«. Jesus sah es nicht nur, er hat- Volk verboten, andere Götter außer dem
te auch die Macht, ebenso zu handeln wahren Gott zu verehren. Und nun wird
wie der Vater. Dann fuhr der Retter fort uns geboten, daß »alle den Sohn ehren,
mit seiner Rede und sagte, daß Gott wie sie den Vater ehren«. Die einzige
»größere Werke als diese zeigen« würde, Schlußfolgerung, die wir aus diesem

374
Johannes 5

Vers ziehen können, ist, daß Jesus Chri- göttlich annehmen und glauben muß,
stus Gott ist. daß er der Retter der Welt ist.
Viele Menschen behaupten, daß sie »Und glaubt dem, der mich gesandt
Gott anbeten, doch sie bestreiten, daß hat.« Es geht darum, Gott zu glauben.
Jesus Christus Gott ist. Sie sagen, daß er Doch heißt das, daß man dadurch schon
ein guter Mensch war oder daß er Gott gerettet ist, daß man an Gott glaubt? Vie-
ähnlicher war als jeder andere Mensch, le behaupten, an Gott zu glauben, doch
der je gelebt hat. Aber dieser Vers stellt sie haben sich nie bekehrt. Nein, es geht
ihn auf die gleiche Ebene wie Gott und hier um den Gedanken, daß man Gott
fordert, daß die Menschen ihm dieselbe glauben muß, der den Herrn Jesus Chri-
Ehre erweisen sollen, wie sie Gott dem stus in die Welt gesandt hat. Was muß
Vater gebührt. Wenn jemand »den Sohn man glauben? Man muß glauben, daß
nicht ehrt«, der »ehrt« auch »den Vater Gott den Herrn Jesus gesandt hat, damit
nicht«. Es ist nutzlos, zu behaupten, daß er uns rettet. Man muß glauben, was Gott
man Gott liebe, wenn man nicht dieselbe über den Herrn Jesus gesagt hat, näm-
Liebe dem Herrn Jesus Christus entge- lich, daß er der einzige Retter ist, und
genbringt. Wenn Sie bisher noch nie daß Sünde nur durch sein Werk am
erkannt haben, wer Jesus Christus ist, Kreuz von Golgatha vergeben werden
dann sollten Sie diesen Vers besonders kann.
gut überdenken. Denken Sie daran, daß »Hat ewiges Leben«. Man beachte,
Sie Gottes Wort vor sich haben, und neh- daß es nicht heißt, daß er ewiges Leben
men Sie die wunderbare Wahrheit an, haben wird, sondern daß er es jetzt »hat«.
daß Jesus Christus Gott ist, im Fleisch »Ewiges Leben« ist das Leben des Herrn
gekommen. Jesus Christus. Es ist nicht nur ein Leben,
5,24 In den vorhergehenden Versen das nie enden wird, sondern es geht um
haben wir erfahren, daß der Herr Jesus ein qualitativ höherstehendes Leben. Es
die Macht hat, das Leben zu geben und ist das Leben, das der Retter uns
daß ihm auch das Gericht übertragen geschenkt hat, die wir an ihn glauben. Es
worden ist. Nun erfahren wir, wie man ist das geistliche Leben, das man emp-
von ihm geistliches Leben geschenkt fängt, wenn man wiedergeboren wird,
bekommt und dem Gericht entgeht. im Gegensatz zum natürlichen Leben,
Dies ist einer meiner Lieblingsverse das man bei der leiblichen Geburt erhält.
der Bibel. Durch seine Botschaft haben »Und kommt nicht ins Gericht.« Es
schon viele Menschen das ewige Leben geht darum, daß man weder jetzt, noch
erhalten. Zweifellos ist der Grund dafür, in der Zukunft verdammt wird. Wer an
daß er so sehr geliebt wird, die Art und den Herrn Jesus glaubt, ist vom Gericht
Weise, in der er den Weg zur Errettung so befreit, weil Jesus die Strafe für unsere
deutlich darstellt. Der Herr Jesus begann Sünden am Kreuz von Golgatha erlitten
diesen Vers mit den Worten »Wahrlich, hat. Gott straft nicht zweimal. Christus
wahrlich«, um damit die Aufmerksam- hat sie als unser Stellvertreter auf sich
keit auf die Bedeutung dessen zu lenken, genommen, und das reicht. Er hat das
was er jetzt sagen will. Dann fügt er noch Werk vollendet, und man kann einem
die sehr persönliche Ankündigung hin- vollendeten Werk nichts hinzufügen. Der
zu: »Ich sage euch.« Der Sohn Gottes Christ wird nie für seine Sünden bestraft
14)
sprich hier sehr persönlich zu uns. werden.
»Wer mein Wort hört.« Das Wort Jesu »Sondern er ist aus dem Tod in das
hören bedeutet nicht nur, hinzuhören, Leben übergegangen.« Wer Jesus Chri-
sondern es auch anzunehmen, zu glau- stus vertraut, ist aus einem Zustand des
ben und ihm zu gehorchen. Viele Leute geistlichen Todes in den des geistlichen
hören die Predigt des Evangeliums, doch Lebens übergangen. Vor der Bekehrung
sie können damit nichts anfangen. Der war er tot in Übertretungen und Sünden.
Herr sagt hier, daß man seine Lehre als Er war tot, soweit es Liebe zu Gott oder

375
Johannes 5

Gemeinschaft mit dem Herrn angeht. 5,26 Dieser Vers erklärt, wie man vom
Wenn er anfängt, an Jesus Christus zu Herrn Jesus das Leben bekommen kann.
glauben, kommt der Heilige Geist, um in Genauso »wie der Vater« die Quelle und
ihm zu wohnen und so hat er das göttli- der Geber des Lebens ist, »so hat er« auch
che Leben. bestimmt, daß auch »der Sohn . . . Leben
5,25 Hier verwendet der Herr zum . . . in sich selbst« hat und es an andere
dritten Mal in diesem Kapitel den Aus- weitergeben kann. Hier haben wir wie-
druck »wahrlich, wahrlich«, und zum der eine ausdrückliche Aussage über die
siebten Mal im gesamten Evangelium. Gottheit Christi und seine Gleichheit mit
Als der Herr sagte, »daß die Stunde dem Vater. Man kann von keinem Men-
kommt und jetzt da ist«, meinte er nicht schen sagen, daß er das Leben in sich
einen Zeitraum von sechzig Minuten, selbst hat. Jedem von uns ist das Leben
sondern er drückte damit aus, daß die geschenkt worden, aber dem Vater oder
Zeit kommen würde und schon da sei. dem Herrn Jesus ist es nie geschenkt
Die Zeit, die er meinte, bezieht sich auf worden. Von aller Ewigkeit her wohnte
seine Ankunft auf der Bühne der Weltge- das Leben in ihnen. Dieses Leben hatte
schichte. keinen Anfang. Es hatte keine Quelle
Wer sind »die Toten«, von denen in außerhalb von ihnen.
diesem Vers gesprochen wird? Wer sind 5,27 Gott hat nicht nur bestimmt, daß
die, die »die Stimme des Sohnes Gottes der Sohn das Leben in sich selbst haben
hören« und leben werden? Es könnte sollte, sondern »hat ihm Vollmacht gege-
sich natürlich auf diejenigen beziehen, ben«, Richter der Welt zu sein. Das Rich-
die der Herr während seines öffentlichen teramt ist Jesus gegeben, »weil er des
Wirkens von den Toten auferweckt hat. Menschen Sohn ist«. Der Herr wird
Doch dieser Vers hat noch eine weitge- sowohl Sohn Gottes als auch Menschen-
hendere Bedeutung. »Die Toten« sind sohn genannt. Der Titel Sohn Gottes erin-
diejenigen, die in Übertretungen und nert uns daran, daß er eine Person der
Sünden tot sind. Sie hören »die Stimme göttlichen Dreieinigkeit ist. Als Sohn
des Sohnes Gottes«, wenn das Evangeli- Gottes ist er dem Vater und dem Heiligen
um gepredigt wird. Wenn sie die Bot- Geist gleich und kann von daher Leben
schaft annehmen und den Retter in ihr geben. Aber er ist auch »der Sohn des
Herz aufnehmen, dann gelangen sie vom Menschen«. Er kam als Mensch in diese
Tod ins Leben. Welt, lebte hier unter Menschen und
Um die Interpretation zu stützen, daß starb am Kreuz stellvertretend für die
Vers 25 vom Geistlichen und nicht vom Menschen. Er wurde abgelehnt, und
Leiblichen redet, listen wir hier die Ver- gekreuzigt, als er als Mensch in diese
gleiche und Kontraste zwischen Vers 25 Welt kam. Wenn er wiederkommt, wird
und den Versen 28.29 auf: er kommen, um seine Feinde zu richten
V. 25 V. 28.29 und auf genau derselben Welt geehrt zu
vom Leben zum Leben nach dem werden, die ihn vorher so grausam
Tod Tod behandelt hat. Weil er sowohl Gott als
»Die Stunde »Die Stunde auch Mensch ist, hat er die absoluten
kommt, und ist kommt« Vollmachten des Richteramtes.
jetzt« 5,28 Zweifellos waren die zuhören-
den Juden erstaunt, als Jesus diese ein-
»Die Toten« »Alle, die in den
deutigen Ansprüche auf seine Gottheit
Gräbern sind«
formulierte. Er erkannte natürlich, wel-
»werden die »Werden seine che Gedanken ihnen durch den Kopf gin-
Stimme hören« Stimme hören« gen, deshalb sagte er ihnen, sie sollten
»die sie gehört »und hervor »sich nicht wundern«. Dann fuhr er mit
haben, werden kommen« einer noch aufregenderen Wahrheit fort.
leben« Zu einer Zeit, die heute noch in der

376
Johannes 5

Zukunft liegt, werden alle, deren Leiber tung zu stützen, daß Jesus Christus nicht
in Gräbern liegen, »seine Stimme hören«. Gott sei. Sie sagen, daß er nur ein Mensch
Wie töricht wäre es für jeden, der nicht war, weil er nichts von sich aus tun konn-
Gott war, vorherzusagen, daß die Toten te. Doch dieser Vers beweist das genaue
eines Tages seine Stimme hören würden. Gegenteil. Die Menschen können sehr oft
Nur Gott konnte eine solche Aussage tun, was ihnen beliebt, gleichgültig, ob
machen. das dem Willen Gottes entspricht, oder
5,29 Alle Toten werden eines Tages nicht. Doch weil Jesus Gottes Sohn war,
auferweckt werden. Einige werden zum konnte er nicht so handeln. Es war für
Leben, die anderen zum Gericht aufer- ihn eine sittliche Unmöglichkeit. Er hatte
weckt. Welch eine schwerwiegende im Prinzip die Möglichkeit, alles zu tun,
Wahrheit ist es, daß jeder, der auf dieser doch er konnte nichts Falsches tun: und es
Erde lebte, lebt oder leben wird, zu einer wäre für ihn falsch gewesen, irgend
15)
dieser beiden Gruppen gehören wird! etwas zu tun, das nicht dem Willen Got-
Vers 29 lehrt nicht, daß Menschen, die tes des Vaters für ihn entsprach. Diese
Gutes getan haben, wegen ihrer guten Aussage trennt Jesus von jedem anderen
Taten gerettet werden, und daß die, die Menschen.
Böses getan haben, wegen ihres verdor- So, wie der Herr Jesus es von seinem
benen Lebenswandels verloren gehen. Vater täglich hörte und seine Anweisun-
Man wird nicht gerettet, indem man Gut- gen bekam, so dachte, lehrte und handel-
es tut, sondern man tut Gutes, weil man te er. Das Wort »richten« bezeichnet nicht
gerettet ist. Gute Worte sind nicht die einen Rechtsakt, sondern mehr die Ent-
Wurzel, sondern eher die Frucht der Er- scheidung über die Richtigkeit des
rettung. Sie sind nicht Ursache, sondern Redens und des Verhaltens.
Wirkung. Der Ausdruck »die aber das Weil den Herrn keine selbstsüchtigen
Böse verübt haben« beschreibt diejeni- Motive bewegten, konnte er Angelegen-
gen, die nie an Jesus geglaubt und ihm heiten fair und unparteiisch beurteilen.
vertraut haben, und deren Leben folgli- Sein einziges Anliegen war, seinem Vater
cherweise aus Gottes Sicht »böse« ist. zu gefallen und seinen Willen zu tun.
Diese werden auferstehen, um vor Gott Nichts durfte dem im Wege stehen. Des-
gestellt und zur ewigen Verdammnis halb wurde seine Beurteilung von Vor-
verurteilt zu werden. gängen nicht durch das beeinflußt, was
ihm zum Vorteil hätte gereichen können.
D. Vier Zeugen für die Unsere Meinungen und Lehren werden
Gottessohnschaft Jesu (5,30-47) normalerweise von dem beeinflußt, was
5,30 Zunächst scheint der Satz »Ich kann wir tun und was wir glauben wollen.
nichts von mir selbst tun« auszusagen, Doch das gilt nicht für den Sohn Gottes.
daß der Herr Jesus nicht die Macht habe, Seine Meinungen oder Urteile basierten
irgend etwas aus eigener Kraft zu tun. nicht auf seinem eigenen Vorteil. Er war
Doch das war nicht der Fall. Der Gedan- im besten Sinne des Wortes »vorurteils-
ke hier ist, daß er so eng mit Gott dem los«.
Vater verbunden ist, daß er nicht von sich 5,31 In den restlichen Versen dieses
selbst aus handeln kann. Er konnte nichts Kapitels beschreibt der Herr Jesus Chri-
aus eigener Vollmacht tun. Im Charakter stus die verschiedenen Zeugen seiner
des Herrn Jesus fand sich nicht die ge- Göttlichkeit. Als erstes war da das Zeug-
ringste Spur von Eigenwillen. Er handel- nis von Johannes dem Täufer (V. 33-35),
te im vollkommenen Gehorsam gegen- dann das Zeugnis seiner Werke (V. 36),
über seinem Vater und immer in der voll- das Zeugnis des Vaters (V. 37.38) und das
sten Gemeinschaft und Übereinstim- Zeugnis der alttestamentlichen Schriften
mung mit ihm. (V. 39-47).
Dieser Vers ist oft von falschen Leh- Zuerst trifft Jesus jedoch eine allge-
rern benutzt worden, um ihre Behaup- meine Aussage über das Thema Zeugnis.

377
Johannes 5

Er sagte: »Wenn ich von mir selbst zeuge, Dann fügte er hinzu: »Sondern dies
so ist mein Zeugnis nicht wahr.« Das sage ich, damit ihr errettet werdet.« War-
bedeutet nicht, daß der Herr Jesus auch um sprach der Herr Jesus so ausführlich
nur einen Augenblick etwas sagen konn- zu den Juden? Wollte er nur versuchen
te, das nicht der Wahrheit entspracht. Er zu beweisen, daß er im Recht war und sie
beschreibt einfach die allgemeine Tatsa- Unrecht hatten? Im Gegenteil, er breitete
che, daß das Zeugnis einer einzelnen Per- vor ihnen diese wunderbaren Wahrhei-
son bei Gericht nicht als ausreichender ten aus, damit sie erkennen könnten, wer
Beweis galt. Gottes Anweisung lautete, er war und ihn als den verheißenen Ret-
daß mindestens zwei oder drei Zeugen ter annahmen würden. Dieser Vers zeigt
erforderlich waren, ehe ein gültiges Ur- uns ganz deutlich das liebende und zart-
teil gefällt werden konnte. Und deshalb fühlende Herz des Herrn Jesus. Er sprach
wollte der Herr Jesus nicht nur zwei oder zu denen, die ihn haßten und die schon
drei, sondern sogar vier Zeugen für seine bald nach einem Weg suchen würden,
Göttlichkeit bringen. wie sie ihn beseitigen könnten. Doch er
5,32 Unter Auslegern ist die Frage haßte sie nicht wider. Er konnte auch sie
nicht geklärt, ob sich dieser Vers auf nur lieben.
Johannes den Täufer, Gott den Vater oder 5,35 In diesem Satz zollt der Herr
auf den Heiligen Geist bezieht. Einige Johannes dem Täufer seine Anerken-
sind der Meinung, daß die Worte »ein nung als eine »brennende und scheinen-
anderer« sich auf Johannes den Täufer de Lampe«. Das bedeutete, daß er ein
beziehen, und daß dieser Vers zu den sehr eifriger Mann war, einer, der die
drei folgenden gehört. Andere Glauben, Aufgabe hatte, das Licht den anderen
daß der Herr hier über das Zeugnis Menschen zu bringen, und einer, der sich
spricht, das der Heilige Geist über ihn darin verzehrte, andere Menschen auf
gibt. Wir glauben, daß »er« sich auf das Jesus hinzuweisen. Zuerst strömten die
Zeugnis des Vaters bezieht. Juden zu Johannes dem Täufer. Er war
5,33 Nachdem Jesus den größten aller etwas Neues, eine für sie fremde Gestalt
seiner Zeugen, seinen Vater, angeführt war in ihr Leben gekommen, und sie
hat, wendet er sich dem Zeugnis Johan- kamen, um ihn zu hören. »Für eine Zeit«
nes des Täufers zu. Er erinnert die un- nahmen sie ihn als populären religiösen
gläubigen Juden daran, daß sie Männer Redner an.
»zu Johannes gesandt« haben, um zu Warum wollten sie dann aber nicht
hören, was er zu sagen habe, und daß das den annehmen, den Johannes gepredigt
Zeugnis des Johannes sich nur mit dem hatte, wenn sie ihn zunächst so herzlich
Herrn Jesus Christus beschäftigte. Statt aufgenommen hatten? Sie freuten sich
Menschen auf sich selbst hinzuweisen, eine Zeit lang, doch es gab keine echte
wies er sie auf den Retter hin. Er hat Buße. Sie waren inkonsequent. Sie nah-
»Zeugnis gegeben« von dem, der die men den Vorläufer an, aber den König
»Wahrheit« selbst ist. wollten sie nicht empfangen! Jesus zollt
5,34 Der Herr Jesus erinnert seine dem Täufer große Anerkennung. Wenn
Zuhörer daran, daß sein Anspruch, Gott ein Diener Christi vom Sohn Gottes eine
gleich zu sein, nicht einfach auf dem »brennende und scheinende Lampe« ge-
Zeugnis von Menschen beruht. Wenn er nannt wird, dann ist das ein echtes Lob.
nur das Zeugnis von Menschen gehabt Möge jeder von uns, die wir den Herrn
hätte, dann wäre dieses Zeugnis wenig Jesus lieben, danach streben, daß auch
beweiskräftig. Aber er erwähnte das wir Feuerflammen für Jesus sind, die
Zeugnis des Johannes, weil dieser von selbst ausbrennen, jedoch dabei der Welt
Gott gesandt worden war, und weil er Licht bringen.
von Jesus aussagte, daß er der Messias 5,36 Das Zeugnis des Johannes war
und das Lamm Gottes sei, das die Sünde nicht der stichhaltigste Beweis Christi für
der Welt trägt. seine Göttlichkeit. Die Wunder, die der

378
Johannes 5

Vaters ihm zu tun gab, stellten ihm das Gott hat sich den Menschen in der Per-
Zeugnis aus, daß er wirklich »vom Vater son des Herrn Jesus Christus offenbart.
gesandt« war. Wunder an sich sind noch In einer sehr realen Weise sahen diejeni-
kein Beweis der Göttlichkeit. In der Bibel gen, die an Christus glaubten, die Gestalt
lesen wir von Menschen, denen die Gottes. Die Ungläubigen sahen ihn nur
Macht gegeben war, Wunder zu tun, und als einen normalen Menschen an.
wir lesen sogar von bösen Gestalten, die 5,39 Der erste Teil dieses Verses kann
16)
ebenfalls die Macht dazu hatten. Aber auf zweierlei Weise verstanden werden.
die Wunder des Herrn Jesus waren Erstens kann man darin den Auftrag Jesu
anders als alle anderen. Erstens hatte er an die Juden sehen, die Schrift zu erfor-
die Macht in sich selbst, diese Machttaten schen. Oder er könnte hier einfach die Tat-
zu vollbringen, während anderen diese sache festhalten, daß sie die Schriften er-
Macht gegeben war. Andere Menschen forschen, weil sie dachten, daß sie durch
haben Wunder getan, aber sie konnten den bloßen Besitz der Schriften schon
die Macht, Wunder zu tun, nicht an ewiges Leben hätten. Beide Interpretatio-
andere weitergeben. Der Herr Jesus voll- nen des Verses sind möglich. Wahrschein-
brachte nicht nur selbst Wunder, sondern lich wollte der Herr Jesus hier einfach die
gab auch seinen Aposteln die Vollmacht, Tatsache festhalten, daß die Juden »die
dasselbe zu tun. Außerdem, waren die Schriften« erforschten und dachten, daß
Werke, die der Retter tat, dieselben, die sie dadurch das »ewige Leben« erlangen
das AT für den Messias voraussagte. könnten. Sie erkannten nicht, daß die alt-
Und schließlich waren die Wunder des testamentlichen Schriften, die vom Kom-
Herrn Jesus einzigartig im Charakter, men des Messias reden, eigentlich von
ihrer Tragweite und ihrer Anzahl. Jesus redeten. Es ist schrecklich, wenn
5,37.38 Noch einmal spricht der Herr man bedenkt, daß diese Menschen mit
von dem Zeugnis, das der Vater ihm gibt. der Schrift in ihrer Hand so blind sein
Vielleicht spielt Jesus hier auf seine Taufe konnten. Doch war es noch unentschuld-
an. Da hörte man die Stimme Gottes des barer, daß sie den Herrn Jesus immer
Vaters sagen, daß Jesus sein geliebter noch nicht annehmen wollten, nachdem
Sohn sei, an dem er Wohlgefallen habe. er so zu ihnen gesprochen hat. Man
Doch sollte hinzugefügt werden, daß der beachte den zweiten Teil des Verses
Vater auch durch das Leben, den Dienst besonders aufmerksam: »Und sie sind es,
und die Wunder des Herrn Jesus von der die von mir zeugen.« Das bedeutet ein-
Tatsache Zeugnis gab, daß Jesus sein fach, daß das Hauptthema des AT das
Sohn ist. Kommen des Christus ist. Wenn jemand
Die ungläubigen Juden hatten das beim Studium des AT nicht erkennt,
»weder jemals« Gottes »Stimme gehört, dann hat er die Hauptsache nicht erkannt.
noch seine Gestalt gesehen«, weil sie 5,40 Die Juden »wollten nicht« zu
»sein Wort . . . nicht bleibend« in sich hat- Jesus »kommen, damit« sie »Leben« hät-
ten. Gott spricht durch sein Wort, die ten. Der wahre Grund, warum ein
Bibel, zu den Menschen. Diese Juden hat- Mensch den Retter nicht annimmt,
ten die Schriften des AT, doch sie erlaub- besteht nicht darin, daß er das Evangeli-
ten Gott nicht, zu ihnen durch diese um nicht verstehen könnte, oder es
Schriften zu reden. Ihre Herzen waren unmöglich findet, an Jesus zu glauben.
verhärtet, und ihre Ohren waren zu taub Es gibt nichts am Herrn Jesus, das es ihm
zum Hören. unmöglich macht, ihm zu vertrauen. Der
Sie hatten nie Gottes Gestalt oder sei- wahre Fehler liegt im Willen des Men-
ne Person gesehen, weil sie nicht an den schen. Er liebt seine Sünden mehr als den
Einen glaubten, den Gott gesandt hatte. Retter. Er will seinen bösen Lebensstil
Gott der Vater hat keine Form, die man nicht aufgeben.
mit sterblichen Augen sehen könnte. Er 5,41 Der Herr Jesus verurteilte die
ist Geist und deshalb unsichtbar. Doch Juden dafür, daß sie ihn nicht annehmen

379
Johannes 5

wollten, doch er wollte nicht, daß sie interessiert, bei ihren Mitmenschen in
dachten, daß er verletzt sei, weil sie ihm gutem Ansehen zu stehen als bei Gott.
nicht die Ehre gegeben hätten, die ihm Sie hatten Angst, was ihre Freunde wohl
gebührt. Er kam nicht in diese Welt, um sagen würden, wenn sie das Judentum
sich von den Menschen dieser Welt loben verließen. Sie waren nicht gewillt, die
zu lassen. Er war von ihrer Anerkennung Verfolgung und das Leid auf sich zu neh-
nicht abhängig. Alles was er suchte, war men, das über sie kommen würde, wenn
die Anerkennung seines Vater. Auch sie Nachfolger des Herrn Jesus werden
wenn die Mensch ihn ablehnten, konnte würden. So lange jemand noch Angst
das seine Herrlichkeit nicht vermindern. davor hat, was andere sagen oder tun
5,42 Daß Menschen den Sohn Gottes könnten, kann er nicht gerettet werden.
nicht annehmen, wird hier auf eine Ursa- Um an den Herrn Jesus glauben zu kön-
che zurückgeführt. Diese Menschen nen, muß man die Anerkennung Gottes
haben »die Liebe Gottes nicht in« sich, mehr suchen als die von irgendjeman-
das heißt, daß sie sich selbst mehr lieben dem anderen. Man muß »die Ehre, die
als Gott. Wenn sie Gott geliebt hätten, von dem alleinigen Gott ist«, suchen.
hätten sie den Einen angenommen, den 5,45 Der Herr brauchte die Juden »bei
Gott gesandt hat. Durch ihre Ablehnung dem Vater nicht »verklagen«. Natürlich
des Herrn Jesus zeigen sie, daß sie den konnte er viele Anklagen gegen sie vor-
Vater nicht lieben. bringen. Doch das brauchte er gar nicht,
5,43 Der Herr Jesus kam »in dem weil die Schriften Moses genügten, um
Namen« seines »Vaters«, d. h. er kam, sie anzuklagen. Diese Juden waren sehr
um den Willen des Vaters zu tun, ihn zu stolz auf das AT und insbesondere auf
verherrlichen und ihm in allen Dingen die fünf Bücher Mose, die Thorah. Sie
Gehorsam zu leisten. Wenn die Men- waren stolz, daß diese Schriften Israel
schen Gott wirklich geliebt hätten, dann gegeben waren. Doch das Problem war,
hätten sie auch den Einen geliebt, der daß sie den Worten Moses nicht gehorch-
Gott in allem seinem Tun und Reden ten, wie Vers 46 zeigt.
gefallen wollte. 5,46 Der Herr Jesus stellte die Schrif-
Jesus sagt nun voraus, daß »ein ande- ten des Mose auf dieselbe Stufe wie seine
rer in seinem eigenen Namen« kommen eigenen Worte. Beide haben die gleiche
werde, und daß die Juden den »aufneh- Autorität. Uns wird gesagt, daß »alle
men« würden. Vielleicht bezog er sich Schrift von Gott eingegeben ist«. Ob wir
auf die vielen falschen Lehrer, die nach das AT oder das NT lesen, wir lesen das
ihm aufstanden und versuchten, das Wort Gottes. Wenn die Juden dem Wort
Volk auf ihre Seite zu bringen. Vielleicht des Mose geglaubt hätten, dann hätten
bezieht er sich auch auf die Führer von sie auch dem Herrn Jesus Christus
falschen Religionen, die durch die Jahr- geglaubt, weil Mose vom Kommen Chri-
hunderte immer wieder behauptet ha- sti geschrieben hat. Ein Beispiel dafür
ben, Christus zu sein. Doch wahrschein- finden wir in 5. Mose 18,15.18:
licher ist es, daß er hier den Antichristen »Einen Propheten wie mich wird dir der
meint. Eines Tages wird ein selbster- Herr, dein Gott, aus deiner Mitte, aus deinen
nannter Herrscher unter den Juden auf- Brüdern, erstehen lassen. Auf ihn sollt ihr
stehen und verlangen, als Gott angebetet hören . . . Einen Propheten wie dich will ich
zu werden (2. Thess 2,8-10). Die Mehr- ihnen aus der Mitte ihrer Brüder erstehen
heit der Juden wird diesen Antichristen lassen. Ich will meine Worte in seinen Mund
als Herrscher akzeptieren. Die Folge legen, und er wird zu ihnen alles reden, was
wird sein, daß sie unter das harte Gericht ich ihm befehlen werde.«
Gottes fallen (1. Joh 2, 18). In diesen Versen sagte Mose das
5,44 Hier gibt der Herr noch einen Kommen Christi voraus, und befahl
anderen Grund an, warum die Juden ihn dem jüdischen Volk, auf ihn zu hören
nicht annahmen. Sie waren mehr daran und ihm zu gehorchen, wenn er käme.

380
Johannes 5 und 6

Nun war der Herr Jesus gekommen, die Stadt Tiberias an seinem Westufer
doch die Juden wollten ihn nicht anneh- lag. Diese Stadt, die Hauptstadt der Pro-
men. Deshalb sagte er, daß Mose sie vor vinz Galiläa, wurde nach dem römischen
dem Vater anklagen würde, weil sie vor- Kaiser Tiberius benannt.
gaben, an Mose zu glauben, doch nicht 6,2.3 »Eine große Volksmenge« folgte
taten, was Mose geboten hatte. Die Wor- Jesus, wahrscheinlich jedoch nicht des-
te »denn er hat von mir geschrieben« halb, weil die Menschen an Jesus als den
sind eine deutliche Aussage unseres Sohn Gottes glaubten, sondern »weil sie
Herrn, daß die Schriften des AT Prophe- die Zeichen sahen, die er an den Kranken
zeiungen auf ihn enthalten. Augustinus tat«. Ein Glaube, der sich auf Wunder
sagte deshalb: »Das Neue Testament ist gründet, ist vor Gott nie so wohlgefällig,
im Alten verborgen, das Alte im Neuen wie der, der auf seinem Wort allein ba-
offenbart.« siert. Gottes Wort sollte keine Wunder zu
5,47 Wenn die Juden schon nicht den seiner Bestätigung nötig haben. Alles,
Schriften des Mose glauben wollten, war was Gott sagt, ist wahr. Es kann einfach
es nicht wahrscheinlich, daß sie den Wor- nicht falsch sein. Das sollte jedem genü-
ten Jesu glauben würden. Es gibt eine gen. In Vers 3 heißt es: »Jesus aber ging
sehr enge Beziehung zwischen dem AT hinauf auf den Berg«, doch kann das
und dem NT. Wenn man die Inspiration bedeuten, daß Jesus sich einfach nur in
des AT anzweifelt, dann ist es wenig die bergige Gegend in der Nähe des Sees
wahrscheinlich, daß man gleichzeitig die begeben hat.
Worte des Herrn Jesus als inspiriert 6,4 Es ist nicht klar, warum Johannes
ansieht. Wenn Menschen bestimmte Tei- erwähnt, daß das Passahfest nahe war.
le der Bibel angreifen, dann dauert es Einige schlagen vor, daß der Herr Jesus
meist nicht lange, bis sie auch den Rest vielleicht an das Passah dachte, als er in
der Bibel anzweifeln. King sagt dazu: diesem Kapitel seine wunderbare Rede
Der Herr spielt hier natürlich auf den über das Brot des Lebens gehalten hat. Er
Pentateuch an – die fünf Bücher Mose, den war nicht nach Jerusalem zum Passah
Teil der Bibel, der mehr als alle anderen ange- gegangen. Johannes erwähnt das Passah
griffen worden ist. Und, seltsam genug, auf als »das Fest der Juden«. Natürlich war
den Teil, den der Meister, soweit die Auf- es im AT von Gott eingesetzt worden.
zeichnungen gehen, mehr als jeden anderen Gott hatte es dem jüdischen Volk gege-
zitiert hat. Als ob, lange ehe die Angriffe ben, und in diesem Sinne war es »das
begannen, er diesem Teil der Bibel sein Fest der Juden«. Doch der Ausdruck
17)
»Imprimatur« habe geben wollen. könnte auch bedeuten, daß Gott es nicht
länger als sein eigenes Fest ansah, weil
IV. Der Dienst des Sohnes Gottes – die Juden es nur noch als Zeremonie fei-
drittes Jahr: Galiläa (Kap. 6) erten, ohne daß sie von Herzen daran
teilgenommen hätten. Es hatte seine
A. Das vierte Zeichen: Die Speisung wahre Bedeutung verloren und war des-
der Fünftausend (6,1-15) halb nicht länger ein Fest des Herrn.
6,1 Der Ausdruck »danach« bedeutet, 6,5 Jesus ärgerte sich nicht über die
daß seit den Ereignissen in Kapitel 5 eine »große Volksmenge«, weil sie ihn in sei-
längere Zeitspanne vergangen ist. Wir ner Ruhe oder bei seiner Zeit mit den
wissen nicht genau, wieviele, doch wis- Jüngern stören könnte. Sein erster
sen wir, daß Jesus von der Gegend um Gedanke war, daß man ihnen etwas zu
Jerusalem zum See Genezareth gereist essen besorgen müsse. Und deshalb
war. Wenn es heißt, daß er den See über- wandte er sich an Philippus und fragte,
querte, dann bedeutet das wahrschein- wo man Brot kaufen könne, um diese
lich vom Nordwest zum Nordostufer. Menschenmenge zu versorgen. Wenn
Der See Genezareth war auch unter dem Jesus eine Frage stellt, so nicht, um sein
Namen »See von Tiberias« bekannt, weil eigenes Wissen zu vervollständigen, son-

381
Johannes 6

dern um andere zu lehren. Er kannte die dazukamen. Die Zahl fünftausend wird
Antwort, Philippus jedoch nicht. genannt, um anzudeuten, welch ein
6,6 Der Herr wollte Philippus etwas gewaltiges Wunder gleich stattfinden
Wertvolles lehren und seinen Glauben wird.
»prüfen«. Jesus »selbst wußte«, daß er 6,11 »Jesus aber nahm die Brote« und
ein Wunder vollbringen würde, um die- dankte für sie. Wenn er das tat, ehe er das
se große Menschenmenge zu speisen. Essen austeilte und an einer Mahlzeit
Doch glaubte Philippus, daß er in der teilnahm, wieviel mehr sollten wir
Lage war, das zu tun? Hatte Philippus innehalten, um Gott zu danken, ehe wir
einen großen oder kleinen Glauben? uns zu Tisch setzen. Wir können aus die-
6,7 Offensichtlich erhob sich der sem Vers noch eine andere wichtige Leh-
Glaube des Philippus nicht gerade in re ziehen. Der Herr Jesus tat nicht alles
schwindelnde Höhen. Er überschlug selbst, sondern bezog auch andere in den
18)
kurz die zur Verfügung stehende Summe Dienst mit ein. Jemand hat einmal
und entschied, daß selbst »für zweihun- schön gesagt: »Tu du, was du kannst, ich
dert Denare Brote« noch nicht einmal für werde tun, was ich kann, und was wir
jeden eine kleine Mahlzeit ergeben wür- nicht schaffen, wird der Herr tun.«
den. Wir wissen nicht genau, wieviel Als der Herr das Brot den Jüngern
Brot damals für zweihundert Denare zu gab, hatte es sich schon auf wunderbare
bekommen war, doch es muß sehr viel Art vermehrt. Der genaue Zeitpunkt, zu
gewesen sein. Ein Denar entsprach dem dem sich das Wunder ereignete, ist nicht
Tagelohn eines Arbeiters. aufgezeichnet, doch wir wissen, daß auf
6,8.9 Andreas war »der Bruder des wunderbare Weise die fünf Brote und
Simon Petrus«. Sie lebten in der Gegend zwei kleinen Fische in den Händen unse-
von Bethsaida, an der Küste des Sees res Herrn so vermehrt wurden, daß es
Genezareth. Andreas war auch der Mei- reichte, um diese Menschenmenge zu
nung, daß es schwer werden würde, so versorgen. Die Jünger gingen umher und
viele Menschen zu versorgen. Er sah »teilten . . . denen aus, die da lagerten«.
einen kleinen Jungen mit »fünf Gersten- Es war nicht knapp bemessen, denn es ist
broten und zwei Fischen«, doch war er ausdrücklich gesagt, daß sie ihnen von
der Meinung, daß es sinnlos sei, damit den Fischen gaben, »so viel sie wollten«.
auch nur zu versuchen, so viele Men- Griffith Thomas erinnert uns daran,
schen zu speisen. Dieser Junge hatte daß wir in dieser Geschichte schöne Illu-
nicht viel, doch er war bereit, es dem strationen für
Herrn Jesus zur Verfügung zu stellen. a) die vergängliche Welt,
Als Ergebnis wurde diese Geschichte in b) die machtlosen Jünger und
allen vier Evangelien aufgezeichnet. Er c) den vollkommenen Retter haben.
tat nichts Großartiges, doch »wenig wird Dieses Wunder war ein echter Schöp-
viel, wenn Gott dabei ist«, und dadurch fungsakt. Kein einfacher Mensch kann fünf
wurde er in der ganzen Welt berühmt. Brote und zwei kleine Fische nehmen und sie
6,10 Indem der Herr Jesus die Men- so »erweitern«, daß sie eine solche Men-
schen »sich lagern« ließ, sorgte er für ihre schenmenge sättigen können. Jemand hat
Bequemlichkeit. Man beachte, daß er dazu gesagt: »Als er das Brot segnete, war
eine Stelle wählte, an der es »viel Gras« Frühling, es war Ernte als er es brach.« Wahr
gab. Es war ungewöhnlich, in diesem ist auch: »Ungesegnetes Brot vermehrt sich
19)
Gebiet einen solchen Ort zu finden, doch nicht.«
der Herr sorgte dafür, daß die Menge an 6,12 Das ist eine sehr schöne Randbe-
einem sauberen und schönen Ort essen merkung. Wenn Jesus ein normaler
konnte. Mensch gewesen wäre, hätte er sich nicht
Es heißt, daß dort tausende »Män- um die Reste gekümmert. Keiner, der in
ner« waren, so daß wir davon ausgehen der Lage ist, fünftausend Menschen zu
müssen, daß die Frauen und Kinder noch speisen, sorgt sich doch um ein paar

382
Johannes 6

übriggebliebene Brocken! Doch Jesus ist Jesus ein normaler Mensch gewesen, hät-
Gott, und bei Gott darf es keine Ver- te er ihnen ihre Bitte sicherlich bereitwil-
schwendung geben. Er möchte nicht, daß lig erfüllt. Menschen sind zu sehr darauf
wir mit den wertvollen Gütern, die er bedacht, Ansehen zu erwerben und
uns schenkt, unachtsam umgehen, und Macht zu erhalten. Doch Jesus wurde
so ist er darauf bedacht, daß die Brocken, durch solche Appelle an seinen Stolz
die übriggeblieben sind, aufgesammelt oder seine Eitelkeit nicht bewegt. Er
werden, »damit nichts umkomme«. wußte, daß er in die Welt gekommen
Viele Menschen versuchen, dieses war, um für Sünder als Stellvertreter am
Wunder wegzuerklären. Die Leute, Kreuz zu sterben. Er würde nichts tun,
sagen sie, sahen, daß ein kleiner Junge was diesem Ziel entgegenstehen könnte.
Jesus seine fünf Brote und zwei Fische Er würde nicht eher den Thron besteigen,
gab. Das brachte sie dazu, zu erkennen, ehe er nicht den Opferaltar bestiegen hat-
wie selbstsüchtig sie waren, und so te. Er mußte leiden und sterben, ehe er
beschlossen sie, ihr mitgebrachtes Essen erhöht werden konnte.
auszupacken und zu teilen. Auf diese F. B. Meyer schreibt:
Weise hatten alle zu essen. Doch keine Wie St. Bernhard gesagt hat: Jesus floh
derartige Erklärung wird den Tatsachen immer dann, wenn sie ihn zum König
gerecht, wie wir im nächsten Vers sehen machen wollten, und war immer zur Stelle,
werden. wenn sie ihn kreuzigen wollten. Wir sollten
6,13 Zwölf Körbe mit Brot wurden dies im Hinterkopf behalten, damit wir auch
aufgesammelt, nachdem die Leute so edel handeln wie Ittai, der Gatiter: »So
gegessen hatten. Es wäre einfach unmög- wahr der HERR lebt und mein Herr, der
lich, daß es sich nur darum gehandelt König, lebt, wahrlich, an dem Ort, wo mein
habe, daß jeder sein Mittagessen aus- Herr, der König, sein wird, sei es zum Tod, sei
packte, das er für den jeweiligen Tag es zum Leben, nur dort wird dein Knecht
dabei hatte. Die menschlichen sein« (2. Sam 15,21). Und er wird sicherlich
Erklärungsversuche bleiben lächerlich. so antworten, wie David einem anderen
Es ist nur eine Schlußfolgerung zulässig: Flüchtling antwortete, der kam, um sich mit
Es war ein großartiges Wunder gesche- ihm zu verbinden: »Bleibe bei mir, fürchte
hen. dich nicht! Denn wer nach meinem Leben
6,14 Die Menschen selbst erkannten, trachtet, trachtet auch nach deinem. Bei mir
20)
daß es sich um ein Wunder handelte. Das bist du in Sicherheit.«
hätten sie nie getan, hätten sie einfach
nur ihr mitgebrachtes Essen verzehrt. Sie B. Das fünfte Zeichen: Jesus geht auf
waren sogar so überzeugt, daß es sich dem Wasser und rettet seine Jünger
um ein Wunder gehandelt haben muß, (6,16-21)
daß sie bereit waren anzuerkennen, daß 6,16.17 Es war Abend geworden. Jesus
Jesus »der Prophet ist, der in die Welt war allein auf einen Berg gestiegen. Die
kommen soll«. Sie wußten aus dem AT, Menge ging zweifellos nach Hause und
daß ein solcher Prophet kommen würde, ließ die Jünger allein zurück. Deshalb
und sie erwarteten von ihm, daß er sie beschlossen die Jünger, »hinab an den
von der Herrschaft des Römischen Rei- See« zu gehen und sich für ihre Fahrt
ches befreien würde. Sie warteten auf über den See Genezareth vorzubereiten.
einen irdischen Herrscher. Doch ihr »Sie stiegen in das Schiff und fuhren über
Glaube war nicht echt. Sie waren weder den See nach Kapernaum. Und es war
bereit zuzugeben, daß Jesus der Sohn schon finster geworden.« Jesus war nicht
Gottes ist, noch ihre Sünden zu bekennen bei ihnen. Wo war er geblieben? Er war
und ihn als Retter anzunehmen. noch auf dem Berg und betete. Welch ein
6,15 Aufgrund des Wunders, das Bild für die Nachfolger Christi heute. Sie
Jesus getan hatte, wollten sie »ihn zum fahren über die stürmische See des
König . . . machen«. Und wieder: Wäre Lebens. Es ist dunkel. Der Herr Jesus ist

383
Johannes 6

nirgends zu sehen. Doch das bedeutet im Schiff willkommen. »Sogleich war das
nicht, daß er nicht weiß, was vorgeht. Er Schiff an Land«, an der Stelle, wohin sie
ist im Himmel und betet für die, die er fahren wollten. Hier wird ein weiteres
lieb hat. Wunder berichtet, doch nicht weiter
6,18 Auf dem See Genezareth gibt es erklärt. Sie brauchten nicht mehr weiter
oft heftige Stürme, die sehr überraschend zu rudern. Der Herr Jesus brachte sie
entstehen. Die Winde kommen sehr sofort an Land. Welch ein wunderbarer
schnell das Jordantal hinunter. Wenn sie Herr ist Jesus doch!
dann auf die Oberfläche des Sees treffen,
türmen sich die Wogen sehr hoch auf. Es C. Die Menschen fordern ein Zeichen
ist für ein kleines Boot nicht ungefähr- (6,22-34)
lich, bei solch einem Sturm auf dem See 6,22 Wir schreiben nun den Tag nach der
zu sein. Speisung der Fünftausend. Die »Volks-
6,19 Die Jünger waren etwa fünf oder menge« waren noch immer am Nord-
sechs Kilometer weit gerudert. Vom ostufer des Sees Genezareth. Sie hatten
menschlichen Standpunkt aus gesehen gesehen, wie die Jünger am Abend zuvor
waren sie in großer Gefahr. Genau im in ein kleines Boot gestiegen waren und
richtigen Moment schauten sie hoch und wußten, »daß Jesus nicht mit seinen Jün-
»sehen . . . Jesus auf dem See dahergehen gern« weggefahren war. Es gab dort nur
und nahe an das Schiff herankommen«. ein Boot, und das hatten die Jünger
Hier haben wir ein weiteres Wunder. Der benutzt.
Sohn Gottes geht auf dem Wasser des 6,23 Am nächsten Tag waren »andere
Sees Genezareth. Die Jünger »fürchteten Boote« aus Tiberias gekommen. Sie fuh-
sich«, weil sie nicht ganz erkennen konn- ren »nahe an den Ort«, wo der Herr Jesus
ten, wer diese wunderbare Person war. die Menge gespeist hatte. Doch der Herr
Man beachte, wie schlicht diese Ge- konnte in diesen Booten nicht gefahren
schichte erzählt wird. Uns werden die sein, weil sie gerade erst angekommen
erstaunlichsten Tatsachen erzählt, doch waren. Doch kann es sein, daß die Men-
Johannes verwendet hier keine großarti- ge in diesen kleinen Booten nach Kaper-
gen Worte, um uns mit der Eindrücklich- naum hinüberfuhr, wie es in den folgen-
keit dieses Ereignisses zu imponieren. Er den Versen berichtet wird.
ist sehr zurückhaltend und bleibt ganz 6,24 Diese Menschen hatten Jesus
bei den einfachen Tatsachen. sehr genau beobachtet. Sie wußten, daß
6,20 Dann sprach der Herr Jesus wun- er auf einen Berg gestiegen war, um zu
derbare Worte des Trostes. »Ich bin’s, beten. Sie wußten, daß er nicht mit den
fürchtet euch nicht!« Wenn er nur ein Jüngern im Boot über den See gefahren
Mensch gewesen wäre, hätten sie allen war. Doch am folgenden Tag konnten sie
Grund gehabt, sich zu fürchten, doch ihn nirgends finden. Sie entschieden sich,
Jesus ist der allmächtiger Schöpfer und den See in Richtung Kapernaum zu über-
Erhalter des Universums. Wenn er bei queren, wo die Jünger sich wahrschein-
uns ist, dann haben wir keinen Grund lich aufhielten. Sie wußten zwar nicht,
uns zu fürchten. Der den See Genezareth wie Jesus dorthin gelangt sein könnte,
gemacht hat, konnte auch seine Wasser doch sie beschlossen zu gehen und ihn
beruhigen und seine ängstlichen Jünger trotzdem zu suchen.
sicher an Land bringen. Die Worte »Ich 6,25.26 Als sie nach Kapernaum
bin’s« heißen eigentlich wörtlich über- kamen, fanden sie ihn dort. Sie konnten
setzt »Ich bin«. Bisher ist das das zweite ihre Neugier nicht mehr zurückhalten
Mal im Johannesevangelium, wo Jesus und fragten ihn, wann er angekommen
diesen Namen Gottes auf sich selbst sei.
anwendet. »Jesus antwortete« auf diese Frage
6,21 Als die Jünger erkannten, daß es indirekt. Er wußte, daß sie ihn nicht so
der Herr Jesus war, hießen sie ihn sofort sehr um seiner selbst willen suchten, son-

384
Johannes 6

dern weil er ihnen am vorherigen Tag zum prahlen, und das ist ihm sehr ange-
Essen gegeben hatte. Sie hatten gesehen, nehm.
wie er ein großes Wunder getan hatte. 6,29 Jesus aber durchschaute ihre
Das hätte sie davon überzeugen sollen, Heuchelei. Sie gaben vor, für Gott arbei-
daß er wahrhaftig der Schöpfer und der ten zu wollen, und doch wollten sie
Messias ist. Doch sie waren nur an Spei- nichts mit dem Sohn Gottes zu tun
se interessiert. Sie hatten die wunderba- haben. Jesus sagte ihnen deshalb, daß sie
ren Brote gegessen und waren satt als allererstes den akzeptieren müßten,
geworden. den Gott gesandt hatte. So ist es auch
6,27 So empfahl ihnen Jesus, »nicht noch heute. Viele versuchen, sich den
für die Speise, die vergeht« zu arbeiten. Himmel mit guten Werken zu verdienen.
Der Herr meinte damit nicht, daß sie sich Doch ehe sie gute Werke für Gott tun
nicht ihren Lebensunterhalt verdienen können, müssen sie zuerst an den Herr
sollten, sondern er meinte, daß dies nicht Jesus Christus glauben. Gute Werke
ihr Hauptziel im Leben sein dürfe. Den kommen nicht vor dem Glauben, sie fol-
körperlichen Hunger zu stillen ist nicht gen aus ihm. Das einzige gute Werk, das
das Wichtigste im Leben. Der Mensch ein Sünder tun kann, ist das Bekenntnis
besteht nicht nur aus dem Leib, sondern seiner Sünde und die Annahme Jesu als
aus Leib, Geist und Seele. Herrn und Retter.
Wir sollten »für die Speise, die da 6,30 Dieser Vers ist ein weiterer
bleibt ins ewige Leben«, arbeiten. Der Beweis der Bosheit dieser Menschen. Am
Mensch sollte nicht so leben, als sei sein Tag zuvor hatten sie gesehen, wie der
Leib alles. Er sollte nicht seine ganze Herr Jesus fünftausend Menschen mit
Kraft und seine Fähigkeiten dazu benut- fünf Broten und zwei Fischen gespeist
zen, seinen Leib zu sättigen, der in nur hatte. Am nächsten Tag schon kamen sie
wenigen Jahren von den Würmern zer- zu ihm und baten ihn um ein Zeichen,
fressen wird. Er sollte statt dessen sicher- das seine Behauptung beweisen sollte,
stellen, daß seine Seele sich Tag für Tag daß er der Sohn Gottes sei. Wie die mei-
mit dem Wort Gottes nährt. »Nicht von sten Ungläubigen wollten sie zuerst
Brot allein soll der Mensch leben, son- sehen, und dann erst glauben. »Damit
dern von jedem Wort, das durch den wir sehen und dir glauben.« Aber das ist
Mund Gottes ausgeht.« Wir sollten uner- nicht Gottes Reihenfolge. Gott sagt zu
müdlich arbeiten, um größeres Wissen den Sündern: »Wenn ihr glaubt, werdet
über das Wort Gottes zu erwerben. ihr sehen.« Der Glaube muß immer
Als der Herr Jesus sagte, daß »der zuerst kommen.
Vater, Gott, diesen versiegelt« habe 6,31 Indem sie auf das AT verwiesen,
(Elberfelder Bibel), meinte er damit, daß erinnerten die Juden Jesus an das Wun-
21)
Gott ihn gesandt und anerkannt hatte. der des Manna in der Wüste. Sie woll-
Wenn wir etwas besiegeln, dann bedeu- ten damit wohl andeuten, daß Jesus nie-
tet das, daß wir versprechen, daß es wahr mals so etwas Wunderbares getan habe.
ist. Gott versiegelte den Menschensohn Sie zitierten Psalm 78, 24.25, wo es heißt:
in dem Sinne, daß er ihm bestätigte, daß »Brot aus dem Himmel gab er ihnen zu
er die Wahrheit spricht. essen.« Sie meinten damit, daß Mose Brot
6,28 Die Leute fragten nun den Herrn, vom Himmel herabgerufen habe, der
was sie tun müßten, um »die Werke Gott- Herr sei aber nicht so groß wie Mose,
es« zu wirken. Der Mensch versucht weil er nur schon vorhandene Speise ver-
immer, sich seinen Weg in den Himmel mehrt hatte!
zu verdienen. Er liebt das Gefühl, etwas 6,32 Die Antwort unseres Herrn ent-
tun zu können, um die Erlösung verdien- hält mindestens zwei Gedankengänge.
termaßen zu bekommen. Wenn er irgen- Als erstes war es nicht Mose, der ihnen
detwas beitragen kann, um seine Seele das Manna gab, sondern Gott. Außer-
zu erretten, dann hat er einen Grund dem war das Manna nicht das echte

385
Johannes 6

geistliche »Brot aus dem Himmel«. Das könnten. Hier sagt Jesus, daß er ihnen
Manna war als leibliche Speise für den schon gesagt habe, daß sie ihn sehen
Leib bestimmt und hatte über dieses irdi- könnten, das größte aller Zeichen – und
sche Leben hinaus keine Bedeutung. Der doch nicht glauben würden. Wenn der
Herr Jesus jedoch sprach hier von dem Menschensohn als vollkommener
»wahrhaftigen« und echten »Brot«, das Mensch vor ihnen stehen konnte, ohne
Gott uns vom Himmel her darreicht. Es daß sie ihn erkannten, dann war es zwei-
ist Brot für die Seele, nicht für den Leib. felhaft, ob irgendein anderes Wunder,
Die Worte »mein Vater« bekräftigen Jesu das er vollbringen würde, sie überzeu-
Anspruch, Gott gleich zu sein. gen würde.
6,33 Der Herr Jesus offenbart sich nun 6,37 Der Herr ließ sich durch den
als »das Brot Gottes«, welches »aus dem Unglauben der Juden nicht entmutigen.
Himmel herabkommt und der Welt das Er wußte, daß alle Ziele und Pläne des
Leben gibt«. Er wollte die Überlegenheit Vaters durchgeführt werden würden.
des Brotes von Gott gegenüber dem Auch wenn die Juden, zu denen er gera-
Manna in der Wüste zeigen. Das Manna de sprach, ihn nicht annehmen würden,
konnte kein Leben geben, sondern erhielt dann wußte er dennoch, daß alle Erwähl-
nur das irdische Leben. Das Manna war ten Gottes zu ihm kommen würden. Wie
nicht der ganzen Welt, sondern nur Isra- ein Ausleger es ausgedrückt hat: »Die
el gegeben worden. Das echte »Brot Gott- Erkenntnis der Unveränderlichkeit der
es« kommt »aus dem Himmel« herab ewigen Ratschlüsse Gottes gibt wie
und gibt den Menschen »das Leben« – nichts anderes eine besondere Ruhe, Hal-
nicht nur einem einzigen Volk, sondern tung, besonderen Mut und Durchhalte-
»der Welt«. vermögen.«
6,34 Die Juden erkannten immer noch Dieser Vers ist sehr wichtig, weil er in
nicht, daß der Herr Jesus über sich selbst wenigen Worten zwei der wichtigsten
als das wahrhaftige Brot sprach. Sie Lehren der Bibel beschreibt. Der erste ist,
dachten immer noch an einen irdischen daß Gott bestimmte Menschen Christus
Laib Brot. Unglücklicherweise hatten sie gegeben hat, und daß alle, die er ihm
keinen echten Glauben in ihren Herzen. gegeben hat, auch gerettet werden. Die
andere ist die Lehre von der Verantwort-
D. Jesus, das Brot des Lebens (6,35-65) lichkeit des Menschen. Um gerettet zu
6,35 Nun drückt Jesus diese Wahrheit werden, muß ein Mensch zu dem Herrn
nochmal klar und deutlich aus. Jesus ist Jesus kommen und ihn im Glauben
»das Brot des Lebens«. Wer zu ihm annehmen. Gott erwählt bestimmte
kommt, findet in ihm ausreichende Fülle, Menschen zur Errettung, doch lehrt die
um seinen geistlichen Hunger für immer Bibel nirgends, daß er auch einige zur
zu stillen. Wer an ihn glaubt, wird ent- Verdammnis erwählt. Wenn jemand
decken, daß auch sein Durst für immer gerettet wird, dann aus der überreichen
gestillt ist. Man beachte die Worte »Ich Gnade Gottes. Wenn jemand verloren
bin« zu Beginn des Verses. Wieder kann geht, dann ist es seine eigene Schuld.
man sehen, daß der Herr hier den An- Alle Menschen sind durch ihre Sündhaf-
spruch erhebt, Jahwe gleich zu sein. Es tigkeit und Bosheit verurteilt. Wenn alle
wäre töricht, wenn ein sündiger Mensch Menschen in die Hölle kommen würden,
die Worte von Vers 35 äußern würde. würden sie nur empfangen, was sie ver-
Kein Mensch kann auch nur seinen eige- dient haben. In seiner Gnade jedoch
nen Hunger oder Durst stillen, wieviel beugt Gott sich herab und errettet einzel-
weniger den geistlichen Hunger dieser ne Menschen aus der großen Masse der
Welt! Menschheit. Hat er ein Recht dazu?
6,36 In Vers 30 hatten die ungläubi- Sicherlich. Gott kann tun, wie es ihm
gen Juden den Herrn um ein Zeichen beliebt, und kein Mensch kann ihm die-
gebeten, damit sie sehen und glauben ses Recht absprechen. Wir wissen, daß

386
Johannes 6

Gott nie etwas tun wird, das falsch oder Jahrhunderten und Jahrtausenden geret-
ungerecht ist. tet werden würden. Der Herr Jesus hatte
Aber ebenso, wie die Bibel lehrt, daß die Verantwortung, darauf zu achten,
Gott bestimmte Menschen für die Erret- daß kein einziges Glied des Leibes verlo-
tung bestimmt hat, so lehrt sie gleichzei- ren gehen könnte, sondern der ganze
tig, daß der Mensch verantwortlich dafür Leib »am letzten Tag« auferweckt wer-
ist, das Evangelium anzunehmen. Gott den würde.
macht ein universelles Angebot – wenn Für die Christen bezieht sich »der
ein Mensch an den Herrn Jesus Christus letzte Tag« auf den Tag, an dem der Herr
glaubt, wird er errettet werden. Gott ret- Jesus in der Luft wiederkommen wird,
tet niemanden gegen seinen Willen. wenn zuerst die Toten in Christus aufer-
Jeder, der gerettet werden will, muß in stehen werden, und dann die lebenden
Buße und Glaube zu ihm kommen. Dann Gläubigen verwandelt werden, und
wird Gott ihn erretten. Niemand, der wenn alle hinaufgenommen werden, um
durch Christus zu Gott kommt, wird dort dem Herrn zu begegnen und für
»hinausgestoßen«. immer mit ihm zu leben. Für die Juden
Der menschliche Geist kann diese bedeutet dieser Tag die Wiederkunft des
beiden Lehren nicht miteinander verein- Messias in Herrlichkeit.
baren. Dennoch sollten wir sie glauben, 6,40 Der Herr fuhr nun fort zu
auch wenn wir sie nicht verstehen. Sie erklären, wie ein Mensch ein Mitglied
sind biblische Lehre und hier deutlich der Familie der Erlösten werden könne.
beschrieben. Gottes »Wille« ist es, »daß jeder, der den
6,38 In Vers 37 hatte Jesus gesagt, daß Sohn sieht und an ihn glaubt, ewiges
Gottes Pläne zur Errettung derer, die ihm Leben habe«. »Den Sohn sehen« bedeutet
gegeben sind, schließlich durchgeführt hier nicht, ihn mit irdischen Augen, son-
werden. Weil dies der Wille des Vaters dern mit den Augen des Glaubens zu
war, wollte der Herr persönlich helfen, sehen. Man muß sehen oder erkennen,
diesen Willen durchzuführen, weil es sei- daß Jesus der Sohn Gottes und der Retter
ne Aufgabe war, den Willen Gottes zu der Welt ist. Dann muß man auch an ihn
tun. »Ich bin vom Himmel herabgekom- glauben. Das bedeutet, daß der Mensch
men«, sagte Christus, und lehrte damit den Herrn Jesus durch einen Glaubens-
deutlich, daß sein Leben nicht erst in der akt als seinen persönlichen Erretter
Krippe zu Bethlehem begann. Er existier- annehmen muß. Alle, die das tun, erhal-
te schon von aller Ewigkeit her bei sei- ten »ewiges Leben« als sofortiges Eigen-
nem Vater im Himmel. Als er in die Welt tum und die Versicherung, daß sie »am
kam, kam er als gehorsamer Sohn Gottes. letzten Tag« auferstehen werden.
Er nahm absichtlich die Stellung eines 6,41 Die Menschen waren nicht be-
Dieners ein, um »den Willen« seines reit, Jesus anzunehmen, und sie zeigten
Vaters zu tun. Das bedeutet nicht, daß er das, indem sie »über ihn . . . murrten«. Er
keinen eigenen Willen gehabt hätte, son- hatte behauptet, »das Brot« zu sein, »das
dern daß sein eigener Wille vollkommen aus dem Himmel herabgekommen ist«.
mit dem Willen Gottes übereinstimmte. Sie erkannten, daß er hiermit einen wich-
6,39 »Der Wille« des Vaters war, daß tigen Anspruch stellte. Wer vom Himmel
jeder, der Christus gegeben würde, erret- kam, mußte mehr als ein einfacher
tet und bis zur Auferstehung der Gerech- Mensch sein, ja, mehr noch als ein bedeu-
ten bewahrt würde, bis zum Zeitpunkt tender Prophet. Und deshalb »murrten«
der Auferstehung und des Heimkom- sie »über ihn«, weil sie seinen Worten
mens in den Himmel. Die Worte »es« nicht glauben wollten.
und »nichts« beziehen sich auf Gläubige. 6,42 Sie nahmen an, daß Jesus »der
Hier dachte Jesus nicht an einzelne Gläu- Sohn Josephs« sei. Hier irrten sie sich
bige, sondern an den Leib, der aus den natürlich. Jesus war von der Jungfrau
Christen besteht, die in den kommenden Maria geboren worden. Joseph war nicht

387
Johannes 6

sein leiblicher Vater. Unser Herr war vom wecken« werde. Wie wir schon vorhin
Heiligen Geist empfangen worden. Ihre gesehen haben, bezieht sich das auf das
Verstocktheit und ihr Unglaube hatten Kommen Christi für seine Gläubigen,
ihre Ursache darin, daß sie nicht an die wenn die Toten auferstehen und die noch
Jungfrauengeburt glauben wollten. So ist Lebenden verwandelt werden. Das ist
es noch heute. Wer sich weigert, den nur die Auferstehung der Gläubigen.
Herrn Jesus als den Sohn Gottes anzuer- 6,45 Nachdem er nun ausdrücklich
kennen, der durch den Leib einer Jung- gesagt hat, daß kein Mensch zu ihm
frau auf die Welt kam, wird sich gezwun- kommen kann, wenn der Vater ihn nicht
gen sehen, alle großen Wahrheiten über zieht, erklärt unser Herr nun, wie der
die Person und das Werk Jesu Christi zu Vater Menschen zu ihm zieht. Als erstes
leugnen. zitiert er Jesaja 54, 13: »Und sie werden
6,43 Obwohl sie nicht direkt mit ihm alle von Gott gelehrt sein.« Gott erwählt
gesprochen hatten, wußte er doch, was nicht nur, er tut auch etwas für die
sie gesagt hatten, und so befahl Jesus Erwählten. Er spricht ihre Herzen durch
ihnen, nicht untereinander zu murren. die Lehren seines wertvollen Wortes an.
Die folgenden Verse erklären, warum ihr Außerdem ist noch der Wille des
Murren nutzlos war. Je mehr die Juden Menschen beteiligt. Wer auf die Lehre
das Zeugnis des Herrn Jesus ablehnten, des Wortes Gottes reagiert und »von dem
desto unverständlicher wurden für sie Vater« lernt, kommt zu Christus. Hier
seine Lehren. Je mehr sie das Evangelium sehen wir wieder die beiden großen
ablehnten, desto schwieriger wurde es Wahrheiten der Souveränität Gottes und
für sie, es anzunehmen. Wenn der Herr der freien Entscheidung des Menschen,
ihnen einfache Tatsachen bezeugte und wie sie nebeneinander in der Bibel ste-
sie ihm nicht glauben wollten, dann wür- hen. Sie zeigen uns, daß die Errettung
de er schwierigere Themen mit ihnen sowohl eine göttliche als auch eine
besprechen und sie würden nicht mehr menschliche Seite hat.
wissen, wovon er sprach. Als Jesus sagte: »Es steht in den Pro-
6,44 Der Mensch an sich ist hilflos pheten geschrieben«, meinte er natür-
und völlig ohne Hoffnung. Er hat noch lich, daß es in den Büchern der Prophe-
nicht einmal die Kraft, selbst zum Herrn ten geschrieben steht. In diesem Falle
Jesus zu kommen. Wenn der Vater nicht zitierte er zwar Jesaja, doch kann man
an seinem Leben und seinem Herzen zu den hier ausgedrückten Gedanken bei
arbeiten beginnt, wird er weder seine allen Propheten wiederfinden. Durch die
schreckliche Schuld erkennen, noch, daß Lehren des Wortes Gottes und durch den
er dringend einen Retter nötig hat. Viele Geist Gottes werden Menschen zu Gott
Menschen haben mit diesem Vers hingezogen.
Schwierigkeiten. Sie glauben, daß er 6,46 Die Tatsache, daß Menschen von
lehrt, daß es möglich ist, daß ein Mensch Gott gelehrt werden, bedeutet nicht, daß
gerne gerettet werden möchte und es für sie ihn auch »sehen« müssen. Der einzi-
ihn unmöglich ist. Das stimmt so jedoch ge, der »den Vater gesehen . . . hat«, ist
nicht. Doch lehrt dieser Vers ausdrück- der Eine, der von Gott kam, nämlich der
lich, daß Gott der erste ist, der in unse- Herr Jesus selbst.
rem Leben gehandelt hat, und der ver- Alle, die Gott lehrt, erfahren haupt-
sucht hat, uns für ihn zu gewinnen. Wir sächlich etwas über den Herrn Jesus
haben die Wahl, den Herrn Jesus anzu- Christus, weil das Hauptthema der gött-
nehmen oder abzulehnen. Aber wir hät- lichen Lehre Christus selbst ist.
ten nie das Verlangen nach Errettung, 6,47 Dieser Vers ist eine der deutlich-
wenn nicht Gott vorher unsere Herzen sten und kürzesten Aussagen im Wort
angesprochen hätte. Und wieder fügt der Gottes über den Weg zur Errettung. Der
Herr das Versprechen hinzu, daß er jeden Herr Jesus sagte mit Worten, die man
Gläubigen »am letzten Tag . . . aufer- eigentlich kaum mißverstehen kann,

388
Johannes 6

daß, wer an ihn »glaubt . . . ewiges Leben und das Blut Christi verwandelt wird
hat«. Man beachte, daß er diese Worte und wir zu unserer Errettung davon
wieder mit den Worten »wahrlich, wahr- essen müssen. Doch das hat Jesus gar
lich« betont. Dies ist einer der vielen Ver- nicht gesagt. Der Zusammenhang macht
se des NT, der lehrt, daß man Errettung recht deutlich, daß von ihm zu essen
nicht durch Werke, durch Halten des bedeutet, ihm zu glauben. Wenn wir den
Gesetzes, durch Gemeindezugehörigkeit Herrn Jesus Christus als unseren Retter
oder Gehorsam gegenüber dem »größten annehmen, dann nehmen wir ihn im
Gebot« erhält, sondern einfach, indem Glauben auf. Wir haben an den Vorzügen
man an den Herrn Jesus Christus glaubt. seiner Person und seines Werkes teil.
6,48.49 Nun sagt der Herr Jesus ein- Augustinus sagte: »Glaube, und du hast
deutig, daß er das »Brot des Lebens« ist, gegessen.«
von dem er gesprochen hat. Das »Brot 6,51 Jesus ist »das lebendige Brot«. Er
des Lebens« bedeutet natürlich das Brot, lebt nicht nur aus eigener Kraft, sondern
das denen Leben gibt, welche es essen. kann das Leben sogar weitergeben. Wer
Die Juden hatten das Thema »Manna in »dieses Brot ißt, wird . . . leben in Ewig-
der Wüste« aufgebracht und den Herrn keit«. Doch wie kann das sein? Wie kann
Jesus herausgefordert, eine so wunder- der Herr schuldigen Sündern das ewige
bare Speise zu machen. Hier erinnert der Leben geben? Die Antwort findet sich im
Herr sie daran, daß ihre Väter »das Man- zweiten Teil des Verses. »Das Brot aber,
na in der Wüste gegessen« haben »und . . das ich geben werde, ist mein Fleisch, das
. gestorben« sind. Mit anderen Worten: ich geben werde für das Leben der Welt«.
das Manna war nur für dieses Leben Hier weist der Herr Jesus auf seinen Tod
bestimmt. Es hatte nicht die Macht, am Kreuz hin. Er würde sein Leben als
denen, die es aßen, ewiges Leben zu ge- Opfer für die Sünden der Welt hingeben.
ben. Durch den Ausdruck »eure Väter« Er würde die Strafe bezahlen, die wir
distanziert Jesus sich von der gefallenen eigentlich durch unsere Sünden verdient
Menschheit und erwähnt implizit seine hätten. Und warum das? Er tat es »für
einzigartige Göttlichkeit. das Leben der Welt«. Er wollte nicht nur
6,50 Im Gegensatz zum Menschen für die Juden sterben oder für einige
sprach der Herr von sich selbst als dem Auserwählte. Sondern sein Tod sollte für
»Brot, das aus dem Himmel herab- die gesamte Welt ausreichen. Das heißt
kommt«. Wenn jemand dieses Brot aß, natürlich nicht, daß die ganze Welt auto-
würde er »nicht sterben«. Das bedeutete matisch gerettet wird, sondern, daß das
nicht, daß er nicht den leiblichen Tod Werk des Herrn Jesus am Kreuz vom
erleiden müßte, sondern daß er ewiges Wert her ausreichen würde, um die gan-
Leben im Himmel haben würde. Auch ze Welt zu retten, wenn alle Menschen zu
wenn sein Leib sterben muß, wird dieser Jesus kämen.
doch am letzten Tag auferweckt und er 6,52 Die Juden dachten noch immer
wird die Ewigkeit beim Herrn verbrin- an normales Brot und Fleisch. Sie konn-
gen. ten ihre Gedanken nicht über das Irdi-
In diesem und den folgenden Versen sche erheben. Sie erkannten nicht, daß
spricht der Herr Jesus immer wieder der Herr Jesus irdische Gegenstände
davon, daß Menschen von ihm essen. benutzte, um himmlische Wahrheiten zu
Bedeutet das, daß sie ihn im wörtlichen, lehren. Und so fragten sie sich unterein-
leiblichen Sinne essen sollten? Offen- ander, wie dieser Mensch ihnen nur »sein
sichtlich ist diese Vorstellung unmöglich Fleisch zu essen geben« könne. Das kann
und widerwärtig. Dennoch denken eini- sich nicht auf das Brot und den Wein
ge, daß er lehren wollte, daß wir ihn in beim Abendmahl beziehen. Als der Herr
einer Eucharistiefeier zu uns nehmen das Abendmahl in der Nacht, als er ver-
sollten, daß nämlich auf wunderbare raten wurde, einsetzte, war sein Leib
Weise das Brot und der Wein in den Leib noch nicht gebrochen und sein Blut noch

389
Johannes 6

nicht vergossen worden. Die Jünger hat- »Der lebendige Vater« hat den Herrn
ten an Brot und Wein teil, doch sie aßen Jesus in die Welt gesandt (der Ausdruck
nicht im wörtlichen Sinne sein Fleisch »lebendiger Vater« bedeutet, daß er die
und tranken auch nicht sein Blut. Der Quelle des Lebens ist). Als Mensch auf
Herr Jesus sagt hier einfach, daß wir dieser Welt lebte Jesus »um des Vaters
nicht gerettet werden können, wenn wir willen«, d. h. daß der Vater die Ursache
uns nicht durch den Glauben den Wert seiner Anwesenheit in dieser Welt war. Er
seines Todes auf Golgatha zu eigen führte sein Leben in engster Verbindung
machen. Wir müssen an ihn glauben, ihn und Harmonie mit Gott dem Vater. Gott
im Vertrauen annehmen, und ihn gewis- war sowohl Mittelpunkt als auch Rah-
sermaßen »in Besitz nehmen«. men seines Lebens. Sein ganzes Ziel war,
6,54 Wenn wir diesen Vers mit Vers 47 mit dem Vater beschäftigt zu sein. Er war
vergleichen, können wir eindeutig zei- hier als Mensch in der Welt, und die Welt
gen, daß »sein Fleisch essen« und »sein erkannte nicht, daß er Gott offenbart im
Blut trinken« heißt, an ihn zu glauben. In Fleisch war. Obwohl er von der Welt
Vers 47 lesen wir: »Wer glaubt, hat ewi- mißverstanden wurde, waren doch er
ges Leben«. In Vers 54 lernen wir: »Wer« und sein Vater eins. Sie lebten ganz eng
Jesu »Fleisch ißt und« sein »Blut trinkt, zusammen. Und genau so ist es mit den
hat ewiges Leben.« Wenn zwei Dinge Gläubigen im Herrn. Sie sind hier auf die-
gleich einem dritten sind, so sind sie ser Erde, aber die Welt mißversteht sie,
auch untereinander gleich. Daraus folgt, haßt sie und verfolgt sie häufig sogar.
daß an ihn glauben dasselbe bedeutet, Doch weil sie ihren Glauben und ihr Ver-
wie sein Fleisch zu essen und sein Blut zu trauen auf den Herrn Jesus gesetzt haben,
trinken. Alle, die an ihn glauben, werden leben sie um seinetwillen. Ihr Leben ist
»am letzten Tag« auferweckt werden. mit dem seinen eng verbunden, und die-
Das bezieht sich natürlich auf die Leiber ses Leben wird ewig währen.
derer, die im Glauben an den Herrn Jesus 5,58 Dieser Vers scheint zusammen-
gestorben sind. zufassen, was der Herr in den vorherge-
6,55 Das Fleisch des Herrn Jesus ist henden Versen gesagt hat. Er ist »das
»wahre Speise«, und sein »Blut ist wah- Brot, das aus dem Himmel herabgekom-
rer Trank«. Das gilt im Gegensatz zu irdi- men ist«. Er ist größer als das Manna, das
scher Speise und irdischen Getränken, »die Väter« in der Wüste aßen. Dieses
die nur zeitlichen Wert haben. Der Wert Brot hatte nur zeitlichen Wert. Es war nur
aber des Todes des Herrn Jesus vergeht für dieses Leben bestimmt. Doch Chri-
nie. Wer durch den Glauben an ihm teil- stus ist das Brot Gottes, das all denen
hat, empfängt Leben, das ewig währt. ewiges Leben gibt, die sich davon
6,56 Zwischen Jesus und denen, die ernähren.
an ihn glauben, besteht eine sehr enge 6,59 Die Menge folgte Jesus und sei-
Verbindung. Wer sein Fleisch ißt und sein nen Jüngern von der Nordostküste des
Blut trinkt, bleibt in ihm und er in ihm. Sees Genezareth nach Kapernaum.
Nichts kann enger als diese Verbindung Offensichtlich hatte die Menge Jesus »in
22)
sein. Wenn wir irdische Speise zu uns der Synagoge« gefunden, und dort hat-
nehmen, dann wird sie in unseren Körper te er ihnen die Predigt vom Brot des
aufgenommen und wird so zu einem Teil Lebens gehalten.
von uns. Wenn wir den Herrn Jesus als 6,60 Zu dieser Zeit hatte der Herr
unseren Erretter annehmen, dann kommt Jesus noch viele andere Jünger gewon-
er in unser Leben, um in uns zu bleiben, nen als nur die ursprünglichen zwölf.
und wir bleiben auch in ihm. Jeder, der ihm folgte und bezeugte, seine
6,57 Nun benutzt der Herr noch ein Lehre anzunehmen, wurde Jünger ge-
weiteres Bild für die enge Beziehung zwi- nannt. Dennoch waren nicht alle, die als
schen ihm und den Gläubigen. Das Bild Jünger bekannt waren, echte Gläubige.
ist seine eigene Beziehung zum Vater. Nun sagten viele von denen, die be-

390
Johannes 6

kannten, seine Jünger zu sein: »Diese die diese Botschaft annehmen, ewiges
Rede ist hart.« Sie meinten damit, daß Leben empfangen.
seine Lehre Anstoß errege. Es ging nicht 6,64 Sogar, als er dies sagte, erkannte
so sehr darum, daß sie schwer zu verste- der Herr, daß einige seiner Zuhörer ihn
hen gewesen wäre, sondern daß sie nur nicht verstehen würden, weil sie nicht
schwer annehmbar war. Als sie sagten: glauben wollten. Die Schwierigkeit lag
»Wer kann sie hören?« meinten sie: »Wer nicht so sehr in ihrer Unfähigkeit, son-
kann hier stehen und solch eine anstößi- dern in ihrem mangelnden Willen. »Jesus
ge Lehre mit anhören?« wußte von Anfang an«, daß einige seiner
6,61 Hier sehen wir wieder, daß der Nachfolger nicht an ihn glauben würden,
Herr alles wußte. Jesus wußte genau, und daß einer seiner Jünger »ihn überlie-
was die Jünger untereinander redeten. Er fern« würde. Natürlich wußte Jesus all
wußte, daß sie sich über seinen An- dies schon von aller Ewigkeit her, doch
spruch ärgerten, vom Himmel gekom- hier wird wahrscheinlich, daß es ihm
men zu sein, und daß sie es gar nicht schon zu Beginn seines Dienstes hier auf
schätzten, als er sagte, daß die Menschen Erden vor Augen stand.
sein Fleisch essen und sein Blut trinken 6,65 Nun erklärte er, daß er ihnen
müßten, um ewiges Leben zu haben. wegen ihres Unglaubens vorhergesagt
Und deshalb fragt Jesus sie: »Ärgert euch hatte, »daß niemand« zu ihm »kommen
dies?« kann, es sei ihm denn von dem Vater ge-
6,62 Sie ärgerten sich, weil er gesagt geben«. Solche Worte sind ein Angriff
hatte, daß er vom Himmel gekommen auf den Stolz des Menschen, der denkt,
ist. Nun fragte er sie, was sie denken er könne sich die Errettung verdienen.
würden, wenn sie sehen sollten, wie er in Der Herr Jesus sagte den Menschen, daß
den Himmel zurück auffahren würde. Er sogar die Macht, zu ihm zu kommen, nur
wußte, daß ihm dies nach der Auferste- von Gott, dem Vater empfangen werden
hung bevorstand. Sie ärgerten sich auch konnte.
darüber, daß er sagte, daß die Menschen
sein Fleisch essen müßten. Was würden E. Unterschiedliche Reaktionen auf
sie nun denken, wenn sie seinen Leib die Worte Jesu (6,66-71)
»auffahren sehen« würden, »wo er zuvor 6,66 Diese Worte des Herrn Jesu erwiesen
war?« Wie konnten Menschen in der sich für so viele seiner Nachfolger als so
Lage sein, wörtlich sein Fleisch zu essen anstößig, daß sie ihn nun verließen und
und sein Blut zu trinken, wenn er zurück nicht länger gewillt waren, mit ihm zu-
zum Vater gegangen sein würde? sammen zu sein. Diese Jünger waren nie
6,63 Diese Menschen hatten nur an wirkliche Gläubige gewesen. Sie waren
Jesu wörtliches Fleisch gedacht, doch dem Herrn aus verschiedenen Gründen
hier sagte er ihnen, daß das ewige Leben gefolgt, doch weder aus echter Liebe zu
nicht durch das Essen von Fleisch zu ihm, noch weil sie ihn wertschätzten.
erreichen sei, sondern nur durch das 6,67 An diesem Punkt wendet sich
Werk des Heiligen Geistes. Fleisch kann Jesus an die zwölf Jünger und fordert sie
kein Leben geben, das kann nur der mit der Frage heraus, ob auch sie ihn ver-
Geist. Sie hatten seine Worte wörtlich lassen würden.
genommen und nicht erkannt, daß sie 6,68 Die Antwort des Petrus ist es
geistlich zu verstehen waren. Und des- wohl wert, betrachtet zu werden. Er sagt
halb erklärte der Herr hier, daß »die Wor- praktisch: »Herr, wie können wir dich
te«, die er zu ihnen geredet hatte, »Geist verlassen? Was du lehrst, führt uns zum
und . . . Leben« sind. Wenn seine Aussa- ewigen Leben. Wenn wir dich verlassen,
gen über das Essen seines Fleisches und dann gibt es niemanden mehr, an den
das Trinken seines Blutes in geistlicher wir uns wenden können. Wenn wir dich
Weise verstanden wurden, nämlich als verließen, würden wir damit unser
Glauben an ihn, dann würden diejenigen, Schicksal besiegeln.«

391
Johannes 6 und 7

6,69 Petrus spricht hier für die Zwölf. Jesus blieb »in Galiläa . . ., denn er wollte
Er fährt fort, daß sie »geglaubt und nicht in Judäa« bleiben, wo die Juden ihr
erkannt« haben, daß der Herr Jesus der Hauptquartier hatten, die »ihn zu töten
Messias war, »der Sohn des lebendigen suchten«. Es ist allgemein anerkannt, daß
23) 24)
Gottes« (LU 1912). Man beachte die die Juden , von denen hier die Rede ist,
Worte »geglaubt und erkannt«. Zuerst die Führer oder Machthaber waren. Sie
hatten sie an den Herrn Jesus Christus waren diejenigen, die den Herrn Jesus
geglaubt, und dann wußten sie, daß er am meisten haßten und die eine Gele-
der war, der er zu sein behauptete. genheit suchten »ihn zu töten«.
6,70 In den Versen 68 und 69 benutzt 7,2 Das »Fest der Juden, die Laubhüt-
Petrus das Wort »wir«, um damit alle ten« war eines der wichtigsten Feste im
zwölf Jünger zu bezeichnen. Hier in jüdischen Kalender. Es wurde zur Ernte-
Vers 70 korrigiert ihn der Herr Jesus. Er zeit gefeiert und erinnerte an die Tatsa-
sollte nicht so zuversichtlich sagen, daß che, daß die Juden in vorläufigen Zelten
alle zwölf echte Gläubige seien. Es ist oder Hütten lebten, als sie aus Ägypten
wahr, daß der Herr die zwölf Jünger er- flohen. Es war ein feierlicher, freudiger
wählt hatte, doch einer von ihnen »ist . . . Feiertag, der auf den Tag hinwies, an
ein Teufel«. Es gab einen in der Gemein- dem der Messias die Regierung überneh-
schaft, der nicht die Ansicht des Petrus men würde und das gerettete jüdische
über den Herrn Jesus Christus teilte. Volk im Land des Friedens und des
6,71 Der Herr Jesus wußte, daß »Judas Wohlstandes leben würde.
. . . Ischariot . . . ihn überliefern« würde. 7,3 Die »Brüder« des Herrn, die in
Er wußte, daß Judas ihn nie wirklich als Vers 3 genannt werden, waren wahr-
Herrn und Retter anerkannt hatte. Hier scheinlich Söhne, die Maria nach der
sehen wir wieder die Allwissenheit des Geburt Jesu noch geboren hatte (einige
Herrn. Auch haben wir hier einen Beweis sagen, es seinen eher Cousins oder ent-
für die Tatsache, daß Petrus nicht unfehl- fernte Verwandte gewesen). Doch gleich-
bar war, als er für die Jünger sprach! gültig wie nahe sie mit dem Herrn Jesus
In der Predigt vom Brot des Leben verwandt waren, sie waren dadurch
begann unser Herr mit einer recht einfa- nicht gerettet. Sie glaubten nicht wirklich
chen Lehre. Doch als er weiter redete, an den Herrn Jesus. Sie sagten ihm, daß
wurde es offensichtlich, daß die Juden er zum Laubhüttenfest nach Jerusalem
seine Worte ablehnen würden. Je mehr reisen und einige seiner Wunder wirken
sie ihre Herzen und Sinne vor der Wahr- sollte, damit seine »Jünger . . . sehen«
heit verschlossen, desto schwieriger könnten, was er tat. Die Jünger, von
wurden für sie seine Aussagen. Schließ- denen hier die Rede ist, sind nicht die
lich redete er davon, daß man sein zwölf, sondern die, die in Judäa behaup-
Fleisch essen und sein Blut trinken solle. teten, Nachfolger des Herrn Jesus zu
Das war einfach zuviel! Sie sagten: »Die- sein.
se Rede ist hart. Wer kann sie hören?« Obwohl sie nicht an ihn glaubten,
und folgten ihm nicht mehr nach. Ableh- wollten sie, daß er sich öffentlich offen-
nung der Wahrheit führt zum Gericht baren solle. Vielleicht wollten sie die
des Blindseins für die Wahrheit. Weil sie Aufmerksamkeit genießen, die sie als
nicht sehen wollten, kam es so weit, daß Verwandte eines so berühmten Mannes
sie nicht mehr sehen konnten. genießen würden. Oder sie waren, was
wahrscheinlicher ist, auf ihn eifersüchtig
V. Der Dienst des Sohnes Gottes – und wollten ihn in der Hoffnung drän-
drittes Jahr: Jerusalem (7,1 – 10, 39) gen, nach Judäa zu gehen, daß er dort
getötet werden würde.
A. Jesus tadelt seine Brüder (7,1-9) 7,4 Vielleicht sind diese Worte sarka-
7,1 Zwischen den Kapiteln 6 und 7 liegt stisch gemeint. Seine Verwandten mein-
eine Zeitspanne von einigen Monaten. ten scheinbar, daß der Herr die Öffent-

392
Johannes 7

lichkeit suchte. Warum sonst vollbrachte sie nur ihren eigenen Willen durchführen
er all die Wunder in Galiläa, wenn er wollten.
nicht dadurch berühmt werden wollte? 7,7 »Die Welt« konnte die Brüder des
»Hier ist die große Gelegenheit für dich«, Herrn »nicht hassen«, weil sie zu dieser
sagten sie letztlich. »Du wolltest doch Welt gehörten. Sie waren gemeinsam mit
berühmt werden. Geh nach Jerusalem der Welt gegen Jesus. Ihr ganzes Leben
auf das Fest. Dort werden Tausende von entsprach der Welt. Der Ausdruck »die
Menschen sein, und da hast du Gelegen- Welt« bezieht sich hier auf das System,
heit, deine Wunder vorzuführen. Galiläa das der Mensch aufgebaut hat, in dem für
ist viel zu ruhig, du tust deine Wunder Gott oder seinen Christus kein Platz ist:
hier praktisch im Geheimen. Warum Die Welt der Kultur, der Kunst, der Bil-
handelst du so, wo wir doch wissen, daß dung und der Religion. In Judäa nun ging
du berühmt werden willst?« Und dann es insbesondere um die religiöse Welt,
fügten sie noch hinzu: »Wenn du diese weil es die religiösen Führer der Juden
Dinge tust, so zeige dich der Welt!« Hier waren, die Christus am meisten haßten.
scheint der Gedanke ausgedrückt zu Die Welt haßte Christus, weil er ihr
sein: »Wenn du wirklich der Messias bist, bezeugte, »daß ihre Werke böse sind«. Es
und wenn du diese Wunder tust, um das ist ein trauriger Kommentar des verdor-
zu beweisen, warum beweist du es dann benen Wesens des Menschen, daß die
nicht dort, wo es wirklich zählt, nämlich Welt, als ein sündloser, makelloser
in Judäa?« Mensch in diese Welt kam, nichts besseres
7,5 Seine Brüder waren nicht wirklich zu tun hatte, als ihn zu töten. Die Voll-
daran interessiert, daß er verherrlicht kommenheit des Lebens Christi zeigte,
würde. Sie glaubten nicht wirklich, daß wie unvollkommen das Leben aller ande-
er der Messias war. Auch waren sie nicht ren Menschen war. So wie eine gerade
bereit, ihm ihr eigenes Leben anzuver- Linie zeigt, wie krumm eine Zickzacklinie
trauen. Was sie sagten, war sarkastisch ist, wenn sie nebeneinander stehen, so
gemeint. Ihre Herzen waren vor Gott diente das Kommen des Herrn in diese
nicht in Ordnung. Es muß für den Herrn Welt dazu, den Menschen in all seiner
Jesus besonders bitter gewesen sein, daß Sündhaftigkeit zu offenbaren. Die Men-
seine eigenen Geschwister seine Worte schen konnten diese Bloßstellung jedoch
und Taten anzweifelten. Doch wie oft ist nicht ertragen. Statt zu bereuen und Gott
es so, daß die Gläubigen ihre erbittert- um Gnade anzurufen, versuchten sie, den
sten Gegner unter denen finden, die zu vernichten, der ihre Sünde offenbarte.
ihnen am nächsten und am liebsten sind. F. B. Meyer kommentiert:
7,6 Das Leben des Herrn war vom Es ist wirklich einer der schlimmsten
Anfang bis zum Ende vorherbestimmt. Tadel, den die menschgewordene Liebe aus-
Jeder Tag und jeder Augenblick ent- sprechen kann, wenn sie zu einem heute
sprach einem vorbereiteten Plan. Die sagen muß, wie sie es in den Tagen seines
richtige Zeit, um sich der Welt zu offen- Fleisches zu einigen gesagt hat: »Die Welt
baren, war »noch nicht da«. Er wußte kann euch nicht hassen.« Wer von der Welt
genau, was ihm noch bevorstand, und es nicht gehaßt wird, sondern von ihr geliebt,
entsprach nicht dem Willen Gottes, daß geschmeichelt und gehätschelt wird, befindet
er zu dieser Zeit nach Jerusalem ginge, sich in einem der schlimmsten Zustände, in
um sich dort öffentlich zu präsentieren. denen sich ein Christ befinden kann. »Was
Doch er erinnerte seine Brüder daran, habe ich Schlimmes getan«, fragte ein antiker
daß ihre Zeit »stets bereit« oder richtig Weiser, »daß du Gutes von mir redest?«
sei. Sie führten ihr Leben nach ihren eige- Wenn die Welt uns nicht haßt, dann beweist
nen Wünschen und nicht im Gehorsam das, daß wir ihr nicht nachweisen, daß ihre
gegenüber dem Willen Gottes. Sie konn- Werke böse sind. Die Innigkeit der Liebe der
ten ihre eigenen Pläne machen und rei- Welt beweist, daß wir zu ihr gehören. Die
sen, wann und wohin sie wollten, weil Freundschaft der Welt ist Feindschaft wider

393
Johannes 7

Gott. Wer deshalb ein Freund der Welt sein mehr zwangen die Wunder, die er voll-
will, ist ein Feind Gottes (Joh 7, 7; 15,19; brachte, die Menschen dazu, zu entschei-
25)
Jak 4,4). den, wer er wirklich war. Es gab auf dem
7,8 Der Herr befahl seinen Brüdern, Fest unter der Oberfläche Unterhaltun-
»zu diesem Fest« zu gehen. Das hatte gen darüber, ob er ein echter oder ein
etwas sehr trauriges an sich. Sie gaben falscher Prophet sei. »Die einen sagten:
vor, religiöse Leute zu sein. Sie wollten Er ist gut; andere sagten: Nein, . . . er ver-
das Laubhüttenfest halten. Doch der führt die Volksmenge.«
Christus Gottes stand in ihrer Mitte und 7,13 Die Gegnerschaft der jüdischen
sie liebten ihn nicht. Der Mensch liebt Führer gegen Jesus war so stark gewor-
religiöse Rituale, weil er sie einhalten den, daß niemand es wagte, »öffentlich
kann, ohne wirklich mit dem Herzen von ihm« zu reden. Zweifellos hatten
dabei zu sein. Doch wenn man ihn mit viele einfache Menschen erkannt, daß er
der Person Jesu Christi konfrontiert, wirklich der Messias Israels war, doch
dann fühlt er sich nicht wohl. Jesus sagte, wagten sie nicht, das öffentlich zu sagen,
26)
daß er »noch nicht . . . auf dieses Fest« weil sie fürchteten, daß die religiösen
(LU 1912) gehen wolle, weil seine »Zeit . . Führer sie dann verfolgen würden.
. noch nicht erfüllt« sei. Er meinte damit 7,14 Das Laubhüttenfest dauerte eini-
nicht, daß er gar nicht auf das Fest gehen ge Tage. Als es halb vorbei war, »ging
wolle, weil wir in Vers 10 erfahren, daß er Jesus hinauf in den« Vorhof des Tempels
schließlich doch ging. Er meinte, daß er (bekannt als Vorhalle, wo die Menschen
nicht mit seinen Brüdern gehen würde sich versammeln durften) »und lehrte«.
und keinen großartigen Auftritt in Jeru- 7,15 Diejenigen, die dem Retter
salem plante. Dazu war die Zeit noch zuhörten, »wunderten sich«. Zweifellos
nicht reif. Wenn er gehen würde, dann in imponierte ihnen am meisten seine Ver-
aller Stille und mit so wenig Aufsehen trautheit mit dem AT. Aber auch die Brei-
wie möglich. te seines Wissens und seine Fähigkeit zu
7,9 So bleib der Herr »in Galiläa«, lehren zog ihre Aufmerksamkeit auf sich.
nachdem seine Brüder zu dem Fest ge- Sie wußten, daß Jesus auf keiner der
reist waren. Sie hatten den Einen zurück- großen theologischen Schulen jener Tage
gelassen, der allein ihnen die Freude gewesen war, und sie konnten nicht ver-
schenken konnte, von dem das Laubhüt- stehen, wie er so gebildet sein konnte. Die
tenfest redete. Welt wundert sich auch heute und be-
schwert sich oft darüber, wenn sie Gläu-
B. Jesus lehrt im Tempel (7,10-31) bige sieht, die keinerlei theologische Aus-
7,10 Kurz nachdem »seine Brüder« nach bildung haben und doch fähig sind, das
Jerusalem »hinaufgegangen waren«, Wort Gottes zu lehren und zu predigen.
machte der Herr Jesus seine unauffällige 7,16 Und wieder ist es schön zu
Reise dorthin. Als frommer Jude wollte sehen, wie der Herr Jesus keinerlei Ehre
er natürlich an dem Fest teilnehmen. für sich selbst beansprucht, sondern nur
Doch als gehorsamer Sohn Gottes konnte versucht, seinen Vater zu verherrlichen.
er es nicht »öffentlich« tun, »sondern wie Jesus antwortete ihnen einfach, daß er
im Verborgenen«. nicht seine eigene Lehre bringe, sondern
7,11 »Die Juden«, die »ihn auf dem daß sie von dem Einen kam, der ihn
Fest« suchten, waren zweifellos die reli- »gesandt hat«. Was immer der Herr rede-
giösen Führer, die ihn zu töten suchten. te und was immer er auch lehrte, er rede-
Als sie fragten: »Wo ist jener?« waren sie te und lehrte immer entsprechend dem
nicht daran interessiert, ihn anzubeten, Willen seines Vaters. Er handelte nie
sondern ihn zu vernichten. unabhängig vom Vater.
7,12 Es wird deutlich, daß die Anwe- 7,17 Wenn die Juden wirklich wissen
senheit des Herrn »unter den Volksmen- wollten, ob seine Botschaft wahr sei oder
gen« Unruhe verursachte. Mehr und nicht, dann war es für sie leicht, das her-

394
Johannes 7

auszufinden. Wenn jemand wirklich Führerschaft gegen ihn. An diesem


Gottes »Willen tun will«, dann wird Gott Punkt fingen sie an, ihren hinterhältigen
ihm offenbaren, ob die Lehren Christi Anschlag auf Jesus zu planen. Der Herr
göttlich sind, oder ob der Herr nur ein- erinnerte sie, daß er »ein Werk . . . getan«
fach lehrte, was ihm gefiel. Hier haben habe, und alle wunderten sich deswegen.
wir eine wunderbare Verheißung für alle, Nicht daß sie ihn bewundert hätten, son-
die ernsthaft nach der Wahrheit suchen. dern sie waren schockiert, daß er so
Wenn man ehrlich ist und wirklich die etwas am Sabbat getan hatte.
Wahrheit wissen will, dann wird Gott sie 7,22 Das Gesetz des Mose schrieb vor,
auch offenbaren. »Gehorsam ist der Weg daß männliche Säuglinge acht Tage nach
zu geistlicher Erkenntnis.« der Geburt beschnitten werden sollten.
7,18 Jeder, der »aus sich selbst redet«, (In Wirklichkeit hatte nicht Mose die
d. h. der nach seinem eigenen Willen Beschneidung eingesetzt, sondern war
spricht, »sucht seine eigene Ehre.« Aber schon von den »Vätern« praktiziert wor-
das gilt nicht für den Herrn Jesus. Er den, d. h. von Abraham, Isaak und
suchte »die Ehre« des Vater, »der ihn Jakob.) Auch wenn der achte Tag auf
gesandt hat«. Weil seine Motive völlig einen Sabbat fiel, hielten es die Juden für
rein waren, war seine Botschaft absolut richtig, das Kind zu beschneiden. Sie
»wahrhaftig.« »Keine Ungerechtigkeit« dachten, daß dies eine notwendige
war »in ihm«. Handlung war, und der Herr erlaubte
Jesus war der Einzige, von dem man eine solche »Arbeit«.
so etwas sagen kann. Bei jedem anderen 7,23 Wenn sie jedoch ein Kind »am
Lehrer ist auch Selbstsucht unter den Sabbat« beschneiden konnten, um »das
Motiven seiner Tätigkeit. Es sollte das Gesetz des Mose« über die Beschneidung
Ziel jedes Dieners Gottes sein, Gott und nicht zu brechen, warum sollten sie dann
nicht sich selbst zu verherrlichen. Jesus tadeln, der am Sabbat »den ganzen
7,19 Der Herr brachte dann eine Menschen gesund gemacht« hatte?
direkte Anklage gegen die Juden vor. Er Wenn das Gesetz notwendige Arbeiten
erinnerte sie daran, daß Mose ihnen das erlaubte, warum dann keine Werke der
Gesetz gegeben habe. Sie rühmten sich Barmherzigkeit?
der Tatsache, daß sie das Gesetz hatten. Die Beschneidung ist ein kleiner, chir-
Sie vergaßen jedoch, daß darin kein Vor- urgischer Eingriff an einem männlichen
teil liegt, das Gesetz einfach nur zu besit- Säugling. Natürlich tut solch ein Eingriff
zen. Das Gesetz verlangte Gehorsam weh, und die physischen Vorteile davon
gegenüber seinen Bestimmungen oder sind, wenn es sie überhaupt gibt, gering.
Geboten. Obwohl sie sich des Gesetzes Im Gegensatz dazu heilte der Herr Jesus
rühmten, hielt sich offensichtlich keiner am Sabbat einen Mensch ganz. Und dar-
von ihnen daran, denn sie planten sogar, an nahmen die Juden Anstoß.
den Herrn Jesus umzubringen. Das 7,24 Das Problem der Juden war, daß
Gesetz aber verbietet Mord ausdrück- sie alles »nach dem Schein« beurteilten,
lich. Sie brachen das Gesetz durch ihre nicht nach der inneren Realität. Ihr
Pläne gegen den Herrn Jesus. Gericht war deshalb nicht gerecht. Arbei-
7,20 Die Menschen fühlten die Schär- ten, die sie selbst ausführten, und ihnen
fe der Anklage Jesu, doch anstatt zuzu- dann nicht unrecht erschienen, schienen
geben daß er recht hatte, fingen sie an, ihnen ganz verkehrt zu sein, wenn der
ihn zu beschimpfen. Sie behaupteten, er Herr Jesus sie tat. Die menschliche Natur
sei von »einem Dämon« besessen. Sie neigt dazu, nach dem äußeren Anschein
bestritten auch ihren Plan, ihn »zu zu urteilen statt nach den Realitäten. Der
töten«. Herr Jesus hatte das Gesetz des Mose
7,21 Jesus ging nun, um den Lahmen nicht gebrochen. Die Juden waren es, die
am Teich Bethesda zu heilen. Dieses das Gesetz durch ihren unsinnigen Haß
Wunder erregte den Haß der jüdischen auf den Herrn Jesus brachen.

395
Johannes 7

7,25 Zu dieser Zeit war es in Jerusa- d. h. aus eigener Vollmacht und um sei-
lem bekannt geworden, daß die jüdi- nen eigenen Willen zu tun, sondern
schen Führer einen Anschlag auf Jesus durch den »wahrhaftigen« Gott in diese
planten. Hier fragt nun einer aus dem Welt gesandt worden, und diesen Gott
gemeinen Volk, ob dies derjenige sei, den kannten sie nicht.
ihre Anführer verfolgten. 7,29 Aber Jesus kannte ihn. Er wohn-
7,26 Sie konnten nicht verstehen, daß te vor aller Ewigkeit bei Gott dem Vater
dem Herrn Jesus gestattet wurde, so und war in jeder Hinsicht Gott dem Vater
offen und »frei« (LU 1912) zu reden. gleich. Denn als der Herr sagte, daß er
Wenn die Obersten ihn so sehr haßten, »von« Gott sei, meinte er damit nicht ein-
wie das Volk meinte, warum erlaubten fach, daß er von Gott gesandt sei, son-
sie ihm dann, weiterzumachen wie bis- dern daß er immer bei Gott gewesen und
her? War es etwa möglich, daß sie her- ihm in jeglicher Hinsicht gleich war. Mit
ausgefunden hatten, daß dieser »wahr- dem Ausdruck »er hat mich gesandt«
haftig . . . der Christus ist«, wie er stellte der Herr in der deutlichsten Weise
behauptete? fest, daß er der Christus Gottes ist, der
7,27 Die Menschen, die nicht glaub- Gesalbte, den Gott in die Welt gesandt
ten, daß Jesus der Messias sei, dachten, hat, die Errettung zu erlangen.
sie wüßten, woher er stammt. Sie glaub- 7,30 Die Juden verstanden die Bedeu-
ten, daß er aus Nazareth stamme. Sie tung der Worte Jesu und erkannten, daß
kannten seine Mutter Maria und nahmen er behauptete, der Messias zu sein. Sie
an, daß Joseph sein Vater sei. Die Juden meinten, daß dies blanke Gottesläste-
glaubten allgemein, daß der Messias rung sei, und versuchten, ihn festzuneh-
plötzlich und auf wunderbare Weise men, doch konnten sie nicht Hand an ihn
käme. Sie hatten keine Vorstellung da- legen, »weil seine Stunde noch nicht
von, daß er als normales Kind geboren gekommen war«. Die Macht Gottes
und wie jeder andere Mensch aufwach- bewahrte den Herrn Jesus vor den bösen
sen würde. Sie hätten aus dem AT wissen Fallen der Menschen, bis die Zeit gekom-
müssen, daß er in Bethlehem geboren men war, daß er als Opfer für die Sünden
werden würde, doch es scheint so, daß sterben sollte.
sie die Einzelheiten des Kommens des 7,31 In Wirklichkeit jedoch »glaubten
Messias nicht kannten. Deshalb sagten . . . viele . . . von der Volksmenge« an den
sie: »Wenn aber der Christus kommt, so Herrn Jesus. Wir würden gerne anneh-
weiß niemand, woher er ist.« men, daß ihr Glaube echt war. Ihre Argu-
7,28 An diesem Punkt »rief« Jesus mentation lautete etwa so: Was konnte
nun den Leuten zu, die sich versammelt Jesus noch mehr tun, um zu beweisen,
hatten und dem Gespräch folgten. Sie daß er der Messias ist? »Wenn der Chri-
kannten ihn, sagte er, und wußten, stus kommt«, wenn Jesus nicht der Mes-
woher er kam. Hier bezieht er sich natür- sias wäre, wäre er dann in der Lage,
lich auf seine menschliche Herkunft. Sie mehr und bessere »Zeichen« tun als die,
kannten ihn als Jesus von Nazareth, aber die Jesus getan hatte? Aus ihrer Frage
sie wußten nicht, daß er auch Gott war. geht hervor, daß sie glaubten, daß die
Das wollte er ihnen im zweiten Teil des Wunder Jesu bewiesen hatten, daß er
Verses nun erklären. wirklich der Messias ist.
Leiblich wohnte er in Nazareth, aber
sie sollten auch erkennen, daß er nicht C. Die Feindschaft der Pharisäer
von sich »selbst gekommen« sei, sondern (7,32-36)
von Gott dem Vater gesandt war, den 7,32 Als die Pharisäer unter den Men-
diese Leute nicht kannten. Mit diesen schen umhergingen, hörten sie hier und
Worten erhob der Herr Jesus einen direk- da Gespräche mit an. »Die Volksmenge«
ten Anspruch darauf, Gott gleich zu sein. murmelte über den Retter, und zwar
Er war nicht von sich selbst gekommen, nicht in dem Sinne, daß sie sich über ihn

396
Johannes 7

beklagt hätte, sondern sie zeigte im ihm nicht folgen könnten? Hier zeigen
Geheimen ihre Hochachtung vor ihm. die Juden die Blindheit ihres Unglau-
Die Pharisäer hatten nun Angst, daß dies bens. Es gibt kein so finsteres Herz wie
zu einer großen Bewegung führen könn- das eines Menschen, der sich weigert,
te, die dafür stimmte, Jesus anzunehmen, den Herrn Jesus anzunehmen. In unse-
und deshalb sandten sie »Diener, daß sie ren Tagen gibt es das Sprichwort: Es gibt
ihn greifen möchten«. keine Blinderen als die, die nicht sehen
7,33 Die Worte von Vers 33 wurden wollen. Genau das war hier der Fall. Sie
wahrscheinlich zu den Dienern gespro- wollten den Herrn Jesus nicht annehmen,
chen, die gekommen waren, um ihn fest- und deshalb konnten sie es auch nicht.
zunehmen, aber auch zu den Pharisäern
und den Menschen im allgemeinen. D. Die Verheißung des Heiligen
Der Herr Jesus machte keine Abstri- Geistes (7,37-39)
che bei seinen Aussagen. Wenn über- 7,37 Obwohl sie im AT nicht erwähnt
haupt, dann untermauerte er sie weiter. wird, gab es bei den Juden eine Zeremo-
Er erinnerte sie daran, daß er nur »noch nie, bei der an jedem der ersten sieben
eine kleine Zeit« bei ihnen sein würde, Tage des Laubhüttenfestes Wasser vom
und dann würde er zu Gott dem Vater Teich Siloah geholt und in ein silbernes
zurückkehren, der ihn gesandt hat. Becken am Altar gegossen wurde. Am
Zweifellos erboste das die Pharisäer nur achten Tag wurde das nicht mehr getan,
noch mehr. wodurch das Angebot Christi, ihnen
7,34 Später würde ein Tag kommen, Wasser des ewigen Lebens zu geben,
an dem die Pharisäer ihn suchen, ihn noch erstaunlicher wurde. Die Juden wa-
aber nicht finden könnten. Er sagte ihnen ren dieser religiösen Tradition gefolgt,
eine Zeit für ihr Leben voraus, zu der sie und doch waren ihre Herzen nicht erfüllt,
einen Erretter brauchen würden, doch weil sie nicht die wahre Bedeutung dieses
dann würde es zu spät sein. Zu dieser Festes erfaßt hatten. Kurz bevor sie nach
Zeit wäre er in den Himmel zurückge- Hause reisten, »an dem letzten, dem
gangen, und wegen ihres Unglaubens großen Tag des Festes aber stand Jesus
und ihrer Bosheit würden sie ihm dort und rief« ihnen zu. Er lud sie ein, zu ihm
nicht begegnen können. Die Worte dieses zu kommen, um bei ihm geistliche Befrie-
Verses sind besonders hart. Sie erinnern digung zu erlangen. Man beachte beson-
uns daran, daß es so etwas wie eine ver- ders die Wortwahl. Er lud jeden (»je-
paßte Gelegenheit gibt. Die Menschen mand«) ein. Sein Evangelium war univer-
haben heute die Möglichkeit, errettet zu sell. Es gibt keinen, der nicht gerettet wer-
werden, wenn sie die Errettung jedoch den kann, wenn er nur zu Jesus kommt.
ablehnen, könnte es sein, daß sie nie wie- Doch gibt es eine Voraussetzung. Die
der diese Möglichkeit haben werden. Schrift sagt: »Wenn jemand dürstet.« Mit
7,35 »Die Juden« konnten nun die »dürsten« ist hier geistliche Not gemeint.
Bedeutung dieser Worte nicht verstehen. Wer nicht erkennt, daß er Sünder ist,
Sie verstanden nicht, daß Jesus in den kann nicht errettet werden. Wer nicht
Himmel zurückkehren würde. Sie dach- erkennt, daß er verloren ist, den wird nie
ten, daß er vielleicht auf eine Evangelisa- danach verlangen, wiedergefunden zu
tionsreise gehen und die Juden besuchen werden. Wenn man keine geistlichen
würde, die »in der Zerstreuung der Grie- Nöte hat, wird man nie zum Herrn gehen
chen« lebten, und eventuell auch noch wollen, damit er diese Nöte nimmt. Der
die Griechen selbst lehren wollte. Retter lud die Durstigen ein, zu ihm zu
7,36 Wieder geben sie ihrer Verwun- kommen, nicht zur Kirche, zum Pfarrer
derung über seine Worte Ausdruck. Was oder Prediger, zur Taufe oder zum Tisch
meinte er damit, wenn er sagte, daß sie des Herrn. Jesus sagte: »Er komme zu
ihn »suchen und nicht finden« würden? mir und trinke.« Trinken heißt hier, Jesus
Wohin könnte er wohl gehen, wohin sie anzunehmen. Es bedeutet, ihm als Herrn

397
Johannes 7

und Retter zu vertrauen. Es bedeutet, ihn phet« sei, von dem Mose in 5. Mo-
in unser Leben aufzunehmen, wie wir se 18,15.18 gesprochen hatte. »Andere«
ein Glas Wasser in unseren Körper auf- waren sogar gewillt anzuerkennen, daß
nehmen. Jesus »der Christus«, d. h. der Messias
7,38 Vers 38 beweist, daß zu Christus sei. Doch einige meinten, daß dies un-
kommen und trinken dasselbe bedeutet, möglich sei. Sie glaubten, daß Jesus aus
wie an ihn zu glauben. Alle, die an ihn Nazareth in Galiläa stammen würde,
glauben, werden von ihm alles erhalten, und es gab keine Prophezeiung im AT,
was sie brauchen, und werden »Ströme« daß »der Christus . . . aus Galiläa« stam-
geistlichen Segens erhalten, die von men würde.
ihnen aus zu anderen Menschen »flie- 7,42 Diese Juden hatten recht, wenn
ßen«. Im ganzen AT wird gelehrt, daß sie der Meinung waren, daß der Christus
diejenigen, die den Messias annehmen, »aus Bethlehem, dem Dorf« kommen
geholfen würde, und sie selbst zum und von »David« abstammen sollte.
Segen für andere würden (z. B. Jes 55,1). Wenn sie sich jedoch die Mühe gemacht
Der Ausdruck »aus dessen Leibe werden hätten, nachzuforschen, dann hätten sie
Ströme lebendigen Wassers fließen« herausgefunden, daß Jesus in der Tat in
bedeutet, aus dem inneren Leben werden Bethlehem geboren war, und daß er
Ströme der Hilfe für andere Menschen durch Maria ein direkter Nachkomme
fließen. Stott betont, daß wir in kleinen Davids war.
Schlucken oder Zügen trinken, doch die- 7,43 Wegen dieser verschiedenen
se werden zu einem großen Strom zu- Meinungen und wegen ihres allgemei-
sammenfließen. Temple warnt uns: »Nie- nen Unwissens »entstand nun seinetwe-
mand kann den Geist Gottes haben und gen eine Spaltung in der Volksmenge«.
diesen Geist für sich selbst behalten. Wo Das ist auch heute noch so. Wegen Chri-
der Geist ist, dort fließt er über, wenn stus trennen sich die Menschen. Einige
kein Überfließen zu sehen ist, dann ist sagen, er sei nur ein Mensch wie wir
der Geist auch nicht da.« auch gewesen. Andere sind bereit zuzu-
7,39 Es wird hier deutlich gesagt, daß geben, daß er der größte aller Menschen
sich der Ausdruck »lebendiges Wasser« war. Doch diejenigen, die dem Wort
auf den Heiligen Geist bezieht. Vers 39 ist Gottes glauben, wissen, daß »Christus ist
sehr wichtig, weil er lehrt, daß alle, die . . . über allem . . ., Gott, gepriesen in
den Herrn Jesus Christus annehmen, Ewigkeit« (Röm 9,5).
auch den Geist erhalten. Mit anderen 7,44 Immer noch versuchte man,
Worten, es ist nicht möglich, wie einige Jesus festzunehmen, doch keinem gelang
behaupten, daß der Geist jemandem erst es. Solange ein Mensch im Willen Gottes
einige Zeit nach der Bekehrung gegeben lebt, kann ihn keine Macht der Erde dar-
wird. Dieser Vers sagt eindeutig aus, daß an hindern. »Wir sind unsterblich, bis
alle, die an Christus glauben, den Geist wir unsere Aufgabe erfüllt haben.« Für
erhalten. Zu der Zeit, als der Herr Jesus den Herrn war die Zeit noch nicht
diese Worte sprach, »war der Geist nicht gekommen, und deshalb waren die Men-
da«. Erst als Jesus in den Himmel aufge- schen nicht in der Lage, Hand an ihn zu
fahren und »verherrlicht« worden war, legen.
kam am Pfingsttag der Heilige Geist. Von 7,45 Nun hatten die Pharisäer Diener
dem Zeitpunkt an hatte jeder echte Gläu- ausgeschickt, um Jesus festzunehmen.
bige, der dem Herrn Jesus Christus ver- Die »Diener« waren zurückgekommen,
traute, den Heiligen Geist. aber ohne den Herrn. Die »Hohenprie-
ster und Pharisäer« waren aufgebracht
E. Geteilte Meinungen über Jesus und fragten die Diener, warum sie »ihn
(7,40-53) nicht gebracht« hätten.
7,40.41 Viele, die zuhörten, waren nun 7,46 Hier waren nun sündige Men-
der Überzeugung, daß Jesus »der Pro- schen gezwungen, für Jesus ein positives

398
Johannes 7 und 8

Zeugnis abzulegen, auch wenn sie selbst vernommen worden ist. Doch genau das
nicht an ihn glaubten. Ihre beachtens- taten die jüdischen Führer an diesem
werten Worte lauteten: »Niemals hat ein Punkt. Hatten sie Angst vor den Tatsa-
Mensch so geredet wie dieser Mensch.« chen? Die Antwort lautet, daß sie offen-
Zweifellos hatten diese Diener schon vie- sichtlich Angst hatten.
le Menschen in ihrem Leben reden hören, 7,52 Nun stürzen sich die Obersten
doch hatten sie nie jemanden mit solcher auf einen aus ihrer Mitte, nämlich auf
Vollmacht, Gnade und Weisheit reden Nikodemus. Spöttisch fragen sie ihn, ob
hören. er auch einer von Jesu Nachfolgern »aus
7,47.48 Die Pharisäer klagten nun die Galiläa« sei. Wußte er nicht, daß nach
Diener an, »verführt« worden zu sein, dem AT kein Prophet aus Galiläa käme?
denn sie wollten den Dienern Angst Damit zeigten sie natürlich wieder ein-
machen. Sie erinnerten sie daran, daß mal ihre Unwissenheit. Hatten sie nie
keiner von den »Obersten« der Juden an von Jona gelesen? Er stammte aus
Jesus glauben würde. Welch eine Galiläa.
schreckliche Argumentation! Sie hätten 7,53 Das Laubhüttenfest war zu
sich schämen sollen, daß die führenden Ende. Die Menschen kehrten nach Hause
Männer des Volkes den Messias nicht zurück. Einige von ihnen hatten den Ret-
erkannten, als er kam. ter selbst gesehen und ihn angenommen.
Diese Pharisäer wollten nicht nur Doch die Mehrheit hatte ihn abgelehnt,
selbst nicht an den Herrn Jesus glauben, und die Führer des jüdischen Volkes
sondern es wird klar, daß sie auch nicht waren entschlossener denn je, ihn zu
wollten, daß andere an ihn glaubten. So töten. Sie waren der Überzeugung, daß
ist es noch heute. Viele wollen selbst er eine Gefahr für ihre Religion und für
nicht gerettet werden und tun alles in ihre Lebensführung darstellte.
ihrer Macht stehende, um ihre Verwand-
ten und Freunde auch davon abzuhalten. F. Die Ehebrecherin (8,1-11)
7,49 Hier klagen die Pharisäer die 8,1 Dieser Vers gehört eng mit dem letz-
Masse des jüdischen Volkes an, unwis- ten von Kapitel 7 zusammen. Die Verbin-
send und »verflucht« zu sein. Sie argu- dung zeigt sich besser, wenn man die bei-
mentierten, daß, wenn die normalen den Sätze so verbindet: »Und jeder ging
Leute auch nur ein wenig Bibelkenntnis nach seinem Haus, aber Jesus ging nach
hätten, sie wüßten, daß Jesus nicht der dem Ölberg.« Der Herr hatte ganz richtig
Messias sei. Einem schlimmeren Irrtum gesagt: »Die Füchse haben Höhlen und
konnten die Pharisäer kaum anheim fal- die Vögel des Himmels Nester; aber der
len. Sohn des Menschen hat nicht, wo er sein
7,50 An diesem Punkt sprach »Niko- Haupt hinlege« (Lk 9, 58).
demus zu ihnen«. Das war derselbe, »der 8,2 Der Ölberg war nicht weit vom
bei der Nacht zu ihm kam« (LU 1912) Tempel entfernt. »Frühmorgens« ging
und gelernt hatte, daß man wiedergebo- Jesus den Hang des Ölberges hinab,
ren werden muß. Es scheint so, daß überquerte den Kidron und stieg hinauf
Nikodemus sich wirklich dem Herrn in die Stadt, wo der Tempel war. »Alles
Jesus anvertraut hatte und gerettet wor- Volk kam zu ihm; und er setzte sich und
den war. Hier jedenfalls tritt er vor, mit- lehrte sie.«
ten unter die Obersten der Juden, um sei- 8,3 »Die Schriftgelehrten« (eine Grup-
nen Herrn zu verteidigen. pe von Männern, die die Schrift abschrie-
7,51 Nikodemus argumentierte, daß ben und sie lehrten) und die »Pharisäer«
die Juden Jesus keine faire Chance gege- versuchten, den Herrn Jesus zu übertöl-
ben hatten. Das jüdische »Gesetz« verur- peln, damit er etwas sagen würde, das
teilt einen Menschen nicht, »ehe es zuvor sich für eine Anklage gegen ihn verwen-
von ihm selbst gehört und erkannt hat, den ließe. Sie hatten gerade »eine Frau
was er tut«, d. h. ehe er in einem Prozeß . . . ergriffen«, die sie beim Ehebruch

399
Johannes 8

ertappt hatten, und sie »stellen sie in die Finger auf die Erde« (vgl. Jer 17, 13). Wir
Mitte« der Menschenmenge, wahr- können auf keinen Fall wissen, was Jesus
scheinlich so, daß sie Jesus ansah. geschrieben hat. Viele behaupten, es zu
8,4 Die Anklage gegen »diese Frau« wissen, doch es bleibt eine einfache Tat-
lautete auf Ehebruch, und sie entsprach sache, daß uns die Bibel das nicht sagt.
zweifellos der Wahrheit. Wir haben kei- 8,7 Die Juden waren damit nicht
nen Grund in Frage zu stellen, ob sie zufrieden und bestanden darauf, daß er
wirklich bei dieser schrecklichen Sünde eine Antwort gebe. So stellte Jesus ein-
ertappt worden war. Doch wo war der fach fest, daß die Vorschrift des Gesetzes
Mann geblieben? Zu oft sind schon Frau- erfüllt werden sollte, doch sollte die Stra-
en bestraft worden, während die Män- fe von denen vollzogen werden, die
ner, die ebenso schuldig waren, straffrei selbst ohne Sünde waren. So hielt der
ausgingen. Herr am Gesetz des Mose fest. Er sagte
8,5 Nun war die Falle deutlich: Sie nicht, daß die Frau straffrei ausgehen
wollten, daß der Herr »dem Gesetz« des sollte. Aber er klagte alle Anwesenden
Mose widersprach. Wenn ihnen das an, selbst gesündigt zu haben. Wer über
gelingen sollte, dann konnten sie das ein- andere richten will, muß selbst rein sein.
fache Volk gegen Jesus aufhetzen. Sie Dieser Vers wird oft als Entschuldigung
erinnerten den Herrn daran, daß Mose für Sünden mißbraucht. Man meint, daß
im Gesetz geboten hatte, Menschen, die wir nicht getadelt werden könnten, da
beim Ehebruch ertappt wurden, »zu stei- doch alle anderen auch sündigen wür-
nigen«. Weil sie ihre bösen Pläne durch- den. Doch dieser Vers entschuldigt Sün-
führen wollten, hofften die Pharisäer, de in keiner Weise. Er verurteilt diejeni-
daß der Herr anderer Meinung war, und gen, die ebenso schuldig sind, doch nie
deshalb fragten sie ihn, was er zu diesem bei ihrer Sünde ertappt wurden.
Thema zu sagen hätten. Sie waren der 8,8 »Und wieder bückte er sich nieder
Meinung, daß die Gerechtigkeit und das und schrieb auf die Erde.« Dies sind die
Gesetz des Mose vorschrieben, daß an einzigen Verse, die festhalten, daß der
dieser Frau ein Exempel statuiert würde. Herr Jesus etwas geschrieben hatte, und
Wie Darby sagt: was er geschrieben hat, ist schon längst
Es tröstet und beruhigt das boshafte Herz wieder ausgetilgt.
des Menschen, wenn er nur einen Menschen 8,9 Diejenigen, die die Frau angeklagt
finden kann, der noch schlechter als er selbst hatten, waren »von ihrem Gewissen
ist: Er denkt, daß die größere Sünde des ande- überzeugt« (LU 1912). Sie hatten nichts
ren ihn selbst entschuldigt, und während er mehr zu sagen. Sie gingen weg, »einer
einen anderen Menschen anklagt und heftig nach dem anderen«. Alle waren schul-
tadelt, vergißt er seine eigenen Sünden. Und dig, vom Ältesten bis hin zum Jüngsten.
27)
so freut er sich seiner Missetaten. Jesus »wurde allein gelassen mit der
8,6 Sie hatten gegen den Herrn keine Frau«, die bei ihm stand.
wirkliche Anklage und versuchten nun, 8,10 In wunderbarer Gnade machte
eine an den Haaren herbei zu ziehen. Sie der Herr Jesus die Frau darauf aufmerk-
wußten, daß er gegen das Gesetz des sam, daß ihre Ankläger verschwunden
Mose verstoßen würde, wenn er die Frau waren. Sie waren nicht mehr aufzufin-
ohne Strafe gehen lassen würde, und den. Kein einziger in der Menge hatte es
dann könnten sie »ihn anklagen«, unge- gewagt, sie zu verurteilen.
recht zu sein. Wenn er jedoch die Frau 8,11 Das Wort »Herr« ist hier wahr-
zum Tode verurteilen würde, dann könn- scheinlich als Anrede, nicht als Titel Jesu
ten sie das benutzen, um zu zeigen, daß gebraucht. Als die Frau sagte: »Nie-
er ein Feind der Römer war und außer- mand, Herr«, antwortete ihr Jesus mit
dem konnten sie sagen, daß er nicht den wunderbaren Worten: »So verurteile
barmherzig gewesen sei. »Jesus aber auch ich dich nicht. Geh hin und sündige
bückte sich nieder und schrieb mit dem nicht mehr!« Der Herr beanspruchte

400
Johannes 8

nicht, das Recht zur öffentlichen Gewal- Wer das tut, hat Leitung für sein Leben
tausübung zu haben. Dies war das Recht und eine deutliche und strahlende Hoff-
der römischen Verwaltung, und in dieses nung über das Grab hinaus.
Recht wollte er nicht eingreifen. Er ver- 8,13 Die Pharisäer forderten nun
urteilte sie weder, noch begnadigte er sie. Jesus aufgrund einer Vorschrift des
Zu dieser Zeit war das noch nicht seine Gesetzes heraus. Sie erinnerten ihn dar-
Aufgabe. Doch er äußerte eine Warnung, an, daß er von sich selbst Zeugnis ableg-
daß sie sich vor weiteren Sünden hüten te. Ein eigenes Zeugnis wurde allerdings
sollte. nicht als ausreichend angesehen, weil die
Im ersten Kapitel des Johannesevan- Menschen normalerweise sehr von sich
geliums erfuhren wir, daß »die Gnade selbst eingenommen sind. Die Pharisäer
und die Wahrheit . . . durch Jesus Chri- hatten keine Hemmungen, Jesu Worte
stus geworden« ist. Hier haben wir ein anzuzweifeln. Sie bezweifelten, daß sie
weiteres Beispiel dafür. In den Worten überhaupt der Wahrheit entsprachen.
»so verurteile auch ich dich nicht« drückt 8,14 Der Herr erkannte an, daß es
sich die Gnade aus, in den Worten »geh normalerweise notwendig war, zwei
hin und sündige nicht mehr!« die Wahr- oder drei Zeugen zu haben. Doch in sei-
heit. Er sagte nicht: »Geh hin und sündi- nem Falle ist sein Zeugnis absolut wahr,
ge so wenig wie möglich.« Jesus Christus weil er Gott ist. Er wußte, daß er vom
ist Gott, und sein Maßstab ist die absolu- Himmel gekommen war und dorthin
te Vollkommenheit. Er kann auch nicht zurückkehren würde. Doch sie wußten
die kleinste Sünde billigen. Und so legt er nicht, wo er hergekommen war und wo-
28)
ihr den Maßstab von Gott selbst vor. hin er gehen würde. Sie waren der Mei-
nung, er sei ein normaler Mensch wie sie
G. Jesus, das Licht der Welt (8,12-20) und wollten nicht glauben, daß er der
8,12 Der Schauplatz wechselt nun zum ewige Sohn ist, der dem Vater gleich ist.
Tempelschatz (s. V. 20). Noch immer 8,15 Die Pharisäer beurteilten die
folgt Jesus eine große Menschenmenge Menschen nach der äußeren Erscheinung
nach. Er wandte sich an die Menschen und nach ihren rein menschlichen Maß-
und machte wieder eine seiner großen stäben. Sie sahen auf den Zimmermann
Aussage zu seiner Sendung als Messias. Jesus aus Nazareth herab und glaubten
Er sagte: »Ich bin das Licht der Welt.« nicht, daß er anders sei als allen anderen
Normalerweise ist die Welt in der Dun- Menschen. Der Herr Jesus sagte, daß er
kelheit der Sünde, der Unwissenheit und »niemanden« richte. Das kann bedeuten,
der Ziellosigkeit gefangen. »Das Licht daß er die Menschen nicht nach weltli-
der Welt« ist Jesus. Ohne ihn gibt es kei- chen Maßstäben wie die Pharisäer richte-
ne Erlösung von der Finsternis der Sün- te. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß es
de. Ohne ihn gibt es keine Führung auf bedeutet, daß sein Ziel, als er in diese
dem Lebensweg, kein Wissen über den Welt kam, nicht war, Menschen zu rich-
Sinn des Lebens und die Ewigkeit. Jesus ten, sondern sie zu erlösen.
versprach, daß jeder, der ihm nachfolgen 8,16 Wenn es jedoch die Aufgabe Jesu
würde, »nicht in der Finsternis wandeln, wäre, zu richten, so wäre sein »Gericht
sondern das Licht des Lebens haben« wahr« und gerecht. Er ist Gott, und alles
würde. was er tut, tut er zusammen mit dem
Jesus nachfolgen bedeutet, an ihn zu »Vater, der mich gesandt hat«. Immer
glauben. Viele Menschen haben diesen wieder betonte der Herr Jesus den Pha-
Gedanken mißverstanden und versuch- risäern gegenüber seine Gottgleichheit.
ten, wie Jesus zu leben, ohne wiederge- Doch gerade das ließ in ihren Herzen den
boren zu sein. Jesus nachfolgen bedeutet, bittersten Widerstand gegen ihn entste-
in Buße zu ihm zu kommen, sich ihm als hen.
Herrn und Retter anzuvertrauen und 8,17.18 Der Herr erkannte an, daß das
ihm dann das ganze Leben hinzugeben. Gesetz des Mose »das Zeugnis zweier

401
Johannes 8

Menschen« verlangte. Keine seiner Aus- Tod und sein Begräbnis anspielte, son-
sagen sollte dem widersprechen. dern auch auf seine Auferstehung und
Wenn sie darauf bestanden, daß er die Himmelfahrt. Das jüdische Volk wür-
zwei Zeugen bringen sollte, so war für de weiter nach einem Messias »suchen«,
ihn es nicht schwierig, sie ihnen zu brin- weil sie nicht erkannten, daß er schon
gen. Erstens »zeugt« er von sich selbst gekommen war und sie ihn abgelehnt
durch sein sündloses Leben und seine hatten. Wegen ihrer Ablehnung würden
Worte. Zweitens zeugte »der Vater« vom sie in ihrer »Sünde sterben«. (Im Griechi-
Herrn Jesus, indem er erstens öffentlich schen steht hier, wie in der Elberfelder
vom Himmel sprach und zweitens durch Bibel, das Wort »Sünde« im Singular.)
die Wunder, die er durch den Herrn Jesus Das würde bedeuten, daß sie niemals in
tat. Christus erfüllte die Prophezeiungen den Himmel kommen könnten, wohin
des AT über den Messias, doch auch der Herr schließlich zurückkehren wür-
angesichts dieser überragenden Beweise de. Das ist eine sehr ernste Warnung.
wollte die jüdische Führerschaft nicht an Diejenigen, die sich weigern, den Herrn
ihn glauben. Jesus anzunehmen, haben keinerlei Hoff-
8,19 Die nächste Frage der Pharisäer nung auf den Himmel. Wie schrecklich
war zweifellos im Zorn gesprochen. Viel- ist es, in seinen Sünden zu sterben, ohne
leicht blickten sie in die Menge, als sie Gott, ohne Christus, auf ewig ohne Hoff-
fragten: »Wo ist dein Vater?« »Jesus ant- nung!
wortete«, indem er ihnen sagte, daß sie 8,22 »Die Juden« verstanden nicht,
weder wirklich erkannten, was er tat daß der Herr davon sprach, in den Him-
noch den »Vater« kannten. Natürlich mel zurückzukehren. Was meinte er
würden sie energisch eine solche Unwis- damit »hinzugehen«? Meinte er damit,
senheit von Gott zurückgewiesen haben. daß er ihren Mordplänen entgehen woll-
Aber trotz aller Proteste war diese Aus- te, indem er Selbstmord beging? Es war
sage Jesu richtig. Wenn sie den Herrn seltsam, daß sie an so etwas denken
Jesus angenommen hätten, dann würden konnten. Wenn er sich hätte »selbst tö-
sie »auch« seinen »Vater gekannt haben«. ten« wollen, hätte sie doch nichts davon
Denn außer durch Jesus Christus kann abhalten können, sich ebenfalls umzu-
niemand den Vater kennenlernen. Durch bringen und ihm in den Tod zu folgen.
die Ablehnung des Erlösers wurde es Doch wir haben hier nur einen weiteren
ihnen unmöglich, ehrlich zu behaupten, Beweis für die Finsternis ihres Unglau-
daß sie Gott kennen und lieben würden. bens. Es scheint erstaunlich, daß sie so
8,20 Hier erfahren wir, daß der Schau- dumm und unverständig gegenüber den
platz des vorangegangen Gespräches die Worten des Erlösers waren!
»Schatzkammer . . . im Tempel« war. 8,23 Jesus dachte zweifellos an diese
Und wieder wird unser Herr von seinem dumme Erwähnung des Selbstmordes,
Vater bewahrt, so daß »niemand . . . als er ihnen sagte, daß sie »von dem, was
Hand an ihn« legen konnte, um ihn fest- unten ist« seien. Das bedeutete, daß sie
zunehmen oder zu töten. »Seine Stunde nur einen sehr kleinen Gesichtskreis hat-
war noch nicht gekommen.« Die Worte ten. Sie konnten sich nie über die wörtli-
»seine Stunde« beziehen sich auf die che Bedeutung des Zeitlichen und des
Kreuzigung auf Golgatha, wo Jesus für sinnlich Wahrnehmbaren erheben. Sie
die Sünden der Welt sterben sollte. hatten kein geistliches Verständnis. Im
Gegensatz dazu war Christus »von dem,
H. Die Juden diskutieren mit Jesus was oben ist«. Seine Gedanken, Worte
(8,21-59) und Taten waren vom Himmel inspiriert.
8,21 Und wieder zeigte Jesus, daß er Sie dachten nur an die Dinge »dieser
wußte, was ihm bevorstand. Er sagte sei- Welt«, während sein ganzes Leben zeig-
nen Kritikern voraus, daß er weggehen te, daß er aus einer reineren Welt als der
würde – womit er nicht nur auf seinen unseren stammen mußte.

402
Johannes 8

8,24 Der Herr benutzte oft die Wie- 8,27 Die Juden »erkannten« an die-
derholung, um eine Aussage zu betonen. sem Punkt nicht, »daß er von« Gott dem
Hier warnt er die Juden nochmals ernst- »Vater zu ihnen sprach«. Es scheint, daß
haft davor, in ihren Sünden zu sterben. ihr Verstand sich immer mehr vernebel-
Wenn sie sich weiter weigern würden, an te. Wenn der Herr Jesus vorher bean-
ihn zu glauben, gab es für sie keine Alter- sprucht hatte, daß er der Sohn Gottes sei,
native. Niemand kann ohne Jesus die dann hatten sie wenigstens noch verstan-
Vergebung der Sünden erlangen, und den, daß er behauptete, Gott gleich zu
diejenigen, die sterben, ohne daß ihnen sein. Doch das war nun nicht mehr der
ihre Sünden vergeben sind, können nie- Fall.
mals in den Himmel kommen. Das Wort 8,28 Wieder sagte Jesus voraus, was
»es« findet sich im Originaltext nicht, geschehen würde. Als erstes würden sie
auch wenn es impliziert sein mag. Wört- »den Sohn des Menschen« erhöhen. Das
lich heißt es hier also: »Wenn ihr nicht bezieht sich auf Jesu Tod durch Kreuzi-
glauben werdet, daß ich bin, so werdet gung. Danach würden sie »erkennen«,
ihr in euren Sünden sterben.« Wir sehen daß er der Messias ist. Sie würden es
in dem »ich bin« eine weitere Aussage, durch das Erdbeben und die Finsternis,
daß der Herr Jesus Gott gleich ist. doch am allermeisten durch seine leibli-
8,25 Die Juden waren von den Lehren che Auferstehung von den Toten erken-
des Herrn Jesus völlig verwirrt. Sie frag- nen. Man beachte wieder die Worte:
ten ihn nun ausdrücklich, wer er sei. »Dann werdet ihr erkennen, daß ich bin.«
Vielleicht verbarg sich dahinter Sarkas- Hier fehlt im Original wieder das Wort
mus, etwa in dem Sinne: »Wer glaubst du »es«. Die tiefere Bedeutung davon ist:
eigentlich, wer du bist, daß du in dieser »Dann werdet ihr erkennen, daß ich Gott
Weise zu uns sprichst?« Oder vielleicht bin.« Dann werden sie auch verstehen,
wollten sie wirklich hören, was er über daß er nichts von sich selbst tat, d. h. aus
sich selbst zu sagen hatte? Seine Antwort eigener Vollmacht. Statt dessen kam er
sollte man wohl beachten: »Durchaus als Abhängiger in die Welt, der nur das
das, was ich auch zu euch rede.« Er war redete, was »der Vater mich gelehrt hat.«
der verheißene Messias. Die Juden hatten 8,29.30 Das Verhältnis des Herrn zu
ihn das schon oft sagen hören, doch ihre Gott dem Vater war sehr eng. Jede dieser
verstockten Herzen weigerten sich, sich Aussagen enthält den Anspruch, daß
dieser Wahrheit zu beugen. Doch seine Jesus Gott gleich ist. Während seines
Antwort kann auch noch eine andere ganzen irdischen Dienstes war der Vater
Bedeutung haben – der Herr Jesus war mit ihm. Niemals wurde er »allein gelas-
genau das, was er predigte. Er sagte nicht sen«. Zu allen Zeiten handelte er so, wie
das eine und handelte dann anders. Er es Gott gefiel. Diese Worte konnten nur
war die lebendige Verkörperung dessen, von einem sündlosen Wesen gesprochen
was er lehrte. Sein Leben stimmte mit sei- werden. Niemand, der von menschli-
ner Predigt überein. chen Eltern geboren worden ist, kann
8,26 Die Bedeutung dieses Verses ist jemals diese Worte sprechen ohne zu
nicht eindeutig. Es scheint so zu sein, lügen: »Ich tue allezeit das ihm Wohlge-
daß der Herr sagen wollte, daß er über fällige.« Viel zu oft tun wir, was uns
diese ungläubigen Juden noch viel »zu selbst wohlgefällt. Manchmal wollen wir
reden und zu richten« hätte. Er konnte auch unseren Mitmenschen gefallen.
die bösen Gedanken und Triebe ihrer Nur der Herr Jesus hatte einzig und
Herzen bloßstellen. Dennoch war er ge- allein das Verlangen, das Gott Wohlgefäl-
horsam und redete nur das, was ihm lige zu tun.
sein Vater zu reden auftrug. Und weil »Als er dies« wunderbare Wort rede-
der Vater »wahrhaftig« ist, ist er es wert, te, sah Jesus, daß viele ihren Glauben an
daß man ihn hört und ihm Glauben ihn bekannten. Zweifellos waren etliche
schenkt. davon echte Gläubige. Andere könnten

403
Johannes 8

sich nur dazu bequemt haben, dem 8,35 Als nächstes verglich Jesus die
Herrn einen Lippendienst zu erweisen. Stellung eines Sklaven und eines Sohnes
8,31 Nun unterscheidet Jesus zwi- in einem Haus. Der Sklave hatte nicht die
schen denen, die Jünger sind, und denen, Gewißheit, dort für immer leben zu kön-
die »wahrhaft« Jünger sind. Ein Jünger nen, während der Sohn in dem Haus zu
ist jeder, der behauptet, von jemandem Hause war. Ganz gleich, ob das Wort
zu lernen, doch ein »wahrhaftiger« Jün- »Sohn« sich hier auf den Sohn Gottes
ger ist einer, der sich ausdrücklich dem oder auf diejenigen bezieht, die Kinder
Herrn Jesus Christus hingegeben hat. Gottes durch den Glauben an Christus
Wer echten Glauben hat, auf den trifft werden, es ist eindeutig, daß der Herr
diese Aussage zu: Er »bleibt« in seinem Jesus diesen Juden sagen wollte, daß sie
»Wort«. Das bedeutet, daß er bei Jesu nicht Söhne, sondern Sklaven seien, die
Lehre bleibt. Er wendet sich nicht davon jederzeit ihr Wohnrecht verlieren kön-
ab. Echter Glaube ist immer von Dauer. nen.
Ein Jünger wird nicht gerettet, weil er in 8,36 Hier aber ist eindeutig, daß sich
seinem Wort bleibt, sondern er bleibt in das Wort »Sohn« auf Christus selbst
seinem Wort, weil er gerettet ist. bezieht. Wer von ihm befreit ist, der ist
8,32 Allen echten Jüngern wird ver- »wirklich frei«. Das bedeutet, daß derje-
heißen, daß sie »die Wahrheit erkennen« nige, der zum Erlöser kommt und das
werden und die Wahrheit sie »frei ewige Leben von ihm erhält, von der
machen« wird. Die Juden kannten die Sklaverei der Sünde, des Gesetzes, des
Wahrheit nicht, sie waren auf schreckli- Aberglaubens und der Dämonen befreit
che Weise gebunden. Sie waren durch wird.
Unwissenheit, Irrtümer, Sünde, Gesetz 8,37 Der Herr erkannte an, daß diese
und Vorurteil gefesselt. Diejenigen, die Juden, soweit es ihre menschliche
den Herrn Jesus wirklich kennen, sind Abstammung betraf, »Abrahams Nach-
von der Sünde befreit, sie wandeln im kommen« (wörtlich »Abrahams Same«)
Licht und werden vom Heiligen Geist waren. Doch waren sie offensichtlich
Gottes geleitet. geistlich gesehen keine Nachfahren Abra-
8,33 Einige der Juden, die dabeistan- hams. Sie waren nicht so gottesfürchtig
den, hörten den Herrn Jesus von Befrei- wie Abraham. Sie wollten den Herrn
ung sprechen. Sie lehnten diese Befrei- Jesus »töten«, weil seine Lehre bei ihnen
ung sofort ab. Sie rühmten sich ihrer »keinen Raum« fand. Das bedeutet, daß
Abstammung von Abraham und be- die Worte Christi auf ihr Leben keinerlei
haupteten, daß sie nie »jemandes Skla- Auswirkungen hatten. Sie widerstanden
ven gewesen« seien. Doch das stimmte seinen Lehren und wollten ihm nicht
gar nicht. Israel war von Ägypten, Assy- nachfolgen.
rien, Babylon, Persien, Griechenland und 8,38 Alles, was Jesus sie lehrte, lehrte
nun Rom besetzt gewesen. Und außer- er im Auftrag seines Vaters. Er und sein
dem waren sie, während sie dies spra- Vater waren so sehr eins, daß die Worte,
chen, Sklaven der Sünde und Sklaven die Jesus sprach, gleichzeitig Worte Gott-
Satans. es des Vaters waren. Der Herr Jesus ver-
8,34 Es wird hier deutlich, daß Jesus trat seinen Vater in vollkommener Weise,
hier von der Sklaverei der Sünde redet. als er auf der Erde lebte. Im Gegensatz
Er erinnert seine jüdischen Zuhörer dar- dazu taten die Juden, was sie von ihrem
an, daß »jeder, der die Sünde tut, . . . der Vater gelernt hatten. Der Herr Jesus
Sünde Sklave« ist. Diese Juden gaben meinte damit nicht ihre leiblichen Vor-
vor, sehr fromm zu sein, doch in Wahr- fahren, sondern den Teufel.
heit waren sie unehrlich, unfromm und 8,39 Und wieder behaupteten die
bald würden sie sogar zu Mörder wer- Juden, mit Abraham verwandt zu sein.
den – denn schon jetzt planten sie die Sie waren stolz auf die Tatsache, daß
Ermordung Jesu. Abraham ihr »Vater« sei. Doch der Herr

404
Johannes 8

Jesus betonte, daß sie zwar Nachkom- wohnte lange Zeit, bevor er auf die Erde
men (Same) Abrahams seien, nicht kam, beim Vater im Himmel. Doch der
jedoch seine Kinder. Normalerweise Vater sandte ihn in die Welt, um sie zu
sehen Kinder ihren Eltern ähnlich, sie erlösen, und so kam er als gehorsamer
handeln und reden wie ihre Eltern. Das Mensch.
galt jedoch nicht für diese Juden. Ihr 8,43 Hier wird zwischen Wort und
Leben war das genaue Gegenteil von Sprache unterschieden. Christi Wort sind
dem Abrahams. Obwohl sie dem Fleisch seine Lehren. Seine Sprache sind die
nach Nachkommen Abrahams waren, Worte, in denen er seine Lehren aus-
waren sie in sittlicher Hinsicht Kinder drückte. Sie konnten noch nicht einmal
des Teufels. seine Sprache verstehen. Wenn er von
8,40 Der Herr fuhr fort, indem er Brot sprach, dachten sie an irdisches
ihnen ein sehr deutliches Beispiel des Brot. Wenn er von Wasser sprach, kamen
Unterschiedes zwischen ihnen und sie nicht auf die Idee, an geistliches Was-
Abraham gab. Jesus war in die Welt ser zu denken. Und warum konnten sie
gekommen und »redete . . . die Wahr- seine Sprache nicht verstehen? Weil sie
heit« zu ihnen. Sie nahmen daran Anstoß nicht gewillt waren, seine Lehre anzu-
und stolperten über seine Lehren, des- nehmen.
halb versuchten sie, ihn »zu töten«. »Das 8,44 Nun redet der Herr Jesus ganz
hat Abraham nicht getan.« Er war auf der offen mit ihnen und sagt ihnen, daß »der
Seite der Wahrheit und der Gerechtig- Teufel« ihr Vater ist. Das bedeutete nicht,
keit. daß sie vom Teufel gezeugt sind, wie die
8,41 Es war eindeutig, wer ihr Vater Gläubigen von Gott gezeugt sind. Statt
war, weil sie genau wie er handelten. Sie dessen ist gemeint, wie Augustinus es
taten »die Werke« ihres »Vaters«, d. h. ausdrückte, daß sie Kinder des Teufels
des Teufels. Es könnte wohl sein, daß die »durch Nachahmung« waren. Sie zeigten
Juden Jesus hier beschuldigen, »durch ihre Beziehung zum Teufel dadurch, daß
Hurerei« geboren worden zu sein. Doch sie seinen Lebensstil angenommen hat-
viele Ausleger sehen darin einen Hin- ten. Der Satz: »Die Begierden eures
weis auf Götzendienst. Die Juden woll- Vaters wollt ihr tun« drückt das Verlan-
ten sagen, daß sie nie geistliche Hurerei gen ihrer Herzen aus.
betrieben hätten. Sie seien immer Gott Der Teufel »war ein Menschenmör-
treu gewesen. Nur ihn wollten sie als der von Anfang an«. Er brachte Adam
ihren Vater anerkennen. und dem gesamten menschlichen
8,42 Der Herr zeigte, daß ihr Geschlecht den Tod. Er war nicht nur ein
Anspruch falsch war, indem er sie daran »Menschenmörder«, sondern auch ein
erinnerte, daß sie, wenn sie Gott lieben »Lügner«. Er »stand nicht in der Wahr-
würden, auch ihn lieben müßten, den heit, weil keine Wahrheit in ihm ist«.
Gott »gesandt« hatte. Es ist töricht, wenn Wenn er log, dann sprach er nur »aus sei-
jemand behauptet, Gott zu lieben, und nem Eigenen«. Lügen gehörten zu sei-
gleichzeitig den Herrn Jesus Christus nem Wesen. »Er ist ein Lügner und der
haßt. Jesus sagte, er sei »von Gott ausge- Vater derselben.« Die Juden ahmten
gangen«. Das bedeutete, daß er der ewig Satan auf diese beiden Weisen nach. Sie
eingeborene Sohn Gottes war. Es gab kei- waren Menschenmörder, weil sie den
nen Zeitpunkt, an dem er zum Sohn Sohn Gottes umbringen wollten. Und sie
Gottes gemacht worden wäre, sondern waren Lügner, weil sie behaupteten, daß
diese Beziehung zwischen dem Sohn Gott ihr Vater sei. Sie gaben vor, gottes-
und dem Vater bestand von aller Ewig- fürchtige, geistliche Männer zu sein,
keit her. Er erinnerte sie auch daran, daß doch ihr Leben war böse.
er »von Gott . . . gekommen« sei. Offen- 8,45 Wer sich selbst der Lüge hingibt,
sichtlich sagte er damit aus, daß er schon scheint die Fähigkeit zu verlieren, die
vor seiner Geburt existiert habe. Er Wahrheit zu erkennen. Hier standen die-

405
Johannes 8

se Männer vor Jesus und er hatte immer 8,50 Sie hätten wissen sollen, daß er
die Wahrheit gesagt. Und doch wollten zu keiner Zeit seine eigene »Ehre«
sie ihm nicht glauben. Das zeigte, daß ihr gesucht hat. Alle seine Handlungen ziel-
Herz böse war. Lenski drückt das sehr ten darauf ab, seinen Vater zu ehren.
gut aus: Auch wenn er ihnen vorwarf, daß sie
Wenn der verdorbene Mensch der Wahr- ihm seine Ehre nehmen wollten, wollte
heit begegnet, dann sucht er nur nach Ausre- er doch damit nicht seine eigene Ehre
den. Wenn ihm etwas begegnet, das von die- sichern. Dann fügte der Herr noch hinzu:
ser Wahrheit abweicht, dann sieht und sucht »Es ist einer, der sie sucht und der rich-
er nach Gründen, diese Abweichung anzu- tet.« Das Wort »einer« bezieht sich natür-
29)
nehmen. lich auf Gott. Gott der Vater wollte seinen
8,46 Nur Christus, der sündlose Sohn Sohn geehrt sehen, und würde alle rich-
Gottes, konnte jemals solche Worte ten, die ihm diese Ehre verweigerten.
äußern, ohne zu lügen. Es gab auf der 8,51 Und wieder haben wir hier einen
ganzen Welt niemanden, der ihn einer der majestätischen Aussprüche des
einzigen Sünde hätte beschuldigen kön- Herrn Jesus, Worte, wie sie nur Gott
nen. Sein Wesen war vollkommen. Alle selbst äußern konnte. Er leitete seine
seine Taten waren ebenso vollkommen. Aussage mit der bekannten Wendung
Er sprach nur die Wahrheit, und doch ein, die die Aussage nochmals unterstrei-
wollten sie nicht an ihn glauben. chen sollte: »Wahrlich, wahrlich, ich sage
8,47 Wenn man Gott wirklich liebt, so euch.« Jesus verheißt hier, daß jeder, der
wird man auf »Gottes Worte« hören und sein »Wort bewahren wird, . . . den Tod . .
ihnen gehorchen. Die Juden zeigten . ewiglich . . . nicht sehen« wird. Das
durch ihre Ablehnung der Botschaft Jesu, kann sich nicht auf den leiblichen Tod
daß sie nicht wirklich zu Gott gehörten. beziehen, weil jeden Tag viele Gläubige
Aus Vers 47 geht hervor, daß der Herr sterben. Es geht hier um den geistlichen
Jesus beanspruchte, daß seine Worte Tod. Der Herr wollte damit sagen, daß
Gottes Wort waren. Man konnte ihn ein- diejenigen, die an ihn glauben, vom ewi-
fach nicht mißverstehen. gen Tod erlöst sind und niemals die Qua-
8,48 Und wieder flüchteten sich die len der Hölle erleiden müssen.
Juden in Beschimpfungen, weil sie nichts 8,52 »Die Juden« waren nun über-
anderes mehr antworten konnten. Indem zeugter denn je, daß Jesus verrückt sei.
sie ihn einen »Samariter« schimpften, Sie erinnerten ihn daran, daß sowohl
versuchten sie in sinnloser Weise, ihm »Abraham« als auch »die Propheten . . .
einen rassischen Makel anzuhängen. Es gestorben« sind. Und doch hatte er
lief darauf hinaus, ihn anzuklagen, kein gesagt, daß jeder, der sein »Wort bewah-
reiner Jude zu sein, und außerdem ein ren wird, . . . den Tod nicht schmecken
Feind Israels. Außerdem klagten sie ihn . . . wird . . . in Ewigkeit«. Wie können
an, »einen Dämon« zu haben. Damit diese beiden Tatsachen miteinander in
meinten sie zweifellos, daß er wahnsin- Einklang gebracht werden?
nig sei. Sie waren der Meinung, daß nur 8,53 Sie erkannten, daß der Herr für
ein Verrückter jemals solche Ansprüche sich in Anspruch nahm, »größer« zu sein
wie Jesus erheben konnte. als »Abraham . . . und die Propheten«.
8,49 Man beachte die ruhige Art und Abraham hat nie jemanden vom Tod
Weise, in der Jesus seinen Feinden ant- errettet, auch sich selbst konnte er davor
wortet. Seine Lehren waren nicht dämo- nicht bewahren. Auch die Propheten
nisch, sondern kamen von einem, der konnten das nicht. Und doch stand hier
Gott den Vater ehren wollte. Deshalb der Eine vor ihnen und behauptete, in
wollten sie ihm seine Ehre nehmen, nicht der Lage zu sein, seine Mitmenschen
weil er verrückt gewesen wäre, sondern vom Tod befreien zu können. Er mußte
weil er ganz mit den Interessen seines sich für größer als die Glaubensväter hal-
Vaters im Himmel beschäftigt war. ten.

406
Johannes 8 und 9

8,54 Die Juden waren der Meinung, nicht fünfzig Jahre alt« sei. (Er war zu
daß Jesus versuchte, die Aufmerksam- dieser Zeit sogar erst dreiunddreißig Jah-
keit der Menschen auf sich zu lenken. re alt). Wie konnte er »Abraham gese-
Deshalb erinnerte sie Jesus daran, daß hen« haben?
dies nicht der Fall war. Der Vater selbst 8,58 Hier beansprucht Jesus wieder,
ehrte ihn, der Gott, den sie vorgaben zu Gott zu sein. Er sagte nicht »Ehe Abra-
lieben und dem sie angeblich dienten. ham war, war ich.« Das könnte bedeuten,
8,55 Die Juden behaupteten, daß Gott daß er einfach früher »erschaffen« wurde
ihr Vater sei, doch in Wirklichkeit kann- als Abraham. Statt dessen benutzt Jesus
ten sie ihn nicht. Doch sprachen sie hier hier den Namen Gottes: »Ich bin.« Der
mit dem Einen, der den Vater wirklich Herr Jesus wohnte vor aller Ewigkeit bei
kannte, der ihm sogar gleich war. Sie Gott. Es gab keinen Zeitpunkt, zu dem er
wollten, daß Jesus diesen Anspruch geschaffen wurde, und keine Zeit, zu der
abstreiten sollte, doch er sagte, daß er er nicht existiert hat. Deshalb sagte er:
selbst »ein Lügner« wäre, wenn er es täte. »Ehe Abraham war, bin ich.«
Er kannte Gott den Vater und gehorchte 8,59 Sofort wollten die Juden ihn
»seinem Wort«. töten, »Jesus aber verbarg sich und ging
8,56 Weil die Juden immer wieder aus dem Tempel hinaus«. Die Juden ver-
Abraham in die Diskussion brachten, standen genau, was Jesus meinte, als er
erinnerte der Herr sie daran, daß »Abra- sagte: »Ehe Abraham war, bin ich.« Er
ham« auf den »Tag« des Messias gewar- beanspruchte, Jahwe selbst zu sein. Sie
tet hatte, daß er ihn sogar im Glauben wollten ihn steinigen, weil diese Aussage
gesehen hatte und sich darüber gefreut für sie eine Gotteslästerung war. Sie woll-
hatte. Der Herr Jesus sagte, daß er selbst ten nicht die Tatsache akzeptieren, daß
der sei, auf den Abraham gewartet habe. der Messias unter ihnen lebte. Sie woll-
Der Glaube Abrahams ruhte auf dem ten nicht, daß er über sie herrschen soll-
Glauben an das Kommen Christi. te!
Wann sah Abraham den Tag Christi?
Vielleicht, als er Isaak auf den Berg Mori- I. Das sechste Zeichen: Die Heilung
ja mitnahm, um ihn dort als Brandopfer des Blindgeborenen (9,1-12)
darzubringen. Das ganze Drama des 9,1 Das nächste Ereignis könnte stattge-
Todes und der Auferstehung des Messias funden haben, als Jesus den Tempelbe-
wurde hier bildhaft vorweggenommen, reich verließ. Es könnte aber auch einige
und es ist möglich, daß Abraham dies Zeit nach den Ereignissen in Kapitel 8
durch den Glauben verstand. So erhob stattgefunden haben. Von dem Mann
Jesus den Anspruch, die Erfüllung aller wird berichtet, daß er »blind von
Prophezeiungen des AT über den kom- Geburt« war, um die Hoffnungslosigkeit
menden Messias zu sein. seines Zustandes zu zeigen und zu
8,57 Und wieder zeigten »die Juden« unterstreichen, welch ein Wunder seine
daß sie göttliche Wahrheiten nicht verste- Heilung war, die ihm das volle Augen-
hen konnten. Jesus hatte gesagt: »Abra- licht wiedergab.
ham freute sich, daß er meinen Tag sehen 9,2 Die »Jünger« stellten nun eine selt-
sollte«, doch sie antworteten ihm, als ob same Frage. Sie fragten sich, ob die Blind-
er gesagt hätte, daß er Abraham gesehen heit dieses Mannes durch seine eigene
hätte. Das ist ein großer Unterschied. Der Sünde oder die seiner Eltern verursacht
Herr Jesus beanspruchte für sich eine sei. Wie konnte die Blindheit durch seine
höhere Stellung als Abraham. Er war eigene Sünde verursacht sein, wo er doch
Gegenstand der Gedanken und Hoff- blind geboren war? Glaubten sie etwa an
nungen Abrahams. Abraham erwartete eine Art Wiedergeburt, daß die Seele
im Glauben den Tag Christi. eines Toten in einem neuen Körper auf
Das konnten die Juden nicht verste- die Erde zurückkehren könne? Oder
hen. Sie argumentierten, daß Jesus »noch wollten sie damit sagen, daß er wegen

407
Johannes 9

Sünden blind geboren wurde, von denen sprach der Herr hier insbesondere von
Gott wußte, daß er sie später tun würde? seinem Dienst auf der Erde.
Jedenfalls ist eindeutig, daß sie der Mei- 9,6 Uns wird nicht gesagt, warum
nung waren, daß seine Blindheit direkt Jesus Speichel und Erde mischte und
mit Sünde in seiner Familie im Zusam- »den Teig auf« die Augen des Blinden
menhang stand. Wir wissen, daß das »strich«. Einige Ausleger sind der An-
nicht notwendigerweise der Fall sein sicht, daß der Mann keine Augäpfel hatte
muß. Obwohl alle Krankheit, alles Leiden und daß der Herr Jesus sie einfach für ihn
und der Tod letztlich als Folge der Sünde erschuf. Andere sind der Ansicht, daß der
in die Welt kam, ist es nicht so, daß ein Herr Jesus normalerweise Methoden ver-
Mensch wegen bestimmter Sünden, die wendete, die von der Welt verachtet wer-
er begangen hat, leidet. den. Er benutzte einfache und unbedeu-
9,3 Jesus meinte nicht, daß der Mann tende Mittel, um zu seinem Ziel zu gelan-
nicht gesündigt habe, oder daß seine gen. Auch heute noch verwendet Gott
Eltern sündlos gewesen seien. Er meinte, Menschen, die aus dem Staub der Erde
daß die Blindheit keine direkte Folge der gemacht sind, um den geistlich Blinden
Sünde in ihrem Leben war. Gott hatte es ihr Augenlicht wiederzugeben.
zugelassen, daß dieser Mensch blind 9,7 Der Herr sprach den Glauben des
geboren würde, damit er ein Werkzeug Mannes an, indem er ihm befahl, hinzu-
werden konnte, um die mächtigen »Wer- gehen und sich »in dem Teich Siloah« zu
ke Gottes« an ihm zu zeigen. Schon ehe waschen. Obwohl er blind war, kannte er
dieser Mann geboren wurde, wußte der doch wahrscheinlich den Ort, an dem der
Herr Jesus, daß er diesen blinden Augen Teich war und konnte dorthin gehen. Die
das Augenlicht wiederschenken würde. Schrift hat hier festgehalten, daß das Wort
9,4 Der Herr wußte, daß er drei Jahre Siloah »Gesandter« bedeutet. Dies ist viel-
des Dienstes in der Öffentlichkeit vor leicht ein Hinweis auf den Messias (den
sich hatte, ehe man ihn kreuzigen würde. Gesandten Gottes). Der, der dieses Wun-
Jeder Augenblick mußte mit Arbeit für der vollbrachte, war derjenige, der vom
seinen Vater ausgefüllt werden. Hier war Vater in die Welt gesandt worden war.
ein Mann, der von Geburt an blind war. Der Blinde »ging . . . hin und wusch sich«
Der Herr Jesus mußte ein Heilungswun- in dem Teich und erhielt sein Augenlicht.
der an ihm vollbringen, auch wenn es Hier geht es nicht darum, daß sein
Sabbat war. Die Zeit seines Dienstes wür- Augenlicht wiederhergestellt worden
de schon bald vorbei sein und er wäre wäre, denn er hatte ja nie sehen können.
nicht mehr auf der Erde. Dies ist eine ern- Das Wunder fand in einem Augenblick
ste Mahnung an alle Christen, deren Tage statt, und der Mann war sofort in der
so einfach dahinfliegen, daß »die Nacht Lage, seine Augen zu gebrauchen. Welch
. . . kommt«, wenn unser Dienst auf der eine wunderbare Überraschung muß es
Erde für immer zu Ende sein wird. Des- für ihn gewesen sein, zum ersten Mal die
halb sollten wir die Zeit, die uns gegeben Welt zu sehen, in der er lebte!
ist, nutzen, um dem Herrn richtig zu 9,8.9 »Die Nachbarn« des Mannes
dienen. waren erstaunt. Sie konnten kaum glau-
9,5 Als Jesus als Mensch »in der Welt« ben, daß dieser Mann derselbe war, der
war, war er auf eine ganz besondere und so lange »saß und bettelte«. (So sollte es
direkte Weise »das Licht der Welt«. Als er auch sein, wenn jemand zum Glauben
umherging, um Wunder zu tun und die gekommen ist. Unsere Nachbarn sollten
Menschen zu lehren, hatten sie »das sehen können, daß etwas anders gewor-
Licht der Welt« vor Augen. Der Herr den ist.) »Einige« waren der Meinung,
Jesus ist aber noch immer das Licht der daß er derselbe Mann sei. »Andere«
Welt, und allen, die zu ihm kommen, gilt waren sich nicht so sicher und meinten,
die Verheißung, daß sie nicht in der Fin- daß er ihm nur ähnlich sei. Doch der
sternis wandeln brauchen. Dennoch Mann selbst ließ keine Zweifel darüber

408
Johannes 9

aufkommen, indem er ihnen sagte, daß 9,16 Nun entstand ein weiterer
er der Blindgeborene sei. »Zwiespalt« darüber, wer Jesus war.
9,10 Wann immer Jesus ein Wunder »Einige von den Pharisäern« verkünde-
tat, provozierte er in den Herzen der ten stolz, daß Jesus »nicht von Gott« sein
Menschen damit alle möglichen Arten könne, weil er den Sabbat nicht halte.
von Fragen. Oft gaben diese Fragen den Andere argumentierten, daß ein sündi-
Gläubigen die Möglichkeit, für den ger Mensch kein solches Wunder wirken
Herrn Zeugnis zu geben. Hier fragten die könne. Jesus hat oft »Zwiespalt« unter
Leute den Mann, wie das Wunder ge- den Menschen verursacht. Die Menschen
schehen sei. werden gezwungen, sich für eine Seite
9,11 Sein Zeugnis war einfach, doch zu entscheiden und entweder für oder
überzeugend. Er erzählte alle Tatsachen, gegen ihn zu sein.
die zu seiner Heilung geführt hatten, 9,17 Die Pharisäer fragten nun »den
und gab dem die Ehre, der das Wunder Blinden«, was er von Jesus halte. Bis jetzt
vollbracht hatte. Zu dieser Zeit hatte der hatte er noch nicht erkannt, daß Jesus
Mann noch nicht erkannt, wer Jesus war. Gott ist. Doch sein Glaube war schon
Er nannte ihn einfach: »Der Mensch, der soweit gewachsen, als er die Meinung
Jesus heißt.« Doch später verstand der vertrat, daß Jesus »ein Prophet« sei. Er
Mann mehr und erkannte, wer Jesus glaubte, daß der, der ihm das Augenlicht
wirklich ist. geschenkt hatte, von Gott gesandt war
9,12 Wenn wir für unseren Herrn und eine göttliche Botschaft zu verkün-
Jesus Christus Zeugnis ablegen, dann den hatte.
führt das dazu, daß andere auch von 9,18.19 Viele der Juden wollten noch
Herzen wünschen, ihn kennenzulernen. nicht glauben, daß überhaupt ein Wun-
der geschehen war. Also riefen sie »die
J. Wachsender Widerstand der Juden Eltern« des Mannes, um zu sehen, was
(9,13-41) sie sagen würden.
9,13 Offensichtlich in erster Begeisterung Wer konnte besser als die Eltern wis-
für das Wunder brachten einige der sen, ob ihr Kind ohne Augenlicht gebo-
Juden »ihn, den einst Blinden, zu den ren worden war? Sicherlich war ihr
Pharisäern«. Sie erkannten vielleicht Zeugnis endgültig. Deshalb fragten die
nicht, wie die religiösen Führer auf die Pharisäer, ob er ihr »Sohn« sei und wie er
Tatsache reagieren würden, daß dieser sein Augenlicht erhalten habe.
Mensch geheilt worden war. 9,20 Das Zeugnis der Eltern war ein-
9,14 Jesus hatte das Wunder an einem deutig. »Dieser« war ihr Sohn, und durch
»Sabbat« vollbracht. Die kritischen Pha- viele Jahre des Mitleides wußten sie, daß
risäer erkannten nicht, daß Gott niemals er immer »blind« gewesen war.
wollte, daß das Sabbatgebot jemanden Darüber hinaus wollten sie keine
von einer barmherzigen oder mildtäti- Aussage machen. Sie wußten nicht, wie
gen Handlung abbringen sollte. er sein Augenlicht zurückerhalten hatte,
9,15 Der Mann erhielt nun eine weite- noch »wer seine Augen aufgetan hat«.
re Gelegenheit zum Zeugnis für Jesus. Sie verwiesen die Pharisäer an ihren
Als »ihn nun die Pharisäer wieder frag- Sohn selbst. Er konnte »selbst über sich
ten, wie er sehend geworden sei«, hörten reden«.
sie nochmals die gleiche einfache Ge- 9,22.23 Vers 22 erklärt die Furcht der
schichte. Der Mann nannte Jesus hier »Eltern«. Sie hatten gehört, daß jeder, der
nicht mit Namen, wahrscheinlich nicht, sich zu Jesus als Messias bekennen wür-
weil er Angst gehabt hätte, sondern weil de, »aus der Synagoge ausgeschlossen
er wußte, daß jeder wissen mußte, wer werden sollte«. Diese Exkommunikation
ein solches Wunder getan hatte. Zu die- war für einen Juden eine sehr ernsthafte
ser Zeit war Jesus in Jerusalem schon Angelegenheit. Sie waren nicht bereit,
wohlbekannt. diesen Preis zu zahlen. Es würde bedeu-

409
Johannes 9

ten, alle Mittel zum Lebensunterhalt und Den Pharisäer war es nicht gelungen,
alle Privilegien der jüdischen Religion zu eine schlechte Aussage über Jesus aus
verlieren. diesem Mann herauszuzwingen, und
Aus Angst vor den jüdischen Oberen deshalb fingen sie nun an, ihn zu be-
gaben die Eltern also das Zeugnis an schimpfen. Sie klagten ihn an, »sein Jün-
ihren Sohn weiter. ger« zu sein, als ob das das Schlimmste
9,24 »Gib Gott die Ehre!« kann zwei- auf der Welt sei! Sie bekannten sich dann
erlei Bedeutung haben. Erstens kann es dazu, Jünger Moses zu sein, als ob das
eine Art Schwur sein. Zweitens kann es das großartigste auf der Welt sei.
sein, daß die Pharisäer damit sagen woll- 9,29 Die Pharisäer sagten, »daß Gott
ten: »Nun sage uns aber die Wahrheit. zu Mose geredet hat«, doch sie redeten
›Wir wissen, daß dieser Mann ein Sünder von Jesus geringschätzig. Wenn sie den
ist.‹« Oder es könnte bedeuten, daß die Schriften des Mose geglaubt hätten, hät-
Pharisäer verlangten, daß Gott die Ehre ten sie Jesus als ihren Herrn und Erlöser
für das Wunder gegeben werden sollte, angenommen. Und wenn sie nur ein
und daß Jesus dafür nicht der Verdienst wenig nachgedacht hätten, hätten sie
angerechnet werden sollte, weil die Pha- erkannt, daß Mose nie einem Blindgebo-
risäer meinten, er selbst sei auch ein sün- renen das Augenlicht geschenkt hat. Ein
diger Mensch wie sie. größerer als Mose war in ihrer Mitte, und
9,25 Die Pharisäer versagten in jeder sie erkannten es nicht.
Hinsicht. Immer wenn sie versuchten, 9,30 Nun wurde der Sarkasmus des
den Herrn Jesus in ein schlechtes Licht zu Blindgeborenen beißend. Das war etwas,
bringen, war das Ergebnis, daß sie ihm was die Pharisäer nicht erwartet hatten.
mehr Ehre brachten. Das Zeugnis des Der Mann sagte praktisch zu ihnen: »Ihr
Mannes hier ist sehr schön. Er wußte von Männer seid Oberste in Israel. Ihr seid
Jesus nicht sehr viel, aber er wußte, daß die Lehrer des jüdischen Volkes. Und
er »blind« gewesen war und jetzt »se- doch ist hier ein Mann in eurer Mitte, der
hen« konnte. Das war ein Zeugnis, das die Macht hat, Blinden das Augenlicht zu
niemand anfechten konnte. geben, und ihr wißt nicht ›woher er ist‹.
So geht es auch denen, die wiederge- Ihr solltet euch schämen!«
boren werden. Die Welt mag die Wieder- 9,31 Der Mann wurde nun mutiger in
geburt anzweifeln, darüber witzeln und seinem Zeugnis. Sein Glaube wuchs. Er
spotten, doch niemand kann unser Zeug- erinnerte sie an ein Grundprinzip, näm-
nis angreifen, wenn wir sagen, daß wir lich »daß Gott Sünder nicht hört«. Gott
einst verloren waren und nun durch die schätzt keine Menschen, die böse sind,
Gnade Gottes gerettet sind. und er gibt ihnen sicherlich keine Macht,
9,26.27 »Wieder« fingen sie an, ihn solche Wundertaten zu vollführen. Auf
auszufragen. Sie wollten nochmal alles der anderen Seite empfangen »Gottes-
in allen Einzelheiten hören. Doch mittler- fürchtige« Gottes Zustimmung und kön-
weile war der Blindgeborene dieser Fra- nen sich des Wohlgefallens Gottes sicher
gerei ziemlich müde. Er erinnerte sie dar- sein.
an, daß er ihnen alle Tatsachen »gesagt« 9,32.33 Dieser Mann hatte erkannt,
hatte, und sie wohl nicht zugehört hät- daß er der erste in der menschlichen
ten. Warum wollten sie »es nochmals Geschichte war, der ein »Blindgebore-
hören«? Ob sie wohl »seine Jünger« wer- ner« war und das Augenlicht erhalten
den wollten? Das war offener Sarkas- hatte. Er konnte nicht verstehen, daß die
mus. Er wußte genau, daß sie Jesus haß- Pharisäer Zeugen eines solchen Wunders
ten und sie kein Verlangen danach hat- waren und den kritisierten, der es voll-
ten, ihm nachzufolgen. bracht hatte.
9,28 Es gibt das Sprichwort: »Wenn »Wenn« der Herr Jesus »nicht von
du keine Anklage hast, dann beschimpfe Gott wäre, so könnte er« nicht ein Wun-
den Kläger.« Genau das geschieht hier. der solchen Ausmaßes tun.

410
Johannes 9

9,34 Und wieder suchten die Pha- 9,38 Daraufhin glaubte der Mann
risäer in Beschimpfungen Zuflucht. Sie ganz schlicht an den Herrn Jesus, fiel nie-
wollten andeuten, daß die Blindheit des der und »betete ihn an« (LU 1912). Nun
Mannes direkte Folge seiner Sünden war sowohl seine Seele gerettet als auch
gewesen sei. Welches Recht hätte er sein Leib geheilt. Welch ein großartiger
denn, sie zu belehren? Die Wahrheit ist, Tag war das in seinem Leben! Er hatte
daß er jedes Recht dazu hatte, denn, wie sowohl das leibliche als auch das geistli-
Ryle gesagt hat: »Das Lehren des Heili- che Sehvermögen geschenkt bekommen.
gen Geistes findet sich viel öfter bei Men- Man beachte, daß der Blinde den
schen in bescheidener Stellung als bei Herrn nicht anbetete, bevor er nicht wuß-
Menschen von Rang und Namen.« Wenn te, daß Jesus der Sohn Gottes war. Da er
es hier heißt »sie warfen ihn hinaus«, ein intelligenter Jude war, hätte er nie
dann geht es wahrscheinlich um mehr einen gewöhnlichen Menschen angebe-
als nur darum, aus dem Tempel hinaus- tet. Doch sobald er erfahren hatte, daß
gewiesen zu werden. Es bedeutet viel- der, der ihn geheilt hatte, der Sohn Gott-
leicht, daß er von der jüdischen Religion es war, betete er ihn an – nicht für seine
exkommuniziert wurde. Und was war Taten, sondern dafür, was er war.
der Grund für diese Exkommunikation? 9,39 Auf den ersten Blick scheint die-
Einem Blindgeborenen wurde am Sabbat ser Vers Johannes 3,17 zu widersprechen,
das Augenlicht gegeben. Nur weil er wo es heißt: »Denn Gott hat seinen Sohn
demjenigen, der dieses Wunder an ihm nicht in die Welt gesandt, daß er die Welt
getan hatte, nichts Böses nachreden woll- richte . . .« Doch gibt es hier keinen wirk-
te, wurde er ausgestoßen. lichen Widerspruch. Der Zweck des
9,35 Jesus suchte nun nach dem Kommens Christi auf diese Erde war es,
Mann. Es ist, als ob Jesus damit sagen zu retten und nicht zu richten. Dennoch
wollte: »Wenn sie dich nicht wollen, ist das Gericht die unausweichliche Fol-
dann nehme ich dich auf.« Diejenigen, ge für alle, die ihn nicht annehmen.
die um Jesu willen ausgestoßen werden, Die Predigt des Evangeliums hat
verlieren nichts, sondern erlangen einen zweierlei Wirkung: Wer zugibt, ein
großen Segen dadurch, daß sie persön- »Nichtsehender« zu sein, erhält das Seh-
lich von Jesus willkommen geheißen und vermögen. Doch diejenigen, die meinen,
in seine Gemeinschaft aufgenommen zu den »Sehenden« zu gehören, und
werden. Man beachte, wie der Herr Jesus zwar ohne den Herrn Jesus zu haben,
den Mann zum persönlichen Glauben an deren Blindheit wird verschlimmert.
ihn als den Sohn Gottes führt! Er stellt 9,40 »Einige von den Pharisäern«
einfach die Frage: »Glaubst du an den erkannten, daß der Herr Jesus von ihnen
30)
Sohn Gottes?« (LU 1912) und ihrer Blindheit sprach. So kamen sie
9,36 Obwohl er sein leibliches Augen- zu ihm und fragten unverschämt, ob er
licht erhalten hatte, fehlte ihm noch das wohl damit andeuten wolle, daß auch sie
geistliche Sehvermögen. Er fragte den blind wären. Sie wollten auf ihre Frage
Herrn, »wer« der Sohn Gottes sei, damit natürlich eine negative Antwort haben.
er »an ihn glauben« könne. Als er das 9,41 Man könnte die Antwort des
Wort »Herr« verwendete, meinte er Herrn auch mit folgenden Worten
damit nicht, daß Jesus sein Herr sei, son- umschreiben: »Wenn ihr zugebt, daß ihr
dern gebrauchte das Wort als Anrede. blind und sündig seid, und daß ihr einen
9,37 Jesus stellte sich ihm nun als Retter nötig habt, dann können eure Sün-
Sohn Gottes vor. Nicht ein bloßer den vergeben werden und ihr wäret
Mensch hatte ihm sein Augenlicht wie- gerettet. Doch ihr bekennt, nichts nötig
dergegeben und das Unmögliche mög- zu haben. Ihr behauptet, gerecht zu sein
lich gemacht. Es war der Sohn Gottes, und keine Sünde zu haben. Deshalb gibt
der ihn gesehen hatte und nun mit ihm es für eure Sünden keine Vergebung.«
»redete«. Als Jesus sagte: ». . . so hättet ihr keine

411
Johannes 9 und 10

Sünde«, meinte er nicht damit, daß sie des Hauses Israel. Er war der wahre
absolut sündlos würden. Wenn sie aber »Hirte der Schafe«. Er kam »durch die
nur ihre Blindheit eingestanden hätten, Tür« herein, d. h. er kam als genaue
weil sie ihn nicht als Messias anerkann- Erfüllung der alttestamentlichen Prophe-
ten, dann wäre ihre Sünde wie nichts zeiungen über den Messias. Er war kein
gewesen, verglichen mit der großen Sün- selbsternannter Erlöser, sondern kam im
de, zu behaupten, sehen zu können, und vollkommenen Gehorsam gegenüber
ihn doch nicht als Sohn Gottes zu erken- dem Willen seines Vaters. Er erfüllte alle
nen. Bedingungen.
10,3 Es herrscht weitgehend Uneinig-
K. Jesus, die Tür für die Schafe keit darüber, wer in diesem Vers der
(10,1-10) »Türhüter« ist. Einige sind der Meinung,
1,10 Diese Verse sind mit den letzten Ver- daß dieser Ausdruck sich auf die Pro-
sen von Kapitel 9 eng verbunden. Dort pheten des AT bezieht, die das Kommen
hatte der Herr Jesus zu den Pharisäern Christi voraussagten. Andere sind der
gesprochen, die behaupteten, die recht- Meinung, daß er sich auf Johannes den
mäßigen Hirten des Volkes Israel zu sein. Täufer bezieht, weil er der Vorläufer des
Auf sie bezog sich der Herr hier insbe- wahren Hirten war. Wieder andere sind
sondere. Die Bedeutung seiner jetzt fol- sich sicher, daß der »Türhüter« in diesem
genden Worte zeigt sich in den einleiten- Vers der Heilige Geist ist, der die Tür für
den Worten: »Wahrlich, wahrlich, ich das Kommen des Herrn Jesus in Herz
sage euch.« und Leben der Gläubigen ist.
Ein »Hof der Schafe« war ein um- »Die Schafe hören« die »Stimme« des
zäuntes Stück Land, in dem die Schafe bei Hirten. Sie erkennen seine Stimme als die
Nacht gehütet wurden. Ein solcher »Hof« des echten Hirten. So, wie echte Schafe
war mit einem Zaun umgeben, der eine die Stimme ihres Hirten erkennen, so
Öffnung hatte, die als Tür benutzt wurde. erkannten auch die Juden den Messias,
Hier bezieht sich der Ausdruck »Hof der als er erschien. Im gesamten Evangelium
Schafe« auf das Volk Israel. hören wir den Hirten »seine eigenen
Viele kamen zum jüdischen Volk und Schafe mit Namen« rufen. Im ersten
behaupteten, ihre geistlichen Oberhäup- Kapitel beruft er einige Jünger, und sie
ter und Führer zu sein. Sie waren die alle hörten seine Stimme und antworte-
selbsternannten Messiasse des Volkes. ten. Er rief den Blindgeborenen in Kapi-
Doch sie kamen nicht so, wie es das AT tel 9. Der Herr Jesus ruft auch heute noch
das Kommen des Messias vorausgesagt diejenigen, die ihn als Erlöser annehmen
hatte. Sie »stiegen anderswo hinüber«. wollen, und der Ruf ist persönlich und
Sie stellten sich Israel auf eine Weise vor, individuell.
die sie sich selbst erwählt hatten. Diese Der Ausdruck »und führt sie heraus«
Männer waren keine echten Hirten, son- könnte sich auf die Tatsache beziehen,
dern Diebe und Räuber. Diebe sind sol- daß der Herr Jesus diejenigen, die auf
che, die fremdes Eigentum an sich brin- seine Stimme hören, aus dem »Hof der
gen, und Räuber gebrauchen dabei Schafe« Israel hinausführt. Sie waren ein-
zusätzlich noch Gewalt. Die Pharisäer gesperrt. Unter dem Gesetz gab es keine
waren Diebe und Räuber. Sie wollten Freiheit. Der Herr führt seine Schafe in
über die Juden herrschen, doch taten sie die Freiheit seiner Gnade. Im letzten
alles in ihrer Macht stehende, um sie dar- Kapitel hatten die Juden den Blindgebo-
an zu hindern, den echten Messias anzu- renen aus der Synagoge ausgeschlossen.
nehmen. Sie verfolgten die Menschen, Indem sie das taten, hatten sie unbewußt
die Jesus nachfolgten, und zum Schluß das Werk des Herrn gefördert.
wollten sie auch noch Jesus umbringen. 10,4 »Wenn« der wahre Hirte »seine
10,2 Vers 2 bezieht sich auf Jesus eigenen Schafe alle herausgebracht hat«,
selbst. Er kam zu den verlorenen Schafen so treibt er sie nicht vor sich her, sondern

412
Johannes 10

führt sie. Er bittet sie nicht, irgendwo Tür«. Christentum ist nicht ein Glau-
hinzugehen, wo er nicht selbst zuvor ge- bensbekenntnis, auch nicht eine Kirche.
wesen ist. Er geht als ihr Erlöser, Führer Sondern das Christentum ist eine Person,
und Beispiel immer vor seinen Schafen nämlich der Herr Jesus Christus selbst.
her. Echte Schafe Christi »folgen ihm«. »Wenn jemand durch mich eingeht.« Die
Sie werden nicht dadurch zu Schafen, daß Erlösung ist nur durch Christus zu erlan-
sie seinem Vorbild nacheifern, sondern gen. Die Taufe wird sie nicht schenken,
durch die Wiedergeburt. Wenn sie geret- auch nicht das Mahl des Herrn. Wir müs-
tet sind, dann haben sie das Verlangen, sen durch Christus und durch die Kraft,
dorthin zu gehen, wohin er sie führt. die er uns gibt, hineinkommen. Jeder ist
10,5 Der gleiche Instinkt, der ein eingeladen. Christus ist der Erlöser so-
Schaf die Stimme des wahren Hirten wohl für Juden als auch für Heiden.
erkennen läßt, veranlaßt es auch, vor Doch um erlöst zu werden, muß man
»einem Fremden« zu »fliehen«. Die hineingehen. Man muß Christus im
Fremden waren die Pharisäer und ande- Glauben annehmen. Das kann man nur
re Führer des jüdischen Volkes, die nur persönlich tun, und eine andere Erlö-
aus Eigennutz an den Schafen interes- sungsmöglichkeit gibt es nicht. Wer hin-
siert waren. Der Blindgeborene, der das eingeht, ist »errettet« von der Strafe für
Augenlicht geschenkt bekam, zeigt das. die Sünde, von ihrer Macht und eines
Er erkannte die Stimme des Herrn Jesus, Tages sogar von ihrer Anwesenheit.
und wußte, daß die Pharisäer Fremde Nach der Erlösung gehen die Schafe
waren. Deshalb weigerte er sich, ihnen »ein und aus«. Vielleicht steht der
zu gehorchen, auch wenn es bedeutete, Gedanke dahinter, daß man zum Anbe-
von ihnen exkommuniziert zu werden. ten in die Gegenwart Gottes kommt und
10,6 Hier wird nun ausdrücklich dann in die Welt hinausgeht, um der
erwähnt, daß Jesus »in dieser Bildrede« Welt ein Zeugnis für den Herrn zu sein.
zu den Pharisäern sprach, sie ihn »aber Jedenfalls haben wir hier ein Bild der völ-
nicht verstanden«, – und zwar, weil sie ligen Sicherheit und Freiheit im Dienst
keine echten Schafe waren. Wären sie es des Herrn vor uns. Wer hineingeht, »fin-
gewesen, hätten sie seine Stimme gehört det Weide«. Christus ist nicht nur der
und wären ihm gefolgt. Erlöser, der uns die Freiheit schenkt, son-
10,7 Jesus benutzt nun ein neues Bild. dern auch der Erhalter und derjenige,
Er spricht nicht länger von der Tür zum der volle Genüge schenkt. Seine Schafe
Hof der Schafe wie in Vers 2, sondern »finden Weide« im Wort Gottes.
stellt sich nun als »Tür der Schafe« vor. 10,10 Das Ziel eines »Diebes« ist es,
Es geht nun nicht länger darum, den »zu stehlen und zu schlachten und zu
»Hof der Schafe« Israels zu betreten, son- verderben«. Er kommt aus rein selbst-
dern es ging darum, daß die erwählten süchtigen Motiven. Um seine eigenen
Schafe Israels das Judentum verlassen, Wünsche zu erfüllen, würde er sogar die
und zu Christus, der Tür, kommen. Schafe »schlachten«. Doch der Herr Jesus
10,8 Andere waren »vor« ihm gekom- kommt nicht aus irgendeinem selbst-
men, und hatten Rang und Autorität süchtigen Grund in das Herz eines Men-
beansprucht. Doch die auserwählten schen. Er kommt, um zu geben, nicht, um
Schafe aus Israel »hörten nicht auf sie«, zu nehmen. Er kommt, damit die Men-
weil sie wußten, daß sie diese Ansprüche schen »Leben haben und es in Überfluß
unrechtmäßig stellten. haben«. Wir empfangen das Leben in
10,9 Dieser Vers ist einer dieser schö- dem Augenblick, in dem wir ihn als un-
nen Verse, der einfach genug ist, daß ihn seren Erlöser annehmen. Nachdem wir
ein Kind in der Sonntagsschule verste- gerettet sind, werden wir herausfinden,
hen kann, und der doch durch die ge- daß es verschiedene Grade der Freude an
lehrtesten Ausleger niemals völlig aus- diesem Leben gibt. Je mehr wir uns dem
geschöpft werden kann. Christus ist »die Heiligen Geist hingeben, desto mehr

413
Johannes 10

freuen wir uns an dem Leben, das uns ist wirklich eine erstaunliche Wahrheit!
gegeben ist. Dann haben wir nicht nur Der Herr Jesus vergleicht seine Bezie-
einfach Leben, sondern haben »es in hung zum Vater mit seiner Beziehung zu
Überfluß«. seinen Schafen. Dieselbe Einheit, Ge-
meinschaft, Nähe und Erkenntnis, die
L. Jesus, der Gute Hirte (10,11-18) zwischen dem Vater und dem Sohn
10,11 Sehr oft verwandte der Herr Jesus besteht, besteht auch zwischen dem Hir-
den Ausdruck »Ich bin«, einen der Titel ten und seinen Schafen. »Und ich lasse
Gottes. Jedesmal erhob er damit den mein Leben für die Schafe«, sagte er. Und
Anspruch, daß er Gott dem Vater gleich hier haben wir wieder eine der vielen
ist. Hier stellt er sich als »der gute Hirte« Aussagen, in der er auf die Zeit voraus-
vor, der »sein Leben für die Schafe« läßt. blickt, zu der er als Stellvertreter für Sün-
Normalerweise müssen Schafe ihr Leben der am Kreuz sterben würde.
für den Hirten lassen. Doch der Herr 10,16 Vers 16 ist der Schlüsselvers für
Jesus starb für die Herde. dieses Kapitel. Die »anderen Schafe«, die
10,12 Ein »Mietling« ist jemand, der der Herr erwähnt, sind die Heiden. Sein
für Geld dient. So könnte etwa ein Hirte Kommen in die Welt geschah zunächst in
jemand anderen bezahlen, damit der für Verbindung mit den Schafen Israels,
ihn die Schafe hütet. Die Pharisäer waren doch hatte er auch die Errettung der Hei-
Mietlinge. Ihr Interesse an den Menschen den im Sinn. Die heidnischen Schafe
hatte seine Ursache in dem Geld, das sie stammten nicht aus dem jüdischen
als Gegenleistung erhielten. Dem Miet- »Hof«. Doch das weite barmherzige
ling waren »die Schafe nicht zu eigen«. Herz des Herrn Jesus sehnte sich auch
Wenn Gefahr kam, floh er und überließ nach diesen Schafen, und er stand unter
die Schafe dem Wolf. dem göttlichen Zwang, auch sie zu sich
10,13 Wir handeln in einer bestimm- zu »bringen«. Er wußte, daß sie weitaus
ten Weise aus unserem Wesen heraus. gewillter waren, auf seine »Stimme« zu
Der Mietling diente für Lohn. Er »küm- »hören« als das jüdische Volk.
mert sich um die Schafe nicht«. Er war Im zweiten Teil des Verses haben wir
mehr an seinem eigenen als an ihrem den wichtigen Wechsel vom »Hof« des
Wohlergehen interessiert. In der heuti- Judentums zur »Herde« des Christen-
gen Kirche gibt es viele Mietlinge – Män- tums. Dieser Vers gibt eine kleine Vor-
ner, die ihren Beruf als eine bequeme ausschau der Tatsache, daß in Christus
Möglichkeit zum Geldverdienen anse- Juden und Heiden eins gemacht sind,
hen, ohne von echter Liebe zu den Scha- und daß die alten Unterscheidungen
fen getrieben zu sein. zwischen diesen Völkern verschwinden
10,14 Und wieder nennt sich der Herr würden.
der »gute Hirte.« »Gut« (gr. kalos) 10,17 In den Versen 17 und 18 erklär-
bedeutet hier »ideal, würdig, auserwählt, te der Herr Jesus, was er tun wollte, um
hervorragend«. All das ist Jesus. Dann die erwählten Juden und Heiden zu sich
spricht er von der sehr engen Beziehung, zu bringen. Er schaut hier nach vorn auf
die zwischen ihm und seinen Schafen die Zeit seines Todes, Begräbnisses und
besteht. Er kennt die Seinen, und die Sei- seiner Auferstehung. Diese Worte wären
nen kennen ihn. Das ist eine wunderbare ausgesprochen fehl am Platze, wäre
Wahrheit. Jesus nur ein gewöhnlicher Mensch. Er
10,15 Unglücklicherweise steht in sprach davon, sein Leben zu »lassen«
manchen Übersetzungen vor diesem und es aus eigener Macht »wiederzuneh-
Satz ein Punkt. Doch die Elberfelder men«. Das konnte er nur, weil er Gott
Bibel hat hier die korrektere Überset- war. Der »Vater« liebte den Herrn Jesus
zung: »und ich kenne die Meinen und wegen seiner Bereitschaft zu sterben und
bin gekannt von den Meinen, wie der wieder aufzuerstehen, damit die verlore-
Vater mich kennt und ich den Vater.« Das nen Schafe gerettet werden könnten.

414
Johannes 10

10,18 »Niemand« konnte Jesus das en Macht waren und nicht die eines
Leben nehmen. Er ist Gott und ist so viel Dämons.
größer als alle mordlüsternen Pläne sei-
ner Geschöpfe. Er hatte in sich selbst die N. Jesus beweist durch seine Werke,
»Vollmacht«, sein Leben zu »lassen«, daß er der Messias ist (10,22-39)
und er hatte auch die »Vollmacht, es wie- 10,22 An diesem Punkt haben wir einen
derzunehmen«. Aber haben nicht Men- Bruch in der Erzählung. Der Herr Jesus
schen den Herrn Jesus umgebracht? Ja, spricht nicht länger zu den Pharisäern,
das ist wahr. Das wird in Apostelge- sondern zu den Juden im allgemeinen.
schichte 2,23 und in 1. Thessalonicher Wir wissen nicht, wieviel Zeit zwischen
2,15 ausdrücklich gesagt. Der Herr Jesus Vers 21 und 22 vergangen ist. Nebenbei
erlaubte ihnen, es zu tun, und das war ist dies die einzige biblische Erwähnung
eine Anwendung seiner »Vollmacht« des »Festes der Tempelweihe«, oder
sein Leben zu »lassen«. Außerdem gab er hebräisch Chanukka. Man nimmt allge-
als Akt seiner eigenen Macht und seines mein an, daß dieses Fest von Judas Mak-
eigenen Willens »seinen Geist auf« kabäus eingesetzt wurde, als der Tempel
(Joh 19, 30). im Jahr 165 n. Chr. wiedereingeweiht
»Dieses Gebot habe ich von meinem wurde, nachdem ihn Antiochus Epipha-
Vater empfangen«, sagte er. Der Vater nes entweiht hatte. Dieses Fest wurde
hatte den Herrn beauftragt oder ange- jährlich begangen, war vom jüdischen
wiesen, sein Leben zu lassen und von Volk eingesetzt worden und keines der
den Toten aufzuerstehen. Sein Tod und Feste des Herrn. Es war nicht nur nach
seine Auferstehung waren wesentlich, dem Kalender »Winter«, sondern auch
um den Willen des Vaters zu erfüllen. geistlich.
Deshalb wurde er gehorsam bis zum Tod 10,23.24 Das öffentliche Wirken des
und stand am dritten Tag von den Toten Herrn war fast zu Ende, und er würde
auf, nach der Schrift. bald seine völlige Hingabe an Gott den
Vater durch seinen Tod am Kreuz bewei-
M. Zwiespalt unter den Juden (10,19- sen. »Die Säulenhalle Salomos« war ein
21) überdachter Bereich, der an den Tempel
10,19 Die Worte des Herrn Jesus verur- des Herodes grenzte. Als der Herr dort-
sachten einen »Zwiespalt unter den hin ging, war dort genug Platz, daß die
Juden«. Christi Kommen auf diese Erde Juden sich um ihn versammeln konnten.
in Familien und in Herzen läßt eher »Da umringten ihn die Juden und
Feindschaft als Friede entstehen. Nur sprachen zu ihm: Bis wann hältst du
wenn Menschen ihn als Herrn und Erlö- unsere Seele hin? Wenn du der Christus
ser annehmen, lernen sie den Frieden bist, so sage es uns frei heraus.«
Gottes kennen. 10,25.26 Jesus erinnerte sie wiederum
10,20.21 Der Herr Jesus ist der einzige an seine Worte und »Werke«. Er hatte
vollkommene Mensch, der je gelebt hat. ihnen schon oft gesagt, daß er der Mes-
Er sagte kein falsches Wort und hat nie sias war, und die Wunder, die er voll-
etwas Schlechtes getan. Doch war die brachte, bewiesen, daß seine Behaup-
Verderbtheit des menschlichen Herzens tung die Realität war. Und wieder erin-
so groß, daß die Menschen sagten, als er nerte er die Juden daran, daß er seine
kam und Worte voll Liebe und Weisheit Wunder in der Vollmacht und zur Ehre
sprach, er habe »einen Dämon« und sei seines Vater tat. Indem er das tat, bewies
»von Sinnen«. Er sei es nicht wert, gehört er, daß er wirklich der Eine war, den der
zu werden. Das war eine der großen Vater in die Welt gesandt hatte.
Ungeheuerlichkeiten der Menschheits- Ihre mangelnde Bereitschaft, den
geschichte. Andere Menschen dachten Messias anzunehmen, beweist, daß sie
anders. Sie erkannten, daß die »Reden« »nicht von« seinen »Schafen« waren.
und Werke des Herrn Jesus die einer gut- Wenn sie auserwählt gewesen wären, zu

415
Johannes 10

ihm zu gehören, dann hätten sie Bereit- Christen zu werden oder unsere Erret-
schaft gezeigt, ihm zu glauben. tung zu verdienen. Wir führen ein christ-
10,27 Die nächsten Verse lehren liches Leben, weil wir Christen sind. Wir
unmißverständlich, daß kein wahres möchten ein heiliges Leben führen, nicht
Schaf Christi je verloren geht. Die ewige aus Angst, unsere Erlösung wieder ver-
Sicherheit des Gläubigen ist eine herrli- lieren zu können, sondern aus Dankbar-
che Tatsache. Wer ein echtes Schaf Christi keit gegenüber dem Einen, der für uns
ist, »hört« seine »Stimme«. Er hörte sie, gestorben ist. Die Lehre von der ewigen
wenn das Evangelium gepredigt wird Sicherheit ermutigt nicht zu einem lässi-
und reagiert darauf im Glauben an ihn. gen Leben, sondern ist eine starke Moti-
Danach hören seine Schafe seine Stimme vation für ein geheiligtes Leben.
jeden Tag und gehorchen seinem Wort. Niemand kann einen Gläubigen aus
Der Herr Jesus kennt seine Schafe, und Christi Hand »rauben«. Seine Hand ist
zwar jedes einzelne mit Namen. Kein ein- allmächtig. Sie hat die Welt geschaffen
ziges entgeht seiner Aufmerksamkeit. und erhält sie noch jetzt. Es gibt keine
Kein einziges Schaf kann durch eine Macht, die ein Schaf aus seinem Griff
Nachlässigkeit seinerseits verlorengehen. »rauben« kann.
Die Schafe Christi »folgen« ihm, erstens 10,29 Der Gläubige ist nicht nur in der
indem sie den errettenden Glauben an Hand Christi, sondern auch in der Hand
ihn haben, und zweitens, indem sie mit des »Vaters«. Das ist eine doppelte
ihm in gehorsamer Gemeinschaft leben. Sicherheitsgarantie. Gott der Vater »ist
10,28 Christus gibt seinen Schafen größer als alle, und niemand kann« die
»ewiges Leben«. Das bedeutet Leben, Gläubigen »aus der Hand meines Vaters
das für immer währt. Es ist kein Leben, rauben«.
das durch das Verhalten der Schafe 10,30 Nun fügt der Herr Jesus wieder
bedingt wird. Es ist einerseits ewiges die Behauptung an, Gott gleich zu sein:
Leben, d. h. daß es auf ewig andauert. »Ich und der Vater sind eins.« Hier geht
Aber »ewiges Leben« ist auch eine Le- es wahrscheinlich darum, daß Christus
bensqualität. Es ist das Leben des Herrn und »der Vater eins sind« in ihrer Macht.
Jesus selbst. Es ist ein Leben, daß die Fä- Jesus hatte gerade über die Macht ge-
higkeit beinhaltet, göttliche Gaben schon sprochen, die die Schafe Christi be-
hier auf der Erde zu genießen, und ein schützt. Deshalb fügte er als Erklärung
Leben, das ebenso für unsere himmlische hinzu, daß seine Macht so groß ist wie
Heimat geeignet ist. Man betrachte die die Gottes des Vaters. Das gleiche gilt
nächsten Worte besonders sorgfältig. natürlich auch für alle anderen Eigen-
31)
»Sie gehen nicht verloren in Ewigkeit.« schaften Gottes. Der Herr Jesus Christus
Wenn je ein Schaf Christi verloren ginge, ist Gott in jeder Hinsicht, und ist auf jede
dann hätte sich der Herr Jesus des Bre- Weise Gott gleich.
chens seines Versprechens schuldig ge- 10,31 Es war für die Juden keine Fra-
macht, und das ist nicht möglich. Jesus ge, was der Erlöser mit seiner Aussage
Christus ist Gott und er kann nicht irren. gemeint haben könnte. Sie erkannten,
Er hat in diesem Vers versprochen, daß daß er auf deutlichste Art die Gottes-
keines seiner Schafe die Ewigkeit in der sohnschaft beanspruchte. Deshalb
Hölle zubringen wird. »hoben die Juden wieder Steine auf, daß
Bedeutet das, daß man gerettet wer- sie ihn steinigten«.
den und dann so leben kann, wie es 10,32 Bevor sie ihn mit den Steinen
einem gefällt? Kann man errettet wer- bewerfen konnten, erinnerte Jesus sie
den, und dann in den sündigen Vergnü- daran, wieviele »gute Werke« er schon
gungen der Welt weiterleben? Nein, im Auftrag seines Vaters getan hatte. Er
denn das Verlangen danach erlischt. Der fragte sie dann, welches dieser Werke sie
Gläubige will dem Hirten nachfolgen. so aufgebracht habe, daß sie ihn steini-
Wir führen kein christliches Leben, um gen wollten.

416
Johannes 10

10,33 Die Juden bestritten, ihn wegen 10,36 Der Herr schloß vom kleineren
eines seiner Wunder töten zu wollen. Sie auf das größere. Wenn ungerechte Rich-
wollten ihn steinigen, »wegen der Lä- ter im AT »Götter« genannt werden
sterung«, daß er behauptet hatte, Gott konnten, wieviel mehr hatte er dann das
gleich zu sein. Sie wollten nicht zugeben, Recht zu sagen, daß er der Sohn Gottes
daß er mehr als ein gewöhnlicher ist. Das Wort Gottes kam zu den Richtern,
Mensch war. Doch war ihnen eindeutig er war und ist das Wort Gottes. Von ihnen
klar, daß er sich selbst zu Gott machte, hätte niemals gesagt werden können,
jedenfalls was seine Behauptungen daß der Vater sie »geheiligt und in die
anging. Das wollten sie nicht tolerieren. Welt gesandt hat«. Sie sind wie alle ande-
10,34 Hier zitiert der Herr Jesus den ren Menschen als Söhne des gefallenen
Juden Psalm 82,6. Er nannte diesen Vers Adam in diese Welt hineingeboren wor-
Teil ihres Gesetzes. Mit anderen Worten, den. Doch der Herr Jesus ist von Gott
er stammte aus dem AT, welches sie als dem Vater von aller Ewigkeit her gehei-
das von Gott inspirierte Wort Gottes ligt worden, der Erlöser der Welt zu wer-
anerkannten. Der vollständige Vers lau- den, und er ist aus dem Himmel »in die
tet: »Ich sagte: Ihr seid Götter, Söhne des Welt gesandt« worden, wo er ewig mit
Höchsten seid ihr alle!« Der Psalm rich- dem Vater gelebt hatte. So hatte Jesus auf
tete sich an die Richter Israels. Sie wur- jeden Fall das Recht, zu behaupten, daß
den »Götter« genannt, und zwar nicht, er Gott gleich sei. Er lästerte nicht, wenn
weil sie wirklich göttlich gewesen wären, er beanspruchte, der »Sohn Gottes« zu
sondern weil sie Gott vertraten, wenn sie sein, der dem Vater gleich ist. Die Juden
das Volk richteten. Das hebräische Wort selbst benutzten das Wort »Götter«, um
für »Götter« (elohim) bedeutet wörtlich es auf verlorene Menschen anzuwenden,
»Mächtige« und kann auch auf wichtige die nur Sprecher oder Richter Gottes
Persönlichkeiten wie die Richter ange- waren. Wieviel mehr konnte er den Titel
wandt werden. (Aus dem Rest des Psal- beanspruchen, weil er wirklich Gott war
mes geht hervor, daß sie nur Menschen und ist. Samuel Green hat es sehr gut
und keine Götter waren, weil sie unge- ausgedrückt:
recht richteten, parteilich waren und auf Die Juden klagten ihn an, weil er sich
andere Weise das Recht entstellten.) selbst zu Gott mache. Er streitet nicht ab, daß
10,35 Der Herr benutzte diesen Vers er sich durch seine Reden selbst zu Gott
aus den Psalmen, um zu zeigen, daß Gott gemacht habe. Doch er streitet ab, daß er
das Wort »Götter« gebrauchte, um Men- damit gelästert habe, und zwar aufgrund von
schen zu beschreiben, »an die das Wort Tatsachen, die ihn sogar noch rechtfertigen
Gottes erging«. Mit anderen Worten: Die- würden, wenn er die Ehre der Gottheit für
se Menschen waren Sprachrohre Gottes. sich beanspruchen würde, nämlich, daß er
Gott sprach durch sie zum Volk Israel. der Messias, der Sohn Gottes, Immanuel sei.
»Sie vertraten Gott in seiner Stellung als Daß die Juden nicht der Meinung waren, daß
Autorität und Richter, und waren die er auch nur im Geringsten seine hochfliegen-
Mächte, die Gott eingesetzt hatte.« »Und den Ansprüche zurückgezogen hat, wird
die Schrift kann nicht aufgelöst werden«, durch die fortgesetzte Feindschaft deutlich,
32)
sagte der Herr und drückte damit seinen die daraus entstand (s. V. 39).
Glauben an die Inspiration der Schriften 10,37 Wieder erinnert der Erlöser an
des AT aus. Er nennt sie unfehlbar, und die Wunder, die er als Beweis seiner gött-
spricht davon, daß sie erfüllt werden lichen Sendung getan hat. Man beachte
müssen, und das kann nicht bestritten dennoch den Ausdruck »die Werke mei-
werden. In der Tat ist jedes Wort der nes Vaters«. Wunder an sich sind noch
Schrift inspiriert, nicht nur die Gedanken kein Beweis für die Göttlichkeit ihres
oder Vorstellungen, die sie vermittelt. Vollbringers. Wir lesen in der Bibel von
Die ganze Argumentation Jesu basiert bösen Mächten, die manchmal auch die
auf dem einen Wort »Götter«. Macht haben, Wunder zu vollbringen.

417
Johannes 10 und 11

Doch die Wunder des Herrn waren »die Johannes dem Täufer ein wunderbares
Werke« seines »Vaters«. Sie bewiesen auf Zeugnis aus. Sie erinnerten sich, daß der
zweierlei Weise, daß er der Messias war. Dienst des Johannes weder spektakulär
Erstens waren es die Wunder, die nach noch sensationell gewesen war, sondern
der Vorhersage des AT vom Messias voll- »wahr«. Alles, was er über den Herrn
bracht werden würden. Zweitens waren Jesus gesagt hatte, hatte sich im Dienst
es Wunder der Barmherzigkeit und des des Erlösers erfüllt. Das sollte jeden er-
Mitleidens, Werke, die der Menschheit mutigen, der Christ ist. Wir mögen nicht
nützen und die von einer bösen Macht in der Lage sein, mächtige Wundertaten
niemals vollbracht würden. zu vollbringen oder die öffentliche Auf-
10,38 Ryle hat Vers 38 einmal sehr merksamkeit auf uns zu lenken, doch
hilfreich paraphrasiert: können wir wenigstens ein wahres Zeug-
Wenn ich die Werke meines Vaters tue, nis für unseren Herrn und Erlöser Jesus
dann laßt euch doch, wenn ihr schon nicht Christus ablegen. Das hat in Gottes
von dem überzeugt werdet, was ich sage, Augen großen Wert.
durch meine Taten überzeugen. Wenn ihr 10,42 Es ist schön, daß wir feststellen
auch den Beweisen meiner Worte widerste- können, daß der Herr Jesus trotz seiner
hen möget, so haltet euch an den Beweis Ablehnung durch das Volk Israel einige
durch meine Werke. Auf diese Weise sollt ihr demütige, aufnahmebereite Herzen
lernen und glauben, daß ich und der Vater fand. Uns wird gesagt: »Viele glaubten
wirklich eins sind – er in mir und ich in ihm, dort an ihn.« So ist es in jedem Zeitalter.
und daß ich, wenn ich sage, daß ich sein Sohn Immer gibt es einen Überrest des Volkes,
sei, nicht lästere. der gewillt ist, seinen Platz beim Herrn
10,39 Und wieder erkannten die Jesus einzunehmen, ausgeschlossen von
Juden, daß Jesus seine Behauptungen der Welt, gehaßt und verachtet, doch in
nicht revidierte, sondern sie sogar noch der lieblichen Gemeinschaft mit dem
untermauert hatte. So versuchten sie Sohn Gottes.
wieder, ihn zu verhaften, doch er entzog
sich ihnen ein weiteres Mal. Die Zeit war B. Die Krankheit des Lazarus (11,1-4)
nun nicht mehr weit, daß er ihnen erlau- 11,1 Wir kommen nun zum letzten
ben würde, ihn zu ergreifen, doch war großen Wunder des öffentlichen Wirkens
seine Stunde jetzt noch nicht gekommen. des Herrn Jesus. In gewisser Weise war
dieses Wunder das größte von allen: Er
VI. Der Dienst des Sohnes Gottes – ließ einen Toten wiederauferstehen.
drittes Jahr: Peräa (10,40 – 11, 57) Lazarus lebte in dem kleinen Dorf Betha-
nien, das etwa drei Kilometer östlich von
A. Jesus zieht sich über den Jordan Jerusalem lag. Bethanien war auch als
zurück (10,40-42) Heimatstadt »der Maria und ihrer
10,40 Der Herr »ging wieder weg jenseits Schwester Martha« bekannt. Pink zitiert
des Jordan an den Ort«, wo er sein öffent- hier Bischof Ryle:
liches Wirken begonnen hatte. Seine drei Man sollte hier beachten, daß die Gegen-
Jahre wunderbarer Worte und Werke wart von Gottes auserwählten Kindern Städ-
gingen bald zu Ende. Er beschloß sie, wo te und Länder in Gottes Augen berühmt
er sie begonnen hatte, außerhalb der eta- macht. Das Dorf von Martha und Maria
blierten Ordnung des Judentums, an wird erwähnt, doch Memphis und Theben
einem verachteten und einsamen Ort. werden im Neuen Testament nicht
33)
10,41 Diejenigen, die »zu ihm . . . genannt.
kamen«, waren sicherlich ernsthafte 11,2 Johannes erklärt, »daß es Maria«
Gläubige. Sie waren willig, seine aus Bethanien »war, die den Herrn mit
Schmach zu teilen, ihren Platz mit ihm Salböl salbte und seine Füße mit ihren
außerhalb des Lagers Israels einzuneh- Haaren abtrocknete«. Diese einzigartige
men. Diese Nachfolger Jesu stellten Tat der Hingabe wurde vom Heiligen

418
Johannes 11

Geist hier nochmals betont. Der Herr Gottes Ablehnung. Wenn unsere Gebete
liebt die willige Zuneigung seines Vol- nicht sofort erhört werden, will er uns
kes. vielleicht Geduld lehren, und wenn wir
11,3 Als Lazarus krank war, war der geduldig warten, dann werden wir
Herr Jesus offensichtlich am östlichen sehen, daß er unsere Gebete auf weitaus
Jordanufer. Die »Schwestern . . . sand- wunderbarere Weise erhört, als wir es
ten« eine Nachricht zu ihm, daß Lazarus, uns vorstellen können. Nicht einmal sei-
»den du lieb hast«, krank geworden sei. ne Liebe zu Martha, Maria und Lazarus
Es ist sehr rührend, wie die beiden konnte Christus zwingen, vor der rech-
Schwestern ihr Anliegen vor den Herrn ten Zeit zu handeln. Er tat alles in Übe-
bringen. Sie sprechen seine Liebe zu reinstimmung mit dem Willen des Vaters
ihrem Bruder als Argument an, warum und nach Gottes Zeitplan.
der Herr kommen und helfen solle. Nach zwei Tagen, die scheinbar ver-
11,4 »Als . . . Jesus . . . sprach: Diese lorene Zeit waren, schlug Jesus seinen
Krankheit ist nicht zum Tode«, meinte er Jüngern vor: »Laßt uns wieder nach
damit nicht, daß Lazarus nicht sterben Judäa gehen.«
würde, sondern daß der Tod nicht das 11,8 Die Jünger waren sich noch
endgültige Resultat der »Krankheit« immer schmerzlich bewußt, wie die
wäre. Lazarus würde sterben, doch er Juden versucht hatten, ihn »zu steini-
würde von den Toten auferweckt wer- gen«, nachdem er den Blindgeborenen
den. Der wahre Grund für die Krankheit, geheilt hatte. Sie gaben ihrer Verwunde-
war die »Herrlichkeit Gottes . . ., damit rung darüber Ausdruck, daß er ange-
der Sohn Gottes durch sie verherrlicht sichts solcher Gefahr für sein Leben auch
werde«. Gott erlaubte, daß dies geschah, nur daran denken konnte, nach Judäa zu
damit Jesus kommen und Lazarus von reisen.
den Toten auferwecken konnte, und er 11,9 »Jesus antwortete« ihnen folgen-
damit noch einmal als der wahre Messias des: Normalerweise gibt es am Tag
erwiesen werden würde. Die Menschen »zwölf Stunden« Licht, in denen die
würden Gott für dieses machtvolle Wun- Menschen arbeiten können. Solange ein
der ehren. Mensch während dieser bestimmten Zeit
Es gibt keinerlei Hinweis darauf, daß arbeitet, läuft er nicht Gefahr zu stolpern
die Krankheit des Lazarus durch eine und zu fallen, »weil er sieht«, wohin er
bestimmte Sünde in seinem Leben her- geht und was er tut. »Das Licht dieser
vorgerufen worden wäre. Er wird als Welt« oder das Tageslicht bewahrt ihn
hingegebener Jünger und als besonderer vor dem zufälligen Tod durch Stolpern.
Geliebter des Herrn dargestellt. Die geistliche Bedeutung der Worte
des Herrn ist folgende: Der Herr Jesus
C. Jesus reist nach Bethanien (11,5-16) wandelte in vollkommenem Gehorsam
11,5 Wenn Krankheit in unsere Familien gegenüber dem Willen Gottes. Deshalb
kommt, dann sollen wir daraus nicht lief er nicht Gefahr, vor der rechten Zeit
schließen, daß wir Gott in irgendeiner getötet zu werden. Er würde bewahrt
Weise mißfallen haben. Hier war die werden, bis er sein Werk vollendet
Krankheit direkt mit seiner Liebe statt hätte.
mit seinem Zorn verbunden. »Wen er In gewissem Sinne gilt das für jeden
liebt, den züchtigt er.« Gläubigen. Wenn wir in Gemeinschaft
11,6.7 Wir würden wahrscheinlich mit dem Herrn leben und seinen Willen
erwarten, daß der Herr, der diese drei tun, dann gibt es keine Macht auf Erden,
Gläubigen wirklich liebte, alles fallen las- die uns vor Gottes vorherbestimmter
sen und zu ihnen eilen würde. Statt des- Zeit töten kann.
sen »blieb er noch zwei Tage an dem 11,10 Wer »in der Nacht umhergeht«,
Ort«, nachdem er die Nachricht bekom- ist einer, der Gott nicht treu ist, sondern
men hatte. Gottes Zögern bedeutet nicht nach seinem eigenen Willen lebt. Dieser

419
Johannes 11

wird leicht »anstoßen«, weil er nicht die 11,15 Der Herr freute sich nicht über
göttliche Führung besitzt, die ihm seinen den Tod des Lazarus, sondern war
Weg erhellt. »froh«, daß er zu dieser Zeit nicht in Be-
11,11 Der Herr sprach vom Tod des thanien gewesen war. Wenn er dort ge-
Lazarus als Schlaf. Dennoch sollte man wesen wäre, wäre Lazarus nicht ge-
hier beachten, daß im NT der Schlaf sich storben. Nirgendwo im Neuen Testa-
nie auf die Seele, sondern immer nur auf ment ist davon die Rede, daß ein Mensch
den Leib bezieht. Es gibt keine Lehre in in Christi Gegenwart gestorben wäre.
der Schrift, die besagt, daß sich die Seele Bengel kommentiert: »Es steht in wun-
zur Zeit des Todes in einem schlafähnli- derbarer Übereinstimmung mit der Vor-
chen Zustand befindet. Die Seele des aussicht Gottes, daß man von keinem
Gläubigen geht statt dessen zu Christus, Menschen liest, daß er gestorben sei, als
was auch viel besser ist. Der Herr Jesus der Fürst des Lebens anwesend war.«
bewies durch diese Aussage seine All- Die Jünger sollten ein größeres Wunder
wissenheit. Er wußte, daß Lazarus schon sehen als daß der Tod eines Menschen
gestorben war, obwohl die Nachricht, die nur verhindert wurde. Sie sollten einen
er erhalten hatte, nur besagte, daß La- Mann sehen, der von den Toten auf-
zarus krank sei. Er wußte es besser, weil erstand. Auf diese Weise sollte ihr Glau-
er Gott ist. Während jeder einen anderen be gestärkt werden. Deshalb sagte der
aus leiblichem Schlaf erwecken kann, Herr Jesus, daß er um ihretwillen froh
konnte nur der Herr Lazarus vom Tod war, daß er nicht in Bethanien gewesen
erwecken. Hier drückte Jesus seine Ab- war.
sicht aus, gerade das zu tun. 11,16 Thomas fing nun an zu überle-
11,12 Seine »Jünger« verstanden gen. Er meinte, daß der Herr Jesus von
nicht, was der Herr mit »schlafen« mein- den Juden getötet werden würde, wenn
te. Sie erkannten nicht, daß er vom Tod er in dieses Gebiet ginge. Wenn die Jün-
sprach. Vielleicht dachten sie, daß Schlaf ger mit Jesus gehen würden, dann war er
ein Zeichen der Besserung war, und des- sicher, daß man auch sie töten würde.
halb schlossen sie, daß Lazarus wohl das Und in seiner pessimistischen Stimmung
Schlimmste überstanden hatte, weil er drängte er alle, den Herrn Jesus zu be-
tief schlafen konnte, und daß er »geheilt gleiten. Seine Worte sind kein Beispiel
werden« würde. Der Vers könnte auch für außerordentlichen Glauben oder
bedeuten, daß sie meinten, daß es nicht Mut, sondern ein Beispiel für entmuti-
nötig sei, nach Bethanien zu gehen, gendes Reden.
wenn das einzige, das Lazarus fehle,
leiblicher Schlaf sei. Es ist möglich, daß D. Jesus ist die Auferstehung und das
die Jünger um ihre eigene Sicherheit Leben (11,17-27)
besorgt waren, und diese Ausrede be- 11,17.18 Die Tatsache, daß Lazarus schon
nutzen wollten, um Maria und Martha »vier Tage« im Grab gelegen hatte, wird
nicht zu besuchen. hier als Beweis berichtet, daß er wirklich
11,13.14 Hier wird deutlich ausge- tot war. Man beachte, wie der Heilige
sagt, daß Jesus, als er vom »Schlaf« Geist hier jede Vorsichtsmaßnahme er-
sprach, den Tod meinte, doch seine Jün- greift, um zeigen zu können, daß die
ger ihn nicht verstanden hatten. Daran Auferweckung des Lazarus wirklich ein
gibt es keine Zweifel. Deshalb sagte Jesus Wunder war. Lazarus muß gestorben
seinen Jüngern nun »gerade heraus: sein, kurz nachdem die Männer mit der
›Lazarus ist gestorben.‹« Wie ruhig die Botschaft zu Jesus losgingen, daß
Jünger diese Nachricht aufnahmen! Lazarus krank sei. Zwischen Bethanien
Fragten sie den Herrn nicht: »Woher und Bethbara, wo Jesus sich aufhielt, lag
willst du das wissen?« Er sprach mit völ- eine Tagesreise. Nachdem er gehört hat-
liger Vollmacht, und sie hinterfragten te, daß Lazarus krank war, blieb Jesus
seine Aussagen nicht. noch zwei Tage dort, dann brauchte er

420
Johannes 11

einen Tag bis Bethanien. Das erklärt die der von den Toten auferweckt werden
vier Tage, die Lazarus im Grab war. könnte. Das Wort, das Martha für »bit-
Wie schon oben angemerkt, war Be- ten« verwendete, ist das Wort, das be-
thanien »etwa fünfzehn Stadien weit« nutzt wird, um ein Geschöpf zu beschrei-
(das entspricht etwa drei Kilometer) von ben, das seinen Schöpfer um etwas bittet.
Jerusalem entfernt. Daraus scheint hervorzugehen, daß
11,19 Die Nähe Bethaniens zu Jerusa- Martha den Herrn Jesus Christus nicht
lem machte es möglich, daß »viele von als Gott erkannt hatte. Sie hatte erkannt,
den Juden zu Martha und Maria gekom- daß er ein großer und ungewöhnlicher
men« waren, »um sie . . . zu trösten«. Sie Mann war, doch hielt sie ihn wohl nicht
erkannten nicht, daß ihr Trost in nur kur- für größer als die alten Propheten.
zer Zeit nicht mehr nötig sein würde und 11,23 Um ihren Glauben zu vertiefen,
das Trauerhaus in ein Haus voller Freude kündigte der Herr aufregenderweise an,
verwandelt werden würde. daß Lazarus »auferstehen« würde. Es ist
11,20 »Martha nun, als sie hörte, daß so wundervoll zu sehen, wie der Herr
Jesus komme, ging« um ihn zu treffen. mit dieser trauernden Frau umgeht und
Kurz vor dem Tor begegnete sie Jesus. sie Schritt für Schritt zum Glauben an ihn
Uns wird nicht gesagt, warum »Maria . . . als den Sohn Gottes führt.
im Haus« blieb. Vielleicht hatte sie die 11,24 Martha wußte, daß Lazarus
Nachricht, daß Jesus kommt, noch nicht eines Tages von den Toten auferstehen
erhalten. Vielleicht war sie auch noch würde, doch sie dachte nicht daran, daß
von Trauer gelähmt, oder aber sie warte- es sogar an diesem Tag noch geschehen
te einfach im Gebet und im Vertrauen auf konnte. Sie glaubte an »die Auferste-
Jesus. Fühlte sie vielleicht, was kommen hung« der Toten und wußte, daß sie an
sollte, weil sie so vertraut mit dem Herrn dem Tag stattfinden würde, den sie den
war? Wir wissen es nicht. »letzten Tag« nannte.
11,21 Es war echter Glaube, der es 11,25 Es ist, als ob der Herr sagen
Martha ermöglichte zu glauben, daß wollte: »Du hast mich nicht richtig ver-
Jesus hätte verhindern können, daß La- standen Martha. Ich meine nicht, daß
zarus stirbt. Dennoch war ihr Glaube Lazarus am letzten Tag auferstehen wird.
unvollkommen. Sie dachte, er könne das Ich bin Gott, und ich habe die Macht der
nur, wenn er leiblich anwesend war. Sie ›Auferstehung‹ und des ›Lebens‹ in mei-
erkannte nicht, daß er auch aus der Ferne ner Hand. Ich kann Lazarus auch sofort
heilen konnte, viel weniger noch, daß er von den Toten auferwecken, und das
die Toten auferwecken konnte. In Zeiten werde ich tun.«
der Not reden wir oft wie Martha. Wir Dann läßt uns der Herr einen Blick
denken, daß einer unserer Lieben nicht auf den Zeitpunkt werfen, an dem alle
hätte sterben müssen, wenn nur dieses Gläubigen auferweckt werden. Das wird
oder jenes Medikament schon erfunden stattfinden, wenn der Herr Jesus wieder-
gewesen wäre. Doch all dies steht in der kommt, um die Gläubigen in den Him-
Hand des Herrn, und keinem der Seinen mel heimzuholen.
geschieht etwas, das der Herr nicht zu- Zu dieser Zeit wird es zwei Klassen
vor erlaubt hätte. Gläubiger geben. Einmal wird es diejeni-
11,22 Und wieder zeigte sich der gen geben, die im Glauben gestorben
Glaube dieser hingegebenen Schwester. sind, und dann gibt es noch diejenigen,
Sie wußte nicht, wie der Herr Jesus hel- die zur Zeit seiner Wiederkunft noch
fen würde, doch sie glaubte, daß er es leben. Zu den ersten kommt er als die
konnte. Sie hatte das Vertrauen, daß Gott Auferstehung, zu den anderen als das
ihm seine Bitte gewähren würde und daß Leben. Die ersten werden im zweiten Teil
er dieser scheinbaren Tragödie ein gutes von Vers 25 beschrieben: »Wer an mich
Ende bereiten konnte. Doch sogar jetzt glaubt, wird leben, auch wenn er gestor-
wagte sie nicht zu glauben, daß ihr Bru- ben ist.« Das bedeutet, daß diejenigen

421
Johannes 11

Gläubigen, die vor der Wiederkunft Maria »zur Gruft . . . gehe, um dort zu
Christi gestorben sind, von den Toten weinen«.
auferweckt werden. 11,32 »Maria . . . fiel« dem Erlöser »zu
11,26 Die zweite Gruppe wird in Füßen«. Das kann bedeuten, daß sie ihn
Vers 26 beschrieben. Diejenigen, die bei anbetete, es kann aber auch sein, daß sie
der Wiederkunft des Erlösers leben und einfach nur von Trauer überwältigt war.
an ihn glauben, werden »nicht sterben in Wie Martha bedauerte sie, daß Jesus
Ewigkeit«. Sie werden in einem Augen- nicht rechtzeitig nach Bethanien gekom-
blick, in einem Augenzwinkern, verwan- men sei, denn in diesem Falle, so glaubte
delt werden, und mit denen, die von den sie, wäre ihr »Bruder nicht gestorben«.
Toten auferweckt worden sind, nach 11,33 Als der Herr Jesus Maria und
Hause in den Himmel aufgenommen ihre Freunde so trauern sah, »wurde er
werden. Welch wunderbare Wahrheiten im Geist erzürnt und wurde erschüttert«.
haben wir durch den Tod des Lazarus Zweifellos dachte er an all die Trauer, das
erfahren. Gott macht aus Bitterem Süßes Leid und den Tod, der durch die Sünde
und kann der Asche Schönheit verleihen. des Menschen in die Welt gekommen ist.
Dann fragt der Herr Martha ausdrück- Das erschütterte ihn zutiefst.
lich, um ihren Glauben zu prüfen: 11,34 Der Herr wußte natürlich, wo
»Glaubst du das?« Lazarus begraben lag, doch stellte er die
11,27 Marthas Glaube scheint nun Frage, um Erwartung hervorzurufen,
hell wie die Sonne am Mittag. Sie den Glauben zu ermutigen und die Mit-
bekennt, daß Jesus »der Christus« ist, arbeit der Menschen anzuregen. Zweifel-
»der Sohn Gottes«, der nach den Worten los führten die Trauernden den Herrn
der Propheten »in die Welt kommen mit tiefer Ernsthaftigkeit und echtem
soll«. Und wir sollten beachten, daß sie Verlangen zum Grab.
dieses Bekenntnis ablegte, ehe Jesus ihren 11,35 Vers 35 ist der kürzeste in der
34)
Bruder von den Toten auferweckt hatte deutschen Bibel. Er ist einer der drei
und nicht hinterher! Verse des NT, die erwähnen, daß der
Herr geweint habe. (Er weinte über der
E. Jesus weint am Grab des Lazarus Stadt Jerusalem und im Garten Gethse-
(11,28-37) mane). Die Tatsache, daß »Jesus weinte«,
11,28.29 Sofort nach diesem Bekenntnis war ein Beweis seiner Menschlichkeit. Er
eilt Martha zurück ins Dorf und begrüßt vergoß echte Tränen der Trauer, als er die
Maria atemlos mit der Ankündigung: schrecklichen Folgen der Sünde an den
»Der Lehrer ist da und ruft dich.« Der Menschen sah. Die Tatsache, daß Jesus
Schöpfer des Universums und der Erlö- angesichts des Todes weinte, zeigt, daß
ser der Welt war nach Bethanien gekom- es nicht ungebührlich ist, wenn Christen
men und rief sie. Und so ist es auch noch weinen, wenn ihnen ihre Lieben genom-
heute. Derselbe wundervolle Herr Jesus men werden. Doch sollen Christen nicht
Christus ist da und ruft mit den Worten so trauern wie andere, die keine Hoff-
des Evangeliums die Menschen zu sich. nung haben.
Jeder ist eingeladen, die Tür seines Her- 11,36 »Die Juden« sahen in den Trä-
zens zu öffnen und den Erlöser einzulas- nen des Menschensohnes einen Beweis
sen. Maria reagiert sofort. Sie verschwen- seiner Liebe zu Lazarus. Natürlich hatten
det keine Zeit, sondern »steht schnell sie damit recht. Doch er liebte auch sie
auf« und geht zu Jesus. mit einer tiefen und unsterblichen Liebe,
11,30.31 Martha und Maria treffen und viele verstanden das nicht.
Jesus nun vor dem Dorf Bethanien. »Die 11,37 Und wieder erregte die Anwe-
Juden« wußten nicht, daß er in der Nähe senheit des Herrn Jesus unter den Men-
war, weil Martha Maria »heimlich« die schen Fragen. Einige erkannten ihn als
Botschaft überbracht hatte. Es war nicht den, der »die Augen des Blinden auftat«.
ungewöhnlich, daß sie meinten, daß Sie fragten sich, ob er nicht hätte bewir-

422
Johannes 11

ken können, »daß auch dieser nicht sehen, wie ich ein Wunder vollbringe,
gestorben wäre«. Natürlich hätte er das das nur Gott vollbringen kann. Du wirst
tun können, doch statt dessen wollte er ›die Herrlichkeit Gottes‹ in mir geoffen-
ein größeres Wunder tun, das den gläu- bart sehen. Doch mußt du erst glauben,
bigen Seelen größere Hoffnung bringen um dann zu sehen.«
würde. 11,41 Der Stein wurde dann vom Grab
entfernt. Ehe Jesus das Wunder tut, dankt
F. Das siebte Zeichen: Die er zunächst seinem »Vater«, daß er sein
Auferweckung des Lazarus Gebet »erhört« habe. Jedoch wird in die-
(11,38-44) sem Kapitel vorher kein Gebet aufge-
11,38 Es scheint, daß »die Gruft« des zeichnet. Zweifellos hatte Jesus während
Lazarus eine »Höhle« in der Erde war, in der gesamten Zeit ständig mit seinem
die man auf einer Leiter oder über eine Vater gesprochen und hatte gebeten, daß
Treppe hinabsteigen mußte. Ein »Stein« Gottes Name durch die Auferstehung des
lag über der Höhle. Das Grab war nicht Lazarus verherrlicht werden möge. Hier
wie das Grab Jesu gebaut, welches aus dankte er dem Vater schon im voraus.
dem Fels ausgehauen war und in welches 11,42 Jesus betete laut, so daß die
man ebenerdig hineingehen konnte, ohne »Volksmenge . . . glauben« sollte, daß der
klettern oder hinabsteigen zu müssen. Vater ihn »gesandt« hat, daß der Vater
11,39 Jesus befahl den Umherstehen- ihm befohlen hatte, was er tun und sagen
den, den Stein von der Öffnung der Höh- sollte, und daß er immer in völliger
le wegzunehmen. Er hätte das durch ein Abhängigkeit von Gott dem Vater han-
einziges Wort selbst tun können. Doch delte. Hier wird wieder die Einheit von
normalerweise erledigt Gott für die Men- Gott dem Vater und dem Herrn Jesus
schen nicht die Aufgaben, die sie selbst Christus betont.
bewältigen können. 11,43 Das ist eines der wenigen Male
Martha drückt ihre Angst vor einer im NT, wo von Jesus gesagt wird, er habe
Öffnung des Grabes aus. Sie wußte, daß »mit lauter Stimme« gerufen. Einige
der Leib ihres Bruders schon vier Tage Ausleger meinen, wenn er dabei nicht
dort lag und fürchtete, daß er schon in Lazarus mit Namen genannt hätte, dann
Verwesung begriffen sei. Offensichtlich wären alle Toten in den Gräbern aufer-
hatte man den Leib des Lazarus nicht standen!
einbalsamiert. Er ist wahrscheinlich am 11,44 Wie kam Lazarus nun heraus?
selben Tag begraben worden, an dem er Einige Ausleger sind der Meinung, daß
auch gestorben war, wie es damals Sitte er aus dem Grab herausgestolpert sei,
war. Die Tatsache, daß Lazarus schon andere sind der Meinung, daß er auf
»vier Tage« im Grab gelegen hatte, ist Händen und Füßen gekrochen sei und
besonders wichtig. Es ist nicht möglich, wieder andere weisen darauf hin, daß
daß er nur schlief oder bewußtlos war. sein Leib so fest in die Grabtücher gehüllt
Alle Juden wußten, daß er tot war. Seine war, daß es für ihn unmöglich gewesen
Auferstehung kann nur durch ein Wun- sein muß, aus eigener Kraft hinauszu-
der erklärt werden. kommen. Sie sind der Ansicht, daß sein
11,40 Es ist nicht klar, wann Jesus die Leib aus dem Grab durch die Luft flog
Worte von Vers 40 sprach. In Vers 23 hat- und zu Füßen des Herrn Jesus landete.
te er Martha erklärt, daß ihr Bruder wie- Die Tatsache, daß »sein Gesicht . . . mit
der auferstehen würde. Doch zweifellos einem Schweißtuch umbunden« war, ist
war das, was er ihr hier sagt, im wesent- ein weiterer Beweis dafür, daß er tot
lichen das gleiche, was er ihr auch vorher gewesen war. Niemand hätte vier Tage
gesagt hatte. Man beachte die Reihenfol- überleben können, wenn sein Gesicht
ge dieses Verses: »Glauben . . . sehen«. Es mit einem solchen Tuch verbunden war.
ist, als ob der Herr Jesus sagen wollte: Und wieder beanspruchte der Herr die
»Wenn du mir nur glaubst, wirst du Mitarbeit von Menschen und befahl

423
Johannes 11

ihnen, Lazarus freizumachen und ihn bezeugen, daß er Wunder tat, viele Wunder.
gehen zu lassen. Nur Christus kann die Können wir nicht sicher sein, daß sie die
Toten auferwecken, doch er gibt uns die Echtheit seiner Wunder angezweifelt hätten,
Aufgabe, die Steine, die im Weg liegen, wenn sie es gekonnt hätten? Doch sie schei-
zu entfernen und die Fesseln zu lösen. nen es noch nicht einmal versucht zu haben.
Er hatte zu viele Wunder getan, zu viele hat-
G. Gläubige und ungläubige Juden ten sie gesehen und sie waren viel zu gut
(11,45-57) bezeugt, als daß sie gewagt hätten, sie zu
11,45.46 Für viele der Zuschauer bedeu- leugnen. Wie können angesichts dieser Tatsa-
tete dieses Wunder unmißverständlich, che moderne Ungläubige und Skeptiker
daß der Herr Jesus Christus Gott ist, und davon reden, daß die Wunder unseres Herrn
sie »glaubten an ihn«. Wer sonst als Gott Illusion und Schwindel gewesen seien?
konnte eine Leiche vier Tage nach dem Wenn die Pharisäer, die zur Zeit unseres
Tod aus dem Grab rufen? Herrn lebten, und die Himmel und Erde in
Doch die Auswirkung eines Wunders Bewegung setzten, um seinen Erfolg zu ver-
auf das Leben eines Menschen hängt von hindern, es nicht wagten, die Tatsache anzu-
seiner moralischen Verfassung ab. Wenn zweifeln, daß er Wunder tat, ist es dann nicht
das Herz eines Menschen böse, aufrühre- absurd, seine Wunder nun zu leugnen, nach-
risch und ungläubig ist, wird es auch dem achtzehn Jahrhunderte ins Land gegan-
35)
dann nicht glauben, wenn vor seinen gen sind?
Augen ein Toter zum Leben erweckt 11,48 Die Obersten der Juden waren
wird. Das war auch hier der Fall. Einige der Meinung, daß sie nicht länger untätig
der Juden, die Zeugen dieses Wunders bleiben konnten. Wenn sie hier nicht ein-
waren, waren trotz des nicht zu leugnen- griffen, würde die Masse des Volkes von
den Beweises nicht bereit, den Herrn den Wundern Jesus überzeugt werden.
Jesus als ihren Messias anzunehmen. Wenn die Menschen Jesus nun als ihren
Und so gingen sie »hin zu den Phari- König anerkannten, dann würde das
säern« um zu berichten, was in Bethani- Schwierigkeiten mit Rom bringen. Die
en geschehen war. Berichteten sie, damit Römer würden denken, daß Jesus
die Pharisäer kommen und an Jesus gekommen sei, um das Reich zu besie-
glauben sollten? Wohl nicht, sondern gen, und sie würden mit ihren Legionen
weil sie die Pharisäer noch mehr gegen kommen, um die Juden zu bestrafen. Der
den Herrn Jesus aufbringen wollten, da- Ausdruck »unsere Stadt wie auch unsere
mit sie weiter seinen Tod planen sollten. Nation wegnehmen« bedeutet, daß die
11,47 »Da versammelten die Hohen- Römer den Tempel zerstören und die
priester und die Pharisäer den Hohen Juden zerstreuen würden. Genau das
Rat«, um zu diskutieren, welche Maß- geschah 70 n. Chr. – nicht jedoch, weil
nahmen zu ergreifen wären. Die Frage: die Juden den Herrn angenommen hätten,
»Was tun wir?« bedeutet: »Was wollen sondern weil sie ihn abgelehnt hatten.
wir nun tun? Warum handeln wir nicht F. B. Meyer drückte es sehr gut aus:
schneller? ›Dieser Mensch‹ tut so viele Das Christentum gefährdet Geschäfte,
Wunder und wir tun nichts, um ihn zu untergräbt profitable doch unlautere Hand-
hindern.« Die jüdischen Führer sprachen lungsweisen, stiehlt den Heiligtümern
sich mit diesen Worten ihr eigenes Urteil. Satans die Kunden, gefährdet Beteiligungen
Sie gaben zu, daß der Herr Jesus »viele und stellt die Welt auf den Kopf. Das Chri-
Zeichen« tat. Warum glaubten sie dann stentum ist eine ermüdende, störende und
36)
nicht an ihn? Sie wollten nicht an ihn das Geschäft verderbende Angelegenheit.
glauben, weil sie ihre Sünden dem Erlö- 11,49.50 »Kaiphas« war von 26 bis
ser vorzogen. 36 n. Chr. »Hoherpriester«. Er saß dem
Ryle sagt ganz richtig: religiösen Gericht vor, das den Herrn
Dies ist ein seltsames Eingeständnis. verurteilte und war auch dabei, als
Sogar die schlimmsten Feinde unseres Herrn Petrus und Johannes in Apostelgeschich-

424
Johannes 11 und 12

te 4,6 vor den Sanhedrin gebracht wur- Sohn Gottes immer mehr an. »Von jenem
den. Er glaubte nicht an den Herrn Jesus, Tag an ratschlagten sie nun« mit neuem
trotz der Worte, die er hier äußert. Elan »um ihn zu töten«.
Nach Kaiphas dachten die Hohen- Jesus erkannte die wachsende Feind-
priester und Pharisäer falsch, wenn sie schaft der Juden und ging deshalb »in
meinten, daß die Juden wegen Jesus ster- eine Stadt mit Namen Ephraim«. Wir
ben würden. Er sagte statt dessen voraus, wissen heute nicht mehr, wo Ephraim
daß Jesus für die Juden sterben würde. Er lag, außer, daß es in einem ruhigen abge-
sagte, daß es besser sei, wenn Jesus »für legenen Gebiet »nahe bei der Wüste«
das Volk sterbe«, statt daß »die Nation« gelegen war.
mit den Römern wegen Jesus Schwierig- 11,55 Die Ankündigung: »Es war aber
keiten bekommen sollte. Es hört sich fast nahe das Passah der Juden« erinnert uns,
so an, als ob Kaiphas wirklich verstan- daß wir uns nun dem Ende des öffentli-
den habe, warum Jesus in diese Welt chen Wirkens Jesu nähern. An diesem Pas-
gekommen war. Wir könnten fast den- sah sollte er gekreuzigt werden. Die Men-
ken, daß Kaiphas Jesus als Opfer für Sün- schen sollten »hinauf nach Jerusalem«
der angenommen habe – und damit die gehen »vor dem Passah, um sich zu rei-
wichtigste Lehre des Christentums. Doch nigen«. Wenn etwa ein Jude eine Leiche
leider ist dies nicht der Fall. Was er sagte berührt hatte, dann mußte er bestimmte
war wahr, doch er selbst glaubte nicht an Reinigungszeremonien durchlaufen, um
Jesus, so daß seine Seele nicht errettet sich von der rituellen Unreinheit zu be-
war. freien. Die Reinigung wurde durch ver-
11,51.52 Dieser Vers erklärt, warum schiedene Arten von Waschungen und
Kaiphas so sprach. »Dies aber sagte er Opfern erreicht. Es war eine traurige Tat-
nicht aus sich selbst«, d. h. er hatte dieses sache, daß die Juden so versuchten, sich
sich nicht selbst ausgedacht. Er sprach zu reinigen, während sie gleichzeitig den
nicht nach eigenem Gutdünken. Seine Tod des Passahlammes planten. Welch
Botschaft wurde ihm von Gott eingege- eine schreckliche Offenbarung des
ben, und zwar mit einer tieferen Bedeu- menschlichen Herzens!
tung, als er selbst beabsichtigte. Er äußer- 11,56.57 Als sich die Menschen »im
te die göttliche Prophezeiung, »daß Jesus Tempel« versammelten, dachten sie über
für die Nation sterben sollte«. Das war den Wundertäter namens Jesus nach, der
dem Kaiphas gegeben, weil »er jenes Jahr in ihrem Land gewesen war. Man disku-
Hoherpriester war«. Gott sprach durch tierte, ob er wohl »zu dem Fest kommen«
ihn, weil er dieses Amt innehatte, und würde. Warum er eventuell nicht kom-
nicht wegen seiner persönlichen Gerech- men würde, ist in Vers 57 beschrieben.
tigkeit, denn er war ein sündiger Es war ein offizieller Befehl von den
Mensch. »Hohenpriestern und den Pharisäern«
Die Prophezeiung des Kaiphas laute- erteilt worden, Jesus festzunehmen.
te nicht nur, daß der Herr »für die Nation Jeder, der wußte, wo er sich aufhielt, soll-
allein« sterben würde, »sondern daß er te den Behörden davon berichten, »damit
auch« seine Auserwählten unter den sie ihn griffen« und ihn töten könnten.
Heiden »in eins versammelte«. Einige
Ausleger sind der Meinung, daß die
Aussage des Kaiphas sich auf die Juden VII. Der Dienst des Sohnes Gottes
in der Zerstreuung bezog, doch wahr- an den Seinen (Kap. 12 – 17)
scheinlicher meinte er die Heiden, die
durch die Predigt des Evangeliums an A. Jesus wird in Bethanien gesalbt
Christus glauben würden. (12,1-8)
11,53.54 Die Pharisäer waren durch 12,1 Das Haus in »Bethanien« war ein
das Wunder in Bethanien nicht über- Ort, wo Jesus gerne weilte. Dort genoß er
zeugt. Statt dessen feindeten sie den die wertvolle Gemeinschaft mit

425
Johannes 12

»Lazarus«, Maria und Martha. Als er und den Armen« hätte gegeben werden
diesmal nach Bethanien kam, setzte er sollen. Doch das war schlichte Heuche-
sich, menschlich gesprochen, größter lei. Er machte sich weder etwas aus den
Gefahr aus, weil im nahen Jerusalem das Armen noch aus dem Herrn. Er wollte
Hauptquartier aller Mächte lag, die sich ihn verraten, nicht für »dreihundert Den-
gegen ihn zusammengefunden hatten. are«, sondern für ein Zehntel dieses Wer-
12,2 Trotz der vielen Menschen, die tes.
gegen Jesus eingestellt waren, gab es Ryle merkt dazu sehr schön an:
noch immer einige, die ihm treu ergeben Daß jemand Christus drei Jahre lang als
waren. »Lazarus aber war einer von Jünger nachfolgen konnte, alle seine Wunder
denen, die mit« dem Herrn »zu Tisch sehen, seine Predigten hören, aus seiner
lagen«, während »Martha diente«. Die Hand wiederholt Wohltaten annehmen, zu
Schrift sagt uns nichts, ob Lazarus in der den Aposteln gezählt werden konnte und
Zeit, in der er tot war, etwas gesehen doch sich schließlich als so verdorben im Her-
oder gehört hatte. Vielleicht hatte Gott zen erweisen konnte – im ersten Augenblick
ihm verboten, solche Informationen wei- erscheint dies unglaublich und unmöglich.
terzugeben. Doch der Fall des Judas zeigt ganz deutlich,
12,3 Es wird in den Evangelien mehr- daß es möglich ist. Nur weniges wird so sehr
mals berichtet, daß eine Frau den Herrn verkannt, wenn überhaupt, wie das Ausmaß
37)
Jesus salbte. Alle diese Berichte sind der Gefallenheit des Menschen.
etwas unterschiedlich, doch man ist all- 12,6 Johannes fügt nun schnell hinzu,
gemein der Ansicht, daß dieser Bericht daß Judas das nicht sagte, weil er »die
hier eine Parallele zu Markus 14,3-9 dar- Armen« besonders geliebt hätte, »son-
stellt. Marias Hingabe an Christus ließ dern weil er ein Dieb war«, habgierig
sie »ein Pfund Salböl von echter, sehr war »und die Kasse hatte und beiseite
kostbarer Narde« nehmen und »seine schaffte, was eingelegt wurde«.
Füße« damit salben. Sie drückte damit 12,7 Der Herr antwortete praktisch:
aus, daß ihr für den Herrn Jesus nichts zu »Halte sie nicht davon ab. Sie hat das Öl
kostbar war. Er ist all dessen wert, was ›aufbewahrt . . . für den Tag meines
38)
wir besitzen und was wir sind. Begräbnisses!‹ Sie will es nun in Liebe
Immer, wenn wir Maria begegnen, und Anbetung über mich gießen. Das
finden wir sie zu Füßen Jesu. Hier trock- soll ihr gewährt sein.«
net sie »seine Füße mit ihren Haaren«. Da 12,8 Es wird nie eine Zeit geben, zu
das Haar einer Frau ihre Ehre ist, legte sie der es nicht »Arme« gibt, denen wir
ihm hier ihre Ehre zu Füßen. Natürlich unsere Freundlichkeit erweisen könnten.
trug Maria den Duft der Salbe noch eine Doch der Dienst des Herrn auf Erde neig-
Weile nach diesem Ereignis an sich. So ist te sich schnell seinem Ende zu. Maria
es auch, wenn Christus angebetet wird: würde nicht jederzeit die Gelegenheit
Dann tragen die Anbetenden selbst auch haben, dieses Öl für ihn zu verwenden.
etwas vom Duft dieser Stunde an sich. Das sollte uns daran erinnern, daß geist-
Kein Haus wird so von Wohlgeruch liche Gelegenheiten vorübergehen kön-
erfüllt wie das, in dem Jesus der ihm nen. Wir sollten niemals zögern, für den
gebührende Platz eingeräumt wird. Herrn jetzt zu tun, was wir können.
12,4.5 Hier sieht man, wie das Fleisch
einen der heiligsten Augenblicke unter- B. Anschläge der Hohenpriester gegen
bricht. Derjenige, »der ihn überliefern Lazarus (12,9-11)
sollte«, konnte es nicht ertragen, daß 12,9 Das Wort, daß Jesus in der Nähe von
solch ein wertvolles Öl an seinen Meister Jerusalem war, verbreitete sich schnell.
verschwendet werden sollte. Judas war Es war nicht länger möglich, seine
nicht der Meinung, daß Jesus »dreihun- Anwesenheit zu verheimlichen. »Eine
dert Denare« wert sei. Er war der große Volksmenge aus den Juden« kam
Ansicht, daß dieses Parfüm »verkauft nach Bethanien, um ihn zu besuchen,

426
Johannes 12

andere kamen, »damit sie auch den gesandt wurde, um sie von der grausa-
Lazarus sähen, den er aus den Toten auf- men Herrschaft der Römer zu befreien
erweckt hatte«. und ihnen nach dem Leiden der jahrelan-
12,10.11 Der unsinnige Haß des gen Unterdrückung durch die Römer
menschlichen Herzens wird auch in die- Ruhe und Frieden zu geben.
sem Vers wieder deutlich. »Die Hohen- 12,14.15 Jesus ritt auf »einem jungen
priester aber ratschlagten, auch den Esel« in die Stadt ein, einem damals übli-
Lazarus zu töten.« Man sollte meinen, chen Lasttier. Doch darüber hinaus
daß er Hochverrat begangen hätte, erfüllte der Herr eine Prophezeiung,
indem er von den Toten auferstand. indem er so in die Stadt ritt.
Doch dafür konnte er doch gar nichts, Dieses Zitat stammt nämlich aus
und doch meinten sie, daß er den Tod Sacharja 9,9. Der Prophet sagte voraus,
dafür verdient habe. daß der König, wenn er käme, »sitzend
Wegen Lazarus »glaubten . . . viele auf einem Eselsfüllen« käme. Der Aus-
von den Juden an Jesus«. Lazarus war druck »Tochter Zion« ist ein bildlicher
deshalb ein Feind des jüdischen »Esta- Ausdruck für das jüdische Volk, wobei
blishments« und mußte aus dem Weg der Zion ein Hügel der Stadt Jerusalem
geschafft werden. Diejenigen, die andere ist.
zum Herrn führen, werden immer zum 12,16 »Seine Jünger« erkannten nicht,
Ziel der Verfolgung und sogar zu Märty- daß Sacharjas Prophezeiung vor ihren
rern. Augen in Erfüllung ging, daß Jesus nun
Einige Kommentatoren sind der Mei- wirklich als der rechtmäßige König von
nung, daß die Hohenpriester als Saddu- Israel nach Jerusalem einzog. Doch nach-
zäer nicht an die Auferstehung glaubten, dem der Herr in den Himmel zurückge-
und deshalb den Gegenbeweis – den auf- kehrt war, um dort zur Rechten des
erweckten Lazarus – los werden wollten. Vaters »verherrlicht« zu werden, däm-
merte den Jüngern, daß diese Ereignisse
C. Der Einzug in Jerusalem (12,12-19) in Erfüllung der Schrift geschehen
12,12.13 Nun kommen wir zum trium- waren.
phalen Einzug Jesu nach Jerusalem. Das 12,17.18 In der Menge, die sah, wie
war am Sonntag vor seiner Kreuzigung. Jesus in Jerusalem einzog, befanden sich
Es ist schwierig, genau zu wissen, auch Menschen, die gesehen hatten, wie
was die »Volksmenge« von Jesus dachte. er »Lazarus . . . aus den Toten aufer-
Hatten sie wirklich verstanden, daß er weckt« hat. Diese erzählten den Umste-
der Sohn Gottes und der Messias Israels henden, daß dieser derselbe sei, der auch
war? Oder sahen sie ihn einfach nur als Lazarus das Leben wiedergegeben habe.
einen König an, der sie von der römi- Als sich die Nachricht dieses bemerkens-
schen Herrschaft befreien würde? Wur- werten »Zeichens« verbreitete, kam eine
den sie nur durch die augenblickliche große »Volksmenge« Jesus entgegen.
Emotion mit fortgetragen? Zweifellos Unglücklicherweise waren sie mehr an
fanden sich in der Menge echte Gläubige, der Befriedigung ihrer Neugier als ihrer
doch der allgemeine Eindruck bleibt geistlichen Bedürfnisse interessiert.
bestehen, daß die meisten dieser Leute 12,19 Als die Menge immer größer
kein echtes Interesse an dem Herrn hat- wurde und das Interesse am Erlöser sei-
ten. nen Höhepunkt erreichte, waren »die
Die Palme ist ein Bild der Ruhe und Pharisäer« außer sich. Weder ihr Reden
des Friedens nach Leiden (Offb 7,9). Das noch ihr Tun hatte den geringsten Ein-
Wort »Hosanna« bedeutet »Wir bitten fluß. Mit rasender Übertreibung schrien
dich, erlöse uns jetzt«. Wenn man diese sie, daß die ganze »Welt . . . ihm nachge-
Gedanken zusammen sieht, dann scheint gangen« sei. Sie erkannten nicht, daß das
es so, als ob die Menschen Jesus als den Interesse des Volkes sehr vergänglich
anerkennen würden, der von Gott war, und daß diejenigen, die wirklich

427
Johannes 12

bereit waren, Jesus als den Sohn Gottes Herr Jesus verglich sich selbst hier mit
anzubeten, nur sehr wenige waren. einem »Weizenkorn«. Würde er nicht
sterben, so würde er auch allein bleiben.
D. Einige Griechen wollen Jesus sehen Er würde die Herrlichkeit des Himmels
(12,20-26) allein genießen, doch dann gäbe es kei-
12,20 Die »Griechen«, die zu Jesus nen einzigen geretteten Sünder, der seine
kamen, waren Heiden, die sich zum Herrlichkeit teilen könnte. Doch wenn er
Judentum bekehrt hatten. Die Tatsache, stürbe, würde er einen Weg zur Erlösung
daß sie »hinzukamen, um auf dem Fest öffnen, durch den viele gerettet werden
anzubeten«, zeigt, daß sie nicht mehr den können.
religiösen Riten ihrer Vorfahren folgten. Das gleiche gilt auch für uns, wie
Daß sie zu diesem Zeitpunkt zum Herrn T. G. Ragland sagt:
Jesus kommen, ist ein Bild dafür, daß die Wenn wir uns weigern, Weizenkörner zu
Heiden nach der Ablehnung Jesu durch sein – in die Erde zu fallen und zu sterben;
die Juden das Evangelium hören und wenn wir weder Aussichten opfern, weder
viele von ihnen gläubig werden würden. Ansehen noch Besitz noch Gesundheit riskie-
12,21 Uns wird nicht gesagt, warum ren; wenn wir auch dann nicht, wenn wir
sie »zu Philippus kamen«. Vielleicht war gerufen werden, unsere Heimat verlassen
er wegen seines griechischen Namens, und Familienbande abschneiden um Christi
und weil er »von Bethsaida« kam, für die willen, dann werden wir allein bleiben. Doch
heidnischen Proselyten anziehend. Ihre wenn wir Frucht für den Herrn bringen wol-
Bitte war wirklich edel: »Herr, wir möch- len, dann müssen wir ihm selbst folgen, zum
ten Jesus sehen.« Niemand, der mit Weizenkorn werden und sterben, dann wer-
39)
einem ernsthaft suchenden Herzen den wir viel Frucht bringen.
kommt, wird von Gott unbelohnt wieder 12,25 Viele Menschen meinen, daß im
fortgeschickt. Leben nur Essen, Kleidung und Vergnü-
12,22 Vielleicht war sich Philippus gen zählt. Sie leben ausschließlich dafür.
nicht sicher, ob der Herr diese Griechen Doch indem sie so ihr Leben lieben,
empfangen würde. Christus hatte erst erkennen sie nicht, daß die Seele weitaus
vor kurzem den Jüngern gesagt, sie soll- wichtiger als der Leib ist. Indem sie das
ten nicht mit dem Evangelium zu den Wohlergehen ihrer Seele vernachlässi-
Heiden gehen, deshalb ging er hin und gen, verlieren sie ihr Leben. Auf der
»sagt es Andreas« und gemeinsam sag- anderen Seite gibt es diejenigen, die alles
ten sie es Jesus. um Christi Willen für Verlust achten. Um
12,23 Warum wollten die Griechen ihm zu dienen, verzichten sie auf das,
Jesus sehen? »Wenn wir versuchen, zwi- was die Menschen so hoch schätzen. Das
schen den Zeilen zu lesen, können wir sind die Menschen, die ihr Leben »zum
vermuten, daß die Weisheit Jesu sie ewigen Leben bewahren«. Das eigene
anzog und daß sie ihn als einen ihrer Leben hassen bedeutet, Christus mehr zu
Volksphilosophen bekannt machen woll- lieben als die eigenen Interessen.
ten. Sie wußten, daß er mit den jüdischen 12,26 Um Christus zu dienen, muß
Führern auf Kollisionskurs lag und woll- man ihm »folgen«. Er will, daß seine Die-
ten sein Leben retten, vielleicht, indem ner seinen Lehren gehorchen und ihm
sie ihn mit nach Griechenland nahmen. moralisch gleichen. Sie müssen das Bei-
Ihre Philosophie lautete: ›Schone dich spiel ihres Todes auf sich selbst anwen-
selbst‹, doch Jesus sagte ihnen, daß diese den. Allen Dienern ist die ständige
Philosophie dem Gesetz der Ernte genau Gegenwart und Bewahrung ihres Mei-
entgegengesetzt ist. Er würde durch sei- sters verheißen, und das bezieht sich
nen Opfertod und nicht durch ein beque- nicht nur auf das jetzige Leben, sondern
mes Leben ›verherrlicht‹ werden.« auch auf die Ewigkeit. Der Dienst jetzt
12,24 Samen bringt nie eine Ernte, ehe wird Gottes Wohlwollen an einem
er nicht »in die Erde fällt und stirbt«. Der zukünftigen Tag ernten. Was immer man

428
Johannes 12

an Schande und Tadel hier auf Erden ten sie darin nicht die Stimme Gottes. Sie
erdulden muß, ist klein im Vergleich zu hatten nur erkannt, daß die Stimme über-
der Ehre, daß man öffentlich von Gott menschlich gewesen sei, und sie konnten
dem Vater im Himmel gelobt wird. sich nur vorstellen, daß »ein Engel« ge-
sprochen habe. Gottes Stimme kann nur
E. Jesus rechnet mit seinem von denen gehört und verstanden wer-
bevorstehenden Tod (12,27-36) den, denen der Heiligen Geist hilft. Men-
12,27 Immer mehr wanderten die Gedan- schen können das Evangelium immer
ken des Herrn zu den Ereignissen, die wieder hören, und doch kann es ihnen
ihm nun unmittelbar bevorstanden. Er stets bedeutungslos erscheinen, bis eines
dachte an das Kreuz und über die Zeit Tages der Heilige Geist durch das Wort
nach, wenn er zum Träger der Sünde zu ihnen spricht.
werden würde und den Zorn Gottes über 12,30 Der Herr erklärte den Zuhö-
unsere Sünden ertragen würde. Wenn er rern, daß nicht um seinetwillen diese
an diese Stunde dachte, war seine »Seele Stimme hörbar gewesen war. Er hätte sie
bestürzt«. Wie sollt er in einem solchen auch sonst vernehmen können. Die Stim-
Augenblick beten? Sollte er seinen Vater me Gottes war um der Umstehenden
bitten, ihn »aus dieser Stunde« zu retten? willen hörbar geworden.
Dafür konnte er nicht bitten, denn der 12,31 »Jetzt ist das Gericht dieser
Zweck seines Kommens in die Welt war Welt«, sagte er. Die Welt würde bald den
es, ans Kreuz zu gehen. Er wurde gebo- Herrn des Lebens und der Herrlichkeit
ren, um zu sterben. kreuzigen. Damit würde sie sich selbst
12,28 Statt zu bitten, daß ihm das verurteilen. Bald würden sie die Strafe
Kreuz erspart würde, bat der Herr Jesus, für ihre schreckliche Ablehnung Christi
daß der »Name« seines Vaters verherr- erfahren. Das meinte der Erlöser hier. Die
licht werden möge. Er war mehr daran Verdammung sollte über die schuldige
interessiert, daß Gott die Ehre erhielt, als Menschheit kommen. »Der Fürst dieser
an seiner eigenen Bequemlichkeit und Welt« ist Satan. In einem sehr realen Sin-
Sicherheit. Gott sprach nun vom Himmel ne wurde Satan auf Golgatha besiegt. Er
und bestätigte, daß er seinen Namen dachte, es sei ihm gelungen, den Herrn
»verherrlicht . . . habe und . . . ihn wieder Jesus ein für allemal zu beseitigen. Statt
verherrlichen werde«. Durch Jesu irdi- dessen hatte der Herr einen Weg zur
schen Dienst wurde der Name Gottes Errettung der Menschheit geschaffen
verherrlicht. Die dreißig Jahre in der Ver- und gleichzeitig Satan und seine Gefolg-
borgenheit in Nazareth, die drei Jahres schaft besiegt. Die Strafe an Satan ist
des öffentlichen Wirkens, die wunderba- noch nicht vollzogen worden, doch sein
ren Worte und Taten des Erlösers – all Schicksal ist besiegelt. Er geht noch
das verherrlichte den Namen des Vaters immer durch diese Welt, um seinen
über alles. Doch noch größere Herrlich- bösen Geschäften nachzugehen, doch es
keit würde Gott durch den Tod, das ist nur noch eine Frage der Zeit, wann er
Begräbnis, die Auferstehung und Him- endlich in den Feuersee »geworfen« wer-
melfahrt Christi werden. den wird.
12,29 Einige der Zuschauer hielten 12,32 Der erste Teil dieses Verses
die Stimme Gottes irrtümlich für Donner. bezieht sich auf den Tod Christi am
Solche Menschen versuchen immer, Kreuz. Er soll an ein Holzkreuz genagelt
geistliche Ereignisse auf natürliche Weise und »von der Erde erhöht« werden. Der
zu erklären. Menschen, die nicht bereit Herr sagte, daß er, wenn er so gekreuzigt
sind, die Tatsache der Wunder anzuneh- werden würde, »alle zu« sich »ziehen«
men, versuchen die Wunder durch das werde. Für diese Aussage sind verschie-
eine oder andere Naturgesetz zu er- dene Erklärungen gegeben worden. Eini-
klären. Andere wußten dagegen, daß es ge Ausleger sind der Meinung, daß Jesus
kein Donner war, und dennoch erkann- alle Menschen entweder zur Erlösung

429
Johannes 12

oder zum Gericht zu sich zieht. Andere gens auf, erreicht ihren Höhepunkt am
denken, daß, wenn Jesus in der Predigt Mittag und steigt bis abends wieder hin-
des Evangeliums erhöht wird, große ab zum Horizont. Sie ist nur eine
Vollmacht in dieser Predigt sein wird begrenzte Anzahl Stunden bei uns. Wir
und viele Seelen zu ihm gezogen wer- sollten sie nutzen, solange sie scheint,
den. Doch wahrscheinlich lautet die kor- denn wenn die Nacht kommt, haben wir
rekte Erklärung, daß durch die Kreuzi- keinen Nutzen mehr von ihr. Geistlich
gung alle Arten von Menschen zu ihm gesehen ist derjenige, der an den Herrn
gezogen werden. Das bedeutet nicht alle Jesus glaubt, derjenige, der im Licht wan-
Menschen ohne Ausnahme, sondern delt. Wer ihn ablehnt, »wandelt in der
Menschen aus jedem Volk und Stamm Finsternis« und »weiß nicht, wohin er
und jeder Sprache. geht«. Er hat keine göttliche Führung
12,33 Als der Herr Jesus davon und stolpert deshalb mehr schlecht als
sprach, erhöht zu werden, wies er damit recht durchs Leben.
auf die Art seines Todes hin, d. h. auf die 12,36 Und wieder fordert der Herr
Kreuzigung. Hier haben wir wieder Jesus seine Zuhörer auf, zu glauben,
einen Beweis für die Allwissenheit des solange es noch möglich ist. Wenn sie
Herrn. Er wußte im voraus, daß er weder gläubig würden, würden sie »Söhne des
in seinem Bett noch bei einem Unfall ster- Lichtes« werden. Sie wären sich auch der
ben, sondern daß er an ein Kreuz gena- Führung durchs Leben und in die Ewig-
gelt werden würde. keit sicher. Nachdem der Herr diese Wor-
12,34 Die »Volksmenge« war über die te gesprochen hatte, ging er von den
Aussage des Herrn verblüfft, daß er Menschen weg und blieb eine Weile ver-
»erhöht« werde. Sie wußten, daß er borgen.
behauptete, daß er der Messias sei, und
wußten doch aus dem AT, daß der Mes- F. Der Unglaube der meisten Juden
sias ewig leben würde (s. Jes 9,7; (12,37-43)
Ps 110,4; Dan 7,14; Micha 4,7). Man 12,37 Johannes unterbricht an dieser Stel-
beachte, daß die Leute Jesus folgender- le, um seine Verwunderung darüber aus-
maßen zitierten: »daß der Sohn des Men- zudrücken, daß so viele »nicht an ihn
schen erhöht werden müsse.« In Wirk- glaubten, . . . obwohl« der Herr Jesus »so
lichkeit hatte er gesagt: »Ich, wenn ich viele Zeichen vor ihnen getan hatte«. Wie
von der Erde erhöht bin.« Natürlich hat- wir schon oben erwähnt haben, hatte ihr
te Jesus sich selbst oft »Menschensohn« Unglaube seinen Grund nicht darin, daß
genannt, und vielleicht hatte er auch es zu wenig Beweise gegeben hätte. Der
schon vorher davon gesprochen, daß der Herr hatte ihnen die stichhaltigsten
Sohn des Menschen erhöht werden wür- Beweise für seine Göttlichkeit gegeben,
de, deshalb war es nicht schwierig für die doch die Menschen wollten ihm nicht
Menschen, hier zwei und zwei zusam- glauben. Sie wollten, daß ein König über
menzuzählen. sie herrschen sollte, aber Buße tun woll-
12,35 Als die Menschen Jesus fragten, ten sie nicht.
wer der Menschensohn sei, sprach er von 12,38 Der Unglaube der Juden war
sich selbst als dem »Licht« der Welt. Er eine Erfüllung der Prophezeiung in
erinnert sie hier daran, daß das »Licht« Jesaja 53, 1. Die Frage: »Herr, wer hat
nur »eine kleine Zeit« bei ihnen sein unserer Verkündigung geglaubt?« erfor-
würde. Sie sollten zum Licht kommen dert die Antwort: »Nicht allzu viele!«
und in ihm wandeln, andernfalls würde Weil der Arm in der Schrift von Macht
»Finsternis« sie »ergreifen«, und sie wür- oder Stärke redet, bedeutet hier »der
den in Unwissenheit umherirren. Arm des Herrn« die mächtige Kraft Gott-
Der Herr scheint sich hier mit der es. Gottes Macht wird nur denen »offen-
Sonne und dem Tageslicht, das sie spen- bart«, die an die Berichte über den Herrn
det, zu vergleichen. Die Sonne geht mor- Jesus Christus glauben. Deshalb, weil

430
Johannes 12

nicht viele die Verkündigung des Mes- schen« gelegen war als an der »Ehre bei
sias annahmen, wurde die Macht Gottes Gott«. Sie dachten mehr an die Zustim-
nur wenigen offenbart. mung der Menschen als an die Gottes.
12,39 Als der Herr Jesus sich dem Kann ein solcher Mensch wirklich ein
Volk Israel vorstellte, lehnte es ihn ab. echter Gläubiger in Christus sein? Man
Immer wieder kam er mit dem Angebot lese Kapitel 5, Vers 44, um diese Frage zu
der Erlösung zu ihnen, doch sie blieben beantworten.
bei ihrem »Nein«. Je mehr ein Mensch
das Evangelium ablehnt, desto schwieri- G. Die Gefahr des Unglaubens
ger wird es für ihn, es anzunehmen. (12,44-50)
Wenn die Menschen ihre Augen vor dem 12,44 Man kann Vers 44 wie folgt para-
Licht verschließen, dann macht Gott es phrasieren: »Wer an mich glaubt, glaubt
ihnen schwerer, das Licht zu sehen. Gott nicht nur an mich, sondern auch an den
läßt sie mit »gerichtlicher« Blindheit Vater im Himmel, der mich gesandt hat.«
schlagen, das heißt mit Blindheit, die Wieder lehrt Jesus hier sein absolutes
Gottes Gericht dafür ist, daß sie seinen Einssein mit dem Vater. Es ist unmöglich,
Sohn abgelehnt haben. an den einen zu glauben, ohne gleichzei-
12,40 Dieses Zitat stammt aus tig an den anderen zu glauben. Wer an
Jesaja 6,9.10. Gott »verblendete« die Christus glaubt, glaubt an Gott den
Augen des Volkes Israel und »verstockte Vater. Man kann nicht an den Vater glau-
ihr Herz«. Er tat das als Reaktion darauf, ben, ehe man die gleiche Ehre auch dem
daß sie ihre Augen geschlossen und ihr Sohn gibt.
Herz selbst verhärtet hatten. Als Folge 12,45 In gewissem Sinne kann nie-
davon, daß Israel in seiner Widerspen- mand Gott den Vater sehen. Er ist Geist
stigkeit und seinem Eigensinn den Mes- und deshalb unsichtbar. Doch der Herr
sias abgelehnt hatte, hatten sie sich selbst Jesus ist in die Welt gekommen, damit
vom Augenlicht, dem Verständnis, der wir erfahren können, wer Gott ist. Damit
Bekehrung und der Heilung abgeschnit- meinen wir jedoch nicht, daß er uns mit-
ten. teilt, wie Gott körperlich aussieht, son-
12,41 In Jesaja 6 wird beschrieben, dern daß er uns seine moralischen Eigen-
wie der Prophet die »Herrlichkeit« Gott- schaften vermittelt. Er hat uns den Cha-
es sah. Johannes fügte nun die Erklärung rakter Gottes offenbart. Deshalb hat
hinzu, daß es Christi Herrlichkeit war, die jeder, der Christus gesehen hat, auch
Jesaja sah, und er sprach von Christus. Gott den Vater gesehen.
Deshalb ist dieser Vers ein weiteres Glied 12,46 Das Bild vom Licht war wohl
in der Kette von Beweisen, daß Jesus eines der Lieblingsbilder unseres Herrn.
Christus Gott ist. Wieder nennt er sich »Licht«, das »in die
12,42 Viele »von den Obersten« der Welt gekommen« ist, damit die, die an
Juden wurden überzeugt, daß Jesus der ihn glauben, »nicht in der Finsternis«
Messias war. Doch wagten sie nicht, an- bleiben. Ohne Christus leben die Men-
deren ihre Überzeugung mitzuteilen, schen in großer Finsternis. Sie haben
weil sie den Ausschluß aus der jüdischen nicht das rechte Verständnis vom Leben,
Gemeinde fürchteten. Wir würden uns vom Tod oder von der Ewigkeit. Doch
wünschen, daß diese Männer echte Gläu- diejenigen, die im Glauben zu Christus
bige gewesen sind, doch das ist zweifel- kommen, brauchen nicht länger nach der
haft. Echter Glaube bekennt sich früher Wahrheit zu suchen, weil sie sie in ihm
oder später zu Jesus. Wer Jesus wirklich gefunden haben.
als Erlöser angenommen hat, zögert 12,47 Der Zweck des ersten Kommens
nicht, das bekannt zu machen, gleich wel- Christi war nicht, daß er »die Welt richte,
che Konsequenzen das nach sich zieht. sondern . . . die Welt errette«. Er saß nicht
12,43 Es war offensichtlich, daß diese zu Gericht über die, die seine Worte nicht
Männer mehr an der »Ehre bei den Men- hören oder nicht an ihn glauben wollten.

431
Johannes 12 und 13

Das bedeutet nicht, daß er diese Ungläu- der Lage, nur das geringste zu tun,
bigen nicht am jüngsten Tag verurteilen um seinen Zustand zu verbessern.
wird, doch dieses Gericht war nicht das Jesus heilt ihn von seiner Schwäche.
Ziel seines ersten Kommens. 4. Die Speisung der Fünftausend
12,48 Der Herr sah nun in die Zu- (Kap. 6). Der Sünder hat keine Nah-
kunft auf den Tag, an dem diejenigen, die rung, er ist hungrig und braucht Spei-
seine Worte abgelehnt haben, vor dem se, die ihm Kraft gibt. Der Herr gibt
Gericht Gottes stehen. Dann werden das ihm Speise für seine Seele, so daß er
»Wort« oder die Lehren des Herrn Jesus nie mehr hungern braucht.
ausreichen, um sie zu verurteilen. 5. Stillung des Sturmes auf dem See
12,49 Was Jesus lehrte, hatte er sich Genezareth (6,16-21). Der Sünder be-
weder selbst ausgedacht, noch in einer findet sich in ständiger Gefahr. Der
menschlichen Schule gelernt. Als gehor- Herr rettet ihn aus dem Sturm.
samer Diener und Sohn Gottes hatte er 6. Die Heilung des Blindgeborenen
nur das gepredigt, wozu ihn sein Vater (Kap. 9). Dieser Mann ist ein Bild für
beauftragt hatte. Diese Tatsache wird die die Blindheit des menschlichen Her-
Menschen am jüngsten Tage verurteilen. zens, ehe es von der Macht Christi
Das Wort Jesu war das Wort Gottes, und angerührt wird. Der Mensch kann
die Menschen wollten es nicht hören. Der weder seine eigene Sündhaftigkeit
Vater hatte ihm nicht nur gesagt, was er noch die Lieblichkeit unseres Erlösers
»sagen«, sondern auch was er »reden« erkennen, ehe er nicht vom Heiligen
solle. Der erste Ausdruck bezieht sich auf Geist erleuchtet wird.
die Botschaft an sich, der zweite auf die 7. Die Auferweckung des Lazarus von
genauen Worte, die der Herr Jesus ver- den Toten (Kap. 11). Das erinnert uns
wenden sollte, wenn er die Wahrheiten natürlich daran, daß der Sünder tot in
Gottes lehrte. Übertretungen und Sünden ist, und
12,50 Jesus wußte, daß der Vater ihn Hilfe von oben nötig hat.
beauftragt hatte, denen »ewiges Leben« Alle diese Zeichen dienten dem Be-
zu geben, die an ihn glaubten. Deshalb weis, daß Jesus der Christus, der Sohn
gab Jesus die Botschaft so weiter, wie Gottes, ist.
»der Vater« sie ihm »gesagt hat«.
Hier kommen wir nun an einen wich- H. Jesus wäscht die Füße seiner Jünger
tigen Wendepunkt in der Erzählung. Bis (13,1-11)
zu diesem Punkt hat der Herr sich dem In Kapitel 13 beginnt das Gespräch im
Volk Israel vorgestellt. Sieben Zeichen Obergemach. Jesus hielt sich nicht mehr
oder Wunder werden berichtet, von unter den feindlichen Juden auf. Er hatte
denen jedes eine Erfahrung zeigt, die ein sich mit seinen Jüngern in ein Oberge-
Sünder macht, wenn er an Christus mach in Jerusalem zurückgezogen, um
glaubt. Die Zeichen sind: mit ihnen eine Zeit der intensiven Ge-
1. Verwandlung von Wasser in Wein bei meinschaft zu verbringen, ehe er in seine
der Hochzeit in Kana, Galiläa (2,1- Gerichtsverhandlung und in den Tod am
12). Dies ist ein Bild für den Sünder, Kreuz gehen würde. Johannes 13 bis 17
dem die göttliche Freude fremd ist, ist einer der beliebtesten Abschnitte des
und der durch die Macht Christi ver- gesamten NT.
wandelt wird. 13.1 Am Tag vor seiner Kreuzigung
2. Die Heilung des Sohnes des königli- »wußte Jesus«, daß für ihn die Zeit
chen Beamten (4,46-54). Dies ist ein »gekommen war«, daß er sterben mußte,
Bild für den kranken Sünder, dem wieder auferstehen und in den Himmel
geistliche Gesundheit fehlt. zurückkehren würde. Er hatte »die Sei-
3. Heilung des Lahmen am Teich nen geliebt«, d. h. diejenigen, die echte
Bethesda (Kap. 5). Der Sünder hat Gläubige waren. Er »liebte sie bis ans
keine Kraft, er ist hilflos und nicht in Ende« seines irdischen Dienstes, und

432
Johannes 13

wird sie für alle Ewigkeit lieben. Doch er 13,6 Petrus war über den Gedanken
liebte sie auch auf unendliche Weise, wie schockiert, daß der Herr seine Füße
er nun bald beweisen sollte. waschen sollte, und gab seiner Mißbilli-
13,2 Johannes erklärt hier nicht, wel- gung Ausdruck, daß jemand, der so groß
ches Abendessen gemeint ist – das Pas- war wie der Herr, sich zu so einem
sah, das Mahl des Herrn oder ein ge- Unwürdigen wie ihm herablassen sollte.
wöhnliches Essen. »Der Teufel« säte im »Wenn wir Gott in der Rolle des Dienen-
Herzen des »Judas« den Gedanken, daß den sehen, so verwirrt uns das.«
die Zeit nun reif sei, »ihn zu überliefern«. 13,7 Jesus erklärt Petrus nun, daß sein
Judas hatte seinen bösen Plan gegen den Tun eine geistliche Bedeutung hatte. Die
Herrn schon lange vorher gefaßt, doch Fußwaschung ist ein Bild für eine be-
jetzt wurde ihm das Zeichen gegeben, stimmte Art der geistlichen Waschung.
seine hinterhältigen Pläne durchzu- Petrus wußte, daß der Herr die äußerli-
führen. che Handlung vollzog, doch er »wußte
13,3 Vers 3 betont, wer da einen Skla- nicht« ihre geistliche Bedeutung. Er wür-
vendienst tat – nicht nur ein Rabbi oder de es »nachher verstehen«, einmal natür-
Lehrer, sondern »Jesus«, der sich seiner lich, weil der Herr es ihm erklären wollte
Göttlichkeit bewußt ist. Er kannte das und dann später würde er es durch eige-
Werk, das ihm übergeben war, und er ne Erfahrung verstehen lernen, wenn er
wußte, daß er »von Gott ausgegangen nach dem Verrat des Herrn wieder in die
war« und daß er schon auf seiner Reise Gemeinschaft der Jünger aufgenommen
zurück »zu Gott« war. würde.
13,4 Das Bewußtsein seiner Identität 13,8 Petrus zeigt uns die Extreme der
und seiner Mission und seines Schicksals menschlichen Natur. Zunächst schwört
befähigten ihn, sich niederzubeugen und er, daß der Herr »nimmermehr« seine
den Jüngern die Füße zu waschen. Jesus »Füße waschen« sollte – wobei man das
steht »von dem Abendessen auf« und Wort »nimmermehr« wörtlich mit »nicht
legt seine langen »Oberkleider« ab. Dann in Ewigkeit« übersetzen kann. Der Herr
nimmt er ein »leinenes Tuch«, das er als antwortete nun, daß Petrus nur dann mit
Schürze benutzt und nimmt die Stellung ihm Gemeinschaft haben könne, wenn er
eines Sklaven ein. Wir mögen dieses diese Waschung über sich ergehen ließe.
Ereignis eher im Markusevangelium ver- Hier wird nun die Bedeutung der Fußwa-
muten, dem Evangelium des vollkom- schung entfaltet. Wenn Christen in dieser
menen Knechtes. Doch die Tatsache, daß Welt leben, dann ziehen sie sich immer
es im Evangelium des Sohnes Gottes wieder gewisse Verunreinigungen zu.
steht, macht es um so bemerkenswerter. Man hört ein gehässiges Gespräch, sieht
Diese symbolische Handlung erin- ein unsauberes Bild, arbeitet mit gottlo-
nert uns daran, daß der Herr die Herr- sen Menschen zusammen – das alles ver-
lichkeit des Himmels verließ und als ein unreinigt den Gläubigen unausweichlich.
Knecht auf diese Erde kam, um seinen Er braucht immer wieder Reinigung.
Geschöpfen zu dienen. Diese Reinigung geschieht durch das
13,5 In den Ländern des Nahen Wasser des Wortes. Wenn wir die Bibel
Ostens erforderte der Gebrauch von offe- lesen und studieren, wenn wir Predigten
nen Sandalen, daß man sich häufig die hören und uns gemeinsam darüber aus-
Füße wusch. Es gehörte zur normalen tauschen, merken wir, daß das Wort
Höflichkeit des Gastgebers, einen Skla- Gottes uns von den bösen Einflüssen um
ven zum Waschen der Füße seiner Gäste uns herum reinigt. Auf der anderen Seite
zur Verfügung zu stellen. Hier wurde der können, wenn wir die Bibel vernachlässi-
göttliche Gastgeber selbst zum Sklaven gen, diese bösen Einflüsse in unserem
und führte diesen niedrigen Dienst aus. Gedächtnis und Leben Fuß fassen, ohne
»Jesus zu Füßen des Verräters – welch ein daß wir uns größere Sorgen darum
Bild, welch eine Lehre für uns!« machen. Als Jesus sagte: »so hast du kein

433
Johannes 13

Teil mit mir«, meinte er damit nicht, daß 13,13.14 Die Jünger hatten anerkannt,
Petrus nur dann gerettet werden könne, daß Jesus ihr »Lehrer und Herr« war,
wenn er von ihm gewaschen würde, son- und damit hatten sie recht. Doch sein
dern daß die Gemeinschaft mit dem Beispiel zeigte, daß der höchste Rang im
Herrn nur durch die ständige Reini- Reiche Gottes der Rang eines Dieners ist.
gungskraft der Schrift in seinem Leben »Wenn . . . der Herr und Lehrer« den
aufrecht erhalten werden kann. Jüngern die »Füße gewaschen« hatte,
13,9.10 Nun verfiel Petrus ins andere welche Ausrede hatten sie da noch, ein-
Extrem. Noch vor einer Minute hatte er ander nicht die Füße zu waschen? Mein-
»nimmermehr« gesagt. Nun bittet er: te der Herr, daß sie einander im wörtli-
»Jetzt wasche mich bitte ganz!« chen Sinne die Füße mit Wasser waschen
40)
Auf dem Weg vom öffentlichen Bad sollten? Wollte er hier eine kirchliche
nach Hause wurden die Füße eines Men- Zeremonie einführen? Nein, die Bedeu-
schen wieder schmutzig. Er brauchte tung seiner Handlung war geistlich. Er
nicht nochmals zu baden, sondern muß- wollte ihnen sagen, daß sie einander rein
te sich nur die Füße waschen lassen. erhalten sollten, indem sie ständige geist-
»Wer gebadet ist, hat nicht nötig, sich zu liche Gemeinschaft pflegen sollten. Wenn
waschen, ausgenommen die Füße, son- man sieht, daß der Bruder oder die
dern ist ganz rein.« Es gibt einen Unter- Schwester kalt oder weltlich wird, sollte
schied zwischen dem Bad und dem man sie in Liebe mit der Bibel ermahnen.
Waschbecken. Das Bad spricht von der 13,15.16 Der Herr hatte ihnen »ein
Reinigung, die man bei seiner Errettung Beispiel« gegeben, ein Musterbeispiel
erfährt. Die Reinigung von der Strafe für dafür, was sie einander in geistlicher
die Sünde durch das Blut Christi findet Hinsicht tun sollten.
nur einmal statt. Das Waschbecken aber Wenn Stolz oder persönliche Feindse-
spricht davon, daß Verunreinigungen, die ligkeit uns davon abhalten, unseren
durch Sünden verursacht wurden, besei- Geschwister zu dienen, sollten wir uns
tigt werden können. Dies muß ständig daran erinnern, daß wir »nicht größer«
durch das Wort Gottes geschehen. Es gibt als unser Herr sind. Er erniedrigte sich
nur ein Bad, aber viele Fußwaschungen. selbst, um die zu waschen, die unwürdig
»Ihr seid rein, aber nicht alle« – das und undankbar waren, und er wußte,
bedeutet, daß die Jünger das Bad der daß einer von ihnen ihn sogar verraten
Wiedergeburt empfangen hatten – das würde. Würden Sie jemandem auf diese
heißt, alle Jünger außer Judas. Er war nie Weise dienen, wenn Sie wüßten, daß er
gerettet worden. bald hingehen würde, und Sie für ein
13,11 Da der Herr alles wußte, wußte bißchen Geld verraten würde? Diejeni-
er auch, daß Judas »ihn überliefern« gen, die »gesandt« sind (die Jünger), soll-
würde, und so bezeichnet er den, der das ten sich nicht zu hoch erachten, etwas zu
Bad der Wiedergeburt nie empfangen tun, das derjenige, der sie ausgesandt hat
hatte. (der Herr Jesus), auch getan hat.
13,17 Diese Wahrheiten über Demut
I. Jesus lehrt seine Jünger, seinem und Selbstlosigkeit zu »wissen« ist das
Beispiel zu folgen (13,12-20) eine, aber man kann sie kennen und doch
13,12 Es scheint so, daß Jesus die »Füße« nie anwenden. Wirklich wertvoll und
aller Jünger »gewaschen« hat. Dann leg- gesegnet werden sie erst, wenn man sie
te er »seine Oberkleider« wieder an und »tut«.
»legte sich wieder zu Tisch«, um die 13,18 Was der Herr gerade eben über
geistliche Bedeutung dessen, was er den Dienst gelehrt hatte, bezog sich
getan hatte, zu erklären. Die Fragen des »nicht« auf Judas. Er war keiner von
Erlösers sind ein interessanter Gegen- denen, die der Herr mit dem Evangelium
stand für das Bibelstudium. Sie sind eine in die Welt senden würde. Jesus wußte,
seiner besten Lehrmethoden. daß die Schrift – wie etwa Psalm 41, 10 –

434
Johannes 13

bezüglich seines Verrats »erfüllt« werden 13,23 Zur Zeit Jesu saßen die Men-
mußte. Judas hatte drei Jahre mit dem schen beim Essen nicht auf Stühlen an
Herrn zusammen gegessen, und doch Tischen, sondern legten sich auf niedrige
hat er »seine Ferse gegen« ihn »aufgeho- Sofas. Der Jünger, »den Jesus liebte«, war
ben« – ein Ausdruck, der den Verrat Johannes, der Schreiber dieses Evangeli-
bezeichnet. In Psalm 41 wird der Verräter ums. Er erwähnt seinen Namen nicht,
vom Herrn sogar als »mein Freund, auf doch zögert er nicht, die Tatsache zu
den ich vertraute«, bezeichnet. erwähnen, daß er einen besonderen Platz
13,19 Der Herr offenbarte seinen Jün- im Herzen des Erlösers einnahm. Der
gern vorher, daß er verraten werden Herr liebte alle Jünger, doch Johannes
würde, so daß die Jünger wüßten, daß stand ihm besonders nahe.
Jesus wirklich Gott war, »wenn es 13,24.25 Petrus »winkt« diesem nun,
geschieht«. Das Wort »es« am Ende des wahrscheinlich sprach er dabei nicht
Satzes kann ausgelassen werden. »Damit hörbar. Vielleicht bat er Johannes nur
ihr glaubt, daß ICH BIN.« Der Jesus des NT durch ein Nicken, den Namen des Verrä-
ist mit dem Jahwe des AT identisch. Des- ters herauszufinden. Johannes »lehnt
halb ist die erfüllte Prophetie einer der sich an die Brust Jesu« und stellt flü-
besten Beweise der Göttlichkeit Christi sternd die schicksalsschwere Frage, die
und auch, so können wir hinzufügen, ein wahrscheinlich ebenso flüsternd beant-
Beweis für die Inspiration der Schrift. wortet wurde.
13,20 Unser Herr wußte, daß der Ver- 13,26 »Jesus antwortete« daß er dem
rat die anderen Jünger zu Fall bringen Verräter einen »eingetauchten Bissen«
oder in Zweifel stürzen konnte. So fügt er geben werde (wahrscheinlich in Wein
hier noch dieses Wort der Ermutigung oder Fleischsaft eingetaucht). Einige
hinzu. Sie sollten sich immer daran erin- Ausleger sagen, daß ein orientalischer
nern, daß sie einen göttlichen Auftrag Gastgeber einem besonders geehrten
hatten. Sie würden so sehr mit Jesus Gast beim Mahl das Brot reichte. Indem
identifiziert werden, daß, wer sie auf- er Judas zum Ehrengast erhob, versuchte
nahm, auch ihn aufnahm. Auch gilt, daß der Herr ihn wahrscheinlich durch seine
diejenigen, die Christus angenommen Gnade und Liebe zur Buße zu gewinnen.
haben, auch Gott den Vater angenom- Andere sind der Meinung, daß beim Pas-
men haben. Auf diese Weise wurden sie sah das Brot allgemein in dieser Weise
durch die enge Verbindung mit Gott dem weitergereicht wurde. Wenn das stimmt,
Sohn und Gott dem Vater getröstet. dann verließ Judas während des Passah
noch vor der Einsetzung des Herren-
J. Jesus sagt den Verrat durch Judas mahles den Saal.
voraus (13,21-30) 13,27 Satan hatte Judas schon einge-
13,21.22 Das Wissen, daß einer seiner geben, den Herrn zu verraten. Nun »fuhr
Jünger ihn verraten würde, »erschütter- der Satan in ihn«. Zunächst machte Satan
te« Jesus sehr. Es scheint so, als wollte nur einen Vorschlag. Doch Judas gefiel
Jesus hier dem Verräter eine letzte Gele- der Vorschlag, er erwog ihn und stimmte
genheit geben, seinen bösen Plan fallen ihm schließlich zu. Deshalb übernahm
zu lassen. Ohne ihn direkt bloßzustellen, nun Satan die Kontrolle über ihn. Da der
enthüllte der Herr sein Wissen, daß Herr wußte, daß der Verräter nun ent-
»einer von« den Zwölfen ihn »überlie- schlossen war zu handeln, sagte er ihm,
fern« würde. Doch selbst diese Aussage er solle »schnell« handeln. Offensichtlich
konnte den Entschluß des Verräters nicht wollte er ihn nicht ermutigen, etwas
mehr erschüttern. böses zu tun, sondern er drückte damit
Der Rest der Jünger verdächtigte traurige Resignation aus.
Judas nicht. Sie waren überrascht, daß 13,28.29 Dieser Vers bestätigt, daß das
einer von ihnen so etwas tun könnte und vorangegangene Gespräch zwischen
rätselten, wer es sein könnte. Jesus und Johannes über das Brot von

435
Johannes 13

den anderen Jüngern nicht gehört wor- gengebracht wird. »Und er wird ihn
den war. Sie wußten immer noch nicht, sogleich verherrlichen« – ohne Verzöge-
daß Judas ihren Herrn verraten würde. rung. Gott der Vater erfüllte diese Vor-
»Einige meinten«, daß Jesus Judas hersage des Herrn Jesus, als er ihn von
einfach nur gesagt hatte, schnell noch den Toten auferweckte und ihm den
etwas »für das Fest« zu kaufen. Oder Platz zu seiner Rechten im Himmel gab.
aber sie meinten, daß Jesus Judas beauf- Gott wollte nicht warten, bis das Reich
tragt hatte, »den Armen« eine Spende zu Gottes verwirklicht wurde. Er wollte sei-
geben, weil Judas die Kasse der Jünger nen Sohn »sogleich verherrlichen«.
verwaltete. 13,33 Zum ersten Mal nennt der Herr
13,30 Judas nahm »den Bissen« als Jesus seine Jünger »Kinder« – ein Kose-
Zeichen der besonderen Aufmerksamkeit name. Und er verwendet ihn erst, nach-
Jesu an, und verließ dann die Ge- dem Judas gegangen ist. Er würde nur
meinschaft des Herrn und der anderen »noch eine kleine Weile« bei ihnen sein.
Jünger. Die Schrift fügt hier die bedeu- Dann würde er am Kreuz sterben. Sie
tungsvollen Worte an: »Es war aber würden ihn dann »suchen«, doch wären
Nacht.« Es war nicht nur im wörtlichen sie nicht in der Lage, ihm zu folgen, denn
Sinne Nacht, sondern für Judas war es er würde in den Himmel zurückkehren.
auch geistlich Nacht – eine Nacht der Fin- Der Herr hatte das gleiche »den Juden«
sternis und der Reue, die niemals enden auch gesagt, doch meinte er es hier in
sollte. Es ist immer Nacht, wenn Men- einem anderen Sinn. Für die Jünger wür-
schen dem Erlöser den Rücken kehren. de er nur zeitweilig weggehen. Er würde
für sie wiederkommen (Kap. 14). Doch
K. Das neue Gebot (13,31-35) »die Juden« würde er endgültig verlas-
13,31 Sobald Judas gegangen war, fing sen. Er würde in den Himmel zurückkeh-
Jesus an, offener und vertrauter zu reden. ren, und sie würden ihm wegen ihres
Die Spannung war verflogen. »Jetzt ist Unglaubens dorthin nicht folgen können.
der Sohn des Menschen verherrlicht«, 13,34 Während seiner Abwesenheit
sagte er. Der Herr schaute auf das Erlö- sollten die Jünger durch das »Gebot« der
sungswerk, das er nun bald vollenden Liebe regiert werden. Dieses Gebot war
würde. Sein Tod mag wie eine Niederla- zu diesem Zeitpunkt nicht neu, denn die
ge erschienen sein, doch war er das Mit- Zehn Gebote lehren, Gott und den Näch-
tel, durch das allein verlorene Sünder sten zu lieben. Doch dieses Gebot war auf
gerettet werden konnten. Auf seinen Tod andere Weise »neu«. Es war »neu«, weil
folgten Auferstehung und Himmelfahrt der Heilige Geist den Gläubigen die
und durch alles wurde er außerordent- Fähigkeit schenken würde, ihm zu ge-
lich geehrt. »Und Gott ist verherrlicht« horchen. Es war »neu« in dem Sinne, daß
im Werk des Erlösers. Damit wurde er als es dem alten überlegen war. Das alte Gebot
heiliger Gott verkündigt, der die Sünde sagte: »Liebe deinen Nächsten.« Das Neue
nicht einfach hinnehmen konnte, doch Gebot sagte: »Liebe deine Feinde.«
auch als liebender Gott, der den Tod des Jemand hat einmal treffend gesagt,
Sünders nicht will. Dieses Werk verkün- daß das Gesetz, den anderen zu lieben,
digte Gott auch als gerechten Gott, der nun mit neuer Klarheit ausgelegt wird,
dennoch in der Lage ist, Sünder zu recht- daß es durch eine neue Motivation und
fertigen. Auf Golgatha wurde jede Eigen- neue Verpflichtungen verstärkt wird,
schaft Gottes in außerordentlicher Weise daß es durch ein neues Beispiel veran-
verherrlicht. schaulicht wird und daß ihm auf neue
13,32 »Wenn Gott verherrlicht ist in Weise gehorcht wird.
41)
ihm«, und das ist der Fall , »so wird Wie es in diesem Vers erklärt wird, ist
auch Gott ihn verherrlichen in sich es auch neu im Sinne einer höheren Ebene
selbst«. Gott achtet darauf, daß seinem der Liebe: »wie ich euch geliebt habe,
Sohn die ihm gebührende Ehre entge- auch ihr einander liebt.«

436
Johannes 13 und 14

13,35 Das sichtbare Zeichen christli- hier eine wichtige Stelle, wo Jesus den
cher Jüngerschaft ist nicht ein Kreuz, das Anspruch erhebt, Gott gleich zu sein.
am Hals oder am Revers getragen wird, 14,2 Der Ausdruck »Haus meines
oder sonst eine besondere Art der Klei- Vaters« bezieht sich auf den Himmel, in
dung. Jeder könnte auf dieses Art dem es »viele Wohnungen« gibt. Dort ist
behaupten, ein Christ zu sein. Das wahre Platz für alle Erlösten. »Wenn es nicht so
Kennzeichen des Christen ist seine Liebe wäre«, würde der Herr es »gesagt ha-
zu seinen Mitchristen. Das erfordert gött- ben«, denn er wollte nicht, daß sie falsche
liche Kraft, und diese Kraft wird nur Hoffnungen hegten. Der Satz: »Ich gehe
denen gegeben, die den Heiligen Geist hin, euch eine Stätte zu bereiten« kann
haben. zweierlei Bedeutung haben. Der Herr
Jesus ging nach Golgatha, um den Seinen
L. Jesus kündigt die Verleugnung »eine Stätte zu bereiten«. Durch seinen
durch Petrus an (13,36-38) stellvertretenden Tod können sich die
13,36 »Simon Petrus« verstand nicht, daß Gläubigen sicher sein, daß sie im Him-
Jesus von seinem Tod gesprochen hatte. mel eine Heimat haben. Doch der Herr
Er war der Meinung, daß Jesus eine Rei- ging auch zurück in den Himmel, um
se unternehmen wolle und verstand dort »eine Stätte zu bereiten«. Wir wissen
nicht, warum er nicht mitkommen konn- über diesen Ort nicht sehr viel, doch wir
te. Der Herr erklärte Petrus, daß er ihm wissen, daß für jedes Kind Gottes dort
wirklich einmal »folgen« würde (d. h. Vorbereitungen gemacht sind – »eine
wenn er sterben würde) daß es jedoch bereitete Stätte für ein bereitetes Volk«.
jetzt nicht möglich sei. 14,3 Vers 3 bezieht sich auf die Zeit
13,37 Mit seiner typischen Hingabe der Wiederkunft des Herrn in der Luft,
und Begeisterung gibt Petrus nun seiner wenn diejenigen auferstehen werden, die
Bereitschaft Ausdruck, für den Herrn zu im Glauben gestorben sind, und die
sterben. Er war der Ansicht, aus eigener lebenden Gläubigen verwandelt werden,
Kraft das Martyrium ertragen zu kön- wenn alle, die durch sein Blut erkauft
nen. Später starb er wirklich für den sind, in den Himmel heimgeholt werden.
Herrn, doch nur deshalb, weil ihm von (1. Thess 4,13-18; 1. Kor 15,51-58). Das ist
Gott dazu spezielle Kraft und besonderer das persönliche, wörtliche Kommen
Mut gegeben worden waren. Christi. So sicher, wie er wegging, so
13,38 Jesus erprobt den »unwissen- wird er auch wiederkommen. Sein Ver-
den Eifer« des Petrus, indem er Petrus langen ist es, die Seinen für alle Ewigkeit
etwas berichtet, was er nicht wissen bei sich zu haben.
konnte, daß er den Herrn »dreimal« ver- 14,4.5 Er würde in den Himmel
leugnen würde, ehe diese Nacht vorbei gehen, und sie kannten diesen »Weg«,
war. So wurde Petrus an seine Schwäche denn er hatte ihn ihnen sehr oft genannt.
und Feigheit erinnert und daran, daß er Offensichtlich verstand Thomas die
aus eigener Kraft nicht in der Lage war, Worte des Herrn nicht. Wie Petrus dach-
dem Herrn auch nur wenige Stunden zu te er wohl an eine Reise an einen Ort auf
folgen. der Erde.
14,6 Dieser wunderbare Vers macht
M. Jesus: Der Weg, die Wahrheit und deutlich, daß der Herr Jesus Christus
das Leben (14,1-14) selbst »der Weg« zum Himmel ist. Er
14,1 Der Gedanke dieses Verses scheint zeigt den Weg nicht nur, er ist der Weg.
zu sein: »Ich gehe weg, und ihr werdet Die Erlösung liegt in einer Person. Wer
mich nicht mehr sehen können. Doch diese Person annimmt, der hat gleichzei-
›Euer Herz werde nicht bestürzt. Ihr tig die Erlösung. Echtes Christentum
glaubt an Gott‹, und doch seht ihr ihn bedeutet Christus. Der Herr Jesus ist
nicht. Deshalb ›glaubt‹ in der gleichen nicht einfach einer von vielen Wegen. Er
Weise ›auch an mich‹.« Wieder haben wir ist der einzige Weg. »Niemand kommt

437
Johannes 14

zum Vater als nur durch« ihn. Der Weg auf Jesus blickte, jemanden sah, der den
zu Gott sind weder die Zehn Gebote, Vater vollkommen widerspiegelte.
noch die Goldene Regel, noch Sakramen- 14,10.11 Die Worte »Ich bin in dem
te, noch Kirchenmitgliedschaft – der ein- Vater und der Vater ist in mir« beschrei-
zige Weg zu Gott ist Christus und Chri- ben die enge Beziehung der Einheit zwi-
stus allein. Heute sagen viele, daß es schen Vater und Sohn. Sie sind zwar
nicht wichtig ist, was du glaubst, solange getrennte Personen, doch sind sie in
du es ehrlich meinst. Sie sagen, daß sich ihren Eigenschaften und ihrem Willen
in allen Religionen das Gute findet und identisch. Wir sollten nicht entmutigt
daß sie schließlich alle in den Himmel sein, wenn wir das nicht ganz verstehen.
führen. Doch Jesus hat gesagt: »Niemand Kein sterblicher Geist hat je Gott wirklich
kommt zum Vater als nur durch mich.« verstehen können. Gott weiß Tatsachen,
Außerdem ist der Herr »die Wahr- die wir nie wissen können. Wenn wir ihn
heit«. Er ist nicht einer, der die Wahrheit ganz verstehen könnten, dann wären wir
lehrt, sondern er selbst ist die Wahrheit. so groß wie er! Jesus hatte die Macht, die
Er ist die menschgewordene Wahrheit. Worte Gottes zu reden und Wunder zu
Wer Christus hat, der hat die Wahrheit. tun, doch er kam als Knecht Jahwes in
Sie ist nirgends anders zu finden. diese Welt und sprach und handelte im
Christus ist »das Leben«. Er ist die vollkommenen Gehorsam dem Vater
Quelle des Lebens, sowohl geistlich als gegenüber.
auch ewig. Wer ihn annimmt, hat ewiges Die Jünger sollten glauben, daß er mit
Leben, weil er das Leben ist. dem Vater eins sei, weil Jesus davon
14,7 Und wieder lehrte der Herr die Zeugnis abgelegt hatte. Doch wenn das
geheimnisvolle Einheit zwischen seinem nicht ausreichte, dann sollten sie wenig-
Vater und sich selbst. Wenn die Jünger stens um seiner Werke willen glauben.
wirklich erkannt hätten, wer Jesus war, 14,12 Der Herr sagte voraus, daß die-
hätten sie auch seinen »Vater erkannt«, jenigen, die an ihn glauben, die Wunder
weil der Herr den Menschen den Vater tun würden, die er auch getan hatte, und
offenbarte. »Von jetzt an«, und insbeson- sogar noch »größere als diese«. In der
dere nach der Auferstehung Jesu würden Apostelgeschichte lesen wir, wie die Jün-
die Jünger verstehen, daß Jesus Gott der ger Heilungswunder ähnlich wie Jesus
Sohn ist. Dann würden sie erkennen, daß tun. Doch wir lesen auch von größeren
Christus kennen bedeutet, auch den Wundern – wie die Bekehrung von drei-
Vater zu kennen, und daß den Herr Jesus tausend Menschen am Pfingsttag. Zwei-
sehen bedeutet, Gott zu sehen. Dieser fellos gehört zu dem, was der Herr mit
Vers lehrt nicht, daß Gott und der Herr dem Ausdruck »größere Werke« be-
Jesus dieselbe Person sind. Gott besteht zeichnete, auch die weltweite Verkündi-
aus drei verschiedenen Personen, jedoch gung des Evangeliums, die Rettung so
gibt es nur diesen einen Gott. vieler Menschen und der Bau der Ge-
14,8 Philippus wollte, daß der Herr meinde. Es ist ein »größeres Werk«, Men-
ihm eine besondere Offenbarung über schen zu retten, als nur ihren Leib zu hei-
den Vater gibt, und mehr wollte er nicht. len. Als der Herr in den Himmel zurück-
Er verstand nicht, daß alles, was der Herr kehrte, wurde er verherrlicht, und der
war, tat und sagte, eine Offenbarung des Heilige Geist wurde auf die Erde ge-
Vaters war. schickt. Durch die Macht des Heiligen
14,9 Jesus korrigierte ihn geduldig. Geistes vollführten die Apostel die
Philippus hatte »lange« bei Jesus gelebt. größeren Wunder.
Er war einer der ersten Jünger, die Jesus 14,13 Welch ein Trost muß es für die
berief (Joh 1,43). Doch die volle Wahrheit Jünger gewesen sein zu wissen, daß sie
der Göttlichkeit Christi und seine Einheit in Jesu Namen zum Vater beten konnten
mit dem Vater war ihm noch nicht aufge- und er ihre Bitten annehmen würde,
gangen. Er wußte nicht, daß er, sobald er auch wenn der Herr Jesus bald nicht

438
Johannes 14

mehr bei ihnen war. Dieser Vers bedeutet einen Gleichgestellten. Der Herr würde
nicht, daß der Gläubige von Gott alles seinen »Vater bitten, . . . einen anderen
bekommt, was er sich wünscht. Der Beistand« zu senden. Das Wort »Bei-
Schlüssel zum Verständnis dieser Ver- stand« (Paraklet) bedeutet einen, der an
heißung liegt in den Worten »in meinem die Seite eines anderen berufen wird, um
Namen – was immer ihr bitten werdet in ihm zu helfen. Dieses Wort wird auch
meinem Namen«. In Jesu Namen beten »Fürsprecher« übersetzt (1. Joh 2,1). Der
bedeutet nicht, daß man seinen Namen Herr Jesus ist unser Fürsprecher oder
am Ende des Gebetes nennt. Es geht dar- Beistand, und der Heilige Geist ist »ein
um, in Übereinstimmung mit seinem anderer Beistand« – kein anders gearte-
Geist und seinem Willen zu bitten. Es ter, sondern ein weiterer der gleichen
geht darum, um etwas zu bitten, das Gott Art. Der Heilige Geist bleibt »in Ewig-
verherrlicht, ein Segen für die Mensch- keit« bei den Gläubigen. Im AT kam zu
heit ist und unserem eigenen geistlichen verschiedenen Zeiten der Geist auf be-
Wohlergehen dient. stimmte Menschen, doch er verließ sie
Um in Christi Namen zu bitten, müs- meist wieder. Nun sollte er kommen, um
sen wir in enger Gemeinschaft mit ihm in »Ewigkeit« zu bleiben.
leben. Andernfalls kennen wir seinen 14,17 Der Heilige Geist wird »Geist
Willen nicht. Je enger wir mit ihm zusam- der Wahrheit« genannt, weil seine Lehre
menleben, desto mehr werden unsere wahr ist und er Christus verherrlicht, der
Wünsche mit den seinen übereinstim- die Wahrheit ist. »Die Welt kann« den
men. »Der Vater« wird »im Sohn verherr- Heiligen Geist »nicht empfangen«, weil
licht«, weil der Sohn nur das begehrt, sie ihn nicht sehen kann. Ungläubige
was Gott gefällt. Wenn Gebete dieser Art wollen sehen, ehe sie glauben – auch
vorgebracht und erfüllt werden, dann wenn sie an den Wind und an die Elek-
wird Gott hoch geehrt. trizität glauben, die sie auch nicht sehen
14,14 Die Verheißung wird durch die können. Die Ungeretteten können den
Wiederholung unterstrichen und ist Heiligen Geist weder erkennen noch ver-
dadurch eine große Ermutigung für das stehen. Er kann sie von der Sünde über-
Volk Gottes. Lebe immer in Gottes Wil- führen, und es kann dennoch sein, daß
len, lebe in der Gemeinschaft mit dem sie nicht erkennen, daß er an ihnen wirkt.
Herrn, bitte um irgend etwas, das dem Die Jünger kannten den Heiligen Geist.
Herrn gefällt, und deine Gebete werden Sie haben ihn in ihrem eigenen Leben am
erhört werden. Werk und sein Wirken durch den Herrn
Jesus gesehen.
N. Die Verheißung eines anderen Bei- »Er bleibt bei euch und wird in euch
standes (14,15-26) sein.« Vor Pfingsten kam der Heilige
14,15 Der Herr Jesus würde nun bald sei- Geist und blieb »bei« den Menschen.
ne Jünger verlassen, und sie würden Aber seit Pfingsten nimmt der Geist in
Leid tragen. Wie würden sie dann ihre den Menschen, die an den Herrn Jesus
Liebe zu ihm zum Ausdruck bringen? glauben, für immer Wohnung. Das Gebet
Die Antwort lautet: Indem sie seine »Ge- Davids »Nimm deinen Heiligen Geist
bote« halten. Nicht durch Tränen, son- nicht von mir« ist heute nicht mehr ange-
dern durch Gehorsam. Die »Gebote« des bracht. Der Heilige Geist wird keinem
Herrn sind die Anweisungen, die uns in Gläubigen mehr genommen, auch wenn
den Evangelien, aber auch im restlichen er betrübt, behindert oder unterdrückt
NT gegeben werden. werden mag.
14,16 Das Wort, das hier mit »bitten« 14,18 Der Herr wollte seine Jünger
übersetzt ist, ist nicht das selbe Wort, das nicht »verwaist zurücklassen«. Er würde
benutzt wird, um die Bitte eines Unterge- wieder zu ihnen kommen. In gewissem
benen seinem Vorgesetzten gegenüber Sinne kam er nach seiner Auferstehung
zu bezeichnen, sondern eine Bitte an wieder zu ihnen, doch ist es sehr zweifel-

439
Johannes 14

haft, ob das hier gemeint ist. In einem nen »Geboten«. Es ist nutzlos, von Liebe
anderen Sinne kam er an Pfingsten zu zu Gott zu reden, wenn wir ihm nicht
ihnen in der Gestalt des Heiligen Geistes. gehorchen wollen. In gewisser Weise
Dieses geistliche Kommen ist hier liebt der Vater die gesamte Welt. Doch er
gemeint. »Pfingsten war gewissermaßen hat eine besondere Liebe für diejenigen,
ein Kommen Jesu.« In einem dritten Sin- die seinen Sohn lieben. Je mehr wir den
ne wird er am Ende dieses Zeitalters wie- Erlöser lieben, desto besser lernen wir
der zu seinen Jüngern kommen, wenn er ihn kennen.
seine Auserwählten nach Hause in den 14,22 Der Judas, der hier erwähnt
Himmel holen wird. wird, hatte das Unglück, denselben
14,19 Kein Ungläubiger sah den Namen zu tragen wie der Verräter. Doch
Herrn Jesus nach seinem Begräbnis. der Geist Gottes war so freundlich, ihn
Nachdem er auferstanden war, wurde er vom »Ischarioth« zu unterscheiden. Er
nur von denen gesehen, die ihn liebten. konnte nicht verstehen, wie der Herr den
Doch sogar nach seiner Himmelfahrt Jüngern erscheinen könnte, ohne auch
sahen ihn die Jünger noch immer im von »der Welt« gesehen zu werden.
Glauben. Das ist zweifellos mit den Wor- Zweifellos dachte er, daß Christus als
ten gemeint: »ihr aber seht mich.« Nach- erobernder König oder Volksheld wie-
dem die Welt ihn nicht mehr sehen konn- derkommen würde. Er verstand nicht,
te, sollten seine Jünger ihn weiterhin se- daß der Herr sich den Seinen auf geistli-
hen können. »Weil ich lebe, werdet auch che Weise »offenbaren« würde. Sie wür-
ihr leben.« Hier schaut Jesus in die Zu- den ihn im Wort Gottes durch den Glau-
kunft auf den Tag der Auferstehung zum ben sehen können.
Leben. Das war das Versprechen des Durch den Geist Gottes können wir
Lebens für alle, die auf ihn vertrauen. Christus heute sogar besser kennenler-
Sogar wenn sie sterben sollten, würden nen, als die Jünger es konnten, als er noch
sie auferweckt werden, um nie wieder zu auf der Erde lebte. Als er hier war, war er
sterben. denen in der ersten Reihe der Volksmen-
14,20 »An jenem Tag« bezieht sich ge näher als denen, die weiter hinten
wahrscheinlich auf das Kommen des standen. Doch heute kann jeder von uns
Heiligen Geistes. Er sollte die Gläubigen im Glauben die engste Gemeinschaft mit
in der Wahrheit unterrichten, damit es so, Jesus haben. Die Antwort Jesu auf die
wie es ein besonderes Band zwischen Frage des Judas zeigt, daß die verheißene
dem Sohn und dem Vater gibt, auch eine Offenbarung seinen Jüngern gegenüber
wunderbare Einheit des Lebens und der in Verbindung mit dem Wort Gottes
Interessen zwischen Christus und seinen geschieht. Gehorsam gegen das Wort
Heiligen geben soll. Es ist schwierig zu führt zum Kommen und Bleiben des
erklären, wie Christus in einem Gläubi- Sohnes und des Vaters.
gen wohnt, und gleichzeitig der Gläubige 14,23 Wenn ein Mensch wirklich den
in Christus ist. Das übliche Bild dafür ist Herrn »liebt«, wird er alle seine Lehren
ein Scheit im Feuer. Das Scheit ist im Feu- »halten« wollen, nicht nur einzelne
42)
er, doch das Feuer ist auch im Scheit. Gebote. Der Vater liebt diejenigen, die
Doch dieses Bild gibt die Wahrheit nur gewillt sind, seinem Sohn ohne Rückfra-
unvollkommen wider. Christus wohnt im gen oder Vorbehalte zu gehorchen. Vater
Gläubigen in dem Sinne, daß Jesu Leben und Sohn sind beide solchen liebenden
auf ihn übertragen wird. Er wohnt durch und gehorsamen Herzen besonders
den Heiligen Geist in uns. Der Gläubige nahe.
ist in Christus in dem Sinne, daß er vor 14,24 Auf der anderen Seite werden
Gott in alle Verdienste der Person und diejenigen, die ihn nicht lieben, seine
des Werkes Jesu Christi eingehüllt steht. Worte »nicht halten«. Und sie werden
14,21 Der wirkliche Beweis der Liebe nicht nur die Worte Christi ablehnen,
zum Herrn ist Gehorsam gegenüber sei- sondern damit auch den Vater.

440
Johannes 14

14,25 Als der Herr bei ihnen war, wer er war, und deshalb war ihre Liebe
lehrte er sie bis zu einem gewissen nicht so groß wie sie hätte sein sollen.
Punkt. Er konnte sie keine weiteren »Wenn ihr mich liebtet, so würdet ihr
Wahrheiten lehren, weil sie sie nicht ver- euch freuen, daß ich zum Vater gehe,
stehen konnten. denn der Vater ist größer als ich.« Zu-
14,26 Doch der »Heilige Geist« würde nächst scheint dieser Vers allem zu
mehr offenbaren. Er wurde zu Pfingsten widersprechen, was Jesus bisher über
vom Vater im »Namen« Jesu gesandt. seine Gottgleichheit gelehrt hat. Doch
Der Geist kam in Christi Namen in dem gibt es keinen Widerspruch, und der Zu-
Sinne, daß er die Interessen Christi auf sammenhang erklärt die Bedeutung. Als
Erden vertritt. Er kam nicht, um sich Jesus auf der Erde war, wurde er gehaßt
selbst zu verherrlichen, sondern um und gejagt, verfolgt und geschunden.
Menschen zum Erlöser zu ziehen. »Der Die Menschen lästerten und verachteten
wird euch alles lehren«, sagte der Herr. ihn, und sie spuckten ihn sogar an. Von
Er tat dies in erster Linie durch den seinen eigenen Geschöpfen erduldete er
mündlichen Dienst der Apostel, dann schreckliche Demütigungen.
aber durch das geschriebene Wort Got- Gott der Vater hatte eine solche
tes, das wir heute haben. Der Heilige Behandlung durch die Menschen nie
Geist »erinnerte« die Jünger an alle Leh- ertragen müssen. Er blieb im Himmel,
ren des Erlösers. Hier scheint der Herr weit weg von der Bosheit der Sünder. Als
Jesus die Saat für die Lehre gelegt zu der Herr Jesus in den Himmel zurück-
haben, die durch den Heiligen Geist im kehrte, kehrte er an einen Ort ohne
NT entfaltet wird. Demütigungen zurück. Deshalb sollten
sich die Jünger freuen, als Jesus sagte,
O. Jesus hinterläßt seinen Jüngern daß er »zum Vater« gehe, weil in diesem
seinen Frieden (14,27-31) Sinne der Vater »größer« als er selbst war.
14,27 Ein Mensch, der bald stirbt, verfaßt Als Gott war der Vater nicht größer, doch
normalerweise ein Testament, in wel- er war größer, weil er nie als Mensch in
chem er seinen Besitz seinen Lieben hin- die Welt kam, um dort erniedrigt zu wer-
terläßt. Genau das tut der Herr Jesus hier. den. Soweit es um die Eigenschaften der
Doch er hat den Jüngern nichts Materiel- Göttlichkeit geht, sind der Sohn und der
les hinterlassen, sondern etwas, das man Vater gleich. Doch wenn wir an die nied-
für Geld nicht kaufen kann – »Frieden«, rige Stellung denken, die der Herr Jesus
inneren Frieden für das Gewissen, der als Mensch hier auf Erde einnahm,
aus dem Bewußtsein der vergebenen erkennen wir, daß in diesem Sinne Gott
Sünde und der Versöhnung mit Gott ent- der Vater »größer« war als er. Er war in
steht. Christus kann ihn geben, weil er seiner Stellung größer, nicht als Person.
ihn auf Golgatha mit seinem Blut erkauft 14,29 In selbstloser Sorge für seine
hat. Dieser Friede wird nicht gegeben, ängstlichen Jünger enthüllt ihnen der
»wie die Welt gibt« – sparsam, selbst- Herr diese zukünftigen Ereignisse, damit
süchtig und zeitweilig. Jesu Geschenk sie weder entmutigt oder ängstlich wür-
des Friedens gilt für immer. Warum soll- den noch Anstoß nähmen, sondern
te dann ein Christ »bestürzt« oder damit sie »glauben«.
»furchtsam« sein? 14,30 Der Herr wußte, daß die Zeit,
14,28 Jesus hatte den Jüngern schon zu der er verraten würde, nun nahe war
gesagt, daß er sie verlassen würde, und und daß er nicht mehr sehr viel Zeit hat-
daß er dann später wiederkommen wür- te, um mit den Seinen zu »reden«. Satan
de, um sie mit sich heim in den Himmel näherte sich, doch der Erlöser wußte, daß
zu nehmen. »Wenn« sie ihn liebten, dann der Feind an ihm keinen Makel der Sün-
würde diese Ankündigung sie »freuen«. de finden konnte. In Christus gab es
Natürlich liebten sie Jesus in gewissem nichts, das auf die bösen Versuchungen
Sinne. Doch sie erkannten nicht völlig, Satans reagiert hätte. Es wäre lächerlich,

441
Johannes 14 und 15

wollte man von irgend jemandem außer Es kann »wegnehmen« bedeuten, wie es
Jesus sagen, daß Satan an ihm »nichts« auch traditionell übersetzt wird (so wird
habe. auch in Joh 1,29 übersetzt). Dann würde
14,31 Mit anderen Worten können wir es sich auf die Strafe des physischen
diesen Vers wie folgt wiedergeben: »Die Todes beziehen (1. Kor 11,30). Doch das-
Zeit des Verrats ist nahe. Ich werde frei- selbe Wort kann auch »aufheben« (wie in
willig ans Kreuz gehen. Das ist der Wille Joh 8,59) bedeuten. Dann wäre damit der
des Vaters für mich. Das wird der Welt freundliche Dienst Gottes gemeint, der die
zeigen, wie sehr ich ›den Vater liebe‹. fruchtlose Rebe ermutigt, indem er ihr
Deshalb gehe ich nun ohne Widerstand.« hilft, mehr Licht und Luft zu erhalten,
Damit bat der Herr die Jünger, sich zu damit sie dann hoffentlich Frucht brin-
erheben und mit ihm fortzugehen. Es ist gen kann.
nicht eindeutig, ob sie an diesem Punkt Die »Rebe, . . . die Frucht bringt« ist
das Obergemach verließen. Vielleicht der Christ, der dem Herrn Jesus immer
fand der Rest dieses Gespräches auf dem ähnlicher wird. Doch sogar solche Reben
Weg statt. müssen gereinigt werden. Genauso wie
echte Reben von Insekten, Mehltau und
P. Jesus, der wahre Weinstock (15,1-11) anderen Schädlingen gereinigt werden
15,1 Im AT wird das Volk Israel durch müssen, so muß ein Christ von weltli-
einen Weinstock versinnbildlicht, der chen Dingen gereinigt werden, die ihm
von Jahwe gepflanzt worden ist. Doch anhängen.
das Volk erwies sich als untreu und 15,3 Das Reinigungsmittel ist »das
unfruchtbar, so daß der Herr Jesus sich Wort« des Herrn. Die Jünger waren
selbst hier als den »wahren Weinstock« zunächst bei ihrer Bekehrung durch das
vorstellt, der die vollkommene Erfüllung Wort gereinigt worden. Und als der Erlö-
aller anderen Vorbilder und Schatten ist. ser dann mit ihnen sprach, hatte sein
Gott der »Vater ist der Weingärtner«. Wort einen reinigenden Effekt auf sie. So
15,2 Die Meinungen gehen auseinan- kann sich dieser Vers auf die Rechtferti-
der, was mit »Rebe . . ., die nicht Frucht gung und die Heiligung beziehen.
bringt« gemeint ist. Einige Ausleger sind 15,4 »Bleiben« bedeutet, an dem Ort
der Meinung, daß damit ein falscher zu verharren, an den man gestellt ist. Der
Bekenner gemeint ist. Er gibt vor, ein Christ ist in Christus, das ist seine Stel-
Christ zu sein, doch ist er nie mit Chri- lung. Im täglichen Leben sollte er in
stus im Glauben vereint worden. Andere enger Gemeinschaft mit dem Herrn blei-
denken, daß es sich um einen echten ben. Eine Rebe bleibt am Weinstock, weil
Christen handelt, der seine Errettung sie all ihr Leben und ihre Nahrung aus
verliert, weil er keine Frucht bringt. Das dem Weinstock bezieht. So bleiben wir in
ist unmöglich, weil das den vielen ande- Christus, indem wir Zeit im Gebet ver-
ren Schriftstellen widerspricht, die leh- bringen, sein Wort lesen und ihm gehor-
ren, daß ein Gläubiger ewige Errettung chen, Gemeinschaft mit seinen Jüngern
hat. Wieder andere Ausleger denken, haben und uns ständig der Gemeinschaft
daß es sich um einen echten Christen mit ihm bewußt sind. Wenn wir auf die-
handelt, der zurückgeht. Er weicht se Weise einen ständigen Kontakt mit
immer mehr vom Herrn ab und interes- ihm aufrecht erhalten, dann wird uns
siert sich nur noch für die Welt. Er kann bewußt, daß er in uns bleibt und uns mit
keine geistliche Frucht mehr bringen – geistlicher Stärke und Kraft ausrüstet.
Liebe, Freude, Friede, Langmut, Freund- »Die Rebe« kann nur dann »Frucht brin-
lichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Enthalt- gen«, wenn »sie am Weinstock bleibt«.
samkeit. Ein Gläubiger kann nur dann die Frucht
Was der Herr genau mit der unfrucht- eines christusähnlichen Charakters brin-
baren Rebe macht, hängt davon ab, wie gen, wenn er jeden Augenblick in der
man das griechische Verb airo übersetzt. Nähe Christi lebt.

442
Johannes 15

15,5 Christus selbst ist »der Wein- Zeugnis als Christ ins Feuer. Das kann
stock«, die Gläubigen sind »die Reben«. man zum Beispiel am Leben Davids sehr
Es geht nicht darum, daß die Rebe ihr gut sehen. Er war ein echter Gläubiger,
Leben um des Weinstocks willen führt, doch er wurde unachtsam und fiel in die
sondern nur darum, daß das Leben des Sünden Ehebruch und Mord. Das führte
Weinstocks durch die Rebe hindurch- dazu, daß die Feinde des Herrn lästerten.
fließt. Manchmal bitten wir: »Herr, laß Sogar noch heute machen sich Atheisten
mich mein Leben doch für dich führen.« über David lustig (und über den Gott
»Getrennt von« Christus können wir Davids). Sie werfen ihn gewissermaßen
»nichts tun«. Eine Rebe hat nur eine ins Feuer.
große Aufgabe: Frucht bringen. Sie ist 15,7 »Bleiben« ist das Geheimnis
nicht zu gebrauchen, um daraus ein eines erfolgreichen Gebetslebens. Je
Möbelstück oder einen Balken für ein enger wir beim Herrn bleiben, desto
Haus zu machen. Sie gibt noch nicht ein- mehr lernen wir, zu denken wie er. Je
mal gutes Feuerholz her. Doch zum mehr wir ihn durch sein Wort kennenler-
Fruchtbringen ist sie zu gebrauchen – nen, desto mehr werden wir seinen Wil-
solange sie am Weinstock bleibt. len verstehen. Je mehr unser Wille mit
15,6 Dieser Vers ist die Ursache vieler dem seinen übereinstimmt, desto siche-
Streitgespräche. Einige sind der Mei- rer können wir uns sein, daß unsere
nung, daß die beschriebene Person ein Gebete erhört werden.
Gläubiger ist, der in Sünde fällt und dar- 15,8 Wenn die Kinder Gottes das
aufhin verloren ist. Solch eine Interpreta- Ebenbild Christi für die Welt sind, wird
tion steht im direkten Gegensatz zu vie- der »Vater verherrlicht«. Menschen wer-
len Schriftversen, die lehren, daß ein ech- den gezwungen zu bekennen, daß dieser
tes Kind Gottes nicht mehr verloren Gott groß sein muß, wenn er solch böse
gehen kann. Andere sind der Meinung, Sünder in so gottesfürchtige Heilige ver-
daß es sich hier um einen »Bekenner« wandeln kann. Man beachte die Steige-
handelt, der zwar dem Bekenntnis nach rung in diesem Abschnitt: Frucht (V. 2),
Christ ist, jedoch nicht wiedergeboren mehr Frucht (V. 2) und »viel Frucht«
ist. Judas ist oft als Beispiel dafür heran- (V. 8).
gezogen worden. »Daß ihr . . . meine Jünger werdet.«
Wir glauben, daß es sich bei dieser Das bedeutet, daß wir uns als seine Jün-
Person um einen echten Gläubigen han- ger erweisen, wenn wir echte Jünger sind.
delt, weil es in diesem Abschnitt um ech- Andere können dann sehen, daß wir ech-
te Christen geht. Das Thema ist aber te Jünger sind, weil wir unserem Herrn
nicht die Errettung, sondern das Bleiben gleichen.
und das Fruchtbringen. Doch durch 15,9 Die Liebe, mit der unser Erlöser
Unachtsamkeit und Gebetslosigkeit ver- uns liebt, ist dieselbe Liebe, mit der »der
liert der Gläubige die Verbindung zum Vater« den Sohn liebt. Unsere Herzen
Herrn. Als Ergebnis begeht er eine Sünde neigen sich anbetend, wenn wir solche
und sein Zeugnis ist damit verdorben. Wort lesen. Diese Liebe Jesu zu uns hat
Dadurch, daß er nicht in Christus geblie- die gleiche Qualität und das gleiche Aus-
ben ist, wird er »hinausgeworfen wie die maß. Sie ist eine »riesige, weite, tiefe,
Rebe« – nicht von Christus, sondern unermeßliche Liebe, die alle Erkenntnis
durch andere Menschen. Die Reben wer- übersteigt, und die vom Menschen nie in
den gesammelt und »ins Feuer« gewor- ihren Ausmaßen erkannt werden kann«.
fen »und sie verbrennen«. Es ist nicht Sie ist »so tief, daß alle unsere Gedanken
Gott, der das tut, sondern Menschen. in ihr ertrinken«. »Bleibt in meiner Lie-
Was bedeutet das? Es bedeutet, daß die be«, hat unser Herr gesagt. Das bedeutet,
Menschen einen zurückgegangenen daß wir immer wieder seine Liebe in
Christen verachten. Sie ziehen seinen unserem Leben erkennen und genießen
Namen in den Schmutz. Sie werfen sein sollen.

443
Johannes 15

15,10 Der erste Teil von Vers 10 sagt 15,13 Ihre Liebe sollte so geartet sein,
uns, wie wir in seiner Liebe bleiben kön- daß sie bereit wären, füreinander zu ster-
nen: indem wir die »Gebote halten«. »Es ben. Menschen, die dazu bereit sind,
gibt keinen anderen Weg, in Jesus glück- streiten nicht miteinander. Das größte
lich zu sein, als zu vertrauen und zu Beispiel für menschliche Selbstaufopfe-
gehorchen.« Die zweite Hälfte des Verses rung ist ein Mensch, der »für seine
nennt uns ein vollkommenes Beispiel: Freunde sein Leben hingibt«. Die Jünger
Der Herr Jesus hat »die Gebote« seines Christi werden zu dieser Hingabe aufge-
»Vaters gehalten«. Alles, was er tat, ge- fordert. Einige verlieren ihr Leben im
schah im Gehorsam gegen den Willen wörtlichen Sinne, andere verbringen ihr
Gottes. Er genoß ständig die Liebe des gesamtes Leben im unermüdlichen
Vaters. Nichts kam, um je das wunderba- Dienst für das Volk Gottes. Der Herr
re Gefühl der liebevollen Gemeinschaft Jesus war das Beispiel hierfür. Er starb
zu trüben. für seine Freunde. Natürlich waren sie
15,11 Jesus fand seine tiefste Freude noch seine Feinde, als er für sie starb,
in der Gemeinschaft mit dem Vater. Er doch wenn sie gerettet werden, werden
wollte, daß seine Jünger diese Freude sie seine Freunde. So ist es richtig zu
auch genießen, die aus der Abhängigkeit sagen, daß er sowohl für seine Feinde als
von ihm entspringt. Er wollte, daß seine auch für seine Freunde starb.
Freude die ihre würde. Die Vorstellung 15,14 Wir zeigen, daß wir seine
der meisten Menschen von Freude geht »Freunde« sind, wenn wir tun, was er
dahin, daß sie so glücklich wie möglich uns »gebietet«. Dadurch werden wir
sein und dabei Gott aus ihrem Leben nicht zu seinen Freunden, sondern zei-
ausschließen wollen. Der Herr lehrte, gen damit der Welt unsere Freundschaft
daß echte Freude dadurch entsteht, daß zu Jesus.
man Gott so weit als möglich an seinem 15,15 Der Herr betont hier den Unter-
Leben teilhaben läßt. »Damit . . . eure schied zwischen »Sklaven« und »Freun-
Freude völlig werde«, oder »vollkom- den«. Von Sklaven erwartet man, daß sie
men« werde. Die Freude der Jünger einfach die Arbeit tun, die man ihnen ge-
würde vollkommen werden, wenn sie in geben hat, doch Freunde werden von
Christus blieben und seine Gebote hiel- ihrem Herrn ins Vertrauen gezogen.
ten. Viele haben Johannes 15 dazu Unseren Freunden offenbaren wir unsere
benutzt, um Zweifel bezüglich der Pläne für die Zukunft. Unseren Freun-
Sicherheit der Gläubigen zu lehren. Sie den teilen wir auch Vertrauliches mit. In
haben die oben besprochenen Verse gewissem Sinne werden die Jünger
benutzt, um zu zeigen, daß ein Schaf immer Sklaven des Herrn bleiben, doch
Christi eventuell verloren gehen kann. sie sind auch mehr als das – sie sind
Doch das Ziel unseres Herrn ist es nicht, Freunde. Der Herr offenbart ihnen gera-
daß »unsere Zweifel völlig werden«, de in diesem Augenblick das, was er von
sondern daß »unsere Freude völlig seinem »Vater gehört« hat. Er berichtet
wird«. ihnen von seinem Weggehen, vom Kom-
men des Heiligen Geist, von seiner Wie-
Q. Das Gebot, einander zu lieben derkunft und von ihrer Verantwortlich-
(15,12-17) keit ihm gegenüber in der Zwischenzeit.
15,12 Der Herr würde seine Jünger bald Jemand hat einmal festgestellt, daß wir
verlassen. Sie würden in einer feindli- als Reben empfangen (V. 5), als Jünger fol-
chen Welt zurückgelassen werden. Wenn gen (V. 8) und als Freunde Gemeinschaft
die Spannung steigen würde, würde es haben (V. 15).
die Gefahr des Streits unter den Jüngern 15,16 Damit die Jüngern gar nicht erst
geben. Und deshalb gibt der Herr ihnen geneigt würden, entmutigt zu werden
diese Handlungsanweisung: »Liebt ein- und aufzugeben, erinnerte Jesus sie dar-
ander, wie ich euch geliebt habe.« an, daß er derjenige sei, der sie »erwählt«

444
Johannes 15

hat. Das kann bedeuten, daß er sie zur diejenigen, die kultiviert sind, aber nur
ewigen Erlösung, zur Jüngerschaft oder sich selbst leben. Christen verurteilen sie
zum Fruchtbringen erwählt hat. Er hatte durch ihr geheiligtes Leben, »darum haßt
die Jünger für ihre zukünftige Aufgabe . . . die Welt« sie.
eingesetzt. Wir sollen »hingehen und 15,20 Ein Jünger sollte von der Welt
Frucht bringen«. Frucht bedeutet hier die keine bessere Behandlung erwarten, als
Gnadengaben eines christlichen Lebens sein Meister sie erfuhr. Er wird genauso
wie Liebe, Freude, Friede usw. Frucht verfolgt werden wie Christus. Sein Wort
kann aber auch für die Menschen stehen, wird ebenso wie das des Herrn abgelehnt
die für den Herrn Jesus Christus gewon- werden.
nen werden. Zwischen beiden Arten der 15,21 Dieser Haß und diese Verfol-
Frucht besteht ein enger Zusammen- gung geschieht »um meines Namens wil-
hang. Nur wenn wir die erste Art der len«. Weil der Gläubige mit Christus ver-
Frucht bringen, werden wir in der Lage bunden ist, durch ihn von der Welt
sein, die zweite auch zu bringen. getrennt ist, und weil er Christi Namen
Der Ausdruck »damit eure Frucht und Ebenbild trägt, erfährt er diese Ver-
bleibe« führt uns zu der Auffassung, daß folgung. Die Welt kennt Gott nicht. Sie
er hier die Rettung von Menschen ge- weiß nicht, daß der Vater den Herrn in
meint hat. Der Herr erwählte die Jünger, diese Welt »gesandt« hat, um ihr Erlöser
damit sie bleibende Frucht brächten. Er zu werden. Doch Unwissenheit ist keine
war nicht an bloßen Glaubensbekennt- Entschuldigung.
nissen interessiert, sondern an echten 15,22 Der Herr will hier nicht lehren,
Bekehrungen. L. S. Chafer bemerkt, daß daß die Menschen keine Sünder wären,
wir in diesem Kapitel echtes Gebet fin- wenn er nicht gekommen wäre. Seit der
den (V. 7), himmlische Freude (V. 11) und Zeit Adams sind alle Menschen Sünder
bleibende Frucht (V. 16). »Damit, was gewesen. Doch die Sünde der Menschen
immer ihr . . . bitten werdet . . .« Das zur Zeit Jesu wäre nicht so groß gewesen
Geheimnis des effektiven Dienstes ist das wie nach seinem Kommen. Sie hatten
Gebet. Die Jünger wurden mit der Ga- den Sohn Gottes gesehen und seine wun-
rantie hinausgesandt, daß »der Vater« derbaren Worte gehört. Sie konnten an
ihnen gewähren würde, was immer sie in ihm keinen Makel finden. Und doch
Christi »Namen« erbitten würden. lehnten sie ihn ab. Das macht ihre Sünde
15,17 Der Herr wollte die Jünger nun so schrecklich. Und deshalb haben wir
vor der Feindschaft der Welt warnen. Er hier einen Vergleich vor uns. Verglichen
begann damit, indem er ihnen auftrug, mit dem schrecklichen Sünde, den Herrn
»einander« zu lieben, zusammenzuhal- der Herrlichkeit abgelehnt zu haben,
ten und gemeinsam gegen den Feind zu waren ihre anderen Sünden nichts. Nun
kämpfen. hatten sie keine Entschuldigung »für ihre
Sünde«. Sie hatten doch das Licht der
R. Jesus sagt den Haß der Welt auf die Welt abgelehnt!
Jünger voraus (15,18 – 16, 4) 15,23 Indem sie Christus haßten, haß-
15,18.19 Die Jünger sollten nicht über- ten sie auch den »Vater«. Die beiden sind
rascht oder entmutigt sein, »wenn die eins. Sie konnten nicht behaupten, Gott
Welt« sie hassen würde. Mit dem Wort zu lieben, denn wenn sie ihn geliebt hät-
»wenn« wird angedeutet, daß dies auf ten, hätten sie auch den geliebt, den Gott
jeden Fall so kommen würde. Die Welt gesandt hat.
hat den Herrn »gehaßt«, und alle die ihm 15,24 Sie waren nicht nur verantwort-
ähnlich sind, haßt sie ebenso. lich dafür, daß sie die Lehre Christi
Die Menschen dieser Welt lieben die- gehört hatten, sie hatten auch seine Wun-
jenigen, die so leben wie sie – diejenigen, der gesehen. Das trug weiter zu ihrer
die schmutzige Reden führen und die Verdammnis bei. Sie sahen »Werke . . .,
Lüste des Fleisches pflegen, oder auch die kein anderer getan hat«. Christus

445
Johannes 15 und 16

angesichts dieser Beweise abzulehnen, ner Person und seinem Werk zu


ist unentschuldbar. Der Herr verglich erzählen. Wenn irgend jemand etwas
ihre anderen Sünden mit dieser und sag- Unvollkommenes am Herrn hätte ent-
te, daß die ersten wie nichts seien, wenn decken können, dann waren es sicherlich
man sie mit der zweiten zusammen sähe. diese Jünger, die immer bei ihm gewesen
Weil sie den Sohn haßten, haßten sie waren. Aber sie wußten von keiner Sün-
auch den »Vater«, und das war ihr eige- de, die er begangen hatte. Sie konnte
nes schreckliches Urteil. bezeugen, daß er der sündlose Sohn
15,25 Der Herr erkannte, daß der Haß Gottes und der Erlöser der Welt war.
gegen ihn eine exakte Erfüllung der Pro- 16,1 Die Jünger hatten wahrscheinlich
phezeiungen war. In Psalm 69, 4 wurde die gleiche Hoffnung gehegt, wie die
vorausgesagt, daß Christus »ohne Ursa- anderen Juden auch – daß der Messias
che gehaßt« werden würde. Da dies nun sein Reich aufrichten und die Macht
geschehen war, bemerkte der Herr, daß Roms brechen würde. Stattdessen be-
genau das AT, das diese Menschen so ehr- richtet der Herr ihnen, daß er sterben,
ten, ihren sinnlosen Haß auf ihn voraus- auferstehen und in den Himmel zurück-
sagt. Die Tatsache, daß es vorhergesagt kehren würde. Der Geist würde kommen,
war, bedeutete nicht, daß diese Menschen und die Jünger würden als Zeugen Chri-
Christus hassen mußten. Sie haßten ihn, sti in die Welt hinausgehen. Sie würden
weil sie sich willentlich dazu entschlossen gehaßt und verfolgt werden, der Herr
hatten, doch Gott hatte vorausgesehen, sagte ihnen dies im voraus, damit sie sich
daß es so kommen würde, und er ließ es nicht an ihm »ärgern« sollten, nicht desil-
David im 69. Psalm niederschreiben. lusioniert oder schockiert wären.
15,26 Trotz der Ablehnung durch den 16,2.3 Der Ausschluß aus der »Syna-
Menschen sagte Jesus voraus, daß es goge« war für einen Juden das schlimm-
immmer ein Zeugnis für ihn geben wür- ste, was ihm geschehen konnte. Doch
de. Es würde durch »den Beistand« gege- genau das würde diesen Juden passieren,
ben – durch den Heiligen Geist. Hier sagt die Jünger Jesu waren. Der christliche
der Herr, daß er den Geist »von dem Glaube würde so gehaßt werden, daß
Vater senden« werde. In Johannes 14,16 diejenigen, die ihn ausrotten wollten,
ist der Vater derjenige, der den Geist sen- meinten, daß sie »Gott einen Opfer-
det. Haben wir hier nicht einen weiteren dienst« damit bringen. Das zeigt, wie ein
Beweis der Gleichheit von Vater und Mensch sehr aufrichtig und eifrig und
Sohn? Wer als Gott selbst könnte jeman- doch im Unrecht sein kann.
den senden, der Gott ist? »Der Geist der Der Grund dieser Verirrung war die
Wahrheit geht von dem Vater aus.« Das Unfähigkeit, die Gottheit Christi zu
bedeutet, daß er ständig vom Vater aus- erkennen. Die Juden wollten ihn nicht
gesandt wird, und sein Kommen zu annehmen, und damit lehnten sie auch
Pfingsten war nur ein besonderer Anlaß »den Vater« ab.
der Sendung. Der Geist legt von Christus 16,4 Und wieder warnt der Herr seine
Zeugnis ab. Das ist seine Aufgabe. Er Jünger im voraus, so daß sie durch diese
versucht nicht, Menschen mit sich selbst Anfechtungen nicht irre werden sollten,
zu beschäftigen, auch wenn er ein Teil wenn sie kämen. Sie sollten sich daran
der Dreifaltigkeit ist. Doch er leitet die erinnern, daß der Herr die Verfolgung
Aufmerksamkeit sowohl des Sünders als vorausgesagt hatte. Sie sollten wissen,
auch des Gläubigen auf den Herrn der daß Verfolgung ein Teil seines Planes für
Herrlichkeit. ihr Leben war. Der Herr hatte ihnen das
15,27 Der Geist sollte direkt durch die noch nicht eher berichtet, weil er da noch
Jünger Zeugnis geben. Sie waren »von bei ihnen war. Es war nicht nötig, sie vor
Anfang an« beim Herrn gewesen, von der Zeit zu beunruhigen oder ihre
Beginn seines öffentlichen Wirkens an, Gedanken von den anderen Tatsachen
und waren besonders geeignet, von sei- abzulenken, die er sie lehren wollte.

446
Johannes 16

Doch da er sie nun bald verlassen würde, 16,9 Der Geist überzeugt die Welt
mußte er ihnen den Weg beschreiben, der »von der Sünde«, daß sie nicht an Chri-
vor ihnen lag. stus glaubt. Es gab an Christus nichts,
das es unmöglich gemacht hätte, an ihn
S. Das Kommen des Geistes der Wahr- zu glauben. Aber die Menschen wollten
heit (16,5-15) nicht. Und die Anwesenheit des Heiligen
16,5 Vers 5 scheint Bedauern auszu- Geistes in der Welt ist ein Zeuge ihres
drücken, daß die Jünger nicht interessier- Verbrechens.
ter an dem waren, was dem Herrn bevor- 16,10 Der Erlöser sagte von sich, daß
stand. Obwohl sie allgemein gefragt hat- er gerecht sei, doch die Menschen hatten
ten, »wohin« er gehen würde, schienen ihn beschimpft, daß er von einem Dämon
sie nicht allzu beteiligt zu sein. besessen sei. Doch Gott sprach hier das
16,6 Sie waren mehr mit ihrer eigenen letzte Wort. Er sagte praktisch: »Mein
Zukunft beschäftigt als mit seiner. Vor Sohn ist gerecht, und das werde ich be-
Jesus lag das Kreuz und das Grab. Vor weisen, indem ich ihn von den Toten auf-
ihnen lag Verfolgung im Dienst für Chri- erwecke und ihn in den Himmel zurück-
stus. Sie waren mehr wegen ihrer eige- hole.« Der Heilige Geist ist ein Zeuge der
nen Schwierigkeiten als wegen ihm von Tatsache, daß Christus im Recht war und
»Traurigkeit . . . erfüllt«. die Welt unrecht hatte.
16,7 Doch sie sollten nicht ohne Hilfe 16,11 Die Anwesenheit des Heiligen
und Trost bleiben. Christus würde ihnen Geistes überführt die Welt auch vom
den Heiligen Geist senden, der ihr »Bei- kommenden »Gericht«. Die Tatsache,
stand« sein sollte. Es war den Jüngern daß der Geist hier ist, bedeutet, daß der
»nützlich«, daß der Beistand kommen Teufel am Kreuz schon verurteilt worden
sollte. Er würde ihnen Kraft und Mut ist, und daß alle, die den Erlöser ableh-
geben, sie lehren und ihnen Christus nen, an einem noch zukünftigen Tag sein
lebendiger machen als er ihnen je gewor- schreckliches Urteil mit ihm teilen wer-
den war. »Der Beistand« sollte nicht den.
kommen, ehe der Herr Jesus nicht in den 16,12 Es gab »noch vieles«, das der
Himmel zurückgekehrt und verherrlicht Herr den Jüngern »zu sagen« hatte, doch
worden war. Natürlich wirkte der Heili- sie hätten es noch nicht verstehen können.
ge Geist auch schon vor Pfingsten in der Das ist ein wichtiges Lehrprinzip. Man
Welt, doch sollte er auf eine neue Art muß bestimmte Inhalte verstanden ha-
kommen – um die Welt zu überführen ben, ehe man weitergehende Wahrheiten
und den Erlösten zu dienen. lernen kann. Nie überforderte der Herr
16,8 Der Heilige Geist sollte »die Welt seine Jünger mit seinen Lehren. Er lehrte
überführen von Sünde und von Gerech- sie »Zeile für Zeile, Thema für Thema«.
tigkeit und von Gericht«. Man nimmt all- 16,13 Das Werk, das der Herr begon-
gemein an, daß dieser Satz bedeutet, daß nen hatte, sollte vom »Geist der Wahr-
er im einzelnen Sünder ein inneres heit« weitergeführt werden. Er sollte sie
Bewußtsein dieser Dinge herbeiführt. »in die ganze Wahrheit leiten«. In gewis-
Das stimmt zwar, doch ist das nicht ganz sem Sinne wurde den Aposteln alle
die Lehre dieses Verse. Der Heilige Geist Wahrheit während ihrer Lebenszeit
verurteilt »die Welt« allein durch die Tat- offenbart. Sie haben sie wiederum
sache seiner Anwesenheit. Er sollte nicht schriftlich niedergelegt, und wir haben
hier sein, weil der Herr Jesus eigentlich sie heute in unserem NT. Dieses ist
hier sein und über die Welt regieren soll- zusammen mit dem AT Gottes vollstän-
te. Doch die Welt lehnte Jesus ab und des- dige schriftliche Offenbarung an den
halb kehrte er in den Himmel zurück. Menschen. Und es gilt natürlich für alle
Der Heilige Geist ist hier an Stelle des Zeitalter, daß der Geist Gottes Volk in alle
abgelehnten Christus, und macht da- Wahrheit leitet. Er tut das durch die
durch die Schuld der Welt deutlich. Schrift. Er wird nur »reden«, was ihm

447
Johannes 16

vom Vater und Sohn zu reden gegeben beiden Aussagen nicht miteinander ver-
ist. »Das Kommende wird er euch ver- einbaren.
kündigen.« Das finden wir natürlich im 16,18 Sie fragten einander nach der
NT und besonders im Buch der Offenba- Bedeutung der Worte »kleine Weile«.
rung, in dem die Zukunft enthüllt wird. Seltsamerweise haben wir noch heute
16,14 Seine Hauptaufgabe jedoch dieses Problem. Wir wissen nicht, ob
wird es sein, Christus zu »verherrli- Jesus sich auf die drei Tage zwischen sei-
chen«. Daran können wir jede Lehre und nem Tod und seiner Auferstehung be-
jede Predigt messen. Wenn sie den Erlö- zieht, auf die vierzig Tage vor Pfingsten
ser verherrlicht, dann ist sie vom Heili- oder auf die über 1900 Jahre, die vor sei-
gen Geist. »Von dem Meinen wird er ner Wiederkunft noch vergehen sollten!
nehmen« bedeutet, daß er die großen 16,19.20 Da der Herr Jesus Gott ist,
Wahrheiten empfangen wird, die Chri- konnte er die Gedanken der Jünger lesen.
stus betreffen. Diese wird er dann den Durch seine Frage offenbarte er, daß er
Gläubigen offenbaren. Dieses Thema ist ihre Verwirrung genau erkannt hatte.
einfach unerschöpflich! Er antwortete nicht direkt auf ihre Fra-
16,15 »Alle« Eigenschaften, die der ge, sondern gab noch weitere Informatio-
Vater hat, hat auch der Sohn. Von dieser nen über die »kleine Weile«. »Die Welt«
Vollkommenheit hat Christus in Vers 14 würde sich »freuen«, weil es ihr gelungen
gesprochen. Der Geist enthüllte den war, den Herrn Jesus zu kreuzigen, doch
Aposteln die herrliche Vollkommenheit, die Jünger würden »weinen und wehkla-
den Dienst, das Amt, die Gnade und die gen«. Doch das würde nicht lange dauern.
Fülle des Herrn Jesus. Ihre »Traurigkeit« soll »zur Freude wer-
den«. Das geschah auch – zuerst bei der
T. Traurigkeit wandelt sich zu Freude Auferstehung und dann durch das Kom-
(16,16-22) men des Geistes. Und eines Tages wird
16,16 Der genaue Zeitplan dieses Verses für die Jünger aller Zeitalter die Traurig-
ist unsicher. Er kann bedeuten, daß der keit in Freude verwandelt werden, wenn
Herr drei Tage weggehen würde, und der Herr Jesus wiederkommt.
dann nach seiner Auferstehung zu ihnen 16,21 Nichts ist bemerkenswerter als
zurückkehren würde. Er kann auch be- Schnelligkeit, mit der eine Mutter die
deuten, daß Jesus zurück zu seinem »Bedrängnis« vergißt, nachdem ihr
Vater im Himmel gehen würde, und daß »Kind« geboren ist. So wird es auch bei
er dann, nach »einer kleinen Weile« (dem den Jüngern sein. Die Traurigkeit, die sie
gegenwärtigen Zeitalter), zu ihnen zu- wegen der Abwesenheit ihres Herrn
rückkehren würde (bei seiner Wieder- empfinden würden, würde vergessen
kunft). Es kann aber auch bedeuten, daß sein, sobald sie ihn gesehen hätten.
sie ihn »eine kleine Weile« nicht mit ihren 16,22 Und wieder müssen wir zuge-
leiblichen Augen sehen können, doch ben, daß wir nicht wissen, auf welche
daß sie ihn im Glauben auf eine Art und Zeit sich die Worte des Herrn beziehen:
Weise sehen können werden, wie sie ihn »Ich werde euch wiedersehen.« Bezieht
nie zuvor gesehen haben, und zwar es sich auf seine Auferstehung, die Sen-
nachdem sie zu Pfingsten den Geist emp- dung des Geistes zu Pfingsten oder auf
fangen haben. seine Wiederkunft? In allen drei Fällen ist
16,17 Seine »Jünger« waren verwirrt. das Ergebnis Freude, eine Freude, die
Der Grund für ihre Verwirrung war, daß niemand mehr nehmen kann.
der Erlöser in Vers 10 gesagt hatte: »Ich
gehe zum Vater und ihr werdet mich U. Gebet zum Vater im Namen Jesu
nicht mehr sehen.« Nun sagt er: »Eine (16,23-28)
kleine Weile, und ihr seht mich nicht, 16,23 Bis zu diesem Zeitpunkt waren die
und wieder eine kleine Weile, und ihr Jünger mit all ihren Fragen und Anliegen
werdet mich sehen.« Sie konnten diese zum Herrn gekommen. »An jenem Tag«

448
Johannes 16

(dem Zeitalter, das durch das Kommen gen Geistes würden sie ein neues Gefühl
des Geistes zu Pfingsten begann), würde der Nähe zum Vater erhalten. Sie würden
er nicht mehr leiblich bei ihnen sein, so mit Zuversicht zu ihm kommen können,
daß sie ihm keine Fragen mehr stellen und zwar deshalb, weil sie seinen Sohn
könnten. Doch bedeutete das, daß sie »geliebt« haben.
keinen mehr haben würden, zu dem sie 16,28 Hier wiederholt der Herr seinen
gehen könnten? Nein, »an jenem Tag« Anspruch, Gott dem Vater gleich zu sein.
würde es ihr Vorrecht sein, »den Vater« Er sagte nicht: »Ich bin von Gott ausge-
zu bitten. Er würde ihre Bitten um Jesu gangen« als ob er einfach ein Prophet
willen erfüllen. Bitten werden erfüllt, wäre, der von Gott gesandt ist, sondern:
nicht weil sie der Erfüllung besonders »Ich bin von dem Vater ausgegangen.«
würdig wären, sondern weil der Herr Das bedeutet, daß er der ewige Sohn des
Jesus würdig ist. ewigen Vater ist, Gott dem Vater gleich.
16,24 Bis dahin hatten die Jünger Gott Er kam »in die Welt« als einer, der vor
den Vater noch nicht im »Namen« un- seinem Kommen im Himmel gelebt hat-
seres Herrn gebeten. Nun wurden sie te. Bei seiner Himmelfahrt verließ er die
eingeladen zu bitten. Durch ihre erhörten Welt und kehrte »zum Vater« zurück.
Gebete würde ihre »Freude völlig« wer- Das ist eine kurze Biographie des Herrn
den. der Herrlichkeit.
16,25 Die Bedeutung von einem
Großteil der Lehre des Herrn liegt nicht V. Drangsal und Friede (16,29-33)
immer offen zutage. Er hat oft die »Bild- 16,29.30 Die »Jünger« Jesu dachten, daß
rede« und Gleichnisse benutzt. Sogar in sie ihn nun zum ersten Mal verstehen
diesem Kapitel können wir nicht immer könnten. Er benutzte nicht länger eine
sicher sein, genau zu wissen, was im ein- bildliche Sprache, sagten sie.
zelnen gemeint ist. Mit dem Kommen Sie dachten, daß sie nun das Geheim-
des Heiligen Geistes wurde die Lehre nis seiner Person erforscht hätten. Nun
»von dem Vater« deutlicher. In der Apo- waren sie sich sicher, daß er allwissend
stelgeschichte und den Briefen ist die war, und daß er »von Gott ausgegangen«
Wahrheit nicht länger in Gleichnissen sei. Doch er hatte gesagt, daß er vom
verhüllt, sondern in direkten Aussagen Vater ausgegangen sei. Hatten sie die
ausgedrückt. Bedeutung dessen erkannt? Verstanden
16,26 Mit dem Ausdruck »jener Tag« sie, daß Jesus eine Person der Dreieinig-
ist wieder das Zeitalter des Heiligen Gei- keit ist?
stes gemeint, in dem wir jetzt leben. Es ist 16,31 Jesus wollte mit dieser Frage
unser Vorrecht, zum Vater im »Namen« ausdrücken, daß ihr Glaube noch immer
des Herrn Jesus zu beten. »Ich sage euch unvollkommen war. Er wußte, daß sie
nicht, daß ich den Vater für euch bitten ihn liebten und ihm vertrauten, doch
werde«, d. h. daß man den Vater nicht wußten sie wirklich, daß er Gott im
drängen muß, unsere Gebete zu hören. Fleisch offenbart ist?
Der Herr muß ihn nicht auch noch bitten. 16,32 Schon in kurzer Zeit sollte Jesus
Doch sollten wir uns immer vor Augen gefangen genommen, vor Gericht ge-
halten, daß der Herr Jesus der Vermittler stellt und gekreuzigt werden. Die Jünger
zwischen Gott und Mensch ist, und daß würden ihn alle verlassen und »in ihre
er für sein Volk vor dem Thron Gottes Heimat« fliehen. Doch er würde nicht
eintritt. allein sein, weil der »Vater bei« ihm sein
16,27 »Der Vater« liebt die Jünger, würde. Sie verstanden seine Gemein-
weil sie Christus angenommen haben, schaft mit Gott nicht. Sie würde ihn auf-
ihn lieben und an seine Göttlichkeit recht halten, wenn alle Jünger um ihr
»geglaubt« haben. Das ist der Grund, Leben geflohen wären.
warum der Herr beim Vater nicht bitten 16,33 Der Zweck dieser Gespräche
brauchte. Mit dem Kommen des Heili- war, daß die Jünger »Frieden« hätten.

449
Johannes 16 und 17

Wenn sie gehaßt, verfolgt, falsch ange- gewesen ist. Doch wenn Gott ihn verherr-
klagt und sogar gefoltert würden, konn- lichen würde, indem er ihn von den Toten
ten sie in ihm doch »Frieden haben«. Er auferweckte, dann wäre das der Beweis,
überwand »die Welt« am Kreuz von Gol- daß er der Sohn Gottes und der Erlöser
gatha. Trotz aller Drangsal konnten sie der Welt ist. Gott erhörte sein Gebet,
beruhigt sein, daß sie auf der Seite des indem er ihn am dritten Tag von den
Siegers standen. Toten auferweckte und ihn dann später
Mit dem Kommen des Heiligen Gei- wieder in den Himmel aufnahm und ihn
stes würden sie auch neue Kraft zum mit Herrlichkeit und Ehre krönte.
Durchhalten und neuen Mut erhalten, »Damit der Sohn dich verherrliche«,
dem Feind zu begegnen. fuhr der Herr fort. Die Bedeutung dieser
Worte wird in den nächsten beiden Ver-
W. Jesus betet für seinen Dienst sen erläutert. Jesus verherrlicht den
(17,1-5) Vater, indem er denen ewiges Leben gibt,
Wir kommen nun zum sogenannten die an ihn glauben. Es bringt Gott viel
hohenpriesterlichen Gebet des Herrn Ehre ein, wenn gottlose Menschen sich
Jesus. In diesem Gebet tritt Jesus für die bekehren und das Leben Jesu hier auf
Seinen ein. Darin haben wir ein Bild für Erden verkörpern.
seinen gegenwärtigen Dienst im Him- 17,2 Als Ergebnis des Erlösungswer-
mel, wo er für sein Volk betet. Marcus kes am Kreuz hat Gott dem Sohn »Voll-
Rainsford drückt das sehr gut aus: macht gegeben über alles Fleisch«. Diese
Das gesamte Gebet ist ein wunderschönes »Vollmacht« berechtigte ihn, denen, die
Bild für das Eintreten unseres geliebten der Vater »ihm gegeben« hat, »ewiges
Herrn zur Rechten Gottes. Nicht ein Wort Leben« zu geben. Hier werden wir wie-
wider sein Volk, keine Erwähnung ihrer Feh- der daran erinnert, daß Gott schon vor
ler und Mängel . . . Nein. Er spricht von Grundlegung der Welt bestimmte Men-
ihnen nur, als ob sie ganz im Willen des schen auserwählt hat, die zu Christus ge-
Vaters, in Verbindung mit ihm selbst leben. hören. Man vergesse jedoch nicht, daß
Sie sind für ihn Empfänger der Fülle, für die Gott jedem die Erlösung anbietet, der
er vom Himmel kam, um sie ihnen zu schen- Jesus Christus aufnehmen will. Es gibt
ken . . . Alle Bitten des Herrn für sein Volk keinen, der nicht erlöst werden kann,
betreffen Geistliches, alle beziehen sich auf wenn er dem Erlöser vertraut.
himmlische Segnungen. Der Herr erbittet kei- 17,3 Hier haben wir eine einfache
ne Reichtümer oder Ehre für sie, keinen welt- Erklärung, wie man das ewige Leben
lichen Einfluß oder besondere Privilegien. erhält: Indem man »Gott und . . . Jesus
Statt dessen betet er voller Ernst dafür, daß sie Christus« erkennt. Der »allein wahre
vom Bösen bewahrt werden, von der Welt Gott« steht im Gegensatz zu den Götzen,
getrennt bleiben, für ihre Pflicht ausgerüstet die gar keine wirklichen Götter sind. Die-
sind und sicher heim in den Himmel finden. ser Vers bedeutet nicht, daß Jesus Chri-
Geistlicher Reichtum ist der beste Reichtum, stus nicht wahrer Gott wäre. Die Tatsa-
43)
er ist das Zeichen für echten Reichtum. che, daß sein Name zusammen mit dem
17,1 »Die Stunde« war »gekommen«. Gottes des Vater genannt und als die
Immer wieder war es seinen Feinden Quelle des ewigen Lebens erwähnt wird,
nicht möglich gewesen, ihn festzuneh- bedeutet, daß sie gleich sind. Hier nennt
men, weil seine Stunde noch nicht ge- sich der Herr selbst »Jesus Christus«.
kommen war. Doch jetzt war die Zeit Christus bedeutet dasselbe wie Messias.
gekommen, zu der der Herr Jesus sterben Dieser Vers steht gegen die Aussage eini-
sollte. »Verherrliche deinen Sohn«, betete ger, daß Jesus nie behauptet habe, der
der Erlöser. Er sah damit auf seinen bal- Messias zu sein.
digen Tod am Kreuz. Wenn er im Grab 17,4 Als der Herr diese Worte sprach,
bleiben würde, dann würde die Welt wis- redete er, als ob er schon gestorben,
sen, daß er nur ein gewöhnlicher Mensch begraben und wieder auferweckt wor-

450
Johannes 17

den sei. Er hatte den Vater durch sein Jesus nun darum, daß die Sichtbarkeit
sündloses Leben »verherrlicht«, durch seiner Herrlichkeit wiederhergestellt
seine Wunder, durch sein Leiden und sei- würde. Die Worte »verherrliche mich bei
nen Tod und durch seine Auferstehung. dir selbst » bedeuten: »Verherrliche mich
Er hat »das Werk« der Erlösung »voll- im Himmel in deiner Gegenwart. Laß die
bracht«, das der Vater ihm gegeben hat. ursprüngliche Herrlichkeit, die ich vor
Ryle drückt das so aus: meiner Menschwerdung mit dir gemein-
Die Kreuzigung verherrlichte den Vater. sam hatte, wiederhergestellt werden.«
Sie verherrlichte seine Weisheit, Treue, Hei- Das lehrt uns eindeutig, daß Christus
ligkeit und Liebe. Sie zeigte, daß er weise ist, schon vor der Welt existierte.
indem sie einen Plan aufzeigte, durch den
Gott gerecht und gleichzeitig der Rechtferti- X. Jesus betet für seine Jünger
ger der Sünder sein konnte. – Sie zeigte, daß (17,6-19)
er treu ist, seine Verheißung zu halten, daß 17,6 Jesus hatte den Jüngern den »Na-
der Same der Frau der Schlange den Kopf zer- men« des Vaters offenbart. Der »Name«
treten werde. – Sie zeigte seine Heiligkeit, bedeutet in der Schrift immer die Person,
indem die rechtmäßigen Forderungen des ihre Eigenschaften und ihren Charakter.
Gesetzes durch unseren Stellvertreter erfüllt Christus hatte die wahre Natur des
wurden. – Sie zeigte, daß Gott die Liebe ist, Vaters aufgezeigt. Die Jünger sind dem
weil er den sündigen Menschen einen sol- Herrn »aus der Welt gegeben« worden.
chen Mittler, Erlöser und Freund wie seinen Sie sind von der ungläubigen Masse der
Sohn schenkte. Menschheit getrennt und für Christus
Die Kreuzigung verherrlichte auch den ausgesondert worden. »Sie gehörten
Sohn. Sie verherrlichte seine Barmherzigkeit, durch Erwählung zum Vater, ehe die Welt
seine Geduld und seine Macht. Sie zeigte, gegründet wurde, und wurde Christi
daß er äußerst barmherzig ist, indem er für Eigentum durch das Geschenk des
uns starb, an unserer Stelle litt und es zuließ, Vaters und für den Preis des Blutes«,
daß er zur Sünde und zum Fluch für uns schreibt J. G. Bellet.
gemacht wurde, und indem er mit dem Preis »Sie haben dein Wort bewahrt«, sagte
seines eigenen Blutes unsere Erlösung der Herr. Trotz all ihrer Fehler und Män-
erkaufte. – Sie bewies, daß er äußerst gedul- gel lobt er die Jünger hier dafür, daß sie
dig war, indem er nicht den normalen Tod der seiner Lehre geglaubt und ihr gehorcht
meisten Menschen starb, sondern sich wil- haben. »Nicht ein Wort sagt der Herr
lentlich solchen Schmerzen und solch uner- gegen seine Jünger«, schreibt Rainsford,
hörter Pein aussetzte, die sich kein Mensch »keine Anspielung auf das, was sie ihm
vorstellen kann, während er sich doch mit angetan hatten bzw. im Begriff standen
einem Wort die himmlischen Heerscharen ihm anzutun – ihn zu verlassen.«
seines Vaters hätte herbeirufen können, um 17,7.8 Der Erlöser hat seinen Vater
ihn zu befreien. – Sie zeigt, daß er größte vollkommen vertreten. Er erklärte den
Macht hat, denn er nahm die Last aller Über- Jüngern, daß er nicht aus eigener Voll-
tretungen der Seinen auf sich, und bezwang macht sprach, sondern nur so, wie ihn
44)
Satan, indem er ihm seine Beute abnahm. der Vater beauftragte. Deshalb »glaub-
17,5 Ehe Christus in die Welt kam, ten« sie nun, daß der Vater den Sohn
war er beim Vater im Himmel. Als die »gesandt« hat.
Engel den Herrn betrachteten, sahen sie Außerdem war Christus nicht die Ur-
die Herrlichkeit Gottes. Für jedermanns sache seiner eigenen Sendung. Er kam im
Auge war er Gott. Doch als er unter die Gehorsam gegen den Willen des Vaters.
Menschen kam, wurde seine Göttlichkeit Er war der vollkommene Knecht Jahwes.
verhüllt. Obwohl er noch immer Gott 17,9 Als Hoherpriester bat er für seine
war, konnten die meisten, die ihn sahen, Jünger, er bat »nicht für die Welt«. Das
das nicht erkennen. Sie sahen in ihm nur bedeutet jedoch nicht, daß Jesus nie für
den Sohn des Zimmermanns. Hier bittet die Welt gebetet habe. Am Kreuz betete

451
Johannes 17

er: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen freiwillig, den Erlöser zu verraten und
nicht, was sie tun.« damit wurde »die Schrift erfüllt«.
Doch hier betete er als derjenige, der 17,13 Der Herr erklärte, warum er in
die Gläubigen vor dem Thron Gottes ver- der Gegenwart seiner Jünger betete. Es
tritt. Dort kann er nur für die Seinen war, als wollte er ihnen damit sagen: »Ich
beten. werde niemals aufhören, auf diese Weise
17,10 Hier wird die vollkommene im Himmel vor Gott für euch einzutre-
Gemeinschaft zwischen Vater und Sohn ten. Doch nun ›rede ich in der Welt‹, so
gezeigt. Kein gewöhnlicher Mensch hät- daß ihr es hören könnt, damit ihr genau
te solche Worte äußern können, ohne versteht, wie ich dort damit beschäftigt
dabei zu lügen. Vielleicht können wir bin, für euer Wohlergehen einzustehen,
sagen: »Alles, was mein ist, ist dein«, damit ihr in vollkommener Weise an
doch wir können nicht sagen: »Was dein ›meiner Freude‹ teilhabt.«
ist, ist mein.« Weil der Sohn dem Vater 17,14 Der Herr gab den Jüngern Gott-
gleich ist, konnte er das sagen. In diesen es »Wort«, und sie nahmen es an. Als
Versen (6-19) spricht Jesus über seine Folge davon würde sich »die Welt«
arme und zurückgebliebene Herde, und gegen sie wenden und sie »hassen«. Sie
kleidet jedes Lamm in einen bunten waren dem Herrn Jesus zu ähnlich, des-
Leibrock (1. Mose 37,4) und erklärt: »Ich halb verachtete die Welt die Jünger. Sie
bin in ihnen verherrlicht.« paßten einfach nicht ins Schema der
17,11 Und wieder schaut der Herr in Welt.
die Zukunft auf seine Rückkehr in den 17,15 Der Herr bat nicht, daß der
Himmel. Er betet, als ob er noch dort Vater die Gläubigen »aus der Welt«
wäre. Man beachte den Titel »Heiliger direkt in den Himmel nahm. Sie mußten
Vater«. »Heilig« spricht von dem, der hier auf Erden bleiben, um in der Gnade
unendlich erhaben ist. »Vater« spricht von zu wachsen und Zeugen für Christus zu
dem, der unendlich nahe ist. sein. Doch betet Christus dafür, daß sie
Das Gebet Jesu, »daß sie eins seien«, »vor dem Bösen« bewahrt würden. Es
bezieht sich auf die Einheit des christli- geht nicht um Flucht, sondern um
chen Charakters. Wie der Vater und der Bewahrung.
Sohn sittlich gleich sind, so sollten die 17,16 Christen »sind nicht von der
Gläubigen in dieser Hinsicht eins sein – Welt, wie« Jesus »nicht von der Welt« war.
daß sie dem Herrn Jesus gleichen. Wir sollten uns daran immer erinnern,
17,12 Als Jesus bei den Jüngern war, wenn wir versucht sind, uns mit irgendei-
»bewahrte« er sie im »Namen« des nem weltlichen Vergnügen die Zeit zu
Vaters, d. h. durch seine Kraft und Voll- vertreiben oder irgendwelche weltlichen
macht und getreu dem Gebot des Vaters. Verbindungen eingehen wollen, wo der
»Keiner von ihnen ist verloren«, sagte Name Jesu nicht willkommen ist.
Jesus, »als nur der Sohn des Verderbens«, 17,17 »Heiligen« bedeutet absondern.
d. h. Judas. Doch das bedeutet nicht, daß Das Wort Gottes hat eine heiligende Wir-
Judas einer von denen war, die dem Sohn kung auf die Gläubigen. Wenn sie darin
vom Vater gegeben waren oder daß er je lesen und ihm gehorchen, werden sie als
ein echter Gläubiger gewesen wäre. Der Gefäße, nützlich dem Hausherrn, abge-
Satz bedeutet: »Diejenigen, die du mir sondert. Genau dafür bittet der Herr
gegeben hast, habe ich bewahrt, doch der hier. Er wollte ein Volk, daß für Gott von
Sohn des Verderbens ist verloren, um die der Welt abgesondert und ihm nützlich
Schrift zu erfüllen.« Der Titel »Sohn des ist. »Dein Wort ist Wahrheit«, sagte Jesus.
Verderbens« bedeutet, daß Judas von sei- Er sagte nicht, wie es heute viel tun:
nem Verrat an zur ewigen Verdammnis »Dein Wort enthält Wahrheit«, sondern:
bestimmt war. Judas war nicht gezwun- »Dein Wort ist Wahrheit.«
gen, Jesus zu verraten, um die Prophe- 17,18 Der Vater »sandte« den Herrn
zeiung zu erfüllen, doch er entschied sich Jesus »in die Welt«, um den Menschen sei-

452
Johannes 17

nen Charakter zu offenbaren. Als der sagen: »Ich kann Christus in diesen Chri-
Herr betete, wußte er, daß er bald in den sten sehen, so wie der Vater in Christus
Himmel zurückkehren würde. Doch auch erkennbar war.«
die zukünftigen Generationen brauchten 17,22 In Vers 11 bat der Herr um die
noch ein Zeugnis von Gott. Diese Aufga- Einheit der Gemeinschaft. In Vers 21 ging
be muß von den Gläubigen durch die es um die Einheit im Zeugnisgeben. Nun
Macht des Heiligen Geistes erfüllt wer- geht es um die Einheit in der Herrlich-
den. Natürlich kann ein Christ Gott nie so keit. Dies bezieht sich auf die Zeit, wenn
vollkommen vertreten, wie Christus das die Heiligen ihre verherrlichten Leiber
konnte, weil er nie Gott gleich ist. Doch haben werden. »Die Herrlichkeit, die du
sind die Gläubigen aus dem gleichen mir gegeben hast« ist die Herrlichkeit der
Grund auf der Erde, nämlich Gott vor der Auferstehung und der Himmelfahrt.
Welt zu vertreten. Aus diesem Grund hat Wir haben diese Herrlichkeit noch
Jesus »sie in die Welt gesandt«. nicht. Sie ist uns zwar schon gegeben,
17,19 Heiligen muß nicht unbedingt soweit es die Seite Gottes betrifft, doch
bedeuten, etwas oder jemanden heilig zu wir werden sie erst empfangen, wenn
machen. Jesus ist heilig. Es geht hier um der Erlöser zurückkehrt, um uns in den
den Gedanken, daß der Herr sich selbst Himmel aufzunehmen. Sie wird vor der
für das Werk absonderte, für das ihn sein Welt enthüllt werden, wenn Jesus wie-
Vater gesandt hatte – nämlich für seinen derkommt, um sein Königreich auf
Opfertod. Es kann auch bedeuten, daß er Erden zu errichten. Zu dieser Zeit wird
sich selbst absonderte, indem er seinen die Welt die besondere Einheit von Vater
Platz außerhalb der Welt einnahm und in und Sohn und vom Sohn mit seinem
die Herrlichkeit einging. »Seine Heili- Volk erkennen, und wird (zu spät) glau-
gung ist unser Vorbild und unsere Kraft ben, daß Jesus von Gott gesandt wurde.
für unsere Heiligung«, sagt Vine. Wir 17,23 »Die Welt« wird nicht nur
sollten für die Welt abgesondert sein, erkennen, daß Jesus Gottes Sohn ist, son-
und unser Erbteil bei ihm suchen. dern sie wird auch wissen, daß die Gläu-
bigen von Gott so geliebt wurden wie
Y. Jesus betet für alle Gläubigen Christus. Daß wir so geliebt werden,
(17,20-26) scheint uns fast unglaublich, doch hier
17,20 Nun dehnt der Hohepriester sein steht es!
Gebet über die Jünger hinaus aus. Er 17,24 Der Sohn möchte sein Volk bei
betet für Generationen, die erst noch sich in der Herrlichkeit haben. Jedesmal,
geboren werden müssen. Jeder Gläubige, wenn ein Gläubiger stirbt, ist dies in
der diesen Vers liest, kann mit Recht gewissem Sinne eine Erhörung dieses
behaupten: »Jesus hat für mich schon vor Gebetes. Wenn wir das erkennen wür-
über 1900 Jahren gebetet.« den, dann wäre es ein Trost in unserem
17,21 Das Thema des Gebets ist die Kummer. Sterben bedeutet zu Christus
Einheit unter den Gläubigen, doch dies- zu gehen und seine »Herrlichkeit« zu
mal mit Hinblick auf die Errettung der »schauen«. Diese Herrlichkeit ist nicht
Sünder. Die Einheit, für die Christus die Herrlichkeit Gottes, die er bei Gott
betet, hat mit äußerer Einheit der Kirchen vor Anbeginn der Welt hatte. Es ist auch
nichts zu tun. Die Einheit, die hier ge- die Herrlichkeit, die er als Erlöser und
meint ist, hat ihre Ursache in einer Heiland der Welt erwarb. Diese Herrlich-
gemeinsamen moralischen Ähnlichkeit keit ist der Beweis, daß Gott Christus
der Gläubigen. Jesus betete, daß die »vor Grundlegung der Welt geliebt« hat.
Gläubigen dadurch »eins« seien, daß sie 17,25 Die Welt erkannte nicht, daß
den Charakter Gottes und Christi wider- Gott sich in Christus offenbart hat. Doch
spiegeln. Das würde die Welt veranlas- einige der Jünger hatten es erkannt, und
sen zu glauben, daß der Vater Christus sie glaubten, daß Gott Jesus gesandt hat.
»gesandt« hat. Diese Einheit läßt die Welt Am Vorabend seiner Kreuzigung gab es

453
Johannes 17 und 18

nur einige wenige treue Herzen – und Jesus die Stadt und wandert Richtung
sogar diese würden ihn verlassen! Osten zum Ölberg. Dabei »ging er . . .
17,26 Der Herr Jesus hatte den Jün- über den Bach Kidron« und kam zum
gern den »Namen« Gottes »kundgetan«, Garten Gethsemane, der am Westhang
als er bei ihnen war. Das bedeutet, daß er des Ölbergs liegt.
ihnen den Vater offenbart hat. Seine Wor- 18,2.3 Judas wußte, daß der Herr in
te und Taten waren die Worte und Taten diesem Garten viel Zeit im Gebet ver-
des Vaters. Sie sahen in Christus das voll- brachte. Er »wußte«, daß er ihn am wahr-
kommene Abbild Gottes. Durch den scheinlichsten im Gebet treffen würde.
Dienst des Heiligen Geistes tut Jesus Die »Schar« bestand wahrscheinlich
auch heute noch den Namen des Vater aus römischen Soldaten, während die
kund. Seit Pfingsten hat der Geist die »Diener« jüdische Beamten waren, die
Gläubigen über den Vater belehrt. Insbe- die »Hohenpriester und Pharisäer« ver-
sondere durch das Wort Gottes können traten. Sie kamen »mit Leuchten und
wir erkennen, wer Gott ist. Wenn Men- Fackeln und Waffen«. Jemand hat einmal
schen den Vater annehmen, wie er durch dazu gesagt: »Sie kamen mit Lampen,
den Herrn Jesus offenbart wurde, dann um das Licht der Welt zu suchen.«
werden sie zum besonderen Gegenstand 18,4 Der Herr »ging hinaus«, um
seiner Liebe. Weil der Herr Jesus in allen ihnen zu begegnen, ohne darauf zu war-
Gläubigen wohnt, kann der Vater sie so ten, daß sie ihn fänden. Das zeigte seine
ansehen und behandeln, wie er seinen Bereitschaft, ans Kreuz zu gehen. Die
eigenen Sohn ansieht und behandelt. Soldaten hätten ihre Waffen zuhause las-
Reuss bemerkt dazu: sen können, denn der Erlöser wollte sich
Die Liebe Gottes, die schon vor der nicht wehren. Die Frage: »Wen sucht ihr«
Schöpfung der diesseitigen Welt ihren zielt darauf ab, aus ihrem eigenen Mund
Gegenstand in der Person des Sohnes gefun- das Wesen ihres Auftrages zu erfragen.
den hat (V. 24), findet ihn seit der Schöpfung 18,5 Sie suchten »Jesus, den Naza-
der neuen geistlichen Welt in all denen, die räer«. Sie erkannten dabei nicht, daß er
mit dem Sohn vereinigt sind. ihr Schöpfer und Erhalter war – der beste
Und Godet fügt hinzu: Freund, den sie je haben konnten. Jesus
Gott wollte, als er seinen Sohn hier auf sagte: »Ich bin.« (Das Wort »es« findet
diese Erde sandte, daß er in der Mitte der sich im Original nicht, es ist jedoch im
Menschheit sich eine Familie von Kindern Deutschen aus grammatischen Gründen
45)
schaffe, die ihm ähnlich sind. notwendig.) Er meinte damit nicht nur,
Nur weil der Herr Jesus in den Gläu- daß er Jesus, der Nazaräer wäre, sondern
bigen wohnt, kann Gott den Gläubigen auch, daß er Jahwe ist. Wie schon oben
so sehr lieben. Die Gebete, die Christus erwähnt, ist ICH BIN einer der alttesta-
für sein Volk vorbringt, beziehen sich, mentlichen Namen Jahwes. Ließ das
wie Rainsford bemerkt, Judas vielleicht nachdenklich werden,
. . . auf Geistliches, auf himmlische Seg- als er »bei ihnen« stand?
nungen. Es geht nicht um Reichtum, Ehre 18,6 Für einen kurzen Augenblick
oder Einfluß, sondern um Bewahrung vor hatte sich der Herr Jesus als der ICH BIN
dem Bösen, Trennung von der Welt, Fähig- offenbart, der allmächtige Gott. Die
keit zu Pflichterfüllung und eine sichere Offenbarung war so überwältigend, daß
46)
Ankunft im Himmel. sie »zurückwichen und zu Boden fielen«.
18,7 »Wieder« fragte der Herr sie,
VIII. Das Leiden und Sterben des wen sie suchten. Und wieder lautete die
Sohnes Gottes (Kap. 18 und 19) Antwort gleich – trotz der Wirkung, die
die beiden Worte Christi gerade auf sie
A. Judas verrät den Herrn (18,1-11) gehabt hatten.
18,1 Die Worte in Kapitel 13-17 wurden 18,8.9 Wieder antwortete er, daß er es
in Jerusalem gesprochen. Nun verläßt sei, und daß er Jahwe sei. »Ich habe euch

454
Johannes 18

gesagt, daß ICH BIN.« Weil sie ihn suchten, 18,14 Johannes erklärte, daß der
sagte er ihnen, daß sie seine Jünger Hohepriester derselbe Kaiphas war, der
»gehen lassen« sollten. Es ist wunderbar, prophezeit hatte, daß ein Mensch für das
wie selbstlos er an anderen interessiert Volk sterbe (s. Joh 11,50). Er sollte nun
ist, wo doch sein eigenes Leben in Gefahr seinen Teil an der Erfüllung dieser Pro-
ist. So wurden auch die Worte von Johan- phezeiung haben. James Stewart
nes 17,12 erfüllt. schreibt:
18,10 »Simon Petrus« dachte nun, Dieser Mann war der anerkannte Seels-
daß die Zeit gekommen sei, Gewalt zu orger der Nation. Er war ausgesucht worden,
gebrauchen, um seinen Meister vor den das wichtigste Sprachrohr und der oberste
Menschen zu bewahren. Ohne An- Vertreter des Allerhöchsten zu sein. Ihm war
weisung seines Herrn zog er sein das herrliche Vorrecht gegeben, einmal im
Schwert und »schlug den Knecht des Jahr in das Allerheiligste zu treten. Doch der-
Hohenpriesters«. Zweifellos wollte er selbe Mann verurteilte den Sohn Gottes. Die
ihn töten, doch sein Schlag wurde von Geschichte bietet kein alarmierenderes Bei-
einer unsichtbaren Hand abgelenkt, so spiel für die Tatsache, daß die besten religiö-
daß er ihm nur »das rechte Ohr« sen Möglichkeiten der Welt und die ver-
abschlug. heißungsvollste Umwelt nicht die Gewähr
18,11 Jesus tadelte den unangebrach- für die Errettung eines Menschen bieten oder
ten Eifer des Petrus. »Der Kelch« des Lei- schon an sich die Seele eines Menschen bes-
des war ihm von seinem »Vater gege- sern würden. »Dann sah ich«, schrieb John
ben«, und er wollte ihn leeren. Lukas, der Bunyan am Ende seines Buches, »daß es
Arzt, berichtet, wie der Herr daraufhin einen Weg zur Hölle gab, sogar von den Pfor-
47)
das Ohr des Malchus berührte und heilte ten des Himmels.«
(Lk 22,5).
C. Petrus verleugnet seinen Herrn
B. Jesus wird gefangen genommen (18,15-18)
und gefesselt (18,12-14) 18,15 Die meisten Ausleger sind der Mei-
18,12.13 Dies ist das erste Mal, daß sün- nung, daß der »andere Jünger«, der hier
dige Menschen an Jesus Hand anlegen erwähnt wird, Johannes ist, daß jedoch
und ihn fesseln können. seine Bescheidenheit ihn hinderte, seinen
»Hannas« war vor Kaiphas Hoher- eigenen Namen hier zu erwähnen, insbe-
priester gewesen. Es ist nicht eindeutig, sondere angesichts des schmachvollen
warum Jesus zuerst zu ihm gebracht Versagens von Petrus. Uns wird nicht
wurde, und dann erst zu Kaiphas, sei- gesagt, warum Johannes mit »dem
nem Schwiegersohn, »der jenes Jahr Hohenpriester bekannt« wurde, doch
Hoherpriester war«. Hier ist wichtig zu diese Tatsache ermöglichte ihm den
sehen, daß Jesus zuerst vor einem jüdi- Zugang »in den Hof«.
schen Gerichtshof angeklagt wurde, 18,16.17 Petrus konnte nicht hinein-
wobei man versuchte, ihm Lästerung kommen, bis Johannes hinausging und
und Irrlehre nachzuweisen. Das war eine mit der »Türhüterin« sprach. Wenn wir
Verhandlung vor einem religiösen Ge- zurückschauen, fragen wir uns, ob er
richt. Dann wurde er vor die römische Petrus einen Gefallen getan hat, hier sei-
Gerichtsbarkeit geführt, und hier wurde nen Einfluß geltend zu machen. Es ist
versucht nachzuweisen, daß er ein Feind bedeutsam, daß die erste Verleugnung
des Kaisers sei. Dies geschah vor einem des Herrn nicht vor einem mächtigen,
Zivilgericht. Da die Juden unter römi- angsteinflößenden Soldaten stattfand,
scher Herrschaft standen, mußten sie sondern vor einer einfachen Türhüterin.
sich der römischen Gerichtsbarkeit be- Er leugnete, ein Jünger Jesu zu sein.
dienen. Sie durften zum Beispiel keine 18,18 Petrus mischte sich nun unter
Todesstrafe verhängen und vollziehen. die Feinde des Herrn und versuchte, sei-
Das mußte durch Pilatus geschehen. ne Identität zu verbergen. Wie viele

455
Johannes 18

andere Jünger heute »wärmte« er sich am frühen Morgenstunde »wärmte sich«


»Kohlenfeuer« dieser Welt. Petrus am Feuer. Zweifellos legte seine
Kleidung und sein Dialekt nahe, daß der
D. Jesus vor dem Hohenpriester ein galiläischer Fischer war. Derjenige,
(18,19-24) der am nächsten bei ihm stand, fragte
18,19 Es ist nicht eindeutig, ob der hier ihn, ob er ein Jünger Jesu sei. Doch wie-
erwähnte Hohepriester Hannas oder der »leugnete« er seinen Herrn.
Kaiphas war. Wenn es Hannas war, was 18,26 Nun sprach ihn ein »Verwand-
am wahrscheinlichsten ist, wurde er ter« des Malchus an. Er hatte ihn gese-
wohl eher aus Höflichkeit Hoherpriester hen, als »Petrus das Ohr« seines Ver-
genannt, weil er dieses Amt einmal inne- wandten »abgehauen hatte: Sah ich dich
gehabt hat. »Der Hohepriester nun frag- nicht in dem Garten bei« diesem Jesus?
te Jesus über seine Jünger und über seine 18,27 Zum drittenmal »leugnete«
Lehre«, als ob diese das mosaische Petrus den Herrn. »Gleich darauf« hörte
Gesetz oder die römische Verwaltung er das Krähen eines Hahns und erinnerte
bedroht hätten. Es ist offensichtlich, daß sich an die Worte seines Herrn: »Der
diese Leute keine echte Anklage gegen Hahn wird nicht krähen, bis du mich
den Herrn vorbringen konnten, deshalb dreimal verleugnet hast.« Aus den ande-
versuchten sie, eine zu erfinden. ren Evangelien wissen wir, daß Petrus
18,20 »Jesus antwortete ihm«, daß nun hinausging und bitterlich weinte.
sein Wirken »öffentlich« gewesen sei. Er
hatte nichts zu verbergen. Er hatte in F. Jesus vor Pilatus (18,28-40)
Gegenwart »aller Juden« gelehrt, »in der 18,28 Die religiöse Verhandlung war
Synagoge und in dem Tempel«. Es gab vorüber, nun sollte die zivile beginnen.
bei ihm keine Geheimnisse. Die Szene spielt im Gerichtssaal oder
18,21 Man sollte einige Juden herbei- dem Palast des Statthalters. Die Juden
bringen, die ihn gehört hatten. Sie sollten wollten nicht in den Palast des Heiden
die Anklage liefern. Wenn er etwas hineingehen. Sie waren der Ansicht, daß
Falsches getan oder gesagt hatte, sollten sie sich damit »verunreinigen« würden
sie Zeugen dafür bringen. und deshalb nicht »das Passah essen
18,22 Diese Aufforderung irritierte könnten«. Es schien sie wenig zu beunru-
die Juden offensichtlich. Sie hatten damit higen, daß sie den Tod des Sohnes Gottes
keine Anklage mehr. Und deshalb flüch- betrieben. Es wäre für sie eine Tragödie
teten sie sich in Beschimpfungen. »Einer gewesen, ein heidnisches Haus zu betre-
der Diener« schlug Jesus, weil er so mit ten, doch Mord war für sie nebensäch-
»dem Hohenpriester« geredet habe. lich. Augustinus bemerkt dazu:
18,23 Völlig gelassen und mit unan- O gottlose Blindheit! Sie meinten sich zu
fechtbarer Logik zeigte der Erlöser, wie verunreinigen, wenn sie in einem Haus blie-
unfair ihre Haltung war. Sie konnten ihn ben, das einem anderen gehörte, doch nicht,
nicht anklagen, etwas Böses gesagt zu wenn sie selbst ein Verbrechen begingen. Sie
haben, doch schlugen sie ihn dafür, daß hatten Angst, sich im Prätorium eines frem-
er die Wahrheit sagte. den Richters zu verunreinigen, und fürchte-
18,24 Die vorhergehenden Verse ten nicht, sich am Blut eines unschuldigen
48)
beschreiben das Verhör vor Hannas. Die Bruders zu verunreinigen.
Verhandlung vor Kaiphas wird von Hall kommentiert:
Johannes nicht beschrieben. Sie fand zwi- Weh euch Priestern, Schriftgelehrten,
schen Kapitel 18,24 und 18,28 statt. Ältesten und Heuchlern! Gibt es ein Dach,
das so unrein wäre, wie euer eigener Leib?
E. Petrus leugnet zum zweiten und Nicht die Mauern des Palastes des Pilatus,
dritten Mal (18,25-27) sondern eure eigenen Herzen sind unrein. Ihr
18,25 Die Erzählung wendet sich nun zu wollt morden und schreckt vor einer örtli-
Simon Petrus zurück. In der Kälte der chen Infektion zurück? Gott wird euch stra-

456
Johannes 18

fen, ihr weißgetünchten Wände! Ihr wollt würde, um getötet zu werden. Hier
euch mit Blut besudeln – mit dem Blut Gott- erfüllen die Juden diese Prophe-
es? Und ihr fürchtet, euch durch Berührung zeiung.
des Bodens, den Pilatus betritt, zu verunrei- 2. An vielen Stellen sagte der Herr, daß
nigen? Ihr seiht Mücken und verschluckt er »erhöht« würde (Joh 3,14; 8,28;
Kamele? Hinaus mit euch aus Jerusalem, ihr 12,32.34). Das bezog sich auf den Tod
hinterhältigen Ungläubigen, wenn ihr nicht durch Kreuzigung. Die Juden steinig-
unrein werden wollt! Pilatus hat mehr ten Menschen, die Todesstrafe ver-
Grund zu fürchten, daß seine Mauern verun- dient hatten, die Kreuzigung war
reinigt werden durch die Anwesenheit solch eine römische Hinrichtungsmethode.
49)
ehebrecherischer Ungeheuer der Bosheit. So erfüllten die Juden unbewußt
Poole bemerkt: »Nichts ist verbreite- durch ihre Weigerung, die Todesstra-
ter, als daß Menschen, die übereifrig an fe selbst durchzuführen, diese beiden
Ritualen festhalten, mit moralischen Prophezeiungen auf den Messias
50)
Grundwerten lässig umgehen.« Der (s. a. Ps 22,16).
Ausdruck »damit sie das Passah essen 18,33 Pilatus nahm Jesus mit sich
könnten« bedeutet wahrscheinlich, das »hinein in das Prätorium« um ihn privat
Fest, das auf das Passah folgt. auszufragen. Er fragte ihn ganz direkt:
18,29 Pilatus, der römische Prokura- »Bist du der König der Juden?«
tor, gab den religiösen Skrupeln der Juden 18,34 Jesus antwortete ihm praktisch:
nach, indem er zu ihnen »hinausging«. Er »Hast du als Prokurator je davon gehört,
begann die Verhandlung, indem er fragte, daß ich versucht hätte, die römische
»welche Anklage« sie gegen diesen Ge- Herrschaft zu brechen? Ist dir je berichtet
fangenen vorzubringen hätten. worden, daß ich mich als König habe
18,30 Ihre Antwort war voreilig und ausrufen lassen, der Cäsars Macht unter-
gleichzeitig mutig. Sie sagten praktisch, graben will? Hast du selbst Grund für
daß sie diesen Fall schon verhandelt und diese Anklage, oder hast du nur gehört,
Jesus für schuldig befunden hätten. Sie was diese Juden behauptet haben?«
wollten nur noch, daß Pilatus die Strafe 18,35 Pilatus drückte mit seiner Frage
verhängte. »Bin ich etwa ein Jude?« echte Verach-
18,31 Pilatus versuchte, der Verant- tung aus. Er meinte damit, daß er zu
wortung auszuweichen und sie den Ju- wichtig sei, um sich mit den internen
den zuzuschieben. Wenn sie Jesus schon Problemen der Juden herumzuschlagen.
einen Prozeß gemacht und ihn für schul- Doch durch seine Antwort gab er auch
dig befunden hatten, warum bestraften zu, daß er keine echte Anklage gegen
sie ihn dann nicht nach ihrem »Gesetz«? Jesus hatte. Er wußte nur, was die Ober-
Die Antwort der Juden ist sehr bedeut- sten der Juden ihm gesagt hatten.
sam. Sie sagten mit ihren vielen Worten: 18,36 Der Herr bekannte dann, daß er
»Wir sind kein unabhängiges Volk. Wir ein König wäre. Doch nicht die Art von
sind von den Römern beherrscht. Die König, wie ihn die Juden anklagen woll-
öffentliche Gerichtsbarkeit ist uns entzo- ten. Er wollte Rom nicht bedrohen. Das
gen, deshalb haben wir nicht mehr die Reich Christi wird nicht mit Waffen
Vollmacht, ›jemanden zu töten‹.« Ihre erkämpft. Andernfalls hätten seine Jün-
Antwort war der Beweis für ihre Knecht- ger »gekämpft«, um seine Gefangennah-
schaft und Unterwerfung unter eine me durch die Juden zu verhindern. Chri-
heidnische Macht. Außerdem wollten sie sti »Reich ist nicht von dieser Welt«. Es
die Verantwortung für den Tod Christi erhält keine Macht oder Autorität von
Pilatus zuschieben. ihr, seine Ziele und Perspektiven sind
18,32 Dieser Vers kann zweierlei nicht fleischlich.
bedeuten: 18,37 Als Pilatus Jesus fragte, ob er
1. In Matthäus 20,19 hatte Jesus vorher- »ein König« sei, antwortete Jesus: »Du
gesagt, daß er den Heiden übergeben sagst es, daß ich ein König bin.« Doch

457
Johannes 18 und 19

sein Reich ist ein Reich der »Wahrheit«, chen des Fluches, den die Sünde der
nicht der Waffen. Jesus ist »dazu in die Menschheit brachte. Hier haben wir das
Welt gekommen«, daß er »für die Wahr- Bild des Herrn Jesus vor uns, wie er den
heit Zeugnis gebe«. Mit »Wahrheit« sind Fluch unserer Sünden trägt, damit wir
hier die Wahrheit über Gott, Christus die Krone der Herrlichkeit empfangen
selbst, den Heiligen Geist, den Men- können. Auch das »Purpurkleid« diente
schen, die Sünde, die Erlösung und alle dem Spott. Purpur ist die Farbe der Köni-
anderen wichtigen Lehren des Christen- ge. Doch wieder erinnert es uns daran,
tums gemeint. »Jeder, der aus der Wahr- wie unsere Sünden auf den Herrn Jesus
heit ist, hört« seine »Stimme«, und auf gelegt wurden, damit wir mit dem
diese Weise wächst das Reich Jesu. Gewand der Gerechtigkeit Gottes beklei-
18,38 Es ist schwer zu sagen, was det werden können.
Pilatus meinte, als er zu ihm sagte: »Was Wie schrecklich, sich vorzustellen,
ist Wahrheit?« War er erstaunt, sarka- daß der ewige Sohn Gottes von seinen
stisch oder interessiert? Wir wissen nur, eigenen Geschöpfen geschlagen wird!
daß die fleischgewordene Wahrheit vor Münder, die er erschaffen hat, werden
ihm stand, und er sie nicht erkannte. nun mißbraucht, um ihn zu verspotten!
Pilatus eilte nun zu den Juden mit dem 19,4 »Pilatus ging wieder hinaus« zu
Geständnis, daß er an Jesus »keinerlei der Menschenmenge und kündigte an,
Schuld« fände. daß er Jesus zu ihnen bringen würde,
18,39 Bei den Juden war es »Brauch«, daß er jedoch unschuldig sei. So verur-
zum »Passah« für einen jüdischen Gefan- teilte sich Pilatus durch seine eigenen
genen von den Römern die Freiheit zu Worte. Er hatte an Christus keine Schuld
erbitten. Pilatus erinnerte sich an diesen gefunden, doch er wollte ihn nicht frei-
Brauch, um den Juden zu gefallen und lassen.
gleichzeitig Jesus freizulassen. 19,5 Als »Jesus nun hinausging und
18,40 Der Plan ging fehl. Die Juden die Dornenkrone und das Purpurkleid
wollten nicht Jesus, »sondern den Barra- trug«, kündigte Pilatus ihn als »der
bas. Barrabas aber war ein Räuber.« Das Mensch« an. Es ist schwer festzustellen,
böse menschliche Herz wollte lieber ob er das im Spott, in Sympathie oder
einen Banditen als seinen Schöpfer. ohne jede Gefühlsregung sagte.
19,6 »Die Hohenpriester« bemerkten,
G. Das Urteil des Pilatus: Unschuldig, daß Pilatus wankend geworden war, und
doch trotzdem verurteilt (19,1-16) so schrieen sie laut, daß Jesus gekreuzigt
19,1 Es war höchst ungerecht von Pilatus, werden solle. Es waren religiöse Men-
einen Unschuldigen geißeln zu lassen. schen, die den Tod des Erlösers betrie-
Vielleicht hoffte er, daß diese Strafe die ben. Oft ist es durch die Jahrhunderte
Juden besänftigen würde und sie nicht hindurch die offizielle Kirche gewesen,
weiterhin den Tod Jesu verlangten. Die die die wahren Gläubigen am bittersten
Geißelung war eine römische Form der bekämpft hat. Pilatus scheint sie mit
Strafe. Der Gefangene wurde mit einer ihrem unvernünftigen Haß auf Jesus zu
Peitsche geschlagen. Darin waren verachten. Er sagte praktisch: »Wenn ihr
Metall- oder Knochenstücke eingearbei- dieser Meinung seid, warum ›nehmt ihr‹
tet, die tiefe Wunden ins Fleisch schlu- ihn nicht selbst ›und kreuzigt ihn‹? Mei-
gen. ner Meinung nach ist er unschuldig.«
19,2.3 »Die Soldaten« machten sich Doch Pilatus wußte, daß die Juden ihn
über Jesu Behauptung lustig, ein König nicht hinrichten durften, weil Hinrich-
zu sein. Sie wollten ihn nun auch krönen. tungen zu dieser Zeit nur von den
Doch sie nahmen »eine Krone aus Dor- Römern durchgeführt werden durften.
nen«. Diese mußte starke Schmerzen ver- 19,7 Als sie sahen, daß sie mit ihrem
ursachen, wenn man sie ihm auf das Anliegen, Jesus als Gefahr für die Herr-
Haupt drückte. Die Dornen sind ein Zei- schaft Cäsars darzustellen, nicht erfolg-

458
Johannes 19

reich gewesen waren, brachten sie wie- erkennen müssen, als er kam. Doch sie
der ihre religiöse Anklage gegen ihn vor. lehnten ihn ab und wollten nun sogar
Christus behauptete, Gott gleich zu sein, seinen Tod erzwingen. Dieser Vers lehrt
indem er gesagt hatte, er sei »Gottes uns, daß es verschiedene Grade der
Sohn«. Für die Juden war das eine Läste- Schuld gibt. Pilatus war schuldig, doch
rung, die mit dem Tode bestraft werden Kaiphas, Judas und alle anderen bösen
sollte. Juden hatten noch größere Schuld.
19,8.9 Die Möglichkeit, daß Jesus 19,12 Als Pilatus gerade bereit war,
Gottes Sohn sein könnte, beunruhigte Jesus »loszugeben«, benutzen die Juden
Pilatus. Er fühlte sich sowieso bei der ihr letztes und vielsagendstes Argument.
ganzen Angelegenheit nicht recht wohl, »Wenn du diesen losgibst, bist du des
doch auf dieses Wort hin »fürchtete er Kaisers Freund nicht.« Als wenn sie an
sich noch mehr«. Cäsar interessiert gewesen wären! Sie
Pilatus nahm Jesus wieder »hinein in haßten ihn. Sie hätten ihn gerne abge-
das Prätorium« oder das Gerichtsgebäu- setzt gesehen und nicht unter seiner
de und fragte ihn, »woher« er komme. In Herrschaft gestanden. Doch hier geben
dieser ganzen Angelegenheit ist Pilatus sie vor, das Reich Cäsars vor der Bedro-
wirklich eine tragische Figur. Er selbst hung durch diesen Jesus zu beschützen,
bekannte, daß Jesus kein Unrecht getan der von sich behauptete, ein König zu
hatte, und doch hatte er nicht den Mut, sein! Sie ernteten die Bestrafung für die-
ihn freizulassen, weil er die Juden fürch- se schreckliche Heuchelei, als die Römer
tete. Warum antwortete Jesus nun nicht? 70 n. Chr. in Jerusalem einmarschierten,
Wahrscheinlich, weil er wußte, daß Pila- die Stadt dem Erdboden gleichmachten
tus sowieso nicht entsprechend seiner und ihre Einwohner abschlachteten.
Erkenntnis handeln würde. Pilatus hatte 19,13 Pilatus konnte es sich nicht lei-
durch seine Sünde den Tag der Errettung sten, daß diese Juden ihn der Untreue
verpaßt. Er sollte nicht noch mehr Licht Cäsar gegenüber anklagten, deshalb
erhalten, da er nicht auf das ihm schon unterwarf er sich gefügig der Menge. Er
gegebene Licht reagiert hatte. brachte Jesus an einen öffentlichen Platz
19,10 Pilatus wollte dem Herrn eine namens »Steinpflaster«, wo solche Ange-
Antwort entlocken, indem er ihn bedroh- legenheiten verhandelt wurden.
te. Er erinnerte Jesus daran, daß er als 19,14 In Wirklichkeit war das Passah
römischer Prokurator die »Macht« oder am vorhergehenden Abend gehalten
Autorität hatte, ihn »loszugeben« oder worden. Der »Rüsttag des Passah« ist in
»zu kreuzigen«. Wirklichkeit der Rüsttag für das darauf-
19,11 Die Selbstbeherrschung des folgende Fest. »Um die sechste Stunde«
Herrn Jesus ist bemerkenswert. Er war ist wahrscheinlich 6 Uhr morgens, doch
ruhiger als Pilatus selbst. Er antwortet gibt es einige ungelöste Probleme zur
ruhig, daß jede »Macht«, die Pilatus Zeitrechnung in den Evangelien.
haben mochte, ihm von Gott »gegeben »Siehe, euer König!« Sehr wahrschein-
wäre«. Alle Regierung ist von Gott einge- lich wollte Pilatus die Juden mit diesem Aus-
setzt, alle Autorität, ob zivil oder geist- ruf ärgern und herausfordern. Er wollte sie
lich, kommt von Gott. dafür tadeln, daß sie ihn gezwungen hatten,
»Der, welcher mich dir überliefert Jesus zu verurteilen.
hat« kann sich beziehen auf: 19,15 Die Juden bestanden darauf,
1. Kaiphas, den Hohenpriester, daß Jesus gekreuzigt werden sollte. Pila-
2. Judas, den Verräter, oder tus verhöhnte sie mit der Frage: »Euren
3. das jüdische Volk im allgemeinen. König soll ich kreuzigen?« Da erniedrig-
Der Gedanke hierbei ist, daß die ten sich die Juden so weit zu sagen: »Wir
Juden es besser gewußt haben sollten. Sie haben keinen König außer dem Kaiser.«
hatten die Schrift, die das Kommen des Treuloses Volk! Sie lehnten Gott um eines
Messias voraussagte. Sie hätten ihn bösen, heidnischen Herrschers willen ab.

459
Johannes 19

19,16 Pilatus wollte den Juden einen 19,20 Alexander drückt sich sehr
Gefallen tun, und so übergab er Jesus den beredt aus:
Soldaten, »daß er gekreuzigt würde«. Er Auf Hebräisch, der heiligen Sprache der
liebte die Anerkennung der Menschen Stammväter und der Propheten. Auf Grie-
mehr als die Gottes. chisch, der musikalischen und goldenen
Sprache, die dem sinnlich Wahrnehmbaren
H. Die Kreuzigung (19,17-24) eine Seele zuschrieb und den philosophischen
19,17 Das Wort, das mit »Kreuz« über- Abstraktionen eine Leiblichkeit verlieh. Auf
setzt wird, kann sich auf ein einzelnes Lateinisch, der Sprache der Menschen, die
Stück Holz (einen Pfahl) beziehen, aber ursprünglich die stärksten aller Men-
auch auf zwei gekreuzte Balken. Jeden- schensöhne waren. Die drei Sprachen vertre-
falls war es so groß, daß ein normaler ten die drei Rassen und ihre Ideale: Offenba-
Mann es tragen konnte. Jesus »trug sein rung, Kunst und Literatur, Fortschritt, Krieg
Kreuz« ein Strecke. Die anderen Evange- und Rechtsprechung. Wo immer diese drei
lien berichten, daß es später einem ande- Ziele der menschlichen Rasse existieren, wo
ren Mann namens Simon von Cyrene zu immer eine Ankündigung in menschlicher
tragen gegeben wurde. Die »Schädelstät- Sprache gemacht werden kann, wo immer ein
te« könnte ihren Namen auf zwei Arten Herz zum Sündigen, ein Zunge zum Spre-
bekommen haben: chen und ein Auge zum Lesen ist – dort hat
51)
1. Der Ort selbst könnte einem Schädel das Kreuz eine Botschaft auszurichten.
geglichen haben, insbesondere, wenn »Die Stätte . . . war nahe bei der
es ein Hügel mit seitlichen Höhlen Stadt.« Der Herr Jesus wurde außerhalb
war. Dieses Golgatha nennt man heu- der Stadtmauer gekreuzigt. Der genaue
te »Gordons Golgatha«. Ort ist heute unbekannt.
2. Golgatha war der Ort, an dem Krimi- 19,21 »Die Hohenpriester« mochten
nelle hingerichtet wurde, man fand die Aufschrift auf Jesu Kreuz ganz und
deshalb vielleicht Schädel und Kno- gar nicht. Sie wollten, daß dort steht, daß
chen an dem Platz, doch im Lichte er behauptet habe, ein König zu sein, nicht
der mosaischen Gesetze bezüglich daß es als Tatsache dort stand (die es
Bestattung ist das recht unwahr- jedoch war).
scheinlich. 19,22 Pilatus wollte die Aufschrift
19,18 Der Herr Jesus wurde mit Hän- jedoch nicht ändern. Er wurde immer
den und Füßen an das Kreuz genagelt. unwilliger über die Juden und wollte
Das Kreuz wurde aufgerichtet und in ein ihnen nicht nochmal nachgegeben. Doch
Loch im Erdboden gestellt. Der einzige er hätte seine Entschlossenheit schon
vollkommene Mensch, der je gelebt hat, früher zeigen sollen!
wurde so von den Seinen behandelt. 19,23 Bei solchen Hinrichtungen war
Wenn du ihm bisher noch nicht dein Le- es den »Soldaten« erlaubt, die persönli-
ben als deinem Herrn und Erlöser anver- che Habe des Hingerichteten unter sich
traut hast, willst du es nicht jetzt tun, wo aufzuteilen. Hier sehen wir, wie sie »sei-
du diesen schlichten Bericht liest, wie er ne Kleider« teilen. Offensichtlich waren
für dich gestorben ist? Zwei Räuber wur- es fünf Kleidungsstücke. Sie verteilten
den mit ihm gekreuzigt, »auf dieser und vier, doch blieb »das Unterkleid« übrig,
auf jener Seite«. Das war eine Erfüllung das »ohne Naht« gewebt war und nicht
der Prophezeiung von Jesaja 53,12: »Er zerschnitten werden konnte, ohne da-
ließ sich zu den Verbrechern zählen.« durch wertlos zu werden.
19,19 Es war Sitte, eine »Aufschrift« 19,24 Sie »losten« um das Gewand
über dem Kopf des Gekreuzigten zu und gaben es dem hier nicht genannten
befestigen, die den Grund seiner Hin- Gewinner. Sie wußten wohl kaum, daß
richtung angab. Pilatus befahl, daß der sie dadurch eine bemerkenswerte Pro-
Titel »Jesus, der Nazoräer, König der Juden« phezeiung erfüllten, die schon tausend
an dem Kreuz befestigt werden sollte. Jahre früher niedergeschrieben worden

460
Johannes 19

war (Ps 22,18). Diese erfüllten Prophezei- eine Pflanze, die auch beim Passah Ver-
ungen erinnern uns wieder von neuem wendung findet, s. 2. Mose 12,22.) Das
daran, daß dieses Buch das inspirierte ist nicht mit dem Essig zu verwechseln,
Wort Gottes ist, und daß Jesus Christus der mit Galle gemischt war und der ihm
wirklich der verheißene Messias ist. schon vorher angeboten worden war
(Matth 27,34). Dieses Betäubungsmittel
I. Jesus befiehlt seine Mutter Johan- hatte er nicht getrunken, weil es seine
nes an (19,25-27) Schmerzen gelindert hätte. Er mußte sein
19,25 Viele Bibelausleger sind der Mei- volles Bewußtsein behalten, als er unsere
nung, daß in diesem Vers die folgenden Sünden trug.
vier Frauen erwähnt werden: 19,30 »Es ist vollbracht!« Das Werk,
1. Maria, die »Mutter« Jesu, das der Vater ihm aufgetragen hatte, war
2. Marias »Schwester«, Salome, die vollendet! Er hat seine Seele als Sündop-
Mutter des Johannes, fer für uns ausgegossen. Es war das Werk
3. »Maria, des Kleopas Frau« und der Versöhnung und der Sühne. Es ist
4. »Maria Magdalena«. wahr, daß er noch nicht gestorben war,
19,26.27 Trotz seiner eigenen Leiden doch sein Tod, sein Begräbnis und seine
hatte Jesus noch liebevoll auf andere Auferstehung waren schon so sicher, als
acht. Als er seine »Mutter« und Johan- ob sie schon geschehen wären. Deshalb
nes, »den Jünger« sah, stellt er ihr Johan- konnte der Herr Jesus auf diese Weise
nes als den vor, der nach seinem Tod den ankündigen, daß der Weg bereitet war,
Platz als ihr Sohn einnehmen sollte. Sünder zu erlösen. Wir wollen Gott heu-
Indem er seine Mutter mit »Frau« te für das vollendete Werk des Herrn
ansprach, ließ er es nicht an Respekt für Jesus am Kreuz von Golgatha danken!
sie fehlen. Doch ist es bemerkenswert, Einige Ausleger meinen, daß »das
daß er sie nicht »Mutter« nennt. Ist das Haupt neigen« bedeutete, daß er seinen
eine Lehre für diejenigen, die versucht Kopf zurücklegte. Vine sagt: »Er ließ
sein könnten, Maria auf einen Platz zu nicht hilflos den Kopf fallen, sondern
erheben, an dem sie angebetet wird? brachte ihn absichtlich in eine Ruhestel-
Jesus befahl Johannes hier, für Maria zu lung.«
sorgen, als ob sie seine eigene Mutter sei. Daß Jesus »den Geist übergab«, weist
Johannes gehorchte und nahm Maria auf die Tatsache hin, daß sein Tod wil-
von da an »zu sich«. lentlich geschah. Er bestimmte den Zeit-
punkt seines Todes. Er hatte noch alles
J. Das Werk Christi wird vollendet unter Kontrolle und übergab seinen Geist
(19,28-30) – eine Handlungsweise, die keinem nor-
19,28 Zwischen Vers 27 und 28 liegen malen Menschen möglich ist.
zweifellos die drei Stunden Finsternis –
von Mittags bis um 15 Uhr. In dieser Zeit K. Die Soldaten stechen Jesus in die
war Jesus von Gott verlassen und trug Seite (19,31-37)
die Strafe für unsere Sünden. Sein Schrei 19,31 Und wieder sehen wir, wie sorgfäl-
»mich dürstet« weist auf echten, leibli- tig diese frommen Juden ihre Vorschrif-
chen Durst hin, der durch die Kreuzi- ten einhielten, obwohl sie gerade einen
gung verschlimmert wurde. Aber er erin- Mord begangen hatten. Sie »seihen
nert uns auch daran, daß, so groß sein Mücken und verschlucken ein Kamel«.
leiblicher Durst auch sein mochte, sein Sie meinten, es sei nicht angemessen, daß
geistlicher Durst für die Erlösung von »die Leiber am Sabbat (Samstag) am
Menschen noch größer war Kreuz blieben«. Es würde ein religiöses
19,29 Die Soldaten gaben ihm »Essig« Fest in der Stadt gefeiert. So baten sie
zu trinken. Sie banden wahrscheinlich Pilatus, daß den dreien die »Beine ge-
einen »Schwamm« an einen Zweig Ysop brochen« würden, damit sie schneller
und hielte ihn an seine Lippen. (Ysop ist stürben.

461
Johannes 19

19,32 Die Schrift beschreibt nicht, wie menden Tag, wenn gläubige Juden den
man die Beine brach. Wahrscheinlich Herrn Jesus zur Erde zurückkommen
wurden sie an mehreren Stellen gebro- sehen werden. »Sie werden auf mich
chen, weil ein einziger Bruch nicht den blicken, den sie durchbohrt haben, und
Tod herbeiführen würde. werden über ihn wehklagen, wie man
19,33 Die Soldaten hatten Erfahrung. über den einzigen Sohn wehklagt.«
Sie wußten, »daß Jesus schon gestorben
war«. Es ist unmöglich, daß er nur be- L. Das Begräbnis in Josephs Grab
täubt oder ohnmächtig war. »Sie brachen (19,38-42)
ihm die Beine nicht.« 19,38 Hier beginnt der Bericht des
19,34 Es wird nicht erwähnt, warum Begräbnisses Jesu. Bisher war »Joseph
»einer der Soldaten mit einem Speer sei- von Arimathia« nur im geheimen ein
ne Seite durchbohrte«. Vielleicht war es Jünger Jesu gewesen. »Furcht vor den
ein letzter Ausbruch der Verderbtheit sei- Juden« hatten ihm vom öffentlichen
ner Seele. »Es war der kraftlose Schuß Bekenntnis zu Jesus abgehalten. Nun
des besiegten Feindes nach der Schlacht, tritt er mutig vor und bittet um »den Leib
der den tiefsitzenden Haß im Herzen des Jesu«, um ihn zu begraben. Indem er das
Menschen gegen Gott und seinen Chri- tut, setzt er sich der Exkommunikation
stus beweist.« Es gibt keine einheitliche aus, der Verfolgung und der Gewalt. Es
Auslegung der Bedeutung von »Blut und ist nur schade, daß er noch nicht bereit
Wasser«. Einige sehen darin ein Zeichen, war, für seinen abgelehnten Meister ein-
daß Jesus an gebrochenem Herzen starb zustehen, während Jesus noch seinen
– doch wir haben schon gelesen, daß sein Dienst am Volk tat.
Tod eine willentliche Handlung war. 19,39.40 Die Leser des Johannes ken-
Andere sind der Meinung, daß sie von nen Nikodemus, nachdem sie ihm schon
der Taufe und dem Herrenmahl spre- begegnet sind, als er »bei Nacht zu Jesus
chen, doch das scheint weit hergeholt zu gekommen war« (Kap. 3) und als er dar-
sein. Blut spricht von der Reinigung von auf drängte, daß er ein faires Verhör vor
der Schuld der Sünde, während Wasser dem Sanhedrin bekäme (Joh 7,50.51). Er
die Reinigung durch das Wort von der begleitet nun Joseph und bringt »unge-
Verunreinigung durch die Sünde spricht. fähr hundert Pfund . . . Myrrhe und
19,35 Vers 35 kann sich auf die Tatsa- Aloe« mit. Diese »wohlriechenden Öle«
che beziehen, daß seine Beine nicht hatten wohl Pulverform und wurden
gebrochen wurden, oder auf die Öffnung über den Leib gestreut. Dann wurde der
der Seite Jesu oder auf die gesamte Kreu- Leib »in Leinentücher« eingewickelt.
zigungsszene. 19,41 Fast jede Einzelheit dieses
19,36 Dieser Vers schaut offensicht- Abschnittes ist die Erfüllung einer Pro-
lich auf Vers 33 zurück, der eine Erfül- phezeiung. Jesaja hatte vorausgesagt,
lung von 2. Mose 12,46 ist: »Kein Bein daß die Menschen planen würden, den
von ihm wird zerbrochen werden.« Das Messias mit den Bösen zu begraben,
bezieht sich bei Mose auf das Passah- doch daß er in seinem Tod bei den Rei-
lamm. Gottes Anordnung lautete, daß chen sein würde (Jes 53,9). »Eine neue
die Knochen unzerbrochen blieben. Chri- Gruft« in einem »Garten« gehörte offen-
stus ist das wahre Passahlamm und er- sichtlich keinem armen Mann. Von Mat-
füllt dieses Bild mit größter Genauigkeit. thäus erfahren wir, daß das Grab Joseph
19,37 Dieses Zitat bezieht sich auf von Arimathia gehörte.
Vers 34. Obwohl der Soldat es nicht wuß- 19,42 Der Leib Jesu wurde in das
te, erfüllte er auf wunderbare Weise eine Grab gelegt. Die Juden wollten den Leib
andere Schriftstelle (Sach 12,10). »Der möglichst schnell aus dem Weg haben,
Mensch handelt in seiner Bosheit, doch weil ihr Fest mit Sonnenuntergang be-
Gott tut, was ihm gefällt.« Die Prophe- gann. Doch all das war ein Teil des Be-
zeiung Sacharjas beschreibt den kom- schlusses Gottes, daß der Leib drei Tage

462
Johannes 19 und 20

und drei Nächte lang im Herzen der Erde das letztere der Fall war. »Doch ging er
ruhen sollte. In diesem Zusammenhang nicht hinein« in das Grab.
sollte erwähnt werden, daß nach jüdi- 20,6.7 Nun hatte Petrus Johannes ein-
scher Zählung auch ein angebrochener geholt und »ging« ohne Zögern »hinein«
Tag als Tag gezählt wurde. So ist die Tat- in das Grab. Es ist etwas an seiner impul-
sache, daß der Herr einen Teil von drei siven Art, das uns fühlen läßt, daß wir
Tagen im Grab lag, eine Erfüllung seiner mit ihm verwandt sind. Auch er »sieht
Voraussage in Matthäus 12,40. die Leinentücher daliegen«, doch der
Leib des Herrn war nicht da.
IX. Der Sieg des Sohnes Gottes Die Einzelheit über das »Schweiß-
(Kap. 20) tuch« ist hier angeführt worden, um an-
zudeuten, daß der Herr ordentlich und
A. Das leere Grab (20,1-10) ohne Eile aufgebrochen ist. Wenn jemand
20,1 Der »erste Wochentag« war unser den Leib gestohlen hätte, hätte er nicht
heutiger Sonntag. »Maria Magdalena« das Schweißtuch »für sich zusammenge-
ging vor Tagesanbruch »zur Gruft«. Es ist wickelt an einem besonderen Ort« hinge-
wahrscheinlich, daß die Gruft ein kleiner legt!
Raum war, der in den Abhang eines 20,8 Johannes ging nun in das Grab
Hügels oder einer Klippe eingehauen hinein und sah, wie ordentlich Leinen-
war. Der Stein hatte Münzenform, rund tücher und Schweißtuch hingelegt wor-
und flach. Er paßte in eine Rinne vor dem den waren. Doch wenn es heißt: »und er
Eingang des Grabes und konnte darin sah und glaubte«, so geht es um mehr als
vor die Öffnung der Gruft gerollt wer- leibliches Sehen. Es bedeutet, daß er ver-
den, um sie zu verschließen. Als Maria stand. Vor ihm lagen die Beweise für die
dorthin gelangte, war der Stein schon Auferstehung Christi. Sie zeigten, was
»von der Gruft weggenommen.« Das geschehen war, und »er glaubte«.
war übrigens geschehen, nachdem Chri- 20,9 Bis dahin verstanden die Jünger
stus auferstanden war, wie wir in Mat- nicht wirklich die »Schrift« des AT, in der
thäus 28 erfahren. geschrieben stand, daß der Messias »aus
20,2 Maria »läuft« sofort zu Petrus den Toten auferstehen mußte«. Der Herr
und Johannes und verkündigt ihnen selbst hatte es ihnen mehrmals gesagt,
atemlos, daß jemand »den Herrn aus der doch sie hatten es nicht verstanden.
Gruft weggenommen« habe. Sie sagte Johannes war der erste, der es verstand.
nicht, wer das gewesen sein könnte, sie 20,10 Dann kehrten »die Jünger wie-
sagte nur »sie«, um anzudeuten, daß sie der heim«, wo immer sie sich auch in Jeru-
nicht mehr wußte. Die Treue und Hinga- salem aufgehalten hatten. Sie hatten zwei-
be der Frauen bei der Kreuzigung und fellos geschlossen, daß es nutzlos war,
der Auferstehung unseres Herrn sollte weiter am Grab zu warten. Es war besser,
beachtet werden. Die Jünger hatten den umzukehren und den anderen Jüngern zu
Herrn verlassen und waren geflohen. Die erzählen, was sie gesehen hatten.
Frauen standen dabei, ohne auf ihre per-
sönliche Sicherheit acht zu haben. Das ist B. Der Auferstandene erscheint Maria
nicht ohne Bedeutung. Magdalena (20,11-18)
20,3.4 Es ist schwer vorzustellen, was 20,11 Die ersten beiden Worte sind tref-
Petrus und Johannes gedacht haben fend: »Maria aber . . .« Die anderen bei-
mögen, als sie aus der Stadt zum Garten den Jünger kehrten nach Hause zurück,
in der Nähe von Gethsemane eilten. aber Maria . . . Hier haben wir wieder die
Johannes sah »die Leinentücher dalie- Liebe und Hingabe einer Frau. Ihr war
gen«. Waren sie dem Leib abgenommen viel vergeben worden, deshalb liebte sie
worden oder lagen sie noch in der Weise viel. Sie hielt einsame Totenwache außer-
da, wie sie um den Leib des Herrn halb des Grabes und weinte, weil der
gebunden waren? Wir vermuten, daß Leib des Herrn, wie sie dachte, wahr-

463
Johannes 20

scheinlich von seinen Feinden gestohlen schehen sehen, als er leiblich anwesend
worden war. war. Deshalb schloß sie, daß, wenn er
20,12 Als sie nun in das Grab schaut, nicht auf sichtbare Weise bei ihr wäre, sie
»sieht sie zwei Engel in weißen Kleidern keine Hoffnung auf Segen habe. Der
dasitzen, . . . wo der Leib Jesu gelegen Herr muß hier ihr Denken zurechtbrin-
hatte«. Es ist bemerkenswert, wie ruhig gen. Er sagte deshalb: »›Rühre mich nicht
und emotionslos diese aufregenden Tat- an‹, denn ich bin mehr als ein fleisch-
sachen geschildert werden. licher Mensch. ›Ich bin noch nicht aufge-
20,13 Maria schien weder erstaunt fahren zum Vater.‹ Wenn ich in den Him-
noch ängstlich zu sein. Sie beantwortete mel zurückkehre, wird der Heilige Geist
ihre Frage, als ob das etwas ganz Norma- auf die Erde gesandt. Wenn er kommt,
les sei. Aus ihrer Antwort geht hervor, wird er mich deinem Herzen offenbaren,
daß sie noch nicht verstanden hatte, daß und zwar auf eine nie zuvor gekannte
Jesus auferstanden war und wieder lebte. Weise. Ich werde dir näher und lieber
20,14 An diesem Punkt veranlaßte sie sein, als es während meines Lebens hier
irgend etwas, sich umzudrehen. Jesus auf der Erde möglich war.«
selbst stand hinter ihr, doch sie erkannte Dann gab er ihr den Auftrag, zu sei-
ihn nicht. Es war noch immer früher nen »Brüdern« zu gehen und ihnen von
Morgen und vielleicht war es noch der neuen Ordnung zu erzählen. Zum
dämmrig. Sie weinte zweifellos ständig, ersten Mal nennt der Herr seine Jünger
und so konnte sie nur schlecht sehen. »meine Brüder«. Sie sollen wissen, daß
Auch verhinderte Gott eventuell, daß sie sein Vater ihr Vater ist, und daß sein Gott
den Herrn erkannte, ehe nicht die richti- ihr Gott ist. Erst zu diesem Zeitpunkt
ge Zeit dazu war. waren die Gläubigen zu Söhnen und
20,15 Der Herr wußte die Antworten Erben Gottes geworden.
auf seine Fragen, doch wollte er es von Der Herr Jesus sagte nicht »unser
ihr selbst hören. Maria meinte, »es sei der Vater«, sondern »mein Vater und euer
Gärtner«. Der Erlöser der Welt kann den Vater«. Der Grund ist, daß Gott Jesu
Menschen manchmal sehr nahe sein und Vater auf andere Weise ist, als er unser
doch nicht erkannt werden. Er kommt Vater ist. Gott ist von aller Ewigkeit her
normalerweise in einer bescheidenen Vater des Herrn Jesus Christus gewesen.
Haltung, und nicht als einer der Großen Christus ist der Sohn durch »ewige Ge-
der Erde. In ihrer Antwort benannte sie burt«. Der Sohn ist dem Vater gleich. Wir
den Herrn nicht. Dreimal bezog sie sich sind durch Adoption zu Söhnen Gottes
auf »ihn«. Es gab nur eine Person, die in geworden. Es ist eine Beziehung, die be-
ihren Gedanken Raum hatte, und sie ginnt, wenn wir errettet werden und die
meinte, daß es nicht nötig sei, ihn weiter niemals aufhören wird. Als Söhne Gottes
zu benennen. sind wir nicht Gott gleichgestellt und
20,16 Maria hörte nun eine bekannte werden es auch nie sein.
Stimme sie beim Namen nennen. Es 20,18 Maria Magdalena gehorchte
konnte nun keinen Zweifel mehr geben – ihrem Auftrag und wurde, wie es jemand
das war Jesus! Sie nannte ihn »Rabbuni«, einmal ausgedrückt hat, »zum Apostel
was bedeutet: Mein großer »Lehrer«. Sie der Apostel«. Können wir zweifeln, daß
dachte noch immer an ihn als ihren ihr dieses große Vorrecht als Belohnung
großen Lehrer. Sie erkannte nicht, daß er für ihre Hingabe an Christus gegeben
nun viel mehr war als ihr Lehrer – er war wurde?
jetzt ihr Herr und Erlöser. Deshalb wollte
ihr der Herr nun erklären, wie sie ihn C. Der Auferstandene erscheint seinen
hiernach auf neue und bessere Weise Jüngern (20,19-23)
erkennen würde. 20,19 Es war Sonntag »Abend« gewor-
20,17 Maria hatte Jesus persönlich als den. »Die Jünger waren« versammelt,
Menschen gekannt. Sie hatte Wunder ge- vielleicht in dem Obergemach, in dem sie

464
Johannes 20

sich vor drei Nächten auch versammelt lesen, daß Jesus die Jünger »anhauchte«
hatten. »Die Türen« waren »aus Furcht und sagte: »Empfangt Heiligen Geist!«
vor den Juden« verschlossen. Plötzlich Die Schwierigkeit besteht darin, daß der
sahen sie Jesus in ihrer »Mitte« und hör- Geist erst später gegeben wurde, nämlich
ten ihn sprechen: »Friede.« Es scheint zu Pfingsten. Doch wie konnte der Herr
klar zu sein, daß der Herr den Raum diese Worte sprechen, ohne daß sie sofort
betrat, ohne die Türen zu öffnen. Das war verwirklicht wurden?
ein Wunder. Man sollte sich daran erin- Mehrere Erklärungen sind dafür
nern, daß sein Auferstehungsleib ein gegeben worden:
echter Leib aus Fleisch und Blut war. 1. Einige schlagen vor, daß der Herr
Doch er hatte die Macht, durch Hinder- hier nur eine Verheißung dessen gibt,
nisse hindurchzugehen, und auch auf was an Pfingsten passieren sollte. Das
andere Weise unabhängig von den Na- ist kaum eine angemessene Er-
turgesetzen zu handeln. Die Worte »Frie- klärung.
de euch« haben nun eine neue Bedeu- 2. Andere meinen, daß hier eine volle
tung, weil Christus durch sein Blut am Ausgießung des Heiligen Geistes
Kreuz Frieden gemacht hat. Diejenigen, stattfand. Angesichts solcher Feststel-
die durch den Glauben gerechtfertigt lungen wie Lukas 24,49 und Apostel-
sind, haben Frieden mit Gott. geschichte 1,4.5,8 erscheint das un-
20,20 Nachdem er ihnen den Frieden wahrscheinlich, weil dort das Kom-
angekündigt hatte, »zeigte er ihnen« die men des Heiligen Geistes noch als
Zeichen seiner Passion, durch die der zukünftiges Ereignis erscheint. Aus
Friede erkauft worden war. Sie sahen die Johannes 7,39 geht hervor, daß der
Spuren der Nägel und die Wunde, die Geist nicht in seiner Fülle kommen
durch den Speer verursacht war. Freude konnte, ehe Jesus nicht verherrlicht
erfüllte ihre Herzen, als sie erkannten, worden war, d. h. nicht ehe er in den
daß es wirklich »der Herr« war. Er hatte Himmel zurückgekehrt war.
erfüllt, was er vorausgesagt hatte. Er war 3. Andere stellen heraus, daß der Herr
von den Toten auferstanden. Der aufer- sagte: »Empfangt Heiligen Geist«
standene Herr ist die Quelle aller christli- und nicht »Empfangt den Heiligen
cher Freude. Geist«. Sie schließen daraus, daß die
20,21 Vers 21 ist ein wunderbarer Jünger nicht den Heiligen Geist in sei-
Vers. Die Gläubigen sind nicht dazu ner Fülle empfingen, sondern nur
bestimmt, nur selbstsüchtig seinen Frie- einen Dienst des Geistes, wie etwa
den zu genießen. Sie sollen ihn an an- bessere Erkenntnis der Wahrheit,
dere weitergeben. So sendet er sie in die oder Kraft und Leitung für ihre Auf-
Welt, wie ihn »der Vater ausgesandt gabe.
hat«: 20,23 Dies ist ein anderer schwieriger
– Christus kam als Armer in die Welt. Vers, über den es viele Streitigkeiten
– Er kam als Sklave. gegeben hat.
– Er machte sich selbst zu nichts. 1. Eine Ansicht lautet, daß Jesus seinen
– Er freute sich, den Willen des Vaters Aposteln (und ihren Nachfolgern)
zu erfüllen. die Macht gegeben habe, Sünden zu
– Er identifizierte sich mit den Men- vergeben oder zu behalten. Dies ist
schen.Er ging umher und tat Gutes. ein direkter Widerspruch zu der bi-
– Er tat alles aus der Macht des Heili- blischen Lehre, daß nur Gott Sünden
gen Geistes. vergeben kann (Lk 5,21).
– Sein Ziel war das Kreuz. 2. Gaebelein zitiert eine andere Ansicht:
Nun sagte er zu den Jüngern: »So sen- »Die verheißene Macht und gegebene
de ich auch euch.« Autorität steht im Zusammenhang
20,22 Dies ist einer der schwierigsten mit der Predigt des Evangeliums, das
Verse des gesamten Evangeliums. Wir verkündigt, zu welchen Bedingun-

465
Johannes 20

gen Sünden vergeben werden, und, war »Thomas bei ihnen«. Und wieder
wenn diese Bedingungen nicht erfüllt betrat der Herr den Raum auf wunderba-
werden, daß dann die Sünde behal- re Weise und wieder begrüßt er sie mit
ten wird.« »Friede euch!«
3. Eine dritte Ansicht (die der zweiten 20,27 Der Herr geht sehr zartfühlend
sehr ähnlich ist) und die wir akzeptie- und geduldig mit seinem ungläubigen
ren, lautet, daß die Jünger das Recht Nachfolger um. Er lädt ihn ein, die Echt-
erhielten, die Sünde für vergeben zu heit seiner Auferstehung zu prüfen und
erklären. seine Hand in die Speerwunde seiner
Lassen Sie uns ein Beispiel für diese Seite zu legen.
dritte Ansicht geben. Die Jünger gehen 20,28 Thomas war überzeugt. Wir
hinaus, um das Evangelium zu predigen. wissen nicht, ob er seine Hand je in die
Einige Menschen tun Buße für ihre Sün- Seite des Herrn gelegt hat. Doch er wuß-
den und nehmen den Herrn Jesus auf. te schließlich, daß Jesus auferstanden ist
Die Jünger sind nun bevollmächtigt, und daß er »Herr« und »Gott« ist. John
ihnen zu sagen, daß ihre Sünden verge- Boys drückt es sehr schön aus: »Er
ben sind. Andere weigern sich, umzu- erkannte die Göttlichkeit, die er nicht
kehren und wollen nicht an Jesus glau- sehen konnte an, weil er die Wunden
ben. Die Jünger sagen ihnen nun, daß sie sah.«
noch in ihren Sünden sind, und daß sie 20,29 Es ist wichtig festzuhalten, daß
für immer verloren gehen, wenn sie in Jesus die Verehrung als Gott annahm.
diesem Zustand sterben sollten. Wenn er nur ein Mensch gewesen wäre,
Zusätzlich zu dieser Erklärung soll- hätte er sie ablehnen müssen. Doch der
ten wir auch festhalten, daß den Jüngern Glaube des Thomas war nicht die Art,
besondere Vollmacht gegeben wurde, die ihm am meisten gefällt. Sie basierte
mit bestimmten Sünden umzugehen. In auf dem, was er gesehen hatte. Glückse-
Apostelgeschichte 5,1-11 benutzte Petrus liger »sind, die nicht gesehen und doch
diese Macht und daraufhin sterben Ana- geglaubt haben«!
nias und Saphira. Wir sehen in Der sicherste Beweis ist immer das
1. Korinther 5,3-5.12.13, wie Paulus Wort Gottes. Wenn Gott etwas sagt,
einem Übeltäter die Sünde beläßt und sie dann ehren wir ihn, wenn wir ihm glau-
in 2. Korinther 2,4-8 vergibt. In diesen ben, doch wir verunehren ihn, wenn wir
Fällen geht es um die Vergebung von der zusätzliche Beweise fordern. Wir sollten
Strafe für diese Sünden in diesem Leben. einfach glauben, weil er es gesagt hat,
und weil er weder lügen noch irren
D. Zweifel wird zu Glauben (20,24-29) kann.
20,24 Wir sollten nicht vorschnell die
Schlußfolgerung ziehen, daß Thomas zu E. Der Zweck des Johannes-
tadeln ist, weil er nicht anwesend war. evangeliums (20,30.31)
Hier wird über den Grund seiner Abwe- 20,30.31Nicht alle Wunder Jesu sind im
senheit nichts mitgeteilt. Johannesevangelium beschrieben. Der
20,25 Thomas ist jedoch für seine Heilige Geist wählte die Zeichen aus, die
ungläubige Haltung zu tadeln. Er will seinem Zweck am ehesten dienten.
ein sichtbares, anfaßbares Zeichen der Hier steht nun auch das Ziel, das
Auferstehung des Herrn haben, andern- Johannes mit dem Schreiben dieses
falls »werde ich nicht glauben«, wie er Buches verfolgte. Er schrieb es, daß seine
sagt. Dies ist die Haltung vieler heute, Leser »glauben« sollten, »daß Jesus der
doch ist sie nicht vernünftig. Sogar Christus«, der wahre Messias, und »der
Naturwissenschaftler glauben vieles, das Sohn Gottes« ist. Wenn sie »Glauben«
sie weder sehen noch berühren können. hätten, dann würden sie auch das ewige
20,26 Eine Woche später erscheint der »Leben in seinem Namen« haben.
Herr wieder seinen Jüngern. Diesmal Glaubst du?

466
Johannes 21

X. Epilog: Der Auferstandene bei den auch, daß wir keine leeren Netze mehr
Seinen (Kap. 21) haben, wenn der Herr unseren Dienst lei-
tet. Er weiß, wo Menschen sind, die auf
A. Christus erscheint seinen Jüngern die Erlösung warten und er will uns zu
in Galiläa (21,1-14) ihnen führen, – wenn wir ihn lassen.
21,1 Der Schauplatz verlagert sich nun an 21,7 Johannes erkannte als erster
den »See von Tiberias« (See Genezareth). »den Herrn« und sagt es sofort Petrus.
Die Jünger waren heim nach Norden Der »gürtete das Oberkleid um« und
gereist. Der Herr Jesus begegnete ihnen ging ans Ufer. Uns wird nicht gesagt, ob
dort. Der Ausdruck »er offenbarte sich er schwamm oder ob er watete, oder
aber so« bedeutet, daß Johannes nun sogar auf dem Wasser ging (wie einige
beschreibt, wie Jesus ihnen begegnet ist. Ausleger vorgeschlagen haben).
21,2 Sieben Jünger waren zu dieser 21,8 »Die anderen Jünger« stiegen
Zeit »zusammen« – »Simon Petrus und von dem großen Schiff in ein kleines Boot
Thomas, genannt Zwilling, und Nat- um und zogen das Netz die restlichen
hanael, der von Kana in Galiläa war, und hundert Meter an Land.
die Söhne des Zebedäus (Jakobus und 21,9 Der Erlöser hatte ihr Frühstück
Johannes) und zwei andere von seinen schon fertig – gebratenen »Fisch . . . und
Jüngern«, deren Namen wir nicht ken- Brot«. Wir wissen nicht, ob der Herr die-
nen. se Fische gefangen hatte oder auf wun-
21,3 Simon Petrus beschloß, »fischen« derbare Weise erhalten hat. Doch wir
zu gehen. Die anderen waren einverstan- erfahren, daß er nicht von unseren
den, ihm dabei zu helfen. Das scheint schwachen Bemühungen abhängig ist.
eine ganz natürliche Entscheidung zu Zweifellos werden wir im Himmel erfah-
sein, obwohl einige Ausleger der Mei- ren, daß zwar viele Menschen durch Pre-
nung sind, daß sie hinausgingen, ohne digt und persönliches Zeugnis gerettet
vorher nach dem Willen Gottes gefragt worden sind, doch viele andere durch
zu haben. »In jener Nacht fingen sie den Herrn selbst ohne irgendeine
nichts.« Doch sie waren nicht die ersten menschliche Hilfe.
Fischer, die eine Nacht lang ohne Erfolg 21,10 Er befahl ihnen nun, das Netz
fischten! Sie sind ein Bild für die Nutzlo- mit den Fischen an Land zu ziehen –
sigkeit menschlichen Handelns ohne nicht um sie zu braten, sondern um sie
göttliche Hilfe, insbesondere bei der zu zählen. Als sie das taten, wurden sie
wichtigen Aufgabe des Seelenfischens. daran erinnert, daß »das Geheimnis des
21,4 Jesus wartete auf sie, als sie am Erfolges lautet: auf sein Gebot hin arbei-
»frühen Morgen« ans Ufer kamen, ten und im Gehorsam gegen sein Wort
obwohl sie ihn nicht erkannten. Es war handeln«.
vielleicht noch recht dunkel, oder aber 21,11 Die Bibel gibt uns die genaue
Gottes Macht hielt sie davon ab, Jesus zu Anzahl der Fische im Netz an: »Hundert-
erkennen. dreiundfünfzig.« Viele interessante
21,5 Der Herr fragte: »Habt ihr wohl Erklärungen sind für die Bedeutung die-
etwas zu essen?« Enttäuscht mußten sie ser Zahl angegeben worden:
mit »Nein« antworten. 1. Die Zahl der Sprachen in der Welt zu
21,6 Soweit sie wußten, war er einfach dieser Zeit.
ein Fremder, der am Ufer entlangging. 2. Die Zahl der Rassen oder Stämme in
Doch auf seinen Rat hin »warfen sie das der Welt, die das Evangelium errei-
Netz auf der rechten Seite des Schiffes chen würde.
aus« und siehe da – sie fingen sehr viele 3. Die Zahl der verschiedenen Arten
Fische. So viele, daß sie das Netz nicht Fische im See Genezareth bzw. in der
mehr ins Boot ziehen konnten. Das zeigt, Welt.
daß der Herr Jesus genau wußte, wo sich Es gibt keinen Zweifel, daß die Zahl
die Fische im See befanden. Es lehrt uns von der Verschiedenheit derer spricht,

467
Johannes 21

die durch die Predigt des Evangeliums wird die Wiedereinsetzung des Petrus
gerettet wurden – einige aus jedem öffentlich durch den Herrn anerkannt.
Stamm und jedem Volk. Die Fischer Es ist oft betont worden, daß in die-
wußten, daß es bemerkenswert war, daß sen Versen zwei verschiedene Worte für
»das Netz nicht zerriß«. Das ist ein wei- »lieben« gebraucht werden. Wir können
terer Beweis dafür, daß »Gottes Werk im Vers 15 folgendermaßen paraphrasieren:
52)
Willen Gottes durchgeführt nie Mangel »Simon, Sohn des Jona , liebst du mich
leidet«. Wer so handelt, wird sehen, daß mehr als diese anderen Jünger?« Er
das Netz nicht reißt. spricht zu ihm: »Ja, Herr, du weißt, daß
21,12 Die Einladung zum Frühstück ich dich mag.« Er wollte sich nicht mehr
wird gehört, und die Jünger sammeln brüsten, daß er den Herrn nie verlassen
sich um das Kohlenfeuer, um an den gut- würde, selbst, wenn alle anderen es
en Gaben teilzuhaben, die der Herr ihnen täten. Er hat seine Lektion gelernt.
bereitet hatte. Petrus muß seinen eigenen »Hüte meine Lämmer« lautete der
Gedanken nachgehangen haben, als er Auftrag Jesu. Eine sehr praktische Art,
am Kohlenfeuer saß. Erinnerte er sich an Christus sein Liebe zu zeigen ist, wenn
das Kohlenfeuer, an dem er sich wärmte, man die Jüngeren in der Herde weidet.
als er den Herrn verleugnet hatte? Die Es ist interessant zu bemerken, daß sich
Jünger hatten ein seltsames Gefühl von das Thema vom Fischen zum Schafe
Ehrfurcht und Ernst in der Gegenwart hüten verschoben hatte. Das erste spricht
des Herrn. Da stand er in seinem Aufer- vom evangelistischen Dienst, das zweite
stehungsleib. Es gab so viele Fragen, die steht für die Lehre und den Hirtendienst.
sie ihm gerne gestellt hätten. Doch sie 21,16 Zum zweiten Mal fragte der
wagten sich nicht. »Sie wußten, daß es Herr Petrus, ob er ihn liebe. Petrus ant-
der Herr war« – auch wenn sie merkten, wortete zum zweiten Mal, im echten
daß ein gewisses Geheimnis seine Person Selbstmißtrauen: »Ja, Herr, du weißt, daß
umgab. ich dich mag.« Diesmal spricht er zu ihm:
21,13 Jesus serviert ihnen nun das »Hüte meine Schafe!« Es gibt Lämmer
Frühstück. Und sie erinnerten sich und Schafe in der Herde Christi, und sie
sicherlich an eine ähnliche Gelegenheit, brauchen die liebevolle Fürsorge eines
als er die Fünftausend mit einigen Broten Menschen, der den Hirten liebt.
und Fischen versorgte. 21,17 So wie Petrus den Herrn drei-
21,14 Das war »das dritte Mal«, daß mal verleugnet hat, so wurde ihm drei-
Johannes erwähnt, wie Jesus seinen Jün- mal Gelegenheit gegeben, ihn zu beken-
gern erschien. Aus den Evangelien geht nen.
hervor, daß er ihnen noch öfter erschien. Diesmal erwähnt Petrus die Tatsache,
In diesem Evangelium erscheint er den daß Jesus Gott ist und deshalb alles weiß.
Jüngern am Abend des Auferstehungsta- Er sagt zum dritten Mal: »Du erkennst,
ges, eine Woche später und nun am Ufer daß ich dich mag.« Und zum letzten Mal
des Sees Genezareth. wird ihm gesagt, daß er seine Liebe zu
Christus zeigen kann, indem er Christi
B. Die Wiedereinsetzung des Petrus »Schafe« hütet. Diesem Abschnitt liegt
(21,15-17) die Lehre zugrunde, daß Liebe zu Chri-
21,15 Der Herr sorgte zuerst für die leib- stus das einzige annehmbare Motiv des
lichen Bedürfnisse der Jünger. Als sie Dienstes für ihn ist.
sich aufgewärmt und gegessen hatten,
wandte er sich an Petrus, um geistliche C. Jesus sagt den Tod des Petrus vor-
Angelegenheiten zu besprechen. Petrus aus (21,18-23)
hatte den Herrn dreimal öffentlich ver- 21,18 Als Petrus noch »jünger« war, hatte
leugnet. Seitdem hatte er Buße getan und er große Bewegungsfreiheit. Er konnte
ist wieder in die Gemeinschaft des Herrn gehen, »wohin« er »wollte«. Doch der
aufgenommen worden. In diesen Versen Herr sagt ihm hier voraus, daß er gegen

468
Johannes 21

Ende seines Lebens gefangengenommen, hatte, die Offenbarung Jesu Christi zu


gefesselt und zur Hinrichtung geführt schreiben und dabei das Ende der Zeit
würde. in großer Ausführlichkeit zu be-
21,19 Dieser Vers erklärt Vers 18. schreiben.
Petrus »sollte Gott« durch den Märtyrer-
tod »verherrlichen«. Der, der den Herrn D. Das abschließende Zeugnis des
verleugnet hatte, sollte den Mut erhalten, Johannes von Jesus (21,24.25)
sein Leben für ihn hinzugeben. Dieser 21,24 Johannes schließt ein Wort des per-
Vers erinnert uns daran, daß wir Gott sönlichen Zeugnisses bezüglich der Ge-
sowohl im Tod als auch im Leben ver- nauigkeit seiner Worte hinzu. Andere
herrlichen können. Dann rief Jesus aus: sehen darin die Anerkennung des Johan-
»Folge mir nach!« Als er dieses sagte, nesevangeliums durch die Ältesten der
muß Petrus aufgebrochen sein. Gemeinde in Ephesus.
21,20 Es scheint, daß Petrus dem 21,25 Wir haben keine Angst, Vers 25
Herrn gefolgt war, »sich umwandte« und wörtlich zu nehmen. Jesus ist Gott und
sah, daß Johannes auch »nachfolgte«. deshalb unendlich. Es gibt für die Bedeu-
Hier hält Johannes inne, um sich als der tung seiner Worte oder der Zahl seiner
zu erkennen zu geben, »der sich auch bei Taten keine Grenze. Als er hier auf der
dem Abendessen an« Jesu »Brust ge- Erde weilte, war er schon der Erhalter
lehnt« und nach dem Namen des Ver- aller Dinge – der Sonne, des Mondes und
räters gefragt hatte. der Sterne. Wer kann je alles beschreiben,
21,21 Als Petrus Johannes sah, kam was daran beteiligt ist, das Universum in
ihm die Frage in den Sinn: »Was ist mit Bewegung zu halten? Sogar von seinen
Johannes? Wird auch er ein Märtyrer Wundern auf der Erde haben wir nur die
werden? Oder wird er noch leben, wenn knappste Beschreibung. Man denke nur
der Herr wiederkommt?« Er fragte den an die Nerven, Muskeln, Blutzellen und
Herrn nach der Zukunft des Johannes. anderen Organe, die er bei einer Heilung
21,22 Die Antwort des Herrn lautete, unter Kontrolle hatte. Man denke daran,
daß Petrus sich nicht um die Zukunft des wie er die Kleinstlebewesen, Fische und
Johannes sorgen solle. Sogar, wenn er bis Tiere leitet. Man denke an seine Führung
zur Wiederkunft Christi überleben wür- der Menschen. Man denke an seine Kon-
de, würde das für Petrus keinen Unter- trolle über die Atomstruktur jeder Mate-
schied bedeuten. Viel Versagen im christ- rie des Universums. Könnte »die Welt«
lichen Dienst entsteht dadurch, daß Jün- etwa »die Bücher fassen«, die nötig sind,
ger sich mehr miteinander beschäftigen, solche unendlichen Einzelheiten festzu-
als mit dem Herrn selbst. halten? Die Frage verlangt ein bestimm-
21,23 Die Worte des Herrn wurden tes »Nein« als Antwort.
falsch weitergegeben. Aber er »sprach Und so kommen wir zum Ende unse-
nicht zu ihm«, daß Johannes noch leben res Kommentares über das Johannese-
würde, wenn er wiederkäme. Er fragte vangelium. Vielleicht wissen wir nun
Petrus nur, was das für ihn ändern wür- etwas besser, warum es einer der vielge-
de, selbst wenn es der Fall wäre. Viele liebtesten Teile der Bibel ist. Sicherlich
lesen aus der Tatsache, daß Jesus Jo- kann man es kaum unter Gebet und
hannes mit seiner Wiederkunft in Ver- Nachdenken lesen, ohne sich von neuem
bindung brachte, eine Bedeutung her- in die Person zu verlieben, von der es
aus, nämlich daß Johannes das Vorrecht handelt.

469
Anmerkungen

Anmerkungen eines Tages vor dem Richterstuhl


Christi stehen werden (Röm 14,10; 2.
Kor 5,10). Dennoch wird es bei die-
1) (1,18) NA liest eingeborener Gott. Das sem Gericht nicht darum gehen, daß
traditionelle »eingeborener Sohn« unsere Sünden dort verhandelt wer-
findet sich in den meisten Hand- den, damit wir die gerechte Strafe
schriften und auch in Kap. 3,16. empfangen. Diese Angelegenheit ist
2) (1,29) J. Cynddylan Jones, Studies in auf Golgatha ein für allemal erledigt
the Gospel According to St. John, S. 103. worden. Beim Richterstuhl Christi
3) (1,45) James S. Stewart, The Life and wird das Leben und der Dienst des
Teaching of Jesus Christ, S. 66-67. Gläubigen verhandelt, und er wird
4) (1,51) Nur bei Johannes finden wir entweder Lohn erhalten oder Verlust
das zweifache »Amen« (Wahrlich, erleiden. Es geht dann nicht um die
wahrlich . . .) In den anderen Evan- Rettung, sondern um die Frucht, die
gelien, die offensichtlich diesen Aus- er im Leben gebracht hat.
druck des Herrn kürzen, findet sich 15) (5,29) Wenn dies die einzigen Verse
nur ein einfaches »Amen« (Wahrlich der Bibel zum Thema Auferstehung
. . .) wären, könnte man meinen, daß alle
5) (2,4) George Williams, The Student’s Toten gleichzeitig auferstehen wer-
Commentary on the Holy Scriptures, den. Doch wissen wir aus anderen
S. 194. Schriftstellen, besonders aus Offen-
6) (2,11) Jones, Studies, S. 148. barung 20, daß zwischen den beiden
7) (3,5) Eine andere gültige Interpretati- Auferstehungen mindestens tau-
on, die in den Zusammenhang der send Jahre vergehen werden. Die
Gegenüberstellung von geistlicher erste Auferstehung ist die Auferste-
und leiblicher Geburt paßt, lautet, hung derer, die durch den Glauben
daß das Wasser sich auf die leibliche an Christus gerettet sind. Die zweite
Geburt und »Geist« sich auf den Hei- Auferstehung umfaßt alle, die
ligen Geist bezieht. Die Rabbiner ungläubig gestorben sind.
verwendeten »Wasser« für den 16) (5,39) Die griechische Verbform für
männlichen Samen. Wasser konnte »suchen« (oder erforschen) ist zwei-
sich auch auf die Fruchtblase bezie- deutig. Es könnte sich um den Impe-
hen, aus der bei der Geburt eine rativ (suchet, LU 1912) oder um den
Menge Fruchtwasser austritt. Indikativ (Ihr sucht, LU 1984) han-
8) (3,16) F. W. Boreham, keine weiteren deln. Der Kontext legt die zweite
Angaben verfügbar. Interpretation nahe.
9) (4,41.42) LU 1912, NA und die mei- 17) (5,47) Guy King, An meinen Sohn,
sten anderen Übersetzungen lassen S. 104.
»Christus« aus. 18) (6,11) LU 1912 hat: »Jesus aber nahm
10) (4,48) Die Anrede steht im Griechi- die Brote, dankte und gab sie den
schen wie im Deutschen im Plural. Jüngern, die Jünger aber denen, die
11) (5,2) Der kritische Text liest hier sich gelagert hatten; . . .« NA läßt
»Bethsatha«, doch hat die Archäolo- diese Passage aus, ebenso die mei-
gie den traditionellen Namen des sten neueren Übersetzungen.
Mehrheitstextes und der gängigen 19) W. H. Griffith Thomas, The Apostle
Bibelübersetzungen bestätigt. John: His Life and Writings, S. 173-74.
12) (5,3) James Gifford Bellett, The Evan- 20) (6,15) Frederick Brotherton Meyer,
gelists, S. 50. Tried By Fire, S. 152.
13) (5,18) J. Sidlow Baxter, Explore the 21) (6,31) Das Manna war eine kleine,
Book, Bd 5, S. 309. rund geformte Speise, die Gott Israel
14) (5,24) Es gibt jedoch andere Verse, in der Wüste auf wunderbare Weise
die uns lehren, daß die Gläubigen gab. Sie mußten das Manna jeden

470
Anmerkungen

Morgen vom Boden aufsammeln, 29) (8,45) R. C. H. Lenski, The Interpreta-


und zwar an den sechs ersten Tagen tion of Colossians, Thessalonians, Timo-
jeder Woche. thy, Titus, Philemon, S. 701-2.
22) (6,59) Eine Synagoge ist ein örtlicher 30) (9,35) NA liest hier »Sohn des Men-
religiöser Versammlungsort der Ju- schen«, was dem Zusammenhang
den, doch nicht mit dem Tempel in nicht so gut entspricht, wie die Les-
Jerusalem gleichzusetzen. Nur im art des Mehrheitstextes.
Tempel konnten Tieropfer gebracht 31) (10,28) Im Griechischen steht hier
werden. zur Betonung eine doppelte Vernei-
23) (6,69) NA und Elberfelder Bibel nung (die im Hochdeutschen nicht
lesen: »Du der Heilige Gottes.« erlaubt ist, jedoch in einigen Dialek-
24) (7,1) Es ist hilfreich zu wissen, daß ten existiert).
das griechische Wort für »Jude« (Iou- 32) (10,36) Samuel Green, Scripture Testi-
daios) bedeuten kann: moni to the Deity of Christ, S. 7.
1. ein Judäer (im Gegensatz zum 33) (11,1) Arthur W. Pink, Exposition of
Galiläer), the Gospel of John, Bd. 3, S. 12.
2. irgendein Jude (einschließlich 34) (11,35) Der kürzeste Vers des griechi-
derer, die Christus angenommen schen NT enthält die gegenteilige
haben) Empfindung: »Freuet euch allezeit«
3. ein Gegner des Christentums, (Pantote chairete, 1. Thess 5,16).
insbesondere ein religiöser Füh- 35) (11,47) J. C. Ryle, Expository Thoughts
rer. on the Gospels, St. John, Bd. 2, S. 295.
Johannes benutzt das Wort fast 36) (11,48) Meyer, Tried, S. 112.
ausschließlich in der letzten Be- 37) (12,4.5) Ryle, John, Bd. 2, S. 309-10.
deutung, obwohl er selbst ein 38) (12,7) Der kritische Text liest: »Sie
Jude war (nach der zweiten Be- möge es aufbewahren« statt »sie hat
deutung). es aufbewahrt«. Das widerspricht je-
25) (7,7) Meyer, Tried, S. 129. doch sowohl dem Kontext wie auch
26) (7,8) NA (und mit ihr die meisten der Tatsache, daß diese Maria am
deutschen Bibelübersetzungen) läßt Ostermorgen nicht am Grab war.
unglücklicherweise das Wort »noch« 39) (12,24) T. G. Ragland, keine weiteren
aus. Das aber legt nahe, daß der Herr Angaben verfügbar.
hier absichtlich die Unwahrheit 40) (13,13.14) Natürlich gab es Zeiten,
spricht. insbesondere in den Ländern des Na-
27) (8,5) J. N. Darby, keine weiteren hen Ostens, wo man sich gegenseitig
Angaben verfügbar. die Füße im wörtlichen Sinne wusch,
28) (8,11) Die Verse 7,53 – 8,11 finden doch ist dies nur ein Beispiel für den
sich in den meisten der ältesten demütigen Dienst aneinander.
Handschriften des Johannesevange- 41) (13,32) Der griechische Urtext macht
liums nicht, jedoch in über 900 der an dieser Stelle deutlich, daß die
griechischen Manuskripte (die über- Aussage wahr ist (Konditional I mit
wiegende Mehrzahl). Es gibt Diskus- ei im Indikativ).
sionen darüber, ob diese Verse wirk- 42) (14,20) Es gibt noch das Bild des
lich Teil des Originaltextes sind. Wir Vogels in der Luft, in dem selbst auch
glauben, daß es richtig ist, sie als Teil Luft ist, und das des Fisches im Was-
des inspirierten Textes anzusehen. ser, in dem selbst auch Wasser ist.
Ihre Lehre stimmt völlig mit dem 43) (17,1) Marcus Rainsford, Our Lord
Rest der Bibel überein. Augustinus Prays for His Own, S. 173.
schreibt, daß einige diesen Abschnitt 44) (17,4) Ryle, John, Bd. 3, S. 40-41.
ausgelassen haben, weil sie fürchte- 45) (17,26) Beide Zitate aus: F. L. Godet,
ten, daß sie zu sittlicher Unordnung Commentary on The Gospel of John,
führen könnten. Bd 2, S. 345.

471
Anmerkungen

46) (17,26) Rainsford, Our Lord Prays, 50) (18,28) Poole, ebd.
S. 173. 51) (19,20) Alexander, keine weiteren
47) (18,14) Stewart, Live and Teaching, Angaben verfügbar.
S. 157. 52) (21,15) NA nennt den Vater des
48) (18,28) Augustinus, zit. in: Ryle, John, Petrus Johannes statt Jona (so auch
Bd. 3, S. 248. Verse 16.17).
49) (18,28) Bischof Hall, ebd.

472
Bibliographie

Bibliographie Pink, Arthur W.,


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Swengel, Pennsyvania: Bible Truth
Godet, F. L., Depot, 1945.
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House, 1969 (Reprint der Auflage von Chicago: Moody Press, 1955.
1893, 2 Bände in einem).
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Hole, F B., Expository Thoughts on the Gospels:
The Gospel of John Briefly Expounded, St. John,
London: The Central Bible Truth Depot, London: James Clarke and Co., Ltd.,
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Minneapolis: Augsburg Publishing Grand Rapids Wm. B. Eerdmans
House, 1942. Publishing Co., 1954.
Macaulay, J. C.,
Obedience Unto Death: Devotional Studies
in John’s Gospel,
Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans
Publishing Co., 1942.

473
Die Apostelgeschichte
»Christus ist das Thema, die Gemeinde ist das Werkzeug und der Geist ist die Kraft.«
W. Graham Scroggie

Einführung stammen aus früher Zeit, sind stichhaltig


und weit gefächert. Der anti-marcioniti-
sche Prolog zu Lukas, (ca. 160 – 180), der
I. Die einzigartige Stellung im Kanon muratorische Kanon (ca. 170 – 200) und
Die Apostelgeschichte ist die einzige die frühen Kirchenväter Irenäus, Cle-
inspirierte Kirchengeschichte, aber auch mens von Alexandrien, Tertullian und
die erste Kirchengeschichte, die auch die Origines sind sich einig, daß die Apostel-
ersten Tage der Gemeinde schildert. Alle geschichte von Lukas geschrieben wur-
anderen zitieren meist für diese Phase de. Das gleiche gilt für fast alle, die ihnen
Lukas und fügen vielleicht noch einige in der Kirchengeschichte folgen, ein-
Traditionen hinzu – dabei lassen sie aber schließlich Eusebius und Hieronymus.
auch vieles aus. Wir verlören viel, gäbe es Wir haben drei innere Beweise in der
dieses Buch nicht. Wenn wir vom Leben Apostelgeschichte selbst, daß Lukas sie
unseres Herrn in den Evangelien sofort geschrieben hat. Zu Anfang der Apostel-
in die Briefe wechseln müßten, so wäre geschichte bezieht sich der Schreiber auf
das ein riesiger Sprung. Welche Gemein- ein früheres Werk, das ebenfalls Theo-
den werden in den Briefen angespro- philus gewidmet war. Lukas 1,1-4 zeigt,
chen, und wie wurden sie gegründet? daß das dritte Evangelium der erwähnte
Die Apostelgeschichte beantwortet diese »Bericht« ist. Der Stil, der Ausdruck, das
und viele andere Fragen. Sie ist nicht nur Vokabular, die Betonung apologetischer
eine Brücke zwischen dem Leben Christi Fragen und viele andere Einzelheiten
und dem Leben aus Christus, das uns in verbinden die beiden Werke. Wäre es
den Briefen vorgestellt wird, sondern nicht wichtig, das Evangelium bei den
auch die Verbindung zwischen Juden- anderen Evangelien einzureihen, wür-
tum und Christentum, zwischen Gesetz den sie wie 1. und 2. Korinther zusam-
und Gnade. Das ist eine der Haupt- men gehören.
schwierigkeiten der Auslegung der Apo- Zweitens wird aus dem Text der Apo-
stelgeschichte, nämlich die allmähliche stelgeschichte deutlich, daß der Autor
Erweiterung des Horizonts von einer ein Mitreisender des Paulus war. Das
kleinen jüdischen Bewegung, die in Jeru- zeigt sich in den berühmten »wir«-
salem ihr Zentrum hat, hin zu einer welt- Abschnitten (16,10-17; 20,5 – 21,18; 27,1 –
weiten Glaubensgemeinschaft, die sich 28,16). Bei den beschriebenen Vorfällen
auch in der Hauptstadt des Reiches ist der Verfasser wirklich anwesend ge-
selbst ausgebreitet hat. wesen. Skeptische Versuche, diese als
»fiktionalen Zug« abzutun, sind nicht
II. Verfasserschaft besonders überzeugend. Wenn sie ein-
Fast alle Ausleger sind sich einig, daß das fach nur eingefügt wurden, um das Werk
Lukasevangelium und die Apostelge- authentischer erscheinen zu lassen, war-
schichte vom gleichen Autor stammen. um dann so selten und so geschickt? Und
Wenn das dritte Evangelium von Lukas warum hat das »Ich«, das im »Wir« ein-
stammt, so gilt das auch für die Apostel- geschlossen ist, keinen Namen?
geschichte und umgekehrt (s. Einleitung Als wahrscheinlicher Begleiter des
zum Lukasevangelium). Paulus zur Zeit der fraglichen Erlebnisse
Die äußeren Beweise, daß Lukas die bleibt schließlich nur Lukas übrig, wenn
Apostelgeschichte geschrieben hat, man alle anderen Begleiter, die vom

475
Apostelgeschichte

Autor in der dritten Person erwähnt wer- Brand Roms (64 n. Chr.) wird nicht er-
den, aussortiert und zusätzlich überlegt, wähnt, der jüdische Krieg mit Rom
wer in den fraglichen Zeiträumen nicht (66 – 70) wird ebenfalls nicht erwähnt.
bei Paulus gewesen sein kann. Ausgelassen wird ferner das Martyrium
von Petrus und Paulus (in den späten
III. Datierung 60er Jahren des ersten Jahrhunderts) und
Während die Datierung einiger Bücher auch das traumatischste Erlebnis dieser
des Neuen Testaments nicht entschei- Zeit für Juden und Christen, nämlich die
dend ist, ist sie bei der Apostelgeschichte Zerstörung Jerusalems. Es ist deshalb am
sehr wichtig, die in besonderem Maße wahrscheinlichsten, daß Lukas die Apo-
eine Kirchengeschichte ist, und zwar die stelgeschichte schrieb, als Paulus im Jahr
erste, die wir überhaupt besitzen. 62 oder 63 n. Chr. in Rom im Gefängnis
Drei Datierungen sind für die Apo- war.
stelgeschichte vorgeschlagen worden,
wobei zwei die lukanische Autorschaft IV. Hintergrund und Thema
akzeptieren und eine sie ablehnt: Die Apostelgeschichte vibriert vor Le-
1. Legt man das Abfassungsdatum ins ben und Handlung. In ihr sehen wir das
zweite Jahrhundert, schließt man Werk des Heiligen Geistes, als er die
damit Lukas als Autor aus, denn er Kirche bildet, als er sie mit Kraft ausrü-
kann kaum lange das Jahr 80 oder im stet und ihr Wirkungsgebiet erweitert.
besten Falle 85 überlebt haben. Einige Die Apostelgeschichte ist der wunder-
(liberale) Ausleger sind zwar der bare Bericht über den souveränen Geist
Ansicht, daß der Autor die »Antiqui- Gottes, der die unwahrscheinlichsten
tates Judaicae« des Josephus benutzt, Werkzeuge benutzt, der die größten
doch stimmen die angeblichen Paral- Hindernisse überwindet, der die unkon-
lelen über Theudas nicht überein ventionellsten Methoden benutzt und
(Apg 5,36) und die Ähnlichkeiten die erstaunlichsten Ergebnisse damit er-
sind auch nicht besonders groß. reicht.
2. Eine allgemeine Ansicht lautet, daß Die Apostelgeschichte nimmt die Er-
Lukas seine Apostelgeschichte zwi- zählung an der Stelle auf, an der die
schen 70 und 80 geschrieben hat. Das Evangelien aufhören und führt uns in
würde es ihm gestattet haben, für knappen, dramatischen Schilderungen
sein Evangelium Markus als Quelle durch die frühen, turbulenten Jahre der
zu benutzen (welches allgemein auf jungen Gemeinde. Sie ist der Bericht über
60 n. Chr. datiert wird). die große Übergangszeit, in der die neu-
3. Man findet dann aber auch eine Reihe testamentliche Gemeinde die Grabtücher
guter Argumente dafür, daß Lukas des Judentums abwirft und ihren beson-
seine Apostelgeschichte kurz nach deren Charakter als Gemeinschaft von
den Ereignissen beendet, die als letz- Juden und Heiden in Christus festigt.
te in der Apostelgeschichte beschrie- Aus diesem Grund ist die Apostelge-
ben werden – während dem ersten schichte treffend als »Entwöhnung
Gefängnisaufenthalt des Paulus in Isaaks« bezeichnet worden.
Rom. Wenn wir die Apostelgeschichte le-
Es ist möglich, daß Lukas noch einen sen, erfahren wir etwas von der geistli-
dritten Band geplant hatte (doch das war chen Erhebung, die mit Gottes Wirken
offensichtlich nicht Gottes Wille), und einhergeht. Gleichzeitig bemerken wir
deshalb erwähnt Lukas die (für die Chri- die Spannungen, die sich ergeben, wenn
sten) verheerenden Ereignisse zischen 63 Satan und Sünde gegen den Geist arbei-
und 70 n. Chr. nicht. Dennoch sprechen ten und ihn behindern wollen.
die folgenden Auslassungen für ein frü- Der Apostel Petrus hat in den ersten
hes Abfassungsdatum: Neros schreck- zwölf Kapiteln die Schlüsselrolle, indem
liche Verfolgung der Christen nach dem er Israel mutig das Evangelium verkün-

476
Apostelgeschichte

digt. Von Kapitel 13 an steht der Apostel sen, daß in keiner vergleichbaren Zeit der
Paulus im Vordergrund, der eifrige, menschlichen Geschichte eine »so kleine
inspirierte und unermüdliche Apostel Gruppe einfacher Menschen die Welt so
der Heiden. bewegt hat, daß ihre Feinde mit Tränen
Die Apostelgeschichte deckt einen der Wut in den Augen sagen konnten,
Zeitraum von etwa dreiunddreißig Jah- daß diese Menschen ›den Erdkreis aufge-
1)
ren ab. J. B. Phillips hat darauf hingewie- wiegelt haben‹«.

Einteilung III. Die Gemeinde an den Enden der


Erde (9,32 – 28,31)
A. Petrus predigt den Heiden das
I. Die Gemeinde in Jerusalem Evangelium (9,32 – 11,18)
(Kap. 1 – 7) B. Die Gründung der Gemeinde
A. Die Verheißung des in Antiochia (11,19-30)
auferstandenen Herrn: Der C. Die Verfolgung durch Herodes
Heilige Geist (Kap. 1,1-5) und sein Tod (12,1-23)
B. Der Auftrag des aufgefahrenen D. Die erste Missionsreise des
Herrn an seine Apostel (1,6-11) Paulus: Galatien (12,24 – 14,28)
C. Die Jünger warten unter Gebet E. Das Apostelkonzil in Jerusalem
in Jerusalem (1,12-26) (15,1-35)
D. Pfingsten und die Geburt der F. Die zweite Missionsreise des
Gemeinde (2,1-47) Paulus: Kleinasien und
E. Die Heilung des Lahmen und Griechenland (15,36 – 18,22)
die Predigt des Petrus vor G. Die dritte Missionsreise des
Israel (3,1-26) Paulus: Kleinasien und
F. Die Verfolgung und das Wachs- Griechenland (18,23 – 21,26)
tum der Gemeinde (4,1 – 7,60) H. Die Gefangennahme des
Paulus und die anschließenden
II. Die Gemeinde in Judäa und
Gerichtsverhandlungen
Samaria (8,1 – 9,31)
(21,27 – 26,32)
A. Der Dienst des Philippus in I. Die Reise des Paulus nach
Samaria (8,1-25) Rom und der Schiffbruch
B. Philippus und der Kämmerer (27,1 – 28,16)
aus dem Morgenland (8,26-40) J. Paulus unter Hausarrest und
C. Die Bekehrung des Saulus von Zeuge für die Juden Roms
Tarsus (9,1-31) (28,17-31)

477
Apostelgeschichte 1

Kommentar Elf »Aposteln« gegeben hatte, ehe er sie


verließ.
1,3 Während der »vierzig Tage« zwi-
I. Die Gemeinde in Jerusalem schen seiner Auferstehung und seiner
(Kapitel 1 – 7) Himmelfahrt war der Herr seinen Jün-
gern erschienen und hatte ihnen die
A. Die Verheißung des sichersten »Kennzeichen« oder Beweise
Auferstandenen Herrn: geliefert, daß er leiblich auferstanden
der Heilige Geist (Kapitel 1,1-5) war (vgl. Joh 20,19.26; 21,1.14).
1,1 Das Buch der Apostelgeschichte be- Während dieser Zeit hat er mit ihnen
ginnt mit einer Erinnerung. Lukas, der auch über »das Reich Gottes« gespro-
geliebte Arzt, hatte für »Theophilus« chen. Seine Aufmerksamkeit galt nie den
schon einmal ein Werk verfaßt, daß wir Reichen dieser Welt, sondern dem Reich
heute als Evangelium nach Lukas ken- oder dem Herrschaftsgebiet, in dem Gott
nen (vgl. Lk 1,1-4). In den letzten Versen als König anerkannt wird.
dieses Evangeliums hatte er Theophilus »Das Reich« darf nicht mit der
berichtet, daß der Herr Jesus seinen Jün- Gemeinde verwechselt werden. Der Herr
gern kurz vor seiner Himmelfahrt Jesus hat sich selbst dem Volk Israel als
versprochen hatte, daß sie mit dem König angeboten, wurde jedoch abge-
Heiligen Geist getauft würden lehnt (Matth 23,37). Die wörtliche Erfül-
(Lk 24,48-53). lung der Verheißungen eines Königrei-
Nun will Lukas seinen Bericht fort- ches auf Erden mußte deshalb zurückge-
führen, und so wendet er sich zurück zu stellt werden, bis sich Israel eines Tages
dieser erregenden Verheißung und bekehren und ihn als Messias annehmen
nimmt sie als Ausgangspunkt. Und es ist wird (Apg 3,19-21).
auch sehr passend, das zu tun, weil in Im gegenwärtigen Zeitalter ist der
dieser Verheißung des Heiligen Geistes König abwesend. Doch hat er ein unsicht-
der Same für alle geistlichen Siege gelegt bares Reich auf Erden (Kol 1,13). Es
ist, die wir im Buch der Apostelgeschich- besteht aus allen, die sich zu ihm beken-
te finden. Lukas beschreibt sein Evange- nen (Matth 25,1-12). In gewissem Sinne
lium als »ersten Bericht«. In ihm hatte er gehört dazu jeder, der behauptet, ein
beschrieben, »was Jesus angefangen hat, Christ zu sein, das ist der äußere Bereich
zu tun und auch zu lehren«. In der Apo- (Matth 13,1-52). Doch gibt es auch einen
stelgeschichte setzt er den Bericht fort, inneren Bereich, der nur die Menschen
indem er die Dinge berichtet, die Jesus umfaßt, die wiedergeboren sind
durch den Heiligen Geist fortfuhr zu tun (Joh 3,3.5). Das Reich in seinem gegen-
und zu lehren, nachdem er in den Him- wärtigen Zustand wird in den Gleichnis-
mel aufgefahren war. sen in Matthäus 13 beschreiben.
Man beachte, daß der Dienst des Die Gemeinde ist etwas vollkommen
Herrn sowohl im Tun als auch im Lehren Neues. Sie wurde in den Prophezeiun-
bestand. Glaube ohne Tat oder un- gen des AT nicht erwähnt (Eph 3,5). Sie
verbindliche Lehre gab es nicht. Der besteht aus allen Gläubigen von Pfing-
Erlöser war die lebendige Verkörperung sten an bis zur Entrückung. Als Braut
seiner Lehren. Er tat, was er anderen pre- Christi wird die Gemeinde mit Christus
digte. im Tausendjährigen Reich regieren und
1,2 Theophilus würde sich sicher dar- für immer seine Herrlichkeit teilen. Chri-
an erinnern, daß das erste Buch des stus wird gegen Ende der Großen Trüb-
Lukas mit dem Bericht der Himmelfahrt sal als König zurückkehren, seine Feinde
endet, mit »dem Tag, an dem er in den vernichten und seine gerechte Regierung
Himmel aufgenommen wurde«. Er wür- über die ganze Erde aufrichten (Ps 72,8).
de sich auch an die liebevollen letzten Obwohl Christi Regierung von Jeru-
Anweisungen erinnern, die der Herr den salem aus nur tausend Jahre dauern wird

478
Apostelgeschichte 1

(Offb 20,4), so ist doch »das Reich« in geistlich. Die erste Taufe machte sie
dem Sinne ewig, daß alle Feinde Gottes äußerlich eins mit dem bußfertigen Teil
für immer vernichtet sein werden und des Volkes Israel. Die zweite würde sie in
daß er ohne Opposition oder Hindernis- die Kirche aufnehmen, in den Leib Chri-
se für immer im Himmel regieren wird sti, und würde ihnen die Kraft zum
(2. Petr 1,11). Dienst schenken.
1,4 Lukas berichtet nun von einer Jesus versprach, daß sie »mit Heili-
Zusammenkunft des Herrn mit seinen gem Geist getauft werden nach nicht
Jüngern, »als er mit ihnen versammelt« mehr vielen Tagen«, doch wird hier die
in einem Haus in »Jerusalem« war. Der Taufe mit Feuer nicht erwähnt
auferstandene Erlöser befahl »ihnen, sich (Matth 3,11.12; Lk 3,16.17). Die letztere
nicht von Jerusalem zu entfernen«. Doch ist die Taufe des Gerichts nur für die
warum in »Jerusalem«, mag man sich Ungläubigen und wird erst in der
wundern! Für sie war das die Stadt, in Zukunft stattfinden.
der sie gehaßt, verfolgt und geschlagen
wurden! B. Der Auftrag des aufgefahrenen
Doch in »Jerusalem« würde die Erfül- Herrn an seine Apostel (1,6-11)
lung der »Verheißung des Vaters« statt- 1,6 Vielleicht fand das hier aufgezeichne-
finden. Das Kommen des Heiligen Gei- te Ereignis auf dem Ölberg gegenüber
stes sollte in der Stadt geschehen, in der Bethanien statt. Das war der Ort, von
der Erlöser gekreuzigt worden war. Die dem aus der Herr Jesus zum Himmel
Gegenwart des Heiligen Geistes dort auffuhr (Lk 24,50.51).
sollte ein Zeugnis gegen die Ablehnung Die Jünger hatten über das Kommen
des Sohnes Gottes durch die Menschen des Heiligen Geistes nachgedacht. Sie
sein. Der Geist der Wahrheit sollte die erinnerten sich, daß der Prophet Joel von
Welt von der Sünde, der Gerechtigkeit einer Ausgießung des Geistes im Zusam-
und dem Gericht überzeugen – und das menhang mit der herrlichen Regierung
sollte zuerst in »Jerusalem« geschehen. des Messias spricht (Joel 2,28). Deshalb
Und die Jünger sollten den Heiligen schlossen sie, daß der Herr sein »Reich«
Geist in der Stadt bekommen, in der sie bald aufrichten würde, da er zuerst
den Herrn verleugnet hatten und geflo- gesagt hatte, daß sein Geist »nach nicht
hen waren, um ihre Haut zu retten. Sie mehr vielen Tagen« gegeben würde. Ihre
sollten an dem Ort stark und furchtlos Frage offenbart, daß sie immer noch
gemacht werden, an dem sie sich erwarteten, daß Christus sein irdisches
schwach und feige gezeigt hatten. Reich bald aufrichten werde.
Das war nicht das erste Mal, daß die 1,7 Der Herr korrigierte ihre Haltung
Jünger von der »Verheißung des Vaters« nicht, daß sie seine wirkliche irdische
hörten. Während seines gesamten ir- Herrschaft erwarteten. Eine solche Hoff-
dischen Dienstes, insbesondere in seiner nung war und ist gerechtfertigt. Er sagte
Predigt im Obergemach, hatte er ihnen ihnen einfach, daß sie nicht »wissen«
von dem Helfer erzählt, der kommen können, wann dieses Reich kommen
sollte (s. Lk 24,49; Joh 14,16.26; 15,26; werde. Das Datum wurde vom »Vater«
16,7.13). in eigener »Vollmacht« festgesetzt, doch
1,5 Nun wiederholt er bei seiner letz- er hatte sich nicht entschieden, es zu
ten Zusammenkunft mit ihnen seine Ver- offenbaren. Das war eine Information,
heißung. Einige, wenn nicht alle von die nur Gott selbst besaß.
ihnen waren bereits von »Johannes . . . Die Ausdrücke »Zeiten oder Zeit-
mit Wasser« getauft worden. Die Taufe punkte« wird in der Bibel benutzt, um
des Johannes war rein äußerlich. Doch auf verschiedene Ereignisse hinzuwei-
2)
»nach nicht mehr vielen Tagen« sollten sen, die Gott vorhergesagt hat, die noch
sie »mit Heiligem Geist getauft werden«, im Zusammenhang mit dem Volk Israel
und diese Taufe wäre dann innerlich und ausstehen. Da die Jünger einen jüdi-

479
Apostelgeschichte 1

schen Hintergrund hatten, würden sie sich immer mehr weitenden Kreisen des
verstehen, daß dieser Ausdruck sich hier Zeugnisses haben wir eine Zusammen-
auf die entscheidenden Tage vor und fassung der Geschehnisse der Apostelge-
während der Aufrichtung der tausend- schichte.
jährigen Herrschaft Christi auf Erden 1. Das Zeugnis in Jerusalem (Kap. 1 – 7).
bezieht. 2. Das Zeugnis in Judäa und Samaria
1,8 Nachdem er ihre Neugier über (Kap. 8,1-9,31).
das Datum des Kommens dieses zukünf- 3. Das Zeugnis bis an das Ende der Erde
tigen Reiches abgewiesen hatte, lenkte (Kap. 9,32-28,31).
der Herr Jesus ihre Aufmerksamkeit auf 1,9 Sobald der Herr seine Jünger aus-
Aktuelleres – das Wesen und das Gebiet gesandt hatte, »wurde er von ihren
ihrer Mission. Sie sollten »Zeugen sein«, Blicken emporgehoben« in den Himmel.
das Gebiet ihrer Mission sollte sowohl Mehr sagt uns die Schrift nicht: »Eine
»in Jerusalem als auch in ganz Judäa und Wolke nahm ihn auf vor ihren Augen
Samaria und bis an das Ende der Erde« weg.« Solch ein spektakuläres Ereignis
sein. wurde auf solch einfache und ruhige
Doch zuerst mußten sie »Kraft emp- Weise beschrieben! Die Zurückhaltung,
fangen«, nämlich die Kraft des »Heiligen die sich die Autoren der Bibel bei ihrer
Geistes«. Ohne diese Kraft gibt es kein Erzählung auferlegten, weist auf die
christliches Zeugnis. Jemand mag hoch- Inspiration des Wortes hin, denn es ist
begabt, gut ausgebildet und sehr erfah- normalerweise nicht so, daß die Men-
ren sein, doch ohne geistliche »Kraft« ist schen ungewöhnlichen Ereignisse mit so
er machtlos. Auf der anderen Seite kann viel Zurückhaltung berichten.
jemand ungebildet, wenig anziehend 1,10 Wieder erzählt Lukas ohne Aus-
oder vornehm sein, doch wenn er mit der druck von Erschrecken und Überra-
»Kraft« des »Heiligen Geistes« ausge- schung – diesmal von »zwei Männern in
stattet ist, wird die Welt sich umdrehen, weißen Kleidern«. Sie wären offensicht-
um ihn für Gott brennen zu sehen. Die lich Engelwesen, denen gestattet wurde,
ängstlichen Jünger benötigten Kraft für auf der Erde in Menschengestalt zu
ihr Zeugnis und heiligen Mut für die Pre- erscheinen. Vielleicht waren es dieselben
digt des Evangeliums. Sie würden diese Engel, die am Grab nach der Auferste-
»Kraft« empfangen, »wenn der Heilige hung erschienen waren (Lk 24,4).
Geist auf« sie »gekommen ist«. 1,11 Als erstes sprachen die Engel die
Ihr Zeugendienst sollte »in Jerusa- Jünger als »Männer von Galiläa« an.
lem« beginnen, eine bedeutungsvolle Soweit wir wissen, stammten alle Jünger
Anweisung der Gnade Gottes. Die Stadt, mit Ausnahme von Judas Iskariot aus
in der der Herr gekreuzigt wurde, sollte dem Gebiet westlich des Sees Geneza-
auch als erste den Ruf zur Umkehr und reth.
zum Glauben an Jesus erhalten. Dann weckten die Engel sie aus ihrer
Als nächstes kam »Judäa,« der Süden Erstarrung. Warum sahen sie »hinauf
Israels mit seinen vielen jüdischen Be- zum Himmel«? War es Trauer, Anbetung
wohnern und Jerusalem als seiner oder Erstaunen? Sicherlich eine Mi-
Hauptstadt. schung von allem, doch in erster Linie
Dann Samaria, das Gebiet im Herzen war es wohl Trauer. Deshalb wurde
Palästinas, mit seiner gehaßten Mischbe- ihnen ein Trostwort gesagt. Der aufge-
völkerung, mit der die Juden nichts zu fahrene Christus würde wiederkommen.
tun haben wollten. Hier haben wir eine deutliche Ver-
Und dann »bis an das Ende« der heißung der Wiederkunft Christi, bei der
damals bekannten Welt – sie sollten den er sein Reich auf Erden aufrichten wird.
heidnischen Völkern Zeugnis geben, die Es geht hier nicht um die Entrückung,
bisher von den religiösen Vorrechten sondern um die kommende Herrschaft
Israels ausgeschlossen waren. In diesen Christi.

480
Apostelgeschichte 1

1. Er fuhr vom Ölberg 1. Er wird zum Ölberg Ein zweiter Schlüssel sind die Worte
in den Himmel auf zurückkehren »verharrten . . . im Gebet«. Gott ist am
(V. 12) (Sach 14,4) Werk, wenn seine Leute beten, genau wie
2. Er selbst ging weg 2. Er selbst wird damals. Doch nur, wenn wir im verzwei-
wiederkommen felten, gläubigen, innigen und gemeinsa-
(Mal 3,1). men Gebet ohne Hast vor Gott verwei-
3. Er fuhr sichtbar auf 3. Er wird sichtbar len, dann wird die belebende kraftspen-
wiederkehren dende Macht des Heiligen Geistes über
(Matth 24,30) uns ausgegossen.
4. Er fuhr in einer 4. Er wird in den Man kann nicht genug betonen, daß
Wolke auf (V. 9) Wolken des Einheit und Gebet das Vorspiel von Pfing-
Himmels wieder- sten waren.
kehren (Matth 24,30) »Mit« den Jüngern waren einige nicht
5. Er fuhr in Herrlich- 5. Er wird in großer mit Namen genannte »Frauen« (wahr-
keit auf Kraft und Herrlich- scheinlich die, die auch Jesus gefolgt
keit wiederkehren waren), und auch »Maria, die Mutter
(Matth 24,30)
Jesu und seine Brüder« versammelt. Es
gibt hier einige interessante Anmerkun-
C. Die Jünger warten unter Gebet in gen zu machen.
Jerusalem (1,12-26) 1. Dies ist die letzte namentliche Erwäh-
1,12 In Lukas 24,52 kehrten die Jünger nung Marias im NT – zweifellos ein
mit großer Freude nach Jerusalem zurück. »stummer Protest gegen die Marien-
»Das Licht der Liebe Gottes erhellte die vergötzung«. Die Jünger beteten
Herzen dieser Menschen und ließ ihre nicht zu ihr, sondern »mit« ihr.
Gesichter trotz der vielen Anfechtungen 2. Maria wird hier »Mutter Jesu« ge-
um sie herum leuchten.« nannt, nicht jedoch »Mutter Gottes«.
Es war ein kurzer Weg von gut einem Jesus ist der irdische Name unseres
Kilometer »von dem Berg, welcher Herrn. Weil er als Mensch von Maria
Ölberg heißt« durch das Kidrontal in die geboren wurde, ist es nur richtig,
Stadt hinein. Es war die größte Entfer- wenn man sie »Mutter Jesu« nennt.
nung, die ein Jude zur Zeit des Neuen Doch nirgends in der Bibel wird sie
Testaments an einem Sabbat gehen durf- als »Mutter Gottes« bezeichnet. Ob-
te. wohl Jesus Christus Gott ist, ist es
1,13 Als sie in der Stadt waren, »stie- doch lehrmäßig ungenau und ab-
gen sie hinauf in den Obersaal, wo sie surd, davon zu sprechen, daß Gott
sich aufzuhalten pflegten«. eine menschliche Mutter habe. Als
Der Geist Gottes listet hier die Namen Gott existierte Jesus Christus schon
der Jünger zum vierten und letzten Mal vor aller Zeit.
auf (Matth 10,2-4; Mk 3,16-19; Lk 6,14- 3. Die Erwähnung der »Brüder« Jesu,
16). Doch nun haben wir eine bemer- die nach Maria erwähnt werden,
kenswerte Lücke zu verzeichnen: Der macht es wahrscheinlich, daß diese
Name des Judas Iskariot steht nicht mehr wirkliche Söhne Marias und Halb-
auf der Liste. Den Verräter hat sein ver- brüder Jesu waren. Einige andere
dientes Schicksal ereilt. Verse verbieten zusätzlich die Idee,
1,14 Als die Jünger sich versammel- die von vielen vertreten wird, daß
ten, geschah das »einmütig«. Dieser Aus- Maria jungfräulich geblieben sei und
druck, der elfmal in der Apostelgeschich- keine anderen Kinder nach der Ge-
te vorkommt, ist einer der Schlüssel, der burt Jesu mehr geboren habe (vgl.
uns ein Geheimnis des Segens erschließt. z. B. Matth 12,46; Mk 6,3; Joh 7,3.5;
Wo Brüder in Einmütigkeit zusammen- 1. Kor 9,5; Gal 1,19; s. a. Ps 69,8).
kommen, gibt Gott den Segen dazu – 1,15 Eines Tages, als »etwa hundert-
ewiges Leben (Ps 133). zwanzig« Jünger versammelt waren,

481
Apostelgeschichte 1

wurde Petrus vom Geist geleitet, sie an Als dieser Vorfall in Jerusalem be-
die alttestamentlichen Schriften zu erin- kannt wurde, nannte man den Töpfer-
nern, die auf den Verräter des Messias acker »Hakeldamach, das ist Blutacker«
hinwiesen. oder »Blutfeld« auf aramäisch.
1,16.17 Zu Beginn erwähnte Petrus 1,20 Nun fährt Lukas mit der Anspra-
eine Prophezeiung, die »David vorherge- che des Petrus fort, nachdem er die Lage
sagt hat über Judas,« die »erfüllt wer- erklärt hat. Zuerst erklärt Petrus, daß
den« mußte. Doch bevor er diese Schrift- David den Verräter in Psalm 69,25
stelle zitiert, weist er darauf hin, daß beschrieben hat: »Seine Wohnung werde
Judas als »Wegweiser« der Häscher Jesu öde, und es sei niemand, der darin woh-
3)
gedient hatte, obwohl er einer der Zwölf ne.«
gewesen war und an ihrem apostoli- Dann erwähnt er die Prophezeiung,
schen Dienst teilgenommen hatte. Man die nun erfüllt werden muß: »Sein Auf-
beachte die zurückhaltenden Worte, die seheramt empfange ein anderer«
Petrus benutzt, um diese schreckliche (Ps 109,8). Der Apostel Petrus verstand
Handlungsweise zu beschreiben. Judas darunter, daß nach dem Abfall des Judas
wurde aus eigener Entscheidung zum jemand anders als Ersatz ernannt wer-
Verräter, und erfüllte damit die Prophe- den müsse. Es ist gut, hier seinen
zeiungen, daß jemand den Herrn an sei- Wunsch zu sehen, dem Wort Gottes zu
ne Feinde verkaufen mußte. gehorchen.
1,18.19 Diese beiden Verse sind als 1,21.22 Wer immer auch gewählt wer-
Einschub des Lukas zu werten und sind den mochte, mußte zwei Anforderungen
kein Teil der Ansprache von Petrus. Sie erfüllen:
ergänzen die historischen Tatsachen über 1. Er mußte einer von denen sein, die
Judas und seinen Tod, so daß nun der während der Zeit, in der Jesus seinen
Weg für die Ernennung seines Nachfol- offiziellen Dienst auf der Erde tat,
gers geebnet ist. »mit« den Jüngern »gegangen sind« –
Es besteht kein Widerspruch zwi- das heißt »von der Taufe des Johan-
schen der Todesart des Judas, wie sie hier nes« bis zur Himmelfahrt.
beschrieben wird, und der Beschreibung 2. Er mußte in der Lage sein, ein verläß-
in Matthäus 27,3-10. Matthäus erklärt, liches Zeugnis der »Auferstehung«
daß Judas hinausging und sich erhängte, zu geben.
nachdem er die dreißig Silberstücke den 1,23-26 Zwei Männer werden nun
Hohenpriestern und Ältesten zurückge- aufgestellt, die die notwendigen Bedin-
geben hatte. Die Hohenpriester nahmen gungen erfüllten, nämlich »Joseph,
dann das Geld und kauften einen Fried- genannt Barsabas, mit dem Beinamen
hof dafür. Justus, und Matthias«. Doch welchen
Hier in der Apostelgeschichte heißt sollten sie nun endgültig wählen? Die
es, daß Judas »einen Acker« von dem Apostel übergaben diese Angelegenheit
Geld gekauft habe, daß er »kopfüber dem Herrn und baten um eine Offenba-
gestürzt« sei und »alle seine Eingeweide rung seines Willens. Dann »gaben sie
. . . ausgeschüttet worden« seien. ihnen Lose« und Matthias wurde als
Wenn man beide Berichte zusammen geeigneter Nachfolger des Judas, der »an
nimmt, dann ist es anscheinend so, daß seinen eigenen Ort« gegangen war (d. h.
das Feld von den Hohenpriestern gekauft in die ewige Verdammnis), ausgelost.
wurde. Doch Judas kaufte den Acker in Immer wieder erheben sich beim
dem Sinne, daß die Hohenpriester sein Lesen dieses Abschnittes zwei Fragen:
Geld verwendeten und sozusagen als sei- 1. Handelten die Jünger richtig, als sie
ne Makler handelten. Er erhängte sich an Matthias aufstellten? Hätten sie nicht
einem Baum auf dem Friedhof, doch das warten sollen, bis Gott den Apostel
Seil riß wahrscheinlich, so daß sein Leib Paulus bestimmte, um die Lücke zu
hinunterfiel und dadurch barst. füllen?

482
Apostelgeschichte 1

2. War es richtig zu losen, um den Wil- das Haus und alle wurden mit dem Hei-
len des Herrn zu erfahren? ligen Geist erfüllt und redeten das Wort
In bezug auf die erste Frage gibt es in Gottes mit Freimütigkeit (4,31).
den Aufzeichnungen keinen Anhalts- Die Zwölf schlugen vor, daß sieben
punkt dafür, daß die Jünger falsch Männer die finanziellen Angelegenhei-
gehandelt haben könnten. Sie haben viel ten in die Hand nehmen sollten, damit
Zeit im Gebet verbracht, sie wollten der sie ihre Zeit besser dem Gebet und dem
Schrift gehorchen und es bestand offen- Dienst am Wort widmen konnten (6,3.4).
sichtlich Einmütigkeit, einen Nachfolger Die Apostel beteten dann und legten den
für Judas zu bestimmen. Außerdem war sieben die Hände auf (6,6). Die nächsten
der Dienst des Paulus ganz anders als Verse berichten von erregenden neuen
der der Zwölf und es gibt keinerlei Hin- Siegen des Evangeliums (6,7.8).
weis darauf, daß er Judas hätte irgend- Stephanus betete, als er den Märty-
wann ersetzen sollen. Die Zwölf waren rertod starb (7,60). Kapitel 9 berichtet
von Jesus auf der Erde auserwählt wor- von einer Erhörung dieses Gebetes – die
den, um Israel das Evangelium zu predi- Bekehrung eines der Zuschauer dieser
gen, während Paulus vom verherrlichten Steinigung, des Saulus von Tarsus.
Christus in den Dienst gerufen und zu Petrus und Johannes beteten für die
den Heiden gesandt wurde. Samarier, die gläubig geworden waren.
Was das Losen angeht, finden wir Das Ergebnis war, daß sie den Heiligen
diese Methode im AT als eine anerkann- Geist empfingen (8,15-17).
te Vorgehensweise, den Willen des Herrn Nach seiner Bekehrung betete Saulus
zu erfahren: »Im Gewandbausch schüt- von Tarsus im Hause des Judas. Gott
telt man das Los, aber all seine Entschei- beantwortete sein Gebet, indem er ihm
dung kommt vom HERRN« (Spr 16,33). Ananias sandte (9,11-17).
Offensichtlich war die Wahl des Mat- Petrus betete in Joppe und Tabitha
thias durch das Los vom Herrn gewollt, wurde wiederauferweckt (9,40). Als Er-
weil die Apostel danach wieder »die gebnis wurden viele an den Herrn gläu-
Zwölf« genannt werden (Apg 6,2). big (9,42).
Der heidnische Hauptmann Korneli-
us betete (10,2) und seine Gebete stiegen
Exkurs über das Gebet in der hinauf zum Gedächtnis vor Gott (10,4).
Apostelgeschichte Ein Engel erschien ihm in einem Gesicht
Die Apostelgeschichte ist ein Buch über und wies ihn an, nach einem Mann mit
erfolgreiches Gebet. Schon in Kapitel 1 Namen Simon Petrus zu senden (10,5).
haben wir gesehen, wie die Jünger bei Am nächsten Tag betete Petrus (10,9).
zwei verschiedenen Anlässen beten. Ihr Sein Gebet wurde durch eine himmlische
Gebet im Obergemach nach der Aufer- Vision beantwortete, die ihn darauf vor-
stehung wurde zu Pfingsten erhört. Ihr bereitete, die Tür zum Reich Gottes für
Gebet um Führung bei der Wahl eines Kornelius und die anderen Heiden zu
Nachfolger für Judas wurde durch die öffnen (10,10-48).
Auslosung des Matthias erhört. Und so Als Petrus im Gefängnis war, beteten
geht es im gesamten Buch weiter. die Christen ernstlich für ihn (12,5). Gott
Diejenigen, die zu Pfingsten bekehrt antwortete, indem er ihn auf wunder-
wurden, blieben beständig im Gebet bare Weise aus dem Gefängnis be-
(Apg 2,42). Die folgenden Verse beschrei- freite – sehr zum Erstaunen der Beter
ben die idealen Bedingungen, die in die- (12,6-17).
ser vom Gebet getragenen Gemeinschaft Die Propheten und Lehrer in Antio-
herrschten. chien beteten und fasteten (13,3). Daraus
Nach der Freilassung von Petrus und ergab sich die erste Missionsreise von
Johannes beteten die Gläubigen um Paulus und Barnabas. Man hat darüber
Freimütigkeit (4,29). Als Ergebnis bebte gesagt, daß dies »die vollmächtigste

483
Apostelgeschichte 1 und 2

Auswirkung eines Gebetes war, die man dem AT, die sich mit dem Pfingstfest
je erlebt hat, denn durch Paulus und befassen, ihr passendes Thema (z. B.
Barnabas, die beiden Missionare, wur- 3. Mose 23,15.16). Oder vielleicht sangen
den auf dieses Gebet hin die Enden der sie Psalm 133: »Siehe, wie gut und wie
Erde erreicht«. lieblich ist es, wenn Brüder einträchtig
4)
Auf einer Rückreise über Lystra, Ico- beieinander wohnen.«
nium und Antiochien beteten Paulus 2,2 Das Kommen des Geistes konnte
und Barnabas für die gläubig geworde- man hören, sehen und als Wunder erfah-
nen Menschen (14,23). Einer von ihnen ren. Das »Brausen«, welches »aus dem
war Timotheus. War es eine Antwort auf Himmel« kam und »das ganze Haus . . .
diese Gebete, daß Timotheus zu Paulus erfüllte«, war wie »ein gewaltiger Wind«.
und Silas auf ihrer zweiten Missionsreise Wind ist eines der beweglichen Dinge,
stieß? die in der Bibel für den Heiligen Geist
Im Gefängnis in Pilippi wurden die stehen (Öl, Feuer, Wasser), und die von
mitternächtlichen Gebete von Paulus seinen souveränen, unberechenbaren
und Silas durch ein Erdbeben und die Bewegungen sprechen.
Bekehrung des Kerkermeisters und sei- 2,3 Sehen konnte man »zerteilte Zun-
ner Familie beantwortet (16,25-34). gen wie von Feuer«, die sich »auf jeden
Paulus betete in Milet mit den Älte- einzelnen« Jünger »setzten«. Es heißt
sten der Gemeinde zu Ephesus (20,36). nicht, daß es Feuerzungen waren, son-
Nach diesem Gebet zeigten sie ihm ihre dern »Zungen wie von Feuer«.
Zuneigung und ihre Trauer darüber, daß Dieser Vorgang darf nicht mit der
sie ihn in diesem Leben nicht mehr sehen Feuertaufe verwechselt werden. Obwohl
sollten. die Taufe mit dem Geist und die Feuer-
Die Christen in Tyrus beteten am taufe gemeinsam behandelt werden
Strand mit Paulus (21,5), und diese Gebe- (Matth 3,11.12; Lk 3,16.17), handelt es
te folgten ihm zweifellos bis Rom und bis sich doch um zwei verschiedene, vonein-
zu seiner Hinrichtung. ander getrennte Ereignisse. Bei der ersten
Vor seinem Schiffbruch betete Paulus handelt es sich um eine Segenstaufe, bei
öffentlich und dankte Gott für die Speise. der zweiten um eine Gerichtstaufe. Die
Das ermunterte die verzweifelte Mann- erste betrifft die Gläubigen, die zweite
schaft und die Passagiere (27,35.36). wird die Ungläubigen betreffen. Durch
Auf der Insel Melite betete Paulus für die erste kommt der Geist zu den Gläubi-
den kranken Vater des Statthalters. Als gen, gibt ihnen Vollmacht und gründet
Ergebnis wurde der Mann auf wunder- die Gemeinde. Durch die zweite werden
bare Weise geheilt (28,8). die Ungläubigen verurteilt werden.
So scheint es eindeutig zu sein, daß Als Johannes der Täufer ein gemisch-
die erste Gemeinde in einer Atmosphäre tes Publikum ansprach (Bußfertige und
des Gebets lebte. Und als die Christen Unbußfertige, s. Matth 3,6.7), sagte er,
beteten, handelte Gott! daß Christus sie mit dem Heiligen Geist
und mit Feuer taufen werde (Matth 3,11).
Als er nur vor denen sprach, die wirklich
D. Pfingsten und die Geburt der Buße taten (Mk 1,5), verhieß er ihnen,
Gemeinde daß Christus sie mit dem Heiligen Geist
2,1 Das Pfingstfest, das für die Aus- taufen werde (Mk 1,8).
gießung des Heiligen Geistes stand, fand Was bedeuten nun die »zerteilten
fünfzig Tage nach dem Fest der Erst- Zungen wie von Feuer« in der Apostel-
lingsfrüchte statt, das von der Auferste- geschichte? Die Zungen beziehen sich
hung Christi sprach. An diesem beson- sicherlich auf die Sprache, und wahr-
deren »Tag des Pfingstfestes« waren scheinlich auf die wunderbare Gabe des
»alle« Jünger »an einem Ort beisam- Sprechens in fremden Sprachen, die die
men«. Vielleicht waren die Stellen aus Apostel bei diesem Ereignis erhielten.

484
Apostelgeschichte 2

Das »Feuer« könnte sich auf den Heili- Sprachen zu reden, wie der Geist ihnen
gen Geist als Quelle dieser Gabe bezie- gab auszusprechen«. Aus den folgenden
hen, und kann auch den mutigen, bren- Versen wird deutlich, daß ein Wunder
nenden und eifrigen Predigtdienst geschehen war, durch das sie in die Lage
beschreiben, der auf die Ausgießung des versetzt wurden, wirklich in fremden
Geistes folgen sollte. Sprachen zu reden, die sie nie vorher
Der Gedanke des Eifers scheint hier gelernt hatten. Es ging hier nicht um
besonders angebracht, weil Eifer für Gestammel oder ekstatische Äußerun-
Christus der Normalzustand eines geist- gen, sondern um definierte Sprachen, die
erfüllten Lebens ist, und das Zeugnis zu dieser Zeit in verschiedenen Weltge-
eine normale Folge davon darstellt. genden in Gebrauch waren. Diese Gabe
2,4 Als Wunder erfahren konnte man der »Zungen« (Anmerkung Elberfelder
zu Pfingsten die Erfüllung »mit Heiligem Bibel) war eines der Zeichen oder Wun-
Geist«, auf die das Reden »in anderen der, die Gott benutzte, um die Wahrheit
Sprachen« folgte. der Botschaft zu bezeugen, die die Apo-
Bis dahin war der Geist Gottes bei den stel predigten (Hebr 2,3.4). Zu dieser Zeit
Jüngern gewesen, doch nun nahm er sei- war das NT noch nicht geschrieben. Weil
ne Wohnung in ihnen (Joh 14,17). Des- das vollständige Wort Gottes heute in
halb markiert dieser Vers einen wichti- schriftlicher Form zugänglich ist, ist die
gen Wendepunkt in der Beziehung des Notwendigkeit der Zeichengaben im
Heiligen Geistes zu den Menschen. Im Großen und Ganzen nicht mehr gegeben
AT kam der Geist auf die Menschen, (obwohl der souveräne Geist Gottes sie
jedoch wohnte er nicht ständig in ihnen natürlich noch immer benutzen könnte,
(Ps 51,12). Ab Pfingsten wohnte der wenn er es wünschen würde).
Geist ständig in Menschen: Er kam, um Man darf die »Zungenrede« zu Pfing-
zu bleiben (Joh 14,16). sten nicht dazu Mißbrauchen um zu
Ab Pfingsten wohnte der Heilige Geist behaupten, daß die »Zungenrede« ein
nicht nur in den Gläubigen, sondern sie notwendiger Beweis für die Gabe des
wurden von ihm auch erfüllt. Sobald wir Geistes sei. Wenn das der Fall wäre, war-
gerettet werden, wohnt der Geist Gottes um werden die Zungen nicht erwähnt
in uns, doch um mit dem Geist erfüllt zu bei:
werden, müssen wir die Bibel studieren, 1. der Bekehrung der 3000 (Apg 2,41)?
ein geregeltes Gebetsleben führen und 2. der Bekehrung der 5000 (Apg 4,4)?
5)
im Gehorsam gegen den Herrn leben. 3. dem Empfang des Heiligen Geistes
Wenn das Erfülltsein mit dem Geist auch durch die Samariter (Apg 8,17)?
heute automatisch bei der Bekehrung Die einzigen Erwähnungen der Gabe
erfolgen würde, so würden wir nicht der Zungen in der Apostelgeschichte
ermahnt: »Werdet voll Geist« (Eph 5,18). sind:
Das Kommen des Geistes zu Pfing- 1. Die Bekehrung der Heiden im Hause
sten bildete aus den Gläubigen die des Kornelius (Apg 10,46).
Gemeinde, den Leib Christi. »Denn in 2. Bei der erneuten Taufe der Johannes-
einem Geist sind wir alle zu einem Leib jünger in Ephesus (Apg 19,6).
getauft worden, es seien Juden oder Grie- Ehe wir Vers 4 verlassen, sollten wir
chen, es seien Sklaven oder Freie, und noch anmerken, daß es unter den Ausle-
sind alle mit einem Geist getränkt wor- gern über das Thema der Taufe mit dem
den« (1. Kor 12,13). Von nun an sollten Heiligen Geist erhebliche Meinungsver-
die gläubigen Juden und Heiden zu schiedenheiten gibt. Dabei geht es
einem neuen Menschen in Jesus Christus sowohl um die Häufigkeit dieses Ereig-
werden und damit zu Gliedern an einem nisses als auch um seine Auswirkungen.
Leib (Eph 2,11-22). Über die Häufigkeit wird gelehrt:
Die Jünger, die »mit Heiligem Geist 1. Die Taufe mit dem Heiligen Geist
erfüllt« wurden, »fingen an, in anderen fand nur einmal statt – nämlich zu

485
Apostelgeschichte 2

Pfingsten. Der Leib Christi entstand che« übersetzt wird, ist dasselbe Wort,
bei diesem Ereignis, und alle Gläubi- von dem unser Fremdwort »Dialekt« ab-
gen sind seitdem durch die Taufe in stammt.
diesen Leib eingegliedert worden. Viele nehmen an, daß die Aufgabe
2. Die Taufe mit dem Heiligen Geist der Zungenrede zu Pfingsten war, daß
fand in drei oder vier Phasen das Evangelium den Menschen in vielen
statt – zu Pfingsten (Kap 2), in Sama- verschiedenen Sprachen gleichzeitig ver-
ria (Kap 8), im Haus des Cornelius kündigt wurde. So sagt z. B. ein Ausle-
(Kap 10) und in Ephesus (Kap 19). ger: »Gott gab sein Gesetz einem Volk in
3. Sie findet jedesmal statt, wenn ein einer Sprache, doch er gab sein Evange-
Mensch gläubig wird. lium allen Völkern in allen Sprachen.«
Wenn es um die Auswirkungen im Doch der Text erwähnt das Evange-
Leben des Einzelnen geht, sind einige lium überhaupt nicht. Die Zungenredner
der Ansicht, daß es sich um »ein zweites sprachen »von den großen Taten Gottes«
Werk der Gnade« handelt, das normaler- (2,11). Das war ein Zeichen für das Volk
weise nach der Bekehrung stattfindet Israel (1. Kor 14,21.22), das sie in Erstau-
und zu einer mehr oder weniger voll- nen versetzen sollte. Petrus predigte
ständigen Heiligung führt. Diese Ansicht dann im Gegensatz dazu das Evange-
findet von der Schrift her jedoch keiner- lium in einer Sprache, die die meisten,
lei Unterstützung. Wie schon erwähnt wenn nicht alle, verstehen konnten.
wurde, ist die Taufe mit dem Heiligen Die Besucher reagierten sehr unter-
Geist in der Apostelgeschichte ein schiedlich auf das Zungenreden. Einige
Geschenk, durch das die Gläubigen waren sehr interessiert, während andere
1. in den Leib Christi, die Gemeinde, den Aposteln vorwarfen, »voll süßen
aufgenommen werden, (1. Kor 12,13) Weines« zu sein. Die Jünger standen
und wirklich unter dem Einfluß einer frem-
2. mit Vollmacht ausgerüstet wurden den Macht, doch es war der Einfluß des
(Apg 1,8). Heiligen Geistes, nicht des Weingeistes!
2,5-13 »Juden, gottesfürchtige Män- Nicht wiedergeborene Menschen ver-
ner« aus der gesamten damals bekannten suchen gerne, für ein geistliches Ereignis
Welt hatten sich in Jerusalem versam- eine natürliche Erklärung zu suchen. Als
melt, um das Pfingstfest zu feiern. Als sie einmal Gottes Stimme vom Himmel zu
das Gerücht über die Geschehnisse hör- hören war, sagten einige, es habe gedon-
ten, versammelten sie sich bei dem Haus, nert (Joh 12,28.29). Nun erklärten Un-
in dem die Apostel waren. Schon damals gläubige spottend die Ekstase der Jünger
wurden die Menschen wie auch heute mit »süßem Wein«. »Die Welt,« so sagt
angezogen, als sie den Heiligen Geist Schiller, »liebt es, Glänzendes blind zu
Gottes am Werk sahen. machen und Erhabenes in den Schmutz
Nun hatte »die Menge« das Haus zu ziehen«.
erreicht, in welchem die Apostel waren. 2,14 Der Jünger, der einst den Herrn
Zu ihrem Erstaunen hörten die Besucher, mit Schwüren und Flüchen verleugnet
daß diese galiläischen Jünger in vielen hat, tritt nun vor die Menge und spricht
verschiedenen fremden Sprachen rede- sie an. Nicht länger ist er der furchtsame
ten. Das Wunder geschah jedoch nicht an und schwankende Jünger, sondern ist
den Zuhörern, sondern an den Jüngern. kräftig wie ein Löwe geworden. Pfing-
Ob die Zuhörer nun geborene oder be- sten hat ihn so verändert. Petrus ist nun
kehrte Juden waren, ob sie aus dem vom Geist erfüllt.
Osten oder Westen, dem Norden oder In Cäsarea Philippi hatte der Herr
Süden kamen, jeder von ihnen hörte, wie Petrus versprochen, ihm die Schlüssel des
die Jünger »in ihren Sprachen . . . von Himmelreiches zu geben (Matth 16,19).
den großen Taten Gottes« redeten. Das Hier in Apostelgeschichte 2 sehen wir, wie
Wort, das in Vers 6 und Vers 8 mit »Spra- er diese Schlüssel benutzt, um den Juden

486
Apostelgeschichte 2

die Tür zu öffnen. Später, in Kapitel 10, reich aufzurichten. Zu Beginn seiner tau-
wird er sie den Heiden ebenfalls öffnen. sendjährigen Herrschaft wird der Geist
2,15 Zunächst erklärt der Apostel, Gottes »auf alles Fleisch« ausgegossen
daß die ungewöhnlichen Ereignisse die- werden, sowohl auf Juden als auch Hei-
ses Tages nicht auf süßen Wein zurück- den, und dieser Zustand wird fast wäh-
zuführen seien. Es war doch schließlich rend des gesamten Tausendjährigen Rei-
erst 9 Uhr morgens, und es wäre wirklich ches fortdauern. Verschiedene Merkmale
unerhört gewesen, wenn so viele Men- des Geistbesitzes werden je nach Ge-
schen schon zu so früher Stunde »betrun- schlecht, Alter oder sozialer Stellung auf-
ken« gewesen wären. Auch enthielten treten. Es wird »Gesichte« und »Traum-
sich Juden, die an den religiösen Übun- gesichte« geben, womit der Empfang
gen der Synagoge teilnahmen, an diesem von Wissen angedeutet wird, und »Pro-
Festtag normalerweise bis um 10 Uhr phezeiungen«, womit die Weitergabe des
morgens, wenn nicht sogar bis zum Mit- Wissens an andere gemeint ist. So wer-
tag, des Essens, je nachdem, wann das den die Gaben der Offenbarung für alle
tägliche Opfer dargebracht wurde. Menschen sichtbar. Das alles wird nach
2,16-19 Die wirkliche Erklärung lau- Joels Angaben »in den letzten Tagen«
tete, daß Gottes Geist ausgegossen wor- geschehen (V. 17). Das bezieht sich natür-
den war, wie »durch den Propheten Joel lich auf die letzten Tage Israels und nicht
gesagt ist« (Joel 2,28.29). der Gemeinde.
Jedoch waren die Ereignisse zu Pfing- 2,20 Die übernatürlichen Zeichen am
sten keine vollständige Erfüllung der Pro- Himmel werden ausdrücklich für die
phezeiung Joels. Die meisten Ereignisse, Zeit, »ehe der große und herrliche Tag
die in den Versen 17-20 beschrieben wer- des Herrn kommt«, vorhergesagt. In die-
den, sind zu Pfingsten nicht in Erfüllung sem Zusammenhang bedeutet »der Tag
gegangen. Doch was zu Pfingsten ge- des Herrn« seine persönliche Wieder-
schah, war ein Vorgeschmack auf die kunft auf die Erde, um seine Feinde zu
Ereignisse »in den letzten Tagen, . . . ehe vernichten und in Macht und großer
der große und herrliche Tag des Herrn Herrlichkeit zu regieren.
kommt«. Wenn Pfingsten die Prophezei- 2,21 Petrus schließt sein Zitat aus Joel
ung Joels erfüllt hätte, warum wird spä- mit der Verheißung, daß »jeder, der den
ter eine Verheißung gegeben (3,19), daß Namen des Herrn anrufen wird, errettet
Jesus zurückkommen und der Tag des werden« wird. Das ist die gute Botschaft
Herrn kommen werde, wenn Israel als für alle Zeitalter, daß die Rettung auf-
Volk Buße tun und den annehmen wür- grund des Glaubens an den Herrn allen
de, den sie gekreuzigt haben? Menschen angeboten wird. Der »Name
Das Zitat aus Joel ist ein gutes Bei- des Herrn« ist ein Ausdruck, der alles
spiel für mehrfache Erfüllung einer Pro- umschließt, was unser Herr ist. Deshalb
phezeiung, bei der eine Prophezeiung zu bedeutet, seinen Namen anzurufen, ihn
einem gewissen Zeitpunkt teilweise und selbst anzurufen, der der wahre Gegen-
zu einem späteren vollständig in Erfül- stand des Glaubens und der einzige Weg
lung geht. zur Errettung ist.
Der Geist Gottes wurde zu Pfingsten 2,22-24 Doch wer ist der Herr? Petrus
ausgegossen, jedoch nicht wörtlich auf wird nun als nächstes die aufregende
alles Fleisch. Die Prophezeiung wird zum Nachricht bringen, daß Jesus, den sie
Ende der Drangsalszeit endgültig erfüllt gekreuzigt haben, Herr und Christus ist.
werden. Vor der Wiederkunft Christi in Er tut das, indem er zunächst vom Leben
Herrlichkeit wird es am Himmel »Wun- Jesu spricht, dann von seinem Tod, seiner
der« geben und »Zeichen« auf der Erde Auferstehung, seiner Himmelfahrt und
(Matth 24,29.30). Der Herr Jesus Christus schließlich von seiner Verherrlichung
wird dann auf der Erde erscheinen, um »zur Rechten Gottes« des Vaters. Wenn
seine Feinde zu besiegen und sein König- die Menschen noch immer die Vorstel-

487
Apostelgeschichte 2

lung hegten, daß Jesus noch in einem Vers sollte nicht herangezogen werden
jüdischen Grab läge, dann wollte Petrus zu beweisen, daß der Herr Jesus in
diese Vorstellungen schnell korrigieren! irgendein »Gefängnis« mit Geistern der
Ihnen mußte gesagt werden, daß der, den Abgeschiedenen gegangen sei, während
sie ermordet hatten, nun im Himmel ist er tot war. Seine Seele ging in den Him-
7)
und daß sie noch immer mit ihm zu rech- mel – Lk 23,43 – und sein Leib wurde in
nen hätten. ein Grab gelegt.)
So argumentiert der Apostel: »Jesus 2,28 David sagt über die Auferste-
von Nazareth« wurde als »Mann . . . von hung des Herrn aus, er sei zuversichtlich,
Gott« durch die vielen »Wunder« erwie- daß Gott ihm den Weg des Lebens zeigen
sen, die er in der Macht Gottes vollführte werde. In Psalm 16,11a schrieb David:
(V. 22). »Nach dem bestimmten Rat- »Du wirst mir kundtun den Weg des
schluß und nach Vorkenntnis« Gottes Lebens.« In Apostelgeschichte 2,28a
wurde er »hingegeben« in die Hand des zitiert Petrus folgendermaßen: »Du hast
jüdischen Volkes. Sie wiederum überga- mir kundgetan Wege des Lebens.« Petrus
ben ihn den Heiden (»Gesetzlosen«) veränderte die Zeitform der Zukunft in
damit er »an das Kreuz geschlagen und die Vergangenheit. Der Heilige Geist
umgebracht« würde (V. 23). Doch »Gott« wies ihn offensichtlich dazu an, weil die
hat ihn »auferweckt« aus den Toten, Auferstehung nun Vergangenheit war.
6)
»nachdem er die Wehen des Todes auf- Die gegenwärtige Verherrlichung des
gelöst hatte«. Es war dem Tod »nicht Erlösers wurde von David mit den Wor-
möglich, daß« Jesus »von ihm behalten« ten vorausgesagt: »Du wirst mich mit
würde, denn: Freude erfüllen vor deinem Angesicht«,
1. Der Charakter Gottes erforderte seine oder, wie Psalm 16,11 es ausdrückt: »Fül-
Auferstehung. Er war als Sündloser le von Freuden ist vor deinem Angesicht,
für die Sünder gestorben. Gott mußte Lieblichkeiten in deiner Rechten immer-
ihn als Beweis dafür auferwecken, dar.«
daß er mit dem Sühnewerk Christi 2,29 Petrus erläutert weiter, daß
vollkommen zufriedengestellt ist. David dies nicht von sich selbst sagen
2. Die Prophezeiungen des AT verlan- konnte, weil sein Leib dennoch verwest
gen seine Auferstehung. Diesen ist. »Sein Grab« war den Juden seiner
wichtigen Punkt verfolgt Petrus in Zeit wohlbekannt. Sie wußten, daß er
den folgenden Versen weiter. nicht auferstanden war.
2,25-27 In Psalm 16 hat David pro- 2,30.31 Als er den Psalm schrieb,
phetisch über das Leben, den Tod, die sprach David als »Prophet«. Er erinnerte
Auferstehung und die Verherrlichung sich, daß Gott ihm verheißen hatte,
unseres Herrn geschrieben. »einen seiner Nachkommen auf seinen
Über sein Leben schrieb David, daß Thron zu setzen«. David erkannte, daß
er das unbegrenzte Vertrauen eines Men- dieser Nachkomme der Messias sein
schen beschrieb, der in ununterbroche- würde, und daß er selbst wohl sterben
ner Gemeinschaft mit dem Vater lebt. würde, doch seine Seele »weder im
Sein Herz, seine Zunge und auch sein Hades zurückgelassen . . . noch sein
Fleisch – sein ganzes Sein war mit Freu- Fleisch die Verwesung« sehen werde.
de und »Hoffnung« erfüllt. 2,32.33 Nun wiederholt Petrus eine
Über seinen Tod sagte David voraus, Ankündigung, die seine jüdischen Zuhö-
daß Gott seine »Seele nicht im Hades rer sehr schockiert haben muß. Der Mes-
zurücklassen, noch zugeben« würde, sias, von dem David gesprochen hat, war
daß sein »Frommer Verwesung sehe«. »Jesus« von Nazareth. »Diesen Jesus hat
Mit anderen Worten: Die Seele des Herrn Gott auferweckt«, wie alle Apostel
Jesus sollte nicht in einem leiblosen bezeugen konnten, da sie Augenzeugen
Zustand bleiben, noch würde es gestattet seiner Auferstehung waren. Nach seiner
werden, daß sein Leib verwese. (Dieser Auferstehung wurde der Herr Jesus

488
Apostelgeschichte 2

»durch die Rechte Gottes erhöht«, und den ersten Blick scheint dieser Vers die
nun war der »Heilige Geist« wie ver- Erlösung durch die Taufe zu lehren, und
heißen vom Vater gesandt worden. Dies viele Menschen bestehen darauf, daß
war die Erklärung für die seltsamen dies hier wirklich gemeint sei. Solch eine
Ereignisse dieses Tages in Jerusalem. Auslegung ist jedoch aus den folgenden
2,34.35 Hatte nicht auch »David« die Gründen falsch:
Erhöhung des Messias vorausgesehen? 1. In dutzenden von neutestament-
Er sprach in Psalm 110,1 nicht von sich lichen Stellen wird ausgesagt, daß die
selbst. Statt dessen zitierte er, wie Jahwe Erlösung durch den Glauben an den
zu seinem Messias sagt: »Setze dich zu Herrn Jesus Christus geschieht (z. B.
meiner Rechten, bis ich deine Feinde lege Joh 1,12; 3,16,36; 6,47; Apg 16,31;
zum Schemel deiner Füße.« (Man beach- Röm 10,9). Kein einzelner Vers kann
te, daß die Verse 33-35 eine Wartezeit diesem überwältigenden Zeugnis
zwischen der Verherrlichung Christi und widersprechen.
seiner Wiederkunft zur Bestrafung seiner 2. Der Schächer am Kreuz hatte die Ver-
Feinde und der Errichtung seines Rei- heißung der Erlösung auch ohne
ches voraussagen.) Taufe (Lk 23,43).
2,36 Und wieder fällt die Verkündi- 3. Vom Herrn wird nicht berichtet, daß
gung wie ein Hammer auf die Juden. er irgend jemanden getauft habe. Das
Gott hat gemacht sowohl Herrn als auch wäre jedoch sehr seltsam, wenn die
Christus – diesen Jesus, den ihr gekreuzigt Taufe für die Erlösung notwendig
habt. (Reihenfolge der Worte im Gr.). Wie wäre.
Bengel sagte: »Der Stachel der Rede sitzt 4. Der Apostel Paulus war dankbar, daß
am Ende:« – «Diesen Jesus, den ihr er nur einige wenige Korinther
gekreuzigt habt.« Sie hatten den Gesalb- getauft hatte. – Er wäre aber wenig
ten Gottes »gekreuzigt« und das Kom- dankbar gewesen, wenn die Taufe
men des Heiligen Geistes war der erlösende Wirkung haben würde
Beweis, daß Jesus in den Himmel erho- (1. Kor 1,14-16).
ben worden ist (s. Joh 7,39). Es ist wichtig festzuhalten, daß nur
2,37 So stark war die überführende die Juden aufgefordert wurden, sich zur
Macht des Heiligen Geistes, daß die Vergebung der Sünden taufen zu lassen
Zuhörer sofort reagierten. Ohne jede Ein- (s. Apg 22,16). In dieser Tatsache liegt
ladung oder jeden Aufruf von Paulus unseres Erachtens das Geheimnis zum
fragten sie: »Was sollen wir tun, ihr Brü- Verständnis dieses Abschnittes. Das Volk
der?« Die Frage wurde durch ein tiefes Israel hatte den Herrn der Herrlichkeit
Verstehen ihrer Schuld ausgelöst. Sie kreuzigen lassen. Die Juden hatten
erkannten nun, daß der Jesus, den sie geschrien: »Sein Blut komme über uns
ermordet hatten, Gottes geliebter Sohn und über unsere Kinder!« Die Schuld des
gewesen ist! Dieser Jesus war von den Mordes am Messias war so auf das Volk
Toten auferweckt und in den Himmel Israel herabgerufen worden.
erhöht worden. Nachdem das geschehen Nun hatten einige dieser Juden ihren
war, wie konnten sie als schuldige Mör- Fehler eingesehen. Durch ihre Buße ge-
der dem Gericht entgehen? standen sie Gott gegenüber ihre Sünde
2,38 Die Antwort des Petrus lautete, ein. Indem sie den Herrn Jesus als ihren
daß sie »Buße tun« und sich »taufen las- Retter annahmen, wurden sie wiederge-
sen« sollten »auf den Namen Jesu Christi boren und erhielten die ewige Vergebung
zur Vergebung« ihrer »Sünden«. Als der Sünden. Durch die öffentliche Was-
erstes mußten sie »Buße tun«, ihre sertaufe trennten sie sich von dem Volk,
Schuld eingestehen und sich gegen sich das den Herrn gekreuzigt hatte und
selbst auf Gottes Seite stellen. identifizierten sich statt dessen mit ihm.
Dann sollten sie sich »zur Verge- Die Taufe wurde so zum äußeren Zei-
bung« ihrer Sünden »taufen lassen«. Auf chen, daß ihre Sünde in Verbindung mit

489
Apostelgeschichte 2

der Ablehnung Christi (wie auch alle 1. Sie glaubten.


ihre anderen Sünden) abgewaschen wur- 2. Sie wurden mit Wasser getauft.
den. Die Taufe nahm sie aus ihrem jüdi- 3. Die Apostel beteten für sie.
schen Umfeld und verpflanzte sie in das 4. Die Apostel legten ihnen die Hände
christliche. Doch die Taufe an sich gab auf.
ihnen keine ewige Errettung. Das konnte 5. Sie empfingen den Heiligen Geist.
nur der Glaube an Christus. Wenn man In Apostelgeschichte 10,44-48 sehen
etwas anderes lehrt, so lehrt man ein wir die Bekehrung der Heiden. Man
anderes Evangelium und ist dadurch beachte hier die Reihenfolge:
verflucht (Gal 1,8.9). 1. Glaube
Eine andere Interpretation der Taufe 2. Empfang des Heiligen Geistes
»zur Vergebung der Sünden« wird von 3. Wassertaufe
Ryrie angeboten: Als letzte finden wir noch die
Das bedeutet nicht Taufe, um Sünden zu Gemeinschaft der Jünger Johannes’ des
vergeben, denn überall im NT werden die Täufers in Apostelgeschichte 19,1-7:
Sünden aufgrund des Glaubens an Christus 1. Sie glaubten.
vergeben, nicht aufgrund der Taufe. Es geht 2. Sie wurden erneut getauft.
hier darum, daß getauft wird wegen der Ver- 3. Der Apostel Paulus legte ihnen die
gebung der Sünden. Die griechische Präposi- Hände auf.
tion eis (für) hat nicht nur an dieser Stelle die 4. Sie empfingen den Heiligen Geist.
Bedeutung »wegen«, sondern auch an sol- Bedeutet das nun, daß es vier Erlö-
chen Stellen wie Matthäus 12,41, wo die sungswege in der Apostelgeschichte
Bedeutung nur sein kann »sie taten Buße gibt? Natürlich nicht. Erlöst wurde
wegen (nicht zu) der Predigt des Jona«. Die damals, wie heute und in Zukunft auch,
Buße brachte den Menschen zu Pfingsten die wer an den Herrn Jesus Christus glaubt.
Vergebung der Sünden, und weil ihnen die Doch während der Übergangszeit in der
Sünden vergeben waren, sollten sie sich tau- Apostelgeschichte gefiel es Gott, die
8)
fen lassen. Ereignisse beim Empfang des Heiligen
Petrus versicherte ihnen, daß sie, Geistes einmal in dieser, dann in jener
wenn sie Buße täten und »sich taufen« Reihenfolge stattfinden zu lassen. War-
ließen, »die Gabe des Heiligen Geistes um es ihm so gefiel, weiß nur Er allein. Er
empfangen« würden. Wenn wir darauf hat uns darüber nichts offenbart.
bestehen wollten, daß diese Ordnung Welches dieser Muster gilt nun für
noch auf uns heute zuträfe, so würde das uns heute? Weil Israel als Nation den
bedeuten, daß man Gottes Handeln in Messias abgelehnt hat, haben die Juden
den ersten Tagen der Gemeinde mißver- alle Vorrechte verloren, die sie einmal
stehen würde. Wie H. P. Barker so fun- gehabt haben. Heute beruft sich Gott ein
diert in The Vicar of Christ gesagt, gibt es Volk für seinen Namen aus den Heiden
vier Gemeinschaften der Gläubigen in (Apg 15,14). Deshalb finden wir die
der Apostelgeschichte, und die Ordnung Reihenfolge für heute in Apostelgeschich-
der Vorgänge in Verbindung mit dem te 10:
Empfang des Heiligen Geistes sind jedes- 1. Glaube
mal anders. 2. Empfang des Heiligen Geistes
Hier in Apostelgeschichte 2,38 lesen 3. Wassertaufe.
wir über die Judenchristen. Für sie galt Wir glauben, daß diese Ordnung für
die Ordnung: alle Menschen heute gilt, für Juden als
1. Buße tun auch für Heiden. Das mag zunächst will-
2. Wassertaufe kürlich erscheinen. Man mag fragen:
3. Empfang des Heiligen Geistes. »Wann wurde die Ordnung in Apostel-
Die Bekehrung der Samariter wird in geschichte 2,32 für die Juden aufgehoben
Apg 8,14-17 beschrieben. Dort lesen wir und die Ordnung in Apostelgeschichte
von der folgenden Reihenfolge: 10,44-48 eingesetzt?« Natürlich können

490
Apostelgeschichte 2

auch wir dafür kein genaues Datum 2,40 Nicht die ganze Predigt von
angeben. Doch das Buch der Apostelge- Petrus wird in diesem Kapitel wiederge-
schichte berichtet einen allmählichen geben, doch im wesentlichen lautete sie,
Übergang von der ausschließlichen Ver- daß die jüdischen Zuhörer sich aus die-
kündigung des Evangeliums an die sem verdorbenen »verkehrten Ge-
Juden zur Verbreitung auch unter den schlecht« erretten lassen sollten, das den
Heiden. Zum Ende der Apostelgeschich- Herrn Jesus abgelehnt und ermordet hat-
te sind die Juden als Volk zur Seite te. Das konnte geschehen, indem sie
gesetzt. Durch ihren Unglauben hat Isra- Jesus als ihren Messias und Erlöser
el jedes Recht als Gottes auserwähltes annahmen und durch die christliche
Volk verloren. Während des Zeitalters Taufe öffentlich erklärten, daß sie keiner-
der Gemeinde wird Israel wie eine heid- lei Verbindung mehr mit dem schuldigen
nische Nation behandelt, und Gottes Volk Israel hätten.
Anordnung für die Heiden, wie sie in 2,41 Es gab eine große Bewegung
Apostelgeschichte 10,44-48 aufgezeigt unter den Menschen, die nach vorn
wird, gilt auch für die Juden. drängten, weil sie die Taufe begehrten.
2,39 Petrus erinnert seine Zuhörer als Diese war ein öffentliches Zeichen dafür,
nächstes, daß »die Verheißung« ihnen daß sie das Wort als Wort des Herrn
10)
und ihren »Kindern« (d. h. dem jüdi- »gern annahmen« (LU 1912).
schen Volk) gelte, »und allen, die in der So wurden an diesem Tag »etwa drei-
Ferne sind« (den Heiden), nämlich »so tausend Seelen« zur Gemeinschaft der
viele der Herr, unser Gott, hinzurufen Gläubigen »hinzugetan«. Wenn der beste
wird«. Beweis für die Geisterfülltheit einer Pre-
Das Volk, das gesagt hatte: »Sein Blut digt die Bekehrung von Seelen ist, dann
komme über uns und unsere Kinder«, war die des Petrus ganz bestimmt vom
erhält nun die Verheißung der Gnade für Geist erfüllt. Zweifellos wurde dieser
sich und seine Kinder, wenn sie nur dem galiläische Fischer durch die Vorfälle an
Herrn vertrauen. das Wort Jesu erinnert, das lautet: »Ich
Dieser Vers ist oft irrtümlich dazu werde euch zu Menschenfischern ma-
verwendet worden zu beweisen, daß chen« (Matth 4,19). Und vielleicht noch
Kinder von gläubigen Eltern hierdurch dazu den Ausspruch des Erlösers:
bestimmte »Bundesprivilegien« hätten, »Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer
oder daß sie gerettet seien. Spurgeon an mich glaubt, der wird auch die Werke
beantwortet diesen Irrtum treffend: tun, die ich tue, und wird größere als die-
Weiß die Gemeinde Gottes nicht: »Was se tun, weil ich zum Vater gehe«
aus dem Fleisch geboren ist, ist Fleisch, und (Joh 14,12).
was aus dem Geist geboren ist, ist Geist«? Es ist sehr lehrreich zu beachten, mit
»Wie könnte ein Reiner vom Unreinen kom- welcher Vorsicht die Zahl der Bekehrten
men?« Die leibliche Geburt überträgt die genannt wird – »etwa dreitausend See-
fleischliche Unreinheit, doch kann sie den len«. Alle Diener Christi sollten dieselbe
Frieden nicht vererben. Im neuen Bund wird Vorsicht walten lassen, wenn sie die
uns ausdrücklich gesagt, daß die Kinder Got- sogenannten »Entscheidungen für Chri-
tes »nicht aus Geblüt, noch aus dem Willen stus« zählen.
des Fleisches, noch aus dem Willen des Man- 2,42 Der Beweis für die Echtheit einer
9)
nes, sondern aus Gott geboren sind«. Entscheidung ist die Beständigkeit. Die-
Wichtig ist hier festzuhalten, daß »die se Bekehrten bewiesen die Echtheit ihres
Verheißung« nicht nur »euch und euren Bekenntnisses durch das »Verharren«:
Kindern«, sondern »allen« gilt, »die in 1. »In der Lehre der Apostel.« Das sind
der Ferne sind, so viele der Herr, unser die inspirierten Lehren der Apostel,
Gott, hinzurufen wird«. Diese Verhei- die zunächst mündlich überliefert
ßung gilt für alle, ebenso wie die Einla- wurden und nun im NT festgehalten
dung des Evangeliums an »jeden« geht. sind.

491
Apostelgeschichte 2

2. »In der Gemeinschaft.« Ein weiterer sam«. So mächtig wirkte die Liebe Gottes
Beweis des neuen Lebens war das an ihren Herzen, daß sie ihre »Güter«
Verlangen der neuen Gläubigen nach nicht als ihr persönliches Eigentum ansa-
Gemeinschaft mit dem Volk Gottes hen (4,32). Wann immer jemand in der
und dem Anteilhaben an ihren Eigen- Gemeinschaft »bedürftig« war, verkauf-
schaften. Man fühlte sich von der ten sie ihr persönliches Eigentum und
Welt für Gott ausgesondert und bil- verteilten den Erlös. Dadurch entstand
dete mit den anderen Christen eine wahre Einheit.
Interessengemeinschaft. »Unter den Gläubigen zeigte sich
3. »Im Brechen des Brotes.« Dieser Aus- eine Einheit des Wollens und der Interes-
druck wird im NT dafür benutzt, um sen, durch die ein Großteil der natürli-
sowohl das Herrenmahl als auch eine chen Selbstsucht des gefallenen Men-
gewöhnliche Mahlzeit zu bezeich- schen einfach verschluckt wurde durch
nen. Die Bedeutung muß in jedem die völlige Liebe, die die göttliche Liebe
Einzelfall aus dem Zusammenhang geschenkt hatte. Sie gehörten so sehr zu-
des Abschnittes bestimmt werden. sammen, daß all ihr Besitz gemeinsames
Hier bezieht er sich offensichtlich auf Eigentum war. Das kam jedoch nicht
das Herrenmahl, weil es recht un- durch irgendein Gesetz oder einen son-
nötig wäre festzuhalten, daß sie stän- stigen äußeren Zwang zustande, was
dig beim Essen verharrten. Aus Apo- alles zerstört hätte, sondern durch das
stelgeschichte 20,7 erfahren wir, daß Bewußtsein, was sie selbst für Christus
es die Praxis der ersten Christen war, bedeuteten und Christus für sie bedeute-
das Brot am ersten Tag der Woche zu te. Bereichert durch seinen Segen, den
brechen. In den ersten Tagen der nichts trüben konnte – je mehr sie hinga-
Gemeinde wurde im Zusammenhang ben, desto mehr hatten sie auch – ver-
mit dem Herrenmahl ein Liebesmahl kauften sie die Güter und die Habe und
gehalten, das die Liebe der Heiligen verteilten sie an alle, je nachdem einer
11)
untereinander widerspiegeln sollte. bedürftig war.«
Nachdem jedoch damit Mißbrauch Viele sind heute der Meinung, daß
getrieben wurde, ließ man diese wir dieser Praxis der ersten Gläubigen
»Agapen« oder Liebesmähler fallen. nicht folgen bräuchten. Man könnte
4. »In den Gebeten.« Das war die vierte genausogut sagen, daß wir unseren
Grundübung der ersten Gemeinde. Nächsten nicht wie uns selbst lieben sol-
Sie drückte die vollkommene Abhän- len. Dieses Teilen des Vermögens und
gigkeit vom Herrn in bezug auf Got- persönlichen Eigentums war die unaus-
tesdienst, Führung, Bewahrung und bleibliche Frucht eines Lebens, das mit
Dienst aus. dem Heiligen Geist erfüllt war. Es ist ein-
2,43 Ein Gefühl von Ehrfurcht über- mal gesagt worden: »Ein echter Christ
kam die Menschen. Die Macht des Heili- kann es nicht ertragen, zu viel zu haben,
gen Geistes war so deutlich sichtbar, daß wenn andere zu wenig haben.«
die Menschen ruhig und diszipliniert 2,46 Dieser Vers zeigt die Auswirkun-
wurden. Erstaunen erfüllte sie, als sie gen des Pfingstereignisses auf das reli-
sahen, daß »die Apostel . . . viele Zeichen giöse und das häusliche Leben.
und Wunder« taten, die die Aufmerk- Im religiösen Leben müssen wir beach-
samkeit und die Verwunderung der ten, daß diese ersten Bekehrten einen
Menschen auf sich zogen. »Zeichen« jüdischen Hintergrund hatten. Obwohl
waren Wundertaten, die dazu bestimmt es die Gemeinde nun gab, waren die Bin-
waren, eine Lehre zu unterstützen. Zu dungen an den jüdischen Tempel noch
den Wundertaten gehörten sowohl Zei- nicht sofort gelöst. Der Prozeß, die Grab-
chen als auch Wunder. tücher des Judentums abzuwerfen, zieht
2,44.45 Die Gläubigen versammelten sich durch die gesamte Apostelgeschich-
sich ständig und »hatten alles gemein- te. Und deshalb gingen die Gläubigen

492
Apostelgeschichte 2

noch immer zu den Gottesdiensten »im der 13. Auflage der Encyclopaedia Britan-
12)
Tempel«, wo das AT vorgelesen und nica nachlesen, und zwar im Artikel »Kir-
ausgelegt wurde. Zusätzlich dazu trafen chengeschichte«:
sie sich natürlich in den Häusern, um Das Bemerkenswerteste im Leben der
den vier in Vers 42 aufgelisteten Tätigkei- frühen Christen war ihr lebendiger Sinn
ten nachzugehen. dafür, ein Volk Gottes zu sein, das berufen
Über das häusliche Leben lesen wir, und auserwählt ist. Die christliche Kirche
daß sie »das Brot brachen« und »Speise war für sie eine göttliche, keine menschliche
mit Frohlocken und Schlichtheit des Her- Einrichtung. Dieser Grundsatz bestimmte
zens« zu sich nahmen. Hier scheint es das gesamte Leben der frühen Christen, ob es
eindeutig zu sein, daß sich der Ausdruck um den gemeinsamen oder den privaten
»Brot brechen« auf normale Mahlzeiten Bereich ging. Sie sahen sich selbst als vom
bezieht. Die Freude über ihre Errettung Rest der Welt geschieden und untereinander
zeigte sich in allen Kleinigkeiten ihres durch besondere Bande verbunden. Ihr Bür-
Lebens und umgab das Profane mit gerrecht war im Himmel, nicht auf Erden
einem Glanz der Herrlichkeit. und die Prinzipien und Gesetze, denen sie
2,47 Ihr Leben wurde eine Lobeshym- sich unterstellten, waren himmlisch. Die
ne und ein Dankpsalm für diejenigen, gegenwärtige Welt war für sie nur zeitlich,
die aus der Macht der Finsternis errettet das wahre Leben lag für sie in der Zukunft.
und in das Reich des geliebten Sohnes Christus sollte bald wiederkommen, und die
Gottes versetzt worden waren. Arbeit, die Sorgen und Freuden der jetzigen
Zu Beginn hatten die Gläubigen Zeit waren weniger wichtig . . . Im täglichen
»Gunst beim ganzen Volk«. Doch das Leben der Christen wirkte der Heilige Geist
sollte nicht lange dauern. Das Wesen des und die christlichen Gaben waren die Frucht.
Christentums ist so geartet, daß es Eine Auswirkung dieses Glaubens war, daß
unausweichlich den Haß und die Geg- ihr Leben einen besonders begeisterten oder
nerschaft des menschlichen Herzens inspirierten Eindruck machte. Ihre Erfahrun-
gegen sich auslöst. Der Erlöser warnte gen waren nicht die des normalen Alltags,
seine Jünger, sich vor Popularität in acht sondern sie lebten gewissermaßen in einer
zu nehmen (Lk 6,26) und verhieß ihnen herausgehobenen, höheren Atmosphäre.
Verfolgung und Leiden (Matth 10,22.23). Wenn man diesen Artikel liest, dann
So war diese »Gunst« nur vorüberge- erkennt man, wie weit sich die Kirche
hend und sollte schon bald durch von ihrem ursprünglichen Eifer und
unbeugsame Feindschaft ersetzt werden. ihrer anfänglichen Solidarität entfernt
»Der Herr aber tat täglich hinzu, die hat!
gerettet werden sollten.« Die christliche
Gemeinschaft wuchs täglich durch
Bekehrungen. Diejenigen, die das Evan- Exkurs über die Hausgemeinde und
gelium gehört hatten, waren verantwort- gemeindeähnliche Organisationen
13)
lich, Jesus Christus durch einen aus- Weil hier (Apg 2,47) zum ersten Mal in
drücklichen Willensakt aufzunehmen. der Apostelgeschichte das Wort »Kirche«
Das Erwählen und Hinzufügen durch oder »Gemeinde« (gr. ekklesia) benutzt
den Herrn hebt die menschliche Verant- wird, wollen wir an dieser Stelle ein
wortlichkeit nicht auf. wenig unterbrechen, um das Wesen der
In diesem Kapitel haben wir also den Kirche im Denken der ersten Christen ein
Bericht über die Ausgießung des Heili- wenig zu beleuchten.
gen Geistes, die bemerkenswerte Predigt Die Kirche in der Apostelgeschichte
des Petrus vor den versammelten Juden, und im Rest des Neuen Testaments war
die Bekehrung einer großen Menge und oft eine sogenannte Hausgemeinde. Die
eine kurze Beschreibung des Lebens der ersten Christen trafen sich in Wohnhäu-
ersten Gläubigen. Eine sehr gute Zusam- sern und nicht in besonderen Kirchenbau-
menfassung des letzteren kann man in ten. Es ist einmal gesagt worden, daß die

493
Apostelgeschichte 2

Religion sich von den heiligen Orten löste Unsere modernen Bauprogramme
und am allgemeinen Wohnort ihr Zen- sind die größten Hindernisse für die
trum fand, in den Häusern der Gläubigen. Ausbreitung der Kirche. Hohe Tilgungs-
Unger sagt, daß die Hausgemeinden etwa raten für Hypotheken und Kredite
14)
zwei Jahrhunderte lang bestanden. führen Kirchenleiter dazu, jeden Versuch
Es mag für uns einfach sein zu den- im Keim zu ersticken, mit einem Teil der
ken, daß die Benutzung von Wohnhäu- Gemeinde eine neue Gemeinde zu bil-
sern eher durch ökonomische Verhältnis- den. Jeder Mitgliederverlust würde das
se erzwungen wurde als das Ergebnis von benötigte Einkommen für die Abzahlun-
geistlichen Überlegungen zu sein. Wir ha- gen und den Erhalt des Hauses in Gefahr
ben uns so an Kirchengebäude und Ge- bringen. Eine noch ungeborene Genera-
meindehäuser gewöhnt, daß wir anneh- tion wird mit Schulden beladen, und jede
men, daß sie Gottes Ideal entsprechen. Hoffnung auf Gemeindevermehrung
Dennoch gibt es wichtige Gründe zu wird zerstört.
glauben, daß die Gläubigen des ersten Man argumentiert gerne, daß wir ein-
Jahrhunderts sehr viel weiser als wir drucksvolle Kirchenbauten brauchen,
waren. um kirchenferne Menschen in unsere
Erstens ist es mit dem christlichen Gottesdienste zu bringen. Ganz davon
Glauben und der Betonung der Liebe abgesehen, daß es sich dabei um fleisch-
nicht vereinbar, Hunderttausende in liches Denken handelt, übersieht dieser
luxuriöse Gebäude zu stecken, wo es Gedanke vollständig das Vorbild des
überall auf der Welt so große Not gibt. In Neuen Testaments. Die Zusammenkünf-
diesem Zusammenhang schreibt E. Stan- te der ersten Gemeinde waren in erster
ley Jones: Linie für die Gläubigen bestimmt. Die
Ich sah das Bambino, das Jesuskind im Christen versammelten sich, um auf die
Dom zu Rom an, wie es mit teuren Juwelen Lehre der Apostel zu hören, Gemein-
überhäuft war, und dann ging ich hinaus und schaft zu haben, das Brot zu brechen und
sah in die Augen hungriger Kinder. Da frag- zu beten (Apg 2,42). Sie evangelisierten
te ich mich ob Christus angesichts dieses nicht, indem sie Menschen zu den Zu-
Hungers seine Juwelen genießen könnte. sammenkünften am Sonntag einluden,
Und der Gedanke setzte sich bei mir fest, daß sondern indem sie den Menschen, denen
mich der Gedanke an Christus nicht länger sie während der Woche begegneten,
freuen könnte, wenn er sich über diese Juwe- Zeugnis gaben. Wenn diese Menschen
len freuen könnte. Dieses überhäufte Jesus- sich bekehrten, wurden sie in die Ge-
kind und die hungrigen Kinder sind ein Sym- meinschaft und Wärme einer Hausge-
bol dafür, was wir getan haben, als wir um meinde geführt, damit sie dort ermutigt
Christus herum den teuren Mantel von riesi- und weitergeführt würden.
gen Kathedralen und Kirchenbauten drapier- Es ist manchmal schwierig, Men-
ten, während wir die fundamentale Unge- schen dazu zu bringen, einen Gottes-
rechtigkeit der menschlichen Gesellschaft dienst in einem ehrwürdigen Gebäude
nicht veränderten, wodurch Christus in den zu besuchen. Oft behagt den Menschen
Arbeitslosen und Entrechteten hungrig ge- dieser strenge Formalismus nicht. Auch
15)
blieben ist. gibt es immer wieder die Angst, um Geld
Es ist nicht nur inhuman, sondern angebettelt zu werden. »Die Kirche ist
auch unwirtschaftlich, riesige Summen nur an deinem Geld interessiert«, hört
für Gebäude auszugeben, die nur drei, man immer wieder klagen. Doch viele
vier oder fünf Stunden in der Woche derselben Menschen sind bereit, zu
genutzt werden. Wie sind wir nur dazu einem Bibelgespräch in ein Wohnzimmer
gekommen, in diese gedankenlose zu kommen. Dort müssen sie nicht auf
Traumwelt abzudriften, in der wir bereit Äußerlichkeiten achten, und sie ge-
sind, so viel auszugeben, und nur so nießen die ungezwungenere Atmo-
wenig Nutzen davon zu haben? sphäre.

494
Apostelgeschichte 2

Die Hausgemeinde ist wirklich für alles zu lehren, was er ihnen geboten
jede Kultur und jedes Land das Ideal. habe. Viele, die in christlichen Organisa-
Und wenn wir die ganze Welt über- tionen arbeiten, bemerken irgendwann,
blicken könnten, würden wir sicherlich daß ihnen nicht erlaubt wird, die ganze
viel mehr Gläubige sich in Wohnungen Wahrheit Gottes zu lehren. Sie dürfen
und Häusern treffen sehen, als auf jede über Themen, die kontrovers diskutiert
andere Art. werden, nicht mehr sprechen, weil die
Im Gegensatz zu den heutigen impo- Organisation fürchtet, ihre Spender zu
santen Kathedralen, Kirchen und Ge- verlieren, von denen sie lebt.
meindehäusern – auch im Gegensatz zu Die Vermehrung christlicher Institu-
der Menge der hochorganisierten Konfes- tionen hat zu oft zu Spaltungen, Neid
sionen, Missionsgesellschaften und kir- und Rivalität geführt, die das christliche
chenähnlichen Gemeinschaften, machten Zeugnis sehr behindert haben.
die Apostel in der Apostelgeschichte Man beachte, wieviele verschiedene
nicht den Versuch, das Werk des Herrn in Organisationen sich gleichen Themen wid-
irgendeiner Weise zu organisieren. Die men, sei es am Arbeitsplatz, daheim oder im
Ortsgemeinde war Gottes Einheit auf Ausland. Alle konkurrieren um das begrenz-
Erden, durch den der Glaube verbreitet te Personal und um die immer weniger wer-
wurde, und die Jünger waren zufrieden, denden finanziellen Mittel. Und man über-
innerhalb dieses Zusammenhanges zu denke, wieviele dieser Organisationen ihr
arbeiten. Dasein nur menschlicher Rivalität verdan-
In den letzten Jahren hat es geradezu ken, während ihre öffentlichen Verlautbarun-
eine organisatorische Explosion in der gen meist den Willen Gottes zitieren (aus
Christenheit gegeben, die einen schwin- dem englischen Material des Bibellesebun-
deln macht. Immer, wenn ein Gläubiger des).
eine neue Idee hat, wie man die Sache Und es ist nur zu oft wahr, daß Orga-
Christi fördern könnte, gründet er eine nisationen immer wieder die Möglich-
neue Missionsgesellschaft, einen neuen keit finden, sich zu verselbständigen,
Verein oder eine neue Institution! auch wenn sie schon lange niemandem
Ein Ergebnis davon ist, daß fähige mehr nützen. Die Mühlen der Verwal-
Lehrer und Prediger der Gemeinde von tung mahlen noch immer, auch wenn die
ihren vorrangigen Aufgaben weggeru- Vision der Gründer und die Herrlichkeit
fen werden, um Verwaltungsangelegen- einer einst dynamischen Bewegung
heiten zu erledigen. Wenn alle Verwal- längst verloren ist. Es war geistliche
tungsmitarbeiter der Missionsgesell- Weisheit, nicht primitive Naivität, die die
schaften auf dem Missionsfeld mitarbei- ersten Christen davor bewahrte, mensch-
ten könnten, würde die Personalnot dort liche Organisationen zu gründen, um
gewaltig verringert. mit ihnen das Werk des Herrn voranzu-
Ein anderes Ergebnis der immer neu treiben. G. H. Lang schreibt:
entstehenden Organisationen sind die Ein sehr scharfsinniger Ausleger hat ein-
ungeheuren Geldsummen, die von der mal gesagt, als er die apostolische Arbeits-
Verwaltung verschlungen werden, und weise mit unseren gewohnten modernen
so nicht für die direkte Missionsarbeit Arbeitsweisen verglich, daß wir »Missions-
zur Verfügung stehen. In vielen christli- werke gründen, während die Apostel
chen Organisationen wird der größte Teil Gemeinden gründeten«. Der Unterschied ist
jeder gespendeten D-Mark in die Verwal- wichtig und eindeutig. Die Apostel haben
tung gesteckt, anstatt in den ursprüngli- Gemeinden gegründet, und nichts anderes,
chen Zweck, zu dem die Organisation weil für die angestrebten Ziele nichts anderes
gegründet wurde. erforderlich war noch ebenso geeignet sein
Organisationen behindern oft den konnte. An jedem Ort, an dem sie arbeiteten,
großen Auftrag unseres Herrn. Jesus gab bildeten sie aus den Bekehrten eine Ortsge-
seinen Jüngern den Auftrag, die Jünger meinde, mit Ältesten (immer mehrere, nie ein

495
Apostelgeschichte 2 und 3

einzelner Ältester, s. Apg 14,23; 15,6.23; von großen Domen und Kathedralen
20,17; Phil 1,1), die leiteten, ordneten und herrscht, und an die Hilflosigkeit von
die Herde hüteten (die Ältesten waren Män- mächtigen kirchlichen Systemen, wenn
ner, die von Gott qualifiziert und von den sie den Menschen helfen soll, die körper-
Heiligen anerkannt waren) und mit Diako- lich wie geistlich Krüppel sind.
nen, die, im Gegensatz zu den Ältesten, die 3,3 Der Lahme hatte offensichtlich die
wenigen, aber wichtigen weltlichen Aufga- Hoffnung aufgegeben, jemals geheilt zu
ben betreuten, insbesondere die Verteilung werden, und deshalb war er damit
des Geldes der Gemeinde (Apg 6,1-6; zufrieden, um ein »Almosen« zu bitten.
Phil 1,1). Alles, was die Apostel zur Organi- 3,4 Statt diesen Mann als hilflosen
sation taten, war die Sammlung der Jünger Unglücksraben anzusehen, sah Petrus in
in weiteren solcher Gemeinden. Keine andere ihm einen, an dem die herrliche Macht
Organisation als die Ortsgemeinde erscheint Gottes demonstriert werden sollte.
16)
im NT, auch nicht in Ansätzen. »Wenn wir vom Geist geleitet werden,
Für die ersten Christen und ihre apo- werden wir unsere Augen auf diejenigen
stolischen Leiter war die Ortsgemeinde richten, die Gott segnen möchte.«
die göttlich angeordnete Organisation, Die Aufforderung von Petrus »Sieh
durch die Gott auf Erden handeln wollte, uns an« bedeutet nicht, daß er die Auf-
und nur dieser Einheit hat er die Ver- merksamkeit auf seine und des Johannes
heißung der Ewigkeit mitgegeben. Person lenken wollte, sondern nur dazu,
daß sie die ungeteilte Aufmerksamkeit
des Bettlers erlangten.
E. Die Heilung des Lahmen und 3,5.6 Der Krüppel »gab acht auf sie«
die Anklage Israels durch Petrus und erwartete immer noch finanzielle
(3,1-26) Hilfe von ihnen. Dann hörte er eine
3,1 Es war gegen drei Uhr nachmittags, Ankündigung, die ihn sowohl enttäu-
als »Petrus . . . und Johannes zusammen schen als auch überwältigen mußte. Ein
hinauf in den Tempel« in Jerusalem »gin- Almosen konnte Petrus ihm nicht geben.
gen«. Wie schon weiter oben angemerkt, Doch er hatte etwas besseres zu geben.
besuchten die ersten Christen jüdischer »Im Namen Jesu Christi« von Nazareth
Abstammung noch für einige Zeit nach befahl er dem Lahmen aufzustehen und
der Gründung der Gemeinde weiter die umherzugehen. Ein weiser alter Prediger
Tempelgottesdienste. Während dieser sagte einmal: »Der Lahme bat um Almo-
Übergangszeit war der Bruch mit dem sen und bekam Beine.«
Judentum noch nicht vollzogen. Die Von Thomas von Aquin wird erzählt,
Gläubigen heute sollten nicht diesem daß er den Papst zu einem Zeitpunkt
Vorbild folgen, weil wir die volle Offen- besuchte, als gerade große Geldsummen
barung des Neuen Testaments haben gezählt werden sollten. Der Papst brüste-
und uns gesagt wird: »Deshalb laßt uns te sich: »Wir haben es nicht mehr nötig,
zu ihm hinausgehen, außerhalb des mit Petrus zu sagen ›Silber und Gold
Lagers, und seine Schmach tragen« besitze ich nicht‹.« Thomas von Aquin
(Hebr 13,13. s. a. 2. Kor 6,17.18). antwortete: »Aber Ihr könnt mit Petrus
3,2 Als sie auf den Tempel zukamen, auch nicht sagen: ›Steh auf und geh.‹«
sahen sie Männer, die einen verkrüppel- 3,7 Als Petrus dem Mann auf die
ten Bettler an seinen gewohnten Platz an Füße half, floß Kraft in seine bisher nutz-
der »Pforte des Tempels, die man die losen »Füße und . . . Knöchel«. Hier wer-
schöne nennt«, brachten. Die Hilflosig- den wir wieder daran erinnert, daß im
keit dieses Mannes, der von Geburt an geistlichen Leben eine seltsame Vermi-
lahm war, steht im starken Kontrast zur schung göttlichen und menschlichen
Schönheit der Architektur des Tempels. Handelns stattfindet. Petrus hilft dem
Sie erinnert uns an die Armut und die Mann auf die Füße, und dann vollbringt
Unwissenheit, die gerade im Schatten Gott die Heilung. Wir müssen tun, was

496
Apostelgeschichte 3

wir können, und dann wird Gott das tun, 1. Sie haben Jesus »überliefert« (den
was wir nicht können. Heiden zur Verhandlung).
3,8 Das Wunder der Heilung fand 2. Sie haben ihn »vor Pilatus verleugnet,
sofort statt, nicht erst allmählich. Man als dieser geurteilt hatte, ihn loszuge-
beachte wie der Geist Gottes hier lauter ben«.
Worte häuft, die mit Bewegung und Lau- 3. Sie haben »den Heiligen und Gerech-
fen zu tun haben: ». . . sprang auf, konn- ten verleugnet und gebeten«, daß
te stehen, . . . ging umher . . . trat . . . in ihnen statt dessen »ein Mörder
den Tempel, ging umher und sprang.« geschenkt« würde (Barabbas).
Wenn wir uns daran erinnern, welch 4. Sie haben »den Fürsten des Lebens
ein langsamer, schmerzhafter Prozeß es . . . getötet«.
für ein Kind ist, wenn es laufen lernt, Im Gegensatz dazu steht, wie Gott
dann erkennen wir, wie wundervoll es mit Jesus gehandelt hat:
für diesen Mann war, sofort und zum 1. Er hat ihn »aus den Toten aufer-
ersten Mal in seinem Leben laufen und weckt« (V. 15).
springen zu können. 2. Er hat seinen »Knecht Jesus verherr-
Dieses Wunder, das im Namen Jesu licht« (V. 13).
vollbracht wurde, war ein weiteres Man beachte schließlich, wie Petrus
Zeugnis für das Volk Israel, daß derjeni- den »Glauben« als Ursache für die Wun-
ge, den sie gekreuzigt hatten, lebte und derheilung betont (V. 16). In diesem Vers,
bereit war, ihr Heiland und Erretter zu wie auch an anderen Stellen steht der
werden. »Name« für die Person. Deshalb bedeu-
3,9.10 Die Tatsache, daß der Bettler tet »Glauben an seinen Namen« Glauben
täglich an der Tempelpforte gelegen hat- an Christus.
te, machte ihn zu einem gewohnten 3,17 In diesem Vers wechselt Petrus
Anblick. Als er nun geheilt war, wurde deutlich den Ton. Nachdem er die Israe-
das Wunder natürlich überall bekannt. liten des Mordes an dem Herrn Jesus
»Das ganze Volk« konnte nicht bestrei- angeklagt hat, spricht er sie nun als seine
ten, daß ein großes Wunder geschehen jüdischen »Brüder« an und gesteht
war, doch was bedeutete das alles? ihnen gnädig zu, daß sie »in Unwissen-
3,11 Als der Geheilte »Petrus und heit gehandelt« haben, und bittet sie
Johannes festhielt«, die ihn ja geheilt hat- inständig, Buße zu tun und sich zu be-
ten, »lief das ganze Volk voll Erstaunen kehren.
zu ihnen zusammen in der . . . Salomons- Es scheint fast ein Gegensatz zu sein,
halle« einem Teil des Tempels. Ihre Ver- wenn wir Petrus sagen hören, daß die
wunderung war für Petrus die Gelegen- Juden den Herrn Jesus »in Unwissen-
heit, ihnen das Evangelium zu predigen. heit« gekreuzigt haben. Hatte Jesus nicht
3,12 Zuerst lenkt Petrus die Aufmerk- alle Beweise seiner Messianität erbracht?
samkeit der Menschen von dem Geheil- Hat er nicht große Wunder in ihrer Mitte
ten und den Aposteln ab. Dieses Wunder getan? Hat er sie nicht erbost, indem er
konnte auf keinen von ihnen zurückge- behauptet hat, Gott gleich zu sein? Das
führt werden. ist sicherlich alles wahr. Und doch wuß-
3,13-16 Schnell nennt er ihnen den ten sie nicht, daß Jesus Christus der
wahren Wundertäter: Jesus, den sie abge- fleischgewordene Gott sei. Sie erwarte-
lehnt und »getötet« hatten. Diesen hat ten, daß der Messias nicht unscheinbar,
Gott »aus den Toten auferweckt« und im sondern als mächtiger militärischer
Himmel »verherrlicht«. Dieser Mann Befreier erscheinen würde. Für sie war
nun sei »durch . . . Glauben« an Jesus von Jesus ein Hochstapler.
seiner Behinderung geheilt worden. Sie wußten nicht, daß er wirklich der
Der heilige Mut des Petrus, mit dem Sohn Gottes war. Sie waren sicherlich der
er das Volk Israel immer wieder anklagt, Meinung, daß sie Gott einen Dienst
ist bemerkenswert. Seine Anklage lautet: erweisen würden, wenn sie ihn um-

497
Apostelgeschichte 3

brächten. So sagte der Erlöser selbst bei sicht, daß er wiedergekommen wäre,
der Kreuzigung: »Sie wissen nicht, was denn sonst wäre diese Verheißung nicht
sie tun!« (Lk 23,24), und Paulus schrieb wahr. Andere erklären diesen Abschnitt
später: »Denn wenn sie [die Fürsten die- als Prophetie, der die Reihenfolge zeigt,
ser Welt] Jesu Herrlichkeit erkannt hät- in der die Ereignisse wirklich stattfinden
ten, so würden sie wohl den Herrn der werden. Die Frage ist jedoch rein speku-
Herrlichkeit nicht gekreuzigt haben« lativ. Die Tatsache bleibt bestehen, daß
(1. Kor 2,8). Israel sich nicht bekehrt hat und daß der
All das war dazu geschehen, um dem Herr Jesus nicht wiedergekommen ist.
Volk Israel zu versichern, daß, wie groß Aus Vers 21 geht hervor, daß »Gott«
auch immer ihre Sünde sein mochte, die- vorausgesehen hatte, daß das Volk Israel
se noch immer durch die Gnade Gottes Christus ablehnen würde, und daß das
vergeben werden konnte. gegenwärtige Zeitalter der Gnade seiner
3,18 Ohne ihre Sünde zu entschuldi- Wiederkunft vorausgehen würde. »Der
gen zeigt Petrus nun, daß Gott sie über- Himmel« mußte Christus »aufnehmen
wunden habe, um sein Ziel zu erreichen. bis zu den Zeiten der Wiederherstellung
Die »Propheten« des AT hatten voraus- aller Dinge«. Die »Zeiten der Wiederher-
gesagt, daß der Messias »leiden sollte«. stellung aller Dinge« bedeutet das Tau-
Die Juden sollten diejenigen sein, die die- sendjährige Reich. Es geht hier nicht um
ses Leiden verursachten. Doch nun bot er eine universelle Erlösung, wie einige
sich ihnen selbst als Herr und Retter an. nahegelegt haben; eine solche Lehre ist
Durch ihn konnten sie die Vergebung der Bibel fremd. Der Ausdruck bezieht
ihrer Sünden erlangen. sich auf eine Zeit, zu der die Schöpfung
3,19 Die Israeliten sollten Buße tun von der Knechtschaft der Sünde befreit
und eine Kehrtwendung machen. Wenn und Christus in Gerechtigkeit als König
sie das tun würden, würden ihre »Sün- über die gesamte Erde herrschen wird.
den ausgetilgt werden, damit Zeiten der Diese »Zeiten der Wiederherstel-
Erquickung kommen vom Angesicht des lung« sind von den »Propheten« der alt-
Herrn«. testamentlichen Zeit vorausgesagt wor-
Dabei sollte man nicht vergessen, daß den.
diese Predigt den »Männern von Israel« Vers 21 ist oft herangezogen worden,
gehalten wurde (V. 12). Sie betont, daß um zu beweisen, daß die Entrückung der
vor nationaler Wiederherstellung und Gläubigen nicht vor der Drangsalszeit
Segnung die nationale Buße steht. Die stattfinden wird. Die Argumentation
»Zeiten der Erquickung . . . vom Ange- geht dahin, daß Jesus nicht vor der Trüb-
sicht des Herrn« beziehen sich auf die sal wiederkommen könne, um seine
Segnungen in Christi zukünftigem Reich Gemeinde zu sich zu holen, wenn er bis
auf Erden, wie es im nächsten Vers zum Tausendjährigen Reich im Himmel
beschrieben wird. aufgenommen werden müßte. Die Ant-
3,20 Auf die Bekehrung Israels hin wort lautet hier natürlich, daß Petrus
wird Gott den Messias »Jesus Christus hier vor den »Männern von Israel«
senden«. Wie schon oben erwähnt, (V. 12) spricht. Er behandelt Gottes Plan
bezieht sich dies auf die Wiederkunft für das Volk Israel. Für das Volk Israel
Christi, wenn er seine tausendjährige wird Jesus bis ans Ende der Drangsals-
Herrschaft auf Erden beginnen wird. zeit im Himmel bleiben, eben bis er sein
3,21 Unausweichlich erhebt sich an Reich auf Erden aufrichten wird. Doch
diesem Punkt die Frage: »Wenn Israel die einzelnen Juden, die während des
sich auf diese Predigt hin bekehrt hätte, gegenwärtigen Zeitalters der Gemeinde
wäre Jesus dann schon auf die Erde gläubig werden, werden mit den gläubi-
gekommen? Große und gottesfürchtige gen Heiden an der Entrückung der Ge-
Männer haben diese Frage unterschied- meinde teilhaben, die jederzeit gesche-
lich beantwortet. Einige sind der An- hen kann. Auch verläßt der Herr den

498
Apostelgeschichte 3 und 4

Himmel für die Entrückung nicht, son- Auferstehung. Wenn sie ihn annähmen,
dern wir werden ihm in die Luft entge- würde »jeder« von ihnen sich von seinen
gengerückt werden. »Bosheiten« abwenden.
3,22 Als Beispiel für eine alttesta- In dieser Predigt des Petrus, vor dem
mentliche Prophezeiung, die sich auf die Volk Israel, sehen wir, daß hier eher das
zukünftige Herrschaft Christi bezieht, Reich als die Gemeinde im Vordergrund
zitiert Petrus 5. Mose 18,15.18.19. Der steht. Auch betont Petrus eher die Volks-
Abschnitt zeigt Jesus als Gottes »Pro- gemeinschaft als den Einzelnen. Der
phet« im goldenen Zeitalter Israels, der Geist Gottes schweigt in langmütiger
Gottes Willen und Gesetz verkündigt. Gnade über Israels Sünde und bittet Got-
Als Mose sagte: »Einen Propheten tes Volk, den verherrlichten Herrn Jesus
wird euch der Herr, euer Gott, aus euren als ihren Messias anzunehmen, um so
Brüdern erwecken, gleich mir«, meinte er die Wiederkunft des Reiches Christi auf
nicht Ähnlichkeit des Charakters oder Erden zu beschleunigen.
der Fähigkeiten, sondern Ähnlichkeit in Doch Israel wollte nicht hören.
dem Sinne, daß beide von Gott auferweckt
wurden. »Er wird ihn auferwecken, wie F. Die Verfolgung und das Wachstum
er mich auferweckt hat.« der Gemeinde (4,1 – 7,60)
3,23 Während der Herrschaft Christi 4,1-4 Die erste Verfolgung der noch jun-
auf Erden werden diejenigen, die sich gen Gemeinde sollte nun hereinbrechen.
weigern zu »hören« und zu gehorchen, Gemäß der üblichen Entwicklung nahm
»aus dem Volk ausgerottet werden«. sie bei den religiösen Führern ihren Aus-
Natürlich werden diejenigen, die ihn gang. »Die Priester und der Hauptmann
heute ablehnen, ebenso die ewige Ver- des Tempels und die Sadduzäer« erho-
dammnis erleiden, doch geht es hier in ben sich gegen die Apostel.
erster Linie darum, daß Jesus noch Scroggie erklärt hier, daß die »Prie-
immer mit einem eisernen Zepter regie- ster« für religiöse Intoleranz stehen, der
ren wird und daß diejenigen, die ihm »Hauptmann des Tempels« für politische
nicht gehorchen und gegen ihn aufste- Anfeindung und die »Sadduzäer« für
hen, sofort getötet werden. rationalistisch begründeten Unglauben.
3,24 Um weiter zu betonen, daß die »Die Sadduzäer« bestritten die Lehre
Zeit der Wiederherstellung im AT gut be- von der Auferstehung. Das brachte sie in
zeugt ist, fügt Petrus an, daß »alle Prophe- offenen Konflikt mit den Aposteln, weil
ten, von Samuel an« und alle sein Nach- die »Auferstehung aus den Toten« das
folger »diese Tage verkündigt« haben. Zentrum der apostolischen Verkündi-
3,25 Petrus erinnert nun seine jüdi- gung bildete. Spurgeon sieht hier eine
schen Zuhörer daran, daß ihnen, den Parallele:
»Söhnen der Propheten« und Nachkom- Die Sadduzäer waren, wie Sie wissen, die
men Abrahams, diese Zeit verheißen Liberalen, die modernen Theologen, die Vor-
wurde. Doch Gott hat mit Abraham denker dieser Zeit. Wenn sie nach bitterem
einen Bund geschlossen, »alle Geschlech- Spott, nach Sarkasmus und Grausamkeit
ter der Erde« in seinem »Samen« zu seg- suchen, so kann ich Ihnen diese weitherzigen
nen. Alle Verheißungen des tausend- Menschen empfehlen. Sie geben sich jedem
jährigen Segens konzentrieren sich auf gegenüber ausgesprochen liberal, außer
den Samen, d. h. auf Christus. Die Zuhö- natürlich gegen diejenigen, die die Wahrheit
rer sollten deshalb den Herrn Jesus als vertreten. Für diese haben sie einen ungeheu-
Messias annehmen. ren Vorrat an konzentrierter Bitterkeit übrig,
3,26 »Gott« hat »seinen Knecht« die Wermut und Galle bei weitem übertref-
schon auferweckt (3,13), und ihn zuerst fen. Sie sind so liberal gegenüber ihren Irr-
zum Volk Israel »gesandt«. Das bezieht lehre verbreitenden Brüdern, daß ihnen kein
sich mehr auf die Fleischwerdung und bißchen Toleranz mehr für die Evangelikalen
17)
das Leben unseres Herrn als auf seine übrig bleibt.

499
Apostelgeschichte 4

Diese Führer nahmen es den Apo- war ihm dieser Titel als Höflichkeits-
steln übel, daß sie das Volk lehrten, weil titel erhalten geblieben.
sie der Ansicht waren, daß das ihr alleini- 2. Kaiphas, der Schwiegersohn von
ges Privileg sei. Dann waren sie natürlich Hannas, der beim Gericht über den
auch wegen der Verkündigung aufge- Herrn den Vorsitz geführt hatte.
bracht, daß »in Jesus die Auferstehung 3. Johannes und Alexander, von denen
aus den Toten« geschehen sei. Wenn wir sonst nichts wissen.
Jesus wirklich aus den Toten auferstan- 4. Das gesamte »hohepriesterliche Ge-
den war, dann waren die Sadduzäer schlecht«, Männer von hohepriester-
nicht mehr länger glaubwürdig. licher Abstammung.
In Vers 2 ist der Ausdruck »Auferste- 4,7 Die Verhandlung begann, indem
hung aus den Toten« besonders wichtig, sie die Apostel fragten, »in welcher Kraft
weil er gegen die allgemein verbreitete oder in welchem Namen« sie das Wun-
Idee einer allgemeinen Auferstehung am der vollbracht hätten. Petrus trat vor, um
Ende der Welt spricht. Dieser Abschnitt sein drittes öffentliches Bekenntnis für
und weitere andere sprechen von einer seinen Herrn Jesus Christus in Jerusalem
Auferstehung aus den Toten. Mit ande- abzulegen. Er hatte hier die unschätzba-
ren Worten: Einige werden auferweckt re Gelegenheit, dem religiösen Establish-
werden, während andere (die Ungläubi- ment das Evangelium zu predigen, und
gen) bis zu einem späteren Zeitpunkt im er ergriff diese Gelegenheit furchtlos und
Grab bleiben. voller Eifer.
Die Führer entschieden sich dafür, 4,8-12 Zunächst erinnerte er sie dar-
die Apostel bis zum nächsten Tag unter an, daß sie unglücklich waren, weil die
eine Art Hausarrest zu stellen, weil es Apostel »eine Wohltat an einem kranken
schon spät war. (Die Wunderheilung in Menschen« vollbracht hatten. Obwohl
Kapitel 3 war etwa gegen drei Uhr nach- Petrus es hier nicht erwähnt, hatte der
mittags geschehen.) Geheilte am Tempeltor gebettelt, und die
Trotz der offiziellen Verfolgung religiöse Obrigkeit war nicht in der Lage
wandten sich viele dem Herrn zu. Etwa gewesen, ihn zu heilen. Dann ließ Petrus
»fünftausend . . . Männer« werden hier eine Granate einschlagen, indem er ver-
erwähnt, die zur christlichen Gemein- kündigt, daß dies »im Namen Jesu Chri-
schaft hinzugetan werden. Die Kommen- sti, des Nazoräers, den ihr gekreuzigt
tatoren sind sich nicht einig, ob es sich habt« geschehen sei. Gott habe Jesus
um die dreitausend handelt, die zu »aus den Toten . . . auferweckt«, und in
Pfingsten gerettet wurden. Jedoch sind seiner Macht wurde auch das Wunder
Frauen und Kinder auf keinen Fall einge- vollbracht. Die Juden hatten in ihrem
schlossen. Glaubensgebäude keinen Platz für Jesus,
4,5.6 »Am folgenden Tag« hielt der deshalb »achteten sie ihn für nichts« und
religiöse Rat, auch unter dem Namen »kreuzigten« ihn. Doch »Gott hat ihn aus
Sanhedrin bekannt, einen Untersu- den Toten auferweckt« und in den Him-
chungsausschuß ab, um die Aktivitäten mel erhöht. Der verworfene Stein ist so
dieser öffentlichen Ruhestörer zu unter- »zum Eckstein« geworden, der Stein,
binden. Doch sie erreichten damit nur, ohne den das gesamte Gebäude zusam-
daß sie den Aposteln eine weitere Chan- menstürzt. Er ist unersetzbar. Ohne ihn
ce gaben, für Christus Zeugnis abzu- gibt es keine Errettung. Er ist der einzige
legen! Erlöser. »Kein anderer Name unter dem
Zu den »Obersten und Ältesten und Himmel ist den Menschen gegeben, in
Schriftgelehrten« gehörten: dem wir errettet werden« können.
1. Hannas, der Hohepriester, vor den Wenn wir die Verse 8-12 lesen, so las-
der Herr zunächst geführt worden sen Sie uns daran denken, daß diese Wor-
war. Er hatte das Amt des Hohenprie- te von dem gleichen Mann gesprochen
ster früher einmal innegehabt, doch wurden, der dreimal den Herrn unter

500
Apostelgeschichte 4

Fluchen und Verwünschungen verleug- besiegen kann. Doch das Argument eines
net hatte. erlösten Lebens kann man nicht angreifen.
4,13 Religiös verkrustete Menschen »Und da sie den Menschen, der geheilt wor-
können einen enthusiastischen, lebendi- den war, bei ihnen stehen sahen, konnten sie
19)
gen Prediger nicht tolerieren, der durch nichts dagegen sagen.«
das Wort Gottes Herzen und Leben ver- Um ihr Vorgehen zu besprechen,
ändert. Die Führer dieser Religion sind schickten sie Petrus und Johannes für
verblüfft, daß »ungelehrte und ungebil- eine Zeit nach draußen. Ihr Dilemma be-
dete Leute« die Menschen so beeinflus- stand in folgendem: Sie konnten die Apo-
sen, während sie sich in all ihrer Weisheit stel kaum für ein wohltätiges Werk be-
»nicht über Fleisch und Blut erheben strafen. Doch wenn sie diese Fanatiker
können«. nicht stoppten, würden sie ihre eigene
Im NT gibt es keine Unterscheidung in Religion gefährden, weil sich immer
Geistlichkeit und Laienschaft. Diese Unter- mehr Menschen dem neuen Glauben zu-
scheidung ist ein Relikt aus der römisch- wenden würden. Deshalb entschieden sie
katholischen Kirche. Johannes Hus kämpfte sich, Petrus und Johannes zu verbieten,
und starb in Böhmen für die Lehre von der mit Menschen privat über Jesus zu spre-
Priesterschaft aller Gläubigen, und das Sym- chen oder ihn öffentlich zu verkündigen.
bol der Hussiten ist bis zum heutigen Tag der 4,19.20 »Petrus und Johannes« konn-
Kelch über der aufgeschlagenen Bibel. Diese ten solch einer Beschränkung nicht
Wahrheit der königlichen Priesterschaft, daß zustimmen. Sie waren in erster Linie
jeder Gläubige ein Zeuge ist, war die Dyna- »vor Gott« verantwortlich, nicht vor
mik und Kraft der ersten Gemeinde. Ohne die Menschen. Wenn die Führer ehrlich
Hilfe moderner Ausrüstung und Verkehrs- gewesen wären, hätten sie dies zugeben
mittel, ohne Übersetzung und Verbreitungs- müssen. Die Apostel waren Zeugen der
möglichkeit der Bibel erschütterte das Evan- Auferstehung und Himmelfahrt Christi.
gelium der Gnade Gottes das gesamte Römi- Sie hatten Tag für Tag seine Lehre gehört.
sche Reich, bis es sogar im kaiserlichen Haus- Sie waren verantwortlich, dafür Zeugnis
halt Heilige gab. Gott beruft uns zu diesem abzulegen, daß Jesus Christus ihr Herr
18)
frühen Christentum zurück. und Heiland war.
Der Sanhedrin war durch »die Frei- 4,21.22 Auf welch schwachem Posten
mütigkeit des Petrus und Johannes« er- die religiöse Obrigkeit stand, sieht man
staunt. Sie hätten sie gerne als ungebilde- an der Tatsache, daß sie die Apostel nicht
te und unwissende Fischer aus Galiläa bestrafen konnte, denn alles »Volk« wuß-
abgetan. Doch in ihrer Disziplin, in ihrem te, daß ein gnädiges Wunder geschehen
mit Kraft ausgerüsteten Leben und ihrer war. Der Geheilte, der »mehr als vierzig
Furchtlosigkeit war etwas, daß sie an die Jahre alt« war, war sehr bekannt, weil
Verhandlung Jesu erinnerte. Sie schrieben sein bedauerlicher Zustand so lange
den Mut der Apostel der Tatsache zu, öffentlich zur Schau gestanden hatte.
»daß sie« in der Vergangenheit »mit Jesus Deshalb konnte der Sanhedrin die ange-
gewesen waren«, doch die wahre klagten Apostel nur unter weiteren Dro-
Erklärung war, daß sie in diesem Augen- hungen entlassen.
blick mit dem Geist Gottes erfüllt waren. 4,23 Mit dem Instinkt der freien Kin-
4,14-18 Außerdem beschämte es den der Gottes gingen die Apostel sofort »zu
Sanhedrin, daß der Geheilte dort im den Ihren«, sobald die Behörden sie »ent-
Vorhof war. Es war nicht möglich zu lassen« hatten. Sie suchten und fanden
bestreiten, daß ein Wunder stattgefun- Gemeinschaft »mit der erwartungsfro-
den hatte. hen, versammelten Herde, deren einzi-
J. H. Jowett schreibt: ges Verbrechen Christus darstellte«. So
Menschen mögen dir in Diskussionen ist es in allen Zeitaltern bezeichnend für
mehr als gewachsen sein. Es mag sein, daß den Charakter eines Christen, wo er
man dich in intellektueller Hinsicht leicht Gemeinschaft sucht.

501
Apostelgeschichte 4

4,24-26 Sobald die Heiligen »gehört« 4,29.30 Nachdem sie ihr Vertrauen
hatten, was geschehen war, riefen sie zu auf Gottes überlegene Macht zum Aus-
Gott im Gebet. Sie redeten Gott mit druck gebracht haben, bringen die Chri-
einem Wort an, das »absoluter Herr- sten drei konkrete Bitten vor:
scher« bedeutet, ein Wort, welches im NT 1. »Sieh an ihre Drohungen.« Sie wag-
nur selten verwendet wird, und priesen ten nicht, Gott vorzuschreiben, wie er
ihn zunächst als Schöpfer aller Dinge diese Bösewichte bestrafen sollte,
(der aus diesem Grund allen Geschöpfen sondern überließen diese Angelegen-
überlegen ist, die nun Seine Wahrheit heit ganz ihm.
bekämpften). Dann machten sie sich die 2. »Gib deinen Knechten, . . . alle Frei-
Worte Davids in Psalm 2 zu eigen, in mütigkeit.« Ihre persönliche Sicher-
denen er durch die Leitung des Heiligen heit war nicht wichtig. Das Ziel war
Geistes über den Widerstand der Regie- die furchtlose Predigt des Wortes.
rungsmächte »gegen deinen heiligen 3. »Strecke deine Hand aus zur Hei-
Knecht Jesus« berichtet. In Wahrheit lung.« Die ersten Evangeliums-
bezieht sich der Psalm auf die Zeit, zu predigten wurden von Gott durch
der Christus sein Reich aufrichten wird, »Zeichen und Wunder« bestätigt, die
und »Könige . . . und . . . Fürsten« dies zu im »Namen deines heiligen Knech-
vereiteln suchen. Doch die ersten Chri- tes Jesus« vollbracht wurden. Hier
sten erkannten, daß die Situation ihrer wird Gott gebeten, den Dienst der
Tage ganz ähnlich war, und so wandten Apostel in dieser Weise weiter zu
sie diese Worte auf ihre eigenen Umstän- bestätigen.
de an. Wie einmal gesagt wurde: »Sie 4,31 »Als sie gebetet hatten, bewegte
zeigten echte Geistesleitung in der göttli- sich die Stätte, wo sie versammelt wa-
chen Fertigkeit, die Worte der Heiligen ren« – der sichtbare Ausdruck der geist-
Schrift in ihre Gebete einzuflechten.« lichen Macht, die hier anwesend war.
4,27.28 Nun deuten sie in ihrem »Sie wurden alle mit dem Heiligen Geist
Gebet die Anwendung des Psalmzitates erfüllt«, was ihren Gehorsam gegenüber
an. In Jerusalem hatten sich die Römer Gott zeigt, daß sie im Licht wandelten
und die Juden gegen Gottes »heiligen und ihm ganz hingegeben lebten. Sie
20)
Knecht Jesus . . . versammelt«. »Hero- fuhren fort, »das Wort Gottes mit
des« steht hier für die Juden, während Freimütigkeit zu reden«, eine deutliche
»Pilatus« die Heiden vertritt. Doch gibt Antwort auf ihr Gebet in Vers 29.
es in Vers 28 einen überraschenden Siebenmal wird in der Apostelge-
Schluß: Man würde erwarten, daß es hier schichte erwähnt, daß Menschen mit
heißt, daß diese Regierenden sich ver- dem Heiligen Geist erfüllt oder voll des
sammelt haben, um ihre bösen Pläne Geistes sind. Man beachte den jeweiligen
durchzuführen. Doch heißt es hier, daß Zweck bzw. das Ergebnis:
sie sich »versammelt« hätten, um »alles 1. um zu reden (2,4; 4,8 und hier)
zu tun, was« Gottes »Hand und« sein 2. zum Dienst (6,4)
»Ratschluß vorherbestimmt hat, daß es 3. zum Hirtenamt (11,24)
geschehen sollte«. 4. zur Ermahnung (13,9)
Matheson erklärt hierzu: 5. zum Sterben (7, 55).
Es geht hier darum, daß ihre Bemühun- 4,32-35 Wenn Herzen vor Liebe zu
gen, dem göttlichen Willen entgegenzuhan- Christus brennen, dann werden sie auch
deln, sich als Bumerang erweisen wird . . . Sie zur Liebe untereinander bewegt. Diese
hatten sich in einem Kriegsrat gegen Christus Liebe zeigt sich im Geben. So erwiesen
versammelt, doch unbewußt unterzeichneten die frühen Christen die Echtheit ihres
sie einen Vertrag zur Verkündigung der Glaubenslebens in Christus auch darin,
Herrlichkeit Christi . . . unser Gott unter- daß sie eine Gütergemeinschaft hatten.
drückt die Stürme nicht, die sich gegen ihn Statt selbstsüchtig am Privateigentum
21)
erheben, er reitet sie und wirkt durch sie. festzuhalten, waren sie der Ansicht, daß

502
Apostelgeschichte 4 und 5

ihr Eigentum der gesamten Gemein- eine bemerkenswerte Kraft und Anzie-
schaft gehörte. Wann immer jemand »be- hung schenkt.
dürftig« war, verkauften sie »Äcker oder Viele argumentieren, daß dieses Teilen
Häuser« und brachten den Erlös den der Güter nur ein zeitweiliger Abschnitt
Aposteln, damit sie ihn verteilen konn- der ersten Gemeinde war und kein Bei-
ten. Es ist hier wichtig zu sehen, daß sie spiel für uns darstellt. Solch eine Argu-
»zuteilten«, wenn ein »Bedürfnis« gege- mentation stellt nur unsere eigene geistli-
ben war. Man verteilte nicht willkürlich che Armut bloß. Wenn wir die Herr-
einen gleichen Anteil an jeden. lichkeit von Pfingsten in unseren Herzen
F. W. Grant erklärt: tragen würden, dann würde unser Leben
Man kannte es nicht, daß man generell auch die Früchte von Pfingsten tragen.
sein Gut abgab, statt dessen herrschte eine Ryrie weist auf Folgendes hin:
Liebe, die kein Zurückhaltung kannte, wenn Wir haben es hier nicht mit einem
jemand in Not war. Aus dem Instinkt ihres »christlichen Kommunismus« zu tun. Der
Herzens heraus sahen sie, daß ihr wirklicher Verkauf des Eigentums war völlig freiwillig
Reichtum woanders lag, nämlich in den (V. 34). Das Recht auf Privateigentum wur-
22)
Gefilden, in die Christus auferstanden war. de nicht aufgehoben. Die Gemeinschaft
Ein wenig sarkastisch, doch heute lei- bestimmte nicht über das Geld, solange es
der viel zu oft wahr ist die moderne Pa- nicht freiwillig den Aposteln übergeben wor-
rallele, die F. E. Marsh gezogen hat: den war. Die Verteilung wurde nicht gleich-
Jemand hat einmal gesagt, als er die frühe mäßig vorgenommen, sondern nach den
Gemeinde mit unserem heutigen Christen- Bedürfnissen. Das sind absolut keine kom-
tum verglich: »Ist es nicht ein erschreckender munistischen Prinzipien. Das ist christliche
24)
Gedanke, daß, wenn der Evangelist Lukas Nächstenliebe auf ihre schönste Art.
unser heutiges statt dem ersten Christentum Man beachte die beiden Merkmale
beschreiben würde, die Verse 4,32-35 der einer großen Gemeinde: Große Kraft und
Apostelgeschichte so lauten müßten: . . . Und große Gnade. Vance Havner listet noch
die Menge derer aber, die sich zum Christen- vier andere solcher Merkmale auf: große
tum bekannten, war hartherzig und hatte Ehrfurcht (5,5.11); große Verfolgung
Steine statt Seelen, und jeder sagte von aller (8,1); große Freude (8,8; 15,3); und eine
seiner Habe, daß sie sein eigen sei: und alles große Anzahl Gläubiger (11,21).
wurde nach der neuesten Mode eingerichtet. 4,36.37 Diese Verse stellen eine Ver-
Und mit großer Kraft gaben sie Zeugnis von bindung und Einleitung zu Kapitel 5 dar.
den Attraktionen dieser Welt, und große Die Großzügigkeit von Barnabas wird in
Selbstsucht war auf ihnen allen. Und es gab Kontrast zur Heuchelei des Ananias ge-
viele unter ihnen, denen die Liebe fehlte, denn setzt. Als »Levit« hatte »Joseph, . . . Barn-
soviele Besitzer von Äckern oder Häusern abas genannt« eigentlich kein Land zum
waren, kauften sie neue hinzu und gaben Eigentum. Der Herr war das Erbe des
manchmal einen kleinen Teil davon für einen Leviten. Wie und warum er Land erwor-
guten Zweck, damit ihre Namen in den Zei- ben hatte, wissen wir nicht. Doch wir
tungen stünden, und jedem wurde soviel Lob wissen, daß das Gesetz der Liebe so
23)
zugeteilt, wie ihn verlangte.« mächtig im Leben dieses »Sohnes des
Ein Leben, das dem Herrn wirklich Trostes« wirkte, daß er das Land »ver-
hingegeben ist, hat eine geheimnisvolle kaufte« und »das Geld . . . brachte . . .
Anziehungskraft. Deshalb ist es kein und es zu den Füßen der Apostel« nie-
Zufall, daß wir in Vers 33 lesen: »Und mit derlegte.
großer Kraft legten die Apostel das 5,1-4 Wenn Gott Großes tut, dann ist
Zeugnis von der Auferstehung des Satan schnell zur Hand, um hier gegen-
Herrn Jesus ab; und große Gnade war auf zuarbeiten, Menschen zu korrumpieren
ihnen allen.« Es scheint, daß Gott, wenn und um sie zu kämpfen. Doch wo es
er Menschen findet, die gewillt sind, ihm echte geistliche Macht gibt, wird Heu-
ihr Eigentum zu geben, er ihrem Zeugnis chelei und Betrug schnell erkannt.

503
Apostelgeschichte 5

Ananias und Saphira waren wahr- leicht haben wir hier auch die Erfüllung
scheinlich von der Großzügigkeit von der Verheißung unseres Herrn: »Wenn
Barnabas und anderen bewegt. Vielleicht ihr jemandem die Sünden . . . behaltet,
wünschten sie sich, sich das Lob der sind sie ihm behalten« (Joh 20,23). Man
Menschen durch einen ähnlichen Akt der sieht dies weiterhin in der Fähigkeit des
Nächstenliebe zu verdienen, und des- Paulus, einen sündigen Christen zum
halb »verkauften« sie »ein Gut« und gab Verderben des Fleisches dem Satan zu
einen Teil des Erlöses an die Apostel. Ihre übergeben (1. Kor 5,5). Es gibt keinen
Sünde bestand darin, daß sie vorgaben, Grund anzunehmen, daß diese Voll-
das gesamte Geld zu geben, während sie macht über die Zeit der Apostel hinaus
nur einen Teil gaben. Niemand hatte sie ausgedehnt wurde.
überhaupt aufgefordert, das Gut zu ver- Man kann sich das Gefühl der Ehr-
kaufen. »Nachdem es verkauft war«, furcht vorstellen, das die Gemeinde nun
waren sie noch immer nicht verpflichtet, erfüllte, und alle anderen, die vom Tod
alles auch zu spenden. Doch sie gaben vor dieser beiden hörten.
alles zu geben, während sie in Wirklich- 5,12-16 Nach dem Tod von Ananias
keit einen Teil für sich behielten. fuhren die Apostel fort, Wunder zu tun,
Petrus klagte Ananias an, daß er »den wenn die Menschen sich »in der Säulen-
Heiligen Geist belogen« habe und »nicht halle Salomos« um sie versammelten.
Menschen«. Indem er »den Heiligen Die Gegenwart und Allmacht Gottes war
Geist belogen« hatte, hatte er auch »Gott« so intensiv, daß sich die Menschen nicht
belogen, weil der Heilige Geist Gott ist. leichtfertig mit ihnen zusammentun oder
5,5.6 An diesem Punkt »fiel« Ananias Glauben heucheln konnten. Und doch
tot »hin« und wurde von den jungen wurden die Apostel vom einfachen
Männern hinausgetragen, um begraben »Volk« gerühmt, und viele nahmen ihren
zu werden. Das war eine schreckliche Tat Platz als gläubige Jünger Jesu ein. Die
der strafenden Hand Gottes an der Menschen trugen »die Kranken auf die
frühen Kirche. Es geht hier nicht um die Straßen hinaus«, damit der Schatten von
Frage der Erlösung von Ananias oder Petrus sie »überschatten möchte«. Jeder
seine ewige Sicherheit. An seinem Fall konnte sehen, daß das Leben der Apostel
zeigte Gott sein Mißfallen am ersten Auf- echt und vollmächtig war und daß sie
kommen der Sünde in seiner Gemeinde. Kanäle waren, durch die Gott andere
»Wie ein Kommentator es ausgedrückt Menschen segnen wollte. Auch aus den
hat«, zitiert Richard Bewes, »›Entweder Vorstädten kamen »Kranke und von
mußte Ananias oder der Geist Gottes die unreinen Geistern Geplagte, die alle
Gemeinde verlassen.‹« So rein war die geheilt wurden«.
Reinheit der ersten christlichen Gemein- Aus Hebräer 2,4 geht hervor, daß dies
schaft, daß eine solche Lüge unter ihnen Gottes Methode war, den Dienst der
nicht bestehen konnte. Apostel zu beglaubigen. Mit der Vervoll-
5,7-11 »Etwa drei Stunden« später ständigung des Neuen Testaments in
erschien Saphira, und Petrus klagte sie schriftlicher Form wurden solche »Zei-
an, mit ihrem Ehemann »den Geist des chen« überflüssig. Wenn wir uns heutige
Herrn« versucht zu haben. Er erzählte ihr sogenannte »Heilungsveranstaltungen«
vom Schicksal ihres Ehemannes und sag- betrachten, so sollte es uns nachdenklich
te ihr dasselbe Schicksal voraus. »Sie fiel machen, daß alle Menschen geheilt wur-
aber sofort zu seinen Füßen nieder und den, die zu den Aposteln gebracht wurden.
verschied.« Sie wurde ebenso wie ihr Das gilt für unsere heutigen Glaubens-
Mann zum Begräbnis hinausgetragen. heiler nicht.
Die Vollmacht des Petrus, das Gericht 5,17-20 Echter Dienst im Heiligen
über dieses Paar auszusprechen, ist ein Geist führt unausweichlich zu Bekehrun-
Beispiel für die besonderen Wunderga- gen einerseits und Widerstand anderer-
ben, die die Apostel erhalten hatten. Viel- seits. So war es auch in diesem Fall. »Der

504
Apostelgeschichte 5

Hohepriester« (wahrscheinlich Kaiphas) einen Boten unterbrochen, der ankün-


und seine sadduzäischen Freunde waren digte, daß die Entflohenen zurück an
erbost, daß diese fanatischen Jesusjünger ihrem alten Platz »im Tempel waren«
einen solchen Einfluß auf das Volk hat- und das Volk lehrten! Wir müssen ihren
ten. Sie fürchteten jede Bedrohung ihrer Mut bewundern, und wir müssen diese
ausschließlichen Rolle als religiöse Füh- Fähigkeit der ersten Gemeinde wiederer-
rer, und verachteten insbesondere die langen, bis aufs Äußerste für unsere
Predigt von einer leiblichen Auferste- Überzeugung einzustehen.
hung, die sie natürlich voller Vehemenz 5,26 Die »Diener« wandten keine
leugneten. Gewalt an, als sie nun die Apostel vor
Da sie kein anderes Mittel als das der den Rat brachten. »Sie fürchteten das
Gewalt gegen »die Apostel« hatten, nah- Volk«, daß sie von ihm gesteinigt werden
men sie sie fest und »setzten sie in öffent- könnten, wenn sie sich gewaltsam an
lichen Gewahrsam«. In dieser Nacht diesen Jesusjüngern vergriffen hätten,
»führte . . . ein Engel des Herrn . . . sie die jetzt vom gewöhnlichen Volk so
hinaus« aus dem Gefängnis und gab geachtet wurden.
ihnen den Auftrag: »Geht und stellt euch 5,27.28 Der Hohepriester führte das
hin und redet im Tempel zu dem Volk Wort. »Wir haben euch streng geboten, in
alle Worte dieses Lebens!« Lukas er- diesem Namen nicht zu lehren.« Er ver-
wähnt dieses wunderbare Eingreifen mied es absichtlich, den Namen unseres
durch einen Engel ohne besonderes Er- Herrn Jesus Christus in den Mund zu
staunen. Wenn die Apostel vielleicht nehmen. »Ihr habt Jerusalem mit eurer
selbst erschrocken waren, so haben wir Lehre erfüllt.« Dies war ein unfrei-
jedoch keine Aufzeichnung darüber. williges Kompliment für die Effektivität
Der Engel bezeichnete den christli- des apostolischen Dienstes. »Ihr ›wollt
chen Glauben als »dieses Leben«. Es han- das Blut dieses Menschen auf uns brin-
delt sich hier eben nicht um ein Bekennt- gen‹.« Doch die Juden hatten das schon
nis oder eine Anzahl von Dogmen, son- getan, als sie schrieen: »Sein Blut komme
dern um ein Leben – das Auferstehungs- über uns und über unsere Kinder!«
leben, das der Herr Jesus allen schenkt, (Matth 27,25)
die auf ihn vertrauen. 5,29-32 In einem früheren Bericht
Bei Tagesanbruch waren die Apostel sahen wir, daß die Apostel um Freimut
wieder im »Tempel und lehrten«. In der zur Verkündigung baten. Da Gott ihnen
Zwischenzeit hatte der Hohepriester mit nun Mut gegeben hatte, konnten sie dar-
dem »Hohen Rat« (dem Sanhedrin) und auf bestehen, daß ihre Aufgabe war,
dem Senat (»die ganze Ältestenschaft«) »Gott mehr zu gehorchen als Menschen«.
ein Konklave gehalten und wartete dar- Sie erklären ganz einfach, daß Gott Jesus
auf, daß ihm die Gefangenen vorgeführt »auferweckt hat und daß Israel ihn
werden sollten. »ermordet« hat, indem es »ihn ans Holz«
5,22-25 Die verwirrten »Diener« hat- gehängt hat. Doch dieser Gott hat ihn
ten dem Gericht zu berichten, daß »im »durch seine Rechte zum Führer und
Gefängnis« alles in Ordnung war – nur Heiland erhöht«. Als solcher war er
die Gefangenen fehlten! »Die Türen« bereit, »Israel Buße und Vergebung der
waren »mit aller Sorgfalt verschlossen«, Sünden zu geben«. Zum Schluß fügen
und »die Wachen« standen auf ihrem die Apostel noch ein Argument an, näm-
Posten, doch die Gefangenen waren weg. lich daß sie »Zeugen von diesen Dingen«
Ein wahrlich niederschmetternder Be- seien, ebenso wie »der Heilige Geist, den
richt! »Was wird daraus nur werden?« Gott denen gegeben hat, die ihm gehor-
fragte sich »der Hauptmann des Tempels chen«, indem sie an seinen Sohn glauben.
wie auch die Hohenpriester«: »Wie weit Die Worte »Gott . . . hat Jesus aufer-
wird diese Volksbewegung noch ge- weckt« kann sich sowohl auf seine
hen?« Da wurden ihre Fragen durch Menschwerdung als auch auf seine Auf-

505
Apostelgeschichte 5

erstehung beziehen. Wahrscheinlich ist 5,40 Diese Logik verstanden die


jedoch, daß es hier darum geht, daß er Obersten, und deshalb riefen sie »die
ihn durch die Menschwerdung »er- Apostel«, ließen sie schlagen »und gebo-
weckt« hat, damit er Israel zum »Hei- ten ihnen, nicht im Namen Jesu zu reden,
land« wurde. und entließen sie«. Die Prügelstrafe war
5,33-37 Durch die Worte dieser »le- sinnlos und unrechtmäßig, die unver-
bendigen Gewissen« wurden die Ober- nünftige Reaktion bigotter Herzen auf
25)
sten der Juden überführt – so sehr, daß die Wahrheit Gottes. Das Gebot, das sie
sie »ratschlagten, sie umzubringen«. An hinzufügten war dumm und vergebens,
diesem Punkt griff Gamaliel ein. Er war sie hätten ebensogut der Sonne verbieten
einer der herausragendsten Gelehrten können zu scheinen, wie den Jüngern zu
seiner Tage, und Lehrer von Saulus von verbieten, »im Namen Jesu zu reden«.
Tarsus. Sein Rat beweist nicht, daß er 5,41.42 Die Züchtigung hatte zwei
Christ gewesen ist oder den Christen unerwartete Folgen bei den Aposteln.
wohlgesonnen war. Er beruhte auf rein Zunächst freuten sie sich zutiefst, »daß
menschlicher Weisheit. Nachdem die sie gewürdigt worden waren, für den
26)
Apostel aus dem Saal geführt worden Namen Schmach zu leiden«, den sie so
waren, erinnerte er den Sanhedrin zu- liebten. Zweitens hinterließ sie erneuten
nächst daran, daß diese Bewegung Eifer und Hingabe, »jeden Tag im Tempel
sicherlich bald zugrunde gehen würde, und in den Häusern zu lehren und Jesus
wenn sie nicht »aus Gott« wäre. Er führt als den Christus zu verkündigen«.
zwei Beispiele für diesen Grundsatz an: So hatte Satan wieder einmal sich
1. »Theudas«, den selbsternannten Füh- selbst eine Falle gestellt.
rer »von etwa vierhundert Männern«,
der »getötet« wurde und dessen
Männer »zerstreut« wurden und Exkurs über das Verhältnis des
2. »Judas« den »Galiläer«, ein anderer Christen zur Obrigkeit
Fanatiker, der einen fehlgeschlagenen Als die ersten Christen das Evangelium
Aufstand unter den Juden anzettelte, verbreiteten, war es unausweichlich, daß
doch ebenso »umkam« und dessen sie mit den Behörden in Konflikt gerie-
Anhänger ebenfalls »zerstreut« wur- ten, insbesondere mit den religiösen Füh-
den. rern, die zu dieser Zeit beachtliche Zu-
5,38.39 »Wenn« diese christliche Reli- ständigkeit bei öffentlichen Angelegen-
gion nicht »aus Gott« wäre, dann wäre es heiten besaßen. Die Gläubigen waren
das beste, sie zu »lassen«, denn bald wür- darauf vorbereitet und reagierten mit
de sich die Sache von selbst erledigen. Haltung und Würde.
Wenn man dagegen ankämpfen wurde, Im allgemeinen war ihr Vorgehen so
würde man die Anhänger nur entschlos- gestaltet, daß sie ihre Oberigkeit respek-
sener machen, zu überleben. (Dieses tierten und ihr gehorchten, weil sie von
Argument hat sich jedoch nicht als wahr Gott eingesetzt und Dienerin Gottes ist,
erwiesen. Viele gottlose Institutionen um das Allgemeinwohl sicherzustellen.
bestehen seit Jahrhunderten. Sie haben Deshalb entschuldigte sich Paulus sofort,
sogar mehr Anhänger gewonnen als die als er, ohne es zu wissen, den Hohenprie-
Wahrheit. Doch in Gottes Zeitrechnung ster ermahnte und dafür zur Rechen-
gilt dieses Argument, wenn auch nicht in schaft gezogen wurde, indem er 2. Mose
der Menschen Zeitrechnung.) 22,28 zitierte: »Von dem Obersten deines
Andererseits, so fuhr Gamaliel fort, Volkes sollst du nicht schlecht reden«
»wenn« diese Bewegung »aus Gott« ist, (Apg 23,5).
dann würden sie »sie nicht zugrunde Doch wenn menschliche Gesetze den
richten können« und sie würden sich in Geboten Gottes entgegenstanden, ge-
der unangenehmen Lage befinden, »ge- horchten die Christen der Obrigkeit nicht
gen Gott« zu »streiten«. und erlitten lieber die Konsequenzen,

506
Apostelgeschichte 5 und 6

wie immer diese auch aussehen moch- Gemeinde, die keinerlei andere Versor-
ten. Als zum Beispiel Petrus und Johan- gungsmöglichkeit hatten, durch tägliche
nes verboten wurde, das Evangelium zu Gaben zu unterhalten. Einige der Gläubi-
predigen, antworteten sie: »Ob es vor gen, die vor ihrer Bekehrung griechisch-
Gott recht ist, auf euch mehr zu hören als spechende Juden gewesen waren, be-
auf Gott, urteilt selbst! Denn es ist uns klagten sich, »weil ihre Witwen« nicht
unmöglich, von dem, was wir gesehen mit den Witwen der »Hebräer« (d. h.
und gehört haben, nicht zu reden« ehemaligen Juden aus Jerusalem und
(4,19.20). Und als Petrus und die Apostel Judäa) gleichbehandelt wurden.
festgenommen wurden, weil sie noch 6,2.3 »Die Zwölf« erkannten, daß mit
immer in Jesu Namen predigten, antwor- dem Wachstum der Gemeinde Vorkeh-
tete Petrus: »Man muß Gott mehr gehor- rungen getroffen werden mußten, um
chen als Menschen« (5,29). diese weltlichen Aufgaben durchzufüh-
Wir haben nicht den leisesten Hin- ren. Sie selbst wollten den Dienst des
weis darauf, daß sie je versucht haben, »Wortes Gottes« nicht vernachlässigen,
die Regierung zu stürzen. Trotz Verfol- um solche Finanzangelegenheiten zu re-
gung und Unterdrückung wünschten sie geln, deshalb gaben sie der Gemeinde
ihren Herrschern nur das Beste (Apg den Rat, daß sie »sieben Männer« aus-
26,29). wählen sollte, die geistlich anerkannt
Es ist kaum nötig zu erwähnen, daß waren und die die weltlichen Aufgaben
sie sich nie soweit erniedrigen würden, der Gemeinde regeln konnten.
irgendwelche unehrlichen Praktiken zur Obwohl diese Männer in der Bibel
Erlangung von Vorteilen durch ihre nicht »Diakone« genannt werden, ist es
Regierung zu erlangen. Der Statthalter doch nicht unvernünftig, sie sich als sol-
Felix z. B. wartete vergeblich auf ein Be- che vorzustellen. In dem Ausdruck »die
stechungsgeld von Paulus (Apg 24,26). Tische bedienen« bildet das gr. Wort für
Jedoch waren sie nicht der Meinung, »bedienen« die Verbform des Hauptwor-
daß es ihrer christlichen Berufung wider- tes, von dem wir das deutsche Wort
sprechen könnte, wenn sie ihre Bürger- »Diakon« ableiten, deshalb war es, wört-
rechte nutzten (Apg 16,37; 21,39; 22,25- lich übersetzt, ihre Aufgabe, an den
28; 23,17-21; 25,10.11). Tischen zu »diakonieren«.
Doch sie selbst nahmen nicht an der Hier wird eine dreifache Qualifikati-
Politik ihrer Tage teil. Warum? Dafür on für diese Aufgabe genannt.
erhalten wir keine genauere Erklärung. 1. »Von gutem Zeugnis« ehrenhaft
Doch soviel wird deutlich: Sie hatten ein 2. »Voll Geist« geistlich
Anliegen – das Evangelium von Christus 3. »voll Weisheit« praktisch
zu predigen. Sie gaben sich dieser Aufga- Eine ausführlichere Liste der Qualifi-
be hin, ohne sich ablenken zu lassen. Sie kation für das Diakonenamt steht in
müssen der Ansicht gewesen sein, daß 1. Timotheus 3,8-13.
das Evangelium die Lösung für die Pro- 6,4 Die Apostel wollten ganz »im
bleme des Menschen darstellt. Diese Gebet und im Dienst des Wortes verhar-
Überzeugung war so stark, daß sie nicht ren«. Man beachte hier die Reihenfolge:
mit solch untergeordneten Aufgaben wie zuerst das »Gebet« und dann erst der
der Politik zufrieden sein konnten. »Dienst des Wortes«. Ihnen war es ein
Anliegen, zuerst mit Gott über Menschen
6,1 Wenn Satan keinen Erfolg durch zu sprechen, bevor sie mit Menschen
Angriffe von außen hat, wird er versu- über Gott sprachen.
chen, durch Uneinigkeit von innen zu 6,5.6 Wenn wir nach den Namen der
siegen. Ein Beispiel dafür sehen wir in sieben Männer urteilen, die gewählt
diesen Versen. wurden, waren die meisten von ihnen
In den ersten Tagen der Gemeinde griechischsprechende Juden, ehe sie sich
war es üblich, die armen Witwen der bekehrten. Das war sicherlich eine liebe-

507
Apostelgeschichte 6

volle Konzession an die Gruppe der Römern befreit wurden. Kyrene war ein
Gläubigen, die sich beklagt hatte. Da- Stadt in Afrika, aus der einige Juden sich
nach konnte aus dieser Gruppe kein Vor- offensichtlich in Jerusalem angesiedelt
wurf der Übervorteilung mehr kommen. hatten. Die alexandrinischen Juden wa-
Wenn die Liebe Gottes die Herzen der ren aus dem ägyptischen Hafen glei-
Menschen erfüllt, dann siegt sie über chen Namens gekommen. Cilicien war
Selbstsucht und Kleinlichkeit. die südöstliche Provinz von Kleinasien,
Nur zwei dieser Diakone sind uns und Asia war eine Provinz Kleinasiens
wohlbekannt: Stephanus, der der erste und bestand aus drei Gebieten. Offen-
Märtyrer der Kirche wurde, und Philip- sichtlich gab es in Jerusalem und Umge-
pus, der Evangelist, der später das bung Gemeinschaften von Juden, die
Evangelium nach Samaria brachte, den aus diesen verschiedenen Orten stamm-
»Kämmerer aus Äthiopien« zu Christus ten.
führte, und Paulus in Cäsarea beher- 6,10-14 Es erwies sich, daß diese eifri-
bergte. gen Juden Stephanus nicht gewachsen
Nach dem Gebet drückten die Apo- waren, als sie mit ihm diskutierten. Seine
stel ihre Gemeinschaft mit den Gewähl- Worte und seine Vollmacht beim Spre-
ten aus, indem sie ihnen »die Hände auf- chen waren einfach unwiderstehlich. In
legten«. einem verzweifelten Versuch, ihn zum
6,7 Wenn wir diesen Vers zusammen Schweigen zu bringen, »stellten sie
mit den vorhergehenden Versen sehen, falsche Zeugen auf«, um Stephanus der
dann scheint hier angedeutet zu sein, Lästerung gegen »Mose und Gott« anzu-
28)
daß das Ergebnis der Diakonenwahl klagen.
dazu führte, daß das Evangelium sehr Schon bald stand er vor dem Sanhe-
gefördert wurde. Als »das Wort Gottes drin, angeklagt, gegen den Tempel »und
wuchs«, wurden viele »Jünger« zur Ge- das Gesetz« zu reden. Fälschlicherweise
meinschaft in Jerusalem hinzugetan, unterstellten sie ihm, gesagt zu haben,
»und eine große Menge« der jüdischen daß Jesus den Tempel »zerstören« werde
Priester wurde zu Nachfolgern des und und das gesamte Rechtssystem
Herrn Jesus. »verändern« wolle, das Mose Israel
6,8 Die Erzählung berichtet nun aus- »überliefert hat«.
27)
führlicher von Stephanus, einem Dia- 6,15 Der Sanhedrin hörte sich die Kla-
kon, der von Gott wunderbar gebraucht gen an, doch als die Mitglieder Stepha-
wurde, um Wunder zu tun und das Wort nus betrachteten, sahen sich nicht das
zu predigen. Er ist in der Apostelge- Gesicht eines Dämonen, sondern »eines
schichte der erste, der außer den Aposteln Engels Angesicht«. Sie sahen die geheim-
Wunder tut. War diese »Beförderung« zu nisvolle Schönheit eines Lebens, das voll-
einem höheren Dienst eine Folge seiner kommen dem Herrn hingegeben ist. Aus
Treue als Diakon? Oder war dies einfach ihm strahlte die Entschlossenheit, die
nur ein weiterer Dienst, den er zur selben Wahrheit zu verkünden. Er war ein
Zeit tat? Vom Text her können wir die Fra- Mensch, dem es mehr darum geht, was
ge unmöglich beantworten. Gott sagt, als was Menschen sagen wer-
6,9 Der Widerstand gegen den voll- den. Sie sahen in dem strahlenden
mächtigen Dienst des Stephanus kam Gesicht seines hingegebenen Anhängers
diesmal aus der Synagoge. Das waren etwas von der Herrlichkeit Christi
die Orte, an denen sich die Juden am Sab- widergespiegelt.
bat versammelten, um im Gesetz unter- In Kapitel 7 finden wir die gewaltige
wiesen zu werden. Die Synagogen wur- Verteidigungsrede des Stephanus. Er
den nach den Menschen genannt, die beginnt ganz ruhig mit einem Rückblick
sich dort versammelten. auf die jüdische Geschichte. Als er
Die »Libertiner« waren vielleicht jedoch fortschreitet, konzentriert er sich
Juden, die aus der Sklaverei bei den auf zwei Personen, Joseph und Mose,

508
Apostelgeschichte 6 und 7

die von Gott erweckt wurden, von Isra- 4. Gottes Voraussage der Knechtschaft
el abgelehnt und dann als Befreier und Israels in Ägypten und die schließli-
Erlöser erhöht wurden. Obwohl Ste- che Befreiung daraus (V. 6.7). Beide
phanus ihre Erfahrungen nicht direkt Teile dieser Vorhersage wurden
mit dem Geschehen um Christus ver- durch Männer herbeigeführt, die
knüpft, ist die Parallele nicht zu über- vom Volk abgelehnt worden sind:
sehen. Zum Schluß greift Stephanus Joseph (V. 9-19) und Mose (V. 20-36).
dann die Führer Israels an, daß sie dem Die in Vers 6 und 1. Mose 15,13
Heiligen Geist widerstehen würden, erwähnten »vierhundert Jahre«
den Gerechten ermordet hätten und das beziehen sich auf die Zeit, als die
Gesetz Gottes nicht halten würden. Ste- Juden in Ägypten unterdrückt wur-
phanus muß gewußt haben, daß sein den. Die vierhundertdreißig Jahre,
Leben auf dem Spiel stand. Um sich die in 2. Mose 12,40 und in Gala-
selbst zu schonen, hätte er nur eine kom- ter 3,17 erwähnt werden, sind die
promißbereite, beruhigende Rede füh- Zeitspanne von der Ankunft Jakobs
ren müssen. Doch er wollte lieber ster- mit seiner Familie in Ägypten bis
ben, als seine heilige Aufgabe zu verra- zum Auszug und der Gesetzesver-
ten. Wir sollten diesen Mut aufrichtig kündigung. Die Israeliten wurden in
bewundern! den ersten dreißig Jahren ihres Auf-
7,1-8 Der erste Abschnitt der Rede enthaltes in Ägypten nicht unter-
nimmt uns mit in die Anfangszeit des drückt, sondern sogar sehr großzügig
hebräischen Volkes. Es wird nicht klar, behandelt.
warum hier Abrahams Geschichte so 5. Der »Bund der Beschneidung«
ausführlich dargestellt ist. Ziel könne (V. 8a).
sein: 6. Die Geburt Isaaks, später Jakobs und
1. Zu zeigen, daß Stephanus mit dem dann der »zwölf Patriarchen (V. 8b).
Volk Israel vertraut ist und es liebt. Diese Erwähnung bringt die
2. Um zur Geschichte von Joseph und Geschichte nun auf Joseph, einen der
Mose überzuleiten, die beide Vorbil- zwölf Söhne Jakobs.
der dafür sind, wie Christus abge- 7,9-19 Von allen Vorbildern auf Jesus
lehnt wurde. im AT ist Joseph das deutlichste und
3. Zu zeigen, daß Abraham Gott in beliebteste, auch wenn er als solches in
rechter Weise verehrte, auch wenn der Bibel nicht genannt wird. Sicherlich
sein Gottesdienst nicht an einen haben die Juden zur Zeit des Stephanus
besonderen Ort gebunden war. (Ste- die scharfen Pfeile der Überführung
phanus war angeklagt gegen den gespürt, als sie hörten, wie Stephanus die
Tempel zu reden – «gegen die heili- einzelnen Schritte der Karriere Josephs
gen Stätte«.) nachzeichnete, und sie gleichzeitig daran
Die wichtigen Punkte der Geschichte denken mußten, was sie Jesus von Naza-
Abrahams sind: reth angetan hatten!
1. Seine Berufung durch Gott in »Meso- 1. Sie »verkauften« Joseph »nach Ägyp-
potamien« (V. 2.3). ten« (V. 9).
2. Seine Reise nach »Haran« und später 2. Der Abgelehnte kam in Ägypten zu
nach Kanaan (V. 4). Ehre und Macht (V. 10).
3. Gottes Verheißung des Landes an 3. Josephs Brüder wurden durch »eine
Abraham, obwohl der Patriarch Hungersnot« nach »Ägypten« getrie-
selbst nie etwas von dem Lande ben, doch sie erkannten ihren Bruder
besaß – wie durch den Kauf der Höh- nicht (V. 11.12).
le von Machpela als Grab bewiesen 4. »Beim zweiten Mal wurde Joseph
wird (V. 5). Die Erfüllung dieser Ver- von seinen Brüdern wiedererkannt.«
heißung liegt noch in der Zukunft So wurde der Abgelehnte zum Retter
(Hebr 11,13-40). seiner Familie (V. 13.14). Man beach-

509
Apostelgeschichte 7

te: Es scheint hier einen Widerspruch Stephanus war angeklagt worden,


zwischen den »fünfundsiebzig See- gegen Mose zu lästern (Kap. 6,11). Er
len«, die hier in Vers 14 angegeben beweist, daß das Volk Israel schuldig ist –
werden, und den siebzig zu bestehen, weil es diesen Mann, den Gott auser-
die in 1. Mose 46,27 angegeben wer- wählt hat, abgelehnt hat.
den. Stephanus zitiert hier die grie- Stephanus geht folgende Schritte des
chische Übersetzung von 1. Mose Lebens von Mose durch:
46,27 und 2. Mose 1,5, wo fünfund- 1. Geburt, Kindheit und Ausbildung in
siebzig angegeben werden. Im Ägypten (V. 20-22). Der Ausdruck
Hebräischen steht siebzig, doch deu- »mächtig in seinen Worten« kann sich
tet dieser Unterschied auf die Neben- auf seine Schriften beziehen, weil er
sache hin, daß es mehrere Arten gibt, selbst behauptete, nicht besonders
29)
Jakobs Familie zu zählen. wortgewandt zu sein (2. Mose 4,10).
5. Der Tod der Patriarchen und ihr 2. Seine erste Ablehnung durch seine
Begräbnis im Land Kanaan (V. 15.16). »Brüder«, als er einen von ihnen ge-
Eine weitere Schwierigkeit erhebt gen einen »Ägypter« verteidigte.
sich in diesem Vers. Hier heißt es, daß (V. 23-28). Man beachte Vers 25! Wie
»Abraham« eine Grabstätte »von den sehr erinnert uns das an die Ableh-
Söhnen Hemors« gekauft habe. In nung Christi durch sein eigenes Volk!
1. Mose 23,16.17 heißt es jedoch, daß 3. Sein Exil »im Land Midian« (V. 29).
Abraham die Höhle von Machpela in 4. Gottes Offenbarung an Mose im bren-
Hebron von den Söhnen Heths kauf- nenden »Dornbusch«, als er zu sei-
te. Jakob kaufte Land in Sichem von nem Volk zurückgesandt wurde
den Kindern Hamor (1. Mose 33,19). »nach Ägypten . . . um sie herauszu-
Es gibt mehrere Möglichkeiten der reißen« (V. 30-35).
Erklärung: 5. Er wurde zum Retter des Volkes
1. Abraham kann sowohl in Sichem als (V. 36).
auch in Hebron Land gekauft haben. 6. Seine Prophezeiung über den Mes-
Es kann sein, daß Jakob später das sias (V. 37). (»Wie mich« bedeutet
Grundstück in Sichem zurückgekauft »wie er mich erweckt hat«.)
hat. 7. Seine Rolle als Gesetzgeber »der
2. Stephanus kann den Namen Abra- Gemeinde in der Wüste« (V. 38).
hams für seinen Nachkommen Jakob 8. Mose wird zum zweiten Mal vom
gebraucht haben. Volk abgelehnt, als sie das goldene
3. Um der Kürze willen könnte Stepha- »Kalb« anbeteten (V. 39-41). Der Göt-
nus die beiden Käufe von Abraham zendienst Israels wird in Vers 42 und
und Jakob zu einem zusammengefaßt 43 näher beschrieben. Während sie
30)
haben. vorgaben, dem Herrn »Opfertiere«
4. Das Wachstum der Familie Jakobs in darzubringen, nahmen sie »das Zelt
Ägypten und ihre Sklaverei nach des Moloch mit«. Der Molochdienst
dem Tode Josephs (V. 17-19). Dies war eine der schrecklichsten Formen
bereitet uns natürlich auf den näch- antiken Götzendienstes. Sie beugten
sten Schritt in der Argumentations- sich auch »Räfan«, einem Sternen-
kette des Stephanus vor – die gott. Wegen dieser Sünde kündigte
Behandlung, die Mose durch sein Gott ihnen die Babylonische Gefan-
eigenes Volk erfuhr. genschaft an. In den Versen 42 und 43
7,20-43 Stephanus zeigt mutig auf, zitiert Stephanus die Lesart der Sep-
daß die Juden schon mindesten zweimal tuaginta von Amos 5,25-27. Deshalb
vorher schuldig wurden, ihre Retter heißt es, daß die Gefangenschaft
abgelehnt zu haben, die Gott ihnen »über Babylon hinaus« führe, statt
erweckt hatte, um sie zu befreien. Sein »über Damaskus hinaus«. Beides ist
zweites Beispiel ist Mose. jedoch wahr.

510
Apostelgeschichte 7

Die Geschichte wiederholt sich selbst. In nicht Gebäude es sind, die wirklich vor
jeder Generation finden wir die gleichen Vor- Gott zählen, sondern die moralische und
gänge. Die Menschen bleiben immer gleich. geistliche Verfassung des menschlichen
Wenn sie Gottes Botschaft hören, dann ver- Lebens (Jes 66,1.2). Er sucht nach Men-
stehen sie sie nicht (V. 25). Wenn sie gebeten schen mit zerbrochenen Herzen und sol-
werden, im Frieden mit ihm zu leben, wollen chen, die vor seinem Wort zittern.
sie nicht hören (27). Wenn ein gottgesandter 7,51-53 Die jüdischen Führer hatten
Befreier kommt, lehnen sie ihn ab (39). Wenn Stephanus angeklagt, gegen das Gesetz
sie aus einer schrecklichen Situation befreit zu sprechen. Er beantwortete die Ankla-
worden sind, dann wenden sie sich lieber an ge nun mit einer kurzen, gut ausge-
nutzlose Götzen anstatt an den gnädigen drückten Gegenklage.
Gott (41). So ist die menschliche Na- Sie waren die »Halsstarrigen und
tur – aufrührerisch, undankbar, töricht. Gott Unbeschnittenen an Herz und Ohren«.
bleibt derselbe. Der Gott, der zu Mose sprach, »Er tadelt sie, daß sie nicht das Israel
war derselbe, der schon zu seinen Vorfahren Gottes seien, sondern Heiden mit störri-
gesprochen hatte (V. 32). Dieser Gott hört, schen und unbeschnittenen Herzen und
wenn Menschen in Not sind (34). Er kommt, Ohren.« Sie waren Söhne ihrer »Väter«,
um zu befreien (34). Er führt sein Volk vom weil sie immer wieder »dem Heiligen
Tod ins Leben (36). Er gibt diejenigen ihren Geist« widerstrebten. Ihre »Väter« hatten
eigenen Gelüsten hin, die ihn willentlich die »Propheten . . . verfolgt, . . . welche
ablehnen (42). So ist unser großer die Ankunft« Christi »zuvor verkündig-
Gott – gnädig, mächtig, heilig. Er ist immer ten«. Und nun hatten sie noch »den
derselbe, was immer auch geschehen mag Gerechten« verraten und ermordet. Sie
(Mal 3,6). Für die Zuhörer des Stephanus waren das Volk, das das Gesetz nicht
war es eine Warnung, nicht mit Gott zu spie- gehalten hatte – das Volk, das dieses
len. Und wir haben hier auch die Versiche- Gesetz »durch Anordnung von Engeln
rung, daß jede Verheißung Gottes für immer empfangen« hatte.
31)
fest bestehen bleibt. Dazu war nichts mehr zu sagen! Man
7,44-46 Stephanus war angeklagt konnte einfach nichts mehr dazu sagen!
worden, gegen den Tempel geredet zu Sie hatten versucht, Stephanus in die
haben. Er antwortet, indem er sich auf Defensive zu drängen. Doch er wurde
die Zeit bezieht, als Israel das »Zelt des der Ankläger, und sie wurden zu schul-
Zeugnisses in der Wüste« besaß. Wäh- digen Angeklagten. Seine Botschaft war
rend dieser Zeit verehrte das Volk auch eines der letzten Worte Gottes an das
die Gestirne. Als Josua und die Israeliten Judentum, ehe das Evangelium zu den
»das Land« Kanaan in Besitz nahmen, Heiden hinausging.
und die heidnischen Einwohner ausge- 7,54-60 Als Stephanus öffentlich
trieben wurden, wurde »das Zelt« in das Zeugnis davon ablegte, daß er »die Him-
Land gebracht und blieb dort »bis zu den mel geöffnet« sehe, wollte der Mob ihm
Tagen Davids«. Die »Väter« hatten nicht länger zuhören. Sie schrien unbe-
»begehrt, . . . eine Wohnstätte zu finden herrscht, stürmten auf ihn los, schleppten
für den Gott Jakobs« und hatten so »Gna- ihn aus der Stadt und »steinigten ihn«.
de . . . vor Gott« gefunden. Wie zufällig verzeichnet der Heilige
7,47-50 Davids Verlangen, den Tem- Geist hier den Namen eines jungen Man-
pel zu bauen, wurde nicht erfüllt, »Salo- nes, der dabei stand, um die Oberkleider
mo aber baute ihm ein Haus«. der schwitzenden Mörder zu bewachen.
Obwohl der Tempel die Wohnstätte Sein Name war Saulus. Es ist, als ob der
Gottes bei seinem Volk war, war Gott Heilige Geist uns sagen wollte: »Merkt
doch nicht an dieses Gebäude gebunden. euch diesen Namen, dem werdet ihr
Das hat Salomo eindeutig festgestellt, als noch häufiger begegnen!«
der Tempel geweiht wurde (1. Kön 8,27). Der Tod des Stephanus glich dem
Auch Jesaja hatte das Volk gewarnt, daß unseres Herr in folgenden Punkten:

511
Apostelgeschichte 7 und 8

1. Er betete: »Herr Jesus, nimm meinen Mit den Worten »an jenem Tag«
Geist auf!« (V. 59). Jesus betete: beginnt ein neues Zeitalter. Der Tod des
»Vater, in deine Hände übergebe ich Stephanus scheint eine weitreichende
meinen Geist!« (Lk 23,46). »Verfolgung gegen die Gemeinde« aus-
2. Er betete: »Herr, rechne ihnen diese gelöst zu haben. Die Gläubigen »wurden
Sünde nicht zu!« (V. 60). Jesus betete: in die Landschaften von Judäa und
»Vater, vergib ihnen, denn sie wissen Samaria zerstreut«.
nicht, was sie tun!« (Lk 23,34). Der Herr hatte seine Jünger beauf-
Legen diese Tatsachen nicht nahe, tragt, sein Zeugnis zu Jerusalem zu
daß Stephanus durch die Beschäftigung beginnen, es über Judäa auszubreiten,
mit dem Herrn »verwandelt« wurde »in dann nach Samaria und schließlich bis an
dasselbe Bild von Herrlichkeit zu Herr- die Enden der Erde. Bis zu dieser Zeit
lichkeit, wie es vom Herrn, dem Geist, war das Zeugnis ausschließlich auf Jeru-
geschieht« (2. Kor 3,18)? salem beschränkt gewesen. Vielleicht
Nachdem er gebetet hatte, »entschlief hatten sie vor einer weiteren Ausbrei-
er«. Wenn das Wort »schlafen« im NT in tung selbst Angst gehabt. Nun wurden
Verbindung mit dem Tod gebraucht sie dazu durch die Verfolgung gezwun-
wird, dann bezieht es sich auf den Leib, gen.
nicht auf die Seele. Die Seele des Gläubi- »Die Apostel« selbst blieben in der
gen entfernt sich beim Tod, um bei Chri- Stadt. Wie Kelly ganz trocken anmerkt:
stus zu sein (2. Kor 5,8), der Leib wird »Diejenigen, die blieben, waren natürlich
dann als schlafend dargestellt. auch die lästigsten.«
Normalerweise war es den Juden Vom menschlichen Standpunkt aus
nicht erlaubt, jemanden hinzurichten, gesehen war es für die Gläubigen eine
dies war den römischen Besatzern vorbe- finstere Zeit. Ein Mitglied ihrer Gemein-
halten. Doch scheinen die Römer Aus- schaft war ermordet worden. Sie selbst
nahmen gemacht zu haben, wenn der wurden wie die Hasen gejagt. Doch vom
Tempel bedroht war. Stephanus war göttlichen Standpunkt aus gesehen sah
angeklagt gewesen, gegen den Tempel zu es überhaupt nicht finster aus. Ein Wei-
reden, und obwohl die Anklage grundlos zenkorn war in die Erde gefallen, und
war, wurde er von den Juden hingerich- unausweichlich mußte viel Frucht dar-
tet. Der Herr Jesus war auch angeklagt aus entstehen. Die Stürme der Verfol-
worden, gedroht zu haben, den Tempel gung versprengten die Samen des Evan-
zu zerstören (Mk 14,58), doch die Zeu- geliums an entfernte Orte, und wer
genaussagen widersprachen sich. konnte wissen, wie groß die Ernte einmal
sein würde?
II. Die Gemeinde in Judäa und 8,2 Die »gottesfürchtigen Männer«,
Samaria (8,1 – 9,31) die Stephanus begruben, werden hier
nicht mit Namen genannt. Vielleicht wa-
A. Der Dienst des Philippus in ren es Christen, die noch nicht aus Je-
Samaria (8,1-25) rusalem vertrieben waren. Oder es
8,1 Wieder führt der Geist Gottes den waren vielleicht einige fromme Juden,
Namen Saulus an. Hier werden große die an dem Märtyrer etwas gesehen hat-
seelische Veränderungen angekündigt. ten, was ihn in ihren Augen würdig
Äußerlich sollte seine Schreckensherr- machte, ein ordentliches Begräbnis zu
schaft weitergehen, doch seine Tage als erhalten.
Gegner des Christentums waren gezählt. 8,3 Wieder fällt der Name »Saulus«!
»Saulus aber willigte in« die Tötung des Mit ungezähmter Energie verfolgt er die
Stephanus ein, doch indem er das tat, »Gemeinde«, indem er hilflose Opfer aus
ebnete er den Weg dafür, daß er selbst ihren Häusern »schleppte . . . und sie ins
bald kein Erzfeind der Christen mehr Gefängnis überlieferte«. Wenn er nur Ste-
sein würde. phanus hätte vergessen könne – welch

512
Apostelgeschichte 8

eine Haltung, welch unerschütterliche Zauberer »mit Namen Simon«. Er selbst


Überzeugung, das Angesicht eines En- hatte durch seine erfolgreiche »Zauberei
gels! Er mußte diese Erinnerung unter- . . . vorher« viel Eindruck auf die Men-
drücken, und er versucht das, indem er schen in Samaria gemacht. Er machte
seine Angriffe gegen die Mitgläubigen sich sehr wichtig, und einige Menschen
des Stephanus richtete. waren wirklich der Überzeugung, daß er
8,4-8 Die Zerstreuung der Christen »die Kraft Gottes, die man die große
konnte ihr Zeugnis nicht verstummen nennt«, sei.
lassen. Überall »gingen« sie »umher«, 8,12.13 Als viele Menschen »Philip-
um die gute Nachricht von der Erlösung pus glaubten« und »getauft« wurden,
zu verbreiten. »Philippus«, der »Diakon« bezeugte »auch Simon«, daß er ein Gläu-
34)
aus Kapitel 6, wandte sich nach Norden biger sei, wurde getauft und folgte Phi-
32)
»in eine Stadt Samarias«. Er verkündig- lippus nach, weil ihn die »Wunder«, die
te nicht nur Christus, sondern tat auch er tat, faszinierten.
»Zeichen«. »Unreine Geister« wurden Aus dem Folgenden scheint hervor-
ausgetrieben, »und viele Gelähmte und zugehen, daß Simon nicht wiedergebo-
Lahme wurden geheilt«. Die Menschen ren war. Er bekannte lediglich, doch er
hörten auf das Evangelium und, wie besaß den Glauben nicht wirklich. Dieje-
nicht anders zu erwarten, war des Ergeb- nigen, die die Taufwiedergeburt lehren,
nis »große Freude«. haben ernsthafte Schwierigkeiten, diese
Die erste Gemeinde gehorchte den Stelle zu erklären. Simon war getauft
ausdrücklichen Anweisungen Jesu: worden, doch er war noch immer in sei-
Die Gläubigen gingen hinaus, wie nen Sünden.
Christus hinausgegangen war (Joh 20,21; Man beachte, daß Philippus »das
vgl. Apg 8,1-4). Evangelium vom Reich Gottes und dem
Sie verkauften ihr Eigentum und gab Namen Jesu Christi verkündigte«. Das
es den Armen (Lk 12,33; 18,22; vgl. »Reich Gottes« ist die Sphäre, in der Got-
Apg 2,45; 4,34). tes Herrschaft anerkannt wird. Zur Zeit
Sie verließen Vater, Mutter, Häuser ist der König abwesend. Statt eines wört-
und Äcker, um in der ganzen Welt das lichen irdischen Reiches gibt es ein geist-
Evangelium zu verkünden (Matth 10,37; liches, unsichtbares Reich im Leben aller,
vgl. Apg 8,1-4). die ihm treu sind. In der Zukunft wird
Sie machten Menschen zu Jüngern der König auf die Erde wiederkehren
und lehrten sie zu arbeiten und zu gehor- und ein irdisches Reich mit Jerusalem als
chen (Matth 28,18.19; vgl. 1. Thess 1,6). Hauptstadt aufrichten. Um in dieses
Sie nahmen ihr Kreuz auf sich und Reich zu kommen, gleich welche Form es
folgten Christus nach (Apg 4; 1. Thess 2). haben mag, muß man wiedergeboren
Sie freuten sich über Leid und Verfol- werden. Glauben an »den Namen Jesu
gung (Matth 5,11.12; vgl. Apg 16,20-25; 1. Christi« ist das Mittel, die Wiedergeburt
Thess 1,6-8). zu erfahren. Das war zweifellos der Kern
Sie ließen die Toten ihre Toten begra- der Botschaft des Evangelisten Phi-
ben und gingen, um das Evangelium zu lippus.
predigen (Lk 9,59.60). 8,14-17 Als die Nachricht, »daß
Sie schüttelten den Staub von ihren Samaria das Wort Gottes angenommen
Füßen und gingen weiter, wenn die Men- habe, . . . die Apostel in Jerusalem«
schen sie nicht hören wollten (Lk 9,5; vgl. erreichte, »sandten sie Petrus und
Apg 13,51). Johannes zu ihnen«. Als sie ankamen,
Sie heilten, trieben böse Geister aus waren die Gläubigen »allein getauft auf
und brachten bleibende Frucht den Namen des Herrn Jesus«, doch
33)
(Mk 16,18; Apg 3-16). »den Heiligen Geist« hatten sie nicht
8,9-11 Unter den beachtenswertesten empfangen. Offensichtlich durch eine
derer, die auf Philippus hörten, war ein göttliche Führung »beteten« die Apo-

513
Apostelgeschichte 8

stel, daß diese Gläubigen »den Heiligen ihnen als Gläubige an den Herrn Jesus
Geist empfangen möchten«, und »legten aus. Sie alle waren Glieder eines Leibes,
ihnen die Hände auf«. Sobald das alle Eins in Christus.
geschehen war, »empfingen sie den Hei- Wenn es in Vers 16 heißt, daß sie
ligen Geist«. »allein . . . auf (oder in) den Namen des
Dabei erhebt sich sofort die Frage: Herrn Jesus« (s. a. 10,48 und 19,5) getauft
»Warum haben wir hier eine andere Rei- seien, so bedeutet das nicht, daß das
henfolge als zu Pfingsten?« Zu Pfingsten etwas anderes wäre als »auf den Namen
geschah mit den Juden folgendes: des Vaters und des Sohnes und des Hei-
1. Sie taten Buße. ligen Geistes« getauft zu werden
2. Sie wurden getauft. (Matth 28,19). »Lukas gibt hier nicht eine
3. Sie empfingen den Heiligen Geist. Taufformel wieder«, schreibt W. E. Wine,
Hier bei den Samaritern geschah fol- »sondern berichtet einfach eine histori-
gendes: sche Tatsache«.
1. Sie glaubten. 8,18-21 »Simon« der Zauberer war
2. Sie wurden getauft. von der Tatsache sehr beeindruckt, »daß
3. Die Apostel beteten für sie und legten durch das Auflegen der Hände der Apo-
ihnen die Hände auf. stel der Geist gegeben wurde«. Er hatte
4. Sie empfingen den Heiligen Geist. kein Gespür für den geistlichen Hinter-
Eines können wir sicher sagen: sie grund dieser Handlung, sondern sah es
wurden alle auf die gleiche Weise errettet als übernatürliche Macht an, die ihm in
– durch Glauben an den Herrn Jesus seinem Geschäft nur nützen könnte. Des-
Christus. Er ist der einzige Weg zur Erret- halb bot er den Aposteln Geld an, um
tung. Dennoch war es während dieser diese Macht zu kaufen.
Übergangszeit zwischen Judentum und Die Antwort des Petrus zeigt, daß
Christentum Gottes Wille, auf verschie- Simon nicht wirklich bekehrt war:
dene Weise mit verschiedenen Gruppen 1. »Dein Geld fahre mit dir ins Verder-
von Gläubigen zu handeln. Die jüdi- ben.« Keinen Gläubigen wird das
schen Gläubigen wurden aufgefordert, Verderben erwarten (Joh 3,16).
sich vom Volk Israel durch die Taufe zu 2. »Du hast weder Teil noch Recht an
trennen, ehe sie den Heiligen Geist dieser Sache«, mit anderen Worten, er
erhielten. Nun wurde es für die Sama- gehörte nicht zur Gemeinde.
riter notwendig, daß die Apostel beteten 3. »Dein Herz ist nicht aufrichtig vor
und ihnen die Hände auflegten. Doch Gott.« Das ist eine passende Beschrei-
warum? bung für einen Ungläubigen.
Die vielleicht beste Antwort lautet, 4. »Ich sehe, daß du voll bitterer Galle
daß es hier darum ging, der Einheit der und in Banden der Ungerechtigkeit
Gemeinde Ausdruck zu verleihen, ob sie bist.« Können man so ernsthaft von
nun aus Juden oder Samaritern bestand. einem Geretteten sprechen?
Es bestand nüchtern betrachtet die 8,22-24 Petrus forderte Simon drin-
Gefahr, daß die Gemeinde in Jerusalem gend auf, für seine große Sünde »Buße«
die Anschauungen über die jüdische zu tun und zu beten, daß sein böser Plan
Überlegenheit den Samariter gegenüber vergeben werden möge. Simons Antwort
beibehalten könnte, und daß sie viel- war, daß er Petrus bat, als Mittler zwi-
leicht weiterhin nichts mit ihren samari- schen Gott und ihm selbst zu dienen. Er
tischen Brüdern zu tun haben wollten. war der erste derer, die lieber zu einem
Um die Möglichkeit einer Spaltung, oder menschlichen Vermittler gehen wollten,
den Gedanken an zwei Kirchen (eine als zum Herrn selbst. Daß es auf Simons
jüdische und eine samaritische) zu ver- Seite keine echte Buße gab, zeigt sich in
meiden, sandte Gott die Apostel, um den den Worten: »Bittet ihr für mich den
Samaritern die Hände aufzulegen. Damit Herrn, damit nichts über mich komme
drückten sie die volle Gemeinschaft mit von dem, was ihr gesagt habt.« Ihm tat

514
Apostelgeschichte 8

seine Sünde nicht leid, sondern er fürch- Geist gerade in diesem Augenblick Phi-
tete nur ihre Konsequenzen. lippus, um den Wagen zu überholen.
Von diesem Mann leitet sich unser 8,30.31 Philippus eröffnete das Ge-
modernes Wort »Simonie« ab – ein Ge- spräch mit der freundlichen Frage: »Ver-
schäft aus dem Heiligen machen oder stehst du auch, was du liest?« Der Käm-
auch Ämterkauf. Dazu gehört jeder Kauf merer gab gerne zu, daß er jemanden
von Vorrechten oder anderen eingebilde- brauchte, um das Gelesene zu verstehen,
ten geistlichen Vorteilen und alle Formen und lud Philippus ein, »daß er aufsteige
des Kommerzes in geistlichen Angele- und sich zu ihm setze«. Das ausgespro-
genheiten. chene Fehlen von rassistischen Vorurtei-
8,25 Nachdem Petrus und Johannes len ist erfrischend zu sehen.
»das Wort des Herrn bezeugt und gere- 8,32.33 Wie wundervoll, daß der
det hatten, kehrten sie nach Jerusalem Kämmerer gerade »zufällig« Jesaja 53 las,
zurück«. Doch nun, da ein Brückenkopf in dem eine unübertroffene Beschrei-
errichtet war, predigten sie in »vielen bung des leidenden Messias zu finden
Dörfern der Samariter«. ist! Warum näherte sich Philippus gerade
zu dieser Zeit dem Wagen?
B. Philippus und der Kämmerer aus Der Abschnitt in Jesaja zeigt das Bild
dem Morgenland (8,26-40) eines Menschen, der demütig und
8,26 Während der großen geistlichen »stumm« vor seinen Feinden war, eines,
Erweckung in Samaria zeigte »ein Engel dem »Erniedrigung« widerfuhr und der
des Herrn« Philippus ein neues Arbeits- keine Hoffnung auf Nachkommen hatte,
feld. Er sollte den Ort verlassen, wo viele weil er auf dem Höhepunkt seines Le-
gesegnet wurden, und einem einzigen bens und noch unverheiratet getötet
Menschen dienen. Ein Engel konnte Phi- wurde.
lippus anweisen, aber ihm nicht die Auf- 8,34.35 Der Kämmerer fragte sich, ob
gabe des Predigens abnehmen. Dieses Jesaja »von sich selbst oder von einem
Vorrecht ist nur Menschen gegeben, anderen« spreche. Das gab natürlich Phi-
nicht jedoch Engeln. lippus die ersehnte Möglichkeit zu zei-
Ohne den Auftrag zu hinterfragen rei- gen, wie diese Schriftstelle sich vollkom-
ste Philippus im Gehorsam nach Süden, men im Leben und Tod des Jesus von
von Samaria nach Jerusalem und dann Nazareth erfüllt hat. Zweifellos hatte der
auf eine der Straßen, die »nach Gaza« Äthiopier in Jerusalem Berichte über
35)
führt. Es wird nicht deutlich, ob die einen gewissen »Jesus« gehört, doch die-
Worte »ist öde« sich auf den Weg oder auf se Gerüchte hatten ihn sicherlich in
die Stadt beziehen. Die Auswirkung ist einem schlechten Licht dargestellt. Nun
jedoch dieselbe: Philippus verließ einen erfährt der Kämmerer, daß Jesus von
belebten Ort geistlicher Fruchtbarkeit, Nazareth der leidende Gottesknecht ist,
um in ein Wüstengebiet zu ziehen. von dem Jesaja geschrieben hat.
8,27-29 Irgendwo auf dem Weg 8,36 Es scheint wahrscheinlich, daß
näherte er sich einer Karawane. Im wich- Philippus dem Äthiopier die Vorrechte
tigsten Wagen saß der Schatzmeister, der christlichen Taufe erklärt hat, in der
36)
»ein Kämmerer, ein Gewaltiger der man sich selbst mit Christus in seinem
37)
Kandake , der Königin der Äthiopier« Tod, seinem Begräbnis und seiner Aufer-
(Äthiopien umfaßte den Südteil Ägyp- stehung identifiziert. Als sie nun »an ein
tens und des Sudan.) Dieser Mann hatte Wasser« kamen, bat der Kämmerer »ge-
sich offensichtlich zum Judentum tauft zu werden«.
bekehrt, weil er »gekommen« war, »um 8,37 Vers 37, der in manchen Bibel-
zu Jerusalem anzubeten« und nun nach ausgaben und in der Fußnote der Elber-
Hause zurückkehrte. Während der Reise felder Bibel enthalten ist, steht in den
las er »den Propheten Jesaja«. Auf die meisten Handschriften des Neuen Testa-
Sekunde genau schickte der Heilige ments nicht. Nicht daß seine Lehre nicht

515
Apostelgeschichte 8

mit der Schrift übereinstimmen würde, dort von der errettenden Gnade des
denn Glaube an »Jesus Christus« ist Herrn Jesus Christus.
sicherlich eine Vorbedingung für die
Taufe. Doch der Vers wird einfach von
den meisten neutestamentlichen Hand- Exkurs über die Gläubigentaufe
38)
schriften nicht unterstützt. Die Taufe des Kämmerers, über die wir
8,38 »Der Wagen« wurde angehalten, soeben nachgedacht haben, ist eine der
und Philippus »taufte ihn«. Diese Taufe vielen Hinweise, daß die christliche Taufe
wurde durch Untertauchen vollzogen, in der frühen Kirche gelehrt und prakti-
wie aus der Beschreibung deutlich wird: ziert wurde (Apg 2,38; 22,16). Sie ent-
»sie stiegen beide in das Wasser hinab« sprach nicht der Taufe des Johannes, die
und »als sie aber aus dem Wasser herauf- eine Taufe der Buße darstellte (13,24;
39)
stiegen«. 19,4). Sie war dagegen ein öffentliches Be-
Die Einfachheit der Zeremonie ist kenntnis der Identifikation mit Christus.
beeindruckend. Auf einer Wüstenstraße Sie folgte unausweichlich auf die
tauft ein Gläubiger einen Neubekehrten. Bekehrung (2,41; 8,12; 18,8) und wurde
Die Gemeinde war nicht anwesend. Kei- sowohl an Frauen als auch Männern
ner der Apostel war dabei. Zweifellos (8,12) und sowohl an Heiden als auch
waren nur das Gefolge der Diener der Juden vollzogen (10,48). Es wird berich-
Karawane Zeugen der Taufe ihres Herrn. tet, daß ganze »Häuser« getauft wurden
Sie verstanden, daß er nun ein Nachfol- (10,47.48; 16,15; 16,33), doch in minde-
ger des Jesus von Nazareth war. stens zwei dieser Fälle wird vorausge-
8,39 Sobald die Taufe geschehen war, setzt, daß alle Mitglieder dieses Haushal-
»entrückte der Geist des Herrn den Phi- tes gläubig geworden sind. Nirgends wird
lippus«. Das bedeutet mehr als einfache die Taufe von Kindern erwähnt.
Führung an einen anderen Ort. Es geht Die Gläubigen wurden meist bald
hier eher um ein wunderbares und plötz- nach ihrer Bekehrung getauft (8,36; 9,18;
liches »Wegnehmen«. Das Ziel dieses 16,33). Offensichtlich wurde die Taufe
Wunders war, daß der Kämmerer sich aufgrund ihres Glaubensbekenntnisses
nicht mit dem menschlichen Werkzeug zu Christus vollzogen. Es gab keine Er-
für seine Bekehrung beschäftigen sollte, probungszeit, um die Echtheit ihrer Be-
sondern mit dem Herrn selbst. kehrung zu prüfen. Natürlich war durch
Der Kämmerer »zog seinen Weg mit die Situation der Verfolgung die Mög-
Freuden«. Es gibt eine Freude, die aus lichkeit relativ gering, daß jemand leicht-
dem Gehorsam dem Herrn gegenüber fertig ein Glaubensbekenntnis ablegte.
entspringt, die alle anderen schönen Diese Taufe hatte keine Funktion in
Gefühle übersteigt. bezug auf die ewige Errettung, wie wir
8,40 Philippus nahm in der Zwi- im Falle Simons sehen können (8,13).
schenzeit seinen evangelistischen Dienst Sogar nachdem er sich zum Glauben
in »Asdod« wieder auf, das nördlich von bekannt hatte und getauft worden war,
Gaza und westlich von Jerusalem an der war er »voll bitterer Galle und in Banden
Küste liegt. Von dort aus arbeitete er sich der Ungerechtigkeit« (8,23). Sein »Herz«
an der Küste weiter nach Norden vor, war »nicht aufrichtig vor Gott« (8,21).
»bis er nach Cäsarea kam«. Wie schon erwähnt, wurde die Taufe
Was wurde nun aus dem Kämmerer? durch Untertauchen vollzogen (8,38.39) –
Es gab keine Möglichkeit einer soge- «sie stiegen beide in das Wasser hinab,
nannten »Nacharbeit« durch Philippus. sowohl Philippus als der Kämmerer . . .
Der Evangelist konnte ihn nur einfach als sie aber aus dem Wasser heraufstie-
Gott und den Schriften des AT überlas- gen . . .« Auch viele heutige Befürworter
sen. Doch in der Macht des Heiligen Gei- der Besprengung geben zu, daß die Taufe
stes kehrte dieser neue Jünger zweifellos durch Untertauchen der Praxis des
40)
nach Äthiopien zurück und erzählte ersten Jahrhunderts entspricht.

516
Apostelgeschichte 8 und 9

Zweimal scheint die Taufe mit der Ver- lus allmählich die wichtigere Person,
gebung der Sünden verbunden zu sein. und das Evangelium wird in zunehmen-
Zu Pfingsten sagte Petrus: »Tut Buße, und dem Maße den Heiden gepredigt.
jeder von euch lasse sich taufen auf den Saulus von Tarsus war zu dieser Zeit
Namen Jesu Christi zur Vergebung eurer Anfang Dreißig. Von den Rabbinern
Sünden« (2,38). Und später sagte Ananias wurde er allgemein als der vielverspre-
zu Saulus: »Steh auf, laß dich taufen und chendste junge Mann des Judentums
deine Sünden abwaschen, indem du sei- angesehen. An Eifer übertraf er alle seine
nen Namen anrufst« (22,16). In beiden Altersgenossen.
Fällen wurde die Anweisung an Juden Als er das Wachstum des Christen-
41)
gegeben. Kein einziger Heide ist je aufge- tums beobachtet, das als der »Weg«
fordert worden, sich zur Vergebung der bekannt war, sah er es als Bedrohung sei-
Sünde taufen zu lassen. Bei der Gläubi- ner eigenen Religion an. Deshalb nahm
gentaufe kündigte ein Jude öffentlich sei- er sich vor, diese schädliche Sekte mit
ne Verbindung mit dem Volk, das seinen scheinbar unbegrenztem Eifer zu zer-
Messias abgelehnt und gekreuzigt hat. schlagen. Zum Beispiel holte er sich eine
Die Grundlage für die Vergebung war offizielle Vollmacht vom »Hohenprie-
Glaube an den Herrn Jesus. Der Kaufpreis ster«, um in »Damaskus« in Syrien nach
für die Vergebung war das kostbare Blut Jüngern Jesu zu suchen und sie »gebun-
unseres Herrn Jesus. Die Methode, wie den nach Jerusalem« zu führen, damit
diese Vergebung zugesprochen wurde, ihnen dort der Prozeß gemacht und sie
war die Taufe, weil die Taufe den Juden bestraft werden könnten.
öffentlich von seinem Umfeld trennte und 9,3-6 Seine Reisegruppe näherte sich
ihn in das christliche hineinversetzte. »Damaskus«. »Plötzlich umstrahlte ihn
Die Taufformel »auf den Namen des ein« helles »Licht aus dem Himmel«, das
Vaters und des Sohnes und des Heiligen ihn »auf die Erde« fallen ließ. Er »hörte
Geistes« (Matth 28,19) findet sich in der eine Stimme, die zu ihm sprach: ›Saul,
Apostelgeschichte nicht. Die Samariter Saul, was verfolgst du mich?‹« Als Sau-
wurden im Namen des Herrn Jesus lus fragte: »Wer bist du, Herr?« wurde
getauft (8,16), das gleiche gilt für die ihm geantwortet: »Ich bin Jesus, den du
Johannesjünger (19,5). Doch bedeutet das verfolgst.«
nicht notwendigerweise, daß die Formel, Um die Empfindungen des Saulus zu
die die Dreieinheit nennt, hier nicht ver- diesem Zeitpunkt zu verstehen, ist es
wendet worden wäre. Der Ausdruck »im notwendig sich ins Gedächtnis zu rufen,
Namen des Herrn Jesus« kann bedeuten daß er überzeugt war, daß »Jesus« von
»in der Vollmacht des Herrn Jesus«. Nazareth tot sei und in einem jüdischen
Die Johannesjünger wurden zweimal Grab begraben liege. Weil der Anführer
getauft – zuerst mit der Taufe des Johan- der Sekte schon vernichtet war, war es
nes zur Buße, und bei ihrer Bekehrung jetzt nur noch notwendig, seine Anhän-
mit der Gläubigentaufe (19,3.5). Dies ist ger zu zerstreuen. Dann wäre die Welt
ein Präzedenzfall für die »Wiedertaufe« von dieser Plage befreit.
derjenigen, die vor ihrer Errettung Doch nun muß Saulus mit nieder-
besprengt oder getauft wurden. schmetternder Eindringlichkeit erfahren,
daß Jesus gar nicht tot ist, sondern von
den Toten auferstanden und zur Rechten
C. Die Bekehrung des Saulus von Gottes im Himmel verherrlicht ist! Die-
Tarsus (9,1-31) ser Anblick des verherrlichten Erlösers
9,1.2. Kapitel 9 markiert einen Wende- veränderte die gesamte Ausrichtung sei-
punkt der Apostelgeschichte. Bisher hat- nes Lebens.
te Petrus die herausragende Stellung, als Saulus lernte an diesem Tag auch,
er dem Volk Israel das Evangelium pre- daß er den Herrn selbst verfolgte, als er
digte. Von nun an wird der Apostel Pau- die Jünger Jesu verfolgte. Schmerz, der

517
Apostelgeschichte 9

den Gliedern des Leibes auf Erden zuge- 9,17.18 Ananias erzeigte Saulus auf
fügt wurde, wurde vom Haupt im Him- rührende Weise christliche Liebe und
mel empfunden. Güte, und drückte seine vollkommene
Für Saulus kam zuerst die Lehre, Gemeinschaft mit dem Neubekehrten
dann ein Auftrag. Zuerst wurde er über aus, »indem er ihm die Hände auflegte«,
die Person Jesu aufgeklärt. Dann wurde und ihn »Bruder Saulus« nannte. Dabei
er nach Damaskus gesandt, wo er weite- erklärte er ihm den Zweck seines Besu-
re Marschorder erhalten sollte. ches. Es ging darum, daß Saulus »wieder
9,7-9 »Die Männer aber, die mit ihm sehend« und »mit Heiligem Geist« er-
des Weges zogen«, waren zu dieser Zeit füllt werden sollte.
völlig benommen. Sie hörten zwar ein Man sollte hier anmerken, daß der
Geräusch vom Himmel, doch nicht die »Heilige Geist« Saulus durch Auflegung
deutlichen Worte, die »Saulus« vernom- der Hände durch einen einfachen Jünger
men hatte (2,9). Sie sahen den Herrn weitergegeben wurde. Ananias war ein
nicht, nur Saulus hatte ihn gesehen und »Laie«, wie manche Kommentatoren sich
war somit auch in die Apostelschaft ausdrücken. Daß der Herr jemanden da-
berufen worden. zu gebrauchte, der kein Apostel war,
Der stolze Pharisäer wurde nun »bei sollte für diejenigen eine Ermahnung
der Hand . . . nach Damaskus« geführt, sein, die versuchen, geistliche Gründe
wo er »drei Tage nicht sehen« konnte. für die Einrichtung der »Geistlichkeit«
Während dieser Zeit »aß« und »trank« er zu finden.
nicht. Wenn ein Mensch sich wirklich
9,10-14 Man kann sich die Wirkung bekehrt, geschehen immer einige Dinge.
der Nachricht auf die Christen in »Da- Es gibt bestimmte Kennzeichen, die die
maskus« vorstellen. Sie wußten, daß Echtheit der Bekehrung zeigen. Das galt
Saulus unterwegs gewesen war, sie zu auch für Saulus von Tarsus. Was waren
fangen. Sie hatten um göttliches Ein- diese Kennzeichen? Francis W. Dixon
greifen gebetet. Vielleicht hatten sie nicht führt einige an:
gewagt, um die Bekehrung des Saulus zu 1. Er begegnet dem Herrn und hört sei-
bitten. Nun hörten sie, daß der Erzfeind ne Stimme (Apg 9,4-6). Er empfängt
ihres Glaubens ein Christ geworden sei. eine göttliche Offenbarung, und nur
Sie konnten ihren Ohren kaum trauen. das konnte ihn überzeugen und ihn
Als der Herr Ananias, einen der zu dem demütig fragenden und hin-
Gläubigen »in Damaskus«, befahl, »Sau- gegebenen Nachfolger machen, der
lus« zu besuchen, hielt Ananias Gott alle er dann wurde.
bösen Vorahnungen vor. Doch als er hör- 2. Er wurde mit dem Verlangen erfüllt,
te, daß »Saulus« nun »bete«, anstatt zu dem Herrn zu gehorchen und seinen
verfolgen, ging er zum »Haus des Judas« Willen zu tun (Apg 9,6).
in der geraden Straße. 3. Er fing an zu beten (Apg 9,11).
9,15.16 »Der Herr« hatte wunderbare 4. Er wurde getauft (Apg 9,18).
Pläne für Saulus: ». . . dieser ist mir ein 5. Er gesellte sich zum Volk Gottes (Apg
auserwähltes Werkzeug, meinen Namen 9,19).
zu tragen sowohl vor Nationen als auch 6. Er begann vollmächtiges Zeugnis zu
vor Könige und Söhne Israels. Denn ich geben (Apg 9,20).
werde ihm zeigen, wie vieles er für mei- 7. Er wuchs in der Gnade (Apg 9,22).
nen Namen leiden muß.« In erster Linie
sollte Saulus Apostel der »Heiden« wer-
den, und seine Mission sollte ihn vor Exkurs über den Dienst der
»Könige« führen. Doch er sollte auch sei- sogenannten »Laien«
nen Volksgenossen nach dem Fleisch Eine der wichtigsten Lektionen, die wir
predigen, und von diesen sollte ihm die aus der Apostelgeschichte lernen können
schlimmste Verfolgung drohen. ist, daß das Christentum eine Laienbe-

518
Apostelgeschichte 9

wegung ist, und daß der Zeugendienst schaft von Ältesten, die als Hirten der
nie einer bestimmten Klasse wie den Herde zusammenarbeiteten.
Priestern oder dem Klerus übertragen Doch einige mögen fragen: »Was ist
wurde, sondern allen Gläubigen. mit den Aposteln, Propheten, Evangeli-
Harnack stellt fest, daß sten, Hirten und Lehrern? Waren sie
. . . als die Gemeinde ihre größten Siege in nicht die Geistlichen der ersten Gemein-
ihren ersten Tagen im römischen Reich feier- den?« Diese Frage wird in Epheser 4,12
te, sie es nicht durch Lehrer oder Prediger beantwortet. Diese Gaben wurden zur
oder Apostel tat, sondern durch inoffizielle Auferbauung der Heiligen gegeben,
42)
Missionare. damit sie (die Heiligen) den Dienst wei-
Dean Inge schreibt: ter tun und auf diese Weise den Leib
Das Christentum begann als eine prophe- Christi bauen könnten. Ihr Ziel war es
tische Laienreligion . . . Von den Laien hängt nicht, sich als ständige Funktionäre über
43)
die Zukunft des Christentums ab . . . eine Ortsgemeinde zu stellen, sondern
Bryan Green sagt: auf den Tag hinzuarbeiten, an dem die
Die Zukunft des Christentums und der Ortsgemeinde sich selbst führen könnte.
Evangelisation der Welt ruht in den Händen Sie konnten dann weiterziehen, um neue
einfacher Männer und Frauen und nicht in Gemeinden zu gründen oder andere zu
erster Linie derer, die ordinierte christliche stärken.
44)
Prediger sind. Nach den Berichten der Kirchenhisto-
Leighton Ford sagt: riker entstand der Klerus im zweiten
Eine Kirche, die nur ihre Spezialisten . . . Jahrhundert, nicht jedoch in der Zeit der
zum Zeugendienst abstellt, verletzt damit die Apostelgeschichte. Die Einrichtung des
Absichten ihres Hauptes und kompromittiert Klerus war ein Hindernis für die Welt-
das konsequente Vorbild der ersten Christen. evangelisation und die Ausbreitung der
. . . Evangelisierung war Aufgabe der gesam- Kirche, weil sie dazu geführt hat, daß zu
ten Gemeinde, nicht nur der »bekannten Per- viel von zu wenigen abhängt.
45)
sönlichkeiten«. Die Gläubigen des Neuen Testaments
Und schließlich schreibt noch J. A Ste- sind nicht nur Geistliche, sondern sogar
wart: Priester. Als heilige Priester haben sie im
Jedes Mitglied der Ortsgemeinde ging Glauben ständigen Zugang zur Gegen-
hinaus, um Menschen für Christus zu wart Gottes, um ihn anzubeten (1. Petr
gewinnen, indem er persönlichen Kontakt zu 2,5). Als königliche Priester haben sie das
ihnen pflegte, und dann diese Neugeborenen Vorrecht, von Jesus Christus zu berich-
in die Ortsgemeinde brachte, wo sie im Glau- ten, der sie aus der Finsternis in sein
ben an den Erlöser gelehrt und gestärkt wur- wunderbares Licht berufen hat (1. Petr
den. Sie wiederum gingen genauso hinaus, 2,9). Das Priestertum aller Gläubigen
46)
um dasselbe zu tun. bedeutet nicht, daß jeder in der Lage ist,
Die einfache Tatsache besteht, daß es öffentlich zu predigen oder zu lehren,
in der apostolischen Gemeinde keine sondern bezieht sich in erster Linie auf
Geistlichkeit oder Pastoren gab, die einer die Anbetung und das Zeugnis. Doch es
Ortsgemeinde vorstanden. Die normale bedeutet, daß es in der Kirche keine
Ortsgemeinde bestand aus Heiligen, besondere Klasse von Priestern mehr
Bischöfen und Diakonen (Phil 1,1). Im gibt, die die Gottesdienste und heiligen
Sinne des Neuen Testaments waren alle Handlungen unter sich hätten.
Heiligen Geistliche. Die Bischöfe waren
die Ältesten, die Aufseher oder geistli- 9,19-25 Die Jünger in Damaskus öff-
chen Führer. Die Diakone waren Diener, neten »Saulus« ihre Herzen und Häuser.
die z. B. finanzielle Aufgaben in der Schon bald machte er sich auf zu »den
Gemeinde übernahmen. Synagogen«, und verkündete dort mu-
Kein Bischof oder Ältester hatte ein tig, daß Jesus »der Sohn Gottes ist«.
»Geistliches Amt«. Es gab eine Gemein- Dadurch wurden die Juden verwirrt. Sie

519
Apostelgeschichte 9

hatten doch gehört, daß er den Namen es jedoch in Vers 27, daß »Barnabas . . .
Jesus hassen würde. Doch nun lehrte er, ihn zu den Aposteln . . . brachte«. Das
daß Jesus Gott ist! Wie konnte das kom- könnte natürlich bedeuten, daß er zu
men? Petrus und Jakobus gebracht wurde,
Wie lange er bei seinem ersten Besuch jedoch auch heißen, daß er alle Apostel
»in Damaskus« blieb, wissen wir nicht. traf. Wenn die zweite Möglichkeit wahr
Aus Galater 1,17 erfahren wir jedoch, ist, dann ist dies ein zweiter Besuch in
daß er Damaskus verließ, für eine unbe- Jerusalem, der an keiner anderen Stelle
kannte Zeit nach Arabien ging, und dann erwähnt wird.
nach Damaskus zurückkehrte. Wo läßt Zunächst »fürchteten« sich die Jün-
sich die Reise nach Arabien nun in Apo- ger, Saulus aufzunehmen, da sie seine
stelgeschichte 9 einordnen? Wahrschein- Aufrichtigkeit im Glauben anzweifelten.
lich zwischen die Verse 21 und 22. »Barnabas« machte seinem Namen alle
Viele der von Gott am meisten Ehre und wurde zum Sohn des Trostes,
gebrauchten Diener haben wo etwas wie indem er mit Saulus Freundschaft schloß
eine »Zeit in der arabischen Wüste« ver- und von seiner Bekehrung und seinem
bracht, ehe sie ausgesandt wurden, um furchtlosen Zeugnis für Christus »in Da-
zu predigen. maskus« berichtete. Die Gläubigen er-
In Arabien hatte Saulus Gelegenheit, kannten bald, daß der Glaube des Saulus
über die großartigen Ereignisse in seinem echt war, als sie sahen, wie er »freimütig
Leben nachzudenken, und insbesondere im Namen des Herrn . . . in Jerusalem«
über das Evangelium der Gnade Gottes, predigte. Er provozierte von Seiten der
das ihm übergeben worden war. Als er »Hellenisten« den eifrigsten Wider-
nach »Damaskus« zurückkehrte (V. 22), spruch. »Als die Brüder« sahen, daß sein
war er in der Lage, »die Juden« in den Leben durch diese Juden in Gefahr
Synagogen zu verwirren, »indem er be- gebracht wurde, begleiteten sie Saulus
wies, daß dieser der« Messias Israel ist. zum Hafen von »Cäsarea«. Von dort aus
Das erboste sie so, daß sie »ratschlagten,« fuhr er in seine Heimatstadt »Tarsus« in
denjenigen umzubringen, der einmal ihr der Nähe der Südostküste Kleinasiens.
Genosse gewesen war, doch jetzt ein »Ab- 9,31 »Die Gemeinde« in Palästina
trünniger«, »Ketzer« und »Überläufer« konnte nun aufatmen. Es war eine Zeit,
geworden war. Saul entkam, indem er in der das Erreichte gefestigt werden
»bei Nacht . . . in einem Korb« durch ein konnte, und in der die Gemeinschaft
Loch in der »Mauer« hinabgelassen wur- sowohl geistlich als auch zahlenmäßig
de. Das war eine schmachvolle Flucht, wuchs.
doch er war sowieso ein zerbrochener
Mann und zerbrochene Menschen kön- III. Die Gemeinde an den Enden der
nen um Christi willen Schmach ertragen, Erde (9,32 – 28,31)
die andere fürchten würden.
9,26-30 Vom menschlichen Stand- A. Petrus predigt den Heiden das
punkt aus gesehen war »Jerusalem« die Evangelium (9,32 – 11,18)
gefährlichste Stadt, die Saulus besuchen 9,32-34 Als sich die Erzählung nun wie-
konnte. Doch wenn man sicher ist, daß der »Petrus« zuwendet, finden wir ihn
man im Willen Gottes lebt, so kann man beim Besuch von Gläubigen in verschie-
manches persönliche Risiko eingehen. denen Teilen Judäas. Schließlich kam er
Ob dies Sauls erster Besuch in »Jeru- nach »Lydda« (heute Lod), das nord-
salem« als Christ war, nämlich derselbe, westlich von Jerusalem an der Straße
der drei Jahre nach seiner Bekehrung nach Joppe (heute Jaffa oder Yafo) liegt.
stattfand (Gal 1, 18), ist zweifelhaft. Bei Hier fand er einen Gelähmten, »der seit
seinem ersten Besuch in Jerusalem acht Jahren zu Bett lag«. Petrus sprach
begegnete er Petrus und Jakobus, doch ihn mit seinem Namen an und erklärte,
keinem der anderen Apostel. Hier heißt daß »Jesus Christus« sein Arzt sei.

520
Apostelgeschichte 9 und 10

»Sogleich« erhob sich Äneas und trug von je einem Sohn Noahs finden. Der
sein Bett weg. Es ist sehr wahrschein- Äthiopische Kämmerer (V. 8) stammte
lich, daß Äneas gleichzeitig mit der leib- zweifellos aus der Linie Hams. Saul von
lichen Heilung auch geistliches Leben Tarsus war ein Nachkomme Sems
erhielt. (Kap. 9). Und nun in Kapitel 10 finden
9,35 Der Geheilte erwies sich in der wir Kornelius, einen der Nachkommen
Stadt »Lydda« und in der gesamten Japhets. Das ist ein treffender Beweis für
Küstenebene »Saron« als Zeugnis für die Tatsache, daß das Evangelium für alle
den Herrn. Als Ergebnis »bekehrten« Rassen und Kulturen gilt, und daß in
sich viele »zum Herrn«. Christus all diese natürlichen Unter-
9,36-38 »Joppe« war der Haupthafen schiede unwichtig sind. So wie Petrus in
von Palästina und lag am Ufer des Mit- Kapitel 2 die Schlüssel des Reiches be-
telmeeres etwa 45 Kilometer nordwest- nutzt, um die Tür des Glaubens für die
lich von Jerusalem. Unter den Christen Juden aufzuschließen, so sehen wir ihn
dort war eine liebevolle Frau »mit Na- in Kapitel 10 dasselbe für die Heiden tun.
47)
men Tabitha«, die dafür bekannt war, 10,1.2 Das Kapitel beginnt »in Cäsa-
daß sie für die Armen Kleider schneider- rea«, etwa 45 Kilometer nördlich von
te. Als sie plötzlich »starb, . . . sandten Joppe. Kornelius war ein Offizier des
die Jünger« eine dringende Botschaft römischen Militärs. Als »Hauptmann«
nach »Lydda« und baten »Petrus«, doch hatte er etwa hundert Mann unter sich.
ohne Verzögerung zu kommen. Er gehörte zur »sogenannten Italischen
9,39-41 Als Petrus ankam, fand er Schar«. Noch bemerkenswerter als seine
»alle Witwen . . . weinend an«, als sie ihm militärische Bedeutung war seine Fröm-
»die Unter- und Oberkleider, die Dor- migkeit. Er war »fromm und gottesfürch-
kas« für sie »gemacht hatte«, zeigten. Er tig, . . . der dem« verarmten jüdischen
bat sie hinauszugehen, und »kniete nie- Volk »viele Almosen gab und allezeit zu
der und betete«, und befahl »Tabitha« Gott betete«. Ryrie ist der Ansicht, daß er
aufzustehen. Sofort wurde sie dem wahrscheinlich ein »Proselyt des Tores
Leben wiedergegeben und konnte von war, das heißt, daß er an den Gott der
ihren christlichen Freunden in die Arme Juden glaubte und an seine Herrschaft,
geschlossen werden. doch noch keinen Schritt getan hatte, um
48)
9,42 Dieses Auferstehungswunder ein vollgültiger Proselyt zu werden«.
wurde überall »bekannt«, so daß »viele Ob er gerettet war, ist eine Streitfrage.
an den Herrn glaubten«. Wenn man Diejenigen, die behaupten, daß er geret-
jedoch Vers 42 mit Vers 35 vergleicht, so tet war, beziehen sich auf Vers 2 und 35,
scheint es, daß sich bei der Heilung des wo Petrus offensichtlich von »Kornelius«
Äneas mehr bekehrt haben als durch die sagt, daß, »wer ihn fürchtet und Gerech-
Auferweckung der Tabitha. tigkeit wirkt, ihm angenehm« sei. Dieje-
9,43 Petrus blieb »viele Tage in Jop- nigen, die lehren, daß Kornelius nicht
pe«, und zwar im Hause des »Gerbers gerettet war, weisen auf 11,4 hin, wo ein
Simon«. Die Erwähnung des Berufes von Engel zitiert wird, der ihm gesagt habe,
Simon ist hier von Bedeutung. Bei den daß Petrus ihm Worte erzählen würde,
Juden war die Gerberei kein anständiges durch die er gerettet werden könne.
Gewerbe. Ständiger Kontakt mit toten Unsere Ansicht ist, daß Kornelius ein
Leibern von Tieren ließ diese Berufs- Beispiel für einen Menschen war, der
gruppe ständig zeremoniell unrein sein. nach dem lebte, was Gott ihm in der
Die Tatsache, daß Petrus bei »Simon« jeweiligen Situation offenbart hatte. Das
lebte, beweist, daß er nicht länger seinen Licht, das er besaß, reichte zwar nicht
jüdischen Vorurteilen anhing. aus, um ihn zu erretten, Gott stellte
Es ist oft herausgestellt worden, daß sicher, daß ihm das zusätzliche Licht des
wir in drei aufeinanderfolgenden Kapi- Evangeliums gegeben wurde. Vor dem
teln die Bekehrung von Nachkommen Besuch des Petrus hatte er nicht die

521
Apostelgeschichte 10

Sicherheit der Errettung, doch er fühlte die »Stimme« zu ihm: »Was Gott gerei-
sich denen verbunden, die den wahren nigt hat, mach du nicht gemein!« »Drei-
Gott anbeteten. mal« geschah dasselbe, und dann wurde
10,3-8 Eines Tages »ungefähr um« das Tuch »in den Himmel« hinaufge-
drei Uhr nachmittags hatte »Kornelius« zogen.
eine deutliche »Erscheinung«, in der ihm Es ist eindeutig, daß diese Vision eine
»ein Engel Gottes« erschien und ihn mit tiefere Bedeutung hat als das einfache
Namen ansprach. Da er ein Heide war, Verzehren von Speisen, ob sie rein oder
kannte er den Dienst der Engel nicht so unrein seien. Sicherlich, mit dem Beginn
wie ein Jude, und war deshalb veräng- des christlichen Glaubens galten diese
stigt und dachte, der Engel sei der Herr Anweisungen über das Essen nicht mehr.
selbst. Der Engel sprach beruhigend Doch die wahre Bedeutung der Vision
davon, daß Gott seine »Gebete und . . . war folgendes: Gott wollte nun die Tür
Almosen« gesehen habe, und gab ihm des Glaubens für die Heiden aufschlie-
den Auftrag, »nach Joppe« zu senden, ßen. Als Jude sah Petrus die Heiden
nach einem Mann namens Simon Petrus, immer noch als unrein an, als Fremde, als
der »bei einem Gerber Simon, dessen Menschen fern von Gott, als gottlos.
49)
Haus am Meer ist«, wohnen würde. In Doch nun führte Gott etwas Neues ein.
bedingungslosem Gehorsam »sandte« er Heiden (hier durch die unreinen Tiere
»zwei seiner Hausknechte« und einen und Vögel dargestellt) sollten genauso
Militärattaché, der ebenfalls gottesfürch- wie die Juden (reine Tiere und Vögel)
tig war, »nach Joppe«. den Heiligen Geist empfangen. Nationa-
10,9-14 »Am folgenden Tag«, etwa le und religiöse Unterschiede sollten
gegen Mittag, »stieg Petrus . . . auf« das nicht mehr gelten, und alle echten Gläu-
Flachdach von Simons Haus in Joppe, bigen an den Herrn Jesus sollten in der
»um zu beten«. Zu dieser Zeit »wurde er christlichen Gemeinde dieselbe Stellung
aber hungrig« und hätte gern etwas haben.
gegessen, doch das Essen wurde noch 10,17-23a »Während aber Petrus über
unten im Haus zubereitet. Doch sein die Erscheinung nachsann«, kamen die
Hunger bot natürlich eine passende Vor- Diener des »Kornelius« an das »Tor«,
bereitung für das Folgende. »Eine Ver- und fragten nach ihm. Vom »Geist« gelei-
zückung« kam über ihn, und er »sieht« tet stieg er vom Dach hinab, um sie zu
ein großes, leinenes »Tuch« vom Himmel begrüßen. Als er den Grund ihres Besu-
»herabkommen, an vier Zipfeln auf die ches erfahren hat, rief er sie hinein und
Erde herabgelassen«, mit »allerlei vier- gab ihnen eine Übernachtungsmöglich-
füßigen und kriechenden Tieren . . . und keit. Die Diener lobten ihren Herrn sehr:
Vögeln« und Reptilien darin, die rein »Ein Hauptmann, ein gerechter und got-
und »unrein« waren. »Eine Stimme« tesfürchtiger Mann, und der ein gutes
vom Himmel wies den hungrigen Apo- Zeugnis hat von der ganzen Nation der
stel an: »Steh auf, Petrus, schlachte und Juden.«
iß!« Petrus dachte jedoch an das Gesetz 10,23b-29 »Am folgenden Tag« reiste
des Mose, das einem Juden verbot, Petrus mit den drei Dienern des Korneli-
irgend etwas »Unreines« zu essen. Des- us und »einigen der Brüder von Joppe . . .
halb gab er die klassisch gewordene Ant- nach Cäsarea«. Sie sind offensichtlich
wort: »Keineswegs, Herr!« Scroggie den ganzen Tag gereist, weil sie schon
kommentiert: »Wer immer sagt: ›Keines- »am folgenden Tag« Cäsarea erreichten.
wegs‹, der sollte nie ›Herr‹ hinzufügen, In Erwartung ihrer Ankunft hatte
und wer ehrlich ›Herr‹ sagt, wird nie »Kornelius . . . seine Verwandten und
›keineswegs‹ hinzufügen.« nächsten Freunde zusammengerufen«.
10,15.16 Als Petrus seine bisher unge- Als Petrus ankam, »fiel ihm« der Haupt-
brochene Geschichte erzählt, daß er bis- mann als Ausdruck seiner Verehrung
her nur Koscheres gegessen habe, sagt »zu Füßen«. Der Apostel wollte eine sol-

522
Apostelgeschichte 10

che Ehrung nicht annehmen, da er selbst sen Menschen aufgrund dieses Opfer
auch nur »ein Mensch« sei. Es stünde errette. Er rechne den Verdienst des
den selbsternannten »Nachfolgern« des Werkes Christi diesem Menschen an,
Petrus sehr gut an, wenn sie seine Demut wann immer er echten Glauben fin-
nachahmen und den Menschen verbie- det.
ten würden, vor ihnen zu knien! 2. Die andere Ansicht lautet, daß auch,
Als Petrus eine größere Men- wenn ein Mensch Gott fürchtet und
schenmenge im Haus versammelt findet, in Gerechtigkeit lebt, er hierdurch
erklärt »Petrus«, daß er als Jude norma- nicht gerettet ist. Die Errettung
lerweise nicht in ein heidnisches Haus kommt nur aus dem Glauben an den
wie dieses gekommen wäre, doch daß Herrn Jesus Christus. Doch wenn
»Gott« ihm offenbart habe, daß er die Gott einen Menschen findet, der nach
Heiden nicht länger wie Unberührbare dem lebt, was ihm von Gott offenbart
behandeln solle. Dann fragte er, »aus ist, dann sieht er zu, daß dieser
welchem Grund« man ihn habe holen Mensch das Evangelium hört und so
lassen. die Gelegenheit zur Errettung erhält.
10,30-33 »Kornelius« beschreibt Wir sind der Ansicht, daß die zweite
bereitwillig die Vision, die er »vor vier Auffassung die richtige ist.
Tagen« gehabt hat, als ein Engel ihm ver- 10,36-38 Als nächstes erinnert Petrus
sicherte, daß »sein Gebet . . . erhört« wor- seine Zuhörer daran, daß »Jesus Chri-
den sei und er angewiesen wurde, nach stus . . . aller Herr« ist, sowohl der Hei-
»Petrus« zu schicken. Der Hunger dieses den als auch der Juden, auch wenn das
heidnischen Mannes nach dem Wort Evangelium zuerst den Juden gesandt
Gottes ist wirklich lobenswert. Er sagt: worden ist. Seine Zuhörer müssen die
»Jetzt sind wir nun alle vor Gott zuge- Geschichte von »Jesus von Nazareth«
gen, um alles zu hören, was dir vom schon kennen. Sie hatte in »Galiläa« be-
Herrn aufgetragen ist.« Solch ein offener gonnen, zu der Zeit als »Johannes« pre-
und lernbereiter Geist wird ganz sicher- digte, und hatte sich in »ganz Judäa«
lich durch göttliche Unterweisung ausgebreitet. Dieser »Jesus«, der »mit
belohnt. Heiligem Geist . . . gesalbt« war, hatte
10,34.35 »Petrus« beginnt seine Pre- ein selbstloses Leben im Dienst für ande-
digt mit einem offenen Eingeständnis. re verbracht, indem er »umherging und
Bisher hatte er geglaubt, daß Gottes Vor- wohltat und alle heilte, die von dem Teu-
liebe nur Israel gelte. Doch nun hat er fel überwältigt waren«.
erkannt, daß »Gott« einem Menschen 10,39-41 Die Apostel waren »Zeugen«
nicht deshalb wohlgesonnen ist, weil er der Wahrheit alles dessen, was Jesus
zu einem bestimmten Volk gehört, son- »getan hat«. Sie waren mit ihm in ganz
dern daß er an einem ehrlichen, reuigen Judäa und in »Jerusalem« herumgereist.
Herzen interessiert ist, ob es nun einem Trotz seines vollkommenen Lebens hat-
Juden oder einem Heiden gehört. »In ten ihn die Menschen »umgebracht,
jeder Nation ist, wer ihn fürchtet und indem sie ihn an ein Holz hängten«. Gott
Gerechtigkeit wirkt, ihm angenehm.« hat ihn »am dritten Tag auferweckt« von
Es gibt zwei grundsätzliche Ausle- den Toten, und er ist von »den von Gott
gungen von Vers 35:. zuvor erwählten Zeugen« gesehen wor-
1. Einige sind der Ansicht, daß, wenn den. Soweit wir wissen, ist der Herr Jesus
jemand wirklich Buße tut und Gott nach seiner Auferstehung keinem
sucht, er auch dann gerettet ist, wenn Ungläubigen erschienen. Doch die Apo-
er noch nie etwas vom Herrn Jesus stel hatten ihn nicht nur gesehen, son-
gehört hat. Die Argumentation lautet, dern hatten sogar »mit ihm gegessen und
daß der Mensch selbst zwar nicht das getrunken«. Das zeigt auf jeden Fall, daß
stellvertretende Opfer Christi kenne, der Auferstehungsleib des Erlösers
daß Gott jedoch davon wisse und die- materiell, leiblich und anfaßbar war.

523
Apostelgeschichte 10 und 11

10,42 Nach der Auferstehung gab der dem Empfang des Heiligen Geistes
Herr den Aposteln den Auftrag, ihn als durch die Heiden:
»Richter der Lebenden und der Toten« 1. Sie »hörten das Wort«, d. h. sie glaub-
zu verkündigen. Das stimmt mit vielen ten (V. 44).
anderen Schriftstellen überein, daß der 2. Sie »empfingen die Gabe des Heili-
Vater das Gericht dem Sohn übergeben gen Geistes« (V. 44.47).
hat (Joh 5,22). Das bedeutet natürlich 3. Sie wurden »getauft« (V. 48).
auch, daß er als Sohn des Menschen Das ist die Reihenfolge der Ereignis-
sowohl Juden als auch Heiden gleicher- se, wie sie in unserem Zeitalter für Juden
maßen richten wird. und Heiden gleichermaßen gilt, wenn
10,43 Doch Petrus hält sich nicht mit Gott sich aus den Nationen ein Volk sei-
der Gerichtsbotschaft auf. Statt dessen nes Namens beruft.
beginnt er mit einer großartigen Darstel- Es ist nicht überraschend, daß nach
lung des Evangeliums und erklärt, wie diesem gnädigen Werk des Geistes die
das Gericht vermieden werden kann. Gläubigen in Cäsarea Petrus baten, »eini-
Wie »alle Propheten« des AT gelehrt ge Tage zu bleiben«.
haben, wird »jeder, der an ihn glaubt, 11,1-3 Die Nachricht gelangte schnell
Vergebung der Sünden . . . durch seinen nach »Judäa«, daß Petrus den »Natio-
Namen« empfangen. Dieses Angebot gilt nen« gepredigt hatte und sie gerettet
nicht nur für Israel, sondern für die worden waren. Deshalb wurde er von
ganze Welt. Möchtest du die Vergebung denen »aus der Beschneidung« ange-
der Sünden erfahren? Dann glaube an griffen, als er »nach Jerusalem« zurück-
Ihn! kam, weil er mit den Heiden gegessen
10,44-48 »Während Petrus noch diese habe.
Worte redete, fiel der Heilige Geist auf »Die Beschneidung« bedeutet hier
alle« Heiden. Sie sprachen alle »in Spra- Christen, die früher Juden waren und
chen« und lobten »Gott«. Das war das noch immer in ihren alten Denkformen
Zeichen für die Anwesenden, daß Korne- gefangen waren. Sie glaubten zum Bei-
lius und sein Haus in der Tat »die Gabe spiel, daß ein Heide beschnitten werden
des Heiligen Geistes« erhalten hatte. Die müsse, um den vollen Segen des Herrn
jüdisch geborenen Abgesandten von Jop- zu empfangen. Sie waren noch immer
pe »gerieten außer sich«, wenn sie daran der Ansicht, daß es falsch sei, daß Petrus
dachten, daß »die Nationen« auch »die mit ihnen am gleichen Tisch sitze.
Gabe des Heiligen Geistes« empfangen 11,4-14 Als Petrus seine Handlungs-
hatten, ohne zuvor jüdische Proselyten weise verteidigte, erzählte er schlicht,
zu werden. Doch »Petrus« war nicht in was geschehen war – seine »Ver-
derselben Weise an die jüdischen Vorur- zückung«, in der er das »Tuch . . . aus
teile gebunden. Er merkte sofort, daß dem Himmel« gesehen hatte, die Er-
Gott keinen Unterschied mehr zwischen scheinung eines »Engels« bei Kornelius,
Heiden und Juden machte, und so schlug die Ankunft der Boten des Kornelius,
er vor, daß das ganze Haus des Korneli- den Befehl des Geistes, diese Boten zu
us »getauft werde«. begleiten, und dann die Ausgießung des
Man beachte den Ausdruck »die den »Heiligen Geistes« auf die Heiden. Weil
Heiligen Geist empfangen haben wie »Gott« auf so vielfältige und eindeutige
auch wir«. Diese Heiden wurden auf die Art gehandelt hat, wäre es Widerstand
gleiche Weise gerettet wie die Juden – gegen den Herrn gewesen, hier nicht ent-
durch einfachen Glauben. Es gab hier sprechend zu handeln.
keine Bedingung des Haltens des Geset- In seiner Ansprache fügt »Petrus«
zes, der Beschneidung oder sonst einer einige interessante Details ein, die im
Anordnung oder eines Rituals. vorigen Kapitel nicht erwähnt werden:
Man beachte auch die Reihenfolge 1. Er sagt, daß das »Tuch . . . aus dem
der Ereignisse im Zusammenhang mit Himmel« bis zu ihm »kam« (V. 5).

524
Apostelgeschichte 11

2. Er spricht davon, daß er »gespannt Mit anderen Worten, die beschriebenen


hineinschaute« (V. 6). Ereignisse in den nächsten Versen ge-
3. Petrus erwähnt die Tatsache, daß ihn schahen vor der Bekehrung des Korne-
»sechs Brüder« von Joppe nach Cäsa- lius.
rea begleiteten (V. 12). »Die nun zerstreut waren durch die
4. In Vers 14 wird uns gesagt, daß der Drangsal« brachten das Evangelium
Engel Kornelius sagte, daß Petrus nach:
»Worte zu« ihm »reden« würde, 1. »Phönizien«, den schmalen Künsten-
»durch die« er und sein »ganzes streifen am nordöstlichen Mittelmeer
Haus . . . errettet werden« würden. einschließlich der Häfen von Tyrus
Dies ist einer der Hauptbeweise und Sidon (heute Libanon).
dafür, daß Kornelius vor der Ankunft 2. »Zypern«, eine große Insel im nord-
des Petrus nicht errettet war. östlichen Mittelmeer.
11,15 Nach dem Bericht des Petrus 3. »Kyrene«, eine Hafenstadt an der
»fiel der Heilige Geist auf« die Heiden, Nordküste Afrikas (heute Libyen).
als er »zu reden begann«. In Apostelge- Dennoch predigten sie das Evange-
schichte 10,44 scheint es so, daß er schon lium »niemand . . . als allein . . . Juden«.
eine Zeit geredet hatte. Offensichtlich 11,20.21 Doch gab es einige Gläubige
hatte er zu sprechen begonnen, doch ehe aus »Zypern und Kyrene«, die »nach
er allzu weit gekommen war, wurde er Antiochien« kamen und hier die Gute
unterbrochen. Nachricht auch »den Griechen« verkün-
50)
11,16 Als »der Heilige Geist« auf die digten. Ihre Verkündigung wurde
Heiden fiel, dachte Petrus sofort an gesegnet »und eine große Zahl glaubte
Pfingsten. Dann gingen seine Gedanken und bekehrte sich zum Herrn«. F. W.
zurück zur Verheißung des Herrn, daß Grant sagt: »Es ist beachtenswert, wie
seine Jünger »mit Heiligem Geist getauft wenig wert hier auf Amtshandlungen
werden« würden. Er erkannte, daß diese und Bürokratie gelegt wird. Wir kennen
Verheißung zum Teil zu Pfingsten erfüllt keinen einzigen Namen der Menschen,
wurde, und sich nun wieder erfüllte. die an diesem Werk beteiligt waren.«
11,17 Dann forderte Petrus die »Be- Die Einführung des Christentums in
schneidungspartei« mit der Frage her- Antiochien war ein wichtiger Schritt der
aus: »Wenn nun Gott« es gefallen hat, Gemeinde zu ihrer Ausbreitung. Antio-
den Geist auf die Heiden auszugießen, chien lag am Orontes, einem Fluß in Syri-
»wie« vorher auch auf die Juden, die en in Nordpalästina. Sie wurde als dritt-
»geglaubt haben, wer war« er, daß er wichtigste Stadt des römischen Reiches
»Gott« hätte »wehren« können? angesehen und ist einmal »das Paris des
11,18 Es spricht für diese hebräischen Altertums« genannt worden. Von hier
Christen, daß sie, als sie den Bericht des aus gingen Paulus und seine Gefährten
Petrus vernommen hatten, erkannten, später auf ihre Missionsreisen, als sie das
daß die Hand Gottes in all dem gewirkt Evangelium den Heiden brachten.
hatte, und damit eine völlige Kehrtwen- 11,22-24 Als »die Rede« einer großen
dung machten. Alle ihre Vorbehalte geistlichen Erweckung die »Gemeinde in
waren zerstreut. Statt dessen erfüllte das Jerusalem« erreichte, entschied man, daß
Lob Gottes ihre Herzen, daß »Gott also man den großherzigen, liebevollen
auch den Nationen die Buße . . . zum »Barnabas« nach »Antiochien« senden
Leben« gegeben hat. sollte. Dieser freundliche Mann sah auf
einen Blick, daß der Herr unter diesen
B. Die Gründung der Gemeinde in Heiden mächtig wirkte, und deshalb
Antiochien (11,19-30) »ermahnte« er »alle,« mit großer Ent-
11,19 Die Erzählung wendet sich nun in schlossenheit »bei dem Herrn zu verhar-
die Zeit der »Drangsal« zurück, die auf ren«. Wie gut war es doch, daß diese jun-
den Märtyrertod des »Stephanus« folgte. ge Gemeinde von solch einem »guten

525
Apostelgeschichte 11

Mann . . . voll Heiligen Geistes und bezahlten Pastor hat, um für sie zu sorgen, ist
Glaubens« besucht wurde! Während er eines sicher, und zwar, daß die Welt niemals
dort war, »wurde eine zahlreiche Menge evangelisiert wird. Gott sei gedankt für all
dem Herrn hinzugetan«. Auch wurde die freiwilligen Sonntagschullehrer, alle die-
die Einheit mit der Gemeinde in Jerusa- jenigen, die Bibelstunden halten und die
lem aufrecht erhalten. sogenannten Laien. Wenn sie alle für ihren
11,25.26 Dann erinnerte sich Barna- Dienst bezahlt werden müßten, gäbe es nur
bas an »Saulus« aus »Tarsus«! Er selbst wenige Gemeinden, die finanziell noch
51)
hatte doch Saulus den Aposteln in Jeru- gesund wären.
salem vorgestellt. Dann war Saulus 11,27-30 Obwohl »Antiochien« das
schnell aus der Stadt hinausgebracht Zentrum wurde, von dem aus das Evan-
worden, um ihn vor den Anschlägen gelium zu den Heiden ausging, wurde
durch die Juden zu bewahren. Seit dieser von dort jedoch immer die volle und
Zeit war er in seiner Heimatstadt, in herzliche Gemeinschaft mit der Gemein-
»Tarsus« gewesen. Barnabas war sehr de in »Jerusalem« aufrecht erhalten, die
daran gelegen, Saulus in seinem Dienst das Zentrum für die Evangelisation der
zu ermutigen und der Gemeinde in Juden bildete. Der folgende Vorfall ist ein
»Antiochien« die Wohltaten seines Dien- Beispiel für diese Tatsache.
stes zukommen zu lassen, deshalb »zog Zu dieser Zeit kamen gewisse »Pro-
er aus nach Tarsus . . . und . . . brachte ihn pheten . . . von Jerusalem nach Antiochi-
nach Antiochien«. »Ein ganzes Jahr« lang en«. Diese Propheten waren Gläubige,
arbeitete dieses wunderbare Team in die- die vom Heiligen Geist begabt worden
ser Gemeinde und lehrte »eine zahlrei- waren, Sprachrohre Gottes zu sein. Sie
che Menge.« erhielten Offenbarungen vom Herrn und
In Antiochien wurden »die Jünger . . . gaben sie an die Leute weiter. »Einer aber
zuerst Christen genannt«. Zweifellos war von ihnen, mit Namen Agabus«, sagte
das zu dieser Zeit ein Schimpfname, voraus, daß »eine große Hungersnot«
doch wurde dieser Name seit damals über die bewohnte Erde kommen sollte.
von allen gerne getragen, die ihren Erlö- Diese Hungersnot kam »auch unter
ser lieben. Klaudius«. Die Jünger in Antiochien
J. A. Stewart kommentiert: beschlossen sofort, »Hilfeleistung den
F. B. Meyer hat einmal gesagt. An- Brüdern, die in Judäa wohnten«, zu sen-
tiochien wird in den christlichen Annalen den. Das war sicherlich ein rührendes
immer eine wichtige Stelle einnehmen, weil Zeugnis, daß die Trennwand zwischen
eine Zahl von nicht ordinierten und unge- Juden und Heiden niedergerissen, und
nannten Jüngern, die vor der Verfolgung daß die alte Feindschaft nun durch das
durch Saulus aus Jerusalem geflohen waren, Kreuz Christi beseitigt worden war. Die
es wagte, den Heiden das Evangelium zu pre- Gnade Gottes war in diesen Jüngern ver-
digen und die Bekehrten in einer Gemeinde wirklicht, die einmütig, spontan und
zu sammeln, ohne die Initialisierungsriten ihren jeweiligen Mitteln angemessen
des Judentums zu beachten. gaben. Sie gaben »je nach dem wie einer
Wenn diese Gläubigen aus einer moder- der Jünger begütert war«. F. W. Grant hat
nen Gemeinde gekommen wären, in der der traurig angemerkt: »Heute müßte man
Dienst nur einem einzigen Mann unterstellt wahrscheinlich sagen ›jeder ein wenig
ist, hätte dieses siegreiche Kapitel der Kir- von seinem Überfluß und die Reichsten
chengeschichte nie geschrieben werden kön- im Verhältnis am wenigsten von allen‹.«
nen. Wie tragisch ist es, daß in den normalen Das Geld wurde »durch die Hand des
Gemeinden die Dienstgaben des Heiligen Barnabas und Saulus an die Ältesten«
Geistes zwar vorhanden sind, aber nicht aus- gesandt. Hier haben wir die erste Erwäh-
geübt werden, weil der normale Gläubige kei- nung von Ältesten im Zusammenhang
ne Gelegenheit zur Mitarbeit hat. Solange mit der Gemeinde. Die Idee von Ȁlte-
noch jede kleine Gruppe von Gläubigen einen sten« war den Juden vertraut, weil es in

526
Apostelgeschichte 11 und 12

den Synagogen Älteste gab. Uns wird bus, daß Herodes nun dasselbe mit
hier nicht gesagt, auf welche Weise diese Petrus machen wollte. Doch da waren
Männer in Jerusalem zu Ältesten wur- schon die »Tage der ungesäuerten Brote«
den. In den Heidengemeinden wurden gekommen, und während der religiösen
die Ältesten durch Apostel oder ihre Ver- Feiertage waren Hinrichtungen nicht
treter eingesetzt (Apg 14,23; Tit 1,5). Die gerade passend. Auch waren die Juden
notwendigen Eigenschaften eines Älte- zu beschäftigt mit ihren Feiern, um diese
sten werden in 1. Timotheus 3,1-7 und Gunstbezeigung recht zu würdigen, so
Titus 1,6-9 angegeben. daß Herodes anordnete, Petrus in der
Zwischenzeit zu inhaftieren. Der Apostel
C. Die Verfolgung durch Herodes und wurde von sechzehn Soldaten in »vier
sein Tod (12,1-23) Abteilungen« bewacht.
12,1.2 Die erbarmunglosen Angriffe 12,5 Die »Gemeinde« in Jerusalem
Satans auf die Gemeinde gingen weiter. betete ernsthaft für Petrus, insbesondere
Diesmal ging die Verfolgung von »Hero- weil ihnen der Tod des Jakobus noch leb-
des«, dem »König« aus. Das war Hero- haft vor Augen stand. G. C. Morgan
des Agrippa I, ein Enkel von Herodes kommentiert: »Diese Macht des ernsten,
dem Großen. Er war vom römischen Kai- anhaltenden Gebetes war größer als
ser Claudius zum König von Judäa Herodes und größer als die Hölle.«
ernannt worden. Er gehorchte dem 12,6-11 »In jener Nacht«, als Herodes
Gesetz des Mose und versuchte auf wei- plante, ihn vorzuführen, »schlief Petrus«
ten Strecken, den Juden zu gefallen. In tief, zwischen zwei Soldaten einge-
Verfolgung dieser Politik fügte er »eini- pfercht. Jemand hat seinen Schlaf einen
gen von der Gemeinde« Leid zu und Triumph des Glaubens genannt. Er erin-
»tötete . . . Jakobus, den Bruder des nerte sich sicherlich an die Verheißung
Johannes, mit dem Schwert«. des Herrn, daß er alt werden würde
Dieser »Jakobus« war es, der mit (Joh 21,18), und deshalb wußte er, daß
Petrus und Johannes die Verklärung Herodes ihn nicht vor der Zeit töten
unseres Herrn miterlebt hatte, und seine konnte. Plötzlich erschien »ein Engel des
Mutter war es, die gebeten hatte, daß ihre Herrn«, und die Zelle war von »Licht«
beiden Söhne doch in seinem Reich durchflutet. Er stieß »Petrus an die Seite«
neben ihm sitzen mögen. und befahl ihm, »schnell« aufzustehen.
Dieses Kapitel bietet eine interessante Sofort »fielen« seine Fesseln. Mit kur-
Studie darüber, wie Gott an seinem Volk zen, knappen Sätzen forderte der Engel
handelt. Jakobus wurde vom Feind getö- Petrus auf, die »Sandalen« unterzubin-
tet, doch Petrus wurde durch ein Wun- den, seinen Mantel überzuwerfen und
der gerettet. Die menschliche Vernunft ihm zu »folgen«. Obwohl verwirrt, »folg-
würde fragen, warum Petrus so bevor- te« Petrus dem Engel »durch die erste
zugt wurde. Der Glaube jedoch verläßt und die zweite Wache« des Gefängnis-
sich auf die Liebe und die Weisheit Got- ses. Als sie »an das eiserne Tor« kamen,
tes, weil er weiß: »tat« es »sich ihnen von selbst auf«, wie
Leid, das Gott segnet, durch eine elektrische Vorrichtung. Erst
gedeiht uns zum Guten, als sie »eine Straße entlang« gegangen
und Gutes, von Gott ungesegnet, waren, und »der Engel« verschwunden
wird zum Verhängnis, war, kam »Petrus zu sich selbst« und
Und alles ist richtig, erkannte, daß das ganze kein Traum
was uns so falsch erscheinen mag, gewesen war, sondern »daß der Herr«
Wenn es seinem guten Willen ihn auf wunderbare Weise »gerettet hat
entspricht. aus der Hand des Herodes und . . . der
Frederick W. Faber Juden«.
12,3.4 »Die Juden« reagierten so 12,12 Als er lange genug anhielt, um
begeistert auf die Hinrichtung des Jako- nachzudenken, erinnerte sich Petrus dar-

527
Apostelgeschichte 12

an, daß sich die Jünger im »Haus der zeugend an. Ihre wahrscheinlich windi-
Maria, der Mutter des Johannes mit dem gen Ausreden erbosten den König noch
Beinamen Markus« treffen wollten, um mehr. So ließ er sie hinrichten. Dann ver-
zu »beten«. Es muß eine Gebetsnacht ließ er Jerusalem »und ging nach Cäsa-
gewesen sein, da die Flucht des Petrus rea«, um dort seine verwundete Ehre zu
wahrscheinlich in den frühen Morgen- pflegen.
stunden geschah. 12,20 Aus einem uns unbekannten
12,13-15 Petrus »klopfte an die Tür Grunde war Herodes »sehr erbittert
des Tores« und wartete. Ein Mädchen gegen die Tyrer und Sidonier«. Tyrus
namens »Rhode« (gr. »Rose«) »kam . . . und Sidon sind zwei Handelshäfen am
herbei«, doch sie war so aufgeregt, daß Mittelmeer. Die Bewohner der beiden
sie vergaß »das Tor« zu öffnen! Sie »lief« Städte nahmen die Gelegenheit wahr,
zurück, um den Betenden diese gute daß er in Cäsarea Ferien machte, um ihn
Nachricht zu bringen. Sie dachten, sie sei mit sich zu versöhnen, weil sie vom
verrückt geworden und zögerten auch Getreideimport aus Judäa abhängig
nicht, ihr das zu sagen, doch sie beteuer- waren. So suchten sie die Freundschaft
te, der Apostel stehe »vor dem Tor«. Sie von »Blastus«, dem »Kämmerer des
sagten, es müsse wohl sein Schutzengel Königs«, und erbaten durch ihn die Wie-
sein, doch sie betonte immer wieder, daß deraufnahme der diplomatischen Bezie-
es Petrus selbst gewesen sei. hungen.
Diese Gläubigen sind oft für ihre 12,21-23 Eines Tages kam »Herodes«
ungläubigen Gebete getadelt worden, in all seinem »königlichen« Staat, um vor
denn sie waren wirklich überrascht, als dem Volk eine Rede zu halten. Das Volk
ihr Gebet erhört wurde. Doch jede solche rief: »Eines Gottes Stimme und nicht
Kritik ist wahrscheinlich von unserem eines Menschen!« Er hatte nicht die Ab-
eigenen nervösen Selbstbewußtsein be- sicht, eine solche Meinung zu unter-
einflußt. Statt andere zu tadeln, sollten drücken, oder »Gott die Ehre« zu geben.
wir sehr getröstet darüber sein, daß Gott Deshalb »schlug ihn ein Engel des Herrn«
solche vertrauenslosen Gebete erhört. mit einer schrecklichen Krankheit, so daß
Wir alle neigen dazu, ungläubige Gläubi- er starb. Das geschah im Jahr 44 n. Chr.
ge zu sein. So wurde der, der versucht hatte, die
12,16.17 »Petrus« hatte in der Zwi- Juden zufriedenzustellen, indem er Jako-
schenzeit vor der Tür gestanden und bus hinrichtete, von der Hand dessen
»fuhr fort zu klopfen«. Als sie ihm zerstört, der sowohl Leib als auch Seele
schließlich die Tür »aufgetan hatten«, in die Hölle zu werfen vermag. Herodes
und er hereinkam, wurden alle ihre erntete, was er gesät hatte.
Zweifel zerstreut und sie brachen in
Freudenrufe aus. Er beruhigte sie schnell D. Die erste Missionsreise des Paulus:
und erzählte kurz vom Wunder seiner Galatien (12,24 – 14,28)
Befreiung und bat sie, diese Nachricht 12,24 In der Zwischenzeit wurde das
»Jakobus« (wahrscheinlich ist der Sohn Evangelium immer weiter verbreitet.
des Alphäus gemeint) »und den Brü- Gott ließ den Grimm des Menschen ihn
dern« zu berichten. Dann verließ er sie. preisen und gürtete sich mit dem Rest
Es ist unmöglich herauszufinden, wohin des Grimmes (Ps 76,11). Er macht
er diesmal ging. zunichte den Ratschluß der Nationen,
12,18.19 Als es Morgen wurde und doch der Ratschluß des Herrn hat ewig
»Petrus« fehlte, wurden die »Soldaten« Bestand (Ps 33,10.11).
von panischer Angst erfüllt. Auch für 12,25 Nachdem »Barnabas aber und
»Herodes« war es ein traumatisches Er- Saulus« ihre Aufgaben »in Jerusalem . . .
lebnis, so überlistet worden zu sein. erfüllt« hatten, indem sie die Gaben von
Nichts, was die Soldaten vorbringen Antiochien überbracht hatten, kehrten
52)
konnten, hörte sich im geringsten über- sie gemeinsam nach Antiochien zurück

528
Apostelgeschichte 12 und 13

»und nahmen auch Johannes mit dem Schwarze oder Dunkle) an, weil es in
Beinamen Markus mit«, den Vetter des der Arbeit mit den Heiden von Vor-
Barnabas, der später das zweite Evange- teil war. Natürlich kann er auch
lium geschrieben hat. schwarz von Hautfarbe gewesen
Es ist nicht möglich zu entscheiden, sein, wie der Name nahezulegen
ob Barnabas und Saulus in Jerusalem scheint. Von ihm ist weiter nichts
waren, als Jakobus getötet wurde und bekannt.
Petrus im Gefängnis war oder als Hero- 3. »Lucius von Kyrene«. Er war wahr-
des starb. scheinlich einer der kyrenischen
Viele Bibelausleger sind der Ansicht, Männer, die nach Antiochien kamen,
daß in Kapitel 13 ein neuer Abschnitt in um dort den Herrn Jesus zu predigen
der Apostelgeschichte beginnt. Einige (11,20).
gehen sogar so weit, diesen Teil »Apo- 4. »Manaen« (die griechische Form des
stelgeschichte Band II« zu nennen. Der alttestamentlichen Namens »Mena-
Apostel Paulus steht nun ausdrücklich hem«). Er wird als einer geführt, »der
im Mittelpunkt, und Antiochien in Syri- mit Herodes, dem Vierfürsten, aufer-
en wird das Zentrum, von dem aus das zogen worden war«. Es ist interessant
Evangelium zu den Heiden verbreitet zu sehen, daß einer, der in solch enger
wird. Beziehung zum bösen König Herodes
13,1 Eine »Gemeinde« ist in Antiochi- Antipas gelebt hatte, einer der ersten
en gegründet worden, wie wir in Kapitel Bekehrten der Gemeinde geworden
11 erfahren haben. Statt daß man einen ist. Der Titel »Vierfürst« bedeutet,
einzigen als Pastor angestellt hätte, gab daß Herodes über ein Viertel des Rei-
es in dieser Gemeinde viele Gaben. Ins- ches seines Vaters herrschte.
besondere gab es mindestens fünf »Pro- 5. »Saulus«. Obwohl er als letzter in die-
pheten und Lehrer« dort. Wie schon ser Liste aufgeführt wird, sollte Sau-
zuvor angedeutet, war ein Prophet ein lus ein lebendiges Beispiel für die
Mann, der vom Heiligen Geist besonders Wahrheit werden: »Die Letzten wer-
ausgestattet wurde, um direkte Offenba- den die Ersten sein.«
rungen von Gott zu empfangen und sie Diese fünf Männer zeigen, daß man
anderen zu predigen. In einem sehr rea- in den ersten Gemeinden nicht auf die
len Sinne waren die Propheten die Hautfarbe achtete. »Ein neuer Maßstab
Sprachrohre Gottes, und konnten oft zu- ist hier entstanden: Es geht nicht darum,
künftige Ereignisse voraussagen. »Leh- wer du bist, sondern wessen.«
rer« waren Männer, denen der Heilige 13,2 Diese Propheten und Lehrer hat-
Geist die Fähigkeit gegeben hatte, ande- ten sich zu einer Zeit des Betens und des
ren das Wort Gottes mit einfachen und Fastens versammelt, eventuell zusam-
verständlichen Worten zu erklären und men mit der gesamten Gemeinde. Aus
auszulegen. dem Textzusammenhang geht wohl her-
Die Namen der »Propheten und Leh- vor, daß der Ausdruck »sie dienten dem
rer« waren folgende: Herrn« bedeutet, sie verbrachten Zeit im
1. »Barnabas«. Wir sind diesem wun- Gebet und der Fürbitte. Durch das Fasten
derbaren Diener Christi und treuen verleugneten sie die natürlichen Bedürf-
Mitarbeiter des Paulus bereits begeg- nisse des Leibes, um sich ungehinderter
net. Er wird hier als erster genannt, der geistlichen Übung hingeben zu kön-
vielleicht weil er der älteste im Glau- nen.
ben oder im Dienst Christi war. Warum kamen sie zum Gebet zusam-
2. »Simon, genannt Niger«. Daraus men? Ist es unvernünftig zu glauben, daß
schließen wir, daß er von Geburt aus sie diese Versammlung zusammengeru-
Jude war, vielleicht aus einer afrikani- fen hatten, weil sie ein tiefes Anliegen für
schen Judengemeinde. Oder viel- die Evangelisation der Welt fühlten? Der
leicht nahm er den Namen Niger (der Bericht sagt nicht, daß es sich um eine

529
Apostelgeschichte 13

Gebetsnacht handelte, doch sicher fand sein, daß eine Gemeinde mehrere hundert
hier etwas ernsthafteres und ausgedehn- Mitglieder hat, doch nur einen Pastor. Von
teres statt als unsere heutigen üblichen ihm wird erwartet, daß er predigen kann, daß
»Gebetsversammlungen«. er ein Seelsorger ist usw. In der Tat werden
Als sie beteten, wies sie »der Heilige sieben der acht Gaben, die in unserem Text
Geist« ausdrücklich an, »Barnabas und (Röm 12,6-8) angesprochen werden, als Auf-
Saulus zu dem Werk« auszusondern, gaben des ordinierten Pastors angesehen,
das Gott sich vorgenommen hatte. Das während nur die achte als Aufgabe der
ist ein sehr deutlicher Beweis dafür, daß Gemeinde gilt. Und welche Gabe ist der
der Heilige Geist eine Person ist. Wenn er Gemeinde überlassen? Die Rechnungen zu
nur ein »Einfluß« wäre, dann wäre es zahlen. Irgend etwas ist hier nicht in Ord-
unvorstellbar, mit solchen Worten von nung.
ihm zu reden. Wie hat nun der »Heilige Man mag fragen, ob ich vorschlage, daß
Geist« seine Botschaft den Lehrern und Laien predigen sollten. Ohne Frage, wenn
Propheten übertragen? Obwohl hier sich ein »Laie« in der Schrift auskennt, dann
keine eindeutige Antwort gegeben wird, sollte er seine Gabe ausüben und bei jeder
ist es wahrscheinlich, daß er durch einen Gelegenheit predigen. Das Wachstum der
der Männer sprach, die Propheten sogenannten Laienbewegungen ist augenfäl-
waren, entweder Simeon, Lucius oder lig und ein Schritt in die richtige Rich-
Manaen. tung – zurück zu der Art, wie man im NT
53)
»Barnabas« wird hier zuerst erwähnt, gehandelt hat.
dann erst »Saulus«. Doch als sie nach Man sollte sich daran erinnern, daß
Antiochien zurückkehrten, war die Ord- Barnabas und Saulus bis dahin schon
nung umgekehrt. acht Jahre im Werk des Herrn gedient
Dieser Vers ist von enormer prakti- hatten. Sie waren keine Neulinge. Sie
scher Bedeutung, weil er die Rolle des hatten schon die »Ordination der durch-
»Heiligen Geistes« bei der Führung der grabenen Hände« empfangen. Nun
frühen Gemeinde und die Sensibilität drückten ihre Mitarbeiter in Antiochien
der Jünger zeigt, mit der sie sich von ihm ihre Verbundenheit mit ihrer besonderen
leiten lassen. Mission aus, das Evangelium zu den
13,3 Nachdem der Heilige Geist so Heiden zu tragen.
seinen Willen offenbart hatte, fasteten Die Worte »sie entließen sie« kann
und beteten sie weiter. Die drei (Simeon, man auch übersetzen: »sie sonderten sie
Lucius und Manaen) legten »ihnen die aus« zu ihrer Aufgabe.
Hände« auf. Das war keine offizielle 13,4 Mit diesem Vers beginnt, was
»Ordination«, wie man sie heute in der uns allgemein als die erste Missionsreise
Christenheit praktiziert, wo die Kirche des Paulus bekannt ist. Der Bericht über
einem Untergeordneten offiziell einen diese Reise erstreckt sich bis Kapitel
besonderen Status einräumt. Hier ging es 14,26. In erster Linie evangelisierte Pau-
einfach um den Ausdruck der Gemein- lus auf dieser Reise in Kleinasien. Die
schaft mit diesen beiden Männern in Zweite Missionsreise brachte das Evan-
ihrem Dienst, zu dem der Heilige Geist gelium nach Griechenland. Die Dritte
sie berufen hat. Diese Idee der Ordinati- Missionsreise umfaßte Besuche bei den
on als Ritus, der die exklusive Berechti- Gemeinden in Kleinasien und Griechen-
gung zur »Spende der Sakramente« und land, konzentrierte sich aber in der
zu anderen kirchlichen Diensten verleiht, Hauptsache auf die Provinz Asien und
ist dem NT unbekannt. Barnhouse kom- die Stadt Ephesus. Die Missionsreisen
mentiert: des Paulus erstreckten sich über einen
Ein großer Fehler in unserer heutigen Zeitraum von etwa fünfzehn Jahren.
Praxis besteht darin, von einem Mann zu Von Antiochien in Syrien »gingen«
erwarten, daß er alleine alle notwendigen die beiden unermüdlichen Diener Christi
Gaben für die Leitung besitzt. So kann es zunächst »hinab nach Seleucia«, einem

530
Apostelgeschichte 13

Hafen ungefähr zweiundzwanzig Kilo- Geist erfüllt« war. Er sah den Zauberer
meter von Antiochien entfernt. Von dort »fest« an und klagte ihn an, »voll« alles
aus »segelten sie nach Zypern«. Schlechten und »aller Bosheit« zu sein.
13,5 Nachdem sie in »Salamis« an der Auch ließ sich Saulus nicht von dem
Ostküste Zyperns gelandet waren, be- Namen Bar-Jesus betrügen, sondern riß
suchten sie verschiedene »Synagogen« ihm diese fromme Maske ab und
und »verkündigten« dort« das Wort Got- bezeichnete Elymas als »Sohn des Teu-
tes«. In den jüdischen Synagogen war es fels«. Der Zauberer war ein »Feind aller
Brauch, daß jeder jüdische Mann dort die Gerechtigkeit« und arbeitete unaufhör-
Möglichkeit hatte, aus der Schrift zu lich daran, die Wahrheit Gottes zu ver-
lesen und sie auszulegen. »Johannes« kehren.
Markus war zu dieser Zeit der »Diener« 13,11 Nun sprach Paulus mit der
von Barnabas und Paulus. Als sie zuerst besonderen strafenden Autorität, die
in die Synagoge gingen, erfüllten Barna- ihm als Apostel gegeben war und ver-
bas und Saulus die göttliche Anordnung, kündete, daß Elymas »eine Zeitlang« mit
daß das Evangelium zuerst den Juden, Blindheit geschlagen werden sollte. Weil
und dann erst den Heiden gepredigt er versucht hatte, andere, wie zum Bei-
werden sollte. spiel den Prokonsul, in geistlicher Dun-
13,6 Von Salmis arbeiteten sie sich ein kelheit zu halten, wurde er nun mit leib-
ganzes Stück über »die Insel« hinweg licher Blindheit bestraft. »Sogleich fiel
»bis Paphos« am Westufer. Salamis war Dunkel und Finsternis auf ihn«, und er
die wichtigste Handelsstadt der Insel, mußte sich stolpernd seinen Weg suchen,
Paphos die Hauptstadt. um jemanden zu finden, der bereit wäre,
13,7.8 Dort begegneten sie »einem »ihn an der Hand« zu leiten.
Magier« und »falschen Propheten« mit Elymas kann als Bild für das Volk
dem Namen »Bar-Jesus« (das bedeutet Israel gesehen werden, das nicht nur
»Sohn des Jesus« oder »Sohn des Josua«). widerstrebte, den Herrn Jesus anzuneh-
Auf irgendeine Weise war es dem men, sondern auch versuchte, andere
»Magier« gelungen, mit dem »Sergius Menschen von ihm abzuhalten. Als Ur-
54)
Paulus«, einem römischen »Prokonsul« teil darüber ist Israel von Gott verblendet
oder Verwaltungsoffizier der Insel, eine worden, doch nur für »eine Zeitlang«.
enge Bekanntschaft zu entwickeln. Die- Eines Tages wird ein Überrest des Volkes
ser wird als »verständiger Mann« sich zu Jesus als dem Messias bekehren.
bezeichnet. Als dieser Mann »Barnabas 13,12 »Der Prokonsul« war offen-
und Saulus« herbeirief, daß sie zu ihm sichtlich durch diese wunderbare Strafe
kommen und ihn im »Wort Gottes« Gottes beeindruckt, doch war er noch
unterrichten sollten, wollte der Zauberer mehr durch »die Lehre des Herrn« beein-
eingreifen. Wahrscheinlich hat ihn Satan druckt, die er von Barnabas und Saulus
dazu angestiftet, um das Evangelium zu hörte. Er wurde ein echter Gläubiger an
behindern. den Herrn Jesus, die erste Trophäe der
In Vers 8 wird sein Name als »Ely- Gnade auf der ersten Missionsreise.
mas« angegeben, was »Weiser« bedeutet. Man beachte, daß Lukas in dieser
Das war natürlich ein folgenschwerer Erzählung beginnt, vermehrt den heidni-
falscher Name für ihn. schen Namen des Saulus zu verwenden,
13,9.10 Da »Saulus« sah, daß Sergius nämlich Paulus. Der Wechsel im Ge-
Paulus ernsthaft nach der Wahrheit such- brauch des Namens Paulus zeigt die Wen-
te und der Zauberer ein Gegner dersel- dung des Evangeliums zu den Nationen.
ben war, wies ihn Saulus erbarmungslos 13,13 Nun hat »Paulus« den ersten
zurecht. Damit man nicht annehmen Platz eingenommen. Das wird durch die
könnte, daß Saulus hier fleischlich han- Worte angedeutet: »Paulus und seine
delt, wird ausdrücklich erwähnt, daß er Begleiter«. »Von Paphos« aus segelten sie
zu diesem Zeitpunkt »mit Heiligem nordwestlich nach »Perge in Pamphyli-

531
Apostelgeschichte 13

en«. »Pamphylien« war eine römische die Zeit über, als sie »in der Fremdling-
Provinz an der Südküste Kleinasiens. schaft im Land Ägypten« wohnten, und
»Perge« war ihre Hauptstadt und lag verherrlicht Gottes Gnade, daß er sie aus
etwa zehn Kilometer von der Küste ent- der Unterdrückung durch den Pharao
fernt am Fluß Kestros. mit seinem »erhobenen Arm« hinaus-
Als sie in »Perge« predigten, verließ führte.
sie »Johannes« Markus und »kehrte nach 13,18 »Etwa vierzig Jahre ertrug er«
Jerusalem zurück«. Vielleicht gefiel ihm das Volk Israel »in der Wüste«. Das Verb,
der Gedanke nicht, das Evangelium den das hier mit »ertragen« übersetzt wird,
Heiden zu bringen. »Paulus« deutete sei- kann von seiner Stammform her auch
nen Rückzug als so mangelhaften Dienst, eine positivere Bedeutung haben, näm-
daß er sich weigerte, Markus auf die lich des Sorgens für die Bedürfnisse eines
zweite Missionsreise mitzunehmen. anderen. Das tat der Herr ganz sicherlich
Dadurch entstand ein scharfer Streit zwi- an Israel trotz all ihres Murrens.
schen Paulus und Barnabas, der dazu 13,19-22 Die »vierhundertfünfzig Jah-
führte, daß die beiden im Dienst für re«, die Paulus hier erwähnt, umfassen
Christus zukünftig getrennte Wege gin- wahrscheinlich die Zeit bis zu den Patri-
gen (vgl. Kap. 15,36-39). Schließlich archen, die nach Ägypten kamen, und
55)
erlangte Markus jedoch das Vertrauen reicht bis zu den Richtern.
des Apostels Paulus wieder (2. Tim 4,11). Nach dem Einmarsch in Kanaan
Wir erfahren nicht mehr über den »gab« Gott »ihnen Richter bis« zur Zeit
Besuch in »Perge«. des »Samuel, dem Propheten«. Als »sie
13,14.15 Ihr nächster Aufenthalt war einen König . . . begehrten«, wie alle
in »Antiochien in Pisidien«. Das lag etwa anderen Völker ihn haben, »gab Gott
160 km nördlich von Perge. Und wieder ihnen Saul, den Sohn des Kisch, einen
gingen die beiden Gesandten des Kreu- Mann aus dem Stamm Benjamin«, der sie
zes zuerst »am Tag des Sabbats in die »vierzig Jahre lang« regierte. Wegen sei-
Synagoge«. Nachdem die Schrift gelesen nes Ungehorsams wurde Saul »verwor-
worden war, erkannten die »Vorsteher fen« und »David« wurde »König« und
der Synagoge« diese Besucher als Juden ersetzte ihn. Gott lobt hier David sehr als
und luden sie ein zu predigen, wenn sie »einen Mann nach meinem Herzen, der
»ein Wort der Ermahnung an das Volk« meinen ganzen Willen tun wird«. Vers 22
hätten. Diese Freiheit, in den Synagogen verbindet Zitate aus Psalm 89,20 und 1.
die Wahrheit des Evangeliums zu ver- Samuel 13,14.
kündigen, sollte nicht mehr lange anhal- 13,23 Vom Thema David geht Paulus
ten. nun ganz einfach und unkompliziert zu
13,16 Da er keine Gelegenheit ausließ, »Jesus« über, dem Nachkommen Davids.
das Evangelium zu predigen, »stand Wie jemand einmal treffend formuliert
Paulus auf« und sprach zu den Besu- hat: »Alle Wege der Predigten des Paulus
chern der Synagoge. Sein allgemeiner führen zu Christus.« Es ist vielleicht
Angriffsplan lautete, zunächst auf die schwierig, uns den Mut vorstellen zu
jüdische Geschichte einzugehen, dann können, der notwendig war, dem Volk
die Hörer über die Vorgänge im Leben Israel zu verkündigen, daß »Jesus« der
und Dienst Christi aufzuklären und »Erretter« war, den Gott ihnen nach sei-
dann die Auferstehung Christi mit ner Verheißung gegeben hat. Sie waren
äußerster Dringlichkeit zu bezeugen, die gewohnt, von Jesus ganz anders zu den-
Vergebung der Sünden durch den Erlö- ken!
ser zu verkünden und seine Hörer davor 13,24 Nach dieser kurzen Einführung
zu warnen, ihn abzulehnen. wendet sich Paulus zurück zum Dienst
13,17 Die Predigt beginnt mit Gottes »Johannes« des Täufers. Vor dem öffent-
Auserwählung des »Volkes Israel« als lichen »Auftreten« Jesu verkündigte
sein irdisches Volk. Sie geht schnell auf Johannes »die Taufe der Buße dem

532
Apostelgeschichte 13

ganzen Volk Israel«. Das bedeutet, daß er »geschehen« war, sich in »Jesus« erfüllt
das »Auftreten« des Messias vorausge- hat. Sie erfüllte sich zunächst in seiner Ge-
sagt hatte und die Menschen aufforderte, burt in Bethlehem. Paulus sah in der Ge-
in Vorbereitung seiner Ankunft Buße zu burt Christi eine Erfüllung von Psalm 2,7,
tun. Sie sollten ihre »Buße« durch die wo Gott sagt: »Du bist mein Sohn, heute
Taufe im Jordan öffentlich kundtun. habe ich dich gezeugt.« Dieser Vers be-
13,25 Nicht eine Minute gestattete es deutet nicht, daß Christus erst zum Sohn
sich »Johannes«, als der verheißene Mes- Gottes wurde, als er in Bethlehem gebo-
sias zu gelten. Bis zu der Zeit, als er »sei- ren worden war. Er war von aller Ewig-
nen Lauf erfüllte«, d. h. sein Dienst zu keit her Gottes Sohn, doch er wurde der
Ende ging, bestand er darauf, nicht der Welt erst durch seine Menschwerdung als
zu sein, von dem die Propheten gespro- Gottes Sohn bekannt. Psalm 2,7 kann man
chen hatten. Er hielt sich sogar für »nicht nicht dazu mißbrauchen, die ewige Got-
würdig, . . . die Sandale an« den »Füßen« tessohnschaft Jesu zu bestreiten.
des einen »zu lösen«, dessen Kommen er 13,34 In Vers 34 steht die Auferste-
verkündigt hatte. hung des Herrn Jesus im Mittelpunkt.
13,26 Paulus sprach seine Zuhörer als Gott hat ihn »aus den Toten auferweckt,
»Brüder« und »Söhne des Geschlechts damit er nicht mehr zur Verwesung
Abrahams« an und erinnerte sie daran, zurückkehrte«. Dann zitiert Paulus Jesaja
daß »das Wort dieses Heils« zuerst dem 55,3: »Ich werde euch die zuverlässigen
Volk Israel gesandt war. Ihnen sollten die heiligen Güter Davids geben.« Dieses
Jünger die Botschaft zuerst predigen. Zitat stellt für uns vielleicht eine Schwie-
13,27.28 Doch das Volk in »Jerusalem rigkeit dar. Welche Verbindung besteht
. . . und ihre Obersten« erkannten nicht, zwischen diesem Vers aus Jesaja und der
daß Jesus der langersehnte Messias war. Auferstehung Christi? Wie ist die Aufer-
Sie erkannten nicht, daß er derjenige war, stehung des Retters mit Gottes Bund mit
von dem die »Propheten« geschrieben David verbunden?
hatten. Als sie die Voraussagen über den Gott verhieß »David« einen ewigen
Messias jeden »Sabbat« hörten, verban- Thron und ein ewiges Reich, und einen
den sie sie nicht mit Jesus von Nazareth. Nachkommen, der diesen Thron in alle
Stattdessen wurden sie selbst die Werk- Ewigkeit innehaben würde. In der Zwi-
zeuge, diese Schriftstellen zu erfüllen, schenzeit starb David, und sein Leib
»indem sie über ihn Gericht hielten. Und wurde zu Staub. Das Reich hatte noch
obschon sie keine todeswürdige Schuld einige Jahrhunderte Bestand, doch dann
fanden«, übergaben sie ihn Pilatus, war Israel für über vierhundert Jahre
»damit er umgebracht werde«. ohne König. Die Linie Davids wurde
13,29 Im ersten Teil dieses Verses jedoch aufrecht erhalten und erstreckte
bezieht sich das Wort »sie« auf die Juden, sich schließlich bis zu Jesus von Naza-
die die Schrift erfüllten, indem sie den reth. Er erbte das Anrecht auf den Thron
Messias verwarfen. Im zweiten Teil des Davids durch Joseph. Joseph war nach
Verses bezieht »sie« sich auf Joseph von dem Gesetz sein Vater, auch wenn er
Arimathia und Nikodemus, die liebevoll nicht sein leiblicher Vater war. Der Herr
den Leib des Herrn Jesus bestatteten. Jesus war jedoch durch Maria auch ein
13,30.31 Die Tatsache, daß Jesus von leiblicher Nachfahre Davids.
den Toten auferstanden ist, ist gut Paulus betont hier, daß die »zuverläs-
bezeugt. Diejenigen, »die mit ihm hin- sigen« Verheißungen an David ihre Erfül-
aufgezogen waren von Galiläa nach Jeru- lung in Christus finden. Er ist der Nach-
salem«, waren noch am Leben, und ihr komme Davids, der auf seinem Thron sit-
Zeugnis war unbestreitbar. zen wird. Weil er »aus den Toten« aufer-
13,32.33 Der Apostel verkündigte als standen ist und ewig lebt, werden die
Nächstes, daß die »Verheißung« über den ewigen Aspekte der Verheißung an
Messias, »die zu den Vätern« im AT David hier in Christus festgemacht.

533
Apostelgeschichte 13

13,35 Das wird weiter durch Vers 35 nicht die Lehre und Aussage dieses Sat-
betont, in dem nun der Apostel Psalm zes. »Das Gesetz« konnte niemanden
16,10 zitiert: »Du wirst nicht zugeben, rechtfertigen, es konnte nur verurteilen.
daß dein Frommer die Verwesung sehe.« Was Paulus hier sagen will ist, daß man
Mit anderen Worten, seit der Herr Jesus durch Glauben an Christus von jeder
von den Toten auferstanden ist, hat der Anklage freigesprochen werden kann,
Tod nun keine Macht mehr über ihn. Er die irgendwie gegen einen aufgebracht
wird nie wieder sterben, noch wird sein werden könnte – eine Reinigung, die
Leib je »die Verwesung« durchmachen man unter dem »Gesetz des Mose« nie-
müssen. mals hätte erlangen können.
13,36.37 Obwohl David die Worte 13,40.41 Der Apostel schließt dann
von Psalm 16,10 geschrieben hat, kann er seine Predigt mit einer ernsten Warnung
hier jedoch nicht von sich selbst gespro- an die, die versucht sein könnten, Gottes
chen haben. »Nachdem er seinem wunderbares Angebot sofortiger Erret-
Geschlecht nach dem Willen Gottes tung abzulehnen. Er zitiert aus Habakuk
gedient hatte«, starb er, wurde begraben 1,5 (und vielleicht einzelne Teile aus
und sein Leib wurde zu Staub. Doch der Jes 29,14 und Spr 1,24-31), wo Gott die
Herr Jesus wurde am dritten Tage aus »Verächter« seines Wortes warnt, er wer-
den Toten »auferweckt«, ehe sein Leib de seinen Zorn in solch einem Ausmaß
»die Verwesung sehen« konnte. über sie ausgießen, daß sie niemandem
13,38 Auf der Basis des vollendeten »glauben« würden, wenn es ihnen
Werkes Christi, dessen Auferstehung das jemand vorher ankündigt. Zur Zeit des
göttliche Siegel der Bestätigung war, Paulus konnte sich das auf die Zer-
konnte Paulus nun »die Vergebung der störung Jerusalems im Jahr 70 n. Chr.
Sünden« als eine gegenwärtige Realität beziehen, doch trifft es auf jeden Fall auf
verkündigen. Man beachte seine Worte: Gottes ewiges Urteil über diejenigen zu,
»Daß durch diesen euch Vergebung der die seinen Sohn ablehnen.
Sünden verkündigt wird.« 13,42.43 Als der Gottesdienst in der
13,39 Doch es gab noch mehr als das. »Synagoge« vorbei war, »folgten viele
Paulus konnte nun die volle und ge- der Juden und der anbetenden Prose-
schenkweise Rechtfertigung von allen lyten dem Paulus und Barnabas« mit
Sünden verkündigen. Das konnte »das dem tiefsten Interesse. Diese beiden Die-
Gesetz des Mose« nicht leisten. ner des Herrn ermutigten sie mit herzli-
Rechtfertigung ist die Handlung Got- chen Worten, »beharrlich bei der Gnade
tes, durch die er diejenigen gottlosen Gottes zu bleiben«.
Sünder für gerecht erklärt, die seinen 13,44 Eine Woche später kehrten Pau-
Sohn als Herrn und Erlöser annehmen. lus und Barnabas zu der Synagoge
Es handelt sich hier um einen juristi- zurück, um dort fortzusetzen, wo sie auf-
schen Akt, der vor Gott stattfindet, und gehört hatten. »Fast die ganze Stadt« hat-
durch den der Sünder von jeder Anklage te sich versammelt, »um das Wort Gottes
gegen sich befreit wird. Gott kann den zu hören«. Der Dienst dieser hingegebe-
schuldigen Sünder rechtmäßig freispre- nen Prediger hatte bei vielen Menschen
chen, weil die Strafe für seine Sünden einen tiefen Eindruck hinterlassen.
vollständig durch den Herrn Jesus Chri- 13,45 Doch die Beliebtheit dieser
stus am Kreuz getragen worden ist. »fremden Botschaft« erfüllte die Juden
Auf den ersten Blick könnte man mit »Eifersucht« und Zorn. Sie wider-
nach diesem Vers meinen, daß das sprachen offen der Predigt des Paulus
»Gesetz des Mose« in der Lage sei, für und verwandten dabei eine böse,
gewisse Sünden Rechtfertigung zu schaf- ungehörige Sprache gegen ihn.
fen, und man durch Christus in der Lage 13,46.47 »Paulus und Barnabas«
sei, die Rechtfertigung für noch viele konnte man so leicht nicht erschrecken.
andere Sünden zu erlangen. Doch das ist Sie erklärten, daß sie die Pflicht hätten,

534
Apostelgeschichte 13 und 14

die Botschaft in erster Linie den Juden zu ab, einige zu erretten. Hat er nicht das
verkündigen. Doch weil sie nun die Bot- Recht, dies zu tun? Natürlich hat er die-
schaft ablehnten und sich damit als ses Recht. Die Lehre von der souveränen
»nicht würdig . . . des ewigen Lebens« Erwählung durch Gott ist eine Lehre, die
erwiesen hatten, kündigten die Prediger Gott seinen ihm gebührenden Platz als
an, daß sie sich nun mit dem Evangelium Herrscher des Universums einräumt, der
»zu den Nationen« wenden würden. tun kann, was ihm gefällt, und der nie-
Wenn es irgendeine Berechtigung für mals etwas tut, das ungerecht oder böse
solch einen Bruch mit der jüdischen Tra- wäre. Viele unserer Schwierigkeiten mit
dition gab, dann waren es die Worte in diesem Thema würden sich lösen, wenn
Jesaja 49,6. In diesem Vers spricht Gott wir die Worte von Erdman beachten
wirklich vom Messias, wenn er spricht: würden:
»Ich habe dich zum Licht der Nationen Die Souveränität Gottes ist absolut, doch
gesetzt, daß du zum Heil seiest bis an das wird sie nie ausgeübt, um Menschen zu ver-
Ende der Erde.« Aber der Geist Gottes urteilen, die doch gerettet werden sollten,
erlaubt es den Dienern des Messias, die- sondern diese Souveränität hat dazu geführt,
se Worte auf sich selbst anzuwenden, daß Menschen gerettet werden, die eigentlich
weil sie seine Werkzeuge waren, das gerechterweise hätten verloren gehen müs-
56)
»Licht« und das »Heil« den Nationen zu sen.
bringen. 13,49.50 Trotz des Widerstandes der
13,48 Während diese Ankündigung Juden wurde »das Wort des Herrn . . .
des Heils für »die Nationen« die Juden ausgebreitet durch die ganze Gegend«.
erboste, verursachte sie unter den Anwe- Das rief weiteren Widerstand durch die
senden »aus den Nationen« große Freu- Gegner auf den Plan. »Die Juden aber
de. Sie »verherrlichten das Wort des erregten« einige »anbetende . . . Frauen«,
Herrn«, das sie gehört hatten. »So viele die sich zum Judentum bekehrt hatten
zum ewigen Leben verordnet waren«, und in dem Ort als »vornehm« galten,
glaubten es. Dieser Vers ist eine einfache sich gegen die Missionare einzusetzen.
Feststellung der souveränen Erwählung Auch »die Ersten der Stadt« spannten sie
durch Gott. Sie sollte ganz wörtlich ge- für ihre bösen Absichten ein. Es erhob
nommen und geglaubt werden. Die Bibel sich ein solcher Sturm der »Verfolgung
lehrt ausdrücklich, daß Gott einige Men- gegen Barnabas und Paulus«, daß sie
schen schon vor Grundlegung der Welt mit Gewalt aus dem Gebiet vertrieben
erwählte, zu Christus zu gehören. Sie wurden.
lehrt mit gleichem Nachdruck, daß der 13,51.52 Nach der Anweisung ihres
Mensch moralisch frei handeln kann, und Herrn (Lk 9,5; 10,11) »schüttelten« sie
er errettet wird, wenn er Jesus Christus »den Staub von ihren Füßen gegen sie
als seinen Herrn und Retter annimmt. Die ab« und reisten »nach Ikoniun«. Doch
göttliche Erwählung und die menschli- wurde dieser Vorfall von den Christen
che Verantwortlichkeit sind beides nicht als Niederlage oder Rückzug
schriftgemäße Lehren, und keine von bei- gewertet, weil wir lesen, daß sie »mit
den sollte auf Kosten der anderen über- Freude und Heiligem Geist erfüllt« wur-
betont werden. Zwar scheinen die beiden den. »Ikoniun« heißt heute Konya und
einander zu widersprechen, doch besteht liegt südöstlich von Antiochien in
dieser Konflikt nur für den menschlichen Kleinasien.
Geist, nicht jedoch für Gott. 14,1.2 In »Ikoniun«, wie auch an ande-
Die Menschen werden durch ihre ren Orten, an denen es eine »Synagoge«
eigene Wahl verurteilt, nicht durch ein gab, war es Paulus und Barnabas erlaubt
Handeln Gottes. Wenn die ganze zu predigen, weil es die oben erwähnte
Menschheit das erhielte, was ihr mit Sitte unter den Juden dieser Zeit gab. Der
Recht zusteht, dann wären alle verloren. Geist Gottes begleitete das Wort mit sol-
Doch Gott in seiner Gnade läßt sich her- cher Vollmacht, daß »eine große Menge

535
Apostelgeschichte 14

. . . Juden« und heidnische Proselyten den tung das Wichtigere, nicht irgendwelche
Herrn Jesus annahmen. Das erregte den vorgefertigten Strategien.
Zorn der Juden, die das Evangelium 14,8.9. »In Lystra« bekamen die Mis-
ablehnten, und sie wiederum »reizten . . . sionare Kontakt zu einem Mann, der
die . . . Nationen gegen die Brüder«. In »lahm von seiner Mutter Leib an« war.
der Apostelgeschichte sind die ungläubi- Als er »Paulus reden« hörte, zeigte er
gen Juden häufig die Verursacher der Ver- ungewöhnliches Interesse. Irgendwie
folgung der Apostel, auch wenn sie selbst bemerkte »Paulus«, daß er »Glauben hat-
nicht an der Bestrafung teilnehmen. Sie te, geheilt zu werden«. Obwohl wir nicht
waren Meister der Überredungskunst, wissen, wie Paulus das erfuhr, glauben
wenn es darum ging, die Heiden (oder wir, daß ein wirklicher Evangelist die
Nationen) dazu zu bringen, ihre bösen Fähigkeit hat, den Seelenzustand von
Absichten zu verwirklichen. Menschen zu erfahren, mit denen er
14,3 Obwohl sie wußten, daß sich umgeht. Er ist in der Lage zu sagen, ob
Schwierigkeiten zusammenbrauten, fuh- sie nur neugierig sind, oder ob ihre Seele
ren die Prediger fort, »freimütig« im wirklich in Nöten ist, weil sie von ihrer
Namen des »Herrn« zu reden, der die Sünde überführt worden sind.
Göttlichkeit dieser Botschaft durch »Zei- 14,10-12 Sobald Paulus dem Mann
chen und Wunder« bestätigte. Das Wort befahl, sich »auf« die »Füße« zu stellen,
»Zeichen« bedeutet nichts anderes, als »sprang er auf und ging umher«. Weil das
daß man aus dem Wunder etwas lernen Wunder öffentlich geschehen war, und
kann, während »Wunder« eher für Taten weil Paulus sicherlich eine nicht geringe
steht, die ehrfürchtige Scheu vor dem Aufmerksamkeit durch sein lautes Reden
Handeln Gottes einflößen. erregt hatte, wurden »die Volksmengen«
14,4-7 Als sich die Spannungen in der sehr beeindruckt. Es erhob sich sogar eine
Stadt vergrößerten, bildeten sich schnell Volksbewegung mit dem Ziel »Barnabas«
zwei Parteien. Einige »waren mit den als »Zeus« und »Paulus« als »Hermes« zu
58)
Juden, die anderen mit den Aposteln«. verehren. »Die Volksmenge« glaubte
Schließlich beschlossen die Ungläubigen wirklich, daß ihre »Götter« sie in den bei-
»aus den Nationen« und die »Juden«, den Missionaren besucht hätten. Aus
57)
»die Apostel« anzugreifen. Um einer irgendeinem Grund, der hier nicht
Steinigung aus dem Weg zu gehen, flo- genannt ist, sahen sie »Barnabas« als
hen sie nach »Lystra und Derbe«, beides ihren obersten Gott an. Weil »Paulus«
»Städte« in »Lykaonien«, einem Bezirk gesprochen hatte, nannten sie ihn »Her-
im Zentrum von Kleinasien. Ohne in mes«, den Götterboten des »Zeus«.
ihrem Eifer nachzulassen, »verkündigten 14,13 Sogar der »Priester des Zeus«
sie das Evangelium« in der gesamten war der Überzeugung, daß sein Gott sie
Region. besucht hatte, eilte aus dem Tempel »vor
Als Paulus und Barnabas die Steini- der Stadt« und brachte »Stiere und Krän-
gung drohte, »entflohen sie . . . in die ze« zu einem großen Opfer mit. Diese
Städte . . . Lystra und Derbe«. Zu ande- gesamte Bewegung war eine raffiniertere
ren Zeiten blieben sie trotz Gefahr an Gefahr für den christlichen Glauben als
einem Ort. Warum flohen sie einmal und alle anderen Formen des Widerstandes,
ein anderes mal blieben sie standhaft? Es die uns bisher berichtet wurden. Für
scheint keinerlei ordentliche Erklärung einen erfolgreichen christlichen Mitar-
dafür zu geben. Das große Leitprinzip in beiter gibt es keine größere Gefahr als die
der Apostelgeschichte ist der Heilige Neigung der Menschen, ihre geistliche
Geist. Diese Männer lebten in einer Aufmerksamkeit auf ihn statt auf Chri-
engen, vertrauten Gemeinschaft mit dem stus zu lenken.
Herrn. Da sie in ihm blieben, erfuhren sie 14,14.15a Zunächst merkten »Barna-
durch wunderbare Vermittlung den Wil- bas und Paulus« nicht, was die Menge
len Gottes. Für sie war diese Geisteslei- vorhatte, weil sie den lykaonischen Dia-

536
Apostelgeschichte 14

lekt nicht verstehen konnten. Sobald es Und warum? Die Ablehnung der Vereh-
den Missionaren jedoch klar wurde, daß rung, die die Menschen in Lystra bereit
die Menschen sie als Götter verehren waren zu zollen, reizt den Menschen aufs
wollten, »zerrissen sie ihre Kleider« als äußerste und macht ihn bereit, die dunkelsten
Ausdruck des Protestes und der Trauer. Gerüchte über die zu glauben, die er vorher
Dann »sprangen« sie »hinaus unter die anbeten wollte. Die Menschen fühlen sich
Volksmenge« und warnten sie voller erhoben, wenn sie auf menschliche Weise
Inbrunst vor solch einer Dummheit. Sie anbeten, und wenn ihnen das verwehrt ist,
waren schließlich keine Götter, sondern dann verwandelt sich die Anbetung in tödli-
»Menschen von gleichen Empfindungen chen Haß auf diejenigen, die nur die Ehre
wie« die Lykaonier. Ihr Ziel war doch Gottes suchen. Genau das geschah hier. Statt
nur, ihnen die Gute Nachricht zu brin- ihre Absicht wie die Malteser zu ändern (die
gen, daß sich die Menschen »von den Paulus zuerst als Mörder ansahen und dann
nichtigen Götzen . . . zu dem lebendigen als Gott, Apg 28,6), hörten sie auf den jüdi-
Gott« bekehren sollten. schen Mob, den sie sonst verachteten, und
14,15b-17 Es ist bemerkenswert, daß steinigten Paulus als falschen Propheten,
Paulus und Barnabas bei diesen Heiden dem sie vor kurzem noch hatten opfern wol-
nicht das AT zitieren, wie sie es bei den len, und schleiften ihn als Toten vor die
59)
Juden gewohnt waren. Statt dessen Stadt.
begannen sie mit der Geschichte der War Paulus wirklich nach dieser Stei-
Schöpfung, ein Thema, das heidnische nigung »gestorben«? Wenn es sich hier
Völker in allen Ländern der Welt und in um den Vorfall handelte, auf den er in 2.
allen Zeitaltern sehr interessiert. Die Mis- Korinther 12,2 anspielt, dann wußte er
sionare erklärten, daß Gott »in den ver- selbst es nicht. Was wir jedoch sagen
gangenen Geschlechtern alle Nationen in können ist, daß seine Wiederherstellung
ihren eigenen Wegen gehen« ließ. Sogar ein Wunder war. »Als aber die Jünger ihn
zu diesen Zeiten hatten sie den Beweis umringten, stand er auf und ging« mit
der Existenz Gottes in seiner Schöpfung den Jüngern zurück »in die Stadt hinein;
und in seiner Versorgung. Er hat immer und am folgenden Tag zog er mit Barna-
voll Liebe »Regen und fruchtbare Zei- bas aus nach Derbe«.
ten« geschenkt und erfüllte ihre »Herzen 14,21 Es ging den Missionaren nie in
mit Speise und Fröhlichkeit«. Dieser letz- erster Linie um ihre persönliche Sicher-
te Ausdruck ist ein Bild für die Tatsache, heit. Das sieht man an der Tatsache, daß
daß Gott, indem er ihnen »Speise« für sie, nachdem sie in Derbe »das Evange-
ihren Leib gab, ihre Herzen mit der lium verkündigt hatten, . . . nach Lystra«
»Fröhlichkeit« erfüllte, die sich durch zurückkehrten, wo Paulus erst kurz
den Genuß von Speisen ergibt. zuvor gesteinigt worden war. Das ist ein
14,18 Die Predigt hatte das Beispiel für das, was jemand einmal »die
gewünschte Ergebnis. Zögernd gaben Macht der Umkehr und des schnellen
die Leute ihr Vorhaben auf, diesen Die- Wiederaufstehens« genannt hat.
nern Gottes zu »opfern«. Obwohl hier Timotheus nicht er-
14,19.20 »Juden . . . aus Antiochien wähnt wird, kann es sein, daß er zu die-
und Ikoniun« hatten nun Barnabas und ser Zeit durch die Predigt des Paulus
Paulus in Lystra eingeholt. Sie hatten gerettet wurde. Als die Apostel das näch-
Erfolg damit, die heidnische Bevölke- ste Mal nach Lystra kommen, ist Timo-
rung gegen die Missionare aufzubrin- theus schon ein Jünger und bei den Brü-
gen. Dieselbe Menge, die sie zuerst als dern hoch angesehen (Apg 16,1.2). Doch
Götter verehren wolle, steinigte »Paulus . die Tatsache, daß Paulus von ihm als sei-
. . und schleiften . . . ihn zur Stadt hinaus, nem echten Kind im Glauben spricht
da sie meinten«, ihn umgebracht zu (1. Tim 1,2), bedeutet nicht notwendiger-
haben. Hier einige sehr treffende Bemer- weise, daß er sich durch Paulus zu Chri-
kungen von Kelly dazu: stus bekehrt hat. Er kann Paulus auch ein

537
Apostelgeschichte 14

»echtes Kind im Glauben« geworden »Trübsale« haben keinen eigenen Erlö-


sein, indem er dem Beispiel des Paulus in sungswert. Doch denjenigen, die jetzt
Leben und Dienst folgte. durch Glauben »in das Reich Gottes ein-
Als ihre Arbeit in »Lystra« beendet gehen«, ist verheißen, daß ihr Weg in die
war, besuchten die Missionare noch ein- zukünftige Herrlichkeit mit »Trübsalen«
mal »Ikoniun und Antiochien« in Pisidi- gepflastert ist. »Wenn wir wirklich mit-
en, wo schon Gemeinden entstanden leiden, werden wir auch mitverherrlicht«
waren. Diesmal war ihr Ziel, »Nachar- (Röm 8,17b).
beit« zu tun, wie man es heute aus- 14,23 Zu dieser Zeit »wählten« die
drücken würde. Sie waren nie damit Missionare »in jeder Gemeinde Älteste«.
zufrieden, einfach nur das Evangelium In diesem Zusammenhang sollen einige
zu predigen und zu sehen, daß sich Men- Beobachtungen festgehalten werden:
schen zum Erlöser bekehren. Für sie war 1. Die neutestamentlichen Ältesten
das nur der Anfang. Sie strebten dann (Presbyter) waren gottesfürchtige,
danach, die Gläubigen in ihrem heiligen reife Männer, die die geistliche Lei-
Glauben aufzuerbauen, insbesondere, tung ihrer Ortsgemeinde innehatten.
indem sie ihnen die Wahrheit der Oft werden sie auch Bischöfe oder
Gemeinde und ihre Bedeutung in Gottes Aufseher genannt.
Plan erläuterten. 2. In der Apostelgeschichte wurden
Erdman betont: Älteste nicht sofort eingesetzt, wenn
Ein gutes missionarisches Programm hat die Gemeinde gegründet wurde, son-
das Ziel, auf dem Missionsfeld selbstverwal- dern erst, wenn der Apostel die
tete, sich selbst erhaltende und selbstverkün- Gemeinden nochmals besuchte. Mit
dende Gemeinden zu gründen. Das war anderen Worten, dazwischen lag die
60)
immer das Ziel und die Praxis von Paulus. Zeit, in der die durch den Geist er-
14,22 Bei ihrer Nacharbeit »befestig- wählten Ältesten erkannt werden
ten sie die Seelen der Jünger« und grün- konnten.
deten die Christen »im Glauben«, indem 3. Älteste wurden von den Aposteln
sie sie im Wort Gottes unterrichteten. und ihren Mitarbeitern eingesetzt. Zu
Paulus beschreibt diesen Vorgang in dieser Zeit war das NT noch nicht
Kolosser 1,28.29: »Mit aller geistlichen geschrieben, in dem ausdrückliche
Weisheit, die Gott mir gegeben hat, Anweisungen zur Qualifikation von
ermahne ich die Menschen und unter- Ältesten vorliegen. Die Apostel je-
richte sie im Glauben, damit jeder einzel- doch wußten, worauf es ankommt,
ne zu einem reifen, mündigen Christen und waren damit in der Lage, Män-
wird. Das ist das Ziel meiner Arbeit, ner auszuwählen, die den schrift-
dafür kämpfe ich und mühe ich mich ab. gemäßen Anforderungen genügten.
Christus, der mit seiner Macht in mir 4. Wir haben heute keine Apostel mehr,
wirkt, schenkt mir die Kraft dazu« (Hfa). um Älteste zu ernennen. Allerdings
Zweitens »ermahnten sie« die Jünger, verfügen wir über die aufgezeichne-
»im Glauben zu verharren«, eine Ermah- ten Anforderungen für das Ältesten-
nung, die durch die zu dieser Zeit weit- amt in 1. Timotheus 3 und Titus 1. Des-
verbreitete Verfolgung besonders ange- halb sollte jede Ortsgemeinde in der
bracht war. Zu diesem Zureden gehörte Lage sein, diejenigen Männer zu
die Erinnerung daran, »daß wir durch erkennen, die Gottes Anforderungen
viele Trübsale in das Reich Gottes einge- für Unterhirten für die Schafe erfüllen.
hen müssen«. Das bezieht sich auf »das Nachdem Paulus und Barnabas »mit
Reich Gottes« in seiner zukünftigen Fasten« gebetet hatten, »befahlen sie« die
Form, wenn die Gläubigen an Christi Gläubigen »dem Herrn«. Es scheint uns
Herrlichkeit Anteil haben werden. Man ungewöhnlich, daß Gemeinden gegrün-
kommt jedoch durch die Wiedergeburt det wurden, in denen es nur eine so kur-
in das Reich Gottes. Verfolgung und ze Zeit der Unterweisung durch die Apo-

538
Apostelgeschichte 14

stel gegeben hatte, und daß sie doch ein einer abgelegenen Ecke der Welt von
Licht für den Herrn wurden und als einem herrlichen Ziel begeistert waren,
unabhängige Gemeinden funktionierten. nämlich der Evangelisation der Welt,
Die Antwort liegt eindeutig in der Macht und wie sie dieses Ziel zu erreichen such-
des Heiligen Geistes Gottes. Diese Macht ten. Jeder fühlte sich für diese Aufgabe
zeigte sich im Leben von Männern wie direkt verantwortlich und setzte sich
Paulus und Barnabas. Wo immer sie hin- rückhaltlos dafür ein.
kamen, bewirkten sie sehr viel für Gott. Ein Großteil dieser Evangelisations-
Die Menschen sahen, daß ihr Leben arbeit geschah im Zusammenhang mit
durch und durch echt war. Ihre öffentli- dem alltäglichen Aufgaben der Gläubi-
che Predigt wurde durch das Beispiel gen am Ort. Sie plauderten gewisser-
ihres eigenen Lebens gestützt, und der maßen das Evangelium in ihrer Nachbar-
Einfluß dieses doppelten Zeugnisses war schaft herum.
unermeßlich. Zusätzlich reisten die Apostel und
Verse 21 und 23 zeigen uns das apo- andere von Land zu Land, predigten das
stolische Vorgehen: Predigt des Evangeli- Evangelium und gründeten Gemeinden.
ums, Lehren der Bekehrten und Grün- Sie reisten zu zweit oder in größerer
dung und Stärkung von Gemeinden. Gesellschaft. Manchmal reiste ein jünge-
14,24-26 »Nachdem sie« das Gebiet rer Mann mit einem älteren, wie etwa
von »Pisidien durchzogen« hatten, rei- Timotheus mit Paulus.
sten sie südwärts nach »Pamphylien«. Im Prinzip gab es zwei Methoden –
Dort besuchten sie nochmals »Perge«, persönliche Evangelisation und Massen-
dann »gingen sie hinab« in die Hafen- evangelisation. In Verbindung mit der
stadt »Attalia«, wo sie ein Schiff bestie- letzteren ist es interessant festzuhalten,
gen und nach »Antiochien« in Syrien daß die meisten Predigten spontan ge-
zurückkehrten. Hier beendeten sie ihre halten wurden und sich aus irgendeiner
erste Missionsreise. Von hier aus waren Situation oder einer Krise am Ort erga-
sie » der Gnade Gottes befohlen worden ben.
. . . zu dem Werk, das sie« soeben »erfüllt Fast alle Predigten, die hier (in der Apo-
hatten«. stelgeschichte) aufgezeichnet sind, wurden
14,27 Welch eine frohe Zeit muß es unter Umständen gehalten, die die Vorberei-
gewesen sein, als sie »die Gemeinde« in tung der Predigt ausschlossen. Jede dieser
61)
Antiochien »zusammenbrachten«, damit Situationen kam völlig unerwartet.
sie den Bericht von den missionarischen E. M. Bounds hat einmal gesagt, daß
Bemühungen dieser beiden großen Män- ihre Predigt nicht die Aufführung von
ner Gottes hören konnten. Mit echter etwas Eingeübten gewesen sei, sondern
christlicher Bescheidenheit »erzählten aus ihrem überfließenden Leben mit Gott
sie alles, was Gott mit ihnen getan und entsprang.
daß er den Nationen eine Tür des Glau- Die Apostel und ihre Mitarbeiter
bens aufgetan habe«. Es ging nicht um wurden durch den Heiligen Geit geleitet,
das, was sie für »Gott« getan hatten, son- doch wurde diese Leitung häufig durch
dern um alles, was ihm gefallen hatte, ihre Ortsgemeinde bestätigt. So lesen
durch seine Diener zu tun. wir, daß die Propheten und Lehrer in
14,28 »Sie verweilten« in Antiochien Antiochien Barnabas und Paulus die
»eine nicht geringe Zeit bei den Jün- Hände auflegten, als sie sie zu ihrer
gern«. Die Schätzungen betragen zwi- ersten Missionsreise aussandten
schen ein und zwei Jahren. (Apg 13,2). Später lesen wir, daß Timo-
theus erst das Vertrauen der Brüder in
Lystra und Ikonium genoß, ehe er auf
Exkurs über Missionsstrategie seine Missionsreise mit Paulus ging
Es ist aufregend zu sehen, wie ein kleine (Kap. 16,2). Und Paulus und Silas wurde
Gruppe von unbekannten Jüngern aus zunächst durch die Gemeinde in Antio-

539
Apostelgeschichte 14 und 15

chien der Gnade Gottes anbefohlen, ehe Am Ende ihrer Missionsreisen kehr-
sie auf ihre zweite Missionsreise gingen ten sie in ihre Heimatgemeinde zurück
(Kap. 15,40). und berichteten, wie Gott durch sie
Meist wird gelehrt, daß ihre geogra- gehandelt hat (Apg 14,26-28; 18,22.23).
phische Strategie darin bestand, daß sie Das ist für alle Missionare aller Zeitalter
zunächst in große Städte gingen und dort der Gemeinde ein gutes Vorbild, dem
Gemeinden gründeten, so daß diese Ge- man folgen sollte.
meinden dann das Umland evangelisie-
ren konnten. Das ist jedoch eine grobe
Vereinfachung. In erster Linie bestand E. Das Apostelkonzil in Jerusalem
ihre Taktik darin, der Führung des Heili- (15,1-35)
gen Geistes zu gehorchen, ob sie nun in 15,1 Die Auseinandersetzung, die sich in
eine große oder kleine Stadt kamen. Der der Gemeinde in Antiochien über die
heilige Geist führte Philippus aus der Beschneidung erhob, wird auch in Gala-
Erweckung in Samaria zu einem einzel- ter 2,1-10 beschrieben. Wenn wir diese
nen Mann auf der Straße nach Gaza beiden Berichte zusammennehmen, er-
(Apg 8,26-40). Und er führte Paulus nach halten wir folgendes Bild: »Einige«
Beröa (17,10), das Cicero eine »abgelegene falsche Brüder aus der Gemeinde in Jeru-
Stadt« nannte. Offen gesagt sehen wir kei- salem reisten nach Antiochien und pre-
ne feststehende, unflexible geographische digten in der dortigen Gemeinde. Der
Strategie in der Apostelgeschichte, son- Kern ihrer Predigt war, daß die Heiden
dern eher, wie der souveräne Geist Gottes »beschnitten« werden mußten, um »er-
nach seinem eigenen Willen handelt. rettet« zu werden. Es war ihrer Aussage
Überall dort wurden Ortsgemeinden nach nicht ausreichend, an den Herrn
gegründet, wo Menschen an das Evange- Jesus Christus zu glauben, man müsse
lium glaubten. Diese Versammlungen sich zusätzlich noch dem Gesetz »Mo-
gaben der Arbeit Dauerhaftigkeit und ses« unterstellen. Das war natürlich ein
Stabilität. Sie regierten sich selbst, finan- frontaler Angriff auf das Evangelium der
zierten sich selbst und vergrößerten sich Gnade Gottes. Das wahre Evangelium
selbst. Die Apostel besuchten die Ver- der Gnade lehrt, daß Christus alles not-
sammlungen wiederholt, um die Gläubi- wendige zur Erlösung der Menschen am
gen zu stärken und zu ermutigen Kreuz vollbracht hat. Alles, was ein Sün-
(14,21.22; 15,41; 20,1.2) und um Älteste der tun muß, besteht darin, ihn im Glau-
zu berufen (14,23). ben anzunehmen. Sobald menschliche
Auf ihren Missionsreisen bestritten Werke oder Verdienste eingeführt wer-
die Apostel und ihre Mitarbeiter ihren den, geschieht die Erlösung nicht mehr
Unterhalt manchmal selbst (18,3; 20,34), aus Gnade. Unter der Gnade hängt alles
manchmal wurden sie jedoch auch durch von Gott ab und nichts mehr vom Men-
Gaben von Gemeinden oder Einzelnen schen. Wenn Bedingungen eingeführt
unterstützt (Phil 4,10.15-18). Paulus werden, dann ist die Erlösung kein Ge-
arbeitete nicht nur, um sich selbst zu ver- schenk mehr, sondern eine Bringschuld
sorgen, sondern auch die, die bei ihm Gottes. Doch die Erlösung ist ein Ge-
waren (20,34). schenk, sie kann weder verdient noch er-
Obwohl sie durch ihre Ortsgemeinde arbeitet werden.
der Gnade Gottes befohlen worden waren, 15,2.3 »Paulus und Barnabas« wider-
und auch von Ortsgemeinden unterstützt standen diesen Judaisten (die das jüdi-
wurden, wurden sie doch nicht von ihren sche Gesetz aufzwingen wollten), weil
Ortsgemeinden kontrolliert. Sie waren sie wußten, daß diese gekommen waren,
des Herrn freie Verkündiger des gesam- die Heiden ihrer Freiheit in Jesus Chri-
ten Ratschlusses Gottes und hielten stus zu berauben.
nichts zurück, das irgendwie von Nutzen Hier in Apostelgeschichte 15 erfahren
sein konnte (Kap. 20,20). wir, daß die Brüder in Antiochien sich

540
Apostelgeschichte 15

entschieden, »Paulus und Barnabas und zu Pfingsten. Gott verlangte von diesen
einige andere . . . nach Jerusalem . . . zu Heiden nicht, beschnitten zu werden. Die
den Aposteln und Ältesten« zu schicken. Tatsache, daß es sich um Heiden handelte,
In Galater 2,2 sagt Paulus, er reiste durch rechtfertigte keinen Unterschied, er rei-
eine Offenbarung nach Jerusalem. Das ist nigte »ihre Herzen . . . durch den Glau-
natürlich kein Widerspruch. Der Geist ben«. Weil Gott nun die Heiden aufgrund
Gottes offenbarte Paulus, daß er gehen ihres Glaubens und nicht aufgrund des
solle, und er offenbarte auch der Ge- Haltens eines Gesetzes angenommen hat,
meinde in Antiochien, daß die Brüder fragte Petrus die Gemeinde, warum sie
ihn senden sollten. Auf dem Weg »nach jetzt auf einmal daran dachten, die Hei-
Jerusalem« machte die Gruppe an ver- den unter das »Joch« zu zwingen, »das
schiedenen Orten in »Phönizien und weder« ihre »Väter noch« sie »selbst zu
Samaria« halt und sie erzählten von der tragen vermochten«. Das Gesetz hat noch
»Bekehrung derer aus den Nationen«. niemanden gerettet. Seine Aufgabe be-
»Große Freude« war überall die Reaktion stand in der Verurteilung des Menschen,
auf diese Berichte«. nicht in seiner Rechtfertigung. Durch das
15,4 »Als« Paulus« nach Jerusalem Gesetz erkannte der Mensch seine Sünde,
gekommen« war, ging er zunächst allein wurde jedoch nicht von ihr gerettet.
zu den Aposteln und Ältesten und gab 15,11 Der Schlußsatz der Rede des
ihnen vollständige Rechenschaft über Petrus ist besonders bemerkenswert. Er
das Evangelium, das er den Heiden pre- drückte seine tiefe Überzeugung aus, daß
digte. Sie mußten zugeben, daß es das- sie (die Juden) »durch die Gnade des
selbe Evangelium war, das auch sie den Herrn Jesus« (und nicht durch Halten des
Juden gepredigt hatten. Gesetzes) »in derselben Weise errettet
15,5 Offensichtlich in einer offenen werden wie auch jene« (die Heiden). Man
Versammlung der gesamten Gemeinde würde hier erwarten, daß Petrus als Jude,
traten einige »aus der Sekte der Pha- es so formulieren würde, daß die Heiden
risäer, die gläubig waren«, auf und in derselben Weise errettet werden wie die
behaupteten, man müsse die Heiden Juden. Doch hier sieht man, wie die »Gna-
beschneiden, und sie müßten »das de« über rassistische Vorurteile siegt.
Gesetz des Mose . . . halten«, um wirkli- 15,12 Nachdem Petrus geendet hatte,
che Jünger sein zu können. berichteten »Barnabas und Paulus«, wie
15,6 Aus Vers 6 könnte man entneh- Gott die »Nationen« heimgesucht und
men, daß nur »die Apostel . . . und die ihre Predigt durch »Zeichen und Wun-
Ältesten« anwesend waren, als die end- der« begleitet habe.
gültige Entscheidung gefällt wurde. 15,13.14 Petrus hatte erzählt, wie der
Doch Vers 12 scheint nahezulegen, daß Herr »zuerst« durch ihn die Tür des
auch die ganze Gemeinde anwesend war. Glaubens für die »Nationen« aufgetan
15,7-10 Als »Petrus« sich erhob, war hat. Paulus und Barnabas fügten ihr
die Opposition wohl der Meinung, er Zeugnis hinzu, wie der Herr durch sie bei
würde ihre Ansicht unterstützen. Schließ- der Evangelisierung der »Heiden«
lich war doch Petrus der Apostel der gewirkt habe. »Jakobus« stellt nun mit
Beschneidung. Doch ihre Hoffnungen der ihm eigenen Autorität fest, daß Got-
sollten sich schnell zerstreuen. Petrus er- tes Ziel für dieses Zeitalter lautet, »aus
innerte seine Zuhörer, wie Gott einige Jah- den Nationen ein Volk zu nehmen für sei-
re zuvor verordnet hatte, daß »die Natio- nen Namen«. Darum ging es im wesentli-
nen . . . das Evangelium« von seinen Lip- chen in der Rede von »Simon« (Petrus).
pen vernehmen sollten. Das geschah im 15,15-19 Dann zitiert Jakobus Amos
Haus des Kornelius. Als »Gott« sah, daß 9,11.12. Man beachte, daß er nicht sagte,
sich die Herzen dieser »Heiden« im Glau- die Berufung »der Nationen« erfülle die
ben nach ihm ausstreckten, gab er ihnen Prophezeiung des Amos, sondern sie
»den Heiligen Geist, wie auch« den Juden stimme überein mit den »Worten der Pro-

541
Apostelgeschichte 15

pheten«. Die Gemeinde sollte es nicht für 2. Die Wiederherstellung des gläubigen
sonderbar halten, daß »Gott« die »Natio- Überrestes des Volkes Israel zur Zeit
nen« mit seiner Erlösung heimgesucht der Wiederkunft Christi (V. 16).
hat, weil dies vom AT deutlich vorherge- 3. Die Erlösung der Nationen nach der
sagt worden ist. Gott hatte vorhergesagt, Wiederherstellung Israels (V. 17).
daß die Heiden als solche gesegnet wer- Diese Heiden werden »alle Nationen,
den sollten, nicht als zum Judentum über die mein Name angerufen ist«
Übergetretene. genannt.
Das Zitat aus Amos bezieht sich auf Jakobus zitiert Amos 9,11.12 ziemlich
das Tausendjährige Reich, in dem Chri- anders als in unserem AT. Ein Teil dieser
stus auf dem Thron »Davids« sitzen wird Unterschiede erklärt sich dadurch, daß
und die ȟbrigen der Menschen den Jakobus offensichtlich die griechische
Herrn suchen« werden. Jakobus meinte Bibelübersetzung des AT zitiert. Dennoch
hier nicht, daß zu der Zeit, zu der er bestehen in dem Zitat auch noch Unter-
spricht, diese Verheißung schon in Erfül- schiede zur Septuaginta. Eine Erklärung
lung gegangen sei. Sondern er wollte ist, daß derselbe Heilige Geist, der
sagen, daß die Erlösung der Heiden, die zunächst die Worte inspiriert hat, nun
zu seiner Zeit stattfand, in Übereinstim- ihre Veränderung erlaubt, um damit ein
mung mit dem stand, was Amos für einen vorliegendes Problem zu lösen. Eine
späteren Zeitpunkt vorhergesagt hat. andere Erklärung lautet, daß die hebräi-
Die Argumentation des Jakobus lau- schen Manuskripte Amos 9 recht unter-
tete folgendermaßen: Zunächst würde schiedlich wiedergeben. Alford ist der
Gott die Heiden heimsuchen, um »aus Ansicht, Jakobus habe eine Übersetzung
den Nationen ein Volk zu nehmen für benutzt, die einem anerkannten hebräi-
seinen Namen«. Das geschah zur Zeit schen Text sehr nahe gekommen sein
des Jakobus und geschieht auch heute muß, sonst hätten die Pharisäer diese
noch. Bekehrte Heiden wurden in die Stelle niemals als Begründung akzeptiert.
Gemeinde zusammen mit bekehrten »Nach diesem will ich zurückkehren«
Juden aufgenommen. Was zu dieser Zeit (V. 16). Jakobus hatte schon erklärt, daß
im Kleinen geschah (die Errettung der Gottes Plan für dieses Zeitalter lautete,
Heiden), sollte später in größerem Maß- die Tür des Glaubens für die »Nationen«
stab stattfinden. Christus würde wieder- aufzutun. Nicht alle würden erlöst, son-
kommen, Israel als Volk wiederherstellen dern er würde aus ihnen »ein Volk . . .
und »alle Nationen, über die« sein »Na- nehmen für seinen Namen«. Nun fügt
me ausgerufen ist«, erlösen. Jakobus hinzu, daß Gott »nach diesem . . .
Jakobus sah die zu seiner Zeit statt- zurückkehren und . . . die Hütte Davids
findenden Ereignisse als eine erst Heim- . . . wieder aufbauen« werde, »die verfal-
suchung der Heiden durch Gott. Er emp- len ist«. »Die Hütte Davids« ist ein bildli-
fand diese erste Heimsuchung in voller cher Ausdruck, der für sein Haus oder
Übereinstimmung mit den Voraussagen seine Familie steht. Ihre Wiederherstel-
des Amos stehend – daß nämlich die lung ist ein Vorbild auf die zukünftige
Heiden in Zukunft noch einmal heimge- Wiederherstellung der königlichen Fami-
sucht werden, wenn Christus als König lie und ihrer Wiedereinsetzung auf den
wiederkehrt. Die beiden Ereignisse stim- Thron Davids, auf dem dann Christus als
men überein, doch sind sie nicht iden- König sitzen wird. Israel wird dann zur
tisch. Segensquelle für die ganze Welt werden.
Wir sollten uns nun noch die Reihen- »Die übrigen Menschen« werden »den
folge der Ereignisse ansehen: Herrn suchen und alle Nationen, über
1. Das Herausnehmen der »Nationen« die« sein »Name angerufen ist«.
als »ein Volk . . . für seinen Namen« Das Zitat bei Amos schließt mit der
(V. 14) während dieses gegenwärti- Feststellung, daß dies die Worte des
gen Zeitalters der Gnade. Herrn sind, »der dieses tut«.

542
Apostelgeschichte 15

Weil es nun Gottes gegenwärtiges 3. »Vom Erstickten«. Dieses Verbot geht


Ziel ist, »aus den Nationen ein Volk zu auf den Bund Gottes mit Noah nach
nehmen für seinen Namen«, warnt Jako- der Flut zurück (1. Mose 9,4). Deshalb
bus davor, die Heiden zu »beunruhi- ist es eine Anordnung für alle Men-
gen«, indem man sie wieder unter das schen und nicht nur für Israel.
Gesetz des Mose stellt. Für ihre Errettung 4. »Blut«. Das bezieht sich auf 1. Mose
ist nur der Glaube notwendig. 9,4 und steht also vor dem mosai-
15,20 Doch er schlug vor, man solle in schen Gesetz. Weil der Bund mit
einem Schreiben an die Gemeinde in Noah nie aufgehoben wurde, sind
Antiochien die Heiligen anweisen, »daß wir der Überzeugung, daß diese An-
sie sich enthalten von den Verunreini- ordnungen auch noch heute gelten.
gungen durch Götzen und von Unzucht 15,21 Dies erklärt, warum der Rat von
und von Erstickten und von Blut«. Das Vers 20 gegeben wurde. »In jeder Stadt«
scheint zunächst so, als ob sich Jakobus gab es Juden, die immer gelehrt worden
hier selbst widersprechen würde. War waren, daß es falsch war, die Dinge zu
das nicht eine Form der Gesetzlichkeit? tun, die Jakobus verboten hatte. Es war
Wollte er sie nicht doch wieder unter das nicht nur falsch, unzüchtig zu leben, son-
Gesetz stellen? Die Antwort lautet, daß dern auch Fleisch von erstickten Tieren
dieser Rat nichts mit der Erlösung zu tun zu essen, Speisen, die den Götzen geop-
hatte. Dieses Thema hatte er schon be- fert worden waren und Blut. Warum soll-
handelt. Doch hatte dieser Rat mit der ten die Heiden Gott erzürnen, indem sie
»Gemeinschaft« zwischen jüdischen und Unzucht trieben, und bei Menschen An-
heidnischen Gläubigen zu tun. Der Ge- stoß erregten, indem sie die anderen Din-
horsam gegenüber diesen Anweisungen ge taten?
war zwar keine Bedingung für die Erlö- 15,22 Damit war nun ausdrücklich
sung, aber doch von großer Bedeutung, entschieden, daß Heiden sich nicht be-
um scharfe Gräben in der frühen Ge- schneiden lassen mußten, um errettet zu
meinde zu verhindern. werden. Der nächste Schritt bestand dar-
Verboten wurden: in, einen offiziellen Brief an die Gemein-
1. »Verunreinigungen durch Götzen«. de »nach Antiochien zu senden«. Den
In Vers 29 wird dies erklärt: Es han- »Aposteln« und »Ältesten« in Jerusalem
delt sich um Speisen, die zuvor den erschien es »samt der ganzen Gemeinde
Götzen geopfert worden sind. Wenn gut, . . . Judas« genannt »Barnabas und
heidnische Gläubige weiterhin diese Silas«, beide »Führer unter den Brü-
Speisen essen würden, dann könnten dern«, zu bestimmen, um »mit Paulus
sich die jüdischen Geschwister ernst- und Barnabas nach Antiochien« zu rei-
haft fragen, ob sie denn ihren Götzen- sen. Dieser »Silas« ist derselbe, der später
dienst aufgegeben haben. Obwohl ein Reisebegleiter des Paulus wird und in
heidnische Christen die Freiheit den Briefen Silvanus genannt wird.
haben konnten, solche Speisen zu 15,23-29 Hier wird nun der Inhalt des
essen, könnte sich dieses Verhalten Briefes noch einmal wiedergegeben. Man
als Stolperstein für schwächere jüdi- beachte, daß die falschen Brüder, die von
sche Geschwister erweisen. Aus die- Jerusalem nach Antiochien gekommen
sem Grunde war es falsch. waren, niemals den Auftrag der Gemein-
62)
2. »Von Unzucht«. Das war die de in Jerusalem dazu erhalten hatten
Hauptsünde der Heiden. Es war des- (V. 24).
halb besonders wichtig, daß Jakobus Die ständige Abhängigkeit der Jünger
diese Sünde mit den anderen Themen vom »Heiligen Geist« wird in Vers 28 vor-
erwähnt. Nirgends in der Bibel wird ausgesetzt: »Denn es hat dem Heiligen
das Gebot, sich »von Unzucht« zu Geist und uns gut geschienen. . .« Jemand
enthalten, aufgehoben. Es ist in allen hat hier einmal von der »Hauptteilhaber-
Zeitaltern anzuwenden. schaft des Heiligen Geistes« gesprochen.

543
Apostelgeschichte 15

15,30.31 Als der »Brief« aus Jerusalem und zweifellos fürchtete er eine Wieder-
in der Gemeinde in »Antiochien . . . gele- holung. Die »Erbitterung« zwischen
sen« worden war, war er für sie ein Paulus und Barnabas wurde so schlimm,
großer »Trost«. Die Jünger dort wußten daß diese beiden ehrenhaften Diener des
nun, daß Gott sie als Heiden erlöst hatte, Herrn »sich voneinander trennten und
und nicht, indem sie Juden wurden. Barnabas den Markus mitnahm und
15,32.33 »Judas und Silas« blieben nach Zypern segelte«. Dort war er gebo-
noch für einige Lehrversammlungen, in ren, und das war auch die erste Station
denen sie »die Brüder . . . ermunterten« auf der ersten Missionsreise gewesen.
und im Glauben auferbauten. Nach einer »Paulus aber wählte sich Silas und . . .
längeren Zeit der frohen Gemeinschaft durchzog . . . Syrien und Cilicien und
und des Dienstes in Antiochien kehrten befestigte die Gemeinden«.
sie nach Jerusalem zurück. Die Verse 36 und 41 geben uns zusätz-
15,34 Vers 34 erscheint weder in den lichen Einblick in den echten Hirtengeist
ältesten Manuskripten noch in denen des des »Paulus«. Seine liebevolle Sorge für
Mehrheitstextes (s. Fußnote Elberfelder das Volk Gottes wurde einmal von einem
Bibel). Offensichtlich waren einige Ab- bekannten Lehrer nachempfunden, der
schreiber der Überzeugung, daß es hilf- sagte, daß er wohl eher einen Heiligen im
reich sein könnte, den scheinbaren Wi- Werk des Dienstes vervollkommnen, als
derspruch zwischen den Versen 33 und hunderte von Menschen zu einem Leben
40 zu erklären. In Vers 33 sieht es so aus, mit Jesus Christus rufen wolle.
als ob Silas nach Jerusalem zurückkehrte. An diesem Punkt erhebt sich unaus-
Doch dann sehen wir in Vers 40, wie er weichlich die Frage: »Wer hat hier recht,
Paulus auf seiner zweiten Missionsreise Paulus oder Barnabas?« Sicherlich lagen
begleitet. Die offensichtliche Lösung ist die Fehler auf beiden Seiten. Vielleicht
jedoch, daß Silas zwar nach Jerusalem gestattete Barnabas seiner Urteilskraft,
zurückkehrte, aber Paulus dann mit ihm durch seine natürliche Verbindung mit
wieder Kontakt aufnahm und ihn bat, ihn Markus getrübt zu werden. In Vers 39
auf seiner Reise zu begleiten. heißt es, daß »eine Erbitterung« zwi-
15,35 »Paulus . . . und Barnabas« blie- schen Paulus und Barnabas entstanden
ben diesmal »in Antiochien und lehrten war. »Unter den Stolzen ist immer Ha-
und verkündigten . . . das Wort des der« (Spr 13,10; LU 1912). Deshalb waren
Herrn«. Es gab »viele andere« Knechte sie wohl beide in dieser Angelegenheit
des Herrn, die der Gemeinde dienten. des Stolzes schuldig. Diejenigen, die mei-
Die Ereignisse, die in Galater 2,11-14 nen, Paulus hatte recht, stellen heraus,
beschrieben werden, fallen wahrschein- daß Barnabas an diesem Punkt aus der
lich in diese Zeit. Geschichte verschwindet. Auch wurden
»Paulus« und »Silas . . . von den Brüdern
F. Die zweite Missionsreise des Pau- der Gnade Gottes befohlen«, doch von
lus: Kleinasien und Griechenland Barnabas und Johannes Markus wird das
(15,36 – 18,22) »nicht« ausgesagt. Jedenfalls ist es ermu-
15,36-41 Nun war die Zeit reif für die tigend zu sehen, daß Markus schließlich
zweite Missionsreise. »Paulus« schnitt doch noch zu seinem Auftrag zurück-
das Thema bei »Barnabas« an und schlug fand und das Vertrauen des Paulus auch
vor, daß sie nochmals die Städte besu- völlig wiedergewann (2. Tim 4,11).
chen sollten, in denen sie »das Wort des
Herrn verkündigt« hatten. Als »Barna-
bas« darauf bestand, daß »Markus«, sein Exkurs über die Selbständigkeit der
Vetter, sie begleiten solle, war »Paulus« Ortsgemeinde
ganz energisch dagegen. Er erinnerte Das Beratungsgremium in Jerusalem
sich nur zu genau, wie Markus »aus scheint auf den ersten Blick eine Art kon-
Pamphylien von ihnen gewichen« war, fessionelles höchstes Gericht gewesen

544
Apostelgeschichte 15 und 16

zu sein. Doch die Tatsachen lagen nicht mit einer großen Anzahl von klei-
anders. nen Ortsgemeinden zu tun haben wollen,
Jede Ortsgemeinde in der ersten Chri- sondern mit einem zentralen Ausschuß,
stenheit war unabhängig, das heißt, sie der sie alle vertritt. Freie Regierungen
bestimmte über sich selbst. Es gab keinen unterstützen diese Vereinigungen, indem
wie auch immer gearteten Gemeinde- sie ihnen gewisse Vorrechte erteilen.
bund, der eine zentrale Vollmacht über Andere Regierungen versuchen, die Ver-
sie gehabt hätte. Es gab keine Konfessio- einigung durch Gesetze zu erzwingen,
nen und daher auch keine konfessionel- wie Hitler das im Dritten Reich getan hat.
len Hauptquartiere. Jede Ortsgemeinde In jedem Falle verlieren die Gemeinden,
war direkt dem Herrn verantwortlich. die dem Druck nachgeben, ihren schrift-
Dies wird in Offenbarung 1,13 darge- gemäßen Charakter, sowie ihre Fähigkeit,
stellt, wo man den Herrn inmitten von dem Modernismus zu widerstehen und
sieben goldenen Leuchtern stehen sieht. in Zeiten der Verfolgung die Gemeinde
Diese erscheinen für die sieben Gemein- im Geheimen weiterzuführen.
den Kleinasiens. Wichtig ist hier, daß es Einige möchten einwenden, daß die
keine Verwaltungs- und Herrschaftsein- Gemeinden in der Apostelgeschichte
richtung gab, die zwischen den einzelnen eben doch einer Zentralautorität unter-
Gemeinden und dem großen Haupt der standen, nämlich dem Rat in Jerusalem,
Gemeinden selbst stand. Jede Gemeinde über den wir soeben nachgedacht ha-
wurde direkt durch ihn beherrscht. ben. Doch eine sorgfältige Analyse des
Warum ist das so wichtig? Erstens Abschnittes wird zeigen, daß dies nicht
wird so die Ausbreitung von Irrtümern eine offizielle Einrichtung war, der be-
verhindert. Wenn Gemeinden unter stimmende Funktionen zukamen. Es
einer gemeinsamen Kontrollinstanz ste- war einfach eine Versammlung von
hen, dann können die Kräfte des Libera- Aposteln und Ältesten, um einen Rat zu
lismus, des Rationalismus und anderer erteilen.
Irrlehren die gesamte Gruppe dadurch Der Rat forderte die Männer von
erobern, indem sie einfach das zentrale Antiochien nicht auf zu kommen, son-
Hauptquartier und die konfessionellen dern diese hatten sich entschieden, die
Bildungseinrichtungen besetzt. Wo die Männer in Jerusalem um Rat zu fragen.
Gemeinden jedoch unabhängig sind, Die Entscheidung des Rates war für die
muß der Kampf vom Feind gegen eine Gemeinden nicht bindend, sondern ein-
große Anzahl unabhängiger Einheiten fach eine erklärte Einsicht, zu dem die
geführt werden. gesamte Gruppe gekommen war.
Zweitens ist die Selbständigkeit der Die Geschichte der Kirche spricht für
Ortsgemeinde ein wichtiger Schutz, sich selbst. Wo immer Gemeinden unter
wenn ein feindliches Regime an der eine Zentralverwaltung gestellt wurden,
Macht ist. Wenn die Gemeinden verei- wurde ihr Niedergang beschleunigt. Das
nigt sind, kann eine totalitäre Macht sie reinste Zeugnis für Gott ist von den Ge-
leicht beherrschen, indem sie die weni- meinden aufrecht erhalten worden, die
gen Leiter im Hauptquartier kontrolliert. sich außerhalb menschlicher Herrschaft
Wenn die Gemeinden sich jedoch wei- bewegen.
gern, irgendeine zentrale menschliche
Autorität anzuerkennen, dann können 16,1.2 Die Erinnerungen müssen
sie in Zeiten der Unterdrückung einfa- Paulus regelrecht überfallen haben, als
cher im Untergrund verschwinden. er »nach Derbe und Lystra« kam. Die
Viele Regierungen heute, ob es sich Erinnerung an seine Steinigung in
nun um Demokratien oder um Diktatu- »Lystra« hätte natürlich Bedenken her-
ren handelt, versuchen, die Vereinigung vorrufen können, überhaupt dorthin
von kleinen, unabhängigen Gemeinden zurückzukehren. Doch der Apostel
in Gang zu bringen. Sie sagen, daß sie wußte, daß Gott sein Volk in diesem

545
Apostelgeschichte 16

Gebiet hatte, und die Gefahr für seine sei, könnte das dazu führen, daß sie sich
persönliche Sicherheit durfte ihn nicht weigerten, weiter zuzuhören. Wenn er
hindern. jedoch beschnitten war, dann könnten sie
Wie schon weiter oben erwähnt, an dieser Stelle keinen Anstoß nehmen.
könnte »Timotheus« sich während des Da es bloß um etwas moralisch Belang-
ersten Besuches des Apostels in »Lystra« loses und nicht um Lehrmäßiges ging,
(offensichtlich die Heimatstadt des Ti- unterzog Paulus Timotheus dieser jüdi-
motheus) bekehrt haben. Seine Mutter schen Vorschrift. Er wurde allen alles,
Eunice und seine Großmutter Lois waren damit er auf etliche Weise einige erretten
beide »jüdische« Gläubige (2. Tim 1,5). könnte (1. Kor 9,19-23).
Sein Vater war »griechisch«, und es kann Die Deutung, daß Paulus Timotheus
sein, daß er zu dieser Zeit schon verstor- beschnitt, damit er bei den Juden Zuhö-
ben war. rer für das Evangelium gewinnen könn-
Es erfreute das Herz des Paulus, te, wird durch die Worte nahegelegt:
»von den Brüdern in Lystra und Iko- ». . .und beschnitt ihn um der Juden wil-
niun« zu hören, daß Timotheus im Glau- len, . . . denn sie kannten alle seinen
ben gute Fortschritte machte. Paulus lud Vater, daß er ein Grieche war.«
ihn ein, ihn auf seiner Missionsreise zu 16,4.5 Als die drei Missionare »die
begleiten. Wir tun gut daran, festzuhal- Städte« Lykaoniens »durchzogen . . . teil-
ten, daß die ersten Apostel nicht nur zu ten sie« den Gemeinden »die Beschlüsse
zweit arbeiteten, sondern auch noch jün- mit«, die die »Apostel und Ältesten in
gere Brüder (Markus und Timotheus) Jerusalem festgesetzt« hatten. Diese
mitnahmen, um sie im praktischen »Beschlüsse« lauteten kurz wie folgt:
Dienst auszubilden. Welch ein Vorrecht 1. Zur Erlösung ist nur der Glaube not-
war es für diese jungen Männer, mit wendig. Beschneidung oder das Hal-
solch erprobten »alten Hasen« im christ- ten des Gesetzes sollte nicht dem
lichen Missionsauftrag an einem Joch Glauben als Bedingung für die Erlö-
ziehen zu dürfen! sung hinzugefügt werden.
16,3 Ehe Paulus abreiste, »beschnitt« 2. Sexuelle Sünden waren für alle Zei-
er Timotheus. Warum tat er das, wo er ten und für alle Gläubigen verboten,
sich doch einige Zeit vorher standhaft doch war diese Mahnung wahr-
geweigert hatte, Titus beschneiden zu scheinlich in besonderer Weise an
lassen (Gal 2,1-5)? Die Antwort lautet bekehrte Heiden gerichtet, weil darin
einfach, daß es im Falle von Titus um ihre Hauptsünde bestand (und auch
grundsätzliche christliche Lehren ging, heute noch besteht).
während das hier nicht der Fall war. Die 3. Fleisch, das Götzen geopfert worden
falschen Lehrer hatten in Galatien darauf war, Fleisch von Tieren, die erstickt
bestanden, daß Männer mit einer voll- worden waren und Blut waren als
ständig heidnischen Abkunft wie Titus Speisen verboten, nicht, weil die Ent-
beschnitten werden müßten, um gerettet haltung davon zur Erlösung notwen-
zu werden. Paulus erkannte darin eine dig gewesen wäre, sondern um die
Leugnung der Vollkommenheit des Erlö- Gemeinschaft zwischen Juden- und
sungswerkes Christi, und wollte darum Heidenchristen zu erleichtern. Einige
nicht nachgeben. Hier nun lag der Fall dieser Anweisungen wurden in der
völlig anders. Die Menschen dieses Ge- Folge widerrufen (s. 1. Kor 8-10;
bietes wußten, daß Timotheus von einer 1. Tim 4,4.5).
jüdischen Mutter abstammte. »Paulus«, Als Ergebnis des Dienstes dieser
Silas und Timotheus wollten auf eine Männer wurden »die Gemeinden . . . im
Evangelisationsreise gehen. Sie würden Glauben befestigt und nahmen täglich an
zunächst immer zuerst den Kontakt zu Zahl zu«.
Juden suchen. Wenn diese »Juden« nun 16,6-8 Diese Verse sind sehr wichtig,
erführen, daß Timotheus unbeschnitten weil sie die Oberaufsicht und Leitung

546
Apostelgeschichte 16

des Heiligen Geistes in der Missionsstra- Schiffes, dessen Ladung für die Küste Maze-
64)
tegie der Apostel zeigen. Nachdem sie doniens bestimmt war.
die Gemeinden in Phrygien und Galatien 16,10 Wir haben hier nun einen auf-
besucht hatten, hatten sie daran gedacht, fälligen Wechsel in der Wahl der Perso-
in die Provinz Asien in Westkleinasien zu nalpronomen von er auf wir. Man nimmt
reisen, doch »der Heilige Geist« verbot allgemein an, daß Lukas, der Autor der
ihnen das. Uns wird dafür kein Grund Apostelgeschichte, zu dieser Zeit zu Pau-
genannt, einige haben als Erklärung vor- lus, Silas und Timotheus gestoßen ist.
geschlagen, daß diese Region vielleicht Von hier an zeichnet er die Ereignisse als
im göttlichen Ratschluß Petrus vorbehal- Augenzeuge auf.
ten war (s. 1. Petr 1,1). Jedenfalls reisten
sie nun nordwestlich in den Bezirk von
»Mysien«. Das gehörte zwar zur Provinz Exkurs über göttliche Führung
Asien, doch offensichtlich predigten sie Um auf Erden effektiv arbeiten zu kön-
dort nicht. Als sie als nächstes versuch- nen, war die frühe Gemeinde abhängig
ten, nordöstlich »nach Bithynien zu rei- von der Leitung durch ihr Haupt im
sen, . . . erlaubte es ihnen . . . der Geist Himmel. Doch wie machte der Herr Jesus
Jesu . . . nicht«. Deshalb reisten sie direkt seinen Willen seinen Dienern bekannt?
nach Westen in die Küstenstadt »Troas«. Er hatte ihnen seine allgemeine Strate-
Von dort aus konnten die Missionare gie mitgeteilt, bevor er in den Himmel
über die Ägäis bis nach Griechenland aufgenommen wurde, indem er sagte:
sehen, die Schwelle des antiken Europa. »Ihr werdet meine Zeugen sein, sowohl
Ryrie schreibt: in Jerusalem als auch in ganz Judäa und
Asien brauchte das Evangelium, doch Samaria und bis an das Ende der Erde«
dies war nicht Gottes Zeitpunkt. Not war (Kap. 1,8).
nicht automatisch ihr Ruf. Sie waren gerade Nach seiner Himmelfahrt machte er
aus dem Osten gekommen, sie durften weder ihnen seinen Willen auf verschiedene
südlich noch nördlich reisen, doch sie nah- Weise bekannt.
men nicht an, daß der Herr sie nach Westen Petrus und die anderen Jünger wur-
führen wollte – sie warteten auf seine aus- den durch die alttestamentlichen Schrif-
drücklichen Anweisungen. Logik allein ist ten (Ps 69,25) geleitet, einen Nachfolger
63)
nie die Grundlage für einen Ruf. für Judas zu wählen (Kap. 1,15-26).
16,9 In einem nächtlichen »Gesicht« Mindestens fünfmal führte der Herr
sah Paulus einen »mazedonischen Menschen durch Gesichte – Ananias
Mann«, der ihn rief, hinüberzukommen (Kap. 9,10-16), Kornelius (Kap. 10,3),
und zu helfen. »Mazedonien« war der Petrus (Kap. 10,10.11.17) und zweimal
Nordteil Griechenlands, genau westlich Paulus (Kap. 16,9.10; 18,9).
von Troas gelegen. Ob bewußt oder Zweimal führte er durch Propheten
nicht, »Mazedonien« (und ganz Euro- (11,27-30; 21,10-12).
pa!) brauchte das Evangelium der erlö- Zu anderen Zeiten wiederum wur-
senden Gnade. Der Herr hatte die Türen den die Christen durch Umstände ge-
in Asien geschlossen, damit seine Die- führt. So wurden sie zum Beispiel durch
ner die Gute Nachricht nach Europa tra- die Verfolgung zerstreut oder weiterge-
gen sollten. Stalker malt hier folgendes führt (Kap. 8,1-4; 11,19; 13,50.51; 14,5.6).
Bild: Behörden forderten Paulus und Silas auf,
[Der Mann aus Mazedonien] steht für Philippi zu verlassen (Kap. 16,39.40).
Europa, und sein Hilferuf dafür, wie nötig Später wurde Paulus von den Behörden
Europa Christus brauchte. Paulus erkannte von Jerusalem nach Cäsarea gebracht
in der Vision eine göttliche Führung, und (23,33). Die Umstände der Berufung des
schon der nächste Sonnenuntergang, der den Paulus auf den Kaiser bestimmten seine
Hellespont in sein goldenes Licht tauchte, Romreise (Kap. 25,11), und der spätere
leuchtete auf seine Person an Deck eines Schiffbruch bestimmte die Zeitplanung

547
Apostelgeschichte 16

und die Reihenfolge seiner Handlungen 5. durch direkte Vermittlung des Wil-
(Kap. 27,41; 28,1). lens Gottes, vielleicht auf eine innere,
Manchmal erfuhren die Jünger Lei- subjektive Art.
tung durch den Rat und die Initiative ande-
rer Christen. Die Gemeinde in Jerusalem 16,11.12 Als sie »von Troas« in Rich-
sandte Barnabas nach Antiochien tung Nordwesten fuhren, ankerten die
(Kap. 11,22). Agabus prophezeihte eine unermüdlichen Botschafter Christi zu-
Hungersnot, und das bewegte die Ge- nächst für eine Nacht vor der Insel »Sa-
meinde in Antiochien, den Heiligen in mothrake«. Am nächsten Tag erreichten
Judäa Hilfe zu senden (Kap. 11,27-30). sie das Festland im Hafen von »Neapo-
Die Brüder in Antiochien sandten Paulus lis«, etwa 200 Kilometer von Troas ent-
und Barnabas nach Jerusalem fernt, dann reisten sie die wenigen Kilo-
(Kap. 15,2). Judas und Silas wurden meter ins Hinterland bis nach »Philippi,
zusammen mit Barnabas und Paulus das die erste Stadt jenes Teiles von Maze-
durch die Gemeinde in Jerusalem ausge- donien« war, »eine Kolonie«.
sandt (Kap. 15,25-27). Paulus und Silas 16,13-15 Offensichtlich gab es in Phi-
wurden durch die Brüder der Gnade lippi keine Synagoge, doch Paulus und
Gottes anbefohlen, als sie auf ihre zweite seine Begleiter hörten, daß sich einige
Missionsreise gingen (Kap. 15,40). Pau- Juden »am Tag des Sabbats« vor der
lus nahm Timotheus mit, als er Lystra Stadt »an einem Fluß« versammelten.
verließ (Kap. 16,3). Die Brüder in Thessa- Als sie die Stelle erreichten, fanden sie
lonich sandten Paulus und Silas nach einige »Frauen« beim Beten, davon
Beröa, weil ihnen Gewaltanwendung »eine . . . mit dem Namen Lydia«. Sie
drohte (Kap. 17,10). Die Brüder in Beröa war wahrscheinlich zum Judentum
wiederum sandten Paulus aus demsel- bekehrt. Ursprünglich stammte sie »aus
ben Grund weg (Kap. 17,14.15). Schließ- der Stadt Thyatira« in Lydien in West-
lich sandte Paulus Timotheus und Era- kleinasien. Sie war nach Philippi gezo-
stus nach Mazedonien (Kap. 19,22). gen, wo sie purpurgefärbten Stoff ver-
Zusätzlich zu den oben erwähnten kaufte. Thyatira war für seine Färbe-
Methoden der Leitung gibt es einige reien bekannt.
Berichte, in denen die Menschen offen- Sie öffnete nicht nur ihre Ohren für
sichtlich direkt Informationen von Gott das Evangelium, sondern auch ihr
über seinen Willen erhielten. Ein Engel »Herz«. Nachdem sie den Herrn Jesus
des Herrn führte Philippus zum Kämme- angenommen hatte, wurden »sie . . . und
rer aus Äthiopien (Kap. 8,26). Der Heili- ihr Haus . . . getauft«. Die Mitglieder
ge Geist sprach zu den Propheten und ihres Hauses hatten sich natürlich auch
Lehrern in Antiochien, als sie fasteten bekehrt, ehe sie getauft wurden. Es wird
und beteten (Kap. 13,1.2). Paulus und nicht erwähnt, daß Lydia verheiratet ge-
Timotheus durften auf Weisung des Hei- wesen wäre, doch ihr »Haus« konnte aus
ligen Geistes das Wort nicht in Asien pre- den Bediensteten bestehen.
digen (Kap. 16,6). Später versuchten sie, »Lydia« wurde nicht durch ihre guten
nach Bithynien zu reisen, doch der Heili- Werke gerettet, sondern sie wurde geret-
ge Geist erlaubte es ihnen nicht tet, damit sie sie tun konnte. Sie bewies
(Kap. 16,7). die Echtheit ihres Glaubens, indem sie
Zusammenfassend kann man also Paulus, Silas, Lukas und Timotheus ihr
sagen: Die Christen wurden geführt Haus öffnete.
durch: 16,16-18 Als Paulus und seine Beglei-
1. die Heilige Schrift, ter an einem anderen Tage zu der Gebets-
2. Gesichte und Prophezeiungen, stätte gingen, begegnete ihnen »eine
3. Umstände, Magd, die einen Wahrsagergeist hatte«.
4. den Rat und die Initiative anderer Sie war in der Lage, die Zukunft vorher-
Christen, zusehen und andere erstaunliche Offen-

548
Apostelgeschichte 16

barungen zu machen, weil sie dämonisch – Die Vision des Paulus, in der ein
besessen war. Auf diese Art und Weise mazedonischer Mann um Hilfe ruft
»brachte« sie »ihren Herren« ein be- (16,9).
trächtliches Einkommen. – Die Austreibung des Wahrsage-
Als ihr die christlichen Missionare geistes aus der Magd in Philippi
begegneten, »folgte« sie ihnen an diesem (16,18).
und an den kommenden Tagen und – Die Befreiung von Paulus und Silas
schrie: »Diese Menschen sind Knechte aus dem Gefängnis in Philippi
Gottes, des Höchsten, die euch den Weg (16,26).
des Heils verkündigen.« Was sie sagte, – Die Auferweckung des Eutychus
war wahr, doch Paulus hätte nie das durch Paulus (20,10.11).
Zeugnis eines Dämonen angenommen. – Die Prophezeiung des Agabus
Auch bewegte ihn der schlimme Zustand (21,10.11).
des Mädchens, die so versklavt war. Des- – Die Befreiung des Paulus von einer
halb befahl er dem Dämonen im all- Schlange auf Malta (28,3-6).
mächtigen »Namen Christi, von ihr aus- – Die Heilung des Vaters des Publius
zufahren«. Sofort war sie von dieser vom Fieber (28,8).
schrecklichen Plage befreit und wurde zu – Die Heilung von anderen Krankhei-
einem vernünftigen, gesunden Men- ten (28,9).
schen. Zusätzlich zu diesen Wundern wird
erwähnt, daß die Apostel Zeichen und
Wunder vollbrachten (2,43), daß Stepha-
Exkurs über Wunder nus große Wunder und Zeichen unter
Viele Wunder sind in die Erzählung der dem Volk tat (6,8), daß Philippus Wun-
Apostelgeschichte eingewoben. Die fol- der und Zeichen tat (8,6.13), daß Barna-
genden sind einige der wichtigeren: bas und Paulus Zeichen und Wunder
– Die wunderbare Gabe der Zungen taten (15,12) und daß Gott durch die
(2,4; 10,46; 19,6). Hand des Paulus Wunder tat (19,11).
– Die Heilung des Lahmen am Tempel- Wenn wir die Apostelgeschichte le-
tor (3,7). sen, dann erhebt sich natürlich die Frage:
– Der plötzliche Gerichtstod von Ana- »Können auch wir heute noch solche
nias und Saphira (5,5.10) Wunder erwarten?« Wenn wir diese Fra-
– Die Befreiung der Apostel aus dem ge beantworten, müssen wir zwei Extre-
Gefängnis (5,19). me vermeiden. Das erste lautet, daß, weil
– Sauls Begegnung mit dem verherr- Jesus gestern, heute und in Ewigkeit der-
lichten Christus (9,3-6). selbe ist, wir heute dieselben Wunder
– Die Heilung des Äneas durch Petrus erwarten sollten, die in der Zeit der
(9,34). frühen Gemeinde stattfanden.
– Die Auferweckung der Tabitha (9,40). Das gegenteilige Extrem lautet, daß
– Die Vision des Petrus von dem Tuch Wunder nur in dieser Anfangszeit statt-
aus dem Himmel (10,11). fanden und wir kein Recht haben, sie
– Die Befreiung des Petrus aus dem auch heute noch zu erwarten.
Gefängnis (12,7-10). Es gilt natürlich, daß Jesus Christus
– Die Tötung des Herodes durch einen gestern, heute und in Ewigkeit derselbe
Engel (12,23). ist (Hebr 13,8). Doch das heißt nicht, daß
– Das Gericht der Blindheit über Ely- sich die göttlichen Methoden niemals
mas, den Zauberer (13,11). ändern würden. Die Plagen, die Gott in
– Die Heilung des Lahmen durch Pau- Ägypten benutzten, wurden z. B. nie
lus in Lystra (14,10). wiederholt. Seine Macht ist noch immer
– Die Wiedererstehung des Paulus dieselbe. Er kann noch immer jede Art
nach seiner Steinigung in Lystra von Wunder vollbringen. Doch das
(14,19.20). bedeutet nicht, daß er in jedem Zeitalter

549
Apostelgeschichte 16

dieselben Wunder tun muß. Er ist ein nach. Deshalb »schleppten sie . . . Paulus
Gott, der immer wieder neu handelt. und Silas . . . zu den Vorstehern« (den
Andererseits sollten wir Wunder Prätoren) und stellten Anklagen gegen
nicht einfach abtun, indem wir sagen, sie sie auf. Im Grunde klagten sie sie an, daß
wären nicht für das Zeitalter der sie aufrührerische »Juden« seien, die ver-
Gemeinde bestimmt. Man macht es sich suchten, die römische Lebensart zu ver-
zu einfach, wenn man Wunder einfach ändern. Die Menge war ganz aufge-
auf enge Lücken im Zeitplan Gottes bracht, »und die Hauptleute rissen« Pau-
beschränkt und sich mit einem Leben lus und Silas »die Kleider ab und be-
begnügt, das sich nie über das Men- fahlen, sie mit Ruten zu schlagen«.
schenmögliche erhebt. Nachdem sie tüchtig geschlagen worden
Unser Leben sollte von übernatürli- waren, wurden die Missionare ins
cher Macht bestimmt sein. Wir sollten Gefängnis geschickt. Der »Kerkermei-
ständig Gottes Hand im Zusammenspiel ster« wurde noch einmal gesondert auf-
bestimmter Umstände erkennen. Wir gefordert, »sie sicher zu verwahren«. Er
sollten seine Führung auf wunderbare gehorchte sofort, indem er sie »in das
Weise erleben. Wir sollten in unserem innere Gefängnis« warf und »ihre Füße
Leben Ereignisse erleben, die jenseits der im Block« befestigte.
Wahrscheinlichkeitsgesetze liegen. Wir In diesem Abschnitt sehen wir zwei
sollten uns bewußt sein, daß Gott Kon- wichtige Methoden Satans. Zuerst ver-
takte herbeiführt, Türen öffnet und über suchte er es mit falscher Freund-
Widerstände siegt. Unser Dienst sollte schaft – dem Zeugnis des besessenen
vom Übernatürlichen sprühen. Mädchens. Als dies fehlschlug, ging er
Wir sollten direkte Gebetserhörungen zu offener Verfolgung über. Grant sagt:
erleben. Wenn wir anderen begegnen, »Allianz oder Verfolgung – das sind die
dann sollten wir erleben, daß etwas für Alternativen: entweder falsche Freund-
Gott geschieht. Wir sollten seine Hand in schaft oder offener Krieg.« A. J. Pollock
Zusammenbrüchen, Verspätungen, Un- kommentiert:
fällen, Verlusten und scheinbaren Tragö- Wie muß der Teufel triumphiert haben,
dien sehen. Wir sollten außerordentliche als er die Karriere dieser hingegebenen
Hilfe erfahren und uns der Kraft, des Knechte Christi so abrupt beendete. Doch er
Mutes, des Friedens und der Weisheit hat sich zu früh gefreut, wie es immer sein
bewußt sein, die jenseits unserer natürli- muß. In diesem Fall schlug das Ganze zu sei-
chen Fähigkeiten liegen. nem Nachteil aus, und förderte nur das Werk
65)
Wenn unser Leben nur auf der natür- des Herrn.
lichen Ebene stattfindet, wie unterschei- 16,25 »Um Mitternacht aber beteten
den wir uns dann von Nichtchristen? Paulus und Silas und lobsangen Gott.«
Gottes Wille ist es, daß unser Leben vom Ihre Freude war völlig unabhängig von
Übernatürlichen geprägt ist, daß das ihren irdischen Umständen. Die Ursache
Leben Jesu Christus durch uns fließt. ihres Singens war im Himmel über ihnen
Wenn das stattfindet, dann verschwinden zu finden. Morgan gibt zu:
Unmöglichkeiten, geschlossene Türen Jeder kann singen, wenn sich die Gefäng-
öffnen sich und Vollmacht steht uns zur nistüren öffnen und er freigelassen wird. Der
Verfügung. Dann werden wir mit dem Christ jedoch kann auch im Gefängnis noch
Heiligen Geist erfüllt, und wenn Men- singen. Ich glaube, daß Paulus wahrschein-
schen in unsere Nähe kommen, dann lich ein Solo hätte singen müssen, wenn ich
fühlen sie die Funken dieses Geistes. an Silas’ Stelle gewesen wäre: Doch ich
erkannte die Herrlichkeit und Größe des Gei-
16,19-24 Statt dankbar zu sein, daß stes, der sich über alle Schwierigkeiten und
66)
diese junge Frau nicht mehr von Dämo- Begrenzungen erhebt.
nen besessen war, trauerten »ihre Her- 16,26 Als die anderen Gefangenen
ren« nur dem verlorenen »Gewinn« ihre Gebete und Lieder zum Lob Gottes

550
Apostelgeschichte 16

hörten, wurde das Gefängnis durch ein glauben bedeutet. Doch wenn ein Sünder
ungewöhnliches »Erdbeben« erschüttert. entdeckt, daß er verloren, hilflos, hoff-
Es öffnete »alle Türen« und löste die nungslos und für die Hölle bestimmt ist,
»Fesseln« und Ketten, doch das Gebäude und wenn ihm dann gesagt wird, er solle
selbst wurde nicht beschädigt. an Christus als seinen Herrn und Retter
16,27.28 Als der »Kerkermeister« glauben, dann weiß er ganz genau, was
erwachte und sah, daß »die Türen des das bedeutet. Es ist das einzige, das er
Gefängnisses geöffnet« waren, nahm er überhaupt noch tun kann!
an, »die Gefangenen seien entflohen«. Da 16,32-34 Nachdem Paulus und Silas
er sich bewußt war, daß dadurch sein noch eine Lehrstunde vor den versam-
Leben verwirkt war, »zog er das melten Hausgenossen gehalten hatten,
Schwert«, um Selbstmord zu begehen. zeigte der Kerkermeister die Echtheit sei-
»Paulus aber« versicherte ihm, daß das ner Bekehrung, indem er ihre Wunden
nicht nötig sei, da »alle« Gefangenen »wusch« und sich ohne Zögern »taufen
noch im Gefängnis waren. . . . ließ«. Und er brachte »sie hinauf in
16,29.30 Nun kam eine neue Beunru- sein Haus« und speiste sie, und freute
higung über den Kerkermeister. Seine sich die ganze Zeit »mit seinem Haus«,
Angst, sein Amt und wahrscheinlich daß sie alle den Herrn kennengelernt
auch das Leben zu verlieren, bewirkte in hatten.
ihm die tiefe Überzeugung seiner Sünd- Und wieder müssen wir erwähnen,
haftigkeit. Er fürchtete sich nun, Gott in daß uns an dieser Stelle kein Anlaß gege-
seinen Sünden begegnen zu müssen. Er ben wird zu glauben, hier wären Säug-
rief: »Ihr Herren, was muß ich tun, daß linge oder Kleinkinder getauft worden.
ich errettet werde?« Alle waren alt genug, um »an Gott gläu-
Diese Frage muß jeder echten Bekeh- big« zu werden.
rung vorausgehen. Der Mensch muß 16,35 Offensichtlich hatten sich »die
wissen, daß er verloren ist, bevor er geret- Hauptleute« während der Nacht anders
tet werden kann. Es ist verfrüht, wenn entschieden, weil sie am Morgen »die
man einem Menschen den Weg zur Erlö- Rutenträger« mit der Anweisung
sung zeigt, ehe er von Herzen von sich schickten, die beiden Gefangen freizu-
sagen kann: »Ich verdiene wahrlich lassen.
nichts anderes als die Hölle.« 16,36.37 Als der Kerkermeister »Pau-
16,31 Die einzigen Menschen, die im lus« die gute Nachricht zukommen ließ,
NT aufgefordert werden, an den Herrn weigerte sich der Apostel, das Gefängnis
Jesus Christus zu glauben, sind diejeni- unter diesen Umständen zu verlassen.
gen, die von ihrer Sünde überführt sind. Schließlich waren Silas und er zwar
Nun, da der Kerkermeister wegen seiner Juden, jedoch auch römische Bürger von
Sünden völlig gebrochen war, wurde Geburt an. Sie waren ungerecht verur-
ihm zugesprochen: »Glaube an den teilt und »geschlagen« worden. Nun
Herrn Jesus, und du wirst errettet wer- dachten die Hauptleute, sie würden sich
den, du und dein Haus.« einfach wegschleichen, als ob sie schul-
Nirgendwo wird angedeutet, daß sei- dig wären und Schande auf sich geladen
ne Familie automatisch errettet werden hätten? »Nicht doch!« Die Hauptleute
würde, wenn er sich Christus anvertrau- sollten schon »selbst kommen« und die
en würde. Gemeint ist, wenn er »an den Gefangenen freilassen.
Herrn Jesus« glaubte, würde er gerettet 16,38-40 Die Hauptleute kamen und
werden, und auch sein »Haus« würde entschuldigten sich sogar. Sie baten Pau-
auf die gleiche Weise »errettet« werden. lus und Silas inständig, »daß sie aus der
»Glaube . . . und du wirst errettet, und Stadt gehen« sollten, ohne weiter
dein Haus soll dasselbe tun.« Umstände zu machen. Mit der Würde
Viele Menschen heute haben schein- von Königskindern gingen sie »aus dem
bar Schwierigkeiten zu erkennen, was Gefängnis heraus«, doch verließen sie

551
Apostelgeschichte 16 und 17

die Stadt nicht sofort. Zunächst gingen gelten »Männer vom Gassenpöbel« auf,
sie in das Haus der »Lydia«, besprachen »brachten die Stadt in Aufruhr und bela-
sich mit den »Brüdern« und »trösteten gerten »das Haus Jasons«, in dem »Pau-
sie« (LU 1984). Wie wundervoll! Diejeni- lus und Silas« zu Gast gewesen waren.
gen, die Trost hätten brauchen können, »Als sie« die beiden dort nicht fanden,
trösteten nun selbst andere. »schleppten sie Jason und einige« gläubi-
Als ihre Aufgabe in Philippi beendet ge »Brüder vor die Obersten der Stadt«
war, »zogen« sie aufrecht aus der Stadt. (Politarchen). Ohne es zu wollen, zollten
17,1 Nachdem sie Philippi verlassen sie Paulus und Silas einen großen Tribut,
hatten, reisten Paulus und Silas die 53 indem sie sie als Männer beschrieben,
Kilometer südwestlich nach »Amphipo- »die den Erdkreis aufgewiegelt haben«.
lis«. Ihr nächster Aufenthalt war »Apol- Dann klagten sie sie an, die Herrschaft
lonia«, das noch einmal knapp 50 km »des Kaisers« zu bedrohen, weil sie pre-
südwestlich liegt. Von dort aus reisten sie digten, »daß ein anderer König sei: Je-
weitere 60 km westwärts bis »nach Thes- sus«. Zumindest das war für Juden doch
salonich«. Diese Stadt lag für den Handel etwas seltsam, sich so vor die Herrschaft
günstig an Verkehrsstraßen, und so war »des Kaisers« zu stellen, da sie doch nor-
sie ein hervorragendes Geschäftszen- malerweise nur wenig oder gar nichts für
trum. Der Heilige Geist wählte sie als das Römische Reich übrig hatten.
Basis, von der aus das Evangelium sich Doch stimmte ihre Anklage? Zweifel-
in viele Richtungen ausbreiten konnte. los hatten sie gehört, wie Paulus von der
Heute heißt die Stadt Saloniki. Wiederkunft Jesu geredet hatte, um über
Lukas könnte in Philippi geblieben die ganze Erde zu herrschen. Doch dies
sein, als Paulus und Silas dort weggin- stellte keine unmittelbare Gefahr für den
gen, um neues Gebiet für den Herrn zu Kaiser dar, weil Christus erst wiederkom-
erobern. Das liegt nahe, weil wir hier men sollte, um sein Reich aufzurichten,
wieder im Bericht einen Wechsel von der wenn Israel als Volk Buße getan hätte.
ersten Person Plural (wir) in die dritte 17,8.9 Die Politarchen waren durch
Person (sie) haben. diese Berichte »beunruhigt«. Sie verlang-
17,2.3 Wie es ihre »Gewohnheit« war, ten »von Jason« und den Seinen eine
suchten die Missionare zunächst eine Bürgschaft. Sie fügten eventuell noch die
jüdische Synagoge auf und predigten Anweisung bei, daß die Gäste die Stadt
dort das Evangelium. »An drei Sabba- zu verlassen hätten. Dann »ließen sie sie
67)
ten« erklärte Paulus das AT und legte frei«.
überzeugend dessen Vorhersage dar, 17,10-12 »Die Brüder« in Thessalo-
»daß der Christus leiden und aus den nich entschieden sich, daß es wohl besser
Toten auferstehen mußte«. Als er dies wäre, wenn die Prediger nun die Stadt
»aus den Schriften« bewiesen hatte, fuhr verlassen würden und so »sandten« sie
Paulus fort, indem er erklärte, daß sie »sogleich in der Nacht . . . nach
»Jesus« von Nazareth dieser langerwar- Beröa«. Diese unermüdlichen und nicht
tete Messias sei. Schließlich hatte er gelit- kleinzukriegenden Evangelisten »gin-
ten, war gestorben und von den Toten gen« schnurstracks wieder »in die Syna-
auferstanden. Bewies das nicht, daß er goge der Juden«. Als sie dort das Evange-
»der Christus« Gottes ist? lium predigten, zeigten die Juden ihre
17,4-7 »Einige« Juden »ließen sich Offenheit, indem sie in den »Schriften«
überzeugen«, und schlossen sich Paulus des AT alles nachlasen, untersuchten und
und Silas als christliche Gläubige an. verglichen. Sie hatten eine recht schlichte
Auch viele der griechischen Proselyten und belehrbare Haltung und waren dar-
»und nicht wenige der vornehmsten auf bedacht, alle Lehren anhand der Hei-
Frauen« der Stadt bekehrten sich. Das ligen »Schriften« zu hinterfragen. »Viele«
ließ die ungläubigen »Juden« zu eingrei- dieser Juden »glaubten«. Und es gab auch
fenden Maßnahmen schreiten. Sie wie- eine größere Anzahl von Bekehrungen

552
Apostelgeschichte 17

bei den heidnischen »vornehmen Frauen heit sei darin zu finden, daß man sich
und Männern«. aller extremen Gefühle enthalte und
17,13.14. Als diese Nachricht nach unbewegt von Freude oder Trauer sich
Thessalonich gelangte, daß »Paulus« und willentlich dem Naturgesetz unterordne.
Silas in »Beröa« ihren Dienst weiterführ- Als die Anhänger dieser beiden Philoso-
ten, machten sich »die Juden von Thessa- phenschulen Paulus hörten, meinten sie,
lonich« auf den Weg nach »Beröa . . . und er sein ein »Schwätzer« und »ein Verkün-
erregten die Volksmengen«. »Die Brü- diger fremder Götter . . . weil er das
der« sandten daraufhin »Paulus« an die Evangelium von Jesus und der Auferste-
Küste, wobei er von einer Eskorte der hung« verkündigte.
Gläubigen begleitet wurde. Sie reisten 17,19-21 »Sie ergriffen ihn« und
wahrscheinlich bis nach Dium und segel- »führten ihn zum Areopag«, einer
ten von dort aus nach Piräus, der Hafen- gerichtlichen Einrichtung ähnlich einem
stadt von Athen. »Silas und Timotheus« obersten Gerichtshof, der auf dem Mars-
blieben in Beröa. hügel tagte. In diesem besonderen Fall
17,15 Von Beröa bis »Athen« war es ging es jedoch nicht direkt um eine Ver-
eine lange Reise. Es zeigte die wahre Hin- handlung, sondern um eine Anhörung,
gabe der Christen dort, daß einige der in der Paulus die Gelegenheit gegeben
Brüder bereit waren, »Paulus« auf dem werden sollte, seine Lehre vor den Mit-
ganzen Weg zu begleiten. Als nun die gliedern des Gerichts und der Volksmen-
Zeit gekommen war, ihn in »Athen« zu ge vorzustellen. Das wird in Vers 21 ein
verlassen, sandte er durch sie an »Silas wenig erläutert. »Alle Athener« standen
und Timotheus Befehl . . ., daß sie sobald gerne auf den Straßen umher und führ-
wie möglich zu ihm kommen sollten«. ten gelehrte Gespräche und hörten auch
17,16 »Während aber Paulus sie in gerne anderen zu. Sie schienen unbe-
Athen erwartete«, bedrückte ihn der grenzte Zeit dafür zu haben.
Götzendienst der »Stadt« sehr. Obwohl 17,22 Als »Paulus« nun »mitten auf
Athen als Zentrum der Kultur, der Bil- dem Areopag . . . stand«, hielt er seine
dung und der Kunst galt, war Paulus berühmte Predigt. Man muß sich daran
daran nicht im geringsten interessiert. Er erinnern, wenn man diese liest, daß er
verschwendete keine Zeit an Besichti- zu Heiden sprach, nicht zu Juden. Sie
gungstouren. Arnot kommentiert: hatten keinerlei Kenntnisse des AT, des-
Es ging nicht darum, daß ihm marmorne halb mußte er ein Thema finden, das sie
Statuen weniger wert gewesen wären, und interessieren könnte, mit dem er seine
lebende Menschen mehr . . . Er ist nicht der Predigt beginnen konnte. Er begann mit
Schwache, sondern der starke Mensch, der der Beobachtung, daß die Athener »in
unsterblichen Seelen mehr Ewigkeitswert jeder Beziehung den Göttern sehr erge-
beimißt als den Kunstwerken . . . Paulus fand ben« waren. Wie sehr die Athener wirk-
malerischen Götzendienst nicht schön und lich ihre Götter verehrten, zeigte sich
68)
harmlos, sondern äußerst betrüblich. daran, daß man von dieser Stadt sagte,
17,17.18 »Er unterredete sich nun in es gebe in ihr mehr Götzenbilder als
der Synagoge mit den Juden und mit den Menschen!
Anbetern«, während er »auf dem Markt« 17,23 Als Paulus an die Götzen dach-
allen predigte, die gerade zuhören woll- te, die er gesehen hatte, wurde er an
ten. Auf diese Weise kam er mit einigen »einen Altar« erinnert, »an dem die Auf-
»epikuräischen und stoischen Philoso- schrift war: Einem unbekannten Gott«.
phen« in Kontakt. Die Epikuräer waren Er nahm diese Inschrift als Ausgangs-
Anhänger eines Philosophen namens punkt für seine Rede. Der Apostel sah in
Epikur, der lehrte, daß sinnliches Ver- der Inschrift die Anerkennung zweier
gnügen und nicht das Erlangen von Wis- wichtiger Tatsachen: Erstens, die Tatsa-
sen das Ziel des Lebens ist. Die Stoiker che der Existenz Gottes, und zweitens
waren Pantheisten, die glaubten, Weis- die Tatsache, daß die Athener ihn nicht

553
Apostelgeschichte 17

kannten. Darum konnte Paulus nun völ- uns geschaffen hat. Wir werden erst dann
lig natürlich dazu übergehen, sie über Kinder Gottes, wenn wir an den Herrn
diesen »Gott« aufzuklären. Wie jemand Jesus Christus glauben.
einmal sagte, er führte ihre Frömmigkeit 17,29 Doch die Beweisführung des
nun dem richtigen Kanal zu. Paulus geht noch weiter. Wenn die Men-
17,24.25 Missionare erzählen uns schen »Gottes Geschlecht« sind, dann ist
immer wieder, wenn man Heiden mit es unmöglich, daß Gott aus »Gold und
dem Evangelium bekannt machen will, Silber oder Stein« sei. Diese Götzen sind
ist es das beste, die Schöpfungsgeschich- »Gebilde der Kunst und . . . Erfindung
te zu erzählen. Genau hier beginnt auch des Menschen«, und deshalb nicht so
Paulus, als er zu den Athenern spricht. Er herrlich wie der Mensch. Diese Götzen
beschreibt »Gott« als den Einen, »der die sind in gewisser Weise Kinder des Men-
Welt gemacht hat und alles, was darin schen, während menschliche Wesen die
ist«. Als er auf die vielen Götzentempel Schöpfung Gottes sind.
in der Nähe schaute, erinnerte der Apo- 17,30 Nachdem Paulus so die Torheit
stel seine Hörer daran, daß der wahre des Götzendienstes herausgestellt hat,
Gott »nicht in Tempeln, die mit Händen fährt er fort, indem er anführt, daß
gemacht sind«, wohnt. Auch ist er nicht »Gott« viele Jahrhunderte lang die
vom Dienst durch »Menschenhände« »Unwissenheit« der Heiden übersehen
abhängig. In Götzentempeln bringen die hat. Doch nun, da er den Menschen die
Priester den Göttern oft Speisen und Offenbarung des Evangeliums gegeben
andere »Notwendigkeiten« dar. Doch hat, »gebietet er jetzt den Menschen, daß
der wahre Gott hat es nicht »nötig«, daß sie alle überall Buße tun sollen«, d. h.
der Mensch ihm etwas gibt, weil er der eine völlige Umkehr vollziehen sollen.
Ursprung von allem »Leben und Odem« 17,31 Das ist eine sehr dringliche Bot-
und allem anderen ist. schaft, weil Gott »einen Tag gesetzt hat,
17,26-28a Paulus geht nun als näch- an dem er den Erdkreis richten wird in
stes auf den Ursprung des Menschen ein. Gerechtigkeit durch« den Herrn Jesus
Alle Völker stammen ab von einem Christus, den »Mann, den er dazu be-
gemeinsamen Stammvater, Adam. Die stimmt hat«. Das Gericht, das hier er-
Völker wurden von Gott nicht nur ge- wähnt ist, wird stattfinden, wenn Chri-
schaffen, sondern er setzte auch ihre Le- stus wiederkehrt, um seine Feinde zu be-
benszeit fest und »bestimmte« die Län- siegen und sein Tausendjähriges Reich
der, in denen die verschiedenen Völker aufzurichten. Die sichere Bestätigung ist
leben sollten. Er erzeigte ihnen unzählige dadurch gegeben, daß Gott den Herrn
Gnadenbeweise, um sie dazu zu bringen, Jesus »aus den Toten . . . auferweckt« hat.
ihn zu »suchen«. Er wollte, daß sie »ihn So leitet Paulus nun über zu seinem Lieb-
. . . tastend fühlen und finden möchten«, lingsthema, der Auferstehung Christi.
obwohl er in Wirklichkeit »nicht fern ist 17,32 Wahrscheinlich konnte Paulus
von jedem von uns«. In dem wahren Gott seine Predigt nicht beenden. Es mag sein,
»leben und weben und sind wir«. Er ist daß er durch den Zorn derer, die die
nicht nur unser Schöpfer, sondern auch »Toten-Auferstehung« verspotteten, un-
der, der unser Leben erhält. terbrochen wurde. Andere jedoch spotte-
17,28b Um die Beziehung des ten nicht, sondern zögerten. Sie verscho-
Geschöpfes zum Schöpfer noch weiter zu ben jede Reaktion indem sie sagten: »Wir
verdeutlichen, zitierte Paulus einen der wollen dich darüber auch nochmals
griechischen »Dichter«, der »gesagt« hat: hören.« »Für sie wäre es kein schöner Tag
»Denn wir sind auch sein Geschlecht.« gewesen, wenn sie hier mit Christus
Das darf man nicht als die Lehre inter- Schluß gemacht hätten. Sie konnten nicht
pretieren, alle Menschen seien Brüder sagen ›nie‹, sondern nur ›nicht jetzt‹.«
und Gott sei ihr Vater. Wir sind in dem 17,33.34 »Aber« es wäre übereilt zu
Sinne von Gottes »Geschlecht« als daß er sagen, daß die Botschaft des Paulus ver-

554
Apostelgeschichte 17

geblich gewesen wäre. Denn schließlich gungen (3,1-11; 5,21.42). Paulus und sei-
glaubte »Dionysius«, der ein »Areopa- ne Mitarbeiter predigten das Wort in Phi-
git« war, ein Mitglied des Gerichtshofes. lippi an einem Flußufer (Apg 16,13). Hier
»Eine Frau mit Namen Damaris« glaubt in Athen predigte Paulus auf dem Markt-
ebenfalls »und andere«, deren Namen platz (17,17), ehe er eingeladen wurde,
hier nicht genannt sind. auf dem Areopag zu sprechen. In Jerusa-
»So ging Paulus aus ihrer Mitte fort.« lem sprach er die aufgebrachte Menge
»Von Athen hören wir nichts mehr. In die von den Stufen der Burg Antonia an
Zentren der Verfolgung kehrt Paulus (21,40-22,21).
zurück, doch zu diesem intellektuellen Mindestens viermal wurde die Bot-
Hochmut war weiter nichts zu sagen.« schaft vor dem jüdischen Sanhedrin ver-
Einige kritisieren diese Predigt, weil kündigt: durch Petrus und Johannes
sie die Athener für ihre Frömmigkeit (4,8.19), durch Petrus und andere Apo-
lobt, obwohl sie doch die größten Göt- stel (5,17-32), durch Stephanus (7,2-53)
zendiener waren, weil sie die Erkenntnis und durch Paulus (22,30-23,10).
des wahren Gottes aus einer Inschrift Paulus und seine Gefährten waren es
herausliest, die doch nur für einen weite- gewohnt, das Evangelium in den Synago-
ren Götzen gedacht war, weil sie sich zu gen zu verkündigen (9,20; 13,5.14; 14,1;
sehr den Gebräuchen und Gewohnhei- 17,1.2.10.17; 18,4.19.26; 19,8).
ten der Athener anbiedert, und weil sie Auch Privathäuser wurden oft dazu
das Evangelium nicht so deutlich und benutzt. Petrus predigte im Haus des
eindringlich wie andere Reden des Apo- Kornelius (10,22.24). Paulus und Silas
stels verkündigt. Doch diese Kritik ist gaben im Haus des Kerkermeisters in
ungerechtfertigt. Wir haben schon ver- Philippi Zeugnis (16,31.32). In Korinth
sucht zu erklären, daß Paulus einen predigte Paulus im Haus des Krispus,
Anknüpfungspunkt suchte und dann des Synagogenvorstehers (18,7.8). Er re-
seine Zuhörer durch einfache Schritte dete das Wort bis Mitternacht in einem
zuerst zur Erkenntnis des wahren Gottes Privathaus in Troas (20,7). Er lehrte in
und dann der Notwendigkeit der Bekeh- den Häusern in Ephesus (20,20) und in
rung angesichts des als Richter wieder- seinem eigenen gemieteten Haus in Rom
kommenden Christus führte. Außerdem (28,30.31).
ist es eine ausreichende Rechtfertigung Philippus predigte dem Äthiopi-
für diese Botschaft des Paulus, daß sich schen Kämmerer in einem Wagen (8,31-
wirklich Menschen dadurch bekehrt 35), und Paulus missionierte an Bord eines
haben. Schiffes (27,21-26). In Ephesus lehrte er
täglich in einer Schule (19,9).
Paulus predigte vor Gerichten vor
Exkurs über ungewöhnliche Kanzeln Felix (24,10), Festus (25,8) und Agrippa
Die Predigt des Paulus auf dem Areopag (26,1-29).
ist ein Beispiel für die ungewöhnlichen In 8,4 lesen wir davon, daß die ver-
Orte, an denen die ersten Gläubigen das folgten Gläubigen überall hingingen, um
Wort verkündigten. das Wort zu predigen.
Am liebsten predigten sie im Freien. Es zeigt sich, daß sie nie der Ansicht
Zu Pfingsten wird die Verkündigung waren, daß die Botschaft nur in besonde-
wahrscheinlich draußen gehalten wor- ren »geheiligten« Gebäuden verkündigt
den sein, wenn man von der Zahl aus- werden dürfe. Wo immer Menschen
69)
geht, die zuhörte und gerettet wurde waren, gabe es Grund und Gelegenheit
(Apg 2,6.41). Andere Reden im Freien genug, Christus bekannt zu machen.
finden wir in Apostelgeschichte 8,5.25. A. B. Simpson ist der Ansicht:
40; 13,44; 14,8-18. Die ersten Christen sahen jede Situation
Die Vorhöfe des Tempels waren min- als eine Gelegenheit an, für Christus Zeugnis
destens dreimal Zeugen von Verkündi- zu geben. Sogar wenn sie vor Könige und

555
Apostelgeschichte 17 und 18

Herrscher geführt wurden, kam es ihnen nie der Hauptstraße von Rom nach dem
in den Sinn, dieses Thema zu umgehen und Osten lag, hatten sie hier Halt gemacht
sich nicht mit Christus zu identifizieren, weil und ein Geschäft als »Zeltmacher« be-
sie etwa die Konsequenzen gefürchtet hätten. gonnen. Auch Paulus war »Zeltmacher«,
Es war für sie einfach eine Gelegenheit, Köni- und er wurde so mit ihnen bekannt.
gen und anderen Herrschern zu predigen, die Die besten Offenbarungen unseres
sie auf andere Art nie hätten erreichen kön- Lebens erhalten wir oft, wenn wir uns auf
nen. Es ist wahrscheinlich Gott, der es den dem Feld der Pflichterfüllung befinden. Bleib
Menschen erlaubt, unsere Pfade zu kreuzen, bei deinem täglichen Broterwerb und mitten
damit wir die Gelegenheit haben, eine in deiner Mühe wirst du großen Segen erle-
Segensspur in ihrem Leben zu hinterlassen, ben und glückliche Offenbarungen erfahren
in ihr Herz und Leben einen Einfluß zu säen, . . . Das Geschäft, das Büro oder der Laden, in
70)
der sie näher zu Gott bringt. dem du arbeitest, kann zum Haus Gottes
Der Herr Jesus hatte den Jüngern werden. Arbeite, und zwar sorgfältig, viel-
befohlen: »Geht hin in die ganze Welt leicht findest du gerade dort eine der seltenen
und predigt das Evangelium der ganzen tiefen Freundschaften, wie es auch Aquila
71)
Schöpfung« (Mk 16,15). Die Apostelge- und Priscilla erfuhren.
schichte zeigt, wie sie diesen Auftrag Es wird aus dem Bericht nicht deut-
ausführten. lich, ob »Aquila« und »Priscilla« schon
Wir könnten hinzufügen, daß die Christen waren, als Paulus ihnen begeg-
meisten Predigten in der Apostelge- nete, oder ob sie durch seinen Dienst
schichte spontan und aus dem Stegreif gerettet wurden. Doch wahrscheinlich
gehalten wurden. Normalerweise hatten sind die Beweise stärker, die dafür spre-
die Jünger keine Zeit, um ihre Botschaft chen, daß sie schon geglaubt haben, als
vorzubereiten. »Es ging nicht darum, aus sie nach Korinth kamen.
dem Stand zu predigen, sondern die Vor- 18,4 Paulus »unterredete sich aber in
bereitung lief ihr ganzes Leben lang.« der Synagoge an jedem Sabbat und über-
Die Prediger wurden vorbereitet, zeugte Juden und« heidnische Prose-
nicht die Predigten. lyten, daß Jesus der Christus Gottes sei.
18,5 »Paulus« hatte« Silas« und
18,1 Einige Ausleger sind der An- »Timotheus« in Beröa verlassen, als er
sicht, daß Paulus »von Athen . . . schied«, nach Athen reiste. In Athen hatte er
weil er dort so wenig positive Reaktio- ihnen eine Nachricht geschickt, daß sie
nen auf seine Verkündigung erhalten hat. zu ihm kommen sollten. Sie holten ihn in
Wir nehmen jedoch eher an, daß er vom Korinth ein.
Heiligen Geist geführt wurde, nach Nach ihrer Ankunft »wurde Paulus
Westen zu reisen, »nach Korinth«, in die durch das Wort gedrängt«. Das kann
Hauptstadt von Achaja. Hier in dieser heißen, er fühlte eine Last, daß er das
Stadt, die für ihre Ausschweifungen be- Wort mit großem Eifer predigen sollte,
kannt war, mußte das Evangelium gepre- indem er »den Juden . . . bezeugte . . .,
digt und eine Gemeinde gegründet wer- daß Jesus der Christus sei«. Es könnte
den. sich auch um die Andeutung handeln,
18,2.3 In Korinth freundete Paulus daß der Apostel nicht weiter der Zeltma-
sich mit einem Ehepaar namens »Aqui- cherei nachging, sondern nur noch das
la« und »Priscilla« an. Diese Freund- Evangelium predigte.
schaft sollte sein ganzes Leben lang hal- Etwa zu dieser Zeit muß Paulus auch
ten. »Aquila« war ein »Jude . . . aus Pon- den 1. Brief an die Thessalonicher ge-
tus«, der nordöstlichen Provinz Kleinasi- schrieben haben (etwa 52 n. Chr.).
ens. Er hatte mit seiner Frau in »Rom« 18,6 Die ungläubigen Juden »wider-
gelebt, war dort jedoch durch eine antise- strebten« Paulus und »lästerten«. Wer
mitische Verordnung des Kaisers Klaudi- dem Evangelium Widerstand leistet, der
us vertrieben worden. Weil Korinth an widerstrebt letztlich sich selbst. Der

556
Apostelgeschichte 18

Ungläubige schadet niemandem so sehr Liebe und Hingabe ganz dem Herrn
wie sich selbst. Jesus zu widmen.
Paulus »schüttelte . . . die Kleider aus 18,9.10 »Der Herr« in seiner Gnade
und sprach zu ihnen: Euer Blut komme »sprach durch eine Erscheinung in der
auf euren Kopf! Ich bin rein; von jetzt an Nacht zu Paulus«, in der er ihm versi-
werde ich zu den Nationen gehen.« Das cherte, er brauche sich vor nichts zu
Ausschütteln der Kleider zeigte, daß er fürchten. Der Apostel sollte fortfahren,
sich mit ihnen nicht mehr eins machen das Wort zu predigen und wurde dazu
wollte. Doch hielt ihn das nicht davon ab, der Gegenwart und des Schutzes Gottes
noch in einer anderen Stadt in die Syna- versichert. »In dieser Stadt« gab es viele,
goge zu gehen, nämlich in Ephesus die dem Herrn in dem Sinne gehörten,
(19,8). daß er an ihrem Leben arbeitete und sie
Die Worte des Apostels sind für jeden schließlich gerettet werden würden.
Gläubigen eine ernsthafte Erinnerung 18,11 Paulus blieb achtzehn Monate
daran, daß es so etwas wie eine Blut- lang in Korinth »und lehrte unter ihnen
schuld gibt. Der Christ ist ein Schuldner das Wort Gottes«. Im ersten und zweiten
aller Menschen. Wenn er sich dieser Korintherbrief finden sich zu dieser Zeit
Schuld nicht entledigt, indem er das viele wertvolle Angaben.
Evangelium predigt, dann wird Gott ihn 18,12-16 Wahrscheinlich gegen Ende
zur Verantwortung ziehen. Wenn er des Aufenthaltes des Paulus in Korinth
jedoch andererseits treu für Christus wurde »Gallion« zum »Prokonsul von
Zeugnis ablegt und starrköpfiger Ableh- Achaja« ernannt (um 53 n. Chr.). »Die
nung begegnet, dann ist er selbst frei von Juden«, die der Ansicht waren, daß der
der Schuld und die Verantwortung liegt neue »Prokonsul« ihnen wohlgesonnen
bei demjenigen, der Christus ablehnt. sei, brachten Paulus »vor den Richter-
Dieser Vers stellt einen weiteren stuhl« (bema) auf dem Marktplatz in
Schritt dar, mit dem Israel beiseite Korinth. Die Anklage lautete, daß »Pau-
gesetzt und das Evangelium den Heiden lus« sie »überreden« würde, »entgegen
zugewendet wird. Gott hatte bestimmt, dem« jüdischen »Gesetz Gott anzube-
daß die Gute Nachricht zuerst den Juden ten«. Ehe der Apostel eine Gelegenheit
gepredigt werden soll, doch im Verlaufe zum Zeugnis erhalten hatte, schlug Galli-
der Apostelgeschichte wendet sich der on diese Anklage mit ausgesprochenem
Geist traurig immer mehr von diesem Mißfallen nieder. Er sagte den Juden, daß
Volke ab, und zwar in dem Maße, wie die es hier um »das Gesetz, das ihr habt«
Ablehnung zunimmt. gehe und nicht um eines, das in seinen
18,7.8 Auf die Verwerfung der Juden Zuständigkeitsbereich falle. »Wenn es ein
hin ging der Apostel in das Haus des Unrecht oder eine böse Handlung wäre«,
»Justus«, eines Proselyten, »dessen Haus dann wäre es für Gallion geboten gewe-
an die Synagoge stieß«. Als er seinen sen, die »Juden . . . vernünftigerweise« zu
Dienst von diesem Hauptquartier aus »ertragen«, doch in Wirklichkeit ging es
tat, hatte der Apostel Paulus die Freude nur um »Worte und Namen und das«
zu sehen, wie »Krispus. . ., der Vorsteher jüdische »Gesetz«. Der »Prokonsul« war
der Synagoge . . . mit seinem ganzen nicht daran interessiert, ȟber diese Din-
Haus« zum Herrn kam. Auch »viele« ge . . . Richter« zu sein, deshalb schlug er
andere »Korinther« vertrauten ihr Leben die Anklage sofort nieder.
dem Herrn an »und ließen sich taufen«. 18,17 Einige Ausleger sind der Auf-
Paulus taufte Krispus und einige andere fassung, die Griechen bestraften Sosthe-
(1. Kor 1,14-16), doch war es normaler- nes darum, weil er Paulus wegen solch
weise seine Gewohnheit, das einen ande- einer Lappalie vor Gallion gebracht
ren Gläubigen ausführen zu lassen. Pau- habe. Wenn es heißt: »Gallion beküm-
lus fürchtete, daß die Menschen um ihn merte sich nicht um dies alles«, so bedeu-
herum Parteiungen aufbauten, statt ihre tet das nicht, daß er nicht am Evangelium

557
Apostelgeschichte 18 und 19

interessiert gewesen wäre, obwohl das auf eine weitere ausgedehnte Missions-
sicherlich wahr ist. Er wollte sich einfach reise zu gehen. Der Bericht über diese
nicht in die jüdischen Gesetze und Reise reicht von Vers 23 bis Kapitel 21,16.
Gebräuche einmischen. Die ersten Gebiete, die er besuchte,
18,18 Nach diesen Vorfällen »blieb . . . waren »die galatische Landschaft und
Paulus noch viele Tage« in Korinth. Phrygien«. Der Apostel besuchte eine
Wahrscheinlich schrieb er während die- Gemeinde nach der anderen »und befe-
ser Zeit den 2. Thessalonicherbrief. stigte alle Jünger«.
Als er schließlich »Abschied von den 18,24-26 Nun wendet sich der Bericht
Brüdern« nahm und mit »Aquila und wieder »Ephesus« zu, wo wir »Aquila
Priscilla« Korinth verließ, fuhr er nach und Priscilla« zurückließen. »Ein bered-
Syrien und wollte nach Antiochien zu- ter« Prediger namens »Apollos« war dort
rückkehren. Die Kommentatoren sind angekommen, »der mächtig war in den
sich nicht einig, ob es »Paulus« oder Schriften« des AT. Er war von Geburt aus
»Aquila« war, der »sich in Kenchreä das »Jude« und stammte »aus Alexandria«,
72)
Haupt hatte scheren lassen«. (Kenchreä der Hauptstadt Nordägyptens. Obwohl
ist der östliche Hafen von Korinth.) seine Predigt vollmächtig war, und
Einige Ausleger sind der Ansicht, obwohl er sehr eifrig war, war doch sein
daß das »Gelübde« sehr jüdisch sein Wissen über den christlichen Glauben
mußte und nicht mit der geistlichen Rei- recht mangelhaft. Er war offensichtlich
fe des Paulus zusammenzubringen sei. im Dienste »Johannes« des Täufers
Es gibt jedoch wahrscheinlich keinen geschult worden, und wußte, wie dieser
Weg, diese Diskussion endgültig zu ent- das Volk Israel auf den kommenden Mes-
scheiden. sias vorbereitet hatte. Offensichtlich
18,19.20 Als das Schiff in Ephesus lan- kannte er aber die christliche Taufe und
dete, verließen es Aquila und Priscilla, einige andere wichtige Aussagen der
um dort eine Weile zu bleiben. Paulus christlichen Lehre noch nicht. »Als aber
nahm die Gelegenheit des kurzen Auf- Priscilla und Aquila ihn . . . in der Syna-
enthaltes des Schiffes wahr, um »in die goge . . . hörten«, erkannten sie, daß er
Synagoge« zu gehen und sich »mit den noch weitere Unterweisung brauchte.
Juden« zu »unterreden«. Erstaunlicher- Deshalb »nahmen sie ihn« liebevoll »zu
weise wollten sie, daß er länger bleibe, sich und legten ihm den Weg Gottes
doch das konnte er zu diesem Zeitpunkt genauer aus«. Es spricht für diesen
nicht. »beredten« Prediger, daß er gewillt war,
18,21 Das Schiff fuhr ab, doch er ver- sich von einem Zeltmacher und seiner
sprach, nach Ephesus »zurückzukehren, Frau etwas sagen zu lassen.
. . . wenn Gott will«, nachdem er »das 18,27.28 Als Folge seiner Belehrbar-
zukünftige Fest in Jerusalem« (Elber- keit ermutigten ihn »die Brüder« in
felder Bibel) besucht habe. Ephesus in seinem Verlangen, nach
18,22 Der nächste Halt des Schiffes Korinth zu gehen, um dort das Wort zu
war Cäsarea. Von dort aus ging der Apo- predigen. Sie »schrieben« ihm einen
stel »hinauf und begrüßte die Gemein- Empfehlungsbrief. Dadurch wurde er
de« in Jerusalem. Dann »zog« er wieder eine große Hilfe für die Gläubigen in
nach »Antiochien«, wo er nun seinen Korinth und »widerlegte« dort »kräftig
letzten Besuch machen sollte. So endet . . . die Juden öffentlich, indem er . . .
die zweite Missionsreise des Paulus. bewies, daß Jesus« wirklich »der Chri-
stus« Gottes ist.
G. Die dritte Missionsreise des Paulus: 19,1 Als Paulus das erste Mal nach
Kleinasien und Griechenland »Ephesus« kam, hatte er den Juden in der
(18,23 – 21,26) Synagoge versprochen, daß er zurück-
18,23 Nach einem recht langen Aufent- kehren wolle, wenn es Gottes Wille sein
halt in Antiochien war Paulus nun bereit würde. Zur Erfüllung seines Verspre-

558
Apostelgeschichte 19

chens reiste er aus Galatien und Phrygien standen und in den Himmel aufgefahren
nun über das Gebirge »nach Ephesus« an war. Sie wußten auch nicht, daß er bereits
der Westküste der Halbinsel Kleinasien. seinen Heiligen Geist geschickt hatte. Das
Als er dort ankam, traf er auf zwölf Män- alles erklärte »Paulus« ihnen. Er erinnerte
ner, die behaupteten, »Jünger« zu sein. sie daran, daß »Johannes«, als er »mit der
Als er mit ihnen redete, erkannte er, daß Taufe der Buße« taufte, sie schon auf-
ihre Kenntnisse des christlichen Glau- gefordert hatte, an »Jesus Christus«
bens sehr mangelhaft waren. Er fragte (LU 1912) zu glauben.
sich sogar, ob sie überhaupt den Heiligen 19,5 »Als sie es aber gehört hatten,
Geist empfangen hatten. ließen sie sich auf den Namen des Herrn
19,2 Deshalb fragte er sie: »Habt ihr Jesus taufen.« Im gesamten Buch der
den Heiligen Geist empfangen, als ihr Apostelgeschichte liegt die Betonung auf
gläubig wurdet?« (Schlachter). In der der Herrschaft Jesu. Deshalb wurden die
Elberfelder Bibel lautet dieser Vers: Johannesjünger hier in der Vollmacht
»Habt ihr den Heiligen Geist empfangen, »des Herrn Jesus« getauft und bekunde-
nachdem ihr gläubig geworden seid?« ten so öffentlich, daß sie Jesus Christus in
Diese Formulierung legt fälschlicherwei- ihrem Leben als Herrn (Jahwe) aner-
se nahe, daß der Empfang des Heiligen kannten.
Geistes nach der Errettung stattfinde. 19,6.7 »Paulus« legte ihnen dann
Es geht in dem Vers nicht darum, daß noch »die Hände auf«, und sie empfin-
der Empfang des Heiligen Geistes ein gen den »Heiligen Geist«. Dies ist das
Gnadenwerk ist, das auf die Errettung vierte Mal in der Apostelgeschichte, daß
folgt. Sobald ein Sünder dem Retter ver- der »Heilige Geist« gegeben wird. Zuerst
traut, empfängt er den Heiligen Geist. geschah das an Pfingsten in Kapitel 2, wo
Die Antwort der Jünger lautete: »Wir es in erster Linie um die Juden ging. Das
haben nicht einmal gehört, ob der Heili- nächste Mal wird in Apostelgeschichte 8
ge Geist überhaupt da ist.« In der »Stutt- erwähnt, wo der Geist den Samaritern
garter Kepplerbibel« lautet die Antwort: durch Petrus und Johannes durch Hän-
»Wir haben nicht einmal gehört, ob der deauflegung gegeben wird. Zum dritten
Heilige Geist bereits da ist.« Weil diese Mal wird der Geist in Apostelgeschichte
Männer Jünger von Johannes dem Täufer 10 ausgeteilt, als ihn die Heiden im Haus
waren, wie wir aus dem nächsten Vers des Kornelius in Joppe empfangen. Wir
wissen, mußten sie von der Existenz des haben schon weiter oben betont, daß die
Heiligen Geistes gehört haben. Und nicht Reihenfolge der Ereignisse beim Emp-
nur das, sondern Johannes hatte seine fang des Heiligen Geistes in jedem Fall
Jünger gelehrt, daß der Eine, der nach unterschiedlich ist.
ihm kommen würde, sie mit Heiligem Hier in Apostelgeschichte 19 ist die
Geist taufen würde. Was diese Jünger Reihenfolge:
nicht wußten, war, daß der Heilige Geist 1. Glaube
bereits zu Pfingsten auf die Erde gekom- 2. Wieder-Taufe
men war. 3. Auflegung der Hände durch die Apo-
19,3.4 Als der Apostel die Tauffrage stel
anschnitt, fand er heraus, daß diese Män- 4. Empfang des Heiligen Geistes.
ner nur »die Taufe des Johannes« kann- Indem Gott den Johannesjüngern
ten. Mit anderen Worten, ihr Wissen lief durch die Auflegung der Hände des Pau-
darauf hinaus, daß der Messias bald kom- lus den Heiligen Geist gibt, traf der Herr
men mußte, und sie hatten ihrer »Buße« eine Vorkehrung gegen die Möglichkeit,
dadurch Ausdruck gegeben, indem sie daß später gesagt wurde, Paulus sei den
sich taufen ließen. Das war die notwendi- anderen Aposteln, insbesondere Petrus
ge Vorbereitung dafür, den Messias als und Johannes, untergeordnet.
König zu empfangen. Sie wußten nicht, Als die Johannesjünger den »Heili-
daß »Jesus« gestorben, begraben, aufer- gen Geist« empfangen hatten, »redeten

559
Apostelgeschichte 19

sie in Sprachen und weissagten«. Solche von den Juden dort »ab«. Er nahm sie mit
übernatürlichen Zeichen benutzte Gott, in die »Schule des Tyrannus«, wo er die
ehe das NT vollständig war. Heute wis- Freiheit hatte, »täglich« zu lehren. Man
sen wir, daß wir den »Heiligen Geist« bei nimmt im allgemeinen an, daß »Tyran-
der Bekehrung empfangen, und eben nus« ein Grieche war, der Kurse in Philo-
nicht durch Zeichen oder Wunder oder sophie und Rhetorik abhielt. »Zwei Jahre
sogar Gefühle, sondern durch das Zeug- lang« lehrte der Apostel sein Jünger und
nis der neutestamentlichen Schriften. sandte sie dann aus, damit sie andere
In dem Augenblick, in dem ein auch lehren konnten. Das Ergebnis die-
Mensch an den Herrn Jesus Christus ser Lehrtätigkeit war, daß die ganze Pro-
glaubt, empfängt er den Heiligen Geist, vinz »Asien . . . das Wort des Herrn hör-
er wird mit ihm versiegelt, er empfängt te, . . . sowohl Juden als Griechen«. So
das Unterpfand des Geistes und die Sal- wurde Paulus eine große Tür und ein
bung des Geistes, und er wird durch den großes Wirkungsfeld eröffnet, obwohl es
Geist in den Leib Christi hineingetauft. dort viel Opposition gab (1. Kor 16,9).
Doch leugnet diese Aussage nicht, daß es 19,11.12 Als Apostel Jesu Christi hat-
im Leben des Gläubigen nicht auch geist- te Paulus die Macht, Zeichen und Wun-
liche Krisen geben könne. Unbestritten der zu tun. Diese waren Zeichen seiner
sucht der Heilige Geist einzelne Men- Apostelschaft und bezeugten die Wahr-
schen auf seine souveräne Art heim und heit seiner Botschaft. Die Macht, die ihn
rüstet sie für besondere Dienste aus, durchströmte, war so groß, »daß man
schenkt ihnen großen Glaubensmut und sogar Schweißtücher oder Schurze«, die
pflanzt ihnen einen Eifer um Menschen- er berührt hatte, zu den »Kranken« oder
seelen ein. Besessenen brachte und diese geheilt
19,8 »Drei Monate lang« besuchte wurden. Es erhebt sich die Frage, ob man
Paulus »die Synagoge« in Ephesus, diese »Wunder« auch heute noch tun
»indem er sich unterredete und sie von kann. Der Heilige Geist Gottes ist sou-
den Dingen des Reiches Gottes über- verän, und er kann tun, was ihm gefällt.
zeugte«. Unter »unterreden« verstehen Doch müssen wir zugeben, daß die Apo-
wir, daß er den Verstand der Menschen stel und ihre Mitarbeiter übernatürliche
ansprach. Durch sein »überzeugen« ver- Kraft hatte, die ihnen übertragen wurde.
suchte er ihren Willen anzusprechen, ins- Weil wir heute keine Apostel mehr im
besondere in bezug auf den Glauben an vollen Sinne des Wortes haben, ist es
Jesus als den Christus. Sein Thema waren müßig, darauf zu bestehen, daß wir auch
die »Dinge des Reiches Gottes«. noch ihre Wunder erleben müßten.
C. E. Stuart stellt klar: 19,13.14 Wann immer Gott in seiner
Es muß hier festgehalten werden, daß er Allmacht wirkt, wird Satan unausweich-
nicht das Evangelium des Reiches Gottes pre- lich auf den Plan treten, um zu widerste-
digte: das wäre nicht dem Zeitalter angemes- hen und zu hindern. Während Paulus
sen gewesen, in dem er lebte. Dieses Evange- predigte und Wunder tat, gab es be-
lium predigte unser Herr. Es wurde jedoch stimmte umherziehende Juden in Ephe-
mit seinem Tod beiseite gesetzt, um in der sus, die »Beschwörer« waren. Diese
Zukunft wieder eingesetzt zu werden (Matth Männer befahlen »bösen Geistern«
24,14; Offb 14,6.7). Doch Paulus sprach über (indem sie »den Namen des Herrn Jesus«
das Reich Gottes, denn es existiert heute hier als magische Formel mißbrauchten), die
73)
auf dieser Erde. Besessenen zu verlassen. Daß gewisse
19,9.10 Als einige der Juden »sich ver- Juden wirklich die Macht hatten, Dämo-
härteten« (mit ihrem Verstand) und nicht nen auszutreiben, wird vom Herrn Jesus
gehorchen wollten (mit ihrem Willen), anerkannt (Lk 11,19).
und als sie begannen, die »Menge« gegen Unter diesen jüdischen Zauberern,
den »Weg« aufzubringen, verließ Paulus die so arbeiteten, waren die sieben Söhne
die Synagoge und »sonderte die Jünger« Skevas. Dieser Mann war »Hoheprie-

560
Apostelgeschichte 19

ster«, oder der Priester, dem die vierund- 19,18.19 Der Geist Gottes arbeitete so
zwanzig Abteilungen unterstanden. mächtig an denen, die verschiedene For-
Eines Tages versuchten seine Söhne, men des Okkultismus ausgeübt hatten,
einen bösen Geist von einem Besessenen daß sich eine große Anzahl von ihnen zu
auszutreiben. Sie sagten zu dem Dämon: Christus bekehrte. Sie »bekannten und
»Ich beschwöre euch bei dem Namen gestanden ihre Taten«. Danach gaben sie
Jesus, den Paulus predigt!« eine öffentliche Demonstration ihres
19,15.16 Sie konnten zwar so reden, Glaubens, indem sie ihre »Bücher . . .
doch hatten sie nicht die entsprechende zusammentrugen«, die sich mit Magie
Vollmacht, und die Dämonen gehorchten beschäftigten, und sie auf einem großen
nicht. Die Antwort des »bösen Geistes« Scheiterhaufen verbrannten. Der Wert
war jedoch äußerst aufschlußreich. Er dieser Bücher machte zusammengerech-
sagte: »Jesus kenne ich, und von Paulus net »fünfzigtausend Silberdrachmen«. Es
weiß ich. Aber ihr, wer seid ihr?« ist schwierig, genau zu bestimmen, wie-
Ein satirischer Kommentar von F. B. viel das in unserer Währung wäre – viel-
Meyer ist es wert, hier zitiert zu werden: leicht um die zwanzigtausend Mark.
Als die Söhne Skevas sich über den 19,20 Dieses öffentliche Abschwören
Dämon hermachen wollten, schlug er von heidnischen Praktiken ließ »das
zurück, indem er sagte: »Ihr Zwerglein, ihr Wort des Herrn mit Macht« wachsen und
Winzlinge, wer seid denn ihr schon? Ich ken- sich durchsetzen. Wenn wir modernen
ne Paulus! Euch kenne ich aber nicht, ich Christen unsere schmutzigen und okkul-
habe noch nie von euch gehört, denn euer ten Bücher und Zeitschriften verbrennen
Name ist in der Hölle nie erwähnt worden. würden, dann würde das Wort sich viel-
Niemand kennt euch, außer in dieser winzi- leicht auch heute besser durchsetzen.
gen Stadt Ephesus.« 19,21 Als seine Zeit in Ephesus ihrem
Ja, und da ist dann noch die Frage, die mir Ende zuging, beschloß Paulus, über
heute jemand gestellt hat: »Kennt man mich »Mazedonien und Achaja . . . nach Jeru-
in der Hölle?« Kennen die Dämonen uns? salem zu reisen« und danach auch
Haben sie Angst vor uns? Oder können sie »Rom« zu besuchen. Sein liebevolles und
uns angreifen? Wenn wir am Sonntag predi- mitleidiges Herz sehnte sich immer nach
gen, oder wenn wir auf der Straße sind, oder den Zentren, in denen das Wort ausgesät
wenn wir unsere Bibelstunden halten, sagt und von denen aus es verbreitet werden
uns dann der Teufel: »Ich kenne dich nicht, du konnte.
bist keinen Schuß Pulver wert, und du kannst 19,22 »Er sandte . . . Timotheus und
mit deiner Beschäftigung ruhig fortfahren. Erastus« voraus »nach Mazedonien«,
Ich werde die Hölle nicht in Unruhe bringen, doch er blieb noch »eine Zeitlang in Asi-
74)
um dich daran zu hindern.« en«. Wahrscheinlich schrieb er in dieser
Es ist interessant zu beobachten, wie Zeit den ersten Korintherbrief (um
die Schrift zwischen dem »bösen Geist« 56 n. Chr.).
und dem »Mensch, in dem der böse Geist 19,23-27 Als Folge der Predigt des
war«, unterscheidet (V. 16). In Vers 15 Paulus hatten sich viele Epheser von
spricht der Dämon. Doch in Vers 16 ihren Götzen dem Herrn zugewandt. Die
springt der Mensch selbst »auf« die Söh- geistliche Erweckung in der Stadt war so
ne Skevas »los und bezwang sie«, um sie ausgedehnt, daß sie bei den Herstellern
dann ihrer Kleider zu berauben und zu der Götzenbilder eine große Geschäfts-
verletzen. einbuße verursachte. »Demetrius, ein Sil-
19,17 Als die Nachricht dieser Nieder- berschmied«, war einer von den Betroffe-
lage in der Gegend bekannt wurde, »fiel« nen. Er fertigte »silberne Tempel der
75)
eine tiefe Ehrfurcht auf die Menschen, Artemis«. Er machte sich zum Sprecher
»und der Name des Herrn Jesus wurde dieses »Erwerbes« und sammelte alle sei-
erhoben«. Nicht Paulus bekam die Ehre, ne Handwerkskollegen und wollte sie
sondern »der Name« seines Erlösers. dazu bringen, einige einschneidende

561
Apostelgeschichte 19

Maßnahmen zu ergreifen. Er erinnerte Ephesus »die Stadt« war, die zur »Tem-
sie daran, wie Paulus erfolgreich viele pelpflegerin der großen Artemis« er-
Menschen davon überzeugt hatte, daß es nannt worden war. Obwohl dreizehn
keine »Götter« gäbe, »die mit« menschli- Städte an dem Tempel Interesse hatten,
chen »Händen gemacht werden«. Er leg- stand das heilige Gebäude unter der Ver-
te jedoch sein eigentliches Motiv dar, als waltung der Epheser. Auch fiel ihnen das
er sagte, daß sein »Erwerb« damit in Vorrecht zu, ein »Bild« der »Artemis«
»Gefahr« geriete, doch er versuchte, dem behüten zu dürfen, das angeblich vom
ganzen einen religiösen Anstrich zu Himmel gefallen war.
geben, indem er große Sorge um »Arte- 19,36-40 Da nun ihre religiösen
mis« und ihren »Tempel« heuchelte. Grundwerte sicher waren und nichts je
19,28-31 Die Versammlung der Sil- den Kult der Diana stürzen könnte,
berschmiede verwandelte sich in einen erklärte der Stadtschreiber, daß die Men-
Aufruhr, in den die ganze »Stadt« hin- schen töricht waren, so einen Aufstand
eingezogen wurde. Sie leierten: »Groß ist anzuzetteln. Schließlich waren die Män-
die Artemis der Epheser!« und »stürm- ner, gegen die sie sich erhoben hatten,
ten einmütig nach dem Theater (die »weder« Tempelräuber noch Lästerer.
Arena oder das Kolosseum), und »rissen »Wenn nun Demetrius und die Kunst-
die Mazedonier Gajus und Aristarchus«, handwerker mit ihm« sich beschweren
zwei »Reisegefährten des Paulus« mit wollten, so gab es reguläre »Gerichtsta-
sich, zweifellos um sie zu töten. »Pau- ge«, die ihnen offenstanden, auf denen
lus« selbst wollte einschreiten und den die »Statthalter« ihre Klagen anhören
Mob beruhigen, doch wurde er von den würden. Wenn sie irgend etwas anderes
»Jüngern« abgehalten, ebenso »von den zu sagen hatten, gab es immer noch die
Asiarchen« (Beamte, die von den Städ- Möglichkeit, die »gesetzliche Versamm-
ten gewählt wurden und auf eigene lung« einzuberufen. Doch sie hatten hier
Kosten Feste zu Ehren der Götter gaben). einen Aufruhr veranstaltet. Davon wür-
Diese Wohltäter der Öffentlichkeit, die den die Römer nicht gerade begeistert
mit Paulus Freundschaft geschlossen sein. Wenn sie je »wegen des heutigen
hatten, sagten ihm, daß es höchst unan- Aufruhrs angeklagt« würden, hätten sie
gebracht für ihn sei, sich in die Arena zu keinerlei Entschuldigung. Auch wußte
begeben. der Stadtschreiber, daß seine Stellung
19,32 Zu dieser Zeit war der Mob völ- und vielleicht sogar sein Leben in Gefahr
lig außer Kontrolle. Man kannte noch gerieten, wenn die Nachricht über einen
nicht einmal mehr den Anlaß des Auf- Aufstand nach Rom gelangen sollte.
ruhrs. Überall hörte man sich widerspre- 19,41 Inzwischen hatte sich die Men-
chende Stimmen. ge beruhigt, und nun eilten alle nach
19,33.34 Ein Jude namens »Alexan- Hause.
der« wollte vortreten und zu der Menge Es ist schon seltsam, daß der Dienst des
sprechen. Zweifellos wollte er beweisen, Paulus in dieser Stadt durch einen Stadt-
daß die Juden in dieser Hinsicht völlig schreiber endete, der im Sinne der öffentli-
unschuldig waren. Doch als die Menge chen Ordnung handelte, und nicht durch den
»erkannte, daß er ein Jude war«, wurden Aufruhr selbst. Solange es noch eine gesunde
sie nur noch aufgebrachter. »Zwei Stun- Opposition gab, war Paulus der Ansicht, daß
den lang« schrien sie: »Groß ist die Diana die Tür für ihn in Ephesus weit offen stand
der Epheser!« (1. Kor 16,8.9). Doch es scheint so, daß er
19,35 An diesem kritischen Punkt weiterzog, als er von öffentlicher Seite
gelang es dem »Stadtschreiber, die Volks- beschützt wurde.
menge« zu beruhigen. Seine Rede war so Das Wort »Versammlung« (V. 32.39.
erfolgreich wie sie lasch war. Praktisch 40) ist eine Übersetzung des griechischen
betonte er, die Epheser hätten nichts zu Wortes ekklesia. Das bedeutet eine her-
fürchten. Schließlich wußte jeder, daß ausgerufene Gemeinschaft von Men-

562
Apostelgeschichte 19 und 20

schen. Es ist dasselbe Wort, das an ande- 20,3b Ursprünglich hatte Paulus
ren Stellen des Neuen Testaments mit geplant, von Korinth aus direkt über die
Kirche übersetzt wird. Ob sich das Wort Ägäis »nach Syrien« zu reisen. Doch als
wie hier auf einen heidnischen Mob er erfuhr, daß die »Juden« ihn irgendwo
bezieht oder auf eine Zusammenkunft auf diesem Weg umbringen wollten,
der Israeliten, wie in Apostelgeschichte änderte er seine Pläne und zog wieder
7,38, oder auf die neutestamentliche nordwärts »durch Mazedonien«.
Gemeinde, muß aus dem Kontext ge- 20,4 Zu dieser Zeit lernen wir einige
schlossen werden. Das Wort Versamm- der Reisegefährten des Paulus kennen.
lung ist eine bessere Übersetzung als das Es wird berichtet, daß sie ihn »bis nach
Wort Kirche. Das Wort Kirche kommt von Asien« begleiteten, doch wir wissen
einem griechischen Wort, das »dem sicher, daß einige von ihnen bis Rom mit
Herrn zugehörig« bedeutet (kyriake, ihm reisten:
unser Wort Kirche ist aus diesem Wort »Sopater, . . . ein Beröer,« war viel-
entstanden). Im modernen Sprachge- leicht der Verwandte des Paulus, der in
brauch bezeichnen wir damit normaler- Römer 16,21 als Sosipater erwähnt wird.
weise ein Gebäude, das religiösen »Aristarchus« aus Thessalonich ver-
Zwecken dient. Deshalb bevorzugen vie- lor beinahe sein Leben in dem Aufstand
le Christen das Wort Versammlung, weil in Ephesus (Kap. 19,29). Später lesen wir
es die Tatsache betont, daß die Kirche von ihm als Mitgefangenen des Paulus in
eine herausgerufene Gemeinschaft von Rom (Philem 24; Kol 4,10).
Menschen ist, nicht jedoch ein Gebäude »Sekundus«, auch aus Thessalonich,
und noch nicht einmal eine Konfession. begleitete Paulus bis nach Asien, wahr-
20,1 Aus diesem Vers scheint hervor- scheinlich bis Troas oder Milet.
zugehen, daß der Apostel direkt von »Gajus von Derbe« darf nicht mit
Ephesus »nach Mazedonien« gereist sei. dem Mazedonier verwechselt werden,
Doch aus dem 2. Korintherbrief erfahren der von der Menge in Ephesus ergriffen
wir, daß er zunächst noch Troas besuch- wurde (Kap. 19,29). Von einem anderen
te. Dort fand er eine offene Tür für das Gajus wird erwähnt, daß er in Korinth
Evangelium vor, doch wartete er sehr auf wohnte und dort Gastgeber des Paulus
Titus, um von ihm zu erfahren, wie die war (Röm 16,23). Der dritte Brief des
Korinther seinen ersten Brief aufgenom- Johannes ist an einen Mann namens
men hatten. Als er Titus in Troas nicht Gajus gerichtet, der wahrscheinlich in
fand, fuhr er über die nordöstliche Ägäis einer Stadt bei Ephesus wohnte. Gajus
»nach Mazedonien«. Zweifellos landete war ein sehr verbreiteter Name.
er in Neapolis und reiste dann weiter ins »Timotheus . . . begleitete« Paulus
Hinterland nach Philippi. Während er in nicht nur »bis nach Asien«, sondern war
»Mazedonien« war, traf er, wahrschein- auch während seiner ersten Gefangen-
lich in Philippi, Titus und wurde durch schaft in Rom bei ihm. Später reiste er mit
die Nachrichten aus Korinth sehr ermu- Paulus durch Asien. In seinem zweiten
tigt. Wahrscheinlich schrieb er um diese Brief an Timotheus gab Paulus seinem
Zeit den 2. Korintherbrief (56 n. Chr.?). Wunsch Ausdruck, ihn wiederzusehen,
(s. a. 2. Kor 1,8.9; 2,12-14; 7,5-7). doch wissen wir nicht, ob sich dieser
20,2.3a Nachdem er einige Zeit in Wunsch je erfüllte.
Mazedonien Dienst getan hatte, reiste er »Tychikus« aus Kleinasien reiste mit
nach Süden »nach Griechenland« oder dem Apostel wahrscheinlich bis Milet.
Achaja. Den größten Teil der drei Mona- Später traf er Paulus in Rom wieder. Es
te verbrachte er zweifellos in Korinth, wird erwähnt, daß er mit ihm bis und
und während dieser Zeit schrieb er auch während seiner zweiten Gefangenschaft
den Römerbrief. Einige Ausleger sind arbeitete.
der Meinung, daß um diese Zeit auch der »Trophimus« war offensichtlich ein
Galaterbrief geschrieben wurde. Heide, der aus Ephesus in Kleinasien

563
Apostelgeschichte 20

stammte. Er reiste mit Paulus bis Jerusa- wirklich tot war. In seiner Vollmacht als
lem und war ungewollt die Ursache für Apostel hatte Paulus ihn auf wunderbare
seine Gefangennahme. Er wird auch in 2. Weise wieder zum Leben erweckt.
Timotheus 4,20 erwähnt. 20,11.12 Als Paulus wieder nach oben
20,5.6 Es scheint so zu sein, daß die kam, brachen sie »das Brot« (V. 11), d. h.
sieben oben erwähnten Brüder schon sie hielten das Herrenmahl, zu dem sie
nach Troas reisten, während Paulus und zusammengekommen waren (V. 7).
Lukas »Philippi« besuchten. (Wir sind Dann gab es eine normale Mahlzeit,
der Ansicht, daß Lukas bei dem Apostel wahrscheinlich ein Agape- oder Liebes-
war, weil hier wieder Personalpronomen mahl. Dieses Gemeinschaftsmahl wurde
der ersten Person Plural verwendet wer- in der ersten Gemeinde zusammen mit
den, »uns« in Vers 5 und »wir« in Vers 6 dem Mahl des Herrn gefeiert, doch als
etc.) »Nach den Tagen der ungesäuerten sich Mißbräuche einschlichen (1. Kor
Brote« oder dem Passah segelten Paulus 11,20-22) wurde diese Sitte nach und
und Lukas von Mazedonien nach »Tro- nach aufgegeben.
as«. Die Reise hätte normalerweise keine Nach diesem nächtlichen Treffen, das
»fünf Tage« gedauert. Für die Verzöge- wohl keiner der Teilnehmer je vergessen
rung wird hier keine Erklärung gegeben. sollte, verabschiedete sich der Apostel
20,7-9 Wenn wir die Verse 6 und 7 von den Gläubigen in Troas.
vergleichen, dann scheint es so zu sein, 20,13-15 Paulus verließ Troas »zu
daß der Apostel absichtlich sieben Tage Fuß« und lief 32 Kilometer über den
in Troas wartete, um am Brotbrechen am Rücken eines Vorgebirges »nach Assos«.
Tag des Herrn teilzunehmen. Aus Vers Seine Reisegefährten fuhren mit dem
sieben geht eindeutig hervor, daß die »Schiff« um das Vorgebirge herum und
ersten Christen sich »am ersten Tag der nahmen ihn dann auf der Südseite auf.
Woche« versammelten, um das Mahl des Vielleicht brauchte der Apostel einige
Herrn zu feiern. Zeit allein, um über das Wort Gottes
Daß Paulus »bis Mitternacht« gespro- nachzudenken.
chen hat, sollte uns nicht verwundern. Als sie die Westküste Kleinasiens ent-
Wenn die geistliche Temperatur einer langsegelten, kamen sie zunächst nach
Gemeinde hoch ist, dann kann der Geist »Mitylene«, der Hauptstadt der Insel
Gottes frei wirken, ohne durch Uhren Lesbos. Am folgenden Abend ankerten
eingeschränkt zu werden. Als die Zeit sie offensichtlich vor der Insel »Chios«.
fortschritt, wurde es immer heißer und Nach einer weiteren Tagesreise kamen
stickiger »in dem Obersaal«. Vielleicht sie zur Insel »Samos« und »blieben . . . in
trugen die »vielen Lampen« mit dazu Trogyllion« (Anmerkung Elberfelder
bei, ebenso wie die vielen versammelten Bibel). Schließlich kamen die Reisenden
Menschen. »Ein junger Mann aber mit »nach Milet«, einen Hafen an der Süd-
dem Namen Eutychus«, der in einem westküste Kleinasiens, der 58 Kilometer
offenen »Fenster« saß, schlief ein. Er südlich von Ephesus liegt.
stürzte drei Stockwerke tief und starb. 20,16 »Paulus« war absichtlich an
20,10 »Paulus aber ging hinab« und »Ephesus« vorbeigereist, weil er fürchte-
breitete seinen Körper über den jungen te, daß ihn ein Besuch dort zu viel Zeit
Mann, wie die alten Propheten es auch kosten würde, da er doch »eilte, um . . .
gemacht haben. Dann verkündigte er am Pfingsttag« nach »Jerusalem« zu
den Menschen, daß sie sich nicht weiter gelangen.
aufregen sollten, da Eutychus wieder 20,17 Nach der Landung in Milet
lebte. Es mag scheinen, daß ihre Besorg- sandte Paulus den »Ältesten« in »Ephe-
nis unbegründet gewesen war, weil der sus« eine Nachricht, daß sie doch zu ihm
junge Mann vielleicht nicht gestorben kommen möchten. Zweifellos dauerte es
war, denn »seine Seele« war noch »in einige Zeit, bis die Nachricht sie erreich-
ihm«. Doch aus Vers 9 geht hervor, daß er te und sie in Milet ankamen. Doch wur-

564
Apostelgeschichte 20

den sie durch die wunderbare Predigt Bekehrung spielen sie eine Rolle: Näm-
belohnt, die sie aus dem Munde des lich sowohl »Buße« als auch »Glauben«.
Apostel nun hörten. In ihr finden wir ein Sie sind die beiden Seiten der Evangeli-
wertvolles Porträt des idealen Dieners umsmünze. Solange ein Mensch nicht
Jesu Christi. Wir sehen hier einen Mann, Buße tut, ist der erlösende Glaube
der ganz dem Herrn hingegeben war. Er unmöglich. Andererseits wäre Buße
arbeitete zur rechten und zur unrechten sinnlos, wenn auf sie nicht der Glaube an
Zeit. Er war unermüdlich in jeder Hin- den Sohn Gottes folgen würde. »Buße«
sicht. Er zeichnete sich durch echte ist eine Umkehr, durch die der Sünder
Demut aus. Ihm war kein Preis zu hoch. seine Verlorenheit erkennt und sich vor
Sein Dienst war das Ergebnis tiefen geist- Gottes Urteil über seine Schuld beugt.
lichen Erlebens. Er hatte heiligen Mut »Glaube« ist die Hingabe des Lebens an
und heilige Furchtlosigkeit. Ob er lebte Jesus Christus als Herrn und Erlöser.
oder sterben mußte, war ihm unwichtig, In vielen neutestamentlichen Text-
wichtig allein war ihm, daß der Wille stellen wird der Glaube allein als Bedin-
Gottes erfüllt wurde und Menschen das gung für die Erlösung genannt. Doch
Evangelium hörten. Er war selbstlos in Glaube setzt Buße voraus. Wie kann
all seinem Handeln. Er wollte lieber jemand wirklich Jesus Christus als seinen
geben als nehmen. Er wurde von Hin- Erlöser annehmen, wenn er nicht
dernissen nicht entmutigt. Er lebte, was erkannt hat, daß er einen Erlöser nötig
er predigte. hat? Diese Erkenntnis, die durch den
20,18.19 Der Apostel erinnerte die Überführungsdienst des Heiligen Gei-
Ältesten in Ephesus, »wie« er unter stes bewirkt wird, ist Buße.
ihnen gelebt hatte. »Vom ersten Tag an«, 20,22.23 Nachdem er sein vergange-
an dem er seinen Fuß nach Asien gesetzt nes Verhalten gegenüber den Ephesern
hatte, und die ganze Zeit, die er dort ver- überdacht hat, schaut der Apostel nun in
brachte, diente er »dem Herrn mit aller die Zukunft auf die Leiden, die ihn
Demut« und Selbstverleugnung. In erwarten würden. Er wurde durch den
Zusammenhang mit seinem Dienst war Heiligen Geist bewegt, »nach Jerusalem«
sein Gefühlsleben ständigen Belastungen zu gehen. Es war ein innerer Zwang,
unterworfen, er vergoß Tränen der Trau- gegen den er sich offensichtlich nicht
er und ertrug »Versuchungen«. Er wurde wehren konnte. Obwohl er nicht wußte,
ständig durch »die Nachstellungen der wie sich die Ereignisse in Jerusalem ent-
Juden« verfolgt. Trotz all dieser widrigen wickeln würden, wußte er doch, »daß
Umstände tat er mutig und furchtlos sei- Fesseln und Drangsale« ein normaler
nen Dienst. Bestandteil seines Lebens werden wür-
20,20.21 Paulus hielt vor den Ephe- den. »Der Heilige Geist« hatte ihm diese
sern »nichts zurück«, das ihrem geistli- Tatsache in jeder »Stadt« bezeugt, viel-
chen Wohlergehen dienen konnte. Er leicht durch den Dienst von Propheten,
lehrte sie »öffentlich und in den Häu- vielleicht aber auch durch den geheim-
sern«, weil er von der Liebe Christi nisvollen inneren Umgang mit Gott, der
getrieben wurde. Für ihn ging es nicht ihm diese Einsicht schenkte.
darum, in festen Abständen Versamm- 20,24 Als der Apostel diese Aussich-
lungen zu halten, sondern jede Gelegen- ten in seinem Geist abwog, dachte er
heit auszunützen, die Gläubigen zum nicht daran, daß sein Leben von großer
Wachstum zu ermutigen. Ohne Rück- Bedeutung sei. Sein Ziel war es, Gott zu
sicht auf den nationalen oder religiösen gehorchen und ihm zu gefallen. Wenn er
Hintergrund predigte er die Notwendig- dabei sein Leben opfern müßte, dann
keit der »Buße zu Gott und« des »Glau- war er bereit dazu. Kein Opfer konnte für
bens an unseren Herrn Jesus Christus«. den zu groß sein, der für ihn gestorben
Es gibt zwei fundamentale Wahrheiten war. Es zählte für ihn einzig, seinen
des Evangeliums. Bei jeder echten »Lauf« zu vollenden und den »Dienst«

565
Apostelgeschichte 20

abzuschließen, den er »von dem Herrn forderung zeigt sich in den folgenden
Jesus empfangen« hatte: »Das Evange- Worten: »die er durch sein eigenes Blut
lium der Gnade Gottes zu bezeugen.« erworben hat« (LU 1984). Dieser letzte
Kein anderer Titel konnte besser das Satz ist die Ursache für viele Diskussio-
Evangelium bezeichnen, das Paulus pre- nen und Streitigkeiten zwischen den
digte – »das Evangelium der Gnade Got- Auslegern geworden. Die Schwierigkeit
tes«. Es ist die erregende Botschaft von liegt darin, daß hier Gott dargestellt
Gottes unverdienter Gnade gegenüber wird, als habe er »sein Blut« vergossen,
schuldigen, gottlosen Sündern, die obwohl Gott doch Geist ist. Es war natür-
nichts anderes als die ewige Hölle ver- lich der Herr Jesus, der sein Blut vergos-
dient haben. Es berichtet, wie der Sohn sen hat, und obwohl Jesus Gott ist, wird
der Liebe Gottes aus der höchsten Herr- doch an keiner anderen Stelle der Bibel
lichkeit des Himmels hinabstieg, um zu ausgesagt, daß Gott gelitten hat oder
leiden, sein Blut zu vergießen und auf gestorben sei.
Golgatha zu sterben, damit diejenigen, Die Mehrheit der Manuskripte liest:
die an ihn glauben, die Vergebung der »die Gemeinde des Herrn und Gottes,
Sünde und ewiges Leben erhalten könn- die er sich erworben hat durch sein eige-
ten. nes Blut.« Damit wird ausgesagt, daß es
20,25-27 Paulus war sich sicher, daß die zweite Person der Gottheit ist, die ihr
er seine geliebten Brüder aus Ephesus Blut vergossen hat (nämlich der Herr).
niemals wiedersehen würde. Doch sein Die Elberfelder Bibel kommt wohl
Gewissen war rein, als er sie zurückließ, dem wahren Sinn dieses Abschnittes am
da er wußte, daß er ihnen »den ganzen nächsten, wenn sie übersetzt: »Die Ver-
Ratschluß Gottes« verkündigt hatte. Er sammlung Gottes . . ., welche er sich er-
hatte sie nicht nur in den Grundlagen des worben hat durch das Blut seines Eige-
Glaubens unterrichtet, sondern sie auch nen.« Hier ist Gott derjenige, der die Ge-
alle Wahrheiten gelehrt, die für ein got- meinde erkauft hat, doch er tat es mit
tesfürchtiges Leben wichtig sind. dem Blut seines Sohnes, dem wunderba-
20,28 Weil er sie auf Erden nie mehr ren Herrn Jesus.
wiedersehen würde, ermahnte er die 20,29.30 Paulus war sich wohl
Ältesten ernstlich, daß sie in erster Linie bewußt, »daß nach« seinem »Abschied«
auf ihren eigenen geistlichen Zustand die Gemeinde von außen und innen
»acht haben« sollten. Wenn sie nicht in angegriffen werden würde. Irrlehrer,
enger Gemeinschaft mit dem Herrn le- »Wölfe« im Schafspelz würden sich über
ben würden, dann konnten sie nicht die Herde stürzen und keine Gnade ken-
erwarten, geistliche Leiter der »Gemein- nen. Aus der Gemeinde selbst würden
de« zu sein. Männer kommen, die angesehene Stel-
Ihre Aufgabe als Älteste war es, »auf lungen erstreben, die Wahrheit verdre-
die ganze Herde, in welcher der Heilige hen und versuchen würden, »die Jünger
Geist« sie »als Aufseher« eingesetzt hat, abzuziehen hinter sich her«.
achtzugeben. Wie schon weiter oben 20,31 Angesichts dieser bevorstehen-
erwähnt, werden die »Aufseher« im NT den Bedrohungen sollten die Ältesten
auch Bischöfe, Älteste oder Presbyter sich vorsehen und ständig daran »den-
genannt. Dieser Vers betont, daß Älteste ken, daß« der Apostel »drei Jahre lang
nicht von der Gemeinde ernannt oder Tag und Nacht« alle »unter Tränen« vor-
gewählt werden. Sie sind vom »Heiligen gewarnt hatte.
Geist« zu »Aufsehern gesetzt« worden, 20,32 Der große Ausweg des Paulus
und sollten von den Gläubigen aner- war es nun, die Ältesten »Gott und dem
kannt werden, unter denen sie arbeiten. Wort seiner Gnade« anzubefehlen. Man
Unter anderem waren sie verant- beachte, daß er sie nicht anderen
wortlich, »die Gemeinde Gottes zu menschlichen Führern anbefahl, oder
hüten«. Die Bedeutung einer solchen An- etwa sogenannten Nachfolgern der Apo-

566
Apostelgeschichte 20 und 21

stel. Stattdessen vertraute er sie »Gott begleiteten sie ihn »zu dem Schiff«, das
und« der Bibel an. Das ist ein sprechen- ihn nach Jerusalem bringen sollte.
des Zeugnis von der Allgenügsamkeit 21,1-4a Nach dem gefühlvollen Ab-
der inspirierten Schrift. Sie ist allein schied von Milet segelten Paulus und sei-
fähig, die Gläubigen »aufzuerbauen« ne Begleiter zur Insel »Kos«, wo sie die
und ihnen »ein Erbe unter allen Geheilig- Nacht verbrachten. »Am folgenden Tag«
ten zu geben«. fuhren sie in südöstlicher Richtung zur
20,33-35 Zum Schluß seiner Predigt Insel »Rhodos«. Sie verließen dann die
stellte der Apostel Paulus den Ältesten Nordspitze der Insel und segelten östlich
noch einmal das Beispiel seines eigenen weiter nach »Patara«, einem Hafen in
Lebens und Dienstes vor Augen. Er Lyzien an der Südküste Kleinasiens. In
konnte ehrlich von sich sagen, daß er »Patara« stiegen sie in »ein Schiff« um,
»von niemandem Silber oder Gold oder »das nach Phönizien übersetzte«, dem
Kleidung begehrt« habe. Es war nicht die Küstenstreifen »Syriens«. Eine der wich-
Hoffnung auf finanziellen Gewinn, die tigsten Städte Syriens ist »Tyrus«. Als sie
ihn motivierte, das Werk des Herrn zu entlang der Mittelmeerküste fuhren,
tun. Im Grunde war er ein armer Mann, streiften sie auch den Süden der Insel
was materiellen Besitz anging, doch vor Zypern und »ließen es . . . links liegen«.
Gott war er reich. Er streckte vor den Der erste Hafen auf dem Festland Palä-
Ältesten seine Hände aus und konnte sie stinas war »Tyrus«. Weil das Schiff dort
daran erinnern, daß »diese Hände« dafür »die Ladung »abzuliefern hatte, suchten
gearbeitet haben, um die alltäglichen Paulus und die anderen die christlichen
»Bedürfnisse« des Lebens zu befriedi- Gläubigen auf und »blieben . . . sieben
gen, und zwar für sich selbst und für die, Tage« bei ihnen.
»die bei« ihm »waren«. Doch er war 21,4b Während dieser Zeit »sagten«
sogar noch über das hinausgegangen. Er diese Jünger »dem Paulus durch den
arbeitete als Zeltmacher, damit er genug Geist«, daß er seinen Fuß nicht nach
Mittel hatte, um den »Schwachen« zu »Jerusalem« setzen solle. Das erhebt die
helfen – den körperliche Kranken, oder alte Frage, ob Paulus absichtlich unge-
den »Schwachen«, was moralische Skru- horsam war, als er »nach Jerusalem«
pel anging, oder den geistlich »Schwa- ging, ob er unabsichtlich den Willen des
chen«. Die Ältesten sollten sich daran Herrn mißdeutet hat oder ob er wirklich
erinnern und in allem das Beste der im Willen Gottes dorthin reiste. Ein ober-
anderen zu erreichen suchen. Dabei soll- flächliches Lesen von Vers 4b scheint
ten sie »die Worte des Herrn Jesus« im nahezulegen, daß der Apostel störrisch
Gedächtnis behalten: »Geben ist seliger und eigensinnig handelte und absicht-
als Nehmen.« Interessanterweise finden lich gegen den Rat des Heiligen Geistes
sich diese Worte unseres Herrn in kei- nach Jerusalem fuhr. Doch ein etwas ge-
nem der Evangelien. Sie stellen die Sum- naueres Hinsehen könnte ergeben, daß
me eines Großteils seiner Lehre dar, doch Paulus nicht wirklich wußte, ob diese
hier sind sie als inspirierte Ergänzung zu Warnungen »durch den Geist« gegeben
seinen Reden aus den Evangelien wie- wurden. Lukas, der Geschichtsschreiber,
dergegeben. sagt seinen Lesern, daß der Rat der Tyrer
20,36-38 Zum Schluß seiner Predigt vom Geist inspiriert war, doch er sagt
»kniete« Paulus sich auf den Boden »und nicht, daß dem Apostel das als Tatsache
betete mit« den Ältesten. Für sie war das bekannt war. Es scheint wahrscheinli-
eine Zeit der Trauer. Sie zeigten dem cher, daß Paulus den Rat seiner Freunde
geliebten Apostel ihre Liebe, indem sie so beurteilte, daß sie ihn vor körperli-
ihm »um den Hals fielen« und ihn küß- chen Leiden und sogar vor dem Tod
ten. Besonders traurig machte sie seine bewahren wollten. In seiner Liebe zu sei-
Aussage, »sie würden sein Angesicht nen jüdischen Landsleuten war er jedoch
nicht mehr sehen«. Schweren Herzens nicht der Ansicht, daß sein leibliches

567
Apostelgeschichte 21

Wohlergehen bei diesen Überlegungen Jerusalem nach Antiochien gekommen


eine Rolle spielen sollte. war und eine Hungersnot unter Kaiser
21,5.6 »Als« die sieben »Tage« vor- Klaudius vorhergesagt hatte
über waren, begleiteten die Jünger die (Kap. 11,28). Nun »nahm« er »den Gürtel
Missionare in einer großen Schar zum des Paulus und band sich die Füße und
Strand. Das war eine sehr vielsagende die Hände« damit. Durch diese dramati-
Geste ihrer christlichen Zuneigung. sche Handlung bezeugte er seine Bot-
Nach einer Gebetszeit und herzlichen schaft, wie schon viele Propheten vor
Abschiedsworten legte »das Schiff« ab ihm. Dann erklärte er die Bedeutung die-
und die Zurückgebliebenen »kehrten ser Gegenstandspredigt. So, wie er sich
heim«. selbst »die Füße und die Hände« gebun-
21,7 Der nächste Halt war »Ptole- den hatte, so würden »die Juden in Jeru-
mais«, ein Hafen etwa vierzig Kilometer salem« die Hände und Füße des Paulus
südlich von Tyrus, der heute Akko heißt binden und ihn den heidnischen Behör-
und in der Nähe von Haifa liegt. Es war den »überliefern«. Der Dienst des Paulus
nach dem ägyptischen Herrscher Pto- an den Juden (durch den Gürtel versinn-
lemäus benannt. Ein eintägiger Aufent- bildlicht) sollte dazu führen, daß er von
halt gestattete es den Dienern des Herrn, ihnen festgenommen wurde.
die »Brüder« am Ort zu begrüßen. 21,12-14 Als die Gefährten des Apo-
21,8 »Am folgenden Tag« kam der stels und die Christen in Cäsarea das hör-
letzte Teil ihrer Reise. Sie segelten 48 Kilo- ten, baten sie ihn, »daß er nicht nach Jeru-
meter nach Süden »nach Cäsarea«, das in salem hinaufgehen möchte«. Doch er
der Saron-Ebene liegt. Sie übernachteten konnte ihre Auffassung nicht teilen. Ihre
im »Haus des Philippus, des Evangeli- Tränen brachen ihm nur »das Herz«.
sten« (nicht zu verwechseln mit dem Sollte die Furcht vor Ketten und Gefäng-
gleichnamigen Apostel). Dieser »Philip- nis ihn davon abhalten, das zu tun, was
pus« war von der Gemeinde in Jerusalem er für den Willen Gottes hielt? Er wollte,
zum Diakon ernannt worden und hatte daß sie wußten, daß er »bereit« war,
das Evangelium nach Samaria gebracht. »nicht allein gebunden zu werden, son-
Durch seine Hilfe war der Kämmerer aus dern auch in Jerusalem für den Namen
Äthiopien gerettet worden. des Herrn Jesus zu sterben«. Alle ihre
21,9 Philippus »hatte vier Töchter, Argumente erwiesen sich als nutzlos. Er
Jungfrauen, die weissagten«. Das bedeu- war entschlossen zu gehen, und so sag-
tet hier, daß sie vom Heiligen Geist be- ten sie schlicht: »Der Wille des Herrn
gabt waren, direkt Botschaften vom geschehe!«
Herrn zu empfangen und sie anderen Es ist schwierig zu glauben, daß die
weiterzugeben. Einige haben aus diesem Abschiedsworte des Paulus von einem
Vers geschlossen, daß es Frauen erlaubt Mann gesprochen wurden, der wissent-
ist, in der Gemeinde zu predigen und zu lich der Führung des Heiligen Geistes
lehren. Da es aber der Frau ausdrücklich ungehorsam war. Wir wissen, daß die
verboten ist, in der Gemeinde zu lehren, Jünger in Tyrus ihm durch den Geist
zu sprechen oder über den Mann zu gesagt hatten, er solle nicht nach Jerusa-
bestimmen (1. Kor 14,34.35; 1. Tim 2,11. lem gehen (V. 4). Doch wußte Paulus, daß
12), kann hieraus nur geschlossen wer- sie durch den Heiligen Geist sprachen?
den, daß der prophetische Dienst dieser Und scheint der Herr nicht später seine
vier jungfräulichen Töchter zuhause Reise nach Jerusalem zu billigen, wenn
oder in anderen nichtgemeindlichen er sagt: »Sei guten Mutes! Denn wie du
Zusammenkünften ausgeübt wurde. meine Sache in Jerusalem bezeugt hast,
21,10.11 Während des Aufenthaltes so mußt du auch in Rom zeugen«
des Paulus in Cäsarea »kam ein Prophet (Kap. 23,1)? Zweierlei ist eindeutig:
mit Namen Agabus von Judäa herab«. Erstens war Paulus nicht der Ansicht,
Das war derselbe Prophet, der auch von daß seine eigene Sicherheit die wichtig-

568
Apostelgeschichte 21

ste Überlegung im Dienst für den Herrn re, »von Mose« abzufallen, indem er
war. Zweitens gebrauchte der Herr alle ihnen erkläre, »sie sollen weder die Kin-
diese Umstände zu seiner Ehre. der beschneiden noch nach den« jüdi-
21,15.16 Von Cäsarea »nach Jerusa- schen »Gebräuchen wandeln«. Lehrte
lem« ging die Reise mehr als 80 Kilome- Paulus das oder nicht?
ter weit über Land, eine lange Strecke zu Er lehrte auf jeden Fall, daß Christus
dieser Zeit, in der Reisen noch nicht so das Ende des Gesetzes sei und die Gerech-
schnell möglich waren. Die Reisegesell- tigkeit derjenigen, die glauben. Er lehrte,
schaft des Apostels hatte sich durch daß die gläubig gewordenen Juden,
»einige der Jünger aus Cäsarea« vergrö- sobald der christlichen Glaube gekom-
ßert. Auch war ein Christ namens »Mna- men war, nicht länger unter dem Gesetz
son« zu der Gruppe hinzugestoßen. Er standen. Er lehrte weiter, daß sich ein
war ursprünglich ein »Zyprer« und war Mann, der die Beschneidung als Mittel
einer der ersten Gläubigen auf dieser der Rechtfertigung empfing, sich selbst
Insel. Er lebte nun in »Jerusalem«, und von der Erlösung in Christus Jesus trenn-
hatte das Vorrecht, Gastgeber des Apo- te. Er lehrte, daß die Rückkehr zu den
stels und seiner Gefährten zu sein, als Vorbildern und Schatten des AT eine Ver-
Paulus zum letzten Mal nach »Jerusa- unehrung Christi war, nun da er gekom-
lem« reiste. men war. Angesichts dieser Lehren ist es
Die Missionsreisen des Paulus enden nicht schwer einzusehen, warum die
mit seiner Ankunft in Jerusalem. Der Juden ein solches Bild von ihm hatten.
Rest der Apostelgeschichte beschäftigt 21,23.24 Doch die jüdischen Brüder in
sich mit seiner Gefangennahme, den Jerusalem hatten einen Plan, mit dem sie
Gerichtsverhandlungen, der Reise nach ihre Landsleute zu beruhigen hofften,
Rom, der Gerichtsverhandlung dort und und zwar die geretteten wie die ungeret-
seiner Gefangenschaft. teten. Sie schlugen vor, daß Paulus ein
21,17.18 Nach der Ankunft in »Jeru- jüdisches »Gelübde« ablegen solle. »Vier
salem« wurden der Apostel und seine Männer« hatten das schon getan. Paulus
Freunde von den »Brüdern« herzlich sollte sich mit ihnen zusammentun, sich
empfangen. Am nächsten Tag gab es eine mit ihnen reinigen und »die Kosten für
Zusammenkunft mit »Jakobus und allen sie . . . tragen«.
Ältesten«. Wir können nicht genau wis- F. W. Grant erklärt dazu:
sen, welcher »Jakobus« hier gemeint ist. Er sollte diese vier Männer nehmen, die,
Es könnte sich um Jakobus, den Bruder obwohl sie Gläubige wie er selbst waren, doch
des Herrn, Jakobus, den Sohn des noch das Nasiräergelübde tun konnten, und
Alphäus oder um eine andere Person sich mit ihnen gereinigt im Tempel vorstellen,
dieses Namens handeln. Doch der erst- die Kosten, die notwendig für diese Reini-
genannte ist hier am wahrscheinlichsten gung sind, auf sich nehmen und all das ganz
gemeint. öffentlich tun, damit alle seine Stellung zum
76)
21,19.20a Paulus übernahm die Gesetz ganz deutlich erkennen konnten.
Führung und erzählte »eines nach dem Wir wissen nicht viel darüber, was
anderen, was Gott unter den Nationen dieses »Gelübde« beinhaltete. Die Ein-
durch seinen Dienst getan hatte«. Das zelheiten darüber bleiben verhüllt und
war Ursache zu großer Freude. unklar. Doch alles, was wir wissen müs-
21,20b-22 Doch die jüdischen Brüder sen ist, daß es sich um eine jüdisches
waren sehr besorgt. Es war die Nachricht Gelübde handelte, und daß die Juden
verbreitet worden, daß der Apostel Pau- »erkennen« würden, daß Paulus nicht
lus gegen Mose und das Gesetz gepre- andere Menschen vom Gesetz abwenden
digt hätte. Das konnte in Jerusalem arge wolle, wenn er sich dem damit verbun-
Schwierigkeiten heraufbeschwören. denen Ritus unterziehen würde. Es wäre
Die besondere Klage gegen Paulus ein Zeichen für die Juden, daß der Apo-
war, daß er »alle Juden« im Ausland leh- stel selbst das »Gesetz« hielte.

569
Apostelgeschichte 21

Die Maßnahme des Apostels, dieses Lehren an, die dem jüdischen »Volk« und
jüdische »Gelübde« auf sich zu nehmen, dem »Gesetz« zuwider waren, sondern
ist verteidigt und kritisiert worden. Als sie klagten ihn auch noch an, »den Tem-
Verteidigung wurde aufgeführt, daß er pel« zu verunreinigen, indem er Heiden
nach seinen eigenen Prinzipien handele, in den inneren Vorhof geführt habe.
nämlich allen alles zu werden, wenn Wirklich geschehen war folgendes: »Sie
dadurch etliche gerettet werden könnten hatten Trophimus, den Epheser, mit«
(1. Kor 9,19-23). Andererseits ist Paulus Paulus »in der Stadt« Jerusalem »gese-
dafür kritisiert worden, daß er zu weit hen«. »Trophimus« war ein bekehrter
gegangen sei, die Juden zu versöhnen Heide aus Ephesus. Weil sie sie zusam-
und so den Eindruck erwecken würde, men sahen, »meinten . . . sie, daß Paulus«
daß er noch unter dem Gesetz stehe. Mit diesen heidnischen Freund in den inne-
anderen Worten ist Paulus angeklagt ren Hof des Tempels geführt habe.
worden, seinen eigenen Überzeugungen 21,30-35 Obwohl diese Anklage
untreu zu werden, daß der Gläubige offensichtlich falsch war, diente sie doch
nicht unter dem Gesetz steht, weder als ihrem Zweck. »Die ganze Stadt« war in
Grundlage der Rechtfertigung noch als Aufruhr. Die Menschen »ergriffen Pau-
Anleitung zur Lebensführung (Gal 1 und lus und schleppten ihn aus dem Tem-
2). Wir tendieren dazu, dieser Kritik pel«. Schnell schlossen sie »die Türen«
zuzustimmen, doch sind wir auch der des inneren Vorhofs hinter ihm. Als sie
Meinung, daß wir sehr vorsichtig sein ihn nun »töten« wollten, erreichte die
sollten, wenn wir die Motive des Apo- Nachricht den Chiliarchen, einen »Ober-
stels für sein Handeln beurteilen. sten der Schar« oder Garnison in der
21,25 Die Brüder in Jerusalem rieten Burg Antonia. Er eilte mit einigen seiner
Paulus, daß »den Nationen« keine ande- »Soldaten . . ., ergriff« Paulus und holte
ren Regeln auferlegt werden sollten, als ihn aus der Menge heraus, ließ ihn »mit
die, die vom Konzil in Jerusalem festge- zwei Ketten . . . fesseln«, und fragte,
legt wurden, nämlich, »daß sie sich »wer er denn sei und was er getan habe«.
sowohl vor dem Götzenopfer als auch Die Menschenmasse war, wie immer,
von Blut und Ersticktem und Unzucht« nicht einig und verwirrt. »Die einen aber
enthalten »sollen«. riefen dies, die anderen jenes.« Der fru-
21,26 Die Schritte, die Paulus unter- strierte Offizier »befahl« den Soldaten
nommen hat, sind uns heute nicht mehr den Gefangenen »in das Lager« zu brin-
klar. Viele Ausleger gehen davon aus, gen, damit er herausfinden konnte, was
daß es sich hier um das Nasiräergelübde eigentlich vorging. Doch selbst bei die-
gehandelt habe. Doch auch wenn das der sem Versuch drängte die Menge noch mit
Fall sein sollte, verstehen wir doch die solchem Entschluß vorwärts, daß Paulus
verschiedenen Schritte des Ritus heute »wegen der Gewalt des Volkes von den
nicht mehr, wie sie im folgenden Soldaten« die Treppe hinauf »getragen«
Abschnitt beschrieben werden. werden mußte.
21,36 Als sie das taten, hörten sie aus
H. Die Gefangennahme des Paulus der Menge die Worte, die vielleicht eini-
und die anschließenden Gerichts- ge von ihnen schon von früher kannten:
verhandlungen (21,27 – 26,32) »Weg mit ihm!«
21,27-29 »Als aber die sieben Tage« des 21,37-39 Gerade als sie dabei waren,
Gelübdes »beinahe vollendet waren«, »Paulus . . . in das Lager« hineinzubrin-
erwies sich der Versuch des Paulus, »die gen, bat er den Offizier, etwas sagen zu
Juden« zu beruhigen, als vergeblich. Als dürfen. Der Offizier erschrak, als er Pau-
einige der ungläubigen »Juden aus« der lus »Griechisch« sprechen hörte. Offen-
Provinz Asien ihn »im Tempel . . . sichtlich hatte er gedacht, einen »Ägyp-
sahen«, entfachten sie einen Aufstand ter« gefangenzunehmen, der »eine Em-
gegen ihn. Sie klagten ihn nicht nur der pörung gemacht und die viertausend

570
Apostelgeschichte 21 und 22

Mann«, die man »Sikarier« nannte, »in Probleme folgen, und wenn sie ehrlich
die Wüste geführt hatte«. »Paulus« versi- waren, mußten sie zugeben, daß das
cherte ihm schnell, daß er »ein jüdischer Gesagte der Wahrheit entsprach. Nun
Mann aus Tarsus, . . . einer . . . Stadt in will der Apostel ihnen von einem Vorfall
Cilicien« sei. Als solcher war er »Bürger berichten, der die Richtung seines
einer nicht unberühmten Stadt«. Sie war ganzen Lebens änderte. Es ist nun an
berühmt für ihre Kultur, ihre Bildung ihnen zu entscheiden, ob dieses Ereignis
und ihren Handel und war von Augu- von Gott kam.
stus zur »Freien Stadt« erklärt worden. Als Paulus »nach Damaskus . . . reiste,
Mit seiner üblichen Furchtlosigkeit bat . . . umstrahlte« ihn »plötzlich aus dem
der Apostel um die Erlaubnis, »zu dem Himmel ein helles Licht«. Die Tatsache,
Volk zu reden«. daß das »um Mittag« geschah, was hier
21,40 Die Erlaubnis wurde erteilt, zum ersten Mal berichtet wird, unter-
und als Paulus »auf den Stufen stehend streicht, daß das Licht heller und herrli-
. . . winkte«, beruhigte er damit die cher als das volle Mittagslicht der Sonne
Volksmenge. Die »Stille« war so »groß« sein mußte. Der Christenverfolger wurde
wie der vorherige Aufruhr. Er war nun von der Helligkeit »zu Boden« geworfen
bereit, sein Zeugnis vor den Jerusalemer und hörte »eine Stimme« vom Himmel,
Juden abzulegen. die zu ihm »sprach: »Saul, Saul, was ver-
Mit dem Ausdruck »hebräische folgst du mich?« Auf Nachfragen erfuhr
Mundart« ist hier wahrscheinlich Ara- er, daß hier »Jesus, der Nazoräer« sprach.
mäisch (eine eng mit dem Hebräischen Der Nazarener war von den Toten aufer-
verwandte Sprache) gemeint, wie es von standen und im Himmel verherrlicht.
den Hebräern dieser Zeit gesprochen 22,9 Die Männer, die mit ihm reisten,
wurde. »sahen zwar das Licht« und hörten den
22,1.2 Es war weise von Paulus, die Klang »der Stimme« (9,7), doch sie »hör-
jüdische Volksmenge auf Aramäisch statt ten nicht« die Worte, die gesprochen
auf Griechisch anzusprechen. Sobald wurden. Mit anderen Worten, sie waren
»sie . . . hörten«, daß er in ihrer Mutter- sich eines Geräusches bewußt, aber hör-
sprache redete, waren sie freudig über- ten keine Sprache.
rascht und ihr Geschrei endete wenig- 22,10.11 Nach dieser Privataudienz
stens für einen Moment. beim Herrn des Lebens und der Herr-
22,3-5 Paulus begann bei seiner Her- lichkeit vollzog Paulus die völlige Hin-
kunft als »jüdischer Mann, geboren in gabe seines Lebens an den Erlöser mit
Tarsus in Cilicien«, seiner Ausbildung Geist, Seele und Leib. Das fand in der
»zu den Füßen« des bekannten jüdischen Frage seinen Ausdruck: »Was soll ich
Lehrers »Gamaliel« und seiner Unter- tun, Herr?« Der Herr Jesus wies ihn an,
weisung im jüdischen Glauben. Dann »nach Damaskus« zu gehen »und dort«
betonte er seinen Eifer als Jude. Er hatte weitere Anweisungen abzuwarten.
die Christen »verfolgt« und damit »die Durch das »Licht« der Herrlichkeit Chri-
Gefängnisse« mit Menschen gefüllt, die sti geblendet, wurde er »an der Hand« in
an den Herrn Jesus glaubten. »Der Hohe- dieses Stadt »geleitet«.
priester« und der Sanhedrin konnten 22,12 In Damaskus suchte ihn Ana-
ihm »Zeugnis« von seinen durchgreifen- nias auf. Paulus beschreibt ihn den jüdi-
den Methoden geben. »Von ihnen« hatte schen Zuhörern als »frommen Mann
er »auch Briefe« erhalten, die ihn bevoll- nach dem Gesetz, der ein gutes Zeugnis
mächtigen, »nach Damaskus« zu reisen hatte von allen dort wohnenden Juden«.
und von »dort« die Christen »nach Jeru- Das »Zeugnis« eines solchen Mannes
salem« zurückzuführen, »daß sie gestraft war wichtig, um den Bericht der Bekeh-
würden«. rung des Paulus zu bestätigen.
22,6-8 Bis zu diesem Punkt konnten 22,13 Ananias sprach Paulus als
die Juden der Predigt des Paulus ohne »Bruder Saul« an und befahl, daß er wie-

571
Apostelgeschichte 22

der »sehend« würde. Da sah ihn Paulus erhebst, lasse dich taufen und laß deine
zum ersten Mal. Sünden abwaschen, indem du den
77)
22,14-16 In den Versen 14-16 erfahren Namen des Herrn anrufst.« Diese letzte
wir auch zum ersten Mal, daß Ananias Konstruktion stimmt am ehesten mit der
zu Paulus folgendes sagte: allgemeinen biblischen Lehre zu dem
Der Gott unserer Väter hat dich dazu Thema überein (vgl. Joel 2,32; Apg 2,21;
bestimmt, seinen Willen zu erkennen und Röm 10,13).
den Gerechten zu sehen und eine Stimme aus 22,17-21 Nun erfahren wir zum
seinem Mund zu hören. Denn du wirst ihm erstenmal von einer Erfahrung des Pau-
an alle Menschen ein Zeuge sein von dem, lus, die er gegen Ende seines ersten Besu-
was du gesehen und gehört hast. Und nun, ches in »Jerusalem« nach seiner Bekeh-
was zögerst du? Steh auf, laß dich taufen und rung hatte. Während er »im Tempel bete-
deine Sünden abwaschen, indem du seinen te«, fiel er »in Verzückung« und hörte,
Namen anrufst. wie der Herr ihm befahl, »schnell aus
Einige interessante und wichtige Jerusalem« hinaus zu gehen, weil die
Punkte sollten bei diesen Versen festge- Menschen dort sein »Zeugnis« über
halten werden. Erstens hielt Ananias fest, Christus »nicht annehmen« würden. Es
daß es »der Gott unserer Väter« war, der schien dem Apostel unglaublich, daß
die Ereignisse auf der Straße nach sein eigenes Volk sich weigern würde,
Damaskus angeordnet hatte. Wenn die auf ihn zu hören. Schließlich wußten sie
Juden dem, was geschehen war, wirklich doch, was für ein eifernder Jude er gewe-
widerstehen wollten, dann kämpften sie sen war, wie er die Jünger Jesu »ins
in Wahrheit gegen Gott. Zweitens erfuhr Gefängnis werfen und . . . schlagen ließ«,
Paulus von Ananias, daß er »ein Zeuge« und wie er sogar Komplize der Mörder
für den Herrn »an alle Menschen« sein des »Stephanus« geworden war. Doch
würde. Das hätte die jüdische Menge auf der Herr wiederholte seinen Befehl:
die Ankündigung des Paulus vorberei- »Geh hin, denn ich werde dich weit weg
ten sollen, daß er zu den Heiden gesandt zu den Nationen senden.«
wurde. Schließlich wurde Paulus aufge- 22,22.23 Bis zu diesem Punkt hatten
fordert, aufzustehen, sich »taufen« zu die Juden Paulus ruhig zugehört. Doch
lassen und seine »Sünden abwaschen« als er erwähnte, daß er mit dem Evange-
zu lassen. lium zu den Heiden gegangen war, löste
Vers 16 ist mißbraucht worden, um das einen Haß und eine Eifersucht aus,
eine Taufwiedergeburt zu lehren. Es ist die jenseits jeder Vernunft lagen. In wil-
möglich, daß der Vers sich nur auf Pau- dem Durcheinander schrien sie und for-
lus als Jude bezieht, der sich von seinem derten den Tod des Paulus.
Volk abwenden mußte, das Jesus Chri- 22,24.25 Als der« Oberste« ihre sinnlo-
stus abgelehnt hatte, indem er sich tau- se Raserei sah, schloß er daraus, daß Pau-
fen ließ (siehe Kommentar zu Kap. 2,38). lus sich eines schlimmen Verbrechens
Eine einfachere Lösung basiert auf der schuldig gemacht haben müsse. Offen-
grammatischen Konstruktion des Origin- sichtlich hatte er die Verteidigungsrede
altextes: In manchen Übersetzungen des Paulus nicht verstehen können, weil
klingt an, daß es vier Aufträge an Paulus sie auf Aramäisch gehalten wurde, und
gibt, die gleichwertig zu behandeln sind. beschloß deshalb, durch Folter ein Ge-
Die Elberfelder Bibel folgt jedoch dem ständnis von Paulus zu erzwingen. Er »be-
Original und zieht jeweils die ersten bei- fahl« deshalb, den Gefangenen »ins Lager
den und die anderen beiden Aufträge als zu bringen« und mit Riemen für die
Einheit. Im griechischen steht in jeder der Geißelung zu binden. Als diese Vorberei-
beiden Satzhälften eine finite Verbform, tungen für die Geißelung fortschritten,
die jeweils von einem Partizip näher be- fragte Paulus ruhig den Hauptmann, ob es
stimmt wird. Eine wörtliche Übersetzung legal war, »einen Menschen, der Römer
würde etwa lauten: »Indem du dich ist, zu geißeln«, der dazu noch »unverur-

572
Apostelgeschichte 22 und 23

teilt« war. Es war eine Tatsache, daß es un- Christentum übergetreten war, solche
gesetzlich war, einen »Römer« sogar nur Unschuld für sich in Anspruch nehmen?
zu fesseln, solange seine Schuld nicht be- Entsprechend befahl »der Hohepriester«,
wiesen war. Ihn jedoch zu »geißeln«, war daß der Gefangene »auf den Mund zu
ein schlimmer Verstoß gegen das Gesetz. schlagen« sei. Diese Anweisung war
22,26 »Der Hauptmann . . . ging« äußerst ungerecht, weil der Fall ja noch
schnell zu »dem Obersten« und riet ihm, kaum verhandelt worden war.
vorsichtig zu sein, was er mit Paulus 23,3 Paulus blieb die Antwort nicht
mache, weil »dieser Mensch . . . ein schuldig und sagte, daß Ananias von
Römer« sei. »Gott« geschlagen werden würde, weil
22,27.28 Das ließ den »Obersten« er wie eine »getünchte Wand« sei.
schnell zu Paulus gehen. Auf seine Nach- Äußerlich schien der Hohepriester ge-
frage erfuhr er, daß der Apostel wirklich recht zu sein, doch innerlich war er kor-
»ein Römer« sei. Zu dieser Zeit gab es rupt. Er gab vor, andere »nach dem
drei Arten, die römische Bürgerschaft zu Gesetz zu richten« und hier befahl er
erlangen. Erstens wurde die Bürgerschaft »gegen das Gesetz handelnd« Paulus
manchmal durch kaiserliche Erlässe für »zu schlagen«.
bestimmte geleistete Dienste verliehen. 23,4 Die Zuhörer waren durch den
Zweitens konnte man in sie hineingebo- schneidenden Tadel des Paulus
ren werden. Das war bei Paulus, der in schockiert. Wußte er denn nicht, daß er
Tarsus geboren war, einer freien Stadt mit dem »Hohenpriester« redete?
des Römischen Reiches, der Fall, und 23,5 Aus einem uns unbekannten
schon sein Vater vor ihm war römischer Grund hatte Paulus nicht bemerkt, daß
Bürger gewesen. Und schließlich war es Ananias »der Hohepriester ist«. Der San-
noch möglich, das »Bürgerrecht« zu hedrin war plötzlich einberufen worden
erwerben, meistens für viel Geld. So hat- und vielleicht trug Ananias keine Amts-
te »der Oberste . . . dieses Bürgerrecht . . . gewänder. Es mag sogar sein, daß er
für eine große Summe« erworben. nicht auf dem Platz saß, den der »Hohe-
22,29 Die Entdeckung, daß Paulus ein priester« normalerweise innehatte. Viel-
»Römer« war, ließ alle Pläne zunichte leicht waren aber auch die schlechten
werden, ihn zu geißeln und machte den Augen des Paulus schuld. Aus welchem
Obersten äußerst besorgt. Grund auch immer, Paulus hatte nicht
22,30 Der Oberste war offensichtlich absichtlich »schlecht« vom ordentlich
interessiert, »mit Gewißheit« zu »erfah- eingesetzten »Obersten« geredet. Er ent-
ren . . . weshalb er von den Juden ange- schuldigte sich schnell für seine Worte
klagt« worden war. Gleichzeitig war er und zitierte dabei 2. Mose 22,18: »Von
entschlossen, die Vorgänge nach dem dem Obersten deines Volkes sollst du
Gesetz und ordentlich abzuwickeln. Des- nicht schlecht reden.«
halb ließ er Paulus am Tag nach dem 23,6 Aus der Unterhaltung im Ge-
Aufstand in Jerusalem aus dem Gefäng- richtssaal entnahm Paulus, daß zwischen
nis holen und vor »die Hohenpriester »den Sadduzäern« und »den Pharisäern«
und« den Sanhedrin führen. Uneinigkeit herrschte, und so beschloß
23,1.2 Vor dem Sanhedrin begann der Apostel, daß er diese Kluft noch
Paulus seine Verteidigungsrede mit der erweitern konnte, indem er erklärte, daß
Feststellung, daß er sein ganzes Leben er selbst »ein Pharisäer« sei, der ange-
lang »mit allem guten Gewissen vor Gott klagt würde, weil er an die »Auferste-
gewandelt« sei. »Der Hohepriester Ana- hung der Toten« glaube. »Die Saddu-
nias« wurde durch diese Bemerkung auf- zäer« leugneten natürlich die »Auferste-
gebracht. Er sah Paulus zweifellos als hung« wie auch die Existenz von Dämo-
einen, der vom Judentum abgefallen war, nen oder Engeln. »Die Pharisäer«, die
einen Abtrünnigen und Überläufer. Wie sehr orthodox eingestellt waren, glaub-
konnte jemand, der vom Judentum zum ten an beides (s. V. 8).

573
Apostelgeschichte 23

Paulus wird kritisiert, daß er hier des Sanhedrin angesetzt würde, um den
fleischliche Mittel eingesetzt habe, um Fall des Paulus noch einmal genauer zu
seine Zuhörer zu spalten. »Wir können verhandeln. Der Sanhedrin würde den
hier das Gefühl nicht loswerden,« »Obersten« bitten, den Gefangenen zu
schreibt A. J. Pollock, »daß Paulus hier ihm zu bringen. Die »vierzig« Attentäter
fälschlich beansprucht, Pharisäer zu sein, würden irgendwo im Hinterhalt liegen
und so einen strategischen Vorteil sucht, zwischen Gefängnis und Gerichtssaal.
indem er die einander widerstreitenden Wenn Paulus ihnen dann »nahe« käme,
Sadduzäer und Pharisäer entzweit«. könnten sie ihn »umbringen«.
23,7-9 Ob es nun gerechtfertigt war 23,16-19 Die Vorsehung Gottes be-
oder nicht, seine Bemerkung provozierte stimmte jedoch, daß »der Neffe des Pau-
einen »Zwiespalt unter den Pharisäern lus« diesen Plan mit angehört hatte und
und den Sadduzäern« und außerdem »ein ihm davon berichtete. Paulus glaubte
großes Geschrei«. Einige der »Schriftge- daran, sich legitimer Mittel bedienen zu
lehrten von der Partei der Pharisäer« ver- sollen, um seine Sicherheit zu garantie-
teidigten Paulus und sagten praktisch: ren, deshalb berichtete er die Angelegen-
»Was solls, wenn doch ein Geist oder ein heit einem »von den Hauptleuten«. Der
Engel zu ihm geredet hat . . .« Zenturio selbst brachte »diesen jungen
23,10 Die Auseinandersetzung der Mann zu dem Obersten«.
einander opponierenden Gruppen wur- 23,20.21 Der Neffe des Paulus berich-
de so hitzig, daß »der Oberste« den tete nicht nur über den gesamten Plan,
»Truppen« befahl, den Gefangenen aus sondern bat den Obersten auch instän-
dem Gerichtssaal zurück »in das Lager« dig, sich »nicht von ihnen überreden« zu
zu führen. lassen, daß Paulus zu ihnen gebracht
23,11 »In der folgenden Nacht« er- werde.
schien »der Herr« persönlich dem Paulus 23,22 Als der »Oberste« diese Ge-
im Gefängnis und sagte: »Sei guten schichte gehört hatte, »entließ« er »den
Mutes! Denn wie du meine Sache in Jeru- jungen Mann« mit der Anweisung, nie-
salem bezeugt hast, so mußt du auch in mandem anderen von ihrer Zusammen-
Rom zeugen.« Es ist bemerkenswert, daß kunft zu berichten. Er hatte erkannt, daß
in einem Abschnitt, in dem die Handlun- er sofort handeln mußte, um den Gefan-
gen des Apostels so häufig kritisiert wer- genen vor dem brennenden Haß der
den, »der Herr« persönlich ihn für das Juden zu bewahren.
treue Zeugnis lobt, das er »in Jerusalem« 23,23-25 Der Oberste rief schnell
gegeben hatte. Kein Wort des Tadels oder »zwei von den Hauptleuten« und gab
der Kritik hören wir aus dem Mund Befehle, eine Eskorte zu bilden, die den
unseres Erlösers. Statt dessen wurde Apostel »nach Cäsarea« bringen sollte.
Paulus nur gelobt und erhielt Verheißun- Die Wache bestand aus »zweihundert
gen. Der Dienst des Paulus war noch Soldaten, . . . siebzig Reitern und zwei-
nicht zu Ende. Wie er »in Jerusalem« treu hundert Lanzenträgern«. Die Reise sollte
gedient hatte, so würde er auch »in Rom« unter dem Schutz der Dunkelheit um 21
für Christus »zeugen«. Uhr beginnen.
23,12-15 Am nächsten »Tag . . . rotte- Die Größe der Militäreskorte war
ten sich die Juden zusammen«, um den nicht als Ehre für diesen treuen Botschaf-
Apostel Paulus zu töten. »Vierzig« von ter Christi gedacht. Sie zeigt eher die
ihnen »verschworen sich« sogar »mit Entschlossenheit des Obersten, seinen
einem Fluch, daß sie weder essen noch Ruf bei den römischen Vorgesetzten zu
trinken würden,« ehe sie »diesen Hoch- erhalten. Wenn es nämlich den Juden
stapler« nicht »getötet« hätten. Ihr Plan gelänge, Paulus, den römischen Bürger,
war folgender: Sie wollten zu »den Ho- zu ermorden, dann würde er für seine
hepriestern und den Ältesten gehen« Nachlässigkeit zur Verantwortung gezo-
und vorschlagen, daß eine Versammlung gen werden.

574
Apostelgeschichte 23 und 24

23,26-28 Der Oberste nennt sich in sittenlos. Zur Zeit seiner Ernennung
seinem Brief, den er dem römischen zum Statthalter der Provinz Judäa war er
»Statthalter Felix« schrieb, »Klaudius der Ehemann dreier königlicher Damen.
Lysias«. Der Zweck des Briefes war Während er im Amt war, verliebte er
natürlich, die Angelegenheit mit Paulus sich in Drusilla, die mit Azizus, dem
zu erklären. Es ist fast komisch zu nen- König von Edessa verheiratet war. Nach
nen, wie Lysias versucht, sich selbst als Josephus wurde eine Hochzeit von
Helden und Verteidiger der staatlichen Simon, dem Zauberer aus Zypern, ver-
Gerechtigkeit hinstellt. Er fürchtete anlaßt.
wahrscheinlich sehr, daß »Felix« erfah- Er war ein grausamer Despot, wie
ren könnte, daß er einen »Römer« gefes- sich in der Tatsache zeigt, daß er den
selt habe, der nicht verurteilt war. Es war Anschlag auf einen Hohenpriester
ein Glück für »Klaudius Lysias«, daß namens Jonathan veranlaßte, weil dieser
Paulus über sein Verhalten Stillschwei- ihn wegen seiner schlechten Regierung
gen bewahrte. angegriffen hatte.
23,29.30 Der Oberste erklärte, daß sei- Vor diesem Felix mußte Paulus nun
ne Untersuchung gezeigt habe, daß Pau- erscheinen.
lus sich keines Verbrechens schuldig 24,1 »Fünf Tage«, nachdem Paulus
gemacht habe, das »des Todes oder der von Jerusalem nach Cäsarea abgereist
Fesseln wert wäre«. In dem Aufstand sei war, erschien der Hohepriester Ananias
es wohl um »Streitfragen ihres Gesetzes« mit einigen Mitgliedern des Sanhedrin.
gegangen. Wegen des Anschlagsplanes Sie nahmen sich einen Römer namens
gegen Paulus fand er es jedoch geraten, »Tertullus« als »Anwalt«. Seine Aufgabe
Paulus nach Cäsarea zu senden, so daß war es, vor Felix Anklagen »gegen Pau-
seine »Kläger« auch dorthin kommen lus« zu erheben.
sollten und die ganze Angelegenheit vor 24,2-4 »Tertullus« eröffnete »die An-
Felix behandelt werden konnte. klage«, indem er dem Statthalter schmei-
23,31-35 Die Reise »nach Cäsarea« chelte. Natürlich war in dem, was er sag-
wurde kurz in »Antipatris« unterbro- te, einiges an Wahrheit verborgen. »Felix«
chen, in einer Stadt, die etwa 62 Kilome- hatte Recht und Ordnung aufrecht erhal-
ter von Jerusalem und 39 Kilometer von ten, indem er Aufstände und Volksbewe-
»Cäsarea« entfernt liegt. Weil nur wenig gungen unterdrückte. Doch die Worte des
oder keine Gefahr bestand, daß die Juden Tertullus gingen über eine bloße Aner-
jetzt noch einen Überfall machen wür- kennung der Tatsache hinaus. Das war ein
den, kehrten »die Soldaten« nach Jerusa- eindeutiger Versuch, den Statthalter auf
lem zurück, und ließen nur noch die seine Seite zu ziehen. Dann fuhr er fort,
»Reiter« Paulus nach »Cäsarea« beglei- um seine einzelnen Anklagen gegen den
ten. Bei ihrer Ankunft übergaben sie Pau- Apostel Paulus vorzubringen.:
lus zusammen mit dem »Brief« an Felix. 1. Er sei »eine Pest«, das heißt, ein ewi-
Als eine erste Befragung ergab, daß Pau- ger Störenfried, wie eine Seuche.
lus wirklich ein römischer Bürger war, 2. Er habe »Aufruhr erregt . . . unter
versprach er, seinen Fall anzuhören, allen Juden«.
»wenn« seine Ankläger »aus Jerusalem« 3. Er sei »Anführer der Sekte der
angekommen seien. In der Zwischenzeit Nazoräer«.
befahl er, daß Paulus »in dem Prätorium 4. Er habe »versucht . . ., den Tempel zu
des Herodes« oder seinem Palast »be- entheiligen«.
wacht werde«. 24,9 Nachdem Tertullus seinem Ver-
Der römische Statthalter Felix hatte trauen auf die Fähigkeit des Felix ausge-
eine glänzende Karriere vom Sklaven zu sprochen hatte, die Wahrheit dieser An-
einer wichtigen politischen Persönlich- klagen zu beurteilen, fügten die anwe-
keit im Römischen Reich gemacht. Seine senden »Juden« noch ihre Argumente für
persönliche Lebensführung war äußerst die Anklagen des Tertullus an.

575
Apostelgeschichte 24

24,10 »Paulus« erhob sich auf ein Zei- 24,18.19 Bezüglich der vierten Klage,
chen des »Statthalters« hin, um sich zu nämlich, daß er »den Tempel« entheiligt
verteidigen. Zunächst gab er seiner habe, antwortete Paulus folgender-
Befriedigung Ausdruck, vor einem maßen: Während er dabei war, im »Tem-
Mann erscheinen zu dürfen, der sich in pel« Opfer zu bringen, um ein jüdisches
den Sitten und Gebräuchen des jüdi- Gelübde zu erfüllen, »fanden« ihn »eini-
schen Volkes auskannte, da er »seit vie- ge Juden aus Asien« und klagten ihn an,
len Jahren« mit ihnen zu tun hatte. Das unreine Heiden in den »Tempel« mitzu-
mag als Schmeichelei erscheinen, doch in nehmen. Das war natürlich nicht wahr.
Wahrheit war es eine höfliche Feststel- Der Apostel war zu dieser Zeit allein und
lung der Wahrheit. war »gereinigt« von aller rituellen
Der Apostel antwortete dann auf eine Unreinheit. Diese »Juden aus Asien«, die
Klage nach der anderen, die gegen ihn den Aufruhr gegen ihn in Jerusalem an-
erhoben worden war. geführt hatten, hätten nach Cäsarea kom-
24,11 Die Anklage, ein öffentliches men und ihn anklagen sollen, »wenn sie
Ärgernis darzustellen, beantwortete er etwas gegen« ihn »hätten«.
damit, daß nur »zwölf Tage« vergangen 24,20.21 Paulus forderte nun diese
seien, seit er »nach Jerusalem . . . hinauf- anwesenden Juden auf, eindeutig die
ging«, und das es sein Anliegen gewesen Verbrechen zu nennen, derer er sich
sei, »anzubeten«, und nicht, um Unruhe schuldig erwiesen habe, als er »vor dem
zu verbreiten. hohen Rat« in Jerusalem »stand«. Das
24,12.13 Als Nächstes bestritt er die konnten sie jedoch nicht. Alles was sie
Anklage, die Juden zu einem Aufstand gegen ihn anführen konnten, war der
angestiftet zu haben. Zu keiner Zeit, »Ausruf« des Paulus: »Wegen der Aufer-
»weder im Tempel, . . . in den Synagogen stehung der Toten werde ich heute von
noch in der Stadt« hatte er mit den Men- euch gerichtet.« Mit anderen Worten, die
schen diskutiert, um sie anzustiften. Das Anklagen, die irgendwelche kriminellen
waren die Fakten, und niemand konnte Vergehen betrafen, beruhten nicht auf
das Gegenteil beweisen. der Wahrheit, und das, was wahr war,
24,14-17 Paulus leugnete nicht die stellte kein Vergehen dar.
dritte Anklage, nämlich, daß er ein 24,22 Als »Felix« die Angelegenheit
Anführer der »Sekte« der Nazoräer sei. hörte, stand er in einem Dilemma. Er
Doch was er sagte, war, daß er in dieser wußte genug über den christlichen Glau-
Eigenschaft »dem Gott« der Juden ge- ben, um zu entscheiden, wer hier recht
dient habe, »indem« er »allem« glaubte, hatte. Der Gefangene vor ihm hatte sich
»was in dem« AT »geschrieben steht«. Er offensichtlich keines Vergehens gegen
teile insbesondere die Erwartung aller das Römische Gesetz schuldig gemacht.
orthodoxen Juden, insbesondere der Doch wenn er das vor Paulus zugeben
Pharisäer, »daß eine Auferstehung der würde, würde er den Zorn der Juden
Gerechten wie der Ungerechten sein« gegen sich heraufbeschwören. Vom poli-
werde. Im Licht dieser kommenden tischen Standpunkt aus war es wichtig,
»Auferstehung« versuche er immer, eine daß er ihre Gunst behielt. So flüchtete er
ungetrübte Gemeinschaft mit dem Herrn sich in die Ausrede, den Fall noch weiter
und seinen Mitmenschen aufrecht zu behandeln zu wollen. Er kündigte an,
erhalten. Weit davon entfernt, die Juden daß er warten wolle, bis »Lysias, der
zu einem Aufstand anzustiften, war Pau- Oberste« nach Cäsarea kommen konnte.
lus nach Jerusalem gekommen, um dem Doch in Wirklichkeit war dies nichts
jüdischen Volk »Almosen zu bringen«. Er anderes als eine Verzögerungstaktik. Wir
bezog sich dabei natürlich auf die Samm- hören nirgends, daß »der Oberste« je
lung der Gemeinden in Mazedonien und nach Cäsarea gekommen wäre.
Achaja, die für die bedürftigen Hebräer- 24,23 Als er die Verhandlung schloß,
christen in Jerusalem bestimmt war. »befahl« Felix, daß Paulus zwar »in

576
Apostelgeschichte 24 und 25

Gewahrsam« gehalten werden müsse, 25,1 Porcius »Festus« wurde durch


daß er jedoch gewisse »Erleichterung« Kaiser Nero im Herbst des Jahres
erhalten solle, und daß »den Seinen« er- 60 n. Chr. zum römischen Statthalter von
laubt sei, ihn zu besuchen und »ihm zu Judäa ernannt. »Cäsarea« war das politi-
dienen«. Das zeigt sicherlich an, daß der sche Zentrum der römischen Provinz
Statthalter Paulus nicht für einen Syrien, von der Judäa ein Teil war. »Nach
Schwerverbrecher hielt. drei Tagen« reiste Festus »von Cäsarea
24,24.25a »Einige Tage« nach der Ver- hinauf nach Jerusalem«, der religiösen
handlung organisierte »Felix« und seine Hauptstadt unter seiner Herrschaft.
Frau »Drusilla« eine Privatunterredung 25,2.3 Obwohl es schon zwei Jahre
mit dem Apostel, um mehr »über den her war, daß »Paulus« in Cäsarea ins
Glauben an Christus« zu erfahren. Mit Gefängnis gekommen war, hatten die
unübertrefflicher Furchtlosigkeit »redete »Juden« ihn nicht vergessen, noch war
. . . Paulus« mit diesem lasterhaften Statt- ihr mörderischer Haß weniger gewor-
halter und seiner ehebrecherischen Frau den. Da sie der Ansicht waren, sich eine
»über Gerechtigkeit und Enthaltsamkeit politische »Gunst« bei dem neuen Statt-
und das kommende Gericht«. Sie kann- halter erwerben zu können, kamen »die
ten kaum persönliche »Gerechtigkeit«, Hohenpriester und die Vornehmsten der
weder in ihrem öffentlichen noch in Juden«, um ihm mit ihren Anklagen
ihrem privaten Leben. Ihnen war »Ent- gegen Paulus zu belästigen und baten,
haltsamkeit« fremd, wie sich in ihrer daß er »nach Jerusalem« geschickt wür-
gegenwärtigen gesetzlosen Ehe zeigte. de, damit er dort verhört werden könne.
Sie mußten vor dem »kommenden Wahrscheinlich meinten sie, daß seine
Gericht« gewarnt werden, weil sie in den Verhandlung vor dem Sanhedrin fortge-
Feuersee geworfen würden, wenn ihre setzt werden sollte, doch ihr wirklicher
Sünden nicht durch das Blut Christi Plan bestand darin, ihm aufzulauern und
gesühnt würden. ihn »umzubringen«.
24,25b.26 »Felix« scheint durch diese 25,4.5 Aber »Festus« war zweifellos
Rede mehr bewegt worden zu sein als im voraus über ihren vorherigen Plan
Drusilla. Obwohl er »mit Furcht erfüllt« aufgeklärt worden, Paulus umzubrin-
war, vertraute er sein Leben doch nicht gen. Auch hatte er wohl von den aus-
dem Erlöser an. Er schob seine Entschei- führlichen Maßnahmen gehört, die der
dung für Christus mit den Worten auf: Oberste in Jerusalem ergriffen hatte, um
»Für jetzt geh hin; wenn ich aber gelege- Paulus sicher nach Cäsarea bringen zu
ne Zeit habe, werde ich dich rufen las- lassen. Er weigerte sich deshalb, ihre Bit-
sen.« Schlimm genug, denn diese »gele- te zu erfüllen, doch versprach er ihnen,
gene Zeit« kam nie, soweit wir aus der daß sie Gelegenheit erhalten würden,
Bibel wissen. Doch war dies nicht das ihre Anklage gegen Paulus vorzubrin-
letzte Zeugnis des Paulus vor »Felix«. gen, wenn sie nach Cäsarea kommen
Der Statthalter rief ihn während der würden.
nächsten zwei Jahre wiederholt zu sich, 25,6-8 Nach einem Aufenthalt von
während der Apostel als Gefangener in »mehr als zehn Tagen« in Jerusalem
Cäsarea weilte. In Wirklichkeit hoffte kehrte Festus »nach Cäsarea« zurück
»Felix« jedoch, daß einige von Paulus’ und berief das Gericht für den »folgen-
Freunden ihn großzügig bestechen wür- den Tag« ein. Die Juden eilten zum
den, damit er ihn freilasse. Angriff und brachten »viele und schwe-
24,27 »Als aber zwei Jahre verflossen re« Anklagen gegen Paulus vor, doch
waren«, im Jahr 60 n. Chr., »bekam Felix konnten sie keine davon »beweisen«. Da
den Porcius Festus zum Nachfolger; und der Apostel merkte, daß ihre Argumente
da Felix sich bei den Juden in Gunst set- sehr schwach waren, begnügte er sich
zen wollte, hinterließ er den Paulus« als mit einer einfachen Leugnung, ein Ver-
gefesselten Gefangenen in Cäsarea. brechen »gegen das Gesetz der Juden, . . .

577
Apostelgeschichte 25

gegen den Tempel« oder »gegen den Kai- Petrus ins Gefängnis werfen ließ
ser« begangen zu haben. (Kap. 12). Seine Schwester war eine
25,9-11 Für einen Augenblick schien ungewöhnlich schöne Frau. Während ihr
es so, als ob »Festus« willig sei, die Bitte die Historiker einen schlechten Ruf nach-
der »Juden« zu erfüllen, daß »Paulus . . . sagen (einschließlich ihrer Verbindung
nach Jerusalem« gebracht werden sollte, mit ihrem Bruder), schweigt das NT über
damit vor dem Sanhedrin über ihn ver- ihren Charakter.
handelt werden konnte. Doch das wollte 25,14-16 Während ihres recht langen
er nicht ohne Erlaubnis des Gefangenen Aufenthaltes in Cäsarea entschloß sich
zulassen. »Paulus« erkannte offensicht- »Festus«, Agrippa von dem Schwierig-
lich, daß er »Jerusalem« niemals leben- keiten mit einem Gefangenen namens
dig erreichen würde, wenn er zustimmen Paulus zu berichten. Zunächst berichtete
würde. Er weigerte sich deshalb, indem er von dem unziemlichen Verlangen »der
er feststellte, daß Cäsarea der zuständige Juden«, daß ein Urteil über Paulus ge-
Gerichtssitz für die Verhandlung war. sprochen werde, ehe eine rechtmäßige
Wenn er ein Verbrechen gegen das römi- Verhandlung stattgefunden habe. Er
sche Recht »begangen« haben sollte, so stellte sich selbst als Bewahrer und Be-
weigerte er sich nicht, dafür zu sterben. schützer von ordentlichen Gerichtsver-
Doch wenn er sich eines solchen Verge- fahren hin und erzählte, wie er auf einer
hens nicht schuldig gemacht hatte, war- Verhandlung bestanden habe, in der der
um sollte er dann »den Juden« überge- Beklagte »seine Ankläger persönlich vor
ben werden? Er schöpfte nun seine Rech- sich habe« und ihm Gelegenheit gegeben
te als Römischer Bürger aus, indem er die werde, »sich . . . zu verteidigen«.
erinnerungswürdigen Worte äußerte: 25,17-19 Als der Fall aber verhandelt
»Ich berufe mich auf den Kaiser.« wurde, stellte Festus fest, daß der Gefan-
War es nun gerechtfertigt, daß Paulus gene sich keines Vergehens gegen das
sich »auf den Kaiser« berief? Hätte er sei- Gesetz schuldig gemacht habe. Stattdes-
nen Fall nicht ganz Gott anbefehlen sol- sen drehte sich der Fall um »einige Streit-
len und sich weigern sollen, sich von sei- fragen gegen ihn wegen ihres eigenen
ner irdischen Zugehörigkeit zu einem Gottesdienstes und wegen eines gewis-
Volk abhängig zu machen? War das einer sen Jesus, der gestorben ist, von dem
der Fehler des Paulus? Wir können das Paulus sagte, er lebe«.
nicht abschließend entscheiden. Alles, 25,20-22 Festus berichtete nun von
was wir wissen ist, daß seine Berufung seinem Angebot an Paulus, »nach Jerusa-
auf »den Kaiser« seine Freilassung zu lem« zu gehen und von seiner »Beru-
diesem Zeitpunkt verhindert hat, und fung« auf den »Augustus« (Augustus ist
auch wenn er sich nicht auf ihn berufen hier ein Titel des Kaisers, kein Name).
hätte, hätte er Rom auch auf andere Art Dadurch erhob sich natürlich ein Pro-
erreichen können. blem. Wenn er diesen Gefangenen nach
25,12 »Festus . . . besprach« sich kurz Rom senden würde, welche Anklage
mit seinen Rechtsberatern über das Vor- sollte er dann gegen ihn vorbringen? Da
gehen in dieser Angelegenheit und sagte »Agrippa« Jude war und sich deshalb in
dann wahrscheinlich in einem herausfor- jüdischen Fragen gut auskannte, hoffte
dernden Ton: »Auf den Kaiser hast du Festus, er werde einige Hinweise von
dich berufen, zum Kaiser sollst du Agrippa erhalten, wie er einen geeignete
gehen.« Anklage gegen ihn finden könne.
25,13 »Als aber einige Tage vergan- Als Festus vom Retter der Welt sprach,
gen waren, kamen der König Agrippa benutzte er den Ausdruck »ein gewisser
und Bernice nach Cäsarea«, um »Festus« Jesus«. Bengels Kommentar ist es wert,
zu seinem neuen Amt zu beglückwün- hier zitiert zu werden: »So spricht der
schen. »Agrippa« war der Sohn Herodes elende Festus von dem, vor dem sich alle
Agrippas I., der Jakobus ermorden und Knie einmal beugen werden.«

578
Apostelgeschichte 25 und 26

25,23 »Am folgenden Tag« wurde 26,4.5 In seiner Jugend, so berichtet


nun eine offizielle Anhörung anberaumt. der Apostel, sei er ein vorbildlicher Jude
»Agrippa und Bernice« kamen »mit gewesen. Die »Juden« mußten eingeste-
großem Gepränge« an. Sie wurden von hen, »wenn sie es« nur »bezeugen woll-
»den Obersten und vornehmsten Män- ten«, daß Paulus seinen Weg als »streng-
nern der Stadt« begleitet. Dann »wurde ster« Orthodoxer gegangen und ein
Paulus« vorgeführt. praktizierender Pharisäer gewesen war.
25,24-27 Und noch einmal erklärte 26,6 »Nun« würde ihm der Prozeß
»Festus«, wie der Fall lag – er berichtete gemacht, weil er sich keines größeren Ver-
von den ständigen Forderungen »der brechens schuldig gemacht habe als die
Juden« nach dem Tod des Paulus, seine Tatsache, daß er sich an die »Hoffnung
eigene Unfähigkeit, herauszufinden, auf die von Gott an unsere »jüdischen«
welches »todeswürdigen« Verbrechens Väter »des AT »geschehene Verheißung«
sich Paulus schuldig gemacht habe und gehalten habe. Der Gang der Argumenta-
dann von der Berufung des Paulus auf tion des Paulus ist wohl folgender: Im AT
den Kaiser. Das Dilemma des Festus hat Gott verschiedene Bünde mit den
bestand natürlich darin: Er war durch die Führern Israels, etwa mit Abraham, Isaak,
Berufung des Paulus gezwungen, ihn zu Jakob, David und Salomo geschlossen.
Nero zu senden, doch gab es keinerlei Die Grundaussage dieses Bundes war
legale Grundlage für einen Prozeß. »Fest- immer wieder die Verheißung des Mes-
us« sagt jetzt ohne Umschweife, daß er sias und seiner Wiederkunft gewesen, bei
hoffe, daß »Agrippa« in der Lage sei, ihm der er das Volk Israel befreien und über
zu helfen, da es doch reichlich »unge- die Erde herrsche würde. Die Patriarchen
reimt« schien, »einen Gefangenen zu des AT starben, ohne die Erfüllung dieser
senden und nicht auch die gegen ihn vor- Verheißung zu erleben. Doch bedeutet
liegenden Beschuldigungen mitzutei- das, daß Gott seine Zusagen nicht erfül-
len«. Diese Vorgänge waren eher eine Art len würde? Natürlich würde er sie erfül-
Anhörung als ein Prozeß. Die Juden len! Doch wie konnte er das, wenn diese
waren nicht anwesend, um den Apostel Väter schon tot waren? Die Antwort lau-
anzuklagen, und Agrippa konnte keine tet: »Indem er sie von den Toten aufer-
bindende Entscheidung treffen. weckt.« So verbindet Paulus die Ver-
26,1-3 Die folgende Szene ist von heißungen des AT auf sehr direkte Weise
einem Ausleger treffend beschrieben mit der Auferstehung der Toten.
worden: »Ein versklavter König und ein 26,7 Der Apostel beschreibt die
gekrönter Gefangener.« »zwölf Stämme« (LU 1984) Israels, wie
Vom geistlichen Standpunkt aus sie »unablässig« Gott gedient haben in
gesehen, war »Agrippa« ein bedauerns- der Hoffnung, die Verheißung erfüllt zu
werter Mensch, während Paulus sich auf sehen. Diese Bezugnahme auf die »zwölf
Flügeln des Glaubens über seine äußeren Stämme« ist wichtig in Hinblick auf die
Umstände erhob. gängige Lehre, daß zehn der zwölf Stäm-
Als er von »Agrippa« sein Stichwort me Israels während der Gefangenschaft
erhalten hatte, »streckte Paulus die Hand »verloren« gegangen sind. Obwohl sie
aus und« begann einen bewegenden unter den Heiden zerstreut waren, sah
Bericht seiner Erfahrungen als Christ. sie der Apostel als ein besonderes Volk,
Zunächst gab er seiner Befriedigung Aus- das »Gott« diente und auf den verheiße-
druck, daß ihm erlaubt wurde, daß er sei- nen Befreier warten.
nen Fall jemandem vorlegen könne, da er 26,8 Das war also das Verbrechen des
als Jude »alle Gebräuche und Streitfra- Paulus! Er glaubte, daß »Gott« seine Ver-
gen, die unter den Juden« aktuell waren, heißung erfüllen werde, indem er die
kannte. Seine Einleitung war nicht bloße Väter von den »Toten« auferweckt. Was
Schmeichelei, sondern eine Feststellung war daran so »unglaublich«? Paulus frag-
der Wahrheit in christlicher Höflichkeit. te Agrippa und alle, die bei ihm waren.

579
Apostelgeschichte 26

26,9-11 Paulus kam nun auf seine 26,15 Paulus fragte: »Wer bist du,
Lebensgeschichte zurück und erzählte Herr?« Die Stimme antwortete: »Ich bin
von den wilden und unbarmherzigen Jesus, den du verfolgst.« Jesus? Wie
Feldzügen, die er gegen die Anhänger des konnte das sein? War der nicht gekreu-
christlichen Glaubens führte. Mit all sei- zigt und begraben worden? Hatten seine
ner Macht widerstand er »dem Namen Jünger nicht seinen Leib gestohlen und
Jesu, des Nazoräers«. Mit einer »Voll- versteckt? Wie konnte dann Jesus zu ihm
macht . . . von den Hohenpriestern« jetzt reden? Langsam dämmerte Paulus
brachte er »viele« Christen in Jerusalem die Wahrheit. Natürlich war Jesus begra-
ins Gefängnis. Wenn ihnen vor dem San- ben worden, doch war er von den Toten
hedrin der Prozeß gemacht wurde, auferstanden! Er war in den Himmel auf-
stimmte er immer gegen sie. Immer wie- gefahren, und jetzt sprach er mit Paulus.
der organisierte er die Bestrafung derer, Indem Paulus die Christen verfolgt hatte,
die er »in allen Synagogen« fand, und er hatte er ihren Herrn verfolgt. Und damit
tat alles in seiner Macht stehende, sie hatte er auch den Messias Israels ver-
dazu zu bringen, ihren Herrn zu verleug- folgt, ja, den Sohn Gottes.
nen. (Wenn es hier heißt, daß er sie 26,16 Als nächstes faßt Paulus den
78)
»zwang . . . zu lästern«, so bedeutet das Auftrag zusammen, den der auferstan-
nicht, daß er damit Erfolg hatte, sondern dene Herr Jesus Christus ihm gibt. Er
er versuchte, sie zu zwingen.) Die Haß- wurde aufgefordert, sich aufzurichten
kampagne des Paulus gegen die Jünger und sich auf seine »Füße« zu stellen. Er
»Jesu« breitete sich von Jerusalem und bekam diese besondere Offenbarung der
Judäa auch auf »ausländische Städte« aus. Herrlichkeit Christi, weil er dazu be-
26,12-14 Während er auf einer dieser stimmt war, ein »Diener« des Herrn und
Expeditionen ins Ausland war, hatte er ein »Zeuge« von dem zu sein, was er an
ein Erlebnis, das sein ganzes Leben verän- diesem Tage »gesehen« hatte, und von all
derte. Er war auf dem Weg »nach Damas- den großen Wahrheiten des christlichen
kus«, mit behördlichen Papieren ausge- Glaubens, die ihm noch offenbart wer-
stattet, die es ihm erlaubten, die Christen den würden.
festzunehmen und sie nach Jerusalem zur 26,17 Die Verheißung, daß Paulus
Bestrafung zurückzubringen. »Mitten am »aus dem Volk« Israel und »den Natio-
Tag« wurde er von einem Gesicht über- nen« herausgerettet würde, ist als allge-
wältigt, das ihm die Herrlichkeit zeigte. meine Befreiung zu verstehen, bis er sein
»Ein Licht vom Himmel her« umleuchtete Werk getan habe.
ihn, heller als der »Glanz der Sonne«. 26,18 Paulus sollte insbesondere zu
Nachdem er »zur Erde niedergefallen« den Heiden gesandt werden, um »ihre
war, »hörte« er »eine Stimme«, die ihm Augen aufzutun, daß sie sich bekehren
die brennende Frage stellte: »Saul, Saul, von der Finsternis zum Licht und von
was verfolgst du mich?« Die »Stimme« der Macht des Satans zu Gott«. Durch
fügte noch die vielsagenden Worte hinzu: den Glauben an den Herrn Jesus sollten
»Es ist hart für dich, gegen den Stachel sie »Vergebung der Sünde empfangen
auszuschlagen.« Der »Stachel« ist ein und ein Erbe unter denen, die durch den
scharf zugespitztes Werkzeug, das be- Glauben an« ihn »geheiligt sind«. H. K.
nutzt wurde, um störrische Lasttiere vor- Downie zeigt uns, daß Vers 18 eine aus-
wärts zu zwingen. Paulus hatte »gegen gezeichnete Zusammenfassung der Wir-
den Stachel« seines Gewissens ausge- kungen des Evangeliums ist:
schlagen, doch noch wichtiger, auch »ge- 1. Es befreit von Finsternis.
gen« die Stimme des Heiligen Geistes, der 2. Es befreit von der Macht Satans.
ihn überführen wollte. Er konnte nie die 3. Es vergibt Sünden.
Haltung und Würde vergessen, mit der 4. Es bringt ein verlorenes Erbe wieder.
Stephanus gestorben war. Er hatte »ge- 26,19-23 Nachdem er so beauftragt
gen« Gott selbst gekämpft. wurde, erklärt Paulus dem Agrippa, daß

580
Apostelgeschichte 26

er »nicht ungehorsam der himmlischen mich für etwas verurteilen, an das du


Erscheinung« war. Sowohl »in Damas- selbst glaubst?‹«
kus« als auch »in Jerusalem und in ganz 26,28 Daß Agrippa die Überzeu-
. . . Judäa und den Nationen« predigte er, gungskraft seiner Argumente bemerkt
»Buße zu tun und sich zu Gott zu bekeh- hatte, zeigt sich in seinen Worten: »In
ren«, indem sie Werke tun sollten, die die kurzem überredest du mich, ein Christ
Echtheit ihrer Bekehrung erweisen soll- zu werden.« Doch gehen die Meinungen
ten. Das tat er auch, als »die Juden« ihn sehr auseinander, was Agrippa damit
»im Tempel ergriffen und versuchten«, wirklich meinte. Einige Ausleger sind
ihn »zu ermorden«. Doch »Gott« der Ansicht, daß der König wirklich kurz
bewahrte ihn und half ihm, und er fuhr vor einer Entscheidung für Christus
fort, allen Zeugnis zu geben, denen er gestanden habe. Sie sind der Ansicht,
begegnete. Er predigte die Botschaft, die daß die Antwort in Vers 29 diese Auffas-
»auch die Propheten und Mose« im AT sung unterstützt. Andere wiederum mei-
gepredigt haben. Der Inhalt dieser Pre- nen, daß Agrippa ironisch sprach, etwa
digt war, »daß der Messias« leiden sollte, dem Sinn nach: »Du meinst wohl, daß du
daß er »als erster . . . von den Toten auf- mich mit ein bißchen Überredungskunst
erstehen« (LU 1984) sollte , und daß er zum Christen machen kannst?« Mit
das »Licht . . . sowohl dem« jüdischen anderen Worten, er erwehrte sich der
»Volk als auch den Nationen« oder Hei- Überzeugungskraft der Worte des Apo-
den zeigen würde. stels mit einem Scherz.
26,24-26 Als Heide konnte »Festus« 26,29 Ob nun Agrippa ernsthaft oder
wahrscheinlich der Argumentation des im Scherz redete, Paulus jedenfalls ant-
Apostels kaum folgen. Völlig unfähig, wortete mit tödlichem Ernst. Er sagte, er
einen Mann wertzuachten, der mit dem wünsche dringend, daß alle Anwesen-
Heiligen Geist erfüllt war, warf er Pau- den einschließlich Agrippa, ob mit viel
lus spontan vor, wegen seiner »großen oder wenig Überredungskunst, in die
Gelehrsamkeit« verrückt geworden zu Freuden und Segnungen eines christli-
sein. Ohne nur im geringsten beleidigt chen Leben eintreten möchten, daß sie
zu sein, bestritt Paulus diese Vermutung die Vorrechte des Paulus erhalten möch-
und betonte, daß er »Worte der Wahr- ten, und daß sie »solche würden, wie« er
heit und der Besonnenheit« geredet »auch« sei, »ausgenommen« seine »Fes-
habe. Er gab dann seiner Zuversicht seln«. Morgan schreibt:
Ausdruck, daß »der König« die Wahr- Er würde sterben, um Agrippa zu erret-
heit all dessen kannte, was er gesagt hat- ten, doch er wollte ihm nicht seine Ketten
te. Das Leben des Paulus und sein Zeug- weitergeben. Das ist Christentum. Verherrli-
nis waren kein Geheimnis geblieben. che es, vermehre es und wende es an. Die
Alle Juden wußten darum, und zweifel- Lauterkeit, die gleichzeitig andere verfolgt,
los hatten die Berichte darüber auch ist nicht christlich. Doch die Lauterkeit, die
Agrippa erreicht. stirbt, um andere zu erlösen, jedoch niemals
26,27 Paulus fragte nun direkt den jemanden in Ketten schlagen will, ist echtes
79)
König: »Glaubst du, König Agrippa, den Christentum.
Propheten?« Dann beantwortete er seine 26,30-32 »Der König, . . . der Statthal-
eigene Frage: »Ich weiß, daß du glaubst.« ter, . . . Bernice«, und die anderen Beam-
Die Überzeugungskraft seiner Argumen- ten verließen den Raum, um unter sich zu
te kann nicht bestritten werden. Paulus beraten. Sie alle waren gezwungen zuzu-
sagte praktisch: »Ich glaube alles von den geben, daß Paulus »nichts, was des Todes
Propheten im AT gesagte. Auch Du, oder der Fesseln wert wäre«, getan habe.
›Agrippa, . . . glaubst‹ daran, nicht wahr? »Agrippa« sagte »Festus« (vielleicht
Wie können mich dann die Juden eines leicht bedauernd), daß Paulus »hätte los-
Verbrechens anklagen, für das ich den gelassen werden können, wenn er sich
Tod verdient habe? Oder wie kannst du nicht auf den Kaiser berufen hätte«.

581
Apostelgeschichte 26 und 27

Wir fragen uns natürlich, ob die Beru- 27,4.5 Von Sidon aus führte der Weg
fung auf den »Kaiser« nicht hätte wider- über die Nordwestbucht des Mittelmee-
rufen werden können. Ob nun eine sol- res, wobei man links an »Zypern« vor-
che Berufung unabänderlich war oder beifuhr, und so den Windschutz durch
nicht, wir wissen, daß es Gottes Plan war, die Insel ausnutzte. Obwohl »die Winde
daß der Apostel der Heiden nach Rom widrig waren«, kreuzte das Schiff zur
zur Verhandlung vor dem Kaiser kom- Südküste Kleinasiens, segelte dann west-
men sollte (23,11) und dort die Erfüllung wärts an »Cilicien und Pamphylien« vor-
seines Wunsches finden sollte, dem Tode bei, bis es nach »Myra« kam, eine Hafen-
seines Herrn gleichgestaltet zu werden. stadt »in Lycien«.
27,6 »Dort« brachte »der »Haupt-
I. Die Reise des Paulus nach Rom mann die Gefangen auf ein anderes
und der Schiffbruch (27,1 – 28,16) »Schiff«, weil das erste sie nicht in Rich-
Dieses Kapitel behandelt die aufregende tung Italien weiterbringen würde, son-
Erzählung der Reise des Apostels von dern die Westküste Kleinasiens hinaufse-
Cäsarea nach Malta auf dem Weg nach geln würde, um in seinen Heimathafen
Rom. Wenn Paulus nicht Passagier an zu gelangen.
Bord gewesen wäre, hätten wir nie etwas Das neue Schiff kam aus Alexandria,
von der Reise oder dem Schiffbruch einer Hafenstadt an der Nordküste Afri-
erfahren. Der Abschnitt ist voller nauti- kas. Es beförderte insgesamt 276 Men-
scher Fachwörter, und so ist es nicht schen (Mannschaft und Passagiere) und
immer leicht, ihm zu folgen. hatte Weizen geladen. Von Alexandria
27,1 Die Reise begann in Cäsarea. war es über das Mittelmeer nach Norden
Paulus wurde unter die Aufsicht eines bis Myra gesegelt und und nahm nun
»Hauptmannes mit Namen Julius« ge- Kurs westwärts »nach Italien«.
stellt. Dieser »Hauptmann« gehörte zur 27,7.8 »Viele Tage« lang ging es nur
»Schar des Augustus«, eine besondere langsam voran, weil die Winde ihnen
Legion der Römischen Armee. Wie alle entgegenstanden. Nur »mit Mühe«
anderen Hauptmänner im NT war er ein brachte die Mannschaft das Schiff bis
freundlicher, gerechter und an anderen zum Hafen von Knidus, einer Hafenstadt
Menschen interessierter Mensch von an der äußersten Südwestspitze Klein-
tadellosem Charakter. asiens. Weil der »Wind« ihnen wieder
27,2 Es gab noch andere Gefangene entgegenstand, segelten sie nach Süden
an Bord, die wie Paulus nach Rom zum und fuhren an der geschützten Ostseite
Prozeß geführt wurden. Auf der Passa- Kretas entlang. Als sie um das Kap »Salo-
gierliste standen auch »Aristarchus« und mone« herumsegelten, wandten sie sich
Lukas, beide Reisegefährten des Paulus nach Westen und fuhren starken Winden
schon auf früheren Reisen. entgegen, bis sie nach »Schönhafen«
Das »Schiff«, mit dem sie segelten, kamen, ein Hafen, »in dessen Nähe die
stammte aus Hadramaut, einer Stadt in Stadt Lasäa war«, an der mittleren Süd-
Mysien, der Nordwestspitze Kleinasiens. küste »Kretas« gelegen.
Es sollte nach Norden und dann nach 27,9.10 Bis dahin war ihnen durch das
Westen fahren und in den Häfen »längs schlechte Wetter schon viel Zeit verloren
der Küste« der Provinz Asien anlegen, gegangen. Der nahende Winter machte
die im Westen Kleinasiens lag. weiteres Reisen »unsicher«. Es muß Ende
27,3 Das Schiff segelte zunächst nach September oder Anfang Oktober gewe-
Norden entlang der Küste Palästinas und sen sein, weil »das Fasten« (der große
machte »in Sidon« Halt, 113 Kilometer Versöhnungstag) »schon vorüber war«.
von Cäsarea entfernt. »Julius«, der Zen- »Paulus« warnte die Mannschaft, daß
turio, gestattete »wohlwollend«, daß »die Fahrt« schon unsicher sei, und wenn
Paulus »zu den Freunden« ging, »damit sie diese Reise fortsetzten, wären sie der
er ihrer Fürsorge teilhaftig wurde«. Gefahr ausgesetzt, »die Ladung und das

582
Apostelgeschichte 27

Schiff« und auch ihr »Leben« zu ver- »Sonne« oder »Sterne« zu sehen, und so
lieren. ohne die Möglichkeit, sich zu orientieren
27,11.12 Doch der »Steuermann und und herauszufinden, wo sie sich befan-
der Schiffsherr« wollten weiterfahren. den. »Die Hoffnung auf« Überleben wur-
»Der Hauptmann« verließ sich auf ihr de schließlich aufgegeben.
Urteil, und die meisten anderen waren 27,21-26 Die Verzweiflung wurde
ihrer Meinung. Man war der Ansicht, durch den Hunger noch verstärkt. Die
daß »der Hafen« nicht so gut wie »Phö- Männer hatten viele Tage nichts geges-
nix . . . zum Überwintern« geeignet war. sen. Zweifellos hatten sie die ganze Zeit
»Phönix« lag etwa 60 Kilometer westlich hart gearbeitet, um das Schiff zu erhalten
von Schönhafen an der Südwestspitze und Wasser hinauszuschöpfen. Vielleicht
»Kretas«. Sein Hafen war »gegen Südwe- gab es keine Möglichkeit mehr zu
sten und gegen Nordwesten« offen. kochen. Krankheit, Furcht und Enttäu-
27,13-17 »Als aber ein Südwind sanft schung raubten ihnen wahrscheinlich
wehte«, glaubten die Seeleute, daß sie den Appetit. Es gab genug zu essen, doch
die Strecke nach Phönix bald überwin- die Lust darauf war ihnen vergangen.
den könnten. Sie lichteten den Anker »Da stand Paulus in ihrer Mitte« mit
und segelten westwärts die Küste ent- einer Hoffnungsbotschaft auf. Zuerst
lang. Dann brach ein schlimmer Nord- erinnerte er sie sanft daran, daß »man
80)
oststurm (Eurakylon ) von den Klippen hätte . . . nicht von Kreta abfahren« sol-
der Küste über sie herein. Da sie nicht len. Dann versicherte er ihnen, daß »das
mehr in der Lage waren, den Kurs zu Schiff« zwar verloren gehen würde,
halten, war die Mannschaft gezwungen, jedoch »keiner von« ihnen. Woher wußte
das Schiff in der Strömung treiben zu las- er das? Nun, »ein Engel« des Herrn war
sen. Sie wurden nach Südwesten zu ihm bei »Nacht« erschienen, der ihm ver-
81)
»einer kleinen Insel, Klauda genannt«, sicherte, daß er »vor den Kaiser gestellt«
getrieben, die 30 bis 40 Kilometer von werden müsse. »Gott« hatte ihm »alle
Kreta entfernt liegt. Als sie die geschütz- geschenkt« die mit ihm fuhren, und zwar
te Seite der »Insel« erreichten, konnten in dem Sinne, daß auch ihr Leben
sie »kaum des Rettungsbootes mächtig bewahrt werden würde. Deshalb sollten
werden«, das sie ausgesetzt hatten. Doch sie wieder Mut fassen. »Paulus« glaubte,
schließlich waren sie in der Lage, es an daß alles gut ausgehen werde, auch
Bord zu ziehen. Dann »umgürteten . . . wenn sie »auf irgendeiner Insel« stran-
sie das Schiff«, um zu verhindern, daß es den würden.
in der schweren Dünung auseinander A. W. Tozer schreibt:
brechen würde. Sie fürchteten sehr, daß Als der »Südwind sanft wehte«, und das
sie nach Süden »in die Syrte« verschla- Schiff, das Paulus trug, glatt dahinsegelte,
gen würden, einen Golf an der Küste wußte niemand an Bord, welche charakterli-
Nordafrikas, der für seine Untiefen che Stärke sich hinter der einfachen Fassade
bekannt war. Um das zu verhindern, dieses Mannes versteckte. Doch als der
»ließen sie das Takelwerk nieder und Sturm Eurakylon über sie hereinbrach, wur-
trieben so dahin«. de die Haltung des Paulus bald auf dem
27,18.19 Nachdem sie einen Tag lang ganzen Schiff bekannt. Der Apostel war zwar
der Gewalt des Sturms ausgeliefert ein Gefangener, doch ergriff er im wahrsten
waren, fingen sie an, die Ladung über Sinne das Kommando des Schiffes, traf Ent-
Bord zu werfen. Am dritten Tag warfen scheidungen und gab Anweisungen, die für
sie »das Schiffsgerät fort«. Zweifellos die Menschen an Bord Tod oder Leben bedeu-
war viel Wasser in das Schiff geschlagen, ten konnten. Und ich denke, daß diese Krise
so daß es nötig wurde, die Ladung zu etwas in Paulus zum Vorschein brachte, das
erleichtern, damit es nicht sänke. er selbst noch nicht erkannt hatte. Schöne
27,20 »Viele Tage lang« wurden sie Theorien kristallisierten sich zu harten Tatsa-
82)
hilflos von den Wellen gebeutelt, ohne chen, als der Sturm hereinbrach.

583
Apostelgeschichte 27 und 28

27,27-29 Vierzehn Tage waren ver- 27,35 Dann gab er ihnen ein Beispiel,
gangen, seit sie Schönhafen verlassen indem »Brot« nahm, öffentlich »Gott vor
hatten. Sie trieben hilflos in einem Teil allen . . . dankte« und aß. Wie oft scheuen
des Mittelmeeres herum, der als »Adria- wir uns, vor anderen zu beten? Und doch
tisches Meer« bekannt ist und zwischen spricht solches Gebet oftmals lauter als
Griechenland, Italien und Afrika liegt. unsere Predigt.
»Gegen Mitternacht meinten die Ma- 27,36.37 So ermutigt, »nahmen« sie
trosen, daß sich ihnen Land nahe.« Viel- »auch selbst Speise zu sich«. Es »waren
leicht konnten sie die Wellen gegen die aber in dem Schiff, alle Seelen, zweihun-
Küste donnern hören. Als sie das erste dertsechsundsiebzig«.
Mal die Meerestiefe maßen, »fanden sie 27,38-41 Nach dem Essen »erleichter-
zwanzig Faden« Tiefe (etwa 36 Meter), ten sie das Schiff, indem sie den Weizen
dann etwas später waren es nur noch in das Meer warfen«. »Land« war zwar
»fünfzehn Faden«. Um zu verhindern, nun in der Nähe, doch sie konnten es
daß das Schiff auf Grund liefe, »warfen nicht erkennen. Man entschied sich,
sie vom Hinterschiff vier Anker aus und »das Schiff« auf den »Strand« treiben zu
wünschten« sich das Tageslicht herbei. lassen und soweit wie »möglich« in die
27,30-32 Da sie um ihr Leben fürchte- Nähe des Festlandes zu kommen. Sie
ten, planten einige der »Matrosen«, in kappten »die Anker« und »ließen sie . . .
einem kleinen Boot an Land zu kommen. im Meer«. Dann banden sie »die Hal-
Sie wollten das Beiboot gerade »vom tetaue der Steuerruder los«, die sie vor-
Vorderschiff aus« hinablassen und taten her nach oben gezogen hatten und
dabei so, als ob sie von dort den »Anker brachten sie wieder in Position. Dann
auswerfen« wollten – da meldete »Pau- »hißten« sie »das Vordersegel und hiel-
lus« ihren Plan »dem Hauptmann«. Pau- ten auf den Strand zu«. Sie setzten »das
lus warnte, daß der Rest der Männer Schiff . . . auf einer Landzunge« auf
»nicht gerettet werden« könne, wenn die Grund. Der Bug »saß fest« im Sand, doch
Matrosen nicht an Bord blieben. Da »hie- das Heck zerbrach durch »die Gewalt
ben die Soldaten die Taue des Bootes ab der Wellen«.
und ließen es hinabfallen«. »Die Matro- 27,42-44 »Der Soldaten Plan aber war,
sen« waren so gezwungen, ihr Leben an die Gefangenen zu töten«, damit keiner
Bord des Schiffes gemeinsam mit den flüchtete, doch »der Hauptmann, . . . der
anderen zu retten. Paulus retten wollte« vereitelte ihren
27,33.34 Phillips überschreibt die Ver- Plan. Er wies alle an, »welche schwim-
se 33-37: »Der gesunde Menschenver- men« konnten, an Land zu gehen. Die
stand des Paulus.« Um die dramatische anderen sollten sich »auf Brettern« oder
Situation richtig einschätzen zu können, »Stücken vom Schiff« an Land treiben
sollte man wirklich etwas von den lassen. Auf diese Art wurde die ganze
Schrecken eines Sturmes auf See kennen. Mannschaft und die Passagiere sicher
Außerdem sollten wir uns erinnern, daß »an das Land gerettet«.
Paulus nicht der Kapitän des Schiffes 28,1.2 Sobald die Mannschaft und die
war, sondern lediglich ein Passagier, und Passagiere das Ufer erreichten, erfuhren
dazu noch Gefangener. sie, daß sie auf der Insel »Melite« gelan-
Kurz vor Tagesanbruch »ermahnte det waren. Einige der »Eingeborenen«
Paulus« die Männer, zu essen und erin- der Insel hatten das Wrack und die
nerte sie daran, daß sie zwei Wochen Gestrandeten gesehen, wie sie durch das
»ohne Essen« geblieben waren. Nun war Wasser an Land zu kommen versuchten.
die Zeit gekommen, etwas zu essen, Sie waren so freundlich, »ein Feuer« für
denn ihr Wohlergehen hing davon ab. die Angekommenen zu entfachen, die
Der Apostel versicherte ihnen, daß »kei- völlig durchnäßt waren, sowohl vom
nem von« ihnen »ein Haar . . . verloren- Meer als auch vom »Regen« und die
gehen« würde. sicherlich in »der Kälte« froren.

584
Apostelgeschichte 28

28,3 Während »Paulus« beim Feuer- sich mit seinen Gefangenen auf »einem
machen half, wurde er von einer Gift- alexandrinischen Schiff« ein, »das auf
schlange gebissen. Offensichtlich hatte der Insel überwintert hatte«. Die Gali-
die Schlange zwischen einigem Treibholz onsfigur des Schiffes zeigte die »Diosku-
geschlafen. Als nun das Holz »auf das ren«, auf Deutsch Zwillinge, womit
Feuer« gelegt wurde, wurde sie schnell Kastor und Pollux gemeint sind. Diese
wach und biß den Apostel. Sie »hängte waren bei den Heiden die Schutzgötter
sich an seine Hand«, nicht in dem Sinne, der Seeleute.
daß sie sich nur herumgeringelt hätte, 28,12-14 Von Melite aus segelten sie
sondern ihn auch biß. nach »Syrakus«, der Hauptstadt Sizili-
28,4-6 Zuerst schlossen die Einwoh- ens, die an seiner Ostküste lag. Das Schiff
ner, daß Paulus ein »Mörder« sein müs- blieb dort drei Tage, und fuhr dann wei-
se. Obwohl er von dem Schiffswrack ter nach »Regium« an der Südwestspitze
»gerettet« wurde, holte ihn ihrer Mei- Italiens, an der Zehenspitze des »Stie-
nung nach »Dike«, die Göttin der Ge- fels«. »Nach einem Tag« kam ein günsti-
rechtigkeit ein, weil er nun bald »auf- ger »Südwind« auf, der es den Männern
schwellen und tot hinfallen werde«. ermöglichte, 290 Kilometer nordwärts
Doch als Paulus keinerlei Symptome die Westküste Italiens hinauf bis »nach«
einer Vergiftung zeigte, »änderten sie Puteoli an der Nordküste der Bucht von
ihre Meinung und sagten, er sei ein Neapel zu fahren. »Puteoli« lag rund 240
Gott«. Dies ist ein weiterer Beweis dafür, Kilometer südöstlich von »Rom«. In
wie unzuverlässig und wankelmütig Puteoli »fanden« die Reisegefährten
Herz und Sinn des Menschen sind. »Brüder«, mit denen Paulus »sieben
28,7 »Der Erste der Insel« Melite hieß Tage« der Gemeinschaft verbringen
zu dieser Zeit »Publius«. Er besaß in der durfte.
Nähe des Strandes, wo die Schiffbrüchi- 28,15 Wir erfahren nirgendwo, wie
gen gelandet waren, beträchtliche »Län- die Nachricht von der Ankunft des Pau-
dereien«. Dieser reiche römische Beamte lus in Puteoli nach Rom gelangte. Doch
»nahm« Paulus und seine Freunde zwei verschiedene Gruppen von »Brü-
»freundlich . . . auf« und gab ihnen »drei dern« machten sich auf den Weg ihm
Tage« lang Quartier, also für die Zeit, die »entgegen«. Ein Gruppe reiste 69 Kilo-
man brauchte, um ihnen ein dauerndes meter zu dem Markt des Appius südöst-
Winterquartier zu verschaffen. lich von Rom. Die andere Gruppe reiste
28,8 Die Freundlichkeit dieses Hei- 53 Kilometer nach Südosten bis »Tres
den blieb nicht unbelohnt. Zu dieser Zeit Tabernae« (dt.: drei Wirtshäuser). »Pau-
wurde sein »Vater . . . von Fieber und lus« wurde durch diesen ergreifenden
Ruhr befallen . . . Zu dem ging Paulus Liebesbeweis der Heiligen in Rom sehr
hinein, und als er gebetet hatte, legte er aufgemuntert und ermutigt.
ihm die Hände auf und heilte ihn«. 28,16 Nach seiner Ankunft in »Rom«
28,9.10 Die Nachricht von dieser Hei- wurde ihm »erlaubt, mit dem Soldaten,
lung verbreitete sich bald auf der ganzen der ihn bewachte«, in einem Privathaus
»Insel«. Während der nächsten drei Mo- zu leben.
nate wurden alle Kranken zu Paulus ge-
bracht und alle wurden geheilt. Die Men- J. Paulus unter Hausarrest und Zeuge
schen in Melite erzeigten dem Apostel für die Juden Roms (28,17-31)
83)
und Lukas ihre Wertschätzung, indem 28,17-19 Entsprechend seiner Strategie,
sie sie mit Ehren überhäuften und viele zuerst immer den »Juden« Zeugnis zu
Geschenke brachten, die sie auf ihrer Rei- geben, sandte »Paulus« den religiösen
se nach Rom gebrauchen konnten. Führern eine Einladung. »Als sie aber« in
28,11 »Nach drei Monaten« war der seinem Mietshaus »zusammengekom-
Winter vorbei und man konnte wieder men« waren, erklärte er ihnen seinen Fall.
sicher segeln. Der Hauptmann schiffte Er berichtete, daß er, obwohl er »nichts

585
Apostelgeschichte 28

gegen das« jüdische »Volk oder« seine phet beauftragt wurde, das Wort einem
»Gebräuche« getan hatte, die Juden in »Volk« zu predigen, dessen »Herz . . .
»Jerusalem« ihn »in die Hände der dick«, dessen »Ohren« taub und dessen
Römer überliefert« hätten. Die heidni- Augen blind geworden seien. Der Apo-
schen Behörden hatten keinen Grund für stel litt wieder einmal unter der Situati-
die Anklage gesehen und wollten ihn on, das Evangelium Menschen predigen
freilassen, doch als »die Juden« dem zu müssen, die es nicht hören wollen.
Urteil »widersprachen«, war der Apostel Angesichts dieser Ablehnung durch die
gezwungen, sich »auf den Kaiser zu beru- Juden verkündigte »Paulus«, daß er das
fen«. Dabei ging es jedoch nicht darum, Evangelium nun »den Nationen« brin-
gegen seine »Nation« eine Klage vorzu- gen werde, und daß er darauf vertraue,
bringen, sondern sich zu verteidigen. daß »sie« es »auch hören« würden.
28,20 Weil er sich keines Verbrechens 28,29 (s. Anmerkung Elberfelder
gegen das jüdische Volk schuldig Bibel) »Die« ungläubigen »Juden . . . gin-
gemacht hatte, hatte er die führenden gen weg und« diskutierten heftig unter-
römischen Juden »herbeigerufen«. Er sei einander. Wie Calvin betont, irritierte das
»wegen der Hoffnung Israels« in Ketten Zitat aus den Propheten durch Paulus die
geschlagen worden. »Die Hoffnung Isra- Gottlosen unter den Juden, die den Mes-
els« bezeichnet, wie schon vorher gesagt, sias ablehnten. Es brachte sie gegen die
die Erfüllung der Verheißungen an die Juden auf, die ihn annahmen. Der Refor-
jüdischen Patriarchen, insbesondere die mator wendet diese Erkenntnis dann auf
Verheißung des Messias. Zu dieser Erfül- hilfreiche Weise an:
lung der Verheißungen gehörte auch die Letztlich ist es vergeblich, wenn Men-
Auferstehung aus den Toten. schen sich beklagen, daß das Evangelium
28,21.22 Die führenden Juden gestan- Christi Spaltungen verursacht, wenn es doch
den ein, daß sie über den Apostel Paulus offensichtlich ist, daß diese Spaltungen ihre
noch nichts gehört hätten. Sie hatten kei- Ursache in der Halsstarrigkeit der Menschen
ne »Briefe von Judäa . . . über« ihn emp- haben. Und in der Tat ist es für uns notwen-
fangen und keiner ihrer jüdischen dig, diejenigen zu bekämpfen, die Gott ver-
Gefährten hatte irgendwelche Berichte achten, wenn wir echten Frieden mit ihm
84)
gegen ihn vorgebracht. Doch sie wollten genießen wollen.
mehr von Paulus hören, weil sie wußten, 28,30 Danach blieb Paulus »zwei
daß dem christlichen Glauben, zu dem er ganze Jahre« in Rom, wobei er »in seiner
gehörte, »überall widersprochen wird«. eigenen Mietwohnung« leben konnte. Er
28,23 Einige Zeit später kam eine hatte dabei ständig Besuchern zu dienen.
große Anzahl dieser Juden zur »Herber- Wahrscheinlich schrieb er während die-
ge« des Paulus, um mehr von ihm zu ser Zeit die Briefe an die Epheser, Philip-
hören. Er nahm die Gelegenheit wahr, per und Kolosser und an Philemon.
ihnen Zeugnis vom »Reich Gottes« zu 28,31 Er genoß ein relativ großes Maß
geben und sie »von Jesus . . . zu überzeu- an Freiheit und »predigte das Reich Got-
gen«. Dabei zitierte er »aus dem Gesetz tes und lehrte die Dinge, die den Herrn
Moses« und »den Propheten, von früh- Jesus Christus betreffen, mit aller Frei-
morgens bis zum Abend«. mütigkeit ungehindert«.
28,24 Einige glaubten seiner Bot- Hier endet das Buch der Apostelge-
schaft, doch »andere glaubten nicht«. schichte. Einige Ausleger sind der
(Unglaube ist schlimmer als einfach eine Ansicht, daß es seltsam jäh endet. Doch
Botschaft nicht anzunehmen. Er deutet der Plan, der zu Anfang vorgestellt wird,
auf eine aktive Ablehnung hin.) ist nun erfüllt. Das Evangelium hat Jeru-
28,25-28 Als »Paulus« sah, daß das salem, Judäa, Samaria und nun auch die
Evangelium wieder einmal, insgesamt Heidenwelt erreicht.
gesehen, von den Juden abgelehnt wur- Die Ereignisse im Leben des Paulus
de, zitierte er Jesaja 6,9.10, wo der Pro- nach Ende der Apostelgeschichte kön-

586
Apostelgeschichte 28

nen nur aus seinen späteren Briefen er- Christus. Der Hauptgrund ihrer Existenz
schlossen werden. war das Zeugnis für den Erlöser, und sie
Man nimmt allgemein an, daß sein gaben sich dieser Aufgabe mit aller Kraft
Rechtsfall nach zwei Jahren vor Nero hin. In einer Welt, in der sich ein wüten-
kam und mit einem Freispruch endete. der Kampf ums Überleben abspielte, gab
Danach begann er seine sogenannte es einen harten Kern von eifrigen christli-
Vierte Missionsreise. Im Folgenden die chen Jüngern, die zuerst nach dem Reich
Orte, die er dabei wahrscheinlich Gottes und seiner Gerechtigkeit strebten.
besucht hat, obwohl die Reihenfolge Alles andere war dieser herrlichen Beru-
nicht unbedingt festliegt: fung untergeordnet.
1. Kolossä und Ephesus (Philem 22). Jowett bemerkt anerkennend:
2. Mazedonien (1. Tim 1,3; Phil 1,25; Die Jünger waren mit dem heiligen,
2,24). glühenden Eifer getauft, der vom Altar Got-
3. Ephesus (1. Tim 3,14). tes stammte. Sie hatten dieses innere Feuer,
4. Spanien (Röm 15,24). von dem jeder andere Aspekt des Lebens sei-
5. Kreta (Titus 1,5). ne Kraft bezieht. Dieses Feuer in der Seele der
6. Korinth (2. Tim 4,20). Apostel war wie der Heizkessel eines großen
7. Milet (2. Tim 4,20). Dampfers, der ihn durch die Stürme und
8. Den Winter verbrachte er in Nikopo- über die schreckliche Tiefe des Wassers führt.
lis (Titus 3,12). Nichts konnte diese Männer aufhalten!
9. Troas (2. Tim 4,13). Nichts konnte ihr Fortkommen hindern. Man
Wir wissen nicht, warum, wann oder sieht an allen ihren Taten und Worten, daß
wo er wieder gefangen genommen wur- ihr Leben von dem einen großen Befehl
de, doch wissen wir, daß er noch ein geprägt war. Sie haben Leben und Licht, weil
zweites Mal als Gefangener nach Rom sie mit der Macht des Heiligen Geistes
85)
gebracht wurde. Diese Gefangenschaft getauft worden sind.
war härter als die erste (2. Tim 2,9). Er Die Botschaft ihrer Predigt war die
wurde von den meisten seiner Freunde Auferstehung und die Herrlichkeit des
verlassen (2. Tim 4,9-11) und wußte, daß Herrn Jesus Christus. Sie waren Zeugen
sein Tod kurz bevorstand (2. Tim 4,6-8). eines auferstandenen Erlösers. Die Men-
Die Tradition berichtet, er sei außer- schen hatten den Messias ermordet, doch
halb der Stadt Rom im Jahr 67 oder 68 Gott hatte ihn von den Toten auferweckt
enthauptet worden. Zur Würdigung sei- und ihm den höchsten Ehrenplatz im
nes Wirkens lese man 2. Korinther 4,8-10; Himmel gegeben. Jedes Knie muß sich
6,4-10 und 11,23-28 und unseren Kom- vor ihm beugen – dem verherrlichten
mentar zu diesen aufschlußreichen Zu- Mann zu Gottes Rechten. Es gibt keine
sammenfassungen. andere Erlösung.
In einer Umwelt voller Haß, Bitterkeit
und Habsucht verwirklichten die Jünger
Exkurs über die Botschaft der die Liebe zu allen Menschen. Sie erwi-
Apostelgeschichte derten Verfolgung mit Freundlichkeit
Nachdem wir nun die Apostelgeschichte und beteten für die, die sie angriffen. Ihre
gelesen haben, ist es sinnvoll, sich die Liebe ihren Mitchristen gegenüber ließ
Prinzipien und die Praxis der ersten ihre Feinde ausrufen: »Seht, welch eine
Christen noch einmal ins Gedächtnis zu Liebe haben diese Christen untereinan-
rufen. Welche Eigenschaften charakterisier- der!«
ten den einzelnen Gläubigen und die Ortsge- Wir erhalten den Eindruck, daß sie
meinden, zu denen sie gehörten? sehr viel für die Verbreitung des Evange-
Erstens ist es offensichtlich, daß die liums opferten. Sie sahen ihren materiel-
Christen des ersten Jahrhunderts in erster len Besitz nicht als ihr Eigentum an, son-
Linie für den Herrn Jesus lebten. Alle ihre dern als von Gott gegebenes Gut zur Ver-
Zukunftsaussichten drehten sich um waltung. Wo immer echte Not bestand,

587
Apostelgeschichte 28

wurde sofort Geld hingeschickt, um die Christus allen zu verkündigen, mit


Not zu lindern. denen sie in Kontakt kamen.
Die Waffen ihres Kampfes waren Das Ziel der Jünger war die Evangeli-
nicht fleischlich, sondern mächtig für sation der gesamten Welt. Für sie gab es
Gott zur Zerstörung von Festungen. Sie keinen Unterschied zwischen Heimat-
erkannten, daß sie nicht gegen führende und Auslandsmission. Ihr Missionsfeld
Politiker oder Priester kämpften, son- war die ganze Erde. Ihre evangelisti-
dern gegen die Geister der Bosheit in der schen Aktivitäten dienten nicht dem
Himmelswelt. So stürmten sie vorwärts, Selbstzweck, d. h. sie waren nicht darauf
gepanzert mit Glauben, Gebet und dem gerichtet, nur Menschen zu Christus zu
Wort Gottes. Ungleich dem Islam wuchs führen und sie dann sich selbst zu über-
das Christentum in seiner Anfangszeit lassen. Statt dessen sammelten sie die
nicht durch Gewaltanwendung. Bekehrten in Ortsgemeinden. Hier wur-
Diese ersten Christen lebten in den sie im Wort unterwiesen, durch
Absonderung von der Welt. Sie waren Gebet ernährt und auf andere Weise im
zwar in ihr, aber nicht von ihr. Sie hielten Glauben gestärkt. Dann wurden sie auf-
Kontakt mit Ungläubigen, soweit es um gefordert, mit anderen die Botschaft hin-
ihr Zeugnis ging, doch verrieten sie ihre auszutragen.
Treue zu Christus nicht, indem sie an den Die Errichtung von Ortsgemeinden
sündhaften Vergnügungen der Welt gab der Arbeit Dauer und war die Basis
Anteil hatten. Als Pilger und Fremde rei- der Evangelisation der Umgebung. Diese
sten sie durch ein fremdes Land und ver- Gemeinden verwalteten sich selbst, sorg-
suchten, allen zum Segen zu werden, ten selbst für ihren Unterhalt und ver-
ohne der Verunreinigung durch die Sün- größerten sich auch selbst. Jede Ver-
de teilhaftig zu werden. sammlung war von anderen Gemeinden
Engagierten sie sich in der Politik unabhängig, obwohl die Gemeinschaft
oder versuchten sie, soziale Mißstände des Geistes unter ihnen gepflegt wurde.
ihrer Zeit zu verändern? Ihre Ansicht Jede Gemeinde versuchte, weitere Ge-
war, daß alle Krankheiten und Mißbräu- meinden im Umland zu bilden. Und jede
che der Welt ihre Ursache in der sündi- wurde von den eigenen Gliedern unter-
gen Natur des Menschen haben. Um all halten. Es gab keine zentrale Kirchen-
das Böse abzustellen, mußte man an der behörde, die über die Finanzen wachte.
Wurzel anpacken. Soziale und politische Die Gemeinden waren in ersten Linie
Reformen behandeln die Symptome, geistige Häfen für Gläubige als Zentren
ohne die Krankheit selbst zu beseitigen. zur Erreichung der Verlorenen. Die
Nur das Evangelium kann hier Ursachen Gemeindeaktivitäten drehten sich um
bekämpfen, indem es die verdorbene das Brechen des Brotes, die Anbetung,
Natur des Menschen verändert. Und das Gebet, das Bibelstudium und die
deshalb ließen sie sich nicht durch noch Gemeinschaftspflege. Die Evangelisati-
so gute Verbesserungen ablenken. Sie onsveranstaltungen wurden nicht in den
predigten das Evangelium, ob es nun Gemeinden an sich gehalten, sondern
gelegen oder ungelegen war. Wo immer überall, wo sich Gelegenheit bot, die
das Evangelium aufgenommen wurde, Ungläubigen zu erreichen – in Synago-
wurden die eiternden Geschwüre geheilt gen, auf Marktplätzen, auf der Straße im
oder vermindert. Gefängnis und von Haus zu Haus.
Sie waren nicht erstaunt, wenn sie Die Gemeinden trafen sich nicht in
verfolgt wurden. Sie waren unterwiesen Gebäuden, die eigens zu diesem Zweck
worden, Verfolgung zu erwarten. Statt errichtet wurden, sondern in den Privat-
auch nur zu versuchen, sich selbst zu häusern der Gläubigen. Damit wurde die
rechtfertigen, überließen sie Gott das Gemeinde in Zeiten der Verfolgung sehr
Urteil, der gerecht richtet. Statt sich vor flexibel und konnte schnell und einfach
Prozessen zu drücken, baten sie um Mut, in den »Untergrund« gehen.

588
Apostelgeschichte 28

Zunächst gab es noch keine Konfes- Die ersten Gläubigen praktizierten


sionen. Alle Gläubigen wurden als Glie- die Taufe durch Untertauchen. Der allge-
der am Leibe Christi anerkannt und jede meine Eindruck ist, daß die Gläubigen
Ortsgemeinde war ein Teil der universel- schon kurz nach ihrer Bekehrung getauft
len Gemeinde. wurden. Am ersten Tag der Woche ver-
Auch gab es keinen Unterschied zwi- sammelten sich die Jünger, um des Herrn
schen Geistlichen und Laien. Niemand im Brechen des Brotes zu gedenken. Die-
hatte das ausschließliche Recht, in einer ser Gottesdienst war sicherlich nicht so
Versammlung zu predigen, zu lehren, zu formell wie heute. Es scheint so gewesen
taufen oder das Herrenmahl auszuteilen. zu sein, daß das Herrenmahl im Zusam-
Man erkannte an, daß jeder Gläubige menhang mit einem normalen Mahl oder
eine Gabe hat, und jeder hatte die Frei- einem Liebesmahl gefeiert wurde.
heit, diese Gabe auch zu benutzen. Die ersten Christen waren geradezu
Diejenigen, die als Apostel, Prophe- gebetssüchtig. Das Gebet war ihre Le-
ten, Evangelisten, Pastoren und Lehrer bensader, die sie mit Gott verband. Die
begabt waren, versuchten nicht, sich zu Gebete waren ernsthaft, voll Glauben
unersetzbaren Amtspersonen zu und leidenschaftlich. Die Jünger fasteten
machen. Ihre Aufgabe war es, die Heili- auch, damit all ihre Kräfte sich auf Geist-
gen im Glauben aufzuerbauen, damit liches konzentrieren konnten, ohne abge-
auch sie in der Lage wären, dem Herrn lenkt oder geschwächt zu werden.
täglich zu dienen. Die begabten Männer Nach Gebet und Fasten befahlen die
zur Zeit des Neuen Testaments wurden Propheten und Lehrer in Antiochien
für ihre Aufgabe durch eine besondere Barnabas und Saulus Gott an, damit sie
Salbung mit dem Heiligen Geist aus- ein besonderes Missionierungsprogramm
gerüstet. Das erklärt, warum ungelehrte durchführen konnten. Beide Männer hat-
und schlichte Männer solch einen Ein- ten Gott schon vorher eine Zeit lang
fluß auf ihre Zeit ausüben konnten. Sie gedient. Dieses Anbefehlen war deshalb
übten ihr Amt nicht als Beruf in dem Sin- keine offizielle Ordination, sondern die
ne aus, wie wir das heute verstehen, son- Anerkennung der führenden Männer in
dern als Laienprediger, die vom Himmel Antiochien, daß der Heilige Geist sie
her gesalbt worden sind. wirklich berufen hatte. Es war auch ein
Die Verkündigung der Botschaft wur- Ausdruck der herzlichen Gemeinschaft
de in der Apostelgeschichte oft von der Gemeinde mit dem Auftrag, den
Wundern begleitet – Zeichen und Wun- Barnabas und Saulus erfüllten.
dern und den verschiedenen Gaben des Diejenigen, die hinausgingen, wurden
Heiligen Geistes. Einerseits herrschen von ihrer Gemeinde nicht in ihrem Dienst
diese Wunder eher in der ersten Hälfte kontrolliert. Sie waren offensichtlich frei,
des Buches vor, doch ziehen sie sich bis so zu dienen, wie der Heilige Geist sie lei-
zum Schluß durch. tete. Doch sie berichteten immer wieder
Nachdem eine Ortsgemeinde einge- ihren Heimatgemeinden über den Segen,
richtet war, ernannten die Apostel oder den Gott auf ihre Arbeit legte.
ihre Stellvertreter Älteste – Männer mit In diesem Zusammenhang erkennt
einem geistlichen Aufseheramt. Diese man, daß die Gemeinde nicht ein hoch-
Männer weideten die Herde. In jeder organisierter Komplex war, sondern ein
Gemeinde gab es mehrere Älteste. lebendiges Gebilde, das sich in ständi-
Das Wort »Diakon« wird in der Apo- gem Gehorsam gegenüber der Führung
stelgeschichte nicht ausschließlich für ein des Herrn befand. Das Haupt der Ge-
kirchliches Amt benutzt. Dennoch wird meinde, Christus im Himmel, leitete die
die Verbform des Wortes verwendet, um Glieder an und sie begehrten, belehrbar,
Dienste, die für den Herrn getan wurden, flexibel und aufmerksam zu bleiben. So
zu bezeichnen, ganz gleich ob sie irdi- finden wir in der Apostelgeschichte statt
scher oder geistlicher Natur waren. eines starren Gerüstes für den Dienst

589
Apostelgeschichte 28

eine Beweglichkeit und erfrischende Eine andere bemerkenswerte Beob-


Abwesenheit von Starrheit. So gab es achtung ist, daß diejenigen, die geistliche
z. B. keine feste Regel, wie lange ein Apo- Führer waren, als solche von den Heili-
stel an einem Ort zu bleiben hatte. In gen anerkannt wurden, die mit ihnen
Thessalonich bleib Paulus etwa drei arbeiteten. Es war der Heilige Geist, der
Monate, in Ephesus aber drei Jahre. Es sie bevollmächtigte, mit Autorität zu
hing alles davon ab, wie lange er brauch- sprechen. Und der gleiche Heilige Geist
te, die Heiligen aufzuerbauen, bis sie den gab anderen Gläubigen den geistlichen
Dienst in der Gemeinde selbständig wei- Instinkt, sich dieser Autorität unterzu-
terführen konnten. ordnen.
Es gibt einige Ausleger, die der Die Jünger gehorchten bis zu einem
Ansicht sind, daß die Apostel ihre Auf- gewissen Punkt den Behörden. Dieser
merksamkeit auf die größeren Städte Punkt wurde dann überschritten, wenn
beschränkten und es den dort bestehen- ihnen verboten wurde, das Evangelium
den Gemeinden überließen, das Umland zu predigen. Dann gehorchten sie Gott
zu missionieren. Doch stimmt das? Hat- mehr als den Menschen. Wenn sie von
ten die Apostel solch eine endgültige den Behörden gestraft wurden, dann
festgelegte Strategie? Oder folgten sie ertrugen sie das, ohne sich zu wehren
einfach Tag für Tag den Anweisungen und ohne je Umsturzpläne gegen die
des Herrn – ob es um wichtige Knoten- Regierung zu hegen.
punkte ging oder nur um eine kleine Das Evangelium wurde zunächst den
Siedlung? Juden gepredigt, doch als Israel als Volk
Sicherlich ist einer der herausragen- die Botschaft ablehnte, erging die Gute
den Eindrücke, die wir in der Apostelge- Nachricht auch an die Heiden. Das
schichte sammeln, daß die ersten Chri- Gebot »erst die Juden« wurde während
sten die Leitung des Herrn erwarteten der Apostelgeschichte erfüllt. Die Juden
und davon abhingen. Sie hatten alles um heute stehen vor Gott auf derselben Stu-
Christi willen verlassen. Sie hatten nichts fe wie die Heiden – es gibt keinen Unter-
und niemanden als den Herrn selbst. So schied, denn »alle haben gesündigt und
erwarteten sie von ihm alle ihre täglichen erlangen nicht die Herrlichkeit Gottes«.
Anweisungen und wurden nicht ent- Im Dienst der ersten Christen zeigte
täuscht. sich ungeheure Vollmacht. Aus Angst
Es scheint die Praxis der umherrei- vor Gottes Mißfallen bekannten die Men-
senden Christen gewesen zu sein, zu schen sich nicht leichtfertig dazu, Chri-
zweit zu reisen. Der Partner war oft ein sten zu sein. Die Sünde kam in der Ge-
jüngerer Bruder, der so in seine Aufgabe meinde schnell ans Licht und wurde in
hineinwachsen konnte. Die Apostel hiel- einigen Fällen sogar sofort von Gott be-
ten immer nach treuen jungen Männern straft, wie z. B. bei Ananias und Saphira.
Ausschau, die sie in der Jüngerschaft Eine letzte und andauernde Überzeu-
weiterführen konnten. gung, die wir beim Studium der Apostel-
Zu bestimmten Zeiten bestritten die geschichte gewinnen ist folgende: Wenn
Diener des Herrn ihren Unterhalt selbst, wir dem Beispiel der ersten Christen im
so arbeitete Paulus z. B. zeitweilig in sei- Glauben, im Opfer, in der Hingabe und
nem Beruf als Zeltmacher. Zu anderen unermüdlichen Dienst folgen würden,
Zeiten wurden sie durch Liebesgaben dann könnte die Welt noch in unserer
von einzelnen Gläubigen oder von Generation evangelisiert werden.
Gemeinden unterstützt.

590
Anmerkungen

Anmerkungen 7) (2,25-27) Das Paradies entspricht


dem dritten Himmel (2. Kor 12,2.4).
8) (2,38) Charles C. Ryrie, The Acts of the
1) (Einleitung) J. B. Phillips, The Young Apostles, S. 24.
Church in Action, S. VII. 9) (2,39) Charles H. Spurgeon, The Trea-
2) (1,5) Zwischen der Auferstehung sury of the New Testament, Bd. 1,
Christi und der Himmelfahrt vergin- S. 530.
gen vierzig Tage. Dann waren es nur 10) (2,41) NA läßt das Wort »gern« aus.
noch 10 Tage bis Pfingsten. Doch der 11) (2,44.45) F. W. Grant, »Acts«, The
Herr sagte nicht genau, wie viele Numerical Bible: Acts to 2 Corinthians,
Tage, vielleicht um die Jünger in Bd. 6, S. 25.26.
Erwartung zu halten. 12) (2,46) Wann immer wir davon lesen,
3) (1,20) Dies ist kein genaues Zitat aus daß Paulus oder andere in den Tem-
der Bibel, wie wir sie kennen. Dafür pel gingen, ist der Vorhof des Tem-
gibt es zwei mögliche Gründe. pels gemeint, nicht das Heiligste
1. Die Autoren der Bibel zitierten oder das Allerheiligste. Nur die Prie-
oft aus der Septuaginta (LXX), ster hatten dort Zugang. Die Heiden
der griechischen Übersetzung durften nur in den äußeren Vorhof
des AT, während unsere Überset- gehen, wer sich weiter wagte, mußte
zungen nach dem hebräischen mit der Todesstrafe rechnen.
Urtext angefertigt sind. 13) (Exkurs) Im kritischen Text erscheint
2. Wie so oft nimmt sich der Geist, das Wort Gemeinde erst in 5,1.
der das AT inspirierte, die Frei- 14) (Exkurs) Merrill F. Unger, Ungers
heit, diesen Text etwas zu verän- Bibelhandbuch (CLV) S. 586.
dern, wenn er ihn im Zusammen- 15) (Exkurs) E. Stanley Jones, Christ’s
hang des Neuen Testaments Alternative to Communism, S. 78.
zitiert. 16) (Exkurs) G. H. Lang, The Churches of
4) (2,1) In der griechischen Überset- God, S. 11.
zung von Ps 133,1 (Ps 132,1 in LXX) 17) (4,1-4) Charles Haddon Spurgeon,
werden die gleichen Worte für »bei- keine weiteren Angaben verfügbar.
einander wohnen« gebraucht, wie 18) (4,13) James A. Stewart, Evangelism,
hier in der Apostelgeschichte für »an S. 95.
einem Ort«, nämlich epi to auto. 19) (4,14-18) J. H. Jowett, The Redeemed
5) (2,4) Andere Dienste des Heiligen Familiy of God, S. 137.
Geistes, die wir bei unserer Be- 20) (4,27.28) Hier ist »Knecht« statt
kehrung erfahren, sind: die Salbung »Kind« die vorzuziehende Überset-
(1. Joh 2,27), die Versiegelung zung des Wortes pais, wie in 3,13.26
(Eph 1,13) und das Unterpfand und 4,30.
(Eph 1,14). Andere Dienste des Hei- 21) (4,27.28) George Matheson, Rest By
ligen Geistes, die von unserem Ge- the River, S. 75-77.
horsam und unserer Hingabe ab- 22) (4, 32-35) Grant, »Acts«, S. 34.
hängen, sind: Leitung (Apg 8,29), 23) (4,32-35) F. E. Marsh, Fully Furnished,
Freude (1. Thess 1,6) und Vollmacht S. 74.
(Röm 15,13). 24) (4,32-35) Ryrie, Acts, S. 36.
6) (2,22-24) Die Auferstehung wird hier 25) (5,40) Ryrie ist der Ansicht, daß die
mit einer Geburt vom Tod ins Leben Schläge die Strafe für ihren Ungehor-
verglichen. Die Leiden, die mit die- sam gegen die erste Anweisung des
sem gesamten Vorgang verbunden Sanhedrin darstellen (vgl. 5. Mose
sind, sind zwar schrecklich, doch 25,2.3).
nur zeitlich. In Psalm 18,5 wird der 26) (5,41.42) Es gibt drei interessante Va-
gleiche Ausdruck mit »Bande des riationen in der handschriftlichen
Todes« übersetzt. Tradition an dieser Stelle: TR liest:

591
Anmerkungen

»für seinen Namen«, NA: »für den 37) (8,27-29) Kandake ist wahrscheinlich
Namen« und M: »für den Namen eher ein Titel, wie Pharao, als ein
Jesu«. Eigenname.
27) (6,8) Stephanus (gr. Stephanos) 38) (8,37) Sowohl in dem ältesten Hand-
bedeutet soviel wie »Girlande« oder schriften (NA) als auch in der Mehr-
»Siegeskranz«. heit der Handschriften (Mehrheits-
28) (6,10-14) Die Wortstellung könnte text) fehlt dieser Vers. Man ist der
hier andeuten, daß es ihnen mehr Ansicht, daß es sich hier um eine
um Moses als um Gottes Ehre ging! Taufformel handelt, die in Rom im
29) (7,9-19) »Das Original und die grie- frühen 2. Jahrhundert verwendet
chische Version könnten beide stim- wurde, da sie in den westlichen
men, wenn die letztere die fünf Söh- Handschriften einschl. der altlateini-
ne von Manasse und Ephraim mit- schen Übersetzung enthalten ist.
rechnet, die in Ägypten geboren Diejenigen, die die Wiedergeburt
wurden (1. Chron 7,14-27), und durch die Taufe lehren, möchten die-
wenn man einen gewissen Spiel- sen Vers offensichtlich nicht missen.
raum voraussetzt, der in keiner Wei- 39) (8,38) Daß in der ersten Zeit des
se bei solchen Listen ungewöhnlich Christentums die Taufe durch Unter-
war.« Kelly, Acts, S. 84. tauchen vollzogen wird, wird von
30) (7,9-19) Weitere Diskussion dieses den meisten katholischen Auslegern
und des vorhergehenden Problems zugegeben, von Calvin und vielen
aus bibeltreuer Sicht s. Kelly, Acts, S. anderen, die heute die Besprengung
84.85. anwenden. Es sollte jedoch fairer-
31) (7,20-43) Aus dem englischen Mate- weise erwähnt werden, daß die Wor-
rial des Bibellesebundes, 31. Mai te »in« und »aus« auch »an« und
1969. »weg von« übersetzt werden könn-
32) (8,4-8) Er ging in dem Sinne »hinab«, ten, obwohl die Elberfelder Bibel
daß Samaria tiefer liegt als Jerusalem hier recht genau übersetzt.
in den Bergen. 40) (8,40) Äthiopien ist das einzige Land,
33) (8,4-8) Homer L. Payne, »What Is A in dem es eine durchgängige Traditi-
Missionary Church?«, The Sunday on des Christentums von den frühe-
School Times, 22.02.1964, S. 129. sten Zeiten an bis heute gibt. Der
34) (8,12.13) Weil der Text hier sagt, daß Gehorsam des Philippus war viel-
Simon »glaubte,« und er Petrus bit- leicht der Schlüssel, der die Tür für
tet, für ihn zu beten (V. 24), sind eini- die Gemeinde dort aufschloß.
ge überzeugt, daß er errettet war, 41) (9,1-2) Siehe auch 19,9.23; 22,4; und
doch sehr fleischlich geblieben ist. 24,14.22.
35) (8,26) Gaza ist eine alte Philisterstadt 42) (Exkurs) Harnack, zit. bei: Leighton
an der Mittelmeerküste südwestlich Ford, The Christian Persuader, S. 46.
von Jerusalm, auf dem Weg von Isra- 43) (Exkurs) Dean Inge, zit. bei: E. Stan-
el nach Ägypten. ley Jones, Conversion, S. 219.
36) (8,27-29) »Kämmerer« müßte eigent- 44) (Exkurs) Bryan Green, ebd.
lich mit »Eunuch« übersetzt werden 45) (Exkurs) Leighton Ford, ebd. S. 46.
(s. Anmerkung Elberfelder Bibel). 46) (Exkursus) James A. Stewart, Pastu-
Männliche Diener weiblicher Poten- res of Tender Grass, S. 70.
taten waren manchmal kastriert. Eu- 47) (9,36-38) Tabitha ist Aramäisch und
nuchen durften bei den Juden keine Dorkas griechisch, was beides Gazel-
vollwertigen Bürger werden (5. Mose le bedeutet.
23,1). Sie waren auf den Status der 48) (10,1.2) Ryrie, Acts, S. 61.
»Proselyten vor dem Tor« beschränkt. 49) (10,3-8) Gerber waren gezwungen,
Doch hier wird nun ein Eunuch Voll- ihren Beruf außerhalb der Städte
mitglied der christlichen Kirche. auszuüben. Nahe am Meer zu woh-

592
Anmerkungen

nen war wegen der ordentlichen 55) (13,19-22) S. Kelly, Acts, S. 185-86, wo
Beseitigung der Tierabfälle ideal. er diese Probleme der Chronologie
50) (11,20.21) Im NT bedeutet »Helleni- und des Textes behandelt.
sten« normalerweise griechisch spre- 56) (13,48) Charles R. Erdman, The Epist-
chende Juden, doch hier kann es nur le of Paul to the Romans, S. 109.
um Griechen, d. h. Heiden gehen. 57) (14,4-7) Hier hat das Wort dieselbe
Man beachte den Zusammenhang: Bedeutung wie »Missionare«.
In Vers 19 heißt es: »redeten zu nie- 58) (14,10-12) Diese Namen stehen im
mand das Wort als allein zu Juden.« Urtext. Alte Bibelübersetzungen (z.
Dazu steht im Kontrast Vers 20: B. LU 1912) geben hier die zu ihrer
»auch zu den Griechen.« Zeit geläufigeren lateinischen Göt-
51) (11,25.26) James A. Stewart, Evange- ternamen wider, die den griechi-
lism, S. 100-101. schen entsprechen, nämlich Jupiter
52) (12,25) Sowohl der alexandrinische und Merkur.
Text (NA) als auch der Mehrheitstext 59) (14,19.20) Kelly, Acts, S. 202.
lesen hier »nach Jerusalem«. Weil 60) (14,21) Erdman, Acts, S. 109.
Barnabas und Saulus in 13,1 jedoch 61) (Exkurs) C. A. Coates, An Outline of
wieder in Antiochien sind, ist es Luke’s Gospel, S. 254.
möglich, daß einige Abschreiber die 62) (15,20) Einige Ausleger sind der An-
Lesart zu »von« korrigierten. sicht, daß die vier Verbote sich auf
53) (13,3) Donald Grey Barnhouse, The 3. Mose 17 und 18 beziehen, und
Measure of Your Faith, Buch 69, S. 21. zwar auf folgende Stellen: Verunrei-
54) (13,7.8) Bei Luther wird Sergius Pau- nigungen durch Götzen: 3. Mose
lus in Vers 7 »Landvogt« (1912) oder 1,8.9. Unzucht: nicht nur Ehebruch
Statthalter (1984) genannt, doch sein und Vielehe sind gemeint (3. Mose
genauer Titel lautete »Prokonsul«. 18,20), Homosexualität (18,22) und
Lukas zeigt, daß er ein genaues Wis- Sodomie (18,23), sondern auch die
sen über die Bezeichnungen der Äm- Heirat von Blutsverwandten (18,6-
ter im damaligen Römischen Reich 14) und sogar von angeheirateten
besitzt. So nennt er die Verwalter in Verwandten (18,15.16). Ersticktes: 3.
Philippi korrekt auf griechisch strate- Mose 17,15. Blut essen: 3. Mose 17,10-
goi, (lat. praetores, Kap. 16,20), und 12. Jüdische Gläubige würden daran
bezeichnet die Offiziere als rhab- Anstoß nehmen, wenn Heiden diese
duchoi, (lat. lictores Kap. 16,35). Die Vorschriften verletzten (Apg 15,21).
Herrscher in Thessalonich bezeich- 63) (16,6-8) Ryrie, Acts, S. 88-89.
net er richtig als »Politarchen« (Kap. 64) (16,9) James Stalker, Life of St. Paul,
17,6) während er die in Ephesus rich- S. 78.
tig davon als »Asiarchen« unter- 65) (16,19-24) A. J. Pollock, The Apostle
scheidet (19,31). Paul and His Missionary Labors, S. 56.
»Alle diese waren lokale Herrscher 66) (16,25) G. Campbell Morgan, The
in den verschiedenen Städten, der Acts of the Apostles, S. 389-90.
römische Prokonsul stand im Rang 67) (17,2.3) Einige Ausleger sind der An-
über ihnen und herrschte über eine sicht, daß Paulus etwa drei Monate
gesamte Provinz. Lukas zeigt also, in Thessalonich verbrachte, obwohl
indem er jedem in den verschiede- er in der Synagoge nur drei Sabbate
nen Städten seinen korrekten Titel lang lehrte.
zuordnet, daß er genau wußte, wo- 68) (17,16) William Arnot, The Church in
von er redete, und dieses Zeichen the House: A Series of Lessons on the
der Exaktheit sollte unser Vertrauen Acts of the Apostles, S. 379 ff.
auf ihn als zuverlässigen Historiker 69) (Exkurs) Einige Ausleger glauben,
erhöhen« - C. E. Stuart, Tracings from daß die Predigt im Vorhof des Tem-
the Acts of the Apostles, S. 272. pels stattfand.

593
Anmerkungen

70) (Exkurs) A. B. Simpson, keine weite- 79) (26,29) Morgan, Acts, S. 528.
ren Angaben verfügbar. 80) (27,13-17) Der Mehrheitstext liest
71) (18,2.3) Dinsdale T. Young, Neglected Euroklydon.
People of the Bible, S. 232-33. 81) (27,13-17) Der Mehrheitstext liest
72) (18,18) Das Partizip, das das Haare- Kauda.
schneiden bezeichnet, steht im Grie- 82) (27,21-26) A. W. Tozer, That Incredible
chischen sofort nach »Aquila« und Christian, S. 134.
sehr weit von »Paulus« entfernt. 83) (28,9.10) Es ist zumindest möglich,
73) (19,8) Stuart, Tracings, S. 285. daß Lukas seine medizinischen
74) (19,15.16) F. B. Meyer, zit. bei W. H. Kenntnisse zusammen mit der Hei-
Aldis, The Keswick Convention 1934, lungsgabe des Paulus einsetzte.
S. 60. Wenn Gott der Beruf des Arztes miß-
75) (19,23-37) Artemis, in einigen Über- fallen würde, hätte er wohl kaum
setzungen auch mit ihrem lateini- ausgerechnet einen Mediziner ge-
schen Namen Diana genannt, ist eine wählt, um 28 % des Neuen Testa-
vielbrüstige Fruchtbarkeitsgöttin. ments (Lukasevangelium und Apo-
76) (21,23.24) Grant, Acts, S. 147. stelgeschichte) zu schreiben!
77) (22,14-16) 84) (28,29) Johannes Calvin, The Acts of
78) (26,9-11) Die griechische Zeitform ist the Apostles, Bd. 2, S. 314.
hier zweifellos ein Imperfekt, das 85) (Exkurs) J. H. Jowett, Things that
eine Willensäußerung anzeigt: »Ich Matter Most, S. 248.
wollte sie zwingen . . .«

594
Bibliographie

Bibliographie Kelly, William,


An Exposition of the Acts of the Apostles,
London: D. A. Hammond, 1952.
Arnot, William, Martin, Ralph,
The Church in the House: A Series of Understanding the New Testament: Acts,
Lessons on the Acts of the Apostles, Philadelphia: A. J. Holman Company,
New York: Robert Carter & Brothers, 1978.
1873. Morgan, G. Campbell,
Blaiklock, E. M., The Acts of the Apostles,
The Acts of the Apostles, TBC, New York: Flemin H. Revell Co., 1924.
Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Rackham, R. B.,
Publishing Company, 1959. The Acts of the Apostles,
Calvin, John, London: Methuen, 1901.
The Acts of the Apostles, Ryrie, Charles Caldwell,
2 Bde. Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Acts of the Apostles,
Publishing Company, 1977. Chicago: Moody Press, 1961.
Erdman, Charles R., Stuart, C. E.,
The Acts, Tracings from the Acts of the Apostles,
Philadelphia: A. J. Holman Company, London: E. Marlborough and Company,
1978. o. J.

595
Der Brief des Paulus an die Römer
»Die Kathedrale des christlichen Glaubens.«
Frédéric Godet

Einführung der allgemeinen traditionellen Ansicht


überein – daß der Autor des Römerbrie-
fes der Heidenapostel war. In der Tat ist
I. Die einzigartige Stellung im Kanon der Irrlehrer Marcion der erste Schrift-
Der Römerbrief stand schon immer am steller, der Paulus ausdrücklich als
Anfang der Paulusbriefe, und das zu Autor nennt. Das Buch wird von sol-
Recht. Da die Apostelgeschichte mit der chen strenggläubigen Christen wie Cle-
Ankunft des Paulus in Rom endet, ist es mens von Rom, Ignatius, Justin dem
nur logisch, die Briefe mit dem Brief des Märtyrer, Polykarp, Hippolyt und
Apostels an die Gemeinde in Rom zu Irenäus zitiert. Auch das Muratorische
beginnen, der vor seinem Besuch bei den Fragment listet das Schreiben als Brief
Christen dort geschrieben wurde. Ent- des Paulus auf.
scheidender ist jedoch, daß der Römer- Die inneren Indizien für die Autor-
brief das theologisch wichtigste Buch des schaft des Paulus sind vielfältig und
Neuen Testamentes ist. Er kommt einer überzeugend. Die Theologie, das Voka-
systematischen Beschreibung der christ- bular und der Geist sind alle ausgespro-
lichen Theologie am nächsten von allen chen paulinisch. Natürlich ist die Tatsa-
Büchern des Neuen Testamentes. che, daß der Brief selbst aussagt, daß er
Geschichtlich gesehen ist der Römer- von Paulus ist (Kap. 1,1) für die Kritiker
brief das einflußreichste der biblischen kein ausreichender Beweis, doch wird
Bücher. Augustinus wurde durch das dies durch andere Anspielungen wie
Lesen von Römer 13,13.14 bekehrt (im etwa im Kapitel 15,15-20 gestützt. Am
Jahr 380 n. Chr.). Die protestantische Re- überzeugendsten ist vielleicht die große
formation begann, als Martin Luther Anzahl von parallelen Ereignissen mit
endlich die Bedeutung der Gerechtigkeit der Apostelgeschichte, die nicht den
Gottes verstand und begriff, was es heißt, Anschein haben, künstlich eingefügt zu
daß »der Gerechte aus Glauben leben sein. So weisen z. B. die Sammlung für
wird« (1517). die Heiligen, die Erwähnung von Gajus,
John Wesley erhielt die Heilsgewiß- Erastus und eine lange geplante Reise
heit, als in einer Hausversammlung einer nach Rom alle auf Paulus als Autor hin.
böhmischen Brüdergemeinde in der Tertius war sein Sekretär (16,22).
Aldersgate Street in London das Vorwort
zu Luthers Kommentar zum Römerbrief III. Datierung
vorgelesen wurde (1738). Der Römerbrief wurde nach den beiden
Johannes Calvin schrieb: »Wenn Korintherbriefen geschrieben, weil die
jemand diesen Brief versteht, wird ihm Kollekte, die Paulus gesammelt hatte,
eine Tür zum Verständnis der ganzen nun abgeschlossen worden war und er
Schrift geöffnet.« dabei war, sie zu den armen Heiligen in
Jerusalem zu bringen. Hinweise auf Ken-
II. Verfasserschaft chreä, eine der beiden Hafenstädte Ko-
Alle Häretiker und sogar extreme Bibel- rinths (Kap. 16,1) und andere Einzelhei-
kritiker stimmen einmal wenigstens mit ten lassen die meisten Ausleger für
597
Römer

Korinth als der Stadt, von der aus der sten Argumente gegen ihn vorbringt.
Brief geschrieben wurde, votieren. Weil Der Apostel beantwortet eine Frage sei-
Paulus dort nur drei Monate verweilte nes Gegners nach der anderen. Wenn sei-
(gegen Ende seiner dritten Missions- ne Darstellung dann beendet ist, hat er
reise), ehe er durch die Anschläge auf ihn alle Einwände gegen das Evangelium
vertrieben wurde, muß er den Brief wäh- der Gnade Gottes beantwortet.
rend dieser kurzen Zeitspanne geschrie- Manchmal werden die Einwände
ben haben. Daraus ergibt sich ein Datum deutlich dargestellt, manchmal werden
um das Jahr 56 n. Chr. sie jedoch nur stillschweigend angenom-
men. Doch ob ausdrücklich oder indi-
IV. Hintergrund und Thema rekt, sie drehen sich alle um das Evange-
Wie hat das Christentum Rom erreicht? lium – die Gute Nachricht von der Erlö-
Wir können nichts Sicheres darüber sung durch die Gnade im Glauben an
sagen, doch kann es sein, daß Juden aus den Herrn Jesus Christus ohne die Geset-
Rom, die sich zu Pfingsten in Jerusalem zeswerke.
bekehrt haben (s. Apg 2,10), die Gute Wir werden den Römerbrief unter elf
Nachricht in ihre Heimat mit zurück- verschiedenen Gesichtspunkten betrach-
brachten. Das war im Jahr 30 n. Chr. ten:
Paulus war noch nie in Rom gewesen, 1. Welches Thema hat der Brief?
als er seinen Brief etwa 26 Jahre später (1,1.9.15.16)
von Korinth aus schrieb. Doch er kannte 2. Was ist das Evangelium? (1,1-17)
einige der Christen dort, wie man an 3. Warum brauchen die Menschen das
Kapitel 16 erkennen kann. Die Christen Evangelium? (1,18-3,20)
dieser Zeit lebten immer wieder woan- 4. Wie kann nach dem Evangelium ein
ders, ob dies nun durch Verfolgung ver- gottloser Sünder von einem gerechten
ursacht war oder durch ihren Dienst als Gott gerechtfertigt werden? (3,21-31)
Verkündiger des Evangeliums. Die Chri- 5. Stimmt das Evangelium mit der Leh-
sten in Rom stammten sowohl aus jüdi- re des AT überein? (4,1-25)
schem wie aus heidnischem Hinter- 6. Was bewirkt die Gerechtigkeit vor
grund. Gott im Leben des Gläubigen? (5,1-
Paulus erreichte Rom erst im Jahre 21)
60 n. Chr., doch nicht auf die Weise, wie 7. Verführt die Lehre von der Erlösung
er es erwartet hatte. Er war nun Gefan- durch die Gnade im Glauben nicht zu
gener für Jesus Christus. einem sündhaften Lebensstil? (6,1-23)
Der Römerbrief ist ein Stück klassi- 8. Welches Verhältnis hat der Christ
sche Literatur. Den Ungläubigen zeigt er zum Gesetz? (7,1-25)
klar und deutlich ihre Sünde und Ver- 9. Was ermöglicht dem Christen, ein
lorenheit und den gerechten Erlösungs- geheiligtes Leben zu führen? (8,1-39)
plan Gottes. Menschen, die noch jung im 10. Werden durch das Evangelium, das
Glauben sind, lernen hier ihre Identifi- die Erlösung sowohl Juden als auch
zierung mit Christus und den Sieg durch Heiden zuspricht, nicht die Ver-
die Macht des Heiligen Geistes kennen. heißungen Gottes an sein irdisches
Reife Gläubige erfreuen sich immer wie- Volk, die Juden, aufgehoben? (9,1-
der an seinem weiten Spektrum christ- 11,36)
licher Wahrheiten: Lehre, Prophetie und 11. Wie sollten die Gerechtfertigten nun
praktische Anweisungen. in ihrem Alltag leben? (12,1 – 16,27)
Ein sehr gutes Mittel, den Römerbrief Wer diese elf Fragen anhand des
zu verstehen, ist es, ihn als Dialog zwi- Römerbriefes beantwortet hat, hat schon
schen Paulus und einem uns unbekann- solide Grundkenntnisse dieses wichtigen
ten Partner zu sehen. Während Paulus Briefes. Die Antwort auf unsere erste Fra-
sein Evangelium vorstellt, scheint er ge (Welches Thema hat der Brief?) lautet
jemanden zu hören, der die verschieden- natürlich: »Das Evangelium.« Doch in

598
Römer

den Versen 1-17 schreibt uns der Apostel 4. Es ist Gottes Kraft zur Erlösung
sechs wichtige Tatsachen über das Evan- (V. 16).
gelium: 5. Es gilt allen Menschen, sowohl Juden
1. Sein Ursprung ist Gott (V. 1). als auch Heiden (V. 16).
2. Es wurde von den prophetischen 6. Es ist nur im Glauben zu erfassen
Schriften des AT vorhergesagt (V. 2). V. 17).
3. Es handelt von der Guten Nachricht Mit diesen Aussagen als Einleitung
von Gottes Sohn, dem Herrn Jesus wollen wir uns nun an die Auslegung
Christus (V. 3). dieses Briefes begeben.

Einteilung II. Die Heilszeiten: Das Evangelium


und Israel (Kap. 9 – 11)
A. Israels Vergangenheit (Kap. 9)
I. Lehre: Das Evangelium Gottes
B. Israels Gegenwart (Kap. 10)
(Kap. 1 – 8)
C. Israels Zukunft (Kap. 11)
A. Einführung in das Evangelium
(1,1-15) III. Unsere Verantwortung: Die Auswir-
B. Definition des Evangeliums kungen des Evangeliums auf unser
(1,16.17) alltägliches Leben (Kap. 12 – 16)
C. Die universelle Bedeutung des A. In persönlicher Hingabe (12,1.2)
Evangeliums (1,18-3,20) B. Im Dienst durch geistliche Gaben
D. Bedingungen und Grundlagen (12,3-8)
des Evangeliums (3,21-31) C. In unserer Gesellschaft (12,9-21)
E. Die Übereinstimmung des Evan- D. In unserer Beziehung zur
geliums mit dem AT (Kap. 4) Regierung (13,1-7)
F. Die praktischen Auswirkungen E. In Bezug auf die Zukunft
des Evangeliums (5,1-11) (13,8-14)
G. Der Sieg des Werkes Christi über F. Im Verhältnis zu anderen
Adams Sünde (5,12-21) Gläubigen (14,1 – 15,13)
H. Der evangeliumsgemäße Weg zu G. In den Plänen des Paulus
einem geheiligten Leben (Kap. 6) (15,14-33)
I. Die Aufgabe des Gesetzes im H. In der Wertschätzung der Arbeit
Leben des Gläubigen (Kap. 7) anderer (Kap. 16)
J. Der Heilige Geist als Kraft für ein
geheiligtes Leben (Kap. 8)

599
Römer 1

Kommentar Taufe und durch seinen wundertätigen


Dienst aus. Die vollmächtigen Wunder
des Erlösers, die in der Vollmacht des
1)
I. Lehre: Das Evangelium Gottes Heiligen Geistes vollbracht wurden,
(Kap. 1 – 8) geben von der Tatsache Zeugnis, daß er
der Sohn Gottes ist. Wenn wir lesen, daß
A. Einführung in das Evangelium er »als Sohn Gottes in Kraft eingesetzt«
(1,1-15) ist »dem Geiste der Heiligkeit nach auf
1,1 Paulus stellt sich als Erkauften vor Grund der Toten-Auferstehung«, dann
(das wird durch die Bezeichnung denken wir natürlich sofort an seine
»Knecht Christi Jesu« ausgesagt), als eigene Auferstehung. Doch wörtlich
Berufenen (auf der Straße nach Damaskus heißt es hier: »durch die Auferstehung
wurde er zum »berufenen Apostel«, ein von Toten«, so daß der Apostel auch an
besonderer Gesandter des Erlösers), und die Auferweckung der Tochter des
als »Ausgesonderter« (auserwählt, um Jairus, des Sohnes der Witwe zu Nain
»das Evangelium« zu den Heiden zu und des Lazarus denken könnte. Doch es
bringen [s. Apg 9,15; 13,2]). Auch wir ist kaum zweifelhaft, daß hier in erster
sind durch das kostbare Blut Christi er- Linie die Auferstehung des Herrn selbst
kauft worden, aufgerufen, Zeugnis von gemeint ist.
seiner Erlösungsmacht zu geben und Wenn wir sagen, daß Jesus »der Sohn
ausgesondert, die Gute Nachricht überall Gottes« ist, dann meinen wir, daß er auf
zu verkündigen, wo wir hinkommen. eine Art Sohn ist, wie niemand anders
1,2 Damit die jüdischen Leser des das sein kann. Gott hat viele Söhne. Alle
Paulus nun nicht meinen, daß das Evan- Gläubigen sind seine Söhne (Gal 4,5-7).
gelium etwas völlig Neuartiges wäre Sogar die Engel werden Söhne genannt
und keinen Bezug zu ihrem geistlichen (Hiob 1,6; 2,1). Doch Jesus ist Gottes
Erbe habe, erwähnt Paulus, daß die »Pro- Sohn in einem einzigartigen Sinne. Wenn
pheten« des AT es »verheißen« haben, unser Herr von Gott als seinem Vater
sowohl in eindeutigen Aussagen (5. Mo- sprach, dann verstanden die Juden zu-
se 18,15; Jes 7,14; Hab 2,4) als auch in Bil- recht, daß er damit die Behauptung auf-
dern und Symbolen (z. B. Noahs Arche, stellte, Gott gleich zu sein (Joh 5,18). Die-
die eherne Schlange und die Opfervor- ser Sohn ist »Jesus Christus, unser Herr«.
schriften). 1,5 »Durch« diesen Jesus Christus,
1,3 Das Evangelium ist die Gute unseren Herrn, hat Paulus »Gnade« (das
Nachricht vom »Sohn« Gottes, »der aus unverdiente Wohlwollen Gottes, das ihn
der Nachkommenschaft Davids . . . dem erlöst hat) »und Apostelamt . . . empfan-
Fleische nach« stammt (d. h., nach seiner gen«. Wenn Paulus sagt, daß »wir . . .
leiblichen Abkunft). Der Ausdruck »dem Gnade und Apostelamt« empfangen
Fleische nach« beinhaltet, daß unser haben, dann benutzt er fast mit Sicher-
Herr mehr ist als ein Mensch. Die Worte heit den Autorenplural. Seine Verbin-
bedeuten: seiner Menschwerdung ent- dung zwischen »Apostelamt« und »Na-
sprechend. Wenn Christus nur ein tionen« (d. h. Heiden) weist auf ihn und
Mensch wäre, dann wäre es unnötig, die- nicht auf die anderen Apostel hin. Paulus
se seine Eigenschaft gesondert aufzu- ist zu den Menschen aller Völker »zum
führen, weil er sonst keine weiteren Glaubensgehorsam« gesandt worden –
Eigenschaften als andere Menschen auch das heißt, damit sie der Botschaft des
besäße. Doch er ist viel mehr als ein Evangeliums gehorchen, indem sie Buße
Mensch, wie der nächste Vers zeigt. tun und an den Herrn Jesus Christus
1,4 Der Herr Jesus wurde »als Sohn glauben (Apg 20,21). Das Ziel dieser
Gottes in Kraft« ausgezeichnet. Der Hei- weltweiten Verkündigung der Botschaft
lige Geist, der hier »Geist der Heiligkeit« zielt auf »seinen Namen«, ihm Ehre zu
genannt wird, zeichnete Jesus bei seiner bringen und seinen Träger zu erfreuen.

600
Römer 1

1,6 »Unter« denen, die auf das Evan- Gott, dem Vater, und von Konrad Aden-
gelium eingegangen sind, waren diejeni- auer.«
gen, die Paulus mit dem Titel »Berufene 1,8 Wann immer es dem Apostel
Jesu Christi« auszeichnet. Damit betont möglich war, begann er seine Briefe da-
er, daß Gott die Initiative zu ihrer Erret- mit, seine Leser für das zu loben, was an
tung ergriffen hat. ihnen lobenswert erscheint. (Ein gutes
1,7 Der Brief ist an alle Gläubigen »in Beispiel für uns alle!) Hier dankt er »Gott
Rom« gerichtet, und nicht, wie andere durch Jesus Christus«, den Mittler, daß
Briefe, an eine Gemeinde. Das Schlußka- der »Glaube« der römischen Christen »in
pitel des Briefes deutet an, daß es ver- der ganzen Welt verkündet wird«. Über
schiedene Versammlungen von Gläubi- ihr Zeugnis als Christen wurde im ge-
gen in der Stadt gab, und dieser Gruß gilt samten römischen Weltreich gesprochen,
ihnen allen. das damals aus der Perspektive der Men-
»Allen Geliebten Gottes«: Diese bei- schen im Bereich des Mittelmeeres die
den herrlichen Namen gelten für alle, die »ganze Welt« darstellte.
durch das kostbare Blut Christi erlöst 1,9 Weil die römischen Christen ihr
worden sind. Diese Bevorzugten werden Licht vor den Menschen scheinen ließen,
auf besondere Art von Gott geliebt und fühlte sich Paulus gedrängt, »unablässig«
sind auch berufen, für Gott aus der Welt für sie zu beten. Er ruft »Gott« zu seinem
ausgesondert zu sein, denn das ist die »Zeugen« auf, wie anhaltend er gebetet
Bedeutung des Wortes »Heilige«. habe, weil niemand anders davon wissen
Der für Paulus charakteristische konnte. Doch »Gott« weiß es – der Gott,
Gruß verbindet »Gnade« und« Frieden«. dem der Apostel mit seinem »Geist an
»Gnade« (charis) betont das griechische dem Evangelium seines Sohnes« diente.
Element, während »Frieden« (shalom) Der Dienst des Paulus geschah »mit« sei-
den traditionellen jüdischen Gruß dar- nem »Geist«. Es ging hier nicht um reli-
stellt. Diese Kombination ist hier beson- giöse Plackerei, endlose Riten oder dar-
ders angebracht, weil die Botschaft des um, mechanisch Gebete oder Litaneien
Paulus sich darum dreht, wie gläubige herunterzuleiern. Sein Dienst wurde vom
Juden und Heiden jetzt eins in Christus leidenschaftlichen, gläubigen Gebet
sind. getragen. Dieser Dienst war willig, hinge-
Die »Gnade«, die hier gemeint ist, ist geben und unermüdlich, von einem Geist
nicht die Gnade, die erlöst (die Leser des getrieben, der den Herrn Jesus über alles
Briefes waren schon gerettet), sondern liebt. Er war der flammenden Leiden-
die »Gnade«, die für das christliche Le- schaft erlegen, die Gute Nachricht von
ben und den christlichen Dienst ausrü- Gottes Sohn bekannt zu machen.
stet. »Friede« ist hier nicht so sehr der 1,10 Gepaart mit dem Dank des Pau-
Friede mit Gott (denn die Heiligen hatten lus an Gott für die Heiligen in Rom war
diesen schon, weil sie durch den Glauben sein Gebet, daß er sie in nicht allzulanger
gerechtfertigt waren), sondern der »Frie- Zeit besuchen könnte. Wie in allem sei-
de« von Gott, der in ihren Herzen wohnt, nem Handeln wollte er jedoch, daß er
während sie mitten in einer turbulenten »durch den Willen Gottes« reiste.
Gesellschaft leben. »Gnade . . . und Frie- 1,11 Das dringende Verlangen des
de« kommen »von Gott, unserem Vater, Apostels war es, den Heiligen geistlich
und dem Herrn Jesus Christus«, womit weiterzuhelfen, damit sie noch mehr im
die Gleichheit des Sohnes mit dem Vater Glauben »befestigt« würden. Zweifellos
angesprochen ist. Wenn Jesus nur gibt es hier keinen Gedanken an einen
Mensch gewesen wäre, wäre es absurd, sogenannten »zweiten Segen«, der über
ihn darzustellen, wie er in gleicher Weise sie kommen sollte, noch beabsichtigte er,
wie der Vater »Gnade« und »Frieden« ihnen geistliche Gaben durch Handaufle-
schenkt. Es wäre das gleiche, als ob man gung zu vermitteln (obwohl er das im
sagen würde: »Gnade und Frieden von Falle des Timotheus getan hat, s. 2. Tim

601
Römer 1

1,6). Es ging mehr darum, ihr geistliches Vollmacht, die Gott ihm zur Verfügung
Wachstum durch den Dienst am Wort zu stellte, »zu verkündigen«. Jedoch sollte
fördern. diese Verkündigung sicherlich nicht in
1,12 Er fährt fort zu erklären, daß die- erster Linie an die Gläubigen in Rom ge-
ser Segen gegenseitig sein werde. Er richtet sein, wie dieser Vers scheinbar
würde durch ihren »Glauben . . . mitge- nahelegt, denn sie hatten die Gute Nach-
tröstet«, und sie durch den seinen. In richt ja schon angenommen. Paulus woll-
jeder erbaulichen Gemeinschaft gibt es te in erster Linie zu den unerreichten
gegenseitige geistliche Bereicherung. Heiden dieser Metropole predigen.
»Eisen wird durch Eisen geschärft, und
ein Mann schärft das Angesicht seines B. Definition des Evangeliums
Nächsten« (Spr 27,17). Man beachte die (1,16.17)
Demut und Liebenswürdigkeit des Pau- 1,16 Paulus »schämte« sich nicht, Gottes
lus – er war nicht zu hochgestellt, sich gute Botschaft in das anspruchsvolle
von anderen Heiligen helfen zu lassen. Rom zu tragen, auch wenn es sich erwie-
1,13 Er hatte sich schon »oft vorge- sen hatte, daß die Botschaft den Juden
nommen, Rom zu besuchen, doch ist er ein Ärgernis und den Griechen eine Tor-
immer »verhindert worden, vielleicht heit ist. Paulus wußte nämlich, daß das
durch dringende Aufgaben in anderen »Evangelium . . . Gottes Kraft zum Heil«
Gegenden, vielleicht aber auch direkt ist – d. h., daß es uns zeigt, wie Gott
durch die Führung des Heiligen Geistes, durch seine Macht jeden errettet, der an
vielleicht ist er aber auch von Satan seinen Sohn glaubt. Die Macht erstreckt
gehindert worden. Er wünschte sich, »ei- sich sowohl auf die Juden als auch auf
nige Frucht« unter den Heiden in Rom die Griechen.
zu bringen, »wie« er auch unter den übri- Die Reihenfolge »dem Juden zuerst
gen Nationen »Frucht« gebracht hatte. als auch dem Griechen« hat sich ge-
An dieser Stelle spricht Paulus von der schichtlich in der Zeit der Apostelge-
»Frucht« des Evangeliums, wie sich in schichte erfüllt. Wir haben zwar noch
den nächsten beiden Versen zeigt. In den immer eine nicht aufhebbare Verantwor-
Versen 11 und 12 nannte er sein Ziel, die tung gegenüber dem alten Volk Gottes,
römischen Christen im Glauben zu er- den Juden, doch wird von uns nicht
bauen. Hier ist es nun sein Verlangen, mehr verlangt, sie zu evangelisieren, ehe
Menschen in der Hauptstadt des römi- wir zu den Heiden gehen. Heute handelt
schen Reiches für Christus zu gewinnen. Gott mit Juden und Heiden auf der glei-
1,14 Jeder, der Christus hat, hat auch chen Grundlage, und Botschaft und Zeit-
die Antwort auf die größten Nöte dieser plan gelten für alle gleich.
Welt. Er hat das Medikament für die 1,17 Weil das Wort »Gerechtigkeit«
Krankheit der Sünde, den Weg, den ewi- hier zum ersten Mal im Brief erscheint,
gen Schrecken der Hölle zu entkommen werden wir an dieser Stelle kurz über
und die Garantie ewiger Glückseligkeit seine Bedeutung nachdenken. Das Wort
bei Gott. Das lädt ihm die Verantwortung wird im Neuen Testament auf drei ver-
auf, die Gute Nachricht Menschen aus schiedene Arten gebraucht, und wir wol-
allen Kulturen weiterzugeben – den len nun diese drei Arten besprechen.
»Nichtgriechen« – und Menschen aller Erstens wird das Wort »Gerechtigkeit«
Bildungsschichten – den »Weisen« und verwendet, um einen Charakterzug Got-
den »Unverständigen«. Paulus war sich tes zu beschreiben. Es beinhaltet, daß Gott
dieser Verpflichtung eindringlich be- immer recht hat und richtig, passend und
wußt, denn er sagte: »Ich . . . bin ein in Übereinstimmung mit all seinen ande-
Schuldner.« ren Charakterzügen handelt. Wenn wir
1,15 Um sich seiner Schuld zu entle- sagen, daß Gott gerecht ist, dann meinen
digen, war er »willig«, auch den Christen wir, daß in ihm keine Bosheit, Unehrlich-
»in Rom . . . das Evangelium« mit aller keit oder Ungerechtigkeit ist.

602
Römer 1

Zweitens kann mit »Gerechtigkeit« keit wird nicht aufgrund von Werken
Gottes seine Methode gemeint sein, gott- denjenigen zugesprochen, die versu-
lose Sünder zu rechtfertigen. Er kann das chen, sie sich zu verdienen. Sie wird aus-
tun und dennoch gerecht bleiben, weil schließlich aufgrund des Glaubens offen-
Jesus als das sündlose Opfer alle An- bart. Das stimmt völlig mit dem göttli-
sprüche der göttlichen Gerechtigkeit chen Beschluß von Habakuk 2,4 überein:
befriedigt hat. »Der Gerechte aber wird aus Glauben
Schließlich bezeichnet »Gerechtig- leben«, was auch verstanden werden
keit« Gottes den vollkommenen Zu- kann als: »Die durch den Glauben
stand, den Gott denen schenkt, die an Gerechtfertigten werden leben.«
seinen Sohn glauben (2. Kor 5,21). Die- In den ersten siebzehn Versen des
jenigen, die an sich nicht gerecht sind, Römerbriefes hat Paulus uns in sein The-
werden so behandelt, als wären sie ge- ma eingeführt, und kurz einige Grund-
recht, weil Gott sie in der Vollkommen- tatsachen aufgezählt. Er spricht nun die
heit Christi sieht. Die Gerechtigkeit Chri- dritte Frage an: »Warum brauchen Men-
sti wird ihnen angerechnet. schen das Evangelium?« Die Antwort
Welche Bedeutung ist nun in Vers 17 lautet kurz: »Weil sie sonst verlorenge-
gemeint? Jede von ihnen könnte hier hen.« Doch damit erheben sich vier wei-
gemeint sein, doch scheint uns der Aus- tere Fragen:
druck »Gottes Gerechtigkeit« hier beson- 1. Sind die Heiden, die noch nie das
ders auf die Rechtfertigung des Sünders Evangelium gehört haben, verloren?
durch den Glauben hinzuweisen. (1,18-32)
Gottes Gerechtigkeit wird im Evan- 2. Sind die selbstgerechten Moralisten,
gelium offenbart. Zuerst sagt uns das ob es sich um Heiden oder Juden han-
Evangelium, daß Gottes Gerechtigkeit es delt, verloren? (2,1-16)
erfordert, daß Sünde bestraft wird, und 3. Ist Gottes von alters her auserwähltes
daß die Strafe der ewige Tod ist. Doch Volk, das jüdische Volk, verloren?
dann hören wir, daß Gottes Liebe schon (2,17-3,8)
getan hat, was seine Gerechtigkeit erfor- 4. Sind alle Menschen verloren? (3,9-20)
derte. Er sandte seinen Sohn als Stellver-
treter für die Sünder in die Welt, um die C. Die universelle Bedeutung des
Strafe auf sich zu nehmen. Weil nun sei- Evangeliums (1,18-3,20)
ne gerechten Ansprüche voll erfüllt sind, 1,18 Hier haben wir nun die Antwort auf
kann Gott gerechterweise alle diejenigen die Frage »Warum brauchen Menschen
erretten, die für sich das Werk Christi in das Evangelium?« Die Antwort lautet,
Anspruch nehmen. daß sie ohne Evangelium verloren sind,
Gottes Gerechtigkeit »wird . . . aus und daß »Gottes Zorn vom Himmel her
Glauben zu Glauben . . . geoffenbart«. über alle« Bosheit »der Menschen . . .
Der Ausdruck »aus Glauben zu Glau- geoffenbart« ist, »welche die Wahrheit«
ben« kann auf mehrere Arten gedeutet auf ungerechte Weise durch ihr unge-
werden. Dabei ist es wichtig, sich daran rechtes Leben unterdrücken. Doch wie
zu erinnern, daß das griechische Wort für wird Gottes Zorn »geoffenbart«? Eine
Glauben gleichzeitig auch Treue bedeu- Antwort enthält der Zusammenhang.
ten kann: Gott überläßt die Menschen ihrer Un-
1. Von Gottes Treue zu unserem Glau- reinheit (1,24), den bösen Leidenschaften
ben, (1,26) und einem ruchlosen Denken
2. von einer Stufe des Glaubens zur (1,28). Doch gilt auch, daß Gott gelegent-
anderen oder lich in die menschliche Geschichte ein-
3. von Anfang bis zum Ende durch den bricht, um sein großes Mißfallen an der
Glauben. Sünde des Menschen zu bekunden – z. B.
Die letzte angeführte Bedeutung ist in der Flut (1. Mose 7), der Zerstörung
die wahrscheinlichste. Gottes Gerechtig- von Sodom und Gomorra (1. Mose 19)

603
Römer 1

und der Bestrafung Korachs, Datans und 1,22 Als die Menschen durch ihr
Abirams (4. Mose 16,32). selbsterworbenes Wissen immer einge-
1,19 »Sind die Heiden, die nie das bildeter wurden, verstrickten sie sich
Evangelium gehört haben, verloren?« mehr und mehr in Unwissenheit und
Paulus zeigt uns, daß sie es sind, und Torheit. Diese beiden Eigenschaften wa-
zwar nicht, weil sie nicht genug wüßten, ren von jeher charakteristisch für Men-
sondern wegen der Erkenntnis, die sie schen, die das Wissen über Gott ableh-
gewonnen haben, doch gleichzeitig nen, sie werden unheilbar eingebildet
leugnen. Denn das »von Gott« Erkenn- und gleichzeitig abgrundtief unwissend.
bare, das in der Schöpfung gesehen 1,23 Statt sich aus niederen Formen
werden kann, ist »ihnen geoffenbart«. zu entwickeln, hatten die ersten Men-
Gott hat sie nicht ohne Offenbarung schen eine hochstehende ethische Ord-
gelassen. nung. Indem sie sich weigerten, den
1,20 Seit der »Erschaffung der Welt« wahren, unendlichen, »unverweslichen
sind zwei »unsichtbare« Wesenszüge Gott« anzunehmen, ist ihre Wahrheit zu
Gottes für alle erkennbar: »seine ewige Torheit und ihre moralische Integrität zu
Kraft« und »seine Göttlichkeit«. Das Verderbtheit degeneriert. Torheit und
Wort, das Paulus hier benutzt, bedeutet Verderbtheit gehen immer mit dem Göt-
soviel wie Gott-sein. Es bezeichnet eher zendienst einher. Dieser ganze Abschnitt
seinen Charakter als seine Existenz, oder straft die Evolutionstheorie Lügen.
eher seine herrlichen Eigenschaften, als Der Mensch ist instinktiv religiös. Er
die Tatsache, daß er Gott ist. Daß er Gott muß irgendetwas haben, das er verehren
ist, wird hier vorausgesetzt. kann. Als er sich weigerte, den lebendi-
Die Argumentation hier ist deutlich: gen Gott anzunehmen, machte er sich
Die Existenz der Schöpfung verlangt seine eigenen Götter aus Holz und Stein,
nach einem Schöpfer. Ein Kunstwerk die »Menschen, . . . Vögel und . . . vier-
setzt einen Künstler voraus. Wenn man füßige und kriechende Tiere« darstellen.
zu Sonne, Mond und Sternen aufschaut, Und man darf nicht vergessen, daß der
dann kann jeder wissen, daß es einen Mensch im Laufe der Zeit immer mehr
Gott gibt. dem ähnelt, was er anbetet. Wenn seine
Die Antwort auf die Frage »Was ist Auffassung des Göttlichen degeneriert,
mit den Heiden?« ist folgende: sie sind dann wird auch seine Ethik degenerie-
»ohne Entschuldigung«. Gott hat sich ren. Wenn sein Gott ein Reptil ist, dann
ihnen in der Schöpfung geoffenbart, fühlt er sich ebenso frei, zu leben, wie es
doch sie haben auf diese Offenbarung ihm gefällt. Man beachte auch, daß ein
nicht reagiert. Deshalb werden die Men- Anhänger eines Gottes sich selbst immer
schen nicht dafür verurteilt, daß sie einen als diesem Gott unterlegen fühlt. Wenn
Erlöser ablehnen, von dem sie noch nie der Mensch im Bilde und nach dem Bilde
gehört haben, sondern weil sie nicht Gottes geschaffen ist, dann nimmt er in
ihrem Wissen von Gott entsprechend ge- diesem Fall eine tiefere Stellung als eine
lebt haben. Schlange ein!
1,21 Obwohl »sie Gott« durch seine Wenn der Mensch Götzen anbetet,
Werke »kannten, . . . verherrlichten« sie dann betet er Dämonen an. Paulus sagt
ihn doch nicht noch dankten sie ihm für ganz klar, daß die Opfer der Heiden den
alle seine Taten. Statt dessen ergaben sie Dämonen und nicht Gott dargebracht
sich der »Torheit« der Philosophie und werden (1. Kor 10,20).
der Spekulation über andere Götter, und 1,24 Dreimal wird von »Gott« gesagt,
können nun als Folge davon nicht mehr daß er den Menschen »dahingibt«. Er hat
richtig sehen oder klar denken. »Abge- »sie dahingegeben . . . in Unreinheit«
lehntes Licht ist verleugnetes Licht.« Wer (1,24), in »schändliche Leidenschaften«
nicht mehr sehen will, wird die Fähigkeit (V. 26) und in einen »verworfenen Sinn«
zu sehen verlieren. (V. 28). Mit anderen Worten, Gottes Zorn

604
Römer 1

richtete sich gegen die gesamte Persön- sind (Röm 1,32). Die Bibel spricht von
lichkeit des Menschen. der Homosexualität als schwerer Sünde,
Als Reaktion auf die Gelüste ihres wie sich in Gottes Auslöschung von
Herzens gab Gott sie der heterosexuellen Sodom und Gomorra zeigt, wo militante
Unreinheit hin – Ehebruch, Unzucht, »Schwule« einen Aufstand machten
Lüsternheit, Hurerei, Prostitution usw. (1. Mose 19,4-25).
Für sie wurde das Leben zu einer Reihe Das Evangelium bietet den Homo-
von Sex-Orgien, in denen sie »ihre Leiber sexuellen Vergebung und Reinigung an,
untereinander schänden«. wie allen Sündern, die Buße tun und an
1,25 Gott hat sie deshalb verworfen, den Herrn Jesus Christus glauben. Chri-
weil sie zuerst »die Wahrheit« um der sten, die dieser abscheulichen Sünde ver-
»Lüge« des Götzendienstes willen ver- fallen sind, können Vergebung und Wie-
worfen haben. Ein Götze ist eine Lüge, derherstellung ihres Verhältnisses zu
eine falsche Vorstellung von Gott, die Gott erfahren, wenn sie ihre Sünde be-
sich in einem Bild repräsentiert. Ein Göt- kennen und lassen. Es gibt völlige Befrei-
zendiener verehrt das Bild eines »Ge- ung von Homosexualität für alle, die
schöpfes«, und beleidigt und verunehrt bereit sind, Gottes Wort zu gehorchen. In
damit »den Schöpfer«, der doch der ewi- den meisten Fällen ist eine begleitende
gen Verherrlichung und Ehre wert ist Seelsorge und Hilfe notwendig.
und nicht der Beleidigung. Es ist wohl wahr, daß es einige Men-
1,26 Aus demselben Grunde hat schen gibt, die von Natur aus eine Nei-
»Gott sie dahingegeben in« erotische gung zur Homosexualität haben. Das
Beziehungen zu Menschen ihres eigenen sollte uns nicht erstaunen, da der gefalle-
Geschlechtes. »Frauen« wurden zu Les- ne Zustand des Menschen jede Form der
ben und kannten keine Scheu vor dem Perversion und Schlechtigkeit möglich
unnatürlichen sexuellen Verkehr. macht. Doch die Sünde besteht nicht in
1,27 »Männer« trieben Sodomie und einer Neigung, sondern darin, daß man
verkehrten damit ihre natürlichen sexu- sich dieser Neigung hingibt und die Sün-
ellen Fähigkeiten ins Gegenteil. Sie de praktiziert. Der Heilige Geist gibt die
wandten sich von der ehelichen Bezie- Kraft, der Verführung zu widerstehen
hung ab, wie sie von Gott eingesetzt und dauernden Sieg darüber zu behalten
wurde, und »sind in ihrer Wollust« zu (1. Kor 10,13). Einige Christen in Korinth
anderen Männern »entbrannt« und so- waren lebendige Beispiele dafür, daß
mit homosexuell geworden. Doch ihre Homosexuelle nicht unwiderruflich an
Sünde forderte ihren Tribut an ihren Lei- diesen Lebensstil gebunden sind
bern und Seelen. Krankheit, Schuld und (1. Kor 6,9-11).
Persönlichkeitsveränderung schlug sie 1,28 Da die Menschen sich weigern,
wie der Stachel eines Skorpions. Das ist Gott in ihrem Wissen »festzuhalten«, ob
ein Gegenbeweis gegen die Vorstellung, es als Schöpfer, Erhalter oder Erlöser ist,
daß man sündigen könne, ohne die Fol- »hat Gott sie dahingegeben in einen ver-
gen tragen zu müssen. worfenen Sinn«, damit sie sich noch
Heutzutage wird Homosexualität als einer Reihe weiterer Formen der Bosheit
eine Art Krankheit abgetan, von anderen schuldig machen. Dieser Vers gibt uns
sogar als legitimer alternativer Lebensstil tiefe Einsicht in die Ursachen, warum die
bezeichnet. Christen müssen vorsichtig Evolutionstheorie den natürlichen Men-
sein, nicht die ethischen Konzepte der schen so anspricht. Der Grund besteht
Welt zu übernehmen, sondern sich von nicht so sehr in seinem Verstand, son-
Gottes Wort leiten zu lassen. Im Alten dern in seinem Willen. Er will »Gott«
Testament wurde diese Sünde mit dem nicht »in der Erkenntnis festhalten«. Es
Tode bestraft (3. Mose 18,29; 20,13). Und ist nicht so sehr, daß die Beweise für die
hier wird von denen, die dies praktizie- Evolutionstheorie so überwältigend wä-
ren, gesagt, daß sie des Todes würdig ren, daß man gezwungen wäre, sie anzu-

605
Römer 1

nehmen. Man sucht vielmehr eine Er- Bindungen und den damit verbundenen
klärung seines Ursprungs, die Gott gänz- Verpflichtungen handeln), »unversöhn-
3)
lich ausschließt. Der Mensch weiß, daß er lich« (unbelehrbar, unnachgiebig) , »Un-
Gott moralisch verantwortlich ist, wenn barmherzige« (grausam, mitleidslos,
es ihn gibt. rachsüchtig).
1,29 Hier ist nun die schwarze Liste 1,32 Diejenigen, die die Sexualität
von weiteren Sünden, die den von Gott mißbrauchen (1,24) oder sie pervertieren
entfremdeten Menschen kennzeichnen. (1,26.27) und die die anderen aufgeführ-
Man beachte, daß ein solcher Mensch ten Sünden praktizieren (1,29-31), haben
»erfüllt« mit diesen Sünden ist, und das innere Bewußtsein, daß ihr Handeln
ihnen nicht nur gelegentlich anhängt. Er nicht nur falsch ist, sondern daß sie selbst
hat ein gutes Training in Verhaltenswei- auch »des Todes würdig sind«. Sie wis-
sen, die sich für ein menschliches Wesen sen, daß dies Gottes Urteilsspruch sein
nicht gehören: »Ungerechtigkeit« (Sünd- muß, doch sie versuchen, ihre Sünden zu
haftigkeit), »Hurerei« (LU 1912. Dazu rationalisieren oder zu legalisieren. Doch
gehören Unzucht, Ehebruch und alle an- dieses Bewußtsein hält sie nicht davon
deren Formen verbotener sexueller Akti- ab, sich diesen Formen der Gottlosigkeit
2)
vitäten) , »Bosheit« (willentlich Böses hinzugeben. Sie vereinen sich sogar mit
tun), »Habsucht« (Geldgier; die Sucht, anderen, um die Sünden zu legitimieren
immer mehr haben zu wollen), »Schlech- und fühlen sich mit ihren Mitsündern
tigkeit« (das Verlangen, andere zu schä- kameradschaftlich verbunden.
digen; giftiger Haß), »voll von Neid«
(Eifersucht auf andere), voll von »Mord«
(geplantes und ungesetzliches Töten an- Exkurs über die unerreichten Heiden
derer, entweder im Zorn oder beim Bege- Was ist nun Gottes Antwort auf die
hen eines anderen Verbrechens), voll von Frage »Sind die Heiden, die das Evange-
»Streit« (rangeln, zanken, Streitsucht), lium nie gehört haben, verloren?« Das
voll von »List« (Verrat, Intrigen und Über- Urteil über die Heiden wird durch die
listung), voll von »Tücke« (böses Blut Tatsache gesprochen, daß sie nicht nach
machen, Gehässigkeit, Feindschaft, Bit- der Erkenntnis leben, die Gott ihnen in
terkeit), der Schöpfung gegeben hat. Statt dessen
1,30 »Ohrenbläser« (schwatzsüchtige werden sie Götzendiener. Die Folge
Heimlichtuer), »Verleumder« (Läster- davon ist, daß sie sich einem Leben der
mäuler; Menschen, die anderen übel Verwahrlosung und Bosheit ergeben
nachreden), »Gottverhaßte« (oder auch haben.
Gotteshasser), »Frevler« (LU 1984. Ver- Doch man stelle sich nun vor, daß ein
ächter, beleidigend), »stolz« (hochmütig, einzelner Heide doch nach der Erkenntnis
arrogant), »Prahler« (Angeber, Wichtig- lebt, die Gott ihm gibt. Man nehme an, er
tuer), »Erfinder böser Dinge« (Erfinder verbrenne seine Götzen und suche nach
von Möglichkeiten, Schaden anzurichten dem wahren Gott. Was dann?
und von neuen Arten der Schlechtigkeit), Es gibt zu diesem Thema zwei Lehr-
»den Eltern Ungehorsame«, (Menschen, richtungen unter den evangelikalen
die sich gegen die elterliche Autorität Gläubigen.
erheben), Einige sind der Ansicht, daß Gott
1,31 »Unverständige« (Menschen dem Heiden, wenn er entsprechend sei-
ohne ethische und geistliche Unterschei- ner Erkenntnis Gottes in der Schöpfung
dungsfähigkeit, ohne Gewissen), »Treu- lebt, das Licht des Evangeliums schickt.
lose« (Menschen, die Versprechen, Ver- Kornelius wird hier als Beispiel dafür
träge, Vereinbarungen und Abkommen angeführt. Seiner Gebete und Almosen
brechen, wann immer es ihnen paßt), wurden vor Gott gedacht. Dann sandte
»ohne natürliche Liebe« (Menschen, die Gott Petrus, um ihm mitzuteilen, wie er
unter völliger Mißachtung natürlicher errettet werden könnte (Apg 11,14).

606
Römer 1 und 2

Andere sind der Meinung, daß Gott, sieht Fehler bei anderen leichter als an
wenn ein Mensch auf den wahren und sich selbst. Abstoßendes und Scheuß-
lebendigen Gott vertraut, wie er ihm in liches im Leben anderer erscheinen ihm
der Schöpfung begegnet, und dann doch im eigenen Leben durchaus erlaubt.
stirbt, ehe er das Evangelium hört, ihn Doch die Tatsache, daß er die Sünden
aufgrund des Werkes Christi auf Golga- anderer »richten« kann, zeigt, daß er den
tha errettet. Obwohl der Mensch nichts Unterschied zwischen richtig und falsch
vom Werk Christi weiß, rechnet Gott ihm kennt. Wenn er weiß, daß es falsch ist,
den Wert dieses Werkes an. Diejenigen, jemandem die Frau auszuspannen, dann
die diese Ansicht vertreten, sagen, daß weiß er auch, daß es für ihn selbst falsch
Gott auch die Menschen vor Golgatha ist, einem anderen die Frau wegzuneh-
auf diese Weise gerettet habe und auch men. Wenn deshalb jemand selbst die
immer noch geistig Behinderte und Kin- Sünde begeht, die er an anderen verur-
der rettet, ehe sie das Alter der Verant- teilt, dann ist er selbst ohne Entschul-
wortlichkeit erreicht haben. digung.
Die erste Ansicht läßt sich durch den Die Sünden kultivierter Menschen
Fall des Kornelius untermauern. Die sind im wesentlichen dieselben wie die
zweite Ansicht kann keine Schriftbewei- der Heiden. Obwohl ein Moralist nun
se für die Zeit nach dem Tod und der einwenden könnte, er habe nicht jede
Auferstehung Christi nennen (unser Sünde, die sich in der Bibel findet, began-
gegenwärtiges Zeitalter) und schwächt gen, sollte er drei Tatsachen beachten:
vielleicht auch die Notwendigkeit inten- 1. Er ist in der Lage, alle diese Sünden
siver Missionstätigkeit ab. zu tun.
2. Indem er ein Gebot bricht, ist er aller
Paulus hat gezeigt, daß die Heiden schuldig geworden (Jak 2,10).
verloren sind und das Evangelium brau- 3. Er hat Gedankensünden begangen,
chen. Nun wendet er sich an eine zweite die er zwar nie in die Tat umgesetzt
Klasse von Menschen, deren genaue haben mag, die jedoch nach der Bibel
Eigenschaften nicht ganz sicher sind. Wir ebenso schlimm sind. Jesus lehrte,
glauben, daß der Apostel hier zu den daß z. B. der lüsterne Blick dem Ehe-
selbstgerechten Moralisten redet, egal ob bruch gleichzusetzen ist (Matth 5,28).
es sich um Juden oder Heiden handelt. 2,2 Der selbstgefällige Moralist
Der erste Vers zeigt, daß diese Menschen braucht Aufklärung über das »Gericht
durch die Art selbstgerechte Moralisten Gottes«. Der Apostel gibt diese Auf-
sind, in der sie das Verhalten anderer ver- klärung in den Versen 2-16. Der erste
urteilen (und doch die gleichen Sünden wichtige Punkt lautet, »daß das Gericht
selbst begehen). Die Verse 9, 10, 12 und Gottes der Wahrheit entsprechend . . .
15 zeigen, daß Paulus sowohl zu den ergeht«. Es basiert nicht auf unvollstän-
Juden als auch zu den Heiden spricht. digen, ungenauen oder durch Umstände
Deshalb lautet nun die Frage: Sind selbst- beeinflußten Indizien, sondern auf der
gerechte Moralisten, gleich ob Juden oder Wahrheit, der ganzen Wahrheit und
Heiden, auch verloren? Und die Antwort nichts als der Wahrheit.
lautet, wie wir sehen werden: »Ja, auch 2,3 Zweitens kann niemand dem
sie sind verloren!« »Gericht Gottes entfliehen«, der andere
2,1 Diese zweite Klasse besteht aus für die gleichen Sünden verurteilt, die er
denjenigen, die auf die Heiden hinun- selbst tut. Seine Fähigkeit, andere zu
terblicken und sich selbst für zivilisier- richten, spricht ihn nicht von eigener
ter, gebildeter und vornehmer halten. Sie Schuld frei, sondern vergrößert die eige-
verurteilen die Heiden für ihre Rohheit, ne Schuld nur noch.
doch sind sie selbst genauso schuldig, Dem »Gericht Gottes« kann keiner
wenn auch vielleicht auf eine eher ver- entfliehen, es sei denn, er tue Buße und
feinerte Weise. Der gefallene Mensch empfange Vergebung.

607
Römer 2

2,4 Als nächstes erfahren wir, daß das Gottes jeden »nach seinen Werken« behan-
Gericht Gottes manchmal aufgeschoben delt. Jemand kann sich großer persönli-
wird. Dieser Aufschub ist ein Zeichen der cher Redlichkeit rühmen. Er kann sich
»Gütigkeit und Geduld und Langmut« auf seine Rasse oder seine nationale Her-
Gottes. »Gütigkeit« bedeutet, daß Gott kunft verlassen. Er kann vielleicht an-
dem Sünder wohlgesonnen ist, jedoch führen, daß es echte Männer Gottes unter
nicht seinen Sünden. »Geduld« be- seinen Vorfahren gibt. Doch er wird nach
schreibt die Tatsache, daß Gott die Be- seinem eigenen Verhalten gerichtet werden,
strafung der Bosheit und Rebellion des nicht durch die anderen Faktoren. Seine
Menschen aufschiebt. Seine »Langmut« Werke sind dann entscheidend.
ist seine erstaunliche Zurückhaltung Wenn wir nur die Verse 6-11 betrach-
trotz dauernder Provokationen seitens ten würden, dann könnte man leicht fol-
des Menschen. gern, daß sie die Erlösung durch Werke
»Die Güte Gottes«, die sich in seiner lehren. Sie sagen scheinbar, daß diejeni-
Vorsehung, dem Schutz und der Be- gen, die gute Werke tun, sich dadurch
wahrung zeigt, hat das Ziel, den Men- das ewige Leben verdienen können.
schen »zur Buße« zu leiten. Er will nicht, Doch sollte klar sein, daß der Ab-
»daß irgendwelche verloren gehen, son- schnitt das nicht bedeuten kann, weil es
dern daß alle zur Buße kommen« (2. Petr dem durchgängigen Zeugnis der übrigen
3,9). Schrift widerspricht, die eindeutig sagt,
»Buße« bedeutet Umkehr, so daß daß die Erlösung aus Glauben ohne Wer-
man der Sünde den Rücken kehrt und ke geschieht. Chafer weist darauf hin,
sich in die entgegengesetzte Richtung be- daß über 150 Stellen im Neuen Testament
wegt. »Sie ist ein Sinneswandel, der eine aussagen, daß die Erlösung ausschließ-
5)
Veränderung der Einstellung zur Folge lich auf dem Glauben beruht. Eine ein-
hat, die sich dann in geänderten Hand- zelne Stelle wird diesem so überwälti-
4)
lungsweisen ausdrückt.« Sie beweist, genden Zeugnis nicht widersprechen,
daß ein Mensch sich gegen sich selbst wenn sie recht verstanden wird.
und seine Sünde auf die Seite Gottes Wie haben wir diesen Abschnitt nun
geschlagen hat. Es geht um mehr als nur zu verstehen? Zunächst müssen wir ver-
die intellektuelle Anerkennung der eige- stehen, daß man vor seiner Wiedergeburt
nen Schuld, sondern betrifft auch das keine guten Werke tun kann. Als die
Gewissen, wie John Newton geschrieben Menschen Jesus fragten: »Was sollen wir
hat: »Mein Gewissen fühlte und gestand tun, damit wir die Werke Gottes wir-
die Schuld ein.« ken?« antwortete Jesus: »Dies ist das
2,5 Das vierte, das wir über das Urteil Werk Gottes, daß ihr an den glaubt, den
Gottes lernen, ist, daß es entsprechend der er gesandt hat« (Joh 6,28.29). So ist das
Menge an Schuld gefällt wird. Paulus stellt erste gute Werk, das ein Mensch tun
hier verhärtete und unbußfertige Sünder kann, an den Herrn Jesus Christus zu
dar, die sich selbst Strafen »aufhäufen«, glauben, und wir müssen uns ständig
als wenn sie sich ein Vermögen an Gold klar darüber sein, daß Glaube kein ver-
und Silber sammeln würden. Doch dienstvolles Werk ist, durch das man sich
welch ein Vermögen wird das sein, wenn die Erlösung verdienen könnte. Wenn
sich Gottes »Zorn« am Tag des »Gerich- also die Ungeretteten nach ihren Werken
tes« am großen weißen Thron offenbart gerichtet werden, dann werden sie nichts
(Offb 20,11-15)! An diesem Tag des »ge- bringen können, das als Beweis ihrer Un-
rechten Gerichtes Gottes« wird erkannt schuld irgendeinen Wert hätte. Alle ihre
werden, daß Gott absolut »gerecht« ist und sogenannte Gerechtigkeit wird wie
weder Vorurteile noch Ungerechtigkeit schmutzige Lumpen sein (Jes 64,6). Sie
irgendwelcher Art kennt. werden für die Sünde verurteilt werden,
2,6 In den nächsten fünf Versen erin- nicht an Jesus als ihren Herrn geglaubt
nert uns Paulus daran, daß das Gericht zu haben (Joh 3,18). Darüber hinaus wer-

608
Römer 2

den ihre Werke ihr Strafmaß bestimmen Gott wird all denen »ewiges Leben«
(Lk 12,47.48). schenken, die diesen Beweis eines Bekeh-
Wenn Gläubige nach ihren Werken ge- rungserlebnisses bringen. Vom »ewigen
richtet werden, was wird dann das Er- Leben« wird im Neuen Testament auf
gebnis sein? Sicherlich können sie kein verschiedene Weise gesprochen. Es ist
gutes Werk vorweisen, durch das sie sich sofort unser Eigentum, das wir empfan-
die Erlösung verdienen können. Alle ihre gen, sobald wir uns bekehren (Joh 5,24).
Werke vor der Erlösung waren sündig. Es ist ein zukünftiges Eigentum, das wir
Doch das Blut Christi hat ihre Vergangen- erhalten, wenn wir unsere Herrlichkeits-
heit ausgelöscht. Nun kann Gott gegen leiber empfangen (hier und Röm 6,22).
sie keine Anklage mehr finden, für die er Obwohl diese Gabe durch den Glauben
sie zur Hölle verurteilen müßte. Sobald empfangen wird, wird sie manchmal
sie gerettet sind, werden sie gute Werke auch mit einem gehorsamen Leben
tun – Werke, die nicht notwendigerweise gleichgesetzt (Mk 10,30). Alle Gläubigen
in den Augen der Welt gute Werke sind, werden das »ewige Leben« geschenkt
doch in Gottes Augen sehr wohl. Ihre bekommen, doch einige werden es bes-
guten Werke sind die Folge ihrer Erlö- ser genießen können als andere. Es be-
sung, und nicht die Ursache dafür. Vor deutet mehr als eine zeitlich nicht be-
dem Richterstuhl Christi werden ihre grenzte Existenz, nämlich eine bestimm-
Werke beurteilt werden und sie werden te Lebensqualität, das »Leben in Über-
für alle treuen Dienste belohnt werden. fluß«, das der Erlöser in Johannes 10,10
Doch wir müssen uns ständig daran verheißen hat. Es ist das Leben Christi
erinnern, daß dieser Abschnitt sich nicht selbst (Kol 1,27).
mit den Gläubigen beschäftigt, sondern 2,8 »Denen jedoch, die von Selbst-
nur mit den Ungläubigen. sucht bestimmt und der Wahrheit unge-
2,7 Paulus sagt, wenn er erklärt, daß horsam sind«, jedoch »der Ungerechtig-
das Gericht nach den Werken stattfinden keit . . . gehorsam«, die werden mit
wird, daß Gott »denen, die mit Ausdauer »Zorn und Grimm« belohnt werden. Sie
in gutem Werk Herrlichkeit und Ehre sind »der Wahrheit ungehorsam« und
und Unverweslichkeit suchen, ewiges haben nie auf den Ruf des Evangeliums
Leben« geben werde. Wie schon erklärt, reagiert. Statt dessen haben sie sich die
heißt das nicht, daß diese Menschen Ungerechtigkeit als Herrin erwählt. Ihr
durch »Ausdauer in gutem Werk« erret- Leben wird durch Streit, Zank und Unge-
tet werden könnten. Das wäre ein ande- horsam gekennzeichnet – ein sicherer
res Evangelium. Niemand will von Beweis, daß sie nicht erlöst sind.
Natur aus ein solches Leben führen und 2,9 Nun wiederholt der Apostel Got-
keiner kann es ohne göttliche Kraft tes Urteilsspruch über die zwei Arten
führen. Jeder, der dieser Beschreibung von Werken und die, die diese Werke
entspricht, ist schon durch die Gnade vollbracht haben. Diesmal erwähnt er sie
durch den Glauben errettet worden. Die nur in umgekehrter Reihenfolge.
Tatsache, daß er nach »Herrlichkeit und Das Urteil wird »Drangsal und
Ehre und Unverweslichkeit« sucht, ist Angst« für jeden bedeuten, »der das Böse
bereits ein Beweis, daß er wiedergeboren vollbringt«. Auch hier müssen wir wie-
ist. Seine ganze Lebensführung zeigt, der betonen, daß diese bösen Werke ein
daß er bekehrt ist. böses, ungläubiges Herz anzeigen. Die
Er strebt nach der Herrlichkeit des Werke sind der äußere Ausdruck der
Himmels, der »Ehre«, die allein Gott gibt Beziehung des jeweiligen Menschen zum
(Joh 5,44) und der »Unverweslichkeit«, Herrn.
der Eigenschaft des Auferstehungsleibes Der Ausdruck »sowohl des Juden
(1. Kor 15,53.54), dem himmlischen Erbe, zuerst als auch des Griechen« zeigt, daß
das unvergänglich, unbefleckt und un- das Gericht Gottes auch nach den Vorrechten
verwelklich ist (1. Petr 1,4). oder der Erkenntnis gehalten wird, die man

609
Römer 2

empfangen hat. Die Juden erhielten »zu- rung geschenkt worden ist. Wenn er
erst« Gottes Vorrecht, von Gott als sein nicht entsprechend dieser Offenbarung
irdisches Volk auserwählt zu werden, gelebt hat, wird er »verlorengehen«.
also werden sie auch »zuerst« zur Ver- Wer »unter dem Gesetz gesündigt«
antwortung gezogen. Dieser Aspekt des hat, wird »durch das Gesetz« gerichtet
Gerichtes Gottes wird in den Versen 12- werden, und wenn er ihm nicht gehorcht
16 weiter ausgeführt. hat, wird er auch verlorengehen. Das
2,10 Das Urteil wird lauten: »Herr- Gesetz erfordert vollkommenen Gehor-
lichkeit und Ehre und Frieden jedem«, ob sam.
Grieche oder Jude, »der das Gute wirkt«. 2,13 Bloßer Besitz des Gesetzes reicht
Und man darf nicht vergessen, daß nie- nicht aus. Das Gesetz verlangt vollkom-
mand für Gott etwas Gutes tun kann, es menen und ständigen Gehorsam. Nie-
sei denn, er habe sein Leben dem Herrn mand wird als gerecht angesehen, nur
Jesus Christus anvertraut und glaube weil er weiß, was im Gesetz steht. Der
ihm. einzig vorstellbare Weg der Rechtferti-
Der Ausdruck »sowohl dem Juden gung unter dem Gesetz wäre, es in seiner
zuerst als auch dem Griechen« kann Ganzheit zu halten. Da jedoch alle Men-
nicht bedeuten, daß Gott die Juden vor- schen Sünder sind, ist es ihnen unmög-
ziehen würde, weil der nächste Vers lich, das zu tun. Deshalb beschreibt die-
schon aussagt, daß Gottes Gericht unpar- ser Vers eher eine Idealvorstellung als
teiisch ist. Deshalb muß sich dieser Aus- etwas, das dem Menschen möglich wäre.
druck auf die historische Reihenfolge Das Neue Testament lehrt ausdrück-
beziehen, in der das Evangelium in die lich, daß es für den Menschen unmöglich
Welt gesandt wurde. Es wurde zuerst ist, durch Befolgen des Gesetzes gerettet
den Juden verkündigt, und die ersten zu werden (s. Apg 13,39; Röm 3,20;
Gläubigen waren Juden (Kap. 1,16). Gal 2,16.21; 3,11). Es war nie Gottes Ab-
2,11 Eine weitere Wahrheit über das sicht, daß das Gesetz jemanden erretten
Gericht lautet, daß Gott ohne »Ansehen der sollte. Selbst, wenn ein Mensch das Ge-
Person« richtet. In irdischen Gerichts- setz von heute an in seiner Gesamtheit
verhandlungen mag dem gutaussehen- halten könnte, wäre er noch immer nicht
den, reichen und einflußreichen Mann gerechtfertigt, weil Gott auch seine Ver-
der Vorzug gegeben werden, doch Gott gangenheit berücksichtigen muß. Wenn
ist streng unparteiisch. Er ist durch also Vers 13 sagt, daß »die Täter des
nichts zu beeinflussen. Gesetzes . . . gerechtfertigt werden«,
2,12 Wie schon oben erwähnt, er- dann müssen wir hier verstehen, daß das
klären die Verse 12-16 die Tatsache etwas Gesetz Gehorsam fordert, und wenn
näher, daß Gott entsprechend der Er- irgendjemand vom Tag seiner Geburt an
kenntnis eines Menschen richtet. Paulus vollkommen gehorsam wäre, wäre er
hat zwei verschiedene Arten von Men- gerechtfertigt. Doch es ist eine harte Tat-
schen im Blick: Diejenigen ohne Gesetz sache, daß dies niemandem gelingt.
(die Heiden) und diejenigen unter dem 2,14 Die Verse 14 und 15 stellen einen
Gesetz (die Juden). Das schließt jeden Einschub dar, der sich auf Vers 12 zu-
ein, außer diejenigen, die zur Gemeinde rückbezieht, wo wir erfahren haben, daß
Gottes gehören (s. 1. Kor 10,32, wo die Heiden, die ohne das Gesetz sündigen,
Menschheit in diese drei Klassen unter- auch ohne es verloren gehen werden.
teilt wird). Nun erklärt Paulus, daß den Heiden das
Wer »ohne Gesetz gesündigt« hat, Gesetz zwar nicht gegeben ist, daß sie
wird »auch ohne Gesetz verlorengehen«. jedoch ein inneres Wissen um Gut und
Das heißt nicht, daß er »ohne Gesetz« Böse haben. Sie wissen instinktiv, daß es
gerichtet würde, sondern »ohne Gesetz falsch ist zu lügen, zu stehlen, Ehebruch
verlorengehen« wird. Er wird nach dem zu begehen und zu morden. Das einzige
gerichtet, was ihm von Gott an Offenba- Gebot, das sie nicht durch Intuition ken-

610
Römer 2

nen können, ist das Sabbatgebot, das ben wurde, auch verloren? Und natürlich
jedoch nur ein Ritualgesetz ist. lautet die Antwort: »Auch sie sind verlo-
Es läuft also darauf hinaus, daß die ren!«
»Nationen, die kein Gesetz haben, sich Zweifellos glaubten viele Juden, daß
selbst ein Gesetz« sind. Sie bilden sich ihnen Gottes Gericht nichts anhaben
durch ihren moralischen Instinkt ihre könnte. Sie dachten, daß Gott »einen
eigenen Maßstäbe von Gut und Böse. Juden« niemals zur Hölle senden würde.
2,15 »Sie beweisen, daß das Werk Die Heiden dagegen waren für sie Nah-
ihres Gesetzes in ihren Herzen geschrie- rung für die höllischen Flammen. Paulus
ben ist.« Nicht das Gesetz ist in ihre Her- muß nun dieses Vorurteil zerstören, in-
zen geschrieben, sondern »das Werk des dem er zeigt, daß Heiden manchmal Gott
Gesetzes«. Das Werk, welches das Gesetz näher stehen können als Juden.
eigentlich im Leben der Israeliten voll- Als erstes geht er die Dinge durch, die
bringen sollte, wird nun in gewissem der Jude sich Gott gegenüber zugute
Maße im Leben von Heiden erkennbar. hielt. Er war ein Jude und damit ein Mit-
Die Tatsache, daß sie wissen, daß es rich- glied des irdischen Volkes, das Gott sich
tig ist, z. B. seine Eltern zu ehren, zeigt, erwählt hat. Er verließ sich »auf das
daß »das Werk des Gesetzes in ihren Her- Gesetz«, das niemals dazu gemacht war,
zen geschrieben ist«. Sie wissen auch, daß man sich darauf verlassen kann, son-
daß gewisse Dinge grundsätzlich falsch dern dazu, das Gewissen zu wecken und
sind. »Ihr Gewissen«, das als Maßstab uns das Bewußtsein unserer Sündhaftig-
dient, bestätigt dieses instinktive Wissen. keit zu vermitteln. Er rühmte sich »Got-
Und ihre Gedanken entscheiden ständig tes«, des einzigen wahren Gottes, der ein
darüber, ob ihre Handlungen richtig einzigartiges Bündnis mit dem Volk Isra-
oder falsch sind, sie klagen »sich unter- el eingegangen war.
einander« an oder »entschuldigen« sich 2,18 Er kannte Gottes »Willen«, weil
gegenseitig, sie erlauben oder verbieten. in der Schrift dieser allgemeine Wille
2,16 Dieser Vers ist eine Fortführung Gottes niedergelegt ist. Er hieß das,
der Gedanken in Vers 12. Er legt fest, »worauf es ankommt«, gut, weil das
wann die Menschen ohne und die Men- »Gesetz« ihn lehrte, wie man moralische
schen unter dem Gesetz gerichtet wer- Werte beurteilt.
den. Und dabei lehrt uns dieser Vers 2,19 Er war stolz darauf, den mora-
noch eine letzte Wahrheit über das lisch und geistlich »Blinden . . . ein Lei-
Gericht Gottes – nämlich daß es auch »das ter« zu sein, »ein Licht derer«, die in der
Verborgene der Menschen« und nicht nur »Finsternis« der Unwissenheit leben.
ihre bekannten Sünden berücksichtigen wird. 2,20 Er fühlte sich berechtigt, die
Die Sünde, die gegenwärtig noch verbor- »Törichten« oder Ungelehrten zu korri-
gen ist, wird zum offenen Skandal beim gieren und »Unmündige« zu lehren, weil
Gericht am Großen Weißen Thron. »Jesus ihm das »Gesetz« die Grundlagen der
Christus« wird dann der Richter sein, Erkenntnis und Wahrheit gegeben hat.
weil der Vater ihm das Gericht überge- 2,21 Doch das, worauf der Jude stolz
ben hat (Joh 5,22). Wenn Paulus hinzu- war, hat sein Leben nicht verändert. Es
fügt: »Nach meinem Evangelium«, dann ging ihm nur um rassistischen Stolz, um
meint er: »So lehrt mein Evangelium.« Religion und Wissen ohne praktische
»Mein Evangelium« bedeutet, das Evan- Veränderung der Moral. Er lehrte andere,
gelium, das Paulus predigt, und es war doch sein Herz blieb von den Lehren
dasselbe, das auch die anderen Apostel unberührt. Er predigte gegen das »Steh-
verkündigten. len«, doch er lebte nicht entsprechend.
2,17 Der Apostel hat noch eine dritte 2,22 Wenn er »Ehebruch« verbot,
Gruppe von Menschen zu behandeln, dann ging das nach dem Motto: »Tue,
deshalb wendet er sich nun der Frage zu: was ich sage, nicht, was du bei mir
Sind die Juden, denen das Gesetz gege- siehst.« Während er »Götzen für Greuel

611
Römer 2 und 3

hielt« und verabscheute, zögerte er doch dann ist »sein Unbeschnittensein« vor
nicht, »Tempelraub« zu begehen, viel- Gott annehmbarer als die Beschneidung
leicht, indem er wirklich heidnische Tem- eines jüdischen Übeltäters. In solch
pel plünderte. einem Fall ist das Herz eines Heiden
2,23 Er rühmte sich, »das Gesetz« zu beschnitten, und darum geht es letztlich.
besitzen, doch entehrte er Gott, der es 2,27 Das bessere Verhalten des Hei-
gegeben hat, indem er es übertrat. den verurteilt den Juden, der »mit Buch-
2,24 Diese Verbindung von hohem staben und Beschneidung« das Gesetz
Anspruch und schlechter Lebensführung nicht hält oder ein »beschnittenes« Leben
ließ die »Nationen« den »Namen Gottes« führt, nämlich ein Leben in Absonde-
lästern. Sie maßen den Herren, wie es rung und Heiligung.
Menschen immer tun, an denen, die be- 2,28 Nach Gottes Ansicht ist ein ech-
kannten, ihm nachzufolgen. Das galt zur ter »Jude« nicht nur ein Mensch, in des-
Zeit Jesajas (Jes 52,5) und gilt auch noch sen Adern Abrahams Blut fließt oder der
heute. Jeder von uns sollte sich fragen: das Zeichen der Beschneidung an seinem
Wenn die Menschen von Jesus Christus Leib trägt. Man kann beides haben und
nur das sehen könnten, was bei dir von moralisch zum Abschaum der Erde ge-
ihm sichtbar geworden ist, (setzen Sie hören. Der Herr läßt sich von äußeren
hier Ihren Namen ein), was sehen sie rassischen oder religiösen Zeichen nicht
dann? beeinflussen, er sucht nach innerer Auf-
2,25 Zusätzlich zum Gesetz war der richtigkeit und Reinheit.
Jude stolz auf die rituelle »Beschnei- 2,29 Ein echter »Jude« ist jemand, der
dung«. Dies ist ein kleiner operativer nicht nur ein Nachkomme Abrahams ist,
Eingriff, der an der Vorhaut der männli- sondern auch ein gottesfürchtiges Leben
chen Juden vorgenommen wird. Sie wur- führt. Dieser Vers lehrt nicht, daß alle
de von Gott als Zeichen seines Bundes Gläubigen Juden sind, noch, daß die Ge-
mit Abraham eingesetzt (1. Mose 17,9- meinde das Israel Gottes ist. Paulus
14). Sie drückte die Trennung des Volkes spricht hier von denen, die von jüdischen
von der Welt und seine Hinkehrung zu Eltern geboren sind, und beharrt darauf,
Gott aus. Nach einer Weile wurden die daß die schlichte Tatsache der Geburt
Juden so stolz auf die Beschneidung, daß und die Einhaltung der Beschneidung
sie die Heiden verächtlich »Unbeschnit- nicht ausreichen. Es geht um eine innere
tene« nannten. Haltung.
Hier verbindet Paulus die »Beschnei- Echte »Beschneidung« ist eine Sache
dung« mit dem Gesetz des Mose und »des Herzens« – nicht eine wörtlich ge-
weist darauf hin, daß sie nur dann Gül- meinte Operation am Leib, sondern die
tigkeit hatte, wenn gleichzeitig ein ge- geistliche Realität eines Eingriffes an der
horsames Leben geführt wurde. Gott ist alten, unerlösten Natur des Menschen.
nicht an Ritualen interessiert, er gibt sich Diejenigen, die so das äußere Zeichen
mit äußeren Zeremonien nicht zufrieden, und die innere Gnade besitzen, erringen
solange sie nicht von innerer Heiligung Gottes »Lob«, wenn auch nicht immer
begleitet sind. Deshalb könnte ein Jude, das der Menschen. In diesem letzten Vers
der sich nicht ans Gesetz hält, genauso- ist ein Wortspiel enthalten, das im Deut-
gut unbeschnitten bleiben. schen nicht einsichtig ist. Das Wort
Wenn der Apostel hier von Menschen »Jude« kommt von »Juda«, was soviel
spricht, die das Gesetz halten oder tun, wie »Lob« bedeutet. Ein wirklicher
dann dürfen wir die Worte nicht absolut »Jude« ist jemand, dessen Charakter so
verstehen. gestaltet ist, daß er »von Gott . . . Lob«
2,26 Wenn sich also ein Heide an die empfängt.
ethischen Vorstellungen hält, wie sie im 3,1 Paulus fährt in den ersten acht
»Gesetz« vorgeschrieben sind, auch Versen dieses Kapitels mit dem Thema
wenn er nicht unter dem Gesetz steht, der Schuld der Juden fort. Hier erscheint

612
Römer 3

nun ein Jude, der Einwände vorzubrin- Möglichkeit gäbe, daß Gott ungerecht
gen hat und Paulus herausfordert. Das sein könnte, wie sollte er dann noch
Gespräch läuft folgendermaßen: Frage: berechtigt sein, »die Welt« zu »richten«?
Nehmen wir einmal an, alles, was du in Und doch sind wir uns alle einig, daß er
Kapitel 2,17-29 gesagt hast, sei wahr – die Welt richten wird.
was ist dann noch der Vorteil »des 3,7 Frage: Doch wenn ich durch meine
Juden« oder welchen »Nutzen« hat dann Sünde Gott Ehre einbringe, wenn »meine
die »Beschneidung«? Lüge« die »Wahrheit Gottes« rechtfertigt,
3,2 Antwort: Die Juden haben viele wenn er den Zorn des Menschen dazu
Vorrechte gehabt. Das wichtigste war, benutzt, sich Ruhm zu erwerben, wie
daß »ihnen die Aussprüche Gottes an- kann er dann mich auch noch »als Sün-
vertraut worden« sind. Die alttestament- der« anklagen?
lichen Schriften wurden den Juden gege- 3,8 Warum wäre es unlogisch zu
ben, damit sie sie abschrieben und be- sagen – Antwort: Laß mich dich hier
wahrten, doch wie sind die Juden mit unterbrechen, um zu sagen, daß es wirk-
ihrem großen Vorrecht umgegangen? Im lich »einige« gibt, die uns Christen nach-
ganzen gesehen haben sie eine er- sagen, dieses Argument zu benutzen,
schreckende Glaubenslosigkeit bewie- doch das ist böse Nachrede. Frage: War-
sen. um wäre es unlogisch zu sagen: »Laßt
3,3 Frage: Zugegeben, daß nicht alle uns das Böse tun, damit das Gute kom-
Juden geglaubt haben, doch bedeutet me?« Antwort: Alles, was ich dazu sagen
das, daß Gott seine Verheißungen zu- kann, ist, daß das »Gericht« über die
rücknimmt? Schließlich hat er Israel als Menschen, die so etwas behaupten,
sein Volk erwählt und mit ihnen eindeu- »gerecht« ist.
tige Bünde geschlossen. Kann die »Un- (Wirklich wird dieses letzte Argu-
treue« einiger Gott veranlassen, sein ment, so dumm es auch aussieht, immer
Wort zu brechen? wieder gegen das Evangelium vorge-
3,4 Antwort: »Das sei ferne!« Wann bracht. Die Leute sagen: »Wenn man nur
immer sich die Frage erhebt, ob Gott durch Glauben an Christus gerettet
oder die Menschen recht haben, sollte wird, dann könne man doch hingehen
man aufgrund der Voraussetzung wei- und fröhlich weitersündigen. Da Gottes
terdenken, daß »Gott« recht hat und Gnade so viel größer ist als die Sünde
»jeder Mensch . . . Lügner« ist. Das ist des Menschen, wird doch seine Gnade
sinngemäß auch Davids Aussage in umso größer, je mehr man sündigt.« Der
Psalm 51,6: »Man muß festhalten, daß Apostel behandelt diesen Einwand in
alles, was du sagst, die reine Wahrheit ist, Kapitel 6.)
und immer, wenn du von sündhaften 3,9 Frage: Willst du dann damit sagen,
Menschen in Frage gestellt wirst, mußt daß »wir« Juden »einen Vorzug« vor die-
du gerechtfertigt werden.« Unsere Sün- sen sündigen Heiden haben? Die Frage
den dienen nur dazu, die Wahrheit der kann auch nach einigen Handschriften
Worte Gottes zu bestätigen. lauten: »Sind wir Juden schlechter als die
3,5 Frage: Wenn das so ist, warum ver- Heiden?« Die Antwort lautet in jedem
urteilt Gott uns dann? »Wenn aber unse- Fall, daß die Juden weder besser noch
re Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit« schlechter sind. Alle sind Sünder.
umso heller scheinen läßt, wie kann Gott Das führt uns zur nächsten Frage des
uns dann mit seinem »Zorn« heimsu- Paulus in seiner Argumentation, die der
chen? (Paulus merkt hier an, daß er, obigen sehr ähnlich ist. Er hat gezeigt, daß
wenn er so fragt, ein typisch mensch- die Heiden verloren sind, daß die selbst-
liches Argument anführt.) gerechten Moralisten, ob Heiden oder
3,6 Antwort: Solch ein Argument Juden, verloren sind und daß die Juden
braucht man noch nicht einmal ernsthaft verloren sind. Nun wendet er sich der
zu bedenken. Wenn es nur die geringste Frage zu, ob alle Menschen verloren sind.

613
Römer 3

Die Antwort lautet: Ja, »wir haben« (Vers 14), er ist ständig bereit zu morden
schon festgestellt, daß »alle« Menschen (Vers 15), er hinterläßt Zerstörung und
»unter« der Macht »der Sünde« stehen. Probleme (Vers 16), er versteht nicht, in
Das bedeutet, daß der Jude sich in dieser Frieden zu leben (Vers 17) und er küm-
Hinsicht nicht von den Heiden unter- mert sich nicht um Gott (Vers 18). Hier
scheidet. sehen wir die vollkommene Verderbtheit
3,10 Wenn wir also noch weitere des Menschen, womit wir meinen, daß
Beweise wünschen, dann sollten wir sie die Sünde die ganze Menschheit verdor-
im Alten Testament suchen. Zunächst ben hat und auch jeden Aspekt des
sehen wir, daß die Sünde jeden betrifft, menschlichen Wesens. Offensichtlich be-
der von menschlichen Eltern abstammt geht nicht jeder Mensch alle Sünden,
(3,10-12) und dann, daß die Sünde jeden doch sein Wesen ist aller dieser Sünden
Aspekt des Menschen betrifft (3,13-18). fähig.
Wir können hier wie folgt umschreiben: Wenn Paulus uns noch einen vollstän-
Es gibt keinen einzigen Menschen, der digeren Sündenkatalog hätte liefern wol-
»gerecht« wäre (Ps 14,1). len, hätte er sexuelle Sünden aufführen
3,11 Es gibt keinen, der von Gott das können: Ehebruch, Homosexualität, Les-
rechte Verständnis hat. »Da ist keiner, der bentum, Perversion, Bestialität, Prostituti-
Gott sucht« (Ps 14,2). Wenn der Mensch on, Vergewaltigung, Lüsternheit, Porno-
sich selbst überlassen wäre, würde der graphie und anzügliche Reden. Er hätte
gefallene Mensch nie nach Gott suchen. die Kriegssünden aufzählen können: Ver-
Nur durch das Werk des Heiligen Geistes nichtung Unschuldiger, Greueltaten, Gas-
werden Menschen dazu gebracht, es zu kammern, Konzentrationslager, Folter-
tun. methoden, Sadismus. Er hätte die Sünden
3,12 »Alle« haben sich von Gott ent- im Familienleben aufführen können: Un-
fernt. Die ganze Menschheit ist verdor- treue, Scheidung, Schlagen der Frau, see-
ben. Keiner lebt wirklich gut, »auch nicht lische Grausamkeit, Kindesmißhandlung.
einer« (Ps 14,3). Dazu können wir nun noch die Verbre-
3,13 Der »Schlund« des Menschen ist chen wie Mord, Verstümmelung, Dieb-
»wie ein offenes Grab«. Ihre Ausdrucks- stahl, Raub, Unterschlagung, Vandalis-
weise ist immer hinterhältig (Ps 5,9). Ihre mus, Korruption und Vetternwirtschaft
Unterhaltungen werden mit Giftzungen aufführen. Dann gibt es noch die Wortsün-
geführt (Ps 140,3). den: Gotteslästerung, anzügliche Witze,
3,14 Ihre Worte sind von »Fluchen« schlüpfrige Anspielungen, Fluchen, Lä-
und Haß erfüllt (Ps 10,7). stern, Lügen, Klatschen, Rufmord,
3,15 »Ihre Füße eilen«, Menschen zu Schimpfen, Kritiksucht. Andere Sünden,
morden (Jes 59,7). die man gegen sich selbst begeht, sind: Trun-
3,16 Sie haben einen Hang nach Ver- kenheit, Drogenabhängigkeit, Stolz, Neid,
derben und »Elend« (Jes 59,7). Habgier, Undankbarkeit, schmutzige
3,17 Sie haben nie gelernt, »Frieden« Gedanken, Haß und Bitterkeit. Die Liste
zu schließen (Jes 59,8). scheint endlos zu sein – Umweltver-
3,18 Sie haben keinen Respekt vor schmutzung, Rassismus, Ausbeutung,
»Gott« (Ps 36,1). Betrug, Verrat, Bruch von Versprechen
Das ist nun Gottes Röntgenbild der und so weiter und so weiter. Welchen wei-
Menschheit. Es offenbart allgemeine teren Beweis für die Verdorbenheit des
Ungerechtigkeit (Vers 10), Unwissenheit Menschen brauchen wir denn noch?
und Unabhängigkeit im Verhältnis zu 3,19 Als Gott Israel das Gesetz gab,
Gott (Vers 11), Eigenwilligkeit, Un- stand Israel stellvertretend für alle Men-
brauchbarkeit und Fehlen alles Guten schen. Er sah, daß Israel versagte und
(Vers 12). Der Mund des Menschen fließt wandte diese Erkenntnis folgerichtig auf
über von Verderben, seine Zunge ist gif- die gesamte Menschheit an. Es ist genau-
tig, seine Lippen trügerisch. Er flucht so, als wenn ein Gesundheitsbeauftrag-

614
Römer 3

ter eine Wasserprobe aus einem Brunnen Recht ungerechte Sünder erlösen kann,
entnimmt, sie analysiert und bemerkt, und zwar nicht, indem er von den Men-
daß sie verseucht ist, und dann den schen verlangt, das Gesetz zu erfüllen.
ganzen Brunnen für verseucht erklärt. Weil Gott heilig ist, kann er Sünde weder
So erklärt also Paulus, daß das Gesetz, gutheißen noch übersehen. Er muß sie
wenn es spricht, »es denen sagt, die unter bestrafen, und die Strafe für Sünde lautet
dem Gesetz sind« – nämlich dem Volk Tod. Und doch liebt Gott den Sünder und
Israel – »damit jeder Mund«, gleich, ob möchte ihn erretten: darin besteht das
jüdisch oder heidnisch, »verstopft werde Problem. Die Gerechtigkeit Gottes ver-
und die ganze Welt« vor Gott schuldig sei. langt den Tod des Sünders, doch seine
3,20 Niemand kann also »gerechtfer- Liebe wünscht ihm ewiges Glück. Das
tigt werden«, indem er das Gesetz hält. Evangelium offenbart, wie Gott Sünder
Das Gesetz wurde nicht gegeben, um die erlösen kann, ohne seine Gerechtigkeit
Menschen zu rechtfertigen, sondern um beiseitezusetzen.
»die Erkenntnis der Sünde« herbeizufüh- Dieser gerechte Plan wurde »durch
ren – nicht die Erkenntnis der Erlösung, das Gesetz und die Propheten . . . be-
sondern »die Erkenntnis der Sünde«. zeugt«. In den Vorbildern und Schatten
Wir wüßten nie, wie krumm eine der Opfer, die Blutvergießen erforderten,
Linie ist, wenn wir keine Gerade kennen wurde dieser Plan vorausgesagt. Und
würden. Das Gesetz ist wie eine Gerade. außerdem wurde er durch ausdrückliche
Wenn Menschen diesen Maßstab an sich Prophezeiungen offenbart (vergleiche
selbst anlegen, dann sehen sie, wie z. B. Jes 51,5.6.8, 56,1; Dan 9,24).
krumm sie sind. 3,22 Vers 21 hat uns aufgeklärt, daß
Wir können einen Spiegel benutzen, diese Gerechtigkeit nicht durch das Hal-
um festzustellen, daß unser Gesicht ten des Gesetzes erlangt werden kann.
schmutzig ist, doch der Spiegel ist nicht Nun erklärt uns der Apostel, wie sie statt
dazu da, sich mit ihm das Gesicht zu dessen erreicht wird – »durch Glauben
waschen. Ein Thermometer sagt uns, ob an Jesus Christus«. Glaube bedeutet hier,
wir Fieber haben, doch das Fieber wird sich voll und ganz auf den lebendigen
nicht verschwinden, wenn wir das Ther- Herrn Jesus Christus als persönlichen
mometer verschlucken. Retter zu verlassen, der die Sünde getra-
Das Gesetz wird also richtig ange- gen hat und die einzige Hoffnung auf
wendet, wenn man es zur Überführung den Himmel für den Betreffenden dar-
von der Sünde benutzt, doch als Erlö- stellt. Der Glaube basiert auf der Offen-
sungsweg von der Sünde ist es völlig barung der Person und des Werkes Chri-
ungeeignet. Wie Luther es ausdrückte: sti, wie wir sie in der Bibel finden.
Die Aufgabe des Gesetzes ist nicht zu Glaube ist kein irrationaler Sprung
rechtfertigen, sondern in Furcht zu ver- ins Nichts. Er erfordert sichere Beweise
setzen. und findet sie in der Unfehlbarkeit des
Wortes Gottes. Der Glaube ist weder
D. Bedingungen und Grundlagen des unlogisch noch unvernünftig. Was ist
Evangeliums (3,21-31) vernünftiger, als daß das Geschöpf sei-
3,21 Wir kommen nun zum Kern des nem Schöpfer vertrauen sollte?
Römerbriefes, in dem Paulus die Frage Glaube ist kein verdienstvolles Werk,
beantwortet: Wie kann nach dem Evange- durch das der Mensch sich seine Erlö-
lium ein gottloser Sünder von einem gerech- sung verdienen könnte. Er kann nicht da-
ten Gott gerechtfertigt werden? mit angeben, an den Herrn zu glauben,
Paulus beginnt, indem er sagt, daß denn er wäre ein Narr, wenn er nicht
»Gottes Gerechtigkeit« auch »ohne« das glauben würde. Glaube ist kein Versuch,
»Gesetz« offenbart worden ist. Das sich die Erlösung zu verdienen, sondern
bedeutet, daß ein Plan oder Programm die einfache Annahme der Erlösung, die
»geoffenbart« wurde, durch den Gott mit uns Gott als Geschenk gibt.

615
Römer 3

Paulus fährt fort, daß diese Erlösung ist, irgend etwas zu tun, hinsichtlich des-
6)
»zu allen und auf alle« (LU 1912) sen auch nur der geringste Zweifel
kommt, »die glauben«. »Zu allen« besteht. Wenn man kein reines Gewissen
kommt die Erlösung in dem Sinne, daß in einer Sache hat und trotzdem gegen
sie für alle Menschen erreichbar ist, allen sein Gewissen handelt, dann sündigt
angeboten wird und für alle ausreicht. man.
Doch sie ist nur »auf« denen, »die glau- »Jede Ungerechtigkeit ist Sünde«
ben«, d. h., sie hat nur im Leben der Men- (1. Joh 5,17). Und auch törichte Gedan-
schen eine Wirkung, die den Herrn Jesus ken sind Sünde (Spr 24,9). Sünde beginnt
durch einen ausdrücklichen Glaubensakt im Verstand des Menschen. Wenn sie
annehmen. Die Vergebung ist für alle da, ermutigt und gehegt wird, dann wird sie
doch sie wird nur im Leben des Einzel- zur Tat, und die Tat führt zum Tode. Sün-
nen gültig, wenn er sie annimmt. de wirkt oft auf den ersten Blick sehr
Wenn Paulus sagt, daß die Erlösung anziehend, doch schrecklich, wenn man
für alle erreichbar ist, dann meint er daran zurückdenkt.
damit sowohl Heiden als auch Juden, Manchmal unterscheidet Paulus zwi-
weil hier »kein Unterschied« mehr schen »Sünde« und »Sünden«. »Sünden«
besteht. Weder hat der Jude einen Vorteil, sind die einzelnen falschen Handlungen,
noch der Heide einen Nachteil. die ein Mensch begangen hat. »Sünde«
3,23 Die Verfügbarkeit des Evangeli- dagegen bezieht sich auf die menschliche
ums ist so allgemein wie der Bedarf, der böse Natur – d. h., auf unseren Zustand.
dafür besteht. Und der Bedarf ist deshalb Was wir sind, ist um einiges schlimmer
allgemein, weil »alle . . . gesündigt ha- als alles, was wir getan haben. Doch
7)
ben und . . . nicht die Herrlichkeit Got- Christus starb sowohl für unsere bösen
tes . . . erlangen«. Jeder von uns hat in Taten, wie auch für unser verdorbenes
Adam »gesündigt«. Als Adam sündigte, Wesen. Gott vergibt unsere Sünden, doch
sündigte er stellvertretend für alle seine die Bibel spricht nie davon, daß unsere
Nachkommen. Doch die Menschen sind Sünde vergeben wird. Statt dessen verur-
nicht nur von Natur aus Sünder, sondern teilt oder verdammt Gott die Sünde im
auch durch ihre Praxis. Sie »erlangen« so Fleisch (Kap. 8,3).
»nicht die Herrlichkeit Gottes«. Es besteht auch ein Unterschied zwi-
schen Sünde und Übertretung. Übertre-
tung ist eine Verletzung eines bekannten
Exkurs über die Sünde Gesetzes. Stehlen z. B. ist sündig, d. h.,
Sünde ist jeder Gedanke, jedes Wort und an sich falsch. Doch Stehlen ist auch eine
jede Tat, die Gottes Maßstab der Heilig- Übertretung, wenn ein Gesetz existiert,
keit und Vollkommenheit nicht entspre- das Stehlen verbietet. »Wo kein Gesetz
chen. Es geht um eine Zielverfehlung. ist, da ist auch keine Übertretung«
Jemand hat einmal gehört, daß ein India- (Kap. 4,15).
ner, dessen Pfeil das Ziel nicht erreicht Paulus hat nun bewiesen, daß alle
hatte, sagte: »Oh, ich habe gesündigt.« In Menschen gesündigt haben und die
8)
seiner Sprache benutzt man dasselbe Herrlichkeit Gottes nicht erlangen. Nun
Wort für »sündigen« und »das Ziel nicht fährt er fort, indem er uns die Lösung
erreichen«. dieses Problems vorstellt.
Sünde ist Gesetzlosigkeit (1. Joh 3,4),
die Rebellion des eigenen Willen gegen 3,24 Wir »werden umsonst gerecht-
den Willen Gottes. Es geht bei der Sünde fertigt durch seine Gnade«. Das Evange-
nicht nur darum, daß man etwas Fal- lium erklärt, wie Gott Sünder geschenk-
sches tut, sondern auch um Unterlassung weise rechtfertigt, indem er ihnen einen
einer guten Tat (Jak 4,17). Was nicht im Akt unverdienter Gnade zukommen
Glauben geschieht, ist Sünde (Röm läßt. Doch was meinen wir, wenn wir
14,23). Das bedeutet, daß es immer falsch von Rechtfertigung sprechen?

616
Römer 3

Rechtfertigen heißt, jemanden für ge- ihrer Sünden durch seinen Tod und seine
recht erklären. Gott spricht einen Sünder Auferstehung voll beglichen hat. Wenn
z. B. gerecht, wenn dieser Sünder an den Sünder Christus im Glauben annehmen,
Herrn Jesus Christus glaubt. So wird das sind sie gerechtfertigt.
Wort am häufigsten im Neuen Testament Wenn Jakobus lehrt, daß die Rechtfer-
verwendet. tigung durch Werke geschieht (Jak 2,24),
Doch auch ein Mensch kann Gott dann meint er damit nicht, daß wir allein
rechtfertigen (s. Lk 7,29), indem er Got- durch gute Werke gerettet werden, oder
tes Wort glaubt und ihm gehorcht. Mit durch den Glauben und gute Werke, son-
anderen Worten, er erklärt, daß Gott ge- dern durch den Glauben, der sich in gu-
recht ist in allem, was er sagt und tut. ten Werken auswirkt.
Und natürlich kann ein Mensch sich Es ist wichtig zu erkennen, daß
selbst rechtfertigen, d. h., er kann seine Rechtfertigung eine Rechnung ist, die in
eigene Gerechtigkeit einklagen (s. Lk Gottes Denken stattfindet. Sie ist kein
10,29). Doch das ist nichts als eine Form Gefühl; und der Gläubige weiß, daß er
des Selbstbetruges. gerechtfertigt ist, weil die Bibel es ihm
Rechtfertigung heißt jedoch nicht, sagt. C. I. Scofield hat das einmal so aus-
daß jemand wirklich an sich gerecht ge- gedrückt: »Rechtfertigung ist der Akt
macht wird. Wir können Gott nicht ge- Gottes, durch den er alle die für gerecht
recht machen, er ist es schon. Doch wir erklärt, die an Jesus glauben. Das findet
können erklären oder verkündigen, daß er in Gottes Gedanken statt, nicht im Ner-
gerecht ist. Gott macht den Sünder nicht vensystem oder in der Gefühlswelt des
an sich sündlos oder gerecht, sondern Gläubigen.«
Gott schreibt die Gerechtigkeit praktisch In diesem Vers lehrt der Apostel, daß
seinem Konto gut. Wie A. T. Pierson es wir »umsonst gerechtfertigt« werden.
ausgedrückt hat: »Gott nennt Sünder, Man kann die Rechtfertigung nicht
wenn er sie rechtfertigt, in Wirklichkeit erwerben oder gar kaufen, sondern sie
nur gerecht, obwohl sie es nicht sind – er wird uns als Geschenk dargereicht.
unterstellt keine Sünde, wo sie in Wirk- Als nächstes lernen wir, daß wir
lichkeit vorhanden ist und unterstellt Ge- »durch« Gottes »Gnade« gerechtfertigt
rechtigkeit, wo keine Gerechtigkeit vor- werden. Das bedeutet einfach, daß
9)
handen ist.« Rechtfertigung ohne irgendeinen Ver-
Eine einfache Definition von Recht- dienst unsererseits geschieht. Wir haben
fertigung lautet: »Ein Zustand, als ob ich sie weder verdient, gesucht noch erwor-
nie gesündigt hätte.« Doch diese Defini- ben.
tion geht gar nicht weit genug. Wenn Um spätere Verwirrung zu vermei-
Gott den glaubenden Sünder rechtfertigt, den, sollten wir hier kurz unterbrechen,
dann spricht er ihn nicht nur von der um sechs verschiedene Aspekte der
Schuld frei, sondern kleidet ihn in seine Rechtfertigung zu erklären, die wir im
eigene Gerechtigkeit und macht ihn so Neuen Testament finden. Wir lesen im
völlig geeignet für ein Leben im Himmel. Neuen Testament, daß wir durch die
»Rechtfertigung geht über einen Frei- Gnade, durch den Glauben, durch das
spruch hinaus – sie ist Anerkennung. Sie Blut, durch die Macht, durch Gott und
geht auch über Begnadigung hinaus – sie durch Werke gerechtfertigt werden, doch
10)
ist Beförderung.« Freispruch bedeutet findet sich in diesen Aussagen weder ein
nur, daß man von einer Anklage freige- Widerspruch noch ein Konflikt.
sprochen wird. Rechtfertigung bedeutet, Wir werden durch die Gnade gerettet
daß uns echte Gerechtigkeit zugespro- – das bedeutet, daß wir die Rechtferti-
chen wird. gung nicht verdient haben.
Der Grund für die Rechtfertigung Wir werden durch den Glauben
gottloser Sünder durch Gott liegt darin, gerechtfertigt (Kap. 5,1) – das bedeutet,
daß der Herr Jesus Christus die Schuld daß wir die Rechtfertigung empfangen

617
Römer 3

müssen, indem wir an den Herrn Jesus Christus als die Sühnung für unsere Sün-
Christus glauben. den und die ganze Welt beschrieben. Sein
Wir werden durch das Blut gerecht- Werk reicht für die ganze Welt aus, doch
fertigt (Kap. 5,9) – das bezieht sich auf wirkt es nur für diejenigen, die ihr Ver-
den Preis, den der Erlöser zahlen mußte, trauen auf ihn setzen. Schließlich finden
damit wir gerechtfertigt werden konnten. wir in 1. Johannes 4,10, daß Gottes Liebe
Wir werden durch die Macht gerecht- sich darin erweist, daß er seinen Sohn als
fertigt (Kap. 4,24.25) – dieselbe Macht, Sühnung für unsere Sünden gesandt hat.
die den Herrn Jesus von den Toten aufer- Das Wort Sühnung findet sich auch in
weckte. Hebräer 2,17: »Daher mußte er in allem
Wir werden von Gott gerechtfertigt den Brüdern gleich werden, damit er
(Kap. 8,33) – Er ist derjenige, der uns barmherzig und ein treuer Hoherpriester
gerecht spricht. vor Gott werde, um die Sünden des
Wir werden durch Werke gerechtfer- Volkes zu sühnen.« Hier bedeutet »süh-
tigt (Jak 2,24) – womit nicht gemeint ist, nen« die Sünde wegtun, indem die Stra-
daß wir durch gute Werke die Erlösung fe gezahlt wird.
verdienen können, sondern daß sie der Das entsprechende Wort im Alten
Beweis sind, daß wir gerechtfertigt wor- Testament für Sühnung lautet »Gnaden-
den sind. stuhl« (LU 1912) oder »Sühneplatte«
Wenn wir nun zu Vers 24 zurückkeh- (Anmerkung Elberfelder Bibel). Die Süh-
ren, so lesen wir, daß wir »durch die Er- neplatte war der Deckel der Bundeslade.
lösung, die in Christus Jesus ist«, ge- Am großen Versöhnungstag besprengte
rechtfertigt werden. »Erlösung« bedeutet der Hohepriester diesen Deckel mit dem
hier das Auslösen einer Beute für einen Blut eines Opfertieres. Dadurch wurden
Kaufpreis. Der Herr Jesus erkaufte uns die Vergehen des Hohenpriesters und
vom Sklavenmarkt der Sünde. Sein kost- des Volkes gesühnt oder bedeckt.
bares Blut war der Kaufpreis, der gezahlt Als Christus für uns zur »Sühneplat-
werden mußte, um die Ansprüche des te« wurde, ging er wesentlich weiter. Er
heiligen und gerechten Gottes zu befrie- bedeckte die Sünde nicht nur, sondern
digen. Wenn man nun fragt, wem denn trug sie vollkommen hinweg.
nun der Kaufpreis gezahlt werde, so hat Nun sagt uns Paulus hier, daß Gott
man das Wesentliche hier nicht verstan- Christus »zu einem Sühnort durch den
den. Die Schrift deutet nirgends an, daß Glauben an sein Blut . . . dargestellt« hat.
irgendwann einmal eine besondere Zah- Uns wird nicht gesagt, daß wir an sein
lung an Gott oder Satan ergangen sei. Blut glauben sollen, sondern wir sollen
Der Kaufpreis wurde nicht wörtlich an Christus selbst glauben. Nur ein aufer-
gezahlt, sondern war eine abstrakte Ver- standener und lebendiger Jesus Christus
einbarung, aufgrund der Gott gerechter- kann uns erretten. Er ist die Sühnung.
weise die Gottlosen erlösen konnte. »Glaube« an ihn ist die Bedingung,
3,25 »Gott . . . hat« Jesus Christus durch die wir selbst die Sühnung erlan-
»dargestellt zu einem Sühneort«. Ein gen. »Sein Blut« ist der Preis, der gezahlt
»Sühneort« ist ein Mittel, durch das der wurde.
Gerechtigkeit Genugtuung widerfährt, Das vollendete Werk Christi verkün-
Gottes Zorn abgewendet wird und dem digt Gottes »Gerechtigkeit« zur Verge-
Sünder aufgrund eines annehmbaren bung der »Sünden«, die der Vergangen-
Opfers Gnade erwiesen werden kann. heit angehören. Das bezieht sich auf die
Dreimal wird im Neuen Testament Sünden, die vor dem Tode Christi began-
von Christus als dem »Sühneort« gespro- gen wurden. Von Adam bis Christus
chen. Hier in Römer 3,25 erfahren wir, erlöste Gott die Menschen, die an ihn
daß diejenigen, die auf Christus vertrau- glaubten, auf der Grundlage der Offen-
en, durch sein vergossenes Blut Gnade barung, die er ihnen jeweils gegeben hat.
finden können. In 1. Johannes 2,2 wird Abraham z. B. glaubte Gott, und das

618
Römer 3

wurde ihm zur Gerechtigkeit angerech- Sünde zurück. Als dann die Zeit erfüllt
net (1. Mose 15,6). Doch wie konnte Gott war, sandte er seinen Sohn, daß er diese
das gerechterweise tun? Für ihn war Sünden tragen sollte. Als der Herr Jesus
doch kein sündloses Opfer geschlachtet unsere Sünden auf sich nahm, schüttete
worden. Das Blut eines vollkommenen Gott den vollen Zorn seines gerechten
Opfers war noch nicht vergossen wor- und heiligen Wesens über seinen gelieb-
den. Mit anderen Worten, Christus war ten Sohn aus.
noch gar nicht gestorben. Die Schuld war 3,26 So verkündigt also der Tod Chri-
nicht beglichen. Gottes gerechte An- sti die »Gerechtigkeit« Gottes. Gott ist
sprüche waren nicht befriedigt worden. gerecht, weil er die volle Begleichung der
Wie konnte dann Gott die gläubigen Sün- Schuld der Sünde verlangt hat. Und er
der des AT erlösen? kann die Gottlosen rechtfertigen, ohne
Die Antwort lautet, daß Christus ihre Sünden gutzuheißen oder Kompro-
zwar noch nicht gestorben war, doch misse mit seiner eigenen Gerechtigkeit
Gott schon wußte, daß er sterben würde. einzugehen, weil der vollkommene Stell-
So erlöste er die Menschen auf der vertreter gestorben und wieder aufer-
Grundlage des noch zukünftigen Werkes standen ist. Albert Midlane hat diese
Christi. Auch wenn die Heiligen des AT Wahrheit in Verse gegossen:
noch nichts von Golgatha gehört hatten, Die vollkommene Gerechtigkeit Gottes
schrieb er ihnen den Wert des Werkes wird im Blut des Erlösers bezeugt,
Christi gut, wenn sie an Gott glaubten. In Grad’ in diesem Kreuze Christi sehen
einem ganz realen Sinne wurden die wir seine Gerechtigkeit,
Gläubigen des AT »auf Kredit« erlöst. Sie und doch seine wunderbare Gnade.
wurden aufgrund eines Kaufpreises er- Gott konnte den Sünder nicht laufen
löst, der noch zu zahlen war. Sie sahen lassen,
auf das zukünftige Golgatha, auf das wir seine Sünde verlangt seinen Tod.
heute zurückblicken können. Doch im Kreuz Christi sehen wir wie
Das meint Paulus, wenn er sagt, daß Gott erlösen kann,
die Sühne Christi Gottes »Gerechtigkeit« und doch gerecht bleibt.
erweist, »wegen des Hingehenlassens Die Sünde wurde dem Erlöser aufgelegt,
der vorher geschehenen Sünden unter in seinem Blut ist die Schuld der Sünde
der Nachsicht Gottes«. Er spricht nicht beglichen.
von Sünden, wie einige fälschlich anneh- Härteste Gerechtigkeit darf nicht mehr
men, die jemand vor seiner Bekehrung fordern
begangen haben mag. Damit wäre impli- und die Gnade kann ihre Gaben
ziert, daß das Werk Christi die Sünden ausschütten.
vor der Bekehrung gesühnt hat, daß man Der Sünder, der glaubt, ist frei,
danach jedoch auf sich selbst angewiesen kann sagen: »Der Erlöser starb für
ist. Nein, Paulus geht es hier um die mich«,
scheinbare Laxheit Gottes, der jedoch kann auf das sühnende Blut weisen
nur scheinbar die Sünden derer überse- und sagen: »Das schuf mir Friede mit
hen hat, die vor dem Kreuz erlöst wor- Gott.«
den sind. Es mag scheinen, daß Gott die- 3,27 »Wo bleibt nun der Ruhm« in
se Sünden entschuldigt habe oder vorge- diesem wunderbaren Erlösungsplan?
geben habe, sie nicht zu sehen. Doch das »Er ist ausgeschlossen«, verbannt, hin-
ist nicht der Fall, sagt Paulus. Der Herr ausgetan. »Durch« welches Prinzip ist
wußte, daß Christus die volle Sühnung der Ruhm »ausgeschlossen«? Durch das
erringen würde, und deshalb hat er Men- Prinzip »der Werke«? »Nein.« Wenn man
schen auf dieser Basis erlöst. die Erlösung durch Werke verdienen
Daher war die Zeit des AT die Zeit könnte, dann wäre hier noch viel Raum,
der »Nachsicht« Gottes. Mindestens 4000 sich selbst zu beglückwünschen. Doch
Jahre lang hielt er sein Gericht über die wenn die Erlösung allein auf dem

619
Römer 3 und 4

Grundsatz »des Glaubens« gewährt das Gesetz beiseite, so daß es keine Auf-
wird, dann ist kein Platz mehr für Selbst- gabe mehr besitzt? »Das sei ferne«, son-
verherrlichung. Der Gerechtfertigte sagt: dern das Evangelium »bestätigt das Ge-
»Ich habe die ganzen Sünden vollbracht; setz«, und zwar folgendermaßen:
Jesus hat die ganze Erlösung vollbracht.« Das Gesetz verlangt vollkommenen
Echter Glaube schließt jede Möglichkeit Gehorsam. Die Strafe für das Brechen des
der Selbsterlösung, der Selbsthilfe und Gesetzes muß bezahlt werden. Die Strafe
der Selbstverbesserung aus und erwartet ist der Tod. Wenn ein Gesetzesbrecher
alles von Christus, dem Erlöser. Echter diese Strafe bezahlen muß, dann ist er für
Glaube spricht so: alle Ewigkeit verloren. Das Evangelium
Ich bringe keine Gabe in meinen Händen sagt uns, wie Christus starb, um die Stra-
ich klamm’re mich nur an Dein Kreuz, fe für das Brechen des Gesetzes zu tra-
Ich komme unbekleidet, damit du mich gen. Er war nicht der Meinung, daß das
kleidest, Gesetz zu ignorieren sei. Er hat die ganze
Hilflos, damit du mich begnadigst Schuld beglichen. Nun kann jeder, der
Verdorben fliehe ich zu deiner Quelle, das Gesetz gebrochen hat, für sich in An-
Reinige mich, Heiland, oder ich sterbe. spruch nehmen, daß Christus für ihn die
Augustus M. Toplady Schuld beglichen hat. So hält das Evan-
3,28 Da es nun keinen Grund zum gelium von der Errettung durch den
Auftrumpfen gibt, wiederholt Paulus, Glauben das Gesetz aufrecht, indem es
»daß ein Mensch durch Glauben gerecht- darauf besteht, daß die Forderungen des
fertigt wird, ohne Gesetzeswerke«. Gesetzes ganz erfüllt werden.
3,29 Wie stellt uns das Evangelium
nun Gott vor? Ist er ausschließlich »der E. Die Übereinstimmung des Evange-
Gott der Juden«? Nein, sondern »auch liums mit dem AT (Kap. 4)
der Nationen«. Der Herr Jesus Christus Die fünfte Hauptfrage, die Paulus auf-
starb nicht für eine einzige Rasse der greift, lautet: Stimmt das Evangelium mit
Menschheit, sondern für eine ganze Welt der Lehre des AT überein? Die Antwort auf
von Sündern. Und das Angebot der vol- diese Frage war für die Juden von außer-
len und geschenkweisen Erlösung ergeht ordentlicher Bedeutung. Deshalb zeigt
an alle, die es annehmen wollen, ob Jude der Apostel jetzt, daß zwischen dem
oder Heide. Neuen Testament und dem Alten Testa-
3,30 Es gibt keine zwei Götter – einen ment volle Übereinstimmung herrscht.
für die Juden und einen für die Nationen. Rechtfertigung ist schon immer auf-
Es gibt nur einen einzigen Gott und nur grund des Glaubens erworben worden.
einen Weg der Erlösung für alle Men- 4,1 Paulus belegt seine Behauptung,
schen. Gott rechtfertigt »die Beschnei- indem er zwei der größten Männer der
dung aus Glauben und das Unbeschnit- jüdischen Geschichte zum Beweis heran-
tensein durch den Glauben«. Was immer zieht: Abraham und David. Mit diesen
der Grund hier für den unterschiedli- beiden Männern hat Gott je einen wun-
chen Gebrauch der Präpositionen sein derbaren Bund geschlossen. Der eine leb-
11)
mag (»aus« und »durch« ), es gibt kei- te viele Jahrhunderte, bevor Israel das
nen Unterschied in dem Mittel, das zur Gesetz erhielt, der andere viele Jahre spä-
Erlösung führt: in beiden Fällen führt der ter. Der eine wurde gerechtfertigt, bevor
»Glaube« zur Erlösung. er beschnitten wurde, der andere da-
3,31 Eine wichtige Frage bleibt beste- nach.
hen: Wenn wir sagen, daß die Erlösung Betrachten wir als erstes »Abraham«,
durch den Glauben erlangt wird und den alle Juden ihren Ahnherrn nennen
nicht durch das Halten des Gesetzes, sind können. Was war seine Erfahrung »nach
12)
wir dann gleichzeitig der Ansicht, daß dem Fleisch«? Was fand er über den
das Gesetz wertlos sei und nicht beachtet Weg heraus, den man gehen muß, um
werden müsse? Drängt das Evangelium gerechtfertigt zu werden?

620
Römer 4

4,2 »Wenn Abraham aus Werken hat ein Recht auf seinen »Lohn«. Er hat
gerechtfertigt worden ist«, dann hätte er ihn verdient. Er braucht sich vor seinem
Grund gehabt, auf sich stolz zu sein. Er Arbeitgeber nicht zu verneigen oder
hätte sich selbst dafür auf die Schulter Kratzfüße zu machen, ihm für eine sol-
klopfen können, daß er sich eine gerech- che Gnade zu danken und zu sagen, er
te Stellung »vor Gott« erarbeiten konnte. habe das Geld nicht verdient. Ganz im
Doch das ist wirklich unmöglich. Nie- Gegenteil! Er steckt sein Geld in die
mand wird je in der Lage sein, vor Gott Tasche und geht in dem Bewußtsein nach
stolz auf sich sein zu können (Eph 2,9). In Hause, daß er nur für seine Zeit und sei-
der Schrift gibt es nicht den geringsten ne Arbeit entschädigt worden ist.
Hinweis darauf, daß Abraham irgendei- Doch bei der Rechtfertigung ist es
nen Grund gehabt habe, sich rühmen zu genau umgekehrt.
können, daß er durch Werke gerechtfer- 4,5 Es mag zwar schockierend er-
tigt wurde. scheinen, doch der Gerechtfertigte ist
Doch man mag nun argumentieren: derjenige, der in erster Linie »nicht Wer-
»Heißt es nicht in Jakobus 2,21, daß ke tut«. Er bestreitet, daß die Möglichkeit
Abraham durch Werke gerechtfertigt besteht, sich seine Erlösung zu verdie-
wurde?« Ja, das steht dort, doch ist die nen. Er schwört jedem eigenen Verdienst
Bedeutung eine andere. Abraham wurde ab und kann nicht behaupten, daß auch
nach 1. Mose 15,6 durch Glauben ge- nur etwas Gutes an ihm sei. Er erkennt
rechtfertigt, als er Gottes Verheißung an, daß seine größten Bemühungen nie-
über eine zahllose Nachkommenschaft mals ausreichen können, um Gottes
glaubte. Erst über dreißig Jahre später gerechte Anforderungen zu erfüllen.
wurde er durch seine Werke gerechtfer- Statt dessen »glaubt« er »an den, . . .
tigt, als er Isaak Gott als Brandopfer dar- der den Gottlosen rechtfertigt«. Er kommt
bringen wollte (1. Mose 22). Dieser Ge- nicht mit dem Argument, daß er ja sein
horsamsakt war der Beweis für die Echt- Bestes getan habe, daß er nach dem
heit seines Glaubens. Es war ein äußerer »größten Gesetz« gelebt habe oder daß er
Beweis dafür, daß er wirklich durch den nicht so schlimm sei, wie andere. Nein, er
Glauben gerechtfertigt worden war. kommt als »Gottloser«, als schuldiger
4,3 »Was sagt die Schrift« über die Sünder und verläßt sich ganz auf die
Rechtfertigung Abrahams? Sie sagt: »Er Gnade Gottes.
glaubte dem Herrn; und er rechnete es Und was folgt daraus? »Sein Glaube«
ihm als Gerechtigkeit an« (1. Mose 15,6). wird ihm »zur Gerechtigkeit gerechnet«.
Gott offenbarte sich Abraham und ver- Weil er nun glaubt, statt Werke zu tun,
hieß ihm unzählbar viele Nachkommen. rechnet ihm Gott »Gerechtigkeit« auf
Der Patriarch glaubte an den Herrn und sein Konto an. Durch die Verdienste
Gott schrieb seinem Konto die »Gerech- unseres auferstandenen Erlösers kann
tigkeit« gut. Mit anderen Worten, Abra- ihn Gott mit »Gerechtigkeit« kleiden und
ham wurde durch den Glauben gerecht- ihn so zur Aufnahme in den Himmel
fertigt. Es war ganz einfach. Werke hat- geeignet machen. Von diesem Zeitpunkt
ten daran keinen Anteil. Sie werden noch an sieht Gott ihn in Christus und nimmt
nicht einmal erwähnt. ihn auf dieser Basis an.
4,4 All das bringt uns zu einer der Zusammenfassend müssen wir nun
erhabensten Aussagen der Bibel über sagen, daß Rechtfertigung für die Gottlo-
den Unterschied zwischen Werken und sen bestimmt ist – nicht für gute Men-
Glauben im Zusammenhang mit dem schen. Es geht hier um Gnade – nicht um
Erlösungsplan Gottes. eine Bringschuld Gottes. Und Rechtferti-
Wir können uns das so denken: Wenn gung wird durch den Glauben erlangt –
jemand für seinen Lebensunterhalt arbei- nicht durch Werke.
tet, also »Werke tut«, dann bekommt er 4,6 Als nächstes wendet sich Paulus
am Ende des Monats seinen Scheck und »David« zu, um seine Behauptungen zu

621
Römer 4

beweisen. Die Worte »wie auch« zu tigt werden konnte, »als er« noch »unbe-
Beginn des Verses bedeuten, daß die schnitten« war, dann erhebt sich die Fra-
Erfahrung Davids dieselbe war wie die ge: »Warum können nicht auch andere
von Abraham. Der Dichterfürst Israels Unbeschnittene gerechtfertigt werden?«
hat gesagt, daß derjenige glücklich ist, Abraham wurde also gerecht gespro-
dem als Sünder von Gott die Gerechtig- chen, als er sich gewissermaßen noch auf
keit »ohne Werke« zugesprochen wird. heidnischem Grund befand, und das läßt
Obwohl David dies nie wörtlich so ge- die Tür weit offen, daß andere Heiden
sagt hat, leitet der Apostel diese Aussage ebenfalls gerechtfertigt werden können,
aus Psalm 32,1.2 ab, die er in den näch- und zwar völlig unabhängig von einer
sten zwei Versen zitiert: Beschneidung.
4,7 »Glückselig die, deren Gesetzlo- 4,11 »Beschneidung« war also nicht
sigkeiten vergeben und deren Sünden die Ursache für die Rechtfertigung Abra-
bedeckt sind! hams. Sie war nur ein äußerliches »Zei-
4,8 Glückselig der Mann, dem der chen« an seinem Leib, daß er durch den
Herr Sünde nicht zurechnet!« Glauben gerechtfertigt worden war. Im
Was schloß Paulus aus diesen Versen? Prinzip war die Beschneidung das äuße-
Zuerst bemerkte er, daß David nichts re Zeichen des Bundes zwischen Gott
über Werke gesagt hat. Vergebung hat und dem Volk Israel, doch hier wird sei-
mit der Gnade Gottes zu tun, nicht mit ne Bedeutung ausgedehnt auf die Ge-
den Bemühungen des Menschen. Zwei- rechtigkeit, die Gott Abraham durch den
tens erkannte er, daß ein Mensch vor Glauben zurechnete.
Gott gerecht dasteht, wenn dieser ihm Die Beschneidung war nicht nur ein
»Sünde nicht zurechnet«. Schließlich er- Zeichen, sondern auch ein Siegel – ein
kannte er noch, daß Gott den Gottlosen »Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens,
rechtfertigt, denn David hatte sich des den er hatte, als er unbeschnitten war«.
Ehebruchs und des Mordes schuldig ge- Ein »Zeichen« hat eine Bedeutung, die
macht, doch in diesen Versen genießt er stellvertretend für eine Wirklichkeit
die Süße der vollen und geschenkweisen steht. Ein »Siegel« bestätigt, versichert,
Vergebung. bekräftigt oder garantiert die Echtheit
4,9 Doch in manchen jüdischen Köp- des Zeichens. Die Beschneidung versi-
fen mochte noch die Vorstellung herums- cherte Abraham, daß er von Gott als ge-
puken, daß das auserwählte Volk ein recht durch Glauben angesehen und
Anrecht auf Gottes Rechtfertigung habe, behandelt wurde.
und daß nur die Beschnittenen gerechtfer- Die »Beschneidung« war ein »Siegel
tigt werden könnten. Der Apostel wendet der Gerechtigkeit des Glaubens« Abra-
sich wieder »Abraham« zu, um zu zeigen, hams. Das kann bedeuten, daß sein
daß das nicht der Fall ist. Er stellt die Fra- »Glaube« gerecht war oder daß er die
ge: »Wird die Gerechtigkeit nur den gläu- Gerechtigkeit durch den »Glauben« er-
big gewordenen Juden angerechnet, oder langt hatte. Das letztere ist mit größter
gilt sie auch für die gläubig gewordenen Sicherheit die wirkliche Bedeutung, so
Heiden?« Die Tatsache, daß hier Abraham daß die »Beschneidung« ein »Siegel der
als Beispiel herangezogen wird, scheint Gerechtigkeit« war, das zu seinem Glau-
zunächst zu bedeuten, daß die Rechtferti- ben gehörte oder das er aufgrund des
gung nur für die Juden gilt. Glaubens erlangt hatte.
4,10 Hier greift Paulus eine histori- Weil Abraham gerechtfertigt war, ehe
sche Tatsache auf, die die meisten von er beschnitten wurde, konnte »er Vater
uns wahrscheinlich nie beachten wür- aller sein, die im Unbeschnittensein glau-
den. Er beweist, daß Abraham gerecht- ben« – d. h., aller gläubig gewordenen
fertigt wurde (1. Mose 15,6), ehe er »be- Heiden. Sie können genau auf dieselbe
schnitten« wurde (1. Mose 17,24). Wenn Weise gerechtfertigt werden wie Abra-
der Erzvater des Volkes Israel gerechtfer- ham – durch den Glauben.

622
Römer 4

Wenn es heißt, daß Abraham der Logik und jedem möglichen Schriftbe-
13)
»Vater« der gläubigen Heiden sei, so geht weis begegnet.« Der Apostel muß sich
es hier natürlich nicht um leibliche Ver- nun mit dem Einwand beschäftigen, daß
wandtschaft. Es bedeutet einfach, daß der Segen durch das Gesetz kam und daß
diese Gläubigen seine Kinder sind, weil deshalb die Heiden, die das Gesetz nicht
sie seinen Glauben nachahmen. Sie sind kannten, verflucht waren (s. Joh 7,49).
nicht seine Kinder durch ihre Geburt, Als Gott »Abraham« und »seiner
sondern indem sie ihm und seinem Vor- Nachkommenschaft« verhieß, »daß er
bild nachfolgen. Auch lehrt dieser der Welt Erbe sein sollte«, verband er
Abschnitt nicht, daß die gläubig gewor- diese Verheißung nicht mit der Bedin-
denen Heiden zum Israel Gottes würden. gung der Erfüllung irgendeines Geset-
Das wahre Israel Gottes besteht aus den zes. (Das Gesetz selbst ist erst 430 Jahre
Juden, die den Messias Jesus als ihren später gegeben worden – Gal 3,17.) Es
Herrn und Retter annehmen. war eine Verheißung der Gnade ohne
4,12 Abraham erhielt das Zeichen der Vorbedingungen, die im »Glauben« an-
»Beschneidung« auch noch aus einem genommen werden mußte – durch den-
anderen Grund – nämlich, weil er »Va- selben Glauben, durch den wir heute die
ter« derjenigen Juden wurde, die nicht »Glaubensgerechtigkeit« erhalten.
nur beschnitten sind, sondern auch sei- Der Ausdruck »der Welt Erbe« be-
nem Weg »in den Fußspuren des Glau- deutet, daß Abraham der Vater sowohl
bens« folgen, dem »Glauben«, den er hat- der gläubig gewordenen Heiden als auch
te, »als er« noch »unbeschnitten« war. der Juden werden sollte (Verse 11.12),
Es besteht ein Unterschied darin, und daß er der Vater vieler Nationen (Ver-
Abrahams Nachfahre oder Abrahams se 17.18) werden sollte und nicht nur der
Kind zu sein. Jesus sagte zu den Pha- jüdischen Nation. In ihrem vollsten Sin-
risäern: »Ich weiß, daß ihr Abrahams ne wird sich die Verheißung erfüllen,
Nachkommen seid« (Joh 8,37). Doch wenn der Herr Jesus, der Same Abra-
dann fuhr er fort: »Wenn ihr Abrahams hams, das Zepter des Weltreiches über-
Kinder wäret, so würdet ihr die Werke nehmen wird und als König der Könige
Abrahams tun« (Joh 8,39). So besteht hier und Herr der Herren regieren wird.
Paulus auch darauf, daß es nicht die leib- 4,14 Wenn diejenigen, die Gottes
liche Beschneidung ist, die zählt. »Der Segen suchen, und zwar insbesondere
Glaube« an den lebendigen Gott ist den Segen der Rechtfertigung, in der
unbedingt notwendig. Diejenigen »aus Lage sind, diesen durch das Halten des
der Beschneidung«, die an den Herrn Gesetzes zu erben, »so ist der Glaube
Jesus Christus glauben, sind das wahre zunichte gemacht und die Verheißung
Israel Gottes. aufgehoben«. Der Glaube wird dann auf-
Zusammenfassend wäre zu sagen, gehoben, weil er vom Prinzip her dem
daß es im Leben Abrahams eine Zeit gab, Gesetz entgegensteht: hier steht der
während der er »Glauben« hatte und Glaube gegen die Tat. Die Verheißung
noch »unbeschnitten« war, und eine wäre dann wertlos, weil sie auf Bedin-
andere Zeit, in der er Glauben hatte und gungen beruhen würde, die niemand
beschnitten war. Die Adleraugen des erfüllen könnte.
Paulus sehen in dieser Tatsache die 4,15 »Das Gesetz bewirkt« Gottes
Begründung dafür, daß sowohl die gläu- »Zorn«, nicht seinen Segen. Es verurteilt
big gewordenen Heiden als auch die diejenigen, die nicht in der Lage sind, sei-
gläubig gewordenen Juden Abraham mit ne Anweisungen ständig und vollkom-
Recht ihren Vater nennen und sich als men zu halten. Und weil das niemand
seine Kinder identifizieren können. kann, sind alle, die unter dem Gesetz ste-
4,13 »Die Diskussion geht unerbitt- hen, zum Tode verurteilt. Es ist unmög-
lich weiter, indem Paulus jedem mög- lich, unter dem Gesetz zu leben, ohne
lichen Einwand mit aller möglichen unter dem Fluch zu stehen.

623
Römer 4

Doch »wo kein Gesetz ist, da ist auch dern auch« den Heiden, die ihr Vertrau-
keine Übertretung«. »Übertretung« be- en auf die gleiche Weise auf den Herrn
deutet die Verletzung eines bekannten setzen, wie »Abraham« es tat. »Abraham
Gesetzes. Paulus sagt hier nicht, daß es ist unser aller Vater« – das bedeutet, von
dort, wo es kein Gesetz gibt, keine Sünde allen gläubigen Juden und Heiden.
gäbe. Eine Tat kann an sich böse sein, 4,17 Um Abrahams Vaterschaft aller
auch wenn es kein Gesetz dagegen gibt. echten Gläubigen zu unterstreichen,
Wenn man auf einer Straße mit 100 km/h wirft hier Paulus ein Zitat aus 1. Mose
fährt, so ist das erst eine »Übertretung«, 17,5 ein: »Ich habe dich zum Vater vieler
wenn es ein Schild gibt, das als erlaubte Nationen gesetzt.« Gottes Wahl Israels
Höchstgeschwindigkeit 80 km/h an- als sein erwähltes irdisches Volk bedeu-
zeigt. tet nicht, daß seine Gnade auf dieses Volk
Die Juden dachten, sie hätten einen beschränkt wäre. Der Apostel zitiert mei-
Segen ererbt, weil sie das Gesetz hatten, sterhaft einen Vers nach dem anderen
doch sie erbten nur »Übertretung«. Gott aus dem AT, um zu zeigen, daß es immer
gab das Gesetz, damit man Sünde als Gottes Absicht war, Glauben anzuerken-
»Übertretung« erkennen kann, oder an- nen, wo immer er ihn fand.
ders ausgedrückt, damit die Sünde in all Der Ausdruck »vor dem Gott, dem er
ihrer Sündhaftigkeit gesehen werden glaubte« führt den Gedanken aus Vers 16
kann. Er beabsichtigte nie, daß es zu fort: »Abraham, der unser aller Vater ist«.
einem Erlösungsweg für sündige Über- Die Verbindung hier ist folgendermaßen:
treter würde! Abraham ist unser aller Vater in den
4,16 Weil das Gesetz Gottes Zorn her- Augen Gottes, an den er (Abraham)
vorruft und keine Rechtfertigung bringt, glaubte, ja, in den Augen des Gottes,
entschloß sich Gott, daß er die Menschen »der die Toten lebendig macht« und von
aus »Gnade« durch den »Glauben« etwas, das noch gar nicht existiert, so
rechtfertigen würde. Er wollte gottlosen redet, »wie wenn es da wäre«. Um diese
Sündern das ewige Leben als unverdien- Beschreibung Gottes zu verstehen, müs-
tes Geschenk geben, das sie durch einen sen wir uns nur die folgenden Verse
einfachen Glaubensakt erhalten könnten. ansehen. Gott macht »die Toten leben-
Auf diese Weise ist »die Verheißung« dig« – d. h., Abraham und Sara, denn
des ewigen Lebens »der ganzen Nach- obwohl sie nicht leiblich tot waren,
kommenschaft sicher«. Wir sollten hier waren sie doch kinderlos und über das
zwei Worte besonders hervorheben – Alter hinaus, in dem sie Kinder bekom-
sicher und ganz. Zunächst will Gott, daß men konnten (s. Vers 19). Gott ruft »das
seine »Verheißung . . . sicher« ist. Wenn Nichtseiende, . . . wie wenn es da wäre«,
die Rechtfertigung auf Gesetzeswerken d. h., eine unzählbare Nachkommen-
beruhte, dann könnte man niemals sicher schaft in vielen Völkern (s. 4,18).
sein, weil man nie wüßte, ob man schon 4,18 In den vorhergehenden Versen
genug gute Werke getan hat und ob es hat Paulus betont, daß die Verheißung
auch die richtigen waren. Niemand, der Abraham durch den Glauben gegeben
versucht, sich seine Erlösung zu verdie- wurde, und nicht durch das Gesetz,
nen, kann Heilsgewißheit genießen. damit sie durch Gnade gegeben werde
Doch wenn die Erlösung als Geschenk und für alle Nachkommen sicher sei. Das
gegeben wird, das man durch Glauben führt ganz natürlich zu Überlegungen
erhalten kann, dann kann man auch auf- über Abrahams Glauben an den Gott der
grund der Autorität des Wortes Gottes Auferstehung. Gott verhieß Abraham
sicher sein, daß man gerettet ist. Nachkommen, die so zahllos wie die
Zweitens möchte Gott, daß seine Sterne und der Sand sind. Menschlich
»Verheißung der ganzen Nachkommen- gesprochen war alles hoffnungslos. Doch
schaft sicher« ist – nicht nur den Juden, »gegen« menschliche »Hoffnung« glaub-
denen »das Gesetz« gegeben ist, »son- te Abraham »auf Hoffnung hin, damit er

624
Römer 4

ein Vater vieler Nationen werde«, so wie ist immer so. Und so rechnete er es ihm
Gott es in 1. Mose 15,5 verheißen hatte: als »Gerechtigkeit« an. Wo sich vorher
»So soll deine Nachkommenschaft sein.« ein Konto von Sünde und Schuld aufge-
4,19 Als die Verheißung einer großen häuft hat, fand sich nun nichts als die
Nachkommenschaft das erste mal an gerechtfertigte Stellung vor Gott. Abra-
Abraham erging, war er fünfundsiebzig ham wurde von der Verdammnis befreit
Jahre alt (1. Mose 12,2-4). Zu dieser Zeit und wurde durch den Glauben von
war er leiblich noch in der Lage, Vater zu einem heiligen Gott gerechtfertigt.
werden, denn danach zeugte er Ismael 4,23 Die historische Erzählung seiner
(1. Mose 16,1-11). Doch in diesem Vers Rechtfertigung durch den Glauben »ist
spricht Paulus von der Zeit, als Abraham aber nicht allein seinetwegen geschrie-
etwa 100 Jahre alt war und die Ver- ben«. In gewissem Sinne war das sicher-
heißung erneuert wurde (1. Mose 17,15- lich der Fall – ein dauerhafter Bericht
21). Zu diesem Zeitpunkt war die Mög- über seine Errungenschaft und seine nun
lichkeit, Leben anders als durch ein vollkommene Stellung vor Gott.
Wunder Gottes zu zeugen, nicht mehr 4,24 Es wurde aber »auch unsertwe-
gegeben. Doch Gott hatte ihm einen Sohn gen« geschrieben. Auch uns wird der
verheißen, und Abraham glaubte an Got- Glaube zur Gerechtigkeit gerechnet,
tes Verheißung. wenn »wir an« Gott »glauben, der Jesus,
Ohne »schwach im Glauben« zu wer- unseren Herrn, aus den Toten aufer-
14)
den, »sah er nicht« »seinen eigenen, weckt hat«. Der einzige Unterschied ist:
schon erstorbenen Leib an«, auch nicht Abraham glaubte, daß Gott den Toten
»das Absterben des Mutterleibes der Leben geben werde (d. h., seinem schwa-
Sara«. Menschlich gesprochen war es chen Körper und Saras unfruchtbaren
hoffnungslos, doch Abraham hatte Glau- Leib). Wir glauben, daß Gott den Toten
ben. Leben gegeben hat, indem er den Herrn
4,20 Die scheinbare Unmöglichkeit, Jesus Christus auferweckt hat.
daß die »Verheißung« je erfüllt würde, C. H. Mackintosh erklärt:
konnte ihn nicht umwerfen. Gott hatte es Abraham war berufen, einem Verspre-
gesagt, Abraham glaubte es, und damit chen zu glauben, während wir das Vorrecht
war die Sache erledigt. Nur eines war für haben, einer vollendeten Tatsache zu glau-
den Patriarchen unmöglich, nämlich, ben. Er war berufen, in die Zukunft zu
daß Gott lügen könnte. Der Glaube Abra- schauen auf etwas, das noch geschehen muß-
hams war stark und lebendig. Er gab te, wir schauen zurück auf eine vollendete
»Gott die Ehre«, indem er ihn als den sah, Tatsache, eine vorhandene Erlösung, die
auf dessen Verheißung man sich unge- durch die Tatsache eines auferstandenen und
achtet aller Gesetze der Wahrscheinlich- zur Rechten der Majestät im Himmel ver-
15)
keit oder des Zufalls verlassen kann. herrlichten Erlösers bewiesen ist.
4,21 Abraham wußte nicht, wie Gott 4,25 Der Herr Jesus wurde »unserer
sein Wort erfüllen würde, doch das war Übertretungen wegen dahingegeben
nebensächlich. Er kannte Gott und hatte und unserer Rechtfertigung wegen auf-
das feste Vertrauen, daß Gott »was er erweckt«. Obwohl die Präposition »we-
verheißen habe, auch zu tun vermöge«. gen« (gr. dia) hier sowohl in Verbindung
Einerseits war es wunderbarer Glaube, mit unseren Sünden als auch unserer
doch andererseits war es das Vernünftig- Rechtfertigung gebraucht wird, verlangt
ste, was er überhaupt tun konnte, denn der Zusammenhang eine jeweils leicht
Gottes Wort ist das sicherste im ganzen anders geartete Bedeutung. Er wurde
Universum, und es lag kein Risiko für »dahingegeben« nicht nur »unserer
Abraham in der Tatsache, daß er daran Übertretungen wegen«, sondern auch,
glaubte! um sie hinwegzunehmen. Er wurde »un-
4,22 Gott gefiel es sehr, einen Mann serer Rechtfertigung wegen auferweckt«
zu finden, der ihn beim Wort nahm. Das – d. h., um Gottes vollständige Zufrie-

625
Römer 4 und 5

denheit mit dem Werk Christi zu zeigen, kommen und dauerhaft ist, wie die Chri-
durch das wir gerechtfertigt sind. Im sti, weil wir in Christus sind.
ersten Fall waren »unsere Übertretun- Als ob das nicht genug wäre, »rüh-
gen« das Problem, das behandelt werden men« wir uns auch »in der Hoffnung der
mußte. Im zweiten Fall ist »unsere Recht- Herrlichkeit Gottes«. Das bedeutet, daß
fertigung« das Ergebnis, das durch die wir freudig der Zeit entgegensehen,
Auferstehung Christi bestätigt wird. Es wenn wir nicht nur die ganze Herrlich-
hätte keine Rechtfertigung gegeben, keit Gottes sehen werden, sondern selbst
wäre Christus im Grab geblieben. Doch auch in Herrlichkeit dargestellt werden
die Tatsache, daß er auferstanden ist, sagt (s. Joh 17,22; Kol 3,4). Wir können die
uns, daß das Werk vollbracht, der Preis volle Bedeutung dieser Hoffnung hier
gezahlt und Gott auf ewig mit dem Süh- auf Erden nicht erfassen, auch werden
newerk unseres Heilandes zufriedenge- wir das Wundern darüber in alle Ewig-
stellt ist. keit nicht verlernen.
5,3 Die vierte Segnung, die uns durch
F. Die praktischen Auswirkungen die Rechtfertigung zuteil wird, ist, daß
des Evangeliums (5,1-11) wir uns »auch in den Trübsalen . . . rüh-
Der Apostel führt seine Argumentation men« – nicht so sehr unserer jetzigen Pro-
für die Rechtfertigung einen Schritt wei- bleme, sondern ihrer zukünftigen Ergeb-
ter, indem er die Frage aufgreift: Was be- nisse (s. Hebr 12,11). Es ist einer der
wirkt die Gerechtigkeit vor Gott im Leben des wunderbaren Widersprüche des christli-
Gläubigen? Mit anderen Worten, hat sie chen Glaubens, daß die Freude in der
wirklich einen Sinn? Seine Antwort ist ein Anfechtung erhalten bleiben kann. Das
kräftiges Ja, und er zählt sieben Segnun- Gegenteil der Freude ist Sünde, nicht
gen auf, die jeder Gläubige empfangen Leiden. Eines der Nebenprodukte der
hat. Die Segnungen empfängt der Gläubi- »Trübsal« ist, daß sie »Ausharren« oder
ge durch Christus. Er ist der Mittler zwi- Geduld nach sich zieht. Wir könnten nie-
schen Gott und Mensch, und alle Gottes- mals geduldig werden, wenn es in unse-
gaben werden durch ihn vermittelt. rem Leben keine Probleme gäbe.
5,1 Die erste große Segnung, die die- 5,4 Paulus fährt nun fort zu erklären,
jenigen von uns erhalten haben, die aus daß »Ausharren . . . Bewährung« nach
Glauben gerechtfertigt worden sind, ist sich zieht. Wenn Gott sieht, wie wir uns
»Frieden mit Gott durch unseren Herrn unter unseren Lasten bewähren und auf
Jesus Christus«. Der Krieg ist vorbei. Die ihn hoffen, daß er seinen Plan in unserem
Feindseligkeiten sind begraben. Durch Leben zur Durchführung bringt, dann
das Werk unseres Herrn Jesus Christus schenkt er uns das Siegel »Gut bewährt«
sind alle Ursachen für die Feindschaft dafür. Wir sind geprüft worden und
zwischen Mensch und Gott ausgeräumt. haben uns bewährt. Und in diesem Sinne
Wir sind von Feinden zu Freunden ge- erfüllt uns diese »Bewährung« mit
worden, und zwar durch ein Gnaden- »Hoffnung«. Wir wissen, daß Gott an un-
wunder. serem Leben arbeitet und unseren Cha-
5,2 Außerdem haben wir »Zugang« rakter schleift. Das gibt uns das Vertrau-
zu einer unbeschreiblichen Vorrechtsstellung en, daß er, der das gute Werk an uns
vor Gott. Wir sind in dem Geliebten ange- begonnen hat, es auch vollenden wird
nommen, deshalb stehen wir Gott so (Phil 1,6).
nahe und werden von ihm wie sein eige- 5,5 »Die Hoffnung aber läßt nicht
ner Sohn geliebt. Der Vater gibt auch uns zuschanden werden«. Wenn wir auf
das goldene Zepter und heißt uns als etwas hoffen würden, doch später her-
Kinder, nicht als Fremde, willkommen. ausfänden, daß wir es niemals erhalten
»Diese Gnade«, oder diese Gnadenstel- werden, dann wäre unsere Hoffnung
lung, umfaßt jeden Aspekt unserer Stel- enttäuscht oder »zuschanden« gewor-
lung vor Gott, eine Stellung, die so voll- den. Doch die Hoffnung auf unsere Er-

626
Römer 5

rettung wird niemals enttäuscht. Wir seinen Tod) und die daraus resultierende
werden niemals zuschanden werden Gewißheit, was der Erlöser für uns tun
oder bemerken, daß wir uns falsche wird (uns vom Zorn und durch sein
Hoffnungen gemacht haben. Wie können Leben erretten).
wir da so sicher sein? Weil »die Liebe Zuerst werden wir daran erinnert,
Gottes ausgegossen ist in unsere Her- daß wir schwach waren, hilflos, »kraft-
zen«. »Die Liebe Gottes« könnte entwe- los« und nicht in der Lage, uns selbst zu
der unsere Liebe zu Gott bedeuten oder erlösen. Doch zur vorherbestimmten Zeit
seine Liebe zu uns. Hier bedeutet es das kam der Herr Jesus Christus auf unsere
letztere, weil die Verse 6-20 einige der Erde und starb für alle Menschen. Und er
großen Beweise der Liebe Gottes zu uns starb nicht für die Guten, wie man viel-
aufzählen. Der »Heilige Geist, der uns« leicht annehmen könnte, sondern »für
in dem Augenblick »gegeben worden Gottlose«. Keine Tugend, kein Verdienst
ist«, in dem wir geglaubt haben, überflu- war an uns, mit denen wir uns Gott hät-
tet unsere Herzen mit diesen Auswir- ten angenehm machen können. Wir
kungen der ewigen Liebe Gottes, und waren völlig unwürdig, dennoch ist
dadurch empfangen wir die Glaubensge- »Christus« für uns »gestorben«.
wißheit, daß er uns sicher heim in den 5,7 Dieser Akt göttlicher Liebe war
Himmel bringen wird. Nachdem Sie den einzigartig und es gibt in der menschli-
Heiligen Geist erhalten haben, werden chen Geschichte keine Parallele dazu.
Sie merken, daß Gott Sie liebt. Es geht Dem normalen Menschen ist sein eigenes
hier nicht um das vage, mystische Ge- Leben wertvoll, und er würde nicht im
fühl, daß »über uns jemand wohnt«, der Traum daran denken, es für jemanden
sich um die Menschheit kümmert, son- Unwürdigen wegzuwerfen. Er würde
dern die tiefgegründete Überzeugung, z. B. nicht für einen Mörder, Ehebrecher
daß ein persönlicher Gott wirklich Sie oder Gangster sterben. Er würde sogar
ganz persönlich liebt. zögern, »für einen Gerechten« zu »ster-
5,6 In den Versen 6-20 schließt der ben«, einen, der ehrlich und zuverlässig
Apostel Paulus vom Kleineren auf das ist, aber nicht besonders freundlich. Es ist
Größere. Seine Logik lautet hier, daß, im äußersten Falle möglich, daß er für
wenn Gottes Liebe uns schon gesucht einen »Gütigen« sterben würde, einen,
hat, als wir noch seine gottlosen Feinde der freundlich, liebevoll und liebenswert
waren, er uns noch viel mehr jetzt bereit- ist.
hält, wo wir zu ihm gehören. Das bringt 5,8 Gottes »Liebe« ist ganz übernatür-
uns zur fünften Folge unserer Rechtferti- lich und von einer anderen Welt. Er zeig-
gung, nämlich daß wir in Christus auf te seine wunderbare »Liebe gegen uns
ewig sicher sind. Paulus entwickelt dieses darin«, daß er seinen geliebten Sohn
Thema, indem er fünfmal »vielmehr« sandte, um »für uns« zu sterben, »als wir
anführt. Das »vielmehr« der Errettung noch Sünder waren«. Wenn wir fragen,
vom Zorn (5,9). Das »vielmehr« der warum er das getan hat, dann müssen
Bewahrung durch Jesu Auferstehungsle- wir die Antwort im souveränen Willen
ben (5,10). Das »vielmehr« der Gnaden- Gottes suchen. An uns war nichts Gutes,
gabe (5,15). Das »vielmehr« des Herr- das solch eine Liebe hätte hervorrufen
schens im Leben des Gläubigen (5,17). können.
Das »vielmehr« der überschwenglichen 5,9 Nun herrschen völlig neue Bedin-
Gnade (5,20). gungen. Wir werden nicht länger als
In den Versen 6, 7 und 8 betont Pau- schuldige Sünder angesehen. Durch den
lus, was »wir . . . waren« (»kraftlos, Gott- enorm hohen Preis des Erlöserblutes
lose,« Sünder), als »Christus« für uns Jesu, das für uns auf Golgatha vergossen
»gestorben« ist. In den Versen 9 und 10 worden ist, werden wir von Gott gerecht
betont er, was wir jetzt sind (gerechtfer- gesprochen. Weil er solch einen hohen
tigt durch Christi Blut, versöhnt durch Preis für uns nicht gescheut hat, als wir

627
Römer 5

noch Sünder waren, wird er uns nicht nicht nur an den Gaben, sondern am
durch Christus »vielmehr . . . vom Zorn« Geber selbst. Ehe wir erlöst waren, haben
erlösen? Wenn er schon den höchsten wir unsere Freude woanders gesucht.
Preis dafür gezahlt hat, um uns ihm Nun werden wir erhoben, wann immer
angenehm zu machen, ist es wahrschein- wir uns an ihn erinnern, und sind nur
lich, daß er dann zulassen würde, daß traurig, wenn wir ihn vergessen. Was hat
wir am Ende doch verloren gehen? diesen wunderbaren Wandel bewirkt,
»Vom Zorn gerettet« könnte entweder daß wir nun in Gott fröhlich sein kön-
bedeuten »aus dem Zorn herausgerettet« nen? Es ist das Werk des »Herrn Jesus
oder »befreit von jeder Berührung mit Christus«. Wie alle anderen Segnungen
Zorn«. Wir sind der Ansicht, daß die Prä- kommt diese Freude »durch« ihn zu uns.
position (gr. apo) hier das letztere bedeu- Die siebte Segnung, die die Gerecht-
tet – für Zeit und Ewigkeit gerettet von fertigten empfangen, finden wir in den
jeder Berührung mit dem Zorn Gottes. Worten »durch den wir jetzt die Versöh-
5,10 Wenn wir nun daran zurückden- nung empfangen haben«. »Versöhnung«
ken, was wir waren und im Vergleich bezieht sich auf die Wiederherstellung
dazu jetzt sind, dann sollten wir es ein- der Harmonie zwischen Gott und
mal so sehen: »Als wir Feinde waren«, Mensch durch das Opfer des Erlösers.
wurden »wir . . . mit Gott versöhnt . . . Als die Sünde in die Welt kam, brachte
durch den Tod seines Sohnes«. Wir sie Entfremdung und Feindschaft zwi-
waren dem Herrn feindlich gesinnt und schen Mensch und Gott. Indem der Herr
waren damit auch ganz zufrieden. Wenn Jesus die Sünde wegnahm, den Grund
wir uns selbst überlassen gewesen der Entfremdung, führte er diejenigen,
wären, hätten wir nie die Notwendigkeit die an ihn glauben, in einen Zustand der
verspürt, uns mit ihm versöhnen zu las- Harmonie mit Gott zurück. Wir sollten
sen. Man stelle sich nur vor – »Feinde« anmerken, bevor wir weitergehen, daß
Gottes sind wir gewesen! Gott nicht versöhnt werden mußte. Der
Gott teilte unsere Ansichten in dieser Mensch mußte versöhnt werden, weil er
Angelegenheit nicht. Er schritt aus reiner Gott feindschaftlich gegenüberstand.
Gnade ein. Der stellvertretende Tod Chri-
sti beseitigte die Ursache unserer Feind- G. Der Sieg des Werkes Christi über
schaft Gott gegenüber – nämlich, unsere Adams Sünde (5,12-21)
Sünden. Durch den Glauben an Christus Der Rest von Kapitel 5 dient als Brücke
sind wir »mit Gott versöhnt« worden. zwischen dem ersten Teil des Briefes und
Wenn Gott unsere Versöhnung so den nächsten drei Kapiteln. Er ist mit
teuer erkauft hat, wird er uns dann je dem ersten Teil verbunden, indem er das
wieder fallen lassen? Wenn wir »mit Gott Thema der Verdammnis durch Adam
versöhnt wurden durch den Tod seines und der Rechtfertigung durch Christus
Sohnes«, der ein Symbol ausgesproche- aufnimmt und indem er zeigt, daß das
ner Schwachheit war, werden wir dann Werk Christi mit seinem Segen das Werk
nicht durch das gegenwärtige Leben Adams, das Elend und Verlust brachte,
Christi zur Rechten Gottes bis ans Ende viel mehr als nur wiedergutmacht. Der
bewahrt werden können, da dieses Abschnitt ist auch mit den Kapiteln 6-8
Leben doch unendliche Kraft beinhaltet? verbunden, indem er von der Rechtferti-
Wenn schon sein »Tod« solche Macht gung zur Heiligung übergeht, und von
hatte, uns zu erretten, wieviel mehr wird den einzelnen Sünden zur Sünde in der
dann »sein Leben« die Macht haben, uns Natur des Menschen.
die Erlösung zu bewahren! 5,12 Adam wird in diesen Versen als
5,11 Und nun kommen wir zur sech- Oberhaupt oder Stellvertreter all derer
sten Segnung der Rechtfertigung: »Wir gesehen, die zur alten Schöpfung ge-
rühmen uns auch Gottes durch unseren hören. Christus wird als Oberhaupt aller
Herrn Jesus Christus«. Wir freuen uns gesehen, die zur neuen Schöpfung ge-

628
Römer 5

hören. Ein Haupt handelt für alle, die Zunächst einmal lehrt die Bibel, daß
ihm unterstehen. Wenn etwa der Präsi- alle Menschen Sünder sind, sowohl von
dent eines Landes eine Eingabe zum ihrem Wesen her als auch durch ihre Pra-
Gesetz erhebt, dann handelt er für alle xis. Jeder, der von menschlichen Eltern
Bürger dieses Landes. geboren wird, erbt Adams Sünde und
Das geschah auch in Adams Fall. sündigt auch aus seinem eigenen Willen
Aufgrund seiner »Sünde« kam »der Tod heraus.
. . . in die Welt . . . zu allen Menschen«. Zweitens wissen wir, daß der Lohn
Der Tod wurde das gemeinsame Erbe der Sünde der Tod ist – sowohl der leibli-
aller Nachfahren Adams, »weil sie alle« che als auch die ewige Trennung von
in Adam »gesündigt haben«. Natürlich Gott.
ist es auch richtig, daß sie alle bestimmte Niemand muß die Strafe für die Sün-
Einzelsünden getan haben, aber darum de erleiden, es sei denn er wählt diesen
geht es hier nicht. Es geht Paulus darum, Weg. Das ist eine wichtige Tatsache. Um
daß die Sünde Adams eine stellvertreten- einen enormen Preis sandte Gott seinen
de Handlung war, und daß Gott seine Sohn, damit er als Stellvertreter für die
gesamte Nachkommenschaft so ansieht, Sünder sterben sollte. Die Erlösung von
daß sie mit ihm »gesündigt« hat. der Sünde und ihrem Lohn wird uns als
Man mag einwenden, daß es Eva war Geschenk durch den Glauben an den
und nicht Adam, die die erste Sünde auf Herrn Jesus Christus angeboten.
Erden beging. Das stimmt, doch weil Der Mensch wird aufgrund dreier
Adam als erster erschaffen worden ist, Tatsachen verurteilt: Er hat ein sündhaftes
wurde ihm die Funktion des Hauptes Wesen, weil ihm Adams Sünde zugeschrie-
zuerkannt. Dadurch hat er für alle seine ben wird, und er ist Sünder durch sein
Nachkommen stellvertretend gehandelt. praktisches Verhalten. Doch seine
Wenn der Apostel Paulus hier sagt, schlimmste Sünde ist die Ablehnung der
daß »der Tod zu allen Menschen durch- Erlösung, die Gott für ihn geschaffen hat
gedrungen ist«, dann bezieht er sich auf (Joh 3,18.19.36).
den leiblichen »Tod«, auch wenn der Sün- Man mag nun fragen: »Was ist mit
denfall Adam gleichzeitig den geistli- denen, die dieses Evangelium niemals
chen Tod brachte. (Die Verse 13 und 14 gehört haben?« Diese Frage wird, zumin-
weisen darauf hin, daß der leibliche Tod dest zum Teil, in Kapitel 1 beantwortet.
gemeint ist.) Darüber hinaus können wir in der Ge-
Wenn wir nun diesen Schriftabschnitt wißheit ruhen, daß der Richter der Welt
betrachten, dann erheben sich unaus- recht richten wird (1. Mose 18,25). Er
weichlich gewisse Fragen. Ist es gerecht, wird niemals ungerecht oder unfair han-
daß Adams Nachkommen nur deshalb deln. Alle seine Entscheidungen basieren
als Sünder angesehen werden, weil auf Gleichheit und Gerechtigkeit. Ob-
Adam gesündigt hat? Verurteilt Gott wohl gewisse Situationen nach unseren
Menschen dafür, daß sie als Sünder mit begrenzten Ansichten Probleme darstel-
einem sündhaften Wesen geboren sind, len, sind sie für Gott kein Problem. Wenn
oder nur für die Sünden, die sie wirklich der letzte Fall verhandelt ist und die
begangen haben? Wenn Menschen mit Türen des Gerichtssaales geschlossen
einem sündhaften Wesen geboren wer- werden, dann wird niemand eine Rechts-
den, wie kann Gott sie dann für das ver- grundlage haben, auf der er Einspruch
antwortlich machen, was sie tun? gegen das Urteil erheben könnte.
Viele Ausleger haben mit diesen Fra- 5,13 Paulus zeigt uns nun, daß die
gen und einer Menge ähnlicher Probleme Sünde Adams das ganze Menschenge-
gekämpft und haben eine erstaunliche schlecht beeinflußt hat. Er stellt zunächst
Zahl unterschiedlicher Schlüsse gezo- heraus, daß die »Sünde« vom Sündenfall
gen. Doch es gibt bestimmte Tatsachen, Adams an »bis zum Gesetz«, das dem
derer wir uns sicher sein können. Volk Israel auf dem Sinai gegeben wur-

629
Römer 5

de, »in der Welt« war. Doch während die- »Die Gnadengabe« ist jedoch stärker
ser Zeit gab es kein eindeutig offenbartes als »die Vielen«. Die Gnadengabe ist der
Gesetz Gottes. Adam hatte von Gott wunderbare Ausdruck der »Gnade Got-
mündlich ein deutliches Gebot vom tes« gegenüber einem sündigen Ge-
Herrn erhalten, und viele Jahrhunderte schlecht. Sie wird durch die »Gnade des
später bildeten die Zehn Gebote eine einen Menschen Jesus Christus« ermög-
besondere schriftliche Offenbarung gött- licht. Es war wirklich eine wunderbare
lichen Gesetzes. Doch in der Zwi- Gnade, daß er für seine rebellischen Ge-
schenzeit hatten die Menschen kein Ge- schöpfe gestorben ist. Durch seinen
setzeswerk von Gott. Deshalb gab es zu Opfertod wird die Gabe des ewigen
der Zeit zwar »Sünde«, doch keine Über- Lebens den »Vielen« angeboten.
tretung, weil Übertretung die Verletzung Die beiden »die Vielen« in diesem
eines bekannten Gesetzes bedeutet. Vers beziehen sich nicht auf dieselben
»Sünde aber wird nicht« als Übertretung Leute. Das erste »die Vielen« bezieht sich
»zugerechnet, wenn kein Gesetz ist«, das auf alle, die durch die Übertretung
sie verboten hätte. Adams dem Tod unterworfen wurden.
5,14 Doch der »Tod« machte während Das zweite »die Vielen« bezeichnet alle,
dieses Zeitalters, in welchem es kein die Teil der neuen Schöpfung werden,
Gesetz gab, keine Ferien. Mit der einen von der Christus das Oberhaupt ist.
Ausnahme von Henoch herrschte der Dazu gehören nur diejenigen, »gegen«
Tod über die gesamte Menschheit. Man die die Gnade »überströmend« gewor-
kann nicht sagen, daß diese Menschen den ist – d. h. echte Gläubige. Während
starben, weil sie ein eindeutiges Gebot Gottes Barmherzigkeit alle Menschen
Gottes übertreten hätten, wie Adam das umfaßt, ist seine Gnade nur für diejeni-
getan hatte. Warum starben sie dann? gen da, die dem Erlöser vertrauen.
Die Antwort ist hier impliziert: Sie star- 5,16 Es gibt noch einen weiteren
ben, weil sie in Adam gesündigt hatten. wichtigen Unterschied zwischen der
Wenn das unfair erscheint, dann sollten Sünde Adams und der »Gabe« Christi.
wir uns daran erinnern, daß das nichts Die eine Sünde Adams brachte unaus-
mit der Errettung zu tun hat. Alle, die an weichlich »das Urteil«, und das Urteil
den Herrn glaubten, sind für ewig erret- lautete: »Verloren!« Die »Gnadengabe«
tet. Doch trotzdem mußten sie leiblich Christi dagegen konnte »viele Übertre-
sterben, und der Grund für ihren Tod tungen« ausgleichen, nicht nur eine, und
war die Sünde ihres Oberhauptes Adam. führte zu dem Urteil: »Angenommen.«
In seiner Rolle als Oberhaupt war Adam Paulus betont die Unterschiede zwi-
»ein Bild« (oder Symbol) »des Zukünfti- schen der Sünde Adams und der Gabe
gen« – d. h. des Herrn Jesus Christus. In Christi, zwischen der schrecklichen Ka-
den folgenden Versen wird Paulus das tastrophe durch eine einzige Sünde und
Thema dieser beiden Oberhäupter weiter der gewaltigen Befreiung von vielen
ausführen, doch mehr durch ihre Unter- Sünden, und schließlich zwischen dem
schiede als durch ihre Ähnlichkeiten. Er Urteil der »Verdammnis« und dem Urteil
wird zeigen, daß in Christus die Söhne der »Gerechtigkeit«.
Adams mehr Segen erhalten haben, als 5,17 »Durch die Übertretung des
ihr Vater verloren hatte. einen« regierte »der Tod« als grausamer
5,15 Der erste Unterschied besteht Tyrann. Doch durch die »Gabe der Ge-
zwischen »der Übertretung« Adams und rechtigkeit«, einer Gabe überschweng-
»der Gnadengabe« Christi. Durch die licher »Gnade«, herrschen alle Gläubigen
»Übertretung« des ersten Menschen sind »im Leben . . . durch den einen, Jesus
»die Vielen gestorben«. »Die Vielen« sind Christus«.
hier natürlich Adams Nachkommen. Tod Welch eine Gnade! Wir sind nicht nur
könnte hier den geistlichen und den leib- von der Tyrannenherrschaft des Todes
lichen Tod bedeuten. befreit, sondern regieren selbst als Köni-

630
Römer 5

ge und genießen jetzt und in Ewigkeit ser Gegner, daß Sünde und Erlösung sich
das ewige Leben. Können wir das wirk- nicht um das Gesetz drehen, sondern um
lich verstehen und richtig schätzen? zwei Oberhäupter. Wenn das so ist, dann
Leben wir im Königreich des Himmels wird er versucht sein zu fragen: »Wofür
oder kriechen wir zwischen den Dreck- wurde dann das Gesetz gegeben?« Der
haufen dieser Welt herum? Apostel antwortet: »Das Gesetz aber kam
5,18 Die »Übertretung« Adams daneben hinzu, damit die Übertretung
brachte allen Menschen die »Verdamm- überströmend werde«. Es war nicht die
nis«, doch die »Gerechtigkeit« Christi Ursache der Sünde, sondern offenbarte,
brachte allen die »Rechtfertigung des daß die Sünde eine »Übertretung« des
Lebens«. Die »Gerechtigkeit« war nicht Willens Gottes ist und damit gegen ihn
das Leben unseres Heilandes oder sein gerichtet ist. Das Gesetz erlöste nicht von
Halten des Gesetzes, sondern sein stell- der Sünde, sondern offenbarte das ganze
vertretender Tod auf Golgatha. Der schreckliche Wesen der Sünde.
brachte uns die »Rechtfertigung des Le- Doch Gottes Gnade erwies sich als
bens«, – d. h. die »Rechtfertigung«, die größer als aller Menschen Sünde. »Wo
uns das »Leben« schenkt – und brachte aber die Sünde überströmend gewor-
sie »für alle Menschen«. den«, ist Gottes »Gnade« auf Golgatha
Das zweifache »alle« in diesem Vers »noch überschwenglicher geworden«!
bezieht sich nicht auf dieselben Men- 5,21 Da nun die Herrschaft der Sün-
schen. Das erste bezieht sich auf »alle«, de, die alle Menschen mit dem Tod
die in Adam sind. Das zweite dagegen geplagt hat, beendet ist, regiert »die Gna-
steht für »alle«, die in Christus sind. Das de . . . durch Gerechtigkeit« und gibt
wird durch die Worte des vorhergehen- ewiges »Leben durch Jesus Christus«.
den Verses deutlich: ». . . welche die Man beachte, daß die Gnade »durch
Überschwenglichkeit der Gnade und der Gerechtigkeit« regiert. Alle Anforderun-
Gabe der Gerechtigkeit empfangen . . .« gen der Heiligkeit Gottes sind erfüllt
Der Mensch muß die Gabe durch den Glau- worden und die Strafe, die das Gesetz
ben empfangen. Nur diejenigen, die ihr verlangt, ist bezahlt worden, so daß Gott
Leben dem Herrn anvertrauen, empfan- nun das ewige Leben allen schenken
gen die »Rechtfertigung des Lebens«. kann, die die Verdienste Christi, ihres
5,19 Genauso, wie »durch« Adams Stellvertreters, für sich in Anspruch neh-
»Ungehorsam« gegenüber Gottes Gebot men.
»die vielen in die Stellung von Sündern Vielleicht haben wir in diesen Versen
gesetzt worden sind, so werden auch eine teilweise Antwort auf die bekannte
durch den Gehorsam« Christi gegenüber Frage, warum Gott es überhaupt zuge-
dem Vater »die vielen« für »gerecht« lassen habe, daß die Sünde in die Welt
erklärt. Christi Gehorsam führte ihn ans gekommen ist. Die Antwort lautet, daß
Kreuz, wo er unsere Sünden trug. Gott so mehr Ehre und der Mensch mehr
Es ist vergeblich, daß die Allversöh- Segen durch das Opfer Christi erhalten
ner diese Verse zu mißbrauchen versu- hat, als wenn die Sünde nie in die Welt
chen, um zu beweisen, daß am Ende alle gekommen wäre. Wir haben in Christus
Menschen gerettet werden. Dieser Ab- eine bessere Stellung als die, welche wir
schnitt behandelt zwei verschiedene je in einem nicht gefallenen Adam hätten
Oberhäupter, und es ist eindeutig, daß haben können. Wenn Adam nicht gesün-
so, wie Adams Sünde alle die betrifft, die digt hätte, hätte er ein ewiges Leben auf
»in ihm« sind, so auch Christi Gehorsam Erden im Garten Eden gehabt. Doch er
nur denen nützt, die »in ihm« sind. hätte nie die Aussicht gehabt, ein erlöstes
5,20 Was Paulus hier gesagt hat, ist Kind Gottes, ein Erbe Gottes oder ein
für den jüdischen Diskussionsgegner ein Miterbe Christi zu werden. Er hätte keine
Schlag, weil er der Ansicht war, daß sich Verheißung einer Heimat im Himmel
alles um das Gesetz drehe. Nun lernt die- oder der ewigen Gemeinschaft und

631
Römer 5 und 6

Ebenbildlichkeit mit Christus erhalten. de« zu »verharren, damit die Gnade


Diese Segnungen erhalten wir nur überströme«?
»durch« das Erlösungswerk unseres Eine moderne Version dieses Argu-
Herrn »Jesus Christus«. mentes lautet: »Sie sagen, daß Menschen
durch die Gnade durch den Glauben
H. Der evangeliumsgemäße Weg zu erlöst werden, ohne das Gesetz. Doch
einem geheiligten Leben (Kap. 6) wenn man einfach nur glauben muß, um
Was Paulus gegen Ende des Kapitels 5 erlöst zu werden, dann könnte doch
gesagt hat – nämlich, daß die Gnade für jeder hingehen und weiterhin in Sünde
die Sünder überströmend geworden ist – leben.« Nach diesem Argument bietet
wirft eine weitere Frage auf, und zwar die Gnade keine ausreichende Motivati-
eine sehr wichtige. Verführt die Lehre von on für ein geheiligtes Leben. Es behaup-
der Erlösung durch die Gnade im Glauben tet, man müsse die Menschen unter die
nicht zu einem sündhaften Lebensstil? Begrenzungen des Gesetzes stellen.
Die Antwort, ein ausdrückliches Ein Ausleger hat herausgefunden,
»Nein«, erstreckt sich über die Kapitel 6- daß es auf diese erste Frage: »Sollten wir
8. Hier in Kapitel 6 dreht sich die Ant- in der Sünde verharren?« vier Antworten
wort um drei Schlüsselwörter: erkennen in diesem Kapitel gibt.
(V. 3.6), sich halten für (V. 11) und sich zur 1. Das kann man nicht, da man mit Chri-
Verfügung stellen (V. 13). stus eins gemacht ist. Aussage (V. 1-
Es wird uns helfen, der Argumentati- 11).
on des Paulus in diesem Kapitel zu fol- 2. Das braucht man nicht, da die Herr-
gen, wenn wir den Unterschied zwi- schaft der Sünde über das persönli-
schen der Stellung und dem Lebensvoll- che Leben durch die Gnade gebro-
zug des Christen verstehen. Die Stellung chen worden ist. Aufruf (V. 12-14).
des Christen ist sein Sein in Christus. 3. Das darf man nicht, weil es einen wie-
Sein Lebensvollzug ist das, was er im der unter die Herrschaft der Sünde
täglichen Leben ist oder sein sollte. bringen würde. Befehl (V. 15-19).
Die Gnade gibt uns die Stellung und 4. Das sollte man nicht tun, denn es wür-
lehrt uns dann, dieser Stellung würdig de in einer Katastrophe enden.War-
16)
zu leben. Unsere Stellung ist vollkom- nung (V. 20-23).
men, weil wir in Christus sind. Unser 6,2 Die erste Antwort des Paulus lau-
Lebensvollzug sollte in immer größerem tet also, daß wir nicht in der Sünde ver-
Maße unserer Stellung entsprechen. Er harren können, weil »wir der Sünde
wird jedoch der Stellung nicht eher voll- gestorben sind«. Diese Wahrheit bezieht
kommen entsprechen, bis wir unseren sich auf die Stellung. Als Jesus der Sünde
Heiland im Himmel sehen, doch wir soll- starb, tat er das als unser Repräsentant.
ten in der Zwischenzeit immer mehr in Er starb nicht nur als unser Stellvertreter –
sein Bild umgewandelt werden. d. h. für den Menschen, oder an seiner
Der Apostel erklärt zunächst die Stelle – sondern auch als unser Repräsen-
Wahrheit unserer Identifikation mit tant – d. h. als Mensch. Deshalb starben
Christus in seinem Tod und seiner Aufer- wir mit ihm, als er starb. Er starb der
stehung, und ermahnt uns dann zum ganzen Sündenfrage und löste sie ein für
Leben im Licht dieser großartigen Wahr- allemal. Und diejenigen, die in Christus
heit. sind, werden von Gott als der Sünde ge-
6,1 Der jüdische Diskussionsgegner storben angesehen.
greift nun mit einem, wie er meint, aus- Das bedeutet nicht, daß der Gläubige
schlaggebenden Argument an. Wenn das sündlos wäre. Es bedeutet, daß er mit
Evangelium der Gnade lehrt, daß die Christus in dessen Tod identifiziert wird,
Sünde des Menschen dafür sorgt, daß und mit all dem, was sein Tod bedeutet.
Gottes Gnade noch leuchtender hervor- 6,3 Das erste Schlüsselwort in der
tritt, regt es dann nicht an, »in der Sün- Argumentation des Paulus lautet wissen.

632
Römer 6

Er führt hier das Thema Taufe ein, um zu wird. Wenn er sich untertauchen läßt,
zeigen, daß es für einen Gläubigen mora- sagt er: »Alles, was ich als sündiger Sohn
lisch inkonsequent wäre, in der Sünde zu Adams war, ist am Kreuz in den Tod ge-
verharren. Doch erhebt sich sofort die geben worden.« Wenn er aus dem Was-
Frage: »Auf welche Taufe bezieht Paulus ser wieder hinaufsteigt sagt er: »Nicht
sich hier?« Deshalb ist an dieser Stelle ein ich lebe, sondern Christus lebt in mir«
erläuterndes Wort notwendig. (s. Gal 2,20).
Wenn ein Mensch erlöst wird, wird er Conybeare und Howson sagen aus,
in dem Sinne »auf Christus getauft«, daß daß »dieser Abschnitt nur verstanden
er mit Christus in seinem »Tod« und sei- werden kann, wenn man sich vor Augen
ner Auferstehung eins wird. Das ist nicht hält, daß die erste Form der Taufe die
dasselbe wie die Taufe im (oder mit) dem Taufe durch Untertauchen war«.
Geist, auch wenn beide gleichzeitig statt- Der Apostel geht nun weiter, indem er
finden. Die letztere Art der Taufe versetzt festhält, daß die Auferstehung Christi es
den Gläubigen in den Leib Christi (1. Kor uns ermöglicht, daß »wir in Neuheit des
12,13), sie ist keine Taufe in den Tod. Die Lebens wandeln«. Er erklärt, daß »Chri-
Taufe »auf Christus« bedeutet, daß der stus aus den Toten auferweckt worden ist
Gläubige in Gottes Augen mit Christus durch die Herrlichkeit des Vaters«. Das
gestorben und wieder auferstanden ist. bedeutet ganz einfach, daß die vollkom-
Wenn Paulus hier von der Taufe menen Eigenschaften Gottes – seine Ge-
spricht, dann denkt er sowohl an unsere rechtigkeit, Liebe, Heiligkeit etc. – ver-
geistliche Identifikation mit Christus als langten, daß er den Herrn auferweckte. In
auch an die bildhafte Darstellung dieses Anbetracht der Vollkommenheit unseres
Vorgangs in der Wassertaufe. Doch wäh- Heilandes wäre es nicht mit Gottes Cha-
rend er sein Argument ausführt, verla- rakter vereinbar gewesen, ihn im Grab zu
gert er seine Betonung in besonderer lassen. Gott hat ihn auferweckt, und weil
Weise auf die Wassertaufe, weil er seine wir mit Christus in seiner Auferstehung
Leser daran erinnert, wie sie »begraben« identifiziert werden, können und sollen
und »verwachsen« sind »mit der Gleich- »wir in Neuheit des Lebens wandeln«.
heit« des Todes Christi. 6,5 So, wie »wir verwachsen sind mit
Das Neue Testament denkt über die der Gleichheit« des »Todes« Christi, »so
unnormale Situation eines nicht getauf- werden wir es auch mit der seiner Aufer-
ten Gläubigen nicht nach. Es geht davon stehung sein«. Die Worte »die Gleichheit
aus, daß diejenigen, die sich bekehrt seines Todes« beziehen sich darauf, daß
haben, auch gleich getauft werden. So der Gläubige bei der Taufe unter Wasser
konnte unser Herr im gleichen Atemzug getaucht wird. Die wirkliche Vereini-
von Glaube und Taufe sprechen: »Wer gung mit Christus in seinem Tod fand
gläubig geworden und getauft worden vor fast 2000 Jahren statt, doch die Taufe
ist, wird errettet werden« (Mk 16,16). ist eine »Gleichheit« oder ein »Gleichnis«
Obwohl die Taufe nicht heilsnotwendig dessen, was damals passiert ist.
ist, sollte sie jedoch das normale öffentli- Wir werden nicht nur unter Wasser
che Zeugnis der Errettung sein. getaucht, sondern stehen aus dem Was-
6,4 Die Wassertaufe ist eine Sichtbar- ser wieder auf, was eine »Gleichheit . . .
machung der »Taufe« in Christus. Sie seiner Auferstehung« ist. Es ist zwar
stellt dar, wie der Gläubige in die finste- richtig, daß der Ausdruck »mit der
ren Wasser des Todes getaucht wird (in Gleichheit« im zweiten Teil des Verses im
der Person unseres Herrn Jesus) und sie Original nicht wiederholt wird, doch
zeigt die Auferstehung des neuen Men- muß man ihn hier ergänzen, um die
schen in Christus, um in einem neuen Bedeutung zu vervollständigen.
Leben zu wandeln. In gewissem Sinne So, wie »wir verwachsen sind mit der
besucht der Gläubige die Beerdigung sei- Gleichheit« des »Todes« Christi (Unter-
nes alten Menschen, wenn er getauft tauchen unter Wasser), »so werden wir«

633
Römer 6

mit ihm auch vereinigt in der Gleichheit 6,8 Unser Tod »mit Christus« ist eine
»seiner Auferstehung« (Auftauchen aus Seite der Medaille. Die andere Seite ist,
dem Wasser). Der Ausdruck »so werden »daß wir auch mit ihm leben werden«.
wir« muß nicht unbedingt auf die Zu- Wir sterben der Sünde und leben an-
kunft verweisen. Hodge sagt dazu: schließend der Gerechtigkeit. Die Herr-
Es geht hier nicht darum, was hiernach schaft der Sünde über uns ist erschüttert,
passiert, sondern darum, daß die Reihenfolge und wir teilen hier und jetzt das Aufer-
zwingend ist. Es geht um den kausalen stehungsleben Christi. Und – preist sei-
Zusammenhang. Wenn das eine geschieht, nen Namen! – wir werden es in alle
geschieht danach auch zwangsläufig das Ewigkeit mit ihm teilen.
17)
andere. 6,9 Unsere Zuversicht basiert auf der
6,6 In der Taufe bekennen wir, »daß Tatsache, daß der auferstandene Christus
unser alter Mensch mitgekreuzigt wor- nie wieder sterben wird. »Der Tod
den ist« mit Christus. Die Worte »unser herrscht nicht mehr über ihn.« Drei Tage
alter Mensch« beziehen sich auf alles, lang konnte der Tod über unseren Herrn
was wir als Kinder Adams waren – auf herrschen, doch diese Herrschaft ist für
unser altes, böses, nichtwiedergeborenes immer vorbei. Christus kann nie mehr
Wesen, mit all unseren alten Gewohnhei- sterben!
ten und Begierden. Bei der Bekehrung 6,10 Als der Herr Jesus »gestorben
ziehen wir den alten Menschen aus und ist«, starb er »ein für allemal« für die
ziehen den neuen an, als ob wir schmut- »Sünde«. Er starb den Ansprüchen der
zige Lumpen gegen makellose Kleidung Sünde, ihrem Lohn, ihren Forderungen
eintauschen würden (Kol 3,9.10). und ihrer Strafe. Er vollendete das Werk
Die Kreuzigung des »alten Men- und beglich die Rechnung so vollkom-
schen« auf Golgatha bedeutet, daß »der men, daß sie niemals wiederholt werden
Leib der Sünde« aus dem Verkehr gezo- braucht. »Was er aber lebt, lebt er Gott.«
gen worden ist. Der Ausdruck »der Leib Natürlich lebte er in gewissem Sinne
der Sünde« bezieht sich nicht auf den immer für Gott. Doch nun »lebt er Gott«
natürlichen Leib. Es geht mehr um die in in einer neuen Beziehung, als der Aufer-
uns wohnende Sünde, die als ein perso- standene, und in einer neuen Sphäre,
nifizierter Tyrann in uns herrscht. Der wohin die Sünde niemals gelangen kann.
Leib der Sünde wird »abgetan«, d. h., er Ehe wir weitergehen, sollten wir die
wird als Kontrollinstanz abgeschafft. Der letzten zehn Verse nochmals überdenken.
letzte Satzteil beweist, daß dies die Be- Das Hauptthema ist Heiligung – Gottes
deutung ist: »Daß wir der Sünde nicht Methode für heilige Lebensführung. Von
mehr dienen.« Die Tyrannei der Sünde unserer Stellung vor Gott her werden wir
über uns hat ein Ende. als mit Christus gestorben und auferstan-
6,7 »Denn wer gestorben ist, ist frei- den angesehen. Das wird in der Taufe
gesprochen von der Sünde.« Hier ist z. B. dargestellt. Unser Tod mit Christus been-
ein Mann, der zum Tode auf dem elektri- det unsere Geschichte als Männer und
schen Stuhl verurteilt worden ist, weil er Frauen in Adam. Gottes Urteil über unse-
einen Polizisten ermordet hat. Sobald er ren alten Menschen lautete nicht Verän-
stirbt, wird er von dieser Sünde »freige- derung sondern Tod. Und dieses Urteil
sprochen« (wörtlich: gerechtfertigt). Die wurde vollstreckt, als wir mit Christus
Strafe ist vollzogen und der Fall ist damit starben. Nun sind wir mit Christus aufer-
erledigt. standen, um in Neuheit des Lebens zu
Nun sind wir mit Christus am Kreuz wandeln. Die Tyrannei der Sünde über
von Golgatha gestorben. Nicht nur die uns ist gebrochen, weil die Sünde zu
Strafe ist vollzogen, sondern auch die einem Toten nichts mehr zu sagen hat.
Macht der Sünde über unser Leben ist Wir sind nun frei, für Gott zu leben.
gebrochen. Wir sind nicht länger hilflose 6,11 Paulus hat bisher unsere Stellung
Gefangene der Sünde. beschrieben. Nun wendet er sich dem

634
Römer 6

praktischen Ausleben dieser Wahrheit in Wahrheit über unsere Stellung vor Gott.
unserem Leben zu. Wir sollen uns »der Wir sollen »nicht die Sünde in« unserem
Sünde für tot . . . halten, Gott aber lebend »sterblichen Leib« herrschen lassen,
in Christus Jesus«. indem wir ihrem bösen Verlangen nach-
Dieses »sich halten für« bedeutet hier, geben. Auf Golgatha wurde die Herr-
die Wahrheit anzunehmen, die Gott uns schaft der Sünde durch den Tod beendet.
über uns sagt und im Licht dieser Wahr- Nun müssen wir das praktisch werden
heit zu leben. Ruth Paxson schreibt: lassen. Dazu ist unsere Mitarbeit gefragt.
[Es bedeutet] zu glauben, was Gott in Nur Gott kann uns heiligen, doch er wird
Kapitel 6,6 sagt, und zu wissen, daß dies eine es nicht tun, wenn wir nicht freiwillig
Tatsache der eigenen persönlichen Errettung mitarbeiten.
ist. Das verlangt von uns einen Glaubens- 6,13 Das bringt uns zum dritten
schritt, der sich in einer kompromißlosen Schlüsselwort in diesem Kapitel – zur
Haltung gegenüber dem »alten Menschen« Verfügung stellen. Wir dürfen die »Glie-
äußert. Wir sehen ihn, wie Gott ihn sieht – der« unseres Leibes »nicht . . . der Sünde
am Kreuz, mit Christus getötet. Der Glaube zur Verfügung . . . stellen«, daß sie als
wird ständig daran arbeiten, ihn dort zu hal- Waffen oder Werkzeuge der Ungerech-
ten, wohin die Gnade ihn gestellt hat. Das tigkeit dienen können. Unsere Verpflich-
beansprucht uns sehr persönlich, denn es tung ist es, die Kontrolle über unsere
bedeutet, daß wir von Herzen in Gottes Glieder »Gott« zu übergeben, damit sie
Urteil über das alte »Ich« einstimmen, daß es für die Sache der »Gerechtigkeit« benutzt
kein Lebensrecht und keinerlei rechtmäßige werden. Schließlich sind wir vom Tod
Ansprüche mehr auf uns hat. Der erste zum Leben erweckt worden, und wie wir
Schritt zu einem Leben praktischer Heili- in Kapitel 6,4 erinnert worden sind, soll-
gung ist das Zählen auf die Tatsache, daß ten wir in Neuheit des Lebens wandeln.
18)
unser »alter Mensch« gekreuzigt ist. 6,14 Nun wird noch ein anderer
Wir »halten« uns selbst »der Sünde Grund angegeben, aus dem »die Sünde
für tot«, wenn wir auf Versuchung so rea- . . . nicht über uns« als Gläubige »herr-
gieren, wie ein Toter reagieren würde. schen« soll. Der erste Grund ist, daß
Eines Tages wurde Augustinus von einer unser alter Mensch mit Christus gekreu-
Frau belästigt, mit der er vor seiner zigt ist (Kap. 6,6). Der zweite Grund lau-
Bekehrung zusammengelebt hatte. Als er tet, daß wir »nicht unter Gesetz, sondern
sich umdrehte und schnell wegging, rief unter Gnade« leben.
sie ihm nach: »Augustinus, ich bin’s Die Sünde hat bei einem Menschen,
doch, ich bin’s!« Augustinus ging nur der unter dem Gesetz steht, die Ober-
noch schneller und rief ihr über die hand. Warum? Weil ihm das Gesetz zwar
Schulter zu: »Ja, ich weiß, aber ich bin’s sagt, was er zu tun hat, ihm aber die
19)
nicht mehr!« Er meinte damit, daß er Kraft dafür nicht gibt. Und das Gesetz
für die »Sünde . . . tot« sei und nun »Gott stöbert unterschwellige Bedürfnisse des
lebe«. Ein Toter hat mit Unzucht, Lügen, gefallenen Menschen auf, so daß er das
Betrügen, Klatschsucht und allen ande- Verbotene tun will. Es ist eine alte Ge-
ren Sünden nichts mehr zu tun. schichte, daß »verbotene Früchte süßer
Wir sind nun »Gott . . . lebend in sind als andere«.
Christus Jesus«. Das bedeutet, daß wir zu »Die Sünde wird nicht« über denjeni-
Heiligung, Anbetung, Gebet, Dienst und gen »herrschen«, der unter der Gnade
zum Fruchttragen berufen sind. steht. Der Gläubige ist der Sünde gestor-
6,12 Wir sahen in Kapitel 6,6, daß ben. Er hat den Heiligen Geist als Kraft-
unser alter Mensch gekreuzigt ist, so daß quelle für ein geheiligtes Leben erhalten.
die Sünde nun nicht mehr als Tyrann Und er wird durch die Liebe zum Hei-
regieren darf und wir nicht länger ihre land motiviert, nicht durch Furcht vor
hilflosen Gefangenen sind. Die prakti- Strafe. Nur die »Gnade« kann Heiligung
sche Ermahnung basiert nun auf der hervorbringen. Wie Denney sagt: »Nicht

635
Römer 6

die Einschränkung, sondern die Inspira- Ausdruck »von der Sünde . . . frei ge-
tion befreit von Sünde. Der Mensch wird macht« bedeutet nicht, daß sie nun keine
nicht auf dem Sinai heilig, sondern auf Sündennatur mehr hätten. Der Zusam-
20)
Golgatha.« menhang zeigt, daß es hier um die Frei-
6,15 Diejenigen, die vor der »Gnade« heit von der Sünde als herrschendes
Angst haben, sind der Ansicht, daß sie Lebensprinzip geht.
uns einen Freibrief für die Sünde gibt. 6,19 In Vers 18 spricht der Apostel
Paulus begegnet diesem Fehlschluß frei- von den Sklaven der Gerechtigkeit, doch
mütig, indem er die Frage stellt, und sie er erkennt, daß diejenigen, die gerecht
dann einfach mit Nein beantwortet. Wir leben, nicht in einer echten Sklaverei
sind vom Gesetz frei, aber nicht gesetz- leben. »Praktische Gerechtigkeit ist keine
los. »Gnade« bedeutet die Freiheit, dem Sklaverei, außer wenn wir menschlich
21)
Herrn zu dienen und nicht gegen ihn zu reden.« Diejenigen, die die Sünde tun,
sündigen. sind Sklaven der Sünde, doch wen der
In Kapitel 6,1 lautete die Frage: »Soll- Sohn frei macht, der ist wirklich frei
ten wir in der Sünde verharren?« Hier (Joh 8,34.36).
lautet sie: »Sollen wir« nicht nur ein Paulus erklärt, daß er, indem er das
bißchen »sündigen«? Die Antwort ist in Gleichnis vom »Sklaven« und Meister
beiden Fällen ein entsetztes »Das sei fer- benutzt, »menschlich« redet, d. h. er
ne!« Gott kann keinerlei Sünde gut- benutzt ein bekanntes Bild aus dem All-
heißen. tag. Er tut das »wegen der Schwachheit«
6,16 Es ist eine einfache Tatsache ihres »Fleisches« – mit anderen Worten,
unseres Lebens, daß wir dessen Sklave wegen ihrer intellektuellen und geistli-
werden, dem wir uns als unserem Herrn chen Probleme, die Wahrheit zu verste-
unterstellen. Ebenso, wenn wir uns der hen, wenn man sie in allgemeine Begriffe
Sünde verkaufen, werden wir zu »Skla- faßt. Die Wahrheit muß sehr oft veran-
ven« der Sünde, und der ewige »Tod« schaulicht werden, damit sie verstanden
wird uns am Ende dieses Weges erwar- wird.
ten. Wenn wir uns aber Gott unterstellen Vor ihrer Bekehrung hatten die Gläu-
und ihm gehorchen wollen, dann ist die bigen ihre Leiber »als Sklaven« aller
Folge ein geheiligtes Leben. Die Sklaven möglichen Formen »der Unreinheit« und
der Sünde werden durch Schuld, Furcht einer Schlechtigkeit nach der andern hin-
und Unglück geknechtet, doch die gegeben. Nun sollten sie diese gleichen
Knechte Gottes sind frei zu tun, was der Leiber »als Sklaven der Gerechtigkeit«
neue Mensch gerne tut. Warum wollen hingeben, so daß ihr Leben wirklich hei-
Sie ein Sklave bleiben, wenn Sie doch frei lig würde.
sein können? 6,20 »Als« sie noch »Sklaven der Sün-
6,17 »Aber Gott sei Dank! Ihr seid de« waren, war die einzige Freiheit, die
nicht mehr hilflos der Sünde ausgeliefert, sie kannten, die Freiheit »gegenüber der
sondern ihr gehorcht mit Leib und Seele Gerechtigkeit«. Das war eine verzweifel-
dem Evangelium, wie es euch gelehrt te Lage – von allem Bösen gebunden und
worden ist« (Hfa). Die römischen Chri- »frei« von allem Guten!
sten waren dem Evangelium der Gnade, 6,21 Paulus fordert sie (und uns) auf,
dem sie anbefohlen worden waren, von eine Liste der Früchte eines nicht erlösten
Herzen gehorsam geworden, einschließ- Lebens zu nennen, die Früchte solcher
lich aller »Lehre«, die uns Paulus in die- Taten, »deren« sie sich »jetzt schämen«
sem Brief weitergibt. würden. Markus Rainsford hat eine sol-
6,18 Exakte Lehre sollte zu exaktem che Liste angelegt:
Gehorsam führen. Indem sie die Wahr- 1. Sämtliche mir gegebenen Möglichkeiten
heit annahmen, daß sie »von der Sünde mißbraucht.
. . . frei gemacht« worden sind, wurden 2. Gefühle zerbrochen.
sie »Sklaven der Gerechtigkeit«. Der 3. Zeit verschwendet.

636
Römer 6 und 7

4. Einfluß mißbraucht. des Kindes Gottes beendet hat. Nun wer-


5. Die besten Freunde betrogen. den wir sehen, daß der Tod gleicher-
6. Die eigenen Interessen verletzt. maßen auch die Herrschaft des Gesetzes
7. Die Liebe verhöhnt – insbesondere die über diejenigen beendet, die unter dem
Liebe Gottes. Oder, um es in einem Wort Gesetz stehen.
22)
zu sagen: Schande. 7,1 Dieser Vers steht im Zusammen-
»Das Ende davon ist der Tod.« »Jede hang mit Kapitel 6,14: »Ihr seid nicht
Sünde«, schreibt A. T. Pierson, »führt unter Gesetz, sondern unter Gnade.« Die
zum Tod, und wenn man darin verharrt, Verbindung lautet: »Ihr solltet wissen,
23)
endet sie im Tod als Ziel und Frucht.« daß ihr nicht unter dem Gesetz steht,
6,22 Bekehrung verändert die Stel- oder ist euch die Tatsache unbekannt,
lung des Menschen vollständig. Er ist »daß das Gesetz über den Menschen«
nun »von der Sünde frei gemacht«, d. h. nur so lange herrscht »solange er lebt?«
sie ist nicht mehr Herr, und er wird ein Paulus spricht zu denen, die sich mit den
williger Sklave »Gottes«. Das Ergebnis fundamentalen Wahrheiten des Gesetzes
ist jetzt ein geheiligtes Leben und »ewi- auskennen, und die deshalb wissen soll-
ges Leben« am »Ende« der Reise. Natür- ten, daß das »Gesetz« einem Toten nichts
lich hat der Gläubige auch schon jetzt das zu sagen hat.
ewige Leben, doch dieser Vers bezieht 7,2 Um das zu illustrieren, erwähnt
sich auf das Leben in all seiner Fülle, Paulus, auf welche Weise der Tod den
einschließlich des verherrlichten Aufer- Ehevertrag beendet. Eine »Frau« ist
stehungsleibes. durch die Heirat »durchs Gesetz an den
6,23 Der Apostel faßt sein Thema nun Mann gebunden, solange er lebt; wenn«
zusammen, indem er uns diese lebhaften er »aber gestorben ist, so ist sie losge-
Kontraste vor Augen führt: macht« von diesem »Gesetz«.
Zwei Herren – »Sünde« und »Gott«. 7,3 »Wenn« eine Frau »eines anderen
Zwei Vorgehensweisen – »Lohn« und Mannes wird . . . während der Mann«
»Gnadengabe«. noch »lebt«, dann macht sie sich des Ehe-
Zwei Nachspiele – »Tod« und »ewi- bruches schuldig. »Wenn« jedoch »der
ges Leben«. Mann gestorben ist, ist sie frei« wieder zu
Man beachte, daß das ewige Leben in heiraten, ohne daß auch nur der Schatten
einer Person liegt, nämlich »in Christus einer Schuld auf sie fällt.
Jesus, unserem Herrn«. Alle, die »in 7,4 Wenn man dieses Bild anwendet,
Christus« sind, haben »ewiges Leben«. dann darf man nicht jede Einzelheit
So einfach ist das! wörtlich auslegen. So steht z. B. weder der
Ehemann noch die Ehefrau für das Ge-
I. Die Aufgabe des Gesetzes im setz. Der Zweck des Bildes ist zu zeigen,
Leben des Gläubigen (Kap. 7) daß genauso, wie der Tod die Ehege-
Der Apostel hat nun eine Frage voraus- meinschaft beendet, der Tod des Gläubi-
gesehen, die sich unausweichlich erhe- gen mit Christus die Herrschaft des Ge-
ben wird: Welches Verhältnis hat der Christ setzes über ihn beendet.
zum Gesetz? Vielleicht hatte Paulus hier, Man beachte, daß Paulus nicht sagt,
als er die Frage beantwortete, besonders daß das Gesetz tot sei. Das Gesetz hat
die Judenchristen im Blick, weil das noch immer einen wichtigen Dienst in
Gesetz Israel gegeben ist, doch die Prin- der Überführung von Sünde. Und wir
zipien beziehen sich ebenso auf Gläubige sollten uns daran erinnern, daß er, wenn
aus den Nationen, die sich dummerwei- er in diesem Abschnitt »wir« sagt, an die-
se selbst unter das Gesetz als Lebensregel jenigen denkt, die Juden waren, ehe sie
stellen wollen, nachdem sie gerechtfer- Christen wurden.
tigt worden sind. Wir sind »dem Gesetz getötet worden
In Kapitel 6 sahen wir, daß der Tod durch den Leib des Christus«, wobei der
die Tyrannei der Sündennatur im Leben »Leib« hier dafür steht, daß Jesus seinen

637
Römer 7

»Leib« in den Tod gab. Wir sind nicht län- nem unvermeidlichen Fluch befreit. Gott
ger an das »Gesetz« gebunden; wir sind läßt niemand zweimal bestrafen.
mit dem auferstandenen Christus ver- Wir sind nun befreit, damit wir »in
bunden. Die eine Ehe ist durch den Tod dem Neuen des Geistes dienen und nicht
beendet worden und nun wird eine neue in dem Alten des Buchstabens«. Wir wer-
begonnen. Und weil wir nun vom »Ge- den durch die Liebe zum Dienst moti-
setz« frei sind, können wir »Gott Frucht« viert, nicht durch die Angst; es ist ein
bringen. Dienst in Freiheit, nicht in Gefangen-
7,5 Diese Erwähnung der Frucht erin- schaft. Es geht nicht länger darum, sich
nert uns an die Art der »Frucht«, die wir sklavisch an die kleinsten Details von
gebracht haben, »als wir im Fleisch wa- äußerlichen Zeremonien zu halten, son-
ren«. Der Ausdruck »im Fleisch« bedeu- dern uns freudig zur Ehre Gottes und
tet offensichtlich nicht »im Leib«. Das zum Segen anderer hinzugeben.
»Fleisch« steht hier für unsere Stellung 7,7 Aus all diesen Ausführungen
vor Gott, ehe wir gerettet wurden. Da- scheint hervorzugehen, daß Paulus das
mals war das »Fleisch« die Grundlage Gesetz kritisiert. Er hat gesagt, daß die
unserer Stellung. Wir hingen ganz von Gläubigen der Sünde und dem Gesetz
dem ab, was wir waren oder was wir tun gestorben sind, und das mag den Ein-
konnten, um von Gott angenommen zu druck erweckt haben, daß das Gesetz
werden. »Im Fleisch« ist das Gegenteil böse sein könnte. Nichts könnte ferner
von »in Christus«. sein!
Vor unserer Bekehrung wurden wir In Kapitel 7,7-13 beschreibt Paulus
von »Leidenschaften der Sünden, die nun die wichtige Rolle, die das Gesetz in
durch das Gesetz erregt wurden«, be- seinem eigenen Leben spielte, ehe er wie-
herrscht. Das Gesetz ist nicht ihre Ursa- dergeboren wurde. Er betont, daß das
che; aber dadurch, daß es sie nennt und Gesetz selbst nicht sündig ist, sondern die
dann verbietet, wird in uns das Verlan- Sünde des Menschen offenbart. Es war das
gen geweckt, diesen »Leidenschaften« Gesetz, das ihn von der völligen Ver-
nachzugeben. derbtheit seines Herzens überzeugt hat.
Diese »Leidenschaften der Sünden« Solange er sich noch mit anderen Men-
fanden ihren Ausdruck in unseren leibli- schen verglich, meinte er, ziemlich an-
chen Gliedern, und wenn wir uns der ständig zu sein. Doch als die Forderun-
Versuchung hingaben, brachten wir gifti- gen des Gesetzes Gottes ihn überführten,
ge Frucht, die zum »Tod« führt. An ande- stand er sprachlos und verurteilt da.
rer Stelle spricht der Apostel von dieser Es war das zehnte Gebot, das ihm
Frucht als den Werken des Fleisches: besonders seine Sünde vor Augen stellte:
»Unzucht, Unreinheit, Ausschweifung, »Laß dich nicht gelüsten!« Gelüste begin-
Götzendienst, Zauberei, Feindschaften, nen in unseren Gedanken. Obwohl Pau-
Hader, Eifersucht, Zornausbrüche, lus keine gröbere Sünde getan haben
Selbstsüchteleien, Zwistigkeiten, Partei- mag, erkannte er, daß sein Gedankenle-
ungen, Neidereien, Trinkgelage, Völle- ben verdorben war. Er sah ein, daß böse
reien« (Gal 5,19-21). Gedanken genauso sündig sind wie böse
7,6 Zu den wunderbaren Ergebnissen Taten. Er hatte ein verdorbenes Gedan-
unserer Bekehrung gehört auch, daß wir kenleben. Sein äußeres Leben mag relativ
»von dem Gesetz losgemacht« sind. Das tadellos gewesen sein, doch sein Innenle-
ist das Resultat davon, daß wir mit Chri- ben war eine Schreckenskammer.
stus gestorben sind. Weil er stellvertre- 7,8 »Die Sünde aber ergriff durch das
tend für uns gestorben ist, sind wir mit Gebot die Gelegenheit und bewirkte jede
ihm gestorben. Mit seinem Tod erfüllte er Lust in mir.« Lust bedeutet hier Begierde.
alle Ansprüche des Gesetzes, indem er Wenn das Gesetz alle bösen Begierden
die schreckliche Strafe auf sich nahm. verbietet, dann wird die verdorbene
Deshalb sind wir vom Gesetz und sei- Natur des Menschen erst recht angeregt,

638
Römer 7

danach zu streben. So sagt uns das Löwenkäfig lautet: »Bitte nicht in den
Gesetz etwa folgendes: »Du sollst in dei- Käfig greifen.« Wenn man diesem Gebot
nen Gedanken keinerlei schöne sexuelle gehorcht, bringt es Leben. Doch dem
Phantasien dulden. Du sollst nicht in Kind, das sich nicht daran hält und den
einer Welt lustvoller Vorstellungen le- Löwen streicheln will, bringt es den Tod.
ben.« Das Gesetz verbietet eine schmut- 7,11 Und wieder betont Paulus, daß
zige Phantasie. Doch leider gibt es uns es nicht am Gesetz liegt. Es liegt an der
nicht die Kraft, eine solche Phantasie zu Sünde, die in ihm wohnt und ihn dazu
zügeln. So ist das Ergebnis, daß Men- verführt, das zu tun, was das Gesetz ver-
schen unter dem Gesetz sich mehr als je bietet. Die Sünde verführte ihn, zu den-
zuvor in einer unreinen Traumwelt sexu- ken, daß die verbotene Frucht wohl doch
eller Phantasien bewegen. Sie erkennen, nicht so schlecht sei, und daß sie viel-
daß sie, wann immer etwas verboten ist, leicht Glück bringen könnte. Sie legte
um so mehr danach streben. »Gestohle- ihm nahe, daß Gott ihm Freuden vorent-
nes Wasser ist süß, und heimliches Brot halte, die ihm nur gut tun würden. So
schmeckt lieblich« (Spr 9,17). »tötete« ihn die Sünde in dem Sinne, daß
»Ohne Gesetz ist die Sünde tot«, rela- sie seine besten Hoffnungen zunichte
tiv gesprochen. Die Sündennatur ist wie machte, der Erlösung würdig zu sein
ein schlafender Hund. Wenn das Gesetz oder sie sich zu verdienen.
kommt und sagt »Tu’s nicht«, dann 7,12 »Das Gesetz« an sich ist »heilig
wacht der Hund auf, um herumzustro- und« jedes »Gebot heilig und gerecht
mern und genau das zu tun, was verbo- und gut«. Wir müssen uns immer wieder
ten ist. daran erinnern, daß mit dem Gesetz an
7,9 Ehe Paulus vom Gesetz überführt sich alles in Ordnung ist. Es ist von Gott
wurde, »lebte« er, d. h. seine Sündenna- gegeben und ist deshalb vollkommen als
tur war vergleichsweise schläfrig und er Ausdruck seines Willens für sein Volk.
kannte den Abgrund der Bosheit seines Die Schwäche des Gesetzes lag am »Roh-
Herzens nicht. material«, mit dem es arbeiten sollte: Es
»Als aber das Gebot kam«, – d. h. als wurde Menschen gegeben, die schon
es mit vernichtender Überführung zu Sünder waren. Sie brauchten das Gesetz,
ihm kam – wurde seine sündhafte Natur damit sie Sündenerkenntnis bekamen,
entzündet. Je mehr er zu gehorchen ver- doch darüber hinaus hatten sie auch
suchte, desto schlimmer versagte er. Er einen Heiland nötig, der sie von der Stra-
»starb«, denn jede Hoffnung, die Erlö- fe und der Macht der Sünde befreien
sung durch seine eigenen Bemühungen würde.
zu erlangen, war zerstört. Er »starb« 7,13 »Das Gute« bezieht sich auf das
jedem Gedanken, daß er selbst gut sein Gesetz, wie besonders im vorhergehen-
könne. Er »starb« jedem Traum, durch den Vers gesagt wurde. Paulus erhebt
das Halten des Gesetzes gerechtfertigt zu nun die Frage: »Bewirkte« das Gesetz
werden. »mir den Tod?«, was bedeutet: »Ist das
7,10 Er sah, daß »das Gebot, das zum Gesetz der Schuldige, der Paulus (und
Leben gegeben« war, ihm in Wirklichkeit mit ihm uns alle) zum Tode verurteilt?«
»Tod« brachte. Doch was meint er, wenn Die Antwort lautet: »Das sei ferne!« Die
er sagt, daß das »Gebot . . . zum Leben Sünde ist schuld. Das Gesetz ist nicht die
gegeben« sei? Das läßt sich auf 3. Mo- Ursache der Sünde, sondern zeigt nur
se 18,5 zurückführen, wo Gott sagt: die Sünde in all ihrer Sündhaftigkeit.
»Und meine Ordnungen und meine »Durch Gesetz kommt Erkenntnis der
Rechtsbestimmungen sollt ihr halten. Sünde« (Kap. 3,20b). Das ist jedoch noch
Durch sie wird der Mensch, der sie tut, nicht alles! Wie reagiert die Sündennatur
Leben haben. Ich bin der Herr.« Eigentlich des Menschen, wenn Gottes heiliges
verhieß das Gesetz den Menschen, die es Gesetz ihr etwas verbietet? Die Antwort
hielten, das Leben. Ein Schild vor einem ist bekannt. Was bisher ein noch unter-

639
Römer 7

schwelliges Bedürfnis war, wird zum kennt. Er ist »unter die Sünde verkauft«.
brennenden Verlangen! So wird »die Er fühlt sich, als ob er der Sünde als Skla-
Sünde überaus sündig . . . durch das ve verkauft worden sei.
Gebot«. 7,15 Nun beschreibt der Apostel den
Zwischen dieser Aussage und der in Kampf, der in einem Gläubigen stattfin-
Kapitel 7,10 besteht scheinbar ein Unter- det, der die Wahrheit nicht kennt, daß er
schied. Dort sagte Paulus, daß er ent- mit Christus in seinem Tod und seiner
deckt habe, daß das Gesetz ihm den Tod Auferstehung eins geworden ist. Es han-
bringe. Hier leugnet er jedoch, daß ihm delt sich hierbei um den Konflikt zwi-
das Gesetz den Tod bringt. Die Lösung schen den beiden Naturen in dem Men-
ist folgende: Das Gesetz an sich kann schen, der den Berg Sinai besteigt, um
weder auf der einen Seite den alten Men- dort Heiligung zu finden. Harry Foster
schen verbessern noch auf der anderen erklärt:
Seite ihn zum Sündigen bringen. Es kann Hier ist ein Mann, der versucht, Heili-
Sünde anzeigen, genau wie ein Thermo- gung durch eigene Anstrengung zu errei-
meter die Temperatur anzeigt. Aber es chen, der mit all seiner Kraft kämpft, um Got-
kann nicht die Sünde kontrollieren wie tes »heiliges und gerechtes und gutes« Gesetz
etwa ein Thermostat die Temperatur zu erfüllen (V. 12), nur um zu entdecken, daß
kontrolliert. sein Zustand umso schlimmer wird, je mehr
Es geschieht jedoch folgendes: Die er kämpft. Das ist eine verlorene Schlacht,
gefallene Natur des Menschen will in- kein Wunder, denn es steht nicht in der
stinktiv genau das tun, was verboten ist. Macht der gefallenen menschlichen Natur,
Deshalb nimmt sie das Gesetz zum An- die Sünde zu besiegen und in Heiligung zu
24)
laß, um andernfalls unterbewußte Be- leben.
gierden im Sünder zu wecken. Je mehr Man beachte die ständige Wiederho-
der Mensch versucht zu überwinden, lung der Personalpronomen in der 1. Per-
desto schlimmer wird es, bis ihm zum son – Ich, mir, mich, selbst etc. Sie kom-
Schluß nur noch die Verzweiflung übrig men in den Versen 9-25 über 40 mal vor!
bleibt. So benutzt die Sünde das Gesetz, Menschen, die diese Erfahrung von
um ihm jede Hoffnung auf Verbesserung Römer 7 durchmachen, erhalten eine
zu rauben. Und er sieht die außerordent- Überdosis »Vitamin Ich«. Sie halten
liche Sündhaftigkeit seines alten Men- immer wieder Nabelschau, suchen in
schen wie nie zuvor. sich selbst nach dem Sieg, wo sie ihn
7,14 Bis zu diesem Punkt hat der doch nicht finden können.
Apostel eine vergangene Erfahrung sei- Es ist sehr traurig, daß die heutige
nes Lebens beschrieben – nämlich die christliche psychologische Seelsorge sehr
traumatische Krise, als er durch den oft die Aufmerksamkeit des Klienten auf
Dienst des Gesetzes von seiner Sündhaf- sich selbst richtet und so das Problem
tigkeit überführt wurde. noch verschärft statt zu helfen. Die Men-
Nun wechselt er in die Gegenwart, schen müssen wissen, daß sie mit Chri-
um eine Erfahrung zu beschreiben, die er stus gestorben und auferstanden sind,
hatte, seit er wiedergeboren ist – nämlich damit sie mit ihm in Neuheit des Lebens
den Konflikt der zwei Naturen und die wandeln können. Statt zu versuchen, das
Unmöglichkeit, durch eigene Kraft Be- Fleisch zu bessern, sollen sie es mit dem
freiung von der Macht der innewohnen- Herrn Jesus ins Grab geben.
den Sünde zu erfahren. Paulus erkennt Paulus beschreibt den Kampf zwi-
an, »daß das Gesetz geistlich ist« – d. h. schen den beiden Naturen so: »Was ich
heilig an sich und den geistlichen Be- vollbringe, erkenne ich nicht.« Er hat
dürfnissen des Menschen entsprechend. eine gespaltene Persönlichkeit. Er sieht
Doch er erkennt, daß er selbst »fleisch- sich selbst Dinge tun, die er eigentlich
lich« ist, weil er keinen Sieg über die gar nicht will, und vieles, was er tut, haßt
Macht der in ihm wohnenden Sünde er im Grunde.

640
Römer 7

7,16 Wenn also sein gesunder Men- 7,19 So geht der Kampf zwischen den
schenverstand seine Handlungen verur- beiden Naturen weiter. Paulus merkt,
teilt, dann ergreift er mit dem Gesetz Par- daß er »das Gute«, das er gerne tun wür-
tei gegen sich selbst, weil auch das Ge- de, nicht tut, und statt dessen »das Böse«
setz diese Handlungen verurteilt. Des- tut, das er verachtet. Er steckt mitten in
halb gibt er letztlich zu, daß das Gesetz einem riesigen Wust von Widersprüchen.
»gut ist«. 7,20 Wir können diesen Vers wie folgt
7,17 Das führt zu dem Schluß, daß umschreiben: »Wenn ich aber« (die alte
der Schuldige nicht der neue Mensch in Natur) »das, was ich« (die neue Natur)
Christus ist, sondern die verdorbene »nicht will, ausübe, so vollbringe nicht
Sündennatur, die noch immer in ihm mehr ich« (die Person) »es, sondern die
wohnt. Doch wir müssen hier sehr vor- in mir wohnende Sünde«. Wir sollten
sichtig sein. Wir dürfen unsere Sünde hier noch einmal betonen, daß Paulus
nicht einfach entschuldigen, indem wir sich nicht selbst entschuldigt oder die
der uns innewohnenden »Sünde« die Verantwortung abwälzt. Er beschreibt
Schuld geben. Wir sind verantwortlich lediglich, daß er keine Befreiung von der
für unser Handeln, und wir dürfen die- in ihm wohnenden Sünde gefunden hat,
sen Vers nicht mißbrauchen, um den und daß er, wenn er sündigt, es nicht auf
»Schwarzen Peter« weiterzureichen. Verlangen des neuen Menschen ge-
Paulus will hier nur die Quelle seines schieht.
sündigen Verhaltens nennen, es jedoch 7,21 Er findet nun in seinem Leben
nicht entschuldigen. ein Prinzip oder »Gesetz« am Werk, das
7,18 Es kann in der Heiligung keinen alle seine guten Absichten zunichte
Fortschritt geben, wenn wir nicht lernen, macht. Wenn er das Richtige tun will,
was Paulus hier gelernt hat – »daß in mir, dann endet es damit, daß er sündigt.
das ist in meinem Fleisch, nichts Gutes 7,22 Seine neue Natur jedoch freut
wohnt«. Hier bedeutet »Fleisch« die ver- sich »am Gesetz Gottes«. Er weiß, daß
dorbene Sündennatur, die wir von Adam das Gesetz heilig und ein Ausdruck des
ererbt haben und die in jedem Gläubigen Willens Gottes ist. Er möchte diesen Wil-
weiterhin existiert. Sie ist die Quelle alles len Gottes tun.
Bösen, das ein Mensch tut. An dieser 7,23 Doch Paulus sieht in seinem
Sündennatur ist nichts Gutes. Leben ein Prinzip am Werk, das dem Wil-
Die Erkenntnis befreit uns davon, len Gottes entgegensteht, das gegen die
jemals von dieser alten Natur etwas Gu- neue Natur ankämpft und ihn zum Ge-
tes zu erwarten. Sie befreit uns von der fangenen der in ihm wohnenden »Sün-
Enttäuschung, wenn wir dort nichts Gu- de« macht. George Cutting schreibt:
tes finden. Und sie befreit uns von der Das Gesetz gibt ihm keine Kraft, auch
Beschäftigung mit uns selbst. Wenn wir wenn er sich nach seinem inwendigen Men-
nur auf uns selbst sehen, werden wir kei- schen an ihm erfreut. Mit anderen Worten, er
nen Sieg erfahren. Robert Murray versucht zu schaffen, was Gott schon zur
McCheyne, dieser heilige Schotte, sagte, Unmöglichkeit erklärt hat – nämlich das
daß wir für jeden Blick, den wir auf uns Fleisch zum Untertanen des Heiligen Geset-
selbst werfen, zehn auf Christus werfen zes Gottes zu machen. Er erfährt, daß das
sollten. Fleisch sich um Fleischliches kümmert, und
Um die Hoffnungslosigkeit des Flei- daß es der Erzfeind des Gesetzes Gottes und
25)
sches zu bestätigen, beklagt der Apostel, sogar Gottes selbst ist.
daß er zwar das Verlangen habe, das 7,24 Nun läßt Paulus seinen berühm-
Richtige zu tun, aber nicht in sich selbst ten Stoßseufzer los. Er fühlt sich, als hät-
die Kraft findet, sein Verlangen in die Tat te er einen verwesenden Leib auf den
umzusetzen. Das Problem ist einfach, Rücken gebunden. Dieser »Leib« ist na-
daß er den Anker in seinem eigenen Boot türlich die alte Natur in aller ihrer Ver-
ausgeworfen hat. dorbenheit. In seiner Verzweiflung er-

641
Römer 7 und 8

kennt er an, daß er nicht in der Lage ist, 8,1 Aus dem Tal der Verzweiflung
sich selbst von dieser schlimmen, sünd- und der Niederlage ersteigt der Apostel
haften Last zu befreien. Er ist auf Hilfe nun die Höhen mit dem siegessicheren
von außen angewiesen. Ruf: »Also gibt es jetzt keine Verdamm-
7,25 Der Dankesausbruch, mit dem nis für die, welche in Christus Jesus
dieser Vers beginnt, kann auf mindestens sind!« Das kann man auf zweierlei Weise
zwei Arten verstanden werden. Es kann verstehen.
bedeuten: »Ich danke Gott«, daß die Erstens gibt es »keine« göttliche »Ver-
Erlösung »durch unseren Herrn Jesus dammnis« über unsere Sünde, weil wir
Christus« kommt. Es kann aber auch ein in Christus sind. Solange wir in Adam,
Einschub sein, in dem Paulus Gott dankt, unserem ersten Oberhaupt, waren, gab
daß er »durch« den Herrn Jesus nicht es für uns nur die »Verdammnis«. Doch
mehr so verzweifelt ist, wie er es im letz- nun sind wir in Christus und deshalb so
ten Vers geschildert hat. frei von der Verdammnis wie er. So kön-
Der Rest des Verses faßt den Konflikt nen wir die Herausforderung rufen:
zwischen den beiden Naturen zusam- Greife zuerst meinen lieben Heiland an,
men, ehe der Gläubige die Befreiung er- Raube ihm die Gunst Gottes,
kannt hat. »Mit dem« erneuerten »Sinn«, Beweise, daß Jesus nur die Spur einer
bzw. der neuen Natur, dient der Gläubi- Sünde trägt,
ge »Gottes Gesetz, mit dem Fleisch aber« Und dann behaupte, daß ich unrein bin.
(oder dem alten Menschen) »der Sünde W. N. Tomkins
Gesetz«. Erst im nächsten Kapitel finden Doch es kann auch heißen, daß wir
wir die Erklärung des Weges zur Befrei- die Art der Selbstverurteilung nicht nötig
ung aus diesem Dilemma. haben, die Paulus in Kapitel 7 beschrie-
ben hat. Es mag sein, daß wir die Erfah-
J. Der Heilige Geist als Kraft für ein rung von Kapitel 7 machen, daß wir
geheiligtes Leben (Kap. 8) nicht in der Lage sind, aus eigener Kraft
Das Thema eines geheiligten Lebens wird die Anforderungen des Gesetzes zu
nun fortgeführt. In Kapitel 6 hat Paulus erfüllen, doch wir müssen nicht dort ste-
die Frage beantwortet: »Ermutigt das hen bleiben. Vers 2 erklärt uns, warum es
26)
Evangelium nicht zu einem sündhaften »keine Verdammnis« mehr gibt.
Leben?« In Kapitel 7 hat er sich der Frage 8,2 »Das Gesetz des Geistes des
gestellt »Befiehlt das Evangelium dem Lebens in Christus Jesus hat dich frei
Christen nicht, das Gesetz zu halten, um gemacht von dem Gesetz der Sünde und
ein geheiligtes Leben zu führen?« Nun des Todes.« Das sind zwei entgegenge-
geht es um die Frage: »Was ermöglicht dem setzte Gesetze oder Prinzipien. Das Prin-
Christen, ein geheiligtes Leben zu führen?« zip des Geistes ist es, dem Gläubigen die
Wir bemerken von Anfang an, daß Kraft für ein geheiligtes Leben zu geben.
die Personalpronomen, die sich in Kapi- Das Prinzip der in uns wohnenden Sün-
tel 7 so gehäuft haben, hier verschwin- de ist es, den Menschen in den Tod hin-
den, und daß der Heilige Geist nun die unterzuziehen. Es ist wie das Gesetz der
bestimmende Person ist. Das ist ein Schwerkraft. Wenn man einen Ball in die
wichtiger Schlüssel zum Verständnis die- Luft wirft, dann kommt er zurück, weil
ses Abschnittes. Der Sieg liegt nicht bei er schwerer ist als die Luft, die er ver-
uns selbst, sondern im Heiligen Geist, drängt. Ein lebendiger Vogel ist zwar
der in uns lebt. A. J. Gordon zählt sieben auch schwerer als die Luft, die er ver-
Hilfen des Geistes auf: Freimut im Dienst drängt, doch wenn man ihn in die Luft
(V. 2), Kraft für den Dienst (V. 11), Sieg wirft, dann fliegt er davon. Das Gesetz
über die Sünde (V. 13), Führung im des Lebens in dem Vogel besiegt also das
Dienst (V. 14), das Zeugnis der Sohn- Gesetz der Schwerkraft. So rüstet der
schaft (V. 16), Beistand im Dienst (V. 26) Heilige Geist mit dem Auferstehungsle-
und Beistand im Gebet (V. 26). ben des Herrn Jesus aus und macht den

642
Römer 8

Sünder »frei . . . von dem Gesetz der Sün- Identifikation mit Adam geerbt haben,
de und des Todes«. durch unsere Identifikation mit Christus
8,3 Das Gesetz konnte die Menschen aufgehoben ist. In den Kapiteln 6 und 7
nie dazu bringen, Gottes heilige Anfor- hat er das schreckliche Problem unserer
derungen zu erfüllen, aber die Gnade hat Sündennatur besprochen. Nun verkün-
dort Erfolg gehabt, wo das Gesetz ver- digt er siegreich, daß das Gesetz des Gei-
sagt hat. Laßt uns sehen wie! stes des Lebens in Christus Jesus uns
»Das Gesetz« konnte ein geheiligtes vom Gesetz der Sünde und des Todes
Leben nicht hervorbringen, »weil es befreit hat. In Kapitel 7 wurde das ge-
durch das Fleisch kraftlos war«. Das Pro- samte Thema des Gesetzes diskutiert.
blem lag nicht beim Gesetz, sondern bei Nun lernen wir, daß die Forderungen des
der gefallenen menschlichen Natur. Das Gesetzes durch ein Leben im Heiligen
Gesetz sprach zu Menschen die schon Geist erfüllt werden.
Sünder waren und nicht in der Lage 8,5 »Die, welche nach dem Fleisch
waren, ihm zu gehorchen. Doch hier griff sind« – d. h. diejenigen, die nicht bekehrt
Gott ein, »indem er seinen eigenen Sohn sind – beschäftigen sich mit dem, »was
in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde des Fleisches ist«. Sie gehorchen allen
. . . sandte«. Man beachte, daß der Herr Impulsen des Fleisches. Sie leben, um die
Jesus nicht im Fleisch der Sünde, sondern Begierden des verdorbenen alten Men-
»in Gleichgestalt des Fleisches der Sün- schen zu erfüllen. Sie verwöhnen den
de« kam. Er selbst sündigte nicht Leib, der doch in wenigen Jahren schon
(1. Petr 2,22), er kannte keine Sünde zu Staub werden wird.
(2. Kor 5,21), und in ihm war keine Sün- »Die aber, die nach dem Geist sind« –
de (1. Joh 3,5). Doch indem er in mensch- das sind die echten Gläubigen – erheben
licher Gestalt auf die Erde kam, ähnelte sich über Fleisch und Blut und leben für
er der sündigen Menschheit. Als Opfer die ewigen Dinge. Sie beschäftigen sich
für die Sünde »verurteilte« Christus »die mit dem Wort Gottes, mit Gebet, Gottes-
Sünde im Fleisch«. Er starb nicht nur für dienst und Dienst am Nächsten.
die Sünden, die wir tun (1. Petr 3,18), 8,6 »Die Gesinnung des Fleisches« –
sondern auch für unsere Sündennatur. d. h. die Geisteshaltung der gefallenen
Mit anderen Worten, er starb genauso für Natur – »ist Tod«. Sie ist Tod sowohl hin-
das, was wir sind, wie für das, was wir sichtlich der gegenwärtigen Vergnügun-
tun. Damit »verurteilte« er »die Sünde im gen als auch hinsichtlich des endgültigen
Fleisch«. Von unserer Sündennatur heißt Schicksals. Alles enthält die verborgene
es nirgends in der Bibel, daß ihr vergeben Kraft des Todes, wie eine Überdosis Gift.
werde, sie ist »verurteilt«. Die Sünden, Doch »die Gesinnung des Geistes« ist
die wir getan haben, werden vergeben. »Leben und Frieden«. Der Geist Gottes
8,4 Nun ist »die Rechtsforderung des ist die Garantie des wirklichen Lebens,
Gesetzes erfüllt . . . in uns, die wir nicht des Friedens mit Gott und eines Lebens
nach dem Fleisch, sondern nach dem in Ausgeglichenheit.
Geist wandeln«. Wenn wir die Kontrolle 8,7 Die »Gesinnung des Fleisches« ist
unseres Lebens dem heiligen Geist über- Tod, weil sie »Feindschaft gegen Gott«
geben, dann gibt er uns die Kraft, um ist. Der Sünder lehnt sich gegen Gott auf
Gott und unseren Nächsten zu lieben, und ist sein ständiger Feind. Wenn man
denn das ist es, was das Gesetz verlangt. noch einen Beweis brauchte, müßte man
In diesen ersten vier Versen hat der sich nur die Kreuzigung unseres Herrn
Apostel alle seine Argumente aus Kapi- Jesus Christus ansehen. Die Gesinnung
tel 5,12 bis Kapitel 7,25 wieder aufge- des Fleisches »ist dem Gesetz Gottes
nommen. In Kapitel 5,12-21 hatte er die nicht untertan«. Sie will ihren eigenen
beiden Oberhäupter Adam und Christus Willen erfüllt sehen und sich Gottes
besprochen. Nun zeigt er in Kapitel 8,1, Herrschaft nicht beugen. Das Wesen des
daß das Urteil, das wir durch unsere Fleisches ist so geartet, daß es sich dem

643
Römer 8

Gesetz Gottes nicht unterwerfen kann. zwar, weil ihm die Gerechtigkeit Gottes
Es geht nicht nur darum, daß das Bestre- angerechnet worden ist.
ben zum Gehorsam fehlt, es fehlt auch die 8,11 Doch die Erinnerung daran, daß
Kraft zum Gehorsam. Das Fleisch ist Gott der Leib noch immer dem Tod unterwor-
gegenüber tot. fen ist, sollte uns nicht beunruhigen oder
8,8 Deshalb ist es nicht erstaunlich, verzweifeln lassen. Die Tatsache, daß der
daß diejenigen, »die im Fleisch sind, . . . Heilige »Geist« in uns wohnt, ist die
Gott nicht gefallen können«. Man stelle Garantie dafür, daß Gott unsere »sterb-
sich das einmal vor! Nichts, aber auch lichen Leiber lebendig machen« wird,
gar nichts an einem nicht erlösten Men- ebenso, wie er »Christus Jesus aus den
schen kann »Gott gefallen« – keine guten Toten auferweckt hat«. Das wird der letz-
Werke, keine Einhaltung religiöser Ge- te Akt unserer Erlösung sein – wenn
bräuche, keine Opfergottesdienste, abso- unsere Leiber mit der Herrlichkeit des
lut nichts. Zuerst muß er den Platz des Auferstehungsleibes unseres Heilandes
schuldigen Sünders einnehmen und verherrlicht werden.
Christus in einem ausdrücklichen Glau- 8,12 Welche Schlüsse ziehen wir nun
bensakt in sein Leben aufnehmen. Nur angesichts des großen Kontrastes zwi-
dann kann der Mensch Gottes anerken- schen Fleisch und Geist? Wir schulden
nendes Lächeln ernten. »dem Fleisch« nicht, nach seinem Diktat
8,9 Wenn jemand von neuem geboren »zu leben«. Die alte, verdorbene Sünden-
wird, dann ist er nicht mehr »im Fleisch, natur ist nichts als ein Hemmschuh ge-
sondern im Geist«. Er lebt in einer ganz wesen. Niemals hat sie etwas Gutes her-
anderen Sphäre. Wie der Fisch im Wasser vorgebracht. Wenn Christus uns nicht er-
lebt und der Mensch in der Luft, so lebt löst hätte, würde uns das Fleisch in die
der Gläubige im Geist. Und er lebt nicht tiefsten, finstersten und heißesten Ab-
nur im Geist, sondern der Geist lebt auch gründe der Hölle gebracht haben. War-
in ihm. Wenn nämlich der Geist Christi um sollten wir uns solch einem Feind
nicht in ihm wohnt, dann gehört er nicht verpflichtet fühlen?
zu Christus. Obwohl es nicht geklärt ist, 8,13 Wer »nach dem Fleisch lebt«,
ob der »Geist Christi« hier derselbe ist muß »sterben«, nicht nur leiblich, son-
wie der Heilige Geist, ist das doch der dern ewig. »Nach dem Fleisch leben«
Gedanke, der am besten in den Zusam- heißt, nicht wiedergeboren zu sein. Das
menhang paßt. wird aus Kapitel 8,4.5 deutlich. Doch
8,10 Durch den Dienst des Geistes ist warum richtet Paulus diese Worte an
»Christus« wirklich »in« dem Gläubigen. Menschen, die doch schon Christen sind?
Es ist erstaunlich, sich vorzustellen, daß Will er damit sagen, daß einige von ihnen
das Leben und die Herrlichkeit unseres doch noch verloren gehen könnten?
Herrn in unserem Leib wohnt, insbeson- Nein, aber der Apostel fügt oft Worte der
dere, wenn wir daran denken, daß diese Warnung und der Selbstprüfung in seine
Leiber ja »der Sünde wegen« dem Tod Briefe ein, denn er weiß, in fast jeder
unterworfen sind. Man mag nun argu- Gemeinde sind einige Leute noch nicht
mentieren, daß sie noch nicht wirklich tot wirklich wiedergeboren.
sind. Das nicht, aber die Mächte des To- Der Rest des Verses beschreibt, was
des arbeiten schon an ihnen, und sie wer- für die echten Gläubigen gilt. Sie können
den unausweichlich sterben, falls nicht »durch den Geist die Handlungen des
der Herr vorher zurückkommt. Leibes« töten. Sie genießen jetzt das ewi-
Im Gegensatz zum Leib ist »der ge Leben, und sie werden das Leben in
27)
Geist aber Leben der Gerechtigkeit we- seiner Fülle genießen, wenn sie diese
gen«. Obwohl einst tot gegenüber Gott, Erde verlassen.
ist er durch das gerechte Werk des Herrn 8,14 Eine andere Art, die echten Gläu-
Jesus Christus in dessen Tod und Aufer- bigen zu beschreiben, ist zu sagen, daß
stehung lebendig gemacht worden, und sie »durch den Geist Gottes geleitet wer-

644
Römer 8

den«. Paulus bezieht sich hier nicht auf Das Wort »Sohnschaft« wird im Rö-
die spektakulären Fälle, in denen be- merbrief auf drei verschiedene Arten ge-
rühmte Christen von Gott geführt wur- braucht. Hier bezieht es sich auf das Be-
den. Sondern er spricht von der Wirk- wußtsein der Sohnschaft, das der Heilige
lichkeit, wie sie im Leben aller »Söhne Geist im Leben des Gläubigen schafft. In
Gottes« besteht – nämlich daß sie »durch Kapitel 8,23 bezieht es sich auf die Zu-
den Geist Gottes geleitet werden«. Es kunft, wenn der Leib des Gläubigen er-
geht nicht um die Frage, wieweit sie dem löst oder verherrlicht ist. In Kapitel 9,4
Geist hingegeben sind, sondern um die bezieht es sich auf die Vergangenheit, als
Beziehung, die zur Zeit der Bekehrung Gott Israel zu seinem Sohn erklärte
aufgebaut wird. (2. Mose 4,22).
Die Sohnschaft beinhaltet, in Gottes In Galater 4,5 und Epheser 1,5 bedeu-
Familie aufgenommen worden zu sein, tet das Wort »in Sohnesstellung« – d. h.
mit allen Rechten und Pflichten eines er- der Gläubige wird in die Stellung eines
wachsenen Sohnes. Ein Neubekehrter reifen, erwachsenen Sohnes gebracht,
muß nicht eine gewisse Zeit warten, ehe und zwar mit allen damit verbundenen
er sein geistliches Erbe antritt. In dem Rechten und Pflichten. Jeder Gläubige ist
Moment, in dem er gerettet wird, hat er ein Kind Gottes in dem Sinne, daß er in
dieses Erbe, und das gilt für alle Gläubi- die Familie hineingeboren wurde, in der
gen, Männer und Frauen, Jungen und Gott der Vater ist. Doch jeder Gläubige
Mädchen. ist auch Sohn – eine besondere Bezie-
8,15 Diejenigen, die unter dem hung, die für die Vorrechte eines Men-
Gesetz leben, sind wie Minderjährige, schen steht, der die Reife des Mannesal-
die herumkommandiert werden, als ters erreicht hat.
wären sie Sklaven, und haben immer Im Neuen Testament bedeutet »Sohn-
Angst vor Strafe. Doch wenn ein Mensch schaft« nie, als Kinder fremder Eltern
wiedergeboren wird, wird er nicht in ein adoptiert zu werden, wie das in unserer
Sklavendasein hineingeboren. Er wird Gesellschaft üblich ist.
nicht als Sklave in den Haushalt Gottes 8,16 Im neugeborenen Gläubigen gibt
aufgenommen. Er empfängt »einen es einen geistlichen Instinkt, der ihm
Geist der Sohnschaft«, d. h. er wird als sagt, daß er ein Sohn Gottes ist. Der Hei-
volljähriger Sohn in die Familie Gottes lige »Geist« sagt ihm das. »Der Geist
aufgenommen. Durch einen echten selbst bezeugt zusammen mit« dem
geistlichen Instinkt schaut er zu Gott auf »Geist« des Gläubigen, daß er Angehöri-
und nennt ihn »Abba, Vater«. »Abba« ist ger der Familie Gottes ist. Dabei benutzt
ein aramäisches Wort, das bei der Über- er in erster Linie das Wort Gottes. Wenn
setzung etwas leidet. Es ist eine vertrau- ein Christ die Bibel liest, bestätigt sie ihm
te Form des Wortes Vater – so wie etwa die Wahrheit, daß er ein Kind Gottes ist,
»Vati« oder »Papa«. Wir zögern zwar, weil er dem Herrn sein Leben anvertraut
solche Koseworte zu verwenden, wenn hat.
wir Gott anreden, doch bleibt die Wahr- 8,17 Die Zugehörigkeit zur Familie
heit bestehen, daß unser Gott sowohl Gottes bringt Vorrechte, die jede Vorstel-
unendlich hoch als auch unendlich nahe lungskraft sprengen. Alle »Kinder« Got-
ist. tes sind »Erben Gottes«. Ein Erbe erbt
Der Ausdruck »Geist28) der Sohn- natürlich einmal den Besitz seines Vaters.
schaft« kann sich auf den heiligen Geist Genau das ist hier gemeint. Aller Besitz
beziehen, der den Gläubigen auf seine des Vaters gehört uns. Wir besitzen zwar
besondere Würde als Sohn aufmerksam noch nicht alles und können uns noch
macht. Er kann aber auch die Erkenntnis nicht an allem erfreuen, doch nichts wird
oder die Haltung der Sohnschaft bedeu- uns in Zukunft daran hindern können.
ten im Unterschied zum »Geist der Und wir sind »Miterben Christi«. Wenn
Knechtschaft«. Jesus wiederkommt, um das Zepter der

645
Römer 8

Weltherrschaft zu übernehmen, werden Wir sind schon »Söhne Gottes«, doch


wir mit ihm die Eigentumsurkunde über die Welt erkennt uns weder als solche,
den gesamten Reichtum des Vaters er- noch schätzt sie uns als solche. Und doch
halten. sehnt sich die Welt nach einer besseren
Wenn Paulus hinzufügt: »Wenn wir Zeit, und dieser Tag wird erst kommen,
wirklich mitleiden, damit wir auch mit- wenn der König mit all seinen Heiligen
verherrlicht werden«, dann macht er regiert. »Die Schöpfung steht auf den
nicht heroisches Leiden zur Bedingung Zehenspitzen, um den wunderbaren An-
der Erlösung. Auch beschreibt er nicht blick zu genießen, wenn Gottes Söhne ihr
einen elitären Kreis von Überwindern, Eigentum zugesprochen bekommen«
die große Anfechtungen erduldet haben. (nach einer englischen Bibelübertragung).
Sondern er sieht alle Christen als Mit-Lei- 8,20 Als Adam sündigte, betraf seine
dende und alle Christen als »mitverherr- Übertretung nicht nur die Menschheit,
licht«. Das »wenn« steht hier für »weil«. sondern die gesamte »Schöpfung«, und
Natürlich gibt es Einzelne, die mehr um zwar sowohl die belebte als auch die un-
Christi willen zu leiden haben als andere, belebte Schöpfung. Der Erdboden ist ver-
und das wird sich in unterschiedlichem flucht. Viele wilde Tiere sterben eines ge-
Lohn und unterschiedlicher Herrlichkeit waltsamen Todes. Krankheiten suchen
bemerkbar machen. Doch alle diejenigen, Vögel und Säugetiere genauso heim wie
die den Herrn Jesus als Herrn und Hei- Fische und Reptilien. Die Folgen der Erb-
land anerkennen, werden hier so darge- sünde sind wie Schockwellen durch die
stellt, daß sie sich immer die Feindschaft ganze Schöpfung gelaufen.
der Welt zuziehen, mit all ihrer Verach- So, erklärt Paulus, ist »die Schöpfung
tung und Schande. . . . der Nichtigkeit unterworfen wor-
8,18 Die größte Schande, die wir hier den«. Sie lebt in Frustration und Unord-
auf Erden für Christus erdulden mögen, nung, nicht aus Eigenwillen, sondern
wird für uns wie nichts sein, wenn er uns durch eine Anordnung Gottes, die er we-
rufen und öffentlich vor den Heerscharen gen des Ungehorsams des ersten Ober-
des Himmels anerkennen wird. Auch die hauptes des Menschengeschlechtes ge-
schlimmsten Leiden der Märtyrer wer- troffen hat.
den nur noch wie ein paar Kratzer aus- 8,21 Die Schöpfung sehnt sich nach
sehen, wenn der Herr ihre Stirnen mit der den Idealbedingungen im Garten Eden
Krone des Lebens schmückt. An anderer zurück. Sie erinnert sich an die Katastro-
Stelle spricht Paulus davon, daß unsere phe, die durch den Eintritt der Sünde in
jetzigen Leiden leicht sind, weil sie nur diese Welt hereinbrach. Immer gab es die
einen Augenblick dauern, wogegen die Hoffnung auf eine Rückkehr in die Idyl-
Herrlichkeit ein großes und ewiges Ge- le, in der »die Schöpfung von der
wicht besitzt (2. Kor 4,17). Wann immer Knechtschaft der Vergänglichkeit frei ge-
er die kommende Herrlichkeit beschreibt, macht werden wird«, um die Freiheit des
29)
scheint Paulus um Worte zu ringen. goldenen Zeitalters zu genießen, wenn
Wenn wir nur die »Herrlichkeit« schon wir als »Kinder Gottes« in Herrlichkeit
schätzen würden, die wir bereits haben, offenbart werden.
dann könnten wir die »Leiden« am Weg- 8,22 Wir leben in einer seufzenden,
rand als nebensächlich abtun! weinenden und leidenden Welt. »Die
8,19 Nun zeigt uns Paulus in einem ganze Schöpfung seufzt« und leidet
großartigen Bild, wie die hier personifi- Schmerzen wie bei einer Geburt. Die
zierte »Schöpfung . . . sehnsüchtig« auf Musik der Natur ist in Moll geschrieben.
die Zeit wartet, wenn wir der erstaunten Die Erde wird von Verheerungen heim-
Welt als »Söhne Gottes« vorgestellt wer- gesucht. In jedem lebendigen Wesen liegt
den. Das wird zu der Zeit sein, wenn der die Fäulnis des Todes verborgen.
Herr Jesus zur Herrschaft auf die Erde 8,23 Die Gläubigen sind hierbei nicht
zurückkehrt und wir mit ihm. ausgenommen. Obwohl sie »die Erst-

646
Römer 8

lingsgabe des Geistes haben«, die ihnen fen, denn er tritt »für uns in unaus-
eines Tages die Befreiung verheißt, »seuf- sprechlichen Seufzern« ein. In diesem
zen« sie immer noch in Hoffnung auf den Vers ist es der Geist, der seufzt, nicht wir,
Tag der Herrlichkeit. Der Heilige »Geist« obwohl wir das natürlich auch tun.
selbst ist die »Erstlingsgabe«. So, wie die Es handelt sich hier um ein Geheim-
erste Handvoll reifes Korn die Verhei- nis. Wir werfen einen kleinen Blick in das
ßung auf eine ganze Ernte in sich birgt, unsichtbare, geistliche Reich, in dem
so ist der Heilige Geist die Verheißung unser Herr und große Mächte um unse-
oder Garantie, daß das ganze Erbe ein- retwillen am Werk sind. Und obwohl wir
mal uns gehören wird. nicht alles hier verstehen können, kön-
Insbesondere ist er die Garantie für nen wir aus der Tatsache, daß ein Seuf-
die kommende »Sohnschaft, die Erlö- zen manchmal ein äußerst geistliches
sung unseres Leibes« (Eph 1,14). In ge- Gebet sein kann, viel Trost erhalten.
wissem Sinne haben wir die »Sohn- 8,27 Wenn Gott »die Herzen« der
schaft« schon, was bedeutet, daß wir in »Menschen« erforscht, dann kann er
die Familie Gottes als Söhne aufgenom- auch wissen, »was der Sinn des Geistes
men wurden. Doch im vollen Sinne wird ist«, auch wenn dieser Geist sich nur in
die »Sohnschaft« erst dann vollkommen Seufzern ausdrückt. Wichtig ist hier, daß
sein, wenn wir unsere verherrlichten Lei- die Gebete des Heiligen Geistes für uns
ber empfangen. Das ist dann die »Erlö- immer »Gott gemäß« sind. Und weil sie
sung unseres Leibes«. Unser Geist und immer mit Gottes Willen in Einklang ste-
unsere Seele sind schon erlöst, und unse- hen, sind sie immer zu unserem Besten.
re Leiber werden einst bei der Ent- Das erklärt sehr viel, wie uns der nächste
rückung erlöst werden (1. Thess 4,13-18). Vers offenbart.
8,24 »Auf« diese »Hoffnung hin sind 8,28 Gott läßt »alle Dinge zum Guten
wir errettet worden«. Wir haben im mitwirken, denen, die nach seinem Vor-
Augenblick unserer Bekehrung noch satz berufen sind« d. h. denen, die ihn
nicht allen Nutzen der Erlösung erhalten. »lieben«. Das mag uns nicht immer so
Von Beginn an schauten wir in die Zu- erscheinen. Wenn wir manchmal unter
kunft auf die vollständige und endgül- einem gebrochenen Herzen leiden, einer
tige Befreiung von Sünde, Leid, Krank- Tragödie, einer Enttäuschung, unter Fru-
heit und Tod. Wenn wir diese Segnungen stration oder unter dem Tod lieber An-
schon erhalten hätten, dann bräuchten gehöriger, dann fragen wir uns, was dar-
wir nicht mehr auf sie zu hoffen. Wir hof- aus Gutes entstehen kann. Doch der fol-
fen nur auf etwas, das noch in der gende Vers gibt uns die Antwort: Alle
Zukunft liegt. Dinge, denen Gott erlaubt, in unser Le-
8,25 Unsere Hoffnung auf Befreiung ben zu kommen, sind dazu da, uns in das
von der Gegenwart der Sünde und von Bild seines Sohnes zu verwandeln. Wenn
all ihren verhängnisvollen Folgen beruht wir das erkennen, dann verschwindet
auf der Verheißung Gottes, und deshalb das Fragezeichen aus unseren Gebeten.
ist die Hoffnung so sicher, als ob sie sich Unser Leben wird nicht durch unpersön-
schon erfüllt hätte. Deshalb »warten wir liche Mächte wie Zufall, Glück oder
mit Ausharren«. Schicksal bestimmt, sondern von unse-
8,26 Wie wir durch diese wunderbare rem wunderbaren, persönlichen Herrn,
Hoffnung unterstützt werden, so unter- der »zu sehr liebt, um unfreundlich zu
stützt »der Geist« uns auch in »unserer sein, und zu weise ist, sich zu irren«.
Schwachheit«. Wir sind in unserem Ge- 8,29 Nun spürt Paulus den majestäti-
betsleben oft verwirrt. »Wir wissen schen Linien des göttlichen Planes nach,
nicht«, wie wir »bitten sollen«. Wir bitten der dazu gemacht ist, viele Söhne in die
selbstsüchtig, unwissend und engherzig. Herrlichkeit zu führen.
Doch wieder kommt der Heilige Geist, Zunächst hat Gott uns in der Ewig-
um uns in unserer Schwachheit zu hel- keit der Vergangenheit schon »vorher

647
Römer 8

erkannt«. Es ging hier nicht um ein rein Diejenigen, die »gerechtfertigt« sind,
intellektuelles Wissen. Er wußte schon die sind »auch verherrlicht«. Eigentlich
um jeden Menschen, der je geboren wor- sind wir noch nicht verherrlicht, doch ist
den ist. Doch sein Vorhererkennen um- die Verherrlichung so sicher, daß Gott
faßte nur diejenigen, die er »vorherbe- hier die Vergangenheitsform wählen
stimmt hat, dem Bilde seines Sohnes kann, um die Tatsache zu beschreiben.
gleichförmig zu sein«. Deshalb war es ein Die Verherrlichung ist uns so sicher, als
Wissen mit einem Ziel, das niemals ver- ob wir sie schon erhalten hätten!
fehlt werden kann. Es reicht nicht aus, zu Das ist eine der wichtigsten Stellen
sagen, daß Gott diejenigen »vorherer- des Neuen Testamentes über die Heilsge-
kannt« hat, von denen er wußte, daß sie wißheit der Gläubigen. Denn von jeder
eines Tages bereuen und glauben wür- Million Menschen, die von Gott »vorher-
den. In Wirklichkeit ist es sein Vorher- bestimmt« sind, ist jeder einzelne dieser
wissen, welches schließlich die Buße und Million »berufen«, »gerechtfertigt« und
den Glauben sicherstellt. »verherrlicht«. Keiner wird fehlen! (Ver-
Daß gottlose Sünder eines Tages gleiche das »alles« in Joh 6,37.)
durch ein Wunder der Gnade in das Bild 8,31 Wenn wir diese unzerbrech-
Christi verwandelt werden, ist eine der lichen Bindungen in der goldenen Kette
erstaunlichsten Wahrheiten der göttli- der Erlösung überdenken, dann ist die
chen Offenbarung. Natürlich geht es hier Schlußfolgerung zwingend! »Wenn Gott
nicht darum, daß wir je die Eigenschaf- für uns ist«, in dem Sinne, daß er uns für
ten Gottes haben oder Christus im äuße- sich auserwählt hat, dann kann nie-
30)
ren Erscheinungsbild ähneln, sondern mand mehr erfolgreich »gegen uns«
wir werden moralisch wie er sein, absolut sein. Wenn die Allmacht für uns wirkt,
frei von der Sünde, und werden wie er dann kann keine Macht seinen Plan zer-
einen verherrlichten Leib haben. stören.
An diesem herrlichen Tag wird er 8,32 Er hat »doch seinen eigenen
»der Erstgeborene . . . unter vielen Brü- Sohn nicht verschont, sondern ihn für
dern« sein. »Erstgeborener« bedeutet uns alle hingegeben«. Welch wunderbare
hier, daß er der Erste im Rang oder in der Worte! Wir dürfen nie zulassen, daß wir
Ehrenstellung ist. Er wird nicht Einer mit diesen Worten nicht mehr vertraut
unter Gleichen sein, sondern der Eine, sind und ihr Glanz in unseren Augen
der den Platz höchster Ehre unter seinen schwindet oder ihre Kraft nachläßt, uns
Brüdern und Schwestern einnimmt. in die Anbetung zu treiben. Als eine Welt
8,30 Jeder, der von Ewigkeit »vorher- mit einer verlorenen Menschheit von
bestimmt« ist, ist gleichzeitig »auch be- einem sündlosen Stellvertreter zu retten
rufen«. Das bedeutet, daß er nicht nur war, da hielt der große Gott des Univer-
das Evangelium hören wird, sondern es sums seinen liebsten Schatz nicht zurück,
auch annimmt. Deshalb haben wir hier sondern gab ihn um unseretwillen in
einen wirksamen Ruf. Alle sind gerufen, einen schändlichen Tod.
denn das ist der allgemeine (und auch Die Logik, die hinter diesem Vers
gültige) Ruf Gottes. Doch nur wenige steht, ist unwiderlegbar. Wenn Gott uns
nehmen diesen Ruf an, und das ist der schon das größte Geschenk gemacht hat,
wirksame (die Bekehrung verursachen- gibt es dann irgendein kleineres Ge-
de) Ruf Gottes. schenk, das er noch zurückhalten wür-
Alle, die dem Ruf folgen, sind »auch de? Wenn er schon den größten Preis be-
gerechtfertigt«. Ihnen wird eine absolut zahlt hat, wird er es dann scheuen, einen
gerechte Stellung vor Gott gegeben. Sie kleineren Preis zu geben? Wenn er sich
sind durch die Verdienste Christi mit der solche Mühe gegeben hat, um uns zu
Gerechtigkeit Gottes gekleidet und kön- erlösen, wird er uns dann je wieder fallen
nen nur so in die Gegenwart des Herrn lassen? »Wie wird er uns mit ihm nicht
gelangen. auch alles schenken?«

648
Römer 8

»Die Sprache des Unglaubens«, sagte Brutalität der »Verfolgung«, die diejeni-
Mackintosh einmal, »spricht: ›Wie wird gen, die anderer Meinung sind, mit Lei-
er?‹ Die Sprache des Glaubens spricht: den und Tod überhäuft. Auch das dürre
31)
›Wie wird er nicht?‹« Schreckgespenst der »Hungersnot« – die
8,33 Wir befinden uns noch immer in nagt und quält und bis zum Skelett abma-
einem Gerichtssaal, doch nun ist ein gert – kann es nicht. Auch die »Blöße«
bemerkenswerter Wechsel eingetreten. kann es nicht, mit allem, was sie an Ver-
Während der gerechtfertigte Sünder vor wahrlosung, Ausgesetztheit und Vertei-
dem Gericht steht, wird der Ruf nach digungslosigkeit bedeutet. Auch die
irgendwelchen weiteren Anklägern laut. »Gefahr« kann es nicht, die Drohung
Doch es gibt keine! Wie könnte es sie schlimmster Gefahr für Leib und Leben.
auch geben? Wenn Gott seine Erwählten Auch das »Schwert« kann es nicht, der
schon gerechtfertigt hat, wer kann dann harte, kalte und todbringende Stahl.
noch »Anklage erheben«? 8,36 Wenn irgend etwas davon den
Wenn wir in der Argumentation die- Gläubigen von der Liebe Christi trennen
ses und der folgenden Verse die Worte könnte, dann hätte diese Trennung schon
»niemand, denn« vor jeder Antwort ein- vor langer Zeit stattfinden müssen, weil
fügen, dann wird alles klarer. So würde der Christ immer als lebendig Toter lebt.
dieser Vers dann lauten: »Wer wird Das meinte der Psalmist, als er sagte, daß
gegen Gottes Auserwählte Anklage erhe- wir wegen unserer Verbindung mit dem
ben?« Niemand, denn »Gott ist es, der Herrn »den ganzen Tag . . . getötet« wer-
rechtfertigt«. Wenn wir diese Worte nicht den und daß wir wie »Schafe« sind, die
ergänzen, dann könnte es so klingen, als geschlachtet werden sollen (Ps 44,22).
ob Gott eine Anklage gegen seine Er- 8,37 Statt uns von Christi Liebe zu
wählten erhebt. Das wäre jedoch das trennen, ziehen uns diese Probleme nur
genaue Gegenteil dessen, was Paulus noch näher zu ihm. Wir sind nicht nur
hier feststellt! »Überwinder«, sondern »mehr als Über-
32)
8,34 Schon wieder eine Herausforde- winder«. Wir siegen nicht einfach nur
rung! Ist denn jemand hier, der verurteilt über diese riesenhaften Kräfte, sondern
werden müßte? Niemand, denn »Chri- wir verherrlichen Gott damit, sind ande-
stus Jesus ist« für den Angeklagten »ge- ren ein Segen und tun uns selbst nur Gu-
storben«, auferstanden und sitzt nun tes. Wir machen unsere Feinde zu Skla-
»zur Rechten Gottes« und tritt für ihn ven und wälzen Felsbrocken von un-
ein. Wenn der Herr Jesus, dem das ganze serem Weg.
Gericht übergeben ist, den Angeklagten Doch das alles vermögen wir nicht
nicht verurteilt, sondern für ihn bittet, aus eigener Kraft, sondern nur »durch
dann gibt es niemand anderen, der einen den, der uns geliebt hat«. Nur die Macht
Grund hätte, ihn zu verurteilen. Christi verwandelt Bitterkeit in Süße,
8,35 Nun steht der Glaube noch einer Schwachheit zu Vollmacht, Katastrophen
letzten Herausforderung gegenüber: Ist zum Sieg und Leid zu Segen.
jemand da, der den Gerechtfertigten »von 8,38 Der Apostel hat seine Suche noch
der Liebe Christi« trennen kann? Nun nicht beendet. Er durchwühlt das gesam-
wird nach allen widrigen Umständen te Universum nach etwas, daß uns wirk-
gesucht, die bisher wirksam waren, auf lich von der Liebe Gottes trennen könnte,
anderen Gebieten des menschlichen Le- doch er sondert eine Möglichkeit nach
bens Trennungen zu bewirken. Doch kein der anderen aus: den »Tod« mit seinen
solcher Umstand ist zu finden. Weder der Schrecken, das »Leben« mit seinen Ver-
Dreschflegel der »Drangsal« mit seinem führungen, die »Engel« oder »Gewal-
ständigen Klopfen der »Angst« und An- ten«, die übernatürliche Fähigkeiten und
fechtung kann es, noch das Ungeheuer Wissen haben, »Gegenwärtiges«, das
der Verzweiflung, das Leib und Seele mit über uns kommt, »Zukünftiges« das uns
unerhörten Schmerzen plagt, noch die Böses ahnen läßt, »Mächte«, ob es

649
Römer 8 und 9

menschliche Tyrannen oder Gegner aus Ungerechtes tun wird. Wenn wir also
der Engelwelt sind, sagen, Gott ist souverän, dann geben wir
8,39 »Höhe oder Tiefe«, alles, was nur zu, daß Gott wirklich Gott ist. Wir
sich in den Dimensionen der Welt befin- sollten uns vor dieser Wahrheit weder
33)
det einschließlich der okkulten Mächte. fürchten noch uns für sie entschuldigen.
Dann fügt Paulus noch an, damit er auch Sie ist eine herrliche Wahrheit und sollte
sicher ist, daß er nicht irgend etwas ver- uns zur Anbetung führen.
gessen hat: ». . . noch irgendein anderes In seiner Unumschränktheit hat Gott
Geschöpf.« bestimmte Menschen erwählt, ihm zu
Das Ergebnis der Suche des Paulus ist gehören. Doch dieselbe Bibel, die uns
es, daß er nichts finden kann, das uns Gottes souveräne Erwählung lehrt, lehrt
»von der Liebe Gottes, die in Christus auch die menschliche Verantwortlich-
Jesus ist, unserem Herrn, . . . scheiden keit. Während es einerseits wahr ist, daß
kann«. Gott Menschen zur Erlösung erwählt, ist
Kein Wunder, daß diese triumphalen es andererseits auch wahr, daß sie sich
Sätze das Lied derer gewesen sind, die durch einen ausdrücklichen Willensakt
den Märtyrertod gestorben sind, und der entscheiden müssen, sich retten zu las-
Choral derer, die das Leben eines Märty- sen. Die göttliche Seite der Erlösung wird
rers geführt haben! in den Worten beschrieben: »Alles, was
mir der Vater gibt, wird zu mir kom-
II. Die Heilszeiten: Das Evangelium men.« Die menschliche Seite findet sich
und Israel (Kap. 9 – 11) in den Worten, die unmittelbar darauf
In den Kapiteln 9 – 11 hören wir die Ant- folgen: »Und wer zu mir kommt, den
wort des Paulus auf den Einwand seines werde ich nicht hinausstoßen« (Joh 6,37).
Gegners, der die Frage stellt: Werden Wir freuen uns als Gläubige, daß Gott
durch das Evangelium, das die Erlösung uns in Christus vor Grundlegung der
sowohl Juden als auch Heiden zuspricht, Welt erwählt hat (Eph 1,4). Doch wir
nicht die Verheißungen Gottes an sein irdi- glauben genauso sicher, daß, wer da will,
sches Volk, die Juden, aufgehoben? Die Ant- das Wasser des Lebens umsonst nehmen
wort des Paulus umfaßt die Vergangen- darf (Offb 22,17). D. L. Moody hat diese
heit Israels (Kap. 9), seine Gegenwart zwei Wahrheiten so verbildlicht: Wenn
(Kap. 10) und seine Zukunft (Kap. 11). wir zur Tür der Erlösung kommen, dann
Dieser Abschnitt legt großen Wert auf sehen wir die Einladung: »Wer zu mir
die göttliche Souveränität und auf die kommen will.« Wenn wir die Tür durch-
Verantwortlichkeit des Menschen. Rö- schritten haben, sehen wir zurück und
mer 9 ist einer der Schlüsselabschnitte sehen die Worte »Auserwählt nach Vor-
der Bibel zur souveränen Erwählung kenntnis Gottes« über der Tür. So stehen
Gottes. Das nächste Kapitel behandelt die Menschen der Wahrheit der Verant-
die ausgleichende Wahrheit – die Verant- wortlichkeit des Menschen gegenüber,
wortlichkeit des Menschen – und zwar wenn sie zur Tür der Erlösung kommen.
mit demselben Nachdruck. Die Wahrheit der unabhängigen Erwäh-
lung ist eine Wahrheit, die nur diejenigen
kennen, die schon zur Familie Gottes
Exkurs über die göttliche gehören.
Souveränität und die menschliche Wie kann Gott nun einzelne Men-
Verantwortlichkeit schen erwählen, daß sie zu ihm gehören,
Wenn wir sagen, Gott ist souverän, dann und gleichzeitig ein allgemeines Ange-
meinen wir, daß er der Herrscher des bot der Erlösung an alle Menschen erge-
Universums ist und tun kann, was ihm hen lassen? Wie können wir diese Wahr-
gefällt. Wenn wir das jedoch sagen, dann heiten miteinander vereinbaren? Tat-
wissen wir gleichzeitig, daß er, weil er sächlich können wir das nicht. Für den
Gott ist, niemals etwas Falsches oder menschlichen Geist besteht hier ein

650
Römer 9

Widerspruch. Doch die Bibel lehrt beide Auflehnung gegen Gott. Wenn Menschen
Wahrheiten, deshalb sollten wir sie glau- jedoch gerettet werden, dann durch die
ben und damit einverstanden sein, daß souveräne, erwählende Gnade Gottes.
die Schwierigkeiten bei unserem be- Für den Erretteten sollte das Thema
grenzten Verstand liegen, und nicht bei der völlig freien Erwählung durch Gott
Gott. Diese Zwillingswahrheiten sind die Ursache für unablässiges Wundern
wie zwei parallele Linien, die sich nur in sein. Der Gläubige blickt um sich und
der Unendlichkeit schneiden. sieht Menschen, die einen besseren Cha-
Einige Ausleger haben versucht, die rakter haben als er selbst, wesentlich bes-
souveräne Erwählung und die menschli- sere Voraussetzungen, und fragt sich:
che Verantwortlichkeit zu kombinieren, »Warum hat der Herr ausgerechnet mich
indem sie sagen, daß Gott vorher wußte, erwählt?«
wer dem Erlöser vertrauen würde, und Warum durfte ich deine Stimme hören,
daß diese dann diejenigen sind, die er und hineinkommen, solange noch Raum war
erwählt hat. Sie legen ihrer Aussage während Tausende eine schlimme Wahl tref-
Römer 8,29 zugrunde (»Denn die er zum fen und eher verhungern als kommen?
voraus ersehen hat, die hat er auch vor- Isaak Watts
herbestimmt« ZÜ) und 1. Petrus 1,2 Die Wahrheit der Erwählung sollte
(»auserwählt nach Vorkenntnis Gottes«). nicht von Unerretteten als Ausrede für
Doch damit wird die Tatsache überse- ihren Unglauben mißbraucht werden.
hen, daß Gottes Vorherwissen entschei- Sie dürfen nicht sagen: »Wenn ich nicht
dend ist. Es ist nicht einfach so, daß er im erwählt bin, dann kann ich doch auch
voraus weiß, wer dem Heiland vertrauen nichts daran machen.« Sie können nur
wird, sondern daß er das Ergebnis im herausfinden, ob sie erwählt sind, wenn
voraus bestimmt, indem er gewisse Men- sie ihre Sünden bereuen und den Herrn
schen zu sich zieht. Jesus Christus als Erlöser annehmen
Obwohl Gott einige Menschen zur Er- (1. Thess 1,4-7).
lösung erwählt, erwählt er niemanden Auch sollte die Wahrheit von der
zur Verdammnis. Um es anders auszu- Erwählung nicht von Christen miß-
drücken, obwohl die Bibel die göttliche braucht werden, um mangelnden evan-
Erwählung lehrt, lehrt sie doch nie die gelistischen Eifer zu rechtfertigen. Wir
göttliche Ablehnung. Man mag nun ein- dürfen nicht sagen: »Wenn sie erwählt
wenden: »Wenn Gott einige zum Segen sind, dann werden sie sowieso gerettet.«
erwählt, dann erwählt er doch notwendi- Nur Gott kennt diejenigen, die erwählt
gerweise die anderen zur Verdammnis.« sind. Uns ist aufgetragen, das Evange-
Doch das stimmt so nicht! Die gesamte lium der ganzen Welt zu predigen, denn
Menschheit wäre durch die eigenen Sün- Gottes Angebot der Erlösung ist eine
den dem ewigen Tod verfallen, und nicht echte Einladung an alle Menschen. Men-
durch irgendeine willkürliche Bestim- schen lehnen das Evangelium wegen der
mung Gottes. Wenn Gott es zulassen Härte ihres Herzens ab, und nicht weil
würde, daß alle in die Hölle gehen – und Gottes allgemeine Einladung etwa nicht
das hätte er gerechtermaßen tun können so gemeint war.
– würden die Menschen nur das bekom- Wir müssen zwei Gefahren im Zu-
men, was sie verdient haben. Die Frage sammenhang mit diesem Thema vermei-
lautet: »Hat der oberste Herr das Recht, den. Die erste besteht darin, nur eine Sei-
sich herabzubeugen und eine Handvoll te der Wahrheit zu betonen – z. B. an Got-
andernfalls verlorener Menschen auszu- tes unumschränkte Erwählung zu glau-
wählen, um die Braut seines Sohnes zu ben und zu leugnen, daß der Mensch im
werden?« Die Antwort lautet natürlich, Zusammenhang mit seiner Erlösung
daß er dieses Recht hat. Es läuft also auf irgendeine verantwortliche Entschei-
folgendes hinaus: Wenn Menschen verlo- dung zu treffen hat. Die andere Gefahr
ren gehen, dann wegen ihrer Sünde und besteht darin, daß wir die eine Wahrheit

651
Römer 9

auf Kosten der anderen überbetonen. Volkes. Es geht um »Israeliten«, Glieder


Der schriftgemäße Ansatz lautet, an Got- des alten von Gott erwählten Volkes.
tes souveräne Erwählung zu glauben Gott hatte dieses Volk adoptiert, damit
und gleichzeitig ebensosehr an die es sein Sohn sein sollte (2. Mose 4,22)
menschliche Verantwortlichkeit. Nur so und hatte es aus Ägypten befreit
bleiben diese Lehren in ihrer ordnungs- (Hos 11,1). Er war für Israel wie ein Vater
gemäßen biblischen Ausgewogenheit (5. Mose 14,1) und Ephraim war sein
erhalten. Erstgeborener (Jer 31,9). (Ephraim ist hier
eine andere Bezeichnung für das Volk
Nun wollen wir uns wieder dem Israel.)
Kapitel 9 zuwenden und folgen dem Die Schechina oder Wolke der »Herr-
geliebten Apostel, der uns sein Thema lichkeit« stand für Gottes Anwesenheit
entfaltet. in ihrer Mitte, die sie führte und be-
schützte.
A. Israels Vergangenheit (Kap. 9) Mit Israel und nicht mit den Heiden
9,1 Als Paulus darauf bestand, daß die hatte Gott seine »Bündnisse« geschlos-
Erlösung sowohl für Heiden als auch sen. So hat er z. B. mit Israel den Bund
Juden gilt, war er scheinbar ein Verräter geschlossen, der dem Volk das Land
Israels. Deshalb bekräftigt er hier seine Palästina zusprach, nämlich vom Strom
Hingabe an das jüdische Volk mit einem Ägyptens bis zum Euphrat (1. Mose
ernsthaften Eid. Er sagt »die Wahrheit«. 15,18). Und mit Israel wird er noch einen
Er lügt nicht. Sein »Gewissen« gibt ihm neuen Bund schließen, und verheißt
zusammen mit dem »Heiligen Geist . . . ihnen »ewigen Bestand, zukünftige Be-
Zeugnis« und erweist die Wahrheit sei- kehrung und den Segen eines bußfer-
34)
ner Aussagen. tigen Israels« (Jer 31,31-40).
9,2 Wenn er an Israels herrliche Beru- Es war Israel, dem die »Gesetzge-
fung denkt, und daran, daß es jetzt von bung« geschenkt wurde. Dieses Volk und
Gott abgelehnt wird, weil es den Messias nur dieses Volk war der Empfänger.
abgelehnt hat, dann verspürt er »große Die ausführlichen Rituale und der
Traurigkeit . . . und unaufhörlichen »Gottesdienst« (LU 1984) in der Stifts-
Schmerz in« seinem »Herzen«. hütte und im Tempel waren Israel gege-
9,3 Er würde sich sogar wünschen, ben, ebenso wie das Priesteramt.
»verflucht zu sein« oder von Christus Zusätzlich zu den oben erwähnten
getrennt, wenn er nur seine jüdischen Bündnissen hatte Gott Israel unzählige
Brüder retten könnte, indem er seine »Verheißungen« gegeben, in denen er
eigene Erlösung verwirkt. In dieser har- dem Volk Schutz, Frieden und Reichtum
ten Aussage der Selbstverleugnung fin- verheißt.
den wir die höchste Form menschlicher 9,5 Die Juden beanspruchen mit
Liebe – diejenige, die das eigene Leben Recht die Patriarchen für sich – Abra-
für seine Freunde hingibt (Joh 15,13). ham, Isaak, Jakob und die zwölf Söhne
Und wir fühlen hier die enorme Last des Jakobs. Sie waren die Vorväter des Vol-
Anliegens eines bekehrten Juden, der die kes. Und sie hatten das größte Privileg
Bekehrung seines Volkes wünscht. Das von allen – daß nämlich der Messias
erinnert uns an Moses Gebet für sein selbst ein Israelit war, jedenfalls was sei-
Volk: »Und nun, wenn du doch ihre Sün- ne menschliche Abstammung angeht,
de vergeben wolltest! Wenn aber nicht, obwohl er auch der Herrscher des Uni-
so lösche mich denn aus deinem Buch, versums ist, nämlich »Gott, gepriesen in
das du geschrieben hast, aus« (2. Mose Ewigkeit«. Hier haben wir eine eindeu-
32,32). tige Aussage über die Gottheit und
9,4 Während Paulus hier über sein Menschheit des Erlösers. (Einige Über-
Volk weint, sehen wir in einer Rückschau setzungen der Bibel schwächen diese
all die herrlichen Vorrechte dieses Aussage ab. So heißt es z. B. in GN: ». . .

652
Römer 9

und sogar Christus, der versprochene Abraham ab, aber sie hatten nicht Abra-
Retter, zählt nach seiner menschlichen hams Glauben und waren deshalb auch
Herkunft zu ihnen. Für all dies sei Gott, nicht seine geistlichen Kinder.
der Herr über alle, für immer und ewig 9,8 Also zählt nicht die leibliche Ab-
gepriesen! Amen.« Von der griechischen kunft. Das wahre Israel besteht aus den-
Grammatik her ist diese Übersetzungs- jenigen Juden, die von Gott erwählt wur-
möglichkeit zwar nicht ausgeschlossen, den und denen er eine spezielle »Ver-
doch geistliche Unterscheidungskraft heißung« gab, mit denen er sie als seine
wird die konservative Form in ER, LU, »Kinder« auszeichnete. Wir sehen dieses
Ei, Hfa etc. bei Vergleich mit anderen Prinzip der souveränen Erwählung im
35)
Schriftstellen bevorzugen.) Fall von Isaak und Jakob.
9,6 Der Apostel sieht sich nun einem 9,9 Gott erschien Abraham und ver-
ernsthaften theologischen Problem ge- hieß ihm, daß er zu einer vorherbe-
genüber. Wenn Gott Israel als seinem stimmten »Zeit« wiederkommen wolle
erwählten irdischen Volk Verheißungen und daß »Sara . . . einen Sohn haben«
gegeben hat, wie kann das dann mit der werde. Dieser »Sohn« war natürlich
gegenwärtigen Ablehnung Israels und Isaak. Er war das echte Kind der »Ver-
der Tatsache, daß die Heiden in die Se- heißung« und auf übernatürliche Weise
gensstellung Israels eingesetzt wurden, hervorgebracht.
auf einen Nenner gebracht werden? Pau- 9,10 Ein anderer Fall souveräner Er-
lus ist der Ansicht, daß hier kein Verspre- wählung ist der Fall Jakobs. »Isaak« und
chen Gottes gebrochen wurde. Er zeigt, »Rebekka« waren natürlich die Eltern.
daß Gott immer souverän erwählt und Doch »Rebekka« gebar zwei Kinder, nicht
seine Verheißungen nicht nur auf leibli- nur eines.
che Abkunft beschränkt hat. Nur weil ein 9,11 Ehe »die Kinder . . . geboren
Mensch zum Volk »Israel« gehört, be- waren«, erhielten die Eltern eine Ankün-
deutet das nicht, daß er auch schon ein digung. Diese Ankündigung konnte
Erbe der Verheißung ist. Innerhalb des selbstverständlich nichts mit den guten
Volkes Israel hat Gott einen treuen, gläu- Werken eines der Kinder zu tun haben.
bigen Überrest. Es war ausschließlich eine Sache des
9,7 Nicht alle »Nachkommen Abra- Gefallens Gottes, die auf seinem eigenen
hams« werden als seine »Kinder« be- Willen basierte und nicht auf dem Cha-
zeichnet. Ismael z. B. gehört zur »Nach- rakter oder den Errungenschaften der
kommenschaft« Abrahams. Doch die Betroffenen. »Der nach freier Auswahl
Verheißung lief über Isaak, nicht über gefaßte Vorsatz Gottes« bedeutet seine
Ismael. Die Verheißung Gottes lautete: Absicht, sein Wohlwollen nach seinem
»In Isaak wird dir eine Nachkommen- eigenen souveränen Willen und Wohlge-
schaft genannt werden« (1. Mose 21,12). fallen zu verteilen.
Wie wir schon in den Bemerkungen zu Dieser Vers beweist übrigens auch,
4,12 gesagt haben, traf unser Herr Jesus daß die Idee falsch ist, Gott könne Jakob
dieselbe interessante Unterscheidung, aufgrund seines Vorauswissens der Ta-
als er mit den ungläubigen Juden in ten Jakobs erwählt haben. Es heißt hier
Johannes 8,33-39 sprach. Sie hatten zu ausdrücklich, daß die Wahl »nicht auf-
ihm gesagt: »Wir sind Abrahams Nach- grund von Werken« erfolgte!
kommenschaft« (V. 33). Jesus gibt das zu, 9,12 Gottes Entscheidung war, daß
indem er sagt: »Ich weiß, daß ihr Abra- »der Ältere . . . dem Jüngeren dienen«
hams Nachkommen seid« (V. 37). Doch werde. Esau sollte unter Jakob unterge-
als sie sagten: »Abraham ist unser Vater«, ordnet werden. Jakob war erwählt zu
da antwortete der Herr: »Wenn ihr Abra- irdischer Herrlichkeit und irdischen Vorrech-
hams Kinder wäret, so würdet ihr die ten. Esau war der Erstgeborene der Zwil-
Werke Abrahams tun« (V. 39). Mit ande- linge und hätte normalerweise die Ehre
ren Worten, sie stammten zwar von und Vorrechte gehabt, die ihm aus dieser

653
Römer 9

Stellung erwuchsen. Doch Gottes Erwäh- Erwählung die verschiedensten Einwän-


lung ging an ihm vorbei und nahm sich de hervorrufen mußte. Die Menschen
Jakobs an. würden Gott noch immer anklagen, un-
9,13 Um Gottes souveräne Erwäh- gerecht zu sein. Sie sagen, daß Gott, wenn
lung noch weiter zu unterstreichen, er einige erwählt, damit notwendiger-
zitiert Paulus Maleachi 1,2.3: »Jakob ha- weise die anderen verurteilt. Sie argumen-
be ich geliebt, aber Esau habe ich ge- tieren, daß man, wenn Gott alles schon im
haßt.« Hier spricht Gott von den zwei voraus bestimmt hat, nichts mehr dafür
Völkern, Israel und Edom, deren Ober- könne, und Gott ungerecht ist, wenn er
häupter »Jakob« und »Esau« waren. Gott die Menschen dafür verurteilt.
hat Israel als Volk ausgezeichnet, dem er Paulus bestreitet jedoch energisch
den Messias und das messianische Kö- jede Möglichkeit, daß »bei Gott . . . Unge-
nigreich verheißen hat. Edom erhielt kei- rechtigkeit« herrschen könne. Doch statt
ne solche Verheißung. Statt dessen wur- Gottes Unabhängigkeit zu verwässern,
den »seine Berge zum Ödland gemacht um sie seinen Gegnern schmackhafter zu
und sein Erbbesitz den Schakalen der machen, wird er im Folgenden diese Tat-
Steppe überlassen« (Mal 1,3; s. a. Jer sache noch einmal ohne weitere Begrün-
49,17.18; Hes 35,7-9). dung bekräftigen.
Obwohl es stimmt, daß das Zitat aus 9,15 Zuerst zitiert er Gottes Wort an
Maleachi 1,2.3 eher Gottes Handeln mit Mose: »Ich werde begnadigen, wen ich
den Völkern als mit Einzelpersonen be- begnadige, und werde mich erbarmen,
schreibt, wird es hier verwendet, um wessen ich mich erbarme« (s. 2. Mo-
Gottes souveränes Recht auch zur Er- se 33,19). Wer kann behaupten, daß der
wählung einzelner Menschen zu unter- Allerhöchste, der Herr des Himmels und
streichen. der Erde, nicht das Recht habe, zu »be-
Die Worte »Jakob habe ich geliebt, gnadigen« und sich zu »erbarmen«?
aber Esau habe ich gehaßt« müssen im Alle Menschen werden durch ihre
Licht der souveränen Verordnung Gottes eigene Sünde und ihren Unglauben ver-
gesehen werden, die festlegte: »Der Älte- urteilt. Wenn sie sich selbst überlassen
re wird dem Jüngeren dienen.« Die Be- wären, würden alle verloren gehen. Ne-
vorzugung Jakobs wird hier als Akt der ben der echten Einladung des Evangeli-
Liebe gesehen, während das Beiseitestel- ums an alle Menschen erwählt Gott einige
len Esaus im Vergleich dazu als Haß dieser verurteilten Menschen, um seine
gewertet wird. Es geht nicht darum, daß Gnade über sie auszuschütten. Doch das
Gott Esau gehaßt habe, indem er eine bedeutet nicht, daß er einfach willkürlich
harte, rachsüchtige Feindschaft gegen einige auswählt und andere verurteilt. Sie
ihn hegte, sondern nur darum, daß er sind schon verurteilt, weil sie ihr Leben
Esau weniger als Jakob liebte, wie sich in lang gesündigt und das Evangelium ab-
seiner freien Erwählung Jakobs zeigt. gelehnt haben. Diejenigen, die erwählt
Dieser Abschnitt bezieht sich auf irdi- sind, können Gott für seine Gnade dan-
sche Segnungen, und nicht auf das ewige ken. Diejenigen, die verloren gehen, ha-
Leben. Daß Gott Edom gehaßt hat, be- ben niemanden zu tadeln als sich selbst.
deutet nicht, daß ein einzelner Edomit 9,16 Die Schlußfolgerung lautet also,
nicht errettet werden könnte, genausowe- daß das endgültige Schicksal von Men-
nig wie seine Liebe zu Israel bedeutet, schen oder Nationen nicht der Kraft ihres
daß der einzelne Jude es nicht nötig hätte Willens oder der Macht ihrer Anstren-
gerettet zu werden. (Man beachte, daß gungen unterstellt ist, sondern der Gna-
Esau einige irdische Segnungen empfan- de Gottes.
gen hat, wie er selbst in 1. Mose 33,9 be- Wenn Paulus sagt, daß es »nicht an
zeugt.) dem Wollenden« liegt, dann meint er
9,14 Der Apostel sah richtig voraus, damit nicht, daß der Wille eines Men-
daß seine Lehre von der souveränen schen nicht an seiner Erlösung beteiligt

654
Römer 9

wird. Die Einladung ist ein deutlicher denen, die ein zerbrochenes Herz haben,
Appell an den Willen eines Menschen, Gnade erweist, verhärtet die Unver-
wie sich in Offenbarung 22,17 zeigt: schämten.
»Wer da will, nehme das Wasser des Gott hat das Recht, zu »begnadigen«
Lebens umsonst.« Jesus entlarvte die un- wen er will, und zu »verhärten«, wen er
gläubigen Juden, daß sie nicht gewillt will. Doch weil er Gott ist, handelt er nie-
waren, zu ihm zu kommen (Joh 5,40). mals ungerecht.
Wenn Paulus sagt, »noch an dem Laufen- 9,19 Wenn Paulus auf Gottes Recht
den«, dann will er damit nicht leugnen, besteht, zu tun, was ihm gefällt, so ruft
daß wir uns bemühen müssen, durch die das den Einwand hervor, daß Gott, wenn
enge Pforte einzugehen (Lk 13,24). Ein dem so ist, niemanden »tadeln« sollte,
gewisses Maß an geistlicher Ernsthaftig- weil keiner bisher erfolgreich »seinem
keit und Bereitschaft sind notwendig. Willen widerstanden« hat. Für den Dis-
Doch der Wille und das Laufen des Men- kussionsgegner ist der Mensch eine hilf-
schen sind nicht die bestimmenden Fak- lose Figur auf Gottes Schachbrett. Nichts,
toren: Die Erlösung kommt vom Herrn. was er sagen oder tun kann, wird sein
Morgan sagt: Schicksal ändern.
Keine Bereitschaft unsererseits, auch kein 9,20 Zunächst tadelt der Apostel die
eigenes Laufen, kann für uns die Erlösung Unverschämtheit der Geschöpfe, die es
bewirken, die wir brauchen, oder uns in die wagen, ihren Schöpfer so anzugreifen.
Lage versetzen, in die Segnungen einzutre- Dem begrenzten Menschen, der voller
ten, die sie für uns bereit hält. . . . Von uns Sünden, Unwissenheit und Schwachheit
selbst aus haben wir nicht den Willen, erlöst ist, steht es keinesfalls zu, Gott oder die
zu werden und bemühen uns auch nicht dar- Weisheit und Gerechtigkeit seines Han-
um. Jede menschliche Erlösung beginnt bei delns zu hinterfragen.
36)
Gott. 9,21 Dann verwendet Paulus das Bild
9,17 Gottes Unumschränktheit zeigt vom »Töpfer« und vom »Ton«, um die
sich nicht nur daran, daß er den einen Souveränität Gottes zu verteidigen. »Der
Gnade erweist, sondern auch daran, daß Töpfer« geht eines Tages in seine Werk-
er andere verhärtet. Der »Pharao« wird statt und sieht auf dem Boden einen
hier als Beispiel dafür genannt. Haufen formlosen Ton. Er hebt eine
Es wird hier nirgends angedeutet, Handvoll davon auf, legt ihn auf die
daß der ägyptische Monarch schon von Töpferscheibe und formt ein wunder-
seiner Geburt an zu seinem Schicksal schönes »Gefäß«. Hat er das Recht dazu?
bestimmt war. Folgendes passierte: Als »Der Töpfer« ist natürlich Gott. Der
Erwachsener erwies er sich als böse, »Ton« ist die sündige, verlorene Mensch-
grausam und besonders störrisch. Statt heit. Wenn »der Töpfer« die Menschen
den dringenden Warnungen Gottes zu sich selbst überließe, dann würden sie
gehorchen, verhärtete er sein Herz. Gott alle in die Hölle kommen. Es wäre abso-
hätte ihn sofort vernichten können, doch lut gerecht und fair, wenn Gott sie sich
das tat er nicht. Statt dessen erhielt Gott selbst überließe. Doch statt dessen er-
ihn am Leben, damit er an ihm seine wählt er sich in seiner Souveränität eine
»Macht« zeigen konnte, und daß durch Handvoll Sünder, errettet sie durch seine
ihn der Name des Herrn weltweit be- Gnade und verwandelt sie in das Bild
kannt würde. seines Sohnes. Hat er etwa kein Recht
9,18 Der Pharao verhärtete wieder- dazu? Bedenken Sie, daß er die anderen
holt sein Herz und danach verhärtete Gott nicht willkürlich zur Hölle verurteilt. Sie
jeweils als Gerichtshandeln zusätzlich das sind dazu schon durch ihren Eigenwillen
Herz des Pharao. Dieselbe Sonne, die Eis und Unglauben verurteilt.
zum Schmelzen bringt, härtet den Lehm. Gott hat die absolute »Macht« und
Dieselbe Sonne, die Wäsche bleicht, Autorität, ein »Gefäß zur Ehre« aus dem
bräunt die Haut. Derselbe Gott, der einen Teil des Tones zu formen »und das

655
Römer 9

andere zur Unehre« aus einem anderen 9,24 Paulus zeigt uns nun, daß die
Teil. In einer Situation, in der jeder un- Gefäße der Begnadigung die Christen
würdig ist, kann er seinen Segen über sind, die Gott sowohl aus der jüdischen
denjenigen ausschütten, den er erwählt, wie auch aus der heidnischen Welt »be-
und den Segen vorenthalten, wem rufen hat«. Das legt die Grundlage für
immer er will. »Wo niemand einen Ver- vieles, das nun folgen soll – die Beiseit-
dienst hat,« schreibt Barnes, »ist das esetzung Israels bis auf einen Überrest
Höchste, was man verlangen kann, daß und die Berufung der »Nationen« in eine
37)
er niemanden ungerecht behandelt«. Vorrechtsstellung.
9,22 Paulus zeigt nun »Gott«, den 9,25 Der Apostel zitiert zwei Verse
großen Töpfer, wie er scheinbar unter aus Hosea, um zu zeigen, daß die Beru-
einem Interessenkonflikt leidet. Einer- fung der Heiden für die Juden keine
seits will er »seinen Zorn erweisen« und Überraschung darstellen sollte. Der erste
»seine Macht« zeigen, indem er die Sün- Vers ist Hosea 2,25: »Ich werde Nicht-
de bestraft. Doch andererseits wünscht er mein-Volk mein Volk nennen und die
sich, »die Gefäße des Zorns, . . . die zum Nicht-Geliebte Geliebte.« Nun bezieht
Verderben zubereitet sind«, geduldig zu aber Hosea diese Worte eigentlich auf
behandeln. Das ist der Kontrast zwischen Israel und nicht auf die Heiden. Diese
der gerechten Härte Gottes einerseits und Worte gelten einer Zeit, zu der Israel als
seiner barmherzigen »Langmut« ande- Gottes Volk und seine Geliebte wieder
rerseits. Die Argumentation läuft folgen- eingesetzt wird. Doch wenn Paulus die-
dermaßen: »Wenn es absolut gerechtfer- sen Vers hier im Römerbrief zitiert, dann
tigt wäre, wenn Gott die Sünder sofort wendet er ihn auf die Berufung der Hei-
bestrafen würde, jedoch statt dessen den an. Welches Recht hat Paulus, hier so
große Geduld mit ihnen hat, wer kann radikale Veränderungen einzuführen?
ihn dann noch anklagen?« Die Antwort liegt darin, daß der Heilige
Man beachte sorgfältig die Formulie- Geist, der zunächst das Wort inspiriert
rung: »Gefäße des Zorns, . . . zum Ver- hat, das Recht hat, es später neu zu inter-
derben zubereitet.« »Gefäße des Zorns« pretieren oder anzuwenden.
sind diejenigen, deren Sünden sie dem 9,26 Der zweite Vers stammt aus
»Zorn« Gottes unterwerfen. Sie werden Hosea 1,10: »Und es wird geschehen, an
durch ihre eigene Sünde, ihren Ungehor- dem Ort, da zu ihnen gesagt wurde: Ihr
sam und ihre Auflehnung »zum Verder- seid nicht mein Volk, dort werden sie
ben zubereitet«, und nicht durch irgend- Söhne des lebendigen Gottes genannt
eine willkürliche Bestimmung Gottes. werden.« Und wieder spricht der Vers im
9,23 Wer kann sich beklagen, wenn es Zusammenhang des AT nicht von den
Gott gefällt, »den Reichtum seiner Herr- Heiden, sondern beschreibt die zukünfti-
lichkeit an den« Menschen kundzutun, ge Wiederherstellung Israels. Doch Pau-
denen er »Begnadigung« schenkt – die lus wendet diesen Vers auf Gottes An-
Menschen, die er »zur« ewigen »Herr- nahme der Heiden als seine Söhne an.
lichkeit vorher« auserwählt hat? Hier Dies ist ein weiteres Beispiel für die Tat-
erscheint uns der Kommentar von sache, daß der Heilige Geist Stellen, die
C. R. Erdman besonders hilfreich: er im Neuen Testament aus dem AT
Gottes Souveränität zeigt sich nie darin, zitiert, anwenden kann, wie es ihm
Menschen zu verurteilen, die erlöst werden gefällt.
sollten, sondern resultiert immer in der Erlö- 9,27 Die Ablehnung Israels außer
sung von Menschen, die eigentlich hätten einem Überrest wird in 9,27-29 bespro-
38)
verloren gehen sollen. chen. »Jesaja« sagte voraus, daß nur ein
Gott bereitet also keine Gefäße des kleiner Teil der Kinder Israels »errettet
Zorns zum Verderben zu, sondern »Ge- werden« würde, auch wenn das Volk
fäße der Begnadigung . . . zur Herrlich- selbst sehr groß werden würde
keit«. (Jes 10,22).

656
Römer 9 und 10

9,28 Als der Herr sagte: »Denn indem Schande haben, d. h. sie würden nicht
er das Wort vollendet und abkürzt, wird enttäuscht werden (Jes 28,16).
der Herr es auf der Erde ausführen«
(Jes 10,23), da bezog er sich auf die baby- B. Israels Gegenwart (Kap. 10)
lonische Eroberung Palästinas und Is- 10,1 Den unbekehrten Juden konnten die
raels anschließendes Exil. Das »Wort« Lehren des Paulus nicht gefallen. Sie
war Gottes Gerichtshandeln. Wenn Pau- sahen in ihm einen Verräter und Feind
lus diese Worte zitiert, sagt er damit, daß Israels. Doch hier versichert er seinen
das, was Israel in der Vergangenheit »Brüdern«, denen er schreibt, daß sein
geschehen ist, zu seiner Zeit wieder ge- größtes Ziel ist, dessen Erreichung ihm
schehen könnte und würde. die größte Freude bringen würde und für
9,29 »Wie Jesaja vorher gesagt hat« (in das er »zu Gott« betet, »daß sie errettet
einem vorhergehenden Teil seiner Pro- werden«.
phezeiung): »Wenn nicht der Herr« der 10,2 Der Apostel bezeugt ihnen, »daß
Heerscharen des Himmels einige Überle- sie Eifer für Gott haben«, weit davon ent-
bende »übriggelassen hätte, so« wäre fernt, gottlos und areligiös zu sein. Das
Israel »wie Sodom« und »Gomorra« aus- zeigt sich in ihrer sorgfältigen Beachtung
radiert worden (Jes 1,9). aller Zeremonien und Riten des Juden-
9,30 »Was«, fragt Paulus, ist nun die tums und ihrer Intoleranz gegen jede
Schlußfolgerung für das Zeitalter der dem widersprechende Lehre. Doch
Gemeinde? Die erste Schlußfolgerung »Eifer« reicht nicht, er muß mit der
lautet, »daß die Nationen, die« normaler- Wahrheit gepaart sein. Andernfalls kann
weise »nicht nach Gerechtigkeit streb- er mehr Unglück als Gutes anrichten.
ten«, sondern eher nach der Gesetzlosig- 10,3 Genau da lag ihr Fehler. Sie
keit, und die sicherlich keine eigene Ge- »erkannten Gottes Gerechtigkeit nicht«,
rechtigkeit anstrebten, »Gerechtigkeit weil sie nicht wußten, daß Gott die
erlangt haben« durch den »Glauben« an »Gerechtigkeit« aufgrund des Glaubens
den Herrn Jesus Christus. Natürlich und nicht aufgrund von Werken zu-
nicht alle Heiden, sondern nur diejeni- spricht. Sie versuchten, sich »ihre eige-
gen, die an Christus geglaubt haben, ne« Gerechtigkeit durch Halten des Ge-
werden gerechtfertigt. setzes aufzurichten. Sie versuchten,
9,31 »Israel« dagegen, das die durch ihre eigene Anstrengung, eigenen
Gerechtigkeit aufgrund des Gesetzes zu Charakter und eigene gute Werke Gottes
erlangen sucht, hat nie ein »Gesetz« Wohlgefallen zu erlangen. Sie weigerten
gefunden, durch das es die »Gerechtig- sich störrisch, sich Gottes Plan zu unter-
keit« hätte erlangen können. werfen, mit dem er die gottlosen Sünder
9,32 Der Grund dafür ist klar. Israel als gerecht ansehen kann, wenn sie an
weigerte sich zu glauben, daß die Recht- seinen Sohn glauben.
fertigung durch »Glauben« an Christus 10,4 Wenn sie nur an »Christus« glau-
erreicht wird. Statt dessen versuchte es ben würden, dann hätten sie erkannt,
weiterhin, sich seine eigene Gerechtig- daß er »des Gesetzes Ende . . . zur
keit durch gute Werke zu verdienen. Die Gerechtigkeit« ist. Der Zweck des Geset-
Israeliten »haben sich gestoßen an dem zes ist es, Sünde zu offenbaren, von der
Stein des Anstoßes«, nämlich an dem Sünde zu überführen und Sünder zu ver-
Herrn Jesus Christus. urteilen. Es kann niemals Gerechtigkeit
9,33 Genau das hat der Herr durch schenken. Die Strafe für Gesetzesbruch
Jesaja vorausgesagt. Das Kommen des ist der Tod. Durch seinen Tod hat Chri-
Messias nach Jerusalem würde zwei Fol- stus die Strafe für das Gesetz, das der
gen haben. Für einige würde er »ein Stein Mensch gebrochen hat, abgegolten.
des Anstoßes und ein Fels des Ärgernis- Wenn ein Sünder den Herrn Jesus Chri-
ses« werden (Jes 8,14). Andere würden stus als seinen Erlöser annimmt, dann
»an ihn« glauben und keinen Grund zur hat ihm das Gesetz nichts mehr zu sagen.

657
Römer 10

Durch den Tod seines Stellvertreters ist zurückzukehren (5. Mose 30,10b). Gott
er dem Gesetz gestorben. Er ist mit dem sagt, daß das Gesetz weder versteckt,
Gesetz fertig und mit dem vergeblichen noch entfernt, noch unerreichbar ist. Der
Versuch, durch dieses Gesetz die Recht- Mensch muß nicht »in den Himmel hin-
fertigung zu erlangen. aufsteigen« oder das Meer überqueren,
10,5 In der Sprache des AT hören wir um es zu finden. Es ist nahe und wartet
den Unterschied zwischen den Worten darauf, daß man ihm gehorcht.
des Gesetzes und den Worten des Glau- Doch der Apostel Paulus nimmt hier
bens. In 3. Mose 18,5 z. B. schreibt »Mo- diese Worte und wendet sie auf das
se«, daß derjenige, der die Gerechtigkeit Evangelium an.
tut, die das Gesetz verlangt, dadurch Er sagt, daß die Sprache des Glau-
»leben« wird. Die Betonung liegt hier auf bens einen Menschen nicht dazu bringt,
dem verdienen, auf den Taten. »in den Himmel« hinaufzusteigen, um
Natürlich legt uns diese Aussage ein »Christus herabzuführen«. Einmal wäre
Ideal vor, das kein sündiger Mensch das ausgesprochen unmöglich, aber es
erfüllen kann. Sie sagt einfach nur, daß wäre außerdem völlig unnötig, weil Chri-
der Mensch, wenn er das Gesetz voll- stus schon durch seine Menschwerdung
kommen und dauernd halten könnte, auf die Erde gekommen ist.
nicht zum Tode verurteilt werden würde. 10,7 Beim Zitieren von 5. Mose 30,13
Doch das Gesetz ist Menschen gegeben, verändert der Apostel den Text von »Wer
die schon Sünder waren und die schon wird für uns auf die andere Seite des
verurteilt waren. Selbst wenn sie von dem Meeres hinüberfahren?« zu »Wer wird in
Tag an das Gesetz vollkommen hätten den Abgrund hinabsteigen?« Er will
halten können, wären sie noch immer damit sagen, daß das Evangelium die
verloren gewesen, weil Gott auch die Menschen nicht auffordert, in das Grab
Sünden der Vergangenheit bestrafen »hinabzusteigen«, um »Christus aus den
müßte. Jede Hoffnung darauf, daß Men- Toten heraufzuführen«. Das wäre nicht
schen die Gerechtigkeit durch das Gesetz nur unmöglich, sondern auch unnötig,
erlangen, ist von Anfang an zum Schei- weil Christus schon von den Toten aufer-
tern verurteilt. standen ist. Man beachte, daß wir in
10,6 Um nun zu demonstrieren, daß Kapitel 10,6.7 die beiden Lehren über
die Sprache des Glaubens ganz anders ist Christus finden, die ein Jude am schwer-
als die des Gesetzes, zitiert Paulus sten akzeptieren kann – nämlich seine
zunächst 5. Mose 30,12.13: Menschwerdung und seine Auferste-
Es ist nicht im Himmel, daß du sagen hung. Und doch muß ein Jude diese bei-
müßtest: den Wahrheiten annehmen, um erlöst zu
»Wer wird für uns in den Himmel hin- werden. Wir werden beiden noch einmal
aufsteigen und es uns holen und es uns in Kapitel 10,9.10 begegnen.
hören lassen, daß wir es tun?« 10,8 Wenn das Evangelium den Men-
Und es ist nicht jenseits des Meeres, daß schen nicht befiehlt, etwas menschenun-
du sagen müßtest: mögliches zu tun, oder das zu tun, was
»Wer wird für uns auf die andere Seite der Herr schon längst erledigt hat, »was
des Meeres hinüberfahren und es uns sagt« es dann?
holen und es uns hören lassen, daß wir es Wieder nimmt Paulus einen Vers aus
tun?« 5. Mose 30, um zu sagen, daß das Evan-
Das Interessante an diesem Zitat ist gelium »nahe«, erreichbar und verständ-
die Tatsache, daß diese Verse in ihrem lich ist. Es kann in normaler Umgangs-
Zusammenhang in 5. Mose sich nicht auf sprache ausgedrückt werden (»in dei-
den Glauben und das Evangelium bezie- nem Mund«). Es kann einfach verstan-
hen, sondern auf das Gesetz, und zwar den werden (»in deinem Herzen«)
insbesondere auf das Gebot, von ganzem (5. Mose 30,14). Es ist die Gute Nachricht
Herzen und von ganzer Seele zum Herrn von der Erlösung durch den Glauben,

658
Römer 10

die Paulus und die anderen Apostel 10,10 Zur weiteren Erklärung
gepredigt haben. schreibt Paulus: »Mit dem Herzen wird
10,9 Hier finden wir das Evangelium geglaubt zur Gerechtigkeit.« Es geht
»in der Nußschale«: Zuerst müssen Sie nicht nur um eine intellektuelle Zustim-
die Wahrheit der Menschwerdung ak- mung, sondern um echte Annahme mit
zeptieren, daß das Kind in der Krippe zu dem ganzen inneren Wesen. Wenn ein
Bethlehem der Herr des Lebens und der Mensch das tut, ist er sofort gerechtfer-
Herrlichkeit ist, daß der »Jesus« des tigt.
Neuen Testamentes der »Herr« (Jahwe) Weiter: »Mit dem Mund wird be-
des AT ist. kannt zum Heil«, d. h., der Gläubige
Zweitens müssen Sie die Wahrheit bekennt öffentlich seine Erlösung, die er
seiner Auferstehung annehmen, mit bereits erfahren hat. Das Bekenntnis ist
allem, was damit zusammenhängt. keine Bedingung der Erlösung, sondern
»Gott« hat »ihn aus den Toten aufer- der unausbleibliche äußere Ausdruck
weckt« als Beweis dafür, daß Christus des Geschehenen. »Wer sich Jesus anver-
das Werk vollendet hat, das zu unserer traut, der muß auch von ihm reden.«
Erlösung nötig war, und daß er mit die- Wenn ein Mensch etwas wirklich glaubt,
sem Werk zufrieden war. Mit dem »Her- dann will er es anderen mitteilen. Wenn
zen« glauben bedeutet, daß man mit also ein Mensch wiedergeboren wird,
allen geistigen, gefühls- und willens- dann ist das eine zu wunderbare Erfah-
mäßigen Kräften glaubt. rung, um sie geheim zu halten. Er wird
So bekennst »du mit deinem Mund für Christus Zeugnis geben.
Jesus als Herrn« und glaubst »in deinem Die Schrift geht davon aus, daß
Herzen, . . . daß Gott ihn aus den Toten jemand, der gerettet ist, diese Errettung
auferweckt hat«. Damit macht man sich öffentlich bekannt machen wird. Beides
das Werk und die Person des Herrn Jesu gehört zusammen. So sagte Kelly: »Wenn
Christi persönlich zu eigen. Das ist der es kein Bekenntnis zu Christus, dem
errettende Glauben. Herrn, mit dem Mund gibt, dann können
Oftmals erhebt sich die Frage: »Kann wir nicht von Erlösung sprechen, wie
jemand gerettet werden, indem er Jesus unser Herr sagte: ›Wer gläubig geworden
als seinen Retter annimmt, ohne ihn auch und getauft worden ist, wird errettet
39)
als Herrn anzuerkennen?« Die Bibel werden.‹« Und Denney kommentiert:
bestärkt niemanden, der mit Vorbehalten »Ein Herz, das glaubt zur Gerechtigkeit,
glaubt: »Ich werde Jesus als Retter an- und ein Mund, der bekennt zum Heil, sind
nehmen, aber ich werde ihn nicht zum keine zwei verschiedenen Dinge, sondern
40)
König über alles krönen.« Andererseits zwei Seiten derselben Medaille.«
stehen diejenigen, die die Unterwerfung Es erhebt sich die Frage, warum das
unter Jesus als den Herrn als Bedingung Bekenntnis in Vers 9 zuerst steht, und
für die Erlösung ansehen vor dem Pro- dann der Glaube, während in Vers 10 der
blem: »Bis zu welchem Grad muß man Glaube zuerst kommt, und dann erst das
ihn als Herrn anerkennen?« Nur wenige Bekenntnis. Die Antwort ist nicht
Christen würden von sich sagen, daß sie schwierig zu finden. In Vers 9 liegt die
auf diese Weise eine absolute und voll- Betonung auf der Menschwerdung und
ständige Hingabe an den Herrn vollzo- der Auferstehung, und diese Lehren
gen haben. Wenn wir das Evangelium werden in ihrer zeitlichen Ordnung auf-
weitersagen, dann müssen wir immer geführt. Zuerst kommt die Menschwer-
festhalten, daß Glaube die einzige Bedin- dung – Jesus ist der Herr. Dann kommt
gung für die Rechtfertigung ist. Doch wir die Auferstehung – Gott hat ihn von den
müssen sowohl Sünder als auch Heilige Toten auferweckt. In Vers 10 liegt die
immer wieder daran erinnern, daß Chri- Betonung auf der Reihenfolge der Erlö-
stus der Herr ist (Jahwe-Gott), und als sung des Sünders. Zuerst »glaubt« er,
solcher anerkannt werden sollte. dann bekennt er seine Erlösung.

659
Römer 10

10,11 Der Apostel zitiert nun Jesa- Die Sünder hören Gottes Angebot, in
ja 28,16, um zu betonen, daß »jeder, der Christus ewiges Leben zu erhalten.
an ihn glaubt, . . . nicht zuschanden wer- Einige der Zuhörer glauben der Pre-
den« wird. Der Gedanke an ein öffentli- digt.
ches Bekenntnis zu Christus könnte die Diejenigen, die glauben, rufen den
Furcht vor Schande aufkommen lassen, Herrn an.
doch ist das Gegenteil der Fall. Unser Diejenigen, die den Herrn anrufen,
Bekenntnis zu ihm auf Erden führt dazu, werden gerettet.
daß er uns im Himmel bekennen wird. Hodge weist auf die Begründung die-
Wir haben eine Hoffnung, die nie ent- ses Argumentes hin, daß Gott, wenn er
täuscht werden wird. ein Ergebnis will, auch die Mittel will,
Das Wort »jeder« stellt die Verbin- die notwendig sind, dieses Ergebnis zu
41)
dung mit dem Folgenden dar – nämlich erzielen. Der Vers ist, wie wir gesagt
daß Gottes herrliche Erlösung allen gilt, haben, die Grundlage der christlichen
sowohl den Heiden als auch den Juden. Missionsbewegung. Paulus verteidigt
10,12 In Kapitel 3,23 lernten wir, daß hier, daß er den Heiden das Evangelium
es bezüglich der Erlösung keinen Unter- gepredigt hat, eine Vorgehensweise, die
schied zwischen Juden und Heiden gibt, die ungläubigen Juden für unentschuld-
denn alle sind Sünder. Nun erfahren wir, bar hielten.
es gibt auch bezüglich der Erreichbarkeit 10,15 Gott ist derjenige, der sendet.
der Erlösung keinen »Unterschied«. Der Wir sind die, die »gesandt sind«. Was
Herr ist kein Gott nur für bestimmte fangen wir nun mit dieser Tatsache an?
Menschen, sondern »Herr über alle«. »Er Haben wir die »lieblichen Füße«, die
ist reich« an Gnade und Barmherzigkeit Jesaja denen zugeschrieben hat, »die das
»für alle, die ihn anrufen«. Evangelium des Guten verkündigen«
10,13 Joel 2,32 wird hier zitiert, um (Jes 52,7)? Jesaja schreibt von den liebli-
die Allgemeingültigkeit des Evangeli- chen Füßen dessen, d. h. des Messias.
ums zu beweisen. Man könnte sich kaum Hier in Vers 15 wird das »dessen« zu
eine einfachere Aussage über den Weg »derer«. Er kam vor fast 2000 Jahren mit
der Erlösung wünschen, als man in die- »lieblichen Füßen«. Nun ist es unser Vor-
sen Worten findet: »Jeder, der den recht und unsere Verantwortung, mit
Namen des Herrn anrufen wird, wird unseren »lieblichen Füßen« in eine ver-
errettet werden.« Der »Name des Herrn« lorene und sterbende Welt zu gehen.
steht hier für den Herrn selbst. 10,16 »Aber« Paulus schmerzt es sehr,
10,14 Doch solch ein Evangelium daß das Volk Israel nicht als Ganzes »dem
setzt eine allgemeine Verkündigung vor- Evangelium gehorcht«. Jesaja hatte das
aus. Welchen Nutzen hat eine Erlösung, schon vorhergesagt, als er fragte: »Herr,
die den Heiden und den Juden angebo- wer hat unserer Verkündigung geglaubt?«
ten wird, wenn sie davon nicht hören. (Jes 53,1). Die Frage verlangt nach der
Hier haben wir die Grundlage jeder Antwort: »Nicht viele.« Als die Ankunft
christlichen Mission! des Messias auf Erden verkündigt wurde,
In einer Folge von dreimal »Wie?« da haben nicht viele darauf reagiert.
(»wie werden sie . . . anrufen . . . glauben 10,17 Aus diesem Zitat aus Jesaja
. . . hören ohne einen Prediger«) geht der schließt Paulus, daß der Glaube, von
Apostel über die Stufen zurück, die ihn dem der Prophet spricht, sich aus der
zur Erlösung der Juden und Heiden gehörten »Verkündigung« ergibt, und
geführt haben. Vielleicht wird es deut- daß die »Verkündigung« dem »Wort«
licher, wenn wir die Reihenfolge folgen- über den Messias entspringt. Der »Glau-
dermaßen umkehren: be« kommt zu den Menschen, wenn sie
Gott sendet seine Diener. unsere Predigt über den Herrn Jesus
Sie predigen die Gute Nachricht von Christus hören, die natürlich auf dem
der Erlösung. geschriebenen »Wort« Gottes basiert.

660
Römer 10 und 11

Doch mit Ohren zu hören reicht nicht den Herrn, indem er von den Heiden
aus. Man muß mit offenem Herzen und »gefunden worden« und denen »offen-
Sinn hören, gewillt, die Wahrheit Gottes bar geworden« sei, die nicht nach ihm
gezeigt zu bekommen. Wenn das gefragt haben (Jes 65,1). Wenn man die
geschieht, dann wird man sehen, daß das Heiden als Ganzes betrachtet, haben sie
Wort den Klang der Wahrheit enthält, nicht nach Gott gesucht. Sie waren mit
und daß die Wahrheit sich selbst ihren heidnischen Religionen ganz zu-
bestätigt. Dann wird man glauben. Es frieden. Doch viele von ihnen waren emp-
sollte natürlich klar sein, daß das Hören, fänglich, als sie das Evangelium hörten.
von dem hier die Rede ist, sich nicht auf Relativ gesehen haben mehr Heiden als
das Ohr beschränkt. Die Botschaft könn- Juden geglaubt.
te etwa auch gelesen werden. Deshalb 10,21 Diesem Bild, wie die Heiden zu
bedeutet »hören« hier, das Wort empfan- Jahwe strömen, stellt Jesaja die Darstel-
gen, auf welchem Weg auch immer. lung gegenüber, wie der Herr den
10.18 Wo liegt also das Problem? ganzen Tag mit nach dem Volk »Israel«
Haben nicht Juden und Heiden in glei- ausgestreckten Händen dasteht und ihm
cher Weise die Predigt des Evangeliums nur Ungehorsam und widerspenstige
»gehört«? Doch. Paulus macht sich die Weigerung entgegenschlägt.
Worte aus Psalm 19,5 zu eigen, um zu
zeigen, daß sie es gehört haben. Er sagt: C. Israels Zukunft (Kap. 11)
»Ja, freilich. Ihr Schall ist ausgegangen zu 11,1 Wie steht es nun um die Zukunft
der ganzen Erde und ihre Reden zu den Israels? Stimmt es, wie einige lehren, daß
Grenzen des Erdkreises.« Gott mit Israel fertig ist, die Gemeinde
Doch das Erstaunliche hier ist, daß nun das Israel Gottes ist und daß alle Ver-
diese Worte nicht vom Evangelium re- heißungen an Israel heute für die Ge-
42)
den. Sie beschreiben das allgemeine meinde gelten? Dieses Kapitel tritt von
Zeugnis der Herrlichkeit Gottes, das allen Bibelabschnitten dieser Ansicht am
Sonne, Mond und Sterne ablegen. Doch energischsten entgegen.
wie wir schon gesagt haben, Paulus Die erste Frage von Paulus bedeutet:
benutzt diese Worte und sagt praktisch, »Hat Gott etwa sein Volk« völlig »ver-
daß sie genauso für die weltweite Ver- stoßen?« Das heißt, ist jeder einzelne
kündigung des Evangeliums in seinen Israelit verstoßen? »Das sei ferne!« Es
Tagen gelten. Durch die Inspiration des geht hier darum, daß Gott zwar »sein
Geistes Gottes nimmt der Apostel oft Volk verstoßen hat«, wie in Kapitel 11,15
Abschnitte des AT und wendet sie auf ausdrücklich gesagt wird, doch bedeutet
eine ganz andere Weise an. Derselbe das nicht, daß er alle verstoßen hat. Pau-
Geist, der diese Worte inspiriert hat, hat lus selbst ist ein Beweis dafür, daß die
sicherlich später das Recht, sie auf ande- Verwerfung nicht vollständig war.
re Weise anzuwenden. Schließlich war er doch »ein Israelit aus
10,19 Die Berufung der Heiden und der Nachkommenschaft Abrahams«
die Ablehnung des Evangeliums durch und »vom Stamm Benjamin«. Seine Her-
die Mehrheit der Juden sollte für das Volk kunft als Jude war unangreifbar be-
»Israel« keine Überraschung sein. Ihre wiesen.
eigenen Schriften haben ihnen vorausge- 11,2 Deshalb müssen wir den ersten
sagt, was geschehen würde. Gott hat sie Teil des Verses so verstehen: »Gott hat
z. B. vorgewarnt, daß er sie »zur Eifer- sein Volk nicht« vollkommen »verstoßen,
sucht reizen« werde durch »ein Nicht- das er vorher erkannt hat«. Die Situation
Volk« (die Heiden), und sie »über eine lag ähnlich der zur Zeit Elias. Die große
unverständige« götzendienerische »Na- Masse des Volkes hatte sich von Gott zu
tion . . . erbittern« werde (5. Mose 32,21). den Götzen gewandt. Die Zustände
10,20 Mit einer noch schärferen Aus- waren so schlimm, daß Elia »gegen Isra-
drucksweise bezieht sich »Jesaja« auf el« betete statt für Israel!

661
Römer 11

11,3 Er erinnerte den »Herrn« daran, welchem sie geistliche Realitäten nicht
wie sein Volk die »Propheten« zum mehr erkennen können. Weil sie sich
Schweigen gebracht hatte, indem es sie weigerten, den Herrn Jesus als ihren
tötete. Sie hatten Gottes »Altäre nieder- Messias zu sehen, haben sie nun die
gerissen«. Es schien ihm, daß er der ein- Fähigkeit verloren, ihn zu »sehen«. Weil
zige treue Fürsprecher für Gott sei, und sie nicht auf die bittende Stimme Gottes
daß sein »Leben« unmittelbar in Gefahr hören wollten, wurden sie mit geistlicher
sei. Taubheit geschlagen. Dieses schreckliche
11,4 Doch die Lage war nicht so fin- Urteil besteht »bis auf den heutigen Tag«.
ster und hoffnungslos, wie Elia befürch- 11,9 Auch »David« hat das Gericht
tete. Gott erinnerte den Propheten daran, über Israel vorausgesehen. In Psalm 69,
daß er sich »siebentausend Mann« hatte 23.24 beschrieb er den abgelehnten Er-
»übrigbleiben lassen«, die sich standfest löser, wie er Gott aufruft, ihren »Tisch . . .
weigerten, dem Volk darin zu folgen, zur Schlinge und zum Fallstrick« zu
»Baal« anzubeten. machen. Der »Tisch« steht hier für die
11,5 Was damals galt, gilt auch heute: gesamten Vorrechte und Segnungen, die
Gott läßt nie zu, daß es keine Zeugen Israel durch Christus empfangen hat.
mehr für ihn gibt. Er hat immer einen Was ihnen ein Segen sein sollte, ist Israel
treuen »Überrest«, der von ihm als be- zum Fluch geworden.
sonderer Empfänger seiner Gnade auser- 11,10 In diesem Psalmvers fordert der
wählt ist. leidende Erlöser Gott auf, »ihre Augen«
11,6 Gott erwählt diesen Überrest zu verfinstern und ihren »Rücken« so zu
nicht aufgrund seiner »Werke«, sondern beugen, als ob sie sich abmühen oder alt
aufgrund seiner souverän erwählenden wären.
»Gnade«. Diese beiden Prinzipien – Wer- 11,11 Paulus stellt nun eine weitere
ke und Gnade – schließen einander aus. Frage: »Sind sie etwa gestrauchelt, damit
Ein Geschenk kann man sich nicht ver- sie fallen sollten?« In den zweiten Teil
dienen. Was man ohne Bezahlung erhält, der Frage müssen wir noch die Worte
kann man nicht kaufen. Was man sich endgültig oder für immer einsetzen. Sind
nicht erarbeitet hat, ist unverdient. Zum sie gestolpert, damit sie fallen sollten,
Glück basierte Gottes Erwählung auf und nie wieder aufstehen könnten? Der
»Gnade« und nicht auf »Werken«, weil Apostel bestreitet eine solche Vorstellung
sonst niemand hätte erwählt werden energisch. Gottes Ziel ist immer die Wie-
können. derherstellung des Sünders. Sein Ziel ist
11,7 Die Schlußfolgerung lautet also, es, daß durch ihren Fall das »Heil« zu
daß »Israel« nicht die Gerechtigkeit er- »den Nationen« kommen soll und so
langen konnte, weil es versuchte, sie Israel zur »Eifersucht« gereizt wird. Die-
durch eigene Anstrengung statt durch se »Eifersucht« soll Israel schließlich wie-
das vollbrachte Werk Christi zu errei- der zu Gott zurückbringen.
chen. Der Rest, der von Gott auserwählt Paulus bestreitet jedoch nicht den Fall
ist, konnte die Gerechtigkeit durch den Israels, sondern beschreibt ihn in diesem
Glauben an den Herrn Jesus erlangen. Vers genau – »sondern durch ihren Fall ist
Das Volk wurde mit dem geschlagen, den Nationen das Heil geworden« – und
was wir »gerichtsweise Blindheit« nen- im nächsten Vers – »Wenn aber ihr Fall
nen könnten. Die Weigerung, den Mes- der Reichtum der Welt ist.« Doch er tritt
sias anzunehmen, führte dazu, daß das der Vorstellung energisch gegenüber, daß
Volk immer weniger in der Lage und Gott mit Israel für immer fertig sei.
bereit war, ihn anzunehmen. 11,12 Die Folge der Ablehnung des
11,8 Das ist genau die Entwicklung, Evangeliums durch Israel war, daß es als
die das AT vorausgesagt hat (Jes 29,10; Volk beiseite gesetzt wurde und daß das
5. Mose 29,3). »Gott« hat sie in einen Evangelium zu den »Nationen« gelang-
Zustand der »Schlafsucht« versetzt, in te. In diesem Fall bedeutete der »Fall«

662
Römer 11

Israels den »Reichtum der Welt«, und der Volk Israel war. Als Jona während des
Verlust Israels ist der Gewinn der Heiden Sturmes aus dem Schiff geworfen wurde,
geworden. führte das zu einer Rettung oder Erlö-
Doch wenn das wahr ist, »wieviel sung eines ganzen Schiffes voller Hei-
mehr« wird dann die Wiederherstellung den. Doch als Jona wiederhergestellt war
Israels ein Segen für die Welt sein! Wenn und in Ninive predigte, wurde eine ganze
sich Israel gegen Ende der Großen Trüb- Stadt voller Heiden gerettet. Genauso hat
sal zum Herrn bekehrt, dann wird dieses die zeitweilige Ablehnung Israels durch
Volk Segenskanal der Völker werden. Gott dazu geführt, daß das Evangelium
11,13 Der Apostel spricht hier die im Vergleich zu später nur einer Hand-
»Nationen«, d. h. die Heiden an (11,13- voll Heiden verkündigt wird. Doch
24). Einige Ausleger sind der Ansicht, wenn Israel einmal wiederhergestellt
daß er zu den Heidenchristen in Rom sein wird, dann werden große Massen
spricht, doch diese Worte verlangen eine von Heiden in das Reich Gottes einge-
andere Zuhörerschaft – nämlich die heid- hen.
nischen Nationen als solche. Es wird uns 11,16 Nun gebraucht Paulus zwei Bil-
beim Verständnis dieses Abschnittes sehr der. In dem ersten geht es um »das Erst-
helfen, wenn wir erkennen, daß Paulus lingsbrot« und den »Teig«, im zweiten
von Israel als Volk und von den Heiden um die Wurzel und die Zweige. Im
als solchen spricht. Er spricht nicht von ersten Bild geht es um die »Erstlingsga-
der Gemeinde Gottes, sonst sähen wir be« (LU 1984) und den Teig, nicht jedoch
uns der Möglichkeit gegenüber, daß die um Frucht. In 4. Mose 15,19-21 lesen wir
Gemeinde »ausgeschnitten« werden von einem Stück Teig, das dem Herrn als
könnte (11,22), und das ist nicht schrift- Hebopfer geheiligt war. Hier wird nun
gemäß. geschlossen, daß, wenn das Teigstück für
Weil Paulus »der Nationen Apostel« den Herrn geheiligt wird, aller anderer
war, war es für ihn ganz natürlich, sehr Teig, der mit diesem Teigstück erzeugt
offen zu ihnen zu sprechen. Damit erfüll- wird, dann ebenfalls heilig ist.
te er nur seinen »Dienst«. Die Übertragung geschieht folgen-
11,14 Er versuchte auch auf alle mög- dermaßen: Das »Erstlingsbrot« ist Abra-
lichen Arten, seine Landsleute »zur ham. Er war in dem Sinne heilig, daß er
Eifersucht« zu »reizen«, damit er von für Gott ausgesondert wurde. Wenn das
Gott gebraucht werden könnte, »einige für ihn galt, dann galt es auch für seine
aus ihnen« zu »erretten«. Er und wir wis- auserwählte Nachkommenschaft. Sie
sen, daß er selbst niemanden hätte retten wurden für eine äußerlich vor Gott privi-
können. Doch der Gott des Heils identifi- legierte Stellung ausgesondert.
ziert sich so sehr mit seinen Dienern, daß Das zweite Bild handelt von der
er ihnen erlaubt, von sich Dinge zu »Wurzel« und den »Zweigen«. »Wenn die
behaupten, die nur er vollbringen kann. Wurzel« ausgesondert wird, »so auch die
11,15 Dieser Vers wiederholt das Zweige«. Abraham ist in dem Sinne »die
Argument von 11,12 mit anderen Wor- Wurzel«, daß er der erste war, der von
ten. Als Israel als Gottes auserwähltes, Gott auserwählt wurde, um eine neue
irdisches Volk beiseite gesetzt wurde, Gesellschaft zu bilden, die sich von den
wurden die Heiden in die Vorrechtsstel- anderen Völkern unterscheiden sollte.
lung bei Gott eingesetzt und wurden so Wenn Abraham ausgesondert war, dann
im übertragenen Sinne versöhnt. Wenn waren es auch diejenigen, die von seiner
Israel einst während des Tausendjähri- auserwählten Familie abstammten.
gen Reiches wiederhergestellt wird, 11,17 Der Apostel führt nun seine
dann wird das wie eine weltweite Wie- Metapher von der »Wurzel« und den
dergeburt oder Auferstehung wirken. »Zweigen« weiter aus.
Das kann man mit der Erfahrung Die Zweige, die »ausgebrochen wor-
Jonas verdeutlichen, der ein Bild für das den sind«, sind ein Bild für den ungläu-

663
Römer 11

bigen Teil der zwölf Stämme Israels. Weil erwähltes irdisches Volk. Weil sie den
sie den Messias abgelehnt haben, wurde Messias jedoch ablehnten, wurden »eini-
ihnen ihre bevorrechtigte Stellung als ge der Zweige ausgebrochen« und verlo-
Gottes auserwähltes Volk genommen. ren so ihre Stellung als »lieber Sohn«. Die
Doch nur »einige der Zweige« sind weg- Heiden wurden in den Ölbaum »einge-
genommen worden. Ein Überrest des pfropft« und wurden mit den gläubigen
Volkes, darunter Paulus selbst, hatte den Juden Teilhaber an »der Wurzel und der
Herrn angenommen. Fettigkeit« dieses Ölbaumes. Die »Wur-
Der »wilde Ölbaum« steht für die zel« deutet auf Abraham hin, mit dem
Heiden, die hier als ein Volk gesehen die Segenslinie begann. Die »Fettigkeit«
werden. Sie wurden in den Ölbaum »ein- des Ölbaums bezieht sich auf seine
gepfropft«. Fruchtbarkeit – d. h. auf seine reiche Oli-
Die Heiden haben dadurch Anteil an venernte und das Öl, das daraus gepreßt
»der Wurzel und der Fettigkeit des Öl- wurde. Hier steht die »Fettigkeit« für die
baumes«. Die Heiden haben nun diesel- Vorrechte, die man durch die Vereini-
be bevorrechtigte Stellung, die ursprüng- gung mit dem Ölbaum erhalten hat.
lich Israel gegeben war, und die der gläu- 11,18 Doch die Heiden sollten »nicht«
bige Überrest Israels noch immer ein- eine Haltung gegenüber den Juden ein-
nimmt. nehmen, als ob sie heiliger als diese
Bei diesem Bild ist es wichtig zu er- wären, und sich auch nicht irgendwie
kennen, daß der Hauptstamm des Öl- ihrer eingebildeten Überlegenheit »rüh-
baumes nicht Israel, sondern Gottes men«. Jedes derartige Rühmen übersieht
Segenslinie durch die Jahrhunderte ist. die Tatsache, daß sie ursprünglich nicht
Wenn der Stamm Israel wäre, dann wür- zur Segenslinie gehörten. Die Segenslinie
den wir das seltsame Bild haben, daß war es, die ihnen ihre Vorrechtsstellung
Israel aus Israel ausgeschnitten und dann gab.
wieder eingepfropft würde. 11,19 Paulus sieht voraus, daß der
Es ist auch wichtig, sich daran zu ersonnene Heide, mit dem er hier disku-
erinnern, daß der »wilde Ölbaum« nicht tiert hat, »sagen« würde: »Die jüdischen
die Gemeinde ist, sondern die Heiden all- ›Zweige sind ausgebrochen worden,
gemein. Andernfalls würde sich die damit ich‹ und die anderen heidnischen
Möglichkeit ergeben, daß echten Gläubi- Zweige ›eingepfropft‹ würden.«
gen die Vorrechtsstellung vor Gott wie- 11,20 Der Apostel gibt zu, daß diese
der genommen werden könnte. Paulus Aussage teilweise stimmt. Die jüdischen
hat jedoch schon gezeigt, daß das un- Zweige »sind ausgebrochen worden«,
möglich ist (Kap. 8,38.39). und die Heiden wurden eingepfropft.
Wenn wir sagen, daß der Stamm des Doch das ist »durch den Unglauben«
Ölbaumes Gottes Segenslinie durch die Israels geschehen, und nicht, weil die
Jahrhunderte ist, was meinen wir dann Heiden irgendeinen besonderen An-
mit dem Wort »Segenslinie«? Gott ent- spruch auf Gottes Gnade gehabt hätten.
schied sich, bestimmte Menschen auszu- Die Heiden wurden eingepfropft, weil
wählen, die eine besonders vertrauliche sie als Volk »durch den Glauben« stan-
Stellung vor ihm einnehmen sollten. Sie den. Der Ausdruck: »Du aber stehst
sollten vom Rest der Welt getrennt wer- durch den Glauben« scheint anzudeuten,
den, und mit besonderen Vorrechten daß Paulus von echten Gläubigen
gesegnet werden und sich einer bevor- spricht. Doch das ist hier nicht notwendi-
zugten Stellung erfreuen. In den ver- gerweise gemeint. Die einzige Art, durch
schiedenen geschichtlichen Zeitaltern die die Heiden »durch den Glauben« ste-
hätte Gott so immer eine besondere »ver- hen konnten, war, daß sie vergleichswei-
traute Gruppe«. se mehr Glauben hatten als die Juden.
Das Volk Israel war das erste in dieser Deshalb sagte Jesus zu einem heidni-
Segenslinie. Es war Gottes von alters her schen Hauptmann: »Selbst nicht in Israel

664
Römer 11

habe ich so großen Glauben gefunden« nicht in ihre ursprüngliche Vorrechtsstel-


(Lk 7,9). Und Paulus sagte später den lung wieder einsetzen sollte. Das wäre
Juden in Rom: »So sei euch nun kund, für Gott durchaus möglich.
daß dieses Heil Gottes den Nationen 11,24 Es wäre sogar weitaus weniger
gesandt ist; sie werden auch hören« (Apg ein Gewaltakt, als vorher die Heiden in
28,28). Man beachte: »sie werden auch diese Stellung einzupfropfen. Das Volk
hören.« Als Volk nehmen sie das Evan- Israel stellte die ursprünglichen Äste des
gelium heute eher an als Israel. »Stehen« Baumes göttlichen Wohlwollens dar, und
steht hier im Gegensatz zu Fallen. Israel deshalb werden sie die »natürlichen
war aus seiner Vorrechtsstellung gefal- Zweige« genannt. Die heidnischen Zwei-
len. Die Heiden waren nun an seinen ge stammten von einem »wilden Öl-
Platz gepfropft worden. baum«. Einen »wilden« Ölzweig in einen
Doch wer da steht, mag sehen, daß er »edlen Ölbaum« einzupfropfen ist »ge-
nicht falle. Die Heiden sollten sich nun gen die Natur« oder unnatürlich. Doch
nicht vor Stolz aufblähen, sondern sich »natürliche Zweige« in ihren ursprüngli-
»fürchten«. chen »edlen Ölbaum« einzupfropfen, ist
11,21 »Denn wenn Gott« nicht zöger- ein sehr natürlicher Vorgang.
te, »die natürlichen Zweige« aus der 11,25 Nun enthüllt der Apostel, daß
Segenslinie herauszunehmen, dann die zukünftige Wiederherstellung Israels
haben wir keinerlei Grund anzunehmen, nicht nur möglich, sondern schon eine
daß er die wilden Ölzweige unter ähnli- feststehende Tatsache ist. Was uns Pau-
chen Umständen »schonen« werde. lus nun offenbart ist ein »Geheimnis« –
11,22 Deshalb sehen wir im Gleichnis eine Wahrheit, die bisher unbekannt ist,
vom Ölbaum zwei große, einander entge- die ohne Gottes Hilfe durch den Intellekt
gengesetzte Facetten des Charakters Got- des Menschen nicht hätte entdeckt wer-
tes – seine »Güte« und seine »Strenge«. den können und die jetzt bekannt ge-
Seine »Strenge« zeigt sich darin, daß er macht wird. Paulus erwähnt sie, damit
Israel aus seiner Vorrechtsstellung ge- die heidnischen Gläubigen sich »nicht
nommen hat. Seine »Güte« zeigt sich dar- . . . selbst für klug« halten sollten, und
in, daß er sich mit dem Evangelium den mit Nationalstolz auf die Juden her-
Heiden zugewandt hat (s. Apg 13,46; abblicken könnten. »Dieses Geheimnis«
18,6). Doch diese »Güte« dürfen wir nicht ist folgendes:
als selbstverständlich hinnehmen. Auch »Verstockung ist Israel zum Teil
die Heiden könnten »ausgeschnitten« widerfahren.« Sie betrifft nicht das
werden, wenn sie sich nicht ihre relative gesamte Volk, sondern nur den ungläu-
Offenheit erhalten, die der Heiland wäh- bigen Teil.
rend seines irdischen Dienstes bei ihnen Diese »Blindheit« dauert nur zeitwei-
fand (Matth 8,10; Lk 7,9). lig. Sie wird andauern, »bis die Vollzahl
Man muß sich ständig vor Augen hal- der Nationen eingegangen sein wird«.
ten, daß Paulus nicht von der Gemeinde »Die Vollzahl der Nationen« bezieht sich
oder einzelnen Gläubigen spricht. Er auf den Zeitpunkt, zu dem das letzte
spricht von den Heiden als Gesamtheit. Glied der Gemeinde hinzugefügt wird
Nichts kann je den Leib Christi von sei- und der vollständige Leib Christi in die
nem Haupt trennen, und nichts kann himmlische Heimat entrückt wird. »Die
einen Gläubigen von der Liebe Gottes Vollzahl« der Nationen ist etwas anderes
trennen, doch die Heidenvölker können als »die Zeiten« der Nationen (Lk 21,24).
aus ihrer gegenwärtigen bevorzugten Die Vollzahl der Nationen entspricht
Stellung wieder entfernt werden. zeitlich der Entrückung. Der Ausdruck
11,23 Und Israels Trennung muß »die Zeiten der Nationen« bezieht sich
nicht endgültig sein. »Wenn sie« ihren auf die gesamte Periode, in denen die
nationalen »Unglauben« ablegen, dann Heiden über die Juden die Oberhand
gibt es keinerlei Grund, warum Gott sie haben. Sie beginnt mit der Babylonischen

665
Römer 11

Gefangenschaft (2. Chron 36,1-21) und seine Gaben nicht zurück. Wenn er ein-
endet mit der Wiederkunft Christi zur mal eine bedingungslose Verheißung
Herrschaft auf Erden. gegeben hat, dann wird er nie wieder
11,26 Obwohl Israels gerichtsweise hinter diese zurückgehen. Er gab Israel
Blindheit um die Zeit der Entrückung die besonderen Vorrechte, die in Kapi-
geheilt wird, bedeutet das nicht, daß tel 9,4.5 aufgelistet sind. Er berief Israel
gleich ganz Israel gerettet ist. Während dazu, sein irdisches Volk zu sein
der Großen Trübsal werden sich Juden (Jes 48,12), das von den anderen Völkern
bekehren, doch der gesamte erwählte abgesondert ist. Nichts kann seine Pläne
Überrest wird erst erlöst, wenn Christus umwerfen.
als König der Könige und Herr aller Her- 11,30 Die Heiden waren »einst« ein
ren auf die Erde wiederkommt. ungezähmtes Volk voller »Ungehor-
Wenn Paulus sagt, daß »ganz Israel sam«, doch als Israel den Messias und
errettet werden« wird, dann meint er das das Evangelium der Erlösung ablehnte,
ganze gläubige Israel. Der ungläubige Teil wandte Gott sich den Heiden in Gnade
des Volkes wird bei der Wiederkunft zu.
Christi vernichtet (Sach 13,8.9). Nur die- 11,31 Eine recht ähnliche Folge von
jenigen, die sagen: »Gelobt sei, der da Ereignissen wird sich in der Zukunft
kommt im Namen des Herrn«, werden ergeben. Auf den »Ungehorsam« Israels
verschont werden und in das Reich ein- folgt seine »Begnadigung«, wenn sie
gehen. durch »eure Begnadigung« zur Eifer-
Darauf bezog sich auch Jesaja, als er sucht auf die Heiden gereizt werden.
vom Erlöser sprach, der nach »Zion« Einige lehren, daß durch die von Heiden
kommt und die »Gottlosigkeiten von erwiesene Gnade die Juden wiederher-
Jakob abwenden« wird. Man beachte, gestellt werden, doch wissen wir, daß
daß es hier nicht um das Kommen Chri- dies nicht stimmt. Israels Wiederherstel-
sti nach Bethlehem, sondern nach »Zion« lung wird das Ergebnis der Wiederkunft
geht – d. h. um seine Wiederkunft. des Herrn Jesus sein (s. 11,26.27).
11,27 Davon wird gleichzeitig in 11,32 Zunächst erhalten wir beim
Jesaja 27,9 und Jeremia 31,33.34 gespro- Lesen dieses Verses die Vorstellung, daß
chen, wenn Gott unter den Bedingungen Gott willkürlich sowohl Juden als auch
des neuen »Bundes« Israels »Sünden Heiden zum Unglauben verurteilt, und
wegnehmen« wird. daß sie nichts dafür können. Doch darum
11,28 Deshalb können wir Israels geht es hier nicht. Der Unglaube war ihre
gegenwärtige Stellung zusammenfassen, eigene Sache. Der Vers will uns aber fol-
indem wir zunächst sagen, daß sie »hin- gendes sagen: Nachdem Gott sowohl
sichtlich des Evangeliums . . . Feinde um Juden als auch Heiden als ungläubig er-
euretwillen« sind. Sie sind in dem Sinne funden hat, wird nun dargestellt, wie er
»Feinde« geworden, daß sie verworfen, sie beide in diesem Zustand einkerkert,
beiseite gesetzt und dem Wohlwollen sodaß sie nicht mehr aus ihrer Lage her-
Gottes entfremdet worden sind, so daß auskönnten, es sei denn sie nähmen seine
das Evangelium nun zu den Heiden Bedingungen an.
kommen konnte. Dieser »Ungehorsam« gab Gott die
Doch das ist nur die Hälfte der Wahr- Möglichkeit, »alle« zu begnadigen,
heit. »Hinsichtlich der Auswahl aber« sowohl Juden als auch Heiden. Es geht
sind sie »Geliebte um der Väter willen« – hier nirgendwo um eine Allversöhnung.
d. h. um Abrahams, Isaaks und Jakobs Gott hat die Heiden begnadigt und wird
willen. auch die Juden begnadigen, doch wird
11,29 Der Grund, aus dem sie noch damit nicht gleichzeitig jeder errettet.
immer geliebt sind, lautet, daß Gottes George Williams schreibt:
»Gnadengaben« und seine »Berufung« Gott hat sowohl die jüdische als auch die
niemals widerrufen werden. Gott nimmt heidnischen Nationen geprüft, und da beide

666
Römer 11 und 12

versagt haben, hat er sie in ihren Unglauben völlig verstehen könnten. Die »Wege«,
eingeschlossen, damit sie eindeutig keinen auf denen er seine Schöpfung, die Ge-
Verdienst haben und alle Ansprüche und schichte, die Erlösung und die Vorse-
Rechte auf göttliches Wohlwollen verwirkt hung ordnet, gehen über unser begrenz-
haben, und er sie nun alle mit dem unaus- tes Einsichtsvermögen hinaus.
sprechlichen Reichtum seiner Gnade begna- 11,34 Kein erschaffenes Wesen kann
43)
digen kann. »des Herrn Sinn« erkennen, außer bis zu
11,33 Dieser abschließende Lobpreis dem Punkt, bis zu dem es ihm gefällt,
Gottes schaut auf den gesamten Brief sich zu offenbaren. Und sogar dann
und die darin entfalteten Wunder Gottes sehen wir wie in einem Spiegel, nämlich
zurück. Paulus hat den wunderbaren Er- schwach (1. Kor 13,12). Niemand ist in
lösungsplan ausgelegt, durch den ein der Lage, Gott einen Rat zu geben. Er
gerechter Gott gottlose Sünder rechtferti- braucht unseren Rat nicht und hätte nie
gen, und dennoch gerecht bleiben kann. etwas davon (s. Jes 40,13).
Er hat gezeigt, wie das Werk Christi Gott 11,35 Niemand hat Gott je gesehen.
mehr Herrlichkeit und den Menschen Welches unserer Geschenke könnte je
mehr Segen gebracht hat, als sie durch den Ewigen in die Lage versetzen, uns
Adams Sünde verloren haben. Er hat etwas zurückerstatten zu müssen?
erklärt, wie die Gnade ein geheiligtes 11,36 Der Allmächtige genügt sich
Leben ermöglicht, das unter dem Gesetz selbst. Er ist die Quelle alles Guten, er ist
nie möglich war. Er hat die ungebroche- der aktive Erhalter und Lenker des Uni-
ne Kette der göttlichen Absichten vom versums, und für ihn allein ist alles er-
Vorherwissen bis zur endgültigen Ver- schaffen worden. Alles ist gemacht wor-
herrlichung nachgezeichnet. Er hat die den, damit es ihm »Herrlichkeit« bringe.
Lehre von der souveränen Erwählung Das möge immer so sein! »Ihm sei die
vorgestellt, ebenso wie die dazugehörige Herrlichkeit in Ewigkeit! Amen.«
Wahrheit der menschlichen Verantwor-
tung. Und er hat die Gerechtigkeit und III. Unsere Verantwortung:
Harmonie von Gottes Handeln mit Israel Die Auswirkungen des
und den Völkern während der verschie- Evangeliums auf unser alltägliches
denen Zeitalter nachgezeichnet. Nun Leben (Kap. 12 – 16)
konnte nichts angemessener sein, als mit Der Rest des Römerbriefes beantwortet
einem Lied des Lobpreises und der die Frage: Wie sollten die Gerechtfertigten
Anbetung zu schließen. nun in ihrem Alltag leben? Paulus beschäf-
»O Tiefe des Reichtums, sowohl der tigt sich mit unseren Pflichten gegenüber
Weisheit als auch der Erkenntnis Got- anderen Gläubigen, unserer Gesellschaft,
tes!« unseren Feinden, unserer Regierung und
Der Reichtum Gottes! Er ist reich an unseren schwächeren Geschwistern.
Barmherzigkeit, Liebe, Gnade, Treue,
Macht und Güte. A. In persönlicher Hingabe (12,1.2)
Die Weisheit Gottes! Sie ist unendlich, 12,1 Ernste und hingegebene Überlegun-
unerforschlich, unvergleichlich und gen zu den »Erbarmungen Gottes«, wie
unerschütterlich. sie uns in den Kapiteln 1 – 11 vorgestellt
Die Erkenntnis Gottes! »Gott ist all- werden, führen uns zu nur einer Schluß-
wissend«, schreibt Arthur W. Pink, »er folgerung – wir sollten unsere »Leiber
weiß alles: Alles, was möglich ist, alles, darstellen als ein lebendiges, heiliges,
was wirklich ist, alle Vorgänge, alle Krea- Gott wohlgefälliges Opfer«. Unsere »Lei-
turen, ob sie der Vergangenheit, Gegen- ber« stehen für alle unsere Glieder und –
44)
wart oder Zukunft angehören.« im Extremfall – auch für unser Leben.
Sein Entscheidungen sind »unaus- Völlige Hingabe ist unser »vernünfti-
forschlich«: Sie sind für den menschli- ger Gottesdienst«. Sie ist folgender-
chen Verstand viel zu tief, als daß wir sie maßen unser »vernünftiger Gottesdienst«:

667
Römer 12

Wenn der Sohn Gottes für mich gestor- schlimme Untreue dem Herrn gegen-
ben ist, dann ist das mindeste, das ich tun über, wenn die Gläubigen die Welt lieben
kann, für ihn zu leben. »Wenn Jesus Chri- würden. Jeder, der die Welt liebt, ist ein
stus Gott ist und für mich starb«, sagte Feind Gottes.
der große britische Athlet C. T. Studd, Gläubige sind genauso wenig von
»dann kann für mich kein Opfer für ihn der Welt, wie Christus es ist. Dennoch
45)
zu groß sein.« Isaak Watts großartiges werden sie in die Welt gesandt, um ihr zu
Lied geht in dieselbe Richtung: »Eine bezeugen, daß ihre Werke schlecht sind
Liebe, die so erstaunlich und göttlich ist, und daß die Erlösung für alle zur Verfü-
verlangt mein Herz, mein Leben, mein gung steht, die an den Herrn Jesus Chri-
alles.« stus glauben. Wir sollten nicht nur von
»Vernünftiger Gottesdienst« kann der Welt getrennt sein, sondern wir soll-
auch mit »geistlichem Gottesdienst« ten auch »verwandelt« werden »durch
übersetzt werden. Als Gläubige und die Erneuerung des Sinnes«, was bedeu-
Priester kommen wir nicht mit den Lei- tet, daß wir so denken sollten, wie Gott
bern geschlachteter Tiere zu Gott, son- denkt, wie es uns in der Bibel offenbart
dern mit dem geistlichen Opfer eines ist. Dann können wir in unserem Leben
hingegebenen Lebens. Wir opfern ihm direkte Führung Gottes erfahren. Und
auch unseren Dienst (Kap. 15,16), unse- wir werden erleben, daß sein Wille nicht
ren Lobpreis (Hebr 13,15) und unser unangenehm und hart ist, sondern »das
Eigentum (Hebr 13,16). Gute und Wohlgefällige und Vollkom-
12,2 Zweitens fordert uns Paulus auf, mene«.
»nicht . . . dieser Welt . . . gleichförmig« Hier haben wir drei Schlüssel zum
zu werden, oder wie es Phillips aus- Willen Gottes. Der erste ist ein hingegebe-
drückt: »Laßt euch nicht von der Welt ner Leib, der zweite ein Leben in Abson-
um euch ihren Stempel aufdrücken.« Wir derung und der dritte ein verwandelter
kommen in das Reich Gottes und sollten Sinn.
die Gedankenmuster und den Lebensstil
der Welt hinter uns lassen. B. Im Dienst durch geistliche Gaben
Das Wort »Welt« (wörtlich: Zeitalter), (12,3-8)
wie es hier verwendet wird, bedeutet das 12,3 Paulus spricht hier »durch die Gna-
Gesellschaftssystem, das der Mensch auf- de, die« ihm als Apostel des Herrn Jesus
gebaut hat, um ohne Gott glücklich zu Christus »gegeben wurde«. Er wird sich
werden. Es handelt sich dabei um ein mit den verschiedenen Formen richtigen
Reich, das Gott entgegengesetzt ist. Der und falschen Denkens befassen.
Gott und Fürst dieser Welt ist Satan Zuerst sagt er, daß es am Evangelium
(2. Kor 4,4; Joh 12,31; 14,30; 16,11). Alle nichts gibt, das einen Überlegenheits-
unbekehrten Leute sind seine Untertanen. komplex fördern würde. Er drängt uns
Er versucht, die Menschen durch die Lust bei der Ausübung unserer Gaben zur
der Augen, die Lust des Fleisches und den Demut. Wir sollten niemals zu übertrie-
Hochmut des Lebens anzuziehen und bene Vorstellungen von unserer Uner-
festzuhalten (1. Joh 2,16). Die Welt hat setzlichkeit haben. Auch sollten wir
ihre eigene Politik, ihre Kunst, ihre Musik, andere nicht beneiden. Wir sollten lieber
ihre Religion, ihren Zeitvertreib, ihre Ge- erkennen, daß jeder Mensch einzigartig
dankenmuster und ihren Lebensstil, und ist und daß wir alle eine wichtige Funk-
sie versucht, jeden dazu zu bringen, ihre tion für den Herrn zu erfüllen haben. Wir
Kultur und ihre Bräuche zu übernehmen. sollten mit dem Platz zufrieden sein, den
Unangepaßte werden gehaßt – wie Chri- Gott uns im Leib »zugeteilt« hat. Wir
stus und seine Nachfolger. sollten versuchen, unsere Gaben mit aller
Christus starb, um uns von »dieser Kraft auszuüben, die Gott uns schenkt.
Welt« zu erlösen. Die Welt ist uns gekreu- 12,4 Der menschliche »Leib« hat »vie-
zigt, und wir der Welt. Es wäre eine le Glieder«, doch jedes hat eine einzigar-

668
Römer 12

tige Rolle zu spielen. Die Gesundheit weil der Glaube den Heiligen ein für alle-
und das Wohlergehen des ganzen Leibes mal überliefert ist (Judas 3). Deshalb ist
hängen vom richtigen Funktionieren heute ein Prophet (Weissagender) je-
jedes einzelnen Gliedes ab. mand, der erklärt, was Gott im Sinn hat,
12,5 So ist es auch im »Leib in Chri- wie es in der Bibel offenbart ist. Strong
stus«. Es besteht Einheit (ein »Leib«), sagt:
Vielfalt (»die vielen«) und Abhängigkeit Alle moderne Prophetie, die echt ist, ist
voneinander (»Glieder voneinander«). nicht mehr als eine Wiederholung der Bot-
Jede Gabe, die wir haben, ist nicht für schaft Christi – die Verkündigung und Aus-
den eigenen, selbstsüchtigen Gebrauch legung von Wahrheiten, die schon in der
47)
gedacht oder dafür, uns selbst darzustel- Schrift offenbart sind.
len, sondern zur Förderung des Leibes. Diejenigen unter uns, die die Gabe
Keine Gabe ist sich selbst genug und kei- der »Weissagung« haben, sollten »nach
ne ist unnötig. Wenn wir all das erken- dem Maß des Glaubens« weissagen. Das
nen, dann denken wir besonnen (12,3). kann heißen: »Nach der Regel oder dem
12,6 Paulus gibt uns nun Anweisun- Maßstab des Glaubens« – d. h. entspre-
gen für die Verwendung einzelner »Gna- chend der Lehren des christlichen Glau-
dengaben«. Die Liste führt nicht alle auf. bens, wie sie in der Bibel zu finden sind.
Die einzelnen Gaben werden eher bei- Es kann aber auch bedeuten: »Nach dem
spielhaft genannt, als daß alle ausführ- Verhältnis des Glaubens« – d. h. entspre-
lich besprochen würden. chend des Ausmaßes des Glaubens, das
Unsere »Gnadengaben« unterschei- Gott uns gibt.
den sich »nach der uns verliehenen Gna- 12,7 »Dienst« ist ein sehr allgemeiner
de«. Mit anderen Worten, Gottes »Gna- Ausdruck, gemeint ist der Dienst für den
de« teilt verschiedenen Menschen unter- Herrn. Es geht hier nicht um Amt, Pflich-
schiedliche »Gnadengaben« aus. Und ten oder Aufgaben eines sogenannten
Gott gibt auch die notwendige Kraft oder »Geistlichen«. Derjenige, der die Gabe
Fähigkeit, um die Gabe zu nutzen, die des »Dienstes« hat, hat das Herz eines
wir haben. Deshalb sind wir als gute Ver- Dieners. Er sieht Möglichkeiten des
walter Gottes verantwortlich, diese uns Dienstes und ergreift sie.
von Gott gegebenen Gaben auch auszu- Ein Lehrer ist jemand, der fähig ist,
üben. das Wort Gottes zu erklären und es auf
Diejenigen, die die Gabe der »Weissa- seine Zuhörer so anzuwenden, daß sie es
gung« oder »Prophetie« haben, sollten sich zu Herzen nehmen. Was immer
sie »nach dem Maß des Glaubens« ein- unsere Gabe ist, wir sollten uns ihr von
setzen. Ein Prophet ist ein Sprecher Got- ganzem Herzen widmen.
tes, der das Wort Gottes verkündigt. Es 12,8 »Ermahnung« ist die Gabe, die
kann sich dabei um Voraussagen han- Heiligen aufzurütteln, sich von jeder
deln, doch gehört dies nicht notwendi- Form des Bösen fernzuhalten und für
gerweise zur Weissagung. In den ersten Christus neue Ziele in der Heiligung und
Gemeinden, schreibt Hodge, waren die im Dienst zu erreichen.
Propheten »Männer, die unter dem un- »Mitteilen« oder Geben ist ein göttli-
mittelbaren Einfluß des Geistes Gottes ches Erbe, das einen Menschen befähigt
sprachen und je nach den bestehenden und geneigt macht, Not zu erkennen und
Umständen göttliche Offenbarungen zu helfen, die Not zu lindern. Man sollte
über lehrmäßige Wahrheiten, gegenwär- diese Gabe »in Einfalt« üben.
tige Pflichten und zukünftige Ereignisse Die Gabe der Leitung ist fast immer
46)
weitergaben«. Diese Offenbarungen mit den Aufgaben der Ältesten (und viel-
sind im Neuen Testament niederge- leicht auch der Diakone) in der Ortsge-
schrieben und bewahrt. Es kann heute meinde verbunden. Der Älteste ist ein
keine inspirierten, prophetischen Zusät- Unterhirte, der der Herde vorsteht und
ze zur christlichen Lehre mehr geben, sie »mit« Sorgfalt und »Fleiß« leitet.

669
Römer 12

Die Gabe der »Barmherzigkeit« ist ehe er an der Reihe war. Als er zur Tür
ein übernatürliches Talent, den Verzwei- hereinkam, empfing man ihn mit don-
felten zu helfen. Wer diese Gabe hat, soll- nerndem Applaus. Er ging schnell zur
te sie »mit Freudigkeit« üben. Natürlich Seite und klatschte mit, damit er nicht
sollten wir alle barmherzig sein, und jemandem die Ehre nahm, die seiner
zwar »mit Freudigkeit«. Meinung nach ganz gewiß nicht ihm
Eine christliche Dame berichtete ein- gebührte.
mal: »Als meine Mutter alt wurde, und 12,11 Hfa übersetzt hier sehr treffend:
jemanden brauchte, um für sie zu sorgen, »Setzt euch unermüdlich für Gottes Sa-
haben mein Mann und ich sie eingeladen, che ein. Laßt das Feuer des Heiligen Gei-
zu uns zu kommen und bei uns zu leben. stes in euch brennen, und steht Gott je-
Ich habe alles getan, um es ihr bequem zu den Augenblick zur Verfügung.« Das
machen. Ich kochte und wusch für sie, ich erinnert uns an die Worte in Jeremia 48,
fuhr sie mit dem Auto herum, und küm- 10: »Fluch über jeden, der nur halbherzig
merte mich um alle ihre Bedürfnisse. ausführt, was der Herr will!« (GN).
Doch während ich das äußerlich tat, war Dem Menschen steht’s nicht zu,
ich innerlich unglücklich. Unbewußt Sein Leben zu vergeuden, das so kurz ist.
störte mich die Störung unseres normalen Und die Sünde wohnt noch hier.
Lebensrhythmus. Manchmal sagte meine Unsere Lebensdauer gleicht dem Fallen
Mutter zu mir: ›Du lächelst nicht mehr. Eines Blattes
Warum nicht?‹ Sehen Sie, ich war barm- und dem Tropfen einer Träne.
herzig, doch nicht mit Freudigkeit.« Wir haben keine Zeit, die Stunden zu
vertreiben,
C. In unserer Gesellschaft (12,9-21) Alles muß gewissenhaft sein in einer
12,9 Als nächstes führt Paulus einige Welt wie der unsrigen.
Eigenschaften an, die jeder Gläubige in Horatius Bonar
seinem Umgang mit anderen Christen 12,12 Ganz gleich, wie unsere gegen-
und den Unbekehrten entwickeln soll. wärtigen Umstände sein mögen, wir
»Die Liebe« soll »ungeheuchelt« sein. können und sollen uns unserer »Hoff-
Wir sollten nie die Liebe als Maske tra- nung« freuen – Hoffnung auf das Kom-
gen, sondern sollten sie echt, treu und men unseres Heilandes, auf die Erlösung
ungekünstelt weitergeben. unseres Leibes und die ewige Herrlich-
Wir sollten alle Formen des »Bösen« keit. Wir werden ermahnt, »in Trübsal«
verabscheuen und alles »Gute . . . fest- auszuharren, d. h. in ihr geduldig zu
halten«. In diesem Zusammenhang be- bleiben. Solche Geduld, die alles erobert,
deutet »das Böse« wahrscheinlich alle ist eine der Eigenschaften, die es möglich
Einstellungen und Taten der Lieblosig- machen, Unglück in Herrlichkeit zu ver-
keit, der Bosheit und des Hasses. Das wandeln. Wir sollten »im Gebet« stand-
»Gute« bedeutet im Gegensatz dazu jede haft sein. Im Gebet wird nämlich das
Auswirkung übernatürlicher Liebe. Werk verrichtet und werden Siege er-
12,10 In unseren Beziehungen mit kämpft. Das Gebet bringt Kraft in unser
denen, die in der Haushaltung des Glau- Leben und Friede in unser Herz. Wenn
bens leben, sollten wir unsere Liebe wir im Namen des Herrn Jesus kommen,
durch zarte Zuneigung zeigen, nicht dann kommen wir der Allmacht so nahe,
durch kalte Gleichgültigkeit oder routi- wie es für einen sterblichen Menschen
nemäßiges Abfertigen. nur möglich ist. Deshalb erweisen wir
Wir sollten es vorziehen, wenn ande- uns einen Bärendienst, wenn wir das
re geehrt werden und nicht wir selbst. Gebet vernachlässigen.
Einmal saß ein geliebter Diener Christi 12,13 Bedürftige Heilige gibt es über-
vor einer Versammlung mit anderen all – Arbeitslose, diejenigen, die von Kre-
»Größen« in einem Nebenraum. Einige dithaien betrogen wurden, vergessene
waren schon auf der Kanzel gewesen, Prediger und Missionare in den abgele-

670
Römer 12

gensten Ecken der Erde und ältere Men- bringen. »Wer beherbergt normalerweise
schen mit einer mageren Rente. Das hier die Prediger, die zu Besuch kom-
echte Zusammenleben im Leib Christi men?« fragte er. Sie nannten ein älteres
bedeutet, daß wir mit den Bedürftigen Ehepaar in einem bescheidenen Haus in
teilen. der Nähe. »Dort würde ich viel lieber
Phillips hat den zweiten Teil des Ver- wohnen«, sagte er.
ses so umschrieben: »Niemandem ein Und wieder warnt der Apostel die
Essen oder ein Bett neiden, die eines brau- Gläubigen davor, sich »selbst« für »klug«
chen.« »Gastfreundschaft« ist eine ver- zu halten. Die Erkenntnis, daß wir nichts
gessene Kunst. Zu kleine Wohnungen haben, das wir nicht empfangen hätten,
und Häuser werden als Ausrede dafür sollte uns vor einem aufgeblasenen We-
mißbraucht, durchreisende Christen nicht sen bewahren.
aufzunehmen. Vielleicht möchten wir uns 12,17 »Böses mit Bösem« zu vergelten
die Arbeit und Unbequemlichkeit nicht ist in der Welt üblich. Die Menschen
aufhalsen. Doch wir vergessen, daß wir, sagen: »Wie du mir, so ich dir« oder: »Er
wenn wir Christen beherbergen, quasi bekommt nur, was er verdient« oder:
den Herrn selbst beherbergen. Unsere »Das werde ich dir heimzahlen!« Doch
Familien sollten so offen sein wie Bethani- diese Freude an der Rache sollte keinerlei
en, wo Jesus gerne Station machte. Platz im Leben der Erlösten haben. Statt
12,14 Wir sind aufgerufen, unseren dessen sollten sie, wenn sie durch Worte
Verfolgern Freundlichkeiten zu erwei- verletzt werden, anständig bleiben, wie
sen, statt zu versuchen, es ihnen auf in allen Lebensumständen. »Bedacht sein
irgendeine Art heimzuzahlen. Wir benö- auf« bedeutet: für jemanden mitdenken,
tigen göttliches Leben, um Unfreundlich- oder für etwas Sorge tragen, daß es
keit und Verletzungen mit Freundlich- geschieht.
keit begegnen zu können. Die natürliche 12,18 Christen sollten nicht unnötig
Reaktion darauf besteht in Fluchen und provozieren oder Streit suchen. Die Ge-
Rachegelüsten. rechtigkeit Gottes wirkt sich nicht in
12,15 Einfühlungsvermögen ist die Zorn oder Streitlust aus. Wir sollten den
Fähigkeit, die Gefühle und Empfindun- Frieden lieben, ihn immer wieder schlie-
gen anderer Menschen in besonderem ßen und aufrecht erhalten. Wenn wir
Maße zu teilen. Normalerweise tendie- andere verletzt haben oder selbst verletzt
ren wir dazu, neidisch zu werden, wenn worden sind, dann sollten wir unermüd-
andere sich freuen, und uns abzuwen- lich auf eine friedliche Lösung des Kon-
den, wenn andere trauern. Gottes Art fliktes hinarbeiten.
und Weise ist es, die Freuden und Leiden 12,19 Wir müssen uns der Neigung
unserer Mitmenschen zu teilen. widersetzen, Unrecht, das uns geschehen
12,16 »Gleichgesinnt gegeneinander« ist, anderen heimzuzahlen. Der Aus-
zu sein bedeutet nicht, daß wir im Unwe- druck »gebt Raum dem Zorn« bedeutet,
sentlichen gleicher Meinung sein müssen. daß wir es Gott erlauben sollten, eine
Es geht hier nicht um eine Uniformität der Sache in die Hand zu nehmen, es kann
Ansichten, sondern eher um harmonische aber auch heißen, sich passiv in eine
Beziehungen untereinander. Situation zu finden, ohne Widerstand zu
Wir sollten jeden Anschein von Sno- leisten. Der Rest des Verses unterstützt
bismus vermeiden und sollten uns die erste Sinndeutung – sich zurückzu-
»niedrigen«, einfachen Menschen genau- halten und dem »Zorn« Gottes diese
so widmen wie den Reichen und Ein- Angelegenheit zu überlassen. »Die Ra-
flußreichen. Als ein berühmter Christ am che« ist Gottes Angelegenheit. Wir soll-
Flughafenterminal ankam, wurde er von ten hier nicht versuchen, in seine Rechte
den Ältesten der Gemeinde abgeholt, in einzugreifen. Er wird Unrecht zur rech-
der er sprechen sollte. Das Auto, das ihn ten Zeit und auf die rechte Weise bestra-
abholte, sollte ihn zu einem Luxushotel fen. Lenski schreibt:

671
Römer 12 und 13

Gott hat schon vor langer Zeit die ganze dem Lincoln erschossen war, nannte
Sache mit dem Ausgleich für erlittenes Leid Stanton ihn den größten aller Menschen-
51)
erledigt. Keiner der Sünder wird davonkom- führer. Die Liebe hatte gesiegt!
men. In jedem Fall wird vollkommene
Gerechtigkeit walten. Wenn irgend jemand D. In Beziehung zu unserer Regierung
von uns sich dabei einmischen würde, so (13,1-7)
48)
wäre das die höchste Unverschämtheit. 13,1 Diejenigen, die durch den Glauben
12,20 Das Christentum geht über gerechtfertigt sind, sind verpflichtet, sich
Widerstandslosigkeit hinaus und führt ihrer irdischen Regierung zu »unterwer-
zu aktivem Wohltun. Es vernichtet die fen«. Eigentlich gilt diese Verpflichtung
Feinde nicht durch Gewalt, sondern be- für alle, doch der Apostel beschäftigt sich
kehrt sie durch Liebe. Es speist den hier in besonderer Weise mit den Gläubi-
»Feind«, wenn ihn »hungert« und stillt gen. Gott hat die irdische Regierung nach
seinen Durst, und häuft so »feurige Koh- der Flut eingesetzt, als er bestimmte:
len auf sein Haupt«. Wenn uns eine sol- »Wer Menschenblut vergießt, dessen
che Handlungsweise mit feurigen Koh- Blut soll durch Menschen vergossen wer-
len als grausam erscheint, so haben wir den« (1. Mose 9,6). Diese Bestimmung
diesen Ausdruck als Redensart nicht ver- gab den Menschen die Autorität, über
standen. Jemandem »feurige Kohlen Kriminalität zu urteilen und die Täter zu
auf« das Haupt sammeln meint, ihn in bestrafen.
seiner Feindseligkeit zu beschämen, in- In jeder geordneten Gesellschaft muß
dem man ihn mit ungewöhnlicher es Autoritäten und Unterwerfung unter
Freundlichkeit behandelt. die Autorität geben. Andernfalls haben
12,21 Darby erklärt den ersten Teil wir den Zustand der Anarchie, und unter
dieses Verses folgendermaßen: »Wenn der Anarchie kann man nicht leben. Jede
meine schlechte Laune dich schlecht Regierung ist besser als keine Regierung.
gelaunt macht, dann hast du dich vom Deshalb hat Gott die menschliche Regie-
49)
Bösen überwinden lassen.« rung eingesetzt, und wenn es keine gibt,
Der große schwarze Wissenschaftler so widerspricht das seinem Willen. Das
George Washington Carver sagte einmal: bedeutet nicht, daß er alles gutheißt, was
»Ich werde es nicht zulassen, daß jemand menschliche Herrscher tun. Er heißt ganz
mein Leben ruiniert, indem er mich dazu gewiß keine Korruption, Brutalität oder
50)
veranlaßt, ihn zu hassen.« Als Gläubi- Tyrannei gut! Doch eine Tatsache steht
ger wollte er nicht vom Bösen überwun- fest: »Die bestehenden« Regierungen
den werden. »sind von Gott verordnet«.
»Sondern überwinde das Böse mit Gläubige können sowohl in einer
dem Guten.« Es gehört zum Wesen Demokratie, in einer konstitutionellen
christlicher Lehre, daß sie nicht bei Ver- Monarchie oder sogar unter einem tota-
boten stehenbleibt, sondern positive Auf- litären Regime siegreich leben. Keine
forderungen gibt. »Das Böse« kann »mit irdische Regierung ist besser als die Men-
dem Guten« überwunden werden. Wir schen, aus denen sie besteht. Deshalb ist
sollten diese Waffe viel öfter benutzen. keine unserer Regierungen vollkommen.
Stanton hat Lincoln mit giftigem Haß Die einzige ideale Regierungsform ist
verfolgt. Er sagte, es sei dumm, nach eine wohlwollende Monarchie unter
Afrika zu reisen, um einen Gorilla zu dem Herrn Jesus Christus als König. Es
sehen, wenn man einen echten in Spring- ist hilfreich, sich daran zu erinnern, daß
field, Illinois (wo Lincoln lebte, Anmer- Paulus diesen Abschnitt über die Unter-
kung des Übersetzers), sehen könnte. werfung unter die irdische Regierung
Doch Lincoln sah das ganz locker. Später schrieb, als der schreckliche Nero Kaiser
hat Lincoln Stanton zum Kriegsminister war. Es war für die Christen eine schlim-
ernannt, weil er der Ansicht war, daß er me Zeit. Nero beschuldigte sie, ein Feuer
der geeignetste für dieses Amt sei. Nach- gelegt zu haben, das halb Rom zerstörte

672
Römer 13

(und das er wahrscheinlich selbst hat ten Versuche Sauls, David umzubringen,
legen lassen). Er ließ einige Gläubige in wollte dieser seinen Männern nicht er-
heißen Teer tauchen und sie dann als lauben, dem König Leid zuzufügen.
lebende Fackeln verbrennen, um seine Warum? Weil Saul der König war, und
Orgien zu beleuchten. Andere wurden in als solcher war er vom Herrn ernannt
Tierhäute eingenäht und dann wilden worden.
Hunden vorgeworfen, um von ihnen in Als Diener Gottes wird von den Herr-
Stücke gerissen zu werden. schern erwartet, daß sie das »Gute« för-
13,2 Und doch ist es eine feststehende dern – die Sicherheit, den Frieden und
Wahrheit, daß derjenige, der sich gegen das allgemeine Wohlergehen der Men-
die Regierung auflehnt oder ihr nicht schen. Wenn irgendjemand darauf be-
gehorcht, gegen Gottes Gebot verstößt. steht, das Gesetz zu brechen, dann muß
»Wer sich« also der gesetzlichen »Macht er erwarten, daß er bestraft wird, weil die
widersetzt«, verdient Bestrafung. Regierung die Autorität hat, ihn vor
Es gibt allerdings eine Ausnahme. Gericht zu stellen und zu bestrafen. In
Ein Christ muß nicht gehorchen, wenn dem Ausdruck »sie trägt das Schwert
ihm die Regierung eine Sünde befiehlt nicht umsonst« haben wir eine wichtige
oder wenn er seinen Glauben an Jesus Aussage über die Macht, die Gott der
Christus verleugnen soll (Apg 5,29). Kei- Regierung verleiht. »Das Schwert« ist
ne Regierung der Welt hat das Recht, das nicht einfach ein harmloses Machtsym-
Gewissen eines Menschen zu vergewalti- bol, dazu hätte ein Zepter ausgereicht.
gen. Deshalb gibt es Zeiten, in denen ein »Das Schwert« scheint von der unbe-
Gläubiger sich den Zorn von Menschen grenzten Macht des Herrschers zu spre-
zuziehen muß, wenn er Gott gehorchen chen – nämlich die Todesstrafe zu ver-
will. In solchen Fällen muß er sich darauf hängen. Deshalb reicht es einfach nicht
vorbereiten, die Strafe ohne ungehörige aus, zu behaupten, daß die Todesstrafe
Klagen zu ertragen. Unter keinen Um- während des Alten Testaments galt, nicht
ständen sollte er gegen die Regierung jedoch im Neuen Testament. Hier haben
rebellieren oder sich an einem Versuch wir die Aussage des Neuen Testaments,
beteiligen, diese zu stürzen. die nahelegt, daß die Regierung das
13,3 In der Regel müssen Menschen, Recht hat, das Leben eines Schwerver-
die richtig handeln, keine Behörden brechers zu fordern. Meist wird gegen
fürchten. Nur diejenigen, die das Gesetz diese Ausführungen mit 2. Mose 20,13
brechen, müssen die Strafe fürchten. argumentiert: »Du sollst nicht töten.«
Wenn also jemand ein Leben ohne Straf- Doch dieses Gebot bezieht sich auf Mord,
mandate, Geldstrafen, Gerichtsverhand- und die Todesstrafe ist kein Mord. Das
lungen und Gefängnisaufenthalte führen hebräische Wort, das in den meisten
will, dann muß er nur als gesetzestreuer Übersetzungen mit »töten« wiedergege-
Bürger leben. Dann wird er die Zustim- ben wird, wird nur für »morden« benutzt
mung der Behörden erhalten, nicht ihren und z. B. in GN so wiedergegeben: »Du
52)
Tadel. sollst nicht morden.« Die Todesstrafe
13,4 Der Herrscher, gleich, ob es sich war im alttestamentlichen Gesetz die
um einen Präsidenten, einen Kanzler, vorgeschriebene Strafe für einige schlim-
einen Bürgermeister oder Richter han- me Verbrechen.
delt, ist ein Diener Gottes in dem Sinne, Und wieder erinnert uns der Apostel
daß er ein Diener und Stellvertreter des daran, daß die Obrigkeit »Gottes Diene-
Herrn ist. Er mag Gott nicht persönlich rin« ist, doch diesmal fügt er hinzu:
kennen, doch ist er noch immer offiziell »Eine Rächerin zur Strafe für den, der
von Gott eingesetzt. Deshalb hat David Böses tut.« Mit anderen Worten, sie dient
den bösen König Saul wiederholt als Gott nicht nur »zum Guten« für uns, son-
Gottes Gesalbten bezeichnet (1. Sam 24, dern dient ihm auch als Werkzeug zur
7.11; 26,9.11.16.23). Trotz der wiederhol- Bestrafung der Gesetzesbrecher.

673
Römer 13

13,5 Das bedeutet nun, daß wir aus von uns erhalten monatliche Rechnun-
zwei Gründen gehorsame Untertanen gen über Telefon, Gas, Strom, Wasser
der Regierung sein sollten – aus Furcht usw. Und es ist unmöglich, ein Geschäft
vor Strafe und aus dem Verlangen her- zu führen, ohne bestimmte Schulden zu
aus, ein reines »Gewissen« zu haben. machen. Die Ermahnung hier bedeutet,
13,6 Wir schulden der Regierung daß man mit seinen Zahlungen nicht in
nicht nur Gehorsam, sondern auch finan- Verzug gerät (überfällige Rechnungen).
zielle Unterstützung durch »Steuern«. Es Doch zusätzlich zu diesem Vers gibt
ist unser Vorteil, in einer Gesellschaft zu es gewisse Prinzipien, die uns auf diesem
leben, in der Gesetz und Ordnung herr- Gebiet leiten sollten. Wir sollten niemals
schen, in der es eine Polizei und andere Schulden machen, um etwas zu kaufen,
Ordnungsdienste gibt, und deshalb müs- das nicht unbedingt notwendig ist. Wir
sen wir auch bereit sein, uns an den sollten niemals Schulden machen, wenn
Kosten zu beteiligen. Die Beamten setzen wir von vornherein wissen, daß wir die
ihre Zeit und ihre Fähigkeiten dazu ein, Schulden wahrscheinlich nicht werden
Gottes Willen zur Erhaltung einer stabi- zurückzahlen können. Wir sollten nicht
len Gesellschaft zu erfüllen, und deshalb auf Raten kaufen, weil wir dabei meist
haben sie ein Anrecht darauf, von den hohe Zinsen zu zahlen haben. Wir sollten
Bürgern unterhalten zu werden. vermeiden, ein Produkt zu kaufen, das
13,7 Die Tatsache, daß Gläubige Bür- schnell an Wert verliert. Im allgemeinen
ger des Himmels sind (Phil 3,20), enthebt sollten wir finanziell verantwortlich le-
sie nicht von ihren Verpflichtungen ge- ben, indem wir bescheiden und inner-
genüber der menschlichen Regierung. halb unserer Grenzen leben, und uns
Sie müssen alle »Steuern« zahlen, die auf immer daran erinnern, daß der Schuld-
ihr Einkommen, ihr Kapital und ihr Pri- ner ein Sklave des Kreditgebers wird
vatvermögen erhoben werden. Sie müs- (s. Spr 22,7).
sen den vorgeschriebenen »Zoll« für Wir haben jedoch eine Schuld, die wir
Waren entrichten, die aus anderen Län- nie ganz abtragen können – die Ver-
dern stammen. Sie müssen Ehrfurcht vor pflichtung zu »lieben«. Das Wort, das im
denen haben, die mit der Durchführung Römerbrief für Liebe gebraucht wird, ist
der Gesetze betraut sind. Und sie sollten mit einer Ausnahme (12,10) agape, wel-
die Namen und Ämter aller Staatsdiener ches eine tiefe, selbstlose und über-
ehren (auch wenn sie deren persönliches menschliche Zuneigung eines Menschen
Leben nicht immer respektieren können). zu einem anderen bezeichnet. Diese
In dieser Beziehung sollten Christen Form der Liebe gründet nicht in irgend-
sich nie daran beteiligen, abfällig über einer Eigenschaft der geliebten Person,
einen Präsidenten oder Kanzler zu reden. sondern ist völlig unverdient. Sie ist
Auch in der Hitze politischer Auseinan- anders als jede andere Form der Liebe,
dersetzungen sollten sie sich weigern, in weil sie nicht nur die Liebenswürdigen,
die Schimpftiraden einzustimmen, mit sondern auch die Feinde liebt.
denen das jeweilige Staatsoberhaupt Diese Liebe zeigt sich im Geben,
überschüttet wird. Es steht geschrieben: meist im opfervollen Geben. So liebte
»Von dem Obersten deines Volkes sollst Gott die Welt so sehr, daß er seinen ein-
du nicht schlecht reden« (Apg 23,5). geborenen Sohn gab. Christus liebte die
Gemeinde und gab sich selbst für sie.
E. In bezug auf die Zukunft (13,8-14) In erster Linie ist diese Liebe eine Wil-
13,8 Grundsätzlich bedeutet der erste lenssache, sie hat nichts mit Gefühlen zu
Teil dieses Verses: »Zahlt alle eure Rech- tun. Die Tatsache, daß uns befohlen wird
nungen pünktlich.« Es ist kein Verbot, zu lieben, zeigt uns, daß es sich hier um
Schulden zu machen. In unserer Gesell- etwas handelt, zu dem wir uns entschei-
schaft sind einige Formen des Schulden- den können. Wenn es hier um unkontrol-
machens unvermeidlich: Die meisten lierbare Emotionen ginge, die uns in

674
Römer 13

einem unerwarteten Moment überfallen, 13,11 Der Rest des Kapitels ermutigt
dann könnten wir kaum dafür verant- uns zu einem Leben der geistlichen
wortlich gemacht werden. Doch wird Wachsamkeit und der sittlichen Reinheit.
hiermit natürlich nicht ausgeschlossen, Die Zeit ist knapp. Das Zeitalter der Gna-
daß die Gefühle an dieser Liebe beteiligt de neigt sich seinem Ende zu. Unsere
sein können. knappe Zeit verlangt, daß wir alle
Es ist einem unbekehrten Menschen Gleichgültigkeit und Trägheit überwin-
unmöglich, diese göttliche Liebe zu zei- den. »Unsere Errettung« ist »näher« als je
gen. Es ist sogar für einen Gläubigen zuvor. Der Erlöser wird bald kommen
unmöglich, aus eigener Kraft diese Liebe und uns ins Vaterhaus führen.
hervorzubringen. Sie kann nur durch die 13,12 Unser gegenwärtiges Zeitalter
Macht des Heiligen Geistes in uns ist wie eine »Nacht« der Sünde, die fast
bewirkt werden. vorbei ist. Der »Tag« der ewigen Herr-
Die Liebe fand ihren vollkommen- lichkeit wird bald für die Gläubigen
sten Ausdruck auf Erden in der Person dämmern. Das bedeutet, daß wir alle
des Herrn Jesus Christus. schmutzigen Kleider der Weltlichkeit
Unsere Liebe zu Gott zeigt sich in »ablegen« sollten – d. h. alles, was uns
Gehorsam gegenüber seinen Geboten. mit Ungerechtigkeit und dem Bösen ver-
Wer seinen Nächsten »liebt, hat das bindet. Und wir sollten »die Waffen des
Gesetz erfüllt«, oder wenigstens den Teil Lichts anziehen«. Das bedeutet, daß wir
des Gesetzes, der uns lehrt, unsere Mit- einen Schutz für unser geheiligtes Leben
menschen zu lieben. benötigen. Die Teile dieser Waffen-
13,9 Der Apostel wählt hier die Gebo- rüstung werden in Epheser 6,14-18 näher
te aus, die lieblose Handlungen gegen- beschrieben. Sie stehen für die Wesens-
über unseren Nächsten verbieten. Das züge eines wahrhaft christlichen Charak-
sind die Gebote gegen das »Ehebrechen«, ters.
gegen Mord, Diebstahl, gegen »falsches 13,13 Man beachte, daß es hier im
Zeugnis« (LU 1912) und gegen Habgier. wesentlichen um unser praktisches
Die Liebe beutet den Leib eines anderen Christsein geht. Weil wir Kinder des
Menschen nicht aus, das tut nur die Un- »Tages« sind, sollten wir als Söhne des
sittlichkeit. Die Liebe nimmt niemandem »Lichtes« wandeln. Was hat ein Christ
das Leben, ein Mörder tut es. Die Liebe bei wilden Parties, Trinkgelagen, Sexor-
stiehlt kein fremdes Eigentum, der Dieb gien, und Ausschweifungen aller Art zu
tut es. Die Liebe spricht anderen nicht suchen? Was hat er mit Neid und Gezänk
ihre Rechte ab, ein falscher Zeuge tut dies zu tun? Gar nichts!
53)
jedoch. Die Liebe unterhält kein fal- 13,14 Die beste Politik, die wir in die-
sches Verlangen nach dem Eigentum des ser Hinsicht verfolgen können, lautet in
anderen, die Habsucht jedoch tut es. erster Linie: »Zieht den Herrn Jesus Chri-
»Und wenn es ein anderes Gebot stus an.« Das bedeutet, daß wir seinen
gibt.« Paulus könnte noch ein weiteres gesamten Lebensstil annehmen sollten,
erwähnt haben: »Ehre Vater und Mut- leben sollten wie er und uns ihn in jeder
ter.« Sie alle laufen auf das eine Gebot Hinsicht zum Führer und Vorbild neh-
hinaus: »Du sollst deinen Nächsten lie- men sollten.
ben wie dich selbst.« Behandle ihn mit Zweitens sollten wir »nicht Vorsorge
demselben Wohlwollen, mit derselben für das Fleisch« treffen, damit nicht
Fürsorge und Freundlichkeit, mit der du »Begierden wach werden«. Das »Fleisch«
dich selbst bedenkst. ist hier unsere alte, verdorbene Natur. Sie
13,10 »Die Liebe« will den »Näch- schreit ständig danach, mit Komfort,
sten« niemals schädigen. Sie sucht aktiv Luxus, ungesetzlichen sexuellen Lüsten,
das Wohlergehen und die Ehre aller. Des- leeren Vergnügungen, weltlichen Freu-
halb erfüllt jemand, der in Liebe handelt, den, Zerstreuung und allen Gütern die-
wirklich die zweite Tafel »des Gesetzes«. ser Erde etc. verwöhnt zu werden. Wir

675
Römer 13 und 14

treiben »Vorsorge für das Fleisch«, wenn haupt Fleisch zu essen. Er könnte z. B.
wir etwas kaufen, das uns in Versuchung Vegetarier sein.
bringt, wenn wir es uns leicht machen zu 14,3 Deshalb gilt das zweite Prinzip,
sündigen, wenn wir dem Irdischen eine daß man einander ertragen soll. Der reife
höhere Priorität einräumen als dem Christ darf den Schwachen nicht »ver-
Geistlichen. Wir sollten das Fleisch nicht achten«, der Schwache soll niemanden
im geringsten verwöhnen. Phillips um- als Sünder »richten«, wenn er Schinken,
schreibt das so: »Wir sollten dem Fleisch Krabben und Muscheln ißt. »Gott hat
keine Chance lassen, seinen Spaß zu ihn« in seine Familie »aufgenommen«,
haben.« und zwar als vollständiges Mitglied.
Das war genau der Abschnitt, den 14,4 Das dritte Prinzip ist, daß wir kein
Gott gebrauchte, um den zwar intelligen- Recht haben, übereinander zu Gericht zu
ten, doch fleischlichen Augustinus zu sitzen, weil jeder Gläubige ein »Haus-
Christus und zur Reinheit zu bekehren. knecht« des Herrn ist, und nicht sein
Als er Vers 14 las, übergab er sein Herz Meister. Nur von seinem »eigenen
dem Herrn. Er ist als »Heiliger« Augusti- Herrn« wird er gebilligt oder nicht gebil-
nus in die Geschichte eingegangen. ligt dastehen. Man mag mit eisiger Her-
ablassung auf jemanden herunterschau-
F. Im Verhältnis zu anderen Gläubi- en und sicher sein, daß jener wegen sei-
gen (14,1 – 15,13) ner Glaubensansichten Schiffbruch erlei-
14,1 Kapitel 14,1 – 15,13 beschäftigt sich den muß. Doch solch eine Haltung ist
mit wichtigen Prinzipien, die Gottes Volk falsch. Gott wird Menschen auf beiden
leiten sollten, wenn es um Fragen Seiten dieses Problems unterstützen. Sei-
zweitrangiger Bedeutung geht. Das sind ne Macht, das zu tun, reicht völlig aus.
leider nur zu oft die Angelegenheiten, 14,5 Einige Judenchristen hielten den
um die sich Gläubige streiten, doch sol- Sabbat immer noch für einen Tag, der
che Konflikte sind ganz unnötig, wie wir eingehalten werden muß. Ihr Gewissen
sehen werden. ließ es nicht zu, samstags irgendwie zu
Ein »schwacher« Christ ist jemand, arbeiten. In diesem Sinne hielten sie
der unbegründete Skrupel wegen »einen Tag vor dem anderen«. Andere
irgendwelcher Fragen zweitrangiger Gläubige teilten diese jüdischen Skrupel
Bedeutung hat. In diesem Zusammen- nicht. Sie hielten »jeden Tag gleich«. Für
hang ging es dabei oft um bekehrte sie war nicht ein Tag heilig und die restli-
Juden, die sich noch immer vor nichtko- chen sechs profan. Für sie waren alle
scherem Essen ekelten und nicht wagten, Tage heilig.
samstags zu arbeiten. Das erste Prinzip ist Doch was ist mit dem Tag des Herrn,
folgendes: Ein »schwacher« Christ sollte dem ersten Tag der Woche? Hat er nicht
in die Ortsgemeinde aufgenommen wer- einen besonderen Stellenwert im Leben
den, doch nicht, um mit ihm über seine des Christen? Wir erfahren aus dem
»zweifelhaften Fragen« zu diskutieren. Neuen Testament, daß dieser Tag der Tag
Christen können frohe Gemeinschaft der Auferstehung unseres Herrn ist
miteinander haben, ohne sich in unwich- (Lk 24,1-9). An den nächsten beiden
tigen Fragen einig zu sein. Sonntagen kam Christus mit seinen Jün-
14,2 Ein Gläubiger, der sich der vollen gern zusammen (Joh 20,19.26). Der Heili-
christlichen Freiheit erfreut, hat den ge Geist wurde an Pfingsten ausgegos-
Glauben, daß nach der Lehre des Neuen sen, also ebenfalls am ersten Tag der
Testamentes »alle« Speisen rein sind. Sie Woche, denn Pfingsten wurde sieben
werden durch das Wort Gottes und das Sonntage nach dem Fest der Erstlinge
Gebet geheiligt (1. Tim 4,4.5). Ein Gläubi- gefeiert (3. Mose 23,15.16; Apg 2,1), das
ger mit einem schwachen Gewissen die Auferstehung Christi symbolisiert
könnte in dieser Beziehung etwa Proble- (1. Kor 15,20.23). Die Jünger versammel-
me haben, Schweinefleisch, oder über- ten sich am ersten Tag der Woche, um das

676
Römer 14

Brot zu brechen (Apg 20,7). Paulus wies Doch beide bitten beim Essen um den
die Korinther an, ihre Sammlung am Segen des Herrn.
ersten Tag der Woche durchzuführen. So In beiden Fällen wird Gott geehrt und
wird der Tag des Herrn im Neuen Testa- ihm gedankt, deshalb gibt es keinen
ment in besonderer Weise begangen. Anlaß, diesen Unterschied zu einem An-
Doch er ist nicht so sehr ein Tag, den man laß für Streit und Auseinandersetzungen
halten muß, wie der Sabbat, sondern ein zu machen.
Tag, den man halten darf. Wir sind an die- 14,7 Die Herrschaft Christi erstreckt
sem Tag von unseren normalen Beschäfti- sich auf jeden Aspekt eines Lebens des
gungen befreit und können ihn in beson- Gläubigen. Wir leben nicht uns selbst,
derer Weise mit der Anbetung und dem sondern »dem Herrn«. Wir sterben auch
Dienst für unseren Herrn verbringen. nicht uns selbst, sondern »dem Herrn«.
Nirgends im Neuen Testament wer- Es ist natürlich wahr, daß alles, was wir
den die Christen aufgefordert, den Sab- tun und sagen, andere mitbetrifft, doch
bat zu halten. Und doch erkennen wir darum geht es hier nicht. Paulus betont
das Prinzip des einen Tages, der nach hier, daß der Herr das Lebensziel und der
sechs Tagen als Ruhetag gehalten wird. Lebensinhalt seines Volkes sein sollte.
Was immer jemand für Ansichten 14,8 Alles, was wir in unserem Leben
über dieses Thema hat, das Prinzip ist tun, untersteht Christi Urteil und seiner
folgendes: »Jeder aber sei in seinem eige- Beurteilung. Wir prüfen unsere Hand-
nen Sinn völlig überzeugt.« Nun sollte es lungsweisen am besten, indem wir uns
natürlich klar sein, daß sich diese Prinzi- überlegen, wie sie in seiner Gegenwart
pien nur auf Angelegenheiten beziehen aussehen.
können, die moralisch neutral sind. 14,9 Einer der Gründe, warum »Chri-
Wenn es um die grundlegenden Lehren stus gestorben und wieder lebendig ge-
des christlichen Glaubens geht, gibt es worden« ist, lautet, damit »er herrsche
keinen Raum für individuelle Ansichten. sowohl über Tote als über Lebende« und
Doch auf diesem Gebiet, auf dem Hand- wir seine willigen Untertanen seien, die
lungsweisen an sich weder gut noch böse ihm froh die Hingabe unserer dankbaren
sind, ist ein Freiraum für unterschied- Herzen bringen. Seine Herrschaft er-
liche Ansichten vorhanden. Man sollte streckt sich sogar auf unseren Tod, wenn
an diesen Themen nicht die Gemein- unsere Leiber im Grab liegen und unsere
schaft festmachen. Seelen in seiner Gegenwart leben.
14,6 Derjenige, der »den Tag achtet«, 14,10 Weil das so gilt, ist es eine Tor-
ist ein Judenchrist, der noch immer ein heit, wenn ein Judenchrist, der sich
schlechtes Gewissen hat, wenn er sams- wegen alles möglichem ein Gewissen
tags arbeitet. Es geht nicht darum, daß er macht, den »Bruder« verurteilt, der sich
das Halten des Sabbats als Mittel ansieht, nicht an den jüdischen Kalender hält und
die Erlösung zu erlangen oder gar wie- sich nicht auf entsprechendes Essen
derzuerlangen. Es geht hier einfach dar- beschränkt. Genauso ist es für den star-
um, daß er tun will, was seiner Meinung ken Bruder falsch, den schwachen »Bru-
nach »dem Herrn« gefällt. In gleicher der« zu »verachten«. Tatsache ist, daß
Weise ehrt jemand Christus jedoch, wenn jeder einzelne von uns einmal »vor dem
54)
er »nicht auf den Tag schaut« (Schl), denn Richterstuhl Christi dargestellt wer-
er ehrt Christus selbst, nicht den Schatten den« wird. Das wird die einzige Beurtei-
(Kol 2,16.17). lung werden, die wirklich zählt.
Jemand, der die Freiheit hat, Speisen In diesem Gericht wird es um den
zu essen, die nicht koscher (rein) sind, Dienst des Gläubigen gehen, nicht um
neigt sein Haupt »und danksagt Gott« seine Sünden (1. Kor 3,11-15). Hier wird
für diese Speisen. Doch dasselbe tut der gesichtet und belohnt werden. Man darf
Gläubige mit dem schwachen Gewissen, dieses Gericht nicht mit dem Gericht
der nur koscheres Essen zu sich nimmt. über die Heidenvölker (Matth 25,31-46)

677
Römer 14

oder dem Gericht vor dem großen verstanden werden. Christen ziehen sich
weißen Thron (Offb 20,11-15) verwech- keine Verunreinigung zu, wenn sie Spei-
seln. Das letztere ist das endgültige sen essen, die das Gesetz des Mose als
Gericht aller unbekehrten Toten. unrein bezeichnet.
14,11 Die Sicherheit unseres Erschei- 14,15 Wenn wir uns mit einem schwa-
nens vor dem bema Christi wird durch chen »Bruder« zu Tisch setzen, sollten wir
ein Zitat aus Jesaja 45,23 untermauert, in dann auf unserem Recht bestehen, Wein-
dem Jahwe selbst versichert, daß sich vor bergschnecken oder Krabben zu essen,
ihm »jedes Knie beugen« wird, um seine wenn wir wissen, daß er es für falsch hält?
überragende Autorität anzuerkennen. Wenn ich so handele, dann handele ich
14,12 »Also« ist es eindeutig, daß wir »nicht mehr nach der Liebe«. Die Liebe
alle für uns selbst »Gott Rechenschaft gibt ihre eigenen Rechte für den anderen
geben« müssen, nicht für unseren Bruder. auf, um das Wohlergehen des Bruders zu
Wir richten einander viel zuviel, ohne wahren. Ein Gericht ist nicht so wichtig
daß wir die entsprechende Autorität oder wie das geistliche Wohlergehen eines
das entsprechende Wissen haben. Menschen, »für den Christus gestorben
14,13 Statt über unsere Mitchristen in ist«. Denn wenn ich selbstsüchtig meine
solchen neutralen Fragen zu Gericht zu Freiheit in dieser Angelegenheit betone,
sitzen, sollten wir uns entschließen, daß dann kann ich im Leben eines schwachen
wir keinen »Bruder« in seinem geistli- Bruders irreparablen Schaden anrichten.
chen Wachstum behindern. Keine dieser Das ist die Sache nicht wert, wenn man
nebensächlichen Fragen ist wichtig ge- bedenkt, daß seine Seele für solch einen
nug, daß wir deswegen unserem Bruder maßlosen Preis erkauft wurde – mit dem
»zum Anstoß oder Ärgernis« werden. Blut des Lammes.
14,14 Paulus und wir wissen, daß uns 14,16 Deshalb lautet hier das Prinzip,
keine Speise mehr rituell »gemein« oder daß wir mit diesen nebensächlichen Din-
unrein macht, wie es für einen Juden gen, die an sich völlig erlaubt sein kön-
noch der Fall war, der unter dem Gesetz nen, anderen nicht die Gelegenheit ge-
lebte. Unsere Speisen werden durch das ben sollten, uns für unsere »Laxheit«
Wort Gottes und das Gebet geheiligt oder »Lieblosigkeit« zu verurteilen. Das
(1. Tim 4,5). Sie sind durch das Wort ge- wäre, als ob wir unseren guten Ruf um
heiligt in dem Sinne, daß die Bibel sie einer Laune willen aufs Spiel setzten.
ausdrücklich als »gut« bezeichnet. Und 14,17 Was im »Reich Gottes« wirklich
sie werden durch das Gebet geheiligt, zählt, ist nicht die Einhaltung irgendwel-
wenn wir Gott bitten, sie zu seiner Ver- cher Speisevorschriften, sondern der
herrlichung und zur Stärkung unseres geistliche Zustand des Menschen. »Das
Leibes im Dienst für den Herrn zu ge- Reich Gottes« ist der Bereich, in dem Gott
brauchen. Doch wenn ein schwacher Bru- als oberster Herrscher anerkannt wird.
der z. B. der Ansicht ist, daß es für ihn Im weitesten Sinne umfaßt es alle, die
falsch ist, vom Schwein zu essen, dann ist von sich behaupten, mit Gott verbunden
es falsch. Wenn er es dennoch essen wür- zu sein. Doch zum Reich Gottes im enge-
de, dann würde er sein von Gott gegebe- ren Sinne gehören nur diejenigen, die
nes Gewissen damit verletzen. wiedergeboren sind. So wird das Wort in
Wenn Paulus hier sagt, »daß nichts an diesem Vers verwendet.
sich selbst gemein ist«, dann müssen wir Die Untertanen des Reiches sollen
erkennen, daß er hier nur von den mo- keine Feinschmecker, Gourmets oder
ralisch neutralen Dingen redet. Es gibt Weinkenner sein. Ihr Leben sollte von
vieles im Leben, das an sich unrein ist, praktischer »Gerechtigkeit«, von »Frie-
etwa Pornographie, anzügliche Witze, den« und »Harmonie« und von »Freude
schmutzige Filme und jede Form der Sit- im heiligen Geist« geprägt sein.
tenlosigkeit. Die Aussage des Paulus 14,18 Was zählt, ist nicht, was ein
muß im Lichte des Zusammenhanges Mensch ißt oder nicht ißt. Man gewinnt

678
Römer 14 und 15

Ehre bei Gott und den Menschen durch zu sein. Wer es vermeidet, andere zu Fall
ein geheiligtes Leben. Diejenigen, die zu bringen, ist wirklich »glückselig«.
nach Gerechtigkeit, Frieden und Freude 14,23 Soweit es den schwachen Bru-
streben, dienen »Christus«, indem sie der angeht, so ist es für ihn falsch, etwas
seinen Lehren gehorchen. zu essen, das sein Gewissen ihm verbie-
14,19 Auf diese Weise ergibt sich tet. Wenn er es dennoch ißt, dann handelt
noch ein weiteres Prinzip. Statt uns über er nicht »aus Glauben«, d. h. er hat ein
ziemlich folgenlose Angelegenheiten schlechtes Gewissen dabei und deshalb
aufzuregen, sollten wir alles unterneh- ist es eine »Sünde«, sein Gewissen zu
men, um den »Frieden« in der christ- vergewaltigen.
lichen Gemeinschaft aufrecht zu erhal- Sehr wahr ist, daß das Gewissen eines
ten. Statt andere zu Fall zu bringen, Menschen kein unfehlbarer Maßstab ist
indem wir auf unseren Rechten be- und am Wort Gottes orientiert werden
stehen, sollten wir danach streben, die muß. »Doch«, so schreibt Merrill Unger,
anderen in ihrem allerheiligsten Glau- »Paulus legt hier die Regel nieder, daß
ben aufzuerbauen. der Mensch seinem Gewissen folgen soll-
14,20 »Gott« tut sein »Werk« an te, auch wenn es schwach ist, sonst wür-
jedem seiner Kinder. Es ist erschreckend, de seine sittliche Persönlichkeitsstruktur
55)
wenn wir daran denken, daß wir dieses zerstört.«
Werk im Leben eines schwächeren Bru- 15,1 Die ersten dreizehn Verse des
ders behindern können, wenn wir über 15. Kapitels führen das Thema des vor-
so nebensächliche Angelegenheiten wie hergehenden Kapitels fort und behandeln
»Speise«, Getränke oder Tage streiten. Fragen, die nicht sittlicher Art sind. Es
Für ein Kind Gottes sind heute alle Spei- hatten sich Spannungen zwischen Be-
sen rein. Doch wäre es auf jeden Fall kehrten aus dem Judentum und aus den
falsch, etwas Bestimmtes zu essen, wenn Heiden ergeben, deshalb plädiert Paulus
man dadurch bei einem Bruder Anstoß hier für harmonische Beziehungen zwi-
erweckt oder ihn in seinem christlichen schen Juden- und Heidenchristen.
Wandel zu Fall bringt. »Die Starken« (d. h. diejenigen, die in
14,21 Es ist tausendmal besser, sich ihrem Verhalten in moralisch neutralen
von »Fleisch« oder »Wein« oder irgend Angelegenheiten völlig frei sind) sollen
etwas zu enthalten, als einen Bruder zu nicht sich »selbst . . . gefallen«, indem sie
verärgern oder der Anlaß für seinen selbstsüchtig auf ihre Rechte pochen. Sie
geistlichen Rückfall zu sein. Wenn wir sollten lieber ihre »kraftlosen« Brüder
unsere Rechte aufgeben, so ist das nur mit Liebe und Umsicht behandeln und
ein geringer Preis, den wir um eines ihre »Schwachheiten« des Gewissens
schwachen Bruders willen zahlen. tolerieren.
14,22 Ich darf die volle Freiheit haben, 15,2 Hier gilt das Prinzip: Lebe nicht,
alles zu essen, weil ich weiß, daß Gott es um dir selbst zu gefallen. Wir sollen
uns gegeben hat, damit wir dafür dan- »dem Nächsten« gefallen, ihm »Gutes«
ken. Doch ich darf meine Freiheit nicht tun und ihn unterstützen. Das ist der
vor anderen, die vielleicht schwach sind, christliche Ansatz.
überflüssig zur Schau stellen. Besser ist, 15,3 »Christus« ist unser Vorbild
diese Freiheit nur im Privaten zu ge- geworden. Er lebte, um seinem Vater zu
nießen, wenn niemand daran Anstoß gefallen, nicht sich selbst. Er sagte: »Die
nehmen kann. Schmähungen derer, die dich schmähen,
Es ist gut, wenn man sich an seiner sind auf mich gefallen« (Ps 69,9). Das
christlichen Freiheit freut und nicht bedeutet, daß er sich so für Gottes Ehre
durch unbegründete Skrupel gehindert einsetzte, daß er es als persönliche Belei-
ist. Doch es ist besser, die eigenen Rechte digung nahm, als man Gott schmähte.
aufzugeben, statt sich selbst verurteilen 15,4 Dieses Zitat aus den Psalmen
zu müssen, anderen ein Anstoß gewesen erinnert uns daran, daß die Schriften des

679
Römer 15

AT »zu unserer Belehrung« geschrieben nommen hat«, und zwar um »Gottes


sind. Sie sind zwar nicht direkt an uns Herrlichkeit« zu vermehren.
geschrieben, doch enthalten sie un- 15,8 In den nächsten sechs Versen
schätzbare Lektionen für uns. Wenn wir erinnert der Apostel seine Leser daran,
uns Problemen, Konflikten, Versuchun- daß der Dienst Jesu Christi sowohl Juden
gen und Unruhe gegenüber sehen, dann als auch Heiden umfaßt. Wir sollten dar-
lehrt uns die Schrift, standhaft zu sein, aus die Schlußfolgerung ziehen, daß
und wir erfahren »Ermunterung«. So auch unsere Herzen groß genug sein soll-
gehen wir in den Wellen nicht unter, son- ten, um beide aufzunehmen. Sicherlich
dern werden durch die »Hoffnung« auf- kam »Christus«, um »der Beschneidung«
recht erhalten, daß der Herr uns hin- zu dienen – d. h. dem jüdischen Volk.
durch begleiten wird. Gott hat wiederholt verheißen, daß er
15,5 Diese Überlegung führt Paulus Israel den Messias senden wolle, und das
dazu, seinem Wunsch Ausdruck zu ver- Kommen Christi bestätigte die Wahrheit
leihen, daß »der Gott«, der Standhaftig- dieser »Verheißung«.
keit und »Ermunterung« schenkt, die 15,9 Doch Christus bringt auch den
Starken und die Schwachen, die Heiden- »Nationen« den Segen. Gott hatte vor,
wie die Judenchristen in die Lage ver- daß auch die Heiden das Evangelium
setzt, harmonisch der Lehre und dem hören sollten, und daß die Menschen, die
Beispiel »Christus Jesus gemäß« zu daran glaubten, »Gott verherrlichen
leben. möchten« für seine große »Begnadi-
15,6 Das Ergebnis davon wird sein, gung«. Das sollte die jüdischen Gläubi-
daß die Heiligen in der Anbetung des gen nicht erstaunen, weil es in ihrer Hei-
»Gottes und Vaters unseres Herrn Jesus ligen Schrift mehrmals vorhergesagt
Christus« vereinigt sind. Welch ein Bild! wird. In Psalm 18,50 z. B. sieht David den
Erlöste Juden und Heiden verherrlichen Tag voraus, an dem der Messias Gott
den Herrn »mit einem Munde!« inmitten einer großen Menge Gläubiger
Der »Mund« wird im Römerbrief aus den Heiden »lobsingen« wird.
viermal erwähnt, wobei sich eine biogra- 15,10 In 5. Mose 32,43 werden die
phische Studie eines geretteten Men- Heiden dargestellt, wie sie sich am Segen
schen ergibt. Am Anfang war sein Mund der Erlösung »mit seinem Volk« Israel
voll Fluchens und Bitterkeit (3,14). Dann freuen.
wurde dieser Mund gestopft und er wur- 15,11 In Psalm 117,1 hören wir, wie
de vor seinem Richter für schuldig be- Israel die »Nationen« aufruft, »den
funden (3,19). Als nächstes bekennt er Herrn« unter der tausendjährigen Herr-
mit seinem Mund Jesus als Herrn (10,9), schaft des Messias zu loben.
und als letztes lobt und preist sein 15,12 Schließlich fügt auch noch
»Mund« den Herrn (15,6). »Jesaja« sein Zeugnis hinzu, daß die
15,7 Ein weiteres Prinzip ergibt sich »Nationen« im Reich des Messias mit
aus all dem. Trotz vielleicht bestehender eingeschlossen sind (Jes 11,1.10). Es geht
Differenzen, die über irgendwelche hier insbesondere darum, daß die »Na-
zweitrangigen Themen bestehen mögen, tionen« Anteil an den Vorrechten des
sollten wir »einander aufnehmen, wie Messias und seines Evangeliums haben.
auch der Christus euch aufgenommen Der Herr Jesus ist »die Wurzel Jesses«
hat«. Hier haben wir die wirkliche in dem Sinne, daß er sein Schöpfer war,
Grundlage der Aufnahme in die Ortsge- nicht, indem er sein Nachfahre wurde
meinde. Wir nehmen einen Menschen (obwohl auch das stimmt). In Offenba-
nicht auf, weil er einer bestimmten Kon- rung 22,16 sagt Jesus von sich selbst, daß
fession angehört, eine bestimmte geistli- er die Wurzel und das Geschlecht Davids
che Reife hat oder eine soziale Stellung sei. In seiner Eigenschaft als Gott ist er
bekleidet. Wir sollten diejenigen »auf- Davids Schöpfer, in seiner Eigenschaft
nehmen«, die »Christus« auch »aufge- als Mensch ist er Davids Nachfahre.

680
Römer 15

15,13 Deshalb schließt Paulus diesen Welch ein strahlendes Licht wirft das auf
Abschnitt mit einem schönen Segen. Er all unsere evangelistischen Anstrengungen!
betet, daß »der Gott«, der uns durch sei- Jede Seele, die durch die Predigt des Evange-
ne Gnade gute »Hoffnung« schenkt, liums gewonnen wird, wird nicht nur in
durch seine Gnade die Heiligen »mit einen Zustand der Sicherheit und des Segens
aller Freude und allem Frieden« erfüllt, versetzt, sondern ist auch ein Opfer für Gott,
wenn sie an ihn glauben. Vielleicht eine Gabe, die ihm Befriedigung schenkt,
denkt er hier besonders an die Gläubi- nämlich das Opfer, das Gott sucht. Jede See-
gen aus den Heiden, doch das Gebet eig- le, die sorgfältig und geduldig in der Lehre
net sich für alle. Und es ist wahr, daß die- Christi unterwiesen ist und so in sein Bild
jenigen, die »überreich« sind »in der verwandelt wird, ist eine Seele, an der der
Hoffnung durch die Kraft des Heiligen Vater sich erfreut. Deshalb arbeiten wir nicht
Geistes«, keine Zeit haben, um über nur, um Menschen zu erretten, sondern
Nebensächliches zu streiten. Unsere auch, um Gottes Herz zu erfreuen. Das ist
56)
gemeinsame Hoffnung ist eine mächtige das mächtigste unserer Motive.
vereinigende Kraft für unser christliches 15,17 Wenn Paulus sich selbst rühmt,
Leben. dann verherrlicht er nicht seine eigene
Person, sondern rühmt sich »in Christus
G. In den Plänen des Paulus (15,14-33) Jesus«. Und er rühmt sich nicht seiner
15,14 Im restlichen Teil von Kapitel 15 eigenen Erfolge, sondern dessen, was
gibt Paulus seine Gründe für seinen Brief Gott durch ihn gewirkt hat. Ein demüti-
an die Römer an. Auch gibt er seinem ger Diener Christi läßt sich nicht auf
großen Verlangen Ausdruck, die Chri- ungehöriges Rühmen ein, sondern ist
sten in Rom zu besuchen. sich der Tatsache bewußt, daß Gott ihn
Obwohl er die römischen Christen benutzt, um seine Ziele zu erreichen.
noch nie vorher besucht hat, ist er ȟber- Jeder Versuch, stolz zu werden, wird von
zeugt«, daß sie seine Ausführungen der Erkenntnis gedämpft, daß er von sich
begrüßen werden. Dieses Vertrauen ba- selbst aus nichts ist, daß er nichts hat, als
siert auf den Aussagen, die er über ihre das, was er empfangen hat, und daß er
»Güte« gehört hat. Zusätzlich ist er sich nichts für Christus tun kann, es sei denn,
ihrer »Erkenntnis« der christlichen Lehre in der Macht des Heiligen Geistes.
sicher, die sie dazu befähigt, auch andere 15,18 Paulus wird sich »nicht« darauf
»zu ermahnen«. einlassen, von etwas »zu reden, was
15,15 Trotz seines Vertrauens auf ihre Christus« durch den Dienst anderer
geistliche Entwicklung und trotz der Tat- Menschen getan hat. Er beschränkt sich
sache, daß er ihnen fremd war, zögerte auf die Art und Weise, auf die der Herr
Paulus doch nicht, sie an einige ihrer Vor- ihn benutzt hat, die »Nationen« für den
rechte und Pflichten zu erinnern. Seine Gehorsam zu gewinnen, und zwar durch
Offenheit, so zu schreiben, entstand sein Reden und Tun, d. h. durch die Bot-
durch die ihm »von Gott verliehene Gna- schaft, die er predigte, und die Wunder,
de« – d. h. durch die Gnade, durch die er die er tat.
zum Apostel ernannt wurde. 15,19 Der Herr bestätigte die Bot-
15,16 Er wurde von Gott ernannt, um schaft des Apostels durch Wunder, die
dienender Priester »Christi Jesu zu sein geistliche Lektionen vermittelten und
für die Nationen«. Er sah seine Arbeit als Verwunderung hervorriefen, und durch
Dienst »am Evangelium Gottes«, einen verschiedene Beweise der Kraft des Hei-
Priesterdienst, in welchem er Gerettete ligen Geistes. Das Ergebnis war, daß Pau-
»der Nationen« Gott als ein angenehmes lus »das Evangelium des Christus völlig
»Opfer« darbringt, weil sie »durch den verkündigt« hat. Er begann damit in
Heiligen Geist« und die Wiedergeburt »Jerusalem« und dehnte seine Reisen
für Gott ausgesondert worden sind. »bis nach Illyrien« aus, das nördlich von
G. Campbell Morgan jubelt: Mazedonien an der Adria liegt. »Von

681
Römer 15

Jerusalem . . . bis nach Illyrien« be- Sammlung, über die wir in 1. Korin-
schreibt die geographischen Ausmaße sei- ther 16,1 und in 2. Korinther 8 und 9
nes Dienstes, nicht die chronologische lesen.
Reihenfolge. 15,26.27 Die Gläubigen in »Mazedo-
15,20 Auf seinem Weg war es das Ziel nien und Achaja« hatten freudig zu einer
des Paulus, »das Evangelium« da »zu Sammlung beigetragen, um die Not
predigen«, wo noch geistliches Nie- unter den armen Christen zu lindern.
mandsland war. Seine Zuhörerschaft Diese Sammlung wurde von den Gebern
bestand größtenteils aus Heiden, die völlig freiwillig zusammengelegt, und
noch nie von »Christus« gehört hatten. war auch angemessen. Schließlich hatten
So baute er nicht »auf eines anderen sie geistlich sehr davon profitiert, daß
Grund« auf. Paulus Beispiel in der Pio- das Evangelium ihnen durch jüdische
niermission ist nicht unbedingt eine Ver- Gläubige gebracht wurde. Deshalb war
pflichtung, daß andere Diener des Wor- es nicht zu viel erwartet, daß sie ihre
tes genau auf dieselbe Weise handeln jüdischen Geschwister durch »leibliche«
müssen. Einige sind z. B. berufen zu Güter unterstützen.
kommen, nachdem Gemeinden gegrün- 15,28.29 Sobald jedoch Paulus seine
det sind, um diese zu lehren. Mission »vollbracht« haben würde, näm-
15,21 Die Gemeindegründungsarbeit lich die Sammlung wie versprochen zu
unter den Heiden geschah in Erfüllung überbringen, dann würde er Rom auf sei-
der Prophezeiung Jesajas (52,15), daß die nem Weg »nach Spanien« besuchen. Er
Heiden, die noch nie vorher evangelisiert war voller Zuversicht, daß sein Besuch in
worden sind, »sehen« könnten, und daß Rom durch die »Fülle des Segens Chri-
diejenigen, die bisher noch »nicht gehört sti« begleitet werden würde, die Christus
haben«, die Gute Nachricht »verstehen« immer dann ausschüttet, wenn Gottes
und sie im Glauben annehmen würden. Wort in der Vollmacht des Heiligen Gei-
15,22.23 In seinem Verlangen, uner- stes gepredigt wird.
oberte Gebiete unter den Pflug zu neh- 15,30 Der Apostel schließt diesen
men, war Paulus bisher zu beschäftigt Abschnitt mit einer eindringlichen Bitte
gewesen, um nach Rom zu kommen. um ihr »Gebet«. Die Grundlage, auf der
»Nun aber« ist der Grund in dem Gebiet er sie hier ermahnt, ist ihre Einheit mit
gelegt, das er in 15,19 beschrieben hat. dem »Herrn Jesus Christus« und ihre
Andere konnten jetzt auf diesem Funda- »Liebe«, die durch den Heiligen Geist
ment aufbauen. Deshalb hatte Paulus nun gewirkt war. Wie Lenski sagt: »Hier wird
Zeit, sein schon lange ausstehendes »Ver- zu Gebeten aufgerufen, die so inbrünstig
langen« zu erfüllen, Rom zu besuchen. sind, wie die der Kämpfer in der
57)
15,24 Sein Plan ging dahin, auf sei- Arena.«
nem Weg »nach Spanien« in Rom Halt zu 15,31 Vier besondere Gebetsanliegen
machen. Er würde nicht lange genug werden genannt.
bleiben können, um mit allen so viel Ge- Erstens bittet Paulus um Gebet dar-
meinschaft zu haben, wie er es gerne hät- um, daß er von den Zeloten »in Judäa
te, doch seine Sehnsucht, ihre Gemein- errettet werde«, die fanatisch das Evan-
schaft zu »genießen«, würde wenigstens gelium bekämpften, genauso, wie er
teilweise erfüllt werden. Und er war sich selbst es einst getan hatte.
sicher, daß sie ihm jede benötigte Hilfe Zweitens möchte er, daß die Römer
zukommen lassen würden, um seine Rei- beten, daß die jüdischen »Heiligen« seine
se nach Spanien zu vollenden. Hilfsgelder guten Mutes annehmen.
15,25 Aber in der Zwischenzeit woll- Noch immer gab es religiöse Vorurteile
te er noch »nach Jerusalem« reisen, um gegen die heidnischen Gläubigen und
die Kollekte abzuliefern, die er in den gegen diejenigen, die den Heiden pre-
Gemeinden der Heiden für die Bedürfti- digten. Und dann besteht auch immer
gen in Judäa gesammelt hatte. Das ist die die Möglichkeit, daß Menschen Anstoß

682
Römer 15 und 16

daran nehmen, ein »Almosen« anneh- erdenkliche Weise geholfen werde. Ihre
men zu müssen. Es erfordert manchmal Empfehlung ist, daß sie sich dem Dienst
mehr Gnade, der Empfänger als der an anderen hingegeben hat – einschließ-
Geber einer Gabe zu sein! lich dem an Paulus. Vielleicht war sie
15,32 Die dritte Bitte war, daß der eine der unermüdlichen Schwestern, die
Herr es ermöglicht, Paulus die Freude Predigern und anderen Gläubigen in
einer Reise nach Rom zu machen. Die Kenchreä Gastfreundschaft boten.
Worte »durch den Willen Gottes« 16,3 Als nächstes sendet Paulus
drücken das Verlangen des Paulus aus, Grüße an »Priszilla und Aquila«
sich in allem vom Herrn leiten zu lassen. (LU 1912), die so fleißige »Mitarbeiter«
Als letztes bittet er noch darum, daß im Dienste Jesu Christi gewesen waren.
sein Besuch ihn inmitten seines aufre- Wie können wir Gott nur danken für
genden und ermüdenden Dienstes »er- christliche Paare, die sich selbst in aufop-
quicken« möge. fernder Arbeit für das Anliegen Christi
15,33 Und nun schließt Paulus das hingeben!
Kapitel mit dem Gebet, daß »der Gott«, 16,4 Bei einer Gelegenheit haben Pris-
der die Quelle »des Friedens« ist, ihr Teil zilla und Aquila sogar ihr eigenes Leben
sein möge. In Kapitel 15 ist der Herr fol- für Paulus riskiert – eine heldenhafte Tat,
gendermaßen genannt worden: Gott des über die hier nicht ausführlicher berich-
Ausharrens und der Ermunterung (V. 5), tet wird. Doch der Apostel ist dankbar,
Gott der Hoffnung (V. 13) und nun »Gott und das sind auch »alle Gemeinden«
des Friedens«. Er ist die Quelle alles Gu- bekehrter Heiden, denen er gedient hat.
ten, und all dessen, was ein armer Sün- 16,5 »Und die Gemeinde in ihrem
der jetzt und in Ewigkeit braucht. Haus.« Das bedeutet, daß sich wirklich
»Amen.« eine Gemeinde in ihrem Haus traf. Kir-
chengebäude gab es erst im späten zwei-
H. In der Wertschätzung der Arbeit ten Jahrhundert. Schon vorher, als Pris-
anderer (Kap. 16) zilla und Aquila in Korinth gewohnt hat-
Auf den ersten Blick scheint das Schluß- ten, beherbergten sie eine Gemeinde in
kapitel eine uninteressante Namensliste ihrem Haus.
zu sein, die für uns heute keine oder »Epänetus« bedeutet »lobenswert«.
kaum Bedeutung hat. Doch wenn wir Zweifellos entsprach das Verhalten die-
dieses vernachlässigte Kapitel einmal ses ersten Bekehrten der Provinz Acha-
59)
etwas näher betrachten, dann bringt es ja seinem Namen. Paulus nennt ihn:
dem Gläubigen viele wichtige Lehren. »meinen Geliebten«.
58)
16,1 »Phöbe« wird uns als »Dienerin 16,6 Wir finden in diesem Kapitel
der Gemeinde in Kenchreä« vorgestellt. sehr viele Frauen genannt. Das betont ihr
Wir brauchen nicht anzunehmen, daß sie weites Betätigungsfeld (V. 1.3.6.12 usw.)
einer besonderen religiösen Gemein- »Maria« hat sehr hart für die Römer gear-
schaft angehört habe. Jede Schwester, die beitet.
in einer Ortsgemeinde Dienst tut, könnte 16,7 Wir wissen nicht, wann »Andro-
mit Recht »Diakonisse« genannt werden. nikus und Junias . . . Mitgefangene« des
16,2 Wann immer die ersten Christen Paulus gewesen sind. Wir können hier
von einer Gemeinde zur anderen fuhren, nicht entscheiden, ob das Wort »Ver-
führten sie Empfehlungsschreiben mit wandte« hier bedeutet, daß sie mit dem
sich. Dies war eine Höflichkeit der be- Apostel wirklich verwandt waren, oder
suchten Gemeinde gegenüber und eine ob sie einfach nur wie er Juden waren.
Hilfe für den Besucher. Und wir wissen auch nicht, ob der Aus-
Deshalb empfiehlt der Apostel hier druck »unter den Aposteln ausgezeich-
Phöbe und bittet, daß sie als echte Gläu- net« bedeutet, daß sie von den Aposteln
bige »würdig« aufgenommen werde. Er respektiert wurden oder ob sie selbst her-
bittet weiter darum, daß ihr auf jede ausragende »Apostel« waren. Wir wis-

683
Römer 16

sen nur eines gewiß, nämlich daß sie sich (Matth 27,32). Er war nicht nur durch
schon »vor« Paulus bekehrten. seine Errettung vom »Herrn« auser-
16,8 Als nächstes begegnen wir wählt, sondern auch in seinem christ-
»Ampliatus«, der der »Geliebte« des lichen Charakter, d. h. er war ein beson-
Apostels war. Wir hätten wohl nie etwas derer Heiliger. Die »Mutter« des Rufus
von diesen Menschen gehört, wenn sie hatte auch Paulus bemuttert und ver-
nicht zu Christus gehören würden. Das diente sich so den liebevollen Titel
ist die einzige Größe, die wir als Christen »meine Mutter«.
besitzen können. 16,14.15 Vielleicht waren »Asynkri-
16,9 »Urbanus« erhält den Titel »Mit- tus, Phlegon, Hermes, Patrobas« und
arbeiter« und »Stachys« wird »mein »Hermas« Mitarbeiter einer Hausge-
Geliebter« genannt. Kapitel 16 ist wie meinde wie der im Haus von Priszilla
eine Kleinausgabe des Richterstuhles und Aquila (16,3.5). »Philologus und
Christi, wo wir für jede Handlung im Julia, Nereus und seine Schwester und
Glauben an Christus gelobt werden. Olympas« könnten zum Kern einer an-
16,10 »Apelles« war mutig durch deren Hausgemeinde gehört haben.
einige Anfechtungen gegangen und hat- 16,16 Der »heilige Kuß« war die übli-
te das Siegel »Bewährter in Christus« che, liebevolle Begrüßung unter den Hei-
errungen. ligen damals und wird auch heute noch
Paulus grüßt das »Haus des Aristo- in einigen Ländern praktiziert. Er wird
bul« und meint wahrscheinlich christli- als »heiliger Kuß« bezeichnet, um eine
che Sklaven, die diesem Enkel Herodes Verwechslung zu vermeiden. In unserer
des Großen gehörten. Kultur wird der »Kuß« im allgemeinen
16,11 »Herodion« war wahrschein- durch das Händeschütteln ersetzt.
lich auch ein Sklave. Er war ein »Ver- Die »Gemeinden« in Achaja, von wo
wandter« oder auch »Landsmann« des aus Paulus schreibt, schlossen sich seinen
Paulus, und könnte der einzige jüdische Grüßen an.
Sklave im Haus des Aristobul gewesen 16,17 Der Apostel kann seinen Brief
sein. nicht ohne eine Warnung vor gottlosen
Es gab auch einige Sklaven, die dem Irrlehren schließen, die sich vielleicht in
»Narzissus« gehörten, die ebenfalls Gläu- eine Gemeinde einschleichen könnten.
bige waren, und auch ihnen sendet Pau- Die Christen sollten auf solche Menschen
lus seine Grüße. Auch diejenigen, die am ein wachsames Auge haben, die Grup-
niedrigsten auf der sozialen Leiter stehen, pen um sich sammeln und Fallen stellen,
werden nicht von den erlesensten Seg- um den Glauben der weniger aufmerksa-
nungen des Christentums ausgeschlos- men zu zerstören. Sie sollten nach denje-
sen. Daß diese Sklaven hier in diese Liste nigen Ausschau halten, die »entgegen
aufgenommen worden sind, ist eine liebe- der Lehre«, die sie als Christen »gelernt«
volle Erinnerung daran, daß in Christus hatten, lehrten. Von diesen sollten sie
alle sozialen Unterschiede verschwinden, sich »abwenden«.
weil wir alle »eins in ihm« sind. 16,18 Diese Irrlehrer gehorchen nicht
16,12 »Tryphäna und Tryphosa« hat- »unserem Herrn Christus«, sondern nur
ten Namen, die »zierlich« und »luxuriös« »ihrem eigenen Bauch«. Und sie sind alle
bedeuteten, doch taten sie einen wertvol- nur zu erfolgreich, die Arglosen durch
len Dienst für den Herrn. »Die Geliebte ihre gewinnenden und »schönen Reden«
Persis« war eine weitere der weiblichen einzuwickeln.
Mitarbeiterinnen, die wir in den Ortsge- 16,19 Paulus war froh, daß der
meinden so nötig brauchen, doch die nur Gehorsam seiner Leser bekannt war.
selten anerkannt werden, ehe sie nicht Doch er wollte, daß sie in der Lage
mehr da sind. wären, das »Gute« zu unterscheiden und
16,13 »Rufus« könnte der Sohn des ihm zu gehorchen und daß sie auf das
Simon sein, der das Kreuz Jesu trug »Böse« nicht reagieren sollten.

684
Römer 16

16,20 Auf diese Weise würde »der 16,25 Der Brief schließt mit einem
Gott«, der die Quelle »des Friedens« ist, Lobpreis. Er ist an Gott gerichtet, der es
ihnen einen reichen Sieg über »Satan« »vermag«, sein Volk in Übereinstim-
schenken. mung mit dem »Evangelium«, das Pau-
Der für den Apostel charakteristische lus predigte, fest stehen zu lassen, wel-
Segen wünscht den Heiligen alle be- ches er »mein Evangelium« nennt. Es
nötigten Fähigkeiten für ihre Reise zur gibt natürlich nur einen Weg der Erlö-
ewigen Herrlichkeit. sung, doch wurde das Evangelium ihm
16,21 Wir kennen »Timotheus«, den als dem Heidenapostel anvertraut, wäh-
Sohn des Paulus im Glauben, der sein rend z. B. Petrus es den Juden predigte.
treuer Mitarbeiter war. Wir wissen nichts Es handelt sich hier um die öffentliche
über »Lucius«, außer, daß er wie Paulus Verkündigung der Botschaft über »Jesus
jüdischer Abstammung war. Es könnte Christus«, über die »Offenbarung« der
sein, daß wir »Jason« schon einmal be- wunderbaren Wahrheit, die »ewige Zei-
gegnet sind (Apg 17,5), wie auch »Sosi- ten hindurch verschwiegen war«. Ein
pater« (Apg 20,4), die beide ebenfalls »Geheimnis« im Neuen Testament ist
Juden waren. eine Wahrheit, die zuvor noch nicht be-
16,22 »Tertius« war derjenige, dem kannt ist, und die der menschliche Geist
Paulus den Brief diktiert hat. Er nimmt von sich aus nicht zu entdecken vermag,
sich hier die Freiheit, seine Grüße einzu- die dann jedoch von Gott bekannt ge-
fügen. macht wird.
16,23 Wir finden mindestens vier 16,26 Das Geheimnis, von dem hier
Männer mit Namen »Gajus« im Neuen gesprochen wird, ist die Wahrheit, daß
Testament. Dieser hier ist wahrscheinlich gläubige Juden und Heiden zu gemein-
derselbe, der auch in 1. Korinther 1,14 ge- samen Erben gemacht wurden, zu Glie-
nannt wird. Er war für seine Gastfreund- dern an dem einen Leib Christi, und Teil-
schaft bekannt, nicht nur dem Paulus, habern seiner Verheißung in Christus
sondern auch anderen Christen, die sie in durch das Evangelium (Eph 3,6).
Anspruch genommen hatten. »Erastus« Es ist »jetzt . . . geoffenbart« worden
war »Schatzmeister« oder »Stadtver- durch die Schriften der Propheten – nicht
walter« (Schl) in Korinth. Doch ist er der- der Propheten des Alten, sondern des
selbe, der auch in Apostelgeschichte 19,22 Neuen Testamentes. In den Schriften des
und/oder 2. Timotheus 4,20 genannt ist? AT war diese Wahrheit unbekannt, doch
Wir können hier nichts sicheres sagen. sie ist in den »prophetischen Schriften«
»Quartus« wird hier nur als »Bruder« des Neuen Testamentes offenbart (s. Eph
genannt, doch welch eine Ehre ist das! 2,20; 3,5).
16,24 »Die Gnade unseres Herrn Es geht hier um die Botschaft des
Jesus Christus sei mit euch allen!« Hier Evangeliums. Gott hat befohlen, daß sie
haben wir den typischen Schlußsegen »allen Nationen bekanntgemacht« wer-
des Paulus. Er ist wortgleich mit V. 20b, de, damit alle Menschen dem Glauben
doch wird hier das Wort »allen« hinzu- gehorsam und errettet würden.
gefügt. Tatsache ist, daß in den meisten 16,27 Nur »Gott . . . allein« ist die
Handschriften des Römerbriefes dieser Quelle der reinen Weisheit, und ihm
Vers den Schluß bildet und der Lobpreis gehört die »Herrlichkeit . . . durch Jesus
aus den Versen 25-27 nach Kapitel 14 Christus«, unseren Mittler »in alle Ewig-
steht. Der alexandrinische Text hat V. 20 keit«.
nicht (NA). Sowohl der Segen als auch Und so endet dieser großartige Brief
der Lobpreis sind schöne Sitten, diesen des Paulus. Wie hoch stehen wir in Got-
Brief zu beenden. Und beide schließen tes Schuld für diesen Brief! Und wie arm
mit »Amen!« wären wir ohne ihn! »Amen!«

685
Anmerkungen

Anmerkungen ändert das nicht viel an der Bedeu-


tung.
15) (4,24) C. H. Mackintosh, The Mackin-
1) (1,4) Einige Kommentatoren deuten tosh Treasury: Miscellaneous Writings
die Worte »Geist der Heiligkeit« auf by C. H. Mackintosh, S. 66.
Christi eigenes heiliges Wesen, näm- 16) (6,1) J. Oswald Sanders, Spiritual
lich seinen eigenen menschlichen Problems, S. 112.
Geist. 17) (6,5) Charles Hodge, The Epistle to the
2) (1,29) Es ist leicht zu erklären, wie Romans, S. 196.
einige Abschreiber hier versehent- 18) (6,11) Ruth Paxson, The Welath, Walk
lich »Hurerei« schreiben konnten: Im and Warfare of the Christian, S. 108.
griechischen sieht das Wort porneia 19) (6,11) C. E. Macartney, Macartney’s
dem Wort poneria (Böses) sehr ähn- Illustrations, S. 378-79.
lich. 20) (6,14) James Denney, »St. Paul’s
3) (1,31) Vers 31 enthält fünf negativ- Epistle to the Romans,« The Exposi-
Wörter, die mit dem sogenannten tor’s Greek Testament, Bd. 2, S. 635.
»Alpha-Privativ« beginnen (verglei- 21) (6,19) Charles Gahan, Gleanings in
che a-normal = nicht normal), das in Romans, a. a. O.
der griechischen Wortbildung ähn- 22) (6,21) Markus Rainsford, Lectures on
lich unserer Vorsilbe »un« verwen- Romans IV, s. 172.
det wird. NA liest unversöhnlich 23) (6,21) Pierson, Shall We Continue in
(aspondous), das sehr dem Wort für Sin?, S. 45.
ohne natürliche Liebe (astorgous) 24) (7,15) Harry Foster, Artikel in Toward
gleicht. the Mark, S. 110.
4) (2,4) A. P. Gibbs, Preach and Teach the 25) (7,23)George Cutting, »The Old Na-
Word, S.12/4. ture and the New birth« (Broschüre),
5) (2,6) Lewis S. Chafer, Systematic Theo- S. 33.
logy, Bd. 3, S. 376. 26) (8,1) Die Worte »die nicht nach dem
6) (3,22) NA läßt »und auf alle« aus. Fleisch wandeln, sondern nach dem
7) (3,23) Wörtl. »sündigten«, es steht Geist« (LU 1912) sind nach weitver-
der Aorist, nicht das Perfekt. breiteter Ansicht fälschlich aus Vers
8) (Exkurs) Dasselbe gilt für das Grie- 4 hierhin geraten. Doch sie erschei-
chische und Hebräische. nen in den meisten Handschriften,
9) (3,24) Arthur T. Pierson, Shall We und könnten einfach eine weitere
Continue in Sin?, S. 23. Beschreibung der Menschen sein, die
10) (3,24) Paul Van Gorder in Our Daily in Christus sind.
Bread. 27) (8,10) Hier an dieser Stelle ist nicht
11) (3,30) Cranfield betont (Romans, Bd. eindeutig feststellbar, ob es sich um
1, S. 222), daß alle Versuche, hier den Heiligen Geist handelt oder
einen feinen Unterschied zu ent- nicht. Wir sind der Ansicht, daß es
decken, wenig überzeugend sind. sich auf den menschlichen Geist des
Augustinus hatte wahrscheinlich Gläubigen bezieht.
recht, als er die Wortwahl der rheto- 28) (8,15) S. Anmerkung zu 8,10. Hier ist
rischen Vielfalt zuschrieb. die Bedeutung eindeutig nicht der
12) (4,1) Oder die Erfahrung von »Abra- menschliche Geist, sondern eine Hal-
ham, unserem Vater nach dem tung, die der Sklaverei entgegen-
Fleisch«. steht.
13) (4,13) Aus dem englischen Material 29) (8,18) Im Hebräischen ist das Wort
des Bibellesebundes, keine weiteren für »Herrlichkeit« vom Verb »schwer
Angaben verfügbar. sein« abgeleitet, von daher würden
14) (4,19) Einige Manuskripte lassen die Juden hier sogar im Griechischen
zwar das Wort »nicht« aus, doch ein Wortspiel erkennen.

686
Anmerkungen

30) (8,31) Dieser Vers war Calvins Lieb- 48) (12,19) R. C. H. Lenski, St. Paul’s
lingsvers. Epistle to the Romans, S. 780.
31) (8,32) C. H. Mackintosh, keine weite- 49) (12,21) J. N. Darby, aus einer Fußno-
ren Angaben verfügbar. te zu Röm 12,21 in seiner New Trans-
32) (8,37) Eine sehr wörtliche Überset- lation.
zung lautet: »wir über-erobern« 50) (12,21) George Washington Carver,
(hypernikomen). keine weiteren Angaben verfügbar.
33) (8,39) Diese Worte wurden z. B. in 51) (12,21) Zitiert von Charles Swindoll
der Astrologie verwendet. in Growing Strong in the Seasons of
34) (9,4) The New Scofield Reference Bible, Life, S. 69-70.
S. 1317. 52) (13,4) Die normalen hebräischen
35) (9,5) Siehe Hodge, Romans, S. 299-301 Wörter für »töten« sind quatal und
für eine ausführlichere Darstellung harag. Das besondere Verb »morden«
dieser Frage. (rahats) wird in den zehn Geboten
36) (9,16) G. Campbell Morgan, Search- verwendet, und die griechische
lights from the Word, S. 335-36. Übersetzung ist ebenso eindeutig.
37) (9,21) Albert Barnes, Barnes’s Notes on 53) (13,9) NA läßt dieses Gebot hier aus.
the New Testament, S. 617. 54) (14,10) Einige alte Handschriften
38) (9,23) Charles R. Erdman, The Epistle (NA) lesen »Richterstuhl Gottes«
of Paul to the Romans, S. 109. statt »Christi« (Textus Receptus und
39) (10,10) William Kelly, Notes on the Mehrheitstext). Doch wir wissen,
Epistle to the Romans, S. 206. daß Christus der Richter sein wird,
40) (10,10) James Denney, zitiert in: Ken- weil der Vater ihm das Gericht über-
neth Wuest, Romans in the Greek New geben hat (Joh 5,22).
Testament, S. 178. 55) (14,23) Merrill F. Unger, Unger’s Bible
41) (10,14) Hodge, Romans, S. 545. Dictionary, S. 219.
42) (11,1) Es ist traurig festzustellen, daß 56) (15,16) Morgan, Searchlights, S. 337.
diejenigen, die die Segnungen Israels 57) (15,30) Lenski, Romans, S. 895.
der Gemeinde zuschreiben, Israel 58) (16,1) Im griechischen steht hier die
dennoch die Flüche zuschreiben. männliche Form diakonos. Wäre hier
43) (11,32) George Williams, The Stu- ein besonderes Amt für Frauen ge-
dent’s Commentary on the Holy Scrip- meint, so wäre sicherlich die weib-
tures, S. 871. liche Form des Wortes gewählt wor-
44) (11,33) Arthur W. Pink, The Attributes den.
of God, S. 13. 59) (16,5) NA liest hier Asia (doch
45) (12,1) Norman Grubb, C. T. Studd, Korinth, von dem aus Paulus wahr-
Cricketer and Pioneer, S. 141. scheinlich schrieb, lag in Achaja).
46) (12,6) Hodge, Romans, S. 613. Vgl. LU 1912.
47) (12,6) H. A. Strong, Systematic Theo-
logy, S. 12.

687
Bibliographie

Bibliographie Lenski, R. C. H.,


St. Paul’s Epistle to the Romans,
Minneapolis: Augsburg Publishing
Cranfield, C. E. B., House, 1961.
The Epistle to the Romans, Newell, William R.,
Bd. 1 (ICC), Edinburgh: T. & T. Clark, Romans Verse by Verse,
1975. Chicago: Moody Press, 1938.
Denney, James, Rainsford, Marcus,
»St. Paul’s Epistle to the Romans« in: Lectures on Romans VI,
The Expositor’s Greek Testament, London: Charles J. Thynne, 1898.
Bd. 2., Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans
Publishing Company, 1961. Shedd, William G. T.,
A Critical and Doctrinal Commentary on
Gahan, Charles, the Epistle of St. Paul to the Romans,
Gleanings in Romans, Grand Rapids: Zondervan, 1967.
Veröffentlichung des Autors.
Stifler, James M.,
Hodge, Charles, The Epistle to the Romans: A Commentary
Commentary on the Epistle to the Romans, Logical and Historical,
New York: George H. Doran Company, Chicago: Moody Press, 1960.
1886.
Wuest, Kenneth S.,
Kelly, William, Romans in the Greek New Testament,
Notes on the Epistle to the Romans, Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans
London: G. Morrish, 1873. Publishing Company, 1964.

688
Der erste Brief des Paulus an die Korinther
»Ein Abschnitt der Kirchengeschichte wie kein anderer.«
Weizäcker

Einführung Brief von Paulus an die Gemeinde gab,


der gründlich mißverstanden wurde.
Die äußeren Beweise für die Echtheit
I. Einzigartige Stellung im Kanon des 1. Korintherbriefes sind sehr früh.
Der erste Korintherbrief ist in dem Sinne Ausdrücklich erwähnt wird der Brief
ein Problembuch, weil Paulus hier die von Clemens von Rom (ca. 95 n. Chr.) als
Probleme der Gemeinde in der Sünden- »Brief des seligen Apostels Paulus«. An-
stadt Korinth behandelt (»Was aber das dere Autoren der frühen Kirche, die das
betrifft …«). Als solches wird es von den Buch zitieren sind Polykarp, Justin der
heutigen problemgeschüttelten Gemein- Märtyrer, Athenagoras, Irenäus, Cle-
den dringend benötigt. Die Spaltungen, mens von Alexandrien und Tertullian. Er
die Verehrung einzelner Menschen, die wird im Muratorischen Fragment aufge-
Unmoral, die Prozessiererei, die Ehepro- listet und steht im Apostolicum, dem
bleme, die zweifelhaften Praktiken, die häretischen »Kanon« des Marcion, nach
Handhabung der Geistesgaben – all das dem Galaterbrief.
wird hier behandelt. Die inneren Beweise sind ebenso über-
Man sollte jedoch nicht meinen, daß zeugend. Neben den Hinweisen des
es nur um Probleme ginge. Dieser Brief Autors, der sich selbst in 1,1 und 16,21
enthält 1. Korinther 13, diese schönste Paulus nennt, unterstützt auch die Argu-
Abhandlung über die Liebe nicht nur in mentation in 1,12-17 und 3,4.6.22 die
der Bibel, sondern in der ganzen Litera- paulinische Verfasserschaft. Parallelen
tur. Die beachtenswerten Lehren über die zur Apostelgeschichte, zu anderen Pau-
Auferstehung – sowohl über Christi Auf- lusbriefen und die echte Stimmung wirk-
erstehung als auch unsere – (Kap. 15), die licher Apostelschaft schließen eine Fäl-
Vorschriften für das Mahl des Herrn schung aus und machen die Argumente
(Kap. 11) und die Anweisung, sich an der für die Echtheit des Briefes unwiderleg-
Sammlung zu beteiligen – all das findet bar.
sich hier.
III. Datierung
Wir wären ohne den 1. Korintherbrief
sehr viel ärmer. Wir haben hier eine Paulus berichtet uns, daß er aus Ephesus
Schatzkammer praktischer christlicher schreibt (16,8.9, vgl. V. 19). Weil er dort
Lehre vor uns. drei Jahre gedient hat, wurde der 1. Ko-
rintherbrief am wahrscheinlichsten in
II. Verfasserschaft der zweiten Hälfte dieses ausgedehnten
Alle Gelehrten sind sich einig, daß der Dienstes geschrieben, d. h. in den Jahren
Brief, den wir den ersten Korintherbrief 55 oder 56. Einige Ausleger datieren ihn
nennen, ein echter Paulusbrief ist. Einige sogar noch früher.
(meist liberale) Ausleger sind der An-
sicht, einige »Interpolationen« in dem IV. Hintergrund und Thema
Brief erkennen zu können, doch sind das Das alte Korinth lag (und liegt) in Süd-
rein subjektive Annahmen, die durch die griechenland, westlich von Athen, strate-
Manuskripte nicht unterstützt werden. gisch günstig an den Handelsstraßen der
1. Korinther 5,9 scheint nahezulegen, Zeit des Paulus. Es war ein wichtiges
daß es einen früheren, nichtkanonischen Zentrum des internationalen Handels,
689
1. Korinther

und immenser Verkehr wälzte sich durch Etwa drei Jahre später, als Paulus in
die Stadt. Weil die Religion der Men- Ephesus predigte, erhielt er aus Korinth
schen so entartet war, wurde es auch einen Brief, in dem von ernsthaften
bald ein Zentrum der gröbsten Sündhaf- Schwierigkeiten in der Gemeinde dort
tigkeit, so daß der Name Korinth für alles berichtet wurde und in dem auch viele
Unreine und Sittenlose sprichwörtlich Fragen zur christlichen Praxis standen.
wurde. Der Ruf der Stadt war so Als Antwort auf diesen Brief wurde der
schlecht, daß es sogar ein Verb gab, das erste Korintherbrief geschrieben.
vom Namen der Stadt abgeleitet ist, In dem Brief geht es darum, eine ver-
nämlich korinthiazomai, welches soviel weltlichte und fleischliche Gemeinde
wie »ein Lotterleben führen« bedeutete. wieder zurechtzubringen, die die An-
Der Apostel Paulus besuchte die sichten, Fehler und Handlungen auf die
Stadt zum ersten Mal auf seiner zweiten leichte Schulter nahm, die den Apostel so
Missionsreise (Apg 18). Zunächst arbei- sehr beunruhigten. Wie Moffat es knapp
tete er gemeinsam mit Priszilla und erläutert hat: »Die Gemeinde war in der
Aquila, seinem Kollegen im Zeltmachen, Welt, wie es ja auch sein mußte, doch die
unter den Juden. Als die meisten Juden Welt war auch in der Gemeinde, was je-
jedoch die Botschaft ablehnten, wandte doch nicht so sein durfte.«
er sich an die Heiden in Korinth. Durch Weil solche Zustände in den Gemein-
die Predigt des Evangeliums wurden den heute immer noch verbreitet sind, ist
Menschen gerettet und eine Gemeinde der 1. Korintherbrief noch immer von
entstand. Bedeutung.

Einteilung C. Über die Kopfbedeckung der


Frau (11,2-16)
D. Über das Herrnmahl (11,17-34)
I. Einführung (1,1-9) E. Über die Geistesgaben und ihren
A. Gruß (1,1-3) Gebrauch in der Gemeinde
B. Danksagung (1,4-9) (Kap. 12 – 14)
II. Unordnung in der Gemeinde IV. Die Antwort des Paulus an die Leug-
(1,10 – 6,20) ner der Auferstehung (Kap. 15)
A. Spaltung unter den Gläubigen A. Die Gewißheit der Auferstehung
(1,10 – 4,21) (15,1-34)
B. Sittenlosigkeit unter den Gläubi- B. Überlegungen zu Einwänden
gen (Kap. 5) gegen die Auferstehung (15,35-
C. Rechtsstreit unter den Gläubigen 57)
(6,1-11) C. Abschließender Aufruf ange-
D. Sittliche Laxheit unter den Gläu- sichts der Auferstehung (15,58)
bigen (6,12-20) V. Der abschließende Rat des Paulus
III. Apostolische Antworten auf (Kap. 16)
Gemeindefragen (Kap. 7 – 14) A. Über die Sammlung (16,1-4)
A. Über Heirat und Zölibat (Kap. 7) B. Über seine persönlichen Pläne
B. Über das Essen von Fleisch, das (16,5-9)
zuvor den Götzen geopfert wur- C. Abschließende Ermahnungen
de (8,1 – 11,1) und Grüße (16,10-24)

690
1. Korinther 1

Kommentar befinden sollen, doch bleibt die Tatsache


bestehen, daß sie von ihrer Stellung her
durch Gott »geheiligt« waren. Als Heili-
I. Einführung (1,1-9) ge gehörten sie zu einer großen Gemein-
schaft: Sie waren »berufene Heilige, samt
A. Gruß (1,1-3) allen, die an jedem Ort den Namen unse-
1,1 »Paulus« war seit seinem Erlebnis auf res Herrn Jesus anrufen, ihres und unse-
der Straße nach Damaskus ein »berufe- res Herrn«. Obwohl die Lehren dieses
ner Apostel Christi Jesu«. Dieser Ruf Briefes in erster Linie an die Heiligen in
erging nicht durch Menschen, sondern Korinth gerichtet waren, so waren sie
direkt durch den Herrn Jesus. Ein »Apo- doch auch für all jene aus der weltweiten
stel« ist wörtlich übersetzt ein »Gesand- Gemeinschaft bestimmt, die die Herr-
ter«. Die ersten Apostel waren Zeugen schaft Christi anerkennen.
des auferstandenen Christus. Sie konn- 1,3 Der erste Korintherbrief ist auf
ten auch Wunder tun, um zu bestätigen, ganz besondere Weise der Brief der Herr-
daß die Botschaft, die sie predigten, von schaft Christi. Während Paulus die vie-
Gott kam. len Probleme der Gemeinde und der ein-
Als Paulus schrieb, war ein Bruder zelnen Mitglieder behandelt, erinnert er
namens Sosthenes bei ihm, deshalb seine Leser immer wieder, daß Jesus
nennt Paulus ihn in seinem Gruß. Wir Christus Herr ist und daß all unser Tun
können nicht mit Sicherheit wissen, ob er in Anerkennung dieser großartigen
der Sosthenes aus Apostelgeschichte Wahrheit geschehen sollte.
18,17 ist, der Synagogenvorsteher, der Wir finden in Vers 3 den charakteri-
öffentlich von den Griechen geschlagen stischen Gruß des Paulus. Mit den Wor-
wurde. Vielleicht war dieser Vorsteher ten »Gnade« und »Friede« faßt er sein
durch die Predigt des Paulus bekehrt ganzes Evangelium zusammen. »Gna-
worden und half ihm nun bei seiner de« ist die Ursache allen Segens, und
Arbeit zur Verbreitung des Evangeliums. »Friede« ist die Auswirkung im Leben
1,2 Der Brief richtet sich zunächst an des Menschen, der die Gnade Gottes an-
»die Gemeinde Gottes, die in Korinth nimmt. Diese Segnungen erfahren wir
ist«. Es ist ermutigend zu sehen, daß es »von Gott unserem Vater und dem Herrn
keinen Ort auf Erden gibt, der zu verdor- Jesus Christus«. Paulus zögert nicht, den
ben wäre, als daß man nicht eine »Herrn Jesus Christus« im gleichen
Gemeinde dort gründen könnte, die Gott Atemzug mit »Gott, unserem Vater« zu
gehört. Die korinthische Gemeinde wird nennen. Das ist eine der vielen Stellen im
weiter beschrieben als die »Geheiligten NT, die bezeugen, daß der Herr Jesus
in Christus Jesus«, als die »berufenen Gott dem Vater gleich ist.
Heiligen«. »Geheiligt« bedeutet hier von
Gott aus der Welt ausgesondert, und B. Danksagung (1,4-9)
beschreibt die Stellung all derer, die zu 1,4 Nachdem der Apostel seinen Gruß
Jesus Christus gehören. Bezüglich ihres beendet hat, dankt er nun für die Ko-
praktischen Zustandes sollten sie sich rinther und für das wundervolle Werk,
täglich durch ein geheiligtes Leben das Gott in ihrem Leben vollbracht hat
absondern. (V. 4-9). Es ist ein sympathischer Charak-
Einige Leute sind der Ansicht, daß terzug des Paulus, daß er immer darauf
Heiligung ein besonderes Werk der Gna- bedacht war, etwas im Leben seiner Mit-
de sei, durch das ein Mensch die Ausrot- gläubigen zu finden, für das er danken
tung der Sündennatur aus seinem Leben konnte. Wenn ihre praktische Lebens-
erfahren könne. Solch einer Lehre wider- führung nicht eben empfehlenswert war,
spricht dieser Vers. Die Korinther waren dann konnte er doch zumindest für das
weit von einem Zustand praktischer Hei- »danken«, was »Gott« für sie getan hatte.
ligung entfernt, in dem sie sich hätten Genau das geschieht hier. Die Korinther

691
1. Korinther 1

waren nicht gerade Vorbilder, was ihr Später in den Brief wird der Apostel
geistliches Leben anbetrifft. Doch Paulus die Heiligen sogar für den Mißbrauch
konnte wenigstens »für die Gnade Got- der Gaben rügen müssen, doch hier be-
tes« danken, die ihnen »gegeben ist in gnügt er sich damit, seinem Dank dafür
Christus Jesus«. Ausdruck zu verleihen, daß sie diese
1,5 Die besondere Art, auf die sich Gaben in solch ungewöhnlichem Maße
Gottes Gnade den Korinthern gegenüber empfangen hatten.
erwies, zeigte sich darin, daß sie reichlich Die Korinther erwarteten eifrig »das
mit Geistesgaben ausgestattet waren. Offenbarwerden unseres Herrn Jesus
Paulus erwähnt hier Gaben »in allem Christus«. Die Ausleger sind sich nicht
Wort und aller Erkenntnis«, und meint einig, ob hiermit das Kommen Christi für
damit wahrscheinlich, daß es bei den Ko- seine Heiligen (1. Thess 4,13-18) gemeint
rinthern die Gabe des Zungenredens, der ist, oder aber sein Kommen mit seinen
Auslegung der Zungenrede und eines Heiligen (2. Thess 1,6-10), oder aber bei-
besonderen Wissens gab. »Wort« steht des. Im ersten Fall wäre es nur das
für äußeren Ausdruck und »Erkenntnis« »Offenbarwerden« für die Gläubigen,
für innere Einsicht. während es im zweiten um ein »Offen-
1,6 Die Tatsache, daß die Korinther barwerden« vor der ganzen Welt ginge.
diese Gaben besaßen, war eine Bestäti- Sowohl die Entrückung als auch das
gung des Handelns Gottes an ihnen, und Kommen Christi in Herrlichkeit werden
das ist gemeint, wenn Paulus sagt: »Wie von den Gläubigen sehnsüchtig erwartet.
denn das Zeugnis des Christus unter 1,8 Nun gibt Paulus seiner Gewißheit
euch befestigt worden ist.« Sie hatten das Ausdruck, daß der Herr die Heiligen
»Zeugnis des Christus« gehört, es im »auch befestigen wird bis ans Ende«,
Glauben angenommen, und Gott be- damit sie »untadelig« seien »an dem Tag
zeugte ihnen, daß sie wirklich errettet unseres Herrn Jesus Christus«. Und wie-
waren, indem er ihnen Wundergaben der ist es auffällig, daß Paulus hier für
schenkte. das dankt, was Gott einst tun wird, und
1,7 Was geistliche Gaben anging, so nicht so sehr für die Handlungen der
war die Gemeinde in Korinth keiner Korinther selber. Weil die Korinther sich
anderen unterlegen. Doch der reine Be- Christus anvertraut hatten und Gott die-
sitz von Gaben war noch kein Zeichen se Tatsache durch die Austeilung von
für eine wirklich geistliche Haltung. Pau- Geistesgaben bestätigt hatte, war Paulus
lus dankte dem Herrn eigentlich für sicher, daß Gott die Korinther für sich
etwas, für das die Korinther selbst über- erhalten könnte, bis Christus für sein
haupt nicht verantwortlich waren. Der Volk wiederkommt.
aufgefahrene Herr verteilt seine Gaben, 1,9 Der Optimismus des Paulus hin-
ohne daß er dabei darauf achtet, ob je- sichtlich der Korinther basiert auf der
mand würdig ist, sie zu empfangen. Treue Gottes, der sie »in die Gemein-
Wenn jemand eine Gabe hat, dann sollte schaft seines Sohnes« berufen hat. Er
er nicht stolz darauf sein, sondern sie in weiß, daß Gott sie nie seinen Händen
Demut für den Herrn einsetzen. entgleiten lassen würde, weil er solch ge-
Die Frucht des Geistes hat hiermit waltige Kosten gehabt hat, um ihnen An-
nichts zu tun. Bei ihr gehört es dazu, daß teil am Leben zu geben.
sich der Gläubige ganz der Führung
durch den Heiligen Geist hingibt. Der II. Unordnung in der Gemeinde
Apostel konnte die Korinther nicht dafür (1,10 – 6,20)
loben, daß sich in ihrem Leben geistliche
Frucht zeigte, sondern nur für die Gaben, A. Spaltungen unter den Gläubigen
die der souveräne Herr überreichlich an (1,10 – 4,21)
sie ausgeteilt hatte – etwas, das sie selbst 1,10 Der Apostel ist nun bereit, das Pro-
nicht beeinflussen konnten. blem der »Spaltungen« in der Gemeinde

692
1. Korinther 1

aufzugreifen (1,10 – 4,21). Er beginnt mit die Einheit des Leibes »Christi«. Mensch-
einer liebevollen Ermahnung zur Einig- lichen Führern zu folgen bedeutete, den
keit. Statt in seiner Autorität als Apostel Einen zu beleidigen, der für sie ans
Befehle zu geben, bittet er mit der Kreuz gegangen war. Den Namen eines
Freundlichkeit eines Bruders. Die Auf- Menschen annehmen bedeutete, daß sie
forderung zur Einheit gründet auf dem die Taufe vergessen hatten, durch die sie
»Namen unseres Herrn Jesus Christus«, ihre Treue zu Jesus bezeugt hatten.
und weil der Name stellvertretend für 1,14 Die Entstehung von Parteiungen
die Person steht, basiert die Aufforde- in Korinth ließ Paulus dankbar sein, daß
rung auf allen Eigenschaften und Taten er nur einige wenige in der Gemeinde
des Herrn Jesus. Die Korinther priesen »getauft« hatte. Er nennt von seinen
die Namen von Menschen – das konnte Täuflingen »Krispus und Gajus«.
nur zu Spaltungen führen. Paulus möch- 1,15.16 Er wollte auf keinen Fall, daß
te statt dessen den Namen des Herrn »jemand sage«, Paulus habe ihn »auf«
Jesus erhöhen, weil er weiß, daß nur so seinen eigenen »Namen« getauft. Mit
Einheit im Volk Gottes entstehen kann. anderen Worten, er wollte niemanden zu
»Einerlei Rede führen« bedeutet »in sich bekehren oder sich selbst einen
demselben Sinn« und einmütig zu sein. Namen machen. Sein einziges Ziel war,
Es bedeutet, in Hingabe und Treue ver- Männer und Frauen auf den Herrn Jesus
eint zu sein. Diese Einheit entsteht, wenn Christus hinzuweisen.
Christen wie Christus gesinnt sind, und Als Paulus noch weiter nachdenkt,
in den folgenden Versen wird Paulus den fällt ihm ein, daß er auch noch »das Haus
Korinthern ganz praktisch sagen, wie sie des Stephanas getauft« habe, doch weiter
Christi Gedanken nach-denken können. »weiß« er keinen mehr, den er noch
1,11 Die Nachricht über die »Streitig- getauft haben könnte.
keiten« in Korinth wurde Paulus »durch 1,17 Er erklärt, daß »Christus« ihn in
die Hausgenossen der Chloe« übermit- erster Linie »nicht ausgesandt« habe »zu
telt. Indem Paulus seine Informations- taufen, sondern das Evangelium zu ver-
quellen nennt, legt er ein wichtiges Prin- künden«. Das kann nicht heißen, daß
zip christlichen Verhaltens dar. Wir soll- Paulus etwa nicht an die Taufe geglaubt
ten über unsere Mitgläubigen keinerlei habe. Er hat soeben seine Täuflinge ge-
Nachrichten verbreiten, es sei denn, daß nannt. Es geht hier mehr darum, daß
sie einverstanden sind, als Informations- Taufen nicht seine Hauptaufgabe war. Er
quelle genannt zu werden. Wenn man hat diese Aufgabe wohl anderen anver-
heute noch diesem Beispiel folgen wür- traut, wahrscheinlich einigen Christen
de, so wäre der meiste sinnlose Klatsch, der jeweiligen Ortsgemeinde. Zudem ist
der uns in den Gemeinden so viel Not dieser Vers ein Beweis gegen die Vorstel-
macht, im Keim erstickt. lung, daß die Taufe heilsnotwendig sei.
1,12 In der Ortsgemeinde bildeten Wenn diese Vorstellung wahr wäre, hätte
sich Sekten oder Parteien, die sich alle Paulus hier gesagt, daß er dankbar sei,
auf einen bestimmten Anführer beriefen. niemanden außer Gajus und Krispus
Einige bevorzugten »Paulus«, andere errettet zu haben. Doch solch eine Vor-
»Apollos« und wieder andere »Kephas« stellung ist unhaltbar.
(Petrus). Einige behaupteten sogar, Im zweiten Teil von Vers 17 leitet Pau-
»Christus« anzugehören, und meinten lus elegant auf die folgenden Verse über.
damit zweifellos, daß ausschließlich sie zu Er predigte das Evangelium nicht, indem
ihm gehörten. Damit schlossen sie jedoch er »Redeweisheit« benutzte, »damit
alle anderen aus! nicht das Kreuz Christi zunichte gemacht
1,13 Wir finden die entrüstete Straf- werde«. Er wußte, daß er, wenn er Men-
predigt gegen den Sektengeist in den schen durch seine Redegewandtheit oder
Versen 13-17. Wer solche Parteien inner- Rhetorik überzeugte, er sich in gleicher
halb der Gemeinde bildete, verleugnete Weise selbst widersprochen hätte, sobald

693
1. Korinther 1

er die echte Bedeutung des »Kreuzes ben an, und dann findet in ihrem Leben
Christi« erklärt hätte. das Wunder der Wiedergeburt statt. Man
1,18 Es wird uns zum Verständnis des beachte die folgenschwere Tatsache, die
folgenden Abschnittes helfen, wenn wir in diesem Vers erwähnt wird, daß es
uns daran erinnern, daß die Korinther als nämlich nur zweierlei Kategorien von
Griechen menschliche Weisheit sehr an- Menschen gibt, nämlich diejeningen, die
ziehend fanden. Sie sahen ihre Philoso- verloren gehen, und diejenigen, die erret-
phen als Volkshelden an. Etwas von die- tet werden. Es gibt keine Kategorie da-
sem Geist war zweifellos in die Gemein- zwischen. Die Menschen lieben ihre
de in Korinth eingedrungen. Es gab Mit- menschliche Weisheit, doch nur das
glieder, die versuchten, das Evangelium Evangelium führt zur Erlösung.
den Gebildeten annehmbarer zu ma- 1,19 Die Tatsache, daß das Evangeli-
chen. Sie waren der Ansicht, daß es unter um der menschlichen Weisheit ein An-
den Gelehrten nicht angesehen genug stoß sein würde, wurde schon von Jesaja
war, und deshalb wollten sie die Bot- prophezeit (Jes 29,14):
schaft intellektualisieren. Diese Anbe- Ich will die Weisheit der Weisen vernich-
tung des Intellektualismus war sicherlich ten und den Verstand der Verständigen will
einer der Gründe, der die Menschen ich verwerfen.
dazu führte, um menschliche Leiter her- S. Lewis Johnson merkt im Wycliff
um Parteien zu bilden. Der Versuch, das Bible Commentary an, daß diese Worte in
Evangelium annehmbarer zu machen, ihrem ursprünglichen Zusammenhang
wird immer fehlschlagen. Zwischen der »Gottes Brandmarkung der Politik der
Weisheit Gottes und der des Menschen ›Weisen‹ in Juda sind, die die Allianz mit
besteht ein gewaltiger Unterschied, und Ägypten suchten, als sie von Sanherib
2)
es bringt nichts, beide miteinander ver- bedroht wurden«. Wie wahr ist es doch,
söhnen zu wollen. daß Gott Freude daran hat, seine Pläne
Paulus zeigt nun, wie töricht es ist, auf Wegen zu erreichen, die den Men-
Menschen zu verehren, und betont, daß schen töricht erscheinen. Wie oft benutzt
es dem Wesen des Evangeliums wider- er Methoden, die die Weisen dieser Welt
spricht, wenn man so handelt (1,18-34). verlachen würden, und doch erreicht er
Der erste Punkt seiner Argumentation damit mit wundervoller Genauigkeit
lautet, daß die Botschaft vom Kreuz und Effektivität seine Ziele. So sagt dem
allem widerspricht, was Menschen für Menschen z. B. seine eigene Weisheit,
wahre Weisheit halten (1,18-25). daß er sich seine Erlösung verdienen
»Das Wort vom Kreuz ist denen, die könne. Doch das Evangelium setzt alle
verlorengehen, eine Torheit.« Wie Barnes Bemühungen des Menschen, sich selbst
es so treffend ausgedrückt hat: zu erretten beiseite und zeigt Christus als
Der Tod am Kreuz beinhaltet alle mögli- den einzigen Weg zu Gott.
chen schändlichen und unehrenhaften Vor- 1,20 Paulus richtet zunächst eine Her-
stellungen; und von Erlösung zu sprechen, ausforderung an die Korinther: »Wo ist
die nur durch die Leiden und den Tod eines ein Weiser? Wo ein Schriftgelehrter? Wo
Gekreuzigten zu erkaufen war, war nur ein Wortstreiter dieses Zeitalters?« Hat
geeignet, in ihren Herzen reinste Verachtung Gott etwa die Korinther um Rat gefragt,
1)
hervorzubringen. als er seinen Erlösungsplan entwarf?
Die Griechen liebten die Weisheit Hätten sie sich einen solchen Erlösungs-
(das ist die wörtliche Bedeutung des weg ausdenken können, wenn sie nur
Wortes »Philosoph«). Doch am Evangeli- auf ihre eigene Weisheit angewiesen ge-
um war nichts, das ihren Wissensstolz wesen wären? Können sie aufstehen und
angesprochen hätte. irgend etwas Lügen strafen, das Gott je
Für diejenigen, die »errettet werden«, gesagt hat? Die Antwort lautet ausdrück-
ist das Evangelium »Gottes Kraft«. Sie lich »Nein!« Gott hat »die Weisheit der
hören die Botschaft, nehmen sie im Glau- Welt zur Torheit gemacht«.

694
1. Korinther 1

1,21 Der Mensch kann aus eigener den wie Griechen« wird »Christus Gottes
»Weisheit« nicht zur Erkenntnis Gottes Kraft und Gottes Weisheit«.
gelangen. Lange Jahrhunderte hat Gott 1,25 In Wirklichkeit findet sich bei
den Menschen dazu die Gelegenheit Gott weder Torheit noch Schwäche. Der
gegeben, und sie scheiterten daran. Dann Apostel sagt in diesem Vers, daß das, was
»hat es Gott wohlgefallen«, die »Glau- an Gott für die Menschen scheinbar »tö-
benden« durch die Predigt vom Kreuz, richt« ist, in Wirklichkeit »weiser als die
einer Botschaft, die den Menschen töricht Menschen« in ihren besten Augenblicken
erscheint, »zu erretten«. Die Torheit des ist. Und was an Gott für die Menschen
Gepredigten bezieht sich auf das Kreuz. scheinbar »schwach« ist, erweist sich als
Natürlich wissen wir, daß diese Predigt »stärker« als alles, was »Menschen« je
nicht töricht ist, doch dem unerleuchte- erreichen können.
ten Verstand des Menschen erscheint sie 1,26 Nachdem der Apostel vom
so. Godet sagt, daß Vers 21 eine gesamte Evangelium selbst gesprochen hat, wen-
Geschichtsphilosophie beinhaltet, und det er sich nun den Menschen zu, die
zwar die Grundlage etlicher Bücher. Wir Gott durch das Evangelium beruft (V. 26-
sollten hier nicht zu schnell vorübereilen, 29). Er erinnert die Korinther, daß »es
sondern diese unermeßlichen Wahrhei- nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht
ten genauer bedenken. viele Mächtige, nicht viele Edle sind«, die
1,22 Für die »Juden« war es kenn- berufen sind. Es ist oft betont worden,
zeichnend, »Zeichen« zu »fordern«. Ihre daß dieser Text nicht sagt »keine« son-
Haltung war so, daß sie erst dann glau- dern »nicht viele«. Durch diesen Unter-
ben wollten, wenn sie ein Wunder sähen. schied konnte eine englische Adelige von
Die »Griechen« dagegen fragen nach sich sagen, sie sei durch den Buchstaben
»Weisheit«. Sie waren an menschlichen »M« gerettet worden, denn im Engli-
Argumenten, an Diskussionen und an schen heißt »keine« »not any« und »nicht
Logik interessiert. viele« »not many«.
1,23 Doch Paulus wollte weder die Die Korinther selbst stammten nicht
eine noch die andere Forderung erfüllen. aus der intellektuellen Oberschicht der
Er sagt: »Wir predigen Christus als ge- Gesellschaft. Sie waren durch die hoch-
kreuzigt.« Wie jemand einmal gesagt hat: trabenden Philosophien nicht erreicht
»Er war kein wundersüchtiger Jude noch worden, sondern durch das schlichte
ein nach Weisheit strebender Grieche, Evangelium. Warum legten sie also so
sondern ein den Herrn liebender Christ.« viel Wert auf menschliche Weisheit und
»Den Juden« war der gekreuzigte verehrten Prediger, die versuchten, die
Christus ein »Ärgernis«. Sie warteten Botschaft für den Weltweisen schmack-
auf einen mächtigen Militärführer, der haft zu machen?
sie von der römischen Unterdrückung Wenn Menschen die Kirche gründen
befreien würde. Statt dessen bot ihnen wollten, dann würden sie versuchen, die
das Evangelium einen Erlöser, der an prominentesten Bürger ihrer Stadt für sie
das Schandkreuz genagelt wurde. »Den zu gewinnen. Doch Vers 26 lehrt uns, daß
Nationen« war der gekreuzigte Christus Gott an denen vorbeigeht, die bei Men-
»eine Torheit«. Sie konnten nicht ver- schen so hoch angesehen sind. Diejeni-
stehen, wie jemand, der in solch offen- gen, die er beruft, sind normalerweise
sichtlicher Schwachheit gescheitert und nicht diejenigen, die die Welt für groß
gestorben war, ihre Probleme lösen hält.
sollte. 1,27 »Das Törichte der Welt hat Gott
1,24 Doch seltsamerweise finden sich auserwählt, damit er die Weisen zu-
gerade die Aspekte, die Juden und Grie- schanden mache; und das Schwache der
chen suchen, auf wunderbare Weise bei Welt hat Gott auserwählt, damit er das
unserem Herrn Jesus. Diejenigen, die sei- Starke zuschanden mache.« Wie Erich
nem Ruf folgen und ihm vertrauen, »Ju- Sauer sagt:

695
1. Korinther 1 und 2

Je primitiver das Material, desto größer – sung garantiert. Zweitens ist er unsere
wenn man die Maßstäbe der Kunst darauf »Gerechtigkeit«. Durch den Glauben an
anwenden kann – die Ehre des Meisters. Je ihn werden wir vom heiligen Gott ge-
kleiner die Armee, desto größer – wenn die recht gesprochen. Drittens ist Christus
Schlacht gewonnen wird – der Ruhm des unsere »Heiligkeit« oder »Heiligung«
3)
Eroberers. (ER Anm.). An uns ist natürlich nichts
Gott benutzte auch Trompeten, um Heiliges, doch in ihm sind wir von unse-
die Mauern Jerichos zum Einsturz zu rer Stellung her geheiligt, und durch sei-
bringen. Er verringerte Gideons Armee ne Macht werden wir immer mehr gehei-
von 32.000 auf 300 Mann, um die midia- ligt. Und schließlich ist er auch noch
nitischen Armeen zu vertreiben. Er be- unsere »Erlösung«, und das bezieht sich
nutzte einen Viehtreiberstock in der zweifellos auf die endgültige Erlösung,
Hand Schamgars, um die Philister zu be- wenn der Herr wiederkommen wird und
siegen. Mit einem Eselskinnbacken uns mit sich heimnimmt, damit wir bei
konnte Simson eine ganze Armee besie- ihm sein können – dann, wenn wir an
gen. Und unser Herr speiste über 5.000 Leib, Seele und Geist erlöst sein werden.
Menschen mit nur ein paar Broten und Traill hat diese Wahrheit scharf her-
Fischen. ausgearbeitet:
1,28 Um nun die »fünffache Armee Weisheit ohne Christus ist schreckliche
der Torheiten Gottes«, wie es jemand Torheit – Gerechtigkeit ohne Christus ist
genannt hat, zu vervollständigen, führt Schuld und Verdammnis – Heiligung ohne
Paulus noch »das Unedle der Welt und Christus ist Schmutz und Sünde – Erlösung
das Verachtete … das, was nicht ist« auf. ohne Christus ist Knechtschaft und Skla-
4)
Indem Gott solche ungeeigneten Mate- verei.
rialien verwendet, macht er »das Starke A. T. Pierson bringt diesen Vers mit
zuschanden«. Mit anderen Worten, es dem Leben und Dienst unseres Herrn in
gefällt ihm, Menschen aufzunehmen, die Verbindung:
von der Welt nicht geachtet werden, um Seine Taten, Worte und Handlungen
sich an ihnen selbst zu verherrlichen. bewiesen, daß er die Weisheit Gottes war.
Diese Verse sollten all denen eine Ermah- Dann kam sein Tod, sein Begräbnis und sei-
nung sein, die sich darin gefallen, das ne Auferstehung: diese haben mit unserer
Wohlwollen von Prominenten und be- Rechtfertigung zu tun. Danach wird der
kannten Persönlichkeiten zu erringen vierzigtägige Aufenthalt unter den Men-
und die eher bescheidenen Heiligen Got- schen, die Himmelfahrt, die Gabe des Geistes
tes nicht oder kaum zu beachten. und sein Thronen zur Rechten Gottes er-
1,29 Gottes Ziel, wenn er diejenigen wähnt, die mit unserer Heiligung zu tun
erwählt, die in der Welt keinerlei Bedeu- haben. Und dann geht es um die Wieder-
5)
tung haben, ist, daß alle Ehre ihm gege- kunft, die uns die Erlösung bringen wird.
ben wird, und nicht den Menschen. Weil 1,31 Gott hat es so eingerichtet, daß
die Erlösung ganz von ihm abhängt, ist wir allen Segen in dem »Herrn« erhalten.
nur er es wert, gelobt zu werden. Paulus argumentiert deshalb folgender-
1,30 Vers 30 betont noch weiter, daß maßen: »Warum sollten wir Menschen
alles, was wir sind und haben, von Gott verehren? Sie können nichts dergleichen
kommt – und nicht durch Philosophie, für euch tun.«
und daß es deshalb keinen Platz für 2,1 Der Apostel erinnert nun die Hei-
menschliches Rühmen gibt. Als erstes ligen an seinen Dienst bei ihnen, und wie
wurde Christus uns zur »Weisheit«. Er ist er danach strebte, Gott zu verherrlichen
die Weisheit Gottes (V. 24), der Eine, den und nicht sich selbst. Er kam zu ihnen
Gottes Weisheit als Weg zur Erlösung und verkündigte »das Geheimnis Got-
auserwählt hat. Wenn wir ihn haben, tes«, nicht »mit Vortrefflichkeit der Rede
haben wir eine stellungsgemäße Weis- oder Weisheit«. Er war keinesfalls daran
heit, die uns unsere vollkommene Erlö- interessiert, sich einen Ruf als Redner

696
1. Korinther 2

oder Philosoph zu schaffen. Das zeigt, war sich bewußt, daß er selbst nicht seg-
daß der Apostel Paulus einen Unter- nen oder retten konnte, und beschloß,
schied zwischen seelischem und geistli- daß er die Menschen dazu führen wollte,
chem Dienst gesehen hat. Mit seelischem nur auf Gott zu vertrauen, statt »auf
Dienst meinen wir den, der zerstreut, Menschenweisheit«. Alle, die das Evan-
unterhält oder sonstwie die Gefühle der gelium verkündigen oder das Wort Got-
Menschen anspricht. Geistlicher Dienst tes weitergeben, sollten dies zu ihrem
dagegen zeigt die Wahrheit des Wortes wichtigsten Ziel erklären.
Gottes, so daß Christus verherrlicht 2,6 In erster Linie ist die »Weisheit«
wird, und das Herz und Gewissen der des Evangeliums göttlichen Ursprungs
Zuhörer erreicht wird. (V. 6.7). »Wir reden aber Weisheit unter
2,2 Der Inhalt der Botschaft des Pau- den Vollkommenen« oder Erwachsenen.
lus war: »Jesus Christus, und« er »als Doch handelt es sich nicht um die »Weis-
gekreuzigt«. »Jesus Christus« bezeichnet heit dieses Zeitalters«. Auch wird es in
die Person, während »als gekreuzigt« auf den Augen »der Fürsten dieses Zeital-
sein Werk verweist. Die Person und das ters« keine Weisheit sein. Ihre Weisheit
Werk des Herrn Jesus sind die Grundla- ist vergänglich und besteht wie sie selbst
ge des christlichen Evangeliums. nur für kurze Zeit.
2,3 Paulus betont weiter, daß seine 2,7 »Wir reden Gottes Weisheit in
persönliche Erscheinung weder beein- einem Geheimnis.« Ein »Geheimnis« ist
druckend noch anziehend war. Er lebte im NT eine Wahrheit, die bisher noch
»in Schwachheit und mit Furcht und in nicht offenbart wurde, doch nun den
vielem Zittern« bei den Christen. Der Gläubigen durch die Apostel und Pro-
Schatz des Evangeliums lag in einem pheten der Frühzeit der Kirche bekannt
irdenen Gefäß verborgen, damit die her- gemacht wird. Dieses Geheimnis ist »die
vorragende Kraft »auf Gottes Kraft beru- verborgene« Weisheit, »die Gott vorher-
he« und nicht auf der des Paulus. Er bestimmt hat, vor den Zeitaltern, zu
selbst war ein Beispiel dafür, wie Gott unserer Herrlichkeit«. Das Geheimnis
Schwaches gebraucht, um die Mächtigen des Evangeliums umfaßt solche wunder-
zu verwirren. baren Wahrheiten wie die Tatsache, daß
2,4 Weder die »Rede« des Paulus jetzt Juden und Heiden in Christus eins
noch seine »Predigt« bestand in »überre- gemacht sind, daß der Herr Jesus wie-
denden Worten der Weisheit, sondern in derkommen und sein wartendes Volk
Erweisung des Geistes und der Kraft«. heimholen wird, damit sie bei ihm sind,
Einige Ausleger sind der Ansicht, daß und daß nicht alle Gläubigen sterben
»Rede« sich auf die Inhalte bezieht, die werden, aber alle verwandelt werden.
Paulus vermittelte, und daß mit »Pre- 2,8 Die »Fürsten dieser Welt« könnten
digt« die Darstellungsweise der Inhalte dämonische Geistwesen in den Himmeln
gemeint ist. Andere definieren »Rede« sein, oder ihre menschlichen Werkzeuge
als Zeugnis gegenüber Einzelnen und auf Erden. Sie verstehen weder die ver-
»Predigt« als Botschaften an größere borgene Weisheit Gottes (Christus am
Gruppen. Nach den Maßstäben dieser Kreuz), noch erkennen sie, daß ihr Mord
Welt hätte Paulus niemals einen Redner- am Sohn Gottes zu ihrer eigenen Nieder-
wettbewerb gewonnen. Trotzdem be- lage beitrug. »Wenn sie« die Wege Gottes
nutzte der »Geist« Gottes die Predigten, »erkannt hätten, so würden sie wohl den
um Menschen von der Sünde zu über- Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt
führen und sie zur Umkehr zu Gott zu haben«.
führen. 2,9 In den Versen 9-16 werden die
2,5 Paulus wußte, daß immer große Prozesse der Offenbarung, Inspiration
Gefahr bestand, daß seine Zuhörer an und Erleuchtung beschrieben. Sie erklä-
ihm selbst und seiner Person interessiert ren uns, wie diese wundervollen Wahr-
waren, statt an dem lebendigen Herrn. Er heiten den Aposteln durch den Heiligen

697
1. Korinther 2

Geist bekannt gemacht wurden, wie die erforscht, auch die Tiefen Gottes«. Mit
Apostel uns diese Wahrheiten durch die anderen Worten, der Geist Gottes, ein
Inspiration mit dem Heiligen Geist wei- Teil der Gottheit, hat unbegrenzte Weis-
tergegeben haben, und wie wir sie durch heit, versteht alle Wahrheiten Gottes und
die Erleuchtung durch den Heiligen kann sie auch anderen vermitteln.
Geist verstehen können. 2,11 Sogar im menschlichen Bereich
Das Zitat in Vers 9 aus Jesaja 64,4 ist kann niemand wissen, was der
die Prophezeiung, daß Gott wundervolle »Mensch« denkt. Niemand kann es her-
Wahrheiten vorbereitet hatte, die nicht ausfinden, es sei denn, der Betreffende
durch die natürlichen Sinne entdeckt möchte es bekannt machen. Und auch
werden können, die er jedoch zur rechten dann, um einen anderen Menschen zu
Zeit denen offenbaren werde, »die ihn verstehen, müssen wir den »Geist« eines
lieben«. Es werden drei Mittel aufge- »Menschen« haben. Ein Tier könnte
führt, mit denen wir Irdisches lernen unser Denken nicht vollständig verste-
können (nämlich »Auge«, »Ohr« und hen. Und genauso ist es mit Gott. Der
»Herz« (oder Wille)), doch reichen diese einzige, der die Geheimnisse Gottes ver-
nicht aus, um göttliche Wahrheiten er- stehen kann ist der »Geist Gottes«.
kennen zu können, weil dafür der Geist 2,12 Das Wort »wir« in Vers 12 bezieht
Gottes notwendig ist. sich auf die Verfasser des NT, obwohl das
Dieser Vers wird normalerweise so genauso für alle Verfasser der Bibel gilt.
interpretiert, daß er sich auf die Herrlich- Weil die Apostel und Propheten den Hei-
keit des Himmels bezieht, und sobald ligen Geist erhalten hatten, konnte er sie
wir diese Bedeutung einmal verinner- in die tiefgründigsten Wahrheiten Gottes
licht haben, ist es schwer, sie wieder aus einführen. Das meint der Apostel, wenn
unserem Verstand herauszubekommen er in diesem Vers sagt: »Wir aber haben
und eine andere Bedeutung zu akzeptie- nicht den Geist der Welt empfangen, son-
ren. Doch Paulus spricht hier von den dern den Geist, der aus Gott ist, damit
Wahrheiten, die zum ersten Mal im NT wir die Dinge kennen, die uns von Gott
offenbart worden sind. Menschen hätten geschenkt sind.« Ohne »den Geist, der
diese Wahrheiten niemals durch wissen- aus Gott ist«, hätten die Apostel niemals
schaftliches Forschen oder durch philo- die geistlichen Wahrheiten empfangen,
sophische Untersuchungen herausfin- von denen Paulus spricht, und die uns
den können. Der menschliche Geist hätte im NT überliefert sind.
diese wundervollen Geheimnisse nie- 2,13 Nachdem Paulus den Prozeß der
mals entdecken können, die uns zu Be- Offenbarung beschrieben hat, durch den
ginn des Zeitalters des Evangeliums ge- die Autoren der Heiligen Schrift die
geben wurden, wenn er nur auf sich Wahrheit von Gott empfangen haben,
selbst angewiesen gewesen wäre. fährt er nun damit fort, den Vorgang der
Menschliche Vernunft ist völlig unzurei- Inspiration zu beschreiben, durch den
chend, um die Wahrheiten Gottes zu er- uns die Wahrheit geschenkt worden ist.
kennen. Vers 13 ist einer der wichtigsten Verse
2,10 Daß Vers 9 sich nicht auf den zum Thema Verbalinspiration im gesam-
Himmel bezieht, wurde durch die Fest- ten Wort Gottes. Der Apostel Paulus
stellung bewiesen, daß »Gott es« uns stellt hier eindeutig fest, daß die Apostel,
»durch den Geist … geoffenbart« hat. Mit als sie uns die göttlichen Wahrheiten
anderen Worten, diese Wahrheiten, die übermittelten, nicht eigene »Worte« be-
uns das AT vorhergesagt hat, wurden nutzten oder solche, die »durch mensch-
den Aposteln im Zeitalter des NT offen- liche Weisheit« beeinflußt waren, son-
bart. Das Wort »uns« bezieht sich auf die dern die Worte, die der »Geist« ihnen
Verfasser des NT. Durch den »Geist« eingab. Und wir glauben, daß jedes ein-
Gottes wurden die Apostel und Prophe- zelne Wort der Schrift, wie es sich in den
ten erleuchtet, weil »der Geist … alles … Originalhandschriften fand, Gottes Wort

698
1. Korinther 2

ist (und daß die Bibel in ihrer heutigen 2,14 Aber das Evangelium ist nicht
Form vollkommen vertrauenswürdig nur göttlich in seiner Offenbarung und
ist). Inspiration, sondern wir erfahren hier,
An diesem Punkt erhebt sich ein Auf- daß es auch nur durch die Macht des
schrei, weil einige meinen, daß man mit »Geistes Gottes« angenommen werden
der eben dargestellten Auffassung nur kann. Wenn der Heilige Geist nicht hilft,
meinen kann, daß die Autoren der Bibel so »nimmt … ein natürlicher Mensch
einem mechanischen Diktat unterworfen aber … nicht an, was des Geistes Gottes
gewesen seien, als ob Gott den Verfas- ist, denn es ist ihm eine Torheit«. Er kann
sern nicht gestattet habe, ihren eigenen diese Worte überhaupt nicht verstehen,
Stil zu benutzen. Und doch wissen wir, weil sie nur »geistlich« zu verstehen
daß der Schreibstil z. B. des Paulus sich sind.
völlig von dem des Lukas unterscheidet. Vance Hafner rät in seiner lebendigen
Wie können wir dann eine Verbalinspira- Art:
tion mit den individuellen Schreibstilen Der weise Christ verschwendet keine Zeit
der einzelnen Verfasser vereinbaren? Auf bei dem Versuch, Gottes Plan den nicht wie-
eine Weise, die wir nicht völlig verstehen dergeborenen Menschen zu erklären, weil das
können, gab Gott die Worte der Schrift, hieße, Perlen vor die Säue zu werfen. Er
und doch kleidete er diese Worte in den könnte genausogut versuchen, einem Blin-
individuellen Stil der Verfasser, indem er den einen Sonnenuntergang zu beschreiben
der menschlichen Person Anteil an sei- oder mit einem Denkmal im Park über
nem vollkommenen Wort schenkte. Atomphysik zu diskutieren. Der natürliche
Der Ausdruck »Geistliches durch Mensch kann so etwas nicht verstehen. Man
Geistliches deuten« kann auf verschiede- könnte genausogut versuchen, Sonnenstrah-
ne Weise gedeutet werden. Erstens kann len mit einer Angel zu fangen, wie Gottes
er bedeuten, daß geistliche Wahrheiten Offenbarung ohne die Hilfe des Heiligen Gei-
mit geistgegebenen Worten gelehrt wur- stes zu verstehen. Wenn jemand nicht durch
den, zweitens, daß geistliche Wahrheiten den Geist wiedergeboren und gelehrt ist, so
an geistliche Menschen weitergegeben ist ihm dies alles ausgesprochen fremd. Ein
wurden und drittens, daß geistliche Doktortitel nützt einem gar nichts, denn es
Wahrheiten in einem Abschnitt der Bibel könnte sein, daß man in dieser Hinsicht
6)
mit solchen in anderen Abschnitten ver- »Doktor der Dummheit« wird.
glichen werden. Wir sind der Auffas- 2,15 Andererseits kann derjenige, der
sung, daß die erste Erklärung am besten durch den Geist Gottes erleuchtet ist, die-
zum Zusammenhang paßt (sie wird auch se wunderbaren Wahrheiten erforschen,
durch Elb nahegelegt, Anm. d. Übers.). auch wenn »er selbst« von den Unbe-
Paulus sagt hier, daß der Vorgang der kehrten nicht richtig »beurteilt« werden
Inspiration beinhaltet, daß geistliche kann. Vielleicht ist er Zimmermann,
Wahrheit in Worte gekleidet wird, die für Klempner oder Fischer, und doch ist er
diesen Zweck vom Heiligen Geist beson- ein fähiger Bibelausleger. »Der vom Geist
ders ausgewählt wurden. So können wir geführte Christ untersucht die Bibel,
mit Recht umschreiben: »Wir vermitteln stellt ihr Fragen und prüft sie und erhält
geistliche Wahrheiten mit geistlichen Verständnis für sie und Freude an ihrem
7)
Worten.« Inhalt.« Der Welt mag er ein Rätsel sein.
Manchmal wird eingewandt, daß die- Er mag niemals eine Universität oder
ser Abschnitt sich nicht auf die Inspirati- Hochschule besucht haben, und doch
on beziehen könne, weil Paulus hier vom kann er die tiefen Geheimnisse des Wor-
»reden« spricht und nicht vom »schrei- tes Gottes verstehen und sie vielleicht
ben«. Doch es ist nicht ungewöhnlich, sogar anderen weitergeben.
daß das Wort »reden« für inspirierte 2,16 Der Apostel stellt nun mit Jesaja
Schriften verwendet wird (z. B. Joh 12,38. die rhetorische Frage: »Wer hat den Sinn
41; Apg 28,25; 2. Petr 1,21). des Herrn erkannt, daß er ihn unterwei-

699
1. Korinther 2 und 3

sen könnte?« Wenn wir diese Frage so »Eifersucht und Streit« unter ihnen gab.
stellen, haben wir sie auch schon beant- Solches Verhalten ist charakteristisch für
wortet. Es steht weder in der Macht des Weltmenschen, aber nicht für diejenigen,
Menschen, noch ist menschliche Weisheit die sich vom Geist Gottes leiten lassen.
so groß, daß er Gott erkennen könnte. 3,4 Indem die Korinther um mensch-
Gott ist nur denen bekannt, denen er sich liche Leiter herum Parteien bildeten,
bekannt machen will. Doch diejenigen, etwa um »Paulus« oder »Apollos«, han-
die »Christi Sinn« haben, sind in der delten sie rein menschlich. Das meint
Lage, die tiefsten Wahrheiten Gottes zu Paulus wenn er fragt: »Benehmt ihr euch
verstehen. nicht einfach menschlich?«
Um nochmal zu wiederholen: Zu- Bis zu diesem Punkt hat der Apostel
nächst ging es um die Offenbarung (V. 9- Paulus gezeigt, wie töricht es ist, Men-
12), das bedeutet, daß Gott bisher unbe- schen zu verehren, indem er das wahre
kannte Wahrheiten den Menschen durch Wesen des Evangeliums aufgezeigt hat.
den Heiligen Geist offenbart hat. Diese Nun wendet er sich dem Thema »christ-
Wahrheiten wurden durch den Geist licher Dienst« zu und zeigt auch von die-
Gottes auf übernatürliche Weise bekannt sem Standpunkt, wie ausgesprochen
gemacht. dumm es ist, religiöse Führer zu vereh-
Zweitens gibt es noch die Inspiration ren, indem man Gruppen um sie herum
(V. 13). Als die Apostel (und alle anderen gründet.
Verfasser der Bibel) diese Wahrheiten 3,5 »Apollos« und »Paulus« waren
weitergaben, verwendeten sie genau die »Diener, durch die« sie an den Herrn
Worte, die der Heilige Geist ihnen ein- Jesus »gläubig geworden« waren. Sie
gab. waren einfach nur ausführende Organe
Schließlich gibt es noch die Erleuch- und nicht die Köpfe sich bekämpfender
tung (V. 14-16). Diese Wahrheiten muß- Schulen. Wie töricht wäre es doch von
ten nicht nur durch ein Wunder offenbart den Korinthern, Diener in den Rang von
und inspiriert werden, sondern können Herren zu erheben. Ironside kommen-
auch nur durch die übernatürliche Macht tiert recht hübsch: »Man stelle sich nur
des Heiligen Geistes verstanden werden. einen Haushalt vor, in dem wegen der
3,1 Als Paulus das erste Mal Korinth Dienerschaft Streit herrscht!«
besuchte, hatte er die Gläubigen mit der 3,6 Indem Paulus nun ein Bild aus der
grundlegenden Milch des Wortes er- Landwirtschaft benutzt, zeigt er, daß der
nährt, weil sie noch schwach und jung im Diener in seinem Handeln doch sehr
Glauben waren. Die Lehren, die er ihnen beschränkt ist. Paulus selbst konnte
gegeben hatte, entsprachen ihrem Zu- pflanzen und »Apollos« konnte begie-
stand. Sie konnten noch keine tiefgehen- ßen, doch nur Gott kann »das Wachs-
den geistlichen Lehren empfangen, weil tum« geben. So können auch heute eini-
sie noch neu im Glauben waren. Sie ge von uns das Wort predigen, und wir
waren »Unmündige in Christus«. alle können für unerrettete Verwandte
3,2 Paulus hatte sie nur die elementa- und Freunde beten, doch das eigentliche
ren Wahrheiten über Christus gelehrt, Erlösungswerk kann nur durch den
die er hier »Milch« nennt. Sie waren Herrn getan werden.
wegen ihrer Unreife nicht in der Lage, 3,7 Wenn wir die Angelegenheit von
»feste Speise« zu sich zu nehmen. Im diesem Standpunkt aus betrachten, dann
gleichen Sinne sagt der Herr Jesus zu sei- können wir ganz schnell einsehen, daß
nen Jüngern: »Noch vieles habe ich euch der Pflanzer und der Begießer beide rela-
zu sagen, aber ihr könnt es jetzt nicht tra- tiv unwichtig sind. Sie haben nicht die
gen« (Joh 16,12). Macht, Leben hervorzubringen. Warum
3,3 Die Gläubigen waren »noch« sollte es dann Neid und Rivalität unter
immer in einem »fleischlichen« Zustand. christlichen Mitarbeitern geben? Jeder
Das zeigte sich in der Tatsache, daß es sollte die Arbeit tun, die ihm aufgetragen

700
1. Korinther 3

ist, und sich freuen, wenn der Herr sei- braucht man kein weiteres. Der Apostel
nen Segen dazu gibt. Paulus hatte das Fundament für die
3,8 »Der aber pflanzt und der begießt, Gemeinde in Korinth gelegt. Dieser
sind eins« in dem Sinne, daß sie beide »Grund« war »Jesus Christus«, seine Per-
dasselbe Ziel haben. Sie sollten nicht son und sein Werk.
eifersüchtig aufeinander sein. Und 3,12 Die daran anschließende Lehre
soweit es ihren Dienst betrifft, so haben in einer Ortsgemeinde kann unterschied-
sie die gleiche Stellung. Eines Tages lichen Wert haben. So gibt es einige Leh-
»wird … jeder aber … seinen eigenen ren von bleibendem Wert, und die kann
Lohn empfangen nach seiner eigenen man mit »Gold, Silber« und »kostbaren
Arbeit«. Das ist der Tag des Richterstuh- Steinen« vergleichen. Hier bezieht sich
les Christi. »kostbare Steine« wahrscheinlich nicht
3,9 Gott ist der Eine, dem wir alle ver- auf Diamanten, Rubine und andere Edel-
antwortlich sind. Alle seine Diener sind steine, sondern auf Granit, Marmor und
»Mitarbeiter«, die gemeinsam auf »Got- Alabaster, die beim Bau kostbarer Tem-
tes Ackerfeld« arbeiten, oder, um ein an- pel verwendet wurden. Andererseits
deres Bild zu benutzen, sie arbeiten am kann die Lehre in einer Gemeinde von
gleichen »Bau« zusammen. Erdmann vergänglichem oder sogar keinem Wert
gibt den Gedanken folgendermaßen wie- sein. Solch eine Lehre wird hier mit
der: »Wir sind Mitarbeiter, die Gott ge- »Holz, Heu, Stroh« verglichen.
hören und miteinander an einem Projekt Dieser Schriftabschnitt wird norma-
8)
arbeiten.« lerweise allgemein auf das Leben aller
3,10 Der Apostel fährt nun mit der christlichen Gläubigen angewendet. Es
Vorstellung vom Gebäude fort und er- stimmt, daß wir alle Tag für Tag bauen,
kennt zunächst einmal an, daß alles, was und die Ergebnisse dieser Mühe werden
er bisher erreicht hat, nur durch die eines Tages offenbart werden. Dennoch
»Gnade Gottes« geschehen konnte. Da- sollte der sorgfältige Ausleger festhalten,
mit meint er die unverdiente Fähigkeit daß es hier nicht in erster Linie um alle
von Gott, das Werk eines Apostels zu tun. Gläubigen geht, sondern um Prediger
Dann beschreibt er seine Aufgabe bei der und Lehrer.
Gründung der Gemeinde in Korinth: 3,13 Eines Tages »wird das Werk
Hier hat er »als ein weiser Baumeister eines jeden offenbar werden«. »Tag« be-
den Grund gelegt«. Er kam nach Korinth zieht sich hier auf den Richterstuhl Chri-
und predigte den gekreuzigten Christus. sti, an dem aller Dienst für den Herrn
Menschen wurden gerettet, und so konn- beurteilt werden wird. Der Vorgang der
te er eine Ortsgemeinde gründen. Dann Beurteilung wird hier mit der Wirkung
fügt er hinzu: »Ein anderer aber baut dar- des Feuers verglichen. Der Dienst, der
auf.« Damit bezieht er sich sicherlich auf Gott Ehre gebracht hat und ein Segen für
andere Lehrer, die später Korinth besucht Menschen war, wird wie Gold, Silber
haben, und auf dem Fundament aufbau- und kostbare Steine nicht vom Feuer an-
ten, das schon gelegt worden war. Doch gegriffen werden. Andererseits wird der
der Apostel warnt: »Jeder aber sehe zu, Dienst, der unter dem Volk Gottes Pro-
wie er darauf baut.« Er meint, daß es eine bleme entstehen läßt oder es nicht er-
ernstzunehmende Aufgabe ist, in einer baut, verzehrt werden. »Und wie das
Ortsgemeinde den Lehrdienst zu verse- Werk eines jeden beschaffen ist, wird das
hen. Einige waren mit spalterischen Leh- Feuer erweisen.«
ren und Ansichten, die dem Wort Gottes 3,14 Es gibt drei Arten von Gemein-
entgegenstanden, nach Korinth gekom- dearbeit. In Vers 14 wird die erste Art
men. Paulus war sich dessen zweifellos genannt – Dienst, der zum Segen wird.
bewußt, als er diese Worte schrieb. In solch einem Fall wird das Lebenswerk
3,11 Man braucht nur ein Fundament des Dieners die Probe vor dem Richter-
für ein Gebäude. Sobald es gelegt ist, stuhl Christi bestehen und »bleiben«.

701
1. Korinther 3

Der Arbeiter wird dann »Lohn empfan- Gemeinde als eine Gemeinschaft von
gen«. vielen, und wünscht, daß sie die heilige
3,15 Die zweite Art der Gemeindear- Würde einer solchen Berufung erkennen.
beit ist nutzlos. In diesem Fall wird der 3,17 Eine dritte Art des Werkes gibt es
Diener »Schaden leiden«, obwohl »er noch in der Ortsgemeinde, das man als
selbst … gerettet werden« wird. E. W. äußerst zerstörerisch bezeichnen kann.
Rogers betont: »›Schaden‹ bedeutet hier Offensichtlich gab es Irrlehrer, die in die
nicht, daß etwas, das man schon besessen Gemeinde zu Korinth gekommen waren
9)
hat, verwirkt wird.« Aus diesem Vers und deren Lehre eher zur Sünde als zur
sollte deutlich geworden sein, daß es Heiligung führte. Sie fanden es nicht
beim Richterstuhl Christi nicht mehr um schlimm, solch eine Zerstörung im Tem-
die Sünden des Gläubigen und ihre pel Gottes anzurichten, deshalb schleu-
Bestrafung geht. Die Strafe für die Sünden dert Paulus ihnen diese folgenschwere
des Gläubigen wurde von dem Herrn Erklärung entgegen: »Wenn jemand den
Jesus Christus am Kreuz von Golgatha Tempel Gottes verdirbt, den wird Gott
getragen, und diese Angelegenheit ist ein verderben.« Wenn wir es auf dem Hin-
für allemal erledigt. Deshalb wird die tergrund der Ortsgemeinde betrachten,
Errettung des Gläubigen hier beim Rich- so bedeutet das, wenn ein Mann in eine
terstuhl Christi keinesfalls in Frage ge- Gemeinde kommt und ihr Zeugnis un-
stellt, sondern es geht hier um den Dienst. möglich macht, so wird »Gott« ihn »ver-
Durch den Fehler, hier nicht zwischen derben«. Der Abschnitt spricht von Irr-
Erlösung und Lohn zu unterscheiden, lehrern, die keine echten Gläubigen an
hat die katholische Kirche diesen Vers den Herrn Jesus sind. Wie folgenschwer
verwendet, um ihre Lehre vom Fegefeu- ein solches Vergehen ist, zeigt sich durch
er zu untermauern. Doch eine sorgfältige die Schlußworte von Vers 17: »Der Tem-
Untersuchung des Verses zeigt, daß hier pel Gottes ist heilig, und der seid ihr.«
so etwas wie ein Fegefeuer überhaupt 3,18 Im christlichen Dienst gibt es,
nicht erwähnt wird. Es gibt hier keine wie immer im christlichen Leben, die
Andeutung, daß das Feuer das Wesen Gefahr des Selbstbetrugs. Vielleicht
eines Menschen reinigen könnte. Son- meinten einige derer, die nach Korinth
dern das Feuer erprobt den Dienst oder als Lehrer gekommen waren, daß sie
die Arbeit eines Menschen, und stellt überragende Weisheit besäßen. Jeder, der
fest, welche Qualität sie hatte. Der eine übertriebene Vorstellung seiner
Mensch wird auch gerettet, wenn seine weltlichen Weisheit hat, muß lernen, daß
Werke vom Feuer verzehrt werden. er in den Augen der Welt zum Narren
Ein interessanter Gedanke im Zusam- werden muß, damit er in Gottes Augen
menhang mit diesem Vers ist, daß das »weise werden« kann. Godet liefert an
Wort Gottes manchmal mit dem Feuer diesem Punkt eine sehr hilfreiche Um-
verglichen wird (s. Jes 5,34 und Jer 23,29). schreibung:
Dasselbe Wort Gottes, das unseren Wenn irgend jemand, ob Korinther oder
Dienst beim Richterstuhl Christi beur- nicht, sich die Rolle des Weisen oder den Ruf
teilt, haben wir auch heute schon zur Ver- einen tiefen Denkers anmaßt, dann soll er
fügung. Wenn wir entsprechend der Leh- sicher sein, daß er keine echte Weisheit erlan-
ren der Bibel bauen, dann wird unser gen wird, bis er durch eine Krise geht, in der
Werk an jenem Tag die Probe bestehen. die Weisheit, mit der er aufgeblasen ist, ver-
3,16 Paulus erinnert die Gläubigen, schwindet und nachdem er nur noch die
10)
daß sie »Tempel (gr., das innere oder Weisheit erhält, die von oben ist.
höchste Heiligtum) Gottes« sind »und 3,19 »Die Weisheit dieser Welt ist Tor-
der Geist Gottes in« ihnen »wohnt«. Es heit bei Gott.« Der Mensch könnte durch
stimmt auch, daß der Geist in jedem ein- Forschen Gott niemals finden, auch hätte
zelnen Gläubigen wohnt, doch daran menschliche Weisheit nie einen Erlö-
denkt Paulus hier gar nicht. Er sieht die sungsplan erdenken können, in dem

702
1. Korinther 3 und 4

Gott Mensch wird, um für schuldige, die Seele in den Himmel führt. »Gegen-
böse und rebellische Sünder zu sterben. wärtiges oder Zukünftiges: alles ist«
Hiob 5,13 wird hier in Vers 19 zitiert um ebenfalls unser. Es hat jemand einmal
zu zeigen, daß Gott über die angebliche treffend gesagt, daß alle Dinge dem die-
Weisheit triumphiert, um seine Vorhaben nen, der Christus dient. A. T. Robertson
zum Ziel zu bringen. Der Mensch mit all hat einmal gesagt: »Die Sterne in ihren
seiner Gelehrtheit kann die Pläne des Bahnen kämpfen für den, der Gott bei
Herrn nicht zum Scheitern bringen, statt der Erlösung der Welt mithilft.«
dessen zeigt Gott den Menschen oft, daß 3,23 Alle Christen gehören Christus.
sie trotz ihrer Weltklugheit ausgespro- Einige in Korinth behaupteten, ihm zu
chen arm und machtlos sind. gehören, und schlossen damit alle ande-
3,20 Psalm 94,11 wird hier zitiert, um ren aus. Sie waren die »Christus-Partei«.
zu unterstreichen, daß »der Herr … die Doch Paulus widerlegt eine solche Vor-
Überlegungen der Weisen« dieser Welt stellung. Wir alle sind »Christi, Christus
»kennt«, und daß er auch weiß, daß sie aber ist Gottes«. Indem Paulus den Heili-
»nichtig«, leer und fruchtlos sind. Doch gen ihre wahre und rechtmäßige Würde
warum macht sich Paulus solche Mühe, zeigt, enthüllt Paulus mutig die Torheit,
die Weisheit der Welt so in Mißkredit zu Sekten und Parteien in der Gemeinde zu
bringen? Aus einem ganz einfachen bilden.
Grund: Die Korinther legten sehr viel 4,1 Damit die Korinther in der Lage
Wert auf solche Weisheit und folgten sol- wären, Paulus und die anderen Apostel
chen Führern, die sie auf besondere Wei- recht einzuschätzen, sagt er, daß die Hei-
se zu besitzen schienen. ligen sie als »Diener« oder Mitarbeiter
3,21 Angesichts alles bisher gesagten »Christi und Verwalter der Geheimnisse
sollte sich »niemand im Blick auf Men- Gottes« betrachten sollten. Ein Verwalter
schen« rühmen. Und soweit es um echte ist ein Diener, der für die Person oder das
Diener des Herrn geht, sollten wir uns Vermögen eines anderen sorgt. Die »Ge-
nicht rühmen, daß wir zu ihnen gehören, heimnisse Gottes« sind Geheimnisse, die
sondern erkennen, daß sie alle zu uns vorher verborgen waren, die Gott jetzt
gehören. »Alles ist euer.« den Aposteln und Propheten des NT
3,22 Jemand hat Vers 22 einmal eine offenbart hat.
»Inventarliste des Besitzes des Kindes 4,2 Die wichtigste Eigenschaft eines
Gottes« genannt. Uns gehören die christ- »Verwalters« ist, »treu erfunden« zu wer-
lichen Mitarbeiter, ob es »Paulus« der den. Menschen schätzen Klugheit, Weis-
Evangelist sei, oder »Apollos« der Leh- heit, Reichtum und Erfolg, doch Gott
rer, oder »Kephas« der Hirte. Weil sie alle sucht Menschen, die Jesus in allem treu
zu uns gehören, ist es töricht, sie für uns sind.
zu beanspruchen, weil wir jeden von 4,3 Die Treue, die von Verwaltern ver-
ihnen besitzen. Auch die »Welt« gehört langt wird, ist von anderen Menschen
uns. Als Miterben Christi werden wir sie nur schwer zu beurteilen. Deshalb sagt
eines Tages in Besitz nehmen, und in der Paulus hier, daß es für ihn »das Geringste
Zwischenzeit gehört sie uns durch gött- ist«, wenn er von den Korinthern »oder
liche Verheißung. Diejenigen, die sich von einem menschlichen Gerichtstag be-
um die Welt kümmern, wissen nicht, daß urteilt« werde. Paulus erkennt, wie aus-
sie es für uns tun. Dann gehört uns das gesprochen unfähig der Mensch ist, eine
»Leben«. Damit ist nicht nur die Existenz gerechte Beurteilung treuer Hingabe an
auf Erden gemeint, sondern Leben in sei- Gott abzugeben. Er fügt hinzu: »Ich be-
nem wahrsten, vollsten Sinne. Und der urteile mich aber auch selbst nicht.« Er
»Tod« gehört uns. Für uns ist er nicht erkannte, daß er selbst als Mensch gebo-
länger ein gefürchteter Feind, der die ren war, und daß er deshalb nur zu ge-
Seele in undurchdringlicher Finsternis neigt war, zu seinen eigenen Gunsten zu
hält, sondern er ist ein Bote Gottes, der urteilen.

703
1. Korinther 4

4,4 Wenn der Apostel sagt: »Ich bin und »Apollos« als Beispiele hinstellt. Die
mir selbst nichts bewußt«, dann meint er Korinther haben nicht nur um Paulus
damit im christlichen Dienst. Er kann und Apollos Cliquen gebildet, sondern
sich an keine Untreue erinnern, die man auch um andere Männer, die in ihrer
gegen ihn vorbringen könnte. Er glaubt Gemeinde waren. Doch aus Taktgefühl
nicht einen Moment lang, daß er von kei- und christlicher Höflichkeit hat Paulus
ner Sünde in seinem Leben wüßte oder die gesamte Angelegenheit auf sich und
von keiner Weise, wie er nicht vollkom- »Apollos bezogen«, damit die Heiligen
men sein könnte. Der Abschnitt sollte in an ihrem Beispiel lernen konnten, ihre
seinem Zusammenhang gelesen werden, Führer nicht zu sehr zu verehren oder
und es geht hier um den christlichen ihren Stolz zu befriedigen, indem sie Par-
Dienst und die Treue darin. Doch auch teien um diese Männer bildeten. Er woll-
wenn er nichts gewußt hätte, was man te, daß die Heiligen alles und jeden nach
gegen ihn selbst vorbringen könnte, so der Schrift beurteilen.
wäre er »dadurch« noch »nicht gerecht- 4,7 Wenn ein christlicher Lehrer
fertigt«. Er war einfach nicht kompetent, begabter ist als ein anderer, dann ist er
diese Angelegenheit zu beurteilen. das, weil Gott ihn so geschaffen hat.
Schließlich ist der Herr der Richter. Alles, was er hat, hat er vom Herrn emp-
4,5 Angesichts dessen sollten wir fangen. In der Tat gilt es für alle von uns,
äußerst vorsichtig sein, wenn wir einen daß alles, was wir haben, uns von Gott
christlichen Dienst anpreisen. Wir neigen gegeben ist. Wenn das der Fall ist, war-
dazu, das Spektakuläre und Sensationel- um sollten wir stolz und aufgeblasen
le zu feiern und das Geringere und Un- sein? Unsere Talente und Gaben sind
auffälligere zu verachten. Die sicherste kein Ergebnis unser eigenen Klugheit.
Politik ist sicherlich, »nichts vor der Zeit« 4,8 Die Korinther waren selbstzufrie-
zu »verurteilen«, sondern zu warten, den geworden, sie waren »schon … satt«.
»bis der Herr kommt«. Er wird in der Sie rühmten sich der reichlichen Geistes-
Lage sein zu beurteilen, und zwar nicht gaben in ihrer Mitte, sie waren »schon …
nur, was vor Augen ist, sondern auch die reich«. Sie lebten in Luxus, Bequemlich-
Motive des Herzens – nicht nur, was ge- keit und Muße. Sie hatten nicht das Emp-
tan wurde, sondern auch warum es getan finden, etwas zu vermissen. Sie handel-
wurde. Er wird »die Absichten der Her- ten, als ob sie schon herrschten, doch
zen offenbaren« und, eigentlich bräuchte taten sie es ohne die Apostel. Paulus
man es gar nicht zu erwähnen, alles, was erklärt, er wünsche sich, daß sie »wirk-
um der Selbstverherrlichung willen ge- lich« schon »zur Herrschaft« gekommen
tan wurde, wird keine Belohnung erhal- seien, so daß er »mit« ihnen »herrschen
ten. könnte«! Doch eigentlich ist »die Zeit des
Daß »jedem sein Lob … von Gott« Lebens ein Training für die Zeit der Herr-
werden wird, ist kein flaches Verspre- schaft«, wie jemand einmal gesagt hat.
chen, daß der Dienst jedes Gläubigen Die Christen werden mit dem Herrn
eines Tages vorteilhaft erscheinen wird. Jesus regieren, wenn er wiederkommt
Die Bedeutung ist, daß jeder, der Lob ver- und sein Reich auf Erden aufrichtet. In
dient auch Lob »von Gott« erhalten wird, der Zwischenzeit ist es ihr Vorrecht, die
und nicht von Menschen. Verachtung eines abgelehnten Erlösers
In den nächsten acht Versen stellt der zu teilen. H. P. Barker warnt:
Apostel recht deutlich fest, daß der Stolz Es ist eine ausgesprochene Illoyalität,
die Ursache der Spaltungen ist, die in der unsere eigene Krone zu erstreben, ehe der Kö-
Gemeinde in Korinth existieren. nig die seine bekommt. Doch genau das taten
4,6 Zuerst erklärt Paulus, daß er, als einige der Christen in Korinth. Die Apostel
er über den christlichen Dienst und die selbst trugen die Verachtung Christi am Lei-
Tendenz, menschlichen Führern zu fol- be. Doch die Korinther waren »reich« und
gen gesprochen hat (3,5 – 4,5), sich selbst »ehrbar«. Sie versuchten, sich eine gute Zeit

704
1. Korinther 4

zu machen, während ihr Herr und Meister so wegen ihrer Spaltungen. Er ist sich be-
11)
schwere Zeiten durchzumachen hatte. wußt, daß er ironisch gesprochen hat,
Bei Krönungen setzen die Peers ihre und erklärt nun, daß er das nicht getan
Kronen erst dann auf, wenn der Herr- hat, um die Korinther »zu beschämen«,
scher gekrönt worden war. Die Korinther sondern um sie als seine »geliebten Kin-
verdrehten diese Ordnung, sie regierten der« zu ermahnen. Nicht Bitterkeit ließ
schon, während der Herr noch abgelehnt ihn so sprechen, sondern ein echtes Inter-
wurde! esse an ihrem geistlichen Wohlergehen.
4,9 Im Gegensatz zu dieser Selbstzu- 4,15 Der Apostel erinnert sie, daß sie
friedenheit der Korinther beschreibt Pau- vielleicht »zehntausend Zuchtmeister in
lus nun das Schicksal der »Apostel«. Er Christus« haben, doch nur einen Vater im
zeigt, wie sie in eine Arena mit wilden Glauben. Paulus selbst hatte sie zum
Tieren geschickt werden, in der »Engel« Herrn geführt, er war ihr geistlicher Vater.
und »Menschen« die Zuschauer sind. Viele andere konnten nach ihm kommen
Wie Godet gesagt hat: »Es war nicht die und sie lehren, doch niemand anders
richtige Zeit für die Korinther, sich konnte dieselbe liebevolle Fürsorge für sie
selbstzufrieden zu brüsten, daß die Ge- haben als der, der sie zum Lamm gewie-
meinde herrschte, während die Apostel sen hatte. Paulus will keinesfalls den
dem Schwert ausgeliefert waren.« Lehrdienst verächtlich machen, sondern
4,10 Während die Apostel »Narren beschreibt eine wohlbekannte Wahrheit,
um Christi willen« geworden sind, ge- nämlich, daß es viele gibt, die sich im
nossen die Heiligen das Ansehen der Be- christlichen Dienst engagieren, ohne das
völkerung als kluge Christen. Die Apo- persönliche Interesse an den Heiligen zu
stel waren »schwach«, aber die Korinther haben, das für jemanden kennzeichnend
litten keine Schwäche. Im Gegensatz zur ist, der sie zu Christus geführt hat.
Schmach der Apostel stand das Ansehen 4,16 Deshalb drängt Paulus sie nun,
der Heiligen. seine »Nachahmer« zu werden, d. h. in
4,11 Den Aposteln schien es nicht so, seiner selbstlosen Hingabe an Christus
daß die Stunde des Sieges und der Herr- und in seiner unermüdlichen Liebe und
schaft schon gekommen sei. Sie litten seinem unermüdlichen Dienst für seine
unter »Hunger«, »Durst«, Blöße und Ver- Mitgläubigen, wie er es in den Versen 9-
folgung. Sie wurden gejagt, verfolgt und 13 beschrieben hat.
waren heimatlos. 4,17 Um ihnen zu helfen, dieses Ziel
4,12 Sie mußten für ihren Unterhalt zu erreichen, hat Paulus »Timotheus« zu
mit ihren »eigenen Händen« arbeiten. ihnen »gesandt«, sein »geliebtes und
Wenn sie »geschmäht« wurden, so seg- treues Kind im Herrn«. Timotheus war
neten sie als Antwort. Wenn sie »ver- angewiesen, sie an Paulus’ »Wege in
folgt« wurden, dann schlugen sie nicht Christus« zu »erinnern«, Wege, die er in
zurück, sondern ertrugen es geduldig. allen Gemeinden gelehrt hatte. Paulus
4,13 Wenn sie »gelästert« wurden, sagt hier, daß er tat, was er predigte, und
baten sie die Menschen, den Herrn Jesus das sollte für jeden gelten, der im christ-
anzunehmen. Kurz gesagt, sie waren lichen Dienst steht.
»wie Auskehricht der Welt sind wir ge- 4,18 Als Paulus erklärte, daß er ihnen
worden, ein Abschaum aller«. Diese Be- Timotheus senden wolle, würden viel-
schreibung der Leiden um Christi willen leicht einige seiner Gegner in Korinth
sollte zu unser aller Herzen sprechen. schnell aufstehen, um den anderen ein-
Wenn der Apostel Paulus heute leben zureden, daß Paulus sich fürchtete, selbst
würde, würde er dann von uns wie zu zu kommen. Diese Männer waren »auf-
den Korinthern sagen müssen: »Ihr habt geblasen«, wenn sie das den anderen ein-
ohne uns als Könige regiert«? redeten.
4,14 In den Versen 14-21 ermahnt 4,19 Paulus verspricht »aber«, daß er
Paulus die Gläubigen noch einmal in naher Zukunft »kommen« werde,

705
1. Korinther 4 und 5

»wenn der Herr will«. Wenn er kommt, stolz auf die vielen geistlichen Gaben der
dann will er den Stolz derer bloßstellen, Gemeinde, daß sie nicht ernsthaft über
die so groß daherreden, aber keine geist- das Geschehen nachdachten. Oder sie
liche »Kraft« haben. waren vielleicht mehr an hohen Mitglie-
4,20 Schließlich zählt die »Kraft«, derzahlen interessiert, als an Heiligung.
»denn das Reich Gottes besteht nicht« in Jedenfalls wurden sie durch die Sünde
erster Linie aus Worten, sondern aus nicht ausreichend schockiert.
Taten. Es besteht nicht aus Bekenntnis, »Ihr seid aufgeblasen und habt nicht
sondern aus Realitäten. vielmehr Leid getragen, damit der, wel-
4,21 Die Art, in der Paulus zu ihnen cher diese Tat begangen hat, aus eurer
kommen wird, wird von ihnen selbst Mitte hinweggetan würde!« Dieser Satz
abhängen. Wenn sie weiter rebellisch impliziert, daß der Herr selbst, wenn die
bleiben, dann wird er »mit der Rute zu« Gläubigen die rechte Haltung der De-
ihnen »kommen«. Wenn sie sich aber mütigung vor ihm eingenommen hätten,
andererseits demütigen und unterwer- in dieser Angelegenheit gehandelt hätte
fen, dann wird er »in Liebe und im Geist und den Sünder gestraft hätte. Erdmann
der Sanftmut« zu ihnen kommen. sagt:
Sie hätten verstehen müssen, daß die
B. Sittenlosigkeit unter den wahre Herrlichkeit der Gemeinde nicht in
Gläubigen (Kap. 5) Beredsamkeit und großartigen Gaben ihrer
Kapitel 5 behandelt die Notwendigkeit Lehrer besteht, sondern in moralischer Rein-
disziplinarischer Maßnahmen in einer heit und dem beispielhaften Leben ihrer Mit-
12)
Gemeinde, wenn eines der Mitglieder glieder.
eine ernste Sünde öffentlicher Natur 5,3 Im Gegensatz zu ihrer Gleichgül-
begangen hat. Gemeindezucht ist für die tigkeit steht die Tatsache, daß der Apo-
Gemeinde notwendig, um in den Augen stel, obwohl er »abwesend« war, in die-
der Welt ihre Heiligkeit zu wahren und ser Angelegenheit »das Urteil gefällt«
auch, damit der Heilige Geist in ihrer hat, als ob er anwesend wäre.
Mitte unbetrübt wirken kann. 5,4 Paulus stellt hier die Gemeinde
5,1 Offensichtlich war es überall dar, wie sie sich versammelt, um Maß-
bekannt, daß einer der Männer der Ge- nahmen gegen den Sünder zu ergreifen.
meinde in Korinth sich der »Unzucht« Obwohl er nicht leiblich anwesend ist, so
hingegeben hat. Hier handelte es sich um ist er doch im »Geist« anwesend, wenn
eine sehr extreme Sünde, eine die man sie sich »im Namen unseres Herrn Jesus
noch nicht einmal »unter den Nationen« Christus« (Elb, auch im gr. Text doppelte
finden konnte. Es ging hier darum, daß Erwähnung Jesu in diesem Vers. ER zieht
»einer« verbotenen Umgang mit »seines die zweite Erwähnung in den Vers 5.
Vaters Frau« gehabt hatte. Zweifellos Anm. d. Übers.) versammeln. Der Herr
war die eigene Mutter des Mannes ge- Jesus hatte der Gemeinde und den Apo-
storben und der Vater hatte ein zweites steln die Autorität verliehen, in solchen
Mal geheiratet. So würde der Ausdruck Fällen Urteile zu fällen. Deshalb sagt
»seines Vaters Frau« seine Stiefmutter Paulus, daß er mit der »Kraft« (oder
bezeichnen. Sie war wahrscheinlich un- Autorität) »unseres Herrn Jesus« han-
gläubig, weil eine Gemeindezucht gegen deln würde.
sie nicht erwähnt wird. In ihrem Fall hat- 5,5 Paulus wollte folgende Maßnah-
te die Gemeinde kein Recht zu richten. me ergreifen: »Einen solchen im Namen
5,2 Wie hatten nun die korinthischen unseres Herrn Jesus dem Satan zu über-
Christen darauf reagiert? Statt in tiefe liefern zum Verderben des Fleisches,
Trauer zu verfallen, waren sie stolz und damit der Geist errettet werde am Tage
hochmütig. Vielleicht waren sie auf ihre des Herrn.« Die Kommentatoren sind
Toleranz stolz, daß sie den Sünder nicht sich über die Bedeutung dieses Satzes
richteten. Oder vielleicht waren sie so nicht einig. Einige sind der Ansicht, daß

706
1. Korinther 5

es sich hier um einen Ausschluß aus der anderen Worten, sie sollten sofort drako-
Ortsgemeinde handelt. Außerhalb der nische Maßnahmen gegen das Böse er-
Gemeinde ist der Bereich der Herrschaft greifen, damit sie ein »neuer«, reiner
Satans (1. Joh 5,19). Deshalb wäre »dem »Teig« würden. Und Paulus fügt hinzu:
Satan überliefern« einfach ein Gemein- »Wie ihr ja bereits ungesäuert seid.« Gott
deausschluß. Andere sind der Ansicht, sieht sie in Christus als heilig, gerecht
daß die Macht, dem Satan zu übergeben, und rein. Nun will der Apostel sagen,
eine besondere Vollmacht der Apostel daß ihr Zustand mit ihrer Stellung über-
war, die aber heute nicht mehr existiert. einstimmen soll. Nach ihrer Stellung wa-
Und außerdem besteht keine Über- ren sie ungesäuert. Und nun sollten sie
einstimmung über die Bedeutung des auch in ihrem Zustand ungesäuert sein.
Ausdrucks »zum Verderben des Flei- Ihr Wesen sollte ihrem Namen entspre-
sches«. Viele sind der Ansicht, daß hier chen, und ihr Verhalten ihrem Glauben.
leibliche Leiden beschrieben werden, die »Denn auch unser Passah, Christus,
von Gott benutzt werden, um die Macht ist geschlachtet.« Als Paulus an das un-
der sündhaften Lüste und Gewohnhei- gesäuerte Brot denkt, wird er an das Pas-
ten im Leben dieses Menschen zu bre- sahfest erinnert, an dem am Abend des
chen. Andere sind der Ansicht, daß ersten Festtages die Juden angewiesen
»zum Verderben des Fleisches« ein Be- waren, allen Sauerteig aus dem Haus zu
schreibung eines langsamen Todes ist, entfernen. Sie gingen an ihre Knettröge
der dem Mann Zeit gibt, Buße zu tun und und reinigten sie. Sie reinigten den Auf-
verschont zu werden. bewahrungsort des Sauerteiges, bis
Jedenfalls sollten wir uns daran erin- nichts mehr übrigblieb. Sie durchsuchten
nern, daß Gemeindezucht immer darauf die Häuser, um sicherzustellen, daß auch
abzielt, eine Wiederherstellung der Ge- nichts übriggeblieben war. Dann erho-
meinschaft mit dem Herrn zu bewirken. ben sie ihre Hände zu Gott und sagten:
Exkommunikation ist nie Selbstzweck, »O Gott, ich habe allen Sauerteig aus
sondern nur ein Mittel zum Zweck. Das meinem Hause getan, und wenn es noch
Ziel ist es, daß »der Geist errettet werde Sauerteig gibt, von dem ich nicht weiß,
am Tage des Herrn«. Mit anderen Wor- so tue ich auch ihn von ganzem Herzen
ten, hier ist nicht daran gedacht, daß die- hinaus.« Das ist ein Bild für die Art der
ser Mann auf ewig verdammt ist. Er wird Absonderung vom Bösen, zu der der
in seinem Leben wegen seiner Sünde ge- Christ heute aufgerufen ist.
straft, doch er wird »errettet … am Tages Das Schlachten des Passahlammes
des Herrn«. war ein Typus oder ein Bild des Todes
5,6 Paulus rügt die Korinther nun unseres Herrn Jesus Christus am Kreuz.
dafür, daß sie sich »rühmen«, d. h. ange- Dieser Vers ist einer der vielen Verse des
ben. Vielleicht entschuldigten sie sich da- NT, der das Prinzip der Typologie lehrt.
mit, daß es doch nur einmal geschehen sei. Damit meinen wir, daß die Personen und
Sie hätten wissen müssen, »daß ein wenig Ereignisse des AT Typen oder Schatten
Sauerteig den ganzen Teig durchsäuert«. von noch zukünftigen Personen oder
»Sauerteig« ist hier ein Bild für moralische Ereignissen waren. Viele von ihnen wie-
Sünde. Der Apostel sagt hier, daß die Tole- sen direkt auf das Kommen des Herrn
rierung nur einer kleinen moralischen Jesus hin, um unsere Sünden durch sein
Sünde in der Gemeinde dazu führt, daß Opfer hinwegzunehmen.
die Sünde wächst und sich ausdehnt, bis 5,8 Mit »Festfeier« ist hier nicht das
die gesamte Gemeinschaft ernsthaft be- Passah oder das Herrnmahl gemeint,
troffen ist. Gerechte, gottgewollte Gemein- sondern hier wird das ganze Leben des
dezucht ist notwendig, um den Charakter Gläubigen auf eine allgemeine Art be-
der Gemeinde zu bewahren. zeichnet. Unsere gesamte Existenz soll
5,7 So wird den Korinthern befohlen, ein Freudenfest sein, und es soll »nicht
»den alten Sauerteig« auszufegen. Mit mit dem alten Sauerteig« der Sünde und

707
1. Korinther 5

»auch nicht mit Sauerteig der Bosheit hung von Mord oder Gewaltanwen-
und Schlechtigkeit« gefeiert werden. dung. »Götzendiener« sind diejenigen,
Wenn wir uns an Christus freuen, dürfen die jemanden oder etwas anderes als den
wir keine bösen Gedanken gegen andere wahren Gott verehren, und die die
in unseren Herzen hegen. Daraus kön- schrecklichen sittlichen Sünden begehen,
nen wir erkennen, daß Paulus hier nicht die fast immer mit dem Götzendienst
wörtlich von Sauerteig spricht, den man einhergehen.
zum Brotbacken verwendet, sondern mit 5,11 Wovor Paulus sie jedoch wirklich
»Sauerteig« eine geistliche Wirklichkeit warnen will ist, mit einem bekennenden
beschreibt, daß nämlich Sünde alles ver- Bruder Gemeinschaft zu haben, der sich
unreinigt, das mit ihr in Verbindung einer dieser schrecklichen Sünden schul-
kommt. Wir sollen unser Leben »mit Un- dig macht. Wir könnten seine Worte fol-
gesäuertem der Lauterkeit und Wahr- gendermaßen umschreiben:
heit« führen. Ich wollte eigentlich sagen und hier wie-
5,9 Nun erklärt Paulus ihnen, daß er derholen, daß ihr noch nicht einmal ein nor-
ihnen schon in einem vorhergehenden males Mahl mit einem Christen einnehmen
Brief geschrieben hatte, »nicht mit Un- solltet, der unzüchtig, habgierig, götzendie-
züchtigen Umgang zu haben«. Die Tatsa- nerisch, ein Trunkenbold, Wucherer oder
che, daß dieser Brief verlorengegangen Lästerer ist.
ist, rührt keinesfalls an der Tatsache der Es ist oftmals nötig, daß wir Kontakt
Inspiration der Bibel. Nicht jeder Brief, mit Ungläubigen haben, und wir können
den Paulus geschrieben hat, war inspi- diese Kontakte oftmals benutzen, um
riert, sondern nur diejenigen, die Gott für ihnen Zeugnis zu geben. Solcher Kontakt
geeignet erklärt hat, der Bibel hinzuge- ist nicht so gefährlich für den Gläubigen
fügt zu werden. wie die Gemeinschaft mit denen, die
5,10 Der Apostel fährt nun fort zu zwar bekennen, Christen zu sein, und
erklären, daß er mit dieser Warnung, kei- doch in Sünde leben. Wir sollten niemals
ne Gemeinschaft »mit den Unzüchtigen« irgend etwas tun, das einen Ungläubigen
zu haben, nicht gemeint hat, daß sie vom dazu bringt zu glauben, daß wir seine
Umgang mit allen gottlosen Menschen Sünde gutheißen würden.
zurückschrecken müßten. Solange wir in Zu der Liste der erwähnten Sünder
dieser Welt leben, ist es notwendig, daß fügt Paulus in Vers 11 noch den Lästerer
wir mit ungeretteten Menschen zu tun und den Trunkenbold hinzu. Ein »Läste-
haben, und wir haben keine Möglichkeit rer« ist ein Mann, der bösartige, unan-
zu wissen, in welche Tiefen der Sünde sie ständige Reden gegen andere führt. Wir
hinabgestiegen sind. Um ein Leben in sollten hier jedoch ein Wort der Vorsicht
absoluter Isolation von Sündern führen hinzufügen. Sollten wir einen Menschen
zu können, »müßtet ihr ja aus der Welt deshalb aus der Gemeinde ausschließen,
hinausgehen«. wenn er bei nur einer Gelegenheit die
Deshalb erklärt Paulus, daß er hier Geduld verliert und unbedachte Worte
keinesfalls vollkommene Absonderung äußert? Wir sind nicht dieser Ansicht,
von »den Unzüchtigen dieser Welt oder sondern der Meinung, daß sich diese
den Habsüchtigen und Räubern oder Stelle auf gewohnheitsmäßige Lästerer
Götzendienern« meint. »Habsüchtige« bezieht. Mit anderen Worten, ein Läste-
sind diejenigen, die der Unehrlichkeit im rer ist jemand, der bekannt für seine
Geschäft oder in finanziellen Angelegen- Schmähworte anderen gegenüber ist.
heiten überführt sind. Wenn jemand sich Jedenfalls sollte das für uns ein Anlaß
zum Beispiel des Steuerbetruges schul- sein, unsere Wortwahl zu kontrollieren.
dig gemacht hat, dann unterliegt er der Wie Dr. Ironside einmal angemerkt hat,
Gemeindezucht für die Habsüchtigen. sagen viele, daß sie einfach achtlos mit
»Räuber« sind diejenigen, die sich durch ihrer Zunge sind, doch er weist darauf
Gewalt bereichern, etwa durch Andro- hin, daß sie genausogut sagen könnten,

708
1. Korinther 5 und 6

daß sie mit einer Maschinenpistole acht- bewahren und den Sünder wieder in die
los umgegangen seien. Gemeinschaft mit den Herrn bringen zu
Ein Trunkenbold ist jemand, der den können.
Genuß alkoholischer Getränke über- 5,13 Paulus erklärt, daß »Gott« das
treibt. Gericht derer »die … draußen sind«
Meint nun der Apostel Paulus, daß übernehmen wird, d. h. das Gericht an
wir »mit einem solchen« Christen »nicht den Ungläubigen. In der Zwischenzeit
einmal … essen« sollten? Genau das lehrt sollten die Korinther das Gericht durch-
uns dieser Vers. Wir sollen mit ihm nicht führen, das Gott ihnen übertragen hat,
das Mahl des Herrn feiern, aber auch kein nämlich »den Bösen« aus ihrer Gemein-
anderes Mahl mit ihm halten. Es mag schaft auszuschließen. Das bedeutet, daß
hierbei Ausnahmen geben. Eine christli- öffentlich in der Gemeinde angekündigt
che Ehefrau z. B. wäre noch immer ver- wird, daß der Bruder nicht mehr zur
pflichtet mit ihrem Ehemann zu speisen, Gemeinde gehört. Diese Ankündigung
der aus der Gemeinschaft ausgeschlossen sollte in echter Trauer und Beugung ge-
worden ist. Doch die allgemeine Regel schehen. Anschließend sollte ständig für
lautet, daß bekennende Gläubige, die sich die geistliche Wiederherstellung des
einer der aufgelisteten Sünde schuldig Ausgeschlossenen gebetet werden.
gemacht haben, aus der sozialen Gemein-
schaft ausgeschlossen werden sollten, um C. Rechtsstreit unter den Gläubigen
ihnen zu zeigen, wie schlimm sie sich (6,1-11)
vergangen haben und sie zur Buße zu Die ersten elf Verse von Kapitel 6 be-
bringen. Wenn wir nun anmerken, daß schäftigen sich mit Rechtsstreitigkeiten
der Herr mit Zöllnern und Sündern aß, unter Gläubigen. Paulus hatte erfahren,
dann sollten wir darauf hinweisen, daß daß einige Christen mit ihren Mitchristen
diese Männer nicht zu seinen Nachfol- vor Gericht gehen wollten – und zwar vor
gern gehörten, und daß er durch ein Mahl ein weltliches Gericht. Deshalb legt er hier
mit ihnen sie noch nicht als Jünger aner- diese Anweisungen nieder, die für die Ge-
kannte. Dieser Abschnitt lehrt uns, daß meinde von bleibendem Wert sind. Man
wir keine Gemeinschaft mit Christen beachte die Wiederholung des Ausdrucks
haben sollten, die in Sünde leben. »wißt ihr nicht?« (V. 2.3.9.15.16.19).
5,12 Die beiden Fragen des Paulus in 6,1 Die erste Frage drückt das Erstau-
Vers 12 bedeuten, daß Christen niemals nen des Paulus aus, daß jemand von
für das Gericht über die Ungläubigen ihnen daran dachte, »vor den Ungerech-
verantwortlich sind. Böse Menschen aus ten« mit einem Gläubigen »zu streiten«,
unserer Umwelt werden am jüngsten Tag d. h. vor Richtern und Schöffen, die un-
vom Herrn selbst gerichtet werden. Doch gläubig sind. Er findet es reichlich inkon-
wir haben eine Verantwortung, diejeni- sequent, daß diejenigen, die die wahre
gen, »die drinnen sind«, nämlich in der Gerechtigkeit kennen, vor Richter treten
Gemeinde, zu richten. Es ist die Pflicht sollten, die sich nicht durch Gerechtig-
der Ortsgemeinde, Gemeindezucht nach keit auszeichnen. Man stelle sich vor, wie
Gottes Willen zu üben. diese Christen von denjenigen Rechtfer-
Und wieder wird eingewandt, daß tigung erwarten, die sie ihnen nicht
der Herr gelehrt habe: »Richtet nicht, geben können!
damit ihr nicht gerichtet werdet.« Doch 6,2 Eine zweite unvorstellbare Inkon-
wir sind der Ansicht, daß es hier um die sequenz ist es, daß diejenigen, die eines
Motive geht. Wir dürfen nicht die Motive Tages »die Welt richten werden«, nicht in
eines anderen Menschen beurteilen, weil der Lage sein sollten, die trivialen Fälle
wir dazu nicht kompetent sind. Doch das zu richten, die sich unter ihnen ergeben.
Wort Gottes macht genauso klar, daß wir Die Schrift lehrt, daß Gläubige mit Chri-
bekannte Sünde in der Gemeinde richten stus über die Welt herrschen werden,
sollen, um ihren Ruf der Heiligung zu wenn er in Macht und Herrlichkeit wie-

709
1. Korinther 6

derkehren wird, und daß ihnen richterli- cher »Bruder« sich mit einem »Bruder…
che Aufgaben übertragen werden. Wenn vor Ungläubigen« streiten und damit
Christen einmal »die Welt richten wer- Familienangelegenheiten vor die un-
den«, sollten sie dann nicht in der Lage gläubige Welt zerren wollte. Wirklich
sein, belanglose Streitereien zu regeln, eine unwürdige Situation!
die sie jetzt beunruhigen? 6,7 Der Ausdruck »es ist nun schon
6,3 Paulus erinnert die Korinther dar- überhaupt ein Fehler an euch« zeigt uns,
an, daß sie »Engel richten« werden. Es ist daß sie in dieser Angelegenheit absolut
fast erstaunlich zu sehen, wie Paulus ein falsch handelten. Sie hätten noch nicht
solch schlagendes Argument in die Dis- einmal auf die Idee kommen sollen,
kussion wirft. Ohne darauf vorzuberei- gegeneinander Gerichtsverfahren zu füh-
ten erklärt er einfach die unvorstellbare ren. Doch vielleicht würde einer der Chri-
Tatsache, daß die Christen eines Tages sten an diesem Punkt einwenden: »Aber
»Engel richten« werden. Wir wissen aus Paulus, du verstehst das nicht. Bruder
Judas 6 und 2. Petrus 2,4.9, daß Engel Soundso hat mich im Geschäft betrogen.«
gerichtet werden. Wir wissen auch, daß Die Antwort des Paulus lautet: »Warum
Christus der Richter sein wird (Joh 5,22). laßt ihr euch nicht lieber unrecht tun?
Weil wir mit ihm eins sind, ist es möglich, Warum laßt ihr euch nicht lieber übervor-
davon zu sprechen, daß wir am jüngsten teilen?« Das wäre die wirklich christliche
Tag die Engel richten werden. Wenn wir Einstellung. Es ist viel besser, Unrecht
für fähig erachtet werden, Engel zu rich- einzustecken, als es zu tun.
ten, dann sollten wir in der Lage sein, mit 6,8 Doch das entsprach nicht der Ein-
den kleinen Problemen, die sich im »All- stellung der Korinther. Statt bereit zu
täglichen« ergeben, fertig zu werden. sein, das Unrecht zu erdulden und betro-
6,4 »Wenn ihr nun über alltägliche gen zu werden, taten sie sich gegenseitig
Dinge Rechtshändel habt, so setzt ihr die »unrecht«, sogar gegen ihre eigenen
zu Richtern ein, die in der Gemeinde »Brüder« in Christus!
nichts gelten?« Ungläubige Richter kön- 6,9 Hatten sie vergessen, daß Men-
nen in der Ortsgemeinde keine Ehren- schen, die von ihrem Wesen her »Unge-
stellung erhalten. Sie werden natürlich rechte« sind, »das Reich Gottes nicht
für die Arbeit, die sie in der Welt tun, erben werden«? Sollten sie es vergessen
respektiert, doch soweit es Gemeindean- haben, so liefert Paulus ihnen hier eine
gelegenheiten betrifft, haben sie keinerlei Liste von Sündern, die keinen Teil am
Recht, Urteile zu fällen. Deshalb fragt »Reich Gottes« haben werden. Er will
Paulus die Korinther: damit nicht andeuten, daß Christen, die
Wenn sich Auseinandersetzungen zwi- solche Sünden tun, verloren gehen könn-
schen euch ergeben, in denen das unpartei- ten, sondern er sagt, daß Menschen, die
ische Urteil eines Dritten benötigt wird, geht in solchen Sünden leben, keine Christen
13)
ihr dann vor die Grenzen der Gemeinde und sind.
setzt Menschen zu Richtern über euch, die in In dieser Liste werden die »Ehebre-
der Gemeinde nicht für geistliche Klarsicht cher« von den »Unzüchtigen« unter-
bekannt sind? schieden. Hier bedeutet Unzucht vorehe-
6,5 Paulus stellt diese Frage, um die lichen Geschlechtsverkehr, während mit
Korinther zur »Beschämung« zu brin- Ehebruch unerlaubter sexueller Umgang
gen. War es denn möglich, daß in einer eines Verheirateten gemeint ist. »Götzen-
Gemeinde, die sich der reichlichen Ga- diener« werden auch hier wieder aufge-
ben und der Weisheit ihrer Mitglieder führt, wie in den zwei vorhergehenden
rühmte, »nicht einer« weise genug war, Listen in Kapitel 5. Mit »Wollüstlinge«
um diese Streitigkeiten »zwischen Bru- sind Menschen gemeint, die sich sexuell
der und Bruder« zu schlichten? pervers mißbrauchen lassen, mit »Kna-
6,6 Offensichtlich war kein solch wei- benschänder« sind diejenigen gemeint,
ser Mann vorhanden, weil ein christli- die andere sexuell pervers mißbrauchen.

710
1. Korinther 6

6,10 Dieser Liste werden noch die rechtmäßig und trotzdem nicht hilfreich
»Diebe, Habsüchtige, Trunkenbolde, Lä- sein kann. Wenn Paulus sagt, »alles ist
sterer« und »Räuber« hinzugefügt. »Die- mir erlaubt«, so meint er damit nicht
be« sind Menschen, die mitnehmen, was alles im absoluten Sinne. Es wäre für ihn
ihnen nicht gehört. Man beachte, daß die nicht erlaubt, irgendeine der Sünden zu
Habgier eine Sünde ist, die immer unter begehen, die er weiter oben erwähnt hat.
den schlimmsten Lastern mit aufgeführt Hier spricht er nur über die sittlich neu-
ist. Obwohl Menschen sie entschuldigen tralen Angelegenheiten. Zum Beispiel
mögen und für nicht so schwerwiegend war die Frage, ob ein Christ Schweine-
halten, verurteilt Gott diese Sünde aufs fleisch essen sollte, eine wirkliche Streit-
schärfste. Ein »Habsüchtiger« ist ein frage unter den Christen dieser Zeit. Tat-
Mensch mit einem unnormalen Verlan- sächlich ist diese Frage jedoch wertneu-
gen nach Besitz, das ihn oft zu ungerech- tral. Vor Gott zählt es nicht, ob jemand
ten Mitteln der Erlangung desselben nun Schweinefleisch ißt oder nicht. Pau-
führt. »Trunkenbolde« sind, wie schon lus sagt hier nur einfach, daß es gewisse
gesagt, in erster Linie Alkoholabhängige. Dinge gibt, die zwar erlaubt, aber nicht
»Lästerer« sind diejenigen, die über an- »nützlich« sind. Es mag vielleicht be-
dere Menschen schimpfen und sie belei- stimmte Dinge geben, die für mich er-
digen. »Räuber« sind diejenigen, die die laubt sind, die jedoch einen anderen zu
Armut und Not anderer Menschen aus- Fall bringen, wenn er sie mich tun sieht.
nützen, um sich selbst damit zu berei- In solch einem Fall wäre mir dies »nicht
chern. … nützlich«.
6,11 Paulus will nicht andeuten, daß Das zweite Prinzip lautet, daß es
diese Sünde von den korinthischen Gläu- bestimmte erlaubte Handlungen gibt,
bigen begangen worden sind, sondern die mich jedoch versklaven. Paulus stellt
warnt sie, weil so etwas für sie vor ihrer fest: »Ich will mich von nichts beherr-
Bekehrung charakteristisch war – »das schen lassen.« Das hat nun einen sehr
sind manche von euch gewesen«. Doch direkten Bezug auf heute, nämlich die
sie sind »abgewaschen… geheiligt« und Fragen nach Alkohol, Tabak und Drogen.
»gerechtfertigt«. Sie sind von ihrer Sünde Diese machen, wie viele andere Dinge,
und Unreinheit durch das kostbare Blut abhängig, und der Christ sollte es sich
Christi »abgewaschen« worden. Sie sind nicht gestatten, auf diese Weise in
durch das Eingreifen des Heiligen Gei- Knechtschaft zu geraten.
stes »geheiligt« worden, indem sie für 6,13 Ein drittes Prinzip lautet, daß
Gott aus der Welt ausgesondert wurden. manches vollkommen dem Gesetz ent-
Sie sind »gerechtfertigt worden durch spricht und doch nur zeitlichen Wert
den Namen des Herrn Jesus und durch haben kann. Paulus sagt: »Die Speisen
den Geist unseres Gottes«, d. h. sie wur- sind für den Bauch und der Bauch für die
den von Gott wegen des Werkes des Speisen; Gott aber wird sowohl diesen
Herrn Jesus am Kreuz für sie als gerecht als jene zunichte machen.« Das bedeutet,
angesehen. Wie argumentiert Paulus daß der menschliche »Bauch« so kon-
hier? Einfach so, wie Godet es so treffend struiert ist, daß er Nahrung aufnehmen
ausgedrückt: »Eine solch bodenlose Tiefe und verdauen kann. Auf gleiche Weise
kann nicht nochmals überquert werden.« hat Gott die Speisen geschaffen, so daß
der menschliche Magen sie aufnehmen
D. Sittliche Laxheit unter den kann. Und doch sollten wir nicht für die
Gläubigen (6,12-20) Speise leben, weil sie nur zeitlichen Wert
6,12 In den Schlußversen dieses Kapitels hat. Das Essen sollte im Leben des Gläu-
legt der Apostel einige Prinzipien dar, bigen keinen unrechtmäßigen Platz ein-
mit deren Hilfe man zwischen Richtig nehmen. Lebe nicht so, als ob das Wich-
und Falsch unterschieden kann. Das tigste in deinem Leben sei, deinen Appe-
erste Prinzip lautet, daß eine Handlung tit zu befriedigen.

711
1. Korinther 6

Obwohl der Leib von Gott für die solche Frage beantwortet sich von selbst,
Aufnahme und Verdauung von Speisen wie Paulus es mit einem entrüsteten
wunderbar geschaffen ist, ist doch eines »Das sei ferne!« tut.
sicher: »Der Leib aber ist nicht für die 6,16 Bei einer sexuellen Vereinigung
Hurerei, sondern für den Herrn und der werden zwei Leiber eins. Das wurde
Herr für den Leib.« Als Gott den mensch- schon zu Beginn der Schöpfung festge-
lichen Leib plante, hatte er nie im Sinn, legt: »Denn es werden, heißt es, die zwei
daß dieser Leib zu bösen oder unreinen ein Fleisch sein« (1. Mose 2,24). Weil das
Zwecken mißbraucht würde. Er sollte so ist, würde man ein Glied Christi zur
zur Ehre des Herrn in seinem Dienst ver- Hure machen, wenn ein Gläubiger »der
wendet werden. Hure anhängt«. Die beiden würden »ein
Es gibt in diesem Vers etwas erstaun- Leib« werden.
liches, das wir nicht unerwähnt lassen 6,17 Genauso wie in der leiblichen
wollen: »Der Leib« ist nicht nur »für den Verbindung eine Einheit zweier Wesen
Herrn«, sondern »der Herr« ist auch »für entsteht, so entsteht eine ebensolche Ein-
den Leib«. Dieser Gedanke ist noch wun- heit, wenn ein Mensch an den Herrn
dervoller als der erste und bedeutet, daß Jesus Christus glaubt und »dem Herrn
der Herr an unserem Leib interessiert ist, anhängt«. Der Gläubige und Christus
an seinem Wohlergehen und an seiner werden so eng verbunden, daß man sie
zweckmäßigen Verwendung. Gott möch- von diesem Zeitpunkt an »ein Geist«
te, daß unsere Leiber ihm als ein lebendi- nennen kann. Das ist die vollkommenste
ges, heiliges und wohlgefälliges Opfer Verbindung zweier Personen, die denk-
dargebracht werden (Röm 12,1). Wie bar ist. Es ist die engste Form der Einheit.
Erdman gesagt hat: »Ohne den Herrn Paulus argumentiert hier also, daß derje-
kann der Leib niemals seine wahre Wür- nige, der »dem Herrn anhängt«, niemals
de erhalten noch sein unverwesliches ein Einssein tolerieren darf, das im Kon-
14)
Ziel erreichen.« flikt mit seinem geistlichen Erbe steht.
6,14 In diesem Vers wird die Tatsache A. T. Pierson schreibt:
weiter erklärt, daß der Herr für den Leib Die Schafe mögen sich vom Hirten ent-
da ist. »Gott« hat nicht nur »den Herrn« fernen, und die Rebe mag vom Weinstock
Jesus von den Toten auferweckt, sondern abgeschnitten werden und das Glied vom
er »wird auch uns auferwecken durch Leib getrennt, das Kind mag vom Vater ent-
seine Macht«. Sein Interesse an unserem fremdet werden und sogar die Frau von
Leib hört nicht mit dem Tod auf. Er wird ihrem Ehemann, doch wenn zwei Geister zu
den Leib jedes Gläubigen »aufer- einem werden, was soll die beiden trennen?
wecken«, um ihn wie den verherrlichten Keine äußere Verbindung oder Einheit, noch
Leib des Herrn Jesus gestalten. Wir wer- nicht einmal die Ehe kann zwei Leben so per-
15)
den nicht in alle Ewigkeit entleibte See- fekt miteinander verbinden.
len bleiben. Sondern unser Geist und 6,18 Und deshalb ermahnt der Apo-
unsere Seele werden mit unserem ver- stel die Korinther, »die Unzucht« zu flie-
herrlichten Leib wiedervereinigt, damit hen. Sie sollen nicht damit herumspielen,
sie gemeinsam auf ewig die Herrlichkeit sie studieren, ja noch nicht einmal davon
des Himmels genießen können. reden. Sie sollen vor ihr fliehen! Ein schö-
6,15 Um die Notwendigkeit persönli- nes Beispiel dafür findet sich im bibli-
cher Reinheit in unserem Leben und der schen Bericht über Joseph, als er von
Bewahrung unseres Leibes von Unrein- Potifars Frau zur Sünde verführt wurde
heit zu betonen, erinnert uns der Apo- (1. Mose 39). Befindet man sich in Beglei-
stel, daß unsere »Leiber Glieder Christi tung mehrerer Personen, so ist man
sind«. Jeder Gläubige ist ein Glied des sicher, doch auf der Flucht ist man noch
Leibes Christi. Wäre es also angebracht, sicherer!
»die Glieder Christi« zu »nehmen und zu Dann fügt Paulus hinzu: »Jede Sün-
Gliedern einer Hure« zu »machen«? Eine de, die ein Mensch begehen mag, ist

712
1. Korinther 6 und 7

außerhalb des Leibes; wer aber Unzucht mußte Jesus uns doch lieben, daß er
treibt, sündigt gegen den eigenen Leib.« unsere Sünden an seinem Leib auf das
Die meisten Sünden haben keine unmit- Kreuz hinaufgetragen hat!
telbaren Auswirkungen auf den Leib, Wenn die Dinge so stehen, kann ich
doch sexuelle Unzucht ist in dem Sinne meinen Leib nicht länger als mein Eigen-
einzigartig, da sie den Leib des Betroffe- tum ansehen. Wenn ich ihn nehme und
nen direkt beeinträchtigt: Ein Mensch so benutze, wie es mir gefällt, dann
erntet die Konsequenzen seiner Sünde an handle ich wie ein Dieb und nehme mir,
seinem eigenen Leib. Die Schwierigkeit was mir nicht gebührt. Ich sollte aber mit
besteht darin, daß dieser Vers aussagt, meinem »Leib … Gott« verherrlichen,
daß jede andere Sünde, die ein Mensch nämlich den, dem der Leib gehört.
begeht, außerhalb des Körpers bleibt. Bates ruft aus:
Doch wir sind der Ansicht, daß der Apo- Kopf! Denke an ihn, dessen Stirn mit
stel hier »vergleichsweise außerhalb« Dornen gekrönt wurde. Hände! Arbeitet für
meint. Es stimmt zwar, daß Trunkenheit den, dessen Hände ans Kreuz genagelt wur-
und Völlerei z. B. auch den Leib betref- den. Füße! Beeilt euch, den Willen dessen zu
fen, die meisten Sünden es aber nicht tun, dessen Füße durchgraben wurden. Mein
tun. Und Völlerei und Trunkenheit be- Leib! Sei ein Tempel dessen, dessen Leib sich
16)
einträchtigen den Leib nicht so direkt, unter unaussprechlichen Leiden wand.
ausführlich und zerstörerisch wie die Wir sollten Gott auch »in« unserem
Unzucht. Sexuelle Kontakte außerhalb »Geiste« (LU1912) verherrlichen, weil so-
der Ehe werden unausweichlich dem wohl die leiblichen als auch die geist-
17)
betroffenen Sünder schwer schaden. lichen Anteile »Gottes« sind (Lu1912).
6,19 Und wieder erinnert Paulus die
Korinther daran, daß sie eine heilige und III. Apostolische Antworten auf
ehrenvolle Berufung besitzen. Haben sie Gemeindefragen (Kap. 7- 14)
denn vergessen, daß ihr »Leib ein Tempel
des Heiligen Geistes« ist? Das ist eine A. Über Heirat und Zölibat (Kap. 7)
ernstzunehmende Wahrheit der Schrift, 7,1 Bis zu diesem Punkt hat sich Paulus
daß in jedem Gläubigen der Geist Gottes mit den verschiedenen Unsitten der ko-
wohnt. Wie können wir nur daran den- rinthischen Gemeinde beschäftigt, von
ken, den Leib, in dem der Heilige Geist denen er durch einen direkten Bericht er-
wohnt, zu nehmen und zum Bösen zu fahren hat. Nun will er die Fragen beant-
mißbrauchen? Unser Leib ist nicht nur worten, die die Heiligen in Korinth ihm
der Tempel des Heiligen Geistes, son- geschickt hatten. In der ersten geht es um
dern dazu gehören wir auch nicht uns die Ehe und den ehelosen Stand. Er legt
»selbst«. Es steht uns nicht zu, unseren deshalb zunächst das grobe Prinzip fest,
Leib zu nehmen und zu nutzen wie wir daß »es gut für einen Menschen« ist,
es wollen. Unser Leib gehört, wenn wir »keine Frau zu berühren«. »Eine Frau be-
es genau nehmen, nicht uns, sondern rühren« heißt in diesem Falle, eine leibli-
unserem Herrn. che Beziehung zu unterhalten. Der Apo-
6,20 Wir gehören dem Herrn sowohl stel behauptet hier nicht, daß der Unver-
durch die Schöpfung als auch durch die heiratete in irgendeiner Weise heiliger sei
Erlösung. Hier ist in besonderer Weise als ein Verheirateter, sondern es ist ein-
das Letztere angesprochen. Sein Eigen- fach besser, unverheiratet zu sein, wenn
tumsrecht an uns geht bis auf Golgatha man das Verlangen hat, sich ohne Ablen-
zurück. Wir wurden »um einen Preis er- kung dem Dienst des Herrn hinzugeben.
kauft«. Am Kreuz sehen wir das Preis- 7,2 Paulus erkennt jedoch, daß der
schild, das der Herr Jesus uns gegeben ledige Stand enorme Versuchungen zur
hat. Er hielt uns für so wertvoll, daß er Unreinheit in sich birgt. Deshalb relati-
bereit war, für uns den Preis seines eige- viert er seine erste Aussage, indem er
nen kostbaren Blutes zu zahlen. Wie sehr erklärt: »Aber um der Unzucht willen

713
1. Korinther 7

habe jeder seine eigene Frau, und jede zweite Bedingung ist, daß die Enthalt-
habe ihren eigenen Mann.« Wenn »jeder samkeit immer nur auf Zeit vereinbart
seine eigene Frau« hat, so bedeutet das wird. Mann und Frau sollten »wieder zu-
eine monogame Ehe. Vers 2 begründet sammen« sein, damit Satan sie nicht ver-
das Prinzip, daß Gottes Anweisung für suchen kann, »weil« sie sich »nicht ent-
sein Volk so bleibt, wie sie immer war, halten« können.
daß nämlich ein Mensch jeweils nur 7,6 Dieser Vers hat zu vielen Spekula-
einen Ehepartner haben sollte. tionen und Auseinandersetzungen An-
7,3 Die Verheirateten sollten einander laß gegeben. Paulus sagt: »Dies aber sage
die Pflichten des Ehelebens »leisten«, ich als Zugeständnis, nicht als Befehl.«
weil sie voneinander abhängen. Wenn es Einige Ausleger haben das so aufgefaßt,
heißt: »Der Mann leiste der Frau die ehe- daß der Apostel die vorhergehenden
liche Pflicht«, so bedeutet das, daß er ihr Worte als nicht von Gott inspiriert an-
gegenüber seinen Pflichten als Ehemann sieht. Solch eine Interpretation ist unhalt-
nachzukommen hat. Für sie gilt das na- bar, weil er in 1. Korinther 14,37 behaup-
türlich »ebenso«. Man beachte den Takt, tet, daß alles, was er den Korinthern
mit dem Paulus dieses Thema behandelt. geschrieben hat, die Gebote Gottes seien.
Da finden wir nichts Ordinäres oder Vul- Wir sind der Ansicht, daß der Apostel
gäres. Wie anders als in der Welt ist das sagen wollte, daß es für ein Paar unter
doch! bestimmten Umständen richtig sein
7,4 In der ehelichen Gemeinschaft mag, sich von der ehelichen Gemein-
existiert eine Abhängigkeit der »Frau« schaft zu enthalten, doch daß diese Ent-
vom »Mann« und umgekehrt. Um Gottes haltsamkeit eine Erlaubnis darstellt,
Anweisungen für diese heilige Gemein- nicht jedoch einen »Befehl«. Christen
schaft zu befolgen, müssen sowohl Mann müssen sich nicht der ehelichen Gemein-
als auch Frau ihre gegenseitige Abhän- schaft enthalten, um sich ungeteilt dem
gigkeit erkennen. Gebet widmen zu können. Andere Aus-
7,5 Christenson schreibt: leger sind der Ansicht, daß Vers 6 sich
Kurz gesagt heißt das, wenn ein Partner auf die gesamten Ausführungen zur Ehe
die sexuelle Beziehung wünscht, dann sollte bezieht, d. h. daß Christen heiraten dür-
der andere diesen Wunsch erfüllen. Die Ehe- fen, aber es ihnen nicht befohlen wird.
leute, die diese nüchterne Haltung in der Fra- 7,7 Paulus beginnt nun mit seinem
ge der Sexualität einnehmen, werden sie Rat an die Ledigen. Zunächst einmal
wundervoll erfüllend finden – aus dem einfa- wird deutlich, daß Paulus den ledigen
chen Grund, weil die Beziehung auf der Rea- Stand vorzog, doch er erkannte, daß man
lität beruht, und nicht auf einem künstlichen in ihm nur leben kann, wenn Gott einen
18)
oder unmöglichen Ideal. dazu befähigt. Wenn er sagt: »Ich wün-
Vielleicht dachten einige dieser sche aber, alle Menschen wären wie ich«,
Korinther, als sie errettet wurden, daß so geht aus dem Zusammenhang hervor,
die Intimitäten einer Ehe nicht mit der daß er damit »unverheiratet« meint. Es
christlichen Heiligung zusammenstimm- gibt viele verschiedene Meinungen, ob
ten. Paulus will ihre Köpfe von solchen Paulus immer Junggeselle war oder ob er
Vorstellungen befreien. Hier befiehlt er zu der Zeit, als er den Brief schrieb, Wit-
ihnen, daß christliche Paare sich einan- wer war. Doch ist es für uns heute nicht
der nicht »entziehen« sollen, d. h. dem wesentlich, diese Debatte zu entschei-
Partner die Rechte am eigenen Leib ver- den, selbst wenn wir das könnten. Wenn
weigern. Es gibt nur zwei Ausnahmen. Paulus sagt: »Doch jeder hat seine eigene
Erstens sollte eine solche Abstinenz Gnadengabe von Gott, der eine so, der
immer von beiden durch »Übereinkunft« andere so«, dann meint er, daß Gott den
geregelt werden, damit der Mann und Einen die Gnade schenkt, unverheiratet
die Frau sich »dem Gebet« und dem zu bleiben, während er andere ausdrück-
»Fasten« (LU1912) widmen können. Die lich in den Ehestand beruft. Es ist eine

714
1. Korinther 7

ausgesprochen individuelle Angelegen- sagen noch »nicht« vom »Herrn« so


heit und es gibt kein allgemeines Gesetz, gelehrt wurden, als er noch auf der Erde
das auf alle anwendbar wäre. war. Es gibt keine Anweisung in den
7,8 Deshalb weist er die »Unverheira- Evangelien, die dieser hier entspricht.
teten« und die »Witwen« an, zu »bleiben Der Herr Jesus hat das Thema einer Ehe,
wie« er selbst. in der nur einer von beiden gläubig ist,
7,9 Doch »wenn sie sich aber« ledig nicht aufgenommen. Doch nun hat Chri-
»nicht enthalten können«, so ist es ihnen stus seinen Apostel in dieser Angelegen-
erlaubt zu »heiraten, denn es ist besser, heit unterrichtet und deshalb ist das, was
zu heiraten, als vor Verlangen zu bren- Paulus hier sagt, das inspirierte Wort
nen«. Dieses Brennen ist eine große Ge- Gottes.
fahr, weil man dadurch leicht in Sünde »Den übrigen« bedeutet, denjenigen,
geraten kann. deren Partner nicht gläubig sind. Dieser
7,10 Die nächsten zwei Verse sind an Abschnitt rechtfertigt nicht, daß ein
»Verheiratete« gerichtet, wenn beide Christ einen Unerlösten heiratet. Es geht
Partner gläubig sind. »Den Verheirateten hier wahrscheinlich um die Situation,
aber gebiete nicht ich, sondern der Herr« wenn einer der Partner nach der Ehe-
bedeutet einfach, daß das, was Paulus schließung errettet wurde.
hier lehrt, auch schon vom »Herrn« Jesus »Wenn ein Bruder eine ungläubige
gelehrt wurde, als er hier auf der Erde lebte. Frau hat und sie willigt ein, bei ihm zu
Christus hatte zu diesem Thema schon wohnen, so entlasse er sie nicht.« Um
konkrete Anweisungen gegeben. Er hat- diese Schriftstelle wirklich beurteilen zu
te z. B. Scheidung verboten, außer bei können, ist es hilfreich, uns daran zu
Ehebruch (Matth 5,32;19,9). Die allge- erinnern, was Gott seinem Volk im AT
meine Anweisung, die Paulus hier gibt, gesagt hatte. Wenn Juden heidnische
lautet, »daß eine Frau sich nicht vom Frauen heirateten und Kinder von ihnen
Mann scheiden lassen soll«. hatten, wurde ihnen aufgetragen, daß sie
7,11 Doch er erkennt, daß es einige Frauen und Kinder wegschicken sollten.
Extremfälle gibt, wo es notwendig sein Das sieht man eindeutig in Esra 10,2.3
mag, daß eine Frau ihren Ehemann ver- und Nehemia 13,23-25.
läßt. In solche einem Falle ist sie ver- Nun hatte sich in Korinth die Frage
pflichtet, »unverheiratet« zu bleiben erhoben, was eine Frau, die sich bekehrt
»oder … sich mit dem Mann« zu versöh- hatte, mit ihrem Mann und ihren Kindern
nen. Trennung hebt nicht die eheliche machen sollte, oder was ein bekehrter
Bindung auf, sie gibt eher dem Herrn die Mann mit seiner ungläubigen Frau ma-
Gelegenheiten, den Streit zu schlichten, chen sollte. Sollte er sie wegschicken? Die
der die beiden getrennt hat und beide Antwort lautet offensichtlich nein. Das
Teile wieder in die Gemeinschaft mit ihm Gebot des AT gilt nicht mehr für das Volk
und untereinander zu bringen. Der Gottes unter der Gnade. Wenn ein Christ
»Mann« ist angewiesen, »seine Frau eine ungläubige Frau hat, und »sie willigt
nicht« zu entlassen. In seinem Fall wird ein, bei ihm zu wohnen«, dann sollte er sie
keine Ausnahme gemacht. nicht verlassen. Das bedeutet nicht, daß es
7,12 Die Verse 12-24 befassen sich mit richtig ist, einen Ungläubigen oder eine
dem Problem der Ehe, wenn nur ein Ungläubige zu heiraten, sondern daß er
Partner gläubig ist. Paulus leitet seine sie nicht verlassen soll, wenn er verheira-
Bemerkungen mit der Feststellung ein: tet ist und dann gläubig wird.
»Den übrigen aber sage ich, nicht der 7,13 Ebenso gilt, daß »eine Frau, die
Herr.« Und wieder möchten wir ener- einen ungläubigen Mann hat«, der ein-
gisch betonen, daß das nicht bedeutet, willigt, »bei ihr zu wohnen«, bei ihrem
daß das von Paulus Gesagte nur seine Mann bleiben sollte. Vielleicht gewinnt
eigene Ansicht und nicht die des Herrn sie ihn für den Herrn durch ihr demüti-
sei. Er will nur erklären, daß seine Aus- ges und gottesfürchtiges Zeugnis.

715
1. Korinther 7

7,14 Es ist wirklich so, daß die Anwe- Kinder zu haben, wenn ein Elternteil
senheit eines Gläubigen in einer ungläu- Christ ist und der andere nicht. Gott er-
bigen Familie einen heiligenden Einfluß kennt die Ehe an und die Kinder sind
hat. Wie schon früher angemerkt, bedeu- nicht unehelich.
tete »heiligen« aussondern. Hier bedeu- 7,15 Doch wie sollte der Christ han-
tet es nicht, daß der ungläubige Ehe- deln, wenn sein ungläubiger Partner sich
mann durch seine Frau gerettet wird, scheiden lassen will? Die Antwort lautet,
auch nicht, daß er durch sie heilig ge- daß er oder sie einwilligen sollte. Der
macht würde. Es heißt nur, daß er in dem Ausdruck »der Bruder oder die Schwe-
Sinne ausgesondert ist, daß er ein äußer- ster ist in solchen Fällen nicht geknech-
liches Vorrecht hat. Er hat das Glück, eine tet« ist nur sehr schwer endgültig zu
christliche Ehefrau zu haben, die für ihn erklären. Einige glauben, daß er bedeutet,
betet. Ihr Leben und ihr Zeugnis sind daß dann, wenn der ungläubige Teil den
göttlicher Einfluß auf ihre Familie. Vom Gläubigen verläßt, und es keinen Grund
menschlichen Standpunkt aus gesehen zu der Annahme gibt, daß die Trennung
ist die Wahrscheinlichkeit, gläubig zu nicht endgültig ist, der Gläubige frei ist,
werden, für diesen Mann größer, wenn sich scheiden zu lassen. Diejenigen, die
er eine gottesfürchtige, christliche Frau dieser Ansicht sind, lehren, daß Vers 15
hat, als wenn er eine ungläubige Frau ein Einschub ist, und daß Vers 16 und
hat. Wie Vine es gesagt hat: »Er wird Vers 14 folgendermaßen verbunden sind:
einem geistlichen Einfluß ausgesetzt, der 1. Vers 14 sagt aus, daß die Idealsituati-
in sich die Möglichkeit zur wirklichen on ist, wenn ein Gläubiger bei dem
19)
Bekehrung birgt.« Dasselbe gilt natür- ungläubigen Partner bleibt, weil
lich im Falle einer »ungläubigen Frau« dann der heiligende Einfluß eines
und einem christlichen Ehemann. Die Christen auf die Familie besteht.
»ungläubige Frau« ist in diesem Falle 2. Vers 16 legt nahe, daß der Gläubige
ebenfalls »geheiligt«. den Ungläubigen für Christus gewin-
Dann fügt der Apostel hinzu: »Sonst nen könnte, wenn er in der Familie
wären ja eure Kinder unrein, nun aber bleibt.
sind sie heilig.« Wir haben schon er- 3. Vers 15 ist ein Einschub, der es dem
wähnt, daß im AT die Kinder mit ihren Gläubigen erlaubt, sich scheiden zu
heidnischen Müttern weggeschickt wer- lassen (und eventuell wieder zu hei-
den sollten. Nun erklärt Paulus, daß im raten), wenn er oder sie vom Ungläu-
Zeitalter der Gnade die Kinder, die einer bigen verlassen wird.
Ehe entstammen, in der ein Partner gläu- Die Hoffnung, daß der Ungläubige
big ist und der andere nicht, »heilig« schließlich errettet wird, steht eher im
sind. Das Wort »heilig« kommt von dem- Zusammenhang damit, daß die Bezie-
selben Wort, das in diesem Vers mit hung bestehen bleibt, als daß er die Fami-
»geheiligt« übersetzt wird. Es bedeutet lie verläßt.
keinesfalls, daß die Kinder an sich heilig Doch andere Bibelausleger betonen,
gemacht würden, d. h., daß sie notwen- daß sich Vers 15 nur mit dem Thema der
digerweise ein reines Leben führen. Es Trennung und nicht mit Scheidung und
bedeutet jedoch, daß sie eine Vorrechts- Wiederheirat beschäftigt. Für sie bedeu-
stellung erhalten. Sie haben wenigstens tet es einfach, daß der Gläubige den Un-
einen Elternteil, der den Herrn liebt und gläubigen in Frieden ziehen lassen soll,
ihnen das Evangelium vermittelt. Es ist wenn er gehen möchte. Die Frau hat
sehr wahrscheinlich, daß sie gerettet nicht die Verpflichtung, die Ehe über das
werden. Sie haben das Vorrecht in einer hinaus aufrecht zu erhalten, was sie be-
Familie aufzuwachsen, in der ein Eltern- reits getan hat. »Zum Frieden hat uns
teil den Geist Gottes hat. In diesem Sinne Gott doch berufen«, und es wird von uns
sind sie geheiligt. Dieser Vers enthält nicht verlangt, emotionalen Druck oder
auch die Aussage, daß es nicht falsch ist, Gerichtsverfahren heranzuziehen, um

716
1. Korinther 7

den Ungläubigen von einer Scheidung Freude der Erlösung besteht die Gefahr,
abzuhalten. gewaltsam alles über den Haufen zu
Welche ist nun die richtige Interpreta- werfen, was man bisher kannte. Das
tion? Wir finden es unmöglich, das ab- Christentum wird jedoch keinen gewalt-
schließend zu beurteilen. Es scheint uns samen Umsturz benutzen, um seine Zie-
so zu sein, daß der Herr in Matthäus 19,9 le zu erreichen. Es erreicht seine Ziele auf
lehrte, daß Scheidung erlaubt ist, wenn friedliche Weise. In den Versen 17-24 er-
ein Teil sich der Untreue (des Ehebruchs) klärt Paulus die allgemeine Regel, daß es
schuldig gemacht hat. Wir glauben, daß nicht notwendigerweise zum Christsein
in einem solchen Falle der unschuldige gehört, alle bestehenden Verbindungen
Teil frei ist, wieder zu heiraten. Soweit auszurotten. Zweifellos hat er in erster
1. Korinther 7,15 betroffen ist, können Linie die ehelichen Bindungen im Blick,
wir nicht eindeutig sagen, daß der Vers doch es geht auch um rassische und so-
die Scheidung und Wiederheirat erlaubt, ziale Bindungen.
wenn ein Ungläubiger seinen christ- Jeder Gläubige sollte entsprechend
lichen Partner verlassen hat. Doch wird der Berufung des Herrn leben. Wenn er
jeder, der seinen Ehepartner verläßt, fast jemanden zur Ehe berufen hat, dann soll-
unausweichlich schon bald eine neue Be- te er diesem Ruf in der Furcht Gottes fol-
ziehung eingehen, und so wird die ur- gen. Wenn Gott jemandem die Gnade ge-
sprüngliche Ehe sowieso bald gebro- schenkt hat, ein eheloses Leben zu füh-
chen. J. M. Davies schreibt: ren, dann sollte der Betreffende dieser
Der Ungläubige, der sich scheiden läßt, Berufung folgen. Weiter, wenn jemand
wird wahrscheinlich bald wieder heiraten, zur Zeit seiner Bekehrung mit einer un-
was automatisch die Ehebeziehung bricht. gläubigen Frau verheiratet ist, dann
Wenn man darauf bestehen wollte, daß der braucht er diese Beziehung nicht zu zer-
Verlassene unverheiratet bleibt, würde man stören, sondern sollte seine ganzen Fä-
ihm oder ihr in den meisten Fällen ein Joch higkeiten dazu einsetzen, die Errettung
20)
auflegen, das sie wohl nicht tragen könnten. seiner Frau zu unterstützen. Was Paulus
7,16 Die Auslegung von Vers 16 kann hier den Korinthern sagt, gilt nicht nur
unterschiedlich sein, je nachdem, wie für sie, denn so hat er »es in allen Ge-
man Vers 15 ausgelegt hat. Wenn man meinden« verordnet. Vine schreibt:
glaubt, daß Vers 15 die Scheidung nicht Wenn Paulus sagt: »So verordne ich es in
erlaubt, so weist man auf diesen Vers als allen Gemeinden«, so spricht er nicht von
Beweis hin. Man argumentiert, daß der einem Dekret, das von einer Zentralmacht
Gläubige in die Trennung einwilligen, bestimmt wird, sondern informiert die Ge-
doch sich nicht vom Ungläubigen schei- meinde in Korinth einfach darüber, daß die
den lassen sollte, weil das die Möglich- Anweisungen, die er ihnen gegeben hat, die-
keit einer Wiederherstellung der eheli- selben waren, die er auch anderen Gemeinden
21)
chen Gemeinschaft verhindern und die gegeben hat.
Wahrscheinlichkeit, daß der Ungläubige 7,18 Paulus behandelt nun das The-
gerettet wird, herabsetzen würde. Wenn ma rassische Beziehungen in den Versen
man andererseits der Auffassung ist, daß 18 und 19. Wenn jemand zur Zeit seiner
Scheidung erlaubt ist, wenn der Gläubi- Bekehrung Jude ist, und das Zeichen der
ge verlassen worden ist, dann ist dieser Beschneidung an seinem Leib trägt, so
Vers mit Vers 14 verbunden und Vers 15 braucht er sich keine Gewalt anzutun,
wird als Einschub gewertet. um dieses rein äußerliche Zeichen seines
7,17 Es gibt manchmal bei Neube- alten Lebenswandels loszuwerden. Ge-
kehrten die Auffassung, daß sie sich von nauso braucht jemand, der zur Zeit sei-
jedem Abschnitt ihres früheren Leben ner Wiedergeburt ein Heide ist, seinen
trennen sollten, einschließlich solchen heidnischen Hintergrund nicht zu ver-
Einrichtungen wie der Ehe, die an sich leugnen, indem er das Zeichen des Juden
nicht sündhaft ist. In der neugefundenen annimmt.

717
1. Korinther 7

Wir können diesen Vers auch so inter- davon.« Es gibt zwei Interpretationen für
pretieren, daß ein Jude, wenn er sich diesen Satz. Einige sind der Ansicht, daß
bekehrt, keine Angst davor haben sollte, Paulus hier sagen will: »Wenn du frei-
weiter mit seiner jüdischen Frau zusam- kommen kannst, dann mache von dieser
menzuleben, oder wenn ein Heide sich Möglichkeit auf jeden Fall Gebrauch.«
bekehrt, daß er nun nicht versuchen soll, Andere sind der Ansicht, daß ein Sklave,
aus seinem heidnischen Hintergrund auch wenn er frei werden könnte, nicht
auszuscheren. Diese äußerlichen Unter- durch das Christentum verpflichtet ist,
schiede sind von untergeordneter Bedeu- diese Freiheit auch zu erlangen. Er sollte
tung. seine Knechtschaft eher als Zeugnis für
7,19 Wenn es um das Wesen des Chri- den Herrn Jesus nutzen. Die meisten be-
stentums geht, so ist »die Beschneidung vorzugen die erste Interpretation (die
… nichts, und das Unbeschnittensein … wahrscheinlich die richtige ist), doch
nichts«. Was wirklich zählt, ist »das Hal- sollten sie nicht die Tatsache übersehen,
ten der Gebote Gottes«. Mit anderen daß die zweite Möglichkeit eher dem
Worten, Gott interessiert sich für die Beispiel entspricht, das uns der Herr
innere Wirklichkeit, nicht für äußere Jesus Christus selbst gegeben hat.
Merkmale. Die Beziehungen des Alltags 7,22 »Denn der als Sklave im Herrn
müssen nicht mit Gewalt abgebrochen Berufene ist ein Freigelassener des
werden, wenn man Christ wird. »Statt Herrn.« Das bezieht sich nicht auf einen
dessen«, sagt Kelly, »wird der Gläubige frei Geborenen, sondern auf jemanden,
durch den christlichen Glauben in eine der frei gemacht wurde, d. h. auf einen
Position erhoben, in der er über alle Sklaven, der seine Freiheit erlangt hat. Mit
22)
Umstände erhaben ist.« anderen Worten, wenn jemand zur Zeit
7,20 Die allgemeine Regel lautet, daß seiner Bekehrung Sklave war, dann sollte
»jeder« mit Gott »in dem Stand« bleiben er sich darüber keine Sorgen machen, weil
solle, »in dem er berufen worden ist«. er der »Freigelassene des Herrn« ist. Er ist
Das bezieht sich natürlich nur auf Berufe, von seinen Sünden und der Knechtschaft
die an sich nicht sündig sind. Wenn Satans befreit. Andererseits sollte jemand,
jemand zur Zeit seiner Bekehrung in der zur Zeit seiner Bekehrung »frei« war,
unehrliche Geschäfte verwickelt ist, erkennen, daß er von nun an ein »Sklave«
dann wird natürlich erwartet, daß er ist, der mit Händen und Füßen an den
damit aufhört! Doch der Apostel behan- Retter gebunden ist.
delt hier Beschäftigungen, die an sich 7,23 Jeder Christ ist »um einen Preis
nicht falsch sind. Das zeigt sich in den erkauft«. Von nun an gehört er dem
folgenden Versen, in denen das Thema Einen, der ihn gekauft hat, nämlich dem
»Sklaven« besprochen wird. Herrn Jesus. Wir sollen Christi Knechte
7,21 Was sollte ein Sklave tun, wenn sein und »nicht Sklaven von Menschen«
er errettet ist? Sollte er gegen seinen werden.
Herrn aufbegehren und seine Freiheit 7,24 Deshalb kann jeder, ganz gleich,
verlangen? Fordert uns das Christentum welche gesellschaftliche Stellung er ein-
auf, unsere »Rechte« einzufordern? Pau- nimmt, »vor Gott« in dieser Stellung blei-
lus gibt uns hier die Antwort: »Bist du als ben. Die beiden Worte »vor Gott« sind
Sklave berufen worden, so laß es dich der Schlüssel zur gesamten Wahrheit.
nicht kümmern.« Mit anderen Worten: Wenn jemand »vor Gott« steht, dann
»Du warst bei deiner Bekehrung Sklave? kann sogar Sklaverei zur wahren Freiheit
Du brauchst dir darüber keine Sorgen zu werden. »Diese Freiheit veredelt und hei-
machen. Du kannst Sklave sein und ligt jede Lebensstellung.«
trotzdem die höchsten Segnungen des 7,25 In den Versen 25-38 richtet sich
Christentums genießen.« der Apostel an die Unverheirateten, ob
»Wenn du aber auch frei werden männlich oder weiblich. Das Wort »Jung-
kannst, mach um so lieber Gebrauch frau« kann sich auf beide beziehen. Vers

718
1. Korinther 7

25 ist ein weiterer Vers, der von einigen verbieten, ein Zeichen des Abfalls der
benutzt worden ist zu lehren, daß der letzten Tage sein werden (1. Tim 4,1-3).
Inhalt dieses Kapitels nicht unbedingt Deshalb stellt Paulus fest: »Wenn du
inspiriert sei. Sie gehen sogar so weit zu aber doch heiratest, so sündigst du nicht;
sagen, daß Paulus, der Junggeselle war, und wenn die Jungfrau heiratet, so sün-
ein Chauvinist gewesen sei, und daß sich digt sie nicht.« Neubekehrte sollten nie
hier seine persönlichen Vorurteile zei- annehmen, daß an der Ehe etwas falsch
gen! Wenn wir solch eine Haltung akzep- sein könnte. Doch fügt Paulus hinzu, daß
tieren, so haben wir hier natürlich einen die Frauen, die heiraten »Trübsal für das
harten Angriff auf die Inspiration der Fleisch haben« werden. Das könnte sich
Schrift. Wenn Paulus sagt, er »habe … auf die Schmerzen beziehen, die mit Ge-
kein Gebot des Herrn … über die Jung- burt usw. verbunden sind. Wenn Paulus
frauen«, so meint er einfach, daß der sagt: »Ich aber schone euch«, so kann er
Herr während seines irdischen Dienstes damit meinen: 1. Ich will euch vor den
keine ausdrückliche Anweisung zu die- leiblichen Schmerzen schonen, die mit
sem Thema gegeben hat. Deshalb sagt er der Ehe zusammenhängen, insbesondere
hier nun seine »Meinung als einer, der den Problemen eines Familienlebens;
vom Herrn die Barmherzigkeit empfan- oder 2. Ich will den Leser mit der Auf-
gen hat, vertrauenswürdig zu sein«, und zählung dieser Schmerzen verschonen.
diese »Meinung« ist von Gott inspiriert. 7,29 Paulus möchte hier betonen, daß
7,26 Im allgemeinen ist es »gut«, un- wir, weil »die Zeit … begrenzt« ist, auch
verheiratet zu sein, und zwar »um der diese an sich legitimen Lebensbeziehun-
gegenwärtigen Not willen«. »Die gegen- gen unterordnen sollen, um dem Herrn
wärtige Not« bezieht sich auf die Leiden zu dienen. Das Kommen Christi ist nahe,
in unserem irdischen Leben allgemein. und obwohl die Eheleute ihre jeweiligen
Vielleicht gab es eine besondere Leidens- Pflichten treu erfüllen sollen, sollten sie
zeit, als Paulus diesen Brief schrieb. Doch versuchen, Christus die erste Stelle in
Leid hat immer existiert und wird exi- ihrem Leben einzuräumen. Ironside
stieren, bis der Herr wiederkommt. drückt das so aus:
7,27 Der Rat des Paulus an die, die Jeder sollte sich bei seinem Handeln die
bereits verheiratet sind, lautet, nicht zu Tatsache vor Augen halten, daß die Zeit wirk-
versuchen, »los zu werden«, d. h. sich lich verfliegt, daß die Wiederkunft des Herrn
von der Frau oder dem Mann zu trennen. naht und daß keine Überlegungen zur eige-
Andererseits, wenn jemand »frei von nen Bequemlichkeit die Hingabe an den Wil-
23)
einer Frau« ist, so soll er »keine Frau« len Gottes behindern darf.
suchen. Der Ausdruck »frei von einer W. E. Vine sagt:
Frau« bedeutet hier nicht nur verwitwet Das bedeutet natürlich nicht, daß ein Ver-
oder geschieden. Es bedeutet einfach heirateter nun auf einmal aufhören sollte, sich
»frei« von allen ehelichen Bindungen, wie ein Ehemann zu verhalten, aber seine
und könnte auch die umfassen, die nie Beziehung zu seiner Frau sollte völlig seiner
geheiratet haben. höheren Beziehung zum Herrn untergeordnet
7,28 Keine der Aussagen des Paulus werden, … der den ersten Platz im Herzen
darf dazu mißbraucht werden zu be- einnehmen sollte. Er darf einer natürlichen
haupten, daß Heiraten eine Sünde sei. Beziehung nicht gestatten, seinen Gehorsam
24)
Schließlich wurde die Ehe von Gott be- Christus gegenüber zu gefährden.
reits im Garten Eden eingesetzt, ehe die 7,30 Die Sorgen, Freuden und Besitz-
Sünde in die Welt kam. Gott selbst hatte tümer dieses Lebens sollten in unserem
bestimmt: »Es ist nicht gut, daß der Leben nicht über Gebühr Beachtung fin-
Mensch allein sei« (1. Mose 2,18). »Die den. Sie alle müssen unserem Wunsch
Ehe ist ehrbar in allem, und das Ehebett untergeordnet werden, die Gelegenhei-
unbefleckt« (Hebr 13,4). Paulus spricht an ten, dem Herrn zu dienen, auszukaufen,
anderer Stelle, daß diejenigen, die die Ehe während es noch Tag ist.

719
1. Korinther 7

7,31 Wenn wir unser Leben auf der Dienst nur in einem begrenzten Umfeld
Erde führen, dann ist es unausweichlich, tun. Wenn er unverheiratet ist, kann er
daß wir einen gewissen Kontakt mit bis an die Enden der Erde reisen und das
25)
Weltlichem haben. Dieses darf im Leben Evangelium predigen.«
des Gläubigen genutzt werden. Doch 7,34 »Die unverheiratete Frau und die
Paulus warnt uns, daß wir es zwar »nut- Jungfrau ist für die Sache des Herrn
zen«, jedoch nicht mißbrauchen dürfen. So besorgt, damit sie heilig sei an Leib und
sollte ein Christ z. B. nicht für Essen, Klei- Geist; die Verheiratete aber ist für die
dung und Vergnügen leben. Er darf Essen Sache der Welt besorgt, wie sie dem
und Kleidung als Lebensnotwendigkei- Mann gefallen möge.« Auch hier ist ein
ten genießen, doch sollten sie nicht sein Wort der Erklärung nötig. »Die unverhei-
Gott werden. Ehe, Besitz, Geld oder poli- ratete Frau« oder »die Jungfrau« ist in
tische, wissenschaftliche, musikalische der Lage, einen größeren Teil ihrer Zeit
oder künstlerische Aktivitäten haben »für die Sache des Herrn« zu verwenden.
ihren Platz in der Welt, doch sie alle kön- Der Ausdruck »damit sie heilig sei an
nen sich als Ablenkung im geistlichen Leib und Geist« bedeutet nicht, daß der
Leben erweisen, wenn wir das zulassen. ledige Stand heiliger sei, sondern ein-
Der Ausdruck »denn die Gestalt die- fach, daß sie besser »an Leib und Geist«
ser Welt vergeht« ist aus dem Theaterle- für das Werk des Herrn ausgesondert sein
ben entliehen und bezieht sich auf die kann. Sie ist nicht von ihrem Wesen her
wechselnden Szenerien. Es spricht von reiner, sondern hat ihre Zeit besser zu
der Vergänglichkeit all dessen, das wir ihrer Verfügung.
heute um uns sehen. Diese Kurzlebigkeit Und wiederum, »die Verheiratete
wird in den berühmten Zeilen Shakes- aber ist für die Sache der Welt besorgt«.
peares ausgedrückt: »Die ganze Welt ist Das bedeutet nicht, daß sie notwendiger-
Bühne, und alle Frauen und Männer weise weltlicher gesinnt ist als die Un-
bloße Spieler. Sie treten auf und gehen verheiratete, sondern daß ihr Tag teil-
wieder ab, sein Leben lang spielt einer weise weltlichen Verpflichtungen wie
manche Rolle.« der Haushaltsführung gewidmet sein
7,32 Paulus möchte, daß die Christen muß. Diese Aufgaben zu erfüllen ist legi-
»ohne Sorge« sind. Er meint die Sorgen, tim und richtig, und Paulus kritisiert hier
die sie unnötigerweise daran hindern die Frauen nicht, noch will er sie schlecht
könnten, dem Herrn zu dienen. Und so machen. Er möchte nur einfach festhal-
fährt er fort, indem er erklärt, daß »der ten, daß eine unverheiratete Frau ein
Unverheiratete … für die Sache des weiteres Arbeitsfeld und mehr Zeit hat
Herrn besorgt« ist, »wie er dem Herrn als ein verheiratete Frau.
gefallen möge«. Das bedeutet nicht, daß 7,35 Paulus erklärt diese Lehre nicht,
alle unverheirateten Gläubigen sich um die Menschen unter ein strenges
selbst wirklich völlig dem Herrn hinge- Knechtschaftssystem zu zwingen. Er
ben, sondern, daß der ledige Stand die will sie nur zu ihrem »Nutzen« lehren,
Gelegenheit zur völligen Hingabe auf damit sie, wenn sie ihr Leben und ihren
eine Weise bietet, wie es der Ehestand Dienst für den Herrn bedenken, sie Got-
eben nicht tut. tes Führung im Lichte all dieser Anwei-
7,33 Das bedeutet aber nun nicht, daß sungen beurteilen können. Die Haltung
ein »Verheirateter« nicht intensiv nach des Paulus lautet, daß die Ehelosigkeit
dem Willen des Herrn fragt, sondern es gut ist und es einem Menschen ermög-
ist eine allgemeine Beobachtung, daß das licht, »ohne Ablenkung beim Herrn« zu
Eheleben verlangt, daß ein Mann »der bleiben. Laut Paulus ist der Mensch frei,
Frau gefallen« möchte. Er hat zusätzliche das Zölibat oder die Ehe zu wählen.
Verpflichtungen, an die er zu denken hat. Der Apostel möchte niemandem »eine
Wie Vine betont hat: »Im allgemeinen Schlinge überwerfen«, um ihn zu
kann ein Mann, der verheiratet ist, seinen knechten.

720
1. Korinther 7

7,36 Die Verse 36-38 sind vielleicht len und dies in seinem Herzen beschlossen
die am meisten mißverstandenen in die- hat, seine Jungfrauenschaft zu bewahren, der
sem Kapitel, vielleicht sogar im ganzen tut wohl. Also, wer heiratet, tut wohl, und
Brief. Die normale Erklärung ist folgen- wer nicht heiratet, tut besser.
dermaßen. Zur Zeit des Paulus übte der Wenn wir uns nun Vers 36 etwas
Mann eine strenge Kontrolle über seine genauer betrachten, dann sind wir der
Familie aus. Es hing von ihm ab, ob seine Ansicht, daß er bedeutet, daß, wenn ein
Töchter heirateten oder nicht. Sie konn- Mann reif wird, und wenn er nicht meint,
ten ohne seine Einwilligung nicht heira- die Gabe der Ehelosigkeit zu haben, er
ten. Deshalb werden diese Verse so inter- nicht sündigt, wenn er heiratet. Er be-
pretiert, daß es gut sei, wenn ein Mann merkt, daß eine Ehe notwendig ist, und
sich weigert, seine Töchter zu verheira- deshalb sollte er in diesem Fall tun, »was
ten, daß es jedoch keine Sünde sei, wenn er will«, d. h. heiraten.
er ihnen die Ehe erlaubt. 7,37 Wenn »aber« jemand beschlos-
Solch eine Interpretation scheint fast sen hat, dem Herrn ohne Ablenkung zu
bedeutungslos in bezug auf die heutige dienen, und wenn er genügend Selbstbe-
Gemeinde. Die Interpretation mißachtet herrschung besitzt, so daß es für ihn in
den Zusammenhang des restlichen Kapi- dieser Hinsicht »keine Not« gibt, und
tels und scheint uns hoffnungslos konfus wenn er entschlossen ist, ledig zu blei-
zu sein. ben, und zwar mit dem Ziel, Gott durch
GN übersetzt »Jungfrau« mit seinen Dienst zu verherrlichen, so »han-
»Braut«. Dann ginge es darum, daß es delt« er »gut«.
keine Sünde ist, wenn ein Mann seine 7,38 Die Schlußfolgerung lautet, daß,
Verlobte heiratet, daß er jedoch besser wer selbst »heiratet«, richtig handelt, daß
tut, wenn er sie nicht heiratet. Solch eine jedoch derjenige »besser« handelt, der
Ansicht ist jedoch ebenfalls voller um des Dienstes des Herrn willen ledig
27)
Schwierigkeiten. bleibt.
In seinem Kommentar zum 1. Ko- 7,39 Die letzten beiden Verse des
rintherbrief vertritt William Kelly eine Kapitels enthalten Ratschläge für Wit-
andere Ansicht, die uns von großem wen. »Eine Frau« ist an ihren Mann
Wert zu sein scheint. Kelly glaubt, daß »durch das Gesetz« (LU1912) gebunden,
das Wort »Jungfrau« (parthenos) auch mit »solange ihr Mann lebt«. Das »Gesetz«,
»Jungfrauenschaft« übersetzt werden das hier genannt wird, ist das Ehegesetz,
26)
könnte. Deshalb spricht dieser Ab- wie es von Gott eingesetzt wurde.
schnitt nicht über die jungfräulichen »Wenn« jedoch »der Mann« dieser Frau
Töchter eines Mannes, sondern von sei- »entschlafen ist, so ist sie frei, sich« mit
ner eigenen Jungfräulichkeit. Nach dieser einem anderen Mann »zu verheiraten«.
Auslegung sagt dieser Abschnitt aus, Dieselbe Wahrheit wird in Römer 7,1-3
daß ein Mann richtig handelt, wenn er gelehrt, nämlich, daß der Tod die Ehebe-
unverheiratet bleibt, doch wenn er sich ziehung beendet. Dennoch fügt der Apo-
zur Ehe entschließt, »sündigt er nicht«. stel hier noch eine Bedingung ihrer Ehe
John Nelson Darby übernahm diese an, daß sie nämlich »frei« ist, »sich zu
Auffassung, wie man in der nicht revi- verheiraten, an wen sie will, nur im
dierten Elberfelder Bibel sieht, an der er Herrn muß es geschehen«. Das bedeutet
maßgeblich mitgearbeitet hat: als erstes, daß derjenige, den sie heiratet,
Wenn aber jemand denkt, er handle auch ein Christ sein muß, doch bedeutet
ungeziemend mit seiner Jungfrauenschaft, es noch mehr. »Im Herrn« bedeutet »im
wenn er über die Jahre der Blüte hinausgeht, Willen des Herrn«. Mit anderen Worten,
und es muß also geschehen, so tue er, was er sie könnte einen Christen heiraten und
will; er sündigt nicht: Sie mögen heiraten. doch nicht im Willen des Herrn leben. Sie
Wer aber im Herzen feststeht und keine Not, muß die Führung des Herrn in dieser
sondern Gewalt hat über seinen eigenen Wil- Angelegenheit suchen und den Gläubi-

721
1. Korinther 7 und 8

gen heiraten, den der Herr für sie be- fanden heraus, daß der Metzger Fleisch
stimmt hat. verkaufte, das den Götzen geopfert wor-
7,40 Paulus’ ehrliche Ansicht ist nun, den war. Das hatte zwar nichts mit der
daß eine Witwe »glückseliger ist, wenn Qualität des Fleisches zu tun, aber sollte
sie so bleibt«, nämlich unverheiratet. Das ein Christ es kaufen? Ein anderes Szena-
ist kein Widerspruch zu 1. Timotheus 5,4, rio spielte sich vielleicht so ab: Ein Gläu-
wo Paulus den Rat gibt, daß jüngere Wit- biger wurde in ein Haus eingeladen und
wen heiraten sollten. In unserer Schrift- ihm wurde Essen vorgesetzt, welches
stelle spricht er von allgemeinen Grund- einem Götzen geopfert worden war.
sätzen – und gibt in 1. Timotheus eine Wenn er wußte, daß das der Fall war, soll-
Ausnahme an. te er an dem Essen teilnehmen? Paulus
Dann fügt er noch hinzu: »Ich denke beschäftigt sich nun mit diesen Fragen.
aber, daß auch ich Gottes Geist habe.« 8,1 Der Apostel beginnt mit der Fest-
Einige haben diese Worte mißverstan- stellung, daß in der Frage des »Götzen-
den. Sie glauben, daß Paulus sich nicht opferfleisches« sowohl die Korinther als
sicher gewesen sei, als er diese Anwei- auch er selbst »Erkenntnis haben«. Es
sungen gab! Wieder wehren wir uns sehr war kein Thema, bei dem sie völlig un-
gegen eine solche Interpretation. Es kann wissend gewesen wären. Sie wußten z. B.
keinen Zweifel an der Inspiration der »alle«, daß der bloße Akt der Opferung
Worte des Paulus in diesem Abschnitt das Fleisch an sich nicht geändert hatte.
geben. Er spricht hier ironisch. Seine Sein Geschmack und sein Nährwert
Apostelschaft und seine Lehre wurde waren derselbe geblieben. Doch Paulus
von einigen in Korinth angegriffen. Sie weist nun darauf hin, daß »Erkenntnis«
gaben vor, die Gedanken des Herrn zu aufbläht, »Liebe aber erbaut«. Damit
kennen, wenn sie sprachen. Paulus sagt meint er, daß Wissen allein in dieser Fra-
hier nun praktisch: »Was immer andere ge keine ausreichende Führung bietet.
von mir sagen mögen, ich denke, daß ich Wenn nur das Wissen allein als Maßstab
auch den Geist Gottes habe. Sie geben benutzt wird, dann führt das zu Stolz. In
vor, ihn zu haben, doch sicherlich sind Wirklichkeit muß ein Christ in allen die-
sie nicht der Ansicht, ein Monopol auf sen Fragen nicht nur sein Wissen ver-
den Heiligen Geist zu haben.« wenden, sondern auch Liebe üben. Er
Wir wissen, daß Paulus natürlich darf nicht nur daran denken, was für ihn
»Gottes Geist« bei allem hatte, was er uns selbst richtig ist, sondern was für die
geschrieben hat, und daß es für uns anderen am besten ist.
bedeutet, dem Glaubensweg zu folgen, 8,2.3 Vine hat Vers 2 folgendermaßen
wenn wir seine Anweisungen beachten. umschrieben: »Wenn jemand meint, daß
er völliges Wissen habe, dann hat er noch
B. Über das Essen von Fleisch, das nicht einmal begonnen zu erkennen, wie
zuvor den Götzen geopfert wurde wahres Wissen zu erlangen ist.« Ohne
(8,1-11,1) Liebe kann es kein echtes Wissen geben.
In 8,1-11,1 wird die Frage aufgegriffen, ob Auf der anderen Seite gilt: »Wenn aber
man Fleisch essen dürfe, das zuvor Göt- jemand Gott liebt, der ist von ihm er-
zen geopfert wurde. Diese Frage stellte kannt«, und zwar in dem Sinne, daß Gott
für die Christen, die sich erst kürzlich ihn anerkennt. In gewissem Sinne kennt
vom Heidentum zu Christus bekehrt hat- Gott natürlich jeden Menschen, aber in
ten, ein echtes Problem dar. Vielleicht einem anderen Sinne kennt er nur dieje-
wurden sie zu einem Fest in einem Tem- nigen, die Gläubige sind. Doch hier wird
pel eingeladen, wo es ein großes Fest- das Wort »kennen« gebraucht, um Zu-
mahl gab, bei dem vor allem Fleisch an- stimmung oder Gunst zu bezeichnen.
geboten wurde, das den Göttern geopfert Wenn jemand seine Entscheidung in sol-
worden war. Oder vielleicht gingen sie chen Angelegenheiten wie Götzenopfer-
auf den Markt, um Fleisch zu kaufen und fleisch aus der Liebe zu Gott und Men-

722
1. Korinther 8

schen heraus trifft, und nicht nur aus sei- Freiheit, die sie in Jesus Christus haben.
nem Wissen heraus, dann gewinnt der Da sie aus einem Umfeld des Götzen-
Mensch das Wohlwollen Gottes. dienstes kamen und an Götzen »ge-
8,4 Bezüglich des »Essens von Göt- wöhnt« waren, sind sie der Ansicht, daß
zenopferfleisch« verstehen die Gläubi- sie Götzendienst tun, wenn sie »Götzen-
gen, daß ein »Götze« kein echter Gott mit opferfleisch« essen. Sie sind der Ansicht,
Macht, Erkenntnis und Liebe ist. Paulus daß der Götze eine Realität darstellt,
will hier nicht die Existenz von Götzen und deshalb wird »ihr Gewissen, da es
an sich bestreiten, denn er wußte, daß es schwach ist, … befleckt«.
solche Bilder aus Holz oder Stein gab. Der Ausdruck »schwach« bedeutet
Später erkennt er noch an, daß hinter die- hier keine körperliche oder sogar geistli-
sen Bildern dämonische Mächte stehen. che Schwäche. Es handelt sich um einen
Doch hier betont er, daß die Götter, die Ausdruck, der diejenigen beschreibt, die
diese Götzen angeblich repräsentieren in sittlich neutralen Fragen überemp-
sollen, nicht existieren. Es ist »kein Gott findlich sind. So ist es z. B. von Gott her
als nur einer«, d. h. der Gott und Vater gestattet, daß ein Gläubiger Schweine-
unseres Herrn Jesus Christus. fleisch ißt. Während des AT wäre das für
8,5 Paulus gibt zu, daß es in der heid- einen Juden falsch gewesen, doch der
nischen Mythologie viele »sogenannte Christ hat die volle Freiheit, solche Spei-
Götter« gibt, etwa Jupiter, Juno oder Mer- sen zu sich zu nehmen. Doch ein Jude,
kur. Einige dieser Götter sollten angeb- der sich zum Christentum bekehrt, kann
lich »im Himmel« wohnen, und andere, noch immer Skrupel haben, Schwein zu
wie etwas Ceres und Neptun, hier »auf essen. Er mag der Ansicht sein, daß es
Erden«. In diesem Sinne gibt es »viele falsch ist, einen schönen Schweinebraten
Götter und viele Herren«, d. h. mytholo- zu verspeisen. Er ist dann der in der Bibel
gische Wesen, die die Menschen verehr- genannte »schwache Bruder«. Das be-
ten und von denen sie abhängig waren. deutet, daß er nicht im Genuß seiner vol-
8,6 Die Gläubigen wissen, daß es len christlichen Freiheit lebt. Und er wür-
doch nur »ein Gott« ist, »der Vater, von de auch wirklich sündigen, solange er
dem alle Dinge sind und wir auf ihn der Ansicht ist, daß es falsch ist, Fleisch
hin«. Das bedeutet, daß Gott, unser zu essen, und er ißt trotzdem. Das ist ge-
Vater, die Quelle oder der Schöpfer »aller meint, wenn gesagt wird: »ihr Gewissen,
Dinge« ist und daß »wir« für ihn geschaf- da es schwach ist, wird befleckt.« Wenn
fen wurden. Mit anderen Worten, er ist mir mein Gewissen eine bestimmte
das Ziel oder der Sinn unserer Existenz. Sache verbietet, und ich dann hingehe
Wir wissen auch, daß es nur »einen und gegen mein Gewissen handele, so ist
Herrn« gibt, nämlich den, »durch den das Sünde. »Alles aber, was nicht aus
alle Dinge sind und wir durch ihn«. Der Glauben ist, ist Sünde« (Röm 14,23).
Ausdruck »durch den alle Dinge sind«, 8,8 »Speise« an sich hat keine großen
beschreibt die Tatsache, daß der Herr Auswirkungen auf unsere Beziehung zu
Jesus der Vermittler Gottes ist, während Gott. Wenn wir uns gewisser Speisen
der Ausdruck »und wir durch ihn« uns enthalten, so macht es uns in Gottes
sagt, daß wir durch ihn geschaffen und Augen nicht besser, noch macht uns die
erlöst wurden. Teilhabe an bestimmten Speisen zu
Wenn Paulus sagt, daß es nur einen besonders guten Christen.
Gott, den Vater, gibt, so will er damit nicht 8,9 Doch obwohl wir nichts damit
sagen, daß der Herr Jesus Christus nicht gewinnen, solche Speisen zu uns zu neh-
Gott ist. Er zeigt hier nur die jeweiligen men, gibt es doch viel dabei zu verlieren,
Rollen, die diese beiden Personen bei der wenn ich mit meinem Verhalten einen
Schöpfung und Erlösung gespielt haben. »Schwachen« zu Fall bringe. Hier ist nun
8,7 Aber nicht alle Christen, insbeson- das Prinzip der christlichen Liebe anzu-
dere die Neubekehrten, verstehen die wenden. Ein Christ hat die Freiheit,

723
1. Korinther 8

Fleisch zu essen, das den Götzen geop- sterben, es nicht wagen sollten, seinen
fert wird, doch es wäre ausgesprochen geistlichen Fortschritt zu behindern,
falsch, wenn er damit seinem schwachen indem wir etwas tun, das ihn zu Fall
Bruder oder seiner schwachen Schwester bringen könnte. Ein paar Scheiben
zum »Anstoß« würde. Fleisch sind es wahrhaftig nicht wert!
8,10 Die Gefahr ist, daß der schwache 8,12 Es geht hierbei nicht nur darum,
Bruder dazu gebracht wird, etwas zu daß man gegen einen Bruder in Christus
tun, das sein Gewissen verurteilt, wenn sündigt oder sein »schwaches Gewissen
er einen anderen Christen etwas tun verletzt«, sondern es handelt sich um
»sieht«, das er selbst für fragwürdig hält. eine Sünde »gegen Christus« selbst. Was
In diesem Vers verurteilt der Apostel das immer wir einem seiner geringsten Brü-
Essen »im Götzentempel« wegen der der tun, tun wir ihm. Was ein Glied des
Auswirkungen, die es auf jemanden an- Leibes verletzt, schmerzt auch das
deren haben mag. Wenn hier Paulus Haupt. Vine weist darauf hin, daß der
davon spricht, »im Götzentempel zu Apostel bei der Behandlung jedes The-
Tisch« zu »liegen«, dann meint er damit mas seine Leser dazu bringt, die jeweili-
solche geselligen Veranstaltungen wie ge Angelegenheit im Licht des Sühneto-
Hochzeiten etc. Es wäre niemals richtig, des Christi zu sehen. Barnes sagt: »Es
in einem solchen Tempel zu essen, wenn handelt sich um eine Ermahnung aus tie-
das Essen Teilhabe am Götzendienst fer, zartfühlender Liebe, die uns die Lei-
beinhalten würde. Das wird von Paulus den und die Todesseufzer des Sohnes
28)
später verurteilt (10,15-26). Der Aus- Gottes vor Augen stellt.« Sünde »gegen
druck »wenn jemand dich, der du Er- Christus« ist »das schlimmste aller Ver-
kenntnis hast, … sieht« bedeutet, wenn brechen«, wie Godet sagt. Wenn wir das
jemand dich, der du die volle christliche erkannt haben, dann sollten wir alle un-
Freiheit genießt, und weißt, daß das Göt- sere Taten sehr sorgfältig im Lichte ihrer
zenopferfleisch weder unrein noch ver- Auswirkungen auf andere Menschen
derblich ist, etc. Das wichtige Prinzip untersuchen, und uns all dessen enthal-
hier ist, daß wir nicht nur bedenken müs- ten, was unserem Bruder zum Anstoß
sen, welche Auswirkungen eine Hand- werden könnte.
lung auf uns selbst hat, sondern daß es 8,13 Weil es eine Sünde gegen Chri-
noch viel wichtiger ist, welche Auswir- stus ist, seinem »Bruder Ärgernis« zu
kung es auf andere hat. geben, stellt Paulus hier fest, daß er nie
8,11 Jemand kann so mit seiner mehr »Fleisch essen« will, wenn das sei-
»Erkenntnis« prahlen oder mit dem, was nem »Bruder« zum Fallstrick werden
einem Christen erlaubt ist, daß er einen könnte. Das Werk Gottes am Leben eines
Bruder in Christus zum Straucheln anderen Menschen ist wesentlich wichti-
bringt. Das Wort »umkommen« bedeutet ger als ein zartes Stück Filet! Obwohl das
nicht, daß er seine ewige Erlösung verlie- Thema Götzenopferfleisch heute für die
ren würde. Es bedeutet nicht den Verlust meisten Christen kein Problem mehr dar-
seines Wesens, sondern seines Wohlerge- stellt, so behalten doch die Prinzipien, die
hens. Das Zeugnis dieses schwachen Bru- uns der Geist Gottes in diesem Abschnitt
ders würde unmöglich gemacht, und an die Hand gibt, ihren Wert. Es gibt heu-
sein Leben könnte nicht mehr in dem te im christlichen Leben viele Dinge, die
Maße wie früher für Gott nützlich sein zwar im Wort Gottes nicht verboten sind,
können. Wie schlimm eine solche Verlet- doch unnötigerweise für schwächere
zung eines schwächeren Bruders in Chri- Christen ein Anstoß werden könnten. Wir
stus ist, wird durch die Worte angedeutet hätten zwar das Recht, daran teilzuhaben,
»um dessentwillen Christus gestorben doch gibt es ein größeres Recht, das hier
ist«. Paulus argumentiert hier, daß wir, Vorrang hat, nämlich das Recht des geist-
wenn der Herr Jesus diesen Mann so sehr lichen Wohlergehens derer, die wir in
geliebt hat, daß er bereit war, für ihn zu Christus lieben, unsere Mitchristen.

724
1. Korinther 9

9,1 Auf den ersten Blick scheint mit Gläubigen finanziellen Ausgleich zu
Kapitel 9 ein neues Thema zu beginnen. erhalten. Doch er hatte dieses Recht nicht
Doch die Frage des Götzenopferfleisches immer in Anspruch genommen. Er hatte
wird uns noch zwei weitere Kapitel lang oft mit seinen Händen gearbeitet, indem
beschäftigen. Paulus macht hier nur er Zelte machte, damit er in der Lage war,
einen Einschub, um sein eigenes Beispiel das Evangelium den Menschen frei und
der Selbstverleugnung zum Wohl ande- ohne Verpflichtungen zu predigen. Zwei-
rer darzustellen. Er war bereit, sein Recht fellos nützten seine Gegner diese Tatsa-
auf finanzielle Unterstützung als Apostel che und meinten, daß der Grund, aus
im Einklang mit dem Prinzip von 8,13 dem er keinen Unterhalt nähme, darin
aufzugeben. Deshalb ist dieses Kapitel bestände, daß er wüßte, daß er kein rich-
mit Kapitel 8 aufs engste verbunden. tiger Apostel sei. Er führt sein Thema
Wie wir wissen, gab es in Korinth Brü- fort, indem er eine Frage stellt: »Haben
der, die die Autorität des Paulus anzwei- wir etwa kein Recht, zu essen und zu trin-
felten. Sie sagten, daß er keiner der Zwölf ken?« – d. h. ohne dafür selbst arbeiten
sei, und deshalb kein echter Apostel. Pau- zu müssen? Haben wir kein Recht, von
lus wendet ein, daß er nicht unter mensch- der Gemeinde unterstützt zu werden?
licher Autorität stehe und ein echter 9,5 »Haben wir etwa kein Recht, eine
»Apostel« des Herrn Jesus sei. Er begrün- Schwester als Frau mitzunehmen wie die
det diesen Anspruch mit zwei Tatsachen. übrigen Apostel und die Brüder des
Erstens hatte er »Jesus, unseren Herrn« in Herrn und Kephas?« Vielleicht haben
seiner Auferstehungsherrlichkeit »gese- einige der Kritiker des Paulus gesagt,
hen«. Das geschah auf der Straße nach Da- daß Paulus nicht geheiratet habe, weil er
maskus. Außerdem weist er auf die Ko- gewußt habe, daß er und seine Frau nicht
rinther selbst als Beweis seiner Apostel- berechtigt waren, von den Gemeinden
schaft hin, indem er die Frage stellt: »Seid unterhalten zu werden. Petrus und die
nicht ihr mein Werk im Herrn?« Wenn sie anderen Apostel waren verheiratet, wie
irgendwelche Zweifel an seiner Apostel- auch »die Brüder des Herrn«. Hier stellt
schaft hatten, dann brauchten sie nur sich der Apostel fest, daß er genau dasselbe
selbst zu untersuchen. Waren sie gerettet? Recht habe, verheiratet zu sein und von
Natürlich, würden sie sagen. Nun, wer der Gemeinde für sich und seine Frau
hat sie zu Christus geführt? Natürlich der Unterhalt zu verlangen. Der Ausdruck
Apostel Paulus! Deshalb waren sie selbst »eine Schwester als Frau mitzunehmen«
ein Beweis für die Tatsache, daß er ein ech- bezieht sich nicht nur auf das Recht zur
ter Apostel des Herrn war. Heirat, sondern auch auf das Anrecht auf
9,2 »Andere« mochten ihn nicht als Unterhalt für Ehemann und Ehefrau.
»Apostel« anerkennen, doch die Korin- »Die Brüder des Herrn« sind wahr-
ther selbst sollten das auf alle Fälle tun. scheinlich seine wirklichen Halbbrüder
Sie waren »das Siegel« seines »Apostel- oder vielleicht seine Vettern. Dieser Text
amtes … im Herrn«. allein löst das Problem nicht, obwohl
9,3 Vers 3 bezieht sich wahrscheinlich andere Schriftstellen darauf hinweisen,
auf etwas Vorhergegangenes. Paulus daß Maria noch andere Kinder nach
sagt hier, daß das, was er soeben gesagt Jesus, ihrem Erstgeborenen, hatte (Lk 2,7;
hat, seine »Verteidigung vor denen, die s. Matth 1,25; 12,46; 13,55; Mk 6,3;
mich zur Untersuchung ziehen« ist, bzw. Joh 2,12; Gal 1,19).
vor denen, die seine Autorität als Apo- 9,6 Es scheint, daß »Barnabas«, wie
stel in Frage stellen. Paulus, gearbeitet hatte, um seinen Le-
9,4 In den Versen 4-14 spricht der bensunterhalt zu bestreiten, während er
Apostel von seinem »Recht«, finanziellen das Evangelium predigte. Paulus fragt
Unterhalt zu erhalten. Als jemand, der nun, ob nur sie allein das »Recht« haben,
von dem Herrn Jesus ausgesendet wor- »nicht zu arbeiten« und sich vom Volk
den war, war Paulus berechtigt, von den Gottes unterhalten zu lassen.

725
1. Korinther 9

9,7 Der Apostel hat seinen Anspruch diesen Arbeiten in seinem Dienst beteili-
auf Unterhalt zunächst mit dem Beispiel gen, nicht auf eigene Kosten arbeiten sol-
der anderen Apostel begründet. Er wen- len.
det sich nun einem Argument aus dem 9,11 Paulus sagt von sich selbst, er
Bereich der menschlichen Erfahrung zu. habe für die Christen in Korinth »das
Ein Soldat wird nicht »auf eigenen Sold« Geistliche gesät«. Mit anderen Worten, er
in den »Kriegsdienst« geschickt. Nie- war nach Korinth gekommen, hatte
mand erwartet, daß jemand, der »einen ihnen das Evangelium gepredigt und sie
Weinberg« pflanzt, keinen Nutzen aus wertvolle geistliche Wahrheiten gelehrt.
seiner »Frucht« zieht. Schließlich wird War es nun zu viel, daß sie ihm als
von keinem Hirten erwartet, »eine Gegenleistung ein wenig mit ihren
Herde« zu hüten und »von der Milch der Finanzen oder anderem »Irdischen« die-
Herde« nicht zu trinken. Der christliche nen sollten? Das Argument lautet hier:
Dienst ist wie Kriegsführung, Ackerbau »Der Lohn des Predigers ist sehr viel
und das Hirtenleben. Es gehört dazu, weniger wert, als das, was er euch gege-
daß man gegen den Feind kämpft, Gottes ben hat. Materieller Nutzen ist ver-
Bäume beschützt und als Unterhirte sei- gleichsweise klein gegen geistliche Seg-
nen Schafen dient. Wenn das Recht auf nungen.«
Unterhalt in diesen irdischen Berufen 9,12 Paulus war sich bewußt, daß die
anerkannt wird, wieviel mehr sollte das- Gemeinde in Korinth »andere« unter-
selbe für den Dienst des Herrn gelten! stützt hat, die in der Gemeinde predigten
9,8 Als nächstes wendet sich Paulus oder lehrten. Sie erkannten diese Ver-
dem AT zu, um weitere Beweise für seine pflichtung anderen gegenüber an, nicht
Argumente zu erhalten. Soll er seine jedoch gegenüber Paulus, und deshalb
Argumente nur auf diese irdischen Din- fragt er: »Wenn andere an dem Verfü-
ge wie Kriegsführung, Ackerbau und gungsrecht über euch Anteil haben, nicht
Viehzucht bauen? »Sagt das nicht auch erst recht wir?« Wenn sie das Recht ande-
das Gesetz?« rer auf finanzielle Unterstützung aner-
9,9 In 5. Mose 25,4 wird deutlich aus- kannten, wollten sie dann nicht erken-
gesagt, daß »dem Ochsen, der da drischt, nen, daß er, ihr Vater im Glauben, dieses
nicht das Maul« verbunden werden sol- Recht auch habe? Zweifellos waren eini-
le. Das heißt, wenn das Tier bei der Ernte ge, die sie unterstützten, die jüdischen
hilft, dann sollte es einen Anteil an dieser Irrlehrer. Paulus fügt nun hinzu, daß er,
Ernte erhalten. »Ist Gott etwa um die obwohl er »dieses Recht« gehabt hat,
Ochsen besorgt?« Natürlich sorgt er sich davon bei den Korinthern keinen Ge-
um die Ochsen, doch ließ er diese Anga- brauch gemacht habe, »sondern … alles
ben im AT nicht nur um der stummen ertragen« habe, »damit« er »dem Evan-
Kreatur willen machen. Hier finden wir gelium Christi kein Hindernis bereite«.
ein geistliches Prinzip, das auf unser Statt auf seinem Recht zu bestehen, von
Leben und unseren Dienst anzuwenden ihnen unterhalten zu werden, trug er lie-
ist. ber alle möglichen Härten und Entbeh-
9,10 »Oder spricht er nicht durchaus rungen, damit das Evangelium nicht
um unsertwillen?« Die Antwort lautet gehindert werde.
»ja«, unser Wohlergehen lag ihm am Her- 9,13 Paulus führt nun als nächstes
zen, als diese Worte »geschrieben« wur- Argument an, daß diejenigen, die im jü-
den. Wenn jemand pflügt, dann sollte er dischen Tempel Dienst taten, auch unter-
in der Erwartung eines Lohnes »pflü- stützt wurden. Diejenigen, die offizielle
gen«. Ebenso, wenn er drischt, so sollte Pflichten im Zusammenhang mit dem
er als Ausgleich dafür »am Ertrag teilha- Tempeldienst hatten, wurden von dem
ben«. Ein Teil des christlichen Dienstes Einkommen des Tempels unterhalten. In
ist wie pflügen und dreschen, und Gott diesem Sinne lebten sie »aus dem Tem-
hat bestimmt, daß diejenigen, die sich an pel«. Auch die Priester selbst, die »am

726
1. Korinther 9

Altar« dienten, erhielten einen »Anteil« Apostelschaft von Gott gedrängt wurde.
des Opfers, das »am Altar« gebracht Dies will er nun im zweiten Teil dieses
wurde. Mit anderen Worten, sowohl die Verses weiter ausführen. Wenn er nun
Leviten, die untergeordnete Dienste im aus »Zwang« predigt, nämlich weil ein
Tempel taten, wie auch die Priester, Feuer in ihm brennt und er das Predigen
denen die heiligsten Verrichtungen an- nicht lassen kann, dann ist er »mit einer
vertraut waren, lebten von ihrem Dienst. Verwaltung« des Evangeliums »betraut«
9,14 Schließlich führt Paulus noch das worden. Er war jemand, der nur Anwei-
direkte Gebot des »Herrn« selbst an. Er sungen ausführte, und deshalb konnte er
hatte »denen, die das Evangelium ver- sich dessen nicht rühmen.
kündigen, verordnet, vom Evangelium Vers 17 ist zugegebenermaßen
zu leben«. Das allein hätte schon als Be- schwierig, und doch scheint die Bedeu-
weis genügen sollen, daß Paulus das tung zu sein, daß Paulus sein Recht auf
Recht hatte, von den Korinthern den Unterhalt von den Korinthern nicht ein-
Unterhalt zu fordern. Doch damit erhebt fordern wollte, weil der Dienst keine Be-
sich die Frage, warum er nicht darauf rufung war, die er sich selbst ausgesucht
bestanden hatte, von ihnen Unterhalt zu hatte. Er wurde von Gott in diese Beru-
empfangen. Die Antwort erhalten wir in fung hineingeschickt. Die Irrlehrer in
den Versen 15-18. Korinth mochten das Recht beanspru-
9,15 Er erklärt, daß er »von keinem chen, von den Heiligen unterhalten zu
dieser Dinge Gebrauch gemacht« habe, werden, doch der Apostel Paulus würde
d. h., er bestand nicht auf seinem Recht. seinen Lohn an anderer Stelle suchen.
Auch hat er davon jetzt nicht »ge- Knox hat den Vers folgendermaßen um-
schrieben«, weil er von ihnen Geld haben schrieben: »Ich kann eine Belohnung für
wollte. Er würde lieber »sterben als – etwas fordern, das ich aus eigenem An-
meinen Ruhm soll mir niemand zunichte trieb getan habe, doch wenn ich unter
machen«. Zwang handle, dann führe ich nur einen
9,16 Paulus sagt hier, daß er sich nicht Auftrag aus.«
der Tatsache rühmen könne, daß er »das Ryrie kommentiert:
Evangelium verkündige«. Ihm war in Paulus konnte sich der Verantwortung,
dieser Hinsicht ein göttlicher »Zwang« das Evangelium zu predigen, nicht entzie-
auferlegt. Es war nicht eine Berufung, die hen, weil ihm eine »Verwaltung« (Verant-
er sich selbst ausgesucht hätte. Er wäre wortung) anvertraut worden war und er die
unglücklich geworden, wenn er nicht der Anweisung hatte zu predigen, auch wenn
göttlichen Sendung gehorcht hätte. Das ihm nie etwas dafür gezahlt werden würde
29)
bedeutet nicht, daß der Apostel nicht (vgl. Lk 17,10).
gewillt gewesen wäre, das Evangelium 9,18 Wenn er sich nun der Tatsache
zu predigen, sondern daß die Entschei- nicht rühmen konnte, daß er das Evange-
dung zu predigen nicht von ihm selbst lium predigte, wessen konnte er sich
stammte, sondern vom Herrn. dann rühmen? Er konnte sich dessen rüh-
9,17 Wenn der Apostel nun »freiwil- men, daß er es freiwillig tat, nämlich daß
lig« das Evangelium predigte, dann hät- er bei seiner »Verkündigung das Evange-
te er den »Lohn zu erwarten«, der mit lium kostenfrei« weitergab. Dazu konnte
diesem Dienst verbunden ist, nämlich er sich entschließen. Er predigte also den
das Recht auf Unterstützung. Im ganzen Korinthern das Evangelium und ver-
Alten und Neuen Testament wird ein- diente sich gleichzeitig noch seinen Un-
deutig gelehrt, daß diejenigen, die dem terhalt, so daß er sein Recht zum Unter-
Herrn dienen, berechtigt sind, vom Volk halt durch das Evangelium nicht nutzte.
Gottes unterhalten zu werden. In diesem Um die Argumentation des Apostels
Abschnitt meint Paulus nun nicht, daß er an dieser Stelle zusammenzufassen: Er
dem Herrn nur widerwillig diene, son- unterscheidet hier zwischen dem, was er
dern er sagt einfach aus, daß er zu seiner aus Zwang tut, und dem, was er freiwil-

727
1. Korinther 9

lig tut. Es geht hier nicht darum, daß er sich Juden bekehrten. Was dieser Satz
das Evangelium unwillig predigte. Er tat bedeutet, könnte man mit der Vorgehens-
es voller Freude. Doch in einem sehr rea- weise verdeutlichen, die Paulus benutzte,
len Sinne hatte er eine ernsthafte Ver- als es um die Beschneidung von Timothe-
pflichtung zu erfüllen. Deshalb hatte er us und Titus ging. Im Falle des Titus gab
keinen Grund zum Rühmen, wenn er es Leute, die der Ansicht waren, daß er
diese Verpflichtung erfüllte. Als er das erst gerettet werden könne, wenn er be-
Evangelium predigte, hätte er darauf be- schnitten war. Als Paulus diese Ansicht
stehen können, finanziell unterstützt zu als frontalen Angriff auf das Evangelium
werden, doch das tat er nicht, sondern der Gnade Gottes erkannte, weigerte er
entschied sich statt dessen, »das Evange- sich standhaft, Titus beschneiden zu las-
lium kostenfrei« an die Korinther weiter- sen (Gal 2,3). Doch im Falle des Timothe-
zugeben. Weil er dies nun aus eigenem us scheint kein solches Thema beteiligt
Entschluß tat, wollte er sich nun dessen gewesen zu sein. Deshalb war der Apo-
rühmen. Wie wir schon angedeutet ha- stel bereit, Timotheus beschneiden zu las-
ben, behaupteten die Kritiker des Paulus, sen, wenn das dazu führen könnte, daß
daß seine Arbeit als Zeltmacher zeige, das Evangelium bereitwilliger angenom-
daß er sich selbst nicht für einen echten men wurde (Apg 16,3).
Apostel hielt. Hier nun zeigt er, daß »Denen, die unter dem Gesetz sind,
nichtsdestoweniger seine Apostelschaft bin ich geworden wie unter dem Ge-
30)
echt war, und zwar von sehr hochstehen- setz, auf daß ich die, so unter dem Ge-
der und edler Art. setz sind, gewinne« (LU1912). »Die unter
9,19 In den Versen 19-22 führt Paulus dem Gesetz sind«, sind die Juden. Doch
sein Beispiel an, daß er seine Rechte um Paulus hat schon im ersten Teil des Ver-
des Evangeliums willen aufgab. Wenn ses von seinem Handeln gegenüber den
wir diesen Abschnitt untersuchen, ist es Juden gesprochen. Warum greift er dann
wichtig sich zu vergegenwärtigen, daß dieses Thema hier noch einmal auf? Es
Paulus hier nicht meint, daß er jemals wurde oft erklärt, daß er, wenn er im
wichtige Schriftprinzipien geopfert hät- ersten Teil von den Juden spricht, sich
te. Er war nie der Ansicht, daß der Zweck auf ihre Volksbräuche bezieht, während
die Mittel heilige. In diesem Vers spricht er hier auf ihr religiöses Leben anspielt.
er über moralisch neutrale Dinge. Er paß- An diesem Punkt ist ein kurzes Wort
te sich den Gebräuchen und Gewohnhei- der Erklärung notwendig. Als Jude ist
ten der Menschen an, unter denen er Paulus unter dem Gesetz geboren. Er
arbeitete, damit er ein offenes Ohr für versuchte, vor Gott angenehm zu sein,
das Evangelium finde. Doch er tat nie indem er das Gesetz hielt, doch merkte
etwas, das die Wahrheit des Evangeli- er, daß er dazu nicht fähig war. Das
ums verleugnet hätte. Gesetz zeigte ihm, was für ein verdorbe-
In gewissem Sinne war er »frei« von ner Sünder er war und verurteilte ihn
allen Menschen. Niemand konnte zu Ge- radikal. Schließlich lernte er, daß das Ge-
richt über ihn sitzen oder ihn zu etwas setz kein Erlösungsweg ist, sondern nur
zwingen. Doch er selbst begab sich in die Gottes Mittel, um dem Menschen seine
Sklaverei »aller« Menschen, »damit« er Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftig-
»immer mehr gewinne«. Wenn er Kon- keit zu zeigen. Paulus glaubte daraufhin
zessionen machen konnte, ohne eine dem Herrn Jesus Christus und wurde
göttliche Wahrheit dabei zu verraten, damit frei von der Verurteilung durch
dann tat er das, um Menschen für Chri- das Gesetz. Die Strafe für das gebrochene
stus zu gewinnen. Gesetz wurde vom Herrn Jesus am
9,20 »Den Juden« ist er »ein Jude ge- Kreuz von Golgatha getragen.
worden, damit« er »die Juden gewinne«. Nach seiner Bekehrung lernte der
Das heißt nicht, daß er sich selbst wieder Apostel, daß das Gesetz weder einen Er-
unter das Gesetz des Mose stellte, damit lösungsweg noch eine Lebensregel für

728
1. Korinther 9

die Geretteten darstellt. Der Gläubige paßte sich nur den Gebräuchen und Ge-
steht nicht unter dem Gesetz, sondern wohnheiten an, die die Menschen hatten,
unter der Gnade. Das bedeutet nicht, daß um sie für den Herrn zu gewinnen.
er handeln kann, wie es ihm gefällt. Es 9,21 Ryrie schreibt:
bedeutet eher, daß ein echtes Verstehen Paulus zeigt hier kein Doppelgesicht,
der Gnade Gottes ihn davon abhalten sondern legt Zeugnis von einer ständigen
wird, etwas zu tun, was Gott nicht ge- strengen Selbstdisziplin ab, die er aufrecht
fällt. Weil der Heilige Geist im Christen erhielt, um in der Lage zu sein, vielen ver-
wohnt, wird er auf eine neue Ebene des schiedenen Menschen zu dienen. Ebenso wie
Verhaltens gehoben. Er möchte ein heili- ein schmaler kanalisierter Fluß kräftiger ist
ges Leben führen, nicht aus Furcht vor als ein uferloser, schlammiger Strom, so führt
der Strafe für den Gesetzesbruch, son- eine beschränkte Freiheit zu einem vollmäch-
32)
dern aus Liebe zu Christus, der für ihn tigeren Zeugnis für Christus.
starb und wieder auferstanden ist. Unter Gegenüber »denen, die ohne Gesetz
dem Gesetz war die Angst das Motiv für sind« handelte Paulus »wie einer ohne
Gehorsam, unter der Gnade ist Liebe das Gesetz« (auch wenn er »selbst nicht ohne
Motiv. Die Liebe bietet eine weit höhere Gesetz« war). »Die ohne Gesetz sind«
Motivation als die Angst. Die Menschen sind keine Verbrecher oder Gesetzlose,
werden aus Liebe Dinge tun, die sie aus die sich nicht an die Gesetze halten, son-
einfacher Angst nie tun würden. dern es handelt sich bei dem Ausdruck
Arnot sagt: um eine allgemeine Bezeichnung für die
Gottes Methode, Menschen im Gehorsam Heiden. Das Gesetz als solches war den
an sich zu binden ähnelt der, mit der er die Juden gegeben und nicht den Heiden.
Planeten auf ihren Bahnen hält – indem er Wenn also Paulus bei den Heiden war,
sie frei läßt. Wir sehen keine Kette, die diese paßte er sich ihren Gewohnheiten und
schimmernden Welten davon abhält, sich von Gefühlen an, soweit es ihm möglich war,
ihrem Zentrum zu entfernen. Sie werden von ohne den Herrn dabei zu verleugnen.
einem unsichtbaren Prinzip gehalten … Und Der Apostel erklärte, daß er, auch wenn
so werden erlöste Menschen durch das er »wie einer ohne Gesetz« handelte,
unsichtbare Band der Liebe – Liebe zu dem »nicht ohne Gesetz vor Gott« war. Er war
Herrn, der sie erkauft hat – zu einem gerech- nicht der Ansicht, frei zu sein, um tun zu
ten, gottesfürchtigen und nüchternen Leben können, was ihm gefiel, »sondern« stand
31)
gebracht. »unter dem Gesetz Christi«. Mit anderen
Mit dieser kurzen Erklärung im Hin- Worten, er war daran gebunden, den
terkopf sollten wir uns nun dem zweiten Herrn Jesus zu lieben, zu ehren, ihm zu
Teil von Vers 20 zuwenden. »Denen, die dienen und zu gefallen, aber nicht durch
unter dem Gesetz sind, bin ich geworden das Gesetz des Mose, sondern durch das
wie unter dem Gesetz, auf daß ich die, so Gesetz der Liebe. Er war an Christus
unter dem Gesetz sind, gewinne« gebunden. Wir haben das Sprichwort
(LU1912). Wenn er mit Juden zusammen »Wenn du in Rom bist, lebe wie ein
war, dann verhielt sich Paulus in mora- Römer«. Paulus sagt hier, daß er, wenn er
lisch neutralen Fragen wie ein Jude. Er aß bei den Heiden war, sich an ihre Lebens-
z. B. die Speisen, die die Juden aßen, und weise so weit anpaßte, wie er es konnte,
enthielt sich solcher Speisen wie Schwei- ohne Christus zu verleugnen. Doch wir
nefleisch, die ihnen verboten waren. müssen uns immer daran erinnern, daß
Vielleicht arbeitete Paulus auch am Sab- es sich hier nur um kulturelle Gegeben-
bat nicht, weil er erkannte, wenn er das heiten handelt, die keine lehrmäßige
tat, daß dann das Evangelium von den oder moralische Bedeutung haben.
Menschen bereitwilliger gehört wurde. 9,22 Vers 22 spricht von denen, die
Als wiedergeborener Gläubiger an »schwach« sind oder zu viele Skrupel
den Herrn Jesus stand der Apostel nicht haben. Sie waren in Bereichen sehr emp-
unter dem Gesetz als Lebensregel. Er findlich, die wirklich nebensächlich

729
1. Korinther 9

waren. »Den Schwachen« ist Paulus Preis« erringen. Das christliche Leben ist
33)
»wie ein Schwacher« geworden, um sie wie ein Wettlauf. Es erfordert Selbstdiszi-
zu gewinnen. Er wollte lieber vegetarisch plin. Es erfordert anstrengende Mühe.
leben, als ihnen Anstoß zu geben, indem Man braucht Entschlossenheit, um das
er Fleisch aß. Kurz gesagt wurde Paulus Ziel zu erreichen. Der Vers sagt jedoch
»allen alles, damit« er »auf alle Weise eini- nicht aus, daß das christliche Rennen nur
ge errette«. Diese Verse sollten niemals von einem einzigen gewonnen werden
mißbraucht werden, um das Aufgeben kann. Er lehrt einfach, daß wir alle wie
eines schriftgemäßen Prinzips zu recht- Gewinner laufen sollten. Wir sollten alle
fertigen. Sie beschreiben nur die Bereit- dieselbe Selbstverleugnung praktizieren,
schaft, sich den Gewohnheiten und Ge- die sich der Apostel Paulus auferlegte.
bräuchen der Menschen anzupassen, um Hier ist der Preis natürlich nicht die Erlö-
ein offenes Ohr für die gute Nachricht von sung, sondern der Lohn für treuen
der Erlösung zu erreichen. Wenn Paulus Dienst. Von der Erlösung wird nirgends
sagt: »Damit ich auf alle Weise einige er- ausgesagt, daß sie das Ergebnis unserer
rette«, so ist er nicht für einen Augenblick Treue im Rennen sei. Die Erlösung ist ein
der Meinung, daß er einen anderen Men- Geschenk Gottes durch den Glauben an
schen erretten könnte, denn er wußte, daß den Herrn Jesus Christus.
nur der Herr Jesus jemanden retten kann. 9,25 Nun wendet sich der Apostel
Gleichzeitig ist es wundervoll zu sehen, einem neuen Bild zu: dem Ringen. Er
daß diejenigen, die Christus am Evangeli- erinnert seine Leser daran, daß »jeder,
um dienen, mit ihm so eng verbunden der« in den Spielen »kämpft«, d. h. an
sind, daß er ihnen sogar gestatten kann, den Ringkämpfen teilnimmt, »in allem«
das Wort »erretten« zu benutzen, wenn Selbstkontrolle übt. Ein Ringer fragte
sie von ihrer eigenen Arbeit sprechen. Wie einmal seinen Trainer: »Kann ich nicht
sehr adelt, ehrt und erhebt das doch den rauchen und trinken und mir eine gute
Dienst am Evangelium! Zeit machen, und trotzdem noch rin-
Die Verse 23-27 beschreiben das gen?« »Das kannst du sicherlich«, sagte
Schicksal, das man erleidet, wenn man der Trainer, »aber du kannst nicht mehr
durch mangelnde Selbstdisziplin seinen gewinnen!« Als Paulus an die Teilneh-
Lohn verliert. Für Paulus war die Zu- mer der Spiele dachte, sah er den Gewin-
rückweisung finanzieller Hilfe von den ner, wie er hinaufsteigt, um seinen Preis
Korinthern eine Form der strengen in Empfang zu nehmen. Was für ein Preis
Selbstdisziplin. ist das? Ein »vergänglicher Siegeskranz«,
9,23 »Ich tue aber alles um des Evan- eine Blumengirlande oder ein Blätter-
geliums willen, um an ihm Anteil zu kranz, der schon bald verwelkt. Paulus
bekommen.« In den vorhergehenden erwähnt nun im Vergleich dazu den »un-
Versen hatte Paulus beschrieben, wie er vergänglichen« Siegeskranz, der all
seine eigenen Rechte und Wünsche im denen gegeben wird, die in ihrem Dienst
Werk des Herrn unterdrückte. Warum tat für Christus treu gewesen sind.
er das? Er tat es »um des Evangeliums 9,26 Angesichts der unvergänglichen
willen«, damit er eines Tages Anteil am Krone stellt Paulus fest, daß er deshalb
Sieg des Evangeliums haben würde. nicht »ins Ungewisse« läuft, und nicht
9,24 Zweifellos erinnerte sich der als einer kämpft, »der in die Luft
Apostel an die Isthmischen Spiele, die schlägt«. Sein Dienst war weder ziellos
nicht weit von Korinth ausgetragen wur- noch ineffektiv. Er hatte ein genaues Ziel
den, als er die Worte von Vers 24 nieder- vor Augen, und seine Absicht war, daß
schrieb. Die korinthischen Gläubigen jede seiner Handlungen zählen sollte. Er
waren mit diesen athletischen Wett- erlaubte sich keine Zeit- oder Energiever-
kämpfen wohlvertraut. Paulus erinnert schwendung.
sie daran, daß zwar viele »in der Renn- 9,27 Statt dessen disziplinierte er sei-
bahn laufen«, jedoch nicht alle »den nen »Leib« und »knechtete« ihn, damit er

730
1. Korinther 9 und 10

nicht, nachdem er »anderen gepredigt, Jedenfalls sollten wir diesen Ab-


selbst verwerflich« oder abgelehnt wer- schnitt sehr ernst nehmen. Er sollte jeden
den würde. Im christlichen Leben brau- von uns, der dem Herrn Christus dienen
chen wir Selbstbeherrschung, Disziplin will, zu tiefster Herzenserforschung füh-
und Mäßigung. Wir müssen Selbstzucht ren. Jeder sollte sich entschließen, daß er
üben. durch die Gnade Gottes niemals dieses
Der Apostel Paulus erkannte die Wort am eigenen Leib erfahren will.
schreckliche Möglichkeit, »selbst ver- Während Paulus über die Notwen-
werflich« zu werden, nachdem er »ande- digkeit der Selbstbeherrschung nach-
ren gepredigt« hat. Man hat über diesen denkt, erinnert er sich an das Beispiel der
Vers viel diskutiert. Einige sind der An- Israeliten. In Kapitel 10 erinnert er uns
sicht, daß er lehrt, daß ein Mensch geret- daran, wie sie sich selbst durch mangeln-
tet werden und wieder verloren gehen de Selbstdisziplin des Leibes verwöhn-
kann. Das steht natürlich im Gegensatz ten und so »verwerflich« bzw. disqualifi-
zur allgemeinen Lehre des NT, die aus- ziert wurden.
sagt, daß kein Schaf Christi je verloren Zunächst spricht er von den Vorrech-
gehen wird. ten Israels (V. 1-4), dann von der Strafe
Andere sagen, daß das Wort, das hier Israels (V. 5) und schließlich von den
34)
mit »verwerflich« übersetzt wird, ein Ursachen des Niederganges Israels (V. 6-
sehr hartes Wort ist und sich auf die 10). Dann erklärt er, wie diese Ereignisse
ewige Verdammnis bezieht. Doch sie auf uns anzuwenden sind (V. 11-13).
interpretieren den Vers so, daß Paulus 10,1 Der Apostel erinnert die Ko-
nicht lehre, daß jemand, der einmal er- rinther, daß die jüdischen »Väter alle
rettet worden ist, jemals »verwerflich« unter der Wolke waren und alle durch das
werden könne, sondern daß jemand, der Meer hindurchgegangen sind«. Die Beto-
sich keine Selbstdisziplin auferlegt, nie- nung liegt auf dem Wort »alle«. Er denkt
mals errettet war. Wenn man an die an die Zeit der Befreiung aus Ägypten
falschen Lehrer denkt, wie sie jeder Lei- zurück und wie die Israeliten auf wun-
denschaft und Begier folgten, zeigt uns dersame Weise tagsüber durch eine Wol-
Paulus nach dieser Auffassung hier das kensäule und nachts durch eine Feuersäu-
allgemeine Prinzip auf, daß es ein Beweis le geführt wurden. Er denkt an die Zeit
dafür ist, wenn jemand seinen Leib nicht zurück, als sie durch das Rote Meer gin-
in Unterordnung halten kann, daß dieser gen und in die Wüste entkommen konn-
Mensch niemals wiedergeboren ist, und ten. Jeder von ihnen hatte das Vorrecht
daß er zwar vielleicht anderen predigt, er der göttlichen Führung und Befreiung.
selbst jedoch verworfen wird. 10,2 Doch nicht nur das, sondern
Eine dritte Erklärung lautet, daß Pau- »alle« wurden »in der Wolke und im
lus hier nicht von der Erlösung spricht, Meer auf Mose getauft«. »Auf Mose
sondern vom Dienst. Er will hier nicht getauft« werden bedeutet, sich mit ihm
andeuten, daß er selbst je verloren gehen zu identifizieren und seine Führerschaft
könnte, sondern, daß er die Prüfung sei- anzuerkennen. Als Mose die Kinder Isra-
nes Dienstes nicht bestehen könnte, und el aus Ägypten ins gelobte Land führte,
deshalb nicht den Preis erhalten könnte. da schwor ihm das ganze Volk zunächst
Diese Auslegung paßt genau zur Bedeu- Treue und erkannte ihn als den von Gott
tung des Wortes »disqualifiziert« und eingesetzten Erlöser an. Man hat vorge-
dem Zusammenhang, in welchem es um schlagen, daß der Ausdruck »unter der
Wettkämpfe geht. Paulus erkennt die Wolke« auf das hinweist, was sie mit
schreckliche Möglichkeit, daß er selbst, Gott verband, während der Ausdruck
der »anderen gepredigt« hat, vom Herrn »durch das Meer« beschreibt, was sie von
auf die Ersatzbank gesetzt werden könn- Ägypten trennte.
te, weil er für ihn nicht mehr brauchbar 10,3 Sie aßen »alle dieselbe geistliche
ist. Speise«. Das bezieht sich auf das Manna,

731
1. Korinther 10

das durch ein Wunder dem Volk Israel sie noch immer nach den sündigen Ver-
geschenkt wurde, als sie durch die Wüste gnügungen dieses Landes. Von allen
zogen. Der Ausdruck »geistliche Speise« Kriegern über zwanzig Jahren, die Ägyp-
bedeutet nicht, daß es sich nicht um ech- ten verließen, haben nur zwei, nämlich
tes Essen gehandelt hätte. Auch bedeutet Kaleb und Josua, den Preis errungen – sie
es nicht, daß die Speise unsichtbar oder erreichten das gelobte Land. Die Leiber
immateriell gewesen wäre. »Geistlich« der restlichen von ihnen sind als Zeichen
bedeutet hier nur, daß das materielle des Mißfallens Gottes »in der Wüste hin-
Essen ein Bild oder Typus der geistlichen gestreckt worden«.
Ernährung war, und daß es die geistliche Man beachte den Kontrast zwischen
Realität war, die der Autor in erster Linie dem Worte »alle« in den ersten vier Ver-
im Sinn hatte. Der Ausdruck kann aber sen und dem Wort »die meisten« in Vers
auch die Vorstellung beinhalten, daß die 5. Alle hatten die gleichen Vorrechte,
Speise auf übernatürliche Weise ge- doch die »meisten von ihnen« vergingen
schenkt wurde. in der Wüste. Godet wundert sich:
10,4 Auf all ihren Reisen schenkte Welch ein Schauspiel ist das, das der
Gott den Israeliten Wasser zum Trinken Apostel den selbstzufriedenen Korinthern
durch Wunder. Es war echtes Wasser, vor Augen stellt: All die Leiber, gefüllt mit
doch auch hier hören wir vom »geistli- wunderbarer Speise und wunderbarem
chen Trank« in dem Sinne, daß er ein Trank, die auf dem Boden der Wüste ver-
35)
Typus der geistlichen Erfrischung war streut liegen!
und durch ein Wunder geschenkt wurde. 10,6 In den Ereignissen zur Zeit des
Sie wären oft vor Durst umgekommen, Auszuges sehen wir eine Lehre, die wir
wenn der Herr ihnen nicht dieses Wasser auf uns anwenden können. Die Kinder
auf wunderbare Weise zur Verfügung Israel waren in Wirklichkeit »Vorbilder«
gestellt hätte. Der Ausdruck »sie tranken für uns, die uns zeigen, was geschehen
aus einem geistlichen Felsen, der sie wird, wenn uns auch »nach bösen Din-
begleitete« bedeutet nicht, daß ein wört- gen gelüstet, wie es jene gelüstete«.
licher, materieller Felsen hinter ihnen Wenn wir das AT lesen, sollten wir es
herzog, als sie reisten. Der Felsen steht nicht nur als Geschichtsbuch lesen, son-
für den Fluß, der aus ihm floß und den dern sollten beachten, daß es praktisch
Israeliten folgte. »Der Fels aber war der relevante Lektionen für unser jetziges
Christus« in dem Sinne, daß Christus Leben enthält.
derjenige war, der das Wasser spendete, In den folgenden Versen wird der
und außerdem ist der Fels ein Bild für Apostel einige besondere Sünden nen-
Christus, der sein Volk mit lebendigem nen, in die die Israeliten verfielen. Es ist
Wasser tränkt. besonders interessant, daß viele dieser
10,5 Nachdem der Apostel all die Sünden damit zu tun hatten, daß sie die
wunderbaren Vorrechte aufgezählt hat, leiblichen Lüste befriedigten.
die den Israeliten zuteil wurden, muß er 10,7 Vers 7 bezieht sich auf die Anbe-
nun die Korinther daran erinnern, daß tung des goldenen Kalbes und das Fest,
Gott »an den meisten von ihnen … kein das darauf folgte, wie es in 2. Mose 32
Wohlgefallen« hatte, »denn sie sind in festgehalten worden ist. Als Mose vom
der Wüste hingestreckt worden«. Ob- Berg Sinai hinabstieg, sah er, daß das
wohl Israel Ägypten verlassen hatte und Volk ein goldenes Kalb gemacht hatte
bekannte, ein Herz und eine Seele mit und es anbetete. Wir lesen in 2. Mose
ihrem Führer Mose zu sein, war es doch 32,6, wie sich »das Volk« niedersetzte,
die traurige Wahrheit, daß ihre Leiber »zu essen und zu trinken, und sie stan-
zwar in der Wüste waren, doch ihre Her- den auf, zu spielen«, d. h. zu tanzen.
zen in Ägypten geblieben waren. Sie 10,8 Die Sünde, die in Vers 8 erwähnt
genossen die leibliche Befreiung aus der wird, bezieht sich auf die Zeit, als die
Knechtschaft des Pharao, doch gelüstete Kinder Israels sich mit den Töchtern

732
1. Korinther 10

Moabs verheirateten (4. Mose 25). Sie zu stehen meint, sehe zu, daß er nicht fal-
wurden von Bileam verführt, dem Wort le.« Vielleicht bezieht sich das besonders
des Herrn nicht mehr zu gehorchen und auf den starken Gläubigen, der meint, er
verfielen der Sittenlosigkeit. Wir lesen in könne mit der Befriedigung seiner eige-
Vers 8, daß »an einem Tag dreiundzwan- nen Wünsche spielen und davon nicht
zigtausend« fielen. Im AT heißt es, daß beeinflußt werden. Solch ein Mensch
vierundzwanzigtausend bei der Plage befindet sich in der großen Gefahr, unter
umkamen (4. Mose 25,9). Bibelkritiker die strafende Hand Gottes zu geraten.
haben diese Tatsache oft mißbraucht um 10,13 Doch dann fügt Paulus ein
zu zeigen, welche Widersprüche in der wunderbares Wort der Ermutigung für
Heiligen Schrift zu finden sind. Wenn sie diejenigen hinzu, die angefochten wer-
jedoch den Text etwas genauer gesehen den. Er lehrt, daß die Erprobungen, Ver-
hätten, hätten sie erkannt, daß hier kein suchungen und Prüfungen, die uns be-
Widerspruch besteht. Hier heißt es ein- gegnen, »menschlich« sind, d. h. für alle
fach, daß dreiundzwanzigtausend an einem Menschen gelten. Doch »Gott … ist treu,
Tag fielen. Im AT steht die Zahl vierund- der nicht zulassen wird«, daß wir »über«
zwanzigtausend jedoch für alle Menschen, unser »Vermögen versucht« werden.
die bei der gesamten Plage gestorben sind. Gott verheißt uns nicht, daß er uns Ver-
10,9 Paulus spielt als nächstes auf die suchungen und Prüfungen erspart, doch
Zeit an, als die Israeliten sich über die er verspricht, ihre Schwere zu begrenzen.
Speisen beschwerten und an der Güte Außerdem verheißt er uns, »den Aus-
des Herrn zweifelten. Zu diesem Zeit- gang« zu »schaffen, so daß« wir »sie er-
punkt sandte Gott »Schlangen« unter sie, tragen« können. Wenn wir diesen Vers
und viele starben (4. Mose 21,5.6). Hier lesen, dann können wir nur erschüttert
sehen wir wieder, wie das Verlangen sein von dem enormen Trost, den er an-
nach Essen ihren Niedergang einleitete. gefochtenen Heiligen Gottes gespendet
10,10 In diesem Vers ist die Sünde hat. Junge Gläubige haben sich an diesen
Korahs, Dathans und Abirams gemeint Vers als Rettungsleine geklammert und
(4. Mose 16,14-47). Und wieder ging es ältere Gläubige haben sich auf ihm als
um Klagen gegen den Herrn wegen der Ruhekissen niedergelassen. Vielleicht
Versorgungslage (4. Mose 16,14). Die waren zu dieser Zeit einige der Leser des
Israeliten übten keine Selbstzucht über Paulus schwer versucht, dem Götzen-
ihre Leiber aus. Sie disziplinierten ihre dienst zu verfallen. Paulus tröstete sie
Leiber nicht, noch beherrschten sie diese. mit dem Gedanken, daß Gott nicht erlau-
Statt dessen trugen sie Sorge um die ben würde, daß eine unerträgliche Versu-
Lüste des Fleisches, und das erwies sich chung in ihrem Leben entstehen würde.
als ihr Fallstrick. Gleichzeitig sollten sie jedoch gewarnt
10,11 Die nächsten drei Verse zeigen werden, daß sie sich nicht selbst der Ver-
uns die praktische Anwendung dieser suchung aussetzten.
Ereignisse. Als erstes erklärt uns Paulus, 10,14 Im Abschnitt von 10,14 bis 11,1
daß die Bedeutung dieser Vorgänge sich kehrt Paulus nun wieder zu dem engeren
nicht auf ihren historischen Wert be- Thema des Götzenopferfleisches zurück.
schränkt. Sie haben heute für uns eine Zunächst nimmt er die Frage auf, ob
Bedeutung. All das »ist geschrieben wor- Gläubige an Festen in Götzentempeln
den« als Ermahnung für uns, die nach der teilnehmen sollten (V. 14-22).
Beendigung des jüdischen Zeitalters und »Darum, meine Geliebten, flieht den
während des Zeitalters des Evangeliums Götzendienst.« Vielleicht war es für die
leben, für uns, »die wir von den Erträgen Gläubigen in Korinth eine echte Versu-
aller vergangenen Zeitalter leben«, wie chung, wenn sie zu einem Götzenfest in
Rendall Harris es so treffend ausdrückt. einem der Tempel eingeladen wurden.
10,12 Diese Worte sind eine Warnung Einige mochten sich erhaben über jede
für die Selbstzufriedenen: »Daher, wer Versuchung glauben. Vielleicht sagten sie:

733
1. Korinther 10

»Einmal ist keinmal.« Der inspirierte Rat Normalerweise versteht ein Neubekehr-
des Apostels lautet, »den Götzendienst« ter zunächst den Wert des Blutes Christi,
zu »fliehen«. Er sagt nicht, daß wir uns ehe er die Wahrheit des einen Leibes
damit beschäftigen sollten, um ihn besser erkennt. Deshalb könnte dieser Vers die
kennenzulernen, oder daß wir damit zeitliche Reihenfolge angeben, in der wir
irgendwie spielen könnten. Wir sollten in die Erlösung verstehen.
die entgegengesetzte Richtung laufen. 10,17 Alle Gläubigen, obwohl sie »die
10,15.16 Paulus weiß, daß er sich an vielen« sind, sind »ein Leib« in Christus,
intelligente Menschen wendet, die ver- was durch das »eine Brot« dargestellt
stehen können, was er sagt. In Vers 16 er- wird. »Alle nehmen teil an dem einen
wähnt er das Herrnmahl. Er sagt zu- Brot« in dem Sinne, daß alle gemeinsam
nächst: »Der Kelch der Segnung, den wir den Segen erlangen, der von der Opfe-
segnen, ist er nicht die Gemeinschaft des rung des Leibes Christi zu uns fließt.
Blutes des Christus?« »Der Kelch der 10,18 Paulus sagt in diesen Versen,
Segnung« ist der »Kelch« mit Wein, der daß das Essen am Tisch des Herrn die
beim Abendmahl verwendet wird. Er ist Gemeinschaft mit dem Herrn darstellt.
ein »Kelch«, der von der besonderen Dasselbe galt für die Israeliten, die von
»Segnung« spricht, die uns durch den den »Schlachtopfern« gegessen haben.
Tod Christi geworden ist, deshalb wird Das bedeutete, daß sie »Gemeinschaft«
er »der Kelch der Segnung« genannt. Der mit dem »Altar« hatten. Der Vers bezieht
Satz »den wir segnen« bedeutet: »für den sich zweifellos auf das Friedensopfer. Ein
wir Dank sagen.« Wenn wir diesen Kelch Teil des Opfers wurde auf dem Altar ver-
nehmen und an unsere Lippen führen, brannt, ein anderer Teil war den Prie-
dann sagen wir damit praktisch, daß wir stern vorbehalten, doch der dritte Teil ge-
an dem Segen teilhaben, den uns das Blut hörte dem Opfernden und seinen Freun-
Christi schenkt. Deshalb können wir die- den. Sie aßen das Opfer am gleichen Tag.
sen Vers wie folgt umschreiben: Paulus betont hier, daß alle, die von dem
Der Kelch, der von den besonderen Seg- Opfer aßen, sich mit Gott und dem Volk
nungen spricht, die auf uns durch das Blut Israel identifizierten und mit allem, von
des Herrn Jesus gekommen sind, und dersel- dem der »Altar« sprach.
be Kelch, für den wir danken: Was ist er ande- Doch wie gehört dieses Schriftzitat in
res als ein Zeugnis für die Tatsache, daß alle den Zusammenhang dessen, was wir
Gläubigen Teilhaber am Segen des Blutes soeben erforschen? Die Antwort ist ganz
sind. einfach. Genauso wie die Teilhabe am
Dasselbe gilt für »das Brot, das wir Mahl des Herrn von der Gemeinschaft
brechen«, das Brot des Herrnmahls. mit dem Herrn spricht, und genauso wie
Wenn wir das Brot essen, sagen wir prak- die Teilnahme der Israeliten am Friedens-
tisch, daß wir alle durch das Opfer seines opfer von der Gemeinschaft mit dem
Leibes am Kreuz von Golgatha errettet Altar Jahwes spricht, so spricht das Essen
worden sind und deshalb Glieder an sei- eines Götzenopfers in einem Tempel von
nem Leib sind. Kurz gesagt sprechen der der Gemeinschaft mit dem Götzen.
Kelch und das Brot von der Gemein- 10,19 »Was sage ich nun? Daß das
schaft mit Christus und von der Teilhabe einem Götzen Geopferte etwas sei? Oder
an seinem herrlichen Dienst für uns. daß ein Götzenbild etwas sei?« Will Pau-
Es ist die Frage aufgeworfen worden, lus hier sagen, daß das Opfern des Flei-
warum das Blut in diesem Vers zuerst sches das Wesen oder die Qualität des
genannt wird, während bei der Einset- Fleisches verändert? Oder meint er, daß
zung des Herrnmahles das Brot zuerst ein Götze ein wirklicher Gott ist, daß er
erwähnt wird. Eine mögliche Antwort hört, sieht und Macht hat? Die offensicht-
lautet, daß Paulus hier von der Reihen- liche Antwort auf beide Fragen ist »Nein«.
folge der Ereignisse spricht, wenn wir in 10,20 Paulus will hier betonen, »daß
die christliche Gemeinschaft eintreten. das, was« die Heiden »opfern, sie den

734
1. Korinther 10

Dämonen opfern«. Auf sehr seltsame liam Kelly einmal gesagt hat: »Die Liebe
und mysteriöse Weise ist der Götzen- kann bei geteilter Zuneigung nicht
dienst mit den Dämonen verbunden. anders als eifersüchtig werden, sie wäre
Indem sie die Götzen benutzen, kontrol- keine Liebe mehr, wenn sie Untreue nicht
36)
lieren die Dämonen Herz und Sinn derer, übelnehmen würde.« Der Christ sollte
die an sie glauben. Es gibt nur einen Teu- sich fürchten, Gott so zu mißfallen oder
fel, nämlich Satan, doch es gibt viele seinen gerechten Zorn herauszufordern.
Dämonen, die seine Boten und Agenten Oder »sind wir etwa stärker als er«? D. h.,
sind. Paulus fügt hinzu: »Ich will aber wagen wir es, ihn zu betrüben und sein
nicht, daß ihr Gemeinschaft habt mit den strafendes Urteil über uns zu ziehen?
Dämonen.« 10,23 Der Apostel wendet sich nun
10,21 »Ihr könnt nicht des Herrn vom Thema der Teilhabe an Götzenop-
Kelch trinken und der Dämonen Kelch; ferfesten ab und erklärt einige allgemei-
ihr könnt nicht am Tisch des Herrn teil- ne Prinzipien, die die Christen in ihrem
nehmen und am Tisch der Dämonen.« In alltäglichen Leben leiten sollten. Wenn er
diesem Vers ist »des Herrn Kelch« ein sagt: »Alles ist erlaubt«, so meint er das
bildlicher Ausdruck, der die Segnungen nicht absolut. Er will z. B. nicht im Ge-
beschreibt, die uns durch Christus zuteil ringsten andeuten, daß es ihm erlaubt
werden. Wir haben es hier mit einem sei, zu morden oder sich sinnlos zu be-
sprachlichen Bild zu tun, das als Metony- trinken! Hier müssen wir wieder verste-
mie bekannt ist, wo das Gefäß für dessen hen, daß sich dieser Ausdruck auf Ange-
Inhalt steht. Auch der Ausdruck »Tisch legenheiten bezieht, die wertneutral
des Herrn« ist solch ein bildlicher Aus- sind. Es gibt einen großen Bereich im
druck. Es geht hier nicht nur um das christlichen Leben, wo Dinge an sich völ-
Herrnmahl an sich, aber es ist in dem lig legitim sind, und es doch aus anderen
Bild enthalten. Ein Tisch ist ein Möbel- Gründen für einen Christen nicht gut
stück, wo Essen ausgeteilt und Gemein- wäre, daran teilzuhaben. Deshalb sagt
schaft genossen wird. Hier steht der Paulus: »Alles ist erlaubt, aber nicht alles
»Tisch des Herrn« stellvertretend für die ist nützlich.« So mag etwas zum Beispiel
Gesamtsumme der Segnungen, die wir für einen Gläubigen durchaus erlaubt
in Christus genießen. sein, und doch kann es sein, daß es nicht
Wenn Paulus sagt, daß wir »nicht des gut ist, so angesichts der Gebräuche des
Herrn Kelch … und der Dämonen Kelch« Landes, in dem er lebt, zu handeln. Auch
trinken können, und daß wir »nicht am gibt es Dinge, die zwar an sich nicht böse
Tisch des Herrn … und am Tisch der sind, aber auch nicht erbauend. Das
Dämonen« teilnehmen können, so meint heißt, meine Handlungsweise führt nicht
er damit nicht, daß uns das leiblich dazu, daß ein Bruder in seinem Glauben
unmöglich ist. Es ist natürlich möglich, erbaut wird. Sollte ich dann so hoch-
daß ein Gläubiger in einen Götzentempel mütig sein, und meine eigenen Rechte
geht und dort an einem Festmahl teil- einklagen? Oder sollte ich nicht lieber be-
nimmt. Doch Paulus meint hier die achten, was meinem Bruder in Christus
moralische Inkonsequenz. Es wäre Ver- hilft?
rat und Untreue gegen den Herrn, wenn 10,24 Bei allen Entscheidungen, die
wir einerseits bekennen, daß wir ihm wir treffen, sollten wir nicht selbstsüch-
anhängen und treu sind, und dann hin- tig daran denken, was uns selbst gut tut,
gingen und mit denen Gemeinschaft sondern wir sollten besser auf das Wohl-
haben, die den Götzen dienen. Es wäre ergehen »des anderen« achten. Die Prin-
moralisch unpassend und eine Versündi- zipien, die wir in diesem Abschnitt stu-
gung gegen den Herrn. dieren, kann man sehr gut auf Themen
10,22 Aber nicht nur das, es wäre wie Kleidung, Essen und Trinken, Le-
nicht möglich, so zu handeln, ohne »den bensstandard und Unterhaltung, an der
Herrn zur Eifersucht reizen«. Wie Wil- wir teilnehmen, anwenden.

735
1. Korinther 10

10,25 Wenn ein Gläubiger auf den Die Frage: »Denn warum wird meine
»Fleischmarkt« ging, um etwas Fleisch Freiheit von einem anderen Gewissen
zu kaufen, so wurde von ihm nicht beurteilt?« könnte man vielleicht folgen-
erwartet, daß er den Händler fragte, ob dermaßen umschreiben:
das Fleisch vorher den Götzen geopfert Warum sollte ich meine Freiheit selbst-
worden war. Das Fleisch selbst wurde süchtig vor allen zeigen und das Fleisch
dadurch in keiner Weise beeinflußt, und essen, wenn ich damit vom Gewissen eines
in diesem Zusammenhang handelte es anderen verurteilt werde? Warum sollte ich
sich nicht um Untreue gegen Christus. meine Freiheit der Verurteilung seines
10,26 Als Erklärung dieses Rates Gewissens aussetzen? Warum sollte ich von
zitiert Paulus aus Psalm 24,1: »Denn die dem, was für mich gut ist, schlecht von ande-
Erde ist des Herrn und ihre Fülle.« Der ren reden lassen? (Vgl. Röm 14,16)
Gedanke hier ist, daß die Speisen, die wir Ist denn ein Stück Fleisch so wichtig,
zu uns nehmen, uns vom Herrn in seiner daß ich einem Mitgläubigen solch einen
Gnade geschenkt sind und daß sie beson- Anstoß liefern sollte? (Doch viele Kom-
ders zu unserem Gebrauch gemacht mentatoren glauben, daß Paulus hier
wurden. Heinrici berichtet uns, daß die- einen Einwand der Korinther zitiert, oder
se Worte aus Psalm 24 allgemein bei den eine rhetorische Frage stellt, ehe er sie in
Juden als Dankgebet bei Tisch benutzt den folgenden Versen beantwortet.)
werden. 10,30 Hier sagt der Apostel anschei-
10,27 Nun spricht Paulus von einer nend, daß es ihm sehr widersprüchlich
anderen Situation, die einen Gläubigen erscheint, Gott einerseits »Dank« zu
dazu führen könnte, Fragen zu stellen. sagen, wenn man andererseits mit dieser
Man stelle sich vor, ein Ungläubiger lädt Handlungsweise einen Bruder verletzt.
einen Gläubigen in sein Haus zum Mahl Es ist besser, sich selbst ein legitimes
ein. Ist ein Christ frei, eine solche Einla- Recht zu versagen, als Gott für etwas zu
dung anzunehmen? Ja. Wenn man zu danken, um dessentwillen andere mich
einer Mahlzeit in das Haus eines Ungläu- »schmähen«. William Kelly kommentiert,
bigen eingeladen ist und gehen möchte, daß es besser sei, »sich selbst zu verleug-
dann hat man die Freiheit »alles« zu essen, nen und nicht zuzulassen, daß die eigene
»was … vorgesetzt wird, ohne es um des Freiheit von jemandem verurteilt wird
Gewissens willen zu untersuchen«. oder daß böse über etwas gesprochen
10,28 Wenn jedoch bei dem Mahl ein wird, für das man doch Dank sagt«. War-
anderer Christ anwesend sein sollte, der um sollten wir unsere Freiheit dazu
ein schwaches Gewissen hat und uns mißbrauchen, Anstoß zu erregen? Warum
informiert, daß das Fleisch, das gereicht sollte ich meine Danksagung der Fehl-
wird, »Opferfleisch« ist, darf man es dann interpretation aussetzen oder als Sakrileg
essen? Nein. Man sollte nicht darauf oder Skandal beschimpfen lassen?
bestehen, weil man damit vielleicht den 10,31 Es gibt zwei wichtige Regeln,
andern zu Fall bringt und sein Gewissen die uns alle in unserem christlichen Le-
verletzt. Auch sollte man es nicht essen, ben leiten sollten: Die erste handelt von
wenn ein Ungläubiger durch diese Tat ge- der »Ehre Gottes«, die zweite vom Wohl-
hindert würde, den Herrn anzunehmen. ergehen unserer Mitmenschen. Paulus
10,29 In dem eben zitierten Fall wür- nennt uns hier die erste der beiden: »Ob
de man sich nicht des eigenen Gewissens ihr nun eßt oder trinkt oder sonst etwas
wegen zurückhalten. Natürlich würde tut, tut alles zur Ehre Gottes.« Junge
man selbst als Gläubiger die vollkom- Christen werden oft vor die Entschei-
mene Freiheit haben, das Fleisch zu dung gestellt, ob eine bestimmte Hand-
essen. Doch der schwache Bruder, der lung für sie richtig oder falsch ist. Hier
dabeisitzt, macht sich ein »Gewissen« haben wir eine Regel, die wir anwenden
daraus, und deshalb hält man sich aus können: Ist es »zur Ehre Gottes«? Kann
Respekt vor seinem Gewissen zurück. ich mein Haupt vorher beugen und den

736
1. Korinther 10 und 11

Herrn bitten, daß er sich durch das, was übrigen Verse beschäftigen sich mit Miß-
ich tun werde, verherrlichen möge? bräuchen beim Herrnmahl (V. 17-34).
10,32 Die zweite Regel ist das Wohler- Über den ersten Abschnitt des Kapitels
gehen unserer Mitmenschen. Wir sollten ist viel diskutiert worden. Einige sind der
»unanstößig« sein und niemandem An- Ansicht, daß die Anweisungen, die hier
laß zum Fall bieten, »sowohl für Juden gegeben werden, nur für die Zeit des
als auch für Griechen als auch für die Paulus Geltung haben. Einige gehen so-
Gemeinde Gottes«. Hier teilt Paulus die gar so weit zu behaupten, daß diese Ver-
Menschheit in drei Klassen ein. Die se ein Beweis für die Vorurteile des Pau-
»Juden« sind natürlich die Menschen, lus gegenüber Frauen seien, weil er Jung-
die zum Volk Israel gehören. Die »Grie- geselle war! Wieder andere nehmen die
chen« sind die unbekehrten Heiden, Lehre dieses Abschnittes einfach an, und
während zur »Gemeinde Gottes« alle versuchen, den Vorschriften hier zu ge-
diejenigen gehören, die echte Gläubige horchen, auch wenn sie sie nicht alle ver-
an den Herrn Jesus Christus sind, ob sie stehen.
nun jüdischer oder heidnischer Herkunft 11,2 Der Apostel lobt zunächst die
sind. In einem Sinne sind wir jedoch alle Korinther für die Art und Weise, wie sie
dazu bestimmt, anderen Anstoß zu ge- »in allem« an ihn denken, und an den
ben, und ihren Zorn herauszufordern, »Überlieferungen« festhalten, wie er sie
wenn wir ihnen treu Zeugnis ablegen. ihnen »überliefert« hat. »Traditionen«
Doch darum geht es hier nicht. Der Apo- bezieht sich hier nicht auf Bräuche oder
stel spricht hier von unnötigem Anstoß. Praktiken, die sich in den Gemeinden
Er warnt uns davor, unsere legitimen durch die Jahre hindurch entwickelt
Rechte so zu nutzen, daß wir andere haben, sondern in diesem Fall auf die
damit zu Fall bringen. inspirierten Lehren des Apostels Paulus.
10,33 Paulus kann ehrlich von sich 11,3 Paulus erwähnt nun das Thema
sagen, daß er »in allen Dingen allen zu »Kopfbedeckung der Frau«. Hinter die-
gefallen« strebt, nämlich »dadurch, daß sen Anweisungen steht das Prinzip, daß
ich nicht meinen Vorteil suche, sondern jede geordnete Gesellschaft auf zwei Säu-
den der Vielen«. Wahrscheinlich haben len baut: Autorität und Unterordnung
bisher nur wenige Menschen so selbstlos unter die Autorität. Es ist unmöglich, eine
für andere gelebt, wie der Apostel Paulus. wohlfunktionierende Gesellschaft zu ha-
11,1 Vers 1 von Kapitel 11 gehört ben, wenn diese beiden Prinzipien nicht
wahrscheinlich eher zu Kapitel 10. Pau- beachtet werden. Paulus erwähnt nun
lus hat soeben davon gesprochen, wie er drei wichtige Beziehungen, die Autorität
all seine Handlungen im Lichte ihrer und Unterordnung beinhalten. Zuerst
Auswirkungen auf andere Menschen be- gilt, »daß der Christus das Haupt eines
urteilt. Nun befiehlt er den Korinthern, jeden Mannes ist«. Christus ist der Herr,
seine »Nachahmer« zu sein, genauso, der Mann ist der Untertan. Zweitens gilt,
wie er auch »Christi Nachahmer« war. Er daß »das Haupt der Frau aber der Mann«
gab große persönliche Vorteile und Rech- ist. Die Führungsstellung ist dem Mann
te auf, um seinen Mitmenschen zu hel- gegeben, die Frau steht unter seiner
fen. Die Korinther sollten dasselbe tun, Autorität. Drittens gilt, daß »des Christus
und nicht selbstsüchtig ihre Freiheit so Haupt aber Gott« ist. Auch in der Gott-
zur Schau stellen, daß das Evangelium heit gilt, daß eine Person die Führung hat
von Christus gehindert würde oder ein und die andere willig die untergeordnete
schwacher Bruder daran Anstoß nähme. Stellung einnimmt. Diese Beispiele von
Führerschaft und Unterwerfung wurden
C. Über die Kopfbedeckung der Frau von Gott selbst so geschaffen und sind
(11,2-16) grundlegend für seine Weltordnung.
Die Verse 2-16 sind dem Thema der Gleich zu Beginn sollte betont wer-
Kopfbedeckung der Frau gewidmet. Die den, daß Unterordnung nicht gleichbe-

737
1. Korinther 11

deutend mit geringerem Wert ist. Chri- Apostel will hier nicht befehlen, Frauen
stus ist Gott untergeordnet, aber er ist zu scheren, sondern will sagen, was hier
nicht weniger Wert. Auch ist die Frau moralisch konsequent wäre!
nicht geringer als der Mann, auch wenn 11,7 In den Versen 7-10 lehrt Paulus,
sie ihm untergeordnet ist. daß die Unterordnung der Frau unter
11,4 »Jeder Mann, der betet oder den Mann auf die Schöpfung zurück-
weissagt und dabei etwas auf dem geht. Diese Verse sollten ein für allemal
Haupt hat, entehrt sein Haupt«, d. h. die Idee begraben, daß seine Lehre über
Christus. Er sagt damit praktisch, daß er die Bedeckung des weiblichen Hauptes
Christus nicht als »sein Haupt« akzep- kulturell bedingt war, auf uns heute aber
tiert. Deshalb handelt er damit sehr nicht anwendbar ist. Die Herrschaft des
unehrerbietig. Mannes und die Unterordnung der Frau
11,5 »Jede Frau aber, die mit unver- entsprachen von Anfang an Gottes
hülltem Haupt betet oder weissagt, ent- Gebot.
ehrt ihr Haupt«, d. h. ihren Mann. Sie Zunächst einmal ist der Mann »Got-
sagt praktisch, daß sie nicht die von Gott tes Bild und Abglanz«, während »die
eingesetzte Herrschaft des Mannes über Frau aber … des Mannes Abglanz« ist.
sie anerkennt und sich ihr nicht unter- Das bedeutet, daß der Mann als Gottes
37)
stellt. Stellvertreter auf Erden eingesetzt wurde
Wenn wir nur diese Texte zum Thema und über sie herrschen soll. Der unbe-
in der Bibel hätten, dann wäre es richtig deckte Kopf des Mannes ist ein stilles
zu schließen, daß es einer Frau erlaubt Zeugnis davon. Die Frau hatte nie diese
ist, in der Gemeinde zu beten bzw. zu Herrscherrolle, sondern sie ist in dem
weissagen, solange sie ihr Haupt dabei Sinne »des Mannes Abglanz«, daß sie
bedeckt. Doch Paulus lehrt an anderer »offensichtlich die Autorität des Mannes
Stelle, daß die Frauen in der Gemeinde verdeutlicht«, wie Vine es ausgedrückt
38)
schweigen sollen (1. Kor 14,34) und daß hat.
es ihnen nicht erlaubt ist, zu lehren, oder »Denn der Mann freilich soll sich das
über den Mann zu herrschen, sondern Haupt nicht verhüllen«, wenn er betet,
daß sie still sein sollen (1. Tim 2,12). weil das der Verhüllung von »Gottes Bild
Die Zusammenkünfte der Gemeinde und Abglanz« gleichkommen würde,
werden erst in Vers 17 erwähnt, deshalb und das wäre eine Beleidigung der
können die Anweisungen über die Kopf- himmlischen Majestät.
bedeckung in den Versen 2-16 nicht auf 11,8 Paulus erinnert uns als nächstes,
Gemeindeversammlungen (Gottesdien- daß »der Mann … nicht von der Frau,
ste) beschränkt werden. Sie gelten für sondern die Frau vom Mann« geschaffen
jede Frau, wann immer sie betet oder wurde. Der Mann war zuerst, und dann
weissagt. Sie betet im Stillen in der Ge- wurde die Frau aus seiner Seite genom-
meinde, denn 1. Timotheus 2,8 be- men. Dieser Vorrang des Mannes be-
schränkt das öffentliche Gebet auf Män- stärkt den Apostel in seiner Ansicht vom
ner (wörtl. männliche). Zu anderen Zei- Haupt-sein des Mannes.
ten betet sie hörbar oder still. Sie weis- 11,9 Der Zweck der Schöpfung wird
sagt, wenn sie andere Frauen (Tit 2,3-5) nun als nächstes erwähnt, um diese
oder Kinder in der Sonntagschule lehrt. Ansicht zu unterstützen. Denn in erster
11,6 »Denn wenn eine Frau sich nicht Linie wurde »der Mann … auch nicht um
verhüllt«, so könnte man »ihr auch das der Frau willen …, sondern die Frau um
Haar« ganz abschneiden. »Wenn es aber des Mannes willen« geschaffen. Der Herr
für eine Frau schändlich ist, daß ihr das hat ausdrücklich in 1. Mose 2,18 gesagt:
Haar abgeschnitten oder geschoren wird, »Und Gott, der HERR, sprach: Es ist nicht
so soll sie sich verhüllen.« Der unverhüll- gut, daß der Mensch allein sei; ich will
te Kopf einer Frau ist so »schändlich«, als ihm eine Hilfe machen, die ihm ent-
wäre ihr Haar ganz abgeschnitten. Der spricht.«

738
1. Korinther 11

11,10 Wegen ihrer untergeordneten 11,12 »Die Frau« ist durch die Schöp-
Stellung gegenüber dem Mann »soll die fung »vom Mann«, d. h. sie wurde aus
Frau eine Macht auf dem Haupt haben, Adams Seite erschaffen. Doch Paulus
um der Engel willen«. Die »Macht« oder weist darauf hin, daß »auch der Mann
das »Symbol der Autorität« ist die Kopf- durch die Frau« ist. Hier spielt er auf die
bedeckung, und hier steht das Symbol Geburt an. Die Frau gebiert das männli-
nicht für ihre eigene Autorität, sondern che Kind. So hat Gott einen vollkomme-
für ihre Unterordnung unter die Auto- nen Ausgleich geschaffen, um damit zu
rität des Mannes. zeigen, daß der eine ohne den anderen
Warum fügt Paulus hier an »um der nicht existieren kann.
Engel willen«? Wir sind der Ansicht, daß »Alles aber von Gott« bedeutet, daß
»die Engel« Zuschauer aller Vorgänge Gott »alles« so in seiner Weisheit ange-
auf Erden heute und zur Zeit der Schöp- ordnet hat, und es deshalb keinen Grund
fung sind. In der ersten Schöpfung sahen gibt, sich zu beklagen. Dieses Verhältnis
sie, wie die Frau die Stellung der Herr- wurde von Gott nicht nur geschaffen,
schaft über den Mann einnahm. Sie traf sondern darüber hinaus ist sein Zweck
die Entscheidung, die eigentlich Adam die Verherrlichung Gottes. All dies sollte
zugekommen wäre. Als Ergebnis davon den Mann zur Demut und die Frau zur
kam die Sünde mit all ihren schreckli- Zufriedenheit führen.
chen Folgen des Leides und des Un- 11,13 Der Apostel fordert die Ko-
glücks in die Welt. Gott möchte nicht, rinther nun auf, »bei« sich »selbst« zu
daß in der neuen Schöpfung dasselbe urteilen, ob es »anständig« sei, »daß eine
passiert wie bei der ersten Schöpfung. Frau unverhüllt zu Gott betet«. Er appel-
Wenn die Engel hinabblicken, dann liert an ihr moralisches Urteilsvermögen.
möchte er, daß sie Frauen sehen, die in Er geht davon aus, daß es nicht angemes-
Unterordnung unter den Mann leben sen oder ordentlich ist, wenn eine Frau
und das nach außen hin zeigen, indem unverhüllt in die Gegenwart Gottes tritt.
sie ihren Kopf bedecken. 11,14 Doch wie uns »die Natur selbst«
Wir sollten hier stehenbleiben um fest- nun lehrt, daß es für den Mann eine
zustellen, daß die Kopfbedeckung einfach »Schande« ist, wenn er »langes Haar hat«,
ein äußeres Zeichen und nur dann von bleibt unklar. Einige Ausleger sind der
Wert ist, wenn es das äußere Zeichen Ansicht, daß das Haar eines Mannes von
einer inneren Realität darstellt. Mit ande- Natur aus nicht so lang wächst wie das
ren Worten: Eine Frau kann ihren Kopf einer Frau. Wenn ein Mann langes Haar
bedecken und sich ihrem Mann trotzdem trägt, so läßt ihn das fraulich erscheinen.
nicht unterordnen. In solch einem Fall ist In den meisten Kulturen tragen die Män-
das Bedecken des Kopfes völlig wertlos. ner ihr Haar kürzer als die Frauen.
Das wichtigste ist und bleibt, sicher zu 11,15 Vers 15 ist von vielen sehr
sein, daß sich das Herz wirklich unterord- mißverstanden worden. Einige sind der
net, dann erst hat die Kopfbedeckung der Ansicht, weil »das Haar« der Frau »an-
Frau wirklich eine Bedeutung. statt eines Schleiers gegeben« ist, wäre es
11,11 Paulus will hier keineswegs für sie nicht notwendig, daß sie noch eine
andeuten, daß der Mann überhaupt nicht weitere Kopfbedeckung habe. Doch eine
von der Frau abhängig wäre, deshalb solche Lehre vergewaltigt diesen Schrift-
fügt er an: »Dennoch ist im Herrn weder abschnitt. Wenn man nicht versteht, daß
die Frau ohne den Mann, noch der Mann hier zweierlei Bedeckung gemeint ist,
ohne die Frau.« Mit anderen Worten, dann wird das Kapitel hoffnungslos ver-
Mann und Frau sind gegenseitig von ein- wirrend. Das kann man zeigen, wenn
ander abhängig. Sie brauchen einander, man sich auf Vers 6 zurückbezieht. Dort
und die Vorstellung der Unterordnung lesen wir: »Wenn es aber für eine Frau
steht in keinerlei Konflikt mit der Idee schändlich ist, daß ihr das Haar abge-
der gegenseitigen Abhängigkeit. schnitten oder geschoren wird, so soll sie

739
1. Korinther 11

sich verhüllen.« Entsprechend der eben Wir streiten über solche Themen nicht,
erwähnten Interpretation von Vers 15 sondern nehmen sie als Lehre des Herrn
würde das heißen, »wenn eine Frau ihr an. Eine andere Interpretation, die von
Haar nicht trägt« könne sie gleich ge- William Kelly befürwortet wird, lautet,
schoren werden. Doch das ist einfach Paulus wolle hier sagen, daß »die Ge-
lächerlich. Wenn sie »ihr Haar nicht meinden Gottes« diesen Brauch nicht
trägt«, kann man sie wohl kaum noch haben, daß Frauen ohne Kopfbedeckung
scheren! beten oder weissagen.
Das eigentliche Argument in Vers 15
lautet, daß es eine echte Analogie zwi- D. Über das Herrnmahl (11,17-34)
schen dem Geistlichen und dem Leibli- 11,17 Der Apostel rügt die Korinther für
chen gibt. Gott gab der Frau eine natürli- die Tatsache, daß es unter ihnen Spaltun-
che Bedeckung der »Ehre«, und zwar auf gen gibt, wenn sie zusammenkommen
eine Weise, wie der Mann sie nicht hat. (V. 17-19). Man beachte den wiederhol-
Das hat eine geistliche Bedeutung. Es ten Ausdruck »wenn ihr zusammen-
lehrt, daß eine Frau, wenn sie zu Gott kommt« oder ähnliche Worte (11,17.18.
betet, eine Kopfbedeckung tragen sollte. 20.33.34; 14,23.26). In 11,2 hatte Paulus
Was für den leiblichen Bereich gilt, sollte Anlaß zum Lob gefunden, weil sie die
auch für den geistlichen gelten. Traditionen beachteten, die er ihnen
11,16 Der Apostel schließt diesen überliefert hatte, doch es gab eine Ange-
Abschnitt mit der Aussage: »Wenn es legenheit, in der er sie »nicht loben«
aber jemand für gut hält, streitsüchtig zu konnte, und das ist das Thema, über das
sein, so soll er wissen: wir haben eine er jetzt sprechen will. Wenn sie in öffent-
derartige Gewohnheit nicht, auch nicht lichen Versammlungen zusammenka-
die Gemeinden Gottes.« Meint Paulus men, dann kamen sie »nicht zum Besse-
nun, wie einige der Ansicht sind, daß ren, sondern zum Schlechteren« zusam-
das, was er soeben gesagt hat, nicht men. Das ist eine ernstzunehmende Erin-
wichtig genug sei, um sich darüber zu nerung für uns alle, daß es möglich ist,
streiten? Meint er, daß es die Sitte nicht daß man aus einer Zusammenkunft der
gegeben habe, daß die Frauen in der Ge- Gemeinde kommen kann, und einem
meinde eine Kopfbedeckung tragen? eher Schaden als Nutzen zuteil gewor-
Meint er, daß diese Lehren nicht unbe- den ist.
dingt beachtet und den Frauen nicht als 11,18 Der »erste« Grund für die Rüge
Gebote des Herrn aufgezwungen wer- war die Existenz von »Spaltungen« oder
den müßten? Es scheint uns seltsam zu Parteiungen. Das bedeutet nicht, daß
sein, daß solche Interpretationen jemals sich diese Parteien von der Gemeinde ab-
vorgeschlagen worden sind, doch wer- gesetzt und eigene Gemeinschaften ge-
den sie heute oftmals gehört. Das würde bildet hätten, sondern es waren eher Cli-
bedeuten, daß Paulus diese Anweisun- quen oder Fraktionen der Gemeinde.
gen für nicht so wichtig halten würde, Eine »Spaltung« ist eine Trennung inner-
wo er doch gerade mehr als ein halbes halb der Gemeinde, während eine Sekte
Kapitel der Heiligen Schrift darauf ver- eine Abspaltung außerhalb der Gemein-
schwendet hat, sie darzustellen! de ist. Paulus konnte die Berichte über
Es gibt mindestens zwei mögliche Er- die Spaltungen »glauben«, weil er wuß-
klärungen für diesen Vers, die mit dem te, daß die Korinther sehr fleischlich
Rest der Schrift übereinstimmen. Als waren, und er hatte schon vorher in die-
erstes könnte der Apostel meinen, daß er sem Brief Anlaß gehabt, sie wegen ihrer
voraussehen würde, daß einige in dieser Spaltungen zu tadeln.
Angelegenheit »streitsüchtig« werden F. B. Hole schreibt:
würden, doch er fügt hinzu, daß »wir … Paulus war bereit, den Berichten über
eine derartige Gewohnheit nicht« haben, Spaltungen in Korinth zumindest teilweise
daß heißt, über solche Dinge zu streiten. Glauben zu schenken, weil er wußte, daß sie

740
1. Korinther 11

wegen ihres fleischlichen Zustandes sehr mähler zusammen mit dem Herrnmahl.
anfällig gegenüber solchen Gruppierungen Das Liebesmahl war so etwas wie eine
in ihrer Mitte waren. Hier schließt Paulus gewöhnliche Mahlzeit, die gemeinsam
von ihrem Zustand auf ihre Handlungen. Da im Geist der Liebe und der Gemeinschaft
sie sehr fleischlich waren, wußte er, daß sie eingenommen wurde. Zum Ende des
ganz sicher Opfer der tief verwurzelten Ten- Liebesmahles feierten die Christen dann
denz des menschlichen Geistes würden, oft noch das Gedächtnis des Herrn mit
starrsinnig auf eigenen Meinungen zu be- Brot und Wein. Doch ehe viel Zeit ver-
harren, und daß sich um diese Meinungen gangen war, schlichen sich Mißbräuche
Parteien bildeten, die in Spaltung enden ein. So wird etwa in diesem Vers ange-
würden. Er wußte auch, daß Gott ihre Torheit deutet, daß das Liebesmahl seine wirkli-
überwinden und die Gelegenheit ergreifen che Bedeutung verlor. Die Christen war-
könnte, die Menschen zu offenbaren, die von teten nicht mehr auf einander, sondern
ihm anerkannt wurden, die nach dem Geist die Reichen beschämten die ärmeren
und nicht nach Menschenweisheit handelten, Brüder, indem sie üppige Mähler ver-
und deshalb dieses ganze Spaltungsunwesen zehrten und den Armen nichts abgaben.
39)
meiden würden. Einige mußten »hungrig« wieder gehen,
11,19 Paulus sah voraus, daß diese andere dagegen waren sogar »betrun-
Spaltungen, die in Korinth schon begon- ken«! Weil das Herrnmahl oft auf das
nen hatten, wachsen würden, bis sie Liebesmahl folgte, waren sie noch immer
wirklich schlimm waren. Obwohl dies betrunken, wenn sie sich niedersetzten,
im allgemeinen der Gemeinde schaden um am Herrnmahl teilzunehmen.
würde, würde doch ein Gutes daraus 11,22 Der Apostel rügt solch enteh-
erwachsen, und zwar, daß diejenigen, rendes Verhalten entrüstet. Wenn sie sich
die wirklich geistlich und vor Gott »be- schon so schlimm verhalten mußten, so
währt« waren, unter den Korinthern sollten sie zumindest die Ehrfurcht
»offenbar werden« würden. Wenn Pau- haben, das nicht in der »Gemeinde Got-
lus in diesem Vers sagt: »Denn es müssen tes« zu tun. Trunkenheit und die ärmeren
40)
auch Parteiungen unter euch sein«, Brüder zu »beschämen« ist mit dem
41)
dann meint er damit keine moralische christlichen Glauben auf keinerlei Weise
Notwendigkeit. Gott will keine Spaltun- zu vereinbaren. Paulus kann nicht
gen in der Gemeinde. Paulus meint hier, anders, als diese Heiligen für ihre Hand-
daß es wegen der Fleischlichkeit der Ko- lungsweise »nicht zu loben«, und indem
rinther unausweichlich war, daß »Partei- er so spricht, rügt er sie scharf.
ungen« entstanden. Die Spaltungen sind 11,23 Um ihnen den Unterschied zwi-
ein Beweis dafür, daß einige nicht die schen ihrem Verhalten und der wahren
Meinung des Herrn erfragen. Bedeutung des Herrnmahls zu zeigen,
11,20 Paulus richtet seine zweite greift er nun auf die ursprüngliche Ein-
Rüge nun gegen die Mißbräuche im setzung zurück. Er zeigt, daß es hier
Zusammenhang mit dem Herrnmahl. nicht um ein normales Mahl oder eine
Wenn sich die Christen versammelten, Feier ging, sondern um eine ernstzuneh-
um »das Herrnmahl zu essen«, dann war mende Anweisung des Herrn. Paulus hat
ihr Verhalten so beklagenswert, daß Pau- sein Wissen über diese Vorgänge direkt
lus sagen mußte, daß sie sich auf diese »von dem Herrn empfangen« und er
Weise kaum des Herrn erinnern könnten, erwähnt das, um zu zeigen, daß jedes
wie er es beabsichtigt hatte. Sie könnten Zuwiderhandeln in Wirklichkeit blanker
zwar die äußerliche Form einhalten, Ungehorsam wäre. Damit lehrt er natür-
doch ihre ganze Haltung würde eine lich, daß er diese Information durch
echte Erinnerung an den Herrn aus- Offenbarung erhalten hat.
schließen. Als erstes erwähnt er, wie »der Herr
11,21 In der frühen Gemeinde feierten Jesus in der Nacht, in der er überliefert
die Christen »Agapen« oder Liebes- wurde, Brot nahm«. Die wörtliche Über-

741
1. Korinther 11

setzung lautet: »Während er gerade ver- 11,25 »Ebenso« nahm der Herr Jesus
raten wurde.« Während der schreckliche »auch den Kelch nach dem« Passahmahl
Plan, ihn festzunehmen, draußen gefaßt »und sprach: Dieser Kelch ist der neue
wurde, versammelte »der Herr Jesus« Bund in meinem Blut, dies tut, sooft ihr
seine Jünger in dem Obergemach und trinkt, zu meinem Gedächtnis«. Das
»nahm Brot«. Herrnmahl wurde direkt nach dem Pas-
Die Tatsache, daß dies »in der Nacht« sahmahl eingesetzt. Deshalb heißt es
geschah, bedeutet nicht, daß man das hier, daß der Herr Jesus »den Kelch nach
Herrnmahl deshalb notwendigerweise dem Mahl« nahm. Im Zusammenhang
abends feiern müßte. Zu dieser Zeit war mit dem »Kelch« sagte er, daß er »der
der Sonnenuntergang der Beginn des neue Bund in« seinem »Blut« sei. Das
jüdischen Tages. Unser Tag beginnt mit bezieht sich auf den Bund, den Gott dem
dem Sonnenaufgang. Es ist auch ange- Volk Israel in Jeremia 31,31-43 verheißen
merkt worden, daß es einen Unterschied hat. Es geht hier um eine bedingungslo-
zwischen apostolischen Beispielen und se Verheißung, durch die er versprach,
apostolischen Anweisungen gibt. Wir sind mit ihrer Ungerechtigkeit barmherzig zu
nicht verpflichtet, genau so zu handeln, sein und ihrer Sünden und Schuld nicht
wie es die Apostel taten, doch wir sind mehr zu gedenken. Die Bedingungen
ganz gewiß verpflichtet, allem zu gehor- des Neuen Bundes werden auch in
chen, was sie lehrten. Hebräer 8,10-12 angegeben. Der Bund ist
11,24 Der Herr Jesus nahm als erstes zur Zeit in Kraft, doch der Unglaube hält
das Brot und »dankte« dafür. Weil das das Volk Israel ab, in seinen Genuß zu
Brot für seinen Leib stand, dankte er kommen. Alle diejenigen, die dem
damit praktisch Gott, daß er ihm einen Herrn Jesus vertrauen, erben die Ver-
menschlichen Leib gegeben hat, in dem heißungen, die hier gegeben wurden.
er auf die Erde kommen und für die Sün- Wenn das Volk Israel sich zum Herrn
den der Welt sterben konnte. bekehrt, dann werden sie die Segnungen
Als der Heiland sagte: »Dies ist mein des Neuen Bundes genießen. Das wird
Leib«, meinte er dann, daß das Brot im während der tausendjährigen Herr-
wirklichem Sinne zu seinem Leib wurde? schaft Christi auf Erden sein. Der »Neue
Das römisch-katholische Dogma von der Bund« wurde durch das »Blut« Christi
Transsubstantiation lehrt, daß Brot und unterzeichnet, und deshalb spricht Jesus
Wein wörtlich in den Leib und das Blut davon, daß der »Kelch … der neue Bund
Christi verwandelt wurden. Die lutheri- in« seinem »Blut« sei. Die Grundlage für
sche Lehre der Konsubstantiation besagt, den neuen Bund wurde durch das Kreuz
daß der wahre Leib und das wahre Blut geschaffen.
Christi in, bei und unter Brot und Wein 11,26 Vers 26 behandelt die Frage, wie
auf dem Tisch stehen. oft das Herrnmahl gefeiert wird. »Denn
Wenn wir diese Ansichten widerle- sooft ihr dieses Brot eßt und den Kelch
gen, sollte es ausreichen sich zu erinnern, trinkt« heißt es. Damit wird keine gesetz-
daß der Leib unseres Herrn Jesus, als er liche Regel gegeben, auch wird kein fest-
dieses Gedächtnismahl einführte, noch es Datum genannt. Es scheint aus Apo-
nicht hingegeben und sein Blut noch stelgeschichte 20,7 hervorzugehen, daß
nicht vergossen worden war. Als der es eine Praxis der Jünger war, sich am
Herr Jesus sagte: »Dies ist mein Leib«, ersten Tag der Woche zu treffen, um des
meinte er: »Das ist ein Symbol für meinen Herrn zu gedenken. Daß diese Anwei-
Leib« oder »Dies ist ein Bild für meinen sung nicht nur für die Tage der ersten
Leib, der für euch gebrochen werden Gemeinde galt, wird durch den Aus-
wird«. Wenn wir das Brot essen, so erin- druck »bis er kommt« hinreichend be-
nern wir uns an seinen Sühnetod für uns. wiesen. Godet weist sehr schön darauf
Es liegt eine unaussprechliche Liebe in hin, daß das Herrnmahl »die Verbindung
dem Ausdruck »zu meinem Gedächtnis«. seiner Erscheinungen auf Erden ist, ein

742
1. Korinther 11

Denkmal des ersten Kommens und das weiterhin in Sünde leben, während wir
42)
Unterpfand für seine Wiederkunft«. am Mahl des Herrn teilnehmen, dann
Bei all diesen Anweisungen über das leben wir in der Lüge. F. G. Patterson
Herrnmahl ist es bemerkenswert, daß schreibt: »Wenn wir das Mahl des Herrn
wir nirgends ein Wort über einen »Geist- zu uns nehmen und noch unbekannte
lichen« oder Priester lesen, der es aus- Sünde in unserem Leben besteht, dann
teilt. Es ist ein einfacher Gedenkgottes- beurteilen wir den Leib des Herrn nicht
dienst, der dem ganzen Volk Gottes als richtig, der gebrochen wurde, um unsere
Erbe hinterlassen wurde. Die Christen Sünde hinwegzunehmen.«
versammeln sich als gläubige Priester 11,30 Weil die Korinther nicht sich
und verkündigen so des Herrn Tod »bis selbst richteten, mußte Gott gegen einige
er kommt«. in der Gemeinde zu Korinth disziplinari-
11,27 Nachdem der Apostel Ur- sche Maßnahmen ergreifen. »Viele«
sprung und Zweck des Herrnmahls be- waren »schwach und krank«, und einige
sprochen hat, wendet er sich nun den waren gestorben. Mit anderen Worten,
Konsequenzen zu, die es nach sich zieht, einige waren leiblich erkrankt und einige
wenn man auf die falsche Weise daran waren schon heim in den Himmel gegan-
teilnimmt. »Wer also unwürdig das Brot gen. Weil sie die Sünde in ihrem Leben
ißt oder den Kelch des Herrn trinkt, wird nicht gerichtet hatten, mußte der Herr ge-
des Leibes und Blutes des Herrn schul- gen sie Disziplinarmaßnahmen ergreifen.
dig sein.« Wir sind alle unwürdig, an die- 11,31 Andererseits, wenn wir dieses
sem ehrwürdigen Mahl teilzuhaben. In Selbstgericht über uns halten, dann ist es
diesem Sinne sind wir auch unwürdig nicht notwendig, daß Gott uns so züchtigt.
der Gnade und Liebe unseres Herrn. 11,32 Gott handelt mit uns als seinen
Doch darum geht es an dieser Stelle eigenen Kindern. Er liebt uns zu sehr, als
nicht. Der Apostel spricht hier nicht von daß er uns erlauben würde, mit der Sün-
unserer persönlichen Unreinheit. Wir de fortzufahren. Deshalb werden wir
können uns Gott in aller Reinheit nähern, schon bald den Hirtenstab fühlen, der
weil wir durch das Blut Christi gereinigt uns zu Gott zurückzieht. Wie jemand
sind. Doch Paulus spricht hier von dem einmal gesagt hat: »Es ist möglich, daß
ehrlosen Verhalten der Korinther bei den ein Heiliger in den Himmel zu Christus
Zusammenkünften zum Herrnmahl. Sie gelangen kann, doch er ist nicht fähig,
machten sich des unehrerbietigen und auf der Erde als Zeugnis zu bleiben.«
achtlosen Umgangs mit diesen Dingen 11,33 »Wenn« die Gläubigen also zu-
»schuldig«. Wer so handelt, der ist »des sammenkämen zu einem Liebesmahl,
Leibes und Blutes des Herrn schuldig«. dann sollten sie »aufeinander« warten,
11,28 Wenn wir zum Herrnmahl kom- und nicht schon selbstsüchtig anfangen,
men, sollten wir dies tun, nachdem wir ohne auf die anderen Heiligen zu achten.
uns von Gott haben richten lassen. Sünde Das »aufeinander Warten« steht hier im
sollte bekannt und vergeben sein, und wir Gegensatz zu Vers 21 »jeder nimmt beim
sollten uns bei denen entschuldigt haben, Essen sein eigenes Mahl vorweg«.
die wir mit unserem Verhalten gekränkt 11,34 »Wenn jemand hungert, der
haben. Im allgemeinen sollten wir darauf esse daheim.« Mit anderen Worten, das
sehen, daß wir in einem angemessenen Liebesmahl, das mit dem Herrnmahl
Seelenzustand am Mahl teilhaben. verbunden war, sollte nicht als normale
11,29 Wer auf falsche Weise teil- Mahlzeit mißverstanden werden. Wenn
nimmt, der »ißt und trinkt sich selbst man seinen heiligen Charakter mißach-
Gericht«, indem er »den Leib des Herrn tet, so hieße das »zum Gericht« zusam-
nicht richtig beurteilt«. Wir sollten erken- menzukommen.
nen, daß der Leib unseres Herrn geopfert »Das übrige aber will ich anordnen,
wurde, damit unsere Sünden wegge- sobald ich komme.« Zweifellos gab es
nommen werden konnten. Wenn wir noch einige andere nebensächliche The-

743
1. Korinther 11 und 12

men, die dem Apostel in dem Brief von 12,2 Vor der Bekehrung waren die
den Korinthern genannt wurden. Er ver- Korinther Götzenanbeter gewesen und
sichert ihnen hier, daß er sich dieser The- damit durch böse Geister versklavt. Sie
men bei einem persönlichen Besuch bei lebten in Angst vor den Geistern und
ihnen annehmen werde. wurden von diesen teuflischen Einflüs-
sen »fortgerissen«. Sie waren Zeugen
E. Über die Geistesgaben und ihren übernatürlicher Erscheinungen der Gei-
Gebrauch in der Gemeinde steswelt und hörten Äußerungen, die
(Kap. 12-14) von Geistern eingegeben waren. Unter
Die Kapitel 12-14 befassen sich mit den dem Einfluß der bösen Geister verloren
Geistesgaben. Es hatte in dieser Hinsicht sie manchmal die Selbstkontrolle und
in Korinth viel Mißbrauch gegeben, insbe- sagten und taten Dinge, die über ihre
sondere im Zusammenhang mit der Gabe bewußten Fähigkeiten hinausgingen.
der Zungenrede, und Paulus schreibt, um 12,3 Weil sie nun gerettet waren, muß-
diese Mißbräuche abzustellen. ten sie wissen, wie sie alle diese Geister-
Es gab in Korinth Gläubige, die die erscheinungen zu beurteilen hatten, d. h.
Gabe der »Sprachen« (in anderen Über- sie mußten lernen, zwischen der Stimme
setzungen: Zungenrede) empfangen hat- der bösen Geister und der Stimme des
ten, was bedeutet, daß sie in fremden Heiligen Geistes zu unterscheiden. Der
Sprachen reden konnten, ohne diese wichtigste Test ist das Zeugnis, das der
43)
Sprachen vorher zu erlernen. Doch statt jeweilige Geist vom Herrn Jesus ablegt.
diese Gabe zu nutzen, um Gott zu ver- Wenn ein Mensch sagt: »Fluch über
herrlichen und die Mitgläubigen aufzuer- Jesus!«, dann kann man sicher sein, daß
bauen, brüsteten sie sich damit. Sie stan- er von einem Dämon inspiriert ist, weil
den in den Versammlungen auf und rede- böse Geister normalerweise den Namen
ten in Sprachen, die niemand verstehen Jesu lästern und verfluchen. Der »Heilige
konnte und hofften dabei, daß die ande- Geist« würde niemanden dazu führen, so
ren durch ihre Sprachenkenntnis beein- vom Heiland zu reden. Seine Aufgabe ist
druckt wären. Sie erhoben die Zeichenga- es, den Herrn Jesus zu verherrlichen. Er
ben über die anderen und behaupteten, läßt die Menschen sagen: »Herr Jesus!«,
daß diejenigen geistlicher seien, die in nicht nur mit ihren Lippen, sondern mit
Zungen sprechen können. Das führte auf dem herzlichen vollen Bekenntnis ihres
ihrer Seite zu Stolz, bei den anderen zu Herzens und ihres Lebens.
Neid, Minderwertigkeits- und Unterle- Man beachte, daß die drei Personen
genheitsgefühlen. Deshalb war es not- der Dreieinigkeit in Vers 3 und auch in
wendig, daß der Apostel die falschen Ein- den Versen 4-6 genannt werden.
stellungen korrigierte und eine Kontrolle 12,4 Paulus zeigt als nächstes, daß es
über die Ausübung der Gaben einsetzte, zwar viele verschiedene »Gnadengaben«
insbesondere über die Zungengabe und des Heiligen Geistes in der Gemeinde
die Gabe der Weissagung. gibt, daß es aber eine grundlegende Drei-
12,1 Er wollte nicht, daß die Heiligen einigkeit gibt, die aus den drei Personen
»ohne Kenntnis« über »geistliche« Er- der Gottheit besteht.
scheinungen und »Gaben« waren. Die Erstens gibt es »Verschiedenheiten
wörtliche Übersetzung lautet hier: »Was von Gnadengaben, aber es ist derselbe
aber Geistliches betrifft, Brüder, so will Geist«. Die Korinther handelten, als gäbe
ich nicht, daß ihr ohne Kenntnis seid.« es nur eine Gabe – die Zungengabe. Pau-
Die meisten Übersetzungen fügen hier lus sagt: »Nein, eure Einheit besteht nicht
das Wort »Gaben« ein, um den Sinn zu in einer gemeinsamen Gabe, sondern dar-
vervollständigen. Doch der nächste Vers in, daß ihr den einen Geist habt, welcher
legt uns nahe, daß er nicht nur an die der Geber aller Gaben ist.«
Wirkung des Heiligen Geistes, sondern 12,5 Als nächstes weist der Apostel
auch die der bösen Geister gedacht hat. darauf hin, daß es in der Gemeinde »Ver-

744
1. Korinther 12

schiedenheiten von Diensten« gibt. Wir Heiligen geoffenbart worden ist (Ju-
haben nicht alle dieselbe Aufgabe. das 3). Die christliche Lehre ist vollstän-
Gemeinsam ist jedoch, daß wir alles, was dig. In einem weiteren Sinne gibt es das
wir tun, für denselben »Herrn« tun, und »Wort der Erkenntnis« jedoch auch bei
im Bestreben, anderen zu dienen, statt uns. Es gibt noch immer eine geheimnis-
uns selbst. volle Weitergabe göttlichen Wissens an
12,6 Und wiederum gibt es zwar die, die in einer engen Beziehung zum
»Verschiedenheiten von Wirkungen« so- Herrn leben (s. Ps 25,14). Wenn wir die-
weit es geistliche Gaben angeht, doch ist ses Wissen anderen mitteilen, so geben
es »derselbe Gott«, der jedem Gläubigen wir das »Wort der Erkenntnis« weiter.
dazu die Kraft gibt. Wenn eine Gabe 12,9 Die Gabe des »Glaubens« ist die
erfolgreicher, spektakulärer oder voll- von Gott gegebene Fähigkeit, Berge von
mächtiger als eine andere ist, dann liegt Schwierigkeiten zu versetzen, um den
das nicht an der Überlegenheit des Men- Willen Gottes zu erfüllen (13,2) und
schen, der die Gabe hat. Gott ist derjeni- große Erfolge für Gott zu erreichen,
ge, der die Vollmacht gibt. wenn man einem Gebot oder einer Ver-
12,7 Der »Geist« offenbart sich im heißung Gottes folgt, die man durch sein
Leben jedes Gläubigen, indem er ihm Wort oder im Gebet empfangen hat.
eine Gabe gibt. Es gibt keinen Gläubigen, Georg Müller ist ein klassisches Beispiel
der nicht irgendeine Aufgabe zu erfüllen für einen Mann mit der Gabe des Glau-
hätte. Und die Gaben werden »zum Nut- bens. Ohne jemals jemandem anderen als
zen« des gesamten Leibes gegeben. Sie Gott von seinen Bedürfnissen zu berich-
sind nicht dazu da, sich selbst darzustel- ten, sorgte er 60 Jahre lang für zehntau-
len oder zu befriedigen, sondern um send Waisenkinder.
anderen zu helfen. Das ist der zentrale Die »Gnadengaben der Heilungen«
Punkt der gesamten Diskussion. haben mit der Fähigkeit zu tun, Krank-
Das führt nun ganz ungezwungen zu heiten durch Wunder zu heilen.
einer Liste von einigen Geistesgaben. 12,10 Zu den »Wunderkräften« könn-
12,8 Das »Wort der Weisheit« ist die te das Austreiben von Dämonen, das
übernatürliche Kraft, mit göttlichem Ver- Verwandeln von Materie, die Aufer-
stand zu sprechen, ob man dabei schwie- weckung von Toten und die Fähigkeit,
rige Probleme löst, den Glauben vertei- den Naturgewalten zu gebieten, ge-
digt, Konflikte löst, praktischen Rat gibt hören. Philippus tat Wunder in Samaria
oder sich vor seinen Verfolgern vertei- und erreichte damit, daß die Menschen
digt. Stephanus ist solch ein Beispiel für das Evangelium hörten (Apg 8,6.7).
das »Wort der Weisheit«, das so gewaltig Die Gabe der »Weissagung« oder
war, daß seine Feinde »der Weisheit und »Prophezeiung« (Elb) bedeutet im Grie-
dem Geist nicht widerstehen konnten, chischen, daß ein Mensch direkte Offen-
womit er redete« (Apg 6,10). barungen von Gott empfing und sie
»Das Wort der Erkenntnis« ist die anderen übermittelte. Manchmal sagten
Fähigkeit, Informationen weiterzugeben, die Propheten zukünftige Ereignisse vor-
die von Gott offenbart wurden. Das zeigt aus (Apg 11,27.28; 21,11), öfter jedoch
sich z. B. bei Paulus, wenn er solche gaben sie nur die Ansichten Gottes wider.
Redewendungen verwendet wie etwa: Wie die Apostel waren sie mit der Ge-
»Siehe, ich sage euch ein Geheimnis« meindegründung beschäftigt (Eph 2,20).
(1. Kor 15,51) oder »denn dies sagen wir Sie selbst waren nicht das Fundament,
euch in einem Wort des Herrn« sondern sie legten ein Fundament mit
(1. Thess 4,15). In dieser Grundbedeu- ihrer Lehre über den Herrn Jesus. Wenn
tung, daß eine neue Wahrheit weiterge- diese Grundlage gelegt war, dann waren
geben wird, gibt es das »Wort der Propheten überflüssig. Ihr Dienst ist für
Erkenntnis« heute nicht mehr, weil der uns im NT festgehalten. Weil die Bibel
christliche Glaube ein für allemal den vollständig ist, lehnen wir jeden soge-

745
1. Korinther 12

nannten Propheten ab, der behauptet, Punkt – der Geist ist in der Verteilung der
zusätzliche Wahrheiten von Gott empfan- Gaben souverän. Wenn wir das wirklich
44)
gen zu haben. verstehen, dann wird uns das einerseits
In einem weiteren Sinne benutzen unseren Stolz nehmen, weil wir nichts
wir das Wort »Prophet«, um einen Predi- haben, das wir nicht empfangen hätten.
ger zu beschreiben, der das Wort Gottes Und andererseits wird damit die Unzu-
mit Autorität, Schärfe und Wirkung wei- friedenheit ein Ende haben, weil die
tergibt. »Prophezeiung« kann auch das unendliche Weisheit und Liebe Gottes
Anstimmen des Lobes Gottes sein entschieden hat, welche Gaben wir besit-
(Lk 1,67.68) und die Ermutigung und zen sollten, und seine Wahl vollkommen
Stärkung des Volkes Gottes (Apg 15,32). ist. Es ist falsch, wenn alle nach der glei-
»Unterscheidungen der Geister« be- chen Gabe streben. Wenn jeder dasselbe
schreibt die Fähigkeit zu bestimmen, ob Instrument spielen würde, gäbe es nie-
ein Prophet oder eine andere Person mals ein Symphonieorchester. Und wenn
durch den Heiligen Geist oder durch der Leib nur aus der Zunge bestünde, so
Satan spricht. Ein Mensch mit dieser wäre dieses Wesen ein Ungeheuer.
Gabe hat die Fähigkeit zu bestimmen, ob 12,12 Der menschliche »Leib« ist ein
jemand z. B. ein Heuchler oder Opportu- Beispiel für diese Einheit und Verschie-
nist ist. So war Petrus fähig, Simon als denheit. Der »Leib« ist »einer« und hat
einen bloßzustellen, der von Bitterkeit doch »viele Glieder«. Obwohl alle Gläu-
vergiftet und in den Fängen der Bosheit bigen unterschiedlich sind und verschie-
gefangen war (Apg 8,20-23). dene Aufgaben erfüllen, so bilden sie
Die Gabe der »Sprachen«, wie schon doch alle zusammen eine funktionieren-
erwähnt wurde, ist die Fähigkeit, eine de Einheit – den »Leib«.
fremde Sprache zu sprechen, ohne sie »So auch der Christus.« »Der Chri-
vorher gelernt zu haben. Die Gabe der stus« bezieht sich nicht nur auf den ver-
»Sprachen« wurde als Zeichen gegeben, herrlichten Herrn Jesus Christus im
und zwar insbesondere als Zeichen für Himmel, sondern auf das Haupt im
Israel. Himmel und auf seine Glieder hier auf
»Auslegung der Sprachen« ist die Erden. Alle Gläubigen sind Glieder am
Fähigkeit, eine Sprache zu verstehen, die Leib Christi. Genauso wie der menschli-
man nie zuvor gelernt hat und die Bot- che Leib ein Mittel ist, mit dem eine Per-
schaft in die ortsübliche Sprache zu über- son sich anderen gegenüber verständlich
setzen. machen kann, so ist der Leib Christi das
Es ist vielleicht auffällig, daß diese Mittel auf Erden, durch das es ihm ge-
Liste der Gaben mit den Fähigkeiten fällt, sich der Welt bekannt zu machen. Es
beginnt, die in erster Linie mit dem Ver- ist ein Beweis seiner wundervollen Gna-
stand zu tun haben, und mit denen auf- de, daß der Herr erlaubt, den Ausdruck
hört, die die Gefühle betreffen. Die Ko- »der Christus« hier für uns zu verwen-
rinther hatten diese Ordnung in ihrem den, die Glieder seines Leibes sind.
Denken umgedreht. Sie erhoben die Zun- 12,13 Paulus erklärt nun weiter, wie
gengabe über die anderen Gaben. Sie lehr- wir zu Gliedern des Leibes Christi ge-
ten, daß man, je geistlicher man werde, worden sind. »In einem Geist sind wir
45)
umso mehr über die gewöhnlichen Fähig- alle zu einem Leib getauft worden.« »In
keiten hinaus beschenkt werde. Sie ver- einem Geist« könnte bedeuten, daß der
wechselten Fähigkeit mit Geistlichkeit. Geist das Element ist, in dem wir getauft
12,11 Alle Gaben, die in den Versen 8- werden, genauso wie Wasser das Ele-
10 angesprochen werden, werden von ment ist, in das wir bei der Gläubigen-
demselben »Geist« gegeben und kontrol- taufe getaucht wurden. Es kann auch
liert. Hier sehen wir wieder, daß er nicht heißen, daß der Geist derjenige ist, der
jedem die gleiche Gabe gibt. Er verteilt hier tauft, deshalb übersetzen einige
sie, »wie er will«. Das ist ein wichtiger »durch einen Geist« (LU1984). Dies ist

746
1. Korinther 12

die wahrscheinlichere und besser ver- 20) oder andere klein zu machen (V. 21-
ständlichere Bedeutung. 25). Es wäre absurd, wenn »der Fuß« sich
Die Geistestaufe fand zu Pfingsten überflüssig fühlen würde, weil er nicht
statt. An diesem Tag wurde die Gemein- die Aufgaben der Hand erfüllen kann.
de geboren. Wir haben am Segen dieser Schließlich kann der Fuß stehen, gehen,
Taufe teil, wenn wir wiedergeboren wer- laufen, klettern, tanzen und treten, und
den. Wir werden dann zu Gliedern des noch vieles andere mehr.
Leibes Christi. 12,16 »Das Ohr« sollte nicht meinen,
Man sollte hier einige wichtige Punk- am Rande zu stehen, nur weil es kein
te anführen: Erstens ist die Geistestaufe »Auge« ist. Wir nehmen unsere Ohren
die göttliche Handlung, die den Gläubi- als ganz selbstverständlich hin, bis wir
gen in den Leib Christi einfügt. Sie ist einmal taub werden. Dann erkennen wir
nicht mit der Wassertaufe gleichzuset- erst, wie wichtige Aufgaben sie für uns
zen. Das geht aus Matthäus 3,11; Johan- übernehmen.
nes 1,33 und Apostelgeschichte 1,5 her- 12,17 »Wenn der ganze Leib Auge
vor. Sie ist nicht ein Gnadenwerk, das auf wäre«, dann hätten wir ein taubes Etwas,
die Erlösung folgt und durch welches ein das man vielleicht noch in einer Kurio-
Gläubiger »geistlicher« wird. »Alle« Ko- sitätenschau ausstellen könnte. Wenn der
rinther hatten die Geistestaufe, und doch Leib nur aus Ohren bestünde, dann wür-
tadelt Paulus sie, weil sie fleischlich de die Nase fehlen, um festzustellen, daß
waren – und nicht geistlich (3,1). Es ist Gas aus einer Leitung austritt. Schon
nicht wahr, daß die Zungengabe das Zei- bald könnte dieser »Leib« nicht mehr
chen dafür ist, die Geistestaufe erhalten hören, weil er schon längst bewußtlos
zu haben. »Alle« Korinther waren »mit oder tot wäre.
einem Geist« getauft, doch nicht alle Paulus zielt auf den Punkt ab, daß,
sprachen in Zungen (12,30). Es gibt be- wenn der Leib nur Zunge wäre, man ein
sondere Erlebnisse mit dem Heiligen Ungeheuer hätte. Und doch überbeton-
Geist, wenn ein Gläubiger sich ganz der ten die Korinther die Zungengabe derart,
Führung des Heiligen Geistes hingibt daß sie praktisch eine Ortsgemeinde
und dann besondere Kräfte erhält. Doch schaffen wollten, die nur aus Zungen
ist solch ein Erlebnis nicht dasselbe wie besteht. Doch eine solche Ortsgemeinde
die Geistestaufe und sollte damit nicht könnte nichts anderes als nur reden!
verwechselt werden. 12,18 »Gott« hat sich solch eines
Der Vers sagt weiter, daß die Gläubi- Unsinns natürlich nicht schuldig ge-
gen »mit einem Geist getränkt worden« macht. In seiner unvergleichlichen Weis-
sind. Das bedeutet, daß sie in dem Sinne heit hat er die verschiedenen Glieder
am Geist Gottes Anteil haben, daß der »wie er wollte« in den Leib eingesetzt.
Geist in ihnen wohnt und daß sie die Wir sollten ihm vertrauen, daß er wußte,
Auswirkungen seines Dienstes in ihrem was er tat. Wir sollten für jede Gabe, die
Leben erfahren. er uns gegeben hat, dankbar sein und sie
12,14 Ohne die verschiedenen Glie- freudig zu seiner Ehre und zur Aufer-
der gäbe es keinen menschlichen »Leib«. bauung anderer benutzen. Jemandem
Es muß »viele« Glieder geben, jedes von seine Gabe neiden ist Sünde. Es ist Auf-
den anderen verschieden, von denen lehnung gegen den vollkommenen Plan
jedes im Gehorsam gegen das Haupt und Gottes für unser Leben.
in Zusammenarbeit mit den anderen 12,19 Es ist unmöglich, sich einen
Gliedern funktioniert. Leib mit nur »einem Glied« vorzustellen.
12,15 Wenn wir sehen, daß Unter- Deshalb sollten die Korinther daran den-
schiede in einem normalen, gesunden ken, daß sie keinen funktionsfähigen
Geist wichtig sind, dann wird uns diese Leib bilden würden, wenn sie alle nur die
Erkenntnis vor zwei Gefahren bewah- Gabe der Zungenrede hätten. Andere
ren – uns selbst klein zu machen (V. 15- Gaben, auch wenn sie weniger spekta-

747
1. Korinther 12

kulär oder sensationell sind, sind den- lichkeit geeignet, andere weniger. Und
noch unbedingt nötig. doch hat uns Gott den Instinkt gegeben,
12,20 Gott hat angeordnet, daß es alle Glieder zu schätzen, zu erkennen,
»viele Glieder, aber« nur »einen Leib« daß sie untereinander abhängig sind und
gibt. Diese Tatsachen sind uns im Zusam- den Fehlern derer entgegenzusteuern,
menhang mit dem menschlichen Leib die nicht so vollkommen sind.
selbstverständlich, sie sollten jedoch auf 12,25 Die gegenseitige Fürsorge der
dem Gebiet unseres Dienstes in der Ge- Glieder untereinander verhindert »Spal-
meinde ebenso selbstverständlich sein. tung im Leib«. Jeder gibt dem anderen,
12,21 Genauso wie es töricht ist, wenn was er braucht, und erhält im Gegenzug
einer dem anderen eine Gabe neidet, so die Hilfe, die nur dieses eine andere
ist es ebenfalls töricht, wenn jemand die Glied geben kann. So muß es in der
Gabe eines anderen abwertet oder meint, Gemeinde sein. Wenn man eine Geistes-
er habe die anderen nicht nötig. »Das gabe überbetont, führt das zu Konflikten
Auge kann nicht zur Hand sagen: Ich und Spaltungen.
brauche dich nicht; oder wieder das 12,26 Was »ein Glied« betrifft, betrifft
Haupt zu den Füßen: Ich brauche euch »alle«. Das ist eine wohlbekannte Tatsa-
nicht.« Das Auge kann sehen, was zu tun che über den menschlichen Leib. Fieber
ist, aber es kann selbst nichts tun. Es z. B. beschränkt sich nicht auf einen Teil
hängt von der Hand ab. Und der Kopf des Leibes, sondern befällt den ganzen
mag wissen, daß es notwendig ist, einen Leib. Genauso ist es mit anderen Formen
bestimmten Platz aufzusuchen, doch der Krankheit und mit Schmerzen. Ein
hängt er von den Füßen ab, die ihn dort- Augenarzt kann oft einen Gehirntumor,
hin bringen. eine Nierenkrankheit oder eine Leberin-
12,22 Einige »Glieder des Leibes … fektion durch einen Blick in die Augen
scheinen … schwächer zu sein« als ande- erkennen. Der Grund dafür ist, daß, ob-
re. Die Nieren etwa scheinen nicht so wohl alle diese Glieder getrennt und un-
stark wie der Arm zu sein. Doch ohne terscheidbar sind, sie doch alle Teil eines
Nieren kann der Leib gar nicht leben, Leibes sind, und sie so sehr miteinander
während das ohne Arm durchaus mög- verbunden sind, daß eine Krankheit, die
lich ist. Wir können ohne Arme und Bei- einen Teil beeinflußt, auch andere Teile in
ne leben, oder sogar ohne Zunge, aber Mitleidenschaft zieht. Deshalb sollten
wir können nicht ohne Herz, Lunge, wir, statt einerseits mit unserem Schick-
Leber oder Gehirn leben. Und doch sieht sal unzufrieden zu sein oder andererseits
man diese Organe niemals von außen. uns unabhängig von den anderen zu
Sie funktionieren, ohne Beachtung zu fühlen, ein wirkliches Solidaritätsgefühl
finden. im Leib Christi entwickeln. Alles, was
12,23 Einige Glieder des Leibes sind einen anderen Christen verletzt, sollte
anziehend, während andere weniger uns die schlimmsten Sorgen bereiten.
elegant sind. Wir gleichen das aus, Ebenso sollten wir nicht neidisch sein,
indem wir diejenigen, die nicht so schön wenn ein anderer Christ »verherrlicht«
sind, mit Kleider bedecken. So gibt es die wird, sondern uns mit ihm »freuen«.
gegenseitige Fürsorge der Glieder unter- 12,27 Paulus erinnert die Korinther
einander, indem die Unterschiede ausge- daran, daß sie »Christi Leib« sind. Das
glichen werden. kann nicht bedeuten, daß sie der Leib
12,24 Die »wohlanständigen« Kör- Christi in seiner Vollständigkeit wären.
perteile brauchen keine besondere Auch kann es nicht bedeuten, daß sie ein
Beachtung. »Aber Gott« hat aus den ver- Leib Christi wären, weil es nur einen
schiedenen Gliedern des Leibes eine Leib gibt. Es kann nur bedeuten, daß sie
organische Struktur geformt. Einige Glie- zusammen ein Mikrokosmos oder ein
der sind auffallend schön, andere Miniatur-Leib Christi sind. »Einzeln ge-
unscheinbar. Einige sind für die Öffent- nommen« ist jeder ein Glied dieser

748
1. Korinther 12

großen Gemeinschaft. Als solches sollte ständig sind. Die Gabe der »Leitung«
er seine Aufgabe ohne Stolz, Unabhän- andererseits hängt mit den Ältesten oder
gigkeit, Neid oder das Gefühl der Nutz- »Bischöfen« zusammen. Dies sind die
losigkeit durchführen. Männer, die gottesfürchtig für die geistli-
12,28 Der Apostel zählt nun eine wei- chen Belange der Ortsgemeinde sorgen.
tere Gabenliste auf. Keine dieser Aufli- Die letzte ist die »Sprachen«-Gabe. Wir
stung ist vollständig. »Und die einen hat glauben, daß die Reihenfolge hier be-
Gott in der Gemeinde gesetzt erstens zu deutsam ist. Paulus erwähnt die Apostel
Aposteln.« Das Wort »erstens« oder zuerst und die Sprachengabe als letztes.
»aufs erste« (LU1912) zeigt an, daß nicht Die Korinther setzten die Zungengabe
alle Apostel sind. Die Zwölf waren Män- jedoch an die erste Stelle und setzten
ner, die durch den Herrn als seine Bot- gleichzeitig die Apostel herab!
schafter ausgesandt wurden. Sie waren 12,29.30 Wenn der Apostel nun fragt,
während seines gesamten irdischen ob jeder Gläubige die gleiche Gabe
Dienstes bei ihm (Apg 1,21.22), und hat- habe – ob er Apostel, Prophet, Lehrer,
ten ihn mit Ausnahme des Judas nach Wundertäter, Heiler, Helfer, Verwalter,
seiner Auferstehung gesehen (Apg 1,2.3. Zungenredner oder Ausleger von Zun-
22). Aber außer den Zwölfen gab es noch gen war – dann zeigt die Grammatik des
andere Apostel. Der bemerkenswerteste Griechischen an dieser Stelle, daß er als
war sicherlich Paulus, außerdem Barna- Antwort ein »Nein« erwartet und ver-
46)
bas (Apg 14,4.14); Jakobus, der Bruder langt. Deshalb ist jede Vorstellung, daß
des Herrn (Gal 1,19) und Silas und Timo- hier gemeint oder angedeutet sein könn-
theus (1. Thess 1,1; 2,6). Gemeinsam mit te, daß jeder die Zungengabe haben soll-
den Propheten des NT legten die Apostel te, ein Widerspruch zum Wort Gottes
die lehrmäßigen Grundlagen der Kirche und der ganzen Vorstellung eines Leibes
durch ihre Lehre vom Herrn Jesus Chri- mit vielen verschiedenen Gliedern, die
stus (Eph 2,20). Im engeren Wortsinn gibt alle ihre eigene Funktion haben.
es heute keine Apostel mehr. In einem Wenn, wie es hier ausgesagt wird,
weiteren Sinne haben wir jedoch noch nicht jeder die Zungengabe hat, dann ist
immer Boten und Gemeindegründer, die es verkehrt zu lehren, daß Zungen das
vom Herrn ausgesandt werden. Indem Zeichen für die Geistestaufe ist. Denn in
wir sie Missionare statt Apostel nennen, diesem Fall könnte nicht jeder erwarten,
vermeiden wir den Eindruck, daß sie die diese Taufe zu erhalten. Doch die Wahr-
außergewöhnliche Autorität und Voll- heit ist, daß jeder Gläubige schon mit dem
macht der ersten Apostel haben. Geist getauft worden ist (V. 13).
Als nächstes gibt es »Propheten«. Wir 12,31 Wenn Paulus sagt: »Eifert aber
haben schon erwähnt, daß Propheten um die größeren Gnadengaben«, so
Sprecher Gottes waren, Männer, die in spricht er zu den Korinthern als Ortsge-
der Zeit, ehe das Wort Gottes vollständig meinde, nicht als einzelne. Deshalb steht
schriftlich niedergelegt wurde, dieses das Verb hier im Plural. Er sagt damit,
Wort aussprachen. Weiter haben wir daß eine Gemeinde danach streben soll-
»Lehrer«, die das Wort Gottes den Men- te, eine gute Auswahl der Gaben zu
schen auf verständliche Weise erklären. haben, die erbauen. Die besten Gaben
»Wunderkräfte« kann sich auf Toten- sind diejenigen, die den größten Nutzen
erweckungen, Dämonenaustreibungen haben, nicht die spektakulärsten. Alle
usw. beziehen. »Heilungen« bezieht sich Gaben werden durch den Heiligen Geist
auf die sofortige Heilung leiblicher gegeben und keine sollte verachtet wer-
Krankheiten, wie wir schon weiter oben den. Doch bleibt die Tatsache bestehen,
erläutert haben. »Hilfeleistungen« wer- daß einige für den Leib von größerem
den normalerweise mit den Aufgaben Nutzen sind als andere. Das sind diejeni-
der Diakone verbunden, die für die gen, um die jede Ortsgemeinde den
materiellen Belange der Gemeinde zu- Herrn bitten sollte.

749
1. Korinther 13

13,1 »Und einen Weg noch weit darü- Wenn sie liebevoll miteinander umgin-
ber hinaus zeige ich euch.« Mit diesen gen, könnte das Problem größtenteils ge-
Worten leitet Paulus das Kapitel über die löst werden. Es ist kein Problem, das den
Liebe ein (1. Kor 13). Er will hier sagen, Ausschluß oder eine Spaltung, sondern
daß der bloße Besitz von Gaben nicht so Liebe erfordert.
wichtig ist, wie die Verwendung dieser Auch wenn jemand alle »Sprachen«,
Gaben in Liebe. Die Liebe denkt an die ob von Menschen oder Engeln, sprechen
anderen, nicht an sich selbst. Es ist wun- könnte, aber nicht die Fähigkeit hätte,
dervoll, einen Mann zu sehen, der vom diese Gabe zum Nutzen anderer einzu-
Geist Gottes auf ungewöhnliche Weise setzen, dann wäre das nicht nützlicher
begabt ist, doch ist es noch wunderbarer, oder schöner als das Zusammenschlagen
wenn dieser Mann die Gabe verwendet, von Metall. Wenn man das gesprochene
um andere in ihrem Glauben zu erbauen Wort nicht verstehen kann, dann hat man
und nicht damit die Aufmerksamkeit auf keinen Nutzen davon. Es ist einfach ein
sich selbst lenken will. nervenaufreibendes Getöse, das zum
Die Menschen neigen dazu, Kapitel Allgemeinwohl nichts beiträgt. Damit
13 aus seinem Zusammenhang zu reißen. Sprachenrede von Nutzen ist, muß sie
Sie sind der Ansicht, daß es sich hier um ausgelegt werden. Und auch dann muß
einen Einschub handelt, der die Span- das Gesagte noch erbauen. »Sprachen
nung wegen der Sprachengabe in den der Engel« könnte ein bildlicher Aus-
Kapiteln 12 und 14 etwas mildern soll. druck für eine gehobene Sprache sein,
Doch das ist nicht der Fall. Das Kapitel ist doch bedeutet es keinesfalls eine unbe-
ein wichtiger und wesentlicher Teil der kannte Sprache, denn wann immer Engel
Argumentation des Paulus. zu den Menschen der Bibel sprachen,
Der Mißbrauch der Sprachengabe handelte es sich um eine normale Spra-
hatte offensichtlich zu Eifersucht in der che, die einfach zu verstehen war.
Gemeinde geführt. Die »Charismatiker« 13,2 Ähnlich kann jemand vielleicht
hatten ihre Gabe zur Selbstdarstellung, wunderbare Offenbarungen von Gott
Selbsterbauung und Selbstbefriedigung empfangen. Er mag die größten »Ge-
mißbraucht und damit nicht mehr in Lie- heimnisse« Gottes »wissen«, ungeheure
be gehandelt. Sie erfuhren Befriedigung Wahrheiten, die bisher noch nicht be-
dadurch, daß sie öffentlich in einer Spra- kannt waren. Er mag große göttliche »Er-
che sprechen konnten, die sie nicht ge- kenntnis« haben, die er auf übernatür-
lernt hatten, und es war für andere wirk- liche Weise empfängt. Er mag einen
lich hart, dasitzen und unverständlichem heroischen Glauben besitzen, der »Berge
Gerede zuhören zu müssen. Paulus be- versetzen« kann. Doch wenn diese wun-
steht darauf, daß alle Gaben im Geist der derbaren Gaben nur zu seinem eigenen
Liebe ausgeübt werden müssen. Das Ziel Nutzen eingesetzt werden und nicht zur
der Liebe ist es, anderen zu helfen und Erbauung der anderen Glieder des Lei-
nicht sich selbst zu gefallen. bes Christi, dann haben sie keinen Wert,
Und vielleicht hatten die »Nichtcha- und der Besitzer dieser Gaben ist
rismatiker« überempfindlich und ebenso »nichts«, d. h., er ist für die anderen kei-
lieblos reagiert. Sie mögen soweit gegan- ne Hilfe.
gen sein, daß sie sagten, daß alle Spra- 13,3 Wenn der Apostel »alle« seine
chenrede vom Teufel sei. Sie hatten mit »Habe zur Speisung der Armen austei-
ihrer griechischen Sprache aber schlim- len« würde, oder sogar seinen »Leib«
meres angerichtet als die »charismati- hingeben würde, damit er »verbrannt
schen« Sprachen! Ihre Lieblosigkeit kann werde«, so würden ihm diese Taten
schlimmer gewesen sein als der Miß- nichts nützen, es sei denn, sie wären im
brauch der Sprachengabe an sich. Geist der »Liebe« geschehen. Wenn er
Deshalb erinnert Paulus sie weise, damit nur die Aufmerksamkeit auf sich
daß beide Seiten Liebe nötig haben. selbst richten und sich einen Namen

750
1. Korinther 13

machen wollte, dann wären seine menschlichen Natur, der sich an Unge-
Tugendbeweise völlig nutzlos. rechtigkeiten erfreut, insbesondere wenn
13,4 Jemand hat einmal gesagt: »Diese das Unrecht einem selbst nützt. Das ist
Verse waren nicht als Traktat über die Lie- nicht der Geist der Liebe. Die Liebe
be geplant, sondern wie die meisten »freut sich« über jeden Sieg »der Wahr-
literarischen Edelsteine des NT wurden heit«.
sie in eine konkrete Situation am Ort hin- 13,7 Der Ausdruck »erträgt alles«
ein geschrieben.« Hodge hat betont, daß kann bedeuten, daß die Liebe geduldig
die Korinther ungeduldig, unzufrieden, »alles« erträgt, oder daß sie die Fehler
neidisch, aufgeblasen, selbstsüchtig, un- anderer verbirgt. Das Wort »ertragen«
anständig, unachtsam gegenüber den Ge- kann auch mit »bedecken« übersetzt
fühlen und Interessen anderer, skeptisch, werden. Die Liebe stellt nicht grundlos
rachsüchtig und kritiksüchtig waren. die Fehler anderer bloß, obwohl sie fest
Und deshalb setzt der Apostel nun sein muß, wenn es darum geht, gottge-
die Eigenschaften echter Liebe dagegen. wollte Disziplinarmaßnahmen zu ergrei-
Zunächst einmal ist die Liebe »lang- fen, sobald sich die Notwendigkeit dazu
mütig« und »gütig«. Langmut ist das ergibt.
geduldige Ausharren obwohl man stän- Die Liebe »glaubt alles«, d. h., sie ver-
dig provoziert wird. Güte ist aktives Gut- sucht allen Handlungen und Gescheh-
sein, das Aufgehen in den Interessen nissen die beste mögliche Interpretation
anderer. Die Liebe »neidet« anderen zukommen zu lassen. Die Liebe »hofft
nichts, sondern freut sich daran, wenn alles« in dem Sinne, daß sie ehrlich dar-
andere geehrt und gelobt werden. »Die um bemüht ist, daß alles zum Besten
Liebe tut nicht groß, sie bläht sich nicht ausgeht. Die Liebe »erträgt alles« an Ver-
auf.« Sie erkennt, daß alle Gaben von folgung oder schlechter Behandlung.
Gott gegeben werden, und daß kein 13,8 Nachdem der Apostel die Eigen-
Mensch Grund hat, stolz zu sein. Sogar schaften derer beschrieben hat, die ihre
die Gaben des Heiligen Geistes werden Gabe in Liebe ausüben, wendet sich der
von Gott souverän ausgeteilt und sollten Apostel nun der Ewigkeit der Liebe im
niemanden stolz oder hochmütig Gegensatz zur Zeitlichkeit der Gaben zu.
machen, ganz gleich, wie spektakulär die »Die Liebe vergeht niemals.« Auch in der
Gabe auch sein mag. Ewigkeit wird es die Liebe noch geben,
13,5 Die Liebe »benimmt sich nicht denn wir werden den Herrn und einan-
unanständig«. Wenn man wirklich liebe- der lieben. Diese Gaben dagegen sind
voll handelt, dann ist man höflich und nur von begrenzter Dauer.
aufmerksam. Die Liebe »sucht nicht« Es gibt zwei grundsätzliche Ausle-
selbstsüchtig »das Ihre«, sondern ist an gungen der Verse 8-13. Die traditionelle
allem interessiert, was anderen helfen Ansicht lautet, daß die Gaben der Weis-
könnte. Liebe »läßt sich nicht erbittern«, sagung, der Sprachen und der Erkennt-
sondern erträgt willig Beleidigungen nis aufhören werden, wenn der Gläubige
und Kränkungen. Die Liebe »rechnet in die Ewigkeit kommt. Die andere Aus-
Böses nicht zu«, d. h., sie unterstellt an- legung besagt, daß diese Gaben schon
deren keine bösen Beweggründe. Sie ver- aufgehört haben, und daß dies geschah,
dächtigt andere nicht und hat keine Hin- als der Kanon der Schrift vollständig
tergedanken. war. Um beide Ansichten darzustellen,
13,6 Die Liebe »freut sich nicht über werden wir die Verse 8 bis zwölf unter
die Ungerechtigkeit, sondern sie freut den Überschriften »ewiger Zustand«
sich mit der Wahrheit«. Es gibt einen ge- und »vollständiger Kanon« paraphra-
wissen niederträchtigen Zug der sieren.

751
1. Korinther 13

Ewiger Zustand Vollständiger Kanon


Die Liebe wird niemals aufhören. Dage- Die Liebe wird nie vergehen. Während es
gen wird die Weissagung, die jetzt exi- zur Zeit des Paulus Weissagung gab,
stiert, aufhören, wenn Gottes Volk im sollte die Notwendigkeit für direkte
Himmel ist. Während es heute die Gabe Offenbarungen dann zu Ende gehen,
der Erkenntnis gibt, wird es sie nicht wenn das NT vervollständigt sein wür-
mehr geben, wenn wir einmal in die de. Zur Zeit des Paulus gab es noch die
Herrlichkeit aufgenommen werden. Sprachenrede, doch sie würde aufhören,
(Wenn Paulus sagt, daß die Erkenntnis sobald die 66 Bücher der Bibel vollendet
aufhören wird, dann meint er damit wären, weil sie nicht länger nötig waren,
nicht, daß es im Himmel kein Wissen um die Predigt der Apostel und Prophe-
mehr gibt. Er muß sich auf die Gabe der ten zu bestätigen (Hebr 2,3.4). Die Er-
Erkenntnis beziehen, durch die die gött- kenntnis göttlicher Wahrheit wurde den
liche Wahrheit auf übernatürliche Weise Aposteln und Propheten von Gott gege-
weitergegeben wurde.) ben, doch würde sie aufhören, sobald die
Gesamtheit der christlichen Lehre ein für
allemal festgehalten sein würde.
13,9 In diesem Leben ist unsere Wir, also die Apostel, erkennen stück-
Erkenntnis bestenfalls Stückwerk, ge- weise (in dem Sinne, daß wir durch
nauso wie unsere Weissagung. Es gibt so direkte Offenbarung von Gott immer
vieles, das wir nicht verstehen, und es noch inspirierte Erkenntnis erhalten),
gibt so viele Geheimnisse im Ratschluß und wir weissagen stückweise (denn wir
Gottes. können nur die stückweisen Offenbarun-
gen ausdrücken, die wir empfangen).
13,10 Doch wenn das Vollkommene Doch wenn das Vollkommene ge-
eingetroffen ist, d. h., wenn wir den voll- kommen ist, d.h. wenn der Kanon ein-
kommenen Zustand in der Ewigkeit schließlich des letzten Buchs des NT ver-
erreicht haben, dann werden die Gaben vollständigt ist, dann werden zeitweilige
des teilweisen Erkennens und der teil- und stückweise Enthüllungen göttlicher
weisen Weissagung weggetan werden. Wahrheit aufhören, und weiteres Offen-
baren dieser Wahrheit wird weggetan. Es
wird keine Notwendigkeit mehr für
stückweise Offenbarungen geben, da das
vollständige Wort Gottes gekommen ist.
13,11 Dieses Leben kann man mit der Die Zeichengaben standen in Verbin-
Kindheit vergleichen, als unsere Sprache, dung mit der Kirche in ihrer Kindheit.
unser Verständnis und unsere Gedanken Die Gaben an sich waren nicht kindisch;
beschränkt und unreif waren. Der himm- sie waren notwendige Gaben des Heili-
lische Zustand entspricht dem Zustand gen Geistes. Doch da nun mit der Bibel
des Erwachsenseins. Dann gehört unser die ganze Offenbarung Gottes zur Verfü-
kindlicher47) Zustand der Vergangenheit gung stand, wurden die Wundergaben
an. nicht mehr gebraucht und beiseite getan.
Das Wort Kind47) bedeutet an dieser Stel-
le soviel wie ein Baby, das noch nicht
richtig sprechen kann.
13,12 Solange wir hier auf Erden Jetzt (zur Zeit der Apostel) sehen wir
leben, sehen wir alles nur verschwom- mittels eines Spiegels, undeutlich. Kein
men und undeutlich, als ob wir in einen einziger von uns (Aposteln) hat Gottes
schmutzigen Spiegel blicken würden. Im vollständige Offenbarung empfangen.
Himmel dagegen wird es sein, als ob wir Sie wurde uns in Einzelteilen gegeben,
die Dinge wirklich sehen, ohne etwas, wie die Teile eines Puzzles. Wenn der
das unsere Wahrnehmung verzerren Kanon der Schrift vervollständigt ist,

752
1. Korinther 13 und 14

kann. Heute haben wir nur teilweise Er- wird die Verundeutlichung weggetan
kenntnis, doch dann werden wir so sein, und wir sehen das Bild in seiner
erkennen wie wir erkannt sind, d. h. völ- ganzen Fülle. Unsere Erkennntnis ist (als
liger. Wir werden niemals vollkommene Apolstel und Propheten) zur Zeit stück-
Erkenntnis haben, auch im Himmel weise. Doch wenn das letzte Buch in den
nicht, denn nur Gott ist allwissend. Aber Kanon des NT aufgenommen worden ist,
unsere Erkenntnis wird doch wesentlich werden wir mehr und verständlicher
größer sein als jetzt. erkennen als je zuvor.

13,13 »Glaube, Hoffnung und Liebe« Wenn wir in der Liebe leben, dann wird
sind, wie Kelly es nennt, »die morali- uns das vom Mißbrauch der Gaben, von
schen Hauptprinzipien, die typisch für Eifersucht und Spaltungen abhalten, die
das Christentum sind«. Diese Gnadenga- sich aus dem Mißbrauch dieser Gaben
ben sind den anderen Geistesgaben über- bisher ergeben haben.
legen, und sie sind auch dauerhafter. 14,1 Die Verbindung zum vorherge-
Kurz gesagt, die Frucht des Geistes ist henden Kapitel ist eindeutig. Christen
wichtiger als die Gaben des Geistes. sollten »nach der Liebe« streben, und das
Und »die Liebe« ist »die größte von bedeutet, daß sie immer versuchen soll-
diesen« drei Gaben. Sie ist nicht auf das ten, anderen zu dienen. Sie sollten auch
Ich, sondern auf den Mitmenschen kon- ernsthaft nach »geistlichen Gaben« für
zentriert. ihre Gemeinde »eifern«. Es stimmt zwar,
Ehe wir nun dieses Kapitel verlassen, daß der Heilige Geist die Gaben austeilt,
haben wir noch einige Beobachtungen zu wie es ihm gefällt, doch ist es genauso
machen. Wie schon oben erwähnt, ist wahr, daß wir um Gaben bitten können,
eine weithin akzeptierte Auslegung der die von großem Wert für unsere Gemein-
Verse 8-12, daß hier der Gegensatz zwi- de sind. Deshalb ist Paulus der Ansicht,
schen dem irdischen und dem ewigen daß die Gabe der Weissagung besonders
Zustand beschrieben wird. wünschenswert ist. Er erklärt weiter,
Doch viele hingegebene Christen hal- warum z. B. die Weissagung von größe-
ten die Ansicht, daß es hier um die Voll- rem Nutzen ist als die Sprachengabe.
ständigkeit des Kanons geht, für die rich- 14,2 »Wer in einer Sprache redet«,
tige. Sie glauben, daß der Zweck der Zei- ohne daß jemand auslegt, spricht nicht
chengaben war, die Predigt der Apostel zum Nutzen der Versammelten. »Gott«
zu bestätigen, solange das Wort Gottes versteht das Gesagte, doch die Menschen
noch nicht in seiner schriftlichen Form nicht, weil es für sie eine fremde Sprache
vollständig war, und daß die Notwendig- ist. Der Redner mag vielleicht wunderbare
keit für diese Wundergaben nicht mehr Wahrheiten weitergeben, die bis dahin
gegeben war, als das NT vollständig war. unbekannt sind, doch nützt das überhaupt
Während diese zweite Ansicht ernsthaf- nichts, weil es unverständlich bleibt.
ter Überlegung wert ist, ist sie doch kaum 14,3 Wenn jemand dagegen »weis-
wirklich beweisbar. Auch wenn wir glau- sagt«, so baut er die Gemeinde auf, er
ben, daß die Zeichengaben größtenteils ermutigt und tröstet sie. Der Grund dafür
zum Schluß der apostolischen Zeit aufge- ist, daß er in der Sprache der Menschen
hört haben, können wir nicht sagen, daß spricht, und das macht den Unterschied
Gott, wenn es ihm gefiele, nicht heute aus. Wenn Paulus sagt, daß der Prophet
diese Gaben noch benutzen könnte. Wel- »zur Erbauung, Ermahnung und Trö-
che Ansicht wir auch haben, die bleiben- stung« spricht, dann gibt er damit keine
de Lehre, die wir daraus ziehen sollten Definition. Er sagt einfach, daß sich diese
ist, daß die Gaben des Geistes immer nur Resultate einstellen werden, wenn die
Stückwerk und zeitlich sind, während die Botschaft in einer Sprache übermittelt
Frucht des Geistes ewig und besser ist. wird, die die Menschen sprechen.
753
1. Korinther 14

14,4 Vers 4 wird oft benutzt, um den ung« als am Vorzeigen einer Gabe. »Was
privaten Gebrauch der Zungenrede zur uns erstaunt, ist für den geistlich Gesinn-
Selbsterbauung zu rechtfertigen. Doch ten wesentlich weniger wichtig als das
48)
sollte man die Tatsache beachten, daß Erbauliche«, hat Kelly gesagt.
das Wort »Gemeinde« in diesem Kapitel Der Ausdruck »es sei denn, daß er es
neunmal zu finden ist (V. 4.5.12.19.23. auslegt« könnte bedeuten »es sei denn,
28.33.34.35), die eher dafür spricht, daß der Zungenredner legt es selbst aus«
Paulus sich hier nicht mit dem persönli- oder aber »es sei denn, daß jemand es aus-
chen Gebetsleben auseinandersetzt, son- legt«.
dern mit der Verwendung der Zungenre- 14,6 Auch wenn Paulus selbst nach
de in der Ortsgemeinde. Der Zusammen- Korinth käme und »in Sprachen« reden
hang zeigt uns, daß der Apostel, weit würde, so würde es den Korinthern noch
davon entfernt, die Nutzung der Zun- nichts »nützen«, es sei denn, sie könnten
genrede zur Selbsterbauung zu lehren, ihn verstehen. Sie müßten feststellen kön-
hier gegen die Verwendung der Gabe in nen, ob das, was er sagen würde, eine
der Gemeinde spricht, wenn sie nicht »Offenbarung«, »Erkenntnis«, »Weissa-
dazu führt, daß anderen geholfen wird. gung« oder »Lehre« wäre. Die Kommen-
Die Liebe denkt an den anderen und tatoren sind sich einig, daß »Offenba-
nicht an sich selbst. Wenn die Zungenga- rung« und »Erkenntnis« mit innerem
be in der Liebe geübt wird, dann werden Wissen zu tun haben, während »Weissa-
andere davon Nutzen haben, und nicht gung« und »Lehre« damit zu tun haben,
nur der Zungenredner selbst. dieses Wissen weiterzugeben. Paulus be-
»Wer aber weissagt, erbaut die Ge- tont in diesem Vers, daß eine Botschaft
meinde.« Er brüstet sich nicht eigen- verstanden werden muß, wenn sie für die
nützig mit seiner Gabe, sondern spricht Gemeinde von Nutzen sein soll. Er wird
wesentliches in einer Sprache, die die dies in den folgenden Versen beweisen.
Gemeinde verstehen kann. 14,7 Zunächst benutzt er das Bild der
14,5 Paulus verachtet die Gabe der Musikinstrumente. Nur wenn eine »Flö-
Zungenrede nicht, denn er erkennt, daß te oder Harfe« den »Tönen« einen »Un-
es sich dabei um eine Gabe des Heiligen terschied« geben, kann man erkennen,
Geistes handelt. Er konnte und wollte »was geflötet oder geharft wird«. Die
nicht irgend etwas verachten, das vom Vorstellung schöner Musik beinhaltet
Geist gewirkt ist. Wenn er sagt: »Ich immer den Gedanken an unterscheidba-
möchte aber, daß ihr alle in Sprachen re Noten, einen festen Rhythmus und
redet«, so will er damit jedem selbstsüch- einen gewissen Grad an Klarheit.
tigen Verlangen eine Absage erteilen, die 14,8 Dasselbe gilt für »die Posaune«.
Gabe auf sich selbst und einige Auser- Der Ruf zu den Waffen muß klar und
wählte zu beschränken. Sein Anliegen deutlich erfolgen, sonst wird sich keiner
wird von Mose einmal so ausgedrückt: »zum Kampf rüsten«. Wenn der Trompe-
»Mögen doch alle im Volk des HERRN Pro- ter einfach aufsteht und irgend etwas vor
pheten sein, daß der HERR seinen Geist sich hinbläst, dann wird sich keiner regen.
auf sie lege!« (4. Mose 11,29b). Doch als er 14,9 »So« ist es auch mit der mensch-
das sagte, war Paulus sich bewußt, daß es lichen Sprache. Wenn die Sprache, die
nicht Gottes Wille war, daß alle Gläubi- wir sprechen, nicht verstanden wird,
gen jede Gabe hätten (s. 12,29.30). dann wird keiner wissen, was gesagt
Es wäre ihm lieber, wenn die Ko- wurde. Es wäre so sinnlos, als würde
rinther »weissagen« würden, um sich ge- man »in den Wind reden«. (In Vers 9 be-
genseitig auzuerbauen, weil ihre Zuhörer deutet »Sprache« das Organ zum Spre-
sie nicht verstehen könnten, wenn sie in chen, nicht eine fremde Sprache.) Es gibt
Zungen ohne Auslegung sprechen wür- für all das eine praktische Anwendung,
den und deshalb niemand einen Nutzen nämlich, daß Predigt und Lehre klar und
davon hätte. Paulus lag mehr an »Erbau- einfach sein sollten. Wenn sie zu »tief-

754
1. Korinther 14

gründig« sind und über die Köpfe der die Gabe der Zungenrede hat, auch die
Leute hinweggepredigt wird, dann wird Gabe der Auslegung hat, aber das war
ihnen das nichts nützen. Es mag dann wohl eher die Ausnahme als die Regel.
zwar dem Sprecher einen gewissen Grad Das Bild des menschlichen Leibes legt es
an Befriedigung schenken, doch wird es näher, daß verschiedene Funktionen von
für das Volk Gottes keinen Nutzen verschiedenen Organen übernommen
haben. werden.
14,10 Paulus geht zu einem anderen 14,14 Wenn jemand z. B. im Gottes-
Bild über, um seine Aussage weiter zu dienst »in einer Sprache« betet, so
erklären. Er spricht hier von den »vielen »betet« sein »Geist« in dem Sinne, daß
Arten von Sprachen in der Welt«. Hier ist seine Gefühle Ausdruck finden, auch
das Thema nun breiter gestreut als nur wenn er nicht die übliche Sprache be-
menschliche Sprache, sondern umfaßt nutzt. Doch sein »Verstand ist fruchtleer«
auch die Kommunikation anderer Lebe- in dem Sinne, daß niemand anders
wesen. Vielleicht denkt Paulus an die davon Nutzen hat. Die Gemeinde weiß
verschiedenen Vogelstimmen und die nicht, was er sagt. Wie wir in den Bemer-
anderen Stimmen, die Tiere verwenden. kungen zu 14,19 erklären werden, sind
Wir wissen z. B., daß es bestimmte Rufe wir der Ansicht, daß der Ausdruck
bei Vögeln gibt, mit denen sich Partner »mein Verstand« soviel bedeutet wie:
finden, sie sich bei der Wanderung ver- »Das, was die anderen Leute von mir
ständigen oder die sie beim Füttern ihrer verstehen.«
Jungen verwenden. Auch gibt es gewisse 14,15 »Was ist nun« hier die Schluß-
Laute, mit denen sich Tiere bei Gefahr folgerung? Einfach folgendes: Paulus
gegenseitig warnen. Paulus sagt hier ein- möchte nicht nur »beten mit dem Geist«,
fach, daß all diese Stimmen eine eindeu- sondern »auch beten mit dem Verstand«,
tige Bedeutung haben. d. h. so, daß er verstanden wird. Es be-
14,11 Das gilt auch für die menschli- deutet nicht, daß er mit seinem eigenen
che Sprache. Wenn ein Mensch unartiku- Verstand betet, sondern eher, daß er so
lierte Laute von sich gibt, kann niemand betet, daß andere ihn verstehen. Ebenso
ihn verstehen. Er könnte dann genauso- möchte er »lobsingen mit dem Geist«,
gut bedeutungslosen Unsinn schwätzen. aber er »will auch lobsingen«, so daß er
Es gibt nur wenige Erfahrungen, die uns verstanden wird.
mehr auf die Probe stellen, als jeman- 14,16 Daß dies die richtige Bedeutung
dem, der unsere Sprache nicht spricht, des Abschnittes ist, wird in Vers 16 ausrei-
etwas mitzuteilen. chend bewiesen. Wenn Paulus in seinem
14,12 Angesichts dessen sollten die Geist beten würde, aber so, daß er von
Korinther ihren Eifer für »geistliche den anderen nicht verstanden wird, wie
Gaben« mit dem Verlangen verbinden, könnte jemand, der die Sprache nicht ver-
die »Gemeinde« zu erbauen. Moffatt um- steht, zum Schluß »das Amen sprechen«?
schreibt hier: »Ihr sollt die Erbauung der »Welcher die Stelle des Unkundigen
Gemeinde zu eurem Ziel in eurem Ver- einnimmt« bedeutet einen Menschen,
langen nach dem Besseren machen.« der unter den Zuhörern sitzt und die
Man beachte, daß Paulus sie niemals in Sprache des Sprechenden nicht versteht.
ihrem Streben nach Geistesgaben behin- Dieser Vers ermutigt nebenbei auch die
dern will, sondern sie so zu führen sucht, intelligente Verwendung des Wortes
daß sie durch die Verwendung ihrer »Amen« in öffentlichen Versammlungen
Gaben das höchste Ziel erreichen. der Gemeinde.
14,13 Wenn jemand »in einer Sprache 14,17 Wenn man in einer fremden
redet«, so »bete« er, »daß er es auch aus- Sprache spricht, dann könnte man wirk-
lege«. Die Bedeutung kann auch sein, lich »Dank« sagen, aber andere werden
daß er beten solle, daß jemand auslegen dadurch »nicht erbaut«, wenn sie nicht
49)
kann. Es ist möglich, daß jemand, der wissen, was gesagt wurde.

755
1. Korinther 14

14,18 Der Apostel hatte offensichtlich 14,20 Als nächstes ermahnt Paulus
die Fähigkeit, »mehr« fremde Sprachen die Korinther wegen ihres unreifen Den-
zu sprechen als »alle« anderen. Wir wis- kens. Kinder haben das Vergnügen lieber
sen, daß Paulus einige Fremdsprachen als den Nutzen, Glitzerkram lieber als
beherrschte, doch hier verweist er un- Wertvolles. Paulus sagt: »Ergötzt euch
zweifelhaft auf seine Sprachengabe. nicht kindisch dieser spektakulären
14,19 Trotz seiner überragenden Gaben, die ihr zur Selbstdarstellung be-
Fähigkeit zur Zungenrede sagt Paulus nutzt. Es gibt nur eine Art, auf die wir
hier, daß er »lieber fünf Worte mit« sei- den Kindern gleichen sollen, und das ist
nem »Verstand reden« wolle, d. h. so, im Verhältnis zur ›Bosheit‹. Doch in
daß er verstanden wird, »als zehntau- anderen Dingen solltet ihr wie reife Men-
send Worte in einer« fremden »Sprache«. schen denken.«
Er war alles andere als interessiert daran, 14,21 Als nächstes zitiert Paulus
seine Gabe zur Selbstdarstellung zu miß- Jesaja, um zu zeigen, daß die Zungen-
brauchen. Sein Hauptziel war es, dem rede eher ein Zeichen für die Ungläubigen
Volk Gottes zu helfen. Deshalb beschloß als für die Gläubigen ist. Gott sagte, daß
er, daß er, wenn er sprach, das so zu tun, er zu seinem Volk in fremden Sprachen
daß die anderen ihn verstehen konnten. rede wolle, weil sie seine Botschaft abge-
Der Ausdruck »mein Verstand« ist lehnt und verspottet hatten (Jes 28,11).
unter der Bezeichnung »Objekt-Genitiv« Die Erfüllung dieser Prophezeiung fand
50)
bekannt. Es geht hier nicht darum, was statt, als die assyrischen Invasoren nach
Paulus selbst versteht, sondern darum, Israel kamen und die Israeliten die assy-
was die anderen verstehen, wenn er rische Sprache unter sich reden hörten.
spricht. Das war für sie ein Zeichen, daß sie Got-
Hodge zeigt, daß es in diesem Zu- tes Wort abgelehnt hatten.
sammenhang nicht um das geht, was 14,22 Das Argument hier lautet, daß
Paulus selbst versteht, wenn er in Zun- die Korinther, weil Gott »die Sprachen«
gen redet, sondern was die anderen Leu- als »Zeichen … für die Ungläubigen«
te dabei verstehen: gemacht hat, sie nicht ständig in den
Es ist nicht anzunehmen, Paulus würde Zusammenkünften der Gläubigen be-
Gott dafür danken, daß er selbst die Gabe der nutzen sollten. Es wäre besser, wenn sie
Zungenrede in größerem Maß empfangen weissagen würden, denn die Weissa-
hat, wenn diese Gabe darin bestünde, in gung ist ein Zeichen »für die Glauben-
Sprachen zu reden, die er selbst nicht ver- den, … nicht für die Ungläubigen«.
stand, und deren Gebrauch dementspre- 14,23 »Wenn nun die ganze Gemein-
chend weder ihm noch anderen nützen wür- de zusammenkommt und alle« Korin-
de. Auch geht aus diesem Vers eindeutig her- ther »in Sprachen reden«, ohne daß je-
vor, daß das Zungenreden nicht in einem mand auslegt, was würde wohl ein
Zustand des geistigen Unbewußtseins Fremder von all dem halten? Es wäre für
geschah. Die allgemeine Lehre über das ihn kein Zeugnis, sondern er müßte den-
Wesen dieser Gabe ist die einzige, die mit die- ken, daß die Gläubigen verrückt sind.
sem Abschnitt übereinstimmt. Paulus sagt, Es gibt einen scheinbaren Widerspruch
daß er lieber fünf Worte verständlich reden zwischen Vers 22 und den Versen 23-25.
würde, auch wenn er besser in Zungen reden In Vers 22 wird uns gesagt, daß die Zun-
könne als die Korinther, als zehntausend in genrede ein Zeichen für die Ungläubigen
einer unverständlichen Sprache. In der ist, während die Weissagung für die
Gemeinde, d. h. in der Versammlung, damit Gläubigen bestimmt ist. Doch in den Ver-
ich auch andere lehre (katecheo), mündlich sen 23-25 sagt Paulus, daß die Zungenre-
zu unterweisen (Gal 6,6). Das zeigt, was er de, die in der Gemeinde benutzt wird,
meint wenn er »mit meinem Verstand die Ungläubigen nur verwirren und zu
reden« sagt. Er spricht hier so, um eine Fall bringen könnte, während Weissa-
51)
Lehre weiterzugeben. gung ihnen helfen könnte.

756
1. Korinther 14

Die Erklärung für diesen scheinbaren war es für den Geist Gottes notwendig,
Widerspruch ist folgender: Die Ungläu- bestimmte Regeln einzusetzen, um den
bigen in Vers 22 sind diejenigen, die das Gebrauch dieser Gabe in geordnete Bah-
Wort Gottes abgelehnt haben und ihr nen zu lenken. In den Versen 26-28 fin-
Herz vor der Wahrheit verschlossen ha- den wir solche Regeln.
ben. Die Zungen- oder Sprachenrede ist Was geschah, wenn die frühe Ge-
für sie ein Zeichen des Gerichtes Gottes, meinde zusammenkam? Aus Vers 26 geht
wie das auch für Israel in dem aus Jesaja hervor, daß die Versammlungen sehr frei
zitierten Vers der Fall ist (V. 21). Die Un- und ungezwungen waren. Es gab Freiheit
gläubigen in den Versen 23-25 sind dieje- für den Geist Gottes, die verschiedenen
nigen, die offen für Belehrung sind. Sie Gaben zu benutzen, die er der Gemeinde
sind offen, das Wort Gottes zu hören, was gegeben hatte. Einer z. B. las »einen
ihre Anwesenheit bei einer christlichen Psalm«, und dann erklärte jemand anders
Versammlung beweist. Wenn sie hören, wieder »eine Lehre«. Der nächste kam mit
wie die Christen ohne Auslegung in einer »Sprachenrede«. Ein anderer stellte
Zungen reden, dann hilft ihnen das »eine Offenbarung« vor, die er direkt vom
nicht, sondern hindert sie vielleicht, den Herrn erhalten hatte. Noch jemand
Glauben anzunehmen. anders legte die Zungenrede aus, die so
14,24 Wenn Fremde in eine Versamm- eben zu hören war. Paulus heißt diese Pra-
lung kommen, in denen die Christen xis der offenen Versammlung stillschwei-
mehr weissagen als in Zungen sprechen, gend gut, in der der Geist Gottes durch
dann hören und verstehen die Besucher, die verschiedenen Brüder sprechen konn-
was gesagt wird, und sie werden »von te. Doch nachdem er dies festgestellt hat-
allen überführt, von allen beurteilt«. Was te, erklärt er seine erste Regel für die Aus-
der Apostel hier betont ist, daß es keine übung der Gaben. »Alles« muß zur
wirkliche Überführung von der Sünde »Erbauung« geschehen. Nur weil etwas
gibt, wenn die Zuhörer nicht verstehen spektakulär und bewundernswert ist,
können, was gesagt wird. Wenn ohne heißt das noch lange nicht, daß es in der
Auslegung in fremden Sprachen geredet Gemeinde einen Platz hat. Um annehm-
wird, dann wird den Besuchern auf bar zu sein, muß der Dienst bewirken,
keinen Fall geholfen. Diejenigen, die daß das Volk Gottes auferbaut wird.
weissagen, würden das natürlich in der »Erbauung« heißt: geistliches Wachstum.
ortsüblichen Sprache tun, und als Er- 14,27 Die zweite Regel lautet, daß in
gebnis würden die Zuhörer von dem einer Versammlung nicht mehr als drei
Gehörten beeindruckt. Leute in Zungen reden sollten. »Wenn
14,25 »Das Verborgene« des mensch- nun jemand in einer Sprache redet, so sei
lichen »Herzens wird offenbar« durch es zu zweien oder höchstens zu dritt.« Es
Weissagung. Der Betroffene meint, daß sollte nie so sein, daß es Versammlungen
der Prediger ihn direkt anspricht. Der gibt, in der jede Menge Leute aufstehen,
Geist Gottes bewirkt die Überführung um zu zeigen, daß auch sie fremde Spra-
seiner Seele. »Und so wird er auf sein An- chen beherrschen.
gesicht fallen und wird Gott anbeten und Als nächstes lernen wir, daß die zwei
verkündigen, daß Gott wirklich unter« oder drei, die in einer Versammlung in
diesen Menschen ist. Zungen reden durften, das »nacheinan-
Und deshalb lautet Paulus’ Argumen- der« tun sollten. Das bedeutet, daß sie
tation in den Versen 22-25, daß Zungenre- nicht gleichzeitig reden sollten, sondern
de ohne Auslegung keine Überführung einer nach dem anderen. Das würde das
von Sünde unter den Ungläubigen her- Durcheinander und die Unordnung ver-
beiführt, Weissagung dies aber bewirkt. meiden, die unausweichlich entstehen
14,26 Wegen der Mißbräuche, die in muß, wenn mehrere gleichzeitig reden.
dieser Gemeinde im Zusammenhang mit Die vierte Regel lautet, daß jemand
der Sprachengabe entstanden waren, »auslegen« mußte. »Einer lege aus.«

757
1. Korinther 14

Wenn ein Mann aufstand, um in Zungen muten, daß die Korinther die falsche Vor-
zu reden, dann mußte er zunächst fest- stellung hatten, daß jemand umso mehr
stellen, ob es jemanden gab, der überset- vom Geist Gottes ergriffen war, desto
zen konnte. weniger Kontrolle er über sich selbst hat-
14,28 »Wenn aber kein Ausleger« te. Sie waren der Ansicht, wenn man in
anwesend sein sollte, so sollte er »in der einen ekstatischen Zustand geriet, daß
Gemeinde« schweigen. Er konnte dort man umso weniger Bewußtsein oder
sitzen und im Stillen »für sich und für Einsicht hatte, je mehr man vom Geist
Gott … reden«, aber er durfte es nicht ergriffen war. Für sie war jemand, der
öffentlich tun. ganz unter der Herrschaft des Geistes
14,29 Regeln für die Weissagung wer- war, in einem passiven Zustand, er konn-
den uns in den Versen 29-33a gegeben. te seine Worte nicht mehr kontrollieren,
Zunächst einmal sollten »zwei oder drei noch die Länge seiner Redezeit noch sei-
… Propheten … reden und die anderen« ne allgemeinen Handlungen. Solch eine
sollten »urteilen«. Nicht mehr als »drei« Idee wird in unserem Schriftabschnitt
sollten in jedem Gottesdienst sprechen, eindeutig abgelehnt. »Und die Geister
und die zuhörenden Christen sollten der Propheten sind den Propheten unter-
beurteilen, ob es sich wirklich um göttli- tan.« Das bedeutet, daß der Prophet nicht
che Eingebungen handelte oder der ohne seine Zustimmung oder gegen sei-
Sprecher vielleicht ein falscher Prophet nen Willen »benutzt« wird. Er darf nicht
war. die Anweisungen dieses Kapitels umge-
14,30 Wie wir schon früher erwähnt hen, indem er behauptet, er habe sich
haben, empfing ein Prophet direkte Mit- gegen den Geist nicht wehren können
teilungen vom Herrn und gab sie an die oder dürfen. Er selbst muß immer fest-
Gemeinde weiter. Doch es ist möglich, stellen können, wann oder wie lange er
daß er nach dieser Offenbarung an- zu sprechen habe.
schließend zu den Menschen predigt. 14,33 »Denn Gott ist nicht ein Gott
Deshalb stellt der Apostel die Regel auf, der Unordnung, sondern des Friedens.«
daß, wenn ein Prophet spricht und Mit anderen Worten, wenn eine Zusam-
»einem anderen, der dasitzt, eine Offen- menkunft ein heilloses Durcheinander
barung zuteil wird, … der erste« schwei- ist, dann kann man sicher sein, daß hier
gen solle, um demjenigen Raum zu nicht der Geist Gottes am Werk ist!
geben, der die neueste Offenbarung 14,34 Es ist allgemein bekannt, daß
empfangen hat. Der Grund dafür ist, wie die Verseinteilungen und sogar die Inter-
man annimmt, daß, je länger der erste punktion des NT erst viele Jahrhunderte
spricht, er umso mehr aus eigenem An- nach dem Verfassungsdatum eingefügt
trieb sagen wird, anstatt durch Inspirati- wurde. Der letzte Teil von Vers 33 hat
on Gottes. In langen Ansprachen besteht mehr Sinn, wenn er als Teil von Vers 34
immer die Gefahr, vom Wort Gottes zu angesehen wird, als wenn er zu der all-
eigenen Worten überzugehen. Offenba- gemeinen Aussage von Vers 33a gehören
rung ist jedoch allem anderen überlegen. würde (einige Urtextausgaben und deut-
14,31 Den Propheten sollte die Gele- sche Bibelausgaben haben diese Inter-
genheit gegeben werden, »einer nach punktion). Deshalb heißt es in unserer
dem anderen« zu sprechen. Kein Prophet Übersetzung: »Wie es in allen Gemein-
sollte die ganze Zeit reden. Auf diese den der Heiligen ist, sollen eure Frauen
Weise wird die Gemeinde den größten in den Gemeinden schweigen, denn es
Nutzen haben – denn so können »alle wird ihnen nicht erlaubt, zu reden, son-
lernen und alle getröstet« oder ermahnt dern sie sollen sich unterordnen, wie
werden. auch das Gesetz sagt.« Die Anweisun-
14,32 Ein sehr wichtiges Prinzip wird gen, die Paulus den Korinthern gibt, gilt
in Vers 32 dargelegt. Wenn wir zwischen nicht nur für sie allein. Diese gleichen
den Zeilen lesen, dann müssen wir ver- Anweisungen sind »allen Gemeinden

758
1. Korinther 14

der Heiligen« gegeben worden. Das all- meinde fragen. Man könnte dies auch
52)
gemeine Zeugnis des NT ist, daß die übersetzen: »Sie sollen ihr Männervolk
Frauen zwar viele wertvolle Dienste tun Zuhause fragen.« Die Grundregel, die
können, daß sie jedoch nicht ein öffentli- man im Kopf behalten sollte, lautet: »Es
ches Amt in der Gesamtgemeinde haben. ist schändlich für eine Frau, in der Ge-
Ihnen sind die ungemein wichtigen Auf- meinde zu reden.«
gaben in der Familie und in der Kinder- 14,36 Offensichtlich erkannte der
erziehung gegeben. Doch es ist ihnen Apostel Paulus, daß seine Lehre hier
nicht erlaubt, öffentlich in der Gemeinde beträchtlichen Widerspruch herausfor-
zu reden. Ihre Stellung ist die Unterord- dern würde. Wie recht er doch hatte! Um
nung unter den Mann. solchen Gegenargumenten zu begegnen,
Wir glauben, daß der Ausdruck »wie fragt er in Vers 36 ironisch: »Oder ist das
auch das Gesetz sagt« sich auf die Unter- Wort Gottes von euch ausgegangen?
ordnung der Frau unter den Mann Oder ist es zu euch allein gelangt?« Mit
bezieht. Diese Unterordnung wird im anderen Worten, wenn die Korinther be-
Gesetz, mit dem hier wahrscheinlich im haupten wollten, mehr von dieser Sache
wesentlichen die 5 Bücher Mose gemeint zu verstehen als der Apostel, dann fragte
sind, ausdrücklich gelehrt. In 1. Mose er sie, ob sie als Gemeinde »das Wort
3,16 heißt es etwa: »Nach deinem Mann Gottes« geschrieben hätten oder ob sie
wird dein Verlangen sein, er aber wird die einzigen seien, die es empfangen hät-
über dich herrschen!« ten. Durch ihre Haltung setzten sie sich
Es wird oft behauptet, daß Paulus in selbst als Autorität in dieser Sache ein.
diesem Vers verbietet, daß die Frauen Doch die Tatsache besteht, daß keine
während des Gottesdienstes untereinan- Gemeinde allein das Wort Gottes ge-
der schwatzen und den neuesten Klatsch schrieben hat, und daß keine Gemeinde
austauschen. Doch ist eine solche Ausle- ein Exklusivrecht darauf hat.
gung unhaltbar. Das Wort, das hier mit 14,37 Im Zusammenhang mit all den
»reden« (laleo) übersetzt wird, bedeutet vorhergehenden Anweisungen betont
im Koiné-Griechisch nicht »schwatzen«. hier der Apostel, daß sie nicht seinen
Dasselbe Wort wird von Gott in Vers 21 eigenen Vorstellungen oder Deutungen
desselben Kapitels und in Hebräer 1,1 entsprungen sind, sondern daß sie »ein
benutzt. Es bedeutet: »mit Autorität Gebot des Herrn« sind. Und jeder, der
sprechen.« »ein Prophet« des Herrn ist oder wirk-
14,35 Frauen ist es auch nicht erlaubt, lich ein »Geistbegabter« ist, wird das
in der Gemeinde öffentlich Fragen zu auch anerkennen. Dieser Vers ist eine
stellen. »Wenn sie aber etwas lernen wol- ausreichende Antwort an diejenigen, die
len, so sollen sie daheim ihre eigenen meinen, daß einige der Lehren des Pau-
Männer fragen.« Einige Frauen wollten lus, insbesondere die über Frauen, seine
vielleicht dem vorherigen Verbot entge- eigenen Vorurteile widerspiegeln. Diese
hen, indem sie Fragen stellten. Es ist Anweisungen sind nicht die Privatan-
möglich, durch solche einfachen Frage- sichten des Paulus, sondern »Gebot des
stellungen andere zu lehren. Deshalb Herrn«.
schließt dieser Vers auch dieses Schlupf- 14,38 Natürlich wären sicherlich eini-
loch. ge nicht ganz bereit, sie als solche anzu-
Wenn man nun fragt, wie das auf eine nehmen, und deshalb fügt der Apostel
unverheiratete Frau oder eine Witwe hier an: »Wenn aber jemand unwissend
anzuwenden ist, so lautet die Antwort, ist, so sei er unwissend« (Elb). Wenn je-
daß die Schrift nicht jeden Einzelfall auf- mand sich weigert, die Inspiration dieser
nimmt, sondern nur allgemeine Prinzipi- Schriften anzuerkennen und sich ihnen
en aufstellt. Wenn eine Frau keinen Ehe- im Gehorsam zu beugen, dann gibt es für
mann hat, kann sie ihren Vater, ihren ihn keine Alternative, als weiter in Un-
Bruder oder einen der Ältesten der Ge- wissenheit zu leben.

759
1. Korinther 14 und 15

14,39 Um die vorhergehenden An- IV. Die Antwort des Paulus an die
weisungen über die Ausübung der Leugner der Auferstehung (Kap. 15)
Gaben zusammenzufassen, fordert Pau-
lus nun die »Brüder« auf, »danach« zu Hier haben wir das Kapitel über die Auf-
eifern »zu weissagen«, jedoch »das Re- erstehung. Es gab in der Gemeinde in
den in Sprachen nicht« zu hindern. Die- Korinth einige Lehrer, die die Möglich-
ser Vers zeigt die relative Bedeutung die- keit einer leiblichen Auferstehung be-
ser beiden Gaben – nach der einen sollte stritten. Sie wollten nicht die Tatsache
man »eifern«, während die andere nicht eines Lebens nach dem Tod bestreiten,
verhindert werden sollte. Die Weissa- sondern waren der Meinung, daß wir
gung war wertvoller als die Zungenrede, nur als Geistwesen weiter existieren
weil Sünder durch sie überführt und die würden und keine echten Leiber mehr
Heiligen erbaut wurden. Zungenrede besitzen würden. Der Apostel gibt hier
ohne Auslegung diente nur dazu, mit seine klassische Antwort auf diese Argu-
Gott und mit sich selbst zu reden, und mente.
die eigene Fähigkeit zu zeigen, eine
Fremdsprache zu sprechen, eine Fähig- A. Die Gewißheit der Auferstehung
keit, die bestimmten Menschen von Gott (15,1-34)
gegeben wurde. 15,1.2 Paulus erinnert sie an die gute
14,40 Das Ermahnungswort des Pau- Nachricht, die er ihnen »verkündigt« hat,
lus zum Schluß lautet, daß »alles anstän- die sie »angenommen« haben und in der
dig und in Ordnung … geschehe«. Es ist sie nun auch »stehen«. Hier ging es nicht
bedeutsam, daß diese Regeln in diesem um eine für die Korinther neue Lehre,
Kapitel stehen. Über die Jahre hinweg sondern es war notwendig, daß sie in
sind diejenigen, die sich zur Fähigkeit der dieser kritischen Zeit an sie erinnert wur-
Zungenrede bekannten, nicht gerade den. Es war dieses »Evangelium« gewe-
dafür bekannt gewesen, sich an diese sen, durch das sie »errettet« wurden.
Ordnungsprinzipien zu halten. Viele ihrer Dann fügt Paulus die Worte hinzu:
Versammlungen waren dagegen Szenen »Wenn ihr festhaltet, mit welcher Rede
unkontrollierter Gefühlsausbrüche und ich es euch verkündigt habe, es sei denn,
allgemeinen Durcheinanders. daß ihr vergeblich zum Glauben gekom-
Zusammenfassend wäre zu sagen, men seid.« Sie waren durch das Evange-
daß der Apostel Paulus die folgenden lium von der Auferstehung gerettet wor-
Regeln für die Ausübung der Zungenre- den – es sei denn, es gäbe keine Auferste-
de in der Ortsgemeinde gibt: hung. In diesem Falle wären sie natürlich
1. Wir dürfen die Zungenrede nicht hin- nicht erlöst. Das »wenn« in diesem Ab-
dern (V. 39). schnitt drückt keinen Zweifel an ihrer
2. Wenn jemand in Zungen redet, muß Errettung aus, auch lehrt es nicht, daß sie
es einen Ausleger geben (V. 27c.28). durch das Festhalten erlöst werden. Pau-
3. In einem Gottesdienst dürfen nicht lus will hier einfach aussagen, daß sie
mehr als drei Leute in Zungen reden nicht gerettet wären, wenn es die Aufer-
(V. 27a). stehung nicht gäbe. Mit anderen Worten,
4. Sie dürfen nicht gleichzeitig reden (V. diejenigen, die die leibliche Aufer-
27b). stehung leugneten, griffen die gesamte
5. Ihre Aussagen müssen erbauen Wahrheit des Evangeliums frontal an. Für
(V. 26b). Paulus war die Auferstehung grundle-
6. Die Frauen müssen schweigen gend. Ohne sie gibt es kein Christentum.
(V. 34). Deshalb ist dieser Vers eine Aufforde-
7. »Alles« muß »anständig und in Ord- rung an die Korinther, das Evangelium
nung« zugehen (V. 40). angesichts der Angriffe, die im Moment
Dies sind die bleibenden Regeln, die in der Gemeinde gegen die Auferstehung
auch für die Gemeinden heute gelten. geführt wurden, festzuhalten.

760
1. Korinther 15

15,3 Paulus hatte den Korinthern die wohl in Galiläa stattgefunden. Zu der
Botschaft »überliefert«, die er durch gött- Zeit, als Paulus schrieb, lebten die mei-
liche Offenbarung »empfangen« hatte. sten dieser Brüder noch, obwohl schon
Die erste Grundlehre dieser Botschaft einige zum Herrn heimgegangen waren.
lautet, »daß Christus für unsere Sünden Mit anderen Worten, wenn irgend
gestorben ist nach den Schriften«. Das jemand die Zuverlässigkeit der Aus-
betont den stellvertretenden Tod Christi sagen des Paulus in Frage stellen wollte,
für uns. Er starb nicht für eigene Sünden so konnten die Zeugen noch befragt
oder gar als Märtyrer, sondern »für unse- werden.
re Sünden«. Er starb, um die Schuld »für 15,7 Es ist unmöglich festzustellen,
unsere Sünden« zu bezahlen. »Nach den welcher »Jakobus« hier gemeint ist,
Schriften« deutet hier auf das AT, weil obwohl die meisten Kommentatoren
das NT noch nicht in geschriebener Form davon ausgehen, daß es der Halbbruder
existierte. Sagten die ATlichen Schriften des Herrn war. Vers 7 berichtet uns auch,
wirklich voraus, daß Christus für die daß der Herr »allen Aposteln« erschie-
Sünden des Volkes sterben würde? Die nen ist.
Antwort ist ein bestimmtes »Ja!« Jesa- 15,8 Als nächstes spricht Paulus von
ja 53,5 und 6 sind ein ausreichendes Be- seiner eigenen persönlichen Bekannt-
weismaterial dafür. schaft mit dem auferstandenen Christus.
15,4 Das Begräbnis Jesu wurde in Er lernte ihn auf der Straße nach Damas-
Jesaja 53,9 vorausgesagt, und seine Auf- kus kennen, als er ein großes Licht vom
erstehung in Psalm 16,9.10. Es ist wichtig Himmel und den verherrlichten Christus
festzuhalten, wie Paulus das Zeugnis der von Angesicht zu Angesicht sah. Die
»Schriften« betont. Das sollte in allen »unzeitige Geburt« bedeutet ein abge-
Glaubensfragen der Maßstab sein: »Was triebenes Kind oder eine Geburt zur
sagt die Schrift?« falschen Zeit. Vine erklärt, daß dies be-
15,5 In den Versen 5-7 haben wir eine deutet, daß Paulus zu diesem Zeitpunkt
Liste der Augenzeugen der Auferste- sich selbst als den anderen Aposteln un-
hung. Zuerst erschien der Herr »Kephas« terlegen bezeichnet, genauso wie eine
(Petrus). Das ist sehr rührend. Derselbe unreife Geburt nicht so vollständig ist
treulose Jünger, der seinen Herrn drei- wie eine reife Geburt. Er benutzt diese
mal verleugnet hat, hat das Vorrecht, Bezeichnung als Selbstanklage ange-
eine Erscheinung des Herrn nach seiner sichts seiner Vergangenheit als Verfolger
Auferstehung ganz für sich zu haben. der Gemeinde.
Wie groß ist doch die Gnade unseres 15,9 Wenn der Apostel an das Vor-
Herrn Jesus Christus! »Dann« erschien recht denkt, daß er den Erlöser von An-
der Herr auch »den Zwölfen«, seinen gesicht zu Angesicht gesehen hat, wird
Jüngern. In Wirklichkeit waren nicht alle er von einem Gefühl der Unwürdigkeit
zwölf bei dieser Erscheinung anwesend, überwältigt. Er denkt daran, wie er »die
sondern der Ausdruck »die Zwölf« wird Gemeinde Gottes verfolgt« hat und wie
hier erwähnt, um die Jünger zu bezeich- der Herr ihn trotz allem zum Apostel
nen, auch wenn sie nicht vollständig ver- berufen hat. Deshalb beugt er sich selbst
sammelt waren. Es sollte noch festgehal- in den Staub als »der geringste der Apo-
ten werden, daß nicht alle Erscheinun- stel« und fühlt sich »nicht würdig …, ein
gen in dieser Liste aufgeführt sind, die in Apostel genannt zu werden«.
den Evangelien beschrieben wurden. 15,10 Er fügt schnell hinzu, daß er
Der Geist Gottes wählt die Erscheinun- alles, was er jetzt ist, »durch Gottes Gna-
gen des auferstandenen Christus aus, die de« geworden ist. Und er nahm diese
für seinen Zweck die geeignetsten sind. Gnade nicht selbstverständlich hin. Sie
15,6 Die Erscheinung des Herrn vor legte ihm eine strenge Verpflichtung auf,
»mehr als fünfhundert Brüdern auf ein- und er arbeitete unermüdlich, um dem
mal« hat nach allgemeiner Auffassung Christus zu dienen, der ihn erlöst hatte.

761
1. Korinther 15

Doch in einem sehr wahren Sinn war es einen anderen Stellenwert gehabt hat als
nicht Paulus selbst, »sondern die Gnade der Tod anderer Menschen. Doch durch
Gottes, die mit« ihm ihr Werk tat. seine Auferstehung von den Toten be-
15,11 Nun zeigt Paulus seine Verbin- zeugte Gott die Tatsache, daß er mit dem
dung zu den anderen Aposteln und sagt Erlösungswerk Christi vollkommen zu-
aus, daß sie alle in ihrem Zeugnis des frieden gestellt war.
Evangeliums und besonders in ihrem Offensichtlich wäre auch der »Glaube
Zeugnis von der Auferstehung Christi … inhaltslos«, wenn die apostolische
vereinigt waren, und daß es ganz gleich Botschaft falsch wäre. Es wäre nutzlos,
war, wer von ihnen predigte. einer solchen Botschaft zu glauben, die
15,12 In den Versen 12-19 führt Pau- falsch oder inhaltslos ist.
lus die Konsequenzen einer Leugnung 15,15 Nicht nur, daß die Apostel eine
der leiblichen Auferstehung an. Zu- falsche Botschaft predigen würden, es
nächst würde das heißen, daß Christus würde sogar bedeuten, daß sie »gegen
selbst nicht auferstanden sei. Die Logik Gott« Zeugnis ablegen würden. Sie be-
des Paulus an dieser Stelle ist nicht zu zeugten »gegen Gott, … daß er Christus«
widerlegen. Einige waren der Ansicht, von den Toten »auferweckt« habe. Wenn
daß es die leibliche Auferstehung nicht Gott das nicht getan hätte, dann wären
gäbe. Gut, sagt Paulus, wenn das stimmt, die Apostel »falsche Zeugen«.
dann ist Christus auch nicht auferstan- 15,16 Wenn die Auferstehung un-
den. Wollten die Korinther das zugeben? möglich wäre, dann könnte es keinerlei
Natürlich nicht. Um zu beweisen, daß Ausnahme geben. Andererseits, wenn
etwas möglich ist, braucht man nur zu die Auferstehung nur einmal stattgefun-
zeigen, daß es einmal stattgefunden hat. den hat, z. B. im Falle Christi, dann kann
Um die Tatsache der leiblichen Auferste- sie nicht länger für unmöglich gehalten
hung zu beweisen, ist Paulus bereit, sei- werden.
ne Argumentation auf die einfache Tatsa- 15,17 »Wenn aber Christus nicht auf-
che zu bauen, daß »Christus« schon »aus erweckt« worden ist, dann ist der »Glau-
den Toten auferweckt« ist. be« der Heiligen »nichtig« und hat kei-
15,13 »Wenn es aber keine Aufer- nerlei Macht. Und es gibt auch keine Ver-
stehung der Toten gibt, so ist« offensicht- gebung der »Sünden«. Wenn wir die
lich »auch Christus nicht auferweckt«. Auferstehung ablehnen, dann lehnen wir
Solch eine Schlußfolgerung würde je- gleichzeitig den Wert des Werkes Christi
doch dazu führen, daß die Korinther in ab.
hoffnungsloser Verzweiflung zurück- 15,18 Für diejenigen, die im Glauben
bleiben müßten. an »Christus« gestorben sind, wäre die
15,14 »Wenn aber Christus nicht auf- Lage ebenfalls hoffnungslos. Wenn Chri-
erweckt ist, so ist also auch« die »Pre- stus nicht auferstanden ist, dann wäre ihr
digt« der Apostel »inhaltslos«. Sie hat Glaube völlig wertlos. Der Ausdruck
keinen Zweck mehr. Warum wäre sie »entschlafen« bezieht sich auf die Leiber
dann »inhaltslos«? Zunächst, weil der der Gläubigen. Das Wort »Schlaf« wird
Herr Jesus verheißen hatte, daß er am im NT nie im Zusammenhang mit der
dritten Tage auferstehen würde. Wenn er Seele benutzt. Die Seele des Gläubigen
zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht aufer- verläßt beim Tod den Leib, um bei Chri-
standen wäre, dann hätte er sich entwe- stus zu sein, während der Leib im Grab
der geirrt oder er wäre ein Betrüger. In schläft.
jedem Falle wäre er nicht vertrauenswür- Wir sollten auch etwas über das Wort
dig. Zweitens gäbe es ohne die Auferste- »verlorengegangen« sagen. Dieses Wort
hung Christi keine Erlösung. Wenn der bedeutet niemals Vernichtung oder Auf-
Herr Jesus nicht von den Toten aufer- hören der Existenz. Vine hat darauf hin-
standen wäre, dann gäbe es keine Mög- gewiesen, daß es nicht um den Verlust
lichkeit festzustellen, ob der Tod Jesu des Seins geht, sondern um den Verlust

762
1. Korinther 15

des Wohl-Seins. Es spricht vom Verloren- 15,22 »Adam« und »Christus« wer-
gehen in bezug auf den Zweck, für den den als Oberhäupter dargestellt. Als sol-
ein Mensch oder ein Ding geschaffen che handelten sie stellvertretend für
worden ist. andere Menschen, und alle, die mit ihnen
15,19 Wenn Christus nicht auferstan- verbunden sind, werden von ihren
den ist, dann sind die noch lebenden Handlungen betroffen. »Alle«, die von
Gläubigen in einem ebenso bedauerns- »Adam« abstammen, »sterben«. Auf die-
werten Zustand wie diejenigen, die ge- se Weise »werden auch in Christus alle
storbenen sind. Auch sie sind dann be- lebendig gemacht werden«. Dieser Vers
trogen worden. Sie »sind die elendsten ist manchmal als Beweis für die Lehre
von allen Menschen«. Paulus denkt hier einer allgemeinen Erlösung herangezo-
zweifellos an die Leiden, Versuchungen gen worden. Man argumentierte, daß
und Verfolgungen, denen Christen aus- dieselben, die in Adam sterben, in Chri-
gesetzt sind. Wenn man solche Leiden stus lebendig gemacht werden und eines
für ein falsches Ziel erträgt, so ist das Tages erlöst werden. Doch das ist nicht
wirklich schrecklich. die Aussage dieses Verses. Die Schlüssel-
15,20 Die Spannung wird gelöst, wörter sind »in Adam« und »in Chri-
indem Paulus triumphierend die Tatsa- stus«. »Alle«, die »in Adam« sind, »ster-
che der Auferstehung Christi und ihrer ben«. Alle, die »in Christus« sind, wer-
wunderbaren Folgen verkündigt. »Nun den »lebendig gemacht«, d. h. nur an den
aber ist Christus aus den Toten aufer- Herrn Jesus Christus Gläubige werden
weckt, der Erstling der Entschlafenen.« von den Toten auferweckt, um mit ihm in
Es gibt in der Schrift eine Unterschei- Ewigkeit Gemeinschaft zu haben. Daß
dung zwischen der Auferstehung von »alle«, die »lebendig gemacht werden«,
den Toten und der Auferstehung aus den wird in Vers 23 als diejenigen definiert,
Toten. In den vorhergehenden Versen die bei seiner Wiederkunft ihm gehören.
ging es um die Auferstehung von den Es umfaßt nicht die Feinde Christi, denn
Toten. Mit anderen Worten, Paulus hat sie werden »unter seine Füße gelegt wer-
ganz allgemein darüber diskutiert, ob den« (V. 25), was, wie jemand einmal
die Toten wirklich auferstehen können. gesagt hat, eine seltsame Beschreibung
Doch Christus ist »aus« den Toten aufer- des Himmels wäre.
weckt. Das bedeutet, daß er bei seiner 15,23 Als nächstes werden die Grup-
Auferstehung allein auferstanden ist, pen oder Klassen von Menschen bezeich-
und nicht alle Toten. In diesem Sinne war net, die an der ersten Auferstehung teil-
es nur eine begrenzte Auferstehung. Jede haben werden. Als erstes steht die Aufer-
Auferstehung ist eine Auferstehung von stehung Christi selbst. Von ihm wird hier
den Toten, doch nur die Christi und der als »Erstling« gesprochen. Die Erstlinge
Gläubigen ist eine Auferstehung aus den waren eine Handvoll reifen Korns vom
Toten. Erntefeld, das weggenommen wurde,
15,21 Es war der Mensch, der ehe die eigentliche Ernte begann. Sie
ursprünglich den »Tod« in die Welt waren ein Pfand, eine Garantie, ein Vor-
brachte. Dieser »Mensch« war Adam. geschmack dessen, was noch folgen soll-
Durch seine Sünde gelangte der Tod zu te. Der Ausdruck bedeutet nicht notwen-
allen Menschen. Gott sandte seinen Sohn digerweise, daß Christus der erste war,
als »Menschen« in die Welt, damit er das der auferstand. Wir haben Auferstehun-
Werk des ersten Menschen ungeschehen gen im AT, außerdem die Fälle des Laza-
machen und die Gläubigen in einen Zu- rus, des Sohnes der Witwe und Jairus’
stand des Heils bringen konnte, der für Tochter im NT. Aber die Auferstehung
Adam niemals erreichbar gewesen wäre. Christi war von allen diesen Auferste-
Deshalb kam »die Auferstehung von den hungen verschieden, weil jene wieder
Toten … auch durch« den »einen Men- sterben mußten, Christus jedoch aufer-
schen« Jesus Christus. stand, um den Tod nicht mehr zu sehen.

763
1. Korinther 15

Er auferstand, um in der Kraft ein nicht schaft Christi als Menschensohn wird
mehr endendes Leben zu führen. Er er- dann dem ewigen Reich der Himmel
stand mit einem verherrlichten Leib auf. weichen. Seine Herrschaft als Sohn Gottes
Die zweite Gruppe der ersten Aufer- wird jedoch ewig weiterbestehen.
stehung wird beschrieben als »die, wel- 15,25 Vers 25 betont das eben Gesag-
che Christus gehören bei seiner An- te, nämlich, daß Christi Herrschaft so
kunft«. Das umfaßt diejenigen, die zur lange bestehen wird, bis jede Spur von
Zeit der Entrückung auferweckt werden, Rebellion und Feindschaft besiegt wor-
und auch diejenigen, die während der den ist.
Trübsal sterben und am Ende dieser 15,26 Auch während der tausend-
Drangsalszeit auferweckt werden, wenn jährigen Herrschaft Christi werden Men-
Christus zurückkommt, um zu herr- schen noch sterben, besonders die, die
schen. Ebenso wie es Stufen des Kom- sich offen gegen den Herrn erheben.
mens Christi gibt, so wird es Stufen der Doch bei dem Gericht am großen weißen
Auferweckung der Heiligen geben. Die Thron werden der »Tod« und der Hades
erste Auferstehung wird nicht alle um- in den Feuersee geworfen werden.
fassen, die je gestorben sind, sondern nur 15,27 Gott hat bestimmt, daß »alles«
diejenigen, die im Glauben an Christus den »Füßen« des Herrn Jesus Christus
gestorben sind. »unterworfen« wird. Natürlich nimmt
Einige lehren, daß nur diejenigen Gott sich selbst dabei aus. Vers 27 ist
Christen, die Christus treu geblieben ziemlich schwer zu verstehen, weil es
sind, oder diejenigen, die Überwinder nicht so einfach ist festzustellen, auf wen
waren, zu diesem Zeitpunkt auferweckt sich das jeweilige Pronomen bezieht. Wir
werden, doch die Schrift ist eindeutig in könnten hier wie folgt umschreiben:
dieser Hinsicht und lehnt eine solche »Denn Gott hat alles Christus unterwor-
Vorstellung ab. Alle, »welche Christus fen. Doch wenn Gott sagt, alles ist Chri-
gehören« werden bei seiner Wiederkunft stus unterworfen, dann ist es offensicht-
auferweckt werden. lich, daß Gott selbst davon ausgeschlos-
15,24 Der Ausdruck »dann das Ende« sen ist, der alles Christus unterworfen
bezieht sich, wie wir glauben, auf »das hat.«
Ende« der Auferstehung. Gegen Ende der 15,28 Auch wenn »alles« Christus
tausendjährigen Herrschaft Christi, wenn untertan geworden ist, wird er selbst
er alle seine Feinde besiegt haben wird, Gott immer noch »unterworfen sein«.
wird die Auferstehung der bösen Toten Gott hat Christus zum Herrscher und
sein. Das ist die letzte Auferstehung, die Verwalter all seiner Pläne und Ratschlüsse
stattfinden wird. Alle, die im Unglauben gemacht. Alle Autorität und Macht ist in sei-
gestorben sind, werden vor dem großen ne Hände gelegt. Es gibt einen Zeitpunkt, an
weißen Thron zum Gericht stehen, um dem er für seine Verwaltung Rechenschaft
ihr Verdammungsurteil zu hören. ablegen wird. Nachdem er sich alles untertan
Nach dem Tausendjährigen Reich gemacht hat, wird er das Reich dem Vater
und der Vernichtung Satans (Offb 20,7- zurückgeben. Die Schöpfung wird Gott in
10) wird der Herr Jesus »das Reich dem vollkommenen Zustand zurückgegeben wer-
Gott und Vater« übergeben. Zu dieser den. Nachdem er das Werk der Erlösung und
Zeit wird er »alle Herrschaft und alle Wiederherstellung vollendet hat, für welches
Gewalt und Macht« besiegt haben. Bis zu er Mensch wurde, wird er den untergeordne-
diesem Zeitpunkt hat Jesus Christus als ten Platz wieder einnehmen, den er bei der
Menschensohn geherrscht, und als Gottes Menschwerdung einnahm. Wenn er kein
Mittler gedient. Gegen Ende seiner tau- Mensch mehr wäre, nachdem er alles ausge-
sendjährigen Herrschaft werden die Plä- führt hat, was Gott geplant und entworfen
ne Gottes für die Erde vollkommen er- hat, würde das Band, das Gott und Mensch
füllt sein. Alle Opposition wird besiegt zusammengebracht hat, nicht mehr existie-
und alle Feinde vernichtet sein. Die Herr- ren. (Sinngemäß).

764
1. Korinther 15

15,29 Vers 29 ist vielleicht einer der sich Feinde, wo immer er hinkam. Gehei-
schwierigsten in der ganzen Bibel. Es me Pläne wurden gegen ihn ausgebrütet,
gibt viele Erklärungen zu seiner Bedeu- um ihm das Leben zu nehmen. Er hätte
tung. So ist eine Auffassung etwa, daß all das vermeiden können, wenn er sein
man lebende Gläubige für die Gestorbe- Zeugnis für Christus verraten hätte. Es
nen taufen kann, die ohne Taufe gestor- wäre sogar weiser für ihn gewesen, so zu
ben sind. Doch solch eine Bedeutung ist handeln, wenn es keine Auferstehung
der Bibel fremd. Solch eine Lehre würde von den Toten gäbe.
auf einem einzigen Vers basieren und ist 15,31 »Täglich sterbe ich, so wahr ihr
abzulehnen, weil sie keinen allgemeinen mein Ruhm seid, Brüder, den ich in Chri-
Rückhalt durch andere Stellen hat. Ande- stus Jesus, unserem Herrn, habe.« Diesen
re glauben, daß die sogenannte Taufe für Vers könnte man folgendermaßen um-
die Toten bedeutet, daß wir uns durch schreiben: »So sicher, wie ich mich über
die Taufe als gestorben betrachten. Das euch als meine Kinder in Christus Jesus
ist eine mögliche Bedeutung, doch paßt freue, so sicher bin ich auch jeden Tag
sie nicht recht in den Zusammenhang. meines Lebens dem Tod ausgesetzt.«
Die Auslegung, die anscheinend am 15,32 Der Apostel ruft sich nun die
besten in den Zusammenhang paßt ist schlimme Verfolgung ins Gedächtnis zu-
folgende: Zu der Zeit, als Paulus schrieb, rück, die er »zu Ephesus« erleiden muß-
wurden Menschen, die sich öffentlich zu te. Wir glauben nicht, daß er wirklich in
Christus bekannten, hart verfolgt. Diese einer Arena den wilden Tieren vorge-
Verfolgung war zur Zeit ihrer Taufe am worfen wurde, sondern daß er hier eher
schlimmsten. Es geschah oft, daß diejeni- böse Menschen als »wilde Tiere« be-
gen, die ihren Glauben an Christus mit zeichnet. Denn als römischer Bürger
der Wassertaufe bekannten, schon kurz konnte Paulus nicht gezwungen werden,
nachher ermordet wurden. Doch hielt mit wilden Tieren zu kämpfen. Wir wis-
dies andere davon ab, sich retten und sen nicht, auf was für einen Vorfall er hier
taufen zu lassen? Keinesfalls. Es war anspielt. Jedenfalls ist die Argumentati-
wohl so, daß es immer wieder neue on eindeutig, daß nämlich der Apostel
Bekehrte gab, die die Lücken füllten, die töricht gewesen wäre, sich auf solch
die Märtyrer hinterließen. Als diese neu- einen gefährlichen Kampf einzulassen,
en Bekehrten nun getauft wurden, wur- wenn er nicht von der Auferstehung von
den sie im wahrsten Sinne des Wortes den Toten überzeugt gewesen wäre. Es
»für die Toten« oder anstelle (gr. hyper) wäre für ihn sonst nämlich wesentlich
der Toten getauft. Deshalb bezieht sich weiser gewesen, nach der Philosophie zu
»die Toten« hier auf diejenigen, die als leben: »Laßt uns essen und trinken, denn
Blutzeugen für Christus gestorben morgen sterben wir!«
waren. Nun argumentiert der Apostel Wir hören manchmal Christen sagen,
hier, daß es töricht sei, sich taufen zu las- daß sie auch gläubig sein könnten, wenn
sen, um die Reihen wieder zu schließen, es nur dieses eine Leben gäbe. Doch Pau-
wenn es so etwas wie eine Auferstehung lus ist mit einer solchen Vorstellung nicht
von den Toten nicht gäbe. Es wäre, als einverstanden. Wenn es keine Auferste-
wenn man einer Truppe, deren Lage aus- hung gäbe, dann sollten wir wirklich das
sichtslos ist, noch Nachschub schicken Beste aus diesem Leben machen. Wir wür-
wollte. Es wäre wie ein hoffnungsloser den für Essen, Kleidung und Vergnügen
Kampf. »Wenn überhaupt Tote nicht auf- leben. Das wäre der einzige Himmel, auf
erweckt werden, warum lassen sie sich den wir uns freuen könnten. Doch weil es
denn für sie taufen?« eine Auferstehung gibt, wagen wir es
15,30 »Warum sind auch wir jede nicht, unser Leben mit solchen Angele-
Stunde in Gefahr?« Der Apostel war genheiten zu vertrödeln, die doch nur vor-
ständig Gefahren ausgesetzt. Weil er übergehend wichtig sind. Wir müssen für
Christus so furchtlos predigte, machte er das Zukünftige, nicht für das jetzt leben.

765
1. Korinther 15

15,33 Die Korinther sollten sich in stellten. Die erste lautet: »Wie werden die
dieser Hinsicht nicht irren: »Böser Ver- Toten auferweckt?« und die zweite:
kehr verdirbt gute Sitten.« Paulus »Und mit was für einem Leib kommen
bezieht sich auf die falschen Lehrer, die sie?«
in die Gemeinde in Korinth gekommen 15,36 Die erste Frage wird in Vers 36
waren und die Auferstehung leugneten. beantwortet. Ein viel verwendetes Bild
Die Christen sollten erkennen, daß es aus der Natur wird hier benutzt, um zu
unmöglich ist, sich mit »bösen« Men- zeigen, daß die Auferstehung möglich
schen zusammen zu tun, ohne von ihnen ist. Ein Samenkorn muß in die Erde fallen
korrumpiert zu werden. Böse Lehren und sterben, ehe eine Pflanze daraus
haben auf jeden Fall Einfluß auf das werden kann. Es ist wirklich wunderbar,
Leben eines Menschen. Irrlehren führen daß das Geheimnis des Lebens in jedem
nicht zur Heiligung. noch so kleinen Samenkorn verborgen
15,34 Die Korinther sollten »recht- ist. Wir können das Samenkorn zer-
schaffen, nüchtern« werden, anstatt zu schneiden und es unter dem Mikroskop
sündigen. Sie sollten sich von diesen anschauen, doch das Geheimnis des
bösen Lehren nicht einfangen lassen. Lebensprinzips bleibt ein unergründba-
»Manche sind in Unwissenheit über res Geheimnis. Wir wissen nur, daß das
Gott; zur Beschämung sage ich es euch.« Samenkorn in die Erde fällt und aus die-
Dieser Vers wird allgemein so interpre- sem Anfang Leben aus dem Tod entsteht.
tiert, daß es immer noch Männer und 15,37 Als nächstes wird die zweite
Frauen gibt, die noch nie das Evangeli- Frage aufgenommen. Paulus erklärt, daß
um gehört haben, und daß die Christen du, wenn du Samen »säst, nicht den
sich ihrer Unfähigkeit schämen sollten, Leib« säst, der daraus entstehen soll, son-
die Welt zu evangelisieren. Das mag dern »ein nacktes Korn, es sei von Wei-
wohl stimmen, doch wir sind der An- zen oder von einem der anderen Samen-
sicht, daß die Hauptbedeutung dieses körner«. Was schließen wir daraus? Ist
Abschnitts ist, daß es in der Gemein- die Pflanze dasselbe wie der Same? Nein,
schaft in Korinth Menschen gab, die »in die Pflanze ist nicht dasselbe, und doch
Unwissenheit über Gott« waren. Sie besteht eine sehr wichtige Beziehung
waren keine echten Gläubigen, sondern zwischen beiden. Ohne Samen gäbe es
Wölfe im Schafspelz, Irrlehrer, die unbe- keine Pflanze. Auch erhält die Pflanze
achtet hatten eindringen können. Es war ihre Eigenschaften vom Samenkorn. Das
eine Schande für die Korinther, daß es gleiche gilt nun für die Auferstehung.
diesen Männern erlaubt war, ihren Platz Der Auferstehungsleib hat eine gewisse
unter den Christen einzunehmen und Identität und Kontinuität der Substanz mit
diese schlimmen Lehren zu verbreiten. dem Gesäten. Er ist von Verderben, Unehre
Die Achtlosigkeit, die dazu führte, daß und Schwäche gereinigt, und unverweslich,
gottlose Leute in die Gemeinde kamen, herrlich, machtvoll und geistlich gemacht
führte dazu, daß die Sitten in der worden. Es ist derselbe Leib, aber er wird in
Gemeinde verfielen und so ein Eingangs- einer Form gesät und in einer anderen aufer-
tor für alle möglichen Irrtümer geschaf- weckt (Sinngemäß).
fen wurde. 15,38 »Gott« schafft »einen Leib«, der
dem Samen, der gesät worden ist, ent-
B. Überlegungen zu Einwänden gegen spricht, und jeder »Same« bringt eine
die Auferstehung (15,35-57) andere Pflanze hervor. Alle Faktoren, die
15,35 In den Versen 35-49 beschäftigt sich die Größe, die Farbe, die Blätter und die
der Apostel genauer mit den Vorgängen Blüte der Pflanze bestimmen, sind auf
bei der Auferstehung. Er sieht zwei Fra- irgendeine Weise in dem Samenkorn ent-
gen voraus, die sich unausweichlich bei halten, das gesät wird.
denen ergeben würden, die die Tatsache 15,39 Um die Tatsache zu verbildli-
einer leiblichen Auferstehung in Frage chen, daß die Herrlichkeit des Auferste-

766
1. Korinther 15

hungsleibes anders sein wird als die zwar entsprechend unserer Treue im
Herrlichkeit unserer gegenwärtigen Lei- Dienst. Während wir im Himmel alle
ber, weist der Apostel Paulus darauf hin, überaus glücklich sein werden, werden
daß »nicht alles Fleisch … dasselbe einige eine stärker ausgeprägte Fähigkeit
Fleisch« ist. Es gibt z. B. das Fleisch »der zur Freude im Himmel haben. Genauso,
Menschen … des Viehes, … der Vögel wie es Unterschiede im Leiden in der
und … der Fische«. Diese sind alle unter- Hölle geben wird, je nach den Sünden,
schiedlich, obwohl es sich immer um die jemand begangen hat, so wird es
Fleisch handelt. Sie sind ähnlich, ohne auch Unterschiede in der Fähigkeit, sich
genau gleich zu sein. zu freuen, geben, und zwar ent-
15,40 Und genauso wie es einen sprechend unserer Taten als Gläubige.
Unterschied zwischen dem »Glanz der 15,42 Die Verse 42-49 zeigen den Kon-
himmlischen« Leiber, d. h. der Sterne trast zwischen dem, was der Leib des
usw. gibt und den »irdischen« Leibern, Gläubigen jetzt ist, und wie er einmal in
so besteht ein Unterschied zwischen dem seinem ewigen Zustand sein wird. Der
jetzigen Leib des Gläubigen und dem, Leib »wird gesät in Verweslichkeit«, er
den er nach seinem Tod erhalten wird. »wird auferweckt in Unverweslichkeit«.
15,41 Auch unter den himmlischen Gegenwärtig sind unsere Leiber dem
Leibern gibt es unterschiedlichen Verfall und dem Tod preisgegeben. Wenn
»Glanz«. So ist etwa die »Sonne« heller sie ins Grab gelegt werden, werden sie
als der »Mond« und »es unterscheidet sich auflösen und zu Staub werden. Doch
sich Stern von Stern an Glanz«. das wird mit dem Auferstehungsleib
Die meisten Kommentatoren sind nicht passieren. Er wird nicht der Krank-
sich einig, daß es Paulus hier noch immer heit und der Vergänglichkeit unterliegen.
darum geht, daß die Herrlichkeit des 15,43 Der gegenwärtige Leib »wird
Auferstehungsleibes eine andere ist als gesät in Unehre«. Es gibt nichts Maje-
die Herrlichkeit des irdischen Leibes, stätisches oder Herrliches an einer Lei-
den wir jetzt haben. Sie sind nicht der che. Doch derselbe Leib »wird aufer-
Ansicht, daß Vers 41 z. B. darauf hin- weckt in Herrlichkeit«. Er wird keine Fal-
weist, daß es im Himmel für die Gläubi- ten, keine Narben, keine Kennzeichen
gen unterschiedliche Grade an Herrlich- des Alters, kein Übergewicht und keine
keit geben wird. Doch wir neigen dazu, Spuren der Sünde mehr tragen.
Holsten recht zu geben, daß »die Art, in »Es wird gesät in Schwachheit, es
der Paulus die Unterschiedlichkeit der wird auferweckt in Kraft.« Wenn wir alt
himmlischen Leiber betont, die Annah- werden, dann nimmt die »Schwachheit«
me unterstützt, daß es einen ähnlichen zu, bis der Tod selber dem Menschen alle
Unterschied in der Herrlichkeit bei den Kraft nimmt. In der Ewigkeit wird der
Auferstandenen geben wird«. Es geht Leib diesen traurigen Beschränkungen
aus anderen Schriftabschnitten hervor, nicht unterworfen sein, sondern wird Fä-
daß wir im Himmel nicht alle gleich sein higkeiten haben, die er jetzt nicht hat. So
werden. Obwohl wir alle moralisch dem konnte der Herr Jesus Christus z. B. nach
Herrn Jesus gleich sein werden, d. h. daß seiner Auferstehung einen Raum betre-
wir frei von der Sünde sein werden, folgt ten, dessen Türen verschlossen waren.
daraus nicht, daß wir alle leiblich wie der 15,44 »Es wird gesät ein natürlicher
Herr Jesus aussehen werden. Jeder wird Leib, es wird auferweckt ein geistlicher
in der Herrlichkeit als solcher erkennbar Leib.« Hier müssen wir sehr sorgfältig
bleiben. Genauso glauben wir, daß jeder betonen, daß »geistlich« hier nicht imma-
einzelne Christ eine unterscheidbare Per- teriell bedeutet. Einige Menschen haben
sönlichkeit bleiben wird, die als solche die Vorstellung, daß sie nach der Aufer-
erkennbar ist. Doch es wird auch Unter- stehung entleibte Geister wären. Das ist
schiede in der Belohnung geben, die wir jedoch weder die Bedeutung dieses Ab-
beim Richterstuhl Christi erhalten, und schnitts noch entspricht es sonst der

767
1. Korinther 15

Wahrheit. Wir wissen, daß der Auferste- Christi werden wir einmal mit unsterblichen
hungsleib des Herrn Jesus aus Fleisch Leibern bekleidet werden und das Bild unse-
53)
und Knochen bestand, weil er sagte: »Ein res himmlischen Herrn tragen.
Geist hat nicht Fleisch und Bein, wie ihr 15,46 Der Apostel erklärt nun ein
seht, daß ich habe« (Lk 24,39). Der Unter- grundlegendes Gesetz in Gottes Univer-
schied zwischen einem »natürlichen sum, nämlich, daß »das Geistliche …
Leib« und einem »geistlichen Leib« ist, nicht zuerst« ist, »sondern das Natür-
daß der erstere für das Leben hier auf liche, danach das Geistliche«. Das kann
Erden gemacht ist, währen der zweite für man auf verschiedene Weise verstehen.
das Leben im Himmel bestimmt ist. Der Adam, der »natürliche« Mensch, war in
erstere ist normalerweise von der Seele der menschlichen Geschichte der erste,
regiert, während der andere vom Geist danach erst kam Jesus, der »geistliche«
regiert wird. Ein »geistlicher Leib« ist Mensch. Zweitens werden wir als »na-
einer, der wirklich dem Geist untertan türliche« Menschen in die Welt hineinge-
ist. boren, und wenn wir dann wiederge-
Gott hat den Menschen als Geist, See- boren werden, werden wir zu »geist-
le und Leib erschaffen. Er erwähnt lichen« Wesen. Schließlich erhalten wir
immer den Geist zuerst, weil es seine zuerst unsere »natürlichen« Leiber und
Absicht war, daß der Geist den Vorrang erst später unsere »geistlichen«.
und die Herrschaft haben sollte. Als die 15,47 »Der erste Mensch ist von der
Sünde in die Welt kam, geschah etwas Erde, irdisch.« Das bedeutet, daß sein
seltsames. Gottes Ordnung scheint um- Ursprung auf der »Erde« ist, und daß er
gekehrt worden zu sein, und das Ergeb- »irdische« Eigenschaften hat. Er wurde
nis ist, daß der Mensch immer sagt: aus dem Staub der Erde gemacht, und
»Leib, Seele und Geist.« Er hat dem Leib sein Leben scheint in einem sehr realen
den Platz eingeräumt, der eigentlich dem Sinne erdgebunden zu sein. »Der andere
54)
Geist gebührt. In der Auferstehung wird Mensch ist der Herr vom Himmel«
das nicht mehr so sein, der Geist wird (LU1912).
den Herrschaftsplatz einnehmen, den 15,48 Von den zwei Menschen, die in
Gott für ihn ursprünglich vorgesehen Vers 45 erwähnt wurden, war Jesus der
hatte. zweite. Er existierte zwar schon vor aller
15,45 »So steht auch geschrieben: Der Ewigkeit, doch als Mensch kam er nach
erste Mensch, Adam, wurde zu einer Adam. Er kam vom Himmel, und alles,
lebendigen Seele, der letzte Adam zu was er tat und sagte, war »himmlisch«
einem lebendig machenden Geist.« Hier und geistlich, nicht irdisch oder seelisch.
wird wieder »der erste Mensch, Adam« Genauso wie es mit diesen beiden
mit dem Herrn Jesus Christus ver- Oberhäuptern ist, so ist es auch mit ihren
glichen. Gott hauchte Adam den Odem Nachfolgern. Diejenigen, die von Adam
des Lebens ein und er wurde ein leben- geboren sind, erben seine Eigenschaften.
diges Wesen (1. Mose 2,7). Alle, die von Und auch diejenigen, die von Christus
ihm abstammen, haben seine Eigenschaf- geboren werden, sind »Himmlische«.
ten. »Der letzte Adam«, unser Erlöser, 15,49 »Wie wir« die Eigenschaften
wurde »zu einem lebendig machenden Adams durch unsere leibliche Geburt
55)
Geist« (Joh 5,21.26). Der Unterschied ist, »getragen haben, so werden wir auch
daß im ersten Fall, Adam das Leben ge- das Bild« Christi an unseren Auferste-
geben wurde, während im zweiten Fall hungsleibern »tragen«.
Christus anderen das ewige Leben gibt. 15,50 Nun wendet sich der Apostel
Erdmann erklärt: dem Thema der Verwandlung zu, die in
Als Nachkommen Adams sind wir ihm allen Leibern der Gläubigen zur Zeit der
ähnlich, lebendige Seelen, die in einem sterb- Wiederkunft Christi stattfinden wird,
lichen Leib wohnen, und das Bild unserer sowohl bei den Lebenden als auch bei
irdischen Eltern tragen. Doch als Nachfolger den Toten. Er leitet seine Erklärungen

768
1. Korinther 15

mit der Aussage ein, »daß Fleisch und waltiger Augenblick sein, wenn Erde
Blut das Reich Gottes nicht erben kön- und Meer den Staub aller hergeben wer-
nen«. Damit meint er, daß unser gegen- den, die durch die Jahrhunderte hin-
wärtiger Leib nicht für das »Reich Got- durch im Glauben an Christus gestorben
tes« in seiner ewigen Form, d. h. für sind! Es ist für den menschlichen Geist
unsere himmlische Heimat, geeignet ist. fast unmöglich, die Großartigkeit eines
Es gilt auch, daß »die Verweslichkeit solchen Augenblicks zu begreifen, doch
nicht die Unverweslichkeit« erben kann. der demütige Gläubige kann diese Wahr-
Mit anderen Worten, unsere gegenwärti- heit im Glauben annehmen.
gen Leiber, die der Krankheit, dem Ver- 15,53 Wir sind der Ansicht, daß sich
fall und der Endlichkeit unterworfen Vers 53 auf die beiden Gruppen von
sind, wären nicht für ein Leben in einem Gläubigen bei der Wiederkunft Christi
Zustand geeignet, wo es keine Vergäng- bezieht. »Dieses Verwesliche« bezieht
lichkeit gibt. Daraus ergibt sich das Pro- sich auf die Leiber, die wieder zu Staub
blem, wie dann die Leiber der leben- geworden sind. Sie werden »Unverwes-
digen Gläubigen für das Leben im Him- lichkeit anziehen«. »Dieses Sterbliche«
mel geeignet sein können. dagegen bezieht sich auf diejenigen, die
15,51 Die Antwort wird uns in Form noch am Leben, aber doch dem Tod
eines »Geheimnisses« gegeben. Wie unterworfen sind. Solche Leiber werden
schon weiter oben gesagt, ist ein »Ge- »Unsterblichkeit« anziehen.
heimnis« eine Wahrheit, die bisher unbe- 15,54 »Wenn« die Toten in Christus
kannt war, aber jetzt von Gott den Apo- auferweckt, und ihre Leiber mit ihnen
steln offenbart wird und durch sie uns verwandelt worden sind, »dann wird
bekannt gemacht wird. das Wort erfüllt werden, das geschrieben
»Wir werden nicht alle entschlafen«, steht: Verschlungen ist der Tod in Sieg«
d. h. nicht alle Gläubigen werden ster- (Jes 25,8). Wie wunderbar! C. H. Mackin-
ben. Einige werden noch leben, wenn tosh ruft aus:
der Herr wiederkommt. Doch ob sie Was sind Tod, Grab und Verwesung
nun gestorben sind, oder noch leben: angesichts einer solchen Macht? Da sage
»Wir werden aber alle verwandelt wer- man noch, daß es eine Schwierigkeit sei,
den.« Die Wahrheit der Auferstehung wenn jemand schon vier Tage tot gewesen
an sich ist kein Geheimnis, denn sie sein kann! Millionen sind in Tausenden von
kommt schon im AT vor, doch die Tat- Jahren zu Staub geworden, und werden in
sache, daß nicht alle sterben und daß einem Augenblick zu Leben erweckt werden,
auch die lebendigen Gläubigen bei der in Unsterblichkeit und ewiger Herrlichkeit
56)
Wiederkehr des Herrn verwandelt wer- leben, weil der Gesegnete sie gerufen hat.
den, ist etwas, das bis dahin nicht be- 15,55 Dieser Vers könnte wohl ein
kannt war. Spottlied sein, das die Gläubigen singen,
15,52 Die Verwandlung wird sofort wenn sie dem Herrn in der Luft begeg-
geschehen, »in einem Nu, in einem nen. Es ist, als ob sie den »Tod« verspot-
Augenblick, bei der letzten Posaune«. ten, weil er für sie seinen »Stachel« verlo-
»Die letzte Posaune« steht hier nicht für ren hat. Sie verspotten auch die »Hölle«
das Ende der Welt, oder für die letzte (LU1912), weil sie die Schlacht um sie
Posaune, die in der Offenbarung er- verloren hat, die sie führte, um sie für
wähnt wird, sondern sie bezieht sich auf sich zu behalten. Der »Tod« hat seinen
die »Posaune« Gottes, die erschallen Schrecken für die Gläubigen verloren,
wird, wenn Christus in der Luft für seine weil sie wissen, daß ihre Sünden verge-
Heiligen wiederkommt (1. Thess 4,16). ben sind, und daß sie in all der Reinheit
Wenn die »Posaune« erschallt, dann wer- des geliebten Sohnes vor Gott stehen.
den »die Toten … auferweckt werden 15,56 Der Tod hätte für niemanden
unverweslich, und wir werden verwan- einen »Stachel«, wenn es die »Sünde«
delt werden«. Was wird das für ein ge- nicht gäbe. Es ist das Bewußtsein der

769
1. Korinther 15 und 16

nicht bekannten und nicht vergebenen V. Der abschließende Rat des Paulus
Sünde, daß dem Menschen die Angst vor (Kap. 16)
dem Tod einflößt. Wenn wir wissen, daß
unsere Sünden vergeben sind, dann kön- A. Über die Sammlung (16,1-4)
nen wir dem Tod mutig entgegentreten. 16,1 Der erste Vers von Kapitel 16 han-
Wenn jedoch andererseits die Sünde das delt von einer »Sammlung«, die von der
Gewissen noch belastet, dann ist der Tod Gemeinde in Korinth durchgeführt wer-
schrecklich – der Anfang der ewigen den sollte, damit das Geld zu den bedürf-
Strafe. tigen »Heiligen« in Jerusalem gesandt
»Die Kraft der Sünde« ist »das Ge- werden konnte. Die genaue Ursache der
setz«, d. h., das Gesetz verurteilt den Armut ist nicht bekannt. Einige haben
Sünder. Es verkündigt die Verdammnis vorgeschlagen, daß es sich um die Folgen
aller, die Gottes heiligen Anordnungen der Hungersnot gehandelt hat (Apg 11,
nicht gehorcht haben. Es ist einmal sehr 28-30). Vielleicht war ein anderer Grund,
treffend gesagt worden, daß es ohne daß diejenigen Juden, die ihren Glauben
Sünde keinen Tod gäbe. Und wenn es an Christus bekannten, von ihren un-
kein Gesetz gäbe, gäbe es keine Ver- gläubigen Verwandten, Freunden und
dammnis. Landsleuten geschnitten und boykottiert
Der Thron des Todes hat zwei Grundla- wurden. Sie verloren zweifellos ihre
gen: Die Sünde, die zur Verdammnis führt, Arbeit und standen unter starkem wirt-
und das Gesetz, das das Urteil darüber fällt. schaftlichem Druck, der auf sie ausgeübt
Daraus folgt, daß das Werk unseres Erlösers wurde, um sie dazu zu zwingen, das Be-
57)
auf diesen beiden Mächten basierte. kenntnis ihres Glaubens an Christus auf-
15,57 Durch den Glauben an Christus zugeben. Paulus hatte schon in den »Ge-
haben wir »den Sieg« über Tod und meinden von Galatien« eine solche
Grab. Der Tod ist seines Stachels beraubt. Sammlung angeordnet, und er weist nun
Es ist eine bekannte Tatsache, daß be- die Korinther an, in gleicher Weise zu
stimmte Insekten ihren Stachel verlieren, reagieren, wie die Galater angewiesen
wenn sie jemanden stechen und ihr Sta- waren.
chel in der Haut des Betroffenen stecken 16,2 Obwohl die Anweisungen in
bleibt. Sie sterben dann. In einem sehr Vers 2 für eine besondere Sammlung gal-
realen Sinne hat der Tod sich selbst am ten, bleiben doch die hier genannten
Kreuz unseres »Herrn Jesus Christus« zu Prinzipien von bleibendem Wert. Zu-
Tode gestochen, und nun ist der nächst sollte die Sammlung »an jedem
Schreckensherrscher seines Schreckens ersten Wochentag« durchgeführt wer-
in bezug auf die Gläubigen beraubt. den. Hier haben wir einen ausdrückli-
chen Hinweis darauf, daß die ersten
C. Abschließender Aufruf angesichts Christen den Sabbat oder siebten Tag
der Auferstehung (15,58) nicht länger als eine für sie geltende
Angesichts der Sicherheit der Auferste- Regel betrachteten. Der Herr war am
hung und der Tatsache, daß der Glaube ersten Tag der Woche auferstanden, und
an Christus nicht vergeblich ist, ermahnt Pfingsten fand ebenfalls am ersten Tag
der Apostel Paulus nun seine »geliebten der Woche statt, und die Jünger versam-
Brüder, … fest, unerschütterlich, allezeit melten sich am ersten Tag der Woche, um
überströmend in dem Werk des Herrn« das Brot zu brechen (Apg 20,7). Nun soll-
zu sein, »da ihr wißt, daß eure Mühe im ten sie »an jedem ersten Wochentag«
Herrn nicht vergeblich ist«. Die Wahrheit etwas zurücklegen.
der Auferstehung verändert alles. Sie Das zweite wichtige Prinzip lautet,
gibt Hoffnung und Standfestigkeit, und daß die Unterweisung über die Samm-
macht uns fähig, angesichts schlimmer lung für jeden gelten sollte. Reiche und
und schwieriger Umstände weiterzu- Arme, Sklaven und Freie sollten alle
gehen. ihren Anteil an dem Opfer haben, etwas

770
1. Korinther 16

von ihrem Besitz abzugeben. Weiter soll- große Apostel sich von solch einem Prin-
te die Sammlung systematisch gesche- zip leiten lassen würde.
hen. »An jedem ersten Wochentag« sollte
»jeder« von ihnen etwas »bei sich« zu- B. Über seine persönlichen Pläne
rücklegen und ansammeln. Es sollte (16,5-9)
nicht halbherzig oder nur bei bestimm- 16,5 Paulus bespricht seine persönlichen
ten Gelegenheiten gespendet werden. Pläne in den Versen 5-9. Von Ephesus,
Die Gabe sollte von dem anderen Geld von wo aus er seinen Brief schrieb, woll-
getrennt werden, und zum besonderen te er »Mazedonien durchziehen«. Da-
Gebrauch zur Verfügung stehen, ganz nach hoffte er, nach Korinth zu kommen.
wie die Gelegenheit es erforderte. Ihr 16,6-8 Vielleicht könnte Paulus bei
Geben sollte auch ihrem Einkommen den Heiligen in Korinth »überwintern«
entsprechen, was durch die Worte »je und sie würden ihm dann auf seinem
nachdem er Gedeihen hat« angedeutet Weg begleiten, »wohin« er dann auch
wird. »reisen« würde. Gegenwärtig würde er
»Damit nicht erst dann, wenn ich sie nicht auf seinem Weg nach Mazedo-
komme, Sammlungen geschehen.« Der nien besuchen, sondern er wollte später
Apostel wollte nicht, daß erst in letzter eine Weile bei ihnen bleiben, »wenn der
Minute gesammelt werde. Er erkannte Herr es erlaubt«. Ehe er nach Mazedo-
die schlimme Möglichkeit, daß man nien aufbrechen würde, erwartete Pau-
etwas gab, ohne sein Herz und seine lus »bis Pfingsten in Ephesus« zu blei-
Brieftasche genügend vorbereitet zu ben. Aus Vers 8 entnehmen wir, daß der
haben. Brief in Ephesus geschrieben wurde.
16,3 Die Verse 3 und 4 geben uns 16,9 Paulus erkannte, daß hier die
wertvolle Einblicke in die Sorgfalt, mit Gelegenheit für ihn bestand, Christus zu
der das Geld zu behandeln ist, das in dieser Zeit in Ephesus zu dienen. Gleich-
einer christlichen Gemeinde gesammelt zeitig erkannte er, daß er dort »viele …
wird. Es ist als erstes bemerkenswert, Widersacher« hatte. Welch ein unverän-
daß das Geld nicht einer einzelnen Per- dertes Bild liefert uns das vom christli-
son anvertraut werden sollte. Noch nicht chen Dienst. Einerseits sind die Felder
einmal Paulus sollte es allein empfangen. reif zur Ernte, andererseits gibt es den
Zweitens bemerken wir, daß die Anord- unermüdlichen Feind, der hindern, spal-
nungen, wer nun das Geld überbringen ten und auf jede nur erdenkliche Arbeit
sollte, vom Apostel Paulus nicht willkür- dem entgegen arbeiten will, was der
lich getroffen wurden. Diese Entschei- Christ aufbauen möchte!
dung wurde statt dessen der Ortsge-
meinde überlassen. Wenn sie Boten aus- C. Abschließende Ermahnungen und
gesucht hätten, würde er sie »nach Jeru- Grüße (16,10-24)
salem … senden«. 16,10 Der Apostel fügt nun ein Wort über
16,4 Falls entschieden werden sollte, »Timotheus« hinzu. Wenn dieser hinge-
daß der Apostel auch nach Jerusalem gebene junge Diener nach Korinth kom-
»hinreisen« sollte, dann würden ihn die men würde, dann sollten sie ihn »ohne
Brüder aus der Ortsgemeinde dorthin Furcht« aufnehmen. Vielleicht bedeutet
begleiten. Man beachte, daß er sagt: »Sie das, daß Timotheus von Natur aus eher
sollen mit mir reisen«, statt »ich werde schüchtern war, und daß sie nichts tun
mit ihnen reisen«. Vielleicht ist das eine sollten, was dieser Eigenschaft Vorschub
Anspielung auf die apostolische Auto- leisten könnte. Vielleicht bedeutet es aber
rität des Paulus. Einige Kommentatoren auch andererseits, daß es für ihn möglich
sind der Ansicht, daß die Entscheidung, sein sollte, »ohne Furcht« davor zu ihnen
ob Paulus mitgehen würde, davon ab- zu kommen, daß er nicht als Diener des
hinge, wie groß die Gabe werden würde, Herrn angenommen werden könnte. Das
doch wir glauben kaum, daß dieser letztere ist die wahrscheinlichere Bedeu-

771
1. Korinther 16

tung, wie auch durch die weiteren Worte 16,15 Als nächstes folgt eine Ermah-
des Paulus bestätigen: »Denn er arbeitet nung über »das Haus des Stephanas«.
am Werk des Herrn wie auch ich.« Diese lieben Christen waren »der Erstling
16,11 Weil Timotheus im Dienst Chri- von Achaja«, d. h. Stephanas war der
sti so treu war, durfte »niemand« ihn erste Bekehrte in Achaja. Offensichtlich
»verachten«. Sie sollten sich statt dessen hatte die Familie sich seit der Zeit ihrer
ernsthaft bemühen, »ihn … in Frieden« Bekehrung »in den Dienst für die Heili-
zu geleiten, damit er rechtzeitig zu Pau- gen gestellt«. Sie standen ganz im Dienst
lus zurückkehren konnte. Der Apostel des Herrn. Das »Haus des Stephanas«
wartete auf eine Wiedervereinigung mit wurde schon in 1,16 erwähnt. Hier sagt
Timotheus und »den Brüdern«. Paulus, daß er dieses Haus getauft hat.
16,12 »Was aber den Bruder Apollos Viele sind der Meinung, daß das »Haus
betrifft«, so hatte Paulus »ihm vielfach zu- des Stephanas« auch Kleinkinder umfaß-
geredet, … mit den Brüdern« nach Ko- te, und sie haben versucht, damit die Kin-
rinth zu reisen. Apollos war nicht der An- dertaufe zu begründen. Doch es scheint
sicht, daß dies zu diesem Zeitpunkt dem aus diesem Vers deutlich hervorzugehen,
Willen Gottes entsprach, sondern meinte, daß es in diesem Haus keine kleinen Kin-
daß er nach Korinth reisen würde, »so- der gab, weil hier ausdrücklich gesagt
bald er Gelegenheit« finden würde. Vers wird, »daß sie sich in den Dienst für die
12 ist für uns wertvoll, weil er den liebe- Heiligen gestellt haben«.
vollen Geist zeigt, der unter den Dienern 16,16 Der Apostel ermahnt die Chri-
des Herrn herrschte. Jemand hat es ein- sten, sich »solchen« unterzuordnen,
mal ein schönes Bild »neidloser Liebe und »und jedem«, der am Werk des Herrn
neidlosen Respekts genannt«. Der Vers »mitwirkt und sich abmüht«. Wir erfah-
zeigt auch die Freiheit, die jeder Diener ren aus der allgemeinen Lehre des NT,
des Herrn hatte, sich vom Herrn leiten zu daß denjenigen, die sich für den Dienst
lassen, ohne sich von anderen etwas vor- Christi aussondern, vom Volk Gottes
schreiben zu lassen. Sogar der Apostel besonders liebevoller Respekt entgegen-
Paulus selbst war nicht berechtigt, Apol- gebracht werden sollte. Wenn dies über-
los vorzuschreiben, was er zu tun hatte. In all geschehen würde, dann könnte ein
diesem Zusammenhang hat Ironside Großteil an Spaltungen und Eifersüchte-
kommentiert: »Ich möchte diese Kapitel leien verhindert werden.
nicht aus meiner Bibel entfernen. Es hilft 16,17 »Die Ankunft des Stephanas
mir Gottes Art zu verstehen, wie er seine und Fortunatus und Achaikus« hatte bei
58)
Diener in ihrem Dienst für ihn leitet.« Paulus wahre Freude bewirkt. Sie ersetz-
16,13.14 Nun gibt Paulus den Heili- ten, was Paulus an Gemeinschaft mit den
gen einige prägnante Ermahnungen mit. Korinthern fehlte. Dies könnte bedeuten,
Sie sollen ständig »wachen« und »im daß sie dem Apostel die Freundlichkeit
Glauben« feststehen. Weiter sollen sie erwiesen haben, die die Korinther ihm
»mannhaft« oder mutig und »stark« sein. nicht hatten zukommen lassen. Oder es
Vielleicht denkt Paulus hier wieder an bedeutet, daß diese Männer ihm die Ge-
die Gefahr durch Irrlehrer. Die Heiligen meinschaft brachten, die die Korinther
sollen immer aufmerksam sein. Sie sollen nicht mit Paulus haben konnten, weil sie
keinen Zoll wertvollen Territoriums auf- so weit von ihm entfernt waren.
geben. Sie sollen immer mit echtem Mut 16,18 Sie brachten Paulus Neuigkei-
vorgehen. Und schließlich sollten sie ten aus Korinth, und anschließend brach-
»stark« in dem Herrn sein. Doch in allem, ten sie Nachrichten von Paulus zurück in
was sie tun, sollten sie »Liebe« zeigen. ihre Heimatgemeinde. Und wieder emp-
Das bedeutet, daß ihr Leben in Hingabe fiehlt Paulus sie dem liebevollen Respekt
an Gott und andere Menschen geführt ihrer Ortsgemeinde.
werden sollte. Es bedeutet, daß sie sich 16,19 »Die Gemeinden Asiens« be-
selbst geben sollten. zieht sich auf die Gemeinden in der Pro-

772
1. Korinther 16

vinz Asien (das heutige Kleinasien), von 16,22 »Verflucht« ist eine Überset-
dem Ephesus die Hauptstadt war. Offen- zung des griechischen Wortes anathema.
sichtlich lebten »Aquila und Priscilla« zu Wer »den Herrn nicht lieb hat«, der ist
dieser Zeit in Ephesus. Sie hatten einmal schon verurteilt, doch das Urteil wird
in Korinth gelebt, und so waren sie den erst dann vollstreckt, wenn der Herr
Gläubigen dort bekannt. »Aquila« war Jesus Christus wiederkommt. Ein Christ
von Beruf Zeltmacher und hatte mit Pau- ist jemand, der den Erlöser liebt. Er liebt
lus in diesem Beruf gearbeitet. Der Aus- den Herrn Jesus über alles andere in der
druck »Gemeinde in ihrem Hause« gibt Welt. Wer Gottes Sohn nicht liebt, der
uns einen Einblick in die Einfachheit des sündigt gegen Gott selbst. Ryle kom-
Gemeindelebens zu dieser Zeit. Die Chri- mentiert:
sten versammelten sich in ihren Häusern Paulus läßt demjenigen, der Christus
zu Gebet, Lobpreis und Gemeinschaft. nicht liebt, keinen Ausweg. Es gibt kein
Dann gingen sie hinaus, um das Evange- Schlupfloch der Entschuldigung. Es kann
lium an ihrem Arbeitsplatz, auf dem jemandem an Wissen fehlen, und doch wird
Markt, im Gefängnis zu predigen oder er gerettet. Er kann feige sein, und er kann
wo immer sie das Schicksal hin ver- von Menschenfurcht überwältigt werden,
schlagen sollte. wie es Petrus geschah. Er kann schlimm
16,20 Alle »Brüder« der Gemeinde sündigen, wie David, und doch wieder auf-
senden gemeinsam ihre liebevollen stehen. Doch wenn jemand Christus nicht
Grüße an die Gläubigen in Korinth. Der liebt, dann ist er nicht auf dem Weg des
Apostel ermutigt seine Leser, sich »mit Lebens. Der Fluch liegt noch über ihm. Er ist
heiligem Kuß« gegenseitig zu grüßen. Zu auf dem breiten Weg, der in die Verdammnis
59)
dieser Zeit war der »Kuß« ein normaler führt.
Gruß, auch unter Männern. »Mit heili- »Maranatha« bedeutet »Herr, komme
gem Kuß« bedeutet einen Gruß ohne bald!« Es handelt sich hier um einen
Unreinheit oder Schande. In unserer sex- aramäischen Ausdruck, den die ersten
besessenen Gesellschaft, wo es überall Christen benutzten. Wenn man ihn
Perversion gibt, könnte der Kuß als nor- »maran-atha« trennt, dann bedeutet er:
maler Gruß zu schweren Versuchungen »Unser Herr ist gekommen«, wenn man
und moralischem Versagen führen. Aus ihn »marana-tha« trennt, dann bedeutet
diesem Grund hat ein herzliches Hände- er: »Herr, komme!«
schütteln die Aufgabe des Kußes in den 16,23 Die »Gnade« war das Lieb-
meisten westlichen Ländern übernom- lingsthema des Paulus. Er liebte es, mit
men. Normalerweise sollten wir keine ihr seine Briefe zu beginnen und zu be-
kulturellen Überlegungen als Ausrede schließen. Das ist ein sicheres Kenn-
benutzen, uns an das Wort der Schrift zeichen für seine Verfasserschaft.
nicht zu halten. Doch in einem solchen 16,24 Im gesamten vorliegenden Brief
Fall, wo wörtlicher Gehorsam zur Sünde haben wir den Herzschlag dieses hinge-
oder sogar zum Bösen führen könnte, gebenen Apostels Christi gehört. Wir
weil die kulturellen Gegebenheiten nun haben ihm zugehört, als er seine Kinder
einmal so sind, wie wir sie vorfinden, ist im Glauben trösten, auferbauen und er-
es wohl gerechtfertigt, das Händeschüt- mahnen wollte. An seiner »Liebe« konn-
teln anstatt des Kußes einzuführen. te kein Zweifel bestehen. Wenn die Ko-
16,21 Normalerweise diktierte Paulus rinther diese Schlußworte lesen würden,
seine Briefe einem seiner Mitarbeiter. dann würden sie sich vielleicht schämen,
Doch am Schluß nahm er selbst die Feder daß sie Irrlehrern Zutritt zur Gemeinde
zur Hand, um einige Worte in seiner gegeben, die Apostelschaft des Paulus in
eigenen Handschrift anzufügen und Frage gestellt hatten, und sich von ihrer
ihnen seinen besonderen »Gruß« zu ursprünglichen Liebe zu ihm hatten ab-
übermitteln. Das tut er nun hier. wenden lassen.

773
Anmerkungen

Anmerkungen 19) (7,14) W. E. Vine, First Corinthians,


S. 97.
20) (7,15) J. M. Davies, keine weiteren
1) (1,18) Albert Barnes, Notes on the New Angaben verfügbar.
Testament, 1. Corinthians, S. 14. 21) (7,17) W. E. Vine, The Divine Plan of
2) (1,19) S. Lewis Johnson, »First Missions, S. 63.
Corinthians«, »The Wycliff Bible Com- 22) (7,19) William Kelly, Notes on the First
mentary, S. 1232. Epistle to the Corinthians, S. 123.
3) (1,27) Erich Sauer, The Dawn of World 23) (7,29) Harry A. Ironside, First Epistle
Redemption, S. 91. to the Corinthians, S. 223.
4) (1,30) Traill, keine weiteren Angaben 24) (7,29) Vine, First Corinthians, S. 104.
verfügbar. 25) (7,33) Ebd., S. 105.
5) (1,30) Arthur T. Pierson, The Ministry 26) (7,36) Doch das normale griechische
of Keswick, erste Serie, S. 104. Wort für Jungfrauenschaft ist das
6) (2,14) Vance Havner, keine weiteren Abstraktum parthenia, und wenn
Angaben verfügbar. Paulus dies gemeint hätte, fragt man
7) (2,15) Kenneth S. Wuest, Wuest’s sich natürlich, warum er dann das
Expanded Translation of the Greek New einfache Wort für »Jungfrau« be-
Testament, 3 Bde, Grand Rapids: Wm. nützt hat, wie es auch in Matthäus
B. Eerdmans Publishing Co., 1954. 1,23 verwendet wird.
8) (3,9) Charles R. Erdman, The First 27) (7,38) Das »selbst« hier ist hinzuge-
Epistle of Paulus to the Corinthians, fügt, es steht so nicht im Griechi-
S. 40. schen.
9) (3,15) E. W. Roger, Concerning the 28) (8,12) Barnes, 1 Corinthians, S. 147.
Future, S. 77. 29) (9,17) Charles C. Ryrie, The Ryrie Stu-
10) (3,18) Frédéric L. Godet, Commentary dy Bible, New King James Version,
on First Corinthians, S. 195. S. 1771.
11) (4,8) H. P. Barker, Coming Twice, S. 80. 30) (9,20) NA und ER fügen hier noch
12) (5,2) Erdman, First Corinthians, S. 55. die ergänzenden Worte ein: »obwohl
13) (6,9) Einige Ausleger unterscheiden ich nicht unter dem Gesetz bin.«
hier zwischen »in das Reich einge- 31) (9,20) William Arnot, The Church in
hen« und »das Reich ererben«. Sie the House, S. 467-468.
lehren, daß es möglich ist, daß ein 32) (9,21) Charles C. Ryrie, The Grace of
Gläubiger eine Sünde in seinem Le- God, S. 83.
ben nicht überwindet und doch ge- 33) NA läßt »wie« an dieser Stelle aus,
rettet wird. Er wird »in das Reich ein- doch scheint es uns wichtig für Pau-
gehen«, doch kein oder kaum ein lus’ Argumentation zu sein – er
Erbe (Lohn) darin haben. Doch dieser wurde nicht wirklich schwach.
Abschnitt beschäftigt sich mit den 34) (9,27) Das Problem ist eigentlich erst
Ungerechten, d. h. den Ungläubigen. durch die Übersetzung »verwerf-
14) (6,13) Erdman, First Corinthians, lich« aufgekommen. Das Wort a-do-
S. 63. kimos bedeutet jedoch einfach »nicht
15) (6,17) A. T. Pierson, Knowing the gebilligt«. In der Wettkampfsprache
Scriptures, S. 147. könnte man es sehr treffend mit
16) (6,20) Edward Herbert Bates, Spiritu- unserem deutschen Wort »disquali-
als Thoughts from the Scriptures of fiziert« übersetzen.
Truth. London: Pickering and Ing- 35) (10,5) Godet, First Corinthians, S. 59-
lism o. J., S. 137. 60.
17) (6,20) NA läßt den Hinweis auf den 36) (10,22) Kelly, First Corinthians, S. 166.
Geist an dieser Stelle aus. 37) (11,5) Es geht aus den Versen 4 und 5
18) (7,5) Larry Christenson, The Christian hervor, daß in Situationen, in denen
Family, S. 24. gebetet oder prophezeit wird, eine

774
Anmerkungen

Frau bedeckt sein sollte, während es sind der Ansicht, daß »in« die wört-
sich für den Mann gehört, sein lichste Übersetzung ist, weil es mit
Haupt unbedeckt zu haben. Frauen, dem griechischen Wort en verwandt
die sich fragen, wie sie sich verhalten ist.
sollen, sollten das Vorbild des Man- 46) (12,29.30) Diese Fragen beginnen im
nes beachten und das Gegenteil tun. Griechischen mit me, und damit wird
38) (11,7) Vine, Expository Dictionary, etwa folgende Umschreibung ange-
Stichwort »Glory«, S. 154. deutet: »Sicherlich reden doch nicht
39) (11,18) F. B. Hole, »The Administrati- alle in Zungen?« usw.
on of the Mystery« (Kleinschrift), 47) (13,11) Das Wort hier lautet nepios
S. 5. (vgl. Hebr 5,13).
40) (11,19) Das griechische Wort hier lau- 48) (14,5) Kelly, First Corinthians, S. 229.
tet haireseis, doch hat es hier nicht die 49) (14,13) Doch gibt es im Originaltext
spätere Bedeutung »Irrlehre« oder keinen Hinweis darauf, daß das Sub-
»Häresie«. Siehe Anmerkung zu jekt von »auslegen« etwas anderes
Titus 3,10. wäre als das von »reden«.
41) (11,19) Das Griechische verwendet 50) (14,19) Die wörtliche Übersetzung
für die moralische Notwendigkeit lautet: »verstehen von mir.« Das
normalerweise das Wort opheilo. Hier »von mir« ist ein Genitiv und das
benutzt Paulus das normale Wort für Objekt der Handlung, die durch das
die logische Notwendigkeit, nämlich nominalisierte Verb nahegelegt wird.
dei. Dieselbe Form kann für einen Sub-
42) (11,26) Godet, First Corinthians, jekt-Genitiv stehen. Der Zusammen-
S. 163. hang bestimmt, welche Interpretati-
43) (12, Einf.) Glossa (Zunge) ist das nor- on angemessen ist.
male griechische Wort für »Sprache«. 51) (14,19) Charles Hodge, First Corinthi-
Ähnlich wird im Deutschen in poeti- ans, S. 292.
scher Sprache der Ausdruck »deut- 52) (14,35) Dasselbe griechische Wort
sche Zunge« für die deutsche Spra- andres kann »Ehemänner«, »Männli-
che gebraucht. che« oder »Männervolk« bedeuten.
44) (12,10) Vieles von dem, was man 53) (15,45) Erdman, First Corinthians,
heute allgemein »Prophetie« oder S. 148.
»Weissagung« nennt, ist nichts ande- 54) (14,47) NA läßt hier »der Herr« aus.
res als die Darstellung von bibli- 55) (15,49) Die Mehrheit der griechi-
schen Texten mit anderen Worten schen Manuskripte liest hier eine
oder aber Irrtümer, die sich nicht Ermahnung: »So sollen wir … tra-
bewahrheiten. Sie werden oft in gen.«
schlechter Nachahmung des alten 56) (15,54) C. H. Mackintosh, The
Lutherdeutsches gehalten, als ob Mackintosh Treasury: Miscellaneous
Gott sich nicht auch in unserer heuti- Writings by C. H. Mackintosh, S. 125.
gen Sprache ausdrücken könnte! 57) (15,56) Godet, First Corinthians,
45) (12,13) Das griechische Wort en kann S. 446.
mit in, mit oder durch übersetzt wer- 58) (16,12) Ironside, First Corinthians,
den. Alle drei Übersetzungen sind S. 542.
richtig (je nach Kontext), doch wir 59) (16,22) J. C. Ryle, Holiness, S. 235.

775
Bibliographie

Bibliographie Johnson, S. Lewis,


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Commentary,
Barnes, Albert, Chicago: Moody Press, 1962.
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London: Blackie & Son, o. J. Notes on the First Epistle to the
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Erdman, Charles R., Chicago: Moody Press, 1958.
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Philadelphia: Westminster Press, 1928. Morgan, G. Campbell,
The Corinthian Letters of Paul:
Godet, T. L.,
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Grand Rapids: Zondervan Publishing
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Bible: Acts to 2 Corinthians, Bd. 6 ., Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans
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Hodge, Charles, Robertson, Archibald und Plummer,


An Exposition on the First Epistle to the Alfred,
Corinthians, A Critical and Exegetical Commentary
New York: George H. Doran Company, on the First Epistle of St. Paul to the
1857. Corinthians,
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Ironside, H. A.,
Addresses on the First Epistle to the Vine, W. E.,
Corinthians, First Corinthians,
New York: Loiseaux Brothers, 1955. London: Oliphants Ltd., 1951.

776
Der zweite Brief des Paulus an die Korinther
»Für die Transparenz der Offenbarung, die Paulus [im 2. Korintherbrief] empfängt,
finde ich in keiner heiligen Literatur eine Parallele.«
Sadler

Einführung II. Verfasserschaft


Daß Paulus den 2. Korintherbrief ge-
schrieben hat, bestreitet kaum jemand,
I. Einzigartige Stellung im Kanon obwohl es einige Theorien von soge-
Während der 1. Korintherbrief häufig nannten »Interpolationen« gibt. Doch die
ausgelegt und in Predigten oft behandelt Einheit des Briefes (mit seinen typisch
wird, wird der 2. Korintherbrief von den paulinischen Abschweifungen) ist offen-
meisten Predigern vernachlässigt. Doch sichtlich.
er ist ein sehr wichtiger Brief. Zweifellos Die äußeren Beweise für die Echtheit
haben sein schwer übersetzbarer und sind stichhaltig, liegen jedoch zeitlich
leicht ironischer Stil mit dazu beigetra- etwas später als die für den 1. Korinther-
gen, daß er so vernachlässigt wird. Wenn brief. Erstaunlicherweise wird er von
man sieht, wie häufig ER Worte in Klam- Clemens von Rom nicht zitiert, doch
mern hinzufügen muß, damit der Text Polykarp, Irenäus, Clemens von Alex-
verständlich wird, dann sieht man, wie andrien, Tertullian und Zyprian zitieren
schwer es ist, den Inhalt dieses gefühl- ihn. Marcion zählt ihn als dritten der 10
vollen Briefes zu vermitteln. paulinischen Briefe auf, die er akzeptiert.
Der Brief ist schwierig. Die Bedeu- Auch im Muratorischen Fragment ist er
tung vieler Verse liegt, vorsichtig ausge- aufgeführt. Ab 175 n. Chr. gibt es äußerst
drückt, im Dunkeln. Es gibt mehrere Er- viele Hinweise auf diesen Brief.
klärungen dafür: Die inneren Beweise für die Verfasser-
1. Paulus schreibt häufig satirisch, doch schaft des Paulus sind überwältigend.
ist es manchmal schwierig festzustel- Außer dem Philemonbrief ist dieser der
len, an welchen Stellen. persönlichste und am wenigsten lehrhaf-
2. Um einige Abschnitte wirklich ver- te der Paulusbriefe. Die genauen persön-
stehen zu können, müßten wir noch lichen Anspielungen und die offensicht-
weitere Informationen über die Rei- lich enge Verbindung zu 1. Korinther,
sen des Paulus, die Reisen seiner Ge- Galater, Römer und zur Apostelge-
fährten und die anderen Briefe, die er schichte unterstützen die traditionelle
geschrieben hat, haben. Ansicht, daß Paulus den Brief geschrie-
3. Der Brief ist sehr persönlich und ben hat. Man erkennt in diesem Brief
spricht oft die Sprache des Herzens. überall die Gemeinde und den Autor des
Das ist nicht immer so einfach zu ver- ersten Briefes wieder.
stehen.
Doch die Schwierigkeiten sollten uns III. Datierung
nicht entmutigen. Glücklicherweise geht Der zweite Korintherbrief wurde wahr-
es bei diesen Problemen weniger um die scheinlich weniger als ein Jahr nach dem
grundlegenden Wahrheiten dieses Brie- ersten von Mazedonien aus geschrieben
fes, sondern nur um Einzelheiten. (einige Überschriften früher Überset-
Schließlich ist der 2. Korintherbrief zungen geben Philippi an). Man nimmt
viel geliebt und wird häufig zitiert. Wenn allgemein ein Datum um 57 n. Chr. an,
wir ihn studieren, werden Sie besser ver- einige stimmen für 55 oder 56, Harnack
stehen warum. für 53.
777
2. Korinther

IV. Hintergrund und Thema dort zwei Jahre. Während dieses Besu-
Ein Grund dafür, daß wir 2. Korinther so ches kam eine Abordnung aus Korinth
lieben, liegt gerade darin, daß er so per- zu ihm und bat Paulus in vielen Angele-
sönlich ist. Wir kommen hier dem Her- genheiten um Rat. Als Antwort auf diese
zen des Paulus näher als in jedem ande- Fragen entstand 1. Korinther.
ren seiner Briefe. Wir spüren etwas von Später wollte der Apostel herausfin-
der großen Begeisterung, mit der er das den, wie die Korinther auf seinen Brief
Werk des Herrn vorwärts trieb. Wir reagiert hatten, insbesondere auf den
erfassen etwas von der Würde der größ- Abschnitt über Gemeindezucht. Des-
ten Lebensberufung. Wir lesen mit stiller halb verließ er Ephesus und reiste nach
Bewunderung seinen Leidenskatalog. Troas, wo er Titus zu treffen hoffte. Doch
Wir erfahren, mit welch heißer Entrü- als ihm das nicht gelang, setzte er nach
stung er seinen skrupellosen Kritikern Mazedonien über. Und hier traf er Titus
geantwortet hat. Kurz gesagt, Paulus läßt mit Nachrichten über die Gemeinde
uns in jedes Geheimnis seines Wesens an – sowohl mit guten als auch schlech-
Einblick nehmen. ten Nachrichten. Die Heiligen hatten
Der erste Besuch des Paulus in Ko- den in Sünde gefallenen Bruder zurecht-
rinth wird in Apostelgeschichte 18 be- gewiesen und diese Zurechtweisung
richtet. Er fand auf seiner zweiten Missi- hatte zu seiner geistlichen Umkehr ge-
onsreise statt, kurz nachdem er in Athen führt. Das war die gute Nachricht. Doch
seine berühmte Predigt auf dem Areopag die Korinther hatten kein Geld für die
gehalten hatte. Heiligen in Jerusalem gesandt, wie sie es
In Korinth arbeitete Paulus mit Aqui- vorgehabt hatten. Das war nicht so gut.
la und Priscilla als Zeltmacher zusammen Schließlich berichtete Titus noch, daß es
und predigte in der Synagoge das Evan- in Korinth falsche Lehrer gab, die die
gelium. Silas und Timotheus stießen aus Arbeit des Apostels untergruben und
Mazedonien zu ihm, um an seiner evan- seine Autorität als Knecht Christi
gelistischen Arbeit teilzuhaben, die min- hinterfragten. Das war die schlechte
destens 18 Monate dauerte (Apg 18,11). Nachricht.
Als die meisten Juden seine Predigt Das sind also die Umstände, unter
ablehnten, wandte sich Paulus an die denen der 2. Korintherbrief von Mazedo-
Heiden. Als immer mehr Menschen sich nien aus geschrieben wurde.
bekehrten – sowohl Juden als auch Hei- Im ersten Brief sehen wir Paulus in
den – brachten ihn die jüdischen Führer erster Linie als Lehrer, im zweiten dage-
vor Gallio, den Prokonsul. Doch der letz- gen als Hirte. Wenn Sie sorgfältig hin-
tere schlug die Anklage nieder, weil er hören, werden Sie den Herzschlag eines
für solche Angelegenheiten nicht zustän- Menschen hören, der das Volk Gottes
dig war. liebt und sich für sein Wohlergehen auf-
Nach der Gerichtsverhandlung blieb opfert.
Paulus noch viele Tage in Korinth und So wollen wir uns nun an dieses
verließ es dann, um über Kenchreä und große Abenteuer machen, und wenn wir
Ephesus seine lange Reise nach Cäsarea diese »atmenden Gedanken und bren-
und Antiochien anzutreten. nenden Worte« lesen, dann sollten wir
Auf seiner dritten Missionsreise kam das mit dem Gebet um Erleuchtung
Paulus wieder nach Ephesus und blieb durch Gottes Heiligen Geist tun.

778
2. Korinther

Einteilung B. Guter Rat, die Sammlung zu ver-


vollständigen (8,10.11)
C. Drei Prinzipien für großzügiges
I. Die Darstellung des Dienstes des Geben (8,12-15)
Paulus (Kap. 1 – 7) D. Drei Brüder, die die Sammlung
A. Begrüßung (1,1.2) vervollständigen sollen (8,16-24)
B. Der Dienst des Trostes im Leiden E. Aufruf an die Korinther,
(1,3-11) das Rühmen des Paulus zu
C. Erklärung der Änderung von rechtfertigen (9,1-5)
Paulus’ Plänen (1,12 – 2,17) F. Der Lohn großzügigen Gebens
D. Autorisierung des Dienstes des (9,6-15)
Paulus (3,1-5)
III. Paulus’ Verteidigung seiner
E. Gegenüberstellung des alten und
Apostelschaft (Kap. 10 – 13)
des neuen Bundes (3,6-18)
A. Die Antwort des Paulus an
F. Die Verpflichtung, ein klares seine Ankläger (10,1-12)
Evangelium zu predigen (4,1-6)
B. Das Prinzip des Paulus: Neuland
G. Ein irdenes Gefäß mit für Christus erobern (10,13-16)
himmlischer Bestimmung (4,7-18)
C. Das wichtigste Ziel des Paulus:
H. Leben angesichts des Die Empfehlung des Herrn
Richterstuhles Christi (5,1-10) (10,17.18)
I. Das gute Gewissen des Paulus D. Paulus’Bekräftigung seiner
bezüglich seines Dienstes Apostelschaft (11,1-15)
(5,11 – 6,2) E. Die Leiden des Paulus
J. Das Verhalten des Paulus in sei- für Christus beweisen seine
nem Dienst (6,3-10) Apostelschaft (11,16-33)
K. Der Aufruf des Paulus zu Offen- F. Die Offenbarungen an Paulus
heit und Liebe (6,11-13) beweisen seine Apostelschaft
L. Der Aufruf des Paulus zu (12,1-10)
schriftgemäßer Absonderung G. Die Zeichen des Paulus beweisen
(6,14 – 7,1) seine Apostelschaft (12,11-13)
M. Die Freude des Paulus über die H. Paulus’ anstehender Besuch
guten Nachrichten aus Korinth in Korinth (12,14 – 13,1)
(7,2-16) I. Die Apostelschaft des Paulus
wird durch die Korinther selbst
II. Die Ermahnung des Paulus, bewiesen (13,2-6)
die Sammlung für die Heiligen in J. Das Verlangen des Paulus, den
Jerusalem zu vervollständigen Korinthern Gutes zu erweisen
(Kap. 8 – 9) (13,7-10)
A. Gute Beispiele für großzügiges K. Der liebevolle Abschiedsgruß
Geben (8,1-9) des Paulus (13,11-14)

779
2. Korinther 1

Kommentar Schreiben dieser Worte daran, wie er


zum ersten Mal nach Korinth kam und
dort das Evangelium verkündigte. Män-
I. Die Darstellung des Dienstes des ner und Frauen, die dem Götzendienst
Paulus (Kap. 1 – 7) und den Lüsten verfallen waren, hatten
sich dem Herrn Jesus Christus anver-
A. Begrüßung (1,1.2) traut und waren durch seine wunderba-
1,1 »Paulus« stellt sich zu Beginn seines re Gnade gerettet worden. Trotz aller
Briefes als »Apostel Christi Jesu durch Schwierigkeiten, die später in der Ge-
Gottes Willen« vor. Es ist wichtig, daß er meinde auftraten, freute sich das Herz
schon zu Anfang dieses Thema an- des Apostels zweifellos, daran zu den-
spricht, weil es einige in Korinth gab, die ken, welch eine gewaltige Veränderung
in Frage stellten, ob Paulus wirklich vom im Leben dieser ihm so lieben Menschen
Herrn ausgesandt worden war. Seine vorgegangen war. Der Brief ist nicht nur
Antwort lautet, daß er sich diesen Dienst an die Korinther adressiert, sondern
nicht selbst ausgesucht habe, und auch auch an alle »Heiligen, die in ganz Acha-
nicht von Menschen ordiniert worden ja sind«. »Achaja« ist Südgriechenland,
sei, sondern von Jesus Christus selbst während Mazedonien, von dem wir in
»durch Gottes Willen« in das Werk des diesem Brief auch lesen werden, im Nor-
Herrn ausgesandt wurde. Er wurde auf den des Landes liegt.
der Straße nach Damaskus in die Apo- 1,2 »Gnade … und Friede von Gott«
stelschaft gerufen. Das war ein unver- lautet der schöne Gruß, den wir norma-
geßliches Ereignis in seinem Leben, und lerweise mit dem Apostel Paulus verbin-
es war dieses Bewußtsein eines göttli- den. Wenn er versucht, sein größtes Ver-
chen Rufes, das den Apostel während langen für das Volk Gottes zu beschrei-
vieler schwerer Stunden aufrecht hielt. ben, dann wünscht er ihnen nichts Mate-
Wenn er oft im Dienste Christi über sein rielles wie Silber oder Gold. Er weiß nur
Vermögen beschwert wurde, hätte er zu gut, wie schnell diese vergehen kön-
wohl aufgeben und heimreisen können, nen. Er wünscht ihnen lieber geistlichen
wäre da nicht die Sicherheit gewesen, Segen, nämlich »Gnade« und »Friede«.
von Gott berufen zu sein. In diesen beiden Worten ist alles Gute
Die Tatsache, daß »Timotheus« in enthalten, das ein armer Sünder vom
Vers 1 genannt wird, bedeutet nicht, daß Himmel empfangen kann. Denney sagt:
er an dem Brief mitgeschrieben hat. Es »Gnade ist das erste und das letzte Wort
bedeutet nur, daß er zu der Zeit der Ab- des Evangeliums; und Friede – vollkom-
fassung des Briefes bei Paulus war. Über mene geistliche Verläßlichkeit – ist das
diese Tatsache hinaus sind wir sehr unsi- vollbrachte Werk Christi an der Seele des
1)
cher über die Reisen des Timotheus in Menschen.« Diese Segnungen erhalten
dieser Zeit. wir »von Gott, unserem Vater, und dem
Der Brief ist an die »Gemeinde Got- Herrn Jesus Christus«. Gott unser Vater
tes, die in Korinth ist, samt allen Heili- ist die Quelle, und der Herr Jesus Chri-
gen, die in ganz Achaja sind«, gerichtet. stus ist der Kanal. Paulus zögert nicht,
Der Ausdruck »Gemeinde Gottes« be- den »Herrn Jesus Christus« »Gott dem
deutet, daß es sich hier um eine Ver- Vater« an die Seite zu stellen, weil Jesus
sammlung von Gläubigen handelte, die als Teil der Dreieinigkeit dem »Vater«
»Gott« gehören. Es war keine heidnische gleich ist.
Versammlung oder eine säkulare Zusam-
menkunft von Menschen, sondern eine B. Der Dienst des Trostes im Leiden
Gemeinschaft von wiedergeborenen (1,3-11)
Christen, die aus der Welt heraus berufen 1,3 Von Vers 3 bis Vers 11 bricht der Apo-
wurden, um dem Herrn zu gehören. stel in Dank für den »Trost« aus, den er
Zweifellos erinnerte sich Paulus beim mitten in Verzweiflung und Anfechtung

780
2. Korinther 1

erfahren hat. Zweifellos bestand der den »Leiden« gleich sind, die man für ihn
»Trost« in der guten Nachricht, die Titus erduldet. Unter »Leiden des Christus« ist
ihm nach Mazedonien gebracht hatte. auf keinen Fall das Sühneleiden Christi
Der Apostel fährt dann fort zu zeigen, zu verstehen. Das war einzigartig, und
daß sich alles zum Guten für die Gläubi- daran kann niemand teilhaben. Doch die
gen auswirkt, denen er dient, ganz Christen können und werden leiden,
gleich, ob er nun angefochten oder getrö- weil sie zum Herrn Jesus gehören. Sie
stet wird. Der Dank ist an den »Gott und erleiden Tadel, Ablehnung, Feindschaft,
Vater unseres Herrn Jesus Christus« ge- Haß, Verleugnung, Verrat usw. Diese
richtet. Dies ist der volle Titel Gottes im werden auch »die Leiden des Christus«
NT. Er wird nun nicht mehr der Gott genannt, weil er sie erdulden mußte, als
Abrahams, Isaaks oder Jakobs genannt. er auf der Erde war, und sie noch immer
Nun ist er »der Gott und Vater unseres erduldet, wenn Glieder seines Leibes sie
Herrn Jesus Christus«. Dieser Name erfahren. In all unseren Anfechtungen
steht übrigens für die große Wahrheit, wird er angefochten (s. Jes 63,9 Elb).
daß Jesus sowohl Gott als auch Mensch Doch Paulus argumentiert hier, daß es
ist. Gott ist der Gott »unseres Herrn Jesus für alle diese Leiden einen reichen Aus-
Christus« – das bezieht sich auf seine gleich gibt, nämlich, daß man entspre-
Beziehung zu Jesus, dem Menschensohn. chend auch Anteil am »Trost« Christi hat,
Doch Gott ist auch der Vater »unseres und dieser »Trost« ist überreich.
Herrn Jesus Christus« – das bezieht sich 1,6 Der Apostel durfte erkennen, daß
auf seine Beziehung zu Christus, dem sowohl aus seinen Anfechtungen als
Sohn Gottes. Weiter wird Gott hier als auch aus seinem Trost Gutes entstand.
»der Vater der Erbarmungen und Gott Beides wurde durch das Kreuz geheiligt.
allen Trostes« beschrieben. Von ihm Wenn er »bedrängt« wurde, dann führte
allein empfangen wir alle Barmherzig- das zu »Trost und Heil« für die Heili-
keit und allen Trost. gen – nicht zur Erlösung ihrer Seele, son-
1,4 In allen seinen Anfechtungen war dern zur Stärkung, die sie durch ihre
sich Paulus doch der tröstenden Gegen- Anfechtungen hindurchtragen konnte.
wart Gottes bewußt. Hier nennt uns Pau- Sie wurden durch das Aushalten des
lus einen der Gründe, weshalb Gott ihn Paulus ermutigt und herausgefordert
tröstete. Es geschah, damit er andere mit und sollten schlußfolgern, daß Gott,
demselben »Trost, mit dem« er »von Gott wenn er Paulus die Gnade gab, Leiden
getröstet« wurde, »trösten könne«. Für zu ertragen, auch ihnen diese Gnade
uns bedeutet »Trost« normalerweise Trö- geben könnte. Als sich Samuel Ruther-
stung in Zeiten des Leides. Doch im NT ford im »Keller der Widrigkeiten« be-
hat das Wort eine weitergehende Bedeu- fand, wie es recht oft geschah, fing er an,
tung. Es bedeutet auch Ermutigung und sich nach den »besten Leiden« des Herrn
Ermahnung, die wir durch Menschen umzusehen. Vielleicht lernte er das
erhalten, die in Notzeiten bei uns sind. In durch das Beispiel des Paulus, der wohl
diesem Vers steckt eine praktische An- immer in der Lage war, trotz seiner Trä-
wendung für uns alle. Wir sollen uns nen noch den Regenbogen zu entdecken.
daran erinnern, daß wir, wenn wir getrö- Der Trost, den der Apostel empfing,
stet werden, diesen Trost anderen weiter- sollte die Korinther mit »Trost« erfüllen
geben sollten. Wir sollten das Kranken- und sie zu geduldigem Ausharren inspi-
und Sterbebett nicht meiden, sondern zu rieren, wenn sie durch dieselben Verfol-
denen eilen, die unsere Ermutigung gungen gehen müßten wie er. Nur dieje-
brauchen. Wir werden nicht getröstet, nigen, die durch die tiefsten Erprobun-
damit wir uns wohlfühlen, sondern um gen hindurchgehen mußten, können ein
Tröster zu sein. geeignetes Wort zu anderen reden, die
1,5 Paulus kann deshalb andere trö- berufen sind, dasselbe durchzumachen.
sten, weil die Tröstungen »des Christus« Eine Mutter, die ihr einziges Kind ver-

781
2. Korinther 1

loren hat, kann einer anderen Mutter, die und wieder andere sind der Ansicht, daß
gerade dasselbe durchmacht, besser hel- er sich auf die enttäuschenden Nachrich-
fen als jeder andere. Oder noch besser, ten aus Korinth beziehen könnte. Zum
ein Vater, der seinen einzigen Sohn verlo- Glück hängt der Wert und unsere Freude
ren hat, kann am besten diejenigen trö- an einem solchen Abschnitt nicht davon
sten, die einen ihrer Lieben verloren ab, daß wir die genauen Einzelheiten
haben. kennen.
1,7 Der Apostel gibt nun seiner Die Anfechtung war jedenfalls so
Gewißheit Ausdruck, daß ebenso wie die schlimm, daß Paulus sehr hinunterge-
Korinther wußten, was es heißt, für Chri- zogen wurde, so »über« die normalen
stus zu leiden, sie in gleicher Weise die Fähigkeiten des Ertragens hinaus, daß er
tröstende Hilfe Christi erfahren würden. »sogar am Leben verzweifelte«.
»Leiden« kommt für den Christen nie Phillips hat diesen Text sehr hilfreich
allein. Es wird immer vom »Trost« Chri- umschrieben: »Zu dieser Zeit waren wir
sti begleitet. Auch wir können uns des- völlig überfordert, die Last war mehr als
sen sicher sein, wie Paulus es auch war. wir ertragen konnten und wir sagten uns
Hfa übersetzt die Verse 3-7 folgender- schon, daß dies das Ende sei.«
maßen: 1,9 Die Aussichten des Apostels
Gepriesen sei Gott, der Vater unseres waren so schlimm, daß er das Gefühl hat-
Herrn Jesus Christus, der Vater voller Barm- te, zum »Tode« verurteilt zu sein. Wenn
herzigkeit, der Gott, der uns in jeder Not trö- ihn jemand gefragt hätte: »Führt es zum
stet! In allen Schwierigkeiten ermutigt er uns Leben oder zum Tod?« so hätte er geant-
und steht uns bei, so daß wir auch andere trö- wortet: »Zum Tod.« Gott erlaubte es, daß
sten können, die wegen ihres Glaubens zu lei- sein Diener in diese Extremsituation
den haben. Wir trösten sie, wie Gott auch uns geriet, »damit« er »nicht auf« sich
getröstet hat. Weil wir zu Christus gehören »selbst« vertrauen sollte, »sondern auf
und ihm dienen, müssen wir viel leiden, aber Gott, der die Toten auferweckt«. Der
in ebenso reichem Maße erfahren wir auch Ausdruck »Gott, der die Toten aufer-
seine Hilfe. Deshalb kommt es euch zugute, weckt« ist hier zweifellos gleichbedeu-
wenn wir leiden; und wenn wir ermutigt tend mit dem allmächtigen Gott. Derjeni-
werden, dann geschieht auch das zu eurem ge, der die Toten auferwecken kann, ist
Besten. Das gibt euch Kraft, die gleichen Lei- die einzige Hoffnung eines Mannes, der
den wie wir geduldig zu ertragen. Darum den Tod erwartet, wie es der Apostel zu
sind wir zuversichtlich und haben keine der Zeit tat.
Angst um euch. Denn ihr werdet zwar leiden 1,10 Nach der Mehrheit der Manus-
müssen wie wir, aber ihr werdet auch von kripte spricht Paulus hier in drei Zeitfor-
Gott getröstet werden. men vom Erretten: »errettet hat« (Ver-
1,8 Nachdem nun Paulus allgemein gangenheit), »errettet« (Gegenwart) und
2)
über Anfechtung und Trost gesprochen »erretten wird« (Zukunft; Elb). Wenn er
hat, erwähnt er nun genauer eine Zeit der an den Aufstand in Ephesus denkt, dann
härtesten Erprobung, die er erst kürzlich bezieht sich Paulus darauf, wie der Auf-
durchgemacht hat. Er will die Korinther stand plötzlich beendet war und er ent-
»nicht in Unkenntnis lassen … über« sei- kommen konnte (Apg 20,1). Der Apostel
ne »Drangsal«, die ihn in »Asien« über- weiß, daß derselbe Gott, der ihn in der
kam (mit »Asien« ist hier nicht der Kon- Vergangenheit »errettet hat«, ihn Tag für
tinent gemeint, sondern eine Provinz im Tag »erretten« kann und ihn auch weiter-
Westen des heutigen Kleinasien). Auf hin »erretten wird« bis zu dem großen
welche »Drangsal« bezieht sich der Apo- Tag, an dem er vollständig von allen An-
stel hier? Vielleicht bezieht sich das auf fechtungen und Verfolgungen dieser
den gefährlichen Aufstand in Ephesus Welt erlöst sein wird.
(Apg 19,23-41). Einige halten die 1,11 Hier nimmt Paulus großzügig
»Drangsal« für eine tödliche Krankheit, an, daß die korinthischen Christen für

782
2. Korinther 1

ihn gebetet haben, als er diese schlimme der Gläubigen, aber nicht alle. Die Treu-
Zeit der Erprobung durchleben mußte. en verstanden diese beiden Tatsachen –
In Wirklichkeit waren viele Gläubige zu daß sie stolz auf ihn sein würden und
Kritikern des Apostels geworden und es daß er stolz auf sie sein würde »am Tag
war fraglich, ob sie ihn vor dem Thron unseres Herrn Jesus«. Der »Tag unseres
der Gnade überhaupt noch erwähnt Herrn Jesus« bezieht sich insbesondere
haben. Doch da er nichts Gegenteiliges auf den Richterstuhl Christi, wenn der
weiß, nimmt er immer das Beste an. Der Dienst der Erlösten beurteilt und belohnt
Ausdruck »das uns verliehene Gnaden- werden wird. Wenn Paulus dieses Ge-
geschenk … durch viele für uns« bezieht richt betrachtet, sieht er unausweichlich
sich auf das Geschenk der Errettung des die Gesichter derjenigen, die durch sei-
Paulus, die durch die Gebete von »vie- nen Dienst erlöst wurden. Sie werden
len« bewirkt wurde. Er sieht seine Befrei- sein Jubel und seine Freudenkrone sein,
ung als ein direktes Ergebnis des Eintre- und sie wiederum werden sich freuen,
tens der Heiligen für ihn. Er sagt, weil daß er Gottes Werkzeug war, sie zu Chri-
viele gebetet haben, können nun »viele stus zu führen.
Personen« danken, weil ihre Gebete 1,15 Der Ausdruck »in diesem Ver-
erhört worden sind. trauen« bedeutet, mit dem »Vertrauen«,
daß sie sich an ihm als einem wahren
C. Erklärung der Änderung von Apostel Jesu Christi und als einem frag-
Paulus’ Plänen (1,12–2,17) los Aufrichtigen freuen würden. Er woll-
1,12 Der Grund, aus dem Paulus der te mit der Sicherheit »zu« ihnen »kom-
Ansicht ist, daß er sich auf die Gebete der men«, daß sie ihm vertrauten, ihn schätz-
Gläubigen verlassen kann, ist, daß er ten und liebten. Er hatte vorgehabt, »vor-
immer mit ihnen ehrlich umgegangen her« zu ihnen zu »kommen«, ehe er nach
ist. Er kann sich seiner Aufrichtigkeit Mazedonien reiste, und dann noch ein-
ihnen gegenüber rühmen, und sein Ge- mal auf dem Rückweg von Mazedonien.
wissen bezeugt die Tatsache, daß sein Sie hätten so »eine zweite Gnade« erhal-
Verhalten immer von »Einfalt und Lau- ten in dem Sinne, daß sie zweimal statt
terkeit Gottes« gekennzeichnet war, d. h. einmal besucht worden wären.
von der durchscheinenden Echtheit, die 1,16 Die »zweite Gnade« wird in Vers
von Gott kommt. Er erniedrigte sich 16 weiter erklärt. Wie schon erwähnt, war
nicht so weit, die »fleischlichen« Metho- es Paulus Plan gewesen, als er Ephesus
den der Welt zu übernehmen, sondern verließ, nach Achaja überzusetzen, wo
handelte vor allen Menschen offen mit Korinth liegt, und dann erst nach Norden
der unverdienten Kraft (»Gnade«), die nach »Mazedonien« zu reisen. Nachdem
Gott ihm schenkte. Das hätte besonders er dort gepredigt hätte, wollte er wieder
den Korinthern aufgehen müssen. Richtung Süden nach Korinth zurück-
1,13 Die Aufrichtigkeit, die sein ver- kehren. Er hoffte, daß die Korinther ihn
gangenes Handeln an den Korinthern dann auf seinem Weg »nach Judäa« hel-
kennzeichnet, gilt auch für seinen Brief. fen würden – durch ihre Gebete und ihre
Er schreibt genau das, was er auch meint. Gastfreundschaft, jedoch nicht durch ihr
Es gibt nichts zwischen den Zeilen zu Geld, weil er später mit Bestimmtheit
lesen. Die Bedeutung liegt immer einfach erklärt, daß er von ihnen keine Spenden
und offensichtlich an der Oberfläche. Sie annehmen werde (11,7-10).
entspricht genau dem, was sie »lesen« 1,17 Der ursprüngliche Plan des Pau-
oder auch »erkennen«, und er hofft, daß lus wurde nie verwirklicht. Er reiste von
sie fortfahren werden, daß sie das auch Ephesus nach Troas, und als er Titus dort
»bis ans Ende erkennen« werden, d. h. nicht fand, reiste er direkt weiter nach
solange sie leben. Mazedonien, und strich Korinth aus sei-
1,14 Die Gemeinde in Korinth hatte nen Reiseplänen. Deshalb fragt er hier:
Paulus »zum Teil« anerkannt, d. h. einige »Habe ich nun, indem ich mir dieses vor-

783
2. Korinther 1

nahm, etwa leichtfertig gehandelt?« Das Wir öffnen unsere Bibel bei einer Ver-
behaupteten wahrscheinlich seine Geg- heißung, sehen zu Gott auf und Gott sagt
ner. »Dieser unbeständige, wetterwendi- uns: »Du kannst all das durch Christus
sche Paulus! Er sagt etwas, tut aber das haben.« Wenn wir Christus vertrauen, dann
Gegenteil! Wie kann ein solcher Mann sagen wir »Amen« zu Gott. Gott spricht
ein echter Apostel sein?« Der Apostel durch Christus und wir glauben an ihn.
fragt nun die Korinther offen, ob er un- Christus beugt sich herab und der Glaube
zuverlässig sei. Wenn er plant, handelt er streckt sich nach oben, und jede Verheißung
dann etwa nach fleischlichen Motiven Gottes wird in Jesus Christus erfüllt. In ihm
mit dem Ergebnis, daß es einmal »Ja« und durch ihn können wir sie für uns in An-
und das nächste Mal »Nein« heißt? Läßt spruch nehmen und sagen: »Ja, Herr, ich ver-
3)
er sich nur durch die Aussicht auf Be- traue dir.« Das ist das »Ja« des Glaubens.
quemlichkeit und Nützlichkeit leiten? All das dient »Gott zur Ehre durch
Man könnte hier sehr gut so umschrei- uns«. Denney schreibt: »Er wird verherr-
ben: »Weil wir unsere Pläne ändern muß- licht, wenn Menschen erkennen, daß er
ten, heißt das, daß wir unzuverlässig über sie Gutes beschlossen hat, welches
sind? Denkt ihr, daß ich hinterhältig pla- über ihre Vorstellungskraft hinausgeht,
ne und ›Ja‹ sage, doch ›Nein‹ meine?« und wenn sie dieses Gute als in seinem
1,18 Paulus geht nun von seinem Sohn unzweifelhaft sicher ansehen.«
»Wort« über seine Reisepläne auf seine Die beiden Worte »durch uns« erin-
Predigt über. Vielleicht sagten seine Kri- nern die Korinther daran, daß sie nur
tiker, daß man seiner Predigt kaum trau- durch die Predigt von Männern wie Sil-
en könne, wenn er im normalen Umgang vanus, Timotheus und Paulus dazu
so unzuverlässig sei. kamen, die Verheißungen Gottes in Chri-
1,19 Paulus argumentiert, daß seine stus für sich in Anspruch zu nehmen.
Handlungsweise nicht unzuverlässig Wenn der Apostel ein Betrüger war, wie
war, weil der Erlöser, den er predigte, der ihm seine Feinde vorwarfen, konnte es
Göttliche, der Unveränderliche war, in dann sein, daß Gott einen solchen Lüg-
dem weder Unentschlossenheit noch ner und Betrüger benutzt hatte, um solch
Veränderlichkeit ist. Als Paulus das erste wundervolle Ergebnisse zu erzielen? Die
Mal mit »Silvanus und Timotheus« nach Antwort lautet natürlich nein.
Korinth kam (Apg 18,5), hatten sie den 1,21 Paulus zeigt als nächstes, daß die
vertrauenswürdigen »Sohn Gottes« ge- Korinther und er im gleichen Boot saßen.
predigt. »Die Predigt konnte nicht »Gott« hatte ihnen den Glauben ge-
schwankend sein, weil sie auf dem ›Sohn schenkt und sie »in Christus« durch den
Gottes‹ basierte, der nicht schwankte.« Dienst am Wort Gottes befestigt. Er hat
Das Argument lautet hier, daß jemand, sie sogar mit dem Geist »gesalbt«, durch
der den Herrn Jesus im Geist predigt, den er sie ausbildete, ihnen Kraft gab
unmöglich so handeln kann, wie Paulus’ und sie lehrte.
Gegner es ihm vorwarfen. Denney sagt: 1,22 Er hat sie »auch versiegelt« und
»Das Argument des Paulus hätte von ihnen »das Unterpfand des Geistes in«
einem Heuchler gebraucht werden kön- ihre »Herzen gegeben«. Hier haben wir
nen, doch kein Kritiker konnte es je er- zwei weitere Dienste des Heiligen Gei-
funden haben.« Wie hätte er einen treuen stes. Das Siegel ist das Kennzeichen des
Gott predigen und selbst seinem Wort Eigentümers und steht für Sicherheit.
untreu werden können? Der »Geist« im Gläubigen ist das Kenn-
1,20 Alle »Verheißungen Gottes«, zeichen, daß der Gläubige nun Gott ge-
ganz gleich wie viele es sein mögen, fin- hört und auf ewig sicher ist. Das Siegel
den ihre Erfüllung in Christus. Alle, die ist natürlich unsichtbar. Die Menschen
»in ihm« die Erfüllung der »Verheißun- erkennen nicht an einer Plakette, daß wir
gen Gottes« finden, fügen ihr »Amen« Christen sind, sondern nur durch die
hinzu: Beweise eines geisterfüllten Lebens. Gott

784
2. Korinther 1 und 2

hat ihnen auch »das Unterpfand des Gei- ebenso wie um praktisches Verhalten in
stes in« ihre »Herzen gegeben«. Das Un- der Gemeinde.
terpfand ist eine Anzahlung auf das 2,1 Dieser Vers führt den Gedanken
Gesamterbe, das einmal folgen wird. der letzten zwei Verse von Kapitel 1 fort.
Wenn Gott einen Menschen errettet, gibt Paulus erklärt weiter den Grund, warum
er ihm den Heiligen »Geist«. Genauso er nicht wie geplant nach Korinth reiste.
sicher, wie er den »Geist« empfängt, ge- Er wollte ihnen die »Traurigkeit« erspa-
nauso wird er das gesamte Erbe Gottes ren, die unausweichlich der Ermahnung
antreten. Die gleiche Art des Segens, die durch ihn gefolgt wäre. Die Worte »Ich
der Heilige Geist heute in unserem Leben habe … für mich beschlossen, nicht wie-
verwirklicht, wird uns eines Tages in der in Traurigkeit zu euch zu kommen«
vollem Maße geschenkt werden. scheinen nahezulegen, daß er nach sei-
1,23 Von Vers 23 bis Kapitel 2,4 kehrt nem ersten Besuch in Apostelgeschichte
Paulus zu der Anklage zurück, die gegen 18,1-17 noch einen sehr schmerzlichen
ihn erhoben wurde, er sei unzuverlässig, zweiten Besuch bei ihnen gemacht hat.
und gibt eine einfache Erklärung, warum Solch ein Zwischenbesuch könnte auch
er Korinth nicht besucht hat, wie er es in 2. Korinther 12,14 und 13,1 angedeutet
vorhatte. Weil kein Mensch die wirkli- sein.
chen Motive des Paulus beurteilen kann, 2,2 Wenn der Apostel mit einer per-
ruft er »Gott zum Zeugen« für diese Tat- sönlichen Ermahnung nach Korinth ge-
sache auf. Wenn der Apostel »Korinth« kommen wäre, hätte er die Korinther
zur geplanten Zeit besucht hätte, als er es traurig gemacht. In diesem Fall wäre er
plante, hätte er dort sehr hart durchgrei- selbst auch traurig geworden, weil er
fen müssen. Er hätte die Heiligen sehr gerade diesen Menschen Freude
scharf zurechtweisen müssen, weil sie so wünschte. Wie Ryrie es ausdrückte:
achtlos Sünde in der Gemeinde tolerier- »Wenn ich euch verletzen würde, wen
ten. Er wollte sie »schonen« und ihnen hätte ich dann noch, der mich froh
Leid und Traurigkeit ersparen. Deshalb machen könnte außer traurigen Leuten?
hat Paulus seine Reise »nach Korinth« Das wäre kein Trost für mich.«
verschoben. 2,3 Statt sich bei einem Besuch gegen-
1,24 Der Apostel wollte natürlich seitig traurig zu machen, entschied Pau-
nicht, daß irgend jemand durch das lus sich, einen Brief zu schreiben. Er hoff-
Gesagte auf die Idee käme, er wolle als te, daß der Brief das erwünschte Resultat
Diktator über die Korinther herrschen. erbringen würde, nämlich daß die Ko-
Deshalb fügt er hier an: »Nicht daß wir rinther Gemeindezucht gegen den gefal-
über euren Glauben herrschen, sondern lenen Bruder üben würden, und daß sein
wir sind Mitarbeiter an eurer Freude; nächster Besuch nicht von angespannten
denn ihr steht durch den Glauben.« Der Beziehungen zwischen diesen Men-
Apostel wollte nicht »über« ihren christ- schen, die er so liebte, und ihm selbst
lichen »Glauben« urteilen. Er wollte überschattet würde.
nicht, daß sie ihn für einen Tyrannen Ist der genannte Brief nun der 1. Ko-
hielten. Er war seiner Ansicht nach nur rintherbrief oder ein anderer, der heute
»Mitarbeiter« oder Gehilfe ihrer »Freu- nicht mehr existiert? Viele sind der An-
de«, d. h. er wollte ihnen nur auf ihrem sicht, daß nach der Beschreibung in
christlichen Weg helfen und so zu ihrer Vers 4 der 1. Korintherbrief nicht ge-
Freude beitragen. meint sein kann, daß der von Paulus
Der letzte Teil von Vers 24 kann auch erwähnte Brief in viel Anfechtung, Trä-
übersetzt werden: »Denn ihr steht fest im nen und innerem Ringen geschrieben
Glauben.« Das hieße, es war nicht nötig, wurde. Andere Ausleger sind der An-
ihren Glauben zu korrigieren, denn auf sicht, daß die Beschreibung hier den
diesem Gebiet hatten sie einen festen 1. Korintherbrief sehr gut beschreibt. Es
Stand. Paulus ging es um Lehrfragen ist jedoch möglich, daß Paulus einen sehr

785
2. Korinther 2

harten Brief nach Korinth geschrieben des Sünders. Der Ausdruck »Wenn aber
hat, der nicht überliefert ist. Wahrschein- jemand traurig gemacht hat« kann sich
lich schrieb er ihn nach dem traurigen auf den Mann aus 1. Korinther 5,1 bezie-
Besuch (2. Kor 2,1) und ließ ihn durch hen, der im Inzest lebt, oder auch auf
Titus überbringen. Auf solch einen Brief jemand anderen, der in der Versamm-
könnte er in 2,4.9; 7,8.12 hinweisen. lung für Schwierigkeiten gesorgt hat. Wir
Welche Ansicht auch richtig sein werden hier voraussetzen, daß es sich
mag, der Gedanke von Vers 3 lautet, daß um den ersteren handelt. Paulus sah das
Paulus ihnen schrieb, daß er, wenn er sie Ganze nicht als Angriff auf sich selbst.
besuchen würde, keine »Traurigkeit« »Alle« Gläubigen wurden dadurch »zum
über die Traurigkeit derer haben würde, Teil … traurig gemacht«.
die ihm doch »Freude« machen sollten. 2,6 Die Gläubigen in Korinth hatten
Er war sicher, daß alles, was ihm »Freu- sich zu Maßnahmen der Gemeindezucht
de« bringt, auch ihnen »Freude« bringen entschlossen. Wahrscheinlich hatten sie
würde. In diesem Zusammenhang ist ge- den Betreffenden aus der Gemeinde aus-
meint, daß man Gemeindezucht in got- geschlossen. Als Ergebnis davon hatte er
tesfürchtiger Weise angehen sollte und wirklich Buße getan und war wieder zum
daraus gegenseitige Freude entspringen Herrn zurückgekommen. Nun weist Pau-
würde. lus darauf hin, daß »diese Strafe« genüge.
2,4 In diesem Vers finden wir einen Sie sollten sie nicht unnötig ausdehnen.
tiefen Einblick in das Herz eines großar- Im zweiten Teil des Verses heißt es, daß
tigen Hirten. Paulus schmerzte es sehr, die Strafe von »den vielen« (so wörtl.)
daß in der Gemeinde von Korinth Sünde ausgesprochen wurde. Einige sind der
toleriert wurde. Der Gedanke daran ver- Ansicht, daß »die vielen« dasselbe wie
ursachte »viel Drangsal und Herzens- »die meisten« bedeutet (ER). Andere mei-
angst«, und heiße »Tränen« flossen über nen, es gehe hier um alle Gemeindeglie-
seine Wangen. Es ist offensichtlich, daß der außer demjenigen, der ausgeschlos-
der Apostel durch den Gedanken an die sen wurde. Diejenigen, die dieser Ansicht
Sünde in der Gemeinde in Korinth be- sind, meinen, daß eine Mehrheitsent-
wegter war als die Korinther selbst. Sie scheidung in Gemeindeangelegenheiten
sollten diesen Brief nicht als Versuch nicht ausreicht. Sie sagen, daß da, wo der
deuten, ihre Gefühle zu verletzen, son- Geist walten darf, einmütige Entschei-
dern als einen Beweis seiner »Liebe« zu dungen getroffen werden sollten.
ihnen. Er hoffte, daß sie durch sein 2,7.8 Nun, da der Mann völlige Buße
Schreiben genügend Zeit erhalten wür- getan hatte, sollten ihm die Korinther
den, damit sein darauffolgender Besuch »vergeben« und versuchen, ihn zu stär-
ein freudiger würde. »Treu gemeint sind ken, indem sie ihn wieder in ihre Ge-
die Schläge dessen, der liebt« (Spr 27,6). meinschaft aufnahmen. Wenn sie das
Wenn wir in gottesfürchtiger Weise ge- nicht tun würden, dann wäre die Gefahr
warnt oder beraten werden, sollten wir groß, daß er »durch übermäßige Traurig-
nicht ablehnend sein, sondern erkennen, keit verschlungen werde«, d. h. daß er an
daß nur jemand, der wirklich an uns in- der Echtheit der Vergebung zweifeln
teressiert ist, diese Aufgabe übernehmen könnte und in ständige Melancholie und
wird. Gerechter Tadel sollte angenom- Entmutigung verfallen könnte.
men werden, als käme er vom Herrn Die Korinther sollten »beschließen«,
selbst. Wir sollten dankbar dafür sein. ihm wieder ihre »Liebe« zu erweisen, in-
2,5 Von Vers 5 bis Vers 11 geht der dem sie ihre Arme weit öffnen und ihn
Apostel etwas direkter auf den Anlaß mit Freude und Sanftheit wieder aufneh-
ein, der die Schwierigkeiten verursacht men würden.
hat. Man beachte den besonderen Takt 2,9 Als Paulus den ersten Korinther-
und die christliche Sorgfalt, die er zeigt. brief schrieb, hat er die Korinther einer
Kein einziges Mal nennt er den Namen Bewährungsprobe unterzogen. Hier war

786
2. Korinther 2

ihnen die Gelegenheit gegeben zu zei- Sidlow Baxter sagt im Hinblick auf
gen, ob sie dem Wort des Herrn, wie Pau- die Worte »denn seine Gedanken sind
lus es ihnen verkündigte, »gehorsam« uns nicht unbekannt«:
wären. Er hatte ihnen damals nahegelegt, Satan hat alle möglichen Strategien auf
den Mann aus der Gemeinschaft auszu- Lager, um Menschen von der Wahrheit abzu-
schließen. Genau das taten sie und erwie- wenden. Ein Sieb zum Sichten (Lk 22,31),
sen sich als wirklich »gehorsam«. Nun »Anschläge« (Schl, wie in unserem Text),
wollte Paulus, daß sie noch einen Schritt »Unkraut« zum »ersticken« (Matth 13,22),
weiter gingen, nämlich daß sie den Mann »Listen« zum überrumpeln (Eph 6,11), das
wieder annahmen. Brüllen eines Löwen, um uns zu ängstigen
2,10 J. B. Phillips hat Vers 10 so um- (1. Petr 5,8), die Verkleidung eines Engels,
schrieben: »Wenn Ihr jemandem vergebt, um zu betrügen (2. Kor 11,14) und »Fall-
dann könnt ihr sicher sein, daß ich ihm stricke«, um sie zum straucheln zu bringen
4)
auch vergebe. Wenn ich ihm persönlich (2. Tim 2,26).
etwas zu vergeben habe, dann vergebe 2,12 Paulus nimmt noch einmal das
ich ihm im Namen Christi.« Paulus will, Thema seiner geänderten Pläne auf, das
daß die Heiligen wissen, daß er mit er in Vers 4 verlassen hat. Er ist nicht
ihnen volle Gemeinschaft hat, wenn sie nach Korinth gereist, wie er es vorher
dem reuigen Sünder vergeben. Wenn er angekündigt hatte. Die vorhergehenden
etwas »zu vergeben« hätte, so würde er Verse haben erklärt, daß er Korinth des-
es um der Korinther willen »vergeben«, halb nicht besuchte, weil er vermeiden
und zwar so, als stehe er »vor dem An- wollte, daß dies im Geist strenger Er-
gesicht Christi«. mahnung geschehen müsse. In den Ver-
Die Wichtigkeit, die dieser Brief der sen 12 bis 17 erklärt Paulus genau, was
Gemeindezucht beimißt, zeigt, welche ihm an diesem wichtigen Punkt seines
Bedeutung sie hat. Doch handelt es sich Dienstes begegnete. Wie schon vorher
hier um ein Thema, das von vielen evan- erwähnt, hatte Paulus Ephesus verlassen
gelikalen Gemeinden heute sehr ver- und reist in der Hoffnung »nach Troas«,
nachlässigt wird. Hier haben wir wieder dort Titus zu treffen und Nachrichten
einmal ein Gebiet, auf dem wir zwar von Korinth zu erhalten. Als er nach Tro-
betonen, daß wir an die Inspiration der as kam, wurde ihm »im Herrn … eine
Heiligen Schrift glauben, uns aber trotz- Tür aufgetan«, das »Evangelium Christi«
dem weigern, ihr zu gehorchen, wenn zu predigen.
uns etwas nicht gefällt. 2,13 Trotz dieser guten Gelegenheit
2,11 Genauso, wie die Gefahr besteht, war der »Geist« des Paulus besorgt.
daß eine Gemeinde keine Gemeinde- »Titus« war nicht da, um ihn zu treffen.
zucht übt, wenn es nötig ist, besteht die Die Last der Gemeinde in Korinth lag
Gefahr, daß keine Vergebung gewährt Paulus schwer auf dem Herzen. Sollte er
wird, wenn jemand wirklich Buße getan in Troas bleiben und das Evangelium von
hat. »Satan« ist immer bereit, solche Christus predigen? Oder sollte er nach
Situationen mit seinen hinterhältigen Mazedonien weiterreisen? Er traf seine
Methoden auszunutzen. Im ersten Fall Entscheidung, denn er fuhr nach »Maze-
wird er das Zeugnis einer Gemeinde donien«. Man fragt sich, wie die Korin-
zunichte machen, wenn bekannt wird, ther reagierten, als sie diese Worte lasen.
daß dort Sünde toleriert wird, im zwei- Erkannten sie vielleicht mit ein wenig
ten Fall wird er die betroffene Person mit Beschämung, daß es ihr Verhalten gewe-
Traurigkeit überschütten, wenn eine Ge- sen war, das solche Ruhelosigkeit im
meinde sie nicht wieder aufnimmt. Wenn Leben des Paulus verursacht hatte und
Satan jemanden nicht durch Sittenlosig- dazu führte, daß er eine wundervolle
keit vernichten kann, dann versucht er, Gelegenheit, das Evangelium zu predi-
ihn durch übermäßige Traurigkeit nie- gen, ausließ, nur um zu erfahren, wie es
derzudrücken, die auf die Buße folgt. ihnen geistlich ging?

787
2. Korinther 2

2,14 Paulus ließ sich nicht besiegen. Für andere ist es jedoch ein Vorzeichen
Ganz gleich, wo er im Dienst Christi hin- des Verhängnisses. Doch »Gott« wird in
ging, gab es Sieg. Und so kann er in die jedem Falle verherrlicht, für ihn ist es der
Dankesworte ausbrechen: »Gott aber sei »Wohlgeruch« der Gnade im einen Fall
Dank, der uns allezeit im Triumphzug und der Gerechtigkeit im anderen Fall.
umherführt in Christus.« A. T. Robertson F. B. Meyer drückt es gut aus:
sagt: Wenn uns deshalb gesagt wird, daß wir
Ohne ein Wort der Erklärung springt für Gott ein Wohlgeruch Christi sind, dann
Paulus aus den Tiefen der Verzweiflung und muß daß heißen, daß wir so leben dürfen, daß
fliegt wie ein Vogel in die Höhen der Freude. wir Gott in Erinnerung rufen, was Jesus in
Er eilt wie ein Adler in die Lüfte, mit stolzer seinem irdischen Leben als Mensch war. Es
5)
Verachtung des Tales unter ihm. ist, als ob uns Gott von Tag zu Tag beobach-
Paulus entlehnt hier das Bild der Tri- tet und Jesus an uns sieht, und damit
umphzüge der römischen Eroberer. (menschlich gesprochen) an das wunderbare
Wenn sie nach großen Siegen heimka- Leben erinnert wird, das als Opfer für Gott
7)
men, führten sie ihre Gefangenen durch zu einem süßen Geruch wurde.
die Straßen der Hauptstadt. Männer, die 2,16 Für die Geretteten sind Christen
Räucherwerk verbrannten, marschierten »ein Geruch vom Leben zum Leben«,
auf beiden Seiten mit und der »Geruch« doch den Verlorenen »ein Geruch vom
dieses Räucherwerkes erfüllte die Luft. Tod zum Tode«. Wir sind, was Phillips
So stellt Paulus den Herrn vor, der als »den erfrischenden Duft des Lebens
Eroberer von Troas nach Mazedonien selbst« nennt, der denen das Leben
reist und der den Apostel in seinem Zug bringt, die glauben, dagegen aber der
mitführt. Wo immer der Herr durch seine »tödliche Geruch des Verderbens« für
Diener hingeht, gibt es Sieg. Der »Ge- diejenigen, die nicht glauben wollen.
ruch« der »Erkenntnis« Christi wird Diese zweifache Auswirkung wird sehr
durch den Apostel überall verbreitet. schön in einem Vorgang des AT versinn-
F. B. Meyer schreibt: bildlicht. Als die Bundeslade von den
Wo immer sie hingingen, lernten Men- Philistern erobert wurde, verursachte sie
schen Jesus besser kennen, die Schönheit des Tod und Zerstörung, solange sie unter
Wesens unseres Meisters wurde deutlicher. ihnen weilte (1. Sam 5). Doch als sie zu-
Die Menschen wurden sich eines unter- rück in das Haus Obed-Edoms gebracht
schwelligen Duftes bewußt, der in der Luft wurde, brachte sie ihm und seinem Haus
6)
lag, der sie zum Mann von Nazareth zog. Segen und Reichtum (2. Sam 6,11). Als
So hatte Paulus nicht das Gefühl, daß nun Paulus an die gewaltige Verantwor-
er eine Niederlage im Kampf gegen tung denkt, wenn er das Evangelium
Satan erlitten hat, sondern der Herr hatte predigt, das solche weitreichenden Aus-
einen Sieg errungen und Paulus hatte wirkungen hat, dann ruft er aus: »Und
daran Teil. wer ist dazu tüchtig?«
2,15 In dem Triumphzug, den Paulus 2,17 Die Beziehung zwischen Vers 17
erwähnt, bedeutete der Duft des Räu- und Vers 16 wird deutlicher, wenn wir
cherwerks für die Eroberer den herrli- das Wort »wir« noch einfügen. »Und wer
chen Sieg, doch für die Gefangenen war ist dazu tüchtig?« »Wir, denn wir treiben
dieser Duft verhängnisvoll. So erklärt keinen Handel mit dem Wort Gottes«
der Apostel nun, daß die Predigt des usw. (Doch das muß immer im Zusam-
Evangeliums immer eine doppelte Aus- menhang mit 3,5 gesehen werden, wo
wirkung hat: Für die, »die errettet wer- Paulus sagt, daß all seine Tüchtigkeit von
8)
den«, bedeutet der Duft das eine, und für Gott kommt.) Die Worte »die meisten« -
die, »die verloren gehen« bedeutet er beziehen sich auf die Lehrer, die das
etwas ganz anderes. Wer das Evangeli- Judentum wieder einführen wollten und
um annimmt, dem bedeutet der Duft die die Korinther vom Apostel Paulus abzu-
Zusicherung einer herrlichen Zukunft. wenden versuchten. Was für Menschen

788
2. Korinther 2 und 3

waren das? Paulus sagt, sie »treiben Han- der« bedeutet nicht, daß er sich schon vor-
del«, sie schachern oder machen ein Ge- her selbst empfohlen habe, sondern daß er
schäft mit dem Wort Gottes. Sie haben schon einmal angeklagt worden war, das
die Absicht, mit dem Evangelium Geld zu tun. Er sieht nun die Wiederholung
zu verdienen. Das Wort, das hier für einer solchen Anklage gegen ihn voraus.
»Handel treiben« steht, wurde auch für »Oder brauchen wir etwa wie gewisse
Menschen gebraucht, die Wein verfälsch- Leute Empfehlungsbriefe an euch oder
ten, oftmals mit schädlichen Zusätzen. Empfehlungsbriefe von euch?« Das »ge-
Und so versuchten diese falschen Lehrer wisse Leute« bezieht sich auf die falschen
das Wort mit ihren eigenen Lehren zu Lehrer in 2,17. Sie kamen mit »Empfeh-
verfälschen. Sie versuchten z. B., Gesetz lungsbriefen« nach Korinth. Und als sie
und Gnade zu vermischen. Korinth wieder verließen, nahmen sie
Paulus war keiner von denen, die das wahrscheinlich »Empfehlungsbriefe von«
Wort Gottes verfälschten oder damit dieser Gemeinde mit. Empfehlungsbriefe
Handel trieben. Statt dessen konnte er wurden in der frühen Kirche von Christen
seinen Dienst mit vier bezeichnenden auf Reisen verwendet. Der Apostel will
Ausdrücken beschreiben. Der erste lau- eine solche Praxis mit diesem Vers nicht
tet: »wie aus Lauterkeit.« Das bedeutet, unterbinden. Er will hier nur andeuten,
in Offenheit. Sein Dienst war ehrlich. Er daß das einzige, das diese Leute als Emp-
wollte damit niemanden austricksen fehlung hatten, diese Briefe waren! Ande-
oder übervorteilen. Alles geschah ganz re Zeugnisse hatten sie nicht anzubieten.
offen. Robertson erklärt die Bedeutung 3,2 Diese Lehrer, die das Judentum
dieses Ausdrucks humorvoll: »Bei Pau- mit dem Christentum vermischen woll-
9)
lus gab es kein ›oben hui, unten pfui‹.« ten, waren nach Korinth gekommen und
Zweitens beschreibt er seinen Dienst hatten die apostolische Autorität des
mit den Worten »aus Gott«. Mit anderen Paulus in Frage gestellt. Sie leugneten,
Worten, alles, was er sagte, war göttlich daß er ein echter Knecht Christi war.
inspiriert. Gott war der Ursprung seiner Vielleicht verursachten sie diese Zweifel
Botschaft, und »aus Gott« erhielt Paulus in den Korinthern, damit diese das näch-
die Kraft weiterzumachen. Weiter fügt er ste Mal, wenn Paulus käme, von ihm
hinzu, daß alles »vor Gott« geschah. Das einen Empfehlungsbrief verlangten. Er
bedeutet, daß der Apostel dem Herrn in hat sie schon gefragt, ob er einen solchen
dem Bewußtsein diente, daß Gott immer Brief nötig hätte. War er nicht nach Ko-
auf ihn sah. Er hatte ein echtes Gefühl der rinth gekommen, als sie noch heidnische
Verantwortlichkeit Gott gegenüber und Götzenanbeter gewesen waren? Hatte er
erkannte, daß nichts vor den Augen Got- sie nicht zu Christus geführt? Hatte der
tes verborgen sein konnte. Und schließlich Herr nicht den Dienst des Apostels besie-
fügt er noch hinzu, daß er »in Christus« gelt, indem er ihm wertvolle Seelen in
redete. Das bedeutet, daß er im Namen Korinth schenkte? Deshalb lautet die
Christi sprach, mit der Vollmacht Christi Antwort: Die Korinther selbst waren der
und als ein Sprecher für »Christus«. »Brief« des Paulus, »eingeschrieben in«
sein »Herz«, doch »erkannt und gelesen
D. Autorisierung des Dienstes des von allen Menschen«. In seinem Fall
Paulus (3,1-5) brauchte man keinen Brief, der mit Stift
3,1 Im letzten Teil von 2,17 hatte der Apo- und Tinte geschrieben war. Die Korin-
stel vier verschiedene Ausdrücke ge- ther waren die Frucht seines Dienstes
braucht, um seinen Dienst zu beschreiben. und sie hatten einen festen Platz in sei-
Er erkannte, daß dies für einige, insbeson- nem Herzen. Und nicht nur das, sie wur-
dere für seine Kritiker, wie Eigenlob klin- den »von allen Menschen … erkannt und
gen könnte. Also beginnt er das folgende gelesen« in dem Sinne, daß ihre Bekeh-
Kapitel mit der Frage: »Fangen wir wieder rung in der ganzen Umgegend bekannt
an, uns selbst zu empfehlen?« Das »wie- geworden war. Die Menschen erkannten,

789
2. Korinther 3

daß diese Menschen verändert worden Brief war in die Herzen und in das Leben
waren, daß sie sich von den Götzen zu der Christen dort geschrieben.
Gott gewandt hatten und nun in Abson- Als Paulus die »steinernen« Tafeln
derung lebten. Sie waren der Beweis für den »Tafeln, die fleischerne Herzen sind«
den göttlichen Dienst des Paulus. gegenüberstellte, dachte er zweifellos
3,3 Auf den ersten Blick scheinen sich auch an den Unterschied zwischen Ge-
Vers 3 und Vers 2 zu widersprechen. Pau- setz und Evangelium. Das Gesetz ist na-
lus hat gesagt, daß die Korinther sein türlich auf Steintafeln auf dem Berg Sinai
Brief seien, aber hier sagt er, daß sie ein geschrieben worden, doch unter dem
»Brief Christi« seien. In Vers 2 sagt er, daß Evangelium versichert sich Gott des Ge-
der Brief in sein Herz geschrieben ist, horsams durch die Botschaft der Gnade
doch aus dem 2. Teil von Vers 3 geht her- und der Liebe, die in die menschlichen
vor, daß Christus selbst den Brief in die Herzen hineingeschrieben ist. Paulus
Herzen der Korinther geschrieben hat. wird dieses Thema in Kürze noch aus-
Wie können diese Unterschiede erklärt führlicher behandeln, deshalb läßt er es
werden? Die Antwort lautet, daß Paulus hier nur anklingen.
in Vers 2 erklärt, daß die Korinther selbst 3,4 Wir haben nun gehört, wie beru-
sein Empfehlungsbrief seien. Vers 3 gibt higt Paulus über seine Apostelschaft und
dazu die Erklärung. Vielleicht sehen wir den Dienst spricht, den der Herr ihm
den Zusammenhang etwas besser, wenn übertragen hat. Wir könnten nun fragen:
wir die beiden Verse folgendermaßen »Wie wagst du es, so sicher über diese An-
verbinden: »Ihr seid unser Brief … weil gelegenheit zu sprechen, Paulus?« Die
›von euch … offenbar geworden‹ ist, daß Antwort darauf erhalten wir in Vers 4. Die
ihr ein ›Brief Christi‹ seid.« Mit anderen Verteidigung seiner Apostelschaft mag
Worten, die Korinther waren der Emp- wie ein Zeugnis aussehen, das man über
fehlungsbrief des Paulus, weil allen sich selbst ausstellt, doch hier bestreitet er
deutlich war, daß der Herr sein Gnaden- das. Er sagt, daß er Zuversicht »zu Gott«
werk an ihren Herzen getan hat. Sie hat, d. h., daß er sicher ist, Gottes Über-
waren offensichtlich Christen. Weil Pau- prüfung standzuhalten. Er vertraut nicht
lus das menschliche Werkzeug gewesen auf sich selbst oder seine Fähigkeiten,
war, um sie zum Herrn zu bringen, doch »durch Christus« und durch das
waren sie sein Empfehlungsbrief. Das ist Werk Christi, das Gott an den Korinthern
der Gedanke des Ausdrucks »ausgefer- getan hat, findet er den Beweis der Echt-
tigt von uns im Dienst«. Der Herr Jesus heit seines Dienstes. Der bemerkenswerte
arbeitete an ihrem Leben, doch er tat es Wandel im Leben der Korinther war eine
durch den Dienst des Paulus. Empfehlung für den Apostel.
Während die Empfehlungsbriefe, die 3,5 Hier bestreitet Paulus nun wieder,
die Feinde des Paulus verwendeten, »mit daß er selbst irgendwie »tüchtig« wäre,
Tinte« geschrieben waren, war der Brief und er durch diese Tüchtigkeit in der
des Paulus »mit dem Geist des lebendigen Lage wäre, sich selbst als Apostel Jesu
Gottes« geschrieben. »Tinte« verblaßt, Christi zu bezeichnen. Die Kraft für sei-
wird ausradiert und zerfällt, doch wenn nen Dienst erhielt er »nicht … von«
»der Geist des lebendigen Gottes« auf innen, sondern von oben. Der Apostel
menschliche Herzen schreibt, dann hält wollte nicht selbst das Lob einheimsen.
dies ewig. Dann fügt Paulus noch hinzu, Er erkannte, daß er nichts ausgerichtet
daß der Empfehlungsbrief Christi »nicht hätte, hätte nicht Gott selbst ihn für den
auf steinerne Tafeln, sondern auf Tafeln, Dienst ausgerüstet.
die fleischerne Herzen sind« geschrieben
wurde. Die Menschen in Korinth sahen E. Gegenüberstellung des alten und
nicht einen Brief Christi, der auf einem des neuen Bundes (3,6-18)
großen Denkmal in der Mitte des Markt- 3,6 Nachdem er seine eigene Autorisie-
platzes geschrieben stand, sondern der rung und seine Qualifikation für den

790
2. Korinther 3

Dienst besprochen hat, gibt er nun aus- chen, das eher Schaden als Nutzen
führlich Rechenschaft über den Dienst bringt. Die Pharisäer waren ein Beispiel
selbst. In den folgenden Versen ver- dafür. Sie waren äußerst genau in der
gleicht er den alten Bund (das Gesetz) Einhaltung des Zehnten, doch sie waren
mit dem »neuen Bund« (dem Evangeli- anderen Menschen gegenüber unbarm-
um). Es liegt ein wichtiger Grund vor, herzig und lieblos (Matth 23,23). Dies ist
der ihn jetzt dazu führt. Diejenigen, die zwar eine richtige Anwendung des Ab-
ihn kritisierten, versuchten Judentum schnittes, nicht jedoch die Interpretation.
und Christentum zu vermischen. Sie In Vers 6 bezieht sich das Wort »Buchsta-
wollten Gesetz und Gnade zusammenfü- be« auf das Gesetz des Mose, und das
gen. Sie lehrten andere Gläubige, daß sie Wort »Geist« auf das Evangelium von
bestimmte Teile des mosaischen Geset- der Gnade Gottes. Wenn Paulus sagt, daß
zes halten müßten, damit sie wirklich »der Buchstabe tötet«, dann spricht er
von Gott angenommen würden. Und von der Aufgabe des Gesetzes. Das Ge-
deshalb bezeugt der Apostel hier die setz verurteilt alle, die seinem heiligen
Überlegenheit des neuen Bundes über Anspruch nicht gerecht werden können.
den alten. Er leitet seine Bemerkung ein, »Durch Gesetz kommt Erkenntnis der
indem er sagt, daß Gott ihn als »Diener Sünde« (Röm 3,20). »Denn alle, die aus
des neuen Bundes« befähigt hat. Ein Gesetzeswerken sind, die sind unter dem
Bund ist natürlich ein Versprechen, ein Fluch; denn es steht geschrieben: Ver-
Vertrag oder ein Testament. Der alte flucht ist jeder, der nicht bleibt in allem,
Bund war das Gesetzessystem, das Gott was im Buch des Gesetzes geschrieben
dem Mose offenbart hatte. Unter dem ist, um es zu tun« (Gal 3,10). Gott hat das
Gesetz war der Segen vom Gehorsam Gesetz nie als Mittel bestimmt, durch das
abhängig. Der Bund war ein Bund der der Mensch das Leben erhalten konnte.
Werke. Es handelte sich um einen Vertrag Es soll Sündenerkenntnis herbeiführen.
zwischen Gott und Mensch, daß, wenn Der neue Bund wird hier »Geist« ge-
der Mensch seinen Teil erfüllte, Gott nannt. Er steht für die geistliche Erfül-
auch den seinen erfüllen würde. Doch lung der Vorbilder und Schatten des
weil dieser Bund vom Menschen abhing, alten Bundes. Was das Gesetz verlangte,
konnte er keine Gerechtigkeit hervor- aber selbst nicht hervorbringen konnte,
bringen. Der »neue Bund« ist das Evan- wird nun durch das Evangelium erreicht.
gelium. Unter dem Evangelium verein- J. M. Davies faßt zusammen:
bart Gott, daß er den Menschen aus Gna- Dieser Dienst des »Buchstabens«, der
de mittels des Geschenkes der Erlösung tötet, zeigt sich in den 2300, die am Sinai
in Jesus Christus segnet. Alles unter dem getötet wurden, bei der Einsetzung des alten
neuen Bund hängt von Gott ab und nicht Bundes; und der Dienst des Geistes, des
vom Menschen. Deshalb ist der neue Lebensspenders, zeigt sich in den 3000, die
10)
Bund in der Lage zu erreichen, was der am Pfingsttag errettet worden sind.
alte niemals hätte erreichen können. 3,7 Die Verse 7 und 8 führen das The-
Paulus zeigt nun mehrere scharfe ma des Unterschiedes zwischen den bei-
Kontraste zwischen Gesetz und Evange- den Bündnissen weiter. Hier stellt der
lium auf. Er beginnt hier in Vers 6, indem Apostel besonders die »Herrlichkeit« der
er sagt: »Nicht des Buchstabens, sondern Gesetzgebung und die »Herrlichkeit« des
des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, Evangeliums einander gegenüber. Die
der Geist aber macht lebendig.« Die mei- Worte herrlich und Herrlichkeit finden
sten Ausleger deuten diese Worte so, sich in den Kapiteln 3 und 4 insgesamt
daß, wenn man einfach die äußeren siebzehnmal. Der alte Bund wird hier
wörtlich verstandenen Worte der Schrift »Dienst des Todes, mit Buchstaben in Stei-
nimmt und dem Buchstaben zu gehor- ne eingegraben« genannt. Das kann sich
chen sucht, ohne zu versuchen, dem nur auf die Zehn Gebote beziehen. Sie
Gesamtgeist des Abschnittes zu gehor- bedrohten alle mit dem Tode, die sie nicht

791
2. Korinther 3

hielten (2. Mose 19,13). Paulus sagt nicht, nis« war seine Folge. Er brachte allen
daß es bei der Gesetzgebung keine Herr- Menschen »Verdammnis«, weil kein
lichkeit gegeben habe. Das war ganz Mensch das Gesetz vollkommen halten
sicher nicht der Fall. Als Gott Mose auf konnte. Dennoch war eine gewisse Herr-
dem Berg Sinai die Zehn Gebote gab, lichkeit damit verbunden. Es hatte einen
waren sie eine großartige Offenbarung echten Zweck und war für sein Zeitalter
der Gegenwart und Macht Gottes (2. Mo- nützlich. Doch »der Dienst der Gerech-
se 19). Als Mose dort stand und mit Gott tigkeit« ist »noch viel reicher an Herrlich-
redete, begann sein Gesicht zu leuchten, keit.« Hodge schreibt: »Der Dienst der
was ein Widerschein der Herrlichkeit Gerechtigkeit ist der Dienst, der die Ge-
Gottes war. Deshalb konnten »die Söhne rechtigkeit offenbart, durch die Men-
Israels nicht fest in das Angesicht Moses schen gerechtfertigt und so von der Ver-
schauen … wegen der Herrlichkeit seines dammnis befreit werden, die das Gesetz
11)
Angesichts«. Es schien zu hell, als daß über sie ausgesprochen hat.« Die Herr-
man es ständig hätte anschauen können. lichkeit des Evangeliums spricht nicht
Doch dann fügt Paulus die bedeutsamen das Auge an, sondern den Geist. Die
Worte hinzu: »die doch verging.« Das be- Herrlichkeit von Golgatha ist weitaus
deutet, daß der Glanz auf dem Gesicht größer als die Herrlichkeit des Sinai.
Moses nicht dauerhaft war. Es war eine 3,10 Obwohl in gewissem Sinne das
zeitweilige, vergängliche Herrlichkeit. Gesetz »verherrlicht« worden ist, war es
Die geistliche Bedeutung ist, daß die doch im Vergleich mit dem neuen Bund
Herrlichkeit des alten Bundes nur zeit- »nicht verherrlicht«. Dieser Vers enthält
weilig war. Das Gesetz hatte ausdrücklich einen starken Gegensatz und sagt, daß,
eine einzige Aufgabe: Es sollte die Sünde wenn man die beiden Bünde nebenein-
aufdecken. Es zeigte die heiligen Forde- ander stellt, der eine den anderen über-
rungen Gottes, und in diesem Sinne war strahlt, d. h. der neue Bund übertrifft den
es herrlich. Doch wurde es nur bis zur alten Bund. A. T. Robertson sagt: »Die
Zeit Christi gegeben, der die Erfüllung größere Herrlichkeit läßt die geringere
des Gesetzes zur Gerechtigkeit für dieje- verblassen. In mindestens einem Punkt
nigen ist, die glauben (Röm 10,4). Das hat der alte Bund keinerlei Herrlichkeit,
Gesetz war ein Schatten, Christus ist der weil die Herrlichkeit des neuen Bundes
12)
Gegenstand, der den Schatten wirft. Das so groß ist.« Denney kommentiert:
Gesetz war ein Bild des Besseren, das »Wenn die Sonne in ihrer Macht scheint,
noch kommen sollte, und all diese Dinge so findet sich am Himmel keine andere
13)
fanden ihre Erfüllung im Erlöser der Welt. Herrlichkeit.«
3,8 Wenn aber nun das Gesetz so 3,11 »Denn wenn das Vergehende in
herrlich war, um wieviel mehr ist »der Herrlichkeit (wörtl. durch Herrlichkeit)
Dienst des Geistes« dann herrlich? Der war, wieviel mehr besteht das Bleibende
Ausdruck »der Dienst des Geistes« be- in Herrlichkeit (wörtl. herrlich in Herr-
zieht sich auf das Evangelium. Der Geist lichkeit)!« Wir sollten die beiden Präposi-
Gottes wirkt durch die Predigt des Evan- tionen durch und in beachten. Der Ge-
geliums und der Geist Gottes wiederum danke dabei ist, daß Herrlichkeit die Ge-
wird denen gegeben, die die gute Nach- setzgebung zwar begleitete, daß der
richt von der Erlösung annehmen. Das neue Bund dagegen wesensmäßig herrlich
Wort »wird« in dem Ausdruck »wie wird ist. Die »Herrlichkeit« unterstützte den
nicht vielmehr« steht hier nicht für die Abschluß des alten Bundes, doch das
Zukunft, sondern für eine unausweichli- Evangelium von Gottes Gnade ist herr-
che Konsequenz. Wenn die eine Bedin- lich in sich selbst.
gung zutrifft, dann »wird« die andere Dieser Vers stellt auch das vergängli-
unausweichlich darauf folgen. che, zeitliche Wesen des Gesetzes und
3,9 Hier wird der alte Bund »Dienst das ewige Wesen des Evangeliums ein-
der Verdammnis« genannt. »Verdamm- ander gegenüber. »Das Vergehende«

792
2. Korinther 3

kann sich nur auf die Zehn Gebote bezie- nicht, daß sie »das Ende« dieser Herr-
hen – auf den »Dienst des Todes, mit lichkeit miterleben sollten. Es ging nicht
Buchstaben in Steine eingegraben« (V. 7). darum, daß Mose die Herrlichkeit selbst
Deshalb widerlegt dieser Vers die Be- verbergen wollte, sondern das Vergehen
hauptung der Siebenten-Tages-Adven- der Herrlichkeit. F. W. Grant hat das
tisten, die behaupten, daß nur das Zere- schön ausgedrückt: »Die Herrlichkeit auf
monialgesetz aufgehoben sei, nicht je- dem Gesicht des Mose mußte der Herr-
doch die Zehn Gebote. lichkeit in einem anderen Gesicht wei-
14)
3,12 Die »Hoffnung«, die Paulus hier chen.« Das hat mit dem Kommen des
zitiert, ist die feste Überzeugung, daß die Herrn Jesus Christus stattgefunden. Das
Herrlichkeit des Evangeliums nie ver- Ergebnis ist, daß der Diener des neuen
blassen oder verschwinden wird. Weil Bundes sein Gesicht nicht verhüllen
Paulus sich dessen so sicher ist, predigt muß. Die Herrlichkeit des Evangeliums
er das Wort »mit großer Freimütigkeit«. wird niemals verblassen oder vergehen.
Er hat nichts zu verbergen. Es gibt keinen 3,14 »Aber ihr Sinn ist verstockt wor-
Grund, über irgend etwas einen Schleier den.« Die Kinder Israel erkannten nicht
zu breiten. In vielen Religionen der heu- die wahre Bedeutung dessen, was Mose
tigen Welt gibt es sogenannte Mysterien. tat. Und das gilt für die meisten Juden
Neubekehrte müssen in diese tiefen über die Jahrhunderte hinweg. Auch zu
Geheimnisse eingeweiht werden. Sie der Zeit, zu der Paulus schrieb, hielten
steigen von einer Stufe zur nächsten. sie sich immer noch an das Gesetz als
Doch beim Evangelium ist das nicht so. Erlösungsweg und wollten den Herrn
Alles ist klar und offen. Das Evangelium Jesus Christus nicht annehmen.
spricht schlicht und voller Sicherheit »Denn bis auf den heutigen Tag bleibt
über solche Themen wie Erlösung, Drei- dieselbe Decke auf der Verlesung des
einigkeit, Himmel und Hölle. Alten Testaments.« Mit anderen Worten,
3,13 »Nicht wie Mose, der eine Decke zu der Zeit, als der Apostel schrieb, ent-
über sein Angesicht legte, damit die Söh- deckten die Juden, wenn sie das »Alte
ne Israels nicht auf das Ende des Verge- Testament« lasen, nicht das Geheimnis,
henden blicken sollten.« Den Hinter- das Mose von ihren Vorvätern unter der
grund dieses Verses finden wir in 2. Mo- »Decke« verborgen hat. Sie erkannten
se 34,29-35. Dort erfahren wir, daß Mose, nicht, daß die Herrlichkeit des Gesetzes
als er vom Berg Sinai kam, nachdem er in vergeht, und daß das Gesetz seine Erfül-
der Gegenwart des Herrn gewesen war, lung in dem Herrn Jesus Christus gefun-
nicht wußte, daß sein Gesicht leuchtete. den hat.
Die Kinder Israel hatten Angst, zu ihm Die Decke wird »in Christus besei-
zu kommen, weil sie die Herrlichkeit auf tigt«. Das Wort »sie« steht im Grundtext
seinem Gesicht sahen. Doch er winkte sie nicht, und einige Ausleger sind der
heran und sie kamen. Dann gab er ihnen Ansicht, daß es hier nicht um die Decke,
alle Gebote, die der Herr ihm gegeben sondern um das Alte Testament geht. Und
hatte. In 2. Mose 34,33 lesen wir: »Als noch wahrscheinlicher ist es, daß ge-
nun Mose aufgehört hatte, mit ihnen zu meint ist, daß die Schwierigkeit, das Alte
reden, legte er eine Decke auf sein Ge- Testament zu verstehen verschwindet,
sicht.« In 2. Korinther 3,13 erklärt der wenn ein Mensch zu Christus kommt.
Apostel, warum Mose so handelte. Er tat Hodge hat das treffend ausgedrückt:
es, »damit die Söhne Israels nicht auf das Die Schriften des Alten Testaments kön-
Ende des Vergehenden blicken sollten«. nen nur verstanden werden, wenn man sieht,
Die Herrlichkeit auf seinem Gesicht ver- daß sie Christus vorhersagen und als Vorbild
ging. Mit anderen Worten, das Gesetz, darstellen. Die Erkenntnis Christi nimmt die
15)
das Gott ihm gegeben hat, hatte eine nur Decke vom Alten Testament.
zeitweilige Herrlichkeit. Es verlor schon 3,15 Hier wandelt sich nun das Bild
damals an Leuchtkraft, und Mose wollte etwas. In dem Beispiel aus dem AT lag die

793
2. Korinther 3

Decke über dem Gesicht des Mose, doch »wir alle« das Vorrecht »die Herrlichkeit
nun »liegt eine Decke auf ihrem Herzen«, des Herrn« zu »schauen«. Mose mußte
d. h. auf dem Herzen der Juden. Sie ver- sein Gesicht verhüllen, nachdem er mit
suchen immer noch durch Tun Gerechtig- den Menschen gesprochen hatte, doch
keit zu erlangen, und erkennen dabei wir dürfen ein »aufgedecktes Angesicht«
nicht, daß das Werk durch den Erlöser am haben. Wir können unser Gesicht »un-
Kreuz von Golgatha schon längst voll- verhüllt« lassen, indem wir Sünde be-
bracht ist. Sie versuchen, ihre Erlösung kennen und lassen und indem wir völlig
durch eigenen Verdienst zu erlangen und ehrlich vor Gott und uns selbst sind. Wie
erkennen nicht, daß das Gesetz sie völlig ein alter Missionar in Indien einmal ge-
verurteilt und daß sie in die Arme des sagt hat, müssen wir »den Schleier der
Herrn fliehen sollten, um dort Gnade und Sünde fallen lassen, den Schleier des Vor-
Barmherzigkeit zu empfangen. machens, der Schauspielerei, alles Auf-
3,16 Das »es« aus Vers 16 kann sich richten falscher Fronten, alle Versuche,
entweder auf einen einzelnen Juden oder Kompromisse zu schließen, alle halbher-
auf das gesamte Volk Israel beziehen. Doch zigen Maßnahmen, alles, was gleichzei-
ganz gleich, wer »sich zum Herrn wen- tig Ja und Nein ist«.
det« und Jesus als den Messias annimmt, Der nächste Schritt besteht darin, daß
dem »wird die Decke weggenommen« wir »die Herrlichkeit des Herrn wie in
und das Geheimnis ist gelöst. Dann geht einem Spiegel … schauen« (LU1984). Der
ihm die Wahrheit auf, daß all die Vorbil- Spiegel ist das Wort Gottes. Wenn wir in
der und Schatten des Gesetzes ihre Erfül- die Bibel schauen, dann sehen wir den
lung in Gottes geliebtem Sohne, dem Herrn Jesus in all seiner Herrlichkeit
Messias Israels, gefunden haben. Wenn offenbart. Wir sehen ihn noch nicht von
das Volk Israel jedoch im Mittelpunkt Angesicht zu Angesicht, sondern nur im
steht, dann bezieht sich der Vers auf Wort widergespiegelt.
einen noch zukünftigen Zeitpunkt, zu Wir sollten beachten, daß wir »die
dem ein gläubiger Überrest sich »zum Herrlichkeit des Herrn« sehen. Paulus
Herrn« wenden wird, wie schon in Rö- denkt hier nicht an die ethische Schön-
mer 11,25.26.32 vorausgesagt wird. heit Jesu als Mensch hier auf Erden, son-
3,17 Paulus hat betont, daß Christus dern an seine gegenwärtige Herrlichkeit,
der Schlüssel zum AT ist. Hier betont er die er zur Rechten Gottes besitzt. Die
diese Wahrheit erneut, indem er sagt: Herrlichkeit Christi besteht, wie Denney
»Der Herr aber ist der Geist.« »Geist« herausstellt, in folgendem:
deuten die meisten als »Heiligen Geist«. Er teilt den Thron des Vaters, er ist das
Doch der Zusammenhang macht deut- Haupt der Gemeinde, der Eigner und Geber
lich, daß der Herr der Geist des AT ist, der Fülle göttlicher Gnade, der Richter der
genau wie »das Zeugnis Jesu der Geist Welt, der Besieger aller feindlichen Mächte,
der Weissagung« ist (Offb 19,10). Alle derjenige, der für die Seinen eintritt, und
Bilder und Schatten des AT finden ihre kurz gesagt, der Inhaber aller Majestät, die
17)
Erfüllung in Christus. »Wo aber der zu seinem königlichen Amt gehört.
16)
Geist des Herrn ist, ist Freiheit.« Das Wenn wir mit der Herrlichkeit des
bedeutet, daß immer da, wo Jesus Chri- auferstandenen, aufgefahrenen und er-
stus als Herr oder Jahwe anerkannt wird, höhten Herrn Jesus Christus beschäftigt
»Freiheit« ist, d. h. Freiheit von der Ge- sind, »werden« wir »in dasselbe Bild …
bundenheit des Gesetzes, Freiheit von verwandelt«. Hier liegt, kurz gesagt, das
der Decke über der Schrift und Freiheit, Geheimnis der christlichen Heiligung –
Gottes Angesicht ohne die Decke dazwi- Beschäftigung mit Christus. Nicht die Be-
schen offen sehen zu dürfen. schäftigung mit dem eigenen Ich, denn
3,18 Im alten Bund war es nur Mose das bringt nur Niederlage. Nicht die Be-
erlaubt, die Herrlichkeit des Herrn zu schäftigung mit anderen, denn sie bringt
sehen. Unter dem neuen Bund haben nur Enttäuschung. Doch durch die Be-

794
2. Korinther 3 und 4

schäftigung mit der »Herrlichkeit des So beendet Paulus seine tief geistliche
Herrn« werden wir ihm immer ähnlicher. Darstellung des neuen Bundes im Ver-
Dieser wunderbare Umwandlungs- gleich mit dem alten Bund.
prozeß findet »von Herrlichkeit zu Herr-
lichkeit« statt, d. h., von einem Grad der F. Die Verpflichtung, ein klares
Herrlichkeit zum nächsten. Es ist also Evangelium zu predigen (4,1-6)
keine sofortige Veränderung. Es gibt kein 4,1 In den ersten sechs Versen von Kapi-
Erlebnis im christlichen Leben, das in tel 4 betont Paulus die hohe Verantwor-
einem Augenblick Jesu Bild in uns prägt. tung jedes Dieners Christi, die Botschaft
Es geht um einen Prozeß, nicht um ein des Evangeliums deutlich zu machen. Es
einmaliges Erlebnis. Es ist nicht wie die darf keine Decke geben. Nichts darf ver-
vergehende Herrlichkeit des Gesetzes, borgen oder mysteriös bleiben. Alles
sondern eine sich immer mehr verstär- muß klar, ehrlich und eindeutig sein.
kende Herrlichkeit. Paulus hat davon gesprochen, auf wie
Die Triebkraft hinter diesem wunder- wunderbare Weise Gott ihn dazu aus-
baren Prozeß ist der Heilige Geist Gottes, gerüstet hat, ein fähiger Diener des neuen
der »Herr«, der »Geist«. Wenn wir den Bundes zu sein. Er nimmt diesen Faden
Herrn der Herrlichkeit betrachten, ihn hier nun wieder auf. Die Erkenntnis der
studieren, ihn anbetend anblicken, dann großen Würde des christlichen Dienstes
bewirkt der »Herr«, der »Geist« in unse- verhindert, daß ein solcher Mann wie
rem Leben das erstaunliche Wunder der Paulus »ermattet«. Natürlich gibt es
wachsenden Ähnlichkeit mit Christus. immer wieder entmutigende und depri-
Darby zeigt, wie Stephanus durch mierende Erfahrungen im christlichen
das Anblicken verändert wurde: Dienst, doch der Herr gibt Barmherzig-
Wir sehen es bei Stephanus, als er gestei- keit und Gnade, die zu jeder Notzeit hel-
nigt wird. Er sieht auf und schaut die Herr- fen. So ist es gleichgültig, welche Entmu-
lichkeit Gottes und Jesu. Christus hatte ge- tigungen man durchmacht, die Ermuti-
sagt: »Vater, vergib ihnen, denn sie wissen gung ist im Vergleich dazu immer größer.
nicht, was sie tun.« Und der Anblick Jesu in Paulus wurde »nicht mutlos« (Zü). Er
der Herrlichkeit Gottes veranlaßt Stephanus handelte nicht feige, sondern mutig
zu dem Gebet: »Herr, rechne ihnen diese Sün- angesichts scheinbar unüberwindlicher
de nicht zu!« Und am Kreuz sagte Christus: Hindernisse.
»Vater, in deine Hände übergebe ich meinen 4,2 Phillips hat Vers 2 ausdrucksvoll
Geist!« Und Stephanus sagt: »Herr Jesus, paraphrasiert:
nimm meinen Geist auf!« Er wird hier in das Wir brauchen weder Hokus-Pokus noch
18)
Bild Christi verwandelt. schlaue Tricks noch kluge Manipulationen
Wir sollten nun die übernatürliche des Wortes Gottes. Wir sprechen die reine
Herrlichkeit des neuen Bundes beden- Wahrheit und empfehlen uns so vor Gott
ken. Während nur einer im alten Bund jedermanns Gewissen.
die Herrlichkeit in seinem Gesicht hat, ist Hier denkt der Apostel zweifellos
dies heute ein bluterkauftes Vorrecht wieder an die Irrlehrer, die in die korin-
eines jeden Kindes Gottes. Und wir spie- thische Gemeinde eingedrungen waren.
geln nicht nur einfach die Herrlichkeit Ihre Methoden waren dieselben, die von
Gottes wider, sondern »wir alle«, die wir bösen Mächten immer benutzt werden,
zum neuen Bund gehören, »werden so« nämlich eine ehrlose Verbindung mit der
wirklich »in dasselbe Bild von Herrlich- Sünde, geschicktes Taktieren mit der
keit zu Herrlichkeit, wie es vom Herrn, Wahrheit, der Gebrauch von trickreichen
dem Geist, geschieht … verwandelt« Argumenten und die Verzerrung des
(wörtl. metamorphosiert). Während Wortes Gottes. Der Ausdruck »noch ver-
Moses Angesicht die Herrlichkeit nur fälschen wir das Wort Gottes« bezieht
widerspiegelt, strahlen unsere Gesichter sich zweifellos auf den liebsten Zeitver-
diese Herrlichkeit von innen aus. treib dieser Männer – den Versuch,

795
2. Korinther 4

Gesetz und Gnade miteinander zu ver- schiedene Trennmauern zwischen die


mengen. Ungläubigen und Gott. Es kann sich um
Die Methoden des Apostel waren eine Wolke von Stolz, von Auflehnung,
völlig anders. Paulus drückt das durch Selbstgerechtigkeit oder irgendeine von
die Worte aus: »Sondern durch die Offen- hunderten anderer Sünden handeln.
barung der Wahrheit empfehlen wir uns Doch alle dienen dazu, den »Lichtglanz
jedem Gewissen der Menschen vor des Evangeliums« wirksam daran zu
Gott.« »Offenbarung der Wahrheit« kann hindern, diese Menschen zu erleuchten.
zwei Formen annehmen. Wir offenbaren Satan möchte ganz einfach nicht, daß
die »Wahrheit«, wenn wir sie in einfacher Menschen gerettet werden.
und verständlicher Weise weitergeben. Das »Evangelium« handelt von dem
Doch wir offenbaren sie auch, indem wir verherrlichten »Christus«. Hier wird dem
sie vor anderen ausleben, so daß sie sie Gläubigen nicht der Zimmermann aus
an uns beispielhaft erkennen können. Nazareth vor Augen gestellt. Auch nicht
Paulus verwendete beide Methoden. Er Christus, der am Fluchholz hängt. Es geht
predigte das Evangelium und gehorchte hier um den Herrn Jesus Christus, der
ihm in seinem eigenen Leben. Indem er gestorben, begraben und auferweckt
das tat, suchte er sich »jedem Gewissen worden ist und der nun sogar zur Rech-
der Menschen vor Gott« zu »empfehlen«. ten Gottes im Himmel sitzt. Auf ihn rich-
4,3 Der Apostel hat uns von der tet sich der Glaube der Erlösten – auf den
großen Sorgfalt berichtet, die er aufwand- verherrlichten Sohn Gottes im Himmel.
te, um die Wahrheit Gottes den Menschen 4,5 In diesem einen Vers haben wir
in Predigt und Praxis zu verdeutlichen. das schlechteste und das beste Thema für
Wenn das Evangelium nun einigen »doch einen Prediger vereinigt. Das schlechte-
verdeckt ist«, so liegt das sicherlich nicht ste Thema sind wir »selbst«, das beste ist
an Gott, und Paulus möchte auch nicht, Christus Jesus der Herr.
daß es an ihm liegt. Und doch ist er sich Offensichtlich predigten die Geset-
sogar bewußt, als er diese Worte spricht, zesprediger viel über sich selbst. Paulus
daß es dennoch Menschen gibt, die die unterscheidet sich von dieser Gesell-
Botschaft scheinbar nicht verstehen kön- schaft. Er will nicht die Zeit der Men-
nen. Wer sind sie? Es sind diejenigen, schen verschwenden, um über ein so un-
»die verloren gehen«. Warum werden sie würdiges Thema zu predigen. Sein The-
so verblendet? Die Antwort gibt uns der ma war »Christus Jesus« der »Herr«. Er
folgende Vers. wollte Männer und Frauen an den Punkt
4,4 Satan ist der Schuldige. Hier wird bringen, wo sie bereitwillig ihre Knie vor
er als »Gott dieser Welt« bezeichnet. Ihm Jesus Christus beugen und ihm die Ehre
ist es gelungen, den Ungläubigen eine als dem Herrn ihres Lebens geben.
Decke über den Verstand zu breiten. Er Der Apostel stellte sich und seine
will sie in ewiger Finsternis halten, »da- Mitarbeiter als »eure Sklaven um Jesu
mit sie den Lichtglanz des Evangeliums willen« vor. Damit gelang es ihm, mit sei-
von der Herrlichkeit des Christus, der nen Mitarbeitern im Hintergrund zu
Gottes Bild ist, nicht sehen« und errettet bleiben. Sie waren nur Sklaven, bereit,
werden. auf jede Art zu helfen, die Menschen
In unserem materiellen Universum zum Herrn Jesus führen würde.
scheint die Sonne immer. Wir sehen sie 4,6 Paulus vergleicht hier die Bekeh-
zwar nicht immer, doch liegt der Grund rung eines Sünders mit der Erschaffung
darin, daß etwas zwischen uns und der des Lichtes zu Beginn der Schöpfung.
Sonne steht. Genauso ist es mit dem Gott befahl anfangs: »Aus Finsternis
Evangelium. »Der Lichtglanz des Evan- soll Licht leuchten!« Er sagte: »Es werde
geliums« scheint immer. Gott versucht Licht! Und es wurde Licht« (1. Mose 1,3).
immer, in die Herzen von Menschen Nun sagt Paulus hier, daß derselbe
Licht zu bringen. Doch Satan schiebt ver- »Gott«, der im Anfang befahl: »Aus Fin-

796
2. Korinther 4

sternis soll Licht leuchten! … in unseren G. Ein irdenes Gefäß mit


Herzen aufgeleuchtet ist.« Das ist eine himmlischer Bestimmung (4,7-18)
sehr schöne Aussage. Bei der ersten 4,7 Nachdem er über seine Verpflichtung
Schöpfung befahl Gott, daß das Licht schei- gesprochen hat, die Botschaft zu ver-
nen solle. Doch in der neuen Schöpfung deutlichen, denkt der Apostel Paulus
scheint »Gott« selbst in unsere Herzen nun an das menschliche Werkzeug, dem
hinein. Wieviel persönlicher ist das doch! der wunderbare Schatz des Evangeliums
Die Ereignisse zu Beginn des 1. Bu- übergeben wird. Der »Schatz« ist die
ches Mose sind ein Bild für die neue herrliche Botschaft des Evangeliums. Da-
Schöpfung. Gott schuf den Menschen ur- gegen ist das »irdene Gefäß« der verletz-
sprünglich im Zustand der Unschuld. liche menschliche Leib. Der Kontrast
Doch die Sünde kam in die Welt, und mit zwischen beiden ist groß. Das Evangeli-
ihr große Finsternis. um ist wie ein wertvoller Diamant, der,
Wenn das Evangelium gepredigt ganz gleich, wie man ihn dreht, wunder-
wird, dann bewegt der Geist Gottes das voll glitzert. Es ist erstaunlich, daß solch
Herz des Menschen, wie er die Ober- ein wertvoller Diamant einem solch
fläche der Tiefe nach der ursprünglichen schwachen, zerbrechlichen Tongefäß an-
Schöpfung bewegte. vertraut wird!
Dann erleuchtet Gott das Herz dieses Irdene Gefäße, zerschrammt,
Menschen und zeigt ihm, daß er ein unansehnlich,
schuldiger Sünder ist und einen Erlöser bergen in sich einen unerhörten
benötigt. »Die materielle Schöpfung im Reichtum.
1. Buch Mose begann mit dem Licht. Das- Himmlischer Schatz, der leuchtend
selbe gilt auch für die geistliche Schöp- glitzert –
fung. Durch den Heiligen Geist ›leuchtet Christus den Heiligen auf Erden
Gott in unsere Herzen‹ und damit be- offenbart!
ginnt das geistliche Leben« (sinngemäß). Irdene Gefäße, zerbrochen, schwach,
Der Vers erklärt nun weiter, warum doch bergen sie
Gott »in unseren Herzen aufgeleuchtet durch die sehnsuchtsvollen Jahrhunderte
ist«. Es geht nicht nur darum, daß uns der hindurch
»Lichtglanz der Erkenntnis der Herrlich- Reichtum, der mit verschwenderischer
keit Gottes« geschenkt wird, sondern daß Hand gespendet ist,
dieser Lichtglanz auch andere erhellt. Gottes großes Geschenk, seinen geliebten
Das wird in LU1984 deutlicher, wo es Sohn.
heißt: »… daß durch uns entstünde die Wären wir doch leerer, kleiner
Erleuchtung zur Erkenntnis der Herrlich- unbedeutender, unbeachtet und
keit Gottes in dem Angesicht Jesu Chri- unbekannt
sti.« »Wir sind nicht die Empfangsstatio- und für Gott ein heiligeres Gefäß
nen des Segens und der Erziehung Got- erfüllt von Christus und nur von ihm!
tes, sondern ihre Kanäle« (sinngemäß). Nichts Irdisches soll die Herrlichkeit
Eine Verbildlichung dieses Vorgangs verhüllen!
in der Bibel ist das Leben des Paulus Kein Selbst das Licht trüben!
selbst. Auf der Straße nach Damaskus Wir wollen die wunderbare Geschichte
leuchtete Gott in sein Herz. Paulus er- Christi erzählen
kannte, daß der, den er gehaßt hatte und Zerbrochen, leer – doch erfüllt von ihm.
von dem er meinte, daß er in einem jüdi- Tr. Frances Bevan
schen Grab begraben sei, der Herr der Warum hat Gott es so bestimmt, daß
Herrlichkeit ist. Von diesem Tag an ging »dieser Schatz in irdenen Gefäßen« sein
er hinaus, um den »Lichtglanz der Er- soll? Die Antwort lautet: »damit die
kenntnis der Herrlichkeit Gottes«, wie er überragende Größe der Kraft von Gott
»im Angesicht Jesu Christi« zu finden ist, sei und nicht aus uns.« Gott möchte
zu verbreiten. nicht, daß man sich mit dem mensch-

797
2. Korinther 4

lichen Werkzeug statt mit Gottes Macht gibt. Dem äußeren Anschein nach sieht
und Größe beschäftigt. Deshalb übergibt man nichts als Schwäche, doch in Wirk-
er die Botschaft des Evangeliums ab- lichkeit finden wir unvergleichliche Kraft.
sichtlich schwachen, oftmals unansehn- Wenn Paulus sagt: »In allem sind wir
lichen Menschen. Alles Lob und alle Ehre bedrängt, aber nicht erdrückt«, so meint
sollen dem Schöpfer gelten und nicht er damit, daß obwohl er ständig durch
dem Geschöpf. Widerwärtigkeiten und Schwierigkeiten
Es ist eine geheime Freude zu sehen, »bedrängt« wird, er jedoch nicht gehin-
daß die Aufgabe, die wir erhalten, dert ist, die Botschaft weiterzusagen.
unsere Kraft übersteigt, »Keinen Ausweg sehend, aber nicht
weil so, wenn daraus Gutes entsteht ohne Ausweg.« Vom menschlichen
eindeutig nur Er das Lob empfängt, Standpunkt aus gesehen, wußte Paulus
nicht wir. oft nicht, ob es überhaupt eine Lösung
Houghton für seine Probleme gab, und doch erlaub-
Jowett sagt: te es ihm der Herr nicht, daß er in eine
Etwas stimmt nicht, wenn das Gefäß den wirklich ausweglose Lage geriet. Er
Schatz seiner Herrlichkeit beraubt, wenn die brauchte nie zu verzweifeln.
Hülle mehr Aufmerksamkeit erregt als das 4,9 »Verfolgt, aber nicht verlassen.«
Juwel, das darin verborgen liegt. Alles ist ver- Manchmal konnte Paulus die Speerspit-
dreht, wenn das Bild erst den zweiten Platz ze des Feindes im Rücken fühlen, doch
nach dem Rahmen einnimmt und wenn das der Herr überließ ihn nie seinen Feinden.
Geschirr, das beim Fest benutzt wird, an die »Niedergeworfen, aber nicht vernichtet«
Stelle des Mahles tritt. Es liegt etwas tödli- bedeutet, daß Paulus oft im Kampf ver-
ches im christlichen Dienst, wenn die ȟber- wundet wurde, der Herr ihn jedoch
ragende Größe der Kraft« von uns und nicht immer wieder aufrichtete, damit er für
von Gott ist. Solche Größe ist sehr vergäng- die herrliche Nachricht des Evangeliums
lich und sie wird wie das grüne Gras schnell weiterkämpfen konnte.
19)
verdorren und in Verwesung übergehen. Hfa übersetzt die Verse 8 und 9 fol-
Als Paulus Vers 7 niedergeschrieben gendermaßen: »Denn obwohl uns die
hat, hat er mit Sicherheit an ein Ereignis in Schwierigkeiten von allen Seiten bedrän-
Richter 7 gedacht. Dort wird berichtet, wie gen, lassen wir uns nicht von ihnen über-
Gideon seine Armee mit Trompeten und wältigen. Wir sind oft ratlos, aber nie ver-
Fackeln, die in leeren Krügen verborgen zweifelt. Von Menschen werden wir ver-
waren, ausrüstete. Beim vereinbarten Sig- folgt, aber bei Gott finden wir Zuflucht.
nal mußten seine Männer die Trompeten Wir werden zu Boden geschlagen, aber
blasen und die Krüge zerbrechen. Als die wir kommen dabei nicht um.«
Krüge zerbrachen, leuchteten die Fackeln Wir mögen uns fragen, warum der
hell. Das erschreckte den Feind. Sie waren Herr es zuließ, daß sein Knecht sich sol-
der Ansicht, daß eine riesige Armee hinter chen Prüfungen und Anfechtungen un-
ihnen her war, nicht nur dreihundert terziehen mußte. Wir würden meinen, er
Mann. Die Lehre daraus lautet, daß ge- hätte dem Herrn besser dienen können,
nauso, wie in Gideons Fall das Licht erst wenn sein Weg von Hindernissen frei
dann scheinen konnte, als die Krüge zer- gewesen wäre. Doch die Schrift lehrt das
brochen waren, es mit dem Evangelium Gegenteil. Gott hält es in seiner wunder-
ist. Nur wenn menschliche Werkzeuge baren Weisheit für angebracht zuzulas-
zerbrochen und dem Herrn hingegeben sen, daß seine Knechte durch Krankheit,
sind, kann das Evangelium durch uns in Leid, Anfechtung, Verfolgung, Schwie-
all seiner Herrlichkeit erstrahlen. rigkeiten und ausweglos scheinende
4,8 Der Apostel fährt nun fort zu er- Situationen gehen müssen. Alles das ist
klären, daß es dadurch, daß der Schatz in dazu bestimmt, die irdischen Krüge zu
irdene Gefäße gegeben ist, einerseits Nie- zerbrechen, damit das Licht des Evange-
derlage, doch andererseits ständigen Sieg liums noch heller scheint.

798
2. Korinther 4

4,10 Das Leben eines Knechtes Gottes trug es, weil die Korinther ihr Leben dem
besteht im ständigen »Sterben«. Genauso Herrn Jesus anvertraut hatten und nun
wie der Herr Jesus selbst zu seiner Zeit auf ewiges Leben besaßen. Alle körperlichen
der Erde ständig der Gewalt und der Ver- Leiden und Verluste des Paulus bedeute-
folgung ausgesetzt war, so werden dieje- ten geistlichen Gewinn für andere. Ro-
nigen, die in seine Fußstapfen treten, die- bertson sagt. »Sein Sterben wirkte sich
selbe Behandlung erfahren. Doch das be- zum Guten derer aus, denen sein Dienst
20)
deutet keine Niederlage. Das ist der Weg galt.«
des Siegers. Andere Menschen werden Oftmals tendieren wir dazu, den
durch unser tägliches »Sterben« gesegnet. Herrn in Krankheit anzurufen, ihn zu
Nur auf diese Weise kann das »Leben bitten, uns von der Krankheit zu be-
Jesu« an unseren Leibern offenbar wer- freien, damit wir ihm besser dienen kön-
den. »Das Leben Jesu« bedeutet hier nen. Vielleicht sollten wir Gott manch-
nicht in erster Linie sein Leben als mal für solche Anfechtungen in unserem
Mensch auf Erden, sondern sein gegen- Leben danken und uns unserer Schwach-
wärtiges Leben als der erhöhte Sohn Got- heit rühmen, damit die Kraft Christi auf
tes im Himmel. Wie kann die Welt das uns ruhen kann.
Leben Christi sehen, wenn er heute nicht 4,13 Der Apostel hat von der dauern-
mehr persönlich oder leiblich in dieser den Zerbrechlichkeit und Schwäche des
Welt zugegen ist? Die Antwort lautet, menschlichen Gefäßes gesprochen, dem
daß sein Leben, wenn wir als Christen im das Evangelium anvertraut ist. Welche
Dienst des Herrn leiden, »an unserem Haltung nimmt er nun dazu ein? Ist er
Leibe offenbar« wird. besiegt, entmutigt oder verzweifelt? Die
4,11 Dieser Gedanke des Lebens, das Antwort lautet nein. Der Glaube ermög-
aus dem »Tod« entspringt, wird in Vers 11 licht es ihm, weiter das Evangelium zu
nun weitergeführt. Das ist eines der tief- predigen, weil er weiß, daß hinter den
gründigsten Prinzipien unserer Existenz. Leiden seines Lebens unaussprechliche
Das Fleisch, das wir essen und von dem Herrlichkeit für ihn bereitliegt.
wir leben, erhalten wir durch den Tod In Psalm 116,10 sagt der Psalmist:
von Tieren. Genauso ist es auf geistlichem »Ich habe geglaubt, darum habe ich gere-
Gebiet. »Das Blut der Märtyrer ist der det.« Er hat auf den Herrn vertraut, und
Same der Kirche.« Je mehr eine Gemein- deshalb war das, was er sagte, das Ergeb-
de verfolgt und angefochten wird, desto nis eines tiefgegründeten Glaubens. Pau-
mehr verbreitet sich das Evangelium. lus sagt hier nun, daß dasselbe für ihn
Und doch ist diese Wahrheit für uns gilt. Er hat denselben Geist des Glaubens
nur schwer anzunehmen. Wenn ein Die- wie der Psalmist, als er diese Worte
ner des Herrn angegriffen wird, dann sprach. Paulus sagt: »So glauben auch
denken wir meist, daß es sich um eine wir, darum reden wir auch.«
Tragödie handelt. In Wirklichkeit ist das Die Anfechtungen und Verfolgungen
Gottes normale Handlungsweise. Es ist im Leben des Paulus versiegelten seine
keine Ausnahme. Wir werden von Gott Lippen nicht. Wo immer wir echten
ständig »dem Tod … um Jesu willen« Glauben finden, muß er sich ausdrücken.
ausgesetzt, weil er auf diese Weise »das Er kann nicht schweigen.
Leben Jesu an unserem sterblichen Wenn du auf Jesus Christus vertraust
Fleisch« offenbart. mußt du ganz gewiß von ihm reden,
4,12 Hier faßt der Apostel alles zu- auch wenn es dich bis in den Staub
sammen, was er darüber gesagt hat, daß demütigt,
durch sein ständiges Leiden »das Leben« wenn du ihn liebst, dann sage es auch.
zu den Korinthern gekommen ist. Damit Wenn du an Jesus glaubst,
Paulus überhaupt das Evangelium nach und den Erlöser angenommen hast,
Korinth bringen konnte, mußte er unzäh- dann zög’re nicht, sondern sag es,
lige Leiden auf sich nehmen. Doch er er- sonst wirst du den Geist betrüben.

799
2. Korinther 4

4,14 Wenn es uns seltsam erscheint, Die Tatsache, daß »unser äußerer
daß Paulus nicht von der ständigen To- Mensch aufgerieben wird«, benötigt kei-
desgefahr erschüttert war, dann finden ne Erklärung. Wir sehen es alle nur zu
wir die Lösung dieses Problems in Vers deutlich an unserem eigenen Leib! Pau-
14. Das ist das Geheimnis seiner Furcht- lus freut sich hier der Tatsache, daß Gott
losigkeit bei der Verbreitung der christli- täglich Nachschub an Kraft für unseren
chen Botschaft. Er wußte, daß dieses christlichen Dienst liefert. Deshalb
Leben nicht alles ist. Er wußte, daß auf stimmt es, was Michelangelo einmal
den Gläubigen mit Sicherheit die Aufer- gesagt hat: »Je mehr Marmor ich
stehung wartet. Derselbe Gott, »welcher wegschlage, desto weiter wächst das
den Herrn Jesus auferweckt hat«, würde Kunstwerk.«
»auch« den Apostel Paulus »mit Jesus Ironside kommentiert:
auferwecken und« ihn zusammen mit Man sagt, daß unser Leib alle 7 Jahre ein-
den Korinthern »vor sich stellen«. mal ausgetauscht wird. Doch haben wir das
4,15 Mit der sicheren und festen Hoff- Bewußtsein, dieselbe Person zu sein. Unsere
nung auf die Auferstehung vor Augen Personalität bleibt über die Jahre hinweg
war der Apostel gewillt, sich auch unverändert, und das wird auch bei der noch
schrecklichen Entbehrungen zu unterzie- viel größeren Veränderung, die wir noch er-
hen. Er wußte, daß solches Leiden eine warten, so sein. Im Schmetterling und in der
21)
zweifache Folge haben würde. Entbeh- Raupe ist dasselbe Leben.
rungen würden für die Korinther zum 4,17 Nachdem wir von den schreckli-
Segen werden und damit würde »durch chen Anfechtungen gelesen haben, die
eine immer größere Zahl die Danksa- der Apostel Paulus erlitten hat, mag es
gung zur Ehre Gottes überströmen«. Die- für uns schwer verständlich sein, wie er
se beiden Gründe trieben Paulus in sei- von ihnen als »vorübergehend« und
nem Handeln an. Ihm war es ein Anlie- leicht sprechen konnte. In gewissem Sin-
gen, daß »Gottes Ehre« vermehrt und ne waren sie nämlich alles andere als
andere Menschen gesegnet wurden. leicht. Sie waren bitter und grausam.
Paulus erkannte, daß, je mehr er Doch die Erklärung liegt in dem Ver-
selbst litt, andere umso mehr »die Gna- gleich, den Paulus hier macht. Die An-
de« Gottes erfahren würden. Je mehr fechtungen an sich können sehr schlimm
Menschen gerettet werden, desto mehr sein, doch wenn man sie mit dem ȟber-
»Danksagung« wird zu »Gott« aufstei- reichen, ewigen Gewicht von Herrlich-
22)
gen. Und je mehr »Danksagung« zu Gott keit« vergleicht, das vor uns liegt, dann
aufsteigt, desto mehr wird Gott auch ver- haben sie eine gewisse »Leichte«. Auch
herrlicht. geht diese »leichte … Drangsal« schnell
Hfa scheint mir den Sinn dieses Ab- vorüber, während die Herrlichkeit
schnittes besonders gut zu umschreiben: »ewig« sein wird. Alles, was wir aus den
Alle Entbehrungen aber ertragen wir für Anfechtungen in dieser Welt lernen,
euch. Denn je mehr Menschen für Christus wird in der kommenden Welt für uns die
gewonnen werden, um so mehr werden Gott reichsten Früchte tragen.
danken und ihn über alles ehren. Moorehead beobachtet: »Ein wenig
4,16 Paulus hat seine Bereitschaft Freude kommt in dieser Welt zu uns,
erklärt, sich allen Arten von Leid und Ge- dagegen werden wir einst in die Freude
fahr zu unterziehen, weil er vor sich die eingehen. Hier erhalten wir einige Trop-
sichere Hoffnung auf die Auferstehung fen, doch auf uns wartet einst ein ganzer
23)
sah. »Deshalb« ermattete er »nicht«. Ob- Ozean.«
wohl einerseits der Prozeß des leiblichen Wie F. E. Marsh entdeckt hat, findest
Verfalls ständig fortschritt, so stand doch sich in diesem Brief eine Pyramide, die
auf der anderen Seite geistliche Erneue- den müden Erklimmer nicht noch weiter
rung, die es ihm ermöglichte, trotz aller ermüdet, sondern seiner Seele unaus-
widriger Umstände weiterzumachen. sprechliche Ruhe und Tröstung bringt.

800
2. Korinther 4 und 5

Herrlichkeit keine feste, sondern eine tragbare Behau-


Gewicht von Herrlichkeit sung für Pilger und Reisende.
ewiges Gewicht von Herrlichkeit Paulus spricht davon, daß der Tod
überreiches, ewiges Gewicht von Herrlichkeit dieses »Zelthaus« zerstört. Zur Zeit un-
über die Maßen überreiches, ewiges Gewicht seres Todes wird das Zelt abgebrochen.
24)
von Herrlichkeit Der Leib wird ins Grab gelegt, während
4,18 In diesem Vers beschreibt das der Geist und die Seele des Gläubigen
Wort »anschauen« nicht einfach das nor- zum Herrn gehen.
male Schauen mit den leiblichen Augen, Paulus beginnt das Kapitel mit der
sondern es geht hier um die Vorstellung, Versicherung, daß er, wenn dieses »irdi-
etwas als wichtig zu erachten. Das sche Zelthaus« einmal »zerstört« werden
»Sichtbare« ist nicht das Ziel der mensch- sollte, weiß, daß er »einen Bau von Gott«
lichen Existenz. Das »Sichtbare« bezeich- hat und »ein nicht mit Händen gemach-
net hier in erster Linie die Entbehrungen, tes, ewiges Haus in den Himmeln« be-
die Versuchungen und die Leiden, die sitzt. Man beachte den Unterschied zwi-
Paulus erduldete. Sie gehörten zu seinem schen dem »Zelthaus« und dem »Bau«.
Dienst, doch das Ziel seines Dienstes war Das zeitweilige »Zelthaus« wird abge-
das »Unsichtbare«. Dazu gehört, Chri- brochen, aber ein neues, dauerhaftes
stus zu verherrlichen, für die Mitmen- Haus wartet schon im Land des Him-
schen ein Segen zu sein und die Beloh- mels auf den Gläubigen. Dieses ist ein
nung, die den treuen Knecht Christi am »Bau von Gott«, und zwar in dem Sinne,
Richterstuhl Christi erwartet. daß Gott ihn uns gibt.
Jowett kommentiert: Außerdem ist es ein »nicht mit Hän-
Das [Sichtbare] zu sehen ist reines sehen, den gemachtes … Haus«. Warum er-
das [Unsichtbare] zu sehen ist einsehen. Die wähnt Paulus das? Auch unsere jetzigen
erste Art der Erkenntnis ist natürlich, die Leiber sind nicht mit Händen gemacht,
zweite geistlich. Das Hilfsmittel der Erkennt- warum sollte er also betonen, daß unsere
nis im ersten Fall ist der Verstand, im zwei- zukünftigen, verherrlichten Leiber nicht
ten Fall der Glaube … In der gesamten mit Händen gemacht sind? Die Antwort
Schrift wird uns dieser Kontrast zwischen lautet, daß der Ausdruck »nicht mit Hän-
sehen und einsehen gezeigt, und wir werden den gemacht« bedeutet, daß die Leiber
überall gelehrt, die Unzulänglichkeit und nicht von dieser Schöpfung sind. Das
Schäbigkeit des einen zu erkennen und die wird in Hebräer 9,11 verdeutlicht, wo wir
Fülle und Ausdehnung des anderen höher zu lesen: »Christus aber ist gekommen als
25)
achten. Hoherpriester der zukünftigen Güter
und ist durch das größere und vollkom-
H. Leben angesichts des menere Zelt – das nicht mit Händen ge-
Richterstuhles Christi (5,1-10) macht, das heißt nicht von dieser Schöpfung
Die folgenden Verse sind mit dem Vor- ist.« Paulus will in 2. Korinther 5,1 sagen,
hergehenden eng verbunden. Paulus hat daß zwar unsere gegenwärtigen Leiber
von seinen gegenwärtigen Leiden und für ein Leben auf dieser Erde geeignet
Sorgen gesprochen und von der vor ihm sind, daß aber unsere zukünftigen, ver-
liegenden zukünftigen Herrlichkeit. Das herrlichten Leiber nicht zu dieser Schöp-
bringt ihn nun auf das Thema Tod. In fung gehören. Sie werden ganz besonders
diesem Abschnitt haben wir eine der für das Leben im Himmel geeignet sein.
großartigsten Abhandlungen über den Der zukünftige Leib des Gläubigen
Tod und das Verhältnis des Christen zu wird als »ewig … in den Himmeln«
ihm, die wir im ganzen Wort Gottes beschrieben. Er ist ein Leib, der nicht län-
finden. ger der Krankheit, der Vergänglichkeit
5,1 In Vers 1 bezeichnet der Apostel und dem Tod unterworfen ist, sondern
unseren gegenwärtigen sterblichen Leib einer, der in unserer himmlischen Hei-
als »irdisches Zelthaus«. Ein »Zelt« ist mat für immer bestehen bleiben wird.

801
2. Korinther 5

Es mag so klingen, als ob dieser Vers aus dem Himmel überkleidet zu


aussagen würde, daß der Gläubige den werden«.
Leib im Augenblick seines Todes erhält, In diesem Vers scheint der Apostel
doch das ist nicht der Fall. Er erhält sei- von seinem Bild des Zeltes zu dem der
nen verherrlichten Leib erst, wenn Jesus Kleidung überzugehen. Jemand hat vor-
für seine Gemeinde wiederkommt geschlagen, daß das so zu erklären sei,
(1. Thess 4,13-18). Dem Gläubigen wider- Paulus habe als Zeltmacher erkannt, daß
fährt folgendes: Wenn er stirbt, dann für Kleidung und Zelte ähnliches Materi-
gehen sein Geist und seine Seele zu Chri- al verwendet wird. Jedenfalls wird die
stus, wo er voller Bewußtsein die Herr- Bedeutung klar, daß er sich danach sehn-
lichkeit des Himmels genießen kann. te, seinen verherrlichten Leib zu erhalten.
Sein Leib wird ins Grab gelegt. Wenn der 5,3 Was bedeutet das Wort »nackt« in
Herr wiederkommt, dann wird der Staub diesem Vers? Bedeutet das, daß derjenige
aus dem Grab auferweckt und Gott wird nicht errettet ist und deshalb ohne Be-
diesen Staub zu einem neuen, verherr- deckung durch die Gerechtigkeit vor
lichten Leib machen, der dann mit dem Gott stehen muß? Heißt das, daß dieser
Geist und der Seele wieder vereinigt Mensch zwar errettet ist, aber keine Be-
wird. Zwischen dem Tod und dem Kom- lohnung beim Richterstuhl Christi erhal-
men Christi für seine Heiligen kann man ten wird? Oder bedeutet das, daß der Ge-
vom Gläubigen sagen, daß er sich in rettete keinen Leib zwischen der Zeit sei-
einem entleibten Zustand befindet. Den- nes Todes und der Auferstehung hat,
noch bedeutet das nicht, daß er nicht die und daß er in dem Sinne nackt ist, daß er
Freude und Herrlichkeit des Himmels ein entleibter Geist ist?
genießen könnte. Er ist sich all dieser Der Autor versteht den Ausdruck so,
Dinge vollständig bewußt! daß hier »entleibt« oder unbekleidet ge-
Ehe wir Vers 1 verlassen, sollten wir meint ist. Paulus sagt hier, daß er sich
erwähnen, daß es drei grundsätzliche nicht so sehr nach dem Tod sehnt und
Möglichkeiten der Deutung des Aus- nach dem entleibten Zustand, der da-
drucks »nicht mit Händen gemachtes, nach folgt, sondern eher nach der Wie-
ewiges Haus in den Himmeln« gibt. derkunft des Herrn Jesus Christus, bei
1. Der Himmel selbst. der alle, die gestorben sind, ihren ver-
2. Eine Art Übergangsleib zwischen Tod herrlichten Leib erhalten werden.
und Auferstehung. 5,4 Daß die Interpretation von Vers 3
3. Der verherrlichte Leib. richtig ist, scheint uns durch Vers 4 unter-
Das Haus kann kaum der Himmel stützt zu werden. Der Apostel sagt hier,
selbst sein, weil von ihm gesagt wird, daß »wir freilich, die in dem« gegenwär-
daß es in den Himmeln »ewig« und »aus tigen irdischen »Zelt sind, beschwert
dem Himmel« sei (Kap. 5,2). Über einen seufzen, weil wir nicht entkleidet, son-
Übergangsleib sagt die Schrift nichts. dern überkleidet werden möchten, damit
Außerdem wird von dem nicht mit Hän- das Sterbliche verschlungen werde vom
den gemachten Haus ausgesagt, daß es Leben«. Mit anderen Worten, er wartete
im Himmel ewig ist, und das gilt für nicht auf einen Zustand zwischen Tod
einen Übergangsleib nicht. Die dritte und Entrückung als ideale Hoffnung des
Interpretation – daß mit dem Haus der Gläubigen, sondern auf das, was bei der
Auferstehungsleib gemeint ist – scheint Entrückung geschieht, wenn die Gläubi-
uns die korrekte Deutung zu sein. gen sofort einen Leib empfangen wer-
5,2 »In diesem« gegenwärtigen den, der nicht länger dem Tod unterwor-
sterblichen Leib sind wir oft gezwungen fen ist.
zu »seufzen«, weil er uns so beschränkt 5,5 Es ist »Gott, … der uns aber eben«
und uns in unserem geistlichen Leben zu diesem Zweck »bereitet hat«, nämlich
behindert. Wir »sehnen uns« deshalb der Erlösung des Leibes. Das wird der
sehr »danach, mit unserer Behausung Höhepunkt seiner herrlichen Ziele für

802
2. Korinther 5

uns sein. Gegenwärtig sind wir nur an In den vorhergehenden Versen hat er
Geist und Seele erlöst, doch dann wird gesagt, daß er sich nach dem verherrlich-
die Erlösung auch den Leib mit ein- ten Leib sehne. Doch nun sagt er, daß er
schließen. Man denke nur daran – Gott gewillt sei, »lieber ausheimisch vom Leib
hat uns mit diesem Ziel geschaffen – dem und einheimisch beim Herrn« zu sein, d.
verherrlichten Zustand – »ein nicht mit h., daß er lieber den entleibten Zustand
Händen gemachtes, ewiges Haus in den hätte, in dem er sich zwischen dem Tod
Himmeln«! und der Entrückung befinden wird.
Und wie können wir sicher sein, daß Doch da besteht kein Widerspruch.
wir einen verherrlichten Leib erhalten Es gibt für den Christen drei Möglichkei-
werden? Die Antwort lautet, daß »Gott ten, und es hängt einfach davon ab, wel-
… uns das Unterpfand des Geistes gege- che am meisten bevorzugt wird. Einmal
ben hat«. Wie schon weiter oben erklärt, gibt es das gegenwärtige Leben auf der
ist die Tatsache, daß in jedem Gläubigen Erde in unserem sterblichen Leib. Dann
der Geist Gottes wohnt, ein Angeld dar- gibt es den Zustand zwischen dem Tod
auf, daß alle Verheißungen Gottes an den und dem Kommen Christi, einen entleib-
Gläubigen erfüllt werden. Er ist ein ten Zustand, doch genießt der Geist und
»Unterpfand« des Kommenden. Der die Seele dann schon bewußt die Gegen-
Geist Gottes selbst ist eine Garantie da- wart Christi. Und schließlich gibt es noch
für, daß das, was Gott uns bereits teilwei- die Vollendung unserer Erlösung, wenn
se gegeben hat, eines Tages völlig uns wir unseren verherrlichten Leib erhalten,
gehören wird. wenn der Herr Jesus wiederkommt. Pau-
5,6 Nur der feste Glaube an diese lus lehrt in diesem Abschnitt einfach,
kostbaren Wirklichkeiten ermöglichte es daß der erste Zustand gut ist, der zweite
Paulus, immer guten Mutes zu bleiben. besser und der dritte der beste.
Er wußte, daß er, solange er »einheimisch 5,9 Der Gläubige sollte es sich zum
im Leib« war, er gleichzeitig »aushei- Ziel machen, dem Herrn »wohlgefällig
misch … vom Herrn« war. Das war für zu sein«. Während die Erlösung nicht
Paulus sicher nicht der Idealzustand, von den Werken abhängt, wird sein zu-
doch er war bereit, das zu ertragen, da- künftiger Lohn direkt proportional zu
mit er Christus hier auf Erden dienen seiner Treue dem Herrn gegenüber sein.
konnte und eine Hilfe für das Volk Gottes Ein Gläubiger sollte immer im Gedächt-
war. nis behalten, daß Glaube mit Erlösung
5,7 Die Tatsache, daß wir »durch und Werke mit Lohn zusammenhängen.
Glauben wandeln, nicht durch Schauen« Er ist im Glauben durch die Gnade erlöst,
ist ein ausreichender Beweis dafür, daß nicht durch Werke, doch wenn er erlöst
wir nicht beim Herrn sind. Wir haben ist, sollte er sich bemühen, gute Werke zu
den Herrn nie mit unseren leiblichen tun, und wenn er das tut, wird er dafür
Augen gesehen. Solange wir in diesem belohnt.
Leib zuhause sind, führen wir ein Leben, Man beachte, daß Paulus, »ob einhei-
das weniger eng und vertraut ist als das misch oder ausheimisch, ihm wohlgefäl-
eigentliche Leben des Schauens. lig … sein« wollte. Das bedeutet, daß er
5,8 Vers 8 nimmt den Gedanken von so diente, daß es dem Herrn gefiel, ob
Vers 6 auf und vervollständigt ihn. Pau- nun hier auf der Erde oder ob er vor dem
lus ist guten Mutes in bezug auf die Richterstuhl Christi stand.
segensreiche Hoffnung, die vor ihm liegt, 5,10 Ein Motiv dafür, daß wir uns
und er kann sagen, daß er »lieber aushei- bemühen, »ihm wohlgefällig zu sein« ist,
misch vom Leib und einheimisch beim daß »wir … alle vor dem Richterstuhl
Herrn« sei. Er hat, was Bernard ein Christi offenbar werden« müssen. Es
»himmlisches Heimweh« genannt hat. geht hier eben nicht nur um ein Erschei-
Mit diesem Vers scheint der Apostel nen, sondern um das »offenbar werden«.
dem vorher Gesagten zu widersprechen. Hfa sagt ganz richtig: »Denn einmal wer-

803
2. Korinther 5

den wir uns alle vor Jesus Christus als Weil wir die Furcht »des Herrn kennen«,
unserem Richter verantworten müssen.« versuchen wir »Menschen« zu »überreden«,
Es ist etwas ganz anderes, ob wir nur daß wir als Diener Christi rechtschaffen und
einen Arztbesuch machen, oder ob wir ehrlich sind. Doch ob es uns gelingt, sie zu
dort auch durchleuchtet werden. Der überzeugen oder nicht, »Gott … sind wir«
»Richterstuhl Christi« wird unser Leben wohlbekannt. Und wir hoffen, daß das auch
des Dienstes für Christus so offenbar im »Gewissen« der Korinther so sein wird!
machen, wie es gewesen ist. Es geht Diese Erklärung scheint am besten
dabei nicht nur um die Menge, sondern zum Zusammenhang zu passen.
auch um die Qualität des Dienstes, und 5,12 Sofort erkennt Paulus, daß das
sogar die Motive, die uns dazu geführt eben Gesagte ihm als Eigenlob ausgelegt
haben, werden noch einmal betrachtet werden könnte. Er möchte jedoch nicht,
werden. daß jemand denkt, er gefalle sich ausge-
Obwohl die Sünden nach der Bekeh- rechnet darin. Und so fügt er hinzu: »Wir
rung unseren Dienst beeinflussen, wer- empfehlen uns nicht wieder selbst bei
den die Sünden des Gläubigen zu diesem euch.« Das bedeutet nicht, daß er sich
so wichtigen Zeitpunkt nicht mehr zur ihnen je selbst empfohlen hätte, doch er
Debatte stehen. Das Gericht über sie hat war angeklagt worden, ab und zu so ge-
vor über 1900 Jahren stattgefunden; als handelt zu haben. Er versucht hier, ihnen
der Herr Jesus unsere Sünden an seinem diese Vorstellung zu nehmen.
Leib auf das Kreuz hinauftrug. Er hat die Warum hat er dann seinen Dienst so
Schuld, die wir für unsere Sünden ver- ausführlich verteidigt? Die Antwort des
dient hätten, voll bezahlt, und Gott wird Paulus lautet: Wir »geben euch Anlaß
über sie nie wieder Gericht halten zum Ruhm unseretwegen, damit ihr ihn
(Joh 5,24). Der »Richterstuhl Christi« hat habt bei denen, die sich nach dem Anse-
mit unserem Dienst für den Herrn zu hen rühmen und nicht nach dem Her-
tun. Es geht dann nicht darum, ob wir zen«. Er war nicht daran interessiert, sich
gerettet sind oder nicht, weil dies schon selbst zu empfehlen. Er erkannte aber,
eine sichere Tatsache ist. Doch geht es zu daß er von den falschen Lehrern vor den
dieser Zeit um Belohnung oder Verlust. korinthischen Gläubigen scharf kritisiert
wurde. Er wollte, daß die Gläubigen
I. Das gute Gewissen des Paulus wußten, wie sie diesen Angriffen auf ihn
bezüglich seines Dienstes (5,11–6,2) begegnen sollten, und deshalb gab er
5,11 Allgemein geht man davon aus, daß ihnen diese Information, damit sie in der
dieser Vers bedeutet, daß Paulus, weil er Lage wären, ihn zu verteidigen, wenn er
sich des schrecklichen Gerichtes über die in ihrer Gegenwart verurteilt würde.
Sünde und der Schrecken der Hölle be- Er beschreibt seine Kritiker als solche,
wußt war, überall hinging, und versuch- »die sich nach dem Ansehen rühmen
te, die Menschen dazu zu bringen, das und nicht nach dem Herzen« (Vgl.
Evangelium anzunehmen. Das ist zwar 1. Sam 16,7). Mit anderen Worten, sie
wahr, doch glauben wir, daß dies nicht waren an Äußerlichkeiten interessiert,
die wichtigste Bedeutung dieses Ab- doch die innere Echtheit, Rechtschaffen-
schnittes ist. Paulus spricht hier nicht so heit und Ehrlichkeit fehlte ihnen. Die
sehr von den Schrecken des Herrn für die leibliche Erscheinung und Beredsamkeit
Ungläubigen, als von der ehrfürchtigen oder scheinbarer Eifer bedeuteten ihnen
Scheu, mit der er dem »Herrn« zu dienen alles. »Diesen ›Oberflächlern‹ bedeutete
und zu gefallen suchte. Der Apostel weiß äußere Erscheinung alles, während sie
ja, daß sein Leben vor Gott ein offenes ein rechtschaffenes Herz für unwichtig
Buch ist. Doch er möchte, daß auch die hielten« (sinngemäß).
Korinther von seiner Treue und Recht- 5,13 Aus diesem Vers scheint hervor-
schaffenheit im Dienst des Evangeliums zugehen, daß der Apostel sogar des Fana-
überzeugt sind. Er sagt praktisch: tismus, der Geisteskrankheit und ver-

804
2. Korinther 5

schiedener Formen der geistigen Ver- … gestorben«. Warum? Damit diejeni-


wirrtheit angeklagt wurde. Er leugnet gen, die durch den Glauben an ihn
nicht, daß er ein Leben führte, das Den- »leben, nicht mehr sich selbst leben, son-
ney einen Zustand »geistlicher Anspan- dern« ihm. Der Erlöser starb nicht für
nung« genannt hat. Er sagt einfach, daß uns, damit wir unser belangloses, selbst-
er, wenn er »außer« sich war, es »für süchtiges Leben auf die Weise weiter-
Gott« war. Alles, was seinen Kritikern als führen, wie es uns gefällt. Er starb für
Geistesverwirrung erschienen sein moch- uns, damit wir unser Leben ihm von nun
te, war in Wirklichkeit tiefste Hingabe an an in williger, freudiger Hingabe überge-
den Herrn. Er wurde vom Eifer für Gott ben. Denney erklärt:
regelrecht verzehrt. Wenn er andererseits Als Christus für uns starb, hat er eine so
»vernünftig« war, so war es um der Ko- großartige Liebestat vollbracht, daß wir ihm
rinther willen. Der Vers will, kurz gesagt, gehören sollten, und zwar für immer. Genau
ausdrücken, daß alles Verhalten des Pau- das war nämlich das Ziel seines Todes: Daß
26)
lus auf eine von zwei Arten gedeutet wer- wir ihm ganz gehören.
den konnte: Entweder war es Eifer für 5,16 Vielleicht bezieht sich Paulus
Gott, oder es ging ihm um das Wohlerge- hier auf Vers 12, wo er seine Kritiker
hen seiner Mitgläubigen. In beiden Fällen beschrieben hat, die sich des Äußeren
waren seine Motive alles andere als rühmen, nicht jedoch ihrer Herzensein-
selbstsüchtig. Konnten das seine Kritiker stellung. Nun nimmt er dieses Thema
auch von sich selbst behaupten? wieder auf, indem er lehrt, daß wir zu
5,14 Jeder, der das Leben des Apostels einer »neuen Schöpfung« (V. 17) werden,
studiert, wird sich fragen, was ihn dazu wenn wir zu Christus kommen. »Von
führte, so unermüdlich und selbstlos zu nun an« beurteilen wir Menschen nicht
dienen. Hier, in einem der großartigsten mehr auf fleischliche, weltliche Weise,
Abschnitte aller seiner Briefe, gibt er eine nach ihrem Aussehen, menschlichen
Antwort auf diese Frage – »die Liebe Zeugnissen oder nach ihrer Nationalität.
Christi«. Wir sehen in ihnen wertvolle Seelen, für
Bezieht sich »die Liebe Christi« hier die Jesus gestorben ist. Er fügt noch hin-
auf unsere Liebe zu ihm oder seine Liebe zu, daß er, obwohl er »Christus auch
zu uns? Es steht außer Frage, daß es um nach dem Fleisch gekannt« habe, d. h.
seine Liebe zu uns geht. Der einzige einfach als anderen Menschen, so kannte
Grund, warum wir ihn lieben ist, daß er er ihn doch nun nicht mehr auf diese
uns zuerst geliebt hat. Es ist seine Liebe, Weise. Mit anderen Worten: Zwar konnte
die uns »drängt«, uns weitertreibt, wie man Jesus als Nachbarn im Dorf Naza-
ein Mensch in einer Menge von Leuten reth kennen, oder als irdischen Messias,
weitergetrieben wird, die Weihnachts- doch war es etwas völlig anderes, den
einkäufe machen. Als Paulus über die verherrlichten Christus zu kennen, der
wunderbare »Liebe« nachdenkt, die gegenwärtig zur Rechten Gottes sitzt.
»Christus« ihm erzeigt hat, kann er nicht Wir kennen heute den Herrn Jesus viel
anders, als im Dienst für seinen wunder- genauer und besser, wenn er uns im Wort
vollen Herrn immer weitergetrieben zu durch den Heiligen Geist offenbart wird,
werden. als diejenigen ihn kennen konnten, die
Als Jesus für uns alle starb, handelte ihn nur nach seinem menschlichen
er als unser Stellvertreter. Als er starb, Äußeren beurteilt haben, als er noch als
sind wir somit »alle gestorben« – in ihm. Mensch auf der Erde lebte.
Genauso, wie Adams Sünde die Sünde David Smith kommentiert:
seiner Nachkommen wurde, so wurde Obwohl der Apostel einmal das jüdische
der Tod Christi der Tod derer, die an ihn Idealbild eines säkularen Messias vertreten
glauben (Röm 5,12-21; 1. Kor 15,21.22). hat, hat er nun eine weitaus erhabenere Vor-
5,15 Die Argumentation des Apostels stellung davon. Christus ist für ihn nun der
ist nicht anfechtbar. Christus ist »für alle auferstandene und verherrlichte Heiland, der

805
2. Korinther 5

wahrhaftig nicht nach dem Fleisch, sondern Durch den Tod des Herrn Jesus am Kreuz
nur nach dem Geist erkannt werden kann, überwand Gott in seiner Gnade die Distanz,
nicht durch historische Traditionen, sondern die die Sünde zwischen ihm und dem Men-
durch unmittelbare und lebendige Gemein- schen verursacht hatte, damit alles durch
27)
schaft. Christus vor ihm angenehm würde. Die
5,17 »Wenn jemand in Christus ist«, Gläubigen sind durch den Tod Christi schon
d. h. erlöst ist, »so ist er eine neue Schöp- versöhnt, damit sie heilig, untadelig und
fung«. Vor der Bekehrung mag man makellos vor ihn gestellt werden (als neue
andere mit menschlichen Maßstäben Schöpfung). Gott war in Christus, als Chri-
gemessen haben. Doch nun ist alles stus auf der Erde war, und die Welt mit sich
anders. »Alte« Methoden der Beur- selbst versöhnt hat. Er rechnete ihnen ihre
teilung sind »vergangen, siehe, Neues ist Übertretungen nicht zu. Doch nun, da die
geworden«. Liebe Gottes im Kreuz vollkommen offenbart
Dieser Vers ist ein Lieblingsvers worden ist, ist das Zeugnis weltweit hinaus-
derer, die erst kürzlich wiedergeboren gegangen, um Menschen zu drängen, sich
sind und er wird oftmals in persönlichen mit Gott versöhnen zu lassen. Das Ziel ist,
Zeugnissen zitiert. Wenn dieser Vers daß Gott am Menschen Wohlgefallen haben
28)
jedoch auf diese Weise zitiert wird, ent- kann.
steht manchmal ein falscher Eindruck. 5,19 Der Dienst der Versöhnung wird
Die Zuhörer müssen glauben, daß, wenn hier als die Botschaft beschrieben, »daß
ein Mensch errettet wird, seine alten Ge- Gott in Christus war und die Welt mit
wohnheiten, bösen Gedanken und lü- sich selbst versöhnt hat«. Es gibt zwei
sternen Blicke für immer Vergangenheit Möglichkeiten, diese Aussage zu verste-
sind, und alles im Leben dieses Men- hen, die beide schriftgemäß sind. Erstens
schen wörtlich genommen neu wird. Wir kann es bedeuten, »daß Gott in Christus
wissen, daß das so nicht stimmt. Der Vers war«, in dem Sinne, daß Jesus Christus
beschreibt nicht die Praxis des Gläubi- eine Person der Dreieinigkeit ist. Das ist
gen, sondern seine Stellung. Man beach- sicherlich wahr, doch können wir es auch
te, daß es heißt: »Wenn jemand in Chri- so verstehen, daß »Gott in Christus … die
stus ist.« Die Worte »in Christus« sind Welt mit sich selbst versöhnt hat«. Mit
der Schlüssel zu diesem Vers. »In Chri- anderen Worten, er versöhnte die Welt
stus« ist »das Alte vergangen« und mit sich, aber er tat es durch die Person
»Neues geworden«. Unglücklicherweise unseres Herrn Jesus Christus.
ist das alles »in mir« noch nicht wahr Welche Interpretation wir auch
geworden. Doch wenn ich im christli- immer annehmen, die Wahrheit bleibt
chen Leben Fortschritte mache, dann deutlich, daß Gott den Grund für die
wünsche ich mir, daß meine Praxis Entfremdung beseitigt hat, die zwischen
immer mehr meiner Stellung entspricht. ihm und dem Menschen aufgrund der
Eines Tages, wenn der Herr Jesus wie- Sünde entstanden war. Gott braucht
derkommt, dann werden Stellung und nicht versöhnt zu werden, sondern der
Praxis völlig übereinstimmen. Mensch muß mit Gott versöhnt werden.
5,18 »Alles« ist »von Gott«. Er ist die »Ihnen ihre Übertretungen nicht zu-
Quelle und der Erschaffer alles Sichtba- rechnete.« Beim ersten Lesen mag es
ren und Unsichtbaren. Es gibt keinen scheinen, daß dieser Vers die Allversöh-
Grund für menschliches Rühmen. Der- nung lehrt, daß nämlich alle Menschen
selbe »Gott, der uns mit sich selbst ver- durch das Werk Christi gerettet wird.
söhnt hat durch Christus« hat uns »den Doch solch eine Lehre stünde völlig im
Dienst der Versöhnung gegeben«. Gegensatz zur Lehre des übrigen Wortes
Diese wunderbare Aussage der Gottes. Gott hat einen Weg bereitet,
schriftgemäßen Lehre von der Versöh- durch den die Übertretungen der Men-
nung findet sich in einem englischen schen ihnen nicht angerechnet werden.
Bibellexikon: Dieser Weg ist zwar für alle zugänglich,

806
2. Korinther 5 und 6

doch nur für die wirksam, die in Christus ihm »versöhnen« zu lassen. Wenn
sind. Die Sünden der nicht erlösten Men- irgendeine Feindschaft besteht, dann
schen werden ihnen bestimmt angerech- von seiten des Menschen selbst. Gott hat
net, doch sobald diese Menschen dem alle Hindernisse zur vollständigen Ge-
Herrn Jesus als ihrem Erlöser vertrauen, meinschaft zwischen ihm und dem Men-
werden sie in ihm als gerecht angesehen, schen beseitigt. Nun muß der Mensch
und ihre Sünden sind ausgetilgt. seine Waffen der Rebellion niederlegen,
Zusätzlich zu seinem Versöhnungs- seine widerspenstige Revolte lassen und
werk hat Gott auch »in« seine Knechte »mit Gott versöhnt« werden.
»das Wort von der Versöhnung« gelegt. 5,21 Dieser Vers zeigt uns die lehr-
Mit anderen Worten, er hat ihnen das mäßige Grundlage unserer Versöhnung.
wunderbare Privileg gewährt, hinausge- Wie hat Gott die Versöhnung ermög-
hen zu dürfen und die herrliche Bot- licht? Wie kann er schuldige Sünder an-
schaft überall allen Menschen zu predi- nehmen, die zu ihm in Buße und Glau-
gen. Er gab diesen heiligen Auftrag nicht ben kommen? Die Antwort lautet, daß
den Engeln, sondern armen und schwa- der Herr Jesus das gesamte Sündenpro-
chen Menschen. blem erfolgreich erledigt hat, so daß wir
5,20 Im vorhergehenden Vers sagte nun mit Gott versöhnt werden können.
der Apostel, daß ihm die Botschaft von Mit anderen Worten: Gott ließ Chri-
der Versöhnung gegeben worden ist. Er stus »für uns zur Sünde« machen – die-
ist ausgesendet worden, diese Botschaft sen Christus, »der Sünde nicht kannte« –
der Menschheit zu predigen. Wir sind »damit wir Gottes Gerechtigkeit würden
der Ansicht, daß wir in den Versen 5,20 in ihm«.
bis 6,2 eine Zusammenfassung des Wortes Wir müssen uns vor der Idee hüten,
von der Versöhnung haben. In anderen daß der Herr Jesus Christus am Kreuz
Worten, Paulus läßt uns nun auf die Bot- von Golgatha wirklich an sich sündig ge-
schaft hören, die er den Verlorenen in worden wäre. Eine solche Vorstellung ist
jedem Land und auf jedem Kontinent falsch. Unsere Sünden wurden auf ihn
gepredigt hat. Es ist wichtig, das hier geworfen, doch sie waren nicht in ihm.
festzuhalten. Paulus will die Korinther Gott machte ihn für uns zum Sündopfer.
nicht auffordern, sich mit Gott versöh- Wenn wir auf ihn vertrauen, werden wir
nen zu lassen. Sie glauben schon an den von Gott für gerecht erachtet. Die An-
Herrn Jesus. Doch er legt vor den Ko- sprüche des Gesetzes sind von unserem
rinthern Rechenschaft über die Botschaft Stellvertreter völlig erfüllt worden.
ab, die er den Verlorenen predigt, wo Doch eine wunderbare Wahrheit
immer er hinkommt. bleibt bestehen, nämlich daß der, »der
Ein Botschafter ist ein Staatsdiener, Sünde nicht kannte … für uns zur Sünde
der seine Regierung in einem fremden gemacht« worden ist, »damit wir«, die
Land vertritt. Paulus spricht vom christ- wir keine Gerechtigkeit kannten, »Gottes
lichen Dienst immer als einer ehrenvol- Gerechtigkeit würden in ihm«. Kein
len und herausgehobenen Berufung. Er sterblicher Mund wird je in der Lage
vergleicht sich selbst mit einem Botschaf- sein, Gott genügend für solche grenzen-
ter, der von »Christus« in unsere Welt lose Gnade zu danken.
gesandt wurde. Er war Gottes Sprecher, 6,1 Einige verstehen diesen Vers so,
und »Gott bittet« praktisch durch ihn. daß Paulus hier die Korinther anspricht
Das scheint eine seltsame Sprache in be- und sie ermutigt, »die Gnade« voll aus-
zug auf einen Botschafter zu sein. Nor- zuschöpfen, die ihnen erzeigt worden ist.
malerweise bittet ein Botschafter nicht, Wir sind jedoch eher der Ansicht, daß
doch das ist die Herrlichkeit des Evange- Paulus hier noch weiter für die Botschaft
liums, daß im Evangelium Gott wirklich Rechenschaft ablegt, die er den Verlo-
mit tränenerfüllten Augen auf den Knien renen predigt. Er hat den Ungläubigen
liegt und die Menschen bittet, sich mit schon von der wunderbaren Gnade

807
2. Korinther 6

berichtet, die ihnen von Gott angeboten er »in keiner Sache irgendeinen Anstoß«
wird. Nun bittet er sie weiter, diese gegeben habe, »damit der Dienst nicht
»Gnade Gottes nicht vergeblich« zu emp- verlästert« werde. Wie wir schon weiter
fangen. Sie sollten nicht zulassen, daß oben ausgeführt haben, bezieht sich das
der Same des Evangeliums auf unfrucht- Wort »Dienst« nicht auf ein irgendwie
baren Boden fällt. Sie sollten auf diese ehrwürdiges kirchliches Amt, sondern
wunderbare Botschaft reagieren, indem auf den Dienst Christi. Die Vorstellung
sie den Erlöser annehmen. einer Ordination durch Menschen hat
6,2 Paulus zitiert nun aus Jesaja 49,8. hier keinen Raum. Alle, die Christus ge-
Wenn wir dieses Kapitel, aus dem der hören, sind auch Diener.
Vers stammt, studieren, dann sehen wir, 6,4 In den Versen 4 bis 10 beschreibt
daß Gott dort auf sein Volk zornig ist, weil der Apostel, wie er seinen Dienst durch-
es den Messias abgelehnt hat. In Vers 7 zuführen versuchte – auf eine Art und
sehen wir, wie der Herr Jesus vom Volk Weise, die jenseits jedes Tadels lag. Er
abgelehnt wird und wir wissen, daß diese war sich bewußt, ein Diener des Höch-
Ablehnung zu seinem Tod führte. Doch sten zu sein und versuchte sich immer so
dann in Vers 8 finden wir die Worte zu verhalten, wie es seiner Berufung
Jahwes, die dem Herrn Jesus versichern, würdig war. Denney hat diesen Ab-
daß sein Gebet erhört worden ist und daß schnitt treffend kommentiert:
Gott ihm helfen und ihn bewahren werde. Die Brunnen der Tiefe brechen ihm auf,
»Am Tage des Heils habe ich dir ge- als er daran denkt, was hier auf dem Spiel
holfen.« Das bezieht sich auf die Auferste- steht. Zu Beginn ist er in großen Nöten und
hung des Herrn Jesus Christus. Die »an- kann nur in unzusammenhängenden Worten
genehme Zeit« und der »Tag des Heils« sprechen, immer nur eines nach dem ande-
sollten durch die Auferweckung Christi ren, doch ehe er aufhört, hat er seine Fassung
aus den Toten herbeigeführt werden. wiedererlangt und öffnet uns seine Seele ohne
29)
Wenn Paulus nun sein Evangelium Vorbehalte.
predigt, dann lebt er von dieser wunder- Die Verse 4 und 5 beschreiben die
baren Wahrheit her und verkündigt sei- physischen Leiden, die Paulus erduldete
nen verlorenen Zuhörern: »Siehe, jetzt ist und die ihn als ehrlichen, treuen Diener
die wohlangenehme Zeit, siehe, jetzt ist des Herrn ausweisen. Die nächsten bei-
der Tag des Heils.« Mit anderen Worten, den Verse behandeln seine christlichen
die Zeit, die Jesaja als »Tag des Heils« Eigenschaften. In den Versen 8 bis 10
ankündigt, ist schon da, und so drängt listet er die unterschiedlichen Erfahrun-
Paulus die Menschen, dem Erlöser zu gen auf, die für den christlichen Dienst so
vertrauen, solange der »Tag des Heils« typisch sind.
noch andauert. »In vielem Ausharren« beschreibt
zweifellos die Geduld des Paulus gegen-
J. Das Verhalten des Paulus in seinem über Einzelnen, Ortsgemeinden und all
Dienst (6,3-10) den Anfechtungen, die ihn von seinem
6,3 Hier wechselt Paulus nun das Thema. Weg der Standhaftigkeit abbringen soll-
Er behandelt nicht mehr die Botschaft, ten.
die er predigte, sondern sein eigenes Ver- »Drangsale« könnten echte Verfol-
halten im christlichen »Dienst«. Er er- gungen bedeuten, die er im Namen Chri-
kannte, daß es immer Leute gibt, die sti zu erdulden hatte.
nach einer Ausrede suchen, auf die Bot- Mit »Nöten« sind wohl die Entbeh-
schaft von der Erlösung nicht hören zu rungen gemeint, die er erlitt, wahr-
müssen, und sie können diese Ausrede scheinlich an Essen, Kleidung und
in einem inkonsequenten Leben des Pre- Unterkunft.
digers finden. Je inkonsequenter der Pre- Zu den »Ängsten« könnten auch die
diger dabei ist, desto besser für sie. Des- unvorteilhaften Umstände gehören, in
halb erinnert er die Korinther daran, daß denen er sich oft wiederfand.

808
2. Korinther 6

6,5 Paulus erlitt viele »Schläge«, wie lus tat, in der Vollmacht und Unterord-
in Apostelgeschichte 16,23 weiter ausge- nung unter den Heiligen Geist geschah.
führt wird. Auf seine Aufenthalte »in »In ungeheuchelter Liebe« bedeutet,
Gefängnissen« bezieht er sich später in 2. daß die »Liebe«, die im Leben des Apo-
Korinther 11,23 noch einmal, und zwei- stels Paulus anderen gegenüber so offen-
fellos bezieht sich das Wort »Tumulte« sichtlich wurde, weder vorgegeben noch
auf die Empörungen und Erhebungen, heuchlerisch war, sondern echt. Sie war
die oftmals auf seine Predigt des Evange- ein Kennzeichen seines gesamten Ver-
liums folgten. (Die Botschaft, daß Heiden haltens.
auf die gleiche Weise erlöst werden kön- 6,7 »Im Reden der Wahrheit« könnte
nen wie die Juden, hat einige der andeuten, daß der gesamte Dienst des
schlimmsten Gewalttaten ausgelöst.) Zu Paulus in Gehorsam gegen das »Wort der
den »Mühen« des Paulus könnte zum Wahrheit« (LU1984) geschah. Es könnte
Beispiel die Ausübung seines Berufes als auch bedeuten, daß es ein ehrlicher
Zeltmacher gehören, doch auch zweifel- Dienst war, der Botschaft entsprechend,
los andere Formen schwerer Arbeit, ganz die er predigte, nämlich das »Wort der
zu schweigen von den Reisen. »Wachen« Wahrheit«.
oder Schlaflosigkeit beschreibt sein be- »In der Kraft Gottes« bedeutet zwei-
ständiges Bedürfnis, sich vor den Fußan- fellos, daß der Apostel seine Arbeit nicht
geln des Teufels und den Versuchen sei- in eigener Kraft tat, sondern in schlichter
ner Feinde, ihm zu schaden, in acht zu Abhängigkeit von der Kraft, die »Gott«
nehmen. Zu den »Fasten« könnte einmal ihm schenkte. Einige haben vorgeschla-
der freiwillige Verzicht auf Nahrung ge- gen, daß dies eine Erwähnung der Wun-
hören, doch hier bedeutet es wahrschein- der ist, die der Apostel kraft seines Apo-
lich eher Hunger, der durch Armut ver- stelamtes tun konnte.
ursacht war. »Mit den Waffen der Gerechtigkeit«
6,6 Der Dienst des Paulus geschah »in wird in Epheser 6,14-18 näher erläutert.
Reinheit«, d. h. in Keuschheit und Heili- Sie stehen für einen aufrechten, konse-
gung. Er konnte niemals rechtmäßig quenten Charakter. Jemand hat einmal
irgendwelcher sexueller Vergehen ange- gesagt: »Wenn jemand in praktische Ge-
klagt werden. rechtigkeit gekleidet ist, dann ist er vor
Auch wurde der Dienst des Paulus allen Regenschauern sicher.« Wenn
»in Erkenntnis« durchgeführt und das unser Gewissen uns keine Übertretun-
bezieht sich wahrscheinlich auf die Tat- gen gegen Gott und Menschen zeigen
sache, daß der Dienst nicht in Unwissen- kann, dann hat der Teufel nur wenig
heit geschah, sondern in Erkenntnis, die Ansatzpunkte.
er von Gott erhalten hatte. Das zeigt sich Es ist nicht ganz geklärt, was mit dem
wunderbar in der Breite göttlicher Wahr- Ausdruck »zur Rechten und zur Linken«
heiten, die uns in den Briefen des Paulus gemeint ist. Eine der wahrscheinlicheren
offenbart werden. Erklärungen ist, daß in der antiken Krieg-
Die Korinther sollten keinen Beweis führung das Schwert in der Rechten und
seiner »Langmut« nötig haben! Die ge- der Schild in der Linken gehalten wurde.
duldige Art und Weise, mit der er immer Das Schwert steht für den Angriffskampf,
wieder ihre Sünden und Fehler ertragen der Schild für die Verteidigung. In die-
hatte, sollten ihnen Beweis genug sein! sem Fall würde Paulus hier sagen, daß
Die Güte des Paulus zeigte sich darin, ein guter christlicher Charakter der beste
daß er sich selbstlos für andere hingab, in Angriff und die beste Verteidigung ist.
seiner liebevollen Haltung gegenüber 6,8 Hier und in den Versen 9 und 10
dem Volk Gottes und in seinem freundli- beschreibt Paulus einige der scharfen
chen Verhalten. Kontraste, die im Dienst für den Herrn
Der Ausdruck »im Heiligen Geist« Jesus vorkommen. Der echte Jünger
bedeutet zweifellos, daß alles, was Pau- wandelt mitunter auf den Höhen oder im

809
2. Korinther 6

Tal oder auch im Gebiet dazwischen. Er »In diesen höhepunktsgeladenen Sät-


führt ein Leben der »Ehre und Unehre«, zen«, schreibt A. T. Robertson, »läßt Pau-
mit Sieg und scheinbarer Niederlage, mit lus seinen Gedanken weiten Raum und
Anerkennung und Kritik. Der wahre sie spielen wie der Blitz auf den Wol-
31)
Diener Gottes wird zum Ziel »böser und ken«.
guter Nachrede«. Einige heben seinen
Eifer und seinen Mut hervor, während K. Der Aufruf des Paulus zu Offenheit
andere ihn nur verurteilen. Er wird als und Liebe (6,11-13)
Verräter oder Hochstapler angesehen, 6,11 Und nun bricht der Apostel in einen
und doch bleibt er in all dem »wahrhaf- leidenschaftlichen Appell an die »Korin-
tig«. Er ist kein Hochstapler, sondern ein ther« aus, daß sie ihm ihre Herzen öffnen
echter Diener des Höchsten. mögen. Er hatte offen und ehrlich mit
6,9 In gewissem Sinne war Paulus ihnen über seine Liebe gesprochen. Weil
»unbekannt«, von niemandem geschätzt der »Mund« sich durch ein überfließen-
und von den meisten mißverstanden, des Herz »auftut«, spricht sein geöffneter
nämlich soweit es sich um die Welt han- Mund von einem »weit« offenen »Her-
delte, und doch war er Gott und den zen« der Liebe zu diesen Menschen. Daß
30)
Gläubigen »wohlbekannt.« dies die allgemeine Bedeutung des Ver-
Sein Leben bestand im täglichen Ster- ses ist, wird durch die folgende Worte
ben, doch »siehe«, er lebte! Er wurde be- bestätigt: »Unser Herz ist weit gewor-
droht, gejagt, verfolgt, ihm wurde nach- den«, d. h. bereit, sie in Liebe anzuneh-
gestellt und er wurde eingekerkert, doch men.
wenn er die Freiheit erlangte, nutzte er Wie Tozer es ausgedrückt hat: »Pau-
sie zu noch größerem Eifer. Das wird in lus war ein kleiner Mann mit einem weit-
dem Ausdruck »als Gezüchtigte und läufigen Innenleben, sein großes Herz
doch nicht getötet« weiter betont. »Ge- wurde von der Engstirnigkeit seiner Jün-
züchtigt« bedeutet hier die Strafen, die er ger oft verwundet. Der Anblick ihrer ge-
32)
von Menschen auferlegt bekam. Viele schrumpften Seelen verletzte ihn tief.«
Male dachten sie wahrscheinlich, daß sie 6,12 Jede Beschränkung in den Bezie-
sein aufrührerisches Leben beendet hat- hungen zwischen den Korinthern und
ten – nur um aus anderen Städten Be- Paulus ging auf die Korinther zurück,
richte über seine neuen Aktivitäten für nicht auf Paulus. Sie mochten ihn nur
Christus zu erhalten! beschränkt lieben, so daß sie nicht sicher
6,10 Im Zusammenhang mit seinem waren, ob sie ihn aufnehmen sollten oder
Dienst erlebte Paulus viel Leid, und doch nicht, doch seine Liebe zu ihnen war kei-
freute er sich »allezeit«. Man braucht nesfalls beschränkt. Der Mangel an Liebe
kaum zu erwähnen, daß er über die bestand auf ihrer, nicht auf Paulus’ Seite.
Ablehnung des Evangeliums Leid trug, 6,13 Wenn sie seine Liebe zu ihnen
über die Fehlschläge der Kinder Gottes erwidern wollten (er spricht mit denen,
und über seine eigene Unzulänglichkeit. die seine »Kinder« im Glauben sind),
Doch wenn er an den Herrn dachte, und dann sollten sie zulassen, daß ihre Ge-
an die Verheißungen Gottes, dann hatte fühle gegen ihn »weiter« würden. Paulus
er immer mehr als genug Grund aufzu- fühlte sich als ihr Vater. Sie sollten ihn als
schauen und sich zu freuen. Vater im Glauben lieben. Nur Gott konn-
Paulus war »arm« an irdischen Gü- te das bewirken, doch sie sollten ihm
tern. Wir lesen nirgends, daß er Grund- gestatten, es für sie zu tun.
stücke besessen hätte oder andere Wert- Die GN übersetzt diese Verse recht
gegenstände. Doch man denke an all die treffend:
Menschen, die durch seinen Dienst berei- Meine lieben Korinther, ich habe kein
chert wurden! Obwohl er »nichts« hatte, Blatt vor den Mund genommen. Ich habe
hatte er in gewissem Sinne doch »alles«, euch mein Herz weit geöffnet. Es stimmt
was wirklich zählt. nicht, daß ihr keinen Platz darin habt. Ihr

810
2. Korinther 6

steht nur deshalb draußen, weil ihr euch mit jemandem eingehen, der den Herrn
selbst aussperrt. Ich spreche zu euch als mei- nicht kennt. Auch auf Geheimbünde und
nen Kindern. Begegnet mir so, wie ich euch Logen ist dies anwendbar: Wie kann
begegne! Öffnet auch ihr eure Herzen weit! jemand, der Christus treu ist, in eine Ge-
meinschaft eintreten, in der der Name des
L. Der Aufruf des Paulus zu Herrn Jesus nicht willkommen ist? Die
schriftgemäßer Absonderung Anwendung auf das soziale Leben sollte
(6,14–7,1) folgendermaßen aussehen: Ein Christ
6,14 Die Verbindung zwischen den Ver- sollte mit Verlorenen Kontakt halten, um
sen 13 und 14 ist folgende: Paulus hat sie für Christus zu gewinnen, doch sollte
den Heiligen gesagt, daß ihre Gefühle er sich nie an ihren sündigen Vergnügun-
ihm gegenüber offen sein sollten. Nun gen beteiligen oder an Aktivitäten, die so
erklärt er, daß eine Art, das zu tun, darin geartet sind, daß die anderen denken, er
besteht, sich von allen Formen der Sünde sei nicht anders als sie selbst. Auch auf
und Ungerechtigkeit zu trennen. Zwei- religiöse Angelegenheiten bezieht sich
fellos denkt er dabei zum Teil auch an die dieser Abschnitt. Ein treuer Nachfolger
falschen Lehrer, die in die Gemeinde von Christi kann nicht in einer Gemeinde Mit-
Korinth eingedrungen waren. glied sein, in der Ungläubige wissentlich
Die Erwähnung des »fremdartigen als Mitglieder zugelassen sind.
Jochs« ist eine Anspielung auf 5. Mose Die Verse 14 – 16 betreffen alle wichti-
22,10: »Du sollst nicht mit einem Rind gen Beziehungen des Lebens:
und einem Esel zusammen pflügen.« Der Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit ste-
Ochse war ein reines Tier, der Esel ein hen für den gesamten ethischen Bereich.
unreines und ihre Schrittweite und Zug- Licht und Finsternis haben es mit der
kraft sind unterschiedlich. Im Gegensatz Einsicht in göttliche Angelegenheiten zu
dazu finden Gläubige, wenn sie mit dem tun.
Herrn Jesus in eine Jochgemeinschaft Christus und Belial betreffen den Be-
kommen, daß sein Joch sanft und seine reich der Herrschaft, mit anderen Wor-
Last leicht ist (Matth 11,29.30). ten, wen wir in unserem Leben als Herrn
Dieser Abschnitt des 2. Korinther- anerkennen.
briefes ist einer der Schlüsselverse der Gläubige und Ungläubige stehen für
Bibel zum Thema Absonderung. Hier den Bereich des Glaubens.
handelt es sich um eine eindeutige An- Der Tempel Gottes und die Götzenbilder
weisung, daß der Gläubige sich von den nehmen den gesamten Bereich der Anbe-
»Ungläubigen« absondern soll, vom tung und des Gottesdienstes auf.
Bösen, von der Finsternis, von Belial und »Gerechtigkeit und Gesetzlosigkeit«
von den Götzen. haben keine Gemeinschaft, weil sie ethi-
Auf jeden Fall bezieht sich der sche Gegensätze darstellen. Auch kann
Abschnitt auf eheliche Beziehungen. Ein »Licht« nicht »Gemeinschaft … mit Fin-
Christ sollte niemals jemanden heiraten, sternis« haben. Wenn »Licht« in ein Zim-
der nicht errettet ist. Doch in Fällen, in mer scheint, dann verdrängt es die Fin-
denen ein Gläubiger schon mit einem sternis. Beide können nicht zur gleichen
Ungläubigen verheiratet ist, rechtfertigt Zeit existieren.
der Abschnitt nicht die Trennung oder 6,15 Der Name »Belial« bedeutet
Scheidung. Gottes Wille ist, daß die Ehe »Unwürdigkeit« oder »Bosheit«. Hier ist
in solch einem Fall aufrecht erhalten es ein Name des Bösen. Kann es je zwi-
wird, in der Hoffnung, daß der nicht wie- schen »Christus« und Satan Frieden
dergeborene Teil schließlich doch noch geben? Offensichtlich nicht! Auch kann
errettet wird. es keine Gemeinschaft zwischen einem
Darüber hinaus bezieht sich dieser »Gläubigen« und einem »Ungläubigen«
Abschnitt auch auf das Geschäft. Ein geben. Der Versuch allein ist schon Verrat
Christ sollte keine Geschäftspartnerschaft am Herrn.

811
2. Korinther 6 und 7

6,16 »Götzenbilder« haben mit dem Gott diese Schwierigkeiten in Vers 18


»Tempel Gottes« nichts zu tun. Wo das voraussieht. Er hat schon in Vers 17 ge-
der Fall ist, wie können Gläubige dann sagt: »Ich werde euch annehmen«, und
Umgang mit Götzenbildern haben, da sie nun fügt er hinzu: »und werde euch ein
doch selbst »der Tempel des lebendigen Vater sein, und ihr werdet mir Söhne und
Gottes« sind. Hier stehen die Götzenbil- Töchter sein, spricht der Herr, der All-
der natürlich nicht nur für die geschnitz- mächtige.« Der Ausgleich dafür, daß wir
ten Bilder, sondern für alles, was zwi- mit Christus außerhalb des Lagers des
schen den Menschen und Christus treten Bösen wohnen, ist eine neue und intensi-
kann. Es könnte sich um Geld oder Ver- vere Gemeinschaft mit dem »Vater«. Es
gnügen oder Ruhm oder materiellen bedeutet nicht, daß wir durch den Ge-
Reichtum handeln. horsam gegen sein Wort zu Söhnen und
Der Apostel findet in solchen Versen Töchtern werden, sondern daß es sich
wie 2. Mose 29,45, 3. Mose 26,12 und zeigt, daß wir seine »Söhne und Töchter«
Hesekiel 37,27 ausreichend Unterstüt- sind, wenn wir uns auf diese Weise ver-
zung für seine Ansicht, daß wir »der halten. Und wir die Freuden der Sohn-
Tempel des lebendigen Gottes« sind. schaft auf eine Weise genießen werden
Denney sagt: wie nie zuvor.
[Paulus] erwartet von den Christen eben- »Die Segnung echter Absonderung
soviel Ernst wie von den Juden, die Heiligkeit ist nichts weniger als die herrliche Ge-
des Hauses Gottes unverletzt zu erhalten. meinschaft mit dem großen Gott selbst«
Und nun, sagt er, da wir dieses Haus sind: (sinngemäß).
Uns selbst müssen wir von der Welt unbe- Das Problem stellt sich heute überall
33)
fleckt halten. unter evangelikalen Christen, die zu libe-
6,17 Nachdem er die Notwendigkeit ralen Gemeinden gehören. Sie fragen
der Absonderung so deutlich herausge- ständig: »Was soll ich tun?« Gottes Ant-
stellt hat, erläßt Paulus nun einen her- wort findet sich in unseren Versen. Sie
ausfordernden Aufruf, »aus ihrer Mitte sollten eine Gemeinschaft verlassen, in
hinaus« zu gehen. Er zitiert dabei Jesaja der der Herr Jesus nicht geehrt, sowie als
52,11. Hier haben wir Gottes eindeutige geliebter Sohn Gottes und Erlöser der
Anweisung an sein Volk über die Tren- Welt verherrlicht wird. Sie können
nung vom Bösen. Die Christen sollen außerhalb einer solchen Gemeinde mehr
sich nicht in seiner »Mitte« aufhalten für Gott tun, als sie je innerhalb erreichen
oder ein Teil davon werden, auch nicht können.
mit der gutgemeinten Absicht, etwas zu 7,1 Dieser Vers ist mit dem vorherge-
verbessern. Gottes Plan besteht darin, henden engstens verbunden. Er beginnt
hinauszugehen. Das »Unreine« in die- keinen neuen Abschnitt, sondern be-
sem Vers ist in erster Linie zweifellos die schließt den, der mit 6,14 begann.
heidnische Welt, doch bezieht es sich Die »Verheißung« in diesem Vers ist
auch auf jede Form des Bösen, ob es nun die in den Versen 17 und 18 des vorher-
im geschäftlichen, sozialen oder religiö- gehenden Kapitels zitierte. »Ich werde
sen Bereich geschieht. euch annehmen, … euch ein Vater sein
Dieser Vers darf nicht mißbraucht und ihr … mir Söhne und Töchter.« An-
werden, um die Absonderung von ande- gesichts dieser wunderbaren »Verhei-
ren Gläubigen zu lehren. Christen werden ßungen« (Elb) sollten wir »uns reinigen
ermahnt, sich zu bemühen, »die Einheit von jeder Befleckung des Fleisches und
des Geistes zu bewahren durch das Band des Geistes«. Die Verunreinigung »des
des Friedens«. Fleisches« betrifft alle Formen leiblicher
6,18 Es ist für Christen oftmals Unreinheit, während es bei der »Be-
schwer, Bande zu lösen, die über Jahre fleckung des Geistes« um unser inneres
hinweg bestanden haben, um dem Wort Leben, unsere Motive und Gedanken
Gottes zu gehorchen. Es scheint so, daß geht.

812
2. Korinther 7

Doch Gott verbietet nicht nur, er er- dern erkennen, daß er wirklich stolz auf
öffnet auch eine Alternative: »Die Heilig- sie war und von ihnen stets mit Achtung
keit vollenden in der Furcht Gottes.« Wir redete, wo immer er auch hinkommen
sollen nicht nur alles ablegen, was uns mochte. Wahrscheinlich war es der be-
verunreinigt, sondern sollen im täglichen sondere Aspekt ihres christlichen Le-
Leben unserem Herrn Jesus Christus bens, der Paulus dazu führte, sie und
immer ähnlicher werden. Dieser Vers ihre bereitwillige Haltung im Zusam-
will nicht sagen, daß es hier auf Erden menhang mit seiner Sammlung für die
möglich ist, vollkommen heilig zu wer- verarmten Heiligen in Jerusalem ehrlich
den. Praktische Heiligung ist ein Prozeß, zu empfehlen. Der Apostel wird dieses
der unser ganzes Leben lang andauert. Thema noch ausführlicher behandeln,
Wir verwandeln uns allmählich in das doch hier begnügt er sich mit einer An-
Bild unseres Herrn Jesus Christus, bis spielung darauf.
wir ihn eines Tages von Angesicht zu »Ich bin mit Trost erfüllt, ich bin über-
Angesicht sehen und dann in alle Ewig- reich an Freude bei all unserer Drang-
keit wie er sein werden. Es geht darum, sal.« Diese Ausdrücke werden in den
daß wir eine anbetende Ehrfurcht oder folgenden Versen erklärt. Warum freute
Furcht vor Gott haben, damit wir das sich der Apostel trotz »all« seiner
Verlangen in unseren Herzen verspüren, »Drangsal«? Die Antwort lautet, daß
heilig zu werden. Mögen wir alle mit Titus ihm gute Nachrichten von den
dem großen Diener Gottes McCheyne Korinthern gebracht hat, und das erweist
sagen können: »Herr, mache mich so hei- sich als Quelle überschäumender Freude
lig, wie es diesseits des Himmels nur und Ermutigung für ihn.
geht.« 7,5 Wir haben schon weiter oben
erwähnt, wie Paulus Ephesus verlassen
M. Die Freude des Paulus über die hat und nach Troas gereist ist, um dort
guten Nachrichten aus Korinth nach Titus zu suchen. Als er ihn dort
(7,2-16) nicht fand, setzte er »nach Mazedonien«
7,2 »Gebt uns Raum in euren Herzen.« Es über. Nun erklärt er, daß auch seine
gab keinen Grund für die Korinther, dies Ankunft in Mazedonien ihm nicht die
Paulus zu verweigern, weil er »niemand »Ruhe« gab, die er sich erhofft hatte. Er
unrecht getan«, »niemand zugrunde ge- war noch immer beunruhigt, noch
richtet« und »niemand übervorteilt« hat- immer »bedrängt«, noch immer von bö-
te. Was immer seine Kritiker gegen ihn sen Gedanken verfolgt. »Von außen« be-
sagen mochten, der Apostel Paulus hatte drängte ihn erbarmungslos der Feind,
niemanden verletzt, noch hatte er jeman- während »von innen Ängste« ihn quäl-
den finanziell ausgenutzt. ten – die zweifellos mit der Tatsache in
7,3 Nichts, was Paulus sagt oder bis- Zusammenhang standen, daß er noch
her gesagt hat, hat die Absicht, die Ko- nicht mit Titus hatte Kontakt aufnehmen
rinther in irgendeiner Weise »zu verur- können.
teilen«. Er versichert ihnen wiederholt, 7,6 Doch dann griff »Gott« ein und
daß ihnen seine tiefe Zuneigung im »tröstete« Paulus »durch die Ankunft
Leben und Tod erhalten bleiben wird. des Titus«. Zu dieser Zeit erfuhr der
7,4 Weil er sich den Heiligen in Apostel die Wahrheit von Sprüche 27,17:
Korinth so eng verbunden wußte, fühlte »Eisen wird durch Eisen geschärft, und
sich der Apostel gedrängt, in »Freimütig- ein Mann schärft das Angesicht seines
keit« ihnen gegenüber zu reden. Seine Nächsten.« Man stelle sich das freudige
Ehrlichkeit ihnen gegenüber war sehr Treffen dieser beiden hingegebenen Die-
groß, ebenso wie auch sein »Rühmen« ner Christi vor, wie die Fragen des Pau-
über sie anderen gegenüber. Deshalb lus nur so hervorsprudeln und Titus ver-
sollten sie seine Offenheit nicht als Zei- sucht, sie so schnell wie möglich zu be-
chen mangelnder Liebe auslegen, son- antworten! (Siehe auch Spr 25,25).

813
2. Korinther 7

7,7 Doch war es »nicht nur« die freu- Paulus selbst noch ein Mensch, der die
dige Wiedervereinigung mit seinem Entmutigung und Ängste anderer Men-
Freund, die Paulus so froh werden ließ, schen mitfühlte. Williams kommentiert:
sondern der Bericht darüber, wie »getrö- Der Unterschied zwischen dem Autor
stet« Titus durch die Reaktion der Ko- und der Inspiration erscheint in Vers 8. Pau-
rinther auf den Brief des Paulus gewesen lus weiß, daß sein erster Brief inspiriert war.
ist. Es handelte sich dabei um die »Gebote des
Es war eine gute Nachricht, daß Herrn«, doch als schwacher, ängstlicher und
die Korinther sich danach sehnten, den mitfühlender Mensch zitterte er, daß das
Apostel Paulus wiederzusehen. Das war Ergebnis seiner Worte die Korinther nicht
genau das Gegenteil dessen, worum sich von ihm entfremden und ihnen Schmerzen
die falschen Lehrer bemüht hatten, als sie bringen sollte. Hier finden wir Paulus in der
versuchten, die Heiligen und Paulus ein- Lage, daß es zwischen der Persönlichkeit des
ander zu entfremden. Sie wollten ihn Propheten und der Botschaft des Heiligen
nicht nur wiedersehen, sondern sie zeig- Geistes, die ihm gegeben wurde, einen
34)
ten echtes »Wehklagen«. Dieses »Weh- Gegensatz gibt.
klagen« kann durch die achtlose Haltung Zusammenfassend will Paulus hier
ausgelöst worden sein, die sie eingenom- folgendes sagen: Als die Korinther zuerst
men hatten, als sie Sünde in der Ver- seinen Brief lasen, war dieser Brief ein
sammlung tolerierten, aber auch durch scharfer Tadel an sie, und das schmerzte
die Verzweiflung und Angst, die sie beim sie. Nachdem er den Brief abgeschickt
Apostel Paulus verursacht hatten. Zu- hatte, ahnte der Apostel ihre Reaktion
sätzlich zu diesem Wehklagen berichtete darauf voraus, und das machte ihn trau-
Titus von ihrer echten Wertschätzung des rig. Nicht daß er sich bewußt gewesen
Paulus und ihrer »Sehnsucht«, es Paulus wäre, etwas falsches zu tun, das steht
recht zu machen. hier überhaupt nicht zur Debatte. Son-
So ist die Freude des Apostels nicht dern er war traurig, daß es bei der Aus-
nur durch die »Ankunft« des Titus aus- führung der Aufträge seines Herrn nötig
gelöst worden, sondern auch durch die wurde, daß andere zeitweilig traurig
Beweise für die Tatsache, daß die Ko- gemacht wurden, damit Gottes Plan für
rinther den Anweisungen des Paulus ge- ihr Leben verwirklicht werden konnte.
horsam gewesen waren und daß sie ihn Im zweiten Teil von Vers 8 betont
noch immer liebten. Paulus, daß sie der Brief zwar »betrübt«
7,8 »Denn wenn ich euch auch durch habe, doch nur für »kurze Zeit«. Diese
den Brief betrübt habe, so reut es mich Auswirkung seines Briefes hatte ihn
nicht. Wenn es mich auch gereut hat, so selbst traurig gestimmt. Doch die Trau-
sehe ich, daß jener Brief … euch auch rigkeit hielt nicht lange an.
kurze Zeit betrübt hat.« Der gesamte Prozeß, den der Apostel
Der »Brief«, den Paulus hier erwähnt, hier beschreibt, kann man mit der Arbeit
könnte der uns als 1. Korintherbrief be- eines Chirurgen vergleichen. Um ein
kannte sein, aber auch noch ein weiterer schlimm infiziertes Organ des Leibes
Brief, der uns verloren gegangen ist, in entfernen zu können, ist es für ihn not-
dem der Apostel mit den Heiligen recht wendig, tief ins Fleisch zu schneiden. Er
rauh umgesprungen ist. freut sich nicht darüber, seinem Patien-
Wir sollten jedoch erklären, warum ten auf diese Weise Schmerzen zu berei-
Paulus »es … gereut« haben könnte, die- ten, doch er weiß, daß es nötig ist, damit
sen Brief geschrieben zu haben. Wenn der Patient seine Gesundheit wieder er-
wir annehmen, daß es der 1. Korinther- hält. Besonders, wenn der Patient eng
brief gewesen ist, dann geht es hier kei- mit ihm befreundet ist, ist sich der Chir-
nesfalls um das Problem der Inspiration. urg der Schmerzen besonders bewußt,
Was der Apostel damals schrieb, waren die er verursachen muß. Doch er erkennt,
nur die Gebote Gottes, und doch war daß dieses Leiden nur kurze Zeit dauert.

814
2. Korinther 7

Deshalb ist er bereit, es zu verursachen, dern es reute ihn einfach nur wegen der
damit das endgültige Ergebnis zum Vor- schrecklichen Konsequenzen, die er dar-
teil des Patienten ist. aus zu ziehen hatte.
7,9 Paulus »freut« sich »nicht« darü- 7,11 Der Apostel weist auf die Erfah-
ber, daß er den Korinthern Schmerzen rung der Korinther als Beispiel dafür hin,
bereitet hat, »sondern daß« ihre zeitwei- was er im ersten Teil von Vers 10 gesagt
lige Betrübnis sie »zur Buße« geführt hat. hat. »Eben dies«, was er über die Buße
Mit anderen Worten, ihr Leid führte sie nach Gottes Sinn gesagt hat, hat sich in
zu einer Meinungsänderung, die zu Ver- ihrem Leben bewahrheitet. Wir würden
änderungen in ihrem Leben führte. heute sagen: »Als Beweis der Tatsache,
»Buße«, sagt Hodge, »ist nicht nur eine ›daß ihr nach Gottes Sinn betrübt wor-
Veränderung der Absichten, sondern den seid‹.« Dann fährt er fort, die ver-
umfaßt auch eine Herzensveränderung, schiedenen Ergebnisse ihrer Betrübnis
die dazu führt, daß man sich voll Ab- nach Gottes Sinn aufzuzählen.
scheu von der Sünde ab- und sich Gott Als erstes Ergebnis entstand in ihnen
35)
zuwendet.« »Bemühen«, oder ein ernsthaftes Anlie-
Das Leid der Korinther entsprach gen. Wenn dieser Abschnitt sich auf den
Gottes Willen. Es war die Art Leid, die Fall der Gemeindezucht, der im ersten
Gott gerne sieht. Weil ihr Leid und ihre Korintherbrief beschrieben ist, bezieht,
Buße echt und »nach Gottes Sinn« war, dann bedeutet dieser Ausdruck, daß sie
erlitten sie keinen bleibenden Schaden zwar zunächst gleichgültig gewesen
durch die Zurechtweisung des Apostels waren, dann jedoch sich in dieser Ange-
Paulus. legenheit besonders bemühten, das Rich-
7,10 Dieser Vers stellt »die Betrübnis tige zu tun.
nach Gottes Sinn« und »die Betrübnis Zweitens fügt er an: »Sogar Verteidi-
der Welt« einander gegenüber. »Betrüb- gung.« Das bedeutet nicht, daß sie ver-
nis nach Gottes Sinn« bedeutet die Trau- sucht hätten, sich zu rechtfertigen oder zu
er, die ein Mensch erlebt, wenn er Buße entschuldigen, sondern daß sie dadurch,
über eine Sünde tut. Er erkennt, daß Gott daß sie sofort energische Maßnahmen
zu ihm spricht, und so stellt er sich gegen ergriffen, sich von jeder weiteren Schuld
seine eigene Sünde auf die Seite Gottes. in dieser Angelegenheit reinwaschen
Wenn Paulus sagt, daß »die Betrübnis wollten. Ihre geänderte Auffassung führ-
nach Gottes Sinn eine nie zu bereuende te zu diesem geänderten Verhalten.
Buße zum Heil« bewirkt, so denkt er »Sogar Unwillen« kann sich auf ihre
nicht notwendigerweise an die Erlösung Haltung gegenüber den Sünder bezie-
der Seele (obwohl das auch der Fall sein hen, weil er den Namen des Herrn Jesus
könnte). Schließlich waren die Korinther so beschmutzt hat. Doch wahrscheinli-
ja gerettet. Hier bedeutet »Heil« die Be- cher bezieht der Ausdruck sich auf ihre
freiung von jeglicher Art von Sünde oder Haltung sich selbst gegenüber, daß sie
Gebundenheit im Leben eines Menschen. überhaupt so etwas so lange unter sich
Die Frage ist offen, ob sich »nie zu geduldet hatten, ohne dagegen einzu-
bereuend« auf die Buße oder auf das Heil schreiten.
bezieht. Weil man aber weder Buße noch »Sogar Furcht« bedeutet zweifellos,
Errettung bereut, können wir diese Frage daß sie in der »Furcht« des Herrn handel-
getrost offen lassen. ten, doch der Ausdruck kann auch den
»Die Betrübnis der Welt« ist keine Gedanken beinhalten, daß sie einen Be-
echte Buße, sondern einfach Reue. Sie such des Apostels fürchteten, wenn er
»bewirkt« Bitterkeit, Verhärtung, Ver- mit der Zuchtrute hätte kommen müssen.
zweiflung und schließlich sogar »Tod«. »Sogar Sehnsucht.« Die meisten Aus-
Das zeigt sich z. B. im Leben des Judas. leger sind sich einig, daß sich dieser Aus-
Er trug kein Leid über die Folgen, die sei- druck auf ein echtes Sehnen nach einem
ne Sünde dem Herrn Jesus brachte, son- Besuch des Paulus bezieht, das in ihnen

815
2. Korinther 7

entstanden war. Doch es könnte sich te Teil des Verses: »Sondern damit euer
auch auf ein starkes »Verlangen« Bemühen um uns bei euch offenbar wer-
(LU 1984) beziehen, daß das Falsche be- de vor Gott.« Doch in Elb heißt es: »damit
richtigt und das Böse wieder gut ge- unser Fleiß für euch bei euch offenbar
macht würde. werde vor Gott.«
»Sogar Eifer« ist auf verschiedene 7,13 Weil sein Brief die gewünschten
Arten erklärt worden, nämlich als Folgen erzielt hatte, wurde Paulus »ge-
»Eifer« für die Herrlichkeit des Herrn, tröstet«. Die Korinther hatten Buße getan
für die Wiederherstellung des Sünders, und sich auf seine Seite geschlagen.
für ihre eigene Reinigung in dieser Ange- Außerdem wurde er durch den Eifer des
legenheit oder dafür, die Partei des Apo- Titus ermutigt, mit dem er für die Hei-
stels zu ergreifen. ligen eintrat, und er war durch den Kon-
»Sogar Bestrafung.« Der Gedanke ist takt mit den Korinthern »erquickt
hier einfach, daß sie gegen den Sünder in worden«.
der Gemeinde Maßnahmen ergriffen, um 7,14 Offensichtlich hatte der Apostel
ihn zu bessern. Sie waren der Ansicht, Titus, noch bevor er ihn nach Korinth
daß Sünde bestraft werden müsse. geschickt hatte, voller Eifer über die
Dann fügt Paulus hinzu: »In allem Gläubigen dort berichtet. Nun sagt er,
habt ihr erwiesen, daß ihr in der Sache daß seine »rühmende« Rede sich als
rein seid.« Natürlich ist das nicht so ver- wahr erwiesen habe. Alles, was er über
stehen, als ob sie sich nie schuldig ge- die Korinther gesagt hatte, wurde durch
macht hätten, sondern einfach, daß sie die Erfahrungen des »Titus« in ihrer Mit-
alles unternommen hatten, um die richti- te bestätigt. Genauso, wie alles, was der
gen Maßnahmen zu ergreifen und so zu Apostel je über die Korinther gesagt hat-
handeln, wie sie schon von Anfang an te, der Wahrheit entsprach, so war auch
hätten handeln müssen. sein »Rühmen vor Titus Wahrheit ge-
7,12 Wir finden vier Hauptprobleme worden«.
in diesem Vers. Erstens, auf welchen 7,15 Offensichtlich wußte Titus nicht,
Brief bezieht sich Paulus mit der Anspie- welchen Empfang man ihm bereiten
lung: »Wenn ich euch also auch geschrie- würde, als er Südgriechenland erreichte.
ben habe«? Zweitens, wer ist der »Belei- Vielleicht fürchtete er das Schlimmste.
diger«? Drittens, wer ist der »Beleidig- Doch als er ankam, hießen ihn die Ko-
te«? Und schließlich sollte der letzte Teil rinther herzlich willkommen, und nicht
des Verses wirklich mit »euer Bemühen nur das, sie wurden ihm um so lieber,
um uns« und nicht eher »unser Bemühen indem sie den Anweisungen Gehorsam
um euch« übersetzt werden? leisteten, die er ihnen vom Apostel Pau-
Der erwähnte Brief könnte derjenige lus überbrachte.
sein, den wir als ersten Korintherbrief Als der Apostel sagte, daß sie Titus
kennen, es könnte aber auch ein darauf- »mit Furcht und Zittern empfangen« hät-
folgender Brief sein, der uns nicht über- ten, dann meint er damit nicht elende
liefert ist. Der »Beleidiger« könnte ein- Furcht oder Feigheit, sondern eher eine
mal der Mann sein, der laut 1. Korinther in dieser Angelegenheit ehrfurchtsvolle
5 im Inzest lebte, oder irgendein anderer Haltung vor dem Herrn und das gewis-
Aufwiegler in der Gemeinde. Wenn Pau- senhafte Verlangen, alles richtig zu
lus von dem Mann aus 1. Korinther 5 machen.
spricht, dann war der »Beleidigte« des- 7,16 Als Paulus sagte, daß er zu den
sen eigener Vater. Wenn es dagegen um Heiligen »in allem Zutrauen« haben kön-
einen Aufwiegler geht, dann war der ne, dürfen wir in seine Worte nicht mehr
»Beleidigte« Paulus selbst, oder ein hineinlesen, als wirklich gemeint ist. Die-
anderes, hier nicht genanntes Opfer. ser Satz bedeutet sicherlich nicht, daß er
In den meisten modernen Überset- meinte, daß die Korinther nun nicht
zungen einschließlich ER lautet der letz- mehr sündigen oder sich irren könnten.

816
2. Korinther 7 und 8

Er meint hier, daß sein »Zutrauen« zu ten. Sie waren in der Lage, Drangsal,
ihnen, das er ihnen schenkte und dessen Freude, Armut und Freigebigkeit mitein-
er sich vor Titus gerühmt hatte, nicht ver- ander zu vereinbaren.
geblich gewesen sei. Sie hatten sich als 8,3 Es gab noch andere Eigenschaften
seinem Vertrauen würdig erwiesen. ihrer Großzügigkeit. Ihr Geben ent-
Zweifellos gehört dazu auch der Gedan- sprach nicht nur ihrem »Vermögen«, son-
ke, daß er sich selbst gerechtfertigt sah, dern ging »über« ihr »Vermögen« noch
zu ihnen volles »Zutrauen« zu haben, hinaus. Auch waren sie »aus eigenem
weil sie in bezug auf die Angelegenheit, Antrieb willig«, d. h. daß sie spontan
die er im ersten Brief anspricht, richtig gaben, ohne überredet, beschwatzt oder
gehandelt haben. gedrängt zu werden.
Dieser Vers beschließt den ersten Teil 8,4 Ihnen lag die Angelegenheit so
des 2. Korintherbriefes, ein Teil der, wie dringlich am Herzen, daß sie Paulus um
wir gesehen haben, der Beschreibung des das Vorrecht baten, an der Hilfe für die
Dienstes des Apostels gewidmet war Heiligen in Jerusalem Teil haben zu dür-
sowie dem entschlossenen Bemühen von fen. Vielleicht hatte der Apostel gezögert,
Seiten des Paulus, die Beziehungen zwi- ihre Gaben anzunehmen, da er wußte,
schen ihm selbst und den Korinthern zu wie arm sie zu der Zeit selbst waren.
stärken. Die nächsten beiden Kapitel Doch sie wollten keine Ablehnung
handeln vom »Segen des Gebens«. akzeptieren. Sie wollten die Erlaubnis
zum Geben.
II. Die Ermahnung des Paulus, 8,5 Wahrscheinlich hat Paulus »nur«
die Sammlung für die Heiligen gehofft, daß sie handeln würden wie die
in Jerusalem zu vervollständigen meisten Sterblichen: daß sie zunächst
(Kap. 8 – 9) nur widerwillig gaben, und dann den
Betrag noch etwas erhöhen würden,
A. Gute Beispiele für großzügiges wenn man sie noch ein wenig drängte.
Geben (8,1-9) Doch nicht so die Mazedonier! Diese lie-
8,1 Paulus will, daß die Gläubigen wis- ben Christen »gaben zuerst« ihre größte
sen, auf welch ungewöhnliche Weise Gabe – nämlich »sich selbst«. Danach
»die Gnade Gottes« sich unter den Chri- war es ihnen ein Leichtes, auch ihr Geld
sten in den »Gemeinden Mazedoniens« zu geben. Wenn Paulus sagt, daß sie
(Nordgriechenland) erwiesen hat. Phi- »sich selbst zuerst dem Herrn und dann
lippi und Thessalonich waren zwei die- uns durch Gottes Willen« gaben, so
ser Städte, in denen Gemeinden gegrün- meint er damit ganz einfach, daß an
det worden waren. erster Stelle die völlige Hingabe ihres
Diese Mazedonier zeigten nun beson- Lebens an Christus stand, und dann
ders durch ihre Großzügigkeit, daß sie geben sie sich willig auch Paulus in dem
»die Gnade Gottes« empfangen hatten. Sinne, daß sie bei der Kollekte für Jeru-
8,2 Diese Christen waren durch salem helfen wollten. Sie sagten prak-
»große Bewährung in Drangsal« gegan- tisch zu Paulus: »Wir haben uns dem
gen. Normalerweise würden Menschen, Herrn gegeben, und nun geben wir uns
die auf diese Weise erprobt werden, ihr dir als seinem Verwalter. Du sagst uns,
Geld sparen, um für ihre Zukunft Vor- was wir tun sollen, weil du ein Apostel
sorge zu tragen, besonders dann, wenn Christi, unseres Herrn, bist.«
sie nicht besonders reich waren, wie es »Beiträge zum Werk des Herrn«, sagt
bei den Mazedoniern der Fall war. Sie G. Campbell Morgan, »sind nur dann
hatten nicht viel Geld. Doch ihre christli- wertvoll, wenn sie die Gaben derer sind,
che »Freude« war so überschwenglich, die selbst Gott hingegeben sind.«
daß sie alles normale Verhalten umkehr- 8,6 Der Apostel freut sich so über das
ten, als sie von der Not der Heiligen in Beispiel der Mazedonier, daß er nun
Jerusalem hörten, und freigebig spende- möchte, daß die Korinther ihnen nachei-

817
2. Korinther 8

fern. Und deshalb sagt er, daß er »Titus fen«, insbesondere im Licht des Eifers
zugeredet« habe, das Werk zu »vollen- und der Ernsthaftigkeit der mazedoni-
den«, das er in Korinth begonnen hatte. schen Christen in dieser Hinsicht. Als
Mit anderen Worten, als Titus das erste Paulus aussagt, daß er dies »befehlswei-
Mal die Korinther besucht hatte, hatte er se« gesagt habe, meint er damit nicht,
ihnen die Angelegenheit mit der Samm- daß diese Anweisung nicht inspiriert sei.
lung vorgelegt. Nun, wenn er zurück- Er meint einfach, daß man von Herzen
kehrt, soll er darauf hinarbeiten, daß die geben solle, »denn einen fröhlichen
guten Absichten sich in Taten äußern. Geber liebt Gott«.
8,7 Weil die Korinther auf so vielfache 8,9 An diesem Punkt fügt nun der
Weise hervorragend waren, (und das Apostel einen der großartigsten Verse in
war wirklich der Fall), möchte Paulus diesem wunderbaren Brief ein. Vor dem
nun, daß sie sich auch auf dem Gebiet Hintergrund der belanglosen Lebensum-
des Gebens hervortun. Er lobt sie für stände in Mazedonien und Korinth malt
alles, in dem sie »überströmend« sind: er ein wunderschönes Porträt des
im »Glauben und Wort und Erkenntnis großzügigsten Menschen, der je auf der
und allem Eifer (Ernsthaftigkeit) und« in Erde gelebt hat.
ihrer »Liebe« zu ihm. Im ersten Brief hat- Das Wort »Gnade« wird auf verschie-
te Paulus sie für ihre Erkenntnis und dene Weise im NT benutzt, doch hier ist
Beredtheit gelobt. Hier fügt er noch eini- unmißverständlich Großzügigkeit ge-
ge andere Tugenden hinzu, zweifellos als meint. Wie großzügig war der Herr
Ergebnis des Besuches des Titus. Jesus? Er war so großzügig, daß er um
Der Ausdruck »in Glauben« könnte unseretwillen alles gab, was er hatte, »da-
den festen Glauben an Gott bedeuten, die mit« wir »durch seine Armut« auf ewig
Gabe des Glaubens, oder ihre Treue in »reich« würden.
ihrem Verhalten gegenüber ihren Mit- Moorehead kommentiert:
menschen. Er war reich an Besitz, Macht, Ehre,
»Im Wort« bezieht sich zweifellos auf Gemeinschaft und Glück. Er wurde jedoch
ihre Fähigkeiten, sich auszudrücken, ein arm an Stellung, Umständen und in seinen
Thema, das im ersten Brief sehr viel Beziehungen zu Menschen. Wir werden auf-
Raum eingenommen hat. gefordert, etwas Geld, Kleidung oder Essen
37)
»In Erkenntnis« kann sich auf die ent- zu geben. Er gab sich selbst.
sprechende Geistesgabe oder auf ihre Dieser Vers lehrt, daß der Herr Jesus
weitläufige Einsicht in die göttlichen schon vor Grundlegung der Welt exi-
Wahrheiten beziehen. stiert hat. Wann war er »reich«? Sicher-
»In allem Eifer« beschreibt ihre Ernst- lich nicht als Kind in der Krippe von
haftigkeit, mit der sie in göttlichen Ange- Bethlehem! Und sicherlich auch nicht
legenheiten handelten. während seiner dreiunddreißig Jahre
Schließlich wird noch ihre »Liebe« zu währenden Wanderung »als heimatloser
Paulus erwähnt, weil sie lobenswürdig Fremdling in der Welt, die seine eigenen
ist. Nun wäre Paulus froh, wenn er noch Hände bereitet hatten«. Er war vorher in
einen weiteren Ausdruck dieser Liste der Ewigkeit reich, als er mit dem Vater
zufügen könnte, nämlich »in aller in den Höfen des Himmels lebte. Doch
Großzügigkeit«. Denney warnt vor »er wurde arm«. Das bezieht sich nicht
… dem Menschen, der großartige geistli- nur auf Bethlehem, sondern auch auf Na-
che Interessen hat, der brennt, viel betet, lie- zareth, Gethsemane, Gabbatha und Gol-
bevoll ist, vor der Gemeinde sprechen kann, gatha. Und all das geschah um unseret-
doch nicht in der Lage ist, sich von seinem willen, »damit« wir »durch seine Armut
36)
Geld zu trennen. reich« würden.
8,8 Paulus befiehlt dies nicht auf har- Wenn das wahr ist, und es ist ganz
te oder gesetzliche Weise, sondern würde bestimmt wahr, dann sollte es unsere
gerne die »Echtheit« ihrer »Liebe … prü- größte Freude sein, alles, was wir sind

818
2. Korinther 8

und haben, ihm zu geben. Kein Argu- che unseres Herrn Jesus Christus. Der
ment konnte inmitten dieser Diskussion Herr möchte, daß, wo immer unter den
des Paulus über das christliche Geben Christen Not herrscht, daß dann das
überzeugender sein. Geld von den Reicheren zu den Bedürfti-
gen fließt. Dieser ständige Fluß von Gel-
B. Guter Rat, die Sammlung zu dern zwischen den Gemeinden würde
vervollständigen (8,10.11) weltweit zu »Gleichheit« unter den Ge-
8,10 Nun wendet sich der Apostel wieder meinden führen.
an die Korinther. Sie hatten daran ge- So sollte also zu der Zeit, als Paulus
dacht, eine Sammlung für die Armen zu schrieb, Geld von Korinth, Mazedonien
machen, ehe sich die Mazedonier dazu und anderen Orten nach Jerusalem flie-
entschlossen hatten. Die Korinther hat- ßen. Doch vielleicht hätten die Heiligen
ten sogar damit angefangen, bevor es die in Jerusalem eines Tages genug, während
Mazedonier taten. Um nun konsequent dann in Korinth »Mangel« herrschen
zu sein, sollten sie zu Ende führen, was könnte. In solch einem Fall würde der
sie »seit vorigem Jahr« begonnen hatten. Geldfluß einfach umgekehrt. Das meint
Es würde ihr Vorteil sein, weil es ihre Paulus mit diesem Vers. Jetzt war die Not
Ehrlichkeit und Konsequenz im Glauben in Jerusalem, doch vielleicht könnte sie
beweisen würde. einmal in Korinth sein, und in diesem
8,11 Was immer der Grund dafür war, Falle würden ihnen dann andere helfen.
daß sich die Sammlung hinzog – Paulus 8,15 Dieses Prinzip der Gleichheit
sagt ihnen, daß sie diesen Grund gar wird durch ein Zitat aus 2. Mose 16,18
nicht mehr beachten und »vollbringen« unterstrichen. Als die Kinder Israel hin-
sollten, was sie ganz in »Bereitwilligkeit« ausgingen, um Manna zu sammeln,
angefangen hatten. Sie sollten es nach konnten einige mehr sammeln als ande-
den Möglichkeiten tun, die sie gerade re. Doch das war gar nicht wichtig. Als
hatten und nicht nach dem, was sie viel- das Manna verteilt wurde, erhielt jeder
leicht gerne tun würden, wenn sie einmal die gleiche Menge – ein Gomer, ein
reich sein würden. Hohlmaß von etwa 22 Liter. Deshalb:
»Wer viel sammelte, hatte keinen Über-
C. Drei Prinzipien für großzügiges fluß, und wer wenig sammelte, hatte kei-
Geben (8,12-15) nen Mangel.« Wenn jemand versuchte,
8,12 Es scheint, daß die Korinther die Manna zu horten, dann machten sich die
Sammlung für die bedürftigen Heiligen Würmer darüber her!
in Jerusalem deshalb verzögert hatten, Dieser Ausgleich geschah nicht durch
weil sie hofften, später mehr schicken zu ein Wunder oder durch Magie. Er wurde
können. Hier werden sie nun daran erin- möglich, weil diejenigen, die zu viel hat-
nert, daß es doch gar nicht darauf an- ten, mit denen teilten, die zu wenig hat-
kommt, wieviel sie senden. Wenn sie in ten. Hodge hat beobachtet:
ihrem Herzen wirklich das Verlangen Wir können aus 2. Mose und von Paulus
haben, an dieser guten Sache mitzuarbei- lernen, daß im Volk Gottes der Überfluß des
ten, dann nimmt Gott ihre Gabe an, ganz einen dazu benutzt werden sollte, die Nöte
gleich wie klein sie sein mag. Es geht anderer zu lindern, und daß jeder Versuch,
dabei um die Herzenshaltung. dieses Gesetz zu umgehen, in Verlust und
8,13 Es war nie die Absicht des Pau- Schande enden wird. Eigentum ist wie Man-
38)
lus, die Korinther in finanzielle Bedräng- na, man kann es nicht horten.
nis zu bringen. Seine Absicht war es Im gleichen Sinne spricht dieser Aus-
nicht, »anderen … Erleichterung« zu ver- zug von einem uns unbekannten Autor:
schaffen, während sie selbst dadurch in Gott möchte, daß jeder Mensch seinen
»Bedrängnis« gerieten. Anteil an den Gütern des Lebens erhält. Eini-
8,14 Dieser Vers beschreibt Gottes ge sammeln jedoch mehr, andere weniger.
Plan zur Vermeidung von Not in der Kir- Diejenigen, die mehr haben, sollten mit

819
2. Korinther 8

denen teilen, die weniger haben. Gott läßt zu, wieder andere für Trophimus. Doch
daß Eigentum ungleich verteilt ist, aber wenn wir hier versuchen zu raten, dann
nicht, damit der Reiche sich selbstsüchtig könnte es sein, daß wir den gesamten
damit vergnügt, sondern es mit den Armen Sinn des Abschnittes nicht erfassen. War
teilt. es nicht Absicht, den Namen unerwähnt
zu lassen? Zur echten Jüngerschaft ge-
D. Drei Brüder, die die Sammlung hört manchmal der Dienst im Verborge-
vervollständigen sollen (8,16-24) nen. Das war zum Beispiel so bei der
8,16 In diesen nächsten zwei Versen wird Magd, die an dem Aussätzigen Naaman
Titus für seine Haltung empfohlen, die er so sehr gebraucht wurde. Und genauso
in dieser Angelegenheit eingenommen ist es mit dem kleinen Jungen, der sein
hat. Erst wird »Gott« dafür gedankt, daß Mittagessen dem Herrn Jesus zur Verfü-
er »denselben Eifer für« die Korinther gung stellte.
»in das Herz des Titus gegeben hat«. 8,19 Dieser nicht genannte Bruder war
Paulus hat in ihm einen liebevollen Mit- »von den Gemeinden … gewählt wor-
arbeiter gefunden. Es erwies sich, daß den«, um die Reisen zu machen, die mit
Titus die Last, die der Apostel sich für die »diesem Gnadenwerk« verbunden wa-
Korinther aufgebürdet hatte, mittrug. ren. Mit anderen Worten, er ist ernannt
8,17 Paulus hat Titus ermahnt, mit worden, einer der Boten zu sein, der diese
diesem Brief nach Korinth zu reisen, freiwilligen Gaben überbrachte. Der Apo-
doch war die Ermahnung gar nicht nötig. stel sah sich und die anderen als Diener
Er wollte »aus eigenem Antrieb« hin- oder Verwalter dieses Gnadenwerkes. Sie
reisen. taten es »zur Herrlichkeit des Herrn
Der Ausdruck »er ist zu euch gegan- selbst«. Und sie wollten, daß es ihre Be-
gen« bedeutet wohl eigentlich: »Er wird reitschaft und ihren Eifer zeigte, den
zu euch gehen.« Das ist ein Beispiel für armen Heiligen in Jerusalem zu dienen.
den Aorist, wie er in Briefen verwendet 8,20 Der Apostel war zu weise, dieses
wird, wenn eine Handlung nicht von der Geld allein zu überbringen, oder es
Zeit aus gesehen wird, zu der Paulus den einem anderen Einzelnen anzuvertrau-
Brief schreibt, sondern von der Zeit, zu en. Er bestand darauf, daß es von einer
der die Korinther den Brief lesen. Fraglos Gruppe von zwei oder drei Leuten über-
war Titus derjenige, der den Brief nach bracht wurde. Das meint er hier in Vers
Korinth bringen sollte. Er reiste erst ab, 20. Um die Möglichkeit des Mißver-
als Paulus den Brief vollendet hatte. ständnisses oder eines Skandals zu ver-
8,18 Die Verse 18 bis 22 beschreiben hindern, stellte er sicher, daß »diese rei-
zwei weitere Brüder, die Titus bei seiner che Gabe« so überbracht wurde, daß dar-
Mission begleiten sollten. Der erste wird aus kein böses Gerede entstehen konnte.
in den Versen 18 bis 21 beschrieben, der 8,21 »Auf das Rechte bedacht« sein
zweite in Vers 22. Beide werden nicht mit bedeutet hier sicherzugehen, daß alles
Namen genannt. ehrlich abläuft. Paulus war sehr daran
Dieser Abschnitt der Schrift ist wert- gelegen, daß seine Handlungen nicht nur
voll, weil er zeigt, welche Vorsichtsmaß- »vor dem Herrn« ehrlich, sondern auch
nahmen Paulus bei der Verwaltung von »vor den Menschen« über alle böse
Spendengeldern traf, damit niemand ihn Nachrede erhaben waren. Morgan merkt
anklagen konnte, das Geld zu verun- dazu an: »Es ist die Aufgabe der christli-
treuen. chen Gemeinschaft, ihre Geschäfte so
Der erste »Bruder«, der erwähnt abzuwickeln, daß die Weltmenschen kei-
wird, wurde »wegen der Verkündigung nen Grund haben zu vermuten, daß es
39)
des Evangeliums« des Lobes wert geach- irgendwie unrecht bei ihnen zugehe.«
tet. Die Ansichten gehen weit auseinan- Nebenbei ist dieser Vers fast
der, wer damit gemeint sein könnte. Eini- deckungsgleich mit Sprüche 3,3.4 nach
ge stimmen für Lukas, andere für Silas, der Lesart der Septuaginta.

820
2. Korinther 8 und 9

8,22 Hier haben wir nun einen ande- licht. Und deshalb ist Paulus der Mei-
ren Bruder, dessen Namen wir nicht ken- nung, daß es nötig sei, sich »überflüssig«
nen und den Paulus ernannt hatte, in die- zu diesem Thema zu äußern.
ser wichtigen Angelegenheit zu helfen. 9,2 Ihre »Bereitwilligkeit« wurde
Er hatte sich »oft in vielem als eifrig« er- nicht in Frage gestellt. Von der Zeit der
wiesen, und nun zeigte er besonderen Erwähnung dieses Themas an hatten sie
Eifer in dieser Angelegenheit, weil er so mit »Eifer« und Ernsthaftigkeit mitgear-
»großes Vertrauen« zu den Korinthern beitet. Paulus hatte sich sogar vor den
hatte. Christen in Mazedonien ihres Verhaltens
8,23 Deshalb sagt Paulus, daß die gerühmt. Er hatte ihnen erzählt, »daß
Korinther, wenn irgend jemand nachfra- Achaja seit vorigem Jahr bereit ist«. Hier
gen sollte, wer diese drei seien, ihnen wird das Wort »Achaja« benutzt, um
sagen könnten, daß »Titus« Paulus’ Korinth zu bezeichnen, da Korinth in
»Gefährte« und »Mitarbeiter« an den Achaja liegt. Als die »Mazedonier« hör-
Korinthern ist, und daß die beiden ande- ten, daß die Korinther schon vor einem
ren »Brüder … Gesandte der Gemein- Jahr bereit gewesen waren, wurden viele
den« und »Christi Herrlichkeit« sind. Mazedonier »angereizt«. Sie hatten sich
Der Ausdruck »die Herrlichkeit Christi« mit dem Bazillus christlichen Gebens an-
ist sicherlich ein besonders lobender gesteckt und waren entschlossen, von
Ausdruck für diese Männer. Sie werden ganzem Herzen für diese Aufgabe zu
so genannt, weil sie Abgesandte »der spenden.
Gemeinden« sind. Sie lassen das Werk 9,3 Wenn Paulus hier sagt, daß er »die
des Herrn vor den Augen der Menschen Brüder gesandt« hat, dann meint er, daß
aufleuchten. Sie sind eine Empfehlung er sie senden wird. Die Vergangenheits-
für Gott und spiegeln seine Herrlichkeit form ist hier gewählt, damit die Zeitform
wider. aus der Perspektive der Leser und nicht
8,24 Angesichts all dessen sollten die aus der Perspektive des Schreibers
Korinther sie gut aufnehmen und sollten stimmt. »Die Brüder« sind die drei im
das »Rühmen« des Paulus rechtfertigen, vorhergehenden Kapitel erwähnten:
indem sie ihnen eine großzügige Gabe Titus und zwei nicht mit Namen genann-
für die Heiligen in Jerusalem anvertrau- te Christen. Sie sollten gesandt werden,
en. Das wäre für die umliegenden »Ge- damit das Rühmen des Paulus über die
meinden« ein »Beweis« ihrer christlichen Korinther in bezug auf die Sammlung
»Liebe«. GN übersetzt den Vers: »Zeigt nicht vergeblich sein würde. Die Aufga-
ihnen, daß eure Liebe echt ist und ich be der drei Brüder war sicherzustellen,
euch zu Recht gelobt habe. Dann sehen daß die Sammlung vollendet sei, wenn
es auch alle Gemeinden.« Paulus ankäme.
9,4 Wenn der Apostel sich nun auf die
E. Aufruf an die Korinther, Reise von Mazedonien nach Korinth im
das Rühmen des Paulus zu Süden aufmachen würde, war es nicht
rechtfertigen (9,1-5) unwahrscheinlich, daß ihn einer der
9,1 Es war eigentlich unnötig, den Ko- mazedonischen Gläubigen auf der Reise
rinthern zum Thema »Sammlung für be- begleiten würde. Wie beschämend wäre
dürftige ›Heilige‹« zu »schreiben« – und es dann für den Apostel Paulus, wenn er,
doch fährt Paulus damit fort. Vielleicht nachdem er sich der Korinther so ge-
liegt hier ein wenig Ironie vor. Sie hatten rühmt hatte und einen der »Mazedonier«
von Anfang an gezeigt, daß sie gewillt bei sich hätte, und er »finden« müßte,
waren, sich an der Sammlung für Jerusa- daß die Korinther nun wegen der Samm-
lem zu beteiligen. Soweit es um die Be- lung für Jerusalem noch nichts unter-
reitschaft ging, waren sie wirklich vor- nommen hätten! Wenn das passieren
bildlich. Doch sie hatten einfach ihre ur- würde, dann wäre das Vertrauen des
sprünglichen Absichten nicht verwirk- Paulus in die Korinther arg enttäuscht

821
2. Korinther 9

worden, »um nicht zu sagen«, daß die er für seine gegenwärtigen Bedürfnisse
Korinther selbst sich wirklich für ihre braucht. Er muß an seine normalen Ver-
Nachlässigkeit hätten schämen müssen. pflichtungen denken, was vollkommen
GN übersetzt hier sehr lebendig: gerechtfertigt ist. Doch danach sollte er
Wie stehe ich da, wenn dann Leute von an die Bedürfnisse seiner Mitchristen
Mazedonien mit mir kommen und feststellen, denken und an den Anspruch Christi an
daß es gar nicht so ist! Ich werde mich schä- ihn. Wenn er all das in seine Überlegun-
men müssen – und erst ihr selbst! gen einbezieht, dann sollte er »nicht mit
9,5 Aus diesem Grunde »hielt« Pau- Verdruß oder aus Zwang« geben. Es ist
lus es »für nötig«, diese drei »Brüder zu möglich, etwas zu geben, und doch dabei
bitten« nach Korinth voraus zu reisen, unglücklich zu sein. Es ist auch möglich,
ehe er selber kommen würde. Sie könn- daß man unter dem Druck emotionaler
ten so ihre »Gabe des Segens … zuberei- Spendenaufrufe oder öffentlicher Bloß-
ten«, die sie für die Heiligen in Jerusalem stellung gibt. Doch all das ist nicht rich-
»zuvor« angekündigt hatten. tig. »Einen fröhlichen Geber liebt Gott.«
»Damit diese so bereit sei wie eine Braucht Gott wirklich unser Geld?
Gabe des Segens und nicht des Geizes.« Nein, denn ihm gehört das Vieh auf tau-
Es geht hier überhaupt nicht darum, daß send Bergen, und wenn er etwas brau-
man diese Gelder aus den Leuten in Ko- chen würde, so würde er es uns nicht
rinth herauspressen wollte, sondern um sagen (Ps 50,10-12). Doch es geht ihm um
ein Zeichen ihrer Großzügigkeit, das frei- unsere Herzenshaltung. Er sieht gerne
willig gegeben werden sollte. Christen, die so erfüllt von der Freude
des Herrn sind, daß sie das, was sie
F. Der Lohn großzügigen Gebens haben, mit anderen teilen wollen.
(9,6-15) »Einen fröhlichen Geber liebt Gott«,
9,6 In den Versen 6 bis 15 führt der Apo- denn, wie Jowett sagt:
stel Paulus einige wunderbare Beloh- Freudiges Geben entsteht aus Liebe, und
nungen und Vorteile des christlichen Ge- deshalb liebt hier ein Liebender einen anderen
bens auf. Zunächst erklärt er das Gesetz Liebenden und man freut sich an der Ge-
von Saat und Ernte. Es ist eine jedem meinschaft. Geben ist die Sprache der Liebe,
Bauern wohlbekannte Tatsache, daß man sie hat ja gar keine andere! Gott hat so sehr
großzügig säen muß, um großzügig zu geliebt, daß er gab! Liebe findet ihr Leben dar-
ernten. Vielleicht ist der Bauer bereit, die in, sich selbst zu geben. Ihr einziger Stolz
Saat auszusäen. Soll er jedoch viel säen, über ihren Besitz besteht in der Freude, ihn
oder einen Teil der Saat benutzen, um hinzugeben. Wenn die Liebe alles hat, so
40)
sich in den kommenden Monaten davon besitzt sie doch nichts.
zu ernähren? Der Gedanke hier ist, daß 9,8 Hier haben wir nun die Verhei-
er, wenn er »segensreich sät«, auch über- ßung, daß Gott, wenn ein Mensch wirk-
proportional »segensreich ernten« wird. lich großzügig sein möchte, Gott ihm
Wir sollten uns das merken – der auch die Gelegenheit dazu geben wird.
Bauer erntet nicht den gleichen Betrag, »Gnade« steht hier für Mittel. »Gott aber
den er gesät hat, sondern proportional vermag« uns so mit Mitteln zu versor-
wesentlich mehr. Genauso gilt es für das gen, daß wir nicht nur selbst »Genüge«
christliche Spenden: Es geht nicht dar- haben, sondern auch in der Lage sind,
um, genau das zurückzuerhalten, was was wir haben mit anderen zu teilen,
man gegeben hat, sondern überpropor- und so »zu jedem guten Werk« reichlich
tional viel im Vergleich zur Gabe zu be- genug zu haben. Man beachte die Worte
kommen. Natürlich bekommt man eher »alles« und »jedes« in diesem Vers: »Jede
geistlichen Segen als Geld zurück. Gnade«, »allezeit«, »alles Genüge« und
9,7 »Jeder« soll geben, »wie er sich in »jedes gute Werk«.
seinem Herzen vorgenommen hat«. Es 9,9 Nun zitiert der Apostel Psalm
ist für ihn notwendig zu überlegen, was 112,9. Der Ausdruck »er hat ausgestreut«

822
2. Korinther 9

bezieht sich auf das Säen des Samens. immer wieder gesehen, welchen Wert
Der Vers beschreibt einen Mann, der Paulus auf »Danksagungen« legt. Alles
großzügig gesät hat, und zwar in seinen was dazu führt, daß dem Herrn gedankt
guten Werken. Sein gutes Werk war es, wird, hält Paulus für äußerst wichtig.
»den Armen« zu geben. Ist er dabei nicht 9,13 Und es gab noch andere Vorteile,
Verlierer? Nein! Denn »seine Gerechtig- die die Gaben der Korinther hervorbrin-
keit bleibt in Ewigkeit«. Das bedeutet, gen würden. Die Gaben wären ein ausge-
daß wir, wenn wir unsere guten Werke so sprochener Beweis für die Judenchristen,
verteilen wie der Sämann seinen Samen, daß am Leben der aus den Heiden Be-
uns Schätze im Himmel aufhäufen. Die kehrten wirklich »Christus« am Werk ge-
Ergebnisse unserer Güte werden in wesen ist. Zu gewissen Zeiten hatten die
Ewigkeit bestehen bleiben. Judenchristen große Zweifel an solchen
9,10 Das Bild vom »Sämann« geht Bekehrten wie den Korinthern. Vielleicht
weiter. Derselbe Gott, »der aber Samen sahen sie sie nicht als vollgültige Chri-
darreicht dem Sämann und Brot zur sten an. Doch diese Gaben wären für sie
Speise«, sorgt dafür, daß diejenigen, die der Beweis der »Bewährung« des Glau-
gute Werke tun, einen bestimmten Lohn bens der Korinther, und sie würden
erhalten. Als erstes »wird« er »Saat dar- »Gott … verherrlichen« für das, was das
reichen und mehren«, d. h. er wird uns »Evangelium Christi« in Achaja bewirkt
noch mehr Gelegenheit zum Geben hat, und auch für die großzügige Gabe,
schenken und wieder reichere Ernte, die ihnen zuteil wurde.
wenn wir seinem Volk Gutes tun. Außer- 9,14 Und das ist noch nicht alles! Es
dem wird er »die Früchte eurer Gerech- folgen noch zwei weitere Vorteile. Durch
tigkeit wachsen lassen«. Die Korinther die Gaben der Korinther an die Jerusale-
waren gerecht, als sie den Heiligen in mer Gemeinde würden die Judenchri-
Jerusalem spendeten. Als Ergebnis dieser sten von nun an sorgfältig für die Hei-
Spenden würden sie Frucht in Form von ligen in Korinth beten, und es würden
ewiger Belohnung erhalten. Wenn Gott zwischen ihnen enge Beziehungen ent-
ihre Möglichkeiten zur Hilfe vermehren stehen. Die Heiligen in Jerusalem wür-
würde, und sie noch an Großzügigkeit den sich nach den Korinthern »sehnen«,
zunehmen würden, dann würde auch weil den Korinthern eine solch »über-
die Belohnung dafür »wachsen«. schwengliche Gnade Gottes« zuteil
9,11 Es wird aus diesem Abschnitt wurde.
sicherlich deutlich, daß niemand ver- 9,15 An diesem Punkt bleibt dem
armt, wenn er sich selbst dem Herrn hin- Apostel nichts, als in einen Ausruf aus-
gibt, sondern auf jede gute Tat folgt eine zubrechen. Für viele Ausleger ist das ein
Reaktion, und die Belohnung steht in Rätsel geblieben. Sie können den Zusam-
keinem Verhältnis zur Gabe. So sagt Pau- menhang mit dem vorhergehenden nicht
lus hier, daß die Christen durch ihr erkennen. Und sie fragen sich, was mit
Geben »in allem reich« gemacht würden, der »unaussprechlichen Gabe« gemeint
damit sie auch weiterhin »Freigebigkeit« ist.
üben könnten. Als der Apostel sich nun Doch es scheint uns so zu sein, daß
die Zukunft vorstellte, wie die Korinther der Apostel Paulus hier das Ende seiner
in der Gnadengabe des Gebens wachsen Ausführungen über das christliche
würden, dann würden sie (die Apostel) Geben erreicht, und nun an den größten
Gott »Danksagung« darbringen. Geber überhaupt denken muß – »Gott«
9,12 Wenn nun die Gabe der Ko- selbst. Er denkt auch an die größte aller
rinther in Jerusalem verteilt würde, dann »Gaben« – nämlich an den Herrn Jesus
würde sie nicht nur dazu dienen, »den Christus. Und deshalb möchte er die
Mangel der Heiligen« auszufüllen, son- Korinther auf diesem Berg der Anbetung
dern auch dazu führen, daß viele Men- zurücklassen. Sie sollten einem solch
schen »Gott« danken würden. Wir haben würdigen Beispiel nacheifern!

823
2. Korinther 10

III. Paulus’ Verteidigung seiner 10,2 Dieser Vers gehört zum ersten Teil
Apostelschaft (Kap. 10 – 13) von Vers 1. Dort fing Paulus an, die Ko-
Die letzten vier Kapitel dieses Briefes be- rinther zu bitten, doch er hat ihnen den
fassen sich hauptsächlich mit der Vertei- Inhalt seiner Bitte noch nicht mitgeteilt.
digung der Apostelschaft des Paulus. Die Hier erklärt er sich nun ausführlicher:
Worte des Apostels Petrus scheinen »Ich bitte aber darum, daß ich anwesend
besonders für diesen Teil der Schriften nicht mutig sein muß, mit der Zuver-
von Paulus eine angemessene Beschrei- sicht, mit der ich gedenke, gewissen Leu-
bung zu sein: »In diesen Briefen ist eini- ten gegenüber kühn aufzutreten, die von
ges schwer zu verstehen.« Paulus ant- uns denken, wir wandelten nach dem
wortet offensichtlich auf Anklagen seiner Fleisch.« Er wollte ihnen gegenüber gar
Gegner, doch wir sind gezwungen, selbst nicht »mutig« sein, sondern nur gegen
rückzuschließen, welche Anklagen das diejenigen, die ihn anklagten, fleischlich
waren, während wir die Antworten des zu handeln.
Paulus darauf auslegen. Im gesamten 10,3 Hier geht es darum, daß die Apo-
Abschnitt spricht der Apostel immer wie- stel zwar »im Fleisch«, d. h. in normalen
der ironisch. Die Schwierigkeit besteht Leibern, leben mußten, aber daß sie den
darin, zu erkennen, wann das der Fall ist! christlichen Kampf nicht mit fleischli-
Dennoch habe wir es mit einem Bibel- chen Methoden führten.
abschnitt zu tun, der den intensiven 10,4 »Die Waffen« des christlichen
Leser sehr belohnt, und wir wären ohne »Kampfes sind nicht fleischlich«. Der
diese Zeilen sicherlich um einiges ärmer. Christ verwendet z. B. keine Schwerter,
Kanonen oder die Strategie der moder-
A. Die Antwort des Paulus an seine nen Kampfführung, um das Evangelium
Ankläger (10,1-12) überall zu verbreiten. Doch das sind
10,1 In den Versen 1-6 finden wir die Ant- nicht die einzigen fleischlichen Waffen,
wort des Apostels an diejenigen, die ihn von denen der Apostel hier spricht. Der
anklagten, auf weltliche Weise gehandelt Christ verwendet auch keinen Reichtum,
zu haben. keine Herrlichkeit, keine Macht, keinen
Zuerst stellt er sich einfach vor: »Ich Überfluß und auch kein Ränkespiel, um
selbst aber, Paulus.« Als zweites bittet er seine Ziele zu erreichen.
die Heiligen, doch nicht diktatorisch zu Statt dessen benutzt er Methoden, die
handeln. Als drittes gründet er seinen »mächtig für Gott zur Zerstörung von
Appell auf »die Sanftmut und Milde Festungen« sind. Glaube an den Lebendi-
Christi«. Er denkt natürlich an den Weg, gen Gott, Gebet und Gehorsam gegen das
den der Herr Jesus hier auf Erden als Wort Gottes sind die wirksamen Waffen
Mensch gegangen ist. Dies ist, nebenbei jedes echten Soldaten Christi. Durch sie
gesagt, eine der wenigen Erwähnungen werden »Festungen« geschliffen.
des irdischen Lebens Jesu bei Paulus. 10,5 Dieser Vers sagt uns, was in Vers
Normalerweise erwähnt der Apostel den 4 mit »Festungen« gemeint war.
auferstandenen und verherrlichten Chri- Paulus sah sich selbst als Soldaten,
stus, der zur Rechten Gottes sitzt. der gegen die stolzen Argumente der
Paulus beschreibt sich nun selbst wei- Menschen vorging, gegen »Vernünftelei-
ter: »Der ich ins Gesicht zwar demütig en«, die gegen die Wahrheit stehen. Die
unter euch, abwesend aber mutig gegen Art dieser »Vernünfteleien« wird mit
euch bin.« Das ist offensichtlich ironisch dem Ausdruck »gegen die Erkenntnis
gesprochen. Seine Kritiker hatten von Gottes« beschrieben. Es könnte sich heu-
ihm gesagt, daß er feige sei, wenn er per- te auf die Argumente von Wissenschaft-
sönlich anwesend war, doch wenn er »ab- lern, Evolutionisten, Philosophen, Religi-
wesend« war, dann war er »mutig« wie onswissenschaftlern und Vertretern von
ein Löwe. Sein Mut zeige sich in seiner Religionen handeln, die in ihrem System
anmaßenden Haltung in seinen Briefen. keinen Platz für Gott haben. Der Apostel

824
2. Korinther 10

hatte nicht im Sinn, mit ihnen Frieden zu Christus gehören. Deshalb kann sich die-
schließen. Er fühlte sich eher verpflichtet, ser Abschnitt kaum auf die falschen Apo-
»jeden Gedanken … unter den Gehor- stel und betrügerischen Mitarbeiter be-
sam Christi … gefangen« zu nehmen. ziehen, die sich selbst zu Aposteln Chri-
Alle Lehren und Spekulationen der Men- sti machten (11,4). Es scheint, daß Paulus
schen müssen im Licht der Lehre des in diesem Brief verschiedenen seiner
Herrn Jesus Christus beurteilt werden. Gegner antwortet, von denen einige ge-
Paulus will hier nicht menschliche Argu- rettet, andere jedoch nicht gerettet
mente an sich verurteilen, doch er warnt waren.
davor, daß wir nicht unseren Verstand 10,8 Als Apostel Jesu Christi war Pau-
dazu benutzen, gegen den Herrn zu trot- lus die »Vollmacht« über die Gemeinden
zen und ihm ungehorsam zu sein. gegeben, die er gegründet hatte. Das Ziel
10,6 Als Soldat Christi war der Apo- dieser Vollmacht war, die Heiligen in
stel auch »bereit, allen Ungehorsam zu ihrem allerheiligsten Glauben zu er-
strafen, wenn« die Korinther zunächst bauen. Die Irrlehrer dagegen handelten
erst einmal ihren »Gehorsam« gezeigt in einer Vollmacht, die sie nie vom Herrn
hätten. Er würde erst gegen die Irrlehrer erhalten hatten. Und nicht nur das, son-
in Korinth vorgehen, wenn er sich zu- dern sie übten diese Autorität auf eine
nächst versichert hatte, daß die Gläu- Art und Weise aus, die die Heiligen her-
bigen in allen Angelegenheiten »gehor- unterzog statt sie zu erbauen. Deshalb
sam« seien. sagt Paulus, daß er selbst dann nicht
10,7 Der erste Satz könnte eine Frage zuschanden würde, wenn er sich »etwas
sein: »Sehet ihr auf das, was vor Augen mehr« der »Vollmacht« rühmte. Seine
ist?« (Elb). Es könnte aber auch eine Fest- Behauptungen würden sich schließlich
stellung einer Tatsache sein: »Ihr seht als wahr erweisen.
alles nur oberflächlich« (nach einer engli- 10,9 Er hat das gesagt, damit es nicht
schen Übersetzung). Oder wir haben es »den Anschein« erweckt, er wolle die
mit einer Aufforderung zu tun: »Seht Christen »durch die Briefe schrecken«.
doch auf das, was vor Augen ist!« D. h.: Mit anderen Worten, wenn sich der Apo-
»Verschließt eure Augen doch nicht vor stel seiner Autorität von Gott rühmte, so
den Tatsachen!« (Hfa). wollte er nicht, daß die Christen dächten,
Wenn wir den Satz als Aussage neh- er wolle sie ängstigen. Damit würde er
men, dann bedeutet er, daß die Korinther nur seinen Kritikern in die Hände spie-
geneigt waren, einen Menschen danach zu len. Die Korinther sollten sich lieber dar-
beurteilen, ob er eine gebieterische Hal- an erinnern, daß seine Autorität dazu
tung hat, ob er eindrücklich reden oder gegeben war, sie aufzuerbauen, und daß
logisch argumentieren kann. Sie ließen er sie dazu auch benutzt hatte.
sich durch Äußerlichkeiten beeinflussen, 10,10 Hier dürfen wir nun einmal
statt auf innere Qualitäten zu achten. genau die Anklage hören, die gegen den
»Wenn jemand sich zutraut, daß er Apostel Paulus erhoben wurde. Seine
Christus angehört, so denke er anderer- Gegner klagten ihn an, daß er zwar
seits dies bei sich selbst, daß, wie er Chri- Drohbriefe schrieb, doch seine »leibliche
stus angehört, so auch wir.« Hier könnte Gegenwart ist schwach und die Rede zu
sich Paulus auf die beziehen, die sagten: verachten«.
»Ich bin Christi« (1. Kor 1,12), und wahr- 10,11 Jeder, der solche Vorwürfe er-
scheinlich alle anderen mit dieser Bemer- hob, sollte »bedenken«, daß Paulus ge-
kung ausschließen wollten. Er antwortet nau derselbe sein würde, wenn er bei
damit, daß niemand ein ausschließliches ihnen »anwesend« wäre, wie er auch in
Recht an Christus haben kann. Er gehört den »Briefen« ist. Das bedeutet nicht, daß
ebenso dem Herrn wie sie. Paulus zugibt, in seinen Briefen an-
Wer immer diese exklusiven Christen maßend gewesen zu sein. Das sagte man
waren, Paulus leugnet nicht, daß sie zu ihm nach. Doch er sagt, daß er sie hart an-

825
2. Korinther 10

fassen würde, wenn er sie träfe. Er wür- Paulus erklärt nun, daß er sich
de in dieser Hinsicht sicher nicht feige »nicht« über etwas »rühmen« will, das
sein. außerhalb »des Wirkungskreises« seines
10,12 Es ist offensichtlich, daß diese Dienstes für Christus lag. Er will sich der
Irrlehrer die Angewohnheit hatten, sich Orte und Menschen rühmen, an denen
mit anderen zu vergleichen. Sie stellten Gott seinen Dienst gebraucht hat. Das
Paulus als lächerlich hin. Sie waren der würde z. B. Korinth einschließen, da er
Ansicht, daß sie selbst zum harten Kern das Evangelium dorthin gebracht und
gehörten. Sie waren die Elite. Nach ihrer sich daraufhin eine Gemeinde gebildet
Ansicht konnte keiner mit ihnen mithal- hat.
ten und in einem so guten Licht daste- In Wirklichkeit war Paulus beauftragt
hen. Deshalb sagt Paulus offensichtlich worden, das Evangelium zu den Heiden
spottend: »Denn wir wagen nicht, uns zu bringen. Dieser Auftrag umschloß
gewissen Leuten von denen, die sich natürlich auch Korinth. Die Apostel in
selbst empfehlen, beizuzählen oder Jerusalem hatten das bestätigt, doch nun
gleichzustellen; aber da sie sich an sich kamen Irrlehrer von Jerusalem und
selbst messen und sich mit sich selbst arbeiteten in den Provinzen, die Gott
vergleichen, sind sie unverständig.« Sie Paulus übertragen hatte.
klagten zwar Paulus an, in seinen Briefen 10,14 Der Apostel läßt sich nicht dazu
mutig zu sein, doch ist er hier nicht hinreißen, sich ausführlich zu rühmen.
mutig genug, sich unter diejenigen zu Gott hatte ihm ein Arbeitsgebiet zuge-
zählen, »die sich selbst empfehlen«, oder wiesen und zu diesem Arbeitsgebiet ge-
mit denen, deren Vergleichsmaßstab nur hörte Korinth. Er war nach Korinth
ihr eigenes Leben ist. gekommen, hatte dort das Evangelium
Es sollte doch klar sein, daß, wenn je- gepredigt und eine Gemeinde gegrün-
mand nur sich selbst als Maßstab nimmt, det. Wenn er das in Korinth nicht erreicht
er immer im Recht ist! Es gibt keine Mög- hätte, dann könnte ihm vorgeworfen
lichkeit einer Verbesserung. Wer so han- werden, daß er sich über Gebühr rühmen
delt, ist »unverständig«. Jemand hat ein- würde.
mal treffend gesagt: »Es ist das Verhäng- Er mußte Versuchungen, Prüfungen,
nis aller Cliquen und Zirkel, daß sie igno- Anfechtungen und Schwierigkeiten
rieren, daß es außerhalb ihrer Gruppe durchstehen, damit er die Korinther er-
auch noch talentierte Menschen gibt.« reichen konnte. Nun drangen andere in
sein Arbeitsgebiet ein, in dem er Pionier-
B. Das Prinzip des Paulus: Neuland arbeit geleistet hatte, und sie rühmten
für Christus erobern (10,13-16) sich lauthals ihrer Erfolge.
10,13 In den Versen 13 bis 16 erklärt Pau- Die Einheitsübersetzung übersetzt
lus seine Absicht, sich nur in dem »Wir- diesen schwierigen Vers: »Wir über-
kungskreis« des Dienstes zu rühmen, schreiten also nicht unser Maß, wie wir
»den Gott« ihm gegeben hat. Er hat es es tun würden, wenn wir nicht bis zu
sich zum Prinzip gemacht, sich nicht in euch gelangt wären, denn wir sind wirk-
die Arbeit irgendeines anderen hineinzu- lich als erste mit dem Evangelium Christi
drängen, wenn er sich rühmen will. Das bis zu euch gekommen.«
ist offensichtliche eine Anspielung auf 10,15 Der Apostel ist entschlossen,
die Irrlehrer. Es war ihr Prinzip, sich in sich »nicht« für etwas zu rühmen, das
Gemeinden einzuschleichen, die vom nicht unmittelbar das Ergebnis seines
Apostel Paulus oder einem anderen eigenen Dienstes für Christus gewesen
Christen gegründet wurden, und dort wäre. Genau dessen machten sich jedoch
auf dem Fundament weiterzuarbeiten, die Irrlehrer schuldig: Sie rühmten sich
das andere gelegt haben. Wenn sie sich der Arbeit anderer Menschen. Sie ver-
rühmten, dann in Wirklichkeit der Arbeit suchten, die Schafe des Paulus zu steh-
anderer. len, schädigten seinen Ruf, widerspra-

826
2. Korinther 10 und 11

chen seiner Lehre und maßten sich Offensichtlich hatten sich die Irrleh-
fälschlicherweise Autorität an. rer sehr des Selbstruhmes schuldig ge-
Paulus hoffte, daß, wenn der »Glau- macht. Sie gaben offensichtlich glühende
be« der Korinther »wachsen« würde, er Berichte von ihrem Dienst und ihren
weiterreisen könnte, und ihr Glaube sich spektakulären Erfolgen. Das hat Paulus
in praktischer Hilfe ausdrücken würde, dagegen nie getan, er hat immer Christus
die es ihm ermöglichen würde, als Gottes gepredigt und nicht sich selbst.
Apostel noch weitere Regionen zu Die Korinther schienen den Dienst zu
erschließen. Wenn er so seinen Dienst bevorzugen, bei dem sich mehr gerühmt
ausweitete, dann würde er damit konse- wurde, und deshalb bittet Paulus, daß sie
quent seinen Prinzipien folgen. es zulassen, daß er sich auch eine Weile
Die Probleme in Korinth nahmen sei- auf diese Weise empfiehlt.
ne Zeit so sehr in Anspruch, daß er abge-
halten wurde, seine Aufgabe in ferneren D. Paulus’ Bekräftigung seiner
Gebieten zu erfüllen. Apostelschaft (11,1-15)
10,16 Sein Prinzip war, »das Evange- 11,1 »Möget ihr doch ein wenig Torheit
lium weiter über« die Korinther »hinaus von mir ertragen! Doch ihr ertragt mich
zu verkündigen« (wahrscheinlich meinte ja auch.« Paulus will, daß sie ihn ertra-
er damit Westgriechenland, Italien und gen, wenn er ein wenig aufschneidet.
Spanien) und sich »nicht in fremdem Doch dann merkt er, daß sie das schon
Wirkungskreis … dessen zu rühmen, tun, und so ist seine Bitte eigentlich
was schon fertig ist«. Der Apostel hatte unnötig.
nicht die Absicht, in anderer Leute 11,2 Er gibt drei Gründe an, aus
Arbeitsfelder einzudringen, oder sich denen er sie so bittet. Der erste ist, daß er
dessen zu rühmen, was andere Men- »um« die Korinther »mit Gottes Eifer«
schen erreicht hatten. geeifert habe. Er hatte sie »einem Mann
verlobt«, damit er sie als »eine keusche
C. Das wichtigste Ziel des Paulus: Die Jungfrau vor den Christus« hinstellen
Empfehlung des Herrn (10,17.18) könnte. Paulus fühlte seine persönliche
10,17 Wenn sich schon jemand »rühmen« Verantwortung für das geistliche Wohl-
wolle, dann sollte er »sich des Herrn« ergehen der korinthischen Heiligen. Es
rühmen. Zweifellos bedeutet das, daß war sein Anliegen, daß er sie an einem
man sich nur dessen rühmen solle, was zukünftigen Tag, d. h. bei der Ent-
der Herr durch einen getan hat. Das rückung, dem Herrn Jesus Christus vor-
scheint die allgemeine Argumentations- stellen könnte, und zwar ohne daß sie
richtung des Paulus zu sein. vorher durch die damals gängigen Irr-
10,18 Außerdem ist die Selbstemp- lehren verdorben wurden. Deshalb war
fehlung sicher nicht das, was uns Gottes er regelrecht eifersüchtig, so daß er bereit
Billigung einträgt. Die Kritiker des Pau- war, sich zu etwas hinreißen zu lassen,
lus sollten sich folgende Frage stellen: das ihm als Torheit erschien.
Hat der Herr dich dadurch empfohlen, 11,3 Der zweite Grund, warum sich
daß er deinen Dienst so gesegnet hat, daß Paulus hier der Gefahr aussetzt, sich
Menschen gerettet, Heilige im Glauben lächerlich zu machen, war seine Befürch-
gefestigt und Gemeinden gegründet tung, daß die Heiligen betrogen werden
wurden? Kannst du die Anerkennung könnten und ihr »Sinn von der Einfalt«
deines Dienstes durch den Herrn damit und Reinheit der Hingabe an »Christus«
beweisen, daß du auf Menschen hinwei- abgewandt werden könnte. Hier bedeu-
sen kannst, die durch deine Predigt be- tet »Einfalt«, daß man einer Sache ganz
kehrt worden sind? Das allein zählt! Pau- zugewendet ist. Er wollte, daß sie sich
lus war gewillt und in der Lage, solche dem Herrn Jesus allein hingaben, und
Beweise der Empfehlung des Herrn für wollte nicht zulassen, daß ihre Gefühle
seinen Dienst beizubringen. von irgend jemand anders in Anspruch

827
2. Korinther 11

genommen würden. Außerdem wollte eigentlich deutlich gewesen sein, weil sie
er, daß sie unbefleckt in ihrer Hingabe an vom Apostel Paulus ihr Wissen über den
den Herrn blieben. christlichen Glauben erhalten hatten.
Der Apostel erinnert sich, »wie die Wie schlecht auch immer die Rhetorik
Schlange Eva durch ihre List verführte«. des Paulus gewesen sein mag, offensicht-
Die Schlange verführte ebenfalls über lich hatte er sich doch den Heiligen in
Evas Verstand oder Intellekt. Und genau Korinth verständlich machen können.
dasselbe taten auch die Irrlehrer in Ko- Sie selbst müßten dafür Zeugnis ablegen.
rinth. Paulus wollte jedoch, daß das Herz 11,7 Wenn seine holprige Sprache
der Korinther ungeteilt und unbefleckt nicht der Grund war, daß die Korinther
blieb. eine solch negative Haltung ihm gegen-
Man beachte, daß Paulus den Bericht über hatten, dann war es vielleicht, daß
von Eva und der Schlange als Tatsache, er Anstoß gegeben hatte, indem er sich
nicht als Mythos behandelt. »selbst erniedrigte«, um sie zu »erhö-
11,4 Der dritte Grund, warum der hen«. Der Schluß des Verses beschreibt,
Apostel sich ein wenig Torheit gestattete, was er hier meint. Als der Apostel bei
war, daß die Korinther ihre Bereitschaft den Korinthern war, hat er von ihnen
gezeigt hatten, auf Irrlehrer zu hören. keinerlei finanzielle Hilfe angenommen.
Wenn jemand nach Korinth käme, Vielleicht waren sie nun der Meinung,
und wirklich »einen anderen Jesus« pre- daß er eine Sünde begangen habe, daß er
digen, »einen anderen Geist« vermitteln, einen solch demütigen Platz eingenom-
und »ein anderes Evangelium« bringen men hatte, damit sie den höheren erhal-
würde, dann würden die Korinther das ten hatten.
ganz bereitwillig ertragen. Sie tolerierten 11,8 Der Ausdruck »andere Gemein-
solche Ansichten auf liebenswürdige den habe ich beraubt« ist hier ein Sprach-
Weise. Paulus sagt hier sarkastisch: bild, das man als Hyperbel bezeichnet.
»Wenn ihr andere so liebenswürdig er- Es handelt sich dabei um eine rhetorische
tragt, warum nicht auch mich?« Übertreibung, die eine gewisse Wirkung
Die letzten Worte des Verses: »so beim Hörer hervorrufen soll. Paulus
ertragt ihr das recht gut« müssen iro- meint hier natürlich nicht, daß er wört-
nisch verstanden werden. Der Apostel lich andere Gemeinden ausgeraubt habe,
will hier nicht billigen, daß sie die Irr- sondern er will hier einfach sagen, daß er,
lehre annehmen, sondern rügt sie für als er dem Herrn in Korinth diente,
ihre Leichtgläubigkeit und ihr mangeln- finanzielle Unterstützung von »anderen
des Urteilsvermögen. Gemeinden« erhielt, damit er den Ko-
11,5 Der Grund, aus dem sie Paulus rinthern dienen konnte, ohne daß diese
ertragen sollen, lautet, daß er »den über- ihn bezahlen mußten.
großen Aposteln in nichts nachgestan- 11,9 Es gab während seines Aufent-
den« hat. Der Ausdruck »übergroße haltes in Korinth Zeiten, in denen der
Apostel« wird hier sarkastisch verwen- Apostel Paulus wirklich »Mangel litt«.
det. Die wörtliche (und sehr modern Berichtete er den Korinthern davon und
klingende!) Übersetzung lautet »Super- bestand er darauf, daß sie ihm helfen
Apostel«. sollten? Sicherlich nicht. Einige »Brüder
Die Reformatoren zitierten diesen … die aus Mazedonien kamen« brachten
Vers, wenn sie die papistische Vorstel- ihm, was ihm an Materiellem mangelte.
lung bekämpften, daß Petrus der erste Auf jede mögliche Weise verhinderte
der Apostel gewesen sei und daß die Päp- der Apostel, daß er ihnen »zur Last fiel«,
ste dieses Primat übernommen hätten. und er war entschlossen, das auch wei-
11,6 Auch wenn Paulus »ein Unkun- terhin so zu handhaben. Bei den Ko-
diger in der Rede« gewesen sein mag, so rinthern würde er nicht auf seinem Recht
war er es doch sicherlich »nicht in der als Apostel bestehen, von ihnen unter-
Erkenntnis«. Das sollte den Korinthern halten zu werden.

828
2. Korinther 11

11,10 Paulus ist entschlossen, daß mehr länger zurückhalten! Er muß sie
ihm niemand den Grund für »dieses mit Namen nennen. »Solche sind falsche
Rühmen für mich in den Gegenden von Apostel« in dem Sinne, daß sie nie vom
Achaja« nehmen kann, wo Korinth liegt. Herrn Jesus Christus ausgesandt wur-
Er bezieht sich hier zweifellos auf seine den. Sie haben sich das Amt entweder
Kritiker, die seine Zurückhaltung als angemaßt oder haben es durch andere
Argument gegen ihn angeführt haben. übertragen bekommen. Sie sind »betrü-
Sie sagten, daß er erkannt hat, kein echter gerische Arbeiter«, und damit beschreibt
Apostel zu sein, und deshalb habe er er die Methoden, mit denen sie von
nicht darauf bestanden, von den Chri- Gemeinde zu Gemeinde gingen, um sich
sten unterstützt zu werden (1. Kor 9). eine Anhängerschaft für ihre Irrlehren zu
Trotz der Anklagen seiner Kritiker will er sichern. Indem sie »die Gestalt von Apo-
sich weiter rühmen, daß er den Ko- steln Christi annehmen«, geben sie vor,
rinthern gedient hat, ohne Geld von Jesus hier auf Erden zu vertreten. Paulus
ihnen zu verlangen. hatte nicht die Absicht, sich mit »sol-
11,11 »Warum« will er sich so rüh- chen« auf die gleiche Stufe zu stellen.
men? »Weil« er etwa die Korinther »nicht Was für die Irrlehrer damals galt, gilt
liebt«? »Gott weiß«, daß dem nicht so ist. auch noch heute für sie. »Das Böse könn-
Sein Herz war von tiefster Zuneigung zu te uns nie verführen, wie wir alle wissen,
ihnen erfüllt. Es scheint so gewesen zu wenn wir es einfach sehen könnten, wie
sein, daß der Apostel kritisiert wurde, es ist. Verstellung ist für seine Machter-
ganz gleich, wie er sich verhielt. Hätte er haltung wichtig und es spricht den Men-
Geld von den Korinthern genommen, schen mittels Ideen und Hoffnungen an,
dann hätten seine Gegner gesagt, er habe die nicht gerade gut genannt werden
nur um des Geldes willen gepredigt. können« (sinngemäß).
Indem er kein Geld von ihnen nahm, 11,14 Der Apostel hat soeben ausge-
setzte er sich der Anschuldigung aus, sagt, daß seine Kritiker sich in Korinth
daß er sie nicht wirklich »liebe«. Doch fälschlich als Apostel Christi hingestellt
»Gott weiß«, was hier wahr ist, und Pau- hätten. Doch er ist nicht erstaunt, daß sie
lus begnügt sich damit, es ihm zu über- so handeln, wenn er an die Taktik ihres
lassen. Herren denkt: »Und kein Wunder, denn
11,12 Es scheint eindeutig zu sein, der Satan selbst nimmt die Gestalt eines
daß die Irrlehrer von den Korinthern Engels des Lichts an.«
Geld erwartet, verlangt und auch erhal- Satan wird heute meist als gehörntes,
ten hatten. Wie die meisten Sektenpredi- böse aussehendes Geschöpf mit roter
ger hätten sie nicht gedient, hätte es sich Haut und einem Schwanz dargestellt.
finanziell nicht für sie gelohnt. Paulus Doch das ist weit von dem entfernt, wie
war entschlossen, sein Prinzip weiter er sich den Menschen heute zeigt.
aufrecht zu erhalten, von den Gläubigen Andere denken, daß Satan ein armer
in Korinth kein Geld anzunehmen. Wenn Betrunkener ist, der sich in der Gosse
die Irrlehrer sich im Rühmen mit ihm wälzt. Doch all das ist eine völlig falsche
anlegen wollten, so sollten sie erst einmal Vorstellung davon, wie Satan wirklich
seiner Praxis folgen. Doch er wußte, daß aussieht.
sie nie in der Lage sein würden, sich Dieser Vers erklärt, daß er sich als
damit aufzuspielen, daß sie dienten, »Engel des Lichts« verkleidet. Vielleicht
ohne daß sie dafür geldlich entschädigt können wir mit einem Bild sagen, daß er
würden. So nahm er ihnen die Grundla- als Diener des Evangeliums auftritt, kle-
ge für ihre Aufschneiderei. rikale Kleidung trägt und auf der Kanzel
11,13 Und nun macht sich die wirkli- einer modischen Kirchengemeinde steht.
che Ansicht des Paulus über diese Män- Er benutzt einen frommen Wortschatz
ner Luft, die er bisher im Brief noch zu- wie Gott, Jesus und die Bibel sagt. Doch er
rückgehalten hatte. Er kann sich nicht täuscht sein Zuhörer und lehrt, daß man

829
2. Korinther 11

die Erlösung durch gute Werke und Die andere Auslegungsmöglichkeit


menschliche Verdienste erringen kann. besteht darin, daß Paulus hier etwas tut,
Er predigt nicht die Erlösung durch das das nicht »dem Herrn« entspricht, näm-
Blut Christi. lich sich rühmen, und zwar in dem Sin-
11,15 Darby hat einmal ganz richtig ne, daß er damit nicht dem Beispiel des
festgestellt, daß Satan erst wirklich sata- Herrn folgte. Der Herr Jesus hat sich nie
nisch ist, wenn er mit der Bibel unter selbst gerühmt.
dem Arm daherkommt. Das ist der Ge- In der Einheitsübersetzung wird eher
danke von Vers 15. Wenn schon Satan die erste Ansicht deutlich: »Was ich hier
sich verkleidet, dann ist es kaum ver- sage, sage ich nicht im Sinn des Herrn,
wunderlich, wenn seine Helfershelfer sondern sozusagen als Narr im falschen
dasselbe tun. Wie treten sie auf? Als Irr- Stolz des Prahlers.«
lehrer? Als Atheisten? Als Ungläubige? Doch wir ziehen die zweite Ausle-
Nein, natürlich nicht. Sie geben sich als gung vor – daß das »Rühmen« nicht
»Diener der Gerechtigkeit« aus. Sie be- »nach dem Herrn« war, und daß Paulus
kennen, dem Christentum zu dienen. Sie in scheinbarer Torheit handelte, als er so
geben vor, Menschen den Weg der Wahr- prahlte. Ryrie kommentiert: »Er mußte
heit und der »Gerechtigkeit« zu führen, sich nun darin [im Rühmen] ergehen,
doch sind sie in Wirklichkeit Handlanger sagt er, und zwar gegen seine natürlichen
des Bösen. Instinkte, damit er ihnen einige wichtige
41)
»Ihr Ende wird ihren Werken entspre- Tatsachen ins Gedächtnis rufen kann.«
chen.« Sie zerstören – und sie werden 11,18 Die Korinther hatten kürzlich
zerstört werden. Ihre Taten führen Men- viel von den Männern zu hören bekom-
schen dem Verderben zu, und auch sie men, die sich in ihrer verdorbenen
werden auf ewig verloren gehen. menschlichen Natur aufspielten. Wenn
die Korinther der Ansicht waren, daß
E. Die Leiden des Paulus für Christus diese Irrlehrer genügend Grund zum
beweisen seine Apostelschaft prahlen hatten, dann sollten sie nun sei-
(11,16-33) ne Prahlerei einmal bedenken und sehen,
11,16 Paulus hofft, daß niemand ihn »für ob sie nicht wohlbegründet sei.
töricht« hält, wenn er das sagt. Doch 11,19 Und wieder greift Paulus auf
wenn sie darauf bestehen, daß er töricht die Satire zurück. Er bittet sie nur darum,
ist, dann sollen sie ihn doch »als einen mit ihm zu verfahren, wie sie täglich mit
Törichten« annehmen, damit er sich auch andern verfuhren. Sie glaubten sich zu
»ein wenig rühmen kann«. klug, als daß sie durch Torheit hätten
Man beachte das Wort »auch« im überzeugt werden können. Doch genau
zweiten Teil des Verses: »Damit auch ich das war passiert, wie er ihnen nun er-
mich ein wenig rühmen kann.« Dieses klären will.
Wort hat eine wichtige Bedeutung. Die 11,20 Sie waren bereit, die beschriebe-
Irrlehrer rühmten sich sehr. Paulus sagt nen Menschen zu ertragen.
also praktisch: »Auch ›wenn‹ ihr mich Wer wurde denn da beschrieben?
für töricht halten müßt, was ich jedoch Aus dem folgenden geht hervor, daß
nicht bin, dann empfangt mich doch so, Paulus nun den Irrlehrer beschreibt,
wie ihr andere Toren empfangen habt, den falschen Apostel, der sich die Ko-
damit ich mich unter diesen Männern ein rinther als Opfer ausgesucht hatte. Als
wenig rühmen kann.« erstes »knechtete« er die Korinther. Das
11,17 Dieser Vers hat zwei mögliche spricht zweifellos von der Knechtschaft
Interpretationen. Einige sind der An- des Gesetzes (Apg 15,10). Er lehrte,
sicht, daß Paulus hier sagen will, daß daß der Glaube an Christus zur Erret-
das, was er schreibt, zwar inspiriert war, tung nicht ausreiche, sondern daß man
ihm jedoch nicht durch ein Gebot des auch das Gesetz des Mose noch halten
»Herrn« aufgetragen war. müsse.

830
2. Korinther 11

Zweitens »zehrte« er die Korinther »Schande« sagen muß, daß er diese Art
»auf«, und zwar in dem Sinne, daß er von Stärke nie gezeigt hat, sondern ver-
große finanzielle Ansprüche an sie stell- glichen damit Schwäche. Doch er fügt
te. Er diente ihnen nicht aus Liebe, son- schnell hinzu, daß er sicherlich dasselbe
dern ihm ging es um finanziellen Ge- Recht hätte, das zu wagen, was diese an-
winn. deren Männer auch gewagt haben. Hfa
Der Ausdruck »wenn jemand euch drückt das treffend aus: »Aber da ich
einfängt« stammt aus der Fischer- oder mich nun einmal zum Eigenlob ent-
Jägersprache. Der Irrlehrer versuchte, schlossen habe: Womit diese Leute so
diese Menschen zu seiner Beute zu selbstbewußt prahlen, damit kann ich
machen, indem er sie herumführte, wie schon lange dienen.« Mit dieser Einlei-
es ihm gefiel. tung beginnt Paulus einen der großartig-
Für diese Menschen war es kenn- sten Abschnitte seines Briefes, in wel-
zeichnend, daß sie sich stolz und prah- chem er zeigt, daß er das Recht hat, sich
lerisch erhoben. Indem sie andere kriti- als wahrer Diener des Herrn Jesus Chri-
sierten, versuchten sie, sich in den Augen stus zu bezeichnen.
der Menschen größer erscheinen zu Sie werden sich sicher erinnern, daß
lassen. in der Gemeinde in Korinth die Frage
Und schließlich schlugen sie die aufgeworfen worden war, ob Paulus
Gläubigen »ins Gesicht«. Wir brauchen wirklich ein echter Apostel sei. Welche
nicht zu zögern, das wörtlich zu nehmen, Beweise konnte er vorlegen, daß er einen
denn arrogante Kirchenleute haben in göttlichen Ruf erhalten hatte? Wie konn-
allen Jahren wirklich auf ihre Schäfchen te er zu jedermanns Zufriedenheit bewei-
eingeschlagen, um ihre Autorität zu sen, daß er zum Beispiel den anderen
sichern. zwölf Aposteln gleich war?
Der Apostel wundert sich, daß die Er ist zu einer Antwort auf diese Fra-
Korinther bereit waren, solche Mißhand- ge bereit, doch würden wir nicht ganz
lungen von den Irrlehrern zu ertragen, das erwarten, was er schreibt. Er zeigt
obwohl sie doch gleichzeitig nicht bereit uns kein Zeugnis einer Bibelschule oder
waren, ihn mit seinen liebevollen War- eines Seminars, das er abgeschlossen hat.
nungen und Ermahnung zu ertragen. Auch bringt er keinen offiziellen Brief,
Darby stellt fest: »Es ist erstaunlich, der von den Brüdern in Jerusalem unter-
wieviel sich Menschen von der Unwahr- zeichnet ist, der aussagt, daß er in dieses
heit gefallen lassen, und zwar viel mehr, Werk ausgesandt worden ist. Er führt
als sie für die Wahrheit zu leiden bereit auch nicht seine persönlichen Fähigkei-
42)
sind.« ten und Erfolge an. Er bringt uns eine be-
11,21 Einige Ausleger sind der An- wegende Aufzählung seiner Leiden, die
sicht, daß Paulus mit diesem Vers sagen er im Werk des Herrn zu erdulden hatte.
möchte: »Ich spreche auf diese Weise, Wir sollten uns die Dramatik und das
indem ich mich selbst herabsetze, als ob Pathos dieses Abschnittes aus 2. Korin-
ich, als ich persönlich bei euch war, ther nicht entgehen lassen. Wir sollten
schwach gewesen wäre und Angst gehabt uns den unerschrockenen Paulus einmal
hätte, meine Autorität auf die Weise vorstellen, wie er auf seinen Missionsrei-
durchzusetzen, wie es diese Männer tun.« sen unermüdlich über Land und Meer
Ein anderer Vorschlag lautet, daß die hastet, von der Liebe Christi vorwärts ge-
Bedeutung folgende ist: »Indem ich das trieben, bereit, ungezählte Entbehrungen
sage, setze ich mich selbst herab, weil ich zu ertragen, wenn nur Menschen nicht
dann schwach gewesen bin, wenn dies deshalb verloren gehen müßten, weil sie
meine Stärke hätte sein sollen.« das Evangelium von Christus noch nicht
Paulus sagt, daß er, wenn die Art und gehört haben. Wir können diese Verse
Weise, wie die Irrlehrer gehandelt haben, kaum lesen, ohne tief bewegt und be-
wirkliche Stärke bedeutet, zu seiner schämt zu sein.

831
2. Korinther 11

11,22 Die Irrlehrer hielten viel auf ihre chen Stellung befanden, um ihn als Die-
jüdischen Vorfahren. Sie behaupteten, ner Christi angreifen zu können.
reinrassige »Hebräer« zu sein, von Israel Wir wollen uns nun den Leidenskata-
abzustammen und »Abrahams Nach- log ansehen, den Paulus als Beweis sei-
kommen« zu sein. Sie gaben sich noch ner Apostelschaft heranzieht.
immer der Illusion hin, daß ein solcher »In Mühen um so mehr.« Er denkt an
Stammbaum ihnen vor Gott Vorteile das Ausmaß seiner Missionsreisen, wie
bringen würde. Sie erkannten nicht, daß er in weiten Teilen des Mittelmeergebie-
Gottes auserwähltes Volk Israel von Gott tes herumgereist ist, um Christus be-
beiseite gesetzt worden war, weil es den kannt zu machen.
Messias abgelehnt hatte. Sie erkannten »In Gefängnissen um so mehr.« Der
nicht, daß für Gott nun kein Unterschied einzige Gefängnisaufenthalt, der in der
mehr zwischen Juden und Heiden be- Schrift vor der Abfassung dieses Briefes
stand: Alle sind Sünder, und alle können erwähnt ist, ist der in Apostelgeschichte
nur durch den Glauben an Christus 16,23, als er und Silas gemeinsam in das
allein erlöst werden. Gefängnis von Philippi geworfen wur-
Es war völlig sinnlos, daß sie sich in den. Nun erfahren wir, daß das nicht sein
dieser Beziehung aufspielten. Ihre Her- einziger Gefängnisaufenthalt war, son-
kunft gab ihnen keinen Vorteil über Pau- dern daß Paulus mit dem Kerker wohl-
lus, weil auch er »Hebräer« war, ein Isra- vertraut war.
elit und »Abrahams Nachkomme«. Doch »In Schlägen übermäßig.« Hier haben
das war nicht das, was ihn als Apostel wir eine Beschreibung der Schläge, die er
Jesu Christi auszeichnete. Und deshalb immer wieder von den Feinden Christi
eilt er weiter, um zu seinem Hauptargu- erhielt, ob es nun Heiden oder Juden
ment zu kommen: Sie konnten ihm in waren.
einer Hinsicht nicht das Wasser reichen – »In Todesgefahren oft.« Zweifellos
nämlich bezüglich seiner Leiden und dachte der Apostel, als er dies schrieb,
Entbehrungen. daran, daß er in Lystra nur knapp dem
11,23 Sie gaben vor, »Diener Christi« Tod entgangen war (Apg 14,19). Doch er
zu sein, Paulus dagegen war es: »In Hin- konnte auch noch auf andere Gelegen-
gabe, in Mühe und in Leiden.« Der Apo- heiten zurückblicken, bei denen sein
stel Paulus konnte nie vergessen, daß er Leben fast zu Ende war, weil er so hart
dem leidenden Erlöser nachfolgte. Er er- verfolgt wurde.
kannte, daß der Schüler nicht über dem 11,24 Das Gesetz des Mose verbot den
Meister ist, und daß ein Apostel von der Juden, mehr als vierzig Streiche auf ein-
Welt keine bessere Behandlung erwarten mal als Strafe zu verhängen (5. Mose
konnte, als seinem Meister zuteil wurde. 25,3). Um sicher zu gehen, dieses Gebot
Paulus rechnete damit, daß er um so nicht zufällig zu übertreten, gaben sie
mehr von Menschen zu leiden hätte, je immer nur 39 Schläge. Diese Strafe ver-
treuer er Christus diente und den Erlöser hängten sie jedoch nur dann, wenn ihrer
nachahmte. Für ihn war das Leiden das Ansicht nach ein schweres Verbrechen
Abzeichen der Diener Christi. Obwohl er vorlag. Der Apostel Paulus berichtet uns
sich wie »unsinnig« vorkam, als er sich hier, daß sein eigenes Volk nach dem
so rühmte, verlangte doch die Notwen- Fleisch ihm diese Höchststrafe »fünf-
digkeit, daß er die Wahrheit sprach, und mal« auferlegt hat.
die Wahrheit lautete, daß diese Irrlehrer 11,25 »Dreimal bin ich mit Ruten
ganz gewiß nicht für ihre Leiden bekannt geschlagen worden.« Im NT wird nur
geworden waren. Sie hatten den einfa- einmal erwähnt, daß Paulus diese Strafe
cheren Weg eingeschlagen. Sie scheuten auferlegt wurde, und zwar in Philippi
Verachtung, Verfolgung und Vorwürfe. (Apg 16,22). Doch wurde er noch zwei-
Aus diesem Grund war Paulus der mal auf diese schmerzhafte und demü-
Ansicht, daß sie sich in einer zu schwa- tigende Weise bestraft.

832
2. Korinther 11

»Einmal gesteinigt worden.« Das war lich auf kaum besiedelte Gebiete in
zweifellos in Lystra, was wir schon Kleinasien und Europa bezieht. Er war
erwähnt haben (Apg 14,19). Diese Steini- den »Gefahren auf dem Meer« begegnet –
gung war so schlimm, daß Paulus aus Stürmen, Untiefen und vielleicht Piraten.
der Stadt geschleift wurde, weil man Und schließlich gab es noch die »Gefah-
meinte, daß er tot sei. ren unter falschen Brüdern«, zweifellos
»Dreimal habe ich Schiffbruch erlit- von den jüdischen Gesetzeslehrern, die
ten.« Nicht alle Anfechtungen des Paulus als christliche Prediger auftraten.
wurden von Menschen verursacht. 11,27 »Mühe« bezeichnet die uner-
Manchmal wurde er einfach durch die müdliche Arbeit des Paulus, während
Naturgewalten beeinträchtigt. Keiner »Beschwerde« auch den Gedanken an
der Schiffbrüche wird uns in der Schrift Erschöpfung und Leiden in bezug auf
berichtet. (Der Schiffbruch auf der Reise seine Arbeit beinhaltet.
nach Rom in Apostelgeschichte 27 liegt »In Wachen oft.« Auf vielen seiner
viel später als die Abfassung des Briefes.) Reisen mußte er zweifellos oft im Freien
»Einen Tag und eine Nacht habe ich übernachten. Wegen der Gefahren, die
in der Tiefe zugebracht« (ER, Anm.). überall lauerten, mußte er so manche
Wieder scheint dem kein Ereignis der Nacht wachen.
Apostelgeschichte zu entsprechen. Es ist »In Hunger und Durst, in Fasten oft.«
fraglich, ob die »Tiefe« hier ein Abgrund Der Apostel blieb oft hungrig und dur-
ist oder das Meer. Wenn das Meer ge- stig, wenn er dem Herrn diente. »Fasten«
meint ist, trieb dann Paulus auf einem kann hier freiwilliger Nahrungsverzicht
Floß oder einem offenen Boot? Wenn sein, doch es ist wahrscheinlicher, daß er
nicht, kann er eine solche Erfahrung nur dazu gezwungen war, weil er nicht
durch das direkte, wunderbare Eingrei- genug zu essen hatte.
fen des Herrn überlebt haben. »In Kälte und Blöße.« Plötzliche Wet-
11,26 »Oft auf Reisen.« Wenn wir uns terumschwünge verbunden mit der Tat-
die Karten im Anhang der meisten sache, daß er oft nur eine mangelhafte
Bibeln anschauen, dann finden wir meist Unterkunft für die Nacht hatte und nicht
eine, die überschrieben ist: »Die Mis- genügend gekleidet war, führten zu die-
sionsreisen des Paulus.« Wenn wir nun sen zusätzlichen Formen der Unbequem-
den Linien folgen, die die Wege nachzie- lichkeit in seinem Leben. Hodge kom-
hen, die der Apostel gereist ist, und uns mentiert:
klar machen, wie primitiv die damaligen Hier erscheint der größte der Apostel vor
Transportmittel waren, dann werden wir uns, sein Rücken durchfurcht von häufigen
ein wenig besser verstehen können, was Schlägen, sein Körper ausgemergelt von
diese Bemerkung bedeutet! Hunger, Durst und Unterkühlung, frierend
Nun beginnt Paulus mit einer Aufzäh- und bloß, verfolgt von Juden und Heiden und
lung von acht verschiedenen Gefahren, von Ort zu Ort gejagt, ohne ein Zuhause zu
die ihm auf seinen Reisen begegneten. Als haben. Dieser Abschnitt läßt mehr als alle
erstes gab es »Gefahren von Flüssen«, was anderen auch den eifrigsten der heutigen
sich auf übergetretene Bäche und Flüsse Diener Christi sein Gesicht in Schande ver-
bezieht. Es gab »Gefahren von Räubern«, hüllen. Was haben sie je getan oder erlitten,
weil viele der Wege, die er bereiste, von was sich mit dem vergleichen läßt, was dieser
Gesetzlosen nur so wimmelten. Er war Apostel getan hat. Es ist uns ein Trost, daß
»Gefahren von« seinem eigenen »Volk« Paulus uns nun in die Herrlichkeit vorausge-
ausgesetzt, von den Juden, aber auch gangen ist, ebenso, wie er uns hier im Leiden
43)
»von den Nationen«, denen er das Evan- vorausging.
gelium bringen wollte. Es gab »Gefahren 11,28 »Außer dem übrigen«, d. h.
in der Stadt«, z. B. in Lystra, Philippi, Ko- außer den unnormalen und außerge-
rinth und Ephesus. Auch gab es »Gefah- wöhnlichen Belastungen trug Paulus
ren in der Wüste«, was sich wahrschein- noch »täglich« die Bürde aller christli-

833
2. Korinther 11 und 12

chen »Gemeinden« in seinem Herzen. 11,32 Weitere Einzelheiten dieses


Wie bezeichnend, daß dies der Höhe- Ereignisses finden wir in Apostelge-
punkt all der anderen Anfechtungen schichte 9,19-25. Nachdem er vor Damas-
war! Paulus war ein echter Hirte. Er lieb- kus seine Bekehrung erfahren hatte, be-
te das Volk des Herrn und sorgte sich um gann Paulus, das Evangelium in den
es. Er war kein Mietling, sondern ein ech- Synagogen dort zu predigen. Zunächst
ter Unterhirte des Herrn Jesus. Und ge- erregte seine Predigt Interesse, doch nach
nau das will er in diesem Schriftabschnitt einer Weile planten die Juden, ihn umzu-
beweisen, und vom Standpunkt jedes bringen. Sie stellten an den Stadttoren
vernünftigen Menschen aus gesehen ist Tag und Nacht Wachen auf, um ihn
ihm das auch gelungen. Seine Sorge für »gefangen zu nehmen«.
die Gemeinden erinnert uns an ein 11,33 Eines nachts nahmen die Jünger
Sprichwort: »Gemeindegründung zer- den Apostel, setzten ihn in einen »Korb«
reißt das Herz, Gemeindeführung ist und ließen ihn »durch ein Fenster« in der
eine nie endende Aufgabe.« Mauer der Stadt auf den Boden außer-
11,29 Dieser Vers ist mit dem vorher- halb herab. Da konnte Paulus dann
gehenden eng verbunden. In Vers 28 sag- fliehen.
te der Apostel, daß er sich täglich um alle Doch warum erwähnt Paulus diesen
Gemeinden sorgte. Hier erklärt er, was er Vorfall? J. B. Watson schlägt vor:
damit meinte. Wenn er davon hört, daß Er nimmt, was Menschen zum Anlaß für
irgendein Christ »schwach« ist, dann Spott und Witzeleien nehmen würden, und
fühlt er selbst diese Schwäche. Er erleidet stellt es in ein neues Licht, nämlich daß die-
die Leiden anderer im wahrsten Sinne ses Ereignis ein weiterer Beweis dafür ist, daß
des Wortes mit. Wenn er erfährt, daß ein sein wichtigstes Anliegen der Dienst für den
Bruder in Christus beleidigt worden ist, Herrn Jesus Christus war, um dessentwillen
dann »brennt« er mit ihm. Was das Volk er auch seinen persönlichen Stolz aufopferte
Gottes betrifft, betrifft auch ihn. Er erlei- und vor den Augen der Menschen als Feig-
44)
det ihre Tragödien und freut sich an ihren ling dastand.
Siegen. Und all das erschöpft die Ner-
venkraft eines Dieners Christi nicht uner- F. Die Offenbarungen an Paulus
heblich. Das wußte Paulus nur zu gut! beweisen seine Apostelschaft
11,30 Weder sein Erfolg, noch seine (12,1-10)
Gaben oder Fähigkeiten, sondern seine 12,1 Dem Apostel wäre es lieber, er müß-
Schwachheit, seine Fehler, die Demüti- te sich überhaupt nicht rühmen. Es ist
gungen, die er erlitt – damit prahlt er. weder angebracht, noch »nützt« es
Normalerweise würde kein Mensch mit etwas, doch unter den gegebenen
so etwas prahlen oder sie überhaupt wei- Umständen ist es notwendig. Deshalb
tererzählen! wendet er sich nun von seiner de-
11,31 Als Paulus an seine Leiden und mütigendsten Erfahrung zur erhebend-
Demütigungen denkt, geht seine Erinne- sten. Er wird uns von seiner persön-
rung unwillkürlich zurück bis zur de- lichen Audienz beim »Herrn« selbst
mütigendsten Erfahrung seines ganzen berichten.
Lebensweges. Wenn er sich alles dessen 12,2 Paulus kannte einen Mann, der
rühmt, was seine Schwachheit betrifft, dieses Erlebnis »vor vierzehn Jahren«
dann kann er hier auch nicht die Erfah- hatte. Obwohl Paulus nicht näher aus-
rung in Damaskus übergehen. Es ist der führt, wer gemeint ist, gibt es keine Fra-
menschlichen Natur so zuwider, daß ge, daß er von sich selbst spricht. Wenn
man sich solch einer demütigenden Er- er von solch einem außergewöhnlichen
fahrung rühmen sollte, daß Paulus hier Erlebnis spricht, möchte er sich nicht
Gott zum Zeugen aufruft, daß er ihm die selbst nennen, sondern nur allgemein
Wahrheit dessen bestätigt, was er nun reden. Der Erwähnte war »in Christus«,
erzählen wird. d. h. er war Christ.

834
2. Korinther 12

12,3 Paulus weiß nicht, ob er zu dem sich der Visionen und Offenbarungen
Zeitpunkt »im Leib … oder außer dem des Herrn rühmte, wollte er nicht direkt
Leib« war. Manche haben vorgeschlagen, von sich sprechen, sondern von den Er-
daß dies passierte, als er verfolgt wurde, lebnissen lieber unpersönlich sprechen,
etwa in Lystra. Sie sind der Ansicht, daß als seien sie einem Bekannten von ihm
er eventuell wirklich gestorben und im widerfahren. Er leugnete nicht, daß er
Himmel gewesen sei. Doch der Text er- selbst das Erlebnis hatte, doch er weiger-
fordert ganz sicherlich keine solche Inter- te sich einfach, sich selbst hier direkt und
pretation. Denn es wäre doch seltsam, da persönlich einzumischen.
Paulus selbst nicht wußte, ob er »im Leib 12,6 Es gibt noch viele andere großar-
oder außer dem Leib« war, d. h. ob er leb- tige Erfahrungen, derer er sich »rühmen«
te oder schon gestorben war. kann. Wenn er das wollte, wäre er nicht
Wichtig ist, daß der Betreffende »bis einmal »töricht«. Alles, was er sagen
in den dritten Himmel entrückt wurde«. würde, wäre »die Wahrheit«. Doch er
Die Schrift legt uns die Existenz von drei wird es nicht tun, weil er nicht möchte,
Himmeln nahe. Der erste ist die Atmo- daß »jemand höher« von ihm denkt, als
sphäre über uns, d. h. der blaue Himmel, er wirklich ist.
den wir sehen. Der zweite ist der Ster- 12,7 Dieser gesamte Abschnitt ist eine
nenhimmel. Der dritte ist der höchste ausführliche Beschreibung des Lebens
Himmel, in dem der Thron Gottes ist. eines Dieners Christi. Es gibt Augen-
Aus dem Folgenden geht hervor, daß blicke tiefster Demütigung wie etwa das
Paulus wirklich an demselben Ort der Ereignis in Damaskus. Und dann gibt es
Segnung war, wie der Schächer am die »Berg«-Erlebnisse, wie die Offenba-
Kreuz, den der Herr Jesus mit sich nahm, rung, die Paulus geschenkt wurde. Doch
d. h. an Gottes Wohnstätte. normalerweise erlebt ein Diener Christi,
12,4 Paulus »hörte« die Sprache des dem solch ein erhabenes Erlebnis zuteil
»Paradieses« und verstand das Gesagte, wurde, daß er danach an einem »Dorn
doch durfte er davon nichts weitergeben, für das Fleisch« leidet. Darum geht es
als er auf die Erde kam. Die »Worte« hier.
waren in dem Sinne »unaussprechlich«, Wir können viele unbezahlbare Lek-
daß sie zu heilig waren, um ausgespro- tionen aus diesem Vers lernen. Zuerst ist
chen zu werden und deshalb nicht ver- er ein Beweis dafür, daß sogar göttliche
breitet werden durften. Offenbarungen des Herrn unser
G. Campbell Morgan schreibt: »Fleisch« nicht zu bessern vermögen.
Es gibt Menschen, die immer wieder von Sogar nachdem der Apostel die Sprache
Visionen und Offenbarungen sprechen wol- des Paradieses gehört hatte, hatte er noch
len, die sie gehabt haben. Die Frage stellt sich, immer seine alte Natur und stand in der
ob solch ein Eifer nicht der Beweis dafür ist, Gefahr, dem Stolz in die Falle zu gehen.
daß die Visionen und Offenbarungen nicht Wie R. J. Reid gesagt hat:
»vom Herrn« sind. Wenn solche Offenbarun- »Ein Mensch in Christus« ist in der
gen geschenkt werden, (und sie werden unter Gegenwart Gottes sicher, wenn er der un-
gewissen Umständen den Dienern Gottes übersetzbaren Sprache des Paradieses
ganz bestimmt geschenkt), dann führen sie lauscht, doch der braucht nach seiner Rück-
zu einer ehrfurchtsvollen Zurückhaltung. Sie kehr auf die Erde »einen Dorn für das
sind zu überwältigend, zu ergreifend, um Fleisch«, weil sich das Fleisch in ihm sonst
46)
leichtfertig beschrieben oder diskutiert zu seiner Paradies-Erfahrung rühmen würde.
werden, doch die Auswirkungen werden sich Worum handelte es sich nun bei Pau-
im ganzen Leben und Dienst des Betreffen- lus’ »Dorn für das Fleisch«? Wir können
45)
den zeigen. nur eines sicher sagen, daß es ein leibli-
12,5 Als sich der Apostel der ches Problem war, das Gott in seinem
Schwäche rühmte, machte es ihm nichts Leben zuließ. Zweifellos wollte der Herr
aus, sich selbst zu nennen. Doch als er nicht genau sagen, was der Dorn war,

835
2. Korinther 12

damit versuchte und angefochtene Heili- auch heute noch an sein leidendes Volk
ge durch die Jahrhunderte eine engere auf der gesamten Welt. Besser als die
Verbundenheit mit dem Apostel empfan- Wegnahme von Anfechtungen und Lei-
den, wenn sie litten. Vielleicht handelte den ist die Gemeinschaft des Sohnes Got-
47)
es sich um eine Art Augenkrankheit , tes, die Zusage seiner Kraft und seine
vielleicht um Ohrenschmerzen, Malaria, befähigende Gnade im Leiden.
Migräne oder etwas, das mit der Sprach- Man beachte, daß Gott sagt: »Meine
fähigkeit des Paulus zu tun hatte. Moore- Gnade genügt dir.« Wir brauchen ihn
head stellt fest: »Die genaue Art der nicht zu bitten, seine Gnade ausreichend
Krankheit ist nicht offenbart worden, zu machen. Sie genügt schon jetzt.
vielleicht, damit alle Angefochtenen Der Apostel war mit der Antwort des
durch die nicht weiter bezeichnete, doch Herrn vollkommen zufrieden und sagt
schmerzhafte Erfahrung des Paulus deshalb: »Sehr gerne will ich mich nun
ermutigt und ihnen dadurch geholfen vielmehr meiner Schwachheiten rühmen,
48)
werden sollte.« Unsere Anfechtungen damit die Kraft Christi bei mir wohne.«
mögen ganz anderer Art als die des Pau- Als der Herr ihm die Weisheit seiner
lus sein, doch sollten sie dieselbe Übung Handlungsweise erklärte, sagte Paulus
und dieselben Früchte hervorbringen. praktisch, daß er es nun nicht mehr
Der Apostel beschreibt den »Dorn für anders haben wollte. Deshalb würde er
das Fleisch« als einen »Engel Satans«, der sich nun, anstatt sich über den Dorn zu
ihn »mit Fäusten« schlägt. In gewissem beklagen und dagegen zu murren, sich
Sinne stand also ein Versuch Satans da- seiner »Schwachheiten rühmen«. Er
hinter, Paulus am Werk des Herrn zu hin- würde auf seine Knie fallen und dem
dern. Doch Gott ist größer als Satan, und Herrn dafür danken. Er würde sie froh
er benutzte den »Dorn«, um das Werk erdulden, wenn nur die Kraft Christi auf
des Herrn zu fördern, indem er Paulus ihm ruhen würde. J. Oswald Sanders
demütig hielt. Erfolgreicher Dienst für drückt es sehr treffend aus:
Christus ist nur durch einen schwachen Die Philosophie der Welt lautet: »Was
Diener möglich. Je schwächer er ist, man nicht heilen kann, muß man eben ertra-
desto mehr wird seine Predigt von der gen.« Paulus gibt dagegen das strahlende
Kraft Christi begleitet. Zeugnis: »Was man nicht heilen kann, des-
12,8 »Dreimal« rief Paulus »den sen kann man sich freuen. Ich freue mich der
Herrn« an, er möge ihm den Dorn wieder Schwachheit, der Leiden, der Entbehrungen
nehmen. und der Schwierigkeiten.« Er bewies, daß
12,9 Das Gebet des Paulus wurde Gottes Gnade so wunderbar ist, daß er neue
erhört, doch nicht auf die erhoffte Art. Möglichkeiten, diese Gnade in ihrer Fülle in
Praktisch sagte Gott zu Paulus: »Ich wer- Anspruch zu nehmen, freudig willkommen
de den Dorn nicht nehmen, sondern dir heißen konnte. »Sehr gerne rühme ich mich,
49)
etwas besseres geben: Die Gnade, den ja ich freue mich über – meinen Dorn.«
Dorn zu ertragen. Und denke daran: Emma Piechynska, die Frau eines
Auch wenn ich dir nicht gegeben habe, polnischen Adeligen, führte ein langes
um was du gebeten hast, so gebe ich dir Leben der Frustration und Enttäuschun-
statt dessen, was du am meisten gen. Doch der Autor ihrer Biographie
brauchst. Du möchtest doch, daß meine zollte ihrem siegreichen Glauben einen
Kraft und Vollmacht deine Predigt bemerkenswerten Tribut: »Aus den Wei-
begleitet, nicht wahr? Nun, die beste Art gerungen Gottes machte sie wunderbare
und Weise, dies zu erreichen, besteht Blumensträuße!«
darin, daß du in Schwachheit gehalten Von unserer menschlichen Natur her
wirst.« gesehen ist es für uns ziemlich unmög-
Das war Gottes wiederholte Antwort lich, »Wohlgefallen« an den hier aufge-
auf das dreimal geäußerte Gebet des führten Erfahrungen zu haben. Doch der
Paulus. Und so lautet die Antwort Gottes Schlüssel zum Verständnis dieses Ab-

836
2. Korinther 12

schnittes findet sich in dem Ausdruck Aspekten gesehen werden. »Zeichen«


»um Christi willen«. Wir sollten bereit waren Wunder, die eine besondere Be-
sein, für seine Sache und zur Förderung deutung für die Menschen hatten, die
des Evangeliums zu leiden, auch wenn eine Botschaft vermittelten. »Wunder«
wir es uns und unseren Lieben nicht dagegen waren so bemerkenswert, daß
wünschen würden. sie die menschlichen Gefühle aufwühl-
Wir hängen dann von der Macht Got- ten. »Machttaten« waren Taten, die ganz
tes am stärksten ab, wenn wir uns un- offensichtlich durch übermenschliche
serer eigenen Schwachheit und Nichtig- Kraft geschahen.
keit bewußt sind. Und wenn wir so in Es ist schön zu bemerken, daß Paulus
vollständiger Abhängigkeit auf ihn ge- sagt, daß die »Zeichen des Apostels«
worfen sind, dann verwirklicht sich seine unter ihnen vollbracht wurden. Er benutzt
Macht in uns und wir sind wirklich hier das Passiv. So rechnet er sie sich
»stark«. nicht selbst an, sondern sagt, daß Gott sie
William Wilberforce, der den Kampf durch ihn vollbrachte.
zur Abschaffung der Sklaverei im bri- 12,13 Soweit es die unter ihnen
tischen Königreich führte, war physisch geschehenen Wunder betraf, waren die
schwach und zart, doch er hatte einen Korinther »gegenüber den übrigen Ge-
tiefen Glauben an Gott. Boswell hat von meinden« nicht »zu kurz gekommen«.
ihm gesagt: »An ihm sah ich, wie eine Sie hatten viele Zeichen durch die Hand
Krabbe zum Wal wurde!« des Paulus geschehen sehen, wie auch
In diesem Vers gehorcht Paulus dem die »übrigen Gemeinden«, die Paulus be-
Wort des Herrn in Matthäus 5,11.12. Er sucht hatte. In welchem Sinne waren sie
freute sich, wenn die Menschen ihn dann anderen Gemeinden gegenüber
schmähten und verfolgten. »zu kurz gekommen«? Der einzige Un-
terschied, den Paulus kennt, ist, daß er
G. Die Zeichen des Paulus beweisen den Korinthern nicht »zur Last gefallen«
seine Apostelschaft (12,11-13) ist. Das heißt, er hat nicht auf finanzieller
12,11 An diesem Punkt scheint Paulus Hilfe von ihnen bestanden. Wenn sie da-
seiner scheinbaren Prahlerei müde ge- durch »zu kurz gekommen« sein sollten,
worden zu sein. Er ist der Ansicht, daß er so entschuldigt Paulus sich für »dieses
durch sein Rühmen »ein Tor geworden« Unrecht«. Das war das einzige »Zeichen«
sei. Er hätte es nicht tun sollen, doch die eines Apostels, auf das er nicht bestan-
Korinther haben ihn »dazu gezwungen«. den hatte!
Sie hätten ihn eher verteidigen sollen, als
seine Kritiker ihre grausamen Angriffe H. Paulus’ anstehender Besuch in
gegen ihn richteten. Obwohl er an sich Korinth (12,14–13,1)
»nichts« war, so stand er doch den »über- 12,14 »Siehe, dieses dritte Mal stehe ich
großen Aposteln«, derer sie sich so gerne bereit, zu euch zu kommen.« Man kann
rühmten, »in nichts« nach. darunter verstehen, daß der Apostel
12,12 Er erinnert sie daran, daß Gott, dreimal bereit gewesen ist, Korinth zu
als er nach Korinth kam und das Evange- besuchen, daß er aber in Wirklichkeit nur
lium predigte, seine Predigt mit den einmal wirklich dort gewesen ist. Beim
»Zeichen des Apostels« bestätigte. Diese zweiten Mal kam er nicht wirklich, weil
Zeichen waren Wunderkräfte, die den er nicht zu hart mit den Gläubigen umge-
Aposteln von Gott gegeben wurden, da- hen wollte. Nun ist er »bereit«, zum drit-
mit ihre Zuhörer erkennen könnten, daß ten Mal hinzureisen, und dieser Besuch
sie wirklich von Gott gesandt waren. wird dann sein zweiter sein.
Die Worte »Zeichen«, »Wunder« und Es kann aber auch bedeuten, daß er
»Machttaten« beschreiben nicht drei ver- nun wirklich seinen »dritten« Besuch
schiedene Sorten von Wundern, sondern machen wollte. Der erste ist in Apostel-
Wunder, die unter drei verschiedenen geschichte 18,1 berichtet, der zweite war

837
2. Korinther 12

der tränenreiche Besuch (2. Kor 2,1; wiedergeliebt«. Doch das war für ihn
13,1). Der jetzige wird dann der »dritte« nicht ausschlaggebend. Auch wenn er
sein. nicht auf Gegenliebe von ihnen hoffen
Wenn Paulus kommt, ist er entschlos- konnte, würde er sie doch weiterhin lie-
sen, daß er ihnen »nicht zur Last fallen« ben. Darin folgte er völlig dem Herrn.
will. Er meint natürlich, er will von ihnen 12,16 Der Apostel nimmt alle An-
keinen finanziellen Lohn annehmen. Er schuldigungen seiner Kritiker gegen ihn
möchte von ihnen unabhängig bleiben, auf. Sie sagten praktisch: »Nun, vielleicht
soweit es seinen materiellen Unterhalt hat Paulus nicht direkt von euch Geld
angeht. Der Grund liegt darin, daß er genommen. Doch er gebrauchte Hinter-
nicht an ihrem materiellen Reichtum list, um dennoch welches zu erhalten. Er
interessiert war, sondern an ihnen selbst. sandte seine Abgesandten zu euch, und
Paulus interessierte sich mehr für Men- sie gaben ihm euer Geld.«
schen als für Dinge. 12,17 Der Apostel fragt nun direkt:
Er möchte für die Korinther die Rolle »Wenn ich euch nicht ausgenommen
eines Elternteiles spielen. »Denn die Kin- habe, ›habe ich‹ dann etwa andere zu
der sollen nicht für die Eltern Schätze euch gesandt, die es taten?« Er will wis-
sammeln, sondern die Eltern für die Kin- sen, ob diese Anschuldigungen stimmen.
der.« Dies ist einfach eine Aussage über 12,18 Er beantwortet seine eigene
das Leben, wie wir es kennen. Normaler- Frage. Der Ausdruck »ich habe Titus
weise sind es die »Eltern«, die hart und gebeten« bedeutet wahrscheinlich: »Ich
sorgfältig arbeiten, um dafür zu sorgen, habe Titus gebeten« euch zu besuchen.
daß die »Kinder« Nahrung und Kleidung Paulus schickte ihn nicht allein, sondern
haben. Die Kinder sorgen normalerweise hat »den Bruder mit ihm gesandt«,
nicht auf diese Art für ihre Eltern. Paulus damit es auch nicht nur die geringsten
will hier sagen, daß er gerne möchte, daß Zweifel an den Motiven des Paulus gab.
die Korinther ihm erlauben, wie ein Vater Was passierte, als Titus nach Korinth
für seine Kinder dazusein. kam? Bestand er auf seinen Rechten? Bat
Man sollte vorsichtig sein, in diesen er die Korinther, ihn zu unterstützen?
Vers zu viel hineinzulesen. Es geht hier Versuchte er, an ihnen reich zu werden?
nicht darum, daß die Eltern für die Zu- Nein, aus diesem Abschnitt scheint her-
kunft ihrer Kinder einen Schatz sammeln vorzugehen, daß Titus sich mit einer
sollten. Das hat nichts mit zukünftigen weltlichen Beschäftigung Geld verdien-
Bedürfnissen zu tun, sondern nur mit te. Das wird durch die beiden Fragen
den gegenwärtigen Notwendigkeiten. nahegelegt: »Sind wir nicht in demsel-
Paulus denkt an die Versorgung seiner ben Geist gewandelt? Nicht in denselben
unmittelbaren Bedürfnisse, wenn er in Fußspuren?« Mit anderen Worten, Titus
Korinth sein wird. Er war entschlossen, und Paulus verfolgten bei ihrer Arbeit
nicht von den Heiligen dort abhängig zu dieselben Grundsätze, so daß sie nicht
sein. Es gab keinen Gedanken daran, daß von den Korinthern unterhalten werden
sie für ihn ein Ruhegeld für sein Alter mußten.
zurücklegen sollten, oder daß er das für 12,19 Die Korinther mochten denken,
die Korinther tun wollte. daß Paulus sich mit all dem Gesagten
12,15 Hier erhalten wir einen sehr »verteidigen« wolle, als ob sie seine Rich-
schönen Einblick in die nicht zu unter- ter wären. Doch er schrieb ihnen statt
drückende Liebe des Apostels für das dessen in der Gegenwart Gottes, damit
Volk Gottes in Korinth. Er war bereit, sich sie erbaut würden. Er wollte sie in ihrem
»gern« für ihre Seelen in unermüdlichem christlichen Lebenswandel stärken und
Dienst und Opfer hinzugeben, d. h. für vor den Gefahren warnen, die auf sie
ihr geistliches Wohlergehen. Er liebte sie warteten. Es ging ihm mehr darum,
mehr als die Irrlehrer in ihrer Mitte es ihnen zu helfen, als seinen eigenen Ruf
taten, doch wurde er von ihnen »weniger zu verteidigen.

838
2. Korinther 12 und 13

12,20 Paulus wollte, daß er und die I. Die Apostelschaft des Paulus
Korinther fröhlichen Umgang unterein- wird durch die Korinther selbst
ander hätten, wenn er Korinth besuchen bewiesen (13,2-6)
würde, und sie die Irrlehrer wegge- 13,2 Bei seinem zweiten Besuch, der
schickt und die Autorität der Apostel sonst nicht erwähnt wird, hatte Paulus
wieder anerkannt hätten. sie gewarnt, daß er mit den Sündern hart
Er wollte auch, wenn er sie besuchen umspringen würde. Obwohl er »jetzt ab-
würde, freudig zu ihnen kommen, und wesend« war, sagt er ihnen voraus, daß
nicht traurig. Er wäre sehr betrübt, wenn er, wenn er wiederkomme, diejenigen,
er »vielleicht Streit, Eifersucht, Zorn, die gesündigt haben, »nicht schonen
Selbstsüchteleien,Verleumdungen, Ohren- werde«.
bläsereien, Aufgeblasenheit, Unordnun- 13,3 Die Korinther waren von den Irr-
gen« und andere fleischliche Auseinan- lehrern soweit beeinflußt worden, daß
dersetzungen vorfinden würde. sie zweifelten, ob Paulus ein echter Apo-
12,21 Schließlich waren diese Ko- stel war. Sie hatten ihn sogar herausge-
rinther doch die Freude des Paulus und fordert, »einen Beweis dafür« zu brin-
seine Freudenkrone. Sie waren seine gen, daß er ein echter Gesandter Gottes
Herrlichkeit. Er wollte ganz bestimmt war. Welche Zeugnisse konnte er vorle-
nicht zu ihnen kommen, wenn er sich gen, daß wirklich »Christus« durch ihn
ihrer schämen mußte. Auch wollte er »redet«? Der Apostel beginnt seine Ant-
nicht »über viele trauern« müssen, »die wort, indem er ihre unverschämte Auf-
vorher gesündigt und« über ihre »Un- forderung zitiert: »Denn ihr fordert ja
reinheit und Unzucht und Ausschwei- einen Beweis dafür, daß Christus in mir
fung … nicht Buße getan haben«. Wen redet …«
meint Paulus, wenn er sagt, daß »viele … Dann erinnert er sie in einem
vorher gesündigt« haben? Es ist nur ver- Einschub daran, daß Christus sich ihnen
nünftig anzunehmen, daß sie zur Ge- »mächtig« offenbart habe. Nichts war
meinde in Korinth gehörten, andernfalls an der gewaltigen Revolution in ihrem
würde er sie nicht in einem Brief an die Leben »schwach« gewesen, als sie
Gemeinde erwähnen. Doch kann nicht der Botschaft des Evangeliums glaub-
angenommen werden, daß sie echte ten.
Gläubige waren. 13,4 Die Erwähnung der Worte
Darby hat darauf hingewiesen, daß »schwach« und »mächtig« erinnert Pau-
dieses Kapitel mit dem dritten Himmel lus an das Paradox, daß aus Schwäche
beginnt und mit den bösen Sünden der Stärke hervorgehen kann, wie man es am
Erde schließt. Dazwischen befindet sich Leben unseres Erlösers und seiner Die-
ein Hinweis auf die Erlösung – die Kraft ner sehen kann. Unser Herr »wurde
Christi, die auf dem Apostel Paulus zwar aus Schwachheit gekreuzigt, aber
50)
ruht. er lebt aus Gottes Kraft«. Genauso sind
13,1 Paulus wollte Korinth besuchen. zwar seine Nachfolger von sich aus
Wenn er ankäme, sollten die Fälle von schwach, doch der Herr zeigt seine
Rückfall in die Sünde unter den Gläubi- »Kraft« durch sie.
gen untersucht werden. Solche Untersu- Wenn Paulus sagt: »aber wir werden
chungen sollten nach dem göttlichen mit ihm leben aus Gottes Kraft euch
Prinzip abgehalten werden, das in 5. Mo- gegenüber«, dann meint er damit nicht
se 19,15 festgelegt ist: »Durch zweier die Auferstehung. Er meint, wenn er sie
oder dreier Zeugen Mund wird jede besucht, wird er ihnen »Gottes Kraft«
Sache festgestellt werden.« Paulus mein- zeigen, indem er die bestraft, die gesün-
te damit nicht, daß er die Untersuchung digt haben. Sie sagten, daß er schwach
führen würde. Das sollte der Ortsge- und verächtlich sei, doch er wird ihnen
meinde überlassen bleiben, doch würde zeigen, daß er sehr stark sein kann, wenn
er als Berater dabei gerne dienen. er straft!

839
2. Korinther 13

13,5 Dieser Vers hängt folgender- J. Das Verlangen des Paulus, den
maßen mit dem ersten Teil von Vers 3 Korinthern Gutes zu erweisen
zusammen: »Weil ihr einen Beweis sucht, (13,7-10)
daß Christus durch mich spricht … 13,7 Paulus führt nun das Thema der in
›prüft euch, ob … Jesus Christus in euch Sünde gefallenen Gemeindeglieder in
ist‹.« Sie selbst waren der Beweis seiner Korinth fort. Er berichtet, daß er »zu
Apostelschaft. Durch ihn waren sie doch Gott« betet, daß die Korinther »nichts
zum Herrn geführt worden. Wenn sie Böses tun« möchten, indem sie in ihrer
seine Zeugnisse sehen wollten, brauch- Mitte Sünde dulden, sondern daß sie
ten sie nur sich selbst anzusehen. unaufhörlich auf Zucht und Wiederher-
Vers 5 wird oft mißbraucht zu lehren, stellung der sündigenden Glieder hin
daß wir in uns selbst nach Heilsgewißheit arbeiten würden. Er betet nicht, damit er
ausschauen sollten, doch das führt nur selbst »bewährt« erscheint oder in einem
zu Entmutigung und Zweifeln. Die besseren Licht gesehen wird. Es ging ihm
Heilsgewißheit erhalten wir in erster nicht darum, daß sie das Böse lassen soll-
Linie durch das Wort Gottes. In dem ten, damit er dann ihren Gehorsam als
Augenblick, in dem wir Christus unser Beweis für seine Autorität bringen konn-
Leben anvertrauen, dürfen wir durch die te. Darum geht es ihm gar nicht. Er
Autorität der Bibel wissen, daß wir wie- möchte den Gehorsam, damit es richtig
dergeboren sind. Wenn die Zeit fort- und ehrlich zugeht. Und er möchte lieber
schreitet, finden wir andere Beweise für sehen, daß sie das Richtige tun, auch
das neue Leben – Liebe zur Heiligung, wenn das bedeuten könnte, daß er »wie«
Abscheu gegen die Sünde, Liebe zu den ein »Unbewährter« erscheint.
Geschwistern, praktische Gerechtigkeit, Hier finden wir wieder einen Beweis
Gehorsam und Absonderung von der für die Selbstlosigkeit des Paulus. Seine
Welt. Gedanken in seinem Gebetsleben krei-
Doch Paulus will den Korinthern hier sten immer um den Vorteil der anderen
nicht raten, sich selbst zu prüfen, damit und nicht um seine eigene Anerken-
sie dadurch einen Beweis für ihre Erlö- nung. Wenn Paulus gezwungen wurde,
sung erhalten. Er will ihnen nur sagen, mit der Rute nach Korinth zu kommen,
daß ihre Erlösung ein Beweis seiner Apo- um seine Autorität wieder herzustellen
stelschaft ist. und es ihm gelingen sollte, den Gehor-
Es gab nur zwei Möglichkeiten: Ent- sam gegen seine Anweisungen über Ge-
weder war »Jesus Christus in« ihnen, meindezucht zu erlangen, dann hätte er
oder sie waren »unbewährt«, d. h. sie das als Argument gegen die Irrlehrer
waren nicht wirklich gläubig. Das Wort, anführen können. Er hätte sagen kön-
das mit »unbewährt« wiedergegeben nen, daß das ein Beweis seiner recht-
wird, wurde benutzt, um Metalle zu be- mäßigen Autorität sei. Doch er wollte
schreiben, die, als sie auf Echtheit ge- lieber, daß die Korinther die notwendi-
prüft wurden, sich als unecht erwiesen gen Maßnahmen selbst träfen, noch
hatten. Genauso waren die Korinther während seiner Abwesenheit, auch
entweder echte Gläubige, oder sie waren wenn ihn das in den Augen der Geset-
»unbewährt«, weil sie die Prüfung nicht zeslehrer in einem ungünstigen Licht er-
bestanden hatten. scheinen lassen würde.
13,6 Wenn sie nun schlossen, daß sie 13,8 Das »wir« dieses Verses bezieht
wirklich gerettet waren, dann mußte dar- sich wahrscheinlich auf die Apostel. Pau-
aus hervorgehen, daß auch die Apostel- lus sagt, daß alles, was sie tun, im Hin-
schaft des Paulus echt war und nicht blick auf die »Wahrheit« Gottes getan
»unbewährt«. Die wundervolle Verände- werden muß, nicht aus irgendwelchen
rung im Leben der Korinther konnte selbstsüchtigen Motiven heraus. Die Ge-
kaum durch einen falschen Lehrer her- meindezucht darf nie aus persönlicher
vorgebracht worden sein. Rachsucht geübt werden. Alles muß mit

840
2. Korinther 13

Rücksicht auf die Herrlichkeit Gottes gen gut aufzunehmen und ihnen ent-
und den Vorteil des Mitbruders getan sprechend zu handeln.
werden. »Seid eines Sinnes.« Es gibt natürlich
Und wieder drückt der Apostel seine nur einen Weg wie die Christen »eines
ausgesprochene Selbstlosigkeit den Ko- Sinnes« werden können, und zwar in-
rinthern gegenüber aus. Wenn seine dem sie Christi Sinn haben. Es geht dar-
Schwachheit, Demütigung und Schande um, so zu denken, wie er denkt, und alle
dazu führte, daß sie im Glauben gestärkt ihre Gedanken und Überlegungen unter
werden, dann »freute« er sich. Wenn er seinen Gehorsam zu bringen.
sich so freute, dann betete er auch »um« »Haltet Frieden.« Aus 12,20 geht her-
ihre »Vervollkommnung«. In bezug auf vor, daß es unter ihnen heftige Diskus-
das Thema des Umgangs mit den Sün- sionen und Kämpfe gegeben hatte. Das
dern in ihrer Mitte betete Paulus, daß passiert immer dann, wenn Gesetzesleh-
auch sie »vollkommen« werden möch- rer auftreten. Deshalb fordert Paulus hier
ten. Sein dringendstes Anliegen war, daß die Korinther auf, zunächst an den Sün-
der ganze Wille Gottes in ihrem Leben dern Gemeindezucht zu üben und mit
erfüllt würde. Wie Hodge es ausdrückt: ihren Mitchristen in Frieden zu leben.
»Paulus betet, daß sie von der Verwir- Wenn sie das tun, wird »der Gott der
rung, dem Streit und dem Bösen, in das Liebe und des Friedens … mit« ihnen
sie gefallen waren, vollkommen geheilt »sein«. Natürlich ist in gewissem Sinne
51)
würden.« der Herr immer bei seinen Kindern. Doch
13,10 Paulus schrieb diesen Brief in hier bedeutet es, daß er sich ihnen in
Hinsicht auf die Vervollkommnung der besonderer Nähe und Liebe offenbaren
Korinther. Er wollte lieber »abwesend« wird, wenn sie in dieser Hinsicht gehor-
sein, während diese Ergebnisse erreicht sam sind.
würden, als »anwesend« streng sein zu 13,12 Der »heilige Kuß« war zur Zeit
müssen, obwohl er vom Herrn die Voll- der Apostel eine charakteristische Be-
macht dazu erhalten hat. Doch auch grüßung der Christen untereinander. Er
wenn er »anwesend« wäre und sie etwas wird als heiliger »Kuß« beschrieben, was
härter anfassen müßte, würde es noch bedeutet, daß er nicht nur ein Symbol
immer ihrer »Erbauung« und nicht ihrer künstlicher Zuneigung, sondern daß er
»Zerstörung« dienen. ernst und rein gemeint war. Er wird auch
noch heute in vielen Ländern von den
K. Der liebevolle Abschiedsgruß des Christen benutzt. Doch in einigen Län-
Paulus (13,11-14) dern könnte das Küssen zwischen Män-
13,11 Der Apostel beschließt nun etwas nern als Zeichen der Homosexualität
abrupt seinen stürmischen Brief. Nach- mißdeutet werden. Eine solche Tradition
dem er die Korinther mit der Aufforde- sollte man nicht gezwungenermaßen
rung »freut euch« verabschiedet hat, gibt beibehalten, wenn damit das Zeugnis
er ihnen noch vier Ermahnungen mit auf der Christen auf entscheidende Weise ge-
den Weg. Als erstes sollten sich »zurecht- schmälert wird. In solchen Situationen ist
bringen« lassen. Das Verb ist dasselbe, das ein herzliches Händeschütteln wahr-
in Matthäus 4,21 für das Flicken der Net- scheinlich vorzuziehen. Hodge sagt:
ze benutzt wird, und kann auch bedeuten: Es geht hier nicht um ein Gebot, das ewi-
»Flickt eure Wege.« Die Korinther sollten ge Gültigkeit besitzt, sondern der Geist dieses
mit Sündigen und Streiten aufhören und Gebotes sagt uns, daß wir Christen unsere
in Eintracht miteinander leben. gegenseitige Liebe auf eine Art und Weise
»Laßt euch ermuntern« kann man ausdrücken sollten, die in dem jeweiligen
auch verstehen als »seid getröstet« oder Zeitalter und der Gemeinschaft, in der wir
52)
»laßt euch ermahnen«. Sie waren vom leben, sanktioniert ist.
Apostel Paulus streng ermahnt worden. 13,13 Die Grüße von »allen Heiligen«
Hier fordert er sie auf, diese Ermahnun- sollten die Korinther an die Weite der

841
2. Korinther 13

Gemeinschaft erinnern, in die sie der einzige, der alle drei Glieder der
gebracht worden sind, und sollte ihnen Dreieinigkeit nennt.
auch mitteilen, daß die anderen Gemein- Lenski schließt:
den auf ihren Fortschritt und ihren Mit dem Bild des großen Apostels, der
Gehorsam gegenüber den Herrn warten seine Hände mit diesem tiefgründigen Segen
würden. über die Korinther ausstreckt, beschließt er
13,14 Hier haben wir einen der wun- seinen Brief. Doch die Segnung bleibt in
53)
derschönen Segenssprüche des NT, und unseren Herzen.

842
Anmerkungen

Anmerkungen 23) (4,17) William C. Moorehead, Outline


Studies in the New Testament: Acts to
Ephesians, S. 191.
1) (1,2) James Denney, The Second Epist- 24) (4,17) F. E. Marsh, Fully Furnished
le to the Corinthians, S. 11. S. 103.
2) (1,10) Bei NA steht eine Vergangen- 25) (4,18) Jowett, Life in the Heights, S. 68-
heits- und zwei Zunkunftsformen, 69.
vgl. ER. 26) (5,15) Denney, Second Corinthians,
3) (1,20) H. W. Cragg, The Keswick Week, S. 199.
S. 126. 27) (5,16) David Smith, keine weiteren
4) (2,11) Sidlow Baxter, Awake My Heart, Angaben verfügbar.
aus der Andacht vom 10. November, 28) (5,18) A New and Concise Bible Dictio-
»Vergiftung durch Irrtum«. nary, S. 652.
5) (2,14) A. T. Robertson, The Glory of 29) (6,4) Denney, Second Corinthians,
the Ministry, S. 32. S. 230.
6) (2,14) Frederick Brotherton Meyer, 30) (6,9) »Als Unbekannte und doch
Paul, S. 77. bekannt« ist die passende Grab-
7) (2,15) Ebd. S. 78. inschrift John Nelson Darbys
8) (2,17) Im Mehrheitstext ist es sehr (1800 – 1882), der ähnlich Paulus in
scharf ausgedrückt: »Wie der Rest«. der ganzen Welt Dienst tat.
Das ist zweifellos eine rhetorische 31) (6,10) Robertson, Ministry, S. 238.
Übertreibung, wie es so oft im 2. Ko- 32) (6,11) A. W. Tozer, The Root oft the
rintherbrief der Fall ist. Righteous, 1955.
9) (2,27) Robertson, Ministry, S. 47. 33) (6,16) Denney, Second Corinthians,
10) (3,6) J. M. Davies, The Epistles to the S. 246.
Corinthians, S. 168-69. 34) (7,8) George Williams, Student’s
11) (3,9) Charles Hodge, A Commentary Commentary on the Holy Scriptures,
on the Second Epistle to the Corinthians, S. 904.
S. 61. 35) (7,9) Hodge, Second Corinthians,
12) (3,10) Robertson, Ministry, S. 70. S. 182.
13) (3,10) Denney, Second Corinthians, 36) (8,7) Denney, Second Corinthians,
S. 123. S. 267.
14) (3,13) F. W. Grant, »2 Corinthians«, 37) (8,9) Moorehead, Acts to Ephesians,
The Numerical Bible, Bd. VI, S. 547. S. 179-80.
15) (3,14) Hodge, Second Corinthians, 38) (8,15) Hodge, Second Corinthians,
S. 71. S. 206.
16) (3,17) Auch hier wieder die Zwei- 39) (8,21) G. Campbell Morgan, Search-
deutigkeit des Wortes »Geist«. lights from the Word, S. 345.
17) (3,18) Denney, Second Corinthians, 40) (9,7) Jowett, Life in the Heights, S. 78.
S. 139-40. 41) (11,17) Charles C. Ryrie, The Ryrie
18) (3,18) J. N. Darby, Notes on I and II Study Bible, New King James Version,
Corinthians, S. 189-90. S. 1797.
19) (4,7) J. H. Jowett, Life in the Heights, 42) (11,20) J. N. Darby, Notes on I and II
S. 65. Corinthians, S. 236.
20) (4,12) Robertson, Ministry, S. 157. 43) (11,27) Hodge, Second Corinthians,
21) (4,16) H. A. Ironside, keine weiteren S. 275.
Angaben verfügbar. 44) (11,33) J. B. Watson, keine weiteren
22) (4,17) Im Hebräischen ist das Wort Angaben verfügbar.
für »Herrlichkeit« von der Wurzel 45) (12,4) Morgan, Searchlights, S. 346.
»schwer sein« abgeleitet, womit 46) (12,7) R. J. Reid, How Job Learned His
wahrscheinlich die Wortwahl des Lesson, S. 69.
Paulus zu erklären ist. 47) (12,7) Vgl. Gal 4,15 und 6,11.

843
Anmerkungen

48) (12,7) Moorehead, Act to Ephesians, 51) (13,9) Hodge, Second Corinthians,
S. 197. S. 309.
49) (12,9) J. Oswald Sanders, A Spiritual 52) (13,12) Ebd., S. 312.
Clinic, S. 32-33. 53) (13,14) R. C. H. Lenski, The Interpre-
50) (12,21) Darby, I and II Corinthians, tation of St. Paul’s First and Second
S. 253. Epistles to the Corinthians, S. 1341.

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Corinthians,
Darby, J. N., Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans
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Davies, J. M., Notes on the Second Epistle to the
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Bombay: Gospel Literature Service, London: G. Morrish, 1882.
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Lenski, R. C. H.,
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London: Hodder & Stoughton, 1894. Columbus: Wartburg Press, 1937.
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London, Philadelphia: Westminster Chicago: Moody Press, 1959.
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Bd. 6: Acts – 2 Corinthians, 1911.
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The Second Epistle to the Corinthians, Comment,
London: The Banner of Truth Trust, London: The Banner of Truth Trust,
1959. 1973.

844
Der Brief des Paulus an die Galater
»Die ›Magna Carta‹ geistlicher Freiheit für die ganze Welt und für alle Zeiten.«
Charles R. Erdman

Einführung die Gelehrten beeinflußt, sondern auch


das Volk, und er wird noch immer ge-
druckt und gelesen.
I. Die einzigartige Stellung im Kanon
Ein Großteil der englischsprachigen II. Verfasserschaft
Menschen und viele Franzosen sind kel- Die Echtheit des Galaterbriefes als Pau-
tischer Herkunft – d. h. sie sind Schotten, lusbrief ist niemals ernsthaft bezweifelt
Iren, Waliser oder Bretonen. Diese Volks- worden. Er wird Paulus schon von Poly-
gruppen wird es wahrscheinlich beson- karp, Ignatius, Justin dem Märtyrer, Ori-
ders interessieren, daß einer der frühe- gines, Irenäus, Tertullian und Clemens
sten Briefe des Paulus an ihre Vorfahren von Alexandrien zugeschrieben. Im Mu-
geschrieben wurde (»Galater«, »Kelten« ratorischen Fragment wird er als Paulus-
und »Gallier« sind verwandte Worte). brief aufgeführt, und hat, wahrscheinlich
Um etwa 278 v. Chr. wanderte eine dank seiner stark antijüdischen Sprache,
große Gruppe dieser europäischen Gal- den ersten Platz in Marcions Apostolicon
lier in die heutige Türkei ein. Sie beka- erhalten. Wir können also behaupten,
men feste Grenzen und ihr Staat wurde daß die äußeren Beweise für seine Echtheit
»Galatien« genannt. Viele Menschen sind äußerst vielfältig und stichhaltig sind.
der Ansicht, daß sie »keltische« Züge bei Die inneren Beweise für die Verfasser-
den Galatern erkennen können, etwa schaft des Paulus beginnen mit den per-
ihre Sprunghaftigkeit (z. B. in Apg 13 sönlichen Bemerkungen in 1,1 und 5,2,
und Gal 3,1). und der Anmerkung gegen Ende (6,11),
Es sei, wie es wolle, der Brief an die daß er »mit großen Buchstaben« ge-
Galater spielte in der Geschichte des frü- schrieben habe. Man nimmt allgemein
hen Christentums eine wichtige Rolle. an, daß damit eine Augenkrankheit des
Obwohl dieser Brief oftmals als »erste Paulus angesprochen ist. Weitere Bewei-
Skizze« des Römerbriefes angesehen se sind z. B. die Tatsache, daß die Galater
wird (weil er in ähnlicher Weise das früher einmal bereit waren, ihre »Au-
Evangelium der Gnade, Abraham, das gen« für Paulus zu opfern. Viele histori-
Gesetz und anderes behandelt), ist der sche Anmerkungen stimmen mit der
Galaterbrief ein ernster, leidenschaftli- Apostelgeschichte überein. Die Diskus-
cher Versuch, das Christentum davor zu sion über die Beschneidung und die
bewahren, nur noch eine messianische Apostelschaft des Paulus waren in den
Sekte des gesetzestreuen Judentums zu 50iger und 60iger Jahren wichtige The-
werden. Wie die Galater selbst auf diesen men, doch schon bald danach interessier-
Brief reagiert haben, wissen wir nicht, te sich keiner mehr dafür.
doch das Evangelium der Gnade ohne
Gesetzeswerke siegte, und das Christen- III. Datierung
tum wurde zu einer Weltreligion. Die Datierung des Briefes hängt von der
Während der Reformation wurde der genauen Bedeutung der Ausdrücke »Ge-
Galaterbrief für Luther so wichtig, daß er meinden von Galatien« und »Galater«
ihn als »meine Käthe« bezeichnete (sein ab. Wenn hier der Süden Kleinasiens
Kosename für seine Frau). Sein Kom- gemeint ist, dann ist ein früheres Datum
mentar zum Galaterbrief hat nicht nur wahrscheinlich, sogar noch vor dem

845
Galater

Apostelkonzil in Jerusalem. Wenn jedoch Jerusalem besucht hat, auf dem die Frage
der Norden Kleinasiens gemeint ist, der Beschneidung entschieden würde,
dann handelt es sich um ein späteres könnte man das Buch auf 48 n. Chr.
Datum. datieren.
Geographisch gesehen wurde der Aus-
druck »Galatien« für den Norden IV. Hintergrund und Thema
benutzt, politisch war jedoch der Süden Während seiner ersten Missionsreisen
gemeint, nämlich die römische Provinz besuchte der Apostel Paulus Kleinasien
Galatien. und predigte die herrliche Botschaft, daß
Die nordgalatische Theorie war bis man die Erlösung allein durch den Glau-
etwa 1800 allgemein anerkannt und wird ben an Christus erlangen kann. Viele sei-
auch heute noch von den deutschen Aus- ner Zuhörer wurden gerettet, und es bil-
legern vertreten. Es gibt keinen Hinweis, deten sich Gemeinden, etliche davon in
daß Paulus jemals den Galatern dieses Galatien. Die Einwohner Galatiens
Gebietes gepredigt hat, doch das schließt waren dafür bekannt, unruhig, kriege-
eine solche Möglichkeit noch nicht aus. risch und wankelmütig zu sein.
Insbesondere seit der Zeit, als Sir Wil- Nachdem Paulus dieses Gebiet ver-
liam Ramsay die südgalatische Theorie lassen hatte, kamen Irrlehrer in die
bekannt machte, ist sie im angelsächsi- Gemeinden und brachten falsche Dog-
schen Raum weitgehend angenommen men auf. Sie lehrten, daß man erlöst wür-
worden. Weil Lukas den Missionsdienst de, wenn man an Christus glaubt und das
des Paulus in der Apostelgeschichte so Gesetz hält. Ihre Botschaft war eine
ausführlich beschreibt (Antiochien in Mischung aus Christen- und Judentum,
Pisidien, Ikonium, Lystra und Derbe), von Gesetz und Gnade, von Christus
wäre es nur wahrscheinlich, wenn Pau- und Mose. Sie versuchten, die Galater
lus an die Bekehrten dort geschrieben von Paulus abzuwenden, indem sie ihm
hätte. Weil Paulus Südgalatien auf seiner vorwarfen, kein echter Apostel Christi
ersten Missionsreise evangelisiert hat zu sein. Aus diesem Grund sei seine Bot-
und auf seiner zweiten einen weiteren schaft nicht zuverlässig. Sie versuchten,
Besuch dort machte, wäre dann ein frü- das Vertrauen der Galater in die Bot-
heres Datum für den Galaterbrief denk- schaft zu zerstören, indem sie das Ver-
bar. Wenn der Brief vor dem Apostelkon- trauen in den Botschafter untergruben.
zil in Apostelgeschichte 15 geschrieben Viele galatische Christen ließen sich von
worden ist (49 n. Chr.), dann würde das diesen bösartigen Behauptungen beein-
erklären, warum die Frage der Beschnei- flussen.
dung noch ein aktuelles Thema war. Welch eine Sorge und Enttäuschung
Theodor Zahn, ein führender konservati- muß Paulus empfunden haben, als er
ver Theologe, datiert den Galaterbrief diese Nachrichten aus Galatien erhielt!
auf die Zeit der zweiten Missionsreise Waren seine Mühen unter diesen Men-
des Paulus. Er ist der Ansicht, daß der schen vergeblich gewesen? Konnten die
Brief von Korinth aus geschrieben wur- Christen dort noch von diesen judaisti-
de. Damit würde es sich um Paulus’ frü- schen, gesetzlichen Lehren befreit wer-
hesten uns überlieferten Brief handeln. den. Paulus mußte hier schnell und ener-
Wenn die nordgalatische Theorie gisch eingreifen. Er nahm seinen Stift
richtig ist, dann wäre der Brief in den und schrieb diesen harschen Brief an sei-
50iger Jahren des ersten Jahrhunderts ge- ne geliebten Kinder im Glauben. In ihm
schrieben, vielleicht um 53, wahrschein- erklärt er das wahre Wesen der Erlösung,
lich aber später. die von Anfang bis Ende aus der Gnade
Wenn, wie wir glauben, die südgala- geschieht und nicht verdient werden
tische Theorie richtig ist, und insbeson- kann, indem man das Gesetz ganz oder
dere, wenn der Galaterbrief geschrieben teilweise hält. Gute Werke sind keine
wurde, ehe Paulus das Apostelkonzil in Voraussetzung für die Erlösung, sondern

846
Galater 1

ihre Frucht. Der Christ ist dem Gesetz strengung, sondern durch die Macht des
abgestorben und führt ein Leben in Hei- Heiligen Geistes Gottes, der in ihm
ligung, nicht durch seine eigenen An- wohnt.

Einteilung B. Gesetz und Verheißung (3,10-18)


C. Der Zweck des Gesetzes (3,19-29)
D. Kinder und Söhne (4,1-16)
I. Persönlich: Paulus verteidigt seine E. Knechtschaft oder Freiheit
Autorität (Kap. 1.2) (4,17-5,1)
A. Der Zweck dieses Briefes (1,1-10) III. Praktisch: Paulus verteidigt die
B. Paulus verteidigt seine Botschaft christliche Freiheit im Geist (5,2-6,18)
und seinen Dienst (1,11-2,10) A. Die Gefahr der Gesetzlichkeit
C. Paulus tadelt Petrus (2,11-21) (5,2-15)
II. Dogmatisch: Paulus verteidigt die B. Die Kraft zur Heiligung (5,16-25)
Rechtfertigung durch den Glauben C. Praktische Ermahnungen
(3,1-5,1) (5,26-6,10)
A. Die großartige Wahrheit des D. Briefschluß (6,11-18)
Evangeliums (3,1-9)

Kommentar Christus«. Durch die Art, wie Paulus hier


»Jesus Christus und Gott, den Vater«
zusammen sieht, wird Jesu Gottheit im-
I. Persönlich: Paulus verteidigt seine pliziert, weil hier beide auf dieselbe Stu-
Autorität (Kap. 1.2) fe gestellt werden. Dann wird erwähnt,
daß »Gott«, der »Vater«, Jesus Christus
A. Der Zweck dieses Briefes (1,1-10) »aus den Toten auferweckt hat«. Paulus
1,1 Zu Beginn des Briefes betont Paulus, hat einen guten Grund, die Galater daran
daß seine Berufung als »Apostel« gött- zu erinnern. Die Auferstehung war der
lich ist. Sie geschah »nicht von Men- Beweis, daß Gott mit dem Erlösungs-
schen«, auch nicht durch eine Offenba- werk Christi für uns vollkommen zufrie-
rung Gottes »durch einen Menschen«. dengestellt war. Offensichtlich waren die
Sie geschah direkt »durch Jesus Christus Galater mit diesem Erlösungswerk nicht
und Gott, den Vater, der ihn aus den voll zufrieden, weil sie versuchten, es
Toten auferweckt hat«. Jemand, der so noch zu verbessern, indem sie ihre eige-
direkt von Gott berufen ist und nur Gott nen Bemühungen beim Halten des Ge-
verantwortlich ist, hat die Freiheit, die setzes hinzufügten.
Botschaft Gottes ohne Menschenfurcht Paulus war vom auferstandenen Chri-
zu predigen. Deshalb war der Apostel stus berufen worden, im Gegensatz zu
von den zwölf Aposteln und allen ande- den zwölf Aposteln, die vom Herrn Jesus
ren unabhängig, sowohl in seiner Ver- während seines irdischen Dienstes beru-
kündigung als auch in seinem Dienst. fen wurden. Von seiner Berufung an
In diesem Vers wird die Gottheit spielte die Auferstehung eine wichtige
Christi ausdrücklich und indirekt er- Rolle in seiner Verkündigung.
wähnt. Sie wird ausdrücklich festgestellt 1,2 Der Apostel identifiziert sich mit
in dem Ausdruck »auch nicht durch allen Brüdern, »die bei mir sind«. Diese
einen Menschen, sondern durch Jesus Brüder stimmten in den Appell an die

847
Galater 1

Galater mit ein, die Wahrheit des Evan- Sündenfrage zu lösen, dann ist es sowohl
geliums festzuhalten. Dieser Brief an die unnötig als auch unmöglich für uns, die-
»Gemeinden von Galatien« ist absicht- sem Werk noch etwas hinzuzufügen,
lich in einem recht kühlen Ton gehalten. oder unsere Sünden durch das Halten
Normalerweise spricht Paulus die Gläu- des Gesetzes abzubüßen. Christus ist der
bigen als »Gemeinde Gottes«, »Heilige« einzige und ausreichende Erlöser. Chri-
oder »treue Brüder in Christus« an. Er stus starb, um uns »aus der gegenwärti-
dankt in seinen Briefen oft für die Chri- gen bösen Welt« zu erlösen. Das umfaßt
sten oder lobt sie für ihre Eigenschaften. nicht nur die moralische und politische
Oft spricht er einzelne namentlich an. Korruption unserer Welt, sondern auch
Doch davon ist in diesem Brief nichts zu die religiöse Welt, welche Riten und
entdecken. Die schreckliche Irrlehre in Zeremonien mit dem Glauben an Chri-
den galatischen Gemeinden ließ ihn kühl stus vermischt. Es war also hier beson-
und ernst mit ihnen sprechen. ders an der Zeit, die Galater daran zu
1,3 »Gnade … und Friede« sind zwei erinnern, daß sie genau zu dem System
der Hauptbegriffe des Evangeliums. zurückzukehren versuchten, von dem
»Gnade« ist die unverdiente Güte Gottes Christus sie doch durch seinen Tod erlöst
gegenüber dem gottlosen Sünder. An- hat! Die Erlösung durch Christus ge-
statt uns zu befehlen, was wir tun sollen, schah »nach dem Willen unseres Gottes
zeigt sie uns, was Gott getan hat, und lädt und Vaters«. Damit wird dem die Ehre
Menschen ein, die Erlösung als Geschenk gegeben, dem sie gebührt – nicht den
anzunehmen. Scofield sagt: »Die Gnade kläglichen Bemühungen der Menschen,
sucht nicht nach guten Menschen, die sie sondern dem souveränen Willen Gottes.
billigen kann, sondern nach den verlore- Dieser Satz betont, daß Christus Gottes
nen, schuldigen, sprachlosen und hilflo- Erlösungsweg ist und daß es keinen
sen Menschen, die sie retten, heiligen anderen gibt.
und verherrlichen kann.« Vers 4 sollte eine Erinnerung daran
»Friede« ist eine Folge der Gnade. sein, daß Gott nicht daran interessiert ist,
Wenn jemand den Erlöser annimmt, hat die Welt zu verbessern oder es den Men-
er »Frieden« mit Gott. Er ruht in dem schen darin bequem zu machen, sondern
Wissen, daß die Strafe für seine Sünden sie davon zu erlösen. Unsere Prioritäten
bezahlt ist, daß alle seine Sünden verge- sollten mit diesen Absichten Gottes in
ben sind und daß er niemals verloren Einklang gebracht werden.
gehen kann. Doch die Gnade rettet nicht 1,5 Nach dem Evangelium der Gnade
nur, sondern sie hält uns auch. Und wir wird alle »Herrlichkeit« für die Erlösung
brauchen nicht nur den Segen des Frie- des Menschen Gott dem Vater und dem
dens mit Gott, sondern auch den Frieden Herrn Jesus Christus zugeschrieben. Der
»von Gott«. Das sind die Segnungen, die Mensch kann diese Herrlichkeit nicht tei-
Paulus den Galatern zu Beginn seines len, wenn er sich als Miterlöser aufspielt,
Briefes wünscht. Sicherlich erkannten indem er das Gesetz hält.
die Galater, daß sie diese Segnungen nie- Jeder Teilsatz dieser fünf Verse hat
mals durch das Gesetz erlangen konnten. Bedeutung, und in diesen wenigen Wor-
Das Gesetz brachte einen Fluch über alle, ten werden viele Wahrheiten ausge-
die seine Vorschriften verletzten. Es hat drückt. Paulus hat hier schon im Kleinen
bisher keiner einzigen Seele Frieden seine beiden Themen angesprochen, die
gebracht. ihn in seinem Brief beschäftigen wer-
1,4 Als nächstes erinnert Paulus seine den – seine Autorität als Apostel und sein
Leser an den enormen Preis ihrer Erlö- Evangelium der Gnade Gottes. Er ist nun
sung. Man beachte die Worte: unser Herr bereit, das Problem der Galater direkt
Jesus Christus, »der sich selbst für unse- anzusprechen.
re Sünden hingegeben hat«. Wenn er 1,6.7 Paulus konfrontiert die Galater
»sich selbst … hingegeben hat«, um die sofort mit ihrer Bereitschaft, Irrlehren

848
Galater 1

anzunehmen. Er ist erstaunt, daß sie die zum Ausdruck bringen. Das Evangelium
Wahrheit des Evangeliums so schnell ist der einzige Weg zur Erlösung. Selbst-
aufgeben, und bezeichnet ihre Hand- bemühung oder menschliche Vorzüge
lungsweise als Abweichung von Gott um haben daran keinen Anteil. Nur das
eines falschen Evangeliums willen. Gott Evangelium bietet die Erlösung ohne
hatte sie doch in »die Gnade Christi beru- Geld und Opfer an. Während das Gesetz
fen«, und nun stellten sie sich selbst wie- einen Fluch über die Menschen aus-
der unter den Fluch des Gesetzes. Sie spricht, die es brechen, spricht das Evan-
hatten das wahre Evangelium angenom- gelium einen Fluch über die aus, die es
men, und nun verließen sie es um eines verändern wollen.
»anderen Evangeliums« willen, das 1,10 Paulus wird an diesem Punkt
absolut keine gute Nachricht darstellte. offensichtlich daran erinnert, daß seine
Es war nur eine verdrehte Botschaft, eine Feinde ihn anklagten, daß er seine Bot-
Mischung aus Gesetz und Gnade. schaft je nach seiner Zuhörerschaft ver-
1,8.9 Paulus spricht zweimal Gottes ändert habe, und deshalb fragt er hier
Fluch über diejenigen aus, die »etwas als praktisch: »Wenn ich nun darauf bestehe,
Evangelium entgegen dem verkündigen, daß es nur ein Evangelium gibt, versuche
… was ihr empfangen habt«. Gott hat ich dann ›Menschen … oder Gott‹ zu
nur eine Botschaft für verurteilte Sünder: gefallen?« Offensichtlich versucht er
Er bietet ihnen die Gnade der Erlösung nicht, »Menschen zuliebe« zu predigen,
durch den Glauben an, ohne Halten des weil sie die Vorstellung hassen, daß es
Gesetzes. Diejenigen, die einen anderen nur einen Weg in den Himmel gibt. Wenn
Weg der Erlösung predigen, sind not- Paulus seine Botschaft verändert hätte,
wendigerweise verloren. Wie schrecklich um »Menschen« zu gefallen, dann
ist es doch, wenn jemand eine Botschaft »wäre« er »Christi Knecht nicht«. Er
verkündigt, die zur ewigen Verdammnis würde sich sogar den Zorn Gottes zuzie-
des Menschen führt! Paulus konnte sol- hen.
che Irrlehrer nicht tolerieren, und wir
sollten es auch nicht tun. John Stott B. Paulus verteidigt seine Botschaft
warnt: und seinen Dienst (1,11-2,10)
Wir sollten uns nicht von der Person, den 1,11.12 Der Apostel führt nun sechs
Gaben oder Ämtern der Lehrer in der Argumente zur Verteidigung seiner Bot-
Gemeinde faszinieren lassen. Sie mögen uns schaft und seines Dienstes an. Erstens
sehr ehrwürdig, autoritär und gelehrt wurde das Evangelium durch göttliche
erscheinen. Sie können Bischöfe oder Erz- Offenbarung und unabhängig von Men-
bischöfe sein, Universitätsprofessoren oder schen empfangen. Es war »nicht von
sogar der Papst selbst. Doch wenn sie uns ein menschlicher Art« in dem Sinne, daß es
Evangelium bringen, das von dem des Neuen keine menschliche Erfindung war. Wenn
Testamentes abweicht, so sind sie abzuleh- wir einen Augenblick nachdenken, so
nen. Wir beurteilen sie anhand des Evangeli- werden wir das bestätigt finden. Das
ums, wir beurteilen nicht das Evangelium Evangelium des Paulus gibt dem Men-
anhand ihrer Aussagen. Wie Dr. Alan Cole es schen keine, Gott aber alle Ehre. Und so
ausdrückt: »Die Botschaft wird nicht durch etwas würde sich normalerweise kein
den Botschafter glaubwürdig, sondern der Mensch ausdenken! Paulus hat es
1)
Botschafter durch die Botschaft.« »weder von einem Menschen empfangen
Man beachte, daß der Apostel sagt: noch« von jemandem anderen, auch hat
»Ein Engel aus dem Himmel« und nicht: er es nicht aus Büchern »erlernt«. Er
»Ein Engel von Gott.« Ein »Engel aus erhielt es »durch« eine direkte »Offenba-
dem Himmel« könnte eine falsche Bot- rung Jesu Christi«.
schaft bringen, doch ein Engel Gottes 1,13.14 Zweitens konnte die Weige-
nicht. Die Sprache könnte die Einzigar- rung des Paulus, das Gesetz in sein Evan-
tigkeit des Evangeliums nicht besser gelium aufzunehmen, nicht darauf beru-

849
Galater 1

hen, daß er das »Judentum« nicht dem Augenblick gerichtet worden wäre,
gekannt hätte. Er war durch seine Geburt wie er es eigentlich verdient hatte, wäre
und durch seine Ausbildung tief im er in die Hölle geworfen worden. Doch
Gesetz verwurzelt. Aus eigenem Antrieb Christus hatte ihn in wunderbarer Gnade
wurde er ein eifriger Verfolger der »Ge- statt dessen errettet und ihn ausgesandt,
meinde Gottes«. In brennendem Eifer für den Glauben zu predigen, den er zer-
die »überkommenen väterlichen Über- stören wollte. In Vers 16 zeigt Paulus, daß
lieferungen« übertraf er viele andere Gott vorhatte, »seinen Sohn in« ihm »zu
Juden seines Alters. Deshalb konnte sein offenbaren«. Das hilft uns auf wunderba-
Evangelium des Glaubens ohne Gesetz re Weise, den Zweck unserer Berufung
sicherlich nicht dem Umstand zuge- zu erkennen – sein Sohn soll in uns offen-
schrieben werden, daß er etwa das Ge- bart werden, so daß wir den Herrn Jesus
setz nicht gekannt hätte. Warum hat er es vor der Welt vertreten. Er offenbart Chri-
dann nicht gepredigt? Warum stand sein stus unseren Herzen (V. 16), damit er
Evangelium seinem Hintergrund entge- Christus durch uns anderen Menschen
gen, seinen natürlichen Neigungen und zeigen kann (V. 16-23) und Gott dadurch
seiner ganzen religiösen Entwicklung? verherrlicht wird (V. 24). Die besondere
Ganz einfach, weil es nicht aus seinem Aufgabe des Paulus bestand darin, Chri-
eigenen Denken entsprungen, sondern stus unter den Heiden zu predigen.
von Gott direkt offenbart worden war. In Vers 17 sagt er: »Ich ging … nach
1,15-17 Drittens hatte er die ersten Arabien.« Jeder Diener des Herrn
Jahre seines Dienstes unabhängig von braucht eine Zeit der Zurückgezogenheit
den anderen »Aposteln« verbracht. Pau- und Stille. Mose hatte 40 Jahre Zeit am
lus zeigt uns nun, daß sein Evangelium Rande der Wüste. David war mit Gott
in keinem Zusammenhang mit anderen allein, als er auf den Hügeln Judäas Scha-
Menschen stand. Nach seiner Bekehrung fe hütete.
»zog« er »nicht Fleisch und Blut zu 1,18-20 Viertens traf Paulus, als er
Rate«. Auch »ging« er »nicht nach Jeru- dann schließlich Jerusalem doch besuch-
salem hinauf«, wo die anderen Apostel te, nur Kephas und Jakobus. Außerdem
sich aufhielten. Statt dessen ging er war er den Gemeinden in Judäa relativ
»nach Arabien und kehrte wieder nach unbekannt (1,21-24). Um seine Unab-
Damaskus zurück«. Sein Entschluß, Jeru- hängigkeit von den anderen Aposteln
salem zu meiden, entsprang nicht man- weiter zu beweisen, erinnert Paulus sich
gelndem Respekt vor seinen Mitapo- daran, daß er Jerusalem erst »drei Jahre«
steln, sondern weil er vom auferstande- nach seiner Bekehrung besuchte. Er ging
2)
nen Herrn selbst gesandt worden war, hin, um »Kephas« kennenzulernen –
der ihm einen besonderen Dienst an den ein persönlicher, kein offizieller Besuch
Heiden anvertraut hatte (2,8). Deshalb (Apg 9,26-29). Während er dort war, traf
brauchte sein Evangelium und sein er auch »Jakobus, den Bruder des
Dienst keine menschliche Autorisierung. Herrn«. Sein Besuch bei Petrus dauerte
Er war von Menschen völlig unabhängig. nur »fünfzehn Tage« – kaum Zeit genug
Einige Ausdrücke in diesem Ab- für eine ausführliche Schulung! Der Text
schnitt verdienen eine sorgfältigere Un- geht hier eher davon aus, daß er mit die-
tersuchung. Betrachten wir zunächst den sen Dienern Gottes völlig in seinen Auf-
Ausdruck in Vers 15: »Der mich von mei- fassungen übereinstimmte.
ner Mutter Leibe an ausgewählt … hat.« 1,21-24 Danach verbrachte er viel Zeit
Paulus erkannte, daß Gott ihn schon vor in den »Gegenden von Syrien und Zilizi-
seiner Geburt für eine besondere Aufga- en« – so viel, daß die »Gemeinden in
be auserwählt hatte. Er fügt hinzu, daß Judäa« ihn nicht persönlich kannten. Sie
Gott ihn »durch seine Gnade berufen wußten nur, daß dieser, der die Christen
hat«, und bezieht sich damit auf seine so grausam verfolgt hatte, nun selbst
Bekehrung vor Damaskus. Wenn er in Christ geworden war und Christus ande-

850
Galater 1 und 2

ren Menschen predigte. Aus diesem damit« er »nicht etwa vergeblich laufe
Grund »verherrlichten sie Gott« für das oder gelaufen wäre«. Warum sprach
Werk, das er im Leben des Paulus voll- Paulus »besonders« (d. h. getrennt von
bracht hatte. (Verherrlichen andere Men- den übrigen, Anm. ER) zu den geistli-
schen Gott, weil unser Leben sich verän- chen Führern, statt zur gesamten Ver-
dert hat?) sammlung? Wollte er, daß sie sein Evan-
2,1 Fünftens waren sich die Apostel gelium bestätigten, falls er etwas
auf einem späteren Besuch des Paulus in Falsches gepredigt hatte? Offensichtlich
Jerusalem einig, daß sein Evangelium nicht! Das wäre das genaue Gegenteil
göttlichen Ursprungs war (2,1-10). Weil von allem, was der Apostel bisher gesagt
das Christentum in Jerusalem gegründet hatte. Er hatte betont, daß ihm seine Bot-
wurde und die Apostel diese Stadt mehr schaft von Gott offenbart worden war. Er
oder weniger zu ihrem Hauptquartier hatte keine Zweifel, daß seine Lehre der
gemacht hatten, waren einige Christen Wahrheit entsprach. Die wirkliche Er-
der Ansicht, daß die Gemeinde dort die klärung muß man auf einem anderen
»Muttergemeinde« sei. Deshalb mußte Gebiet suchen. Es war eine Frage der
sich Paulus mit dem Vorwurf auseinan- Höflichkeit, sich erst mit den Leitern zu
dersetzen, daß er in irgendeiner Weise besprechen. Es war auch wünschens-
unterlegen sei, weil er keiner der Jerusale- wert, daß die Leiter völlig von der Echt-
mer Apostel war. Er antwortet mit einem heit des Evangeliums des Paulus über-
ausführlichen Bericht seiner zweiten Rei- zeugt waren. Wenn sie irgendwelche Fra-
se »nach Jerusalem«. Ob diese »vierzehn gen hatten oder Schwierigkeiten sahen,
Jahre« nach seiner Bekehrung oder nach wollte Paulus ihnen gleich zu Beginn
seiner ersten Reise stattfand, wissen wir Rede und Antwort stehen. Dann konnte
nicht. Wir wissen jedoch, daß er eine er mit der Unterstützung der anderen
»Offenbarung« Christi erhielt, hinzurei- Apostel vor die Gemeinde treten. Wenn
sen, und zwar »mit Barnabas«, seinem man mit einer großen Anzahl von Men-
Mitarbeiter, und »Titus«, einem Heiden, schen zu tun hat, besteht immer die
der sich durch den Dienst des Paulus Gefahr, daß emotionale Appelle die
bekehrt hatte. Die Gesetzeslehrer hatten Gruppe beeinflussen. Deshalb wollte
darauf bestanden, daß Titus beschnitten Paulus sein Evangelium zunächst »be-
werden müsse, damit er errettet werden sonders« vorlegen, in einer Atmosphäre,
könnte. Der Apostel Paulus widerstand in der keine Möglichkeit für eine Mas-
dem jedoch hartnäckig, weil er merkte, senhysterie drohte. Hätte Paulus anders
daß hier die Wahrheit des Evangeliums gehandelt, hätte sich eine ernsthafte Dis-
auf dem Spiel stand. (Als er später Timo- kussion ergeben können, die dazu hätte
theus beschnitt, ging es um kein wichtiges führen können, daß sich die Gemeinde in
Prinzip – Apostelgeschichte 16,3.) einen jüdischen und einen heidnischen
E. F. Kevan schreibt: Flügel spaltete. Damit wäre das Ziel der
Paulus erkannte, daß die Beschneidung Reise des Paulus verfehlt worden. Das ist
um der Rechtfertigung willen keine harmlose die Bedeutung der Worte »damit ich
kleine Zeremonie war, für die jemand, der nicht etwa vergeblich laufe oder gelaufen
nicht genauer nachdenkt, sie vielleicht hätte wäre«.
halten können. Wer sich auf diese Weise der 2,3 Die gesamte Frage der Gesetzlich-
Beschneidung unterzog, versuchte durch das keit gipfelte im Fall des Titus. Würde die
Halten des Gesetzes gerechtfertigt zu wer- Jerusalemer Gemeinde einen Heiden in
den. Damit aber leugnete er gleichzeitig die ihre Gemeinschaft aufnehmen, oder
3)
Grundlage der Gnade. würde sie darauf bestehen, daß er sich
4)
2,2 Als Paulus Jerusalem erreichte, »beschneiden« lassen müsse? Nachdem
»legte« er »ihnen das Evangelium vor, man ausführlich diskutiert und geredet
das« er »unter den Nationen« predigte, hatte, entschieden die Apostel, daß die
»den Angesehenen aber besonders, Beschneidung nicht zur Erlösung not-

851
Galater 2

wendig war. Paulus hatte einen durch- war, das Evangelium zu den »Unbe-
5)
schlagenden Sieg errungen. schnittenen« (den Heiden) zu bringen
2,4 Der Grund, aus dem Paulus nach und zwar genauso, wie »Petrus« zu den
Jerusalem reiste, wird deutlich, wenn wir Juden gesandt war. Beide predigten das-
den Anfang von Vers 2 mit dem Anfang selbe Evangelium, doch jeder hauptsäch-
von Vers 4 zusammenfügen: »Ich zog lich einer anderen Volksgruppe.
aber einer Offenbarung zufolge hinauf… 2,9.10 Sogar »Jakobus und Kephas
und zwar wegen der heimlich einge- (Petrus) und Johannes«, offensichtlich
drungenen falschen Brüder, die sich ein- »Säulen« der Gemeinde, »erkannten«,
geschlichen hatten.« Das bezieht sich auf daß Gott durch Paulus gewirkt hatte, und
die vorhergehenden Vorgänge in Antio- »gaben« ihm »und Barnabas den Hand-
chien (Apg 15,1.2). Einige jüdische Leh- schlag der Gemeinschaft«, so daß sie das
rer aus Jerusalem, die sich Christen Evangelium zu den Heiden bringen soll-
nannten, waren irgendwie heimlich in ten. Das war keine offizielle Ordination,
die Gemeinde in Antiochien gelangt und sondern Ausdruck ihres liebevollen
lehrten, daß die Beschneidung für die Interesses für die Arbeit des Paulus. Die
Erlösung notwendig sei. einzige Ermahnung an sie lautete, daß
2,5 Paulus und Barnabas widerstan- Paulus und Barnabas »der Armen geden-
den ihnen hartnäckig. Um die Frage zu ken« sollten, »was« Paulus laut eigener
klären reisten Paulus, Barnabas und an- Aussage sich »auch befleißigt« hat.
dere nach Jerusalem, um die Meinung der
Apostel und Ältesten dort zu erfragen. C. Paulus tadelt Petrus (2,11-21)
2,6 Diejenigen, die als Leiter in der 2,11 Als sechsten und letzten Punkt der
Gemeinde in Jerusalem anerkannt wa- Antwort auf die Angriffe der Galater
ren, hatten »nichts zusätzlich auferlegt«, bezüglich seiner Apostelschaft berichtet
weder seiner Botschaft noch ihm als Paulus davon, wie es für ihn nötig wur-
6)
Apostel. Das war bemerkenswert. Im de, den Apostel Kephas zu tadeln – der
vorhergehenden Kapitel hat er betont, von vielen Christen als wichtigster Apo-
daß sein Kontakt mit den Aposteln bis stel angesehen wurde. (Dieser Abschnitt
dahin minimal gewesen war. Als er sich zeigt eindeutig, daß Petrus keinesfalls
mit ihnen nun doch beriet, waren sie der der unfehlbare Leiter der Gemeinde
Ansicht, daß er dasselbe Evangelium wie war.)
sie gepredigt hatte. Welch eine überaus 2,12 Als Petrus das erste Mal nach
wichtige Tatsache! Diese jüdischen Leiter Antiochien kam, »hatte er mit denen aus
waren einstimmig der Überzeugung, den Nationen gegessen«, und zwar voll-
daß sein Evangelium auf keinerlei Weise er Freude über seine christliche Freiheit.
Falsches enthielt. Obwohl Paulus ganz Nach der jüdischen Tradition hätte er so
unabhängig gewesen war und nicht von nicht handeln dürfen. Einige Zeit später
ihnen gelehrt wurde, war doch das Evan- kamen Leute »von Jakobus« in Jerusa-
gelium, das die Apostel predigten, mit lem, um Antiochien einen Besuch abzu-
dem des Paulus identisch. (Paulus will statten. Sie behauptete, von Jakobus
hier nicht die Bedeutung der anderen geschickt zu sein, doch dieser leugnete
Apostel herunterspielen, sondern er sagt das später (Apg 15,24). Sie waren wahr-
lediglich aus, daß, »was immer sie auch scheinlich Judenchristen, die sich noch
waren«, nämlich Gefährten des Herrn immer an gewisse Gesetze klammerten.
Jesus, als er auf Erden lebte, ihnen keine Als sie ankamen, hörte Petrus auf, mit
überlegene Autorität in seinen Augen den Heiden Gemeinschaft zu haben und
verlieh. Gott ist an solchen äußerlichen »fürchtete«, daß die Nachricht seines
Unterschieden nicht interessiert.) Verhaltens zu den Gesetzestreuen in
2,7.8 Die Apostel in Jerusalem er- Jerusalem gelangen könnte. Indem er so
kannten, daß Paulus, ohne diese Gnade handelte, leugnete er eine der wichtigen
verdient zu haben, ausgesandt worden Wahrheiten des Evangeliums – daß näm-

852
Galater 2

lich alle Gläubigen in Christus Jesus eins chen Sinn hatte es also, daß Petrus die
sind, und daß nationale Unterschiede die Heiden wieder unter das Gesetz stellen
Gemeinschaft nicht behindern. Findlay wollte? Das Gesetz sagte den Menschen,
sagt: »Indem er sich weigerte, mit unbe- was sie zu tun hatten, aber es gab ihnen
schnittenen Männern zu essen, bekräftig- nicht die Kraft, es auch zu befolgen. Es
te er indirekt, daß sie ihm immer noch war gegeben worden, um Sünde aufzu-
›gemein und unrein‹ waren, obwohl sie decken, aber nicht zur Erlösung.
doch an Christus gläubig waren, und daß 2,17 Paulus und Petrus und auch an-
die mosaischen Riten eine höhere Stufe dere hatten ihre Rechtfertigung in Chri-
der Heiligung darstellten als die Gerech- stus gesucht, und nur in Christus. Doch
tigkeit durch den Glauben.« handelte Petrus in Antiochien, als ob er
2,13 Andere folgten dem Beispiel des nicht vollständig gerechtfertigt sei, son-
Petrus, auch »Barnabas«, Paulus’ ge- dern unter das Gesetz zurückgehen müs-
schätzter Mitarbeiter. Paulus klagte nun se, um seine Erlösung zu vervollständi-
Petrus mutig der »Heuchelei« an, weil er gen. Wenn das so wäre, dann wäre Chri-
erkannte, wie schlimm diese Handlungs- stus kein vollkommener und ausreichen-
weise war. Die tadelnde Rede des Paulus der Erlöser. Wenn wir zu ihm kommen,
7)
ist uns in den Versen 14-21 überliefert. um uns unsere Sünden vergeben zu las-
2,14 Als Christ wußte Petrus, daß sen, doch dann noch zusätzlich woanders
Gott keine nationalen Unterschiede mehr hingehen müssen, wäre dann Christus
macht, er hatte sogar wie ein Heide ge- nicht »ein Diener der Sünde«, weil er sei-
lebt und von ihren Speisen gegessen usw. ne Verheißungen nicht erfüllt hat? Wenn
Durch seine neuerliche Weigerung, mit wir, während wir bekennen, allein durch
den Heiden zu essen, sagte er praktisch, Christus gerechtfertigt zu sein, anschlie-
daß es für die Heiligung notwendig sei, ßend zum Gesetz zurückgehen (welches
jüdische Gesetze und Bräuche einzuhal- uns ja nur als Sünder verurteilen kann),
ten, und daß die heidnischen Gläubigen handeln wir dann wie Christen? Können
»wie die Juden« leben müßten. wir hoffen, Christi Billigung zu erlangen,
2,15 Paulus scheint hier ironisch zu wenn wir in einer Weise handeln, die ihn
sprechen. Verriet das Verhalten des praktisch zu einem »Diener der Sünde«
Petrus nicht eine unterschwellige Über- macht? Paulus antwortet entrüstet: »Das
zeugung, daß die »Juden« überlegen sei- ist ausgeschlossen.«
en, und die »Nationen« zu verachten 2,18 Petrus hatte das gesamte Geset-
wären? Petrus hätte es besser wissen sol- zessystem um des Glaubens an Christus
len, weil Gott selbst ihn vor der Bekeh- willen abgelegt. Er hatte jeden Unter-
rung des heidnischen Hauptmannes schied zwischen Juden und Heiden
Kornelius gelehrt hatte, keinen Men- abgelehnt, sobald es darum ging, vor
schen gemein oder unrein zu nennen Gott gerecht zu werden. Als er sich nun
(Apg 10 u. 11,1-18). weigerte, mit den Heiden zu essen, bau-
2,16 Errettete Juden wußten, daß te er wieder auf, was er schon »abgebro-
»Gesetzeswerke« nicht retten können. chen« hatte. Indem er das tut, handelt er,
Das Gesetz verdammte jeden völlig, der als ob er selbst ein »Übertreter« wäre.
es nicht vollkommen hielt. Das brachte Entweder hatte er unrecht getan, als er
den Fluch über alle, weil alle diese heili- das Gesetz um Christi willen verließ,
gen Anweisungen gebrochen haben. Der oder er tat jetzt Unrecht, da er Christus
Erlöser wird uns hier als einziger Gegen- um des Gesetzes willen verließ.
stand unseres Glaubens dargestellt. Pau- 2,19 Die Strafe für den Bruch des
lus erinnert Petrus, daß sogar sie selbst, Gesetzes ist der Tod. Als Sünder habe ich
die Juden zu dem Schluß gekommen sei- das Gesetz gebrochen. Deshalb hat es
en, daß die Erlösung »nur durch den mich zum Tode verurteilt. Doch Christus
Glauben an Christus Jesus« bewirkt hat die Strafe für das gebrochene Gesetz
wird, »nicht aus Gesetzeswerken«. Wel- getragen, als er an meiner Stelle starb.

853
Galater 2

Als also Christus starb, starb ich auch. Er mir ausleben kann. »Was ich aber jetzt«
starb dem Gesetz in dem Sinne, daß er in meinem menschlichen Leib »lebe, lebe
alle seine gerechten Ansprüche erfüllte, ich im Glauben, und zwar im Glauben an
deshalb bin auch ich in Christus »dem den Sohn Gottes«. Glaube bedeutet Ab-
Gesetz gestorben«. hängigkeit oder Vertrauen. Der Christ
Der Christ ist »dem Gesetz gestor- lebt in ständiger Abhängigkeit von Chri-
ben«; er hat damit nichts mehr zu tun. stus, indem er sich ihm hingibt und ihm
Heißt das, daß der Gläubige die Freiheit erlaubt, sein (Christi) Leben in ihm zu
hat, die Zehn Gebote zu brechen, wie er verwirklichen.
will? Nein, er lebt in der Heiligung, nicht Deshalb ist Christus die Lebensregel
weil er sich wegen des Gesetzes fürchte- des Gläubigen, nicht das Gesetz. Es geht
te, sondern aus Liebe zu dem, der für ihn nicht um ein Streben, sondern um Ver-
starb. Christen, die versuchen, sich unter trauen. Er lebt ein geheiligtes Leben, und
das Gesetz als Verhaltensvorschrift zu zwar nicht aus Furcht vor Strafe, sondern
stellen, erkennen nicht, daß sie sich aus Liebe zum »Sohn Gottes, der ihn ge-
damit unter seinen Fluch stellen. Sie kön- liebt und sich selbst für ihn hingegeben
nen auch nicht das Gesetz an einem hat«.
Punkt halten wollen, ohne nicht verant- Hast du dein Leben schon dem Herrn
wortlich zu sein, es als Ganzes zu halten. Jesus hingegeben mit dem Gebet, daß
Wir können nur dann »Gott leben«, sein Leben sich in deinem Leib offenba-
wenn wir dem Gesetz gestorben sind. ren möge?
Das Gesetz kann niemals ein geheiligtes 2,21 »Die Gnade Gottes« zeigt sich in
Leben bewirken, weil Gott es niemals seinem Geschenk der Erlösung, das er
dazu bestimmt hat. Sein Weg, um uns zu uns ohne Vorbedingung gibt. Wenn man
heiligen, wird in Vers 20 erklärt. versucht, sich dieses Geschenk zu ver-
2,20 Der Gläubige wird mit »Chri- dienen, so entwertet man es. Es handelt
stus« in seinem Tod identifiziert. Nicht sich nicht mehr um Gnade, wenn der
nur Christus wurde auf Golgatha ge- Mensch sie sich verdient. Der letzte
kreuzigt – in ihm bin auch ich dort ge- Schlag des Paulus gegen Petrus war er-
kreuzigt worden. Das bedeutet, daß ich folgreich. Wenn Petrus Gottes Wohlgefal-
in Gottes Augen kein Sünder mehr bin. len durch Befolgung jüdischer Gesetze
Es bedeutet, daß ich als Person es nicht erlangen konnte, »dann ist Christus um-
mehr nötig habe zu versuchen, durch sonst gestorben«. In einem solchen Falle
eigene Anstrengung meine Erlösung zu hätte er wortwörtlich sein Leben wegge-
verdienen. Es bedeutet, daß ich kein worfen. Christus starb jedoch, weil der
Kind Adams mehr bin, nicht mehr als Mensch die »Gerechtigkeit« auf keine
Mensch lebe, der unter dem Urteil des andere Art erlangen konnte – noch nicht
Gesetzes steht, nicht mehr als alter, nicht einmal durch das Halten des Gesetzes.
wiedergeborener Mensch. Das alte, böse Clow sagt:
»Ich« ist gekreuzigt, es hat keinen An- Die schlimmste Irrlehre, die die Gemein-
spruch mehr auf mich. Das gilt in erster den zerstört, die Gemeinschaften mit Dumm-
Linie für meine Stellung vor Gott, doch heiten unterwandert und unsere Herzen vor
es sollte auch für mein Leben gelten. Stolz schwellen läßt, ist die Lehre von der
Der Gläubige hört nicht auf, als Per- Erlösung durch Werke. »Ich glaube«,
son oder Individuum zu leben. Doch schreibt John Ruskin, »daß sich die Wurzel
sind der, den Gott als gestorben ansieht, aller Schismen und Irrlehren, unter der die
und derjenige, der lebt, nicht mehr iden- christliche Kirche zu leiden hatte, die Be-
tisch. »Nicht mehr lebe ich, sondern mühung gewesen ist, sich die Erlösung zu
Christus lebt in mir.« Der Erlöser starb verdienen, statt sie anzunehmen. Und der
nicht für mich, damit ich wie zuvor wei- Grund, warum die Predigten heute oft so
terlebe, wie es mir gefällt. Er starb für unwirksam sind, ist, daß sie die Menschen
mich, damit er von nun an sein Leben in viel öfter zu Werken für Gott aufrufen, als

854
Galater 2 und 3

das Wunder zu bestaunen, wie Gott für sie jüdische Zeloten, die das Evangelium der
8)
Werke tut.« Gnade haßten. War dieses Leiden »ver-
geblich«? Bedeutete es nicht, daß ihre
II. Dogmatisch: Paulus verteidigt die Verfolger recht hatten, wenn sie zum
Rechtfertigung durch den Glauben Gesetz zurückkehrten? »Wenn es wirk-
(3,1-5,1) lich vergeblich ist!« Paulus spricht hier
seine Hoffnung aus, daß sie doch noch
A. Die großartige Wahrheit des zum Evangelium zurückkehren, für das
Evangeliums (3,1-9) sie einst gelitten haben.
3,1 Die Handlungsweise der Galater be- 3,5 Es ist fraglich, ob mit »der« in Vers
wies, daß es ihnen an Verständnis man- 5 Gott, Paulus, oder jemand anders ge-
gelte. Wer sich von der Gnade dem Ge- meint ist, der den Galatern zur Zeit der
setz zuwendet, ist wie »bezaubert«. Es Abfassung des Briefes diente. Letztlich
ist, als ob man von einem magischen muß Gott gemeint sein, weil nur er »den
Spruch eingenebelt ist und unausweich- Geist« darreichen kann. Doch in übertra-
lich Lüge für Wahrheit hält. Wenn Paulus genem Sinn könnte es sich auch um
fragt: »Wer hat euch bezaubert?«, dann einen christlichen Mitarbeiter handeln,
ist das »wer« im griechischen in der Ein- der das Werkzeug war, durch das Gott
9)
zahl (gr. tis) , nicht in der Mehrzahl; viel- seinen Willen erfüllen konnte. Das wür-
leicht, weil Paulus daran denkt, daß de uns ein sehr erhabenes Bild des christ-
Satan der Urheber dieser Irrlehre war. lichen Dienstes geben. Jemand hat ein-
Paulus selbst hatte den Galatern »Jesus mal gesagt: »Jede echte christliche Mitar-
Christus als gekreuzigt« gepredigt und beit gibt den Geist an andere weiter, es
dabei betont, daß sie das Kreuz für handelt sich wirklich um eine Austeilung
immer vom Fluch und der Knechtschaft des Geistes.«
des Gesetzes befreien würde. Wie konn- Wenn der Apostel hier von sich selbst
ten sie dann zum Gesetz zurückkehren spricht, dann denkt er vielleicht an die
und so das Kreuz zunichte machen? Hat- Wunder, die seine Predigt und das Gläu-
te diese Wahrheit nicht ganz praktisch bigwerden der Galater begleiteten
von ihnen Besitz ergriffen? (Hebr 2,4). Doch die Zeitform des Verbs
3,2 Eine Frage sollte ausreichen, um legt uns nahe, daß hier von einem Ereig-
das gesamte Problem zu lösen. Sie sollten nis die Rede ist, das zur Zeit der Abfas-
an die Zeit ihrer Bekehrung zurückden- sung geschah und nicht irgendwann in
ken – an die Zeit, als der Heilige Geist in der Vergangenheit. Vielleicht bezieht sich
ihnen Wohnung nahm. Wie haben sie Paulus auf Wundergaben, die der Heili-
»den Geist … empfangen«? Durch Werke ge Geist einigen Gläubigen nach ihrer
oder durch Glauben? Offensichtlich Bekehrung geschenkt hat, wie es in
durch Glauben. Niemand hat je durch 1. Korinther 12,8-11 beschrieben wird.
»Gesetzeswerke« den Heiligen Geist »Tut er es aus Gesetzeswerken oder
empfangen. aus der Kunde des Glaubens?« Die Ant-
3,3 Wenn sie schon die Erlösung nicht wort lautet: »Aus der Kunde des Glau-
durch Werke erlangen konnten, konnten bens.« Die Tatsache, daß der Geist in uns
sie dann erwarten in der Heiligung oder Wohnung nimmt und an uns arbeitet,
in christlicher Reife zu wachsen, indem kann niemals verdient werden, sondern
sie das Gesetz hielten? Wenn die Kraft wird immer durch die Gnade gegeben
des Heiligen Geistes notwendig war, sie und im »Glauben« empfangen. Deshalb
zu erretten, wie konnten sie diesen Pro- sollten die Galater aus ihrer eigenen
zeß dann durch fleischliche Mittel fort- Erfahrung gelernt haben, daß der Segen
führen? durch den Glauben kommt, nicht durch
3,4 Als die Galater zum Glauben Gesetzeswerke.
kamen, setzten sie sich schlimmsten Ver- Als zweiten Beweis zieht Paulus
folgungen aus, vielleicht sogar durch genau die Schriftstellen heran, die die

855
Galater 3

Irrlehrer mißbrauchten, um die Notwen- Himmel geeignet macht und erwartet


digkeit der Beschneidung zu beweisen! dann von ihm, daß er als Dank für das,
Was sagte das AT wirklich? was für ihn getan wurde, gerecht lebt.
3,6 Paulus hat schon gezeigt, daß Gott Wichtig ist hier anzumerken, daß die
mit den Galatern nur aufgrund ihres Rechtfertigung nichts mit Gesetzeswer-
Glaubens gehandelt hatte. Nun zeigt er, ken zu tun hat. Sie besteht nur auf dem
daß die Menschen auch schon im AT nur Prinzip des Glaubens.
auf diese Weise gerettet wurden. Die Fra- 3,7 Zweifellos waren die jüdischen
ge in Vers 5 lautete: »Tut er es aus Geset- Lehrer der Ansicht, daß die Galater
zeswerken oder aus der Kunde des Glau- beschnitten werden mußten, um wirkli-
bens?« Die Antwort lautete: »Aus der che Söhne Abrahams zu werden. Diesen
Kunde des Glaubens.« Mit dieser Ant- Gedanken lehnt Paulus ab. Die echten
wort im Hintergrund beginnt Vers 6: »Söhne Abrahams« sind nicht diejeni-
»Ebenso wie Abraham …« Er wurde auf gen, die als Juden geboren sind oder sich
die gleiche Art gerechtfertigt – »aus der zum Judentum bekehren, sondern dieje-
Kunde des Glaubens«. nigen, die durch den Glauben gerettet
Vielleicht stellten die jüdischen Irr- werden. In Römer 4,10.11 zeigt Paulus,
lehrer Abraham als ihren Helden und ihr daß Abraham als gerecht anerkannt wur-
Vorbild dar, und begründeten ihre de, ehe er beschnitten worden war. Mit
Behauptung, daß die Beschneidung not- anderen Worten, er wurde gerechtfertigt,
wendig sei, mit seiner Erfahrung als er noch Heide war.
(1. Mose 17,24.26). Wenn das so war, 3,8 Das AT wird hier als Prophet dar-
dann griff Paulus sie auf ihrem eigenen gestellt, der die Jahrhunderte überblickt
Territorium an. Wie wurde denn Abra- und voraussieht, »daß Gott die Natio-
ham nun gerettet? »Abraham … glaubte nen« und auch die Juden aufgrund des
Gott.« Er hatte keinen Verdienst daran. Glaubens »rechtfertigen werde«. Die
Er »glaubte« Gott einfach nur. Damit ver- Segnung der »Nationen aus Glauben«
diente er sich nichts, denn es wäre Tor- wurde nicht nur im AT vorausgesagt,
heit, Gott nicht zu glauben. Gott glauben sondern sogar Abraham in 1. Mose 12,3
ist das einzige, das ein Mensch im Zu- bereits angekündigt: »In dir werden
sammenhang mit seiner Erlösung tun gesegnet werden alle Nationen.«
kann, und das läßt ihm keinerlei Grund Wenn wir dieses Zitat aus dem 1.
mehr zur Prahlerei. Glaube ist kein »gu- Buch Mose lesen, finden wir es schwer
tes Werk«, das eine Bemühung des Men- zu verstehen, wie Paulus eine solche
schen erfordert. Glaube läßt dem Fleisch Bedeutung herauslesen konnte. Doch
keinen Raum. Was wäre für ein Geschöpf der Heilige Geist, der diesen Vers des AT
normaler, als seinem Schöpfer zu glau- geschrieben hat, wußte, daß er schon das
ben? Was wäre für ein Kind normaler, als Evangelium der Erlösung durch den
seinem Vater zu vertrauen? Glauben für alle Völker enthält. Weil
Rechtfertigung ist eine Tat Gottes, Paulus durch Inspiration mit demselben
durch die er alle für gerecht erklärt, die Geist schrieb, wurde es ihm gegeben, uns
an ihn glauben. Gott kann gerechterwei- die tiefere Bedeutung dieses Verses zu
se so mit Sündern umgehen, weil Chri- erklären: »In dir« – das heißt, mit Abra-
stus als Stellvertreter am Kreuz von Gol- ham, auf dieselbe Weise wie Abraham.
gatha für die Sünder gestorben ist, indem »Alle Nationen« – d. h. sowohl Heiden
er die Schuld ihrer Sünde beglich. Die als auch Juden. »Werden gesegnet wer-
Rechtfertigung bedeutet nicht, daß Gott den« – errettet werden. Wie wurde Abra-
den Gläubigen gerecht und sündlos an ham gerettet? »Aus Glauben.« Wie wer-
sich macht. Er sieht ihn aufgrund des den die Nationen gerettet? Genauso wie
Erlösungswerkes Christi als gerecht an. Abraham – »aus Glauben«. Und sie wer-
Gott gibt dem glaubenden Sünder eine den als Heiden gerettet werden, nicht,
gerechtfertigte Stellung, die ihn für den indem sie Juden werden.

856
Galater 3

3,9 Alle, die an Gott glauben, werden er die Theorie oder das Ideal auf, jedoch
»mit dem gläubigen Abraham« gerecht- kann es niemand erreichen.
fertigt, und zwar nach dem Zeugnis der 3,13 Erlösen heißt zurückkaufen oder
jüdischen Schriften. befreien, indem der Preis bezahlt wird.
Der »Fluch des Gesetzes« ist der Tod –
B. Gesetz und Verheißung (3,10-18) die Strafe für den Bruch der Anordnun-
3,10 Paulus beweist aus der Heiligen gen Gottes. Christus hat diejenigen, die
Schrift, daß das Gesetz weit davon ent- unter dem Gesetz waren, losgekauft,
fernt ist, Segen zu schenken, sondern nur indem er die Todesstrafe, die vom Gesetz
»Fluch«. Dieser Vers sagt nicht: »Denn gefordert ist, bezahlt hat. (Paulus spricht
alle, die das Gesetz gebrochen haben«, zweifellos in erster Linie von gläubigen
sondern: »Denn alle, die aus Gesetzeswer- Juden, wenn er das Personalpronomen
ken sind«, d. h., alle, die versuchen, Gott »uns« verwendet, obwohl die Juden für
durch das Halten des Gesetzes zu ver- die gesamte Menschheit standen.)
söhnen. Sie »sind unter dem Fluch«, d. h. Cynddylan Jones schreibt:
zum Tode verurteilt. »Denn es steht Die Galater meinten, daß Christus sie
geschrieben (5. Mose 27,26): Verflucht ist nur halb erkauft habe, und daß sie den Rest
jeder, der nicht bleibt in allem …« Es des Preises bezahlen müßten, indem sie sich
reicht nicht, das Gesetz für einen Tag, der Beschneidung und anderen jüdischen
einen Monat oder ein Jahr zu halten. Man Riten und Zeremonien unterzogen. Von
muß »bleiben in allem«, es immer halten. daher rührt ihre Bereitschaft, sich von Irrleh-
Der Gehorsam muß vollständig sein. Es rern verführen zu lassen und Christentum
reicht nicht, die Zehn Gebote zu halten. mit Judentum zu vermischen. Paulus sagt
Alle der gut 600 Anweisungen der fünf hier (nach der walisischen Übersetzung).
Bücher Mose müssen befolgt werden! »Christus hat uns ganz vom Fluch des Geset-
10)
3,11 Die Irrlehrer konnten vom AT zes losgekauft.«
her widerlegt werden. Paulus zitiert nun »Christus kaufte« die Menschen
Habakuk, um zu zeigen, daß Gott schon »los«, indem er an ihrer Stelle starb und
immer Menschen »aus Glauben« den schrecklichen Zorn Gottes gegen die
gerechtfertigt hat. Das Zitat lautet in der Sünde trug. Der »Fluch« Gottes fiel auf
griechischen Wortstellung: »Der Gerech- ihn, weil er Stellvertreter des Menschen
te aus Glauben wird leben.« Mit anderen war. Er wurde nicht an sich sündig, son-
Worten, diejenigen, die durch den Glau- dern die Sünden der Menschen wurden
ben gerechtfertigt sind, und nicht durch auf ihn gelegt.
Werke, werden das ewige Leben haben. Christus erlöste die Menschen nicht
Die »im Glauben gerechtgemachten« dadurch »von dem Fluch des Gesetzes«,
werden leben. daß er die Zehn Gebote während seines
3,12 Das Gesetz fordert den Men- irdischen Lebens gehalten hat. Die
schen nicht zum Glauben auf. Es fordert Schrift lehrt nicht, daß sein vollkomme-
die Menschen auch nicht auf, zu ver- ner Gehorsam gegenüber dem Gesetz
suchen, das Gesetz zu halten. Es fordert uns angerechnet wird. Er erlöste die
strengen, vollständigen und perfekten Menschen vom Gesetz, indem er wäh-
Gehorsam, wie so eindeutig im 3. Buch rend seines Sterbens dessen schreckli-
Mose gelehrt wird. Das Gesetz sagt: »Tue chen Fluch trug. Ohne seinen Tod hätte
und lebe.« Der Glaube sagt: »Glaube und es keine Erlösung gegeben. Das Gesetz
lebe.« Paulus argumentiert hier folgen- lehrt, daß es ein Zeichen für den Fluch
dermaßen. Ein gerechtfertigter Mensch Gottes war, wenn ein verurteilter Verbre-
wird im Glauben leben. Jemand, der cher an ein Holz gehängt wurde (5. Mose
unter dem Gesetz lebt, lebt nicht im Glau- 21,23). Hier sieht der Heilige Geist diesen
ben. Deshalb ist er vor Gott nicht gerecht. Vers als Prophetie der Art und Weise, wie
Wenn Paulus sagt: »Wer diese Dinge der Retter sterben würde, um den Fluch
getan hat, wird durch sie leben«, so zeigt für seine Geschöpfe auf sich zu nehmen.

857
Galater 3

Er sollte zwischen Himmel und Erde Nationen, Heiden wie Juden, durch Chri-
hängen, als wäre er beider unwürdig. stus zu segnen. Diese Verheißung hing
Sein Tod am Kreuz wird auch als »am von keiner Bedingung ab, weder gute
Holz hängen« bezeichnet (Apg 5,30; Werke noch Gesetzesgehorsam wurden
1. Petr 2,24). dafür gefordert. Es war ein einfaches Ver-
3,14 Gott hatte verheißen, Abraham sprechen, das im Glauben angenommen
zu segnen, und alle Menschen mit ihm. werden soll.
»Der Segen Abrahams« ist nun die Erlö- Nun konnte das Gesetz, das Israel 430
sung durch die Gnade im Glauben. Das Jahre später gegeben wurde, keine Be-
Gesetz forderte, daß zunächst die Strafe dingungen zu der Verheißung hinzufü-
bezahlt würde. Deshalb wurde der Herr gen oder sie in irgendeiner Weise verän-
Jesus zum Fluch gemacht, damit Gott dern. Bei Menschen wäre das ungerecht,
sich sowohl der Juden als auch der Hei- und bei Gott wäre es sogar ganz undenk-
den in Gnade annehmen konnte. Nun bar. Die Schlußfolgerung lautet deshalb,
werden die »Nationen« in Christus daß Gottes Verheißung des Segens für
(einem Nachkommen Abrahams) ge- die Heiden durch Christus kommt,
segnet. durch den Glauben, und nicht durch Ge-
Gottes Verheißung an Abraham in setzeswerke.
1. Mose 12,3 erwähnt den Heiligen Geist 3,15 Bei den Menschen ist es so, daß,
nicht. Doch Paulus berichtet uns hier wenn ein »Testament« oder Vertrag un-
durch göttliche Inspiration, daß die Gabe terzeichnet und versiegelt ist, niemand
des Heiligen Geistes in Gottes Bund der daran denken würde, das Dokument zu
bedingungslosen Erlösung mit einge- verändern oder etwas hinzuzufügen.
schlossen war. Sie war hier schon im Wenn menschliche Testamente schon
Keim enthalten. Der Heilige Geist konn- nicht gebrochen werden können, wieviel
te nicht kommen, solange das Gesetz weniger dann Gottes!
noch im Weg stand. Christus mußte erst 3,16 Zweifellos hatten die jüdischen
sterben und verherrlicht werden, ehe der Irrlehrer argumentiert, daß zwar die Ver-
Geist kommen konnte (Joh 16,7). heißungen im Ursprung an Abraham
Der Apostel hat nun bewiesen, daß und seinen Samen (das Volk Israel) im
die Erlösung aus Glauben geschieht, Glauben ergangen waren, daß jedoch
nicht durch das Gesetz, indem er 1. die dieses Volk Israel später unter das Gesetz
Erfahrung der Galater und 2. das Zeug- gestellt wurde. Deshalb mußten die
nis der ATlichen Schriften angeführt hat. Galater, obwohl sie ursprünglich durch
Er wendet sich nun einem Bild aus dem Glauben errettet waren, nun die Zehn
alltäglichen Leben zu. Gebote halten. Paulus antwortet: »Die
Die Argumentation des Paulus in die- Verheißungen« wurden »Abraham …
sem Abschnitt kann folgendermaßen und seinem Samen« (Elb) zugesagt.
zusammengefaßt werden: In 1. Mose »Samen« steht hier wieder in der Ein-
12,3 hat Gott verheißen, in Abraham alle zahl. Samen kann manchmal viele Men-
Menschen auf Erden zu segnen. Diese schen bezeichnen, doch hier steht es für
Verheißung der Erlösung umfaßte so- eine Person, nämlich Christus. (Wir
wohl Heiden als auch Juden. In 1. Mose selbst würden so etwas vielleicht nie ent-
22,18 hat Gott wiederum verheißen: decken, wenn wir das AT lesen, doch der
»Und durch deinen Samen sollen alle Geist Gottes erleuchtet uns.)
Völker auf Erden gesegnet werden« 3,17 Gottes Verheißung an Abraham
(LU1912). Er sagte »deinen Samen« (Ein- erging ohne Bedingung und hing auf
zahl) nicht »deine Samen« (Mehrzahl). keinerlei Weise von Werken ab. Gott ver-
Gott meinte hiermit eine Person, den pflichtete sich einfach, Abraham einen
Herrn Jesus Christus, der ein direkter Samen zu schenken (Christus). Obwohl
Nachkomme Abrahams ist (Lk 3,34). Mit er noch kein Kind hatte, glaubte Abra-
anderen Worten, Gott hat verheißen, alle ham Gott und damit auch an den kom-

858
Galater 3

menden Christus. Damit wurde er ge- Gesetzes erlangen, weil sie nicht die
rechtfertigt. Das zukünftige, »vierhun- Kraft hatten, ihm zu gehorchen. Das
dertdreißig Jahre später entstandene Ge- Gesetz ist eingesetzt worden, um den
setz« konnte die »Verheißung« der Erlö- Menschen zu zeigen, welch hoffnungslo-
sung nicht mehr ändern. Es konnte sie se Sünder sie sind, damit sie Gott anfle-
weder aufheben, noch Bedingungen hin- hen, daß er sie durch seine Gnade errette.
zufügen. Gottes Bund mit Abraham war eine
Vielleicht waren die jüdischen Irrleh- Segensverheißung ohne Vorbedingun-
rer der Ansicht, daß das Gesetz, das 430 gen, das Gesetz dagegen führte nur zur
Jahre nach der Verheißung kam, diese Verfluchung des Menschen. Das Gesetz
nun ungültig machte. »Aber keinesfalls«, zeigt, wie unwürdig der Mensch ist,
sagt Paulus hier praktisch. »Die Ver- einen Segen ohne Bedingungen zu emp-
heißung war wie ein Testament und wur- fangen. Wenn ein Mensch gesegnet wer-
de durch den Tod besiegelt (das Bundes- den kann, so geschieht das nur durch die
opfer, 1. Mose 15,7-11; s. a. Hebr 9,15-22). Gnade Gottes.
Sie konnte nicht aufgehoben werden.« »Der Nachkomme« ist Christus. Des-
Die 430 Jahre werden von dem Zeit- halb wurde das Gesetz als zeitliche An-
punkt an gerechnet, als der abrahamiti- ordnung gegeben, bis Christus kommt.
sche Bund Jakob gegenüber bestätigt Die abrahamitische Verheißung sollte in
wurde, als Jakob sich bereit machte, nach ihm erfüllt werden. Ein Vertrag zwischen
Ägypten zu ziehen (1. Mose 46,1-4), und zwei Seiten benötigt immer einen »Mitt-
sie dauerten bis zur Verkündigung des ler«. Das Gesetz umfaßte zwei Vertrags-
Gesetzes drei Monate nach dem Auszug parteien – Gott und Israel. Mose diente in
aus Ägypten. diesem Falle als Vermittler (5. Mose 5,5).
3,18 »Das Erbe« muß entweder durch Die Engel waren Gottes Boten, als sie das
den Glauben oder durch Werke erlangt Gesetz dem Mose überbrachten (5. Mose
werden. Es kann nicht durch beides er- 33,2; Ps 68,18, Apg 7,53; Hebr 2,2). Die
langt werden. Die Schrift macht eindeu- Teilhabe Moses und der Engel sprach von
tig klar, daß es »Abraham … durch Ver- der Entfernung zwischen Gott und sei-
heißung« ohne Bedingungen geschenkt nem Volk, einem Volk, das seine Gegen-
wurde. Genauso ist es mit der Erlösung. wart nicht hätte ertragen können.
Sie wird ohne Bedingungen als Ge- 3,20 Wenn es sich hier nur um eine
schenk angeboten. Jeder Gedanke, sie Vertragspartei gehandelt hätte und eine
sich zu erarbeiten, wird ausgeschlossen. Verheißung ohne Vorbedingungen aus-
gesprochen worden wäre, die vom ande-
C. Der Zweck des Gesetzes (3,19-29) ren nichts verlangt hätte, so hätte man
3,19 »Was soll nun das Gesetz?« Wenn keinen »Mittler« gebraucht. Die Tatsa-
das Gesetz, wie Paulus behauptete, die che, daß das Gesetz einen Mittler be-
Verheißung Gottes an Abraham weder nötigte, zeigte an, daß der Mensch seinen
aufhob noch Bedingungen hinzufügte, Teil der Vereinbarung zu halten habe.
hatte »das Gesetz« dann überhaupt noch Das war der Schwachpunkt des Geset-
einen Zweck? Das Gesetz war dazu ge- zes, denn es erwartete Gehorsam von de-
dacht, die Sünde in ihren wahren Eigen- nen, die keine Kraft hatten, diesen zu lei-
schaften als Übertretung zu offenbaren. sten. Als »Gott« seine Verheißung Abra-
Die Sünde bestand schon vor dem Ge- ham gegenüber machte, war er der einzi-
setz, doch der Mensch konnte sie nicht als ge, der sich vertraglich band. Das war die
Übertretung erkennen, ehe das Gesetz Stärke dieser Verheißung: Alles hing von
gekommen war. Eine Übertretung ist die Gott ab, und nicht von Menschen. Es war
Verletzung eines bekannten Gesetzes. kein »Mittler« eingeschaltet, weil keiner
11)
Das Gesetz wurde einem sündigen gebraucht wurde.
Volk gegeben. Sie konnten niemals die 3,21 Hat »das Gesetz« nun »die Ver-
Gerechtigkeit durch das Halten des heißungen Gottes« abgelöst und ihren

859
Galater 3

Platz eingenommen? »Das ist ausge- den Gedanken der Lehre. Das Gesetz
schlossen.« Wenn es möglich wäre, ein lehrte Lektionen über die Heiligkeit
»Gesetz« zu geben, durch das Sünder die Gottes, die Sündhaftigkeit des Menschen
Vollkommenheit erlangen könnten, die und die Notwendigkeit der Sühnung.
von Gott verlangt wird, dann wäre die Hier wird das Wort benutzt, um jeman-
Erlösung wirklich durch Gesetzesgehor- den zu beschreiben, der die Untergeord-
sam zu erlangen. Gott hätte den Sohn sei- neten oder Minderjährigen diszipliniert
ner Liebe nicht gesandt, um für die Sün- und generell die Aufsicht über sie führt.
der zu sterben, wenn er dasselbe Resultat Dieser Vers lehrt uns, daß das Gesetz
auf weniger kostspielige Weise hätte er- der jüdische »Zuchtmeister auf Christus
reichen können. Doch das Gesetz hatte hin« ist, d. h. bis zum Kommen Christi
viel Zeit und auch Menschen zur Verfü- oder in Hinblick auf das Kommen Chri-
gung, um zu zeigen, daß es die Sünder sti. In gewissem Sinne bewahrte das
nicht erretten konnte. In diesem Sinne Gesetz das Volk Israel als Einheit durch
war es »durch das Fleisch kraftlos« (Röm Vorschriften über Ehe, Eigentum, Spei-
8,3). Das Gesetz konnte den Menschen sen etc. Als »der Glaube« kam, wurde er
einzig und allein ihre Hoffnungslosigkeit zuerst diesem Volk verkündigt, das so
zeigen und ihnen beibringen, daß sie die wunderbar durch die Jahrhunderte
Erlösung nur durch die bedingungslose bewahrt worden war. Die Rechtfertigung
Gnade Gottes erlangen können. durch den »Glauben« wurde aufgrund
3,22 Das AT zeigte, daß alle Men- des vollendeten Werkes Christi, des Erlö-
schen Sünder sind, einschließlich der, die sers, verheißen.
unter dem Gesetz stehen. Es war not- 3,25 Das Gesetz ist der »Zuchtmei-
wendig, daß die Menschen so völlig von ster«, doch sobald der christliche »Glau-
der Sünde überzeugt würden, »damit die be« angenommen worden ist, sind die
Verheißung« der Erlösung »aus Glauben gläubigen Juden »nicht mehr unter« dem
an Jesus Christus den Glaubenden gege- Gesetz. Wieviel weniger die Heiden, wie
ben werde«. Die Schlüsselworte von Vers etwa die Galater, die niemals unter diese
22 sind »Glaube« und »gegeben«. »Tun« Zuchtmeister gestanden haben! Vers 24
oder »Gesetzhalten« werden hier nicht lehrt, daß der Mensch nicht durch das
erwähnt. Gesetz gerechtfertigt wird, Vers 25 lehrt,
3,23 Mit »Glaube« ist hier der christli- daß das Gesetz für die Gerechtfertigten keine
che Glaube gemeint. Das Wort bezieht Lebensregel ist.
sich auf das Zeitalter, welches durch Tod, 3,26 Man beachte den Wechsel der
Begräbnis, Auferstehung und Himmel- Pronomen vom »wir« zum »ihr«. Als
fahrt des Herrn Jesus und die Predigt des Paulus von den Juden als »wir« schrieb,
Evangeliums zu Pfingsten eingeläutet zeigte er, daß sie bis zum Kommen Chri-
wurde. Vor dieser Zeit waren die Juden sti unter dem Gesetz gehalten wurden.
»unter Gesetz verwahrt«, wie Menschen Das Gesetz erhielt sie als ein abgesonder-
in einem Gefängnis oder unter Vor- tes Volk, dem die Rechtfertigung durch
mundschaft. Die Gitter ihrer Zellen wa- den Glauben gepredigt werden konnte.
ren die Forderungen des Gesetzes, und Als sie gerechtfertigt wurden, waren sie
weil sie sie nicht erfüllen konnten, waren nicht länger unter dem Gesetz, und ihr
sie zur Errettung auf den Weg des »Glau- besonderer Charakter als Juden ver-
bens« angewiesen. Die Menschen unter schwand. Das Pronomen »ihr« von hier
dem Gesetz waren also so eingesperrt, bis zum Ende des Kapitels umfaßt so-
bis die herrliche Nachricht der Befreiung wohl errettete Juden als auch errettete
von der Knechtschaft des Gesetzes im Heiden. Solche Menschen sind »alle …
Evangelium verkündigt wurde. Söhne Gottes durch den Glauben an
3,24 »Das Gesetz« wird hier als Auf- Christus Jesus«.
sicht und Leiter der Kinder dargestellt, 3,27 Die Einheit mit Christus, die bei
12)
oder als »Zuchtmeister«. Das betont der Bekehrung beginnt, wird in der Was-

860
Galater 3

sertaufe bekannt. Diese Taufe macht storben. Sie haben »Christus« in dem Sin-
einen Menschen nicht zum Glied Christi ne »angezogen«, daß sie nun ein völlig
oder Erben des Reiches Gottes. Sie ist die neues Leben führen – das Leben Christi.
öffentliche Identifikation mit Christus, 3,28 Das Gesetz unterschied zwi-
was Paulus hier als »Anziehen des Chri- schen den beiden Klassen »Juden« und
stus« bezeichnet. Genauso, wie ein Sol- »Heiden«. Zum Beispiel wird der Unter-
dat sich selbst durch das Anziehen seiner schied zwischen Jude und Heide in
Uniform als Mitglied der Armee kennt- 5. Mose 7,6 und 14,1.2 betont. In seinem
lich macht, so identifiziert sich der Gläu- Morgengebet dankte der Jude Gott, daß
bige, wenn er im Wasser »getauft« wird, er ihn nicht als Heide, Sklave oder Frau
als jemand, der zu Christus gehört. erschaffen hat. »In Christus Jesus« ver-
Durch diese Handlung erklärt er öffent- schwinden diese Unterschiede, d. h. so-
lich seine Unterordnung unter die Füh- weit es um die Annahme durch Gott
rung und Autorität Christi. Er zeigt sicht- geht. Ein Jude wird dem Heiden nicht
bar, daß er ein Kind Gottes ist. Es ist mehr vorgezogen, der Freie ist nicht
sicher, daß der Apostel hier nicht aus- höher geschätzt als der Sklave, und der
sagt, daß die Wassertaufe den Gläubigen Mann hat nicht mehr Privilegien als eine
mit Christus vereinigt. Das wäre ein ekla- Frau. Alle stehen nun auf der gleichen
tanter Verstoß gegen seine eben aufge- Stufe, weil sie »in Christus Jesus« sind.
stellte Lehre, daß die Erlösung nur durch Dieser Vers darf nicht mißbraucht
den Glauben erlangt wird. werden, um etwas zu beweisen, dessen
Auch ist es unwahrscheinlich, daß Bedeutung in ihm einfach nicht enthal-
Paulus sich hier auf die Geistestaufe ten ist. Soweit es um das alltägliche
bezieht, die den Gläubigen in den Leib Leben geht (einmal ganz abgesehen vom
Christi einfügt (1. Kor 12,13). Die Taufe öffentlichen Dienst in der Gemeinde),
mit dem Heiligen Geist ist unsichtbar. erkennt Gott einen Unterschied zwischen
Nichts an dieser Taufe erinnert an ein Mann und Frau an. Das NT enthält für
öffentliches »Anziehen« Christi. beide unterschiedliche Anweisungen,
Es handelt sich hier um eine Taufe auf und es spricht auch Herren und Sklaven
Christus. Genauso, wie die Israeliten auf unterschiedlich an. Doch wenn es darum
Mose getauft wurden, und sich dadurch geht, Segen von Gott zu erlangen, so
mit ihm als ihrem Anführer identifizier- spielen diese Unterschiede keine Rolle.
ten, so zeigen die Gläubigen, die heute Das Großartige ist, daß wir »in Christus
auf Christus getauft werden, seine Aner- Jesus« sind (das bezieht sich auf unsere
kennung als rechtmäßigen Herrn über himmlische Stellung, nicht auf unseren
ihr Leben. irdischen Zustand). Vor Gott ist der gläu-
Durch die Taufe zeigt der Gläubige big gewordene Jude kein bißchen mehr
auch, daß sein Fleisch samt seinen Versu- wert als der bekehrte Heide! Govett sagt:
chen, Gerechtigkeit zu erlangen, begra- »Alle Unterschiede, die das Gesetz
ben ist. Er zeigt damit das Ende seines machte, sind in dem gemeinsamen Grab
alten und den Beginn eines neuen Le- verschlungen, das Gott bereitet hat.«
bensstiles an. In der Wassertaufe bekann- Deshalb: Wie dumm ist es doch für Chri-
ten die Galater, daß sie mit Christus ge- sten, sich heiligen zu wollen, indem man
storben und begraben waren. So, wie die Unterschiede betont, die Christus
Christus dem Gesetz gestorben war, so doch abgeschafft hat.
waren auch sie für das Gesetz tot, und 3,29 Die Galater wurden zu dem
sollten von daher nicht mehr danach stre- Gedanken verführt, daß sie zu »Abra-
ben, unter dem Gesetz als Lebensregel zu hams Nachkommenschaft« werden
stehen. Genau wie Christus durch seinen könnten, wenn sie das Gesetz hielten.
Tod die Unterscheidung in Jude und Hei- Paulus zeigt, daß es anders ist. Christus
de aufgehoben hat, so sind auch sie sol- ist der Nachkomme Abrahams, und das
chen nationalen Unterschieden ge- Erbe, das Abraham verheißen wurde,

861
Galater 3 und 4

wurde in Christus erfüllt. Wenn Sünder die Gottheit und Menschheit des Erlö-
an ihn glauben, werden sie eins mit ihm. sers. Er ist der ewige Sohn Gottes, und
So werden sie zu »Abrahams Nachkom- doch wurde er »geboren von einer Frau«.
menschaft« und erben in Christus alle Wenn Jesus nur ein Mensch gewesen
Segnungen Gottes. wäre, dann wäre es überflüssig zu sagen,
er sei »von einer Frau geboren«. Wie
D. Kinder und Söhne (4,1-16) sonst kann ein Mensch geboren werden?
4,1.2 Das Bild, das hier benutzt wird, Der Ausdruck zeugt im Falle unseres
zeigt uns einen reichen Vater, der vorhat, Herrn von seiner Einzigartigkeit und
die Verwaltung seines Besitztums auf von seiner wunderbaren Geburt.
den Sohn zu übertragen, sobald dieser Er wurde als Israelit in diese Welt ge-
mündig wird. Doch »solange der Erbe boren, und wurde deshalb »geboren unter
unmündig ist«, ist die Stellung des Erben Gesetz«. Als Sohn Gottes hätte der Herr
wie die eines »Sklaven«. Ständig wird Jesus niemals unter dem Gesetz gestan-
ihm gesagt, dieses zu tun und jenes zu den, denn er war derjenige, der es einge-
lassen. Er hat »Verwalter«, die sein setzt hatte. Doch in seiner herablassenden
Eigentum verwalten, und »Vormünder«, Güte stellte er sich selbst »unter Gesetz«,
die ihn beaufsichtigen. So kann er, ob- unter das Gesetz nämlich, das er selbst
wohl das Erbe ihm sicher ist, dieses nicht verordnet hatte, damit er es durch sein
antreten, ehe er nicht erwachsen gewor- Leben verherrlichen und in seinem Tod
den ist. den Fluch des Gesetzes tragen konnte.
4,3 Das war auch der Zustand der 4,5 Das Gesetz verlangte von denjeni-
Juden unter dem Gesetz. Sie waren »Un- gen, die es nicht hielten, einen Preis: den
mündige«, die vom Gesetz wie Sklaven Preis des Todes. Ehe Gott die Menschen
herumkommandiert wurden. Sie waren in die wundervolle Stellung der Sohn-
»unter die Elemente der Welt versklavt«, schaft einführen konnte, mußte der Preis
womit die Grundprinzipien der jüdi- gezahlt werden. Deshalb zahlte der Herr
schen Religion gemeint sind. Die Zere- Jesus, als er als Mitglied der menschli-
monien und Riten des Judentums wur- chen Rasse und der jüdischen Nation in
den für die eingesetzt, die Gott den Vater die Welt kam, den Preis, den das Gesetz
nicht so kannten, wie er in Christus verlangte. Weil er Gott ist, war sein Tod
offenbart ist. Ein Bild dafür könnte man von unendlichem Wert, d. h., er reichte
in einem Kind sehen, das die Grundlagen aus, um alle Sünder zu erlösen. Weil er
der Rechtschreibung durch Würfel bei- ein Mensch war, konnte er als Stellvertre-
gebracht bekommt oder die Namen von ter für Menschen sterben. Govett sagt:
Tieren usw. lernt, indem es die Bilder in »Christus, von Natur aus Gottessohn,
einem Buch betrachtet. Das Gesetz war wurde zum Menschensohn, damit wir,
voller Schatten und Bilder, die den geist- von Natur aus Menschensöhne, Gottes-
lichen Sinn durch das Leibliche und söhne werden könnten. Welch ein wun-
Äußerliche ansprachen. Die Beschnei- derbarer Tausch!«
dung ist ein Beispiel dafür. Das Juden- Solange die Menschen noch Sklaven
tum war leiblich, äußerlich und zeitlich, waren, konnten sie nicht »Söhne« wer-
während das Christentum geistlich, den. Christus hat sie von der Knecht-
innerlich und ewig ist. Diese Äußerlich- schaft des Gesetzes befreit, damit sie die
keiten waren eine Form der Sklaverei für »Sohnschaft« empfangen konnten. Man
die Kinder. beachte hier den Unterschied, ein Kind
4,4 »Die Fülle der Zeit« bezieht sich Gottes und ein Sohn Gottes zu werden
auf die Zeit, die vom himmlischen Vater (vgl. Röm 8,14.16). Der Gläubige wird in
festgesetzt wurde, zu der die Erben voll- die Familie Gottes als Kind hineingebo-
jährig würden (vgl. V. 2). ren (s. Joh 1,12). Die Betonung liegt hier
In diesem Vers haben wir in wenigen auf der Tatsache der göttlichen Geburt,
Worten eine wunderbare Aussage über nicht auf den Vorrechten und Pflichten

862
Galater 4

der Sohnschaft. Der Gläubige wird in die vierzig Jahren wird ein jüdischer Ortho-
Familie als Sohn aufgenommen. Jeder doxer als Unmündiger angesehen.
Christ ist sofort ein Sohn und kann das Das gilt nicht für die Gläubigen unter
Erbe antreten, das ihm zusteht. der Gnade. Sobald sie erlöst sind, gehört
4,6 Damit diejenigen, die »Söhne« die ganze Erbschaft ihnen. Sie werden
sind, die Würde ihrer Stellung erkennen, wie erwachsene, reife Söhne und Töchter
»sandte Gott« zu Pfingsten seinen Heili- behandelt, und sie dürfen die gesamte
gen »Geist«, damit er in ihnen wohne. Bibel lesen, sich daran erfreuen und ihr
Der Geist bewirkt das Bewußtsein der gehorchen.
Sohnschaft und ermöglicht es uns, den Im Lichte dieser Wahrheiten ist die
heiligen Gott als seinen »Vater« anzu- Ermahnung von Harrison äußerst pas-
sprechen. »Abba, Vater« ist eine vertrau- send:
liche Anrede, hier werden das aramäi- Kind seiner Liebe, alles ist dein – Er sagt
sche und das griechische Wort für »Va- dir das in 1. Korinther 3,22.23, um dir die
ter« benutzt. Kein Sklave durfte wagen, Erkenntnis von Reichtümern zu geben, die
auf diese Weise das Familienoberhaupt über alles Vorstellungs- und Verstehensver-
anzusprechen, diese Worte waren aus- mögen hinausgehen. Sieh dir das Universum
schließlich der Familie vorbehalten und an. Wem gehört es, wenn nicht ihm und dir?
14)
drücken Liebe und Zutrauen aus. Man Dann lebe auch entsprechend königlich.
beachte die Erwähnung der Dreieinheit 4,8 Die Galater hatten einst unter der
in diesem Vers: Geist, Sohn und Vater – Knechtschaft der Götzen gelebt. Vor ihrer
in dieser Reihenfolge. Bekehrung waren sie Heiden gewesen,
4,7 Der Gläubige ist »nicht mehr Skla- die Bilder aus Holz und Stein verehrten –
ve«, er steht nicht mehr unter dem Ge- falsche »Götter«. Nun suchten sie sich
setz. Er ist nun »Sohn« Gottes. Weil Chri- eine neue Knechtschaft – die Knecht-
stus als Gottes Sohn der Erbe aller Reich- schaft des Gesetzes.
tümer Gottes ist, ist der Christ »Erbe 4,9 »Wie« konnten sie ihr Verhalten
13)
Gottes durch Christus« (LU1912). Alles, entschuldigen? Sie hatten »Gott« ken-
was Gott gehört, gehört im Glauben auch nengelernt, oder, wenn sie ihn nicht in
ihm. einer tiefen Weise durch die Erfahrung
In den heutigen rabbinischen Schulen kennengelernt hatten, waren sie zumin-
in Israel ist es den Schülern nicht erlaubt, dest »von Gott erkannt worden«, d. h.
das Hohelied oder Hesekiel 1 zu lesen, gerettet worden. Und doch wandten sie
ehe sie nicht vierzig Jahre alt sind. Das sich von seiner Macht und seinem Reich-
Hohelied wird als zu eindeutig sexuell tum (den sie doch erben sollten) »zu den
für Jüngere angesehen, und Hesekiel 1 schwachen und armseligen Elementen
enthält eine Beschreibung der Herrlich- zurück«, den Vorschriften des Gesetzes,
keit des Herrn, dessen Name nicht aus- wie Beschneidung, heilige Tage und
gesprochen werden darf. Der Talmud Speisevorschriften. Sie knechteten sich
berichtet, daß einmal jemand, der noch selbst durch Dinge, die weder retten
nicht vierzig Jahre alt war, anfing, Hese- noch bereichern, sondern sie nur ärmer
kiel 1 zu lesen, und ein Feuer unter der machen konnten. Paulus bezeichnet das
Seite hervorkam und ihn verzehrte. Das Gesetz und seine Zeremonien als
zeigt uns, daß ein Mensch unter dem »schwach und armselig«. Gottes Gesetze
Gesetz nicht eher als Mann anerkannt waren zu ihrer Zeit und an ihrem Ort
wird, ehe er nicht vierzig Jahre alt ist. wunderbar, doch sie sind ausgesproche-
(Die bekannte bar mizwah im Alter von ne Hindernisse, wenn sie als Ersatz für
dreizehn Jahren macht einen jüdischen den Herrn Jesus dienen. Es ist Götzen-
Jungen nur zum »Sohn des Bundes« – dienst, sich von Christus weg dem
das ist die Bedeutung des Namens dieses Gesetz zuzuwenden.
Festes – und damit verpflichtet sie ihn, 4,10.11 Die Galater hielten den jüdi-
das Gesetz zu halten.) Bis zum Alter von schen Festkalender mit seinen Sabbaten,

863
Galater 4

Festen und »Zeiten«. Paulus fürchtet um die Wahrheit Gottes, und damit letztlich
diejenigen, die sich zum Christentum be- sie selbst.
kennen und doch versuchen, bei Gott 4,13 »Das Evangelium« wurde ihnen
Wohlwollen zu finden, indem sie Gesetze zunächst »in Schwachheit des Fleisches
15)
halten. Auch Menschen, die nicht wieder- … verkündigt«. Gott benutzt oft schwa-
geboren sind, können »Tage und Monate che, verachtete, arme Werkzeuge, um
und bestimmte Zeiten und Jahre« halten. sein Werk zu tun, damit die Ehre ihm
Es gibt manchen Menschen unendliche zuteil wird und nicht den Menschen.
Befriedigung zu denken, daß es etwas 4,14 Die Krankheit war für Paulus
gibt, das sie in eigener Kraft tun können, und seine Zuhörer eine »Versuchung«.
um sich Gottes wohlwollenden Blick zu Doch die Galater lehnten ihn wegen sei-
verdienen. Doch dieser Gedanke geht ner Erscheinung oder seiner Predigtwei-
davon aus, daß der Mensch eigene Macht se nicht ab. Statt dessen hatten sie ihn
hat und von daher bis zu einem Gewissen »wie einen Engel Gottes« aufgenommen,
Grad den Heiland nicht nötig hat. d. h. wie einen Boten, den Gott selbst ge-
Wenn Paulus den Galatern auf diese sandt hat, und sogar »wie Christus
Weise geschrieben hat, was würde er den Jesus«. Weil er den Herrn vertrat, emp-
bekennenden Christen von heute schrei- fingen sie ihn, als ob sie den Herrn selbst
ben, die versuchen, Heiligung durch empfingen (Matth 10,40). Sie nahmen die
Gesetzeswerke zu erlangen? Würde er Botschaft des Paulus als Wort Gottes an.
nicht die Traditionen verurteilen, die aus Das sollte für alle Christen eine Lehre
dem Judentum ins Christentum über- sein, wie sie die Boten des Herrn zu be-
nommen wurden – eine von Menschen handeln haben. Wenn wir sie herzlich
eingesetzte Priesterschaft, einen beson- aufnehmen, nehmen wir ihn auf die glei-
deren Ornat für die Pastoren, Sabbat hal- che Weise auf (Lk 10,16).
ten, heilige Orte, geweihte Kerzen, heili- 4,15 Als sie das Evangelium das erste
ges Wasser und so weiter? Mal hörten, erkannten sie an, welch eine
4,12 Offensichtlich hatten die Galater große »Glückseligkeit« es für ihre Seelen
vergessen, wie dankbar sie Paulus gewe- bedeutete. Sie schätzten diese Botschaft so
sen waren, als er ihnen das erste Mal das sehr, daß sie sogar ihre eigenen »Augen
Evangelium predigte. Doch er spricht sie ausgerissen« hätten, um sie Paulus zu ge-
als »Brüder« an, obwohl sie solche Fehler ben, wenn es möglich gewesen wäre. (Das
machen und obwohl er in großer Sorge mag ein Hinweis darauf sein, daß der
um sie ist. Paulus war früher ein Jude »Dorn im Fleisch«, von dem Paulus be-
unter dem Gesetz. Nun war er – in Chri- richtet, eine Augenkrankheit war.) Doch
stus – frei vom Gesetz. Deshalb sagt er: wo war diese Dankbarkeit geblieben? Sie
»Seid wie ich« – befreit von Gesetz, so war vergangen wie der Morgentau.
daß ihr nicht mehr unter ihm lebt. Die 4,16 Was war die Erklärung für ihre
heidnischen Galater hatten nie unter Haltungsänderung gegenüber Paulus?
dem Gesetz gestanden, und unterstan- Er predigte noch immer dieselbe Bot-
den ihm auch jetzt nicht. Deshalb sagt schaft und kämpfte eifrig für deren
der Apostel: »›Denn auch ich bin wie Wahrheit. Wenn sie in ihm nun einen
ihr.‹ Ich freue mich, der ich früher ein Feind sahen, dann war ihre Stellung
Jude war, an der Freiheit vom Gesetz, die ernsthaft gefährdet.
ihr Heiden immer hattet.«
»Ihr habt mir nichts zuleide getan.« E. Knechtschaft oder Freiheit (4,17-5,1)
Es ist nicht ganz eindeutig, an was Pau- 4,17 Die Motive der Irrlehrer waren ganz
lus hier denkt. Vielleicht meint er, daß er anders als die des Paulus: Sie suchten
sich durch ihr Verhalten nicht persönlich eine Anhängerschaft, während er am
verletzt fühle. Daß sie sich von ihm abge- geistlichen Wohlergehen der Galater in-
wendet und sich Irrlehrern zugewendet teressiert war (4,17-20). Die Irrlehrer wa-
hatten, traf ihn nicht persönlich, sondern ren eifrig in ihrem Bemühen, die Zunei-

864
Galater 4

gung der Galater zu gewinnen, doch hat- nun der Geschichte Abrahams zu, um zu
ten sie keine reinen Motive. »Sie wollen zeigen, daß Gesetzlichkeit Sklaverei ist
euch ausschließen.« Die jüdischen Irrleh- und mit der Gnade nicht vermischt wer-
rer wollten die Galater vom Apostel Pau- den darf.
lus und anderen Lehrern trennen. Sie Gott hatte Abraham verheißen, daß
suchten ihre eigene Anhängerschaft, und er einen Sohn haben sollte, obwohl er
wollten eine Sekte bilden, um sie sich zu und Sara körperlich schon zu alt waren,
sichern. Stott warnt: »Wenn das Christen- um noch Kinder zu haben. Abraham
tum zu einer Knechtschaft unter Regeln glaubte Gott und wurde so gerechtfertigt
und Vorschriften gemacht wird, werden (1. Mose 15,1-6). Einige Zeit später wur-
seine Opfer unausweichlich unterdrückt de Sara des Wartens auf den verheißenen
und an die Schürzenbänder ihrer Lehrer Sohn müde und schlug Abraham vor,
16)
gebunden, wie im Mittelalter.« daß er ein Kind mit ihrer Sklavin Hagar
4,18 Paulus sagt hier praktisch: »Ich bekommen sollte. Abraham folgte ihrem
kümmere mich nicht darum, wenn ande- Rat, und Ismael wurde geboren. Dieser
re um euch herumscharwenzeln, wenn war nicht der von Gott verheißene Erbe,
ich nicht da bin, solange sie es mit reinen sondern der Sohn der Ungeduld, Fleisch-
Motiven und für das ›Gute‹ tun.« lichkeit und des mangelnden Vertrauens
4,19 Wenn Paulus die Galater als sei- Abrahams (1. Mose 16).
ne »Kinder« anspricht, dann will er sie Als dann Abraham hundert Jahre alt
daran erinnern, daß er sie zu Christus war, wurde Isaak, der Sohn der Ver-
geführt hat. Und nun leidet er wiederum heißung geboren. Offensichtlich handel-
Geburtsschmerzen wegen ihnen, dies- te es sich um eine Zeugung durch ein
mal nicht, weil er um ihre Erlösung be- Wunder, denn sie wurde nur durch die
sorgt ist, sondern damit »Christus in« Macht Gottes ermöglicht (1. Mose 21,1-
ihnen »Gestalt« gewinnen soll. Die Chri- 5). Bei dem damals üblichen Fest der Ent-
stusähnlichkeit ist Gottes höchstes Ziel wöhnung Isaaks sah Sara, daß Ismael
für sein Volk (Eph 4,13; Kol 1,28). ihren Sohn verspottete. Daraufhin wies
4,20 Dieser Vers könnte bedeuten, sie Abraham an, Ismael und seine Mutter
daß Paulus sich über die wirkliche Stel- aus dem Haus zu weisen und sagte: »Der
lung der Galater nicht im klaren war. Ihr Sohn dieser Magd soll nicht mit meinem
Abweichen von der Wahrheit hat ihn »im Sohn Erbe werden, mit Isaak« (1. Mose
Zweifel« gelassen. Er würde gerne seine 21,8-11). Das ist der Hintergrund der
»Stimme wandeln« und eindeutig über Argumente, die Paulus nun anführt.
sie sprechen können. Vielleicht war er »Gesetz« bedeutet in diesem Vers
aber auch unsicher, wie sie seinen Brief zweierlei: Zunächst bezieht sich das
annehmen würden. Er würde lieber per- Wort auf ein Mittel zur Erlangung der
sönlich mit ihnen sprechen. Dann könnte Heiligung, und zweitens auf die alttesta-
er besser ausdrücken, was er meint, weil mentlichen Bücher des Gesetzes (näm-
er seine Stimme mit einsetzen würde, sie lich die 5 Bücher Mose), und insbesonde-
zu überzeugen. Wenn sie seine Ermah- re auf 1. Mose. Paulus sagt hier: »›Sagt
nungen aufnehmen würden, könnte er mir, die ihr unter Gesetz sein wollt‹, um
sanft mit ihnen reden, wenn sie dagegen mit Gesetzeswerken Gottes Wohlwollen
hochmütig und aufrührerisch wären, zu erlangen, ›hört ihr‹ denn nicht auf die
dann würde er hart zu ihnen reden. So Botschaft des Gesetzes?«
jedoch war er sich nicht sicher, wie sie 4,22.23 Die »zwei Söhne« waren
auf seinen Brief reagieren würden. Ismael und Isaak. Die »Magd« war
4,21 Weil die jüdischen Irrlehrer so Hagar, die »Freie« war Sara. Ismael wur-
sehr auf Abraham pochten und darauf de durch das eigenwillige Eingreifen
bestanden, daß die Gläubigen seinem Abrahams geboren. Isaak dagegen wur-
Beispiel folgen müßten, indem sie sich de Abraham durch »die Verheißung«
beschneiden ließen, wendet sich Paulus Gottes gegeben.

865
Galater 4 und 5

4,24 Die Geschichte »hat einen bild- Die leibliche Herkunft spielt keine Rolle,
lichen Sinn«, d. h., sie hat eine tiefere Be- wichtig ist nur die wunderbare göttliche
deutung als es bei oberflächlicher Be- Geburt durch den Glauben an den Herrn
trachtung erscheint. Die wirkliche Be- Jesus.
deutung der Ereignisse wird nicht aus- 4,29 Ismael verspottete Isaak, und es
drücklich genannt, sondern ist hat immer gegolten, daß diejenigen, die
unterschwellig in der Geschichte enthal- durch das Fleisch geboren wurden, die
ten. So enthält die historische Geschichte »nach dem Geist Geborenen verfolgt«
von Isaak und Ismael tiefe geistliche haben. Man bedenke nur die Leiden
Wahrheiten, die Paulus nun erklären unseres Herrn oder des Apostels Paulus
will. durch die Hände der Ungeretteten. Es
Die beiden Frauen stehen für »zwei mag uns als bedeutungslose Sünde
Bündnisse«: »Hagar« für den Bund des erscheinen, daß Ismael Isaak verspottet
Gesetzes, Sara dagegen für den Bund der hat, doch die Schrift hat es festgehalten,
Gnade. Das Gesetz wurde am »Berg Si- und Paulus sieht darin ein Prinzip, daß
nai« gegeben. Es ist erstaunlich, daß »Ha- noch heute gilt – die Feindschaft zwi-
gar« auf arabisch »Fels« bedeutet, und die schen »dem Fleisch« und »dem Geist«.
Araber den Sinai »den Fels« nannten. 4,30 Wenn also die Galater sich auf
4,25 Der Bund, der auf dem »Sinai« die »Schrift« berufen, dann werden sie
gegeben wurde, führte zur »Sklaverei«. dieses Urteil hören. Die Gnade kann
Hagar steht für das »jetzige Jerusalem«, nicht mit Gesetz vermischt werden, und
die Hauptstadt der jüdischen Nation und es ist unmöglich, Gottes Segen aufgrund
das Zentrum der unerretteten Israeliten, von menschlichen Verdiensten oder
die noch immer versuchten, die Gerech- fleischlichen Bemühungen zu erlangen.
tigkeit durch Gesetzeswerke zu erhalten. 4,31 Diejenigen, die Christus vertraut
Diese sind zusammen mit ihren »Kin- haben, haben keine Verbindung mehr
dern in Sklaverei«. Für Paulus war es zum Gesetz als Mittel, göttliches Wohl-
eine treffende Beschreibung, als er die wollen zu erlangen. Sie sind Kinder der
Ungläubigen mit Hagar statt mit Sara Freien, sie unterstehen den gleichen so-
und mit Ismael statt mit Isaak verband. zialen Bedingungen wie ihre Mutter.
4,26 Die Hauptstadt derjenigen, die 5,1 Der letzte Vers von Kapitel 4
durch den Glauben gerechtfertigt sind, beschreibt die Stellung des Gläubigen.
ist das himmlische »Jerusalem«. Es ist die Dieser erste Vers von Kapitel 5 bezieht
»Mutter« aller Gläubigen, sowohl der sich auf die Praxis – der Gläubige sollte
Juden als auch der Heiden. in »Freiheit« leben. Hier haben wir ein
4,27 Dieses Zitat aus Jesaja 54,1 ist sehr gutes Bild für den Unterschied zwi-
eine Vorhersage, daß die Kinder der schen Gesetz und Gnade. Das Gesetz
himmlischen Stadt zahlreicher sein wer- sagt: »Wenn du dir deine Freiheit ver-
den als die des irdischen Jerusalem. Sara dienst, wirst du frei.« Doch die Gnade
war die Frau, die so lange »unfruchtbar« sagt: »Du bist aufgrund des hohen Prei-
blieb. Hagar war die Frau, »die den ses, den Christus durch seinen Tod be-
Mann hat«. Wie sollen wir den endgülti- zahlt hat, befreit. Als Dank solltest du
gen Sieg Saras oder des himmlischen deshalb feststehen und dich ›nicht wie-
Jerusalem verstehen? Die Antwort lau- der durch ein Joch der Sklaverei bela-
tet, daß die »Kinder« der Verheißung alle sten‹ lassen.« Das Gesetz befiehlt, jedoch
die sind, die im Glauben zu Gott kom- gibt es nicht die Fähigkeit zum Gehor-
men, sowohl Heiden als auch Juden – sam. Die Gnade schenkt, was das Gesetz
»zahlreicher« als die Kinder der Hagar, verlangt und ermöglicht dem Menschen
die unter dem Gesetz bleiben. dann, ein Leben zu führen, das durch die
4,28 Echte Gläubige werden nicht aus Kraft des Heiligen Geistes seiner Stel-
dem Willen des Mannes oder dem Willen lung entspricht. Die Gnade belohnt ihn
des Fleisches geboren, sondern von Gott. anschließend für ein solches Leben.

866
Galater 5

Wie C. H. Mackintosh sagt: »Das Ge- Offensichtlich hat Christus für ihn kei-
setz fordert Kraft von dem, der sie nicht nen Wert, wenn er ganz unter dem Ge-
hat, und verflucht ihn, wenn er diese setz steht. Der Herr ist nicht nur ein völli-
Kraft nicht zeigt. Das Evangelium gibt ger Erlöser, sondern auch ein ausschließli-
dem Kraft, der keine hat, und segnet cher Erlöser. Paulus bezieht sich in die-
17)
durch die Anwendung dieser Kraft.« sem Vers nicht auf Menschen, die in der
»Renne und lebe«, befiehlt das Gesetz, Vergangenheit beschnitten wurden, son-
doch gibt es mir weder Beine noch Hände; dern nur auf die, die sich vielleicht jetzt
Weit bessere Nachricht bringt das diesem Ritus unterziehen wollten, um
Evangelium, vollständige Rechtfertigung zu erlangen;
es fordert mich auf zu fliegen und an die, die der Auffassung sind, daß man
schenkt mir die Flügel dazu. verpflichtet ist, das Gesetz zu halten, um
bei Gott angenommen zu sein.
III. Praktisch: Paulus verteidigt 5,4 Gesetzlichkeit bedeutet, daß man
die christliche Freiheit im Geist Christus als einzige Hoffnung der Recht-
(5,2-6,18) fertigung aufgibt. Dieser Vers hat weit-
reichende Diskussionen verursacht. Vie-
A. Die Gefahr der Gesetzlichkeit le verschiedene Auslegungen sind ver-
(5,2-15) sucht worden, doch kann man sie etwa
5,2 Gesetzlichkeit mißt Christus keinen folgendermaßen in drei Gruppen eintei-
Wert zu. Die jüdischen Irrlehrer bestan- len:
den auf der Notwendigkeit, daß heidni- 1. Viele sind der Ansicht, daß Paulus
sche Gläubige sich zur Errettung »be- hier lehrt, daß es möglich ist, daß ein
schneiden« lassen müßten. Paulus, der Mensch wirklich errettet ist, dann in
hier mit der Autorität eines Apostels Sünde und damit aus der Gnade fällt
spricht, betont nochmals, daß ein Behar- und für immer verloren geht. Das ist
ren auf der Beschneidung bedeutet, »daß als »Abfallhypothese« bekannt ge-
Christus euch nichts nützen wird«. Jack worden.
Hunter sagt: Wir glauben, daß diese Interpretation
In der Situation in Galatien war die Be- aus zwei zwingenden Gründen unge-
schneidung nicht einfach eine kleine Operati- sund ist: Erstens beschreibt dieser
on, oder einfach eine harmlose religiöse Zere- Vers keine Erlösten, die in Sünde fal-
monie. Sie stand für das System der Erret- len. Es gibt hier überhaupt keine
tung durch gute Werke. Sie verkündigte ein Erwähnung dessen, daß jemand in
Evangelium der menschlichen Machbarkeit Sünde gefallen ist. Statt dessen
ohne göttliche Gnade. Hier ersetzte das spricht der Vers von denen, die ein
Gesetz die Gnade – Mose ersetzte Christus – sittliches, rechtschaffenes und auf-
denn Christus etwas hinzufügen bedeutet, rechtes Leben führen und hoffen,
ihn ganz wegzunehmen. Christus ergänzen dadurch gerettet zu werden. Damit
heißt Christus ersetzen. Christus ist der ein- wäre dieser Abschnitt ein Bumerang
zige Retter – allein und ausschließlich. Be- für diejenigen, die versuchen, mit
18)
schneidung hieß Trennung von Christus. diesem Vers die »Abfallhypothese«
5,3 Das Gesetz erfordert, daß man zu stützen. Sie lehren, daß ein Christ
»das ganze Gesetz zu tun schuldig ist«. das Gesetz halten muß, ein vollkom-
Menschen unter dem Gesetz können menes Leben führen und sich jegli-
nicht die einfachen Gebote annehmen cher Art der Sünde enthalten muß,
und andere ablehnen. Wenn jemand ver- um errettet zu bleiben. Doch diese
sucht, Gott zu gefallen, indem er sich Schriftstelle besteht darauf, daß alle,
beschneiden läßt, dann hat er die Ver- die versuchen, durch Gesetzeswerke
pflichtung, »das ganze Gesetz« zu tun. und eigene Anstrengung gerechtfer-
Deshalb steht der Mensch entweder völ- tigt zu werden, »aus der Gnade gefal-
lig unter dem Gesetz oder gar nicht. len« sind.

867
Galater 5

Zweitens widerspricht eine solche zwei Erlöser haben können, sie müs-
Interpretation dem allgemeinen, sen sich schon zwischen Christus und
durchgängigen Zeugnis des NT, das dem Gesetz entscheiden. Wenn sie
aussagt, daß jeder echte Gläubige an das Gesetz wählen, dann sind sie von
den Herrn Jesus auf ewig errettet ist, Christus als ihrer einzigen möglichen
daß kein Schaf Christi jemals verloren Hoffnung auf Rechtfertigung ge-
geht, und daß die Erlösung völlig auf trennt, sie sind »aus der Gnade gefal-
dem vollendeten Werk des Erlösers len«. Hogg und Vine drücken das
beruht und nicht auf den schwachen deutlich aus:
Bemühungen des Menschen (Joh 3,16. Christus muß uns alles oder aber nichts
36; 5,24; 6,47; 10,28). sein, begrenztes Vertrauen oder ein geteilter
2. Eine zweite Auslegung dieses Verses Treueid ist für ihn nicht annehmbar. Derjeni-
lautet, daß sie sich auf diejenigen ge, der durch die Gnade des Herrn Jesus
bezieht, die einmal durch Glauben an Christus gerechtfertigt ist, ist ein Christ, wer
den Herrn Jesus gerettet wurden, die jedoch versucht, durch Gesetzeswerke ge-
19)
sich aber später unter das Gesetz stel- rechtfertigt zu werden, der ist kein Christ.
len, um ihre Erlösung zu bewahren 5,5 Der Apostel zeigt, daß die Hoff-
oder Heiligung zu erlangen. Mit an- nung des wahren Gläubigen sich sehr
deren Worten, sie waren durch die weit von dem des Gesetzlichen unter-
Gnade gerettet, doch nun versuchen scheidet. Der Christ erwartet »die Hoff-
sie, durch das Gesetz in der Gnade nung der Gerechtigkeit«. Er hofft auf die
gehalten zu werden. In diesem Fall Zeit, wenn der Herr kommen wird, wenn
heißt aus der Gnade fallen, wie Philip er einen verherrlichten Leib empfangen
Mauro es ausdrückt, »sich von Gottes und es keine Sünde mehr geben wird.
Weg zur Vervollkommnung seiner Man beachte, daß es nicht heißt, daß der
Heiligen durch das Werk des Geistes Christ auf die Gerechtigkeit hofft, son-
in ihnen abzuwenden, und dieses dern er ist schon gerecht vor Gott durch
Ziel dadurch zu erreichen versuchen, den Herrn Jesus Christus (2. Kor 5,21).
daß man äußere Riten und Zeremoni- Doch erwartet er den Augenblick, an
en einhält, die fleischliche Menschen dem er selbst völlig gerecht sein wird. Er
genausogut einhalten können wie hofft nicht, Gerechtigkeit durch irgend-
Heilige Gottes«. welche Taten zu erreichen, sondern
Diese Ansicht ist unschriftgemäß, »durch den Geist« und »aus Glauben«.
erstens weil der Vers hier keine Chri- Der Heilige Geist wird alles tun, und der
sten beschreibt, die Heiligung su- Gläubige erwartet einfach von Gott im
chen, sondern Unerlöste, die Recht- Glauben, daß er es fertigbringt. Der Ge-
fertigung durch Gesetzeswerke su- setzliche dagegen hofft, seine Gerechtig-
chen. Man beachte die Wortwahl – keit durch seine eigenen Werke, durch
»die ihr im Gesetz gerechtfertigt wer- das Halten des Gesetzes oder durch reli-
den wollt«. Und zweitens geht diese giöse Zeremonien zu erlangen. Es han-
Interpretation davon aus, daß Erret- delt sich um eine vergebliche Hoffnung,
tete später noch von Christus ge- weil man auf diese Weise keine Gerech-
trennt werden können, und das wi- tigkeit erlangen kann.
derspricht einer korrekten Ausle- Man beachte, daß Paulus das Prono-
gung der Gnade Gottes. men »wir« in diesem Vers benutzt, und
3. Die dritte Auslegung lautet, daß Pau- sich damit auf echte Christen bezieht,
lus von Menschen spricht, die sich während er in Vers 4 das Pronomen »ihr«
vielleicht zum Christentum beken- benutzt, wenn er von denen spricht, die
nen, doch nicht wirklich errettet sind. ihre Rechtfertigung durch Gesetzeswer-
Sie versuchen, die Rechtfertigung ke zu erlangen suchen.
durch Gesetzeswerke zu erlangen. 5,6 Gesetzlichkeit hat keinerlei
Der Apostel sagt ihnen, daß sie keine »Kraft«. Solange es um jemanden geht,

868
Galater 5

der »in Christus« ist, d. h. um einen Chri- 5,10 Gesetzlichkeit bringt über ihre
sten, so macht ihn weder die »Beschnei- Lehrer die Verdammnis. Paulus war sich
dung« besser, noch macht ihn das »Un- sicher, daß die Galater die Irrlehren
beschnittensein« irgendwie schlechter. ablehnen würden. Sein »Vertrauen« be-
Was Gott beim Gläubigen sucht, ist »der gründete sich »im Herrn«, was bedeuten
durch Liebe wirksame Glaube«. »Glau- kann, daß der Herr Paulus in dieser Hin-
be« ist völlige Abhängigkeit von Gott. sicht eine Verheißung geschenkt hat.
»Glaube« ist nicht untätig, sondern zeigt Oder, weil Paulus den Herrn so genau
sich im selbstlosen Dienst für Gott und kannte, war er sich sicher, daß er die
Menschen. Das Motiv für all diesen ausgerissenen Schafe wiederholen wür-
Dienst ist die Liebe. So wirkt »der Glau- de, vielleicht sogar durch den Brief, den
be durch Liebe«, nicht durch das Gesetz. Paulus gerade an sie schrieb.
Das ist eine Wahrheit, die sich oft in der Die Irrlehrer selbst würden von Gott
Schrift findet, – daß nämlich Gott nicht bestraft werden. Es ist eine ernsthafte
an Riten interessiert ist, sondern an Angelegenheit, Irrlehren zu verbreiten
einem echten gottesfürchtigen Lebens- und damit eine Gemeinde zu zerstören
wandel. (1. Kor 3,17).
5,7 Gesetzlichkeit ist Ungehorsam 5,11 Gesetzlichkeit macht mit dem
gegen die »Wahrheit«. Die Galater hatten »Ärgernis des Kreuzes« Schluß. Paulus
im christlichen Leben gut angefangen, antwortet nun auf die absurde Anklage,
doch hatte sie jemand »gehindert«. Das daß sogar er zuweilen die Notwendigkeit
waren die jüdischen Irrlehrer, die Geset- der Beschneidung predige. Er wird noch
zestreuen, die falschen Apostel. Indem immer von den Juden »verfolgt«. Das
die Heiligen ihre Irrlehren annahmen, würde aufhören, sobald er die »Beschnei-
waren sie »der Wahrheit« Gottes unge- dung« predigen würde, aber das hieße
horsam. auch, daß er nicht mehr das »Kreuz« pre-
5,8 Gesetzlichkeit ist keine göttliche digen könnte. Das Kreuz ist dem Men-
Lehre. »Überredung« bedeutet hier schen ein »Ärgernis«. Es ärgert ihn oder
Glaube oder Lehre. »Der, der euch ruft« bringt ihn zu Fall, weil es ihm sagt, daß es
ist Gott. Deshalb kommt der Glaube, daß nichts gibt, das er tun kann, um sich seine
die Beschneidung und das Halten des Erlösung zu verdienen. Es läßt dem
Gesetzes zum Glauben an Christus hin- Fleisch und seinen Bemühungen keinen
zugefügt werden müßten, nicht von Raum. Es verkündigt das Ende der
Gott, sondern vom Teufel. menschlichen Werke. Wenn Paulus Werke
5,9 Gesetzlichkeit führt mehr und einführen würde, indem er die Beschnei-
mehr zum Schlechten. »Sauerteig« ist in dung predigte, dann würde er die gesam-
der Bibel ein Symbol für das Böse. Hier te Bedeutung des Kreuzes verdrehen.
bezieht es sich auf die Irrlehre der jüdi- 5,12 Der Wunsch des Apostels, daß
schen Lehrer. Das natürliche Bestreben die Unruhestifter »sich verschneiden las-
von »Sauerteig« oder Hefe, das gesamte sen« mögen, kann durchaus wörtlich
Mehl zu beeinflussen, mit dem es in Kon- verstanden werden; er wünscht ihnen
takt kommt, wird hier als Beispiel be- die Kastration. Sie waren so eifrig im
nutzt, daß »ein wenig« Irrtum unaus- Gebrauch des Messers, um andere zu
weichlich zu mehr führt. Das Böse ist nie- beschneiden, sollte doch nun das Messer
mals statisch. Es muß seine Lügen vertei- benutzt werden, um sie zu kastrieren.
digen, indem es neue Lügen erfindet. Doch ist wohl eher die Auslegung vorzu-
Gesetzlichkeit ist wie Schwangerschaft, ziehen, diese Worte bildlich zu verste-
man kann nicht »ein wenig« schwanger hen; mit anderen Worten, Paulus
sein. Wenn auch nur wenige in einer Ge- wünscht sich, daß die falschen Lehrer
meinde eine Irrlehre vertreten, werden von den Galatern getrennt würden.
sie immer mehr Anhänger gewinnen, es Das Evangelium der Gnade ist immer
sei denn, man hindert sie energisch. wieder angeklagt worden, daß es den

869
Galater 5

Menschen erlaube, zu leben, wie sie einen schleimigen stinkenden Pfuhl verwan-
möchten. Man sagt: »Wenn die Erlösung deln. Planeten, die nicht durch Gesetze gehal-
nur aus dem Glauben geschieht, dann ten werden, würden nur sich selbst und Teile
gibt es keinerlei Kontrolle mehr über das des Universums zerstören. Dasselbe Gesetz,
Leben des Menschen nach der Erlö- das die Sünder einzäunt, schließt auch ande-
sung.« Doch der Apostel weist hier re aus. Die Beschränkungen, die unsere Frei-
schnell darauf hin, daß die christliche heit kontrollieren, machen sie sicher und be-
Freiheit keinen Freibrief zur Sünde schützen sie. Es geht nicht um Kontrolle,
bedeutet. Der Maßstab des Gläubigen ist sondern um die richtige Kontrolle, und den
das Leben des Herrn Jesus, und Liebe zu Freien wird freudiger Gehorsam auszeich-
20)
Christus bedeutet, die Sünde zu hassen nen.
und Heiligung zu lieben. 5,14 Zunächst scheint es befremdend,
Vielleicht erachtete Paulus es hier als daß Paulus hier noch einmal das Gesetz
besonders nötig, seine Leser vor dem anführt, nachdem er im gesamten Brief
anderen Extrem zu warnen. Wenn Men- betont hat, daß die Gläubigen ihm nicht
schen eine Zeitlang unter den Begren- unterworfen sind. Er will hier seine Leser
zungen des Gesetzes leben und dann nicht zum Gesetz zurückführen, sondern
ihre Freiheit wiedererlangen, dann be- zeigen, daß genau das, was das Gesetz
steht immer die Gefahr, vom Extrem der fordert, aber nicht erbringen kann, aus
Knechtschaft in das der Achtlosigkeit zu der Praxis christlicher Freiheit entsteht.
fallen. Die richtige Balance ist die Freiheit 5,15 Gesetzlichkeit führt unausweich-
zwischen Gesetz und Freizügigkeit. Der lich zu Streit, und offensichtlich war das
Christ ist vom Gesetz befreit, aber nicht auch in Galatien so. Wie sonderbar! Hier
gesetzlos. waren Menschen, die unter dem Gesetz
5,13 Christliche »Freiheit« erlaubt kei- leben wollten. Das Gesetz fordert von
ne Sünde, sondern ermutigt zu liebevol- ihnen, ihren Nächsten zu lieben, und
lem Dienst. »Liebe« wird hier als Motiv doch geschah das genaue Gegenteil
christlichen Verhaltens gesehen, während davon. Sie zankten und schlugen sich
unter dem Gesetz das Motiv die Angst gegenseitig. Dieses Verhalten wird vom
vor Strafe ist. Findlay sagt: »Sklaven der Fleisch bewirkt, dem das Gesetz Raum
Liebe sind die wirklichen Freien.« gibt, und auf das es einwirkt.
Die christliche Freiheit liegt in Chri-
stus Jesus begründet (2,4) und das B. Die Kraft zur Heiligung (5,16-25)
schließt jeden Gedanken daran aus, daß 5,16 Der Gläubige sollte »im Geist« wan-
hier Freiheit zur Sünde gemeint sein deln, nicht im Fleisch. »Im Geist« oder
könnte. Wir dürfen unsere Freiheit nie als durch den Geist wandeln bedeutet, ihm
Ausgangsbasis »für das Fleisch« miß- zu erlauben, seine Absichten auszufüh-
brauchen. Genauso wie eine Invasionsar- ren. Es heißt, in Gemeinschaft mit ihm zu
mee versuchen wird, einen Brückenkopf bleiben. Es heißt, Entscheidungen im
zu erobern und von dort aus weitere Licht seiner Heiligkeit zu treffen. Es
Eroberungszüge zu planen, so wird das heißt, sich mit Christus zu befassen, weil
Fleisch schon geringe Zugeständnisse der Dienst des Geistes darin besteht, den
nutzen, um Territorium zu gewinnen. Gläubigen mit dem Herrn zu beschäfti-
Eine ordentliche Art, unsere Freiheit gen. Wenn wir so »im Geist wandeln«,
zu gebrauchen, besteht im Folgenden: wird das »Fleisch« oder der Eigenwille
»Macht es euch zur Angewohnheit, Skla- behandelt, als wären sie tot. Wir können
ven des anderen zu sein.« uns nicht gleichzeitig mit Christus
A. T. Pierson sagt: beschäftigen und sündigen.
Echte Freiheit findet sich nur im Gehor- Scofield schreibt:
sam gegen die nötige Beschränkung. Ein Das Problem des christlichen Lebens be-
Fluß findet die Freiheit zu fließen nur zwi- ruht auf der Tatsache, daß der Christ, solan-
schen seinen Ufern, ohne sie würde er sich in ge er in dieser Welt lebt, sozusagen aus zwei

870
Galater 5

Bäumen besteht – dem alten Baum des Flei- sches anspricht. Welche Art von »Wer-
sches, und dem neuen Baum der göttlichen ken« bringt nun die gefallene mensch-
Natur, welche durch die Wiedergeburt einge- liche Natur hervor? Es ist nicht schwie-
pfropft wurde. Das Problem ist nun, wie man rig, »die Werke des Fleisches« zu erken-
den alten Baum unfruchtbar hält und den nen. Sie sind allen »offenbar«. »Ehe-
22)
neuen fruchtbar. Das Problem wird durch bruch« (LU1912) ist eheliche Untreue.
21)
einen Wandel im Geist gelöst. »Unzucht« ist verbotene sexuelle Betä-
Dieser Vers und die folgenden zeigen, tigung. »Unreinheit« ist sittliche Bosheit
daß das »Fleisch« im Christen noch und verbotene Sinnlichkeit. »Ausschwei-
besteht. Deshalb ist die Vorstellung abzu- fung« ist schamloses Verhalten ohne
lehnen, die Sündennatur könne ausge- Maß. »Götzendienst« bezeichnet nicht
rottet werden. nur Bilderverehrung, sondern auch die
5,17 »Der Geist« und »das Fleisch« Sittenlosigkeit, die mit Dämonenver-
stehen im ständigen Konflikt. Gott hätte ehrung einhergeht. »Zauberei« ist Ok-
den Gläubigen ihre Fleischesnatur zur kultismus, doch das griechische Wort be-
Zeit der Bekehrung nehmen können, deutet auch soviel wie »Drogen«. Weil
doch es gefiel ihm, es nicht zu tun. War- bei der Zauberei Drogen benutzt wur-
um? Er wollte die Gläubigen ständig an den, wurde das Wort bald für die Ge-
ihre Schwachheit erinnern, sie sollten meinschaft mit bösen Geistern und für
immer von Christus, ihrem Priester und Zaubersprüche verwendet. Es kann auch
Fürsprecher abhängig sein, und sie soll- Aberglaube und den Glauben an das
ten unaufhörlich Gott preisen, der solche »Glück« bedeuten. »Feindschaften« be-
Würmer wie sie errettet hat. Statt die alte deutet Haßgefühle, die sich auf einzelne
Natur wegzunehmen, hat Gott uns den Personen beziehen. Zu »Hader« gehören
Heiligen Geist gegeben, damit er in uns Streiterei, Zankerei und Zwietracht.
wohnt. Gottes Geist und unser Fleisch »Eifersucht« ist Mißtrauen, auch Ver-
führen einen ständigen Kampf, und der dächtigungen gehören dazu. »Zornes-
Krieg wird andauern, bis wir beim Herrn ausbrüche« sind plötzliche starke An-
sind. Die Aufgabe des Gläubigen im fälle von Ärger und Haß. »Selbstsüch-
Kampf ist es, sich dem Geist hinzugeben. teleien« bezeichnen das um sich selbst
5,18 Wer vom Geist geleitet wird, ist kreisende Bestreben, immer »die erste
»nicht unter Gesetz«. Diesen Vers kann Geige zu spielen«, auch auf Kosten an-
man auf zweierlei Weise verstehen: derer. »Zwistigkeiten« sind Spaltungen,
»Durch den Geist geleitet« ist eine Be- die durch Uneinigkeit verursacht wer-
schreibung aller Christen. Deshalb steht den. »Parteiungen« sind Sekten, die sich
kein Christ »unter Gesetz«, d. h. sie sind durch eigenwillige Ansichten bilden.
nicht von eigenen Bemühungen abhän- »Neid« ist das Mißfallen am Erfolg oder
23)
gig. Der Geist stellt sich den bösen Re- Reichtum anderer. »Mord« (LU1912) ist
gungen in ihnen entgegen. Auch bedeu- das widerrechtliche Töten anderer.
tet »durch den Geist geleitet«, daß man »Trinkgelage« bezieht sich auf exzes-
über das Fleisch hinausgehoben wird siven Alkoholmißbrauch. »Völlereien«
und mit dem Herrn beschäftigt ist. Wer sind laute Zusammenkünfte zur Unter-
auf diese Weise beschäftigt ist, kann haltung, die mit Trinkerei und über-
weder ans Gesetz noch ans Fleisch den- mäßigen Essen einhergehen.
ken. Der Geist Gottes führt die Menschen Paulus warnt seine Leser, wie er
nicht dazu, das Gesetz als Mittel ihrer ihnen schon vorher gesagt hat, »daß die,
Rechtfertigung anzusehen, sondern er die so etwas tun, das Reich Gottes nicht
weist sie auf den Auferstandenen hin, erben werden«. Der Abschnitt lehrt kei-
der die einzige Grundlage ist, auf dem neswegs, daß ein Trinker nicht gerettet
sie vor Gott angenommen sind. werden könnte, sondern sagt aus, daß
5,19-21 Wir haben schon vorher er- derjenige, dessen Leben von diesen Din-
24)
wähnt, daß das Gesetz die Kraft des Flei- gen geprägt wird, nicht erlöst ist.

871
Galater 5

Warum sollte Paulus nun auf diese Vertrauen auf Gott bedeuten, zu unse-
Art an Gemeinden von bekehrten Chri- rem Nächsten, aber auch Zuverlässigkeit
sten schreiben? Der Grund ist, daß nicht und Vertrauenswürdigkeit. Das letztere
alle, die bekennen, gerettet zu sein, auch ist hier die wahrscheinlichere Bedeu-
echte Kinder Gottes sind. Deshalb läßt tung. »Sanftmut« bedeutet, die niedrige
der Heilige Geist im NT oft auf die Dar- Stellung einzunehmen, die auch der Herr
stellung wunderbarer geistlicher Wahr- Jesus einnahm, als er seinen Jüngern die
heiten die ernstesten Warnungen an alle Füße wusch (Joh 13,1-17). »Enthaltsam-
folgen, die sich zu Jesus Christus be- keit« bedeutet, daß man selbstbeherrscht
kennen. ist, insbesondere auch auf sexuellem
5,22.23 Es ist bedeutsam, daß der Gebiet. Unser Leben sollte diszipliniert
Apostel hier zwischen den Werken des verlaufen. Lust, Leidenschaften, Sehn-
Fleisches und der »Frucht des Geistes« süchte und Launen sollten unter Kon-
unterscheidet. Werke werden durch trolle gehalten werden. Wir sollten uns
menschliche Anstrengung vollbracht. Mäßigung auferlegen. Darauf hat Samu-
»Frucht« wächst, wenn die Rebe am el Chadwick einmal hingewiesen:
Weinstock bleibt (Joh 15,5). Sie unter- In heutigem Umgangsdeutsch liest sich
scheiden sich, wie eine Fabrik sich von dieser Abschnitt etwa so: »Die Frucht des
einem Garten unterscheidet. Man beach- Geistes ist ein freundlicher, liebenswürdiger
te, daß das Wort »Frucht« Einzahl und Charakter, ein sprühender Geist und ein freu-
nicht Mehrzahl ist. Der Heilige Geist diges Gemüt, ein stilles Wesen und ruhiges
bringt eine einzige Frucht hervor, näm- Benehmen, zurückhaltende Geduld in provo-
lich Christusähnlichkeit. Alle Tugenden, zierenden Umständen und mit nervtötenden
die nun aufgeführt werden, beschreiben Mitmenschen, mitfühlendes Verständnis
das Leben des Kindes Gottes. Dr. C. I. und taktvolle Hilfsbereitschaft, großzügige
Scofield hat herausgestellt, daß jede ein- Beurteilung anderer und großherzige Spen-
zelne dem Acker des menschlichen Her- denbereitschaft, Treue und Verläßlichkeit
zens fremd ist. unter allen Umständen, Demut, die bei der
»Liebe« ist eine Eigenschaft Gottes, Freude anderer sich selbst vergißt, in allem
und wir sollten diese Eigenschaft eben- beherrscht und diszipliniert, was das größte
falls besitzen. Sie wird in 1. Korinther 13 Zeichen der Vollkommenheit ist.« Wie be-
auf wunderschöne Weise beschrieben, zeichnend, wenn wir das mit 1. Korinther 13
25)
und im Kreuz von Golgatha kann man vergleichen!
ihre ganze Spannweite erahnen. »Freu- Paulus schließt diese Liste mit dem
de« ist Zufriedenheit mit Gott und Be- kurzen Kommentar: »Gegen diese ist das
friedigung über sein Handeln. Christus Gesetz nicht gerichtet.« Natürlich nicht!
zeigt diese Freude in Johannes 4,34. Diese Tugenden gefallen Gott, nützen
»Friede« kann sowohl den Frieden Got- unseren Mitmenschen und sind gut für
tes als auch harmonische Beziehungen uns selbst. Doch wie wird diese Frucht
unter Christen bezeichnen. Wenn wir hervorgebracht? Durch menschliche An-
nach Friede im Leben Jesu fragen, so strengung? Keinesfalls. Sie wird hervor-
können wir unter Lukas 8,22-25 nachle- gebracht, wenn Menschen in enger Ge-
sen. »Langmut« ist Geduld in Anfech- meinschaft mit dem Herrn leben. Wenn
tung, Belästigung und Verfolgung. Ihr sie in liebevoller Hingabe auf ihren Erlö-
höchstes Vorbild finden wir in Lukas ser schauen und ihm in ihrem Alltag ge-
23,34. »Freundlichkeit« ist Liebenswür- horchen, dann bewirkt der Geist ein
digkeit, die man vielleicht am besten in Wunder. Er verwandelt sie in Ebenbilder
der Haltung des Herrn gegenüber Kin- Christi. Sie werden wie er, indem sie ihn
dern sieht (Mk 10,14). »Güte« ist Freund- anschauen (2. Kor 3,18). So, wie die Rebe
lichkeit, die man anderen erweist. Wenn ihr Leben und ihre Speise vom Weinstock
man ein Vorbild der Güte sucht, so lese erhält, so bekommt der Gläubige in Chri-
man nur Lukas 10,30-35. »Treue« kann stus alle seine Kraft vom wahren Wein-

872
Galater 5 und 6

stock, und ist so in der Lage, ein für Gott denen der andere leidet, denn wir
fruchtbares Leben zu führen. stecken nicht in seiner Haut.
5,24 »Die aber dem Christus Jesus 3. Neid – »indem wir … einander benei-
angehören, haben das Fleisch … gekreu- den«. Neid ist insbesondere die Sün-
26)
zigt.« Die Zeitform des Verbs zeigt hier, de, etwas zu wollen, das jemand an-
daß etwas wirklich Vergangenes gemeint derem gehört, und auf das man selbst
ist. Das geschah bei unserer Bekehrung. kein Anrecht hat. Man neidet dem
Als wir Buße taten, nagelten wir in anderen den größeren Erfolg, seine
gewissem Sinne unsere alte, böse und Talente, seinen Besitz oder sein gutes
verdorbene Natur mit ihren Gelüsten ans Aussehen. Menschen, die nicht viele
Kreuz. Wir beschlossen, daß wir nicht Talente oder einen schwachen Cha-
länger der gefallenen Natur zuliebe le- rakter besitzen, tendieren dazu, die
ben wollten, und daß sie uns nicht länger zu beneiden, die scheinbar erfolgrei-
beherrschen darf. Natürlich muß diese cher das Gesetz halten. Alle diese
Entscheidung in unserem Leben immer Eigenschaften haben mit der Gnade
wieder erneuert werden. Wir müssen das jedoch nichts zu tun. Ein echter Gläu-
Fleisch ständig im Tod halten. biger sollte andere höher achten als
5,25 »Wenn« hat hier die Bedeutung sich selbst. Gesetzestreue wollen fäl-
von »weil«. Weil wir durch das Werk des schlicherweise Ehre für sich selbst
Heiligen Geistes in uns ewiges Leben einfordern. Es ist echte Größe, wenn
haben, so sollen wir dieses Leben auch in man dient, ohne bemerkt und arbei-
der Kraft desselben Geistes führen. Das tet, ohne gesehen zu werden.
Gesetz konnte niemals Leben geben und 6,1 Hier haben wir eine liebevolle
war auch nie als Lebensregel des Chri- Aussage darüber, wie ein sündiger Bru-
sten gedacht. der von seinen Mitchristen zu behandeln
ist. Das steht natürlich im scharfen Kon-
C. Praktische Ermahnungen (5,26-6,10) trast zum Gesetz, welches das Urteil über
5,26 In diesem Vers werden drei Haltun- den Sünder fordert. Wenn jemand »von
gen genannt, die wir meiden sollten: einem Fehltritt übereilt wird«, so haben
1. Prahlerei – »wir wollen nicht prahlen« wir jemanden vor uns, der eine einzelne
(Ei) oder wörtlich: keine falsche oder Sünde begangen hat, aber nicht in ihr
übertriebene Meinung (von uns lebt. So jemand soll von »geistlichen«
selbst) haben. Gott möchte nicht, daß Christen beraten werden. Ein fleischli-
Christen sich brüsten oder prahleri- cher Christ könnte durch seine vielleicht
sche Angeber sind, es paßt nicht zu harte und ablehnende Haltung hier mehr
der Tatsache, daß wir Sünder sind, die Schaden anrichten als Gutes tun. Auch
durch die Gnade errettet worden sind. wird der Sünder wahrscheinlich keinen
Menschen, die unter dem Gesetz le- Rat von jemandem annehmen, der selbst
ben, werden oft stolz auf ihre kleinen nicht mit dem Herrn lebt.
Erfolge und verspotten diejenigen, die Dieser Vers wirft eine interessante
nicht so viel erreichen wie sie, und Frage auf. Wenn jemand wirklich geist-
gesetzliche Christen fallen oft über lich ist, würde er das von sich selbst
andere Christen her, die nicht die glei- sagen können? Sind sich geistliche Men-
che Liste an sogenannten »Zwischen- schen nicht viel mehr als andere ihrer
dingen« führen, die sie verurteilen. Fehler bewußt? Wer würde dann das
2. Herausforderung – »indem wir ein- Werk der Ermahnung auf sich nehmen,
ander herausfordern«. Wir verleug- wenn er sich dadurch als »Geistlicher«
nen unser geisterfülltes Leben, wenn auszeichnet? Würde das nicht mangeln-
wir andere Menschen herausfordern, de Demut verraten? Die Antwort lautet:
sich mit unseren privaten Ansichten Ein wirklich Geistlicher wird sich nie sei-
zu messen. Man kennt niemals die nes Zustandes rühmen, doch er wird das
Probleme und Versuchungen, unter mitfühlende Herz eines Hirten haben,

873
Galater 6

das ihn zur Ermahnung des Sünders 6,5 In Vers 2 lehrt Paulus, daß wir
treibt. Er wird nicht im Geist des Stolzes unsere Sorgen, unsere Leiden und unsere
oder der Überlegenheit handeln, son- Probleme des gegenwärtigen Lebens
dern »im Geist der Sanftmut«, weil er miteinander teilen sollen. In Vers 5 geht
sich daran erinnert, daß auch er »ver- es um den Gedanken, daß jeder von uns
sucht« werden könnte. »seine eigene Bürde« der Verantwortung
6,2 »Lasten« sind hier Versagen, Ver- beim Richterstuhl Christi zu tragen hat.
suchungen, Prüfungen und Anfechtun- 6,6 Gläubige sind verantwortlich, für
gen. Statt aus der Ferne zu kritisieren, den Lebensunterhalt ihrer christlichen
sollten wir dem Bruder zu Hilfe eilen, Lehrer zu sorgen. »An allen Gütern«
der sich in Schwierigkeiten oder Ver- Anteil haben lassen bedeutet, mit ihnen
zweiflung befindet, und ihm auf jede nur die materiellen Dinge des Lebens zu tei-
erdenkliche Weise helfen. len, und sie auch durch Gebet und rech-
»Das Gesetz des Christus« schließt tes Interesse zu unterstützen.
alle Gebote des Herrn Jesus für sein Volk 6,7 Obwohl andere es nicht bemerken
ein, die wir im NT finden. Man kann es werden, wenn wir die Diener Gottes ver-
mit den Worten zusammenfassen »daß nachlässigen, so wird Gott es doch sehen
ihr einander liebt« (Joh 13,34; 15,12). Wir und uns die entsprechende Ernte geben.
erfüllen dies, wenn wir »einer … des Wir »ernten«, was wir säen, und wir ern-
anderen Lasten« tragen. »Das Gesetz des ten mehr, als wir gesät haben. Wenn ein
Christus« unterscheidet sich von dem Bauer Weizen sät, so wird er Weizen ern-
des Mose. Moses Gesetz verheißt das ten, dreißig-, sechzig- oder hundertfältig.
Leben, wenn man gehorcht, doch es gibt Scofield merkt an, daß »der Geist hier
nicht die Kraft zum Gehorsam, und kann nicht zu Sündern von ihrer Sünde
Gehorsam auch nur durch die Furcht vor spricht, sondern zu Heiligen über ihre
Strafe erreichen. »Das Gesetz des Chri- Schäbigkeit«.
stus« dagegen ist liebevolle Belehrung Natürlich ist es im weiteren Sinne
für diejenigen, die das Leben schon auch wahr, daß diejenigen, »die Unheil
haben. Die Gläubigen haben durch den pflügen und Mühsal säen«, es auch ern-
Heiligen Geist die Kraft, diese Vorschrif- ten (Hiob 4,8) und daß diejenigen die
ten zu halten, und ihre Motivation ist »Wind säen …, Sturm ernten« (Hos 8,7).
Liebe zu Christus. J. A. Froude, der Historiker, sagte: »Eine
6,3 Wir sind alle aus derselben Erde Lehre, und nur eine, wiederholt die
gemacht. Wenn wir einen Bruder sündi- Geschichte immer wieder, daß nämlich
gen sehen, dann sollten wir uns daran die Welt in gewisser Weise auf morali-
erinnern, daß es uns selbst auch hätte so schen Grundsätzen basiert, und daß, auf
gehen können. Wenn ein Christ einen lange Sicht gesehen, sie den Guten Gutes
27)
Überlegenheitskomplex hat, dann be- und den Bösen Böses tut.«
trügt er sich selbst. Wir sollten niemals 6,8 Obwohl es allgemein stimmt, daß
denken, daß es unter unserer Würde sei, wir ernten, was wir säen, sollten wir
die Lasten anderer zu tragen. doch hier anmerken, daß auf diese Erin-
6,4 Dies hier ist anscheinend eine nerung eine Ermahnung zum christli-
Warnung gegen die Angewohnheit, sich chen Geben folgt. In diesem Licht be-
mit anderen zu vergleichen, und Befrie- trachtet, sehen wir, daß »auf das Fleisch
digung daraus zu ziehen. Der Apostel säen« bedeutet, sein Geld für sich selbst
weist darauf hin, daß wir beim Richter- auszugeben, zum eigenen Vergnügen
stuhl Christi jeder einzeln beurteilt wer- und zur eigenen Bequemlichkeit. »Auf
den, und nicht im Vergleich zu anderen. den Geist säen« bedeutet, daß man sein
Deshalb sollten wir auf uns achten, da- Geld für die Förderung der Interessen
mit wir in der Lage sind, uns über unser Gottes einsetzt.
»Werk« zu freuen, und nicht über das Diejenigen, die das erstere tun, wer-
Versagen anderer. den Enttäuschung und Verlust schon

874
Galater 6

hier auf der Erde erfahren, weil sie mit denen er schrieb, können seine tiefen
bemerken, wenn sie älter werden, daß Gefühle bei der Bekämpfung der Geset-
das Fleisch, dem zu Gefallen sie gelebt zeslehrer andeuten, und wie ernst er die
haben, vergänglich ist. Und im kommen- jüdische Irrlehre nahm. Es kann jedoch
den Zeitalter werden sie ihren ewigen auch bedeuten, daß er schlechte Augen
Lohn verlieren. Wer jedoch »auf den hatte, wie viele aus diesem und anderen
Geist sät, wird vom Geist ewiges Leben Abschnitten geschlossen haben. Wir sind
ernten«. Es gibt zwei Arten, wie das Wort der Ansicht, daß die letztere Ansicht die
»ewiges Leben« in der Bibel verwendet richtige ist.
wird (dasselbe Wort, das auch mit ewig 6,12 Die jüdischen Irrlehrer wollten
übersetzt wird): 1. Das ewige Leben ist »im Fleisch gut angesehen sein«, indem
gegenwärtig Eigentum jedes Gläubigen sie sich eine große Anhängerschaft auf-
(Joh 3,36). 2. Es ist das Leben, das der bauten. Sie konnten das tun, indem sie
Gläubige empfängt, wenn er sein Leben auf der Beschneidung bestanden. Men-
hier auf Erden beendet (Röm 6,22). Dieje- schen sind oft nur zu bereit, sich an Riten
nigen, die »auf den Geist« säen, freuen und Zeremonien zu halten, solange nicht
sich schon hier am ewigen Leben auf eine von ihnen verlangt wird, ihre Gewohn-
Weise, die anderen Christen verschlos- heiten zu ändern. Es ist heute üblich, sich
sen ist. Doch werden sie auch einst den eine große Gemeindemitgliedschaft zu
Lohn ernten, den es für Treue gibt, wenn sichern, indem man die Maßstäbe herun-
sie ihre himmlische Heimat erreicht tersetzt. Paulus durchschaut die Unehr-
haben. lichkeit der falschen Lehrer und klagt sie
6,9 Damit keiner entmutigt wird, an, daß »sie nicht um des Kreuzes Christi
erinnert Paulus daran, daß der Lohn willen verfolgt werden« wollen. Das
sicher ist, auch wenn er noch nicht sofort Kreuz bedeutet die Verurteilung des Flei-
erhalten wird. Man kann ein Feld nicht sches und seiner Versuche, Gott zu gefal-
am Tag nach der Saat abernten. So ist es len. Das Kreuz spricht das Todesurteil
auch im geistlichen Bereich, der Lohn für über die Fleischesnatur und seine edel-
treues Säen folgt sicherlich »zur be- sten Bestrebungen. Das Kreuz bedeutet
stimmten Zeit«. Trennung vom Bösen. Deshalb hassen
6,10 Die »Hausgenossen des Glau- die Menschen die herrliche Botschaft
bens« sind alle, die gerettet sind, ohne vom Kreuz und verfolgen diejenigen, die
daß es dabei auf ihre Konfession oder sie predigen.
Gemeindezugehörigkeit ankäme. Unsere 6,13 Die Gesetzeslehrer waren nicht
Freundlichkeit soll sich nicht nur auf wirklich daran interessiert, »das Gesetz«
Gläubige beschränken, doch sollten wir zu halten. Sie wollten nur einen einfa-
sie ihnen auf besondere Weise zeigen. chen Weg finden, viele Anhänger zu ge-
Unser Ziel soll nicht etwas Negatives winnen, so daß sie sich einer langen Mit-
sein – wie wenig Schlechtes, sondern gliederliste »rühmen« könnten. Boice
etwas Positives – wieviel Gutes wir tun sagt: »Das war der Versuch, andere für
können. John Wesley hat es so unver- etwas zu gewinnen, das sicher zum
gleichlich ausgedrückt: »Tu allen Men- Bankrott führt, denn noch nicht einmal
schen auf alle mögliche Art Gutes, und diejenigen, die sich beschneiden ließen,
zwar solange du kannst.« waren in der Lage, das Gesetz zu halten.«
6,14 Paulus’ Gründe zum Rühmen
D. Briefschluß (6,11-18) hatten ihre Ursache nicht im Fleisch, son-
6,11 »Seht, mit was für großen Buchsta- dern im Kreuz »unseres Herrn Jesus
ben ich euch mit eigener Hand geschrie- Christus«. An diesem »Kreuz« starb Pau-
ben habe.« Statt diesen Brief einem Mit- lus der Welt und die Welt für Paulus.
arbeiter zu diktieren, wie er es normaler- Wenn man gerettet wird, verläßt einen
weise tat, hat Paulus diesen Brief selbst »die Welt« und man sagt der »Welt« ade.
geschrieben. Die »großen Buchstaben«, Der Gläubige ist für das Leben in der

875
Galater 6

Welt verdorben, weil er sich nicht mehr Leben erhalten haben. Weil die »neue
für ihre vergänglichen Vergnügungen Schöpfung« vom Anfang bis zum Ende
interessiert. Die Welt hat ihre Anzie- ganz von Christus abhängt, schließt sie
hungskraft für ihn verloren, weil er den jeden Gedanken daran aus, sich Gottes
Einen gefunden hat, der volle Befriedi- Wohlwollen durch den eigenen Charak-
gung schenkt. Findlay sagt: »Er kann nie ter oder gute Werke zu verdienen. Ein
an die Welt glauben, sich ihrer nicht rüh- Leben in Heiligung entsteht nicht durch
men noch ihr irgendwelche Ehre zukom- die Beachtung von Vorschriften, sondern
men lassen. Sie hat für ihn ihre Herrlich- indem man sich Christus hingibt und
keit verloren und die Macht, ihn zu faszi- ihm erlaubt, sein Leben im Gläubigen
nieren oder zu beherrschen.« So ist das auszuleben. Die »neue Schöpfung« ist
»Kreuz« eine feste Grenze oder Tren- keine Verbesserung oder ein Zusatz zur
nungslinie zwischen der Welt und dem alten, sondern etwas völlig Neues und
Kind Gottes. Unterschiedliches.
6,15 Obwohl es auf den ersten Blick 6,16 Von welcher »Richtschnur« redet
nicht so erscheinen mag, ist dieser Vers Paulus hier? Es geht um die »Richt-
eine der wichtigsten Aussagen über eine schnur« der neuen Schöpfung. Er spricht
christliche Wahrheit im gesamten Brief. den zweifachen Segen des Friedens und
»Beschneidung« war eine äußerliche der Barmherzigkeit über alle aus, die
Handlung, ein Ritus. Die jüdischen Irr- Lehren nach der Frage beurteilen: »Hat
lehrer wollten alles von der Befolgung es etwas mit der neuen Schöpfung zu
dieser Zeremonie abhängig machen. »Be- tun?«, und die alles ablehnen, wenn man
schneidung« war die Grundlage des diese Frage nicht bejahen kann.
Judentums. Paulus wischt sie mit einem »Und über das Israel Gottes!« Viele
Federstrich beiseite: »Beschneidung« gilt sind der Ansicht, daß hier die Gemeinde
nichts. Weder ein Ritual noch das Juden- gemeint ist. Doch »Israel Gottes« be-
tum noch die Gesetzesfrömmigkeit zählt. zeichnet hier die Juden, die von ihrer
Und dann fügt Paulus hinzu: »Weder leiblichen Abstammung her Juden sind
Beschneidung noch Unbeschnittensein.« und den Herrn Jesus als ihren Messias
Es mag natürlich dann auch Menschen angenommen haben. Es gab für diejeni-
geben, die sich rühmen, sich nicht die- gen, die unter dem Gesetz lebten, weder
sem Ritus unterzogen zu haben. Ihr ge- Frieden noch Barmherzigkeit, doch sind
samter Gottesdienst ist ein Aufruhr diese Eigenschaften Teil der neuen
gegen Zeremonien. Doch auch das hat Schöpfung.
letztlich keinen Wert. 6,17 Paulus, einst selbst Sklave des
Was vor Gott wirklich zählt, ist »eine Gesetzes, ist durch den Herrn Jesus von
neue Schöpfung«. Er möchte ein verän- dieser Knechtschaft befreit worden. Nun
dertes Leben sehen. Findlay schreibt: gehört er als williger Sklave dem Herrn.
»Das echte Christentum ist das, welches So wie Sklaven das Brandzeichen ihres
aus bösen Menschen gute macht, und Herrn trugen, so trug Paulus »die Mal-
Sklaven der Sünde zu Kindern Gottes.« zeichen Jesu an« seinem »Leib«. Worum
Alle Menschen gehören einer von zwei handelte es sich dabei? Es waren die Nar-
Schöpfungen an. Sie werden in die Welt ben, die er von seinen Verfolgern ge-
hineingeboren und sind deshalb sündig, schlagen bekommen hatte. Nun sagt er:
hilflos und verloren. Alle ihre Bemühun- »Niemand soll mich für sich in Anspruch
gen, sich selbst zu erlösen, oder Gott bei nehmen können. Sprecht mir nicht von
ihrer Erlösung durch gute Eigenschaften dem Brandmal der Beschneidung, das
oder gute Taten zu helfen, sind vergeb- die Knechtschaft des Gesetzes bezeich-
lich, und verändern sie nicht. Die »neue net. Ich trage das Brandmal meines neu-
Schöpfung« wird vom auferstandenen en Meisters, Jesus Christus.«
Christus regiert und umfaßt alle, die von 6,18 Der Apostel will nun seinen Stift
der Sünde erlöst sind und in ihm neues niederlegen. Doch muß er noch ein Wort

876
Galater 6

hinzufügen, bevor er schließen kann. Die Sabbatverteidiger fangen ihre


Welches Wort ist das? GNADE – das Wort, Predigt normalerweise damit an, daß sie
das sein Evangelium so sehr auszeichnet. die Erlösung durch den Glauben an
»Gnade«, nicht Gesetz. Das ist das The- Christus predigen. Sie benutzen alte
ma, mit dem er begonnen hat (1,3), und evangelische Choräle, um die Unauf-
mit ihm schließt er auch. »Die Gnade merksamen einzulullen, und scheinen
unseres Herrn Jesus Christus sei mit sehr viel Wert auf die Schrift zu legen.
eurem Geist, Brüder! Amen.« Doch schon bald stellen sie ihre Gefolg-
schaft unter das Gesetz des Mose, insbe-
sondere unter das Sabbatgebot. (Der Sab-
Exkurs über Gesetzlichkeit bat ist der siebte Tag der Woche, unser
Nachdem wir den Galaterbrief studiert Samstag oder Sonnabend.)
haben, könnte man meinen, daß Paulus Wie können sie das nur wagen ange-
die Gesetzeslehrer so gründlich be- sichts der eindeutigen Lehre des Paulus,
kämpft hat, daß das Thema in der daß der Christ dem Gesetz gegenüber tot
Gemeinde nie wieder aufkommen könn- ist? Wie kommen sie um die klaren Aus-
te. Doch die Geschichte und die Erfah- sagen des Galaterbriefes herum? Die
rung lehren uns leider anderes! Gesetz- Antwort liegt darin, daß sie eine scharfe
lichkeit ist ein so wichtiger Teil des Chri- Grenze zwischen dem Zeremonialgesetz
stentums geworden, daß die Menschen und dem Sittengesetz ziehen. Das Sitten-
der Ansicht sind, daß sie dazugehört. gesetz sind die Zehn Gebote. Das Zere-
Ja, die Gesetzeslehrer sind noch monialgesetz umfaßt die anderen von
immer unter uns. Wie sollen wir sonst Gott gegebenen Regeln, wie die Gebote
alle die Pastoren und Gemeindeleiter über unreine Speisen, über Aussatz, über
nennen, die z. B. lehren, daß Konfirmati- die Opfer usw.
on, Taufe oder Gemeindemitgliedschaft Das Sittengesetz, so sagen sie, ist nie-
notwendig für die Erlösung seien, daß mals angetastet worden. Es ist Ausdruck
das Gesetz eine Lebensregel für die Gläu- einer ewigen Wahrheit Gottes. Wer den
bigen sei, und daß wir durch den Glau- Götzen dient, einen Mord oder Ehebruch
ben gerettet sind, doch durch die Werke begeht, der wird immer Gottes Gesetz
im Glauben gehalten werden? Was ande- entgegenstehen. Das Zeremonialgesetz
res ist das, als jüdisches Gedankengut im dagegen, argumentieren sie weiter, ist in
Christentum, wenn wir aufgefordert Christus hinweggetan worden. Deshalb
werden, eine von Menschen ernannte folgern sie, daß Paulus, wenn er lehrt,
Priesterschaft zu akzeptieren, die eine daß der Christ dem Gesetz tot ist, vom
besondere Kleidung hat und Gebäude Zeremonialgesetz spricht und nicht von
kennt, die den Tempeln mit ihren steiner- den Zehn Geboten.
nen Altären und ihren ausufernden Weil das Sittengesetz noch immer
Ritualen nachgebildet sind, und ein Kir- gilt, müssen Christen es halten, so sagen
chenjahr, das nach Festen und Fastenzei- sie. Das bedeutet, daß sie den Sabbat hal-
ten aufgeteilt ist? ten müssen, und an diesem Tag nicht
Und was ist das anderes als eine gala- arbeiten dürfen. Sie sagen, daß einer der
tische Irrlehre, wenn Gläubige aufgefor- katholischen Päpste in ausgesprochener
dert werden, den Sabbat zu halten, weil Mißachtung der Schrift die Anweisung
sie sonst nicht errettet werden könnten? gegeben habe, statt dem Sabbat den
Moderne Gesetzesprediger brechen stark Sonntag zu halten.
in die Reihen derer ein, die ihren Glau- Diese Argumentation hört sich sehr
ben an Christus bezeugen, und aus die- ansprechend und logisch an. Doch wird
sem Grunde sollte sich jeder Gläubige diese Lehre durch die Tatsache verur-
vor ihren Lehren warnen lassen und sich teilt, daß sie völlig Gottes Wort wider-
lehren lassen, wie er auf diese Lehren spricht. Man beachte dazu die folgenden
antworten kann. Punkte:

877
Galater 6

1. In 2. Korinther 3,7-11 wird ausdrück- gesetz. Er hält immer wieder fest, daß
lich gesagt, daß die Zehn Gebote für das Gesetz eine Einheit bildet, und
die Christen in Christus »hinwegge- daß der Fluch auf denen ruht, die ver-
tan« (Elb) sind. In Vers 7 wird das suchen, durch das Gesetz Gerechtig-
Gesetz als »Dienst des Todes, mit keit zu erreichen und es letztendlich
Buchstaben in Steine eingegraben« doch nicht halten können.
beschrieben. Das kann nur das Sitten- 5. Neun der Zehn Gebote werden im
gesetz, nicht das Zeremonialgesetz NT als sittliche Unterweisung für die
sein. Nur die Zehn Gebote sind von Kinder Gottes wiederholt. Sie befas-
Gottes Finger auf Steinplatten sen sich mit Handlungen, die an sich
geschrieben worden (2. Mose 31,18). gut oder böse sind. Das Gebot, das
In Vers 11 lesen wir, daß der Dienst ausgelassen wird, ist das Sabbatge-
des Todes, obwohl er herrlich war, bot. Das Halten eines Tages ist nicht
»hinweggetan« wurde. Nichts kann an sich gut oder böse. Es gibt keine
endgültiger sein als das. Der Sabbat Anweisung an die Christen, den Sab-
hat für den Christen keine Ansprüche bat zu halten. Statt dessen sagt die
zu stellen. Schrift ausdrücklich, daß der Christ
2. Keinem Heiden wurde je befohlen, nicht dafür verurteilt werden kann,
den Sabbat zu halten. Das Gesetz war wenn er ihn nicht hält (Kol 2,16)!
ausschließlich dem jüdischen Volk ge- 6. Die Strafe für das Brechen des Sab-
geben (2. Mose 31,13). Obwohl Gott bats im AT war der Tod (2. Mose
selbst am siebten Tag ruhte, befahl er 35,2). Doch diejenigen, die heute dar-
niemand anderem es zu tun, bis er auf bestehen, daß die Gläubigen den
den Kindern Israel das Gesetz gab. Sabbat halten müssen, üben nicht die
3. Die Christen sind nie auf Anweisung Todesstrafe an Übertretern des Geset-
eines Papstes vom Sabbat auf den zes aus. Sie entehren so das Gesetz
ersten Tag der Woche übergegangen. und zerstören seine Autorität, indem
Wir heiligen den Tag des Herrn auf sie nicht darauf bestehen, daß seine
besondere Art für den Gottesdienst, Anweisungen gehalten werden. Sie
weil der Herr Jesus an diesem Tag sagen praktisch: »Das ist Gottes Ge-
von den Toten auferstanden ist, ein bot, und du mußt es halten, doch es
Zeichen dafür, daß das Erlösungs- wird nichts geschehen, wenn du es
werk vollkommen und vollständig brichst.«
war (Joh 20,1). Die ersten Christen 7. Christus, nicht das Gesetz, ist die Le-
trafen sich auch an diesem Tag, um bensregel des Christen. Wir sollen
das Brot zu brechen, um den Tod des wandeln, wie er gewandelt ist. Das ist
Herrn zu verkündigen (Apg 20,7), ein noch strengerer Maßstab als das
und es war der Tag, den Gott be- Gesetz (Matth 5,17-48). Uns wird
stimmt hat, an dem sie ihre Gaben durch den Heiligen Geist die Kraft
geben sollten, je nach dem der Herr gegeben, ein geheiligtes Leben zu
ihnen Reichtum geschenkt hatte führen. Wir wollen ein geheiligtes Le-
(1. Kor 16,1.2). Außerdem wurde der ben führen, weil wir Christus lieben.
Heilige Geist am ersten Tag der Die Gerechtigkeit, die vom Gesetz ge-
Woche auf die Erde gesandt. fordert wird, wird von denen erfüllt,
Christen »halten« den Tag des Herrn die nicht nach dem Fleisch, sondern
nicht als Mittel, um sich zu heiligen, nach dem Geist wandeln (Röm 8,4).
noch aus Furcht vor Strafe. Sie son- Deshalb ist die Lehre, daß die Gläubi-
dern ihn als liebevolle Hingabe an gen den Sabbat halten müssen, direkt der
den einen aus, der sich selbst für sie Schrift entgegengesetzt (Kol 2,26) und ist
hingab. schlicht und ergreifend ein »anderes
4. Paulus unterscheidet nicht zwischen Evangelium«, auf dem der Fluch Gottes
einem Sitten- und einem Zeremonial- ruht (Gal 1,7.9).

878
Galater 6

Möge jedem von Gott die Weisheit allen Angelegenheiten vom Herrn Jesus
gegeben werden, die schlimme Lehre der Christus abhängig sein. Mögen wir uns
Gesetzlichkeit in jeder Form aufzu- immer daran erinnern, daß Gesetzlich-
decken, in der sie auftreten mag! Mögen keit Gott beleidigt, weil sie einen Schat-
wir niemals versuchen, Rechtfertigung ten für wichtiger hält als die Realität –
oder Heiligung durch Zeremonien oder indem sie nämlich Zeremonien über
menschliche Bemühungen zu erlangen, Christus stellt.
sondern völlig und ausschließlich in

879
Anmerkungen

Anmerkungen 8) (2,21) W. M .Clow, The Cross in the


Christian Experience, S. 114.
9) (3,1) Das Griechische kennt zwar
1) (1,8.9) John Stott, Only One Way: The verschiedene Worte für das Wort
Message of Galatians, S. 27-28. »wer« im Plural und Singular, doch
2) (1,18-20) Der Mehrheitstext liest hier kann hier eine Antwort im Plural
Petrus, die griechisch-lateinische nicht ausgeschlossen werden.
Form des aramäischen Namens 10) (3,13) J. Lynddylan Jones, Studies in
Kephas. the Gospel According to St. John, S. 113.
3) (2,1) E. F. Kevan, The Keswick Week, 11) (3,20) Obwohl es scheinbar einen
1955, S. 29. Widerspruch zwischen der hier be-
4) (2,3) Die Beschneidung ist eine klei- nutzten Argumentation und der Tat-
ne chirurgische Operation, die am sache gibt, daß Christus später der
Mann vorgenommen wird. Als Gott Mittler des neuen Bundes genannt
sie Abraham und seinen Nachkom- wird (Hebr 9,15), wird an diesen bei-
men befahl, wollte er es als ein Zei- den Stellen das Wort »Mittler« in
chen seines Bundes mit ihnen ver- unterschiedlicher Bedeutung be-
standen wissen, nämlich, daß er ihr nutzt. Mose diente als Mittler, indem
Gott sei und sie sein Volk (1. Mose er einfach nur das Gesetz von Gott
17,1-11). Es war nicht nur ein äußeres empfing und es an das Volk Israel
Zeichen, sondern auch ein geistli- weitergab. Er war der Mittler, oder
ches Symbol. Abraham wurde zum der Vertreter des Volkes. Christus ist
Zeichen beschnitten, daß er an Gott jedoch in einem weit höheren Sinne
glaubte (Röm 4,11). Die Juden ver- der Mittler des neuen Bundes. Ehe
gaßen sehr schnell die geistliche Be- Gott gerechterweise die Segnungen
deutung der Beschneidung und dieses Bundes schenken konnte,
führten sie lediglich als Zeremonie mußte der Herr Jesus sterben. Ge-
aus. So wurde der Ritus in den nauso, wie nur der Tod den letzten
Augen Gottes wertlos. Willen und ein Testament in Kraft
Im NT wird die Beschneidung nicht setzt, so mußte der Neue Bund durch
mehr befohlen, weil Gott nun so- sein Blut besiegelt werden. Er mußte
wohl an Juden als auch an Heiden sich als Lösegeld für alle geben
durch Gnade handelt. In der Früh- (1. Tim 2,6). Christus sichert nicht nur
zeit der Gemeinde gab es eine die Segnungen des Bundes für sein
Gruppe jüdischer Gläubiger, die der Volk, sondern erhält sein Bundesvolk
Auffassung war, daß die Be- auch in einer Welt, die ihm feindlich
schneidung für die Errettung not- gegenübersteht. Das tut er als unser
wendig sei. Daher war diese Hohepriester und Anwalt, und auch
Gruppe als »die Beschneidung« das ist Teil seines Mittlerwerkes.
bekannt (Gal 2,12). 12) (3,24) Das griechische Wort paidago-
5) (2,3) Ein in etwa vollständiger Be- gos (von dem auch unser deutsches
richt dieser Zusammenkunft findet Wort »Pädagogik« abgeleitet ist), be-
sich in Apostelgeschichte 15. Er soll- deutet wörtlich »Kinderführer«. Die-
te ausführlich untersucht werden. ser war normalerweise ein Sklave
6) (2,11) S. Anmerkung 2. und hatte darauf zu achten, daß das
7) (2,13) Die Satzzeichen, einschließlich Kind in die Schule ging und wieder
der Fragezeichen, stellen spätere Zu- zurück kam. Manchmal lehrte er
sätze dar. Einige Ausleger sind der auch selbst.
Ansicht, daß das Zitat hier endet und 13) (4,7) Der kritische Text liest (und mit
werten Vers 15-21 als eine spätere ihm ER u. a.) einfach: Erbe durch Gott.
Erklärung des Paulus über seine 14) (4,7) Norman B. Harrison, His Side
Worte an Petrus. Versus Our Side, S. 71.

880
Anmerkungen

15) (4,13) Es gibt mehrere Theorien, was de« übersetzt, was Ehebruch ein-
die »Schwachheit des Fleisches« war, schließen würde. Doch ist es un-
an der Paulus litt. Eine Augenkrank- wahrscheinlich, daß Paulus hier
heit, deren es mehrere im Nahen nicht die zerstörerische Sünde der
Osten gibt, ist recht wahrscheinlich. ehelichen Untreue unter den Werken
Andere haben Malaria, Migräne, des Fleisches mit aufzählen würde.
Epilepsie und anderes vorgeschla- 23) (5,19-21) Der kritische Text läßt hier
gen. »Mord« (phonoi) aus. Weil dieses
16) (4,17) Stott, Galatians, S. 116. Wort dem vorhergehenden (phtonoi,
17) (5,1) C. H. Mackintosh, Genesis to Neid) gleicht, ist es verständlich, daß
Deutronomy, S. 232-33. es beim Abschreiben gelegentlich
18) (5,2) Jack Hunter, What the Bible Tea- ausgelassen wurde.
ches, Galatians – Philemon, S. 78. 24) (5,19-21) S. Anmerkung zu 1. Korin-
19) (5,4) C. F. Hogg und W. E. Vine, ther 6,9.
Epistle of Paul the Apostle to the Galati- 25) (Gal 5,22.23) Samuel Chadwick, zi-
ans, S. 241. tiert in: James A. Stewart, Pastures of
20) (5,13) Arthur T. Pierson, keine weite- Tender Grass, S. 253.
ren Angaben verfügbar. 26) (5,24) Die deutsche Sprache verlangt
21) (5,16) C. I. Scofield, keine weiteren hier Präsens Perfekt, als Überset-
Angaben verfügbar. zung des Aorist Indikativ estaurosan.
22) (5,19-21) NA läßt das Wort »Ehe- 27) Froude, keine weiteren Angaben
bruch« aus. Das Wort »Unzucht« verfügbar.
(porneia) wird oft mit »sexueller Sün-

881
Bibliographie

Bibliographie Ironside, Harry A.,


Expository Messages on the Epistle to the
Galatians,
Cole, Alan, New York: Loizeaux Brothers, 1941.
The Epistle of Paul to the Galatians,
Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans Kelly, William,
Publishing Company, 1965. Lectures on the Epistle of Paul the Apostle
to the Galatians,
Eadie, John, London: G. Morrish, o. J.
Commentary on the Epistle of Paul to the
Galatians, Lightfoot, J. B.,
Edinburgh: T. and T. Clark, 1884. The Epistle of St. Paul to the Galatians,
Harrison, Norman B., Grand Rapids: Zondervan Publishing
His Side Versus Our Side, House, 1962.
Minneapolis: The Harrison Service, 1940. Stott, John R.,
Hogg, C. F. and Vine, W. E., Only One Way: The Message of Galatians,
Epistle to the Galatians, Downers Grove, Il: Intervarsity Press,
Glasgow: Pickering and Inglis, 1922. 1968.

882
Der Brief an die Epheser
»Die Krone der Paulusschriften.«
J. Armitage Robinson

»Der Brief des Paulus über den dritten Himmel.«


A. T. Pierson

Einführung nem »Kanon« auf, nennt ihn allerdings


»Laodicäerbrief«. Auch das Muratori-
sche Fragment führt den Epheserbrief als
I. Die einzigartige Stellung im Kanon Paulusbrief auf.
In gewisser Hinsicht ist der Epheserbrief An inneren Beweisen wäre die Tatsa-
ein typischer Paulusbrief: Die Begrü- che zu nennen, daß der Autor sich selbst
ßung, die Danksagung, die Entwicklung zweimal Paulus nennt (1,1 und 3,1), und
seiner Lehren, auf die dann die Anwen- der Inhalt des Briefes dem Kolosserbrief
dung dieser Lehren als unsere Pflicht (in mancher Hinsicht) so ähnlich ist, daß
folgt, und die Schlußgrüße. Doch ist der sie zeitlich gesehen sehr nahe beieinan-
Epheserbrief, obwohl er ein echter Brief der abgefaßt worden sein müssen. Die
ist, fast wie eine Predigt oder sogar ein Struktur des Epheserbriefes ist, wie
christlicher Gottesdienst gestaltet, mit schon erwähnt, typisch paulinisch.
Gebeten und einem Lobpreis. In diesem Sicherlich, Paulus führt in diesem Brief
Brief »gehen wir«, wie Moorehead einige neue Gedanken ein, doch wenn
schreibt »ein in die Ruhe und Stille des ein Schriftsteller das nicht mehr tun
Heiligtums … Hier überwiegt die Atmo- konnte, ohne als Fälscher dazustehen,
sphäre der Ruhe, des Nachdenkens, der dann wäre die Möglichkeit für einen bi-
Anbetung und des Friedens.«
1) blischen Autoren wahrhaft gering, den
Trotz der Tatsache, daß viele Kom- Heiligen zur Reife zu verhelfen!
mentatoren mit Robinsons oben zitierter Der deutsche Liberaltheologe Schleier-
Aussage übereinstimmen, behaupten macher war wohl der erste, der die pau-
einige moderne Gelehrte im Gegensatz linische Verfasserschaft abgelehnt hat.
zu den achtzehn oder neunzehn Jahr- Viele moderne Theologen folgen seiner
hunderten christlicher Lehre, daß Paulus Auffassung, etwa Moffat und Goodspeed.
den Epheserbrief nicht geschrieben Vokabular, Stil, »entwickelte« Lehre und
haben könne. Doch ist das angesichts der andere subjektive Argumente müssen
Tatsachen eine gültige Behauptung? dafür herhalten, dieses Buch dem Apostel
abzusprechen. Doch jede einzelne dieser
Theorien kann zufriedenstellend falsifi-
II. Verfasserschaft ziert werden. Angesichts der überwäl-
Es gibt viele äußere Beweise dafür, daß der tigenden äußeren Beweise und der
Epheserbrief ein echter Paulusbrief ist. großen Anzahl gelehrter Kommenta-
Kein anderer Paulusbrief hat solch eine toren, die den Epheserbrief als nicht nur
frühe und beständige Bezeugung erfah- im Geist völlig paulinisch ansehen, son-
ren, beginnend bei Clemens von Rom, dern, wie es Coleridge ausgedrückt hat,
Ignatius, Polykarp und Hermas bis hin ihn als seinen »göttlichsten Brief« be-
zu Clemens von Alexandrien, Irenäus zeichnen, sollte der Brief als echt ange-
und Hippolyt. Marcion führt ihn in sei- nommen werden.
883
Epheser

III. Datierung Gnade Gottes gerettet werden, wie sie


Mit dem Kolosser-, dem Philipper- und mit Gott und untereinander versöhnt
dem Philemonbrief ist der Epheserbrief werden, wie sie, in Gemeinschaft mit
einer der Gefangenschaftsbriefe. Um wel- Christus, zu einem neuen Menschen
che Gefangenschaft es hier geht (3,1; 4,1), werden, und wie sie einen heiligen Tem-
ist viel diskutiert worden. Während eini- pel bilden, in dem Gott durch seinen Hei-
ge der Ansicht sind, daß der Brief wäh- ligen Geist wohnt.
rend des zweijährigen Aufenthaltes in Kapitel 3 gibt uns die vollständigste
Cäsarea oder einer nicht beweisbaren Erklärung des Geheimnisses. Es wird
Haft in Ephesus geschrieben worden ist, »das Geheimnis des Christus« genannt
scheinen die meisten Hinweise auf die (V. 4), womit Christus, das Haupt, und
erste römische Gefangenschaft hinzu- alle Gläubigen, sein Leib, gemeint sind.
weisen (kurz nach 60 n. Chr.). Wie der In diesem Leib sind die gläubigen Hei-
Kolosserbrief (4,7-9) wurde dieser Brief den Miterben, Mit-Glieder und haben
von Tychikus in die Provinz Asien beför- Anteil an Gottes Verheißung (V. 6).
dert (6,21.22). Das erklärt die Ähnlichkeit Kapitel 4 betont die Einheit des Lei-
des lehrmäßigen Inhalts, weil den Apo- bes und Gottes Plan zu seinem Wachs-
stel dieselben Gedanken beschäftigten, tum zur Reife (V. 1-16).
als er die Briefe schrieb. In Kapitel 5 wird das Geheimnis
»Christus und seine Gemeinde« genannt
IV. Hintergrund und Thema (V. 32). Die Beziehung zwischen Christus
Das Hauptthema des Epheserbriefes ist und der Gemeinde ist das Vorbild für die
»das Geheimnis«, wie Paulus es nennt. Beziehung zwischen einem gläubigen
Damit meint er nicht etwas, das man Ehemann und seiner Frau.
nicht erklären könnte, sondern eine wun- Schließlich spricht Paulus in Kapitel 6
derbare Wahrheit, die bisher noch nicht noch vom Geheimnis des Evangeliums,
offenbart worden ist, aber nun bekannt für das er ein Botschafter in Ketten war
gemacht wird. (V. 19.20).
Diese unterschwellige Wahrheit, die Man versuche sich den Eindruck vor-
das Thema des Buches bildet, ist die An- zustellen, den diese Neuigkeiten auf die
kündigung, daß gläubige Juden und Heiden gemacht haben, an die der Brief
gläubige Heiden nun eins in Christus gesandt war. Sie waren nicht nur durch
sind. Sie sind zusammen Glieder der Ge- die Gnade mittels des Glaubens gerettet,
meinde, des Leibes Christi. Sie sind ge- auf dieselbe Weise wie die Juden, son-
genwärtig in Christus im Himmel. In der dern sie erhalten hier zum ersten Mal
Zukunft werden sie Christi Herrlichkeit eine gleiche Vorrechtsstellung mit ihnen.
als Haupt über alles teilen. Sie sind in keiner Weise mehr in ihrer
Dieses Geheimnis findet sich in allen Stellung vor Gott unterlegen. Und sie
sechs Kapiteln des Epheserbriefes. sind dazu bestimmt, mit Christus als sein
In Kapitel 1 wird es das »Geheimnis Leib und seine Braut den Thron zu be-
des Willens Gottes« genannt, und bezieht steigen, und damit die Herrlichkeit sei-
sich auf die Zukunft, wenn alles im Him- ner universellen Herrschaft zu teilen.
mel und auf Erden in dem einen Haupt Ein anderes wichtiges Thema des
Christus zusammengefaßt wird (V. 9.10). Epheserbriefes ist die Liebe (Gr. agape,
Gläubige Juden (V. 11: wir) und gläubige die Liebe, die sich durch den Willen aus-
Heiden (V. 13: ihr) werden an diesem Tag drückt). Paulus beginnt und endet seinen
Anteil an der Herrlichkeit erlangen. Sie Brief mit dieser Vorstellung (1,4; 6,24),
werden mit Jesus Christus als sein Leib und benutzt das Verb und das Nomen im
über das gesamte Universum und seine Epheserbrief öfter als in allen anderen
Fülle herrschen (V. 22.23). Briefen. Das mag die Voraussicht des
Kapitel 2 beschreibt den Prozeß, Heiligen Geistes zeigen, denn obwohl
durch den Juden und Heiden mittels der dreißig Jahre später die große und aktive

884
Epheser 1

Gemeinde noch immer dem Gebot ge- die Epheser sagen, daß er gegen sie hat,
horchte, falsche Lehren zu bekämpfen, daß sie die erste Liebe verlassen haben
muß der Herr ihnen in seinem Brief an (Offb 2,4).

Einteilung II. Die Praxis der Gläubigen in dem


Herrn (Kap. 4 – 6)
A. Aufruf zur Einheit in der
I. Die Stellung des Gläubigen in christlichen Nachfolge (4,1-6)
Christus (Kap. 1 – 3) B. Programm für das richtige
A. Begrüßung (1,1.2) Zusammenarbeiten der Glieder
B. Das Gotteslob des Paulus für die des Leibes (4,7-16)
Segnungen der Gnade (1,3-14) C. Aufruf zu einem neuen
C. Paulus’ Dank und Gebet für die Lebenswandel (4,17 – 5,21)
Heiligen (1,15-23) D. Aufruf zur persönlichen
D. Gottes Macht zeigt sich in der Frömmigkeit in der christlichen
Erlösung von Heiden und Juden Familie (5,22 – 6,9)
(2,1-10) E. Ermahnungen zur christlichen
E. Die Einheit der gläubigen Juden Kampfführung (6,10-20)
und Heiden in Christus (2,11-22) F. Die persönlichen Grüße des
F. Ein Einschub über das Geheimnis Paulus (6,21-24)
(3,1-13)
G. Paulus’ Gebet für die Heiligen
(3,14-19)
H. Paulus’ Lobpreis (3,20.21)

Kommentar offenbart worden ist (3,5), ist es nur pas-


send, daß Paulus sich hier selbst als
»Apostel« vorstellt. Es war kein Kennzei-
I. Die Stellung des Gläubigen in chen von Stolz, daß er das tat, sondern
Christus (Kap. 1 – 3) eine Erklärung, warum er mit solcher
Autorität über das Thema sprechen
A. Begrüßung (1,1.2) konnte. Die Quelle seiner Autorität wird
1,1 Der Name »Paulus« bedeutet »klein«. durch die Worte ausgedrückt: »Durch
Obwohl er vielleicht körperlich dieser Gottes Willen.« Paulus wählte seine Be-
Beschreibung entsprochen haben mag, schäftigung nicht selbst. Und es war kein
so war doch sein geistlicher Einfluß Mensch, der ihn ernannt hat, sie zu tun.
außerordentlich groß. Er stellt sich selbst Es handelte sich von Anfang bis Ende
als »Apostel Christi Jesu« vor. Das be- um eine göttliche Berufung (Gal 1,1).
deutet, daß er von dem auferstandenen Der Brief ist an die »Heiligen und an
Herrn ausgesandt worden war, um eine Christus Jesus Gläubigen, die in Ephesus
besondere Mission zu erfüllen. Diese sind« gerichtet. »Heilige« sind Men-
Mission war, das Evangelium den Heiden schen, die von Gott aus der Welt aus-
zu predigen und die großen Wahrheiten gesondert worden sind. Das Wort ist ein
über die Gemeinde zu lehren (3,8.9). Weil Name, der im NT für alle wiederge-
der Epheserbrief sich mit der Gemeinde borenen Gläubigen benutzt wird. Nor-
beschäftigt, und weil diese Wahrheit malerweise bezieht sich das Wort eher
zuerst durch die Apostel und Propheten auf die Stellung eines Gläubigen in
885
Epheser 1

Christus als auf das, was er an sich ist. »In ten sie den »Frieden« von Gott, d. h. die
Christus« sind alle Gläubigen »Heilige«, ruhige, zufriedenene Haltung, die von
auch wenn sie an sich nicht immer heilig den Umständen unabhängig ist und aus
leben. So hat Paulus etwa die Korinther der Gewohnheit entspringt, alles mit
als Heilige angesprochen (1. Kor 1,2), Gott im Gebet zu besprechen (Phil 4,6.7).
auch wenn aus dem Brief hervorgeht, daß Es ist wichtig festzuhalten, daß die
sie alles andere als ein geheiligtes Leben »Gnade« zuerst kommt, dann erst der
führten. Doch Gottes Wille ist es, daß »Friede«. Das ist immer die Reihenfolge.
unsere Lebensführung unserer Stellung Nachdem die »Gnade« die Sündenfrage
entspricht: Heilige sollten heilig leben. gelöst hat, kann man echten »Frieden«
»Und an Christus Jesus Gläubigen.« erfahren. Und nur durch die unverdiente
Das Wort Gläubige ist eine Beschreibung Kraft, die Gott uns jeden Tag gibt, kann
aller wahren Christen. Das Wort kann der Gläubige »Frieden« erfahren, voll-
jedoch auch »treu« bedeuten. Natürlich kommenen »Frieden« in allen sich wan-
sollten Christen auch treu sein, indem sie delnden Lebensumständen.
zuverlässig und vertrauenswürdig sind. »Gnade« (charis) ist ein typisch grie-
Doch geht es hier in erster Linie darum, chisches Wort. Die Juden dagegen benut-
daß sie »Christus Jesus« als ihren ein- zen das Wort »Frieden« als Gruß (hebr.
zigen Herrn und Erretter angenommen schalom). Wenn man beide zusammen
haben. nimmt, dann haben wir hier »das Evan-
Zwei der ältesten Manuskripte lassen gelium in der Nußschale« für die ganze
die Worte »in Ephesus« aus, obwohl sie Welt. Wenn wir sie zusammen sehen,
in den meisten Handschriften enthalten dann finden wir darin die Wahrheit der
sind. Viele Gelehrte sind der Ansicht, NTlichen Gemeinde, die Paulus so aus-
daß es sich hier um einen Rundbrief ge- führlich im Epheserbrief beschreibt –
handelt hat, der von vielen örtlichen Ge- Juden und Christen vereint in einem Leib
meinden an verschiedenen Orten gelesen in Christus.
werden sollte, von denen die in Ephesus »Gnade … und Friede« kommen »von
die wichtigste war. Jedoch betrifft diese Gott, unserem Vater, und dem Herrn
Frage weder die Echtheit des Briefes Jesus Christus«. Paulus zögerte nicht, den
noch seinen Wert für uns. Herrn Jesus mit Gott dem Vater auf die-
1,2 Als nächstes steht nun der Gruß selbe Stufe zu stellen: Er ehrte den Sohn
des Apostels an die Heiligen. Jedes Wort gleichermaßen wie den »Vater«. Das soll-
ist von außerordentlicher geistlicher Be- te auch so sein (Joh 5,23).
deutung – ganz anders, als so mancher Wir sollten nicht die wunderbare Ver-
bedeutungslose Gruß, den wir heute be- bindung der Worte »Gott, unser Vater«
nutzen. übersehen. Das Wort Gott alleine würde
»Gnade« bedeutet göttliche Hilfe für jemanden nahelegen, der unendlich hoch
unser tägliches Leben. Die Leser des Pau- und unerreichbar ist. Der Name »Vater«
lus waren schon durch die Gnade Gottes hingegen spricht von dem, der uns ganz
gerettet worden, durch sein unverdientes nahe und erreichbar ist. Wenn wir die
Wohlwollen den Verlorenen gegenüber. beiden nun mit dem Pronomen »unser«
Doch nun brauchten sie Kraft »von verbinden, dann haben wir die erstaunli-
Gott«, um sich den Problemen, Ver- che Wahrheit, daß der hohe und erhabe-
suchungen und Sorgen des täglichen ne Gott, der in der Ewigkeit wohnt, der
Lebens zu stellen. Das wünscht ihnen der liebevolle Vater eines jeden ist, der durch
Apostel hier. den Glauben an den Herrn Jesus wieder-
»Friede« bedeutet, daß der Geist in geboren ist.
allen sich ändernden Umständen des Der vollständige Titel unseres Hei-
Lebens ruhig bleibt. Die Heiligen hatten landes ist »Herr Jesus Christus«. Als
schon den Frieden mit Gott erfahren, als Herr ist er unser uneingeschränkter Be-
sie sich bekehrten. Doch täglich brauch- fehlshaber, der ein Anrecht hat auf alles,

886
Epheser 1

was wir sind und haben. Als »Jesus« ist erklären, indem man diesen Segen mit
er unser Erlöser von der Sünde. Und als den Segnungen Israels unter dem Gesetz
Christus ist er unser von Gott gesalbter vergleicht. Im AT wurde ein treuer,
König, Priester und Prophet. Wie viel gehorsamer Jude mit langem Leben,
kann allein sein Name doch dem hören- einer zahlreichen Familie, reichlicher
den Ohr mitteilen! Ernte und Schutz vor seinen Feinden be-
lohnt (5. Mose 28,2-8). Die Segnungen
B. Das Gotteslob des Paulus für die des Christentums sind im Gegensatz
Segnungen der Gnade (1,3-14) dazu »geistlich«, d. h., sie betreffen im-
1,3 Nach seinem kurzen Gruß erhebt der materielle, unsichtbare und unvergäng-
Apostel seine Stimme zu einem wunder- liche Schätze. Es stimmt, daß die Hei-
baren Lobgesang, und bewegt sich dabei ligen des AT auch geistliche Segnungen
in den größten Höhen NTlicher Anbe- erhielten, doch werden wir sehen, daß
tung. Hier finden wir ein Herz, das über- die Christen heute Segnungen erhalten,
fließt im Lob der göttlichen Segnungen. die im AT unbekannt waren.
In diesen Versen (3-14) geht Paulus Got- Unsere Segnungen sind »in der Him-
tes Handeln nach: von der vergangenen melswelt« (wrtl. in den Himmlischen). Der
Ewigkeit durch die Zeit hin in die zu- Ausdruck »in der Himmelswelt« wird
künftige Ewigkeit. Und damit kommt er im Epheserbrief fünfmal benutzt:
unausweichlich auf das Geheimnis des 1,3 Der Bereich unserer geistlichen Seg-
Willens Gottes zu sprechen, – gläubige nungen.
Juden und Heiden als Teilhaber des herr- 1,20 Der Ort, an dem Christus gegen-
lichen Erbes. wärtig regiert.
Er beginnt, indem er alle aufruft, die 2,6 Der Ort, an dem wir gegenwärtig in
Gott kennen, ihn zu preisen, d. h. Gottes Christus regieren.
Herzen Freude zu machen, indem sie ihn 3,10 Der Ort, von dem aus die Engel Got-
loben und in Liebe anbeten. Der Gepriese- tes Weisheit, wie sie sich in der Gemeinde
ne ist »der Gott und Vater unseres Herrn zeigt, beobachten können.
Jesus Christus«. Bei bestimmten Gelegen- 6,12 Der Ort, der die Quelle unseres
heiten redete Jesus den Vater als Gott an gegenwärtigen Konflikts mit den bösen Gei-
(Matth 27,46). Dann wieder sprach er ihn stern ist.
als seinen Vater an (Joh 10,30). Wenn wir diese Abschnitte zusam-
Der Gepriesene ist gleichzeitig der men sehen, dann haben wir eine wirklich
Segnende. Er segnet uns und macht uns schriftgemäße Definition des Begriffes
froh, indem er uns die Reichtümer seiner »Himmelswelt«. Wie Unger es aus-
Gnade schenkt. drückt: Sie ist »das Reich der Stellung
»Er hat uns gesegnet mit jeder geistli- und der Erfahrung des Gläubigen, die
chen Segnung in der Himmelswelt in auf seiner Vereinigung mit Christus
Christus.« Hier haben wir eine Gnaden- durch die Taufe mit dem Heiligen Geist
pyramide: beruht«. Alle »geistlichen Segnungen«
Segnung erhalten wir in Christus. Er war derjenige,
geistliche Segnung der sie für uns durch sein vollendetes
jede geistliche Segnung Werk auf Golgatha erlangte. Nun sind sie
jede geistliche Segnung in der für uns in ihm erreichbar. Alles, was Gott
Himmelswelt für den Gläubigen vorgesehen hat, liegt
jede geistliche Segnung in der im Herrn Jesus bereit. Um diese Segnun-
Himmelswelt in Christus gen empfangen zu können, müssen wir
Man beachte zunächst, wie vorbe- durch den Glauben mit Christus eins
haltlos Gottes Herz und Hände geben – sein. In dem Augenblick, in dem der
»jede geistliche Segnung«. Man beachte Mensch in Christus ist, wird er zum
auch, daß es hier um geistlichen Segen Eigentümer all dieser Segnungen. Chafer
geht. Das kann man am einfachsten schreibt: »Wer in Christus ist – das ist

887
Epheser 1

unser aller Erbe, die wir Christus an- licht es uns, solch scheinbar gegensätzli-
gehören – d. h., an allem Anteil zu haben, che Verse wie die folgenden miteinander
was Christus getan hat, was er jetzt ist, zu vereinbaren:
2)
und was er einmal sein wird.« Gläubige sind Gläubige sollten
In Christus ist eines der Schlüsselwor- vollkommen vollkommen sein
te des Epheserbriefes. Es gibt zwei eng (Hebr 10,14) (Matth 5,48)
verbundene Wahrheitslinien im NT – die
Gläubige sind der Gläubige sollten sich
Wahrheit seiner Stellung und die Wahr-
Sünde abgestorben selbst der Sünde für
heit seines praktischen Lebens.
(Röm 6,2) tot halten (Röm 6,11)
Zunächst kommt die Stellung des
Gläubigen. Jeder Mensch auf der Welt ist Die Gläubigen sind Gläubige sollten
entweder »in Adam« oder »in Christus«. ein heiliges Volk heilig sein
Diejenigen, die »in Adam« sind, leben (1. Petr 2,9) (1. Petr 1,15)
noch in ihren Sünden und stehen deshalb Die erste Spalte handelt von der Stel-
unter dem Urteil Gottes. Es gibt nichts, lung, die zweite vom gegenwärtigen
was sie selbst tun können, um Gott zu Zustand.
gefallen oder sein Wohlwollen zu erlan- Der Brief des Paulus an die Epheser
gen. Sie haben keine Ansprüche an Gott, ist selbst in zwei Teile gegliedert, die die-
und wenn sie erhalten würden, was sie ser Wahrheit entsprechen: Kap. 1 – 3 be-
verdient haben, dann würden sie auf handelt unsere Stellung – was wir in
ewig verloren gehen. Christus sind; Kap. 4 – 6 behandelt unse-
Wenn ein Mensch sich bekehrt, dann ren praktischen Zustand – wie wir sein
sieht ihn Gott nicht länger als verurteiltes sollten. Die erste Hälfte hat mit Lehre, die
Kind Adams an. Statt dessen sieht er ihn zweite mit Pflicht zu tun. In den ersten
»in Christus« und nimmt ihn auf dieser drei Kapiteln wird unsere Stellung oft
Grundlage an. Es ist wichtig, das zu ver- mit solchen Ausdrücken wie »in Chri-
stehen. Der gläubige Sünder wird nicht stus«, »in Christus Jesus«, »in ihm« und
wegen seiner Eigenschaften angenom- »in welchem« beschrieben. In den letzten
men, sondern weil er »in Christus« ist. drei Kapiteln wird der Ausdruck »im
Wenn er »in Christus« ist, dann steht er Herrn« oft benutzt, um die Verantwor-
in alle Gerechtigkeit Christi gekleidet vor tung des Gläubigen gegenüber Christus
Gott. Und er wird Gottes Wohlwollen so als seinem Herrn zu betonen. Jemand hat
lange wie Christus besitzen, nämlich für einmal schön gesagt, daß der erste Teil
immer. den Gläubigen in der Himmelswelt bei
Die Stellung des Gläubigen nun ist Christus zeigt, während der zweite Teil
das, was er »in Christus« ist. Doch gibt es ihn in der Küche darstellt.
noch eine andere Seite des Bildes – das Nun sind wir bereit, einige der »geist-
praktische Leben des Gläubigen. Das ist, lichen« Segnungen »in der Himmels-
was er in sich selbst ist. Seine Stellung ist welt« zu betrachten, die uns »in Chri-
vollkommen, doch sein praktisches Le- stus« gehören.
ben ist unvollkommen. Nun ist es Gottes 1,4 Als erstes wird die sogenannte
Willen, daß die Praxis des Gläubigen »Erwählung« behandelt. »Wie er uns in
immer mehr seiner Stellung entspricht. ihm auserwählt hat vor Grundlegung
Das wird erst dann völlig der Fall sein, der Welt, daß wir heilig und tadellos vor
wenn er im Himmel ist. Doch der Vor- ihm seien in Liebe.«
gang der Heiligung, des Wachstums und Man beachte zuerst die positive Tat-
der wachsenden Christusähnlichkeit sache der Erwählung in den Worten: »Er
sollte ständig in Gang gehalten werden, hat uns auserwählt.« Dann haben wir
während er noch hier auf Erden ist. wieder die Wahrheit unserer Stellung
Wenn wir den Unterschied zwischen ausgedrückt; »In ihm«: In der Person
der Stellung des Gläubigen und seinem und im Werk des Herrn Jesus Christus
Zustand verstanden haben, so ermög- werden alle Pläne Gottes für sein Volk

888
Epheser 1

verwirklicht. Die Zeit der Erwählung Die Lehre von der Erwählung gibt
durch Gott wird durch den Ausdruck Gott seine rechtmäßige Stellung. Er ist
»vor Grundlegung der Welt« beschrie- souverän, d. h. er kann tun, was ihm ge-
ben. Und der Zweck der Erwählung ist, fällt, obwohl es ihm nie gefällt, etwas
»daß wir heilig und tadellos vor ihm sei- Ungerechtes zu tun. Hat Gott etwa nicht
en in Liebe«. Dieser Zweck wird erst völ- das Recht, einigen Gnade zu erweisen?
lig erfüllt werden, wenn wir bei ihm im Doch gibt es noch eine andere Seite
Himmel sind (1. Joh 3,2), doch der Pro- der Medaille. Dieselbe Bibel, die die sou-
zeß sollte schon in unserem Leben hier veräne Erwählung lehrt, lehrt auch die
auf der Erde beginnen und ständig fort- menschliche Verantwortlichkeit. Nie-
geführt werden. mand kann die Lehre von der Erwählung
Gebet: »Herr, heilige mich jetzt, weil als Ausrede benutzen, sich nicht erretten
das Dein endgültiges Ziel für mich ist. zu lassen. Gott bietet allen Menschen
Amen.« ohne Vorbedingung die Erlösung an (Joh
3,16; 3,36; 5,24; Röm 10,9.13). Jeder kann
erlöst werden, indem er seine Sünden
Exkurs zur göttlichen Erwählung bereut und an den Herrn Jesus Christus
Die Lehre von der Erwählung schafft für glaubt. Deshalb geht ein Mensch verlo-
den menschlichen Geist einige Probleme, ren, weil er sich dafür entscheidet, nicht
deshalb müssen wir hier etwas ausführli- weil Gott es so will.
cher darauf eingehen, was die Bibel zu Die Tatsache bleibt bestehen, daß die-
diesem Thema lehrt und was nicht. selbe Bibel sowohl die Erwählung als
Zunächst einmal lehrt sie, daß Gott auch die bedingungslose Erlösung für alle
Menschen zur Erlösung erwählt (2. Thess lehrt, die sie empfangen wollen. Man
2,13). Sie spricht die Gläubigen an als sol- kann sogar beide Lehren in einem Vers
che, »die auserwählt sind nach Vorkennt- finden: »Alles, was mir der Vater gibt,
nis Gottes« (1. Petr 1,1.2). Sie lehrt, daß wird zu mir kommen, und wer zu mir
Menschen durch ihre Reaktion auf das kommt, den werde ich nicht hinaus-
Evangelium wissen können, ob sie er- stoßen« (Joh 6,37). Die erste Hälfte dieses
wählt sind: Diejenigen die hören und Verses spricht von Gottes souveräner Er-
glauben, sind erwählt (1. Thess 1,4-7). wählung, die zweite Hälfte dehnt das An-
Andererseits lehrt die Bibel nirgend- gebot der Gnade auf alle Menschen aus.
wo, daß Gott Menschen zum Verloren- Für den menschlichen Geist stellt dies
sein erwählt. Die Tatsache, daß er einige eine Schwierigkeit dar. Wie kann Gott
erwählt, gerettet zu werden, sagt nicht einige erwählen und doch allen die Erlö-
aus, daß er den Rest willkürlich verur- sung anbieten? Ehrlich gesagt, das bleibt
teilt. Er wird niemals Menschen verurtei- ein Geheimnis. Aber es ist nur für uns ein
len, die es verdient haben, gerettet zu Geheimnis, nicht für Gott. Am besten
werden (es gibt solche Menschen nicht), glauben wir beide Lehren, weil die Bibel
sondern er rettet einige, die eigentlich beide lehrt. Die Wahrheit findet sich
verurteilt werden müßten. Wenn Paulus nicht irgendwo zwischen der Erwählung
die Erwählten beschreibt, so nennt er sie und dem freien Willen des Menschen,
»Gefäße der Begnadigung …, die er zur sondern in beiden Extremen. W. G. Blai-
Herrlichkeit vorher bereitet hat« kie faßt zusammen:
(Röm 9,23); doch wenn er von den Verlo- Göttliche Souveränität, die menschliche
renen spricht, so sagt er einfach: »Gefäße Verantwortlichkeit und das bedingungslose
des Zorns …, die zum Verderben zube- und allgemeine Angebot der Gnade sind alle
reitet sind« (Röm 9,22). Gott bereitet Ge- in der Schrift enthalten, und obwohl wir sie
fäße der Begnadigung zur Herrlichkeit, mit unserer Logik nicht in Einklang bringen
aber er bereitet keine Menschen zur Ver- können, sollten sie doch alle ihren festen
dammnis: Das tun sie selbst durch ihren Platz in unserem Denken haben.3)
eigenen Unglauben.

889
Epheser 1

1,5 Die zweite geistliche Segnung aus te nicht eher zufrieden sein, ehe er sich
Gottes Gnadenschatz ist die Prädestina- nicht mit Kindern umgeben hatte, die in
tion oder Vorherbestimmung. Obwohl das Bildnis seines eingeborenen Sohnes
sie mit der Erwählung verwandt ist, han- geformt sind, die immer bei ihm und ihm
delt es sich dennoch nicht um dasselbe. ähnlich sind.
Die Erwählung zeigt, wie Gott Menschen 1,6 »Zum Preise der Herrlichkeit sei-
zur Erlösung erwählt. Doch die Prädesti- ner Gnade, mit der er uns begnadigt hat
nation ist mehr als das: Sie bedeutet, daß in dem Geliebten.« Als Paulus über die
Gott schon vor der Zeit bestimmt hat, Gnade Gottes zunächst in der Erwäh-
daß alle, die gerettet werden, auch in sei- lung und dann in der Vorherbestimmung
ne Familie als »Söhne« aufgenommen zur Sohnschaft nachdenkt, beendet er
werden. Er hätte uns erlösen können, seine Überlegungen mit diesem Refrain,
ohne uns die »Sohnschaft« zu schenken, der gleichzeitig Ausruf, Erklärung und
doch er möchte uns beides schenken. Ermahnung ist. Es ist ein Ausruf – ein
Viele Übersetzungen verbinden die heiliges Erschüttern angesichts der trans-
letzten beiden Worte von Vers 4 folgen- zendenten Herrlichkeit solcher Gnade.
dermaßen mit Vers 5: »In seiner Liebe hat Es ist eine Erklärung, daß das Ziel und
er uns dazu vorherbestimmt« (LU1984). das Ergebnis der Gnade Gottes an uns
Das erinnert uns an die einzigartige seine eigene »Herrlichkeit« ist. Ihm ge-
Haltung, die Gott dazu geführt hat, uns hört ewige Anbetung für solch unver-
so gnädig zu behandeln. gleichliches Wohlwollen. Man beachte
Wir finden die Tatsache unserer herr- die Bedingung seiner »Gnade« – »er hat
lichen »Sohnschaft« in diesem Vers: »Er begnadigt«. Die Empfänger seiner »Gna-
hat … uns vorherbestimmt zur Sohn- de« – »uns«. Der Kanal seiner »Gnade« –
schaft.« Im NT bedeutet Annahme an »in dem Geliebten«. Schließlich handelt
Kindes Statt, daß der Gläubige als reifer, es sich um eine Ermahnung. Paulus sagt
erwachsener Sohn in die Familie Gottes hier: »Laßt uns ihn preisen für seine herr-
aufgenommen wird, und zwar mit allen liche Gnade.« Ehe wir weitergehen, soll-
Vorrechten und aller Verantwortlichkeit ten wir das tun!
(Gal 4,4-7). Der Geist der Annahme an Großer Gott der Wunder! Alle Deine
Sohnes Statt schenkt dem Gläubigen den Wege
Wunsch, Gott als Vater anzusprechen zeigen Deine göttlichen Eigenschaften,
(Röm 8,15). doch die große Herrlichkeit deiner Gnade
Unsere Sohnschaft manifestiert sich überstrahlt alle Deine anderen Wunder:
»durch Jesus Christus«. Gott hätte uns Wo ist solch ein vergebender Gott wie
niemals in diese Stellung der Nähe und Du?
Intimität zu sich einsetzen können, so- Oder wessen Gnade ist so reichlich und
lange wir noch in unseren Sünden lebten. so großzügig?
Deshalb kam der Herr Jesus auf die Erde Samuel Davies
und löste durch seinen Tod, sein Begräb- 1,7 Wenn wir den erhabenen Bogen
nis und seine Auferstehung die Sünden- nachzeichnen, der sich in Gottes ewigem
frage zur Zufriedenheit Gottes. Es ist der Plan für sein Volk zeigt, so kommen wir
unendliches Wert seines Opfers auf als nächstes zur Tatsache der »Erlösung«.
Golgatha, das die gerechte Grundlage Sie beschreibt den Aspekt des Werkes
schafft, auf der uns Gott als Söhne anneh- Christi, durch das wir von der Knecht-
men kann. schaft und der Schuld der Sünde befreit
Und all das geschah »nach dem wurden und uns ein Leben der Freiheit
Wohlgefallen seines Willens«. Das ist die geschenkt wurde. Der Herr Jesus ist der
souveräne Motivation hinter unserer Erlöser (»in ihm haben wir die Erlö-
Vorherbestimmung. Hier wird die Frage sung«). Wir sind die Erlösten. »Sein Blut«
beantwortet: »Warum hat er das getan?« ist der Opferpreis, nichts geringeres
Einfach, weil es ihm wohlgefiel. Er konn- reichte aus.

890
Epheser 1

Eine der Folgen der Erlösung ist die nommen hat in sich selbst« ausgedrückt
»Vergebung der Vergehungen«. »Verge- wird.
bung« ist nicht dasselbe wie »Erlösung«, 1,10 Nun beginnt Paulus mit einer
sondern eine ihrer Früchte. Christus ausführlicheren Erklärung des geheimen
mußte unsere Sünden voll und ganz be- Planes Gottes, und in diesem Kapitel
gleichen, ehe uns vergeben werden denkt er in erster Linie an den zukünfti-
konnte. Das wurde am Kreuz erledigt. gen Aspekt des Geheimnisses. Die Kapi-
Und nun gilt: tel 2 und 3 werden weiteres Licht auf den
Harte Gerechtigkeit kann nicht mehr gegenwärtigen Aspekt des Geheimnisses
verlangen werfen.
und nun kann die Gnade ihren Die Zeit, die Paulus hier im Blick hat,
Reichtum über uns ausschütten. wird durch den Ausdruck »Verwaltung«
Das Maß unserer »Vergebung« wird (gr. oikonomia) »der Erfüllung der Zei-
mit den Worten beschrieben: »Nach dem ten« beschrieben. Wir verstehen das so,
Reichtum seiner Gnade.« Wenn wir den daß er sich hier auf das Tausendjährige
»Reichtum« der »Gnade« Gottes ermes- Reich bezieht, wenn Christus auf die
sen können, dann können wir auch Erde wiederkehren wird, um als König
ermessen, wie er uns vergeben hat. Seine der Könige und Herr der Herren zu
»Gnade« ist unermeßlich! Und ebenso regieren. Gott hat eine spezielle Verwal-
seine »Vergebung«! tung oder einen besonderen Plan für die-
1,8 Er hat uns in Gnade erwählt, vor- se letzte Zeit der menschlichen Geschich-
herbestimmt und erlöst. Doch das ist te auf Erden.
noch nicht alles. Gott hat seine Gnade Der Plan lautet: »Alles zusammenzu-
gegen uns »überströmen lassen in aller fassen in dem Christus, das, was in den
Weisheit und Einsicht«. Das bedeutet, Himmeln, und das, was auf der Erde ist –
daß er uns gnädig seine Pläne und Ziele, in ihm.« Während des Tausendjährigen
die er mit uns verfolgt, mitgeteilt hat. Reiches, wird alles »in den Himmeln«
Sein Verlangen ist es, daß wir Einsicht in und »auf der Erde … in Christus« zusam-
seine Pläne für die Gemeinde und die mengefaßt werden. Der Erlöser, der heu-
Schöpfung erhalten. Und deshalb hat er te abgelehnt und seines Erbes beraubt ist,
uns so ins Vertrauen gezogen und das wird dann der Höchste sein, der Herr der
große Ziel offenbart, auf das sich alle Welt, und er wird von allen angebetet
Geschichte hin bewegt. werden. Das ist Gottes Ziel – Christus als
1,9 Paulus erklärt nun die besondere Haupt über »alles« im kommenden
Art, in der Gott seine Gnade auf uns hat Reich einzusetzen, ob es nun irdisch oder
überströmen lassen in aller Weisheit und himmlisch sei.
Einsicht, nämlich, indem er uns »das Das Ausmaß der Herrschaft Christi
Geheimnis seines Willens kundgetan« findet sich in den Worten »das, was in
hat. Das ist das Hauptthema des Briefes – den Himmeln, und das, was auf der Erde
die herrliche Wahrheit über Christus und ist«. Bellett schreibt:
die Gemeinde. Es ist ein »Geheimnis« Dies ist ein Geheimnis, das vorher nicht
nicht in dem Sinne, daß es geheimnisvoll offenbart worden ist. Vom Propheten Jesaja
ist, sondern es handelt sich um ein göttli- erhalten wir ein wunderschönes Bild des Tau-
ches Geheimnis, das bisher unbekannt sendjährigen Reiches auf der Erde, doch
war, doch nun den Heiligen offenbart sehen wir das Tausendjährige Reich im Him-
wird. Dieser herrliche Plan hat seinen mel mit Christus als Haupt? Wurde es durch
Ursprung im souveränen Willen Gottes, Jesaja je geweissagt, daß alles im Himmel
ohne daß irgend etwas darauf Einfluß und auf Erden in dem einen verherrlichten
4)
haben könnte: »Nach seinem Wohlgefal- Menschen zusammengefaßt werden soll?
len.« Und das große Zentrum dieses Pla- Vers 10 wird manchmal benutzt, um
nes ist der Herr Jesus Christus, was die Irrlehre einer Allversöhnung zu
durch den Nebensatz »das er sich vorge- untermauern. Es wird so gedreht, daß

891
Epheser 1

einmal alles und jedes mit Christus ver- wird das Volk auf den schauen, den sie
söhnt werden wird. Doch diese Vorstel- durchstochen haben und werden um
lung ist diesem Abschnitt fremd. Paulus ihn als ihren einzigen Sohn trauern
spricht über universelle Herrschaft, nicht (Sach 12,10). »Wie geschrieben steht: ›Es
über universelle Erlösung! wird aus Zion der Erretter kommen, er
1,11 Ein wichtiges Kennzeichen des wird die Gottlosigkeiten von Jakob ab-
Geheimnisses ist, daß die gläubigen Ju- wenden‹« (Röm 11,26).
den und die gläubigen Heiden ihren An- Paulus und seine christlichen Zeit-
teil an diesem großen Plan Gottes haben. genossen jüdischen Hintergrunds ver-
Der Apostel spricht in den Versen 11 und trauen auf den Messias, bevor es der Rest
12 von dem Geheimnis in bezug auf die der Nation tun wird. Deshalb wird hier
jüdischen Gläubigen, in Beziehung auf die Beschreibung gewählt: »Die wir zu-
die heidnischen Gläubigen in Vers 13, und vor auf den Christus gehofft haben.«
dann verbindet er beides in Vers 14. Diejenigen, die zuerst auf den Mes-
Von den Christen mit jüdischen Vor- sias gehofft haben, werden mit ihm über
fahren schreibt Paulus: »In ihm haben die Erde regieren. Alle anderen Juden
wir auch ein Erbteil erlangt.« Das Recht werden dann Untertanen in seinem irdi-
der Judenchristen auf einen Anteil schen Reich sein.
basiert nicht auf ihren früheren Vorrech- 1,13 Nun wendet sich Paulus von den
ten als Volk, sondern einzig in ihrer Ver- Gläubigen, die als Juden geboren sind,
bindung zu Christus. Das »Erbteil« hier zu denen, die als Heiden geboren sind.
bezieht sich auf die Zeit, wenn sie und Er zeigt diesen Wechsel durch die Wahl
alle wahren Gläubigen vor der erstaun- eines anderen Pronomens an: Es heißt
ten Welt als der Leib Christi und die nun »ihr« statt »wir«. Diejenigen, die
Braut des Lammes offenbart werden. vom Heidentum erwählt worden sind,
Von aller Ewigkeit her waren diese haben wie die bekehrten Juden ihren An-
Judenchristen von Gottes souveränem teil am Geheimnis des Willens Gottes.
Willen für diese Vorrechtsstellung auser- Und deshalb zeichnet Paulus hier die
wählt, »die wir vorherbestimmt waren Schritte nach, die die Epheser und ande-
nach dem Vorsatz dessen, der alles nach re Heiden in die Gemeinschaft mit Chri-
dem Rat seines Willens wirkt«. stus gebracht haben.
1,12 Der Zweck der Vorherbestim- Sie hörten das Evangelium.
mung war, daß sie »zum Preise seiner Sie glaubten an Christus.
Herrlichkeit seien«. Mit anderen Worten, Sie sind »versiegelt worden mit dem
sie sind Trophäen der Gnade Gottes, die Heiligen Geist der Verheißung«.
zeigen, was Gott mit solch ungeeignetem Zunächst haben sie »das Wort der
Rohmaterial anfangen kann, und sie tra- Wahrheit, das Evangelium eures Heils,
gen so zu Gottes »Herrlichkeit« bei. gehört«. Im Grunde bezieht sich das auf
Der Apostel spricht von sich selbst die gute Nachricht vom »Heil« im Herrn
und anderen gläubigen Juden als »die Jesus durch den Glauben. Doch im wei-
wir zuvor auf den Christus gehofft teren Sinne umfaßt es alle Lehren Christi
haben«. Er denkt an den gottesfürchtigen und der Apostel.
Überrest der Juden, der in der Frühzeit Nachdem die Heidenchristen diese
des Christentums dem Evangelium ge- Botschaft gehört hatten, haben sie sich
horcht hat. Die gute Nachricht wurde durch einen gewollten Glaubensakt für
zuerst den Juden gepredigt. Fast das Christus entschieden. Der Herr Jesus ist
ganze Volk Israel lehnte sie ab. Doch ein das wahre Ziel ihres Glaubens. »Heil«
gottesfürchtiger Überrest glaubte an den findet sich nur in ihm.
Herrn Jesus. Paulus gehörte zu diesem Sobald sie »gläubig geworden« sind,
Überrest. sind sie »versiegelt worden mit dem Hei-
Es wird ganz anders sein, wenn der ligen Geist der Verheißung«. Das bedeu-
Erlöser auf die Erde wiederkommt. Dann tet, daß jeder echte Gläubige den Geist

892
Epheser 1

Gottes als Zeichen empfängt, daß er zu Wie das Siegel garantiert er, daß wir
Gott gehört, und daß er von Gott bis zu bis zur Erbschaft bewahrt werden. Als
der Zeit beschützt wird, zu der er seinen Unterpfand garantiert er, daß das Erbe
verherrlichten Leib empfangen wird. für uns bewahrt wird.
Genauso, wie in gesetzlicher Hinsicht ein Der Geist ist »das Unterpfand unse-
Siegel Besitz und Sicherheit anzeigt, so res Erbes, auf die Erlösung seines Eigen-
ist es auch in göttlichen Belangen. Der in tums zum Preise seiner Herrlichkeit«.
uns wohnende Geist bezeichnet uns als Das »Unterpfand« verheißt die volle »Er-
Eigentum Gottes (1. Kor 6,19.20), und lösung«, so wie die Erstlingsfrüchte die
garantiert unsere Bewahrung bis zum gesamte Ernte verheißen. Die Rolle des
Tag der Erlösung (Eph 4,30). Heiligen Geistes als Unterpfand wird
Unser Siegel wird der »Heilige Geist aufhören, wenn »sein Eigentum« erlöst
der Verheißung« genannt. Zunächst ein- ist. Was meint Paulus nun mit »Erlösung
mal ist er der Heilige Geist, das ist er in seines erworbenen Besitzes« (Elb)?
und von sich selbst. Dann ist er noch der 1. Er kann unser »Erbe« meinen. Alles,
Geist der Verheißung. Er wurde vom Vater was Gott besitzt, gehört uns durch
verheißen (Joel 2,28; Apg 1,4), auch vom den Herrn Jesus. Wir sind Erben Got-
Herrn Jesus (Joh 16,7). Zusätzlich ist er tes und Miterben Christi (Röm 8,17; 1.
noch die Garantie, daß alle Verheißungen Kor 3,21-23). Das Universum selbst
Gottes an den Gläubigen erfüllt werden. ist durch das Kommen der Sünde
Vers 13 beschließt die erste von vielen verunreinigt worden und muß ver-
Erwähnungen der Dreieinigkeit in die- söhnt und gereinigt werden (Kol 1,20;
sem Brief: Hebr 9,23). Wenn Christus auf die
Gott, der Vater (V. 3) Erde zurückkehrt, um seine Herr-
Gott, der Sohn (V. 7) schaft anzutreten, wird die seufzende
Gott, der Geist (V. 13). Kreatur von der Knechtschaft der
1,14 Und wieder gebraucht Paulus Sterblichkeit zur herrlichen Freiheit
ein anderes Pronomen. Er verbindet das der Kinder Gottes erlöst werden
»wir« von Vers 11 und 12 mit dem »ihr« (Röm 8,19-22).
von Vers 13 zu »unser« in Vers 14. Durch 2. Der Ausdruck »Erlösung seines erwor-
dieses kleine literarische Mittel gibt er benen Besitzes« (Elb) kann den Leib
uns schon einen Hinweis auf das, was er des Gläubigen bedeuten. Unser Geist
in Kapitel 2 und 3 ausführlicher erklären und unsere Seele wurden erlöst, als
will – die Einheit der gläubigen Juden wir uns bekehrt haben, doch die Er-
und Heiden in einem neuen Leib, der lösung unseres Leibes liegt noch in der
Gemeinde. Zukunft. Die Tatsache, daß wir leiden,
Der Heilige Geist ist »das Unterpfand alt werden und sterben, beweist, daß
unseres Erbes«. Er ist die Anzahlung, die unsere Leiber noch nicht erlöst sind.
uns sagt, daß der volle Betrag bald einge- Wenn Christus für uns wiederkommt
hen wird. Er ist gleichbedeutend mit der (1. Thess 4,13-18), dann werden unsere
vollen Zahlung, doch nicht dasselbe wie Leiber neu geschaffen, so daß sie dem
sie. Leib seiner Herrlichkeit ähneln
Sobald wir erlöst sind, beginnt der (Phil 3,21). Dann erst werden sie ganz
Heilige Geist damit, uns einige der und für immer erlöst sein (Röm 8,23).
Reichtümer zu offenbaren, die uns in 3. Schließlich kann »Erlösung seines
Christus gehören. Er gibt uns einen Vor- erworbenen Besitzes« (Elb) sich auf
geschmack auf die kommende Herrlich- die Gemeinde beziehen (1. Petr 2,9:
keit. Doch wie können wir sicher sein, Volk seines Eigentums). In diesem
daß wir eines Tages das gesamte Erbe Fall bezieht sich die Erlösung eben-
erhalten werden? Der Heilige Geist falls auf die Entrückung, wenn Chri-
selbst ist das »Unterpfand« oder die stus die Gemeinde als verherrlichte
Garantie dafür. Gemeinde ohne Flecken oder Run-

893
Epheser 1

zeln darstellen wird (Eph 5,27). Eini- soeben beschrieben hat, und wurde ins
ge Ausleger sind der Ansicht, daß in Gebet für sie gedrängt. Ihr »Glaube an
diesem Fall auch die Heiligen des AT den Herrn Jesus« hat das Wunder der
zu Gottes »Eigentum« gehören. Erlösung in ihrem Leben bewirkt. Die
Welche Auffassung wir auch immer »Liebe zu allen Heiligen« zeigte die ver-
für richtig halten, das Ergebnis ist dassel- ändernde Wirklichkeit und Echtheit
be – »zum Preise seiner Herrlichkeit«. ihrer Bekehrung.
Gottes wunderbarer Plan für sein Volk Diejenigen Ausleger, die nicht der
wird dann seine herrliche Vollendung Ansicht sind, daß der Brief ausschließlich
gefunden haben, und er wird von ihnen an die Epheser geschrieben wurde, wei-
ständig gepriesen werden. Dreimal in sen auf diesen Vers als Beweis hin. Pau-
diesem Kapitel hat Paulus uns daran lus spricht hier davon, daß er von dem
erinnert, daß das Ziel und das unaus- Glauben seiner Leser gehört habe – als
weichliche Ergebnis aller Handlungen ob er ihnen nie begegnet sei. Doch er hat-
Gottes seine Verherrlichung ist. te die letzten drei Jahre in Ephesus ver-
Zum Preise der Herrlichkeit seiner bracht (Apg 20,31). Diese Ausleger
Gnade (V. 6). schließen deshalb, daß der Brief an ver-
Damit wir zum Preise seiner Herr- schiedene Ortsgemeinden gesandt wur-
lichkeit seien (V. 12). de, von denen Ephesus nur eine war.
Zum Preise seiner Herrlichkeit (V. 14). Glücklicherweise berührt diese Frage
nicht die Lehren, die wir aus diesem Vers
C. Paulus’ Dank und Gebet für die ziehen können. So sehen wir hier z. B.
Heiligen (1,15-23) den Herrn als unseren wahren Glaubens-
1,15 Im vorhergehenden Abschnitt von gegenstand: »Euer Glaube an den Herrn
Vers 3-14 (diese Verse bilden im Griechi- Jesus.« Wir sollen nicht an ein Bekenntnis
schen einen einzigen Satz!), hat der Apo- glauben, an die Kirche oder an bestimm-
stel den aufregenden Bogen des Planes te Christen. Retten kann uns nur der
Gottes von der Ewigkeit vor der Zeit bis Glaube an den auferstandenen erhöhten
zur Ewigkeit nach der Zeit gezeichnet. Er Christus zur Rechten Gottes.
hat einige der ehrfurchtgebietendsten Eine andere Lehre für uns liegt in
Gedanken aufgeführt, die uns beschäfti- dem Ausdruck »eure Liebe zu allen Hei-
gen können, Gedanken, die so erhaben ligen«. Unsere Liebe sollte nicht auf die
sind, daß Paulus nun seinen Lesern von beschränkt bleiben, die sich in unserer
seiner Gebetslast für ihre geistliche Er- unmittelbaren Umgebung befinden, son-
leuchtung in diesen Dingen berichtet. dern alle umfassen, die durch das Blut
Sein großer Wunsch für sie ist, daß sie die Christi gereinigt sind, die gesamte Haus-
herrlichen Vorrechte in Christus richtig haltung des Glaubens.
schätzen können und die außerordentli- Eine dritte Lehre läßt sich aus der
che Macht, die notwendig ist, Christus Verbindung von Glaube und Liebe zie-
der Gemeinde als Haupt über die gesam- hen. Einige Menschen behaupten, sie
te Schöpfung zu schenken. hätten Glauben, doch findet man kaum
Das einleitende »deshalb« blickt auf Liebe in ihrem Leben. Andere wieder zei-
alles zurück, was Gott getan hat und gen große Liebe, aber stehen der Not-
noch für diejenigen tun wird, die Glieder wendigkeit des Glaubens an Christus
am Leibe Christi sind, wie es in den Ver- ziemlich gleichgültig gegenüber. Echtes
sen 3-14 beschrieben wurde. Christentum verbindet gesunde Lehre
»Nachdem ich von eurem Glauben an mit einem hingegebenen Leben.
den Herrn Jesus und von eurer Liebe zu 1,16 Der Glaube und die Liebe der
allen Heiligen gehört habe.« Als Paulus Gläubigen bringt Paulus dazu, den
diese Information erhielt, war Paulus Herrn für sie zu preisen und unaufhör-
sich sicher, daß seine Leser Eigentümer lich für sie zu beten. Scroggie drückt das
der geistlichen Segnungen waren, die er sehr schön aus:

894
Epheser 1

Der Dank gilt der Grundlage, die bereits hat – ein Wissen, das man nicht durch
gelegt ist, doch die Fürbitte dem Überbau, der intellektuelle Fähigkeiten erwerben
darauf aufgebaut wird. Der Dank gilt den kann, sondern nur durch den gnädigen
vergangenen Errungenschaften, doch die Dienst des Heiligen Geistes.
Fürbitte den zukünftigen Fortschritten. Der Dale erklärt:
Dank gilt für die Echtheit ihrer Erfahrung, Diese ephesischen Christen kannten
doch die Fürbitte für die Aussichten des Pla- schon göttliche Erleuchtung, sonst wären sie
nes Gottes mit ihnen. überhaupt keine Christen gewesen. Doch
1,17 Welch ein Vorrecht ist es, diesen Paulus betet, daß der Heilige Geist, der in
Einblick in das Gebetsleben eines Man- ihnen wohnte, ihre Vorstellungen klarer, mu-
nes Gottes zu erhalten! Wir erhalten in tiger und stärker machte, daß die göttliche
diesem Brief sogar zwei solcher Ein- Kraft, Liebe und Größe sich an ihnen noch
blicke – hier und in 3,14-21. In diesem mehr offenbaren möge. Und vielleicht ist es
Gebet geht es um geistliche Erleuchtung, gerade in diesen unseren Tagen ganz beson-
dort geht es um geistliche Kraft. Hier ist ders wichtig, in denen die Menschen solch
das Gebet an »Gott«, dort an den Vater schnell aufeinanderfolgende Entdeckungen
gerichtet. Doch immer war das Gebet des auf untergeordneten Gebieten des Geistes
Paulus unablässig, eindeutig und den machen, in der es solche faszinierenden und
gegenwärtigen Bedürfnissen der Ge- aufregenden Entdeckungen gibt, daß sie so-
meinde angepaßt. Hier wird das Gebet gar für Christen mehr Interesse gewinnen als
an den »Gott unseres Herrn Jesus Chri- die Offenbarung Gottes in Christus, daß die
stus«, den »Vater der Herrlichkeit« ge- Gemeinde betet, daß Gott ihr einen »Geist der
richtet. Der Ausdruck »Vater der Herr- Weisheit und Offenbarung« schenkt. Wenn
lichkeit« kann dreierlei bedeuten: er dieses Gebet beantwortet, dann sollten wir
1. Gott ist die Quelle oder Schöpfer aller uns nicht länger von Wissen faszinieren las-
Herrlichkeit, sen, das sich auf »Sichtbares und Zeitliches«
2. er ist derjenige, dem alle Herrlichkeit bezieht, weil es von der transzendenten Herr-
gebührt oder, lichkeit des »Unsichtbaren und Ewigen«
5)
3. Gott ist der Vater des Herrn Jesus, der überstrahlt würde.
die Manifestation der Herrlichkeit 1,18 Wir haben gesehen, daß die
Gottes ist. Quelle geistlicher Erleuchtung Gott ist,
Das Gebet geht weiter, daß Gott der Kanal der Heilige Geist und daß es
»euch gebe den Geist der Weisheit und dabei um die völlige Erkenntnis Gottes
Offenbarung in der Erkenntnis seiner geht. Nun kommen wir zu den Organen
selbst«. Der Heilige Geist ist der »Geist der Erleuchtung: »Er erleuchte die
der Weisheit« (Jes 11,2) und der »Offen- Augen eures Herzens.«
barung« (1. Kor 2,10). Doch weil der Dieser bildliche Ausdruck lehrt uns,
Geist in jedem Gläubigen wohnt, kann daß das richtige Verständnis göttlicher
Paulus hier nicht beten, daß seine Leser Realität nicht davon abhängig ist, ob wir
die Person des Heiligen Geistes empfan- einen scharfen Intellekt besitzen, son-
gen mögen, sondern daß sie ein besonde- dern ein empfangsbereites Herz. Es geht
res Maß an Erleuchtung durch ihn emp- sowohl um Gefühle als auch um das
fangen sollen. Denken. Gottes Offenbarungen werden
»Offenbarung« hat mit dem Eingeben denen gegeben, die ihn lieben. Das eröff-
von Wissen zu tun, »Weisheit« dagegen net jedem Gläubigen wundervolle Mög-
ist die richtige Anwendung dieses Wis- lichkeiten, weil wir zwar nicht alle höch-
sens auf unser Leben. Der Apostel denkt ste Intelligenzquotienten besitzen mö-
hier nicht an Allgemeinwissen, sondern gen, doch alle ein liebendes »Herz«
an eine besondere »Erkenntnis (gr. epig- haben können.
nosis) seiner selbst«. Er möchte, daß der Als nächstes nennt Paulus ausdrück-
Gläubige ein tiefes, geistliches und durch lich drei Gebiete göttlichen Wissens, die er
Erfahrung gestütztes Wissen von Gott bei den Heiligen vermehrt sehen möchte:

895
Epheser 1

1. »Die Hoffnung seiner Berufung.« seine Braut mit ihm darüber herrschen
2. »Den Reichtum der Herrlichkeit sei- werden. Wenn wir wirklich diesen Über-
nes Erbes in den Heiligen.« fluß an Herrlichkeit erkennen, den er für
3. »Die überschwengliche Größe seiner uns bereithält, dann wird uns das sämtli-
Kraft an uns, den Glaubenden.« che Attraktionen und Vergnügungen der
»Die Hoffnung seiner Berufung« Welt verderben.
weist auf die Zukunft hin, dieser Aus- 1,19 Paulus’ dritte Bitte für die Heili-
druck meint unsere endgültige Bestim- gen lautet, daß sie ganz deutlich die
mung, die Gott für uns im Sinn hatte, als »Macht« Gottes erkennen, die er einset-
er uns berufen hat. Dieser Ausdruck zen mußte, um all dies zu vollbringen:
schließt die Tatsache ein, daß wir für »Was die überschwengliche Größe seiner
immer bei Christus sein werden und ihm Kraft an uns, den Glaubenden, ist.«
gleichen werden. Wir werden dem Uni- F. B. Meyer sagt: »Es geht um Kraft.
versum als Söhne Gottes offenbart und Es geht um seine Kraft. Es geht um große
mit Christus als seine makellose Braut Kraft, denn weniger würde nicht ausrei-
mit ihm regieren. Wir hoffen darauf, chen. Es geht um überschwenglich große
6)
nicht in dem Sinne, daß wir daran zwei- Kraft, die alles Denken übersteigt.«
feln müßten, sondern weil dies ein Diese Kraft hat Gott zu unserer Erlö-
Aspekt unserer Erlösung ist, der noch in sung eingesetzt, er wird sie zu unserer
der Zukunft liegt und den wir erwarten. Bewahrung einsetzen und eines Tages zu
Der »Reichtum der Herrlichkeit sei- unserer Verherrlichung.
nes Erbes in den Heiligen« ist die zweite Lewis Sperry Chafer schreibt:
unendliche Weite, die die Gläubigen er- Paulus möchte dem Gläubigen die Größe
forschen dürfen. Man beachte, wie Pau- der Kraft darstellen, die benötigt wird, um all
lus hier Worte aufhäuft, um den ge- das zu erreichen, was Gott für ihn nach sei-
wünschten Effekt der Erhabenheit und nem Willen zur Erwählung, Vorherbestim-
Größe hervorzurufen. mung und souveränen Annahme an Kindes
7)
Sein Erbe Statt vorgesehen hat.
Sein Erbe in den Heiligen 1,20 Um die Größe der Macht Gottes
Die Herrlichkeit seines Erbes in den noch weiter zu betonen, beschreibt der
Heiligen Apostel als nächstes die größte göttliche
Der Reichtum der Herrlichkeit seines Kraftanstrengung, die die Welt je erlebt
Erbes in den Heiligen hat, nämlich daß er Christus »aufer-
Es gibt zwei Möglichkeiten, dies zu weckt« hat »aus den Toten« und ihm den
verstehen, und beide sind so be- Thron »zu seiner Rechten« gegeben hat.
deutungsvoll, daß wir sie hier anführen Vielleicht würden wir denken, daß die
wollen. Laut der ersten Erklärung sind Schöpfung des Universums die größte
die Heiligen Gottes Erbe, und er sieht sie Offenbarung der Kraft Gottes gewesen
als einen unschätzbaren Reichtum an. In sei. Oder vielleicht die wunderbare Er-
Titus 2,14 und 1. Petrus 2,9 werden die rettung seines Volkes aus dem Roten
Gläubigen als »Volk des Eigentums« be- Meer. Doch nein! Das NT lehrt, daß die
zeichnet. Es ist sicherlich eine Erweisung Auferstehung und Himmelfahrt Christi
unaussprechlicher Gnade, daß böse, un- am meisten göttliche Kraft erfordert hat.
würdige Sünder, die durch Christus er- Warum? Es scheint, daß alle Mächte
rettet sind, einen solchen Platz im Her- der Hölle aufgestanden sind, um Gottes
zen Gottes einnehmen können, daß Gott Absichten zu verhindern, indem sie
sie sein »Erbe« nennen kann. Christus im Grab hielten, oder seine
Die andere Ansicht lautet, daß mit Himmelfahrt zu verhindern, sobald er
Erbe der Reichtum gemeint ist, den wir auferstanden war. Doch Gott triumphier-
erben werden. Kurz gesagt bedeutet das, te über jeden Widerstand. Die Auferste-
daß das gesamte Universum der Herr- hung und Verherrlichung Christi war
schaft Christi unterstellt wird und wir als eine erschütternde Niederlage für Satan

896
Epheser 1

und sein Heer, und eine herrliche De- 1,21 Die Verherrlichung unseres Hei-
monstration siegreicher Kraft. landes wird nun weiter beschrieben:
Worte reichen nicht aus, um diese »Hoch über jede Gewalt und Macht und
Kraft zu beschreiben. Deshalb leiht sich Kraft und Herrschaft und jeden Namen,
Paulus etliche Wörter aus der Dynamik, der nicht nur in diesem Zeitalter, sondern
um die Kraft zu beschreiben, die um un- auch in dem zukünftigen genannt wer-
seretwillen am Werk ist: »nach der Wirk- den wird.« Der Herr Jesus ist höher als
samkeit der Macht seiner Stärke, in welcher jeder Herrscher und jede Autorität, mag
er gewirkt hat in dem Christus, indem er sie menschlich oder von Engeln sein, mag
ihn aus den Toten auferweckte« (Elb). Die sie heute oder morgen auftreten.
Worte scheinen sich unter der Schwere In der Himmelswelt gibt es verschie-
der zu beschreibenden Wirklichkeit zu dene Ränge von Engelswesen, von denen
biegen. Es ist uns kaum möglich, zwi- einige böse und andere gut sind. Sie
schen den einzelnen Worten zu unter- haben unterschiedliche Macht. Einige
scheiden, es reicht, wenn wir über die Rie- könnten etwa unseren menschlichen
senhaftigkeit der Macht staunen und Ämtern Präsident, Kanzler, Minister
unseren Gott für seine Allmacht anbeten. oder ähnlichem entsprechen. Doch ganz
F. B. Meyer ruft aus: gleich wie groß ihre Autorität, »Gewalt«
Wie wunderbar wurde er emporgehoben! und »Macht« sein mag, Christus steht
Aus dem Grab des Todes zum Thron des ewi- »hoch über« ihnen.
gen Gottes, welcher allein die Unsterblichkeit Und das gilt »nicht nur in diesem
hat; von der Finsternis der Gruft in sein Zeitalter«, in welchem wir leben, »son-
unaussprechliches Licht; von dieser kleinen dern auch in dem zukünftigen«, d. h.
Welt in das Zentrum und zum Regierungs- während des Tausendjährigen Reiches
sitz des Universums. Entfalten Sie die Christi auf Erden. Christus wird dann
Schwingen Ihres Glaubens, um diesen nicht König über alle Könige und Herr über
auszulotenden Abgrund zu ermessen. Und alle Herren sein. Er wird über alle
dann staunen Sie über die Kraft, die den Geschöpfe erhöht werden, und es wird
8)
Herrn hinüberbrachte. keine einzige Ausnahme geben.
Nach der Schrift war die Auferste- 1,22 Zusätzlich hat Gott »alles … sei-
hung Christi das erste Mal, daß ein sol- nen Füßen unterworfen«. Das bedeutet
ches Ereignis stattfand (1. Kor 15,23). An- seine universale Herrschaft, nicht nur
dere sind schon vor Christus von den über Menschen und Engel, sondern auch
Toten auferstanden, doch sie mußten wie- über die übrige Schöpfung, ob sie nun
der sterben. Der Herr Jesus war der erste, belebt oder leblos ist. Der Autor des
der in der Kraft des ewigen Lebens aufer- Hebräerbriefes erinnert uns, daß wir ge-
stand. Nach seiner Auferstehung und genwärtig nicht sehen, daß ihm alles un-
Himmelfahrt hat Gott Christus »zu seiner tertan ist (Hebr 2,8). Das stimmt. Obwohl
Rechten in der Himmelswelt gesetzt«. Christus die universelle Herrschaft inne
»Zur Rechten« Gottes bedeutet Vorrechts- hat, übt er sie jetzt noch nicht aus. Die
stellung (Hebr 1,13), Macht (Matth 26,24), Menschen z. B. rebellieren noch immer
Auszeichnung (Hebr 1,3), Wohlgefallen gegen ihn und leugnen ihn oder wider-
(Ps 16,11) und Herrschaft (1. Petr 3,22). stehen ihm. Doch Gott hat bestimmt, daß
Der Aufenthaltsort Christi wird hier Sein Sohn schon jetzt das Zepter univer-
näher beschrieben: »In der Himmels- seller Herrschaft führt und das ist so
welt.« Das zeigt, daß dieser Ausdruck sicher, als wäre es schon gegenwärtige
den Wohnort Gottes einschließt. Das ist Realität.
der Ort, an dem sich der Herr Jesus heu- Das folgende ist fast unglaublich. Die-
te in einem wirklichen Leib von Fleisch sen Einen, dessen nageldurchgrabene
und Blut aufhält, in einem verherrlichten Hand die souveräne Autorität über das
Leib, der nicht mehr sterben kann. Und gesamte Universum ausüben wird – die-
wo er ist, werden auch wir bald sein. sen Verherrlichten hat Gott »der Gemein-

897
Epheser 1 und 2

de gegeben«! Hier schenkt uns Paulus Zeitalter hat oder wird diese Auszeich-
eine erregende Offenbarung des Geheim- nung erfahren.
nisses des Willens Gottes. Schritt für Die zweite Beschreibung für die Ge-
Schritt hat er uns zu diesem Höhepunkt meinde lautet: »Die Fülle dessen, der
seiner Ankündigungen geführt. Mit alles in allen erfüllt.« Das bedeutet ein-
künstlerischem Geschick hat er die Aufer- fach, daß die Gemeinde die Ergänzung
stehung, Verherrlichung und Herrschaft Christi ist, die überall gleichzeitig ist.
Christi beschrieben. Während unsere Eine Ergänzung ist etwas, das vervoll-
Herzen noch ergriffen sind von Ehrfurcht ständigt oder vollendet. Es geht dabei
bei der Betrachtung dieses herrlichen um zwei Dinge, die eine Einheit bilden,
Herrn, sagt der Apostel: »In dieser seiner sobald sie zusammengebracht werden.
Funktion ›als Haupt über alles‹ ist Chri- So wie der Leib die Ergänzung des
stus ›der Gemeinde gegeben‹.« Hauptes ist, so ist die Gemeinde die Er-
Wenn wir diesen Vers achtlos lesen, gänzung Christi.
dann könnten wir verstehen, daß Chri- Doch damit nun niemand denkt, daß
stus das Haupt der »Gemeinde« ist. Das dies bedeuten könnte, daß Christus
stimmt zwar, doch sagt der Vers sehr viel irgendwie unvollkommen oder unvoll-
mehr aus. Er sagt, daß die »Gemeinde« ständig sei, fügt Paulus schnell an: »Die
mit dem engstens verbunden ist, dem Fülle dessen, der alles in allen erfüllt.«
diese universelle Macht gegeben ist. Weit davon entfernt, daß irgend etwas
In Vers 21 erfuhren wir, daß Christus einen Mangel an Vollständigkeit ausfül-
über jedem Geschöpf im Himmel und auf len müßte, ist der Herr Jesus selbst der
Erden steht, und zwar in diesem Zeital- Eine, »der alles in allen erfüllt«, der das
ter und im kommenden. Im ersten Teil Universum durchdringt und ihm alles
von Vers 22 lernten wir, daß »alles«, notwendige gibt.
nicht nur die Schöpfung, »seinen Füßen Zugegeben, dies geht über unseren
unterworfen« ist. Nun erfahren wir, daß Verstand hinaus. Wir können nur das
die »Gemeinde« auf einzigartige Weise unendliche Denken Gottes und seinen
berufen ist, mit ihm in seiner grenzen- Plan bestaunen, und gleichzeitig zuge-
losen Herrschaft verbunden zu sein. Die ben, daß wir nicht in der Lage sind, ihn
»Gemeinde« wird an seiner Herrschaft zu verstehen.
teilnehmen. Und die übrige Schöpfung
wird seiner Herrschaft unterstellt D. Gottes Macht zeigt sich in der Erlö-
werden. sung von Heiden und Juden (2,1-10)
1,23 In diesem Schlußvers von Kapi- 2,1 Die Kapitelgrenze sollte nicht die
tel 1 erfahren wir, wie eng die Beziehung wichtige Beziehung verhüllen, die zwi-
zwischen Christus und der Gemeinde ist. schen dem letzten Teil von Kapitel 1 und
Es werden hier zwei Bilder genannt: 1. den kommenden Versen besteht. Dort
Die Gemeinde ist »sein Leib«, und 2. ist beobachteten wir die große Kraft Gottes,
sie »die Fülle dessen, der alles in allen wie sie Christus aus dem Grabe aufer-
erfüllt«. weckte und ihn mit Ehre und Herrlichkeit
Keine Beziehung kann enger sein als krönte. Nun sehen wir, wie dieselbe Kraft
die zwischen Haupt und »Leib«. Beide in unserem eigenen Leben wirkt, uns vom
bilden eine lebenswichtige Einheit und geistlichen Tod auferweckt und uns in
werden von einem Geist gelenkt. Die Christus in die Himmelswelt verpflanzt.
Gemeinde ist eine Gemeinschaft von Dieser Abschnitt ähnelt dem ersten
Menschen, die zwischen Pfingsten und Kapitel des 1. Buches Mose. In beidem
der Entrückung aus der Welt herausge- finden wir: 1. Zerstörung, Chaos und
rufen, durch wunderbare Gnade errettet, Wüste (1. Mose 1,2a; Eph 2,1-3), 2. das
und der das einzigartige Vorrecht ge- Hinzutreten göttlicher Kraft (1. Mose
währt wird, »Leib« Christi zu sein. Keine 1,2b; Eph 2,4) und 3. die Schaffung neuen
andere Gruppe von Gläubigen anderer Lebens (1. Mose 1,3-1; Eph 2,5-22).

898
Epheser 2

Zu Beginn von Epheser 2 sind wir ses Zeitalters willentlich gehorsam. Das
geistlich gesehen Tote im Todestal. Zum erklärt, warum die Unbekehrten sich zu-
Schluß des Kapitels sind wir nicht nur weilen zu Formen der Sünde verleiten
bei Christus in der Himmelswelt, son- lassen, die oft schlimmer sind als das
dern auch Wohnstätte Gottes durch den Verhalten der Tiere.
Heiligen Geist. Dazwischen finden wir Schließlich waren sie ungehorsam
das große Wunder, das diese erstaunli- und wandelten nach dem Geist, »der
che Umwandlung herbeigeführt hat. jetzt in den Söhnen des Ungehorsams
Die ersten zehn Verse beschreiben wirkt«. Alle nichterlösten Menschen sind
Gottes Macht bei der Erlösung der Hei- »Söhne des Ungehorsams« in dem Sinne,
den und Juden. Kein Schneewittchen ist daß ihr Verhalten von »Ungehorsam«
je von solchen Lumpen zu solcher Herr- gegen Gott gekennzeichnet ist. Sie erhal-
lichkeit aufgestiegen! ten ihre Kraft von Satan und sind deshalb
In den Versen 1 und 2 erinnert Paulus geneigt, dem Herrn ungehorsam zu sein,
seine heidnischen Leser daran, daß sie ihn zu entehren und ihm zu trotzen.
vor ihrer Bekehrung »tot« waren, ver- 2,3 Paulus wechselt vom Personal-
derbt, teuflisch und ungehorsam. Sie pronomen ihr zum wir und zeigt damit
waren geistlich »tot« als Folge ihrer »Ver- an, daß er nun in erster Linie von den
gehungen und Sünden«. Das bedeutet, jüdischen Gläubigen spricht (obwohl das
daß sie Gott gegenüber kein Leben hat- Gesagte auch für alle gilt, die noch nicht
ten. Sie hatten keinen Kontakt mit ihm. bekehrt sind). Drei Worte beschreiben
Sie lebten, als ob er nicht existieren wür- ihre Stellung: fleischlich, verdorben, ver-
de. Die Ursache des Todes waren die dammt.
»Vergehungen und Sünden«. »Sünden« »Unter diesen hatten auch wir einst
sind alle Formen falschen Handelns, ob alle unseren Verkehr in den Begierden
sie bewußt begangen sind oder nicht, unseres Fleisches.« Auch Paulus und sei-
und alle Gedanken, Worte oder Taten, ne Mitchristen wandelten einst unter den
die nicht Gottes Vollkommenheit ent- Söhnen des Ungehorsams, ehe sie wie-
sprechen. »Vergehungen« sind Sünden, dergeboren wurden. Ihr Leben war
bei denen ein bekanntes Gesetz verletzt fleischlich, und beschäftigte sich nur mit
wurde. Im weiteren Sinne können dazu der Befriedigung fleischlicher Bedürfnis-
auch jede Form von Fehltritten oder Vor- se und Triebe. Paulus selbst hatte äußer-
spiegelung falscher Tatsachen gehören. lich im großen und ganzen ein sittlich
2,2 Die Epheser waren sowohl ver- hochstehendes Leben geführt, doch dann
derbt als auch tot. Sie wandelten »gemäß erkannte er, wie sehr dieses Leben auf
dem Zeitlauf dieser Welt«. Sie hatten sich sich selbst bezogen war. Und sein inner-
dem Geist dieses Zeitalters angepaßt. Sie stes Wesen war noch viel schlimmer als
gefielen sich in den Sünden ihrer Zeit. alles, was er je getan hatte.
Die Welt hat eine Form, die sie ihren Die unbekehrten Juden waren auch
Anhängern aufprägen will. Es ist eine verdorben, indem sie »den Willen des Flei-
Form des Betruges, der Sittenlosigkeit, sches und der Gedanken taten«. Damit
der Gottlosigkeit, der Selbstsucht, der ist die Hingabe an jegliche menschliche
Gewalt und der Auflehnung. Mit einem Begierde gemeint. Der Ausdruck »Willen
Wort, es ist die Form der Verderbtheit. des Fleisches und der Gedanken« kann
Und genauso waren die Epheser vor durchaus legitime Bedürfnisse umfas-
ihrer Bekehrung. sen, allerdings auch die verschiedensten
Und nicht nur das, ihr Verhalten war Formen von Sittenlosigkeit und Perversi-
teuflisch. Sie folgten Satans Beispiel, on beinhalten. Hier liegt die Betonung
»dem Fürsten der Macht der Luft, des sicherlich auf den gröberen Sünden. Und
Geistes«. Sie wurden vom Obersten der man beachte, daß Paulus hier sowohl die
bösen Geister geführt, dessen Reich die Gedanken- als auch die Tatsünden
Atmosphäre ist. Sie waren dem Gott die- anspricht.

899
Epheser 2

F. B. Meyer warnt: behandelt, wie wir es verdient hätten


Es ist genauso schlimm, sich dem Willen (Ps 103,10). »Obwohl seine Barmherzig-
der Gedanken hinzugeben, wie sich dem Wil- keit sich über mehr als 6000 Jahre
len des Fleisches zu unterwerfen. Durch die Menschheitsgeschichte erstreckt, und
wunderbare Gabe der Vorstellungskraft kön- Myriaden von Menschen an ihr Anteil
nen wir in unheiligen Träumen schwelgen hatten, ist diese Barmherzigkeit noch
und alle Zügel der Vernunft den Leiden- immer eine unerschöpfte Mine des
10)
schaften überlassen – und immer gerade nur Reichtums«, wie Eadie anmerkt .
vor der Verwirklichung unserer Träume Der Grund für sein Eingreifen wird
bremsen. Kein menschliches Auge folgt der uns in den Worten: »um seiner vielen
Seele, wenn sie am Satyrtanz teilhat oder sich Liebe willen, womit er uns geliebt hat«
im Labyrinth der Inseln der Lust verliert. Sie mitgeteilt. Seine Liebe ist »groß«
wandelt dort, ohne daß einer ihrer Nächsten (LU1984), weil er selbst ihre Quelle ist. So
irgend etwas wahrnimmt. Der Ruf einer wie die Größe eines Gebers sich auch in
schneeweißen Reinheit wird nicht gefährdet. der Größe seiner Gabe ausdrückt, so gibt
Diese Seele darf noch immer mit den Jung- Gottes unvorstellbare Vorzüglichkeit sei-
frauen auf die Ankunft des Bräutigams war- ner Liebe ein wundervolles Licht der
ten. Doch wenn diese Praxis nicht gerichtet Größe. Es ist soviel größer, von dem
und bekannt wird, so wird der Täter zu mächtigen Beherrscher des Universums
einem Sohn des Ungehorsams und einem geliebt zu werden, als etwa von einem
9)
Kind des Zorns. Mitmenschen.
Das ist die letzte Beschreibung, die Und Gottes Liebe ist groß, weil er
Paulus von den unerretteten Juden gibt: einen großen Preis dafür gezahlt hat.
Sie waren »von Natur Kinder des Zorns Gottes Liebe sandte den Herrn Jesus, sei-
… wie auch die anderen«. Das bedeutet, nen eingeborenen Sohn, damit er für uns
daß sie einen natürlichen Hang zu Ärger, unter Schmerzen auf Golgatha sterben
Bitterkeit, Bosheit und Jähzorn hatten. sollte. Gottes Liebe ist groß wegen der
Dieses Schicksal teilten sie mit dem Rest unausforschlichen Reichtümer, die sie
der Menschheit. Natürlich ist es auch über den Geliebten ausstreut.
wahr, daß sie unter dem Zorn Gottes 2,5 Und Gottes Liebe ist groß, weil die
standen. Sie waren zu Tod und Gericht Personen, die hier geliebt werden, dieser
bestimmt. Man beachte, daß in den Ver- Liebe extrem unwürdig sind. Wir waren
sen 2 und 3 die drei großen Feinde des »in den Vergehungen tot«. Wir sind Fein-
Menschen genannt werden: Die Welt de Gottes. Wir waren verlassen und hat-
(V. 2), Satan (V. 2) und das Fleisch (V. 3). ten uns selbst erniedrigt. Und trotz alle-
2,4 Die Worte »Gott aber« bilden dem liebte Gott uns.
einen der bedeutungsvollsten, inhalts- Als Folge der Liebe Gottes zu uns
schwersten und erleuchtendsten Über- und als Ergebnis des Erlösungswerkes
leitungen der gesamten Literatur. Sie zei- Christi sind wir 1. »mit dem Christus
gen an, daß ein enormer Wechsel stattge- lebendig gemacht«, 2. mit ihm aufer-
funden hat. Es ist der Wechsel von der weckt und 3. in ihn gepflanzt worden.
Verzweiflung und Angst im Tal des Diese drei Ausdrücke beschreiben
Todes zu den unausprechlichen Freuden unsere geistliche Stellung, die wir durch
des Reiches des Sohnes der Liebe Gottes. unsere Verbindung mit ihm erhalten. Er
Die Ursache dieses Wechsels ist handelte als unser Stellvertreter – nicht
»Gott« selbst. Niemand anderer hatte nur für uns, sondern auch an unserer Stel-
das tun können, und niemand anderer le. Deshalb starben wir, als er starb, als er
würde es getan haben. begraben wurde, wurden wir auch
Eine der Charaktereigenschaften begraben.
unseres gelobten Gottes ist, daß er »reich Als er »lebendig gemacht« und aufer-
ist an Barmherzigkeit«. Er erzeigt uns weckt wurde und in der Himmelswelt
»Barmherzigkeit«, indem er uns nicht so seinen Thron erhielt, da geschah dasselbe

900
Epheser 2

mit uns. Alle Auswirkungen seines Leben verändern. Wir sind nicht mehr
Opfertodes dürfen wir genießen, weil länger an die Erde gebunden und be-
wir mit ihm verbunden sind. Mit ihm schäftigen uns nicht mehr mit Triviali-
»lebendig gemacht« zu sein bedeutet, täten und Vergänglichem. Wir werden
daß bekehrte Juden und bekehrte Heiden suchen, was oben ist, wo Christus zur
jetzt mit ihm in einem neuen Leben ver- Rechten Gottes sitzt (Kol 3,1).
bunden sind. Dieselbe Kraft, die ihm das Der Schlüssel zu den Versen 5 und 6 ist
Auferstehungsleben gab, hat er auch uns der Ausdruck »in Christus Jesus«. In ihm
gegeben. sind wir lebendig gemacht, auferweckt
Diese Tatsachen sind so wunderbar, und mit eingesetzt. Er ist unser Stellver-
daß Paulus hier seinen Gedankengang treter, deshalb gehören uns seine Siege
unterbrechen muß und ausruft: »Durch und seine Stellung. George Williams ruft
Gnade seid ihr errettet!« Er ist von der aus: »Welch erstaunlicher Gedanke! Daß
bodenlosen »Gnade« Gottes überwältigt, eine Maria Magdalena und ein gekreuzig-
die Gott denen erwiesen hat, die genau ter Dieb Gefährten der Herrlichkeit des
das Gegenteil verdient hätten. Das ist Sohnes Gottes sein können.«
echte »Gnade«! 2,7 Dieses Wunder der Menschen ver-
Wir haben schon erwähnt, daß Barm- ändernden Gnade wird das Thema der
herzigkeit bedeutet, daß wir nicht die ewigen Erlösung sein. Durch die ewigen
Strafe erhalten, die wir verdient hätten. Zeitalter hindurch wird Gott den himm-
»Gnade« bedeutet nun, daß wir die Erlö- lischen Heerscharen offenbaren, was es
sung erhalten, die wir nicht verdient ihn kostete, seinen Sohn in diesen Sün-
haben. Wir bekommen sie als Geschenk, denpfuhl zu senden, und was es den
nicht als Lohn für unsere Taten. Und sie Herrn Jesus kostete, unsere Sünden am
kommt von dem Einen, der am wenig- Kreuz zu tragen. Dieses Thema wird sich
sten verpflichtet gewesen wäre, sie uns niemals erschöpfen lassen. Und wieder
zu geben. A. T. Pierson sagt: häuft Paulus hier Worte auf, um die
Dies ist ein freiwilliger Liebesbeweis, zu außerordentliche Größe dieser Tatsache
dem er absolut nicht verpflichtet ist. Die zu verdeutlichen:
Herrlichkeit der Gnade besteht darin, daß sie Seine Güte an uns
ein ausgesprochen unbeschränkter, unbehin- Seine Gnade in Güte an uns
derter Liebesbeweis Gottes an arme Sünder Der Reichtum seiner Gnade in Güte
11)
ist. an uns
2,6 Wir sind nicht nur mit Christus Der überschwengliche Reichtum
lebendig gemacht worden, sondern wir seiner Gnade in Güte an uns
sind mit ihm auch »auferweckt«. Genau- Nun folgt daraus, daß wir dann,
so wie Tod und Gericht hinter ihm liegen, wenn Gott dies in der Ewigkeit »erwei-
so liegen sie hinter uns. Wir stehen auf sen« wird, lernen werden. Der Himmel
der Auferstehungsseite des Grabes. Das wird die Schule sein und Gott unser Leh-
ist unsere herrliche Stellung durch unse- rer. »Seine Gnade« wird das Schulfach
re Vereinigung mit ihm. Und weil das für sein, und wir die Schüler. Und das Schul-
uns von der Stellung her gilt, sollten wir jahr wird die ganze Ewigkeit lang dau-
auch wie Auferstandene leben. ern.
Ein anderer Aspekt unserer Stellung Das sollte uns von der Vorstellung
ist, daß wir in ihm »in der Himmelswelt befreien, daß wir alles wissen werden,
in Christus Jesus … mitsitzen«. Durch wenn wir in den Himmel kommen. Nur
unsere Vereinigung mit ihm werden wir Gott weiß alles, und wir werden ihm nie-
12)
schon als befreit von dieser gegenwärti- mals völlig gleich sein.
gen bösen Welt und »in Christus« in Das wirft auch die interessante Frage
Herrlichkeit mit eingesetzt angesehen. auf: Wieviel werden wir wissen, wenn
So sieht Gott uns. Wenn wir das im Glau- wir in den Himmel kommen? Und man
ben annehmen, dann wird das unser kann sich vorstellen, daß wir uns für die

901
Epheser 2

himmlische Universität vorbereiten kön- 5. Heilige Kommunion


nen, indem wir uns jetzt intensiv mit der 6. den Versuch, die Zehn Gebote zu
Bibel befassen. halten
2,8 Die nächsten drei Verse zeigen 7. Leben nach der Bergpredigt
uns in einer klaren Aussage den Erlö- 8. Almosen geben
sungsplan so einfach, wie wir es sonst in 9. ein guter Nächster sein
der Bibel nicht finden. 10. ein ethisch hochstehendes,
Alles fängt mit der »Gnade« Gottes angesehenes Leben führen.
an: Er ergreift die Initiative, indem er uns Man wird nicht durch »Werke« ge-
seine Gnade schenkt. Die Erlösung wird rettet. Und man wird auch nicht durch
Menschen geschenkt, die ihrer ausge- Glauben und »Werke« gerettet. Man wird
sprochen unwürdig sind, und zwar auf nur »durch Glauben« gerettet. Sobald
der Grundlage der Person und des Wer- man irgendwelche Werke als Mittel hin-
kes des Herrn Jesus Christus. zufügt, das ewige Leben zu erlangen,
Die Gnade wird uns jetzt geschenkt. geschieht die Erlösung nicht länger aus
Diejenigen, die errettet sind, können es Gnade (Röm 11,6). Ein Grund für die
wissen. Paulus sagt, als er den Ephesern Tatsache, daß »Werke« ausdrücklich
schreibt: »Ihr seid errettet.« Er wußte ausgeschlossen sind, ist, daß damit
das, und sie wußten es auch. der menschliche Selbstruhm verhindert
Die Gabe des ewigen Lebens kann wird. Wenn jemand sich durch »Werke«
man nur »durch Glauben« erlangen. retten könnte, könnte er sich damit vor
»Glauben« bedeutet, daß der Mensch sei- Gott brüsten. Das ist jedoch unmöglich
nen Platz vor Gott als verlorener, schul- (Röm 3,27).
diger Sünder einnimmt und den Herrn Wenn jemand durch seine eigenen
Jesus als seine einzige Hoffnung auf Er- guten Werke hätte gerettet werden kön-
lösung annimmt. Echter, errettender nen, dann wäre der Tod Christi unnötig
Glaube ist die Hingabe einer Person an gewesen (Gal 2,21). Doch wir wissen,
eine andere. daß der Grund für sein Sterben war, daß
Jede Vorstellung, daß der Mensch es keinen anderen Weg gab und gibt,
sich die Erlösung in irgendeiner Weise durch den schuldige Sünder gerettet
verdienen könnte, wird für immer durch werden können.
die Worte zunichte gemacht: »Und das Wenn irgend jemand durch seine
nicht aus euch.« Tote können nichts tun, eigenen guten Werke gerettet würde,
und Sünder verdienen nichts anderes als dann wäre er sein eigener Erlöser und
Strafe. könnte sich selbst anbeten. Doch das
»Gottes Gabe ist es.« Eine Gabe ist wäre Götzendienst, und den hat Gott
natürlich ein kostenloses Geschenk, an verboten (2. Mose 20,3).
das keine Bedingungen geknüpft sind. Auch wenn jemand durch Glauben
Das ist die einzige Art, wie Gott uns die an Christus und seine eigenen guten Wer-
Erlösung anbietet. Die »Gabe Gottes« ist ke errettet werden könnte, dann hätten
Erlösung »aus Gnade« und »durch Glau- wir die unmögliche Situation zweier
ben«. Sie wird allen Menschen überall Erlöser – Jesus und des Sünders. Chri-
auf der Welt angeboten. stus müßte dann die Ehre für seine Erlö-
2,9 Erlösung kommt »nicht aus Wer- serschaft mit einem anderen teilen, und
ken«, d. h. sie ist nicht etwas, das sich je- das wird er nicht tun (Jes 42,8).
mand durch sogenannte gute Taten ver- Schließlich haben wir noch das Argu-
dienen könnte. Man kann sich die Er- ment, daß Gott einem Menschen etwas
lösung keineswegs verdienen durch: schuldig wäre, wenn der Mensch zu sei-
1. Konfirmation ner Erlösung durch seine Werke etwas
2. Taufe beitragen könnte. Auch das ist unmög-
3. Kirchenmitgliedschaft lich. Gott kann niemals einem Menschen
4. Gottesdienstbesuch etwas schulden (Röm 11,35).

902
Epheser 2

Im Gegensatz zu den Werken schließt ke, die Gott zuvor bereitet hat, damit wir
der Glaube das Rühmen aus (Röm 3,27), in ihnen wandeln sollen.« Mit anderen
weil darin kein Verdienst liegt. Niemand Worten, Gott hat einen Plan für jeden
hat ein Recht, darauf stolz zu sein, daß er Menschen. Schon vor unserer Bekehrung
sein Leben dem Herrn anvertraut hat. hat er eine geistliche Karriere für uns ge-
Glaube an Ihn ist das Vernünftigste, Ra- plant. Unsere Verantwortung besteht da-
tionalste und Wichtigste, das ein Mensch rin, seinen Willen für uns herauszufin-
tun kann. Es ist nur logisch und vernünf- den und diesem Willen zu gehorchen.
tig, seinem Schöpfer und Erlöser zu ver- Wir haben keinen eigenen Plan für un-
trauen. Wenn wir ihm nicht vertrauen sere Leben auszuarbeiten, sondern den
können, wem dann? Plan anzunehmen, den er für uns vorge-
2,10 Das Ergebnis der Erlösung ist, zeichnet hat. Das befreit uns von Neid
daß wir »sein Gebilde« sind, eine Schöp- und Unruhe, und macht uns sicher, daß
fung Gottes, nicht unsere eigene. Ein unser Leben ihm ein Maximum an Ehre
wiedergeborener Christ ist ein Meister- bringt, andere am besten segnet und uns
stück Gottes. Wenn wir an das Rohmate- den größten Lohn einträgt.
rial denken, mit dem er sich zufrieden Um die »guten Werke«, die er für uns
geben muß, so ist sein Werk umso er- geplant hat, herauszufinden, sollten wir:
staunlicher. Dieses Meisterstück ist in 1. jede Sünde bekennen und lassen, so-
der Tat eine Neuschöpfung durch die bald sie uns bewußt wird, 2. ihm ständig
Vereinigung mit Christus, denn »wenn und ohne Vorbehalte hingegeben sein, 3.
jemand in Christus ist, so ist er eine neue das Wort Gottes studieren, um seinen
Schöpfung; das Alte ist vergangen, siehe, Willen zu erkennen, und dann tun, was
Neues ist geworden« (2. Kor 5,17). immer er uns sagt, 4. jeden Tag Zeit im
Und der Sinn der Neuschöpfung fin- Gebet verbringen, 5. Gelegenheiten zum
det sich in dem Ausdruck »zu guten Wer- Dienst ergreifen, wie sie sich bieten, und
ken«. Es stimmt zwar, daß wir nicht 6. die Gemeinschaft mit anderen Chri-
durch gute Werke gerettet werden, doch sten pflegen und ihren Rat einholen. Gott
es stimmt genauso, daß wir zu guten bereitet uns für »gute Werke« zu, und er
Werken errettet werden. »Gute Werke« bereitet »gute Werke« für uns zu. Dann
sind nicht die Wurzel, sondern die Frucht. belohnt er uns, wenn wir sie tun. So groß
Wir tun keine Werke, um errettet zu wer- ist seine Gnade!
den, sondern weil wir errettet sind.
Dieser Aspekt der Wahrheit wird in E. Die Einheit der gläubigen Juden
Jakobus 2,14-26 betont. Wenn Jakobus und Heiden in Christus (2,11-22)
sagt, daß »Glaube ohne Werke tot« ist, In der ersten Hälfte von Kapitel 2 hat
dann meint er nicht, daß wir durch Glau- Paulus die Erlösung einzelner Heiden
ben und Werke errettet werden, sondern und Juden nachgezeichnet. Nun schreitet
er meint den Glauben, der zu einem er zur Aufhebung der ehemaligen natio-
Leben »guter Werke« führt. »Werke« be- nalen Unterschiede fort, ihrer Einheit in
weisen die Echtheit unseres Glaubens. Christus und ihrer Bildung der Gemein-
Paulus stimmt von Herzen ein: »Wir sind de, dem heiligen Tempel in dem Herrn.
sein Gebilde, in Christus Jesus geschaf- 2,11 In den Versen 11 und 12 erinnert
fen zu guten Werken.« der Apostel seine Leser daran, daß sie
Gottes Reihenfolge ist folgende: vor ihrer Bekehrung durch Geburt »aus
Glaube → Erlösung → gute Werke → den Nationen« waren und deshalb von
Lohn. Glaube führt zur Erlösung. Erlö- den Juden wie Aussätzige behandelt
sung führt zu »guten Werken«. Gute wurden. Zunächst waren sie also verach-
Werke werden von Gott belohnt. tet. Das wird durch die Tatsache gezeigt,
Doch nun erhebt sich die Frage: Wel- daß die Juden sie »Unbeschnittene«
che Art von »guten Werken« soll ich nannten. Das bedeutete, daß die Heiden
denn tun? Paulus antwortet: »Gute Wer- an ihrem Leib nicht das chirurgische Zei-

903
Epheser 2

chen trugen, das die Israeliten als Volk den war es bei Todesstrafe verboten, die
des Bundes Gottes bezeichnete. Der inneren Tempelhöfe zu betreten.
Name »Unbeschnittene« war eine rassi- In seinem Gespräch mit einer heidni-
stische Beleidigung, ähnlich den schen Frau in der Gegend von Tyrus und
Schimpfnamen, die Völker heute für ver- Sidon prüfte der Herr Jesus ihren Glau-
achtete Nationalitäten benutzen. Wir ben, indem er die Juden als Kinder des
können ein wenig von der Schärfe dieses Hauses und die Heiden als Schoßhunde
Schimpfnamens erahnen, wenn wir unter dem Tisch darstellte. Sie erkannte
hören, wie David von dem Heiden an, daß sie nur ein kleiner Hund war,
Goliath sagt: »Wer ist denn dieser unbe- doch bat sie um einige Krümel, die die
schnittene Philister da, der die Schlacht- Kinder vielleicht fallen lassen mochten.
reihen des lebendigen Gottes verhöhnt?« Man braucht kaum zu erwähnen, daß ihr
(1. Sam 17,26). Glaube belohnt wurde (Mk 7,24-30). Hier
Die Juden dagegen nannten sich in Epheser 2,11 erinnert der Apostel seine
selbst die »Beschneidung«. Auf diesen Leser daran, daß sie einst Heiden und
Namen waren sie stolz. Er bezeichnete deshalb verachtet waren.
sie als Gottes auserwähltes irdisches 2,12 Die Heiden waren auch »ohne
Volk, das von allen anderen Nationen der Christus«: Sie hatten keinen Messias. Der
Welt ausgesondert worden war. Paulus Messias war Israel verheißen. Obwohl
nimmt an ihrem Rühmen teilweise An- vorausgesagt war, daß auch die Natio-
stoß, indem er sagt, daß ihre Beschnei- nen durch den Dienst des Messias geseg-
dung nur »im Fleisch mit Händen ge- net würden (Jes 11,10; 60,3), würde er
schieht«. Sie ist rein äußerlich. Obwohl doch ein Jude sein und in erster Linie
sie das äußere Zeichen des Bundesvolkes »den verlorenen Schafen des Hauses
Gottes tragen, haben sie doch nicht die Israel« dienen (Matth 14,24). Zusätzlich
innere Echtheit des Glaubens an den zu der Tatsache, daß sie ohne Messias
Herrn. »Denn nicht der ist ein Jude, der waren, waren die Heiden auch »ausge-
es äußerlich ist, noch ist die äußerliche schlossen vom Bürgerrecht Israels«. Ein
Beschneidung im Fleisch Beschneidung; Fremder ist jemand, der nicht dazu-
sondern der ist ein Jude, der es innerlich gehört. Er ist fremd und Ausländer, er
ist, und Beschneidung ist die des Her- hat keine Privilegien der Staatsbürger-
zens, im Geist, nicht im Buchstaben. Sein schaft. Auf die Gemeinschaft Israels be-
Lob kommt nicht von Menschen, son- zogen hieß das, daß die Heiden draußen
dern von Gott« (Röm 2,28.29). standen und nur hineinschauen konnten.
Doch ob die Juden nun im Herzen Und sie waren »Fremdlinge hinsichtlich
auch beschnitten waren oder nicht, das der Bündnisse der Verheißung«. Gott
Argument in Vers 11 ist, daß sie in ihren hatte durch Männer wie Abraham, Isaak,
Augen das Volk waren und die Heiden Jakob, Mose, David und Salomo mit dem
verachteten. Diese Feindschaft zwischen Volk Israel Bündnisse abgeschlossen.
Juden und Heiden war der größte rassi- Diese »Bündnisse« verheißen den Juden
sche und religiöse Gegensatz, den die Segnungen. Ganz praktisch standen hier
Welt je gesehen hat. Die Juden genossen die Heiden draußen. Sie hatten keine
eine große Vorrangstellung vor Gott »Hoffnung«, sowohl als einzelne als
(Röm 9,4.5); der Heide war ein Fremd- auch als Volksgemeinschaft. Als Volksge-
ling. Wenn er den wahren Gott in der meinschaft hatten sie keinerlei Verhei-
festgesetzten Weise verehren wollte, so ßung, daß ihr Land, ihre Regierung oder
mußte er wirklich ein jüdischer Konver- ihr Volk überleben würden. Und auch als
tit werden (vgl. Rahab und Ruth). Der Einzelne hatten sie nur trübe Aussichten:
jüdische Tempel in Jerusalem war der Sie hatten »keine Hoffnung« über das
einzige Ort auf Erden, dem Gott seinen Grab hinaus. Jemand hat einmal gesagt,
Namen gegeben hatte und wo die Men- daß ihre Zukunft eine sternenlose Nacht
schen sich ihm nähern konnten. Den Hei- ist. Und schließlich waren die Heiden

904
Epheser 2

auch noch »ohne Gott in der Welt«. Das Das verhält sich folgendermaßen:
heißt nicht, daß sie Atheisten gewesen Wenn ein Jude an den Herrn Jesus
wären. Sie hatten ihre hölzernen und glaubt, verliert er seine nationale Iden-
steinernen Götter und beteten sie an. tität, und ist von da an »in Christus«. Ge-
Doch sie kannten den einen und einzig nauso, wenn ein Heide den Erlöser an-
wahren Gott nicht. Sie waren ohne Gott nimmt, ist der nicht länger ein Heide,
in einer gottlosen, feindlichen Welt. sondern von da an »in Christus«. Mit
2,13 Die Worte »jetzt aber« markieren anderen Worten, gläubige Juden und
einen weiteren, stufenlosen Übergang gläubige Heiden, die einst durch Feind-
(vgl. 2,4). Die ephesischen Heiden wur- schaft getrennt waren, sind nun »beide
den von dieser Stellung der Entfernung eins« in Christus. Ihre Vereinigung mit
und Entfremdung erlöst, und waren in Christus vereinigt sie gleichzeitig mitein-
eine Stellung der Gottesnähe erhoben ander. Deshalb ist ein Mensch der »Frie-
worden. Das geschah zur Zeit ihrer de« geworden, so wie Micha vorausge-
Bekehrung. Als sie dem Erlöser ihr Leben sagt hat (Micha 5,5).
anvertrauten, versetzte Gott sie »in Chri- Die Auswirkungen seines Werkes als
stus Jesus« und nahm sie in dem Gelieb- »unser Friede« werden in den Versen 14-
ten an. Von da an waren sie Gott so 18 genauer ausgeführt.
»nahe« wie Christus es ist, weil sie »in Das erste ist das Werk der Vereini-
Christus Jesus« waren. Der Preis dieser gung, das wir soeben beschrieben haben.
wunderbaren Veränderung war »das Blut »Er hat aus beiden eins gemacht« – d. h.,
des Christus«. Ehe diese heidnischen sowohl gläubige Heiden als auch gläubi-
Sünder das Vorrecht der Nähe zu Gott ge Juden. Sie sind nicht länger Juden
genießen konnten, mußten sie von ihren oder Heiden, sondern Christen. Streng
Sünden gereinigt werden. Nur »das Blut genommen ist es falsch, von ihnen als Ju-
des Christus«, das auf Golgatha vergos- den- und Heidenchristen zu sprechen.
sen worden ist, konnte das erreichen. Als Alle fleischlichen Unterscheidungen, wie
sie den Herrn Jesus durch einen entschie- etwa die Nationalität, sind ans Kreuz
denen Glaubensakt annahmen, wurde geschlagen.
aller reinigender Wert seines kostbaren Die zweite Phase des Werkes Christi
Blutes ihrem Konto gutgeschrieben. könnte man »Zerstörung« nennen: »Er
Jesus hat sie nicht nur »nahe« hat … die Zwischenwand der Umzäun-
gebracht, er hat auch eine neue Gesell- ung abgebrochen.« Natürlich nicht eine
schaft geschaffen, in der die alte Feind- wirkliche Mauer, sondern die unsichtba-
schaft zwischen Juden und Heiden für re Mauer, die durch das mosaische Gesetz
immer abgeschafft war. Bis zur Zeit des aufgerichtet worden war, in dem es An-
NT war die ganze Welt in zwei Klassen weisungen gab, die das Volk Israel von
eingeteilt – Juden und Heiden. Unser den Nationen absonderte. Das ist oft
Heiland hat eine dritte eingeführt – die durch die Mauer dargestellt worden, die
Gemeinde Gottes (1. Kor 10,32). In den die Nichtjuden im Tempel auf den Vorhof
folgenden Versen sehen wir, wie gläubi- der Heiden beschränkte. An der Mauer
ge Juden und gläubige Heiden in Chri- gab es Warnschilder, die lauteten: »Nie-
stus eins gemacht werden, und in diese mand einer fremden Nation darf inner-
neue Gesellschaft eingeführt werden, in halb des Zaunes und der Mauer um den
der es weder Juden noch Heiden gibt. Tempel weilen. Wer immer dieses Gebot
2,14 »Denn er ist unser Friede.« Man übertritt, ist selbst für die Tatsache ver-
beachte, daß es nicht heißt: »Er hat Frie- antwortlich, daß sein Tod folgen wird.«
de geschaffen.« Das stimmt natürlich 2,15 Ein dritter Aspekt des Werkes
auch, wie wir im nächsten Vers sehen Christi war die Beendigung der »Feind-
werden. Doch hier geht es um die Tatsa- schaft«, die zwischen Juden und Heiden
che, daß er selbst unser »Friede« ist. Doch schwelte und auch zwischen Mensch
wie kann eine Person Friede sein? und Gott. Paulus zeigt, daß das Gesetz

905
Epheser 2

die unschuldige Ursache dieser Feind- 1. Es ist »neu«, daß die Heiden diesel-
schaft war, d. h., »das Gesetz der Gebote ben Rechte und Privilegien wie die
in Satzungen«. Das Gesetz des Mose war Juden haben.
ein einziges Gesetzeswerk, doch es be- 2. Es ist »neu«, daß sowohl Juden als
stand aus einzelnen Geboten, und diese auch Heiden ihre nationale Identität
wiederum bestanden aus Lehren oder verlieren, indem sie Christen werden.
Anordnungen, die viele, wenn nicht die 3. Es ist »neu«, daß Juden und Heiden
meisten Bereiche des Lebens abdeckten. gemeinsam Glieder am Leib Christi
Das Gesetz selbst war heilig, gerecht und sind.
gut (Röm 7,12), doch die sündhafte Na- 4. Es ist »neu«, daß ein Jude nun die
tur des Menschen benutzte das Gesetz Hoffnung hat, mit Christus zu regie-
als Anlaß zum Haß. Weil das Gesetz Isra- ren, statt Untertan in seinem Reich zu
el wirklich als auserwähltes Volk Gottes werden.
auf Erden einsetzte, wurden die Juden 5. Es ist »neu«, daß der Jude nicht mehr
überheblich und behandelten die Heiden dem Gesetz untersteht.
mit Verachtung. Die Heiden schlugen Die Gemeinde ist also eindeutig eine
mit tiefem Haß zurück, den wir nur zu »neue« Schöpfung, die eine besondere
gut als Anitsemitismus kennen. Doch Berufung und ein besonderes Schicksal
wie konnte Christus das Gesetz als hat und in den Plänen Gottes einen ein-
Grund der »Feindschaft« abschaffen? zigartigen Platz einnimmt. Doch die
Zuerst starb er, um die Strafe für das Auswirkungen des Werkes Christi sind
Gesetz zu bezahlen, das gebrochen wor- hier noch nicht erschöpft. Er hat auch
den war. So hat er alle gerechten An- »Frieden« zwischen Juden und Heiden
sprüche Gottes erfüllt. Nun hat das Ge- geschlossen. Er tat das, indem er den
setz über diejenigen, die »in Christus« Grund für die Feindschaft aufhob, indem
sind, nichts mehr zu sagen, denn ihre er den Menschen ein neues Wesen
Strafe ist völlig abgegolten. Die Gläubi- schenkte und eine neue Gemeinschaft
gen stehen nicht unter dem Gesetz, son- schuf. Das Kreuz ist Gottes Antwort auf
dern unter der Gnade. Doch das bedeutet Rassendiskriminierung, auf Apartheit,
nicht, daß sie jetzt leben könnten, wie es Antisemitismus, Bigotterie und jede
ihnen selbst gefällt, sondern sie stehen Form von Streit zwischen den Menschen.
jetzt unter dem Gesetz Christi und sollen 2,16 Zusätzlich zur Versöhnung der
leben wie es ihm gefällt. Juden und Heiden untereinander hat
Als Folge der Abschaffung der Feind- Christus »die beiden … mit Gott« ver-
schaft, die im Gesetz ihre Ursache hatte, söhnt. Obwohl Israel und die Nationen
hat der Herr die Möglichkeit geschaffen, normalerweise einander bitter feind
eine neue Schöpfung einzuführen. Er hat waren, gab es einen gemeinsamen Nen-
in sich selbst aus den beiden – d. h. aus ner, der sie verband – ihre Feindschaft
den gläubigen Juden und den gläubigen Gott gegenüber. Der Grund für diese
Heiden – »einen neuen Menschen« ge- Feindschaft war die Sünde. Durch seinen
schaffen – die Gemeinde. Durch ihre Ver- Tod am Kreuz beseitigte der Herr Jesus
einigung mit ihm sind die früheren Geg- die »Feindschaft«, indem er ihre Ursache
ner miteinander in dieser »neuen« Ge- beseitigte. Diejenigen, die ihn annehmen,
meinschaft vereinigt. Die Gemeinde ist sind gerecht gemacht, ihnen ist vergeben,
in dem Sinne neu, daß sie eine Art Orga- sie sind erlöst, begnadigt und befreit von
nismus darstellt, den es vorher so noch der Macht der Sünde. Die Feindschaft ist
nie gab. Es ist wichtig, das zu erkennen. vorbei, jetzt haben sie Frieden mit Gott.
Die NTliche Gemeinde ist keine Fortset- Der Herr Jesus vereinigt die gläubigen
zung des ATlichen Israel. Sie ist von Juden und Heiden »in einem Leib«, der
allem Vorhergehenden oder Nachfolgen- Gemeinde, und stellt diesen Leib vor
den völlig verschieden. Das sollte aus Gott hin, an dem sich keine Spur der
dem Folgenden hervorgehen: Feindschaft mehr findet.

906
Epheser 2

Gott mußte nie mit uns versöhnt wer- schen. Sein Tod, sein Begräbnis und seine
den, denn er hat uns nie gehaßt. Aber wir Auferstehung beseitigten jedes Hinder-
mußten mit ihm versöhnt werden. Das nis des Gesetzes, das uns daran hinderte,
Werk unseres Herrn am Kreuz gab ihm in die Gegenwart Gottes zu treten. Nun
die gerechte Grundlage, auf der wir in als Mittler lebt er in der Höhe, um uns in
seine Gegenwart als Freunde statt als der Gemeinschaft mit dem Vater zu
Feinde treten konnten. erhalten. Wir nähern uns Gott nur in sei-
2,17 In Vers 14 ist Jesus unser Friede. nem Namen. Wir haben keinen eigenen
In Vers 15 hat er Frieden gestiftet. Nun Wert, also bitten wir, weil Jesus Gott
sehen wir, daß er »kam und … Frieden soviel wert ist. Die Teilhaber am Gebet
verkündigt« hat. Wann kam er und wie sind »wir beide« – gläubige Juden und
kam er? Zunächst kam er persönlich in gläubige Heiden. Das Vorrecht besteht
der Auferstehung. Und zweitens kam er darin, daß wir »Zugang« haben. Unser
vertreten durch den Heiligen Geist. Er Beistand im Gebet ist der Heilige
»verkündigte Frieden« in der Aufer- Geist – »durch einen Geist«. »Ebenso
stehung, ja »Friede« war eines der ersten aber nimmt auch der Geist sich unserer
Worte, die er nach seiner Auferstehung Schwachheit an; denn wir wissen nicht,
von den Toten sprach (Lk 24,36; Joh 20,19. was wir bitten sollen, wie es sich ge-
21.26). Dann sandte er die Apostel in der bührt, aber der Geist verwendet sich
Macht des Heiligen Geistes hinaus und selbst für uns in unaussprechlichen Seuf-
»verkündigte Frieden« durch sie zern« (Röm 8,26).
(Apg 10,36). Die gute Nachricht des Frie- Derjenige, dem wir uns nähern, ist
dens wurde »euch … verkündigt…, den der »Vater«. Kein Gläubiger des AT
Fernen« (den Heiden) und »den Nahen« kannte Gott je als Vater. Vor der Aufer-
(den Juden), eine gnädige Erfüllung von stehung Christi standen die Menschen
Gottes Verheißung in Jesaja 57,19. vor Gott als Geschöpfe vor ihrem Schöp-
2,18 Der praktische Beweis, daß nun fer. Erst nachdem Christus auferstanden
ein Zustand des Friedens zwischen den war, sagte er: »Geh aber hin zu meinen
Gliedern des einen Leibes und Gott Brüdern und sprich zu ihnen: Ich fahre
besteht, ist, daß sie jederzeit »Zugang« auf zu meinem Vater und eurem Vater
zur Gegenwart Gottes haben. Das steht und zu meinem Gott und eurem Gott«
im scharfen Kontrast zur Haushaltung (Joh 20,17). Als Auswirkung seines Erlö-
des AT, in der nur der Hohepriester das sungswerkes waren die Gläubigen zu
Allerheiligste betreten durfte, wo Gott diesem Zeitpunkt zum ersten Mal in der
anwesend war. Und er durfte es auch nur Lage, Gott »Vater« zu nennen. In Vers 18
an einem Tag im Jahr betreten. Eadie sind alle drei Personen der Dreieinigkeit
zeigt den Kontrast auf: direkt am Gebet des einfachsten Gläubi-
Doch nun genießt auch der fernste Heide, gen beteiligt: Er betet zu Gott dem
der in Christus ist, stets und ganz real das »Vater«, nähert sich ihm »durch« den
große geistliche Vorrecht, das nur ein Herrn Jesus Christus und spricht in der
Mensch aus einem Stamm eines Volkes an Kraft des Heiligen »Geistes«.
einem Tag des Jahres besaß, und das auch nur 2,19 In den letzten vier Versen dieses
13)
zeitweilig und als Vorbild. Kapitels listet der Apostel Paulus einige
Durch das Gebet kann jeder Gläubige der überwältigenden neuen Vorrechte
den Thronsaal des Himmels betreten, vor der gläubigen Heiden auf. Sie sind »nicht
dem Herrscher des Universums nieder- mehr Fremde und Nichtbürger«. Nie-
knien und ihn als »Vater« ansprechen. mals wieder werden sie Fremde, Hunde,
Hier wird uns nun die normale Ord- Unbeschnittene, Ausgestoßene sein. Sie
nung, der wir im Gebet folgen sollten, sind nun »Mitbürger« aller »Heiligen«
angegeben. Als erstes beten wir »durch des NTlichen Zeitalters. Die Gläubigen
ihn« (d. h. den Herrn Jesus). Er ist der mit jüdischen Vorfahren haben ihnen ge-
eine Mittler zwischen Gott und Men- genüber keinen Vorteil mehr. Alle Chri-

907
Epheser 2

sten sind im Himmel Bürger erster Klas- Sinne Apostel, und diejenigen, die das
se (Phil 3,20.21). Sie sind auch »Gottes Wort zur Erbauung predigen, sind Pro-
Hausgenossen«. Sie sind nicht nur in das pheten, doch sind sie nicht Apostel und
übernatürliche Reich Gottes verpflanzt Propheten in der Hauptbedeutung des
worden, sie sind auch in die göttliche Wortes.
Familie adoptiert worden. »Jesus Christus« ist nicht nur die
2,20 Und schließlich sind sie Glieder »Grundlage« des Tempels, sondern auch
der Gemeinde geworden, oder, wie Pau- der »Eckstein«. Kein einzelnes Bild oder
lus es hier darstellt, sie sind Steine im Vorbild kann ihn in all seiner vielfältigen
Bau des heiligen Tempels geworden. Herrlichkeit oder seine verschiedenen
Ganz ausführlich schildert Paulus diesen Dienste zeigen. Es gibt mindestens drei
Tempel – seine »Grundlagen«, seinen mögliche Erklärungen des Wortes »Eck-
»Eckstein«, seinen Zusammenhalt, seine stein«, die alle auf den Herrn Jesus Chri-
Einheit und Symmetrie, sein Wachstum stus als das einzige, wichtigste und
und andere außerordentliche Eigen- unverzichtbare Haupt der Gemeinde
schaften. hinweisen.
Dieser Tempel ist »aufgebaut auf der 1. Wenn wir das Wort Eckstein hören,
Grundlage der Apostel und Propheten«. dann denken wir normalerweise an
Das bezieht sich auf die »Apostel und einen Stein, der unten an einer vorde-
Propheten« des NT, es könnte sich nicht ren Ecke des Gebäudes liegt. Da die
auf die ATlichen Propheten beziehen, gesamte restliche Struktur von ihm
denn diese wußten von der Gemeinde getragen zu sein scheint, ist er das
nichts. Es bedeutet nicht, daß die »Apo- Bild für etwas grundlegend Wichti-
stel und Propheten« die Grundsteine der ges geworden. In diesem Sinne han-
Gemeinde waren. Christus ist die delt es sich um ein wirkliches Bild des
»Grundlage« (1. Kor 3,11). Doch sie leg- Herrn Jesus. Auch kann hier noch die
ten durch ihre Lehre über die Person und Vorstellung der Vereinigung von
das Werk des Herrn Jesus die Grundlage. Juden und Heiden in der Gemeinde
Die Gemeinde ist auf Christus gegrün- durch ihn mit gemeint sein, weil die-
det, wie er durch das Bekenntnis und die ser Stein zwei Wände miteinander
Lehre der »Apostel und Propheten« verbindet.
offenbart wurde. Als Petrus ihn als den 2. Einige Bibelausleger glauben, daß
Christus bekannte, den Sohn des leben- das Wort, das wir mit Eckstein über-
digen Gottes, verkündigte Jesus, daß sei- setzen, sich auf den Schlußstein eines
ne Gemeinde auf diesem Felsen gebaut Bogens bezieht. Dieser Stein hat den
werde, nämlich auf der festen Wahrheit, obersten Platz im Bogen inne und
daß er der Gesalbte Gottes und Gottes hält die anderen Steine an ihrem Ort.
einziger Sohn ist (Matth 16,18). In Offen- So ist Christus auch der Oberste in
barung 21,14 werden die Apostel mit den der Gemeinde. Er ist auch der, auf
zwölf Grundsteinen des heiligen Jerusa- den man nicht verzichten kann: Wenn
lem in Verbindung gebracht. Sie sind man ihn entfernt, bricht alles andere
nicht die Grundlage, aber sie sind eng zusammen.
damit verbunden, weil sie als erste die 3. Eine dritte Verständnismöglichkeit
großen Wahrheiten über Christus und des Worte ist der des Schlußsteins
die Gemeinde lehrten. Die »Grundlage«, einer Pyramide. Dieser Stein hat den
die sie legten, ist für uns in den Schriften obersten Platz im ganzen Gebäude
des NT festgehalten, obwohl sie selbst inne. Er allein hat diese Größe und
nicht mehr bei uns sind. In einem weite- Gestalt. Und seine Winkel und Kan-
ren Sinne gibt es in allen Zeitaltern Men- ten bestimmen die Gestalt der gesam-
schen, deren Dienst apostolisch oder pro- ten Pyramide. So ist Christus das
phetisch ist. Missionare und Gemeinde- Haupt der Gemeinde. Seine Person
gründer sind in einem etwas geringeren und sein Dienst sind einzigartig, und

908
Epheser 2

er ist der Eine, der der Gemeinde ihre Juden und Heiden sind ein lebendiges
einzigartigen Eigenschaften gibt. Als Heiligtum, in dem er wohnt, in dem er
erstes ist er ihre »Grundlage«: seine Herrlichkeit offenbart. 2. Dieser
2,21 Die Worte »in ihm« beziehen sich Tempel ist heilig. Er ist von der Welt
auf Christus: Er ist die Quelle des Lebens abgesondert und für seine heiligen
und des Wachstums der Gemeinde. Blai- Zwecke geweiht. 3. Als »heiliger Tem-
kie sagt: pel« ist die Gemeinde das Zentrum, von
In ihm werden wir zur Gemeinde hinzu- dem aus Lob, Dank und Anbetung durch
gefügt, in ihm wachsen wir in ihr, in ihm den Herrn Jesus Christus zu Gott auf-
wächst der ganze Tempel zu seiner endgülti- steigen.
gen Bestimmung, wenn der »Eckstein« unter Paulus beschreibt diesen »heiligen
den Rufen »Gnade, Gnade ihm« an seinen Tempel« weiter mit den Worten »im
14)
Platz gesetzt wird. Herrn«. Mit anderen Worten, der Herr
Die Einheit und Symmetrie des Tem- Jesus ist die Grundlage der Heiligkeit des
pels wird durch die Ausdrücke »zusam- Tempels. Seine Glieder sind durch ihre
mengefügt« und »der ganze Bau« nahe- Gemeinschaft mit ihm von ihrer Stellung
gelegt. Es handelt sich um eine Einheit her »heilig«, und sie sollten aus Liebe zu
vieler einzelner Mitglieder. Jedes Glied ihm auch praktisch »heilig« sein.
hat einen besonderen Platz in dem »Bau«, 2,22 In diesem wundervollen Tempel
für den er oder sie genau geeignet sind. haben die gläubigen Heiden gleichrangi-
Steine, die im Tale des Todes zur Ehre ge Plätze mit den gläubigen Juden. Es
Gottes ausgegraben wurden, erweisen sollte uns erregen, so etwas zu lesen, wie
sich als vollkommen passend. Dieses Ge- es die Epheser und andere erregt hat, als
bäude hat die einzigartige Eigenschaft, sie davon zuerst hörten. Die ungeheure
daß es »wächst«. Doch ist diese Eigen- Würde der Stellung des Gläubigen be-
schaft nicht wie das Wachstum eines steht darin, daß er eine »Behausung Got-
Gebäudes durch die Hinzufügung von tes im Geist« ist. Das ist der Zweck des
Steinen und Zement. Man denke es sich Tempels – einen Ort zu stiften, wo Gott
eher als das Wachstum eines lebendigen in Gemeinschaft mit seinem Volk leben
Organismus, wie etwa des menschlichen kann. Die Gemeinde ist dieser Ort. Man
Leibes. Denn schließlich ist die Gemeinde vergleiche dies einmal mit der Stellung
kein lebloses Gebäude. Auch handelt es der Heiden im AT. Da durften sie sich
sich nicht um eine Organisation. Sie ist noch nicht einmal Gottes Wohnort nä-
eine lebendige Einheit mit Christus, der hern. Und nun sind sie selbst ein Teil
das Haupt ist, und dessen Leib alle Gläu- davon!
bigen sind. Der Leib wurde zu Pfingsten Und man beachte die Aufgabe jeder
geboren, und ist seitdem immer weiter Person der Gottheit in Verbindung mit
gewachsen, und wird es auch in Zukunft der Gemeinde: 1. »In ihm«, d. h. in Chri-
bis zur Entrückung tun. stus. Durch die Vereinigung mit ihm
Dieses wachsende Gebäude aus werden wir in den Tempel eingebaut. 2.
lebendigen Materialien wird als »heiliger Eine »Behausung Gottes«. Dieser Tempel
Tempel im Herrn« beschrieben. Das ist die Wohnstätte Gottes des Vaters auf
Wort, das Paulus hier für den »Tempel« Erden. 3. »Im Geist.« In der Person des
benutzt, ist das, was das Allerheiligste Heiligen Geistes wohnt Gott in der
(gr. naos) bezeichnet, nicht den Vorhof. Er Gemeinde (1. Kor 3,16).
dachte an das Hauptgebäude im Tempel- Und nun endet das Kapitel, das mit
bezirk, in dem sich das Allerheiligste be- der Beschreibung der Heiden begann,
fand. Gott wohnte dort und dort zeigte er die tot, verderbt, teuflisch und ungehor-
sich in einer hellen, leuchtenden Herr- sam waren, mit denselben Heiden, die
lichkeitswolke. von aller Schuld und Verunreinigung
Wir können hier mehreres lernen: 1. gereinigt sind und nun eine »Behausung
Gott wohnt in der Gemeinde. Gerettete Gottes im Geist« bilden!

909
Epheser 3

F. Ein Einschub über das Geheimnis Man nimmt allgemein an, daß dieser
(3,1-13) Brief während der ersten Gefangenschaft
3,1 Paulus beginnt mit einer Aussage in des Paulus in Rom geschrieben wurde.
Vers 1, die in Vers 2 unterbrochen wird, Damit hätte einhergehen können, daß er
und bis Vers 14 nicht wieder erwähnt sich besiegt fühlt, Selbstmitleid hat oder
wird. Die dazwischenliegenden Verse um Sympathie wirbt. Doch Paulus nennt
bilden einen Einschub, dessen Thema sich selbst einen »Gefangenen Christi
das Geheimnis ist – Christus und die Jesu«, was auf Würde und Sieg hinweist,
Gemeinde. und darauf, daß er seine Situation ange-
Interessant ist in diesem Zusammen- nommen hat. R. Paxson drückt es tref-
hang die Tatsache, daß unser gegenwärti- fend aus:
ges Zeitalter der Gemeinde selbst ein Ein- Es riecht im Epheserbrief nicht nach
schub in den Plänen Gottes ist. Das kann Gefängnis, denn im Geist kann man Paulus
man folgendermaßen erklären: Während nicht fesseln. Er ist dort als Gefangener
der meisten Zeit der Geschichte, wie sie Roms, doch das wird er nicht zugeben, und er
im AT aufgezeichnet ist, handelte Gott behauptet, ein Gefangener Christi Jesu zu
fast ausschließlich mit dem jüdischen sein. Was ist das Geheimnis einer solch sieg-
Volk. Genauer gesagt dreht sich die reichen Haltung, die wie aus einer anderen
Erzählung zwischen 1. Mose 12 und Ma- Welt zu sein scheint? Der Geist des Paulus
leachi 3 fast ausschließlich um Abraham weilt mit Christus in der Himmelswelt, auch
und seine Nachkommen. Als der Herr wenn sein Leib im Gefängnis schmachten
Jesus auf die Erde kam, wurde er von Isra- mag.15)
el abgelehnt. Als Konsequenz setzte Gott Er war ganz ausdrücklich wegen der
diese Nation zeitweilig als sein erwähltes, »Nationen« gefangen. In seinem gesam-
irdisches Volk beiseite. Wir leben nun im ten Dienst erfuhr er erbitterten Wider-
Zeitalter der Gemeinde, in dem Juden stand gegen seine Lehre, daß in der
und Heiden vor Gott auf derselben Stufe christlichen Gemeinde gläubige Heiden
stehen. Nachdem die Gemeinde vollendet die gleichen Rechte und Privilegien
und in den Himmel heimgeholt ist, wird haben wie die gläubigen Juden. Was
Gott seinen Plan mit Israel als Volk wei- schließlich seine Gefangennahme und
terführen. Die Zeiger der prophetischen seine Verhandlung vor dem Kaiser ver-
Uhr werden sich wieder bewegen. Des- ursacht hatte, war die falsche Anklage, er
halb ist das gegenwärtige Zeitalter eine habe Trophimus, einen Epheser, in den
Art Einschub zwischen Gottes vergange- Tempelbereich geführt, den die Heiden
nem und zukünftigen Handeln mit Israel. nicht betreten durften (Apg 21,29). Hin-
Es handelt sich um eine neue Haushal- ter dieser Anklage verbarg sich schon die
tung in Gottes Plan – einzigartig und von böse Feindschaft der religiösen Anführer.
allem vor und nach ihr getrennt. 3,2 Nun unterbricht Paulus seinen
In den Versen 2-13 gibt Paulus eine Gedankengang und beginnt mit einer
ziemlich ausführliche Darstellung dieses Erklärung des Geheimnisses, und zwar
Einschubs. Ist es nur ein ungeplanter mit einem literarischen Einschub, der
Zufall, daß er dabei einen literarischen einen geschichtlichen Einschub erklärt.
Einschub benutzt, um einen Einschub in Das »wenn« (Elb) in Vers 2 (wenn ihr
den Zeitaltern zu erklären? anders gehört habt …) könnte den Ein-
Der Apostel beginnt den Abschnitt druck erwecken, daß die Leser des Apo-
mit den Worten: »Deswegen bin ich, Pau- stels nichts von seiner besonderen Hei-
lus, der Gefangene Christi Jesu für euch, denmission wußten. Dieser Vers wird
die Nationen.« Der Ausdruck »deshalb« deshalb manchmal benutzt, um zu be-
schaut auf das soeben Gesagte zurück, weisen, daß Paulus diejenigen nicht
als es um die bevorzugte Stellung ging, kannte, denen er seinen Brief schrieb,
die die gläubigen Heiden als Ergebnis und daß der Brief deshalb nicht an seine
ihres Einsseins mit Christus erhalten. geliebten Epheser gerichtet sein könne.

910
Epheser 3

Doch »wenn« enthält auch oft die Bedeu- paraphrasiert diesen Abschnitt folgen-
tung »weil«. Deshalb paraphrasiert eine dermaßen:
englische Übersetzung etwa so: »Ihr Bezüglich dessen (d. h. was ich bisher
müßt doch gehört haben …« Sie hatten schon geschrieben habe): Um euch das noch
ganz sicherlich gewußt, daß ihm dieser verständlicher zu machen, möchte ich euch
besondere Dienst übertragen worden nun zu dem Thema ausführlicher schreiben,
war. Er beschreibt seinen Dienst als eine so daß ihr erkennen könnt, daß euer Lehrer in
»Verwaltung der Gnade Gottes«. Ein Ver- dieser Angelegenheit des Geheimnisses gut
16)
walter ist jemand, der ernannt wird, die informiert ist …
Angelegenheiten eines anderen zu be- Darbys Übersetzung »das Geheimnis
treuen. Paulus war Gottes Verwalter. Er des Christus« legt uns nahe, daß es hier
hatte den Auftrag, die großartige Wahr- um den mystischen Christus geht, d. h.
heit über die NTliche Gemeinde zu leh- um das Haupt und den Leib. (Eine an-
ren und in die Tat umzusetzen. Es war dere Stelle, an der der Name Christus für
eine »Verwaltung der Gnade Gottes« in den Herrn Jesus und sein Volk steht, ist
mindestens dreierlei Hinsicht: 1. Kor 12,12.)
1. Es war eine Gnade für den Erwähl- 3,5 Die Verse 5 und 6 geben uns die
ten. Paulus hatte die Gnade nicht ver- vollständigste Definition des Geheimnis-
dient, die ihm solch ein hohes Vor- ses, die wir besitzen. Paulus erklärt, was
recht gewährte. ein Geheimnis ist, und dann erklärt er
2. Es war eine gnädige Botschaft. Es das Geheimnis des Christus.
ging darin um Gottes kostenlose und Zunächst handelt es sich um eine
unverdiente Freundlichkeit. Wahrheit, die »in anderen Geschlechtern
3. Es war eine Gnade für die Empfänger den Söhnen der Menschen nicht kundge-
der Botschaft. Die Heiden waren tan« worden ist. Das bedeutet, daß es
ziemlich unwürdig, eine solche Be- vergeblich ist, nach ihr im AT zu suchen.
vorzugung zu erfahren. Es mag Vorbilder und Schatten geben,
Doch wurde diese »Verwaltung der doch die Wahrheit selbst war zu dieser
Gnade« Paulus gegeben, damit er sie an Zeit unbekannt.
die Heiden weitergab. Zweitens ist es eine Wahrheit, die
3,3 Er hatte das »Geheimnis« nicht »jetzt« Gottes »heiligen Aposteln und
von irgend jemand erfahren, noch hatte Propheten durch den« Heiligen »Geist
er es durch eigene Einsicht entdeckt. Es geoffenbart worden ist«. Gott hat die
wurde ihm »durch« direkte »Offenba- Offenbarung geschenkt, und die »Apo-
rung« Gottes »kundgetan«. Uns wird stel und Propheten« waren diejenigen,
nicht gesagt, wo das geschah, noch wie. die auserwählt waren, diese Offenba-
Wir wissen nur, daß Gott auf wunderba- rung zu empfangen. Der Heilige »Geist«
re Weise Paulus seinen Plan für die war der Kanal, durch den die Offenba-
Gemeinde aus bekehrten Juden und be- rung zu ihnen kam.
kehrten Heiden zeigte. Wir haben schon Solange wir nicht erkennen, daß mit
erwähnt, daß ein »Geheimnis« eine bis- »Apostel und Propheten« die des NT
her nicht bekannte göttliche Verschlußsa- gemeint sind, und nicht die des AT, bleibt
che ist, die von Menschen nicht erkannt dieser Vers widersprüchlich. Der erste
werden kann, aber jetzt von Gott offen- Teil sagt, daß diese Wahrheit in anderen
bart wird. Der Apostel hatte auf »das Zeitaltern nicht bekannt war, und des-
Geheimnis« schon kurz in 1,9-14.22.23; halb auch den ATlichen Propheten ver-
2,11-22 angespielt. borgen war. Wie könnte diese Wahrheit
3,4 Was er schon zum Thema ge- dann zur Zeit des Paulus durch Männer,
schrieben hat, war genug, um seinen die schon seit Jahrhunderten tot sind,
Lesern zu zeigen, daß er eine von Gott bekannt gemacht werden? Die offen-
geschenkte Einsicht in das »Geheimnis sichtliche Bedeutung ist, daß die groß-
des Christus« erhalten hatte. Blaikie artige Wahrheit von Christus und seiner

911
Epheser 3

Gemeinde den Menschen des Zeitalters wie heute? Dieser Einwand wird in Ko-
der Gemeinde bekannt gemacht wurde, losser 1,26 beantwortet, indem es aus-
wie etwa Paulus, der vom Auferstande- drücklich heißt, daß das Geheimnis »von
nen besonders beauftragt worden war, den Weltzeiten und von den Geschlech-
als sein Sprecher zu dienen. (Paulus tern her verborgen war, jetzt aber seinen
behauptet nicht, daß er der einzige sei, Heiligen geoffenbart worden ist«. Es
dem dieses Geheimnis offenbart wurde; geht hier nicht um den Grad einer Offen-
er war nur einer unter vielen, obwohl er barung, sondern darum, ob sie schon
in der ersten Reihe stand, als diese Wahr- gegeben worden ist oder nicht.
heit den Heiden seiner Tage und den 3,6 Nun kommen wir zur zentralen
nachfolgenden Generationen durch sei- Wahrheit des Geheimnisses, nämlich,
ne Briefe weitergegeben werden sollte.) daß in der Gemeinde des Herrn Jesus
Es ist nur fair zu erwähnen, daß viele Christus die Gläubigen »Nationen …
Christen eine ganz andere Sicht der Dinge Miterben« sind, Glieder, »Miteinverleib-
haben als die oben ausgeführte. Sie sind te … und Mitteilhaber der Verheißung in
der Ansicht, daß die Gemeinde schon im Christus Jesus durch das Evangelium«.
AT existierte, und daß Israel zu dieser Zeit Mit anderen Worten, bekehrte Heiden
die Gemeinde war. Doch in unserem jetzi- haben nun die gleichen Titel und Vor-
gen Zeitalter sei die Wahrheit der Ge- rechte wie die bekehrten Juden.
meinde noch vollständiger offenbart wor- Zunächst sind sie »Miterben«. Sie tei-
den. Sie sagen: »Das Geheimnis war in len das Erbe gleichberechtigt mit den
anderen Zeitaltern nicht so bekannt, wie erretteten Juden. Sie sind Erben Gottes,
es nun offenbart worden ist. Es war be- Miterben Christi mit allen Erlösten.
kannt, doch nicht so weitgehend wie heute. Sie sind »Miteinverleibte« am selben
Wir haben eine vollständigere Offenba- Leib. Sie haben nun keine Entfernung
rung, doch sind wir noch immer das oder einen Nachteil zu überwinden, son-
Israel Gottes, d. h., daß in uns das Volk dern teilen die gleiche Stellung mit den
Gottes fortgeführt wird.« Um ihre Argu- erlösten Juden in der Gemeinde.
mentation zu stützen, weisen sie auf Apo- Schließlich sind sie noch »Mitteilha-
stelgeschichte 7,38 hin, wo das Volk Israel ber der Verheißung in Christus Jesus
»die Gemeinde in der Wüste« genannt durch das Evangelium«. Mit »Verhei-
wird. Es stimmt, daß Gottes auserwähltes ßung« könnte hier der Heilige Geist ge-
Volk »Gemeinde in der Wüste« genannt meint sein (Apg 15,8; Gal 3,14). Das Wort
wird, doch heißt das nicht, daß wir hier kann aber auch alles umfassen, was im
irgendeine Verbindung zur christlichen »Evangelium« denen verheißen ist, die
Gemeinde vorliegen haben. Schließlich ist »in Christus Jesus« sind. Die »Nationen«
das griechische Wort ekklesia ein allge- oder Heiden haben gemeinsam mit den
meines Wort, das jede Versammlung, Juden an all dem Anteil.
Zusammenkunft oder zusammengeru- Nichts davon galt im Zeitalter des AT,
fene Gruppe bezeichnen kann. Es wird noch wird es für das zukünftige Reich
auf Israel nicht nur in Apostelgeschichte Christi gelten.
7,38 angewandt, sondern dasselbe grie- Im AT hatte das Volk Israel eine be-
chische Wort (hier übersetzt Versamm- vorzugte Stellung vor Gott. Ein Jude hät-
lung) wird in Apostelgeschichte 19,32.40 te bei der Vorstellung gelacht, daß ein
auf einen heidnischen Mob angewandt. Heide mit ihm gleichen Anteil an den
Wir müssen also aus dem Zusammen- Verheißungen Gottes haben könnte. Das
hang bestimmen, welche »Gemeinde« stimmte einfach nicht. Die Propheten
oder Versammlung gemeint ist. Israels sagten die Berufung der Heiden
Doch was ist mit dem Argument, daß voraus (Jes 49,6; 56,6.7), doch sie deute-
Vers 5 bedeutet, daß die Gemeinde schon ten niemals an, daß die Heiden Mitglie-
im AT existierte, doch daß sie zu dieser der an einem Leib sein könnten, in dem
Zeit noch nicht so deutlich offenbart war die Juden nicht die Führung inne hätten.

912
Epheser 3

Im zukünftigen Reich unseres Herrn Im wesentlichen war dieser Dienst


wird Israel das Haupt der Nationen sein ein unverdientes Geschenk: »Nach der
(Jes 60,12), und die Heiden werden ge- Gabe der Gnade Gottes, die mir … gege-
segnet sein, jedoch durch Israel (Jes 60,3; ben ist.« Und es war nicht nur ein Gna-
61,6; Sach 8,23). denerweis, sondern Gott zeigte seine
Die Berufung Israels bestand »Kraft«, indem er den stolzen, selbstge-
hauptsächlich, wenn auch nicht aus- rechten Pharisäer ergriff, seine Seele ret-
schließlich, aus zeitlichen irdischen Seg- tete, ihn als Apostel aussandte, es ihm
nungen (5. Mose 28; Amos 9,13-15). Die ermöglichte, Offenbarungen zu empfan-
Berufung der Gemeinde besteht in erster gen und ihn für sein Werk zurüstete.
Linie in geistlichen Segnungen in der Deshalb sagt Paulus, daß die »Gabe« ihm
Himmelswelt (Eph 1,3). Israel war beru- »nach der Wirksamkeit seiner Kraft ge-
fen, Gottes auserwähltes Volk auf Erden geben« worden sei.
zu sein. Die Gemeinde ist berufen, die 3,8 Der Apostel nennt sich selbst den
himmlische Braut Christi zu sein »allergeringsten von allen Heiligen«. Das
(Offb 21,2.9). Israel wird unter der Herr- mag einigen als aufgesetzte Demut er-
schaft Christi im Tausendjährigen Reich scheinen. In Wirklichkeit ist es jedoch die
gesegnet werden (Hos 3,5). Die Gemein- echte Selbsteinschätzung eines Men-
de dagegen wird mit ihm über das ge- schen, der vom Heiligen Geist erfüllt ist.
samte Universum herrschen und seine Jeder, der Christus in seiner Herrlichkeit
Herrlichkeit teilen (Eph 1,22.23). erkennt, erkennt seine eigene Sündhaf-
Deshalb sollte es eindeutig sein, daß tigkeit und Nutzlosigkeit. Im Falle des
die Gemeinde nicht dasselbe wie Israel Paulus kommt die Erinnerung daran hin-
ist. Es handelt sich bei ihr um eine neue zu, daß er den Herrn Jesus verfolgt hat
Gesellschaft, eine einzigartige Gemein- (Apg 9,4), indem er die Gemeinde Gottes
schaft, und den bevorzugtesten Teil der verfolgte (Gal 1,13; Phil 3,6). Trotzdem
Gläubigen, von dem wir in der Bibel hatte ihn der Herr besonders beauftragt,
lesen. Die Gemeinde entstand, nachdem das Evangelium »den Nationen« zu brin-
Christus in den Himmel aufgefahren war gen (Apg 9,15;13,47;22,21; Gal 2,2.8).
und der Heilige Geist gekommen war Paulus war der Apostel der »Nationen«,
(Apg 2). Sie wurde durch die Taufe mit so wie Petrus Apostel der Juden war. Er
dem Heiligen Geist begründet hatte eine zweifache Aufgabe: am Evan-
(1. Kor 12,13). Und sie wird bei der Ent- gelium und an der Gemeinde. Zunächst
rückung vollendet werden, wenn alle, erklärte er den Menschen den Weg zur
die zu Christus gehören, in den Himmel Erlösung, und dann führte er sie in die
heimgeholt werden (1. Thess 4,13-18; Wahrheit der NTlichen Gemeinde ein.
1. Kor 15,23.51-58). Für ihn war Evangelisation kein Selbst-
3,7 Nachdem Paulus die Gleichheit zweck, sondern ein Schritt auf das Ziel
der Heiden und Juden in der Gemeinde hin, echte NTliche Gemeinden zu grün-
betont hat, bespricht er nun sein eigenes den und zu stärken.
Geheimnis im Zusammenhang damit Die erste Aufgabe seines Dienstes be-
(V. 7-9). stand darin, »den Nationen den unaus-
Als erstes ist er »Diener« des Evange- forschlichen Reichtum des Christus zu
liums »geworden«. Wüst schreibt: »Das verkündigen«. Blaikie drückt das sehr
Wort ›Dienst‹ ist hier irreführend, denn gut aus:
hier steht das Fremdwort, das heute be- Zwei attraktive Worte, Reichtum und
nutzt wird, um den Pastor einer Ge- unausforschlich vermitteln die Vorstellung
meinde zu bezeichnen.« Das bedeutet es von Gegenständen, die äußerst wertvoll und
im NT jedoch nie. Die Grundbedeutung im unendlichen Überfluß vorhanden sind.
des Wortes ist »Diener«, und Paulus Normalerweise sind kostbare Dinge selten,
meinte, daß er einfach dem Herrn im Zu- und ihre Seltenheit erhöht den Preis, doch
sammenhang mit dem Geheimnis diente. hier haben wir es mit etwas zu tun, das

913
Epheser 3

sowohl kostbar als auch unendlich ist – 3,10 Eine der gegenwärtigen Absich-
Reichtümer des Mitgefühls und der Liebe, ten Gottes im Zusammenhang mit dem
der Wertschätzung, der heiligenden, trösten- Geheimnis ist es, den himmlischen Heer-
den und verändernden Kraft, alle ohne scharen seine »mannigfaltige Weisheit«
Beschränkung und fähig, jeden Bedarf, jedes zu offenbaren. Paulus verwendet hier
Sehnen und jeden Wunsch zu erfüllen, heute das Bild einer Schule. Gott ist der Lehrer.
17)
und in Ewigkeit. Das Universum ist der Klassenraum, die
Wenn ein Mensch dem Herrn Jesus Engelwesen sind die Schüler. Thema ist:
glaubt, so wird er sofort ein geistlicher »Die mannigfaltige Weisheit Gottes.« An
Milliardär, denn in Christus besitzt er der Gemeinde wird das beispielhaft
unerschöpfliche Reichtümer. gezeigt. Die Engel werden dazu geführt,
3,9 Der zweite Teil des Dienstes des seine unausforschlichen Beschlüsse und
Paulus war es, »ans Licht zu bringen, seine Wunderwege zu bestaunen. Sie
was die Verwaltung des Geheimnisses sehen, wie Gott die Sünde zur Wieder-
sei«, mit anderen Worten, den Menschen herstellung seiner eigenen Ehre besiegt
zu zeigen, wie sich das »Geheimnis« in hat. Sie sehen, wie er den Besten des
der Praxis auswirkt. Gottes Plan für das Himmels gesandt hat, um die Schlimm-
gegenwärtige Zeitalter ist es, aus den sten der Erde zu retten. Sie sehen, wie er
Heiden ein Volk für sich zu berufen (Apg seine Feinde zu einem gewaltigen Preis
15,14), eine Braut für seinen Sohn. Alles, erlöst, sie durch die Liebe erobert und sie
was zu diesem Plan gehört, ist die »Ver- als Braut für seinen Sohn zubereitet hat.
18)
waltung des Geheimnisses«. Mit »alle Sie erkennen, wie er seine Gemeinde mit
Dinge« müssen hier »alle« Gläubigen allem geistlichen Segen in der Himmels-
gemeint sein. Nicht erlöste Menschen welt ausgestattet hat. Und sie sehen, daß
können die tieferen Wahrheiten des Ge- durch das Werk des Herrn Jesus Gott
heimnisses nicht verstehen (1. Kor 2,14). mehr Ehre erhält und den gläubigen
Paulus bezieht sich deshalb auf alle in Juden mehr Segnungen geschenkt wer-
dem Sinne, daß er die vielen verschiede- den, als wenn es der Sünde niemals ge-
nen Erretteten aller Art meint – Juden stattet worden wäre, in die Welt zu kom-
und Heiden, Sklaven und Freie. men. Gott ist gerechtfertigt, Christus ist
Das »Geheimnis« war »von den Zeit- erhöht worden, Satan ist besiegt, und die
altern her in Gott, der alle Dinge geschaf- Gemeinde ist in Christus eingesetzt wor-
fen hat, verborgen«. Der Plan selbst wur- den, seine Herrlichkeit zu teilen.
de von Gott schon in der Ewigkeit gefaßt, 3,11 Das Geheimnis selbst, seine Ver-
doch hier geht es darum, daß er während borgenheit, seine endgültige Enthüllung
der »Zeitalter« der menschlichen Ge- und die Art, in der es die Weisheit Gottes
schichte geheim gehalten wurde. Und zeigt, entsprechen alle »dem ewigen Vor-
wieder bemerken wir die Sorgfalt, die satz, den er verwirklicht hat in Christus
der Heilige Geist walten läßt, um uns die Jesus, unserem Herrn«. Ehe die Welt
Tatsache nahezubringen, daß die Ge- erschaffen wurde, wußte Gott, daß Satan
meinde oder die Versammlung etwas fallen würde und der Mensch ihm in die
Neues, Einzigartiges ist, zu dem kein Sünde folgen würde. Und er hatte schon
Vorläufer existiert. Vorher war sie nie- eine Gegenstrategie ausgearbeitet, einen
mandem bekannt als Gott allein. Das Meisterplan. Dieser Plan wurde in der
Geheimnis war »in Gott« verborgen, Menschwerdung, dem Tod, der Aufer-
»der alle Dinge geschaffen hat«. Er er- stehung, Himmelfahrt und Verherrli-
schuf das materielle Universum, er er- chung Christi ausgeführt. Das gesamte
schuf die »Zeitalter« und er erschuf die Programm gipfelte in Christus und ist
Gemeinde – doch in seiner Weisheit be- nun in ihm verwirklicht. Nun kann Gott
schloß er, jedes Wissen von dieser neuen gottlose Juden und Heiden erlösen, sie
Schöpfung bis zum ersten Kommen zu Gliedern des Leibes Christi machen,
Christi zurückzuhalten. sie in das Bild seines Sohnes verwandeln

914
Epheser 3

und sie in einzigartiger Weise als Braut nicht, daß wir nur kniend beten dürften,
des Lammes in der Ewigkeit ehren. doch sollte unsere Seele immer diese Hal-
3,12 Als Konsequenz des Werkes tung einnehmen. Wir dürfen beten, wenn
Christi und unserer Vereinigung mit ihm wir gehen, stehen oder ruhen, doch
haben wir nun das unaussprechliche unser Geist sollte in Demut und Ehrer-
Vorrecht, jederzeit in Gottes Gegenwart bietigkeit gebeugt sein.
treten zu dürfen, in dem vollen Vertrau- Das Gebet ist an den »Vater« gerich-
en, angehört zu werden und ohne Furcht tet. In einem allgemeinen Sinne ist Gott
vor Tadel (Jak 1,5). Unsere »Freimütig- der Vater aller Menschen, was bedeutet,
keit« ist die respektvolle Haltung und daß er sie erschaffen hat (Apg 17,28.29).
Furchtlosigkeit, die Kinder zeigen, wenn Im engeren Sinne ist er der Vater aller
sie ihren Vater ansprechen. Unser »Zu- Gläubigen, was bedeutet, daß er sie in
gang« ist die Gewißheit, willkommen zu seine geistliche Familie aufgenommen
sein, angehört zu werden und eine weise hat (Gal 4,6). Und in einem einzigartigen
und liebevolle Antwort zu erhalten. Und Sinne ist er der »Vater unseres Herrn Jesu
all das haben wir »durch den Glauben an Christi« (LU1912), was bedeutet, daß
ihn«, d. h. »durch den Glauben« an den Vater und Sohn gleich sind (Joh 5,18).
Herrn Jesus Christus. 3,15 Die Vaterrolle, die Paulus hier im
3,13 Angesichts der Würde seines Sinn hat, ist die, nach der »jede Vater-
Dienstes und der wunderbaren Ergeb- schaft in den Himmeln und auf Erden
nisse, die dieser Dienst hervorbrachte, benannt wird«. Das kann bedeuten:
ermutigt Paulus nun die Heiligen, nicht 1. Alle Erlösten im Himmel und auf
zu verzweifeln, wenn sie an seine Leiden Erden sehen ihn als Haupt der Fa-
denken sollten. Er war froh, »Drangsale« milie an.
während der Erfüllung seiner Heiden- 2. Alle Geschöpfe, ob Engel oder Men-
mission zu ertragen. Statt sich von seinen schen, schulden ihm ihre Existenz
Problemen entmutigen zulassen, sollten nicht nur als Einzelne, sondern auch
sie, so meint er, eher stolz sein, daß er als Familien. Die Familien im Him-
wertgeachtet war, für den Herrn Jesus zu mel umfassen verschiedene Klassen
leiden. Sie sollten sich freuen, wenn sie von Engelwesen. Die Familien auf
an den Nutzen seiner Leiden für sie der Erde sind die Rassen, die von
und andere Heiden dachten. Sie sollten Noah abstammen und nun in ver-
seine gegenwärtige Gefangenschaft als schiedene Nationen getrennt sind.
»Ehre«, nicht als Entehrung sehen. 3. Alle Vaterschaft im Universum hat
ihren Namen von ihm. Die Vater-
G. Paulus’ Gebet für die Heiligen schaft Gottes ist das Original und das
(3,14-19) Ideal und der Prototyp jeden elterli-
3,14 Nun nimmt der Apostel den Gedan- chen Verhältnisses. Phillips übersetzt
ken auf, den er in Vers 1 begonnen hatte den Vers: »Nach dem jede Vater-
und den er mit einem Einschub über das schaft, ob irdisch oder himmlisch,
Geheimnis unterbrochen hat. Darum ihren Namen hat.«
bezieht sich das Wort »deshalb« auf 3,16 Wir können nicht anders, als von
Kapitel 2 mit seiner Beschreibung der der Größe der Bitte des Paulus betroffen
Natur der Heiden und dessen, was sie zu sein: »Er gebe euch nach dem Reichtum
durch die Einheit mit Christus geworden seiner Herrlichkeit.« Er möchte Gott bitten,
sind. Ihr erstaunlicher Aufstieg aus daß die Heiligen geistlich »gestärkt«
Armut und Tod zu Reichtum und Herr- werden. Doch inwieweit? Jamieson,
lichkeit drängt Paulus zu dem Gebet, daß Fausset und Brown antworten: »In Fülle,
sie immer im praktischen Genuß ihrer entsprechend der Reichtümer seiner
erhöhten Position sein mögen. Herrlichkeit, nicht nach der Enge unseres
19)
Seine Gebetshaltung wird erwähnt: Herzens.« Ein reicher Mensch mag
»Ich beuge meine Knie.« Das bedeutet einen kleinen Betrag geben, das wäre

915
Epheser 3

zwar von seinem Reichtum, doch niemals Mensch von Gott ist, so braucht er Kraft,
entsprechend seinem Reichtum gegeben. Wachstum und Entwicklung.
Paulus bittet Gott, daß er Kraft »nach 3,17 Der zweite Schritt ist, »daß der
dem Reichtum seiner Herrlichkeit« Christus durch den Glauben in euren
schenkt. Weil der Herr unendlich reich Herzen wohne«. Das ist die Folge davon,
an Herrlichkeit ist, sollten sich die Heili- daß der Geist uns Kraft gibt: Wir werden
gen auf eine ganze Flut vorbereiten! War- gestärkt, so »daß der Christus … in«
um sollten wir von einem so großen unseren »Herzen wohne«. Wirklich, der
König so wenig erbitten? Als Napoleon Herr Jesus nimmt persönlich Wohnung
eine große Bitte vorgetragen wurde, ge- in einem Gläubigen, sobald er sich
währte er sie sofort, denn, wie er sagte: bekehrt (Joh 14,23; Offb 3,20). Doch dar-
»Er hat mich durch die Größe seiner Bit- um geht es hier in diesem Gebet nicht.
te geehrt.« Hier geht es nicht um die Frage, ob der
Du kommst zu einem König Herr Jesus im Gläubigen ist, sondern ob
und hast große Bitten an ihn er sich dort wohlfühlt! Jesus wohnt stän-
denn seine Gnade und Macht dig in jedem Erlösten, doch hier steht die
sind so groß Bitte, daß er vollständigen Zugang zu
daß niemand zu viel bitten kann. jedem Raum und Schrank erhält, daß er
John Newton nicht durch sündhafte Worte, Gedanken,
Nun wenden wir uns den einzelnen Motive und Taten betrübt wird, und daß
Bitten des Paulus zu. Statt sie als Folge er eine ungebrochene Gemeinschaft mit
von unzusammenhängenden Bitten zu dem Gläubigen genießen kann. Das Herz
betrachten, sollten wir sie uns als aufstei- der Christen wird so zur Wohnung Chri-
gende Folge denken, in der jede Bitte die sti, der Ort, an dem er sich gerne auf-
Grundlage für die nächste Bitte bildet. hält – wie im Haus von Maria, Martha
Man kann sie sich wie eine Pyramide und Lazarus in Bethanien. Das Herz
vorstellen: Die erste Bitte bildet die Stei- steht hier natürlich für das Zentrum des
ne des Fundaments. Im Fortschreiten des geistlichen Lebens. Es kontrolliert in
Gebets baut Paulus seine Bitten zu einem jeder Hinsicht das Verhalten. Praktisch
herrlichen Höhepunkt auf. bittet der Apostel dafür, daß sich die
Die erste Bitte lautet, daß sie »mit Herrschaft Christi auf solche Bereiche
Kraft gestärkt … werden durch seinen ausdehnt, wie etwa die Bücher, die wir
Geist an dem inneren Menschen«. Es lesen, die Arbeit, die wir tun, die Speisen,
wird um die Segnung geistlicher Kraft die wir essen, das Geld, das wir ausge-
gebeten. Nicht die Kraft, spektakuläre ben, die Worte, die wir äußern – kurz
Wunder zu vollbringen, sondern die gesagt, auf jede kleinste Einzelheit in
geistliche Kraft, die ein reifer, standfester unserem Leben.
und intelligenter Christ nötig hat. Der Je mehr wir durch den Heiligen Geist
Heilige »Geist« ist derjenige, der diese gestärkt werden, desto mehr werden wir
Kraft gibt. Natürlich kann er uns diese wie der Herr Jesus selbst sein. Und je
nur geben, wenn wir uns vom Wort Got- mehr wir ihm ähneln, desto mehr »läßt er
tes ernähren, die reine Luft des Gebetes sich bei uns nieder und wird sich in unse-
20)
einatmen und uns im täglichen Dienst rem Herzen völlig daheim fühlen«.
für den Herrn üben. Wir erfreuen uns »durch den Glau-
Diese Kraft wirkt am »inneren Men- ben« daran, daß er in uns wohnt. Dazu
schen«, d. h. im geistlichen Bereich des gehört, ständig von ihm abhängig zu
Menschen. Es ist auch der »innere sein, ihm ständig unser Leben hinzuge-
Mensch«, der am Gebot Gottes Freude ben und uns seiner ständigen Anwesen-
hat (Röm 7,22). Es ist ebenfalls der »inne- heit bewußt zu sein. »Durch den Glau-
re Mensch«, der Tag für Tag erneuert ben praktizieren wir seine Gegenwart«,
wird, auch wenn der äußere Mensch ver- wie Bruder Lawrence das einfach ausge-
fällt (2. Kor 4,16). Auch wenn der innere drückt hat.

916
Epheser 3

Bis hierher umfaßt das Gebet des nicht erwähnt, denn die Liebe wird erst
Paulus jedes Mitglied der Dreieinigkeit. im nächsten Teilsatz erwähnt. Wenn hier
Der Vater wird gebeten (V. 14) die Gläu- die Liebe Christi gemeint ist, dann wären
bigen durch seinen Geist zu stärken die Verbindungen wie folgt:
(V. 16), daß »Christus« völlig in ihren Breite – die Welt (Joh 3,16)
»Herzen wohnen« könne (V. 17). Eines Länge – ewig (1. Kor 13,8)
der großen Vorrechte im Gebet ist, daß Höhe – Himmel (1. Joh 3,1-2)
wir die gesamte Gottheit dazu bringen Tiefe – bis zum Tod am Kreuz
können, für andere und für uns in Aktion (Phil 2,8)
zu treten. F. B. Meyer drückt das treffend aus:
Die Folge unseres unbegrenzten Zu- Es wird immer gleichviel Horizont vor
gangs Christi zu allen Bereichen ist, daß und hinter uns sein. Und wenn wir Jahrtau-
wir »in Liebe gewurzelt und gegründet« sende damit zugebracht haben werden, das
werden. Hier entlehnt Paulus seine Wor- Angesicht Jesu zu betrachten, so wird doch
te aus Botanik und Architektur. Die Wur- seine Schönheit so neu und faszinierend und
zel einer Pflanze ernährt und gibt Halt. unergründlich sein wie zu dem Zeitpunkt,
Die Grundsteine eines Gebäudes bilden als wir sie zum ersten Mal vom Tor des Para-
22)
das Fundament, auf welchem es ruht. dieses aus erblickten.
Wie Scroggie einmal sagt: »Liebe ist der Doch diese Dimensionen können sich
Boden, in welchem unser Leben wurzelt, auch auf das Geheimnis beziehen, das im
und der Felsen, auf dem unser Glaube Epheserbrief eine solch wichtige Stellung
21)
für immer ruht.« »In Liebe gewurzelt einnimmt. Es ist in der Tat einfach, diese
und gegründet« zu sein bedeutet, daß Dimensionen im Epheserbrief selbst wie-
man die Liebe als Lebensstil einübt. derzufinden.
Dazu gehört, daß man freundlich, selbst- 1. Die »Breite« wird in 2,1-18 beschrie-
los, gebrochen und demütig lebt. »In Lie- ben. Es geht hier um die Größe der
be gewurzelt und gegründet« zu sein, ist Gnade Gottes, die Juden und Heiden
das Leben Christi, wie es sich durch den erlöst und sie dann in die Gemeinde
Gläubigen ausdrückt (s. 1. Kor 13,4-7). einfügt. Das Geheimnis umfaßt diese
3,18 Die vorhergehenden Bitten stel- beiden Teile der Menschheit.
len ein Programm für geistliches Wachs- 2. Die »Länge« erstreckt sich von der
tum dar, die das Kind Gottes darauf vor- einen Ewigkeit zur anderen Ewigkeit.
bereitet, ganz fähig zu sein, »mit allen Was die Vergangenheit angeht, so
Heiligen völlig zu erfassen, was die Brei- sind die Christen schon vor Grundle-
te und Länge und Höhe und Tiefe ist«. gung der Welt erwählt worden (1,3).
Ehe wir diese Dimensionen erfor- Was die Zukunft angeht, so wird die
schen, sollten wir uns mit dem Ausdruck Ewigkeit eine fortgesetzte Entfaltung
»mit allen Heiligen« beschäftigen. Das der überströmenden Reichtümer von
Thema ist so großartig, daß kein einzel- Gottes Gnade und Güte zu uns durch
ner Gläubiger wohl mehr als einen klei- Christus Jesus sein (2,7).
nen Ausschnitt davon fassen kann. Des- 3. Die »Höhe« sehen wir in 2,6, wo wir
halb ist es nötig, daß wir das Thema mit nicht nur mit ihm auferweckt sind,
anderen gemeinsam studieren, diskutie- sondern auch mit ihm in der Him-
ren und unsere Erfahrungen weiterge- melswelt eingesetzt sind, seine Herr-
ben. Der Heilige Geist kann die gemein- lichkeit zu teilen.
samen Überlegungen einer Gruppe von 4. Die »Tiefe« wird in 2,1-3 lebhaft dar-
erfahrenen Gläubigen benutzen, um eine gestellt. Wir waren in einer Grube
Flut zusätzlichen Lichtes auf die Schrift von unaussprechlicher Sünde und
zu werfen. Ehrlosigkeit gefangen. Christus kam
Die hier angegebenen Dimensionen in diesen Dschungel voller Schmutz
werden normalerweise auf die Liebe und Zerstörung, weil er um unseret-
Christi gedeutet, obwohl der Text das wegen sterben wollte.

917
Epheser 3

Dies sind natürlich immense und vor und scheinbar unmöglich zu erfüllen.
allem unendliche Dimensionen. Wenn Doch Gott »vermag« in dieser Beziehung
wir daran denken, dann »ist alles was mehr zu tun, als wir »erbitten oder er-
wir tun können«, wie Scroggie sagt »die denken« können. Das Ausmaß seines
Ordnung wahrzunehmen, die wir in die- Vermögens zeigt sich in der Art, in der
sem Tumult göttlicher Worte entdecken«. Paulus wieder Worte auftürmt, um den
3,19 Die nächste Bitte des Apostels überreichen Segen darzustellen:
lautet, daß die Heiligen durch ihre Erfah- Er vermag
rung die alles Wissen ȟbersteigende Er vermag zu tun
Liebe Christi« erkennen möchten. Sie Er vermag zu tun was wir erbitten
könnten sie niemals ganz erforschen, Er vermag zu tun was wir erbitten oder
weil sie ein uferloser Ozean ist, doch sie erdenken
können jeden Tag mehr über sie lernen. Er vermag alles zu tun was wir erbitten
Und deshalb betet er um ein tiefes, auf oder erdenken
der Erfahrung gegründetes Wissen und Er vermag über die Maßen mehr zu
die Freude an der wunderbaren »Liebe« tun, als wir erbitten oder erdenken
unseres herrlichen Herrn. Er vermag über alles hinaus über die
Der Höhepunkt dieses wunderbaren Maßen mehr zu tun, als wir erbitten
Gebetes wird erreicht, als Paulus bittet, oder erdenken
daß »ihr erfüllt werdet zur ganzen Fülle Das Mittel, das Gott benutzt, um
Gottes«. In dem Herrn Jesus wohnt die Gebet zu beantworten, wird uns in dem
»ganze Fülle« Gottes (Kol 2,9). Je mehr er Ausdruck »gemäß der Kraft, die in uns
durch den Glauben in unseren Herzen wirkt« mitgeteilt. Das bezieht sich auf
wohnt, desto mehr werden wir »zur den Heiligen Geist, der ständig an unse-
ganzen Fülle Gottes« erfüllt. Wir könnten rem Leben arbeitet und versucht, die
niemals mit der ganzen Fülle Gottes er- Frucht eines christusähnlichen Charak-
füllt werden. Doch wir haben ein Ziel, ters hervorzubringen, uns wegen unse-
auf das wir uns zubewegen. rer Sünde zu ermahnen, uns im Gebet zu
Und dennoch müssen wir sagen, leiten, uns zum Lobpreis zu inspirieren
nachdem wir das erklärt haben, daß wir und uns in unserem Dienst zu leiten. Je
die Tiefen der Bedeutung dieses Ab- mehr wir ihm hingegeben sind, desto
schnittes noch nicht erreicht haben. effektiver werden seine Bemühungen
Wenn wir uns mit der Schrift beschäfti- ausfallen, uns in das Bild Christi zu ver-
gen, so sind wir uns bewußt, daß wir uns wandeln.
mit Wahrheiten beschäftigen, die größer 3,21 »Ihm sei die Herrlichkeit in der
sind, als unser Fähigkeit zu verstehen Gemeinde und in Christus Jesus auf alle
oder zu erklären. Wir können Bilder be- Geschlechter hin in alle Ewigkeit!
nutzen, um mehr Licht auf diesen Vers Amen.« Nur Gott allein ist ewigen Lob-
zu werfen. Ein Bild wäre z. B. der Finger- preises würdig. Seine Weisheit und
hut, den wir in den Ozean tauchen, und Macht zeigt sich in den himmlischen
der mit Wasser gefüllt wird, doch wie Heerscharen, in Sonne, Mond und Ster-
klein wird der Ozean in diesem Finger- nen, in Tieren, Vögeln und Fischen, in
hut! Und doch bleibt, wenn wir all das Feuer, Hagel, Schnee und Nebel, im
gesagt haben, das Geheimnis bestehen, Wind, in Bergen, Hügeln und Bäumen, in
und wir können nur ehrfurchtsvoll vor Königen und Völkern, in Alten und Jun-
Gottes Wort stehen bleiben und über sei- gen, in Israel und den Nationen. Sie alle
ne Unendlichkeit staunen. sollen den Namen des Herrn preisen
(Ps 148).
H. Paulus’ Lobpreis (3,20.21) Doch es gibt noch andere, von dem
3,20 Das Gebet schließt mit einem inspi- Gott ewige Herrlichkeit gegeben wird,
rierenden Lobpreis Gottes. Die vorherge- und zwar von der »Gemeinde« – von
henden Bitten waren groß, mutig gestellt Christus, dem Haupt, und den Gläubi-

918
Epheser 3 und 4

gen, dem Leib. Diese erlöste Gemein- monie und in unserem Kampf mit den
schaft wird ein ewiges Zeugnis seiner Mächten des Bösen unsere Standhaftig-
unvergleichlichen und wunderbaren keit kultivieren müssen«.
Gnade sein. Williams schreibt: Zum zweiten Mal nennt Paulus sich
Die ewige Herrlichkeit Gottes als Gott hier einen »Gefangenen« – diesmal einen
und Vater wird in allen Zeitaltern an der »Gefangenen im Herrn«. Theodoret
Gemeinde und in Jesus Christus sichtbar merkt dazu an: »Was die Welt als
gemacht. Welch eine erstaunliche Aussage! Schmach und Schande ansieht, hält er für
Christus und die Gemeinde werden das Mit- die höchste Ehre und rühmt sich seiner
23)
tel eines ewigen Beweises sein. Fesseln für Christus mehr als ein König
Schon jetzt sollte die Gemeinde sei- sich seiner Krone rühmt.«
nen Namen »in Lobgottesdiensten, im Als einer, der wegen seiner Treue und
geheiligten Leben ihrer Mitglieder, in seinem Gehorsam gegenüber seinem
ihrer weltweiten Verkündigung des Herrn im Gefängnis war, ermahnt Paulus
Evangeliums und in ihren Diensten an seine Leser, »würdig« ihrer »Berufung«
Bedürftigen und Leidenden« (Erdman) zu wandeln. Er befiehlt nicht mit har-
verherrlichen. schen Worten, sondern appelliert sanft
Die Dauer dieses Lobpreises wird und freundlich an sie in der Sprache der
»alle Geschlechter … in alle Ewigkeit« Gnade.
umfassen. Wenn Paulus uns zum ewigen Das Wort »wandeln« findet sich sie-
Lob Gottes in der Gemeinde und in Jesus benmal in diesem Brief (2,2.10; 4,1.17;
Christus aufruft, so sollte unser Mund 5,2.8.15); es beschreibt den gesamten
mit einem von Herzen kommenden Lebensstil eines Menschen. Ein »würdi-
»Amen« antworten. ger« Lebenswandel steht in Übereinstim-
mung mit der ehrenvollen Stellung eines
II. Die Praxis der Gläubigen in dem Christen als Glied am Leibe Christi.
Herrn (Kap. 4 – 6) 4,2 Es ist wichtig, in jedem Lebensbe-
reich eine christliche Haltung zu zeigen.
A. Aufruf zur Einheit in der Dazu gehört:
christlichen Nachfolge (4,1-6) »Demut« – eine echte Demut, die aus
4,1 Der Epheserbrief erfährt an diesem der Verbindung mit dem Herrn Jesus
Punkt einen wichtigen Einschnitt. Die entspringt. Sie zeigt uns, daß wir selbst
vorhergehenden Kapitel haben sich mit nichts sind und macht es uns möglich,
der Berufung des Christen beschäftigt. In andere höher zu achten als uns selbst. Sie
den restlichen drei Kapiteln wird der ist das Gegenteil von Hochmut und
Christ aufgefordert, »würdig« seiner Arroganz.
»Berufung« zu wandeln. Bisher war das »Sanftmut« – eine Haltung, die dazu
Hauptthema die Stellung, in die die Gna- führt, daß man sich Gottes Plänen ohne
de uns erhoben hat. Von diesem Kapitel Auflehnung unterwirft und die Un-
an geht es um die praktischen Auswir- freundlichkeit der Mitmenschen ohne
kungen dieser Stellung. Unsere erhöhte Vergeltungssucht erträgt. Man kann sie
Stellung in Christus erfordert ein ent- am besten an dem Menschen studieren,
sprechendes gottesfürchtiges Verhalten. der von sich sagte: »Ich bin sanftmütig
Deshalb stimmt es, daß der Epheserbrief und von Herzen demütig.« Wright
sich in den Kapiteln 4 – 6 von der Him- kommentiert:
melswelt in den Kapiteln 1 – 3 der Orts- Welch eine erstaunliche und wundervol-
gemeinde, der Familie und der Gesell- le Aussage! Der die Welt gemacht hat, der die
schaft als Ganzes zuwendet. Wie Stott Sterne ins All warf und sie mit Namen
einmal festgestellt hat, lehren diese Kapi- nennt, der die unzähligen Konstellationen
tel, daß wir »in der Gemeinde die Ein- erhält, der die Berge und Hügel auf die Waag-
heit, in unserem persönlichen Leben die schale wirft, der die Inseln wie Kleinigkeiten
Reinheit, in unseren Familien die Har- hochhebt, der die Wasser des Ozeans in der

919
Epheser 4

hohlen Hand hält, vor dem die Einwohner der durch Streiten und Zanken können Gläu-
Erde wie Ameisen sind – als er einen bige so tun, als ob diese Einheit nicht exi-
menschlichen Leib annahm, bezeichnete er stieren würde. Die »Einheit des Geistes
sich als demütig und sanftmütig von Herzen. zu bewahren« bedeutet, miteinander in
Er hat damit nicht das vollkommene mensch- »Frieden« zu leben. »Frieden« ist das
liche Ideal aufgestellt und sich selbst diesem Band, das die Glieder des Leibes trotz
24)
angepaßt, sondern er war dieses Ideal. ihrer großen wesensmäßigen Unterschie-
»Langmut« – dazu gehört eine gleich- de verbindet. Eine normale Reaktion,
mäßige Haltung und ein geduldiger wenn sich unterschiedliche Meinungen
Geist auch unter größten Herausforde- bilden, ist die Spaltung und Bildung einer
rungen. Das kann man an folgendem Bild neuen Gemeinde. Die geistliche Reaktion
darstellen: Eine Welpe und ein erwach- lautet: »Im Wesentlichen Einheit, in
sener Hund sind zusammen. Während Zweifelsfällen Freiheit, in allen Dingen
die Welpe den großen Hund anbellt, ihn Barmherzigkeit.« Wir sind alle noch
zaust und angreift, erträgt der große fleischlich genug, so daß es uns gelingen
Hund geduldig die Frechheiten des Klei- kann, eine Ortsgemeinde oder ein ande-
nen, obwohl er ihn mit einem Biß ver- res Werk des Herrn zu vernichten. Des-
schlingen könnte. halb müssen wir unsere eigenen persönli-
»Einander in Liebe ertragend« – das chen kleinlichen Launen und Ansichten
heißt, anderen ihre Fehler und ihr Versa- unterordnen und gemeinsam in »Frie-
gen vergeben und auch die andere Per- den« zur Ehre Gottes und zum Segen für
sönlichkeit, andere Fähigkeiten und alles zusammenarbeiten.
Temperamente zu schätzen. Und es geht 4,4 Statt die Unterschiede zu ver-
hier nicht um die Frage, daß man eine größern, sollten wir uns an die sieben
höfliche Fassade aufrecht erhält, wäh- Wahrheiten erinnern, die die Grundlage
rend man andererseits auf andere herab- echter christlicher Einheit bilden.
sieht. Es geht hier um echte Liebe zu Ein Leib. Trotz der Unterschiede nach
denen, die einen ärgern, stören oder in Rasse, Hautfarbe, Nationalität, Kultur,
Verlegenheit bringen. Sprache und Temperament gibt es nur
4,3 »Befleißigt euch, die Einheit des einen »Leib«, der aus allen echten Gläu-
Geistes zu bewahren durch das Band des bigen von Pfingsten bis zur Entrückung
Friedens.« Als Gott die Gemeinde ge- besteht. Konfessionen, Sekten und Par-
gründet hat, hat er die schlimmste Tren- teien hindern die Verwirklichung dieser
nung aufgehoben, die je unter Menschen Wahrheit. Alle diese menschlichen
bestand: die Kluft zwischen Juden und Unterscheidungen werden über den
Heiden. In Jesus Christus wurden diese Haufen geworfen, wenn Jesus Christus
Unterschiede abgetan. Doch wie sollte wiederkommt. Deshalb sollte unsere
sich das nun in ihrem gemeinsamen Losung heute heißen: »Laßt alle Namen,
Leben zeigen? Würde es immer noch Ge- Sekten und Benennungen fallen, und
gensätze geben? Sollte es etwa Tenden- laßt Christus alles in allen sein.«
zen geben, eine »jüdische Christenge- Ein Geist. Derselbe Heilige »Geist«, der
meinde« und eine »heidnische Christen- in jedem Gläubigen wohnt (1. Kor 6,19),
gemeinde« zu bilden? Um solchen Spal- wohnt auch im Leib Christi (1. Kor 3,16).
tungen oder schwelenden Feindschaften Eine Hoffnung. Jedes Glied der
vorzubeugen, ermahnt Paulus nun zur Gemeinde ist zu einem Ziel berufen – bei
Einheit unter den Christen. Christus zu sein, ihm ähnlich zu sein und
Sie sollten fleißig »die Einheit des Gei- seine Herrlichkeit in Ewigkeit zu teilen.
stes … bewahren«. Der Heilige »Geist« Die »eine Hoffnung« umfaßt alles, was
hat alle echten Gläubigen in Christus eins die Heiligen bei der Wiederkehr des
gemacht, und der Geist wohnt in diesem Herrn Jesus und danach erwartet.
einen Leib. Das ist die grundlegende Ein- 4,5 Ein Herr. »Denn wenn es auch so-
heit, die nichts zerstören kann. Doch genannte Götter gibt im Himmel oder

920
Epheser 4

auf Erden – wie es ja viele Götter und Heilige Geist gemeint ist (Joh 14,16.17;
viele Herren gibt –, so ist doch für uns ein Apg 2,38.39), dann geht es um den Ge-
Gott, … und ein Herr, Jesus Christus, danken, daß der Heilige Geist derjenige
durch den alle Dinge sind und wir durch ist, der jedem Heiligen eine Gabe gibt,
ihn« (1. Kor 8,5.6; s. a. 1. Kor 1,2). und der auch die Fähigkeit gibt, diese
Ein Glaube. Hier ist der christliche Gabe anzuwenden. Wenn jedes Glied sei-
Glaube gemeint, die Lehre, die »ein für ne Aufgabe erfüllt, dann wächst der Leib
allemal den Heiligen überliefert« (Ju- Christi sowohl geistlich als auch zahlen-
das 3) und uns im NT geschenkt ist. mäßig.
Eine Taufe. Dies ist eine doppelte 4,8 Um jedem Kind Gottes zu helfen,
Wahrheit: Erstens gibt es nur »eine Tau- seine Aufgabe zu finden und zu erfüllen,
fe« im Geist, durch die alle, die auf Chri- hat der Herr einige besondere »Gaben«
stus vertrauen, dem Leib hinzugefügt für den Dienst in der Gemeinde gegeben.
werden (1. Kor 12,13), und zweitens gibt Diese darf man nicht mit den Gaben ver-
es die »eine Taufe«, durch die die Bekehr- wechseln, die im vorherigen Vers er-
ten ihr Einssein mit Christus in Tod, wähnt werden. Jeder Gläubige hat eine
Begräbnis und Auferstehung bekennen. Gabe (V. 7), aber nicht jede Gabe ist eine
Obwohl es heute verschiedene Weisen von denen, die in Vers 11 genannt wer-
der Taufe gibt, kennt das NT nur die eine den. Dies sind besondere »Gaben«, die
Gläubigentaufe im Namen des Vaters für das Wachstum des Leibes geschaffen
und des Sohnes und des Heiligen Gei- wurden.
stes. Durch die Taufe zeigen die Jünger Als erstes sehen wir, daß der Geber
ihre Verbindung zu Christus, das Be- dieser besonderen Gaben der auferstan-
gräbnis ihres Egos und die Entschlossen- dene, aufgefahrene und verherrlichte
heit, in einem neuen Leben zu wandeln. Herr Jesus Christus ist. Paulus zitiert
4,6 Ein Gott. Jedes Kind Gottes er- Psalm 68,18 als Prophezeiung, daß der
kennt nur einen »Gott und Vater aller« an, Messias in den Himmel auffahren, seine
welcher folgende Eigenschaften hat: Feinde besiegen und sie »gefangen« neh-
Er ist men werde, und als Belohnung für sei-
»über allen« – Er ist der souveräne nen Sieg »Gaben« für die Menschen
Herrscher über das Universum. empfangen hat.
»durch alle« – Er handelt durch alles 4,9 Dadurch ergibt sich ein Problem!
und benutzt alles, um seine Ziele zu Wie konnte der Messias in den Himmel
erreichen. auffahren? Hatte er nicht mit Gott dem
»in allen« – Er wohnt in allen Gläubi- Vater von aller Ewigkeit her im Himmel
gen und ist zu allen Zeiten und an gelebt? Offensichtlich mußte er erst vom
allen Orten gegenwärtig. Himmel herabsteigen, um wieder auffah-
ren zu können. Die Prophezeiung seiner
B. Programm für das richtige Himmelfahrt in Psalm 68,18 beinhaltet,
Zusammenarbeiten der Glieder daß er zuerst hinabgestiegen sein muß.
des Leibes (4,7-16) Deshalb können wir Vers 9 etwa so um-
4,7 Die Lehre von der Einheit des Leibes schreiben: »Wenn es also in Psalm 68 heißt
Christi hat eine Zwillingslehre, nämlich ›er ist hinaufgestiegen‹ – was heißt das
die von der Unterschiedlichkeit seiner anderes, als daß er zunächst auf die Erde
Glieder. Jedes Glied hat eine besondere herabkommen mußte.« Wir wissen, daß
Aufgabe. Keine zwei Glieder sind gleich, genau das geschehen ist. Der Herr Jesus
und keine zwei haben genau die gleiche ist zur Krippe von Bethlehem »hinabge-
Funktion. Die Rolle eines jeden wird stiegen«, zum Tod am Kreuz, ins Grab.
»nach dem Maß der Gabe Christi« zuge- Die »unteren Teile der Erde« sind manch-
wiesen, d. h., der Geist gibt die Gaben, mal so verstanden worden, daß er in die
wenn er sieht, daß jemand für sie geeig- Hölle hinabgestiegen sei. Das würde an
net ist. Wenn mit »Gabe Christi« hier der dieser Stelle jedoch der Argumentations-

921
Epheser 4

weise des Paulus widersprechen. Seine (Apg 1,22). Sie hatten die Vollmacht,
Himmelfahrt macht es nötig, daß er zuvor Wunder zu wirken (2. Kor 12,12) als Mit-
auf die Erde hinabgestiegen ist, nicht tel, die Botschaft, die sie predigten, zu be-
jedoch, daß er in der Hölle gewesen ist. glaubigen (Hebr 2,4). Gemeinsam mit den
Außerdem deutet die Schrift an, daß der NTlichen Propheten war ihre Aufgabe die
Geist Christi in den Himmel ging, nicht in Gründung von Gemeinden (Eph 2,20).
die Hölle, als er starb (Lk 23,43.46). Die Apostel, die hier in dem Abschnitt ge-
Eine englische Bibelübertragung for- nannt sind, sind nur diejenigen, die nach
muliert hier folgendermaßen: »Nun der Himmelfahrt Christi Apostel waren.
bedeutet das Wort ›hinaufgestiegen‹, daß »Propheten« waren die Sprecher oder
er auch auf die niedrigste Stufe hinabge- Sprachrohre Gottes. Sie erhielten direkte
stiegen ist, nämlich auf unsere Erde.« Offenbarungen vom Herrn und gaben sie
4,10 Die Prophezeiung aus Psalm an die Gemeinde weiter. Was sie im Hei-
68,18 und die darin angedeutete Tatsache, ligen Geist sprachen, war Gottes Wort.
daß Jesus auf die Erde kommen mußte, In diesem engeren Sinne gibt es keine
wurde in der Menschwerdung, dem Tod Apostel und Propheten mehr. Ihr Dienst
und dem Begräbnis des Herrn Jesus ge- ging zu Ende, als die Grundlagen für die
nau erfüllt. Der aus dem Himmel »hinab- Gemeinde gelegt waren und der NTliche
gestiegen« ist, »ist derselbe, der« Sünde, Kanon abgeschlossen war. Wir haben
Satan, Dämonen und den Tod besiegt hat schon betont, daß Paulus hier von NTli-
und der auch »über« die Atmosphäre und chen »Propheten« spricht, sie wurden
den Sternenhimmel »hinaufgestiegen ist, von Christus nach seiner Himmelfahrt
… damit er alles erfüllte«. eingesetzt. Wenn man hier die ATlichen
Er hat in dem Sinne »alles erfüllt«, Propheten erwähnt sieht, so führt das zu
daß er die Ursache all unserer Segnun- Schwierigkeiten und Absurditäten in
gen ist, die Summe aller Tugenden und diesem Abschnitt.
der höchste Herrscher über alles. »Es gibt »Evangelisten« sind diejenigen, die die
keinen Ort zwischen dem Abgrund des gute Nachricht der Erlösung predigen. Sie
Kreuzes und der Erhabenheit der Herr- sind von Gott ausgerüstet, verlorene Men-
lichkeit, den er nicht kennengelernt hat«, schen für Christus zu gewinnen. Sie haben
25)
schreibt F. W. Grant. die besondere Gabe, den Zustand eines
Der Hauptgedanke der Verse 8-10 ist, Sünder zu diagnostizieren, sein Gewissen
daß der Geber der Gaben der aufgefahre- zu wecken, Einwände zu beantworten,
ne Christus ist. Es gab keine Gaben, ehe Entscheidungen für Christus zu ermuti-
er nicht in den Himmel zurückgekehrt gen und den Bekehrten zu helfen, im Wort
war. Das gibt der Vorstellung weiteren gegründet zu werden. Evangelisten soll-
Halt, daß die Gemeinde im AT noch ten von einer Ortsgemeinde ausgesandt
nicht existiert hat, denn wenn sie existiert sein, der Welt das Evangelium predigen
hätte, dann wäre sie eine gabenlose Ge- und die Bekehrten wieder einer Ortsge-
meinde gewesen. meinde zuführen, in der sie genährt und
4,11 Nun werden die Gaben nament- im Glauben ermutigt werden.
lich genannt. Zu unserem Erstaunen han- »Hirten« sind Männer, die als Unter-
delt es sich um Menschen, nicht um na- hirten für die Schafe Christi dienen. Sie
türliche Gaben oder Talente. »Und er hat leiten und speisen die Herde. Ihr Dienst
die einen als Apostel gegeben und andere besteht in weisem Rat, in Korrektur,
als Propheten und andere als Evangeli- Ermutigung und Trost.
sten und andere als Hirten und Lehrer.« Das Werk des »Hirten« ist mit dem
»Apostel« waren die Männer, die der Ältesten der Ortsgemeinde eng ver-
direkt vom Herrn eingesetzt wurden, das wandt. Der Hauptunterschied besteht
Wort zu predigen und Gemeinden zu darin, daß die Hirtenschaft eine Gabe ist,
gründen. Es handelte sich um diejenigen, die Ältestenschaft dagegen ein Amt. Das
die den Auferstandenen gesehen hatten NT zeigt mehrere Hirten in einer Ortsge-

922
Epheser 4

meinde (Apg 20,17.28; 1. Petr 5,1.2), nicht dung erhalten haben. Es geht um einen
nur einen einzigen Hirten oder Ältesten. »Dienst«, nicht um einen Beruf im heuti-
»Lehrer« sind Männer, die von Gott gen Sinne. Es geht hier um jede Art geist-
die Fähigkeit erhalten haben zu erklären, lichen Dienstes. Und dieser Vers lehrt
was die Bibel uns sagt, auszulegen, was weiter, daß jeder Christ einen »Dienst«
damit gemeint ist, und diese Wahrheiten haben sollte.
dann auf die Herzen und Gewissen der Die Gaben sind gegeben, um alle
Heiligen anzuwenden. Während der Christen auszurüsten, dem Herrn zu die-
Evangelist einen Bibeltext außerhalb sei- nen und auf diese Weise den »Leib Chri-
nes Kontextes behandeln kann, versucht sti« aufzuerbauen. Vance Havner erklärt
der Lehrer darzulegen, wie der behandel- das auf seine unvergleichliche Art:
te Abschnitt in den Zusammenhang paßt. Jeder Christ ist ausgesandt, denn jeder
Weil die »Hirten und Lehrer« in die- Christ ist ein Missionar. Es ist einmal gesagt
sem Vers verbunden sind, schließen eini- worden, daß das Evangelium nicht nur etwas
ge, daß es sich hier um eine einzige Gabe ist, dessentwegen man in die Kirche geht, um
handelt, so daß es »Hirtenlehrer« heißen es anzuhören, sondern auch etwas, dessent-
müßte. Doch das ist nicht notwendiger- wegen man die Kirche verläßt, um davon wei-
weise der Fall. Jemand kann ein Lehrer terzuerzählen – und dazu sind wir alle beru-
sein, ohne das Herz eines Hirten zu fen. Man hat auch gesagt: »Das Christentum
haben, und ein Hirte mag in der Lage sein, begann als eine Gemeinschaft von Laienpredi-
daß Wort anzuwenden, ohne daß er die gern, doch ist es zu einer Organisation von
Lehrgabe besitzt. Wenn in Vers 11 »Hirten professionellen Kanzelrednern verkommen,
und Lehrer« von der Person her identisch die von Laienzuschauern finanziert wird.«
sind, dann müßte nach derselben gram- Heutzutage stellen wir Gemeindepersonal an,
matischen Regel dasselbe für Apostel und um »vollzeitige christliche Arbeit« zu leisten,
26)
Propheten in Kap. 2,20 gelten. und wir setzen uns sonntags hin, um zu
Ein letztes Wort hierzu. Wir sollten sehen, was sie getan haben. Jeder Christ sollte
sorgfältig zwischen göttlichen Gaben im vollzeitigen christlichen Dienst stehen …
und angeborenen Talenten unterschei- Es gibt natürlich den besonderen Dienst der
den. Kein Unerlöster, wie sehr er auch Hirten, Lehrer und Evangelisten – doch mit
talentiert sein mag, kann ein Evangelist, welchem Ziel? … damit die Heiligen zu ihrem
27)
ein Hirte oder Lehrer im Sinne des NT Dienst vollendet werden.
sein. Auch kann kein Christ diese Aufga- Diese von Gott gegebenen Männer
be erfüllen, es sei denn er habe diese sollten nicht so dienen, daß Menschen
besondere Gabe erhalten. Die Gaben des ständig von ihnen abhängig sind. Statt
Geistes sind übernatürlich. Sie ermögli- dessen sollten sie auf den Tag hinarbei-
chen es einem Menschen, etwas zu tun, ten, an dem die Heiligen in der Lage
was ihm vom menschlichen Standpunkt sind, selbst weiterzukommen. Wir kön-
aus unmöglich wäre. nen das in folgendem Bild darstellen:
4,12 Wir kommen nun zur Aufgabe
oder zum Zweck der Gaben. Sie sind
»zur Ausrüstung der Heiligen für das
Werk des Dienstes, für die Erbauung des
Leibes Christi« gegeben. Dabei gilt fol-
gende Reihenfolge:
1. Die Gabe rüstet »die Heiligen« aus.
2. Daraufhin dienen »die Heiligen«.
3. Als Folge davon wird der »Leib«
erbaut.
»Das Werk des Dienstes« ist keine
spezielle Beschäftigung für Menschen,
die eine besondere theologische Ausbil-

923
Epheser 4

Der Kreis im Mittelpunkt steht z. B. sprechend. »Die Fülle Christi ist die Ge-
für die Gabe eines Lehrers. Er dient meinde selbst, die Fülle, die alles in allem
denen in dem Kreis um ihn herum, so daß erfüllt« (aus F. W. Grant’s Numerical
sie ausgerüstet werden, d. h. im Glauben Bible). »Das Vollmaß des Wuchses« der
auferbaut. Dann gehen diese hin und die- Gemeinde bedeutet, daß sie voll ent-
nen anderen mit den Gaben, die Gott wickelt ist, und daß Gottes Plan zu ihrem
ihnen gegeben hat. Auf diese Weise Wachstum erfüllt ist.
wächst die Gemeinde. Das ist die gött- 4,14 Wenn die Gaben auf von Gott
liche Methode, den »Leib Christi« geist- gewollte Weise eingesetzt werden, und
lich und zahlenmäßig wachsen zu lassen. die Heiligen im Dienst des Herrn aktiv
Die Beschränkung des christlichen sind, dann werden drei Gefahren ver-
Dienstes auf eine ausgewählte Klasse mieden: Unreife, Unbeständigkeit und
von Menschen hindert die Entwicklung Leichtgläubigkeit.
des Volkes Gottes, unterdrückt das An- Unreife. Gläubige, die sich nie im
liegen der Weltevangelisation und ver- Frontkampf für Christus einsetzen, kön-
hindert das Gemeindewachstum. Die nen niemals aus dem Zustand geistlicher
Unterscheidung in Geistlichkeit und »Unmündiger« herausfinden. Sie ent-
Laienschaft ist unschriftgemäß und wickeln sich nicht, weil sie ihre Gaben
wahrscheinlich das größte Einzelhinder- nicht üben. Solchen sagte der Schreiber
nis für die Verbreitung des Evangeliums. des Hebräerbriefes: »Denn während ihr
4,13 Vers 13 beantwortet die Frage, der Zeit nach Lehrer sein solltet, habt ihr
wie lange dieser Wachstumsprozeß wieder nötig, daß man euch lehre …«
dauern wird. Die Antwort lautet: »Bis wir (Hebr 5,12).
alle hingelangen« zu einem Zustand der Unbeständigkeit. Eine andere Gefahr
»Einheit«, der Reife und der Ähnlichkeit. ist geistliche Unbeständigkeit. Unreife
Einheit. Wenn der Herr seine Gemein- Christen sind für die grotesken Einfälle
de in den Himmel holen wird, dann er- und abstrusen Ideen von berufsmäßigen
reichen wir alle die »Einheit des Glau- Quacksalbern anfällig. Sie werden zu re-
bens«. »Denn wir sehen jetzt mittels ligiösen Zigeunern, indem sie »hin- und
eines Spiegels«, und zwar auf vielen Ge- hergeworfen« werden zwischen den ver-
bieten. Wir haben bei vielen Themen schiedenen ansprechenden Ideen.
Meinungsverschiedenheiten. Dann je- Leichtgläubigkeit. Die größte Gefahr ist
doch werden wir einer Meinung sein. der Selbstbetrug. Diejenigen, die noch
Und wir werden die »Einheit … der Säuglinge im Glauben sind, haben noch
Erkenntnis des Sohnes Gottes« erreichen. wenig Kenntnis vom Wort der Gerechtig-
In unserer jetzigen Welt haben wir indi- keit, und ihre Sinne sind noch nicht
viduelle Erkenntnisse über den Herrn, geübt, zwischen Gut und Böse zu unter-
wie er ist, und wie seine Lehren gemeint scheiden (Hebr 5,13.14). Sie treffen un-
sind. Dann werden wir ihn sehen, wie er ausweichlich auf irgendwelche falschen
ist, und erkennen, wie wir erkannt sind. Führer, die sie durch Eifer und scheinba-
Reife. Bei der Entrückung werden wir re Aufrichtigkeit beeindrucken. Weil sie
auch den Zustand der Reife oder des ein religiöses Vokabular im Munde füh-
Voll-Ausgewachsenseins erreichen. So- ren, meinen diese gläubigen unreifen
wohl als Einzelne als auch als Leib Chri- Christen, daß diese Führer auch Christen
sti werden wir zur Vollkommenheit sein müßten. Wenn sie jedoch selbst die
geistlicher Entwicklung gelangen. Bibel studiert hätten, dann wären sie in
Ähnlichkeit. Wir werden Jesus Chri- der Lage, ihre betrügerischen Wortver-
stus gleich sein. Wir werden in sittlicher drehungen zu durchschauen. Doch so
Hinsicht Christus ganz gleichen. Und die werden sie »von jedem Wind der Lehre
gesamte Gemeinde wird ein vollständi- … umhergetrieben« und von gewissen-
ger Leib sein, ausgewachsen und voll- losen Betrügern zu systematischen Irr-
kommen seinem herrlichen Haupt ent- tümern geführt.

924
Epheser 4

4,15 Die letzten zwei Verse des Ab- keln. Die Knochen werden von Gelenken
schnittes beschreiben den normalen und Sehnen zusammengehalten, und
Wachstumsprozeß im Leib Christi. Zu- auch die Organe sind verbunden. Jedes
nächst besteht die Notwendigkeit der Gelenk und jede Sehne erfüllt ihre Auf-
Nachfolge in der Lehre: »Laßt uns aber gabe beim Wachstum des Leibes und ist
die Wahrheit bekennen …« Es kann be- für den Leib nützlich. Dasselbe gilt für
züglich der Grundlagen des Glaubens »den Leib« Christi. Kein Glied ist über-
keine Kompromisse geben. Zweitens muß flüssig, und auch der einfachste Gläu-
alles im rechten Geist geschehen: »Wahr- bige ist notwendig.
heit bekennen in Liebe.« Wenn wir die Wenn jeder Gläubige seine Aufgabe
Wahrheit anders bekennen, dann wird erfüllt, dann wächst der »Leib« zu einer
das zu einem einseitigen Zeugnis führen. harmonischen, wohlausgebildeten Ein-
Blaikie ermahnt: heit. In einem ganz realen Sinne wirkt
Wahrheit ist das Element, in dem wir der Leib selbst »das Wachstum des Lei-
leben können, uns bewegen und unser Wesen bes«, so paradox es klingt. Das bedeutet
zeigen können … Doch die Wahrheit muß ganz einfach, daß das Wachstum vom
untrennbar mit der Liebe verbunden sein, Leib veranlaßt wird, wenn die Glieder
denn gute Nachrichten, die böse verkündigt sich vom Wort Gottes nähren, beten und
werden, sind keine guten Nachrichten mehr. für Christus Zeugnis ablegen. Wie Cha-
Die Anziehungskraft der Botschaft wird fer einmal sagte: »Die Gemeinde ent-
durch eine unangemessene Haltung des wickelt sich wie der menschliche Leib
28)
Boten verdorben. von selbst.« Zusätzlich zum Größen-
Wenn die Heiligen nun mit Gaben aus- wachstum gibt es eine »Selbstaufer-
gestattet sind und sich im aktiven Dienst bauung in Liebe«. Das bedeutet die
engagieren, so wachsen sie »in allem« auf gegenseitige Fürsorge der Glieder unter-
ihn, »das Haupt« zu. Christus ist das Ziel einander. Wenn Christen in Christus blei-
und der Grund ihres Wachstums, und das ben und ihre Aufgabe in der Gemeinde
Wachstum betrifft »alle« Bereiche. Auf erfüllen, dann wachsen sie miteinander
jedem Gebiet ihres Lebens werden sie ihm in »Liebe« und Einheit.
ähnlicher. Je mehr sich das Haupt in der
Gemeinde verwirklicht, ein umso bes- C. Aufruf zu einem neuen
seres Zeugnis von Christus wird der Leib Lebenswandel (4,17 – 5,21)
der Welt gegenüber abgeben. 4,17 Hier fängt nun der ausführliche
4,16 Der Herr Jesus ist nicht nur das Aufruf des Apostels zu einem neuen
Ziel des Wachstums, sondern auch seine Lebenswandel an, der sich bis Kapitel
Ursache. »Aus ihm wird der ganze Leib« 5,21 erstreckt. Er bezeugt »im Herrn«,
in den Wachstumsprozeß einbezogen. d. h. in der Autorität des Herrn und
Die wunderbare Integration der Glieder durch göttliche Inspiration, und bittet
des Leibes wird durch den Teilsatz »gut die Christen, jede Einzelheit ihres ver-
zusammengefügt und verbunden« be- gangenen Lebens abzulegen, als ob es
schrieben. Das bedeutet, daß jedes Glied sich um einen schmutzigen Mantel han-
genau für seinen Platz und seine Funkti- dele, und die Tugenden und Vorzüge des
on gemacht ist, und vollkommen mit Herrn Jesus Christus anzuziehen. »Daß
allen anderen Gliedern »verbunden« ist, ihr nicht mehr wandeln sollt, wie auch
damit alle zusammen einen vollständi- die Nationen wandeln.« Sie sind keine
gen, lebendigen Organismus ergeben. »Heiden« mehr, sondern Christen. Ent-
Wieviel ein Glied bedeutet, wie es sogar sprechend sollte ihr Leben sich verän-
unentbehrlich ist, wird danach beschrie- dern. Paulus sah, daß die christuslose
ben: »Gut zusammengefügt und verbun- Welt der Nationen in Unwissenheit und
den durch jedes Gelenk des Dienstes.« Erniedrigung versunken ist. Die Heiden
Der menschliche Leib besteht hauptsäch- werden von sieben schrecklichen Eigen-
lich aus Knochen, Organen und Mus- schaften gekennzeichnet, und zwar:

925
Epheser 4

Ziellosigkeit. Sie wandeln »in Nichtig- angedeutet zu sein, daß sie sich jeder »Un-
keit ihres Sinnes«. Ihr Leben ist leer, ziel- reinheit« hingeben, als hätten sie »Aus-
los und fruchtlos. Man sieht ständige schweifung« zu einem Geschäft gemacht.
Bewegung, doch keine Fortschritte. Sie Unersättlich. »Mit Gier.« Sie sind nie
jagen hinter Seifenblasen und Schatten zufrieden und konnten nie genug be-
her, während sie die Realitäten des kommen. Ihre Sünde führt zu einem rie-
Lebens vernachlässigen. sigen Verlangen nach mehr.
4,18 Blind. »Sie leben blind in einer 4,20 Welch ein Kontrast zu »Chri-
Welt der Illusion« (so nach einer engli- stus«, den die Epheser nun kennen und
schen Übertragung). Ihr »Verstand« ist lieben gelernt hatten. Er war die Inkarna-
»verfinstert«. Zunächst einmal fehlt ihnen tion von Reinheit und Sittlichkeit. Er
von Natur aus die Fähigkeit, geistliche kannte keine Sünde, er tat keine Sünde,
Wahrheiten zu verstehen, und außerdem in ihm war keine Sünde.
kommt noch das göttliche Gericht der 4,21 Das »wenn« in »wenn ihr ihn
Blindheit hinzu, weil sie das Wissen vom wirklich gehört und durch ihn gelehrt
wahren Gott abgelehnt haben. worden seid« soll hier keinen Zweifel an
Gottlos. Sie sind »fremd dem Leben der Bekehrung der Epheser heraufbe-
Gottes«, das heißt, sie leben weit entfernt schwören. Hier soll einfach betont wer-
von ihm. Dies kommt von ihrer willent- den, daß alle, die Christus gehört hatten
lichen, tiefgehenden Unwissenheit und und »durch ihn gelehrt« worden sind,
durch die Verhärtung ihrer Herzen. Sie ihn als Heiligkeit und Gottesfürchtigkeit
haben das Licht Gottes, das ihnen in der in Person kennengelernt haben. Christus
Schöpfung und durch ihr Gewissen gehört zu haben bedeutet, ihn im Glau-
schien, abgelehnt, und sich dem Götzen- ben gehört zu haben – ihn als Herrn und
dienst zugewandt. Danach haben sie sich Erlöser angenommen zu haben. Der Aus-
weiter und weiter von Gott entfernt. druck »durch ihn gelehrt« bezieht sich
4,19 Schamlos. Sie sind »abge- darauf, daß die Epheser nach ihrer Be-
stumpft«. W. C. Wright erklärt: kehrung von ihm gelehrt wurden, als sie
Moule übersetzt: »Sie haben die Schmer- in Gemeinschaft mit ihm lebten. Blaikie
zen hinter sich gelassen.« Wie ausdrucks- bemerkt: »Alle Wahrheiten sehen anders
stark! Wenn man ein Gewissen erstmals un- aus, wenn wir eine persönliche Bezie-
terdrückt, schmerzt es noch, denn die Ein- hung zu Jesus bekommen. Wahrheit
wände des Gewissens werden noch gehört. ohne die Person Christi hat kaum Voll-
30)
Doch wenn die Stimme zum Schweigen ge- macht.« »Wie die Wahrheit in Jesus ist.«
bracht wird, dann wird die Stimme immer Er lehrt nicht nur die Wahrheit, sondern
undeutlicher und leiser, die Einwände wer- ist die fleischgewordene Wahrheit
den weniger, es schmerzt weniger, bis es (Joh 14,6). Der Name »Jesus« führt uns
schließlich möglich ist, »die Schmerzen hin- zu seinem Erdenleben zurück, weil das
29)
ter sich zu lassen«. sein Name hier auf Erden war. In diesem
Erbärmlich. Sie geben sich wissentlich makellosen Leben, das er als Mensch in
»selbst der Ausschweifung« hin, d. h. sit- dieser Welt führte, sehen wir das genaue
tenloses Verhalten. Die Hauptsünde der Gegenteil zum Lebensstil der Heiden,
Heiden lag und liegt auf sexuellem den Paulus soeben beschrieben hat.
Gebiet. Sie erniedrigen sich zu Tiefen der 4,22 In der Schule Christi lernen wir,
Verderbtheit, die keine Parallele mehr daß wir bei unserer Bekehrung »den
haben. Die Wände von Pompeji berich- alten Menschen abgelegt« haben, »der
ten von dieser Geschichte verlorenge- sich durch die betrügerischen Begierden
gangenen Schamgefühls und Anstandes. zugrunde richtet«. »Der alte Mensch« ist
Dieselben Sünden kennzeichnen die alles, was jemand vor seiner Bekehrung
heutige Heidenwelt. und als Kind Adams war. Er wird als Fol-
Unzüchtig. In ihrer sexuellen Sünde ge der Hingabe an »betrügerische Begier-
üben sie jede »Unreinheit«. Es scheint hier den« zugrunde gerichtet, durch böse

926
Epheser 4

Taten, die vorher schön und ansprechend bei der Einkommenssteuer. Das Wort des
scheinen, die jedoch in der Rückschau Christen sollte absolut zuverlässig sein.
nur unbefriedigend und schrecklich Sein Ja sollte ein Ja sein, sein Nein ein
sind. In bezug auf seine Stellung in Chri- Nein. Das Leben des Christen wird eher
stus ist der »alte Mensch« des Gläubigen eine Schmähschrift als eine Bibel, wenn
mit Christus gekreuzigt und begraben. In er sich dazu hinreißen läßt, irgendwo mit
der Praxis sollte der Gläubige ihn für tot der Wahrheit zu spielen.
halten. Paulus stellt dies hier als stel- Wir sind allen Menschen die Wahr-
lungsmäßige Wahrheit dar – wir haben heit schuldig. Doch wenn Paulus hier das
den »alten Menschen abgelegt«, und Wort »Nächster« benutzt, so meint er
zwar ein für allemal. hier besonders unsere Mitgläubigen. Das
4,23 Die zweite Lektion, die die Ephe- wird aus der Begründung deutlich, die er
ser zu Jesu Füßen gelernt hatten, war, gibt: »Denn wir sind untereinander Glie-
daß sie »in dem Geist« ihrer »Gesinnung der« (vgl. Röm 12,5; 1. Kor 12,12-27). Es
… erneuert« worden sind. Das weist auf ist für einen Christen so undenkbar einen
eine völlige Umkehr in ihrem Denken anderen anzulügen, wie es für einen
hin, eine Umkehr von geistiger Unrein- lebendigen Nerv undenkbar ist, daß er
heit zur Heiligung. Der Geist Gottes absichtlich eine falsche Botschaft zum
beeinflußt die Denkprozesse so, daß man Gehirn leitet, oder daß das Auge den
von Gottes Standpunkt aus argumen- Rest des Leibes betrügt, wenn Gefahr im
tiert, und nicht vom Standpunkt unge- Anzug ist.
retteter Menschen aus. 4,26 Ein zweiter Bereich für die prak-
4,24 Die dritte Lektion lautet, daß sie tische Erneuerung in unserem Leben ist
ein für allemal »den neuen Menschen der sündige »Zorn« und der gerechte
angezogen« haben. Der neue Mensch ist Ärger. Es gibt Zeiten, zu denen ein Gläu-
das, was ein Gläubiger in Christus ist. Er biger zurecht »zürnt«, wenn z. B. Gottes
ist die neue Schöpfung, in der alles alte Charakter in Zweifel gezogen wird. In
vergangen und alles neu geworden ist (2. solchen Fällen ist Ärger angesagt: »Zür-
Kor 5,17). Dieser »neue Mensch« ist net!« Zorn gegen das Böse kann gerecht
»nach Gott geschaffen«, d. h. nach sei- sein. Doch gibt es andere Zeiten, zu
nem Bilde. Und in ihm findet sich »wahr- denen Zorn Sünde wird. Zorn ist uns
haftige Gerechtigkeit und Heiligkeit«. dann verboten, wenn er ein Gefühl von
»Gerechtigkeit« ist richtiges Verhalten Bosheit, Eifersucht, Groll, Rachsucht
anderen Menschen gegenüber. »Heilig- oder Haß erzeugt, weil jemand persön-
keit« ist »eine Haltung gegenüber Gott, lich gefehlt hat. Aristoteles sagt: »Jeder
die ihm seine rechtmäßige Stellung ein- kann zornig werden, das ist ganz ein-
31)
räumt«, wie F. W. Grant definiert. fach, doch mit dem richtigen Menschen,
4,25 Paulus kommt nun von der Stel- in richtigem Maße, zur rechten Zeit, aus
lung des Gläubigen auf seinen Zustand dem rechten Grund und auf die richtige
zu sprechen. Weil sie den alten Menschen Weise – das ist nicht einfach.«
abgelegt und den neuen in ihrer Vereini- Wenn ein Gläubiger dem ungerech-
gung mit Christus angelegt haben, soll- ten Zorn Raum gibt, dann sollte er
ten sie diese erstaunliche Umkehr auch schnell bekennen und umkehren. Das
in ihrem alltäglichen Leben beweisen. Bekenntnis sollte sowohl Gott als auch
Sie konnten das zunächst einmal da- dem Opfer seines Zornes gegenüber
durch tun, daß sie »die Lüge« ablegten geschehen. Man sollte keinen Groll pfle-
und die Wahrhaftigkeit anzogen. »Lüge« gen, keine Ablehnung im Herzen tragen
umfaßt hier jede Art der Unaufrichtig- noch Ärger hegen. »Die Sonne gehe nicht
keit, ob es um das Färben einer Wahrheit unter über eurem Zorn.« Alles, was
geht, um Übertreibung, Irreführung, unsere Gemeinschaft mit Gott oder unse-
nicht gehaltene Versprechen, gebroche- ren Geschwistern trübt, sollte sofort
nes Vertrauen, Schmeichelei oder Betrug bereinigt werden.

927
Epheser 4

4,27 Unbekannte Sünde gibt »dem erhabenere Sicht der säkularen Beschäfti-
Teufel« Einfluß auf unser Leben. Er kann gung nahe. Sie ist dazu da, für die eigene
viele Anlässe zum Einfluß finden, auch Familie einen bescheidenen Lebensstan-
wenn wir es vermeiden wollen. Deshalb dard zu sichern, doch auch dazu, um
dürfen wir Bosheit, Zorn, Neid, Haß und »Bedürftigen« etwas zu geben, sei es
Eifersucht in unserem Leben nicht ent- geistlich oder zeitlich, sei es zu Hause
schuldigen. Diese Sünden untergraben oder im Ausland. Und wie groß ist doch
das christliche Zeugnis, bringen Unerlö- die Zahl der »Bedürftigen«!
ste zu Fall, sind ein Anstoß für die Gläu- 4,29 Der Apostel wendet sich nun
bigen und schaden uns selbst geistlich dem Thema der Wortsünden zu und
und körperlich. stellt das Nutzlose dem Erbaulichen
4,28 Paulus richtet seine Aufmerk- gegenüber. »Faules Wort« bedeutet eine
samkeit nun auf die gegensätzlichen Ver- Unterhaltung, die schlüpfrig und reich
haltensweisen des Stehlens und des Tei- an bösen Anspielungen ist. Damit wären
lens. Der alte Mensch stiehlt, der neue also schmutzige Witze, schmutzige Ge-
Mensch teilt. Ziehe den alten Menschen schichten und Gotteslästerung gemeint.
aus, und ziehe den neuen an! Allein die Doch geht es hier wahrscheinlich im wei-
Tatsache, daß Paulus überhaupt jemals an teren Sinne um jede Art der Unterhal-
Christen eine Anweisung wie »wer ge- tung, die müßig, wertlos, überflüssig
stohlen hat, stehle nicht mehr« richten und leichtfertig ist. Paulus behandelt
muß, beweist, daß die Vorstellung, Chri- Obszönitäten und böse Sprache in 5,4,
sten seien sündlos und vollkommen, un- hier geht es ihm darum, daß wir nutzlose
sinnig ist. In ihnen lebt noch immer die Rede aufgeben und statt dessen auf-
alte böse, selbstsüchtige Natur, die im All- bauend reden sollen. Eine christliche
tag für tot gehalten werden muß. Stehlen Unterhaltung sollte folgende Eigenschaf-
kann viele Formen annehmen – die ganze ten haben:
Bandbreite von Diebstahl im großen Stil Erbauend. Sie sollte dazu führen, daß
bis zum Nichtbezahlen von Schulden, die Zuhörer auferbaut werden.
über Zeugnis für Christus auf Kosten des Angemessen. Sie sollte dem Anlaß
Arbeitgebers, über Plagiate und den Ge- angepaßt sein.
brauch von falschem Maß oder bis hin Gnädig. Sie sollte »den Hörenden
zum Fälschen von Einkommensberech- Gnade« geben.
nungen. Natürlich ist dieses Diebstahls- 4,30 »Und betrübt nicht den Heiligen
verbot nicht neu. Schon das Gesetz des Geist Gottes, mit dem ihr versiegelt wor-
Mose verbietet Diebstahl (2. Mose 20,15). den seid auf den Tag der Erlösung hin.«
Erst die folgenden Sätze machen diesen Wenn wir diesen Vers in Verbindung mit
Abschnitt ausgesprochen christlich. Wir dem Vorhergehenden sehen, dann be-
sollten nicht nur Abstand vom Stehlen deutet das, daß nutzloses Geschwätz den
nehmen, sondern auch in einer ehrlichen Geist betrübt. Man kann ihn auch mit
Stellung arbeiten, damit wir in der Lage den Versen 25-28 verbinden, um zu zei-
sind, mit anderen zu teilen, die weniger gen, daß Lüge, ungerechter Zorn und
Glück haben. Gnade, nicht das Gesetz, ist Diebstahl ihn ebenso betrüben. Aber im
die Kraft der Heiligung. Nur die positive weiteren Sinne sagt er auch aus, daß wir
Macht der Gnade kann einen Dieb in uns von allem und jedem enthalten sol-
einen Helfer umformen. len, das ihn betrübt.
Das ist radikal und revolutionär. Der Hier werden drei wichtige Gründe
normale Ansatz für die Menschen lautet, dafür genannt:
daß sie für ihre eigenen Bedürfnisse und 1. Er ist der Heilige Geist. Alles, was
Wünsche arbeiten. Wenn ihr Einkommen nicht ebenfalls heilig ist, gefällt ihm
steigt, so steigt auch ihr Lebensstandard. nicht.
Alles in ihrem Leben dreht sich um sie 2. Er ist der Heilige Geist »Gottes«, ein
selbst. Dieser Vers legt jedoch eine edlere, Teil der heiligen Trinität.

928
Epheser 4

3. Wir sind mit ihm »versiegelt worden den, doch das Vakuum muß durch das
… auf den Tag der Erlösung hin«. Wie Einüben von christusähnlichen Eigen-
schon vorher bemerkt, bedeutet ein schaften aufgefüllt werden. Die ersten
Siegel Besitztum und Sicherheit. Der sind natürliche Laster, die zweiten sind
Heilige Geist ist das Siegel, das uns übernatürliche Tugenden:
garantiert, daß wir bis zur Wieder- Güte – selbstlose Sorge um das Wohl-
kunft Christi bewahrt werden und ergehen anderer, und der Wunsch, an-
unsere Erlösung vollständig ist. Inter- deren auch unter großen persönlichen
essanterweise erwähnt Paulus hier Opfern zu helfen.
die ewige Sicherheit des Gläubigen Mitleid – ein mitfühlendes, liebevol-
als einen der wichtigsten Gründe, les und mitleidiges Interesse am anderen
warum wir nicht sündigen sollen. und die Bereitschaft, seine Last mitzu-
Die Tatsache, daß der Geist »betrübt« tragen.
werden kann, beweist, daß der Heilige Vergebungsbereitschaft – Bereitschaft,
Geist eine Person ist, nicht nur eine Art Vergehen zu entschuldigen, persönliches
Einfluß. Es bedeutet auch, daß er uns liebt, Unrecht, das einem zugefügt wurde, zu
weil wir nur jemanden betrüben können, übersehen, und kein Verlangen nach
der uns liebt. Der liebste Dienst des Gei- Rache zu hegen.
stes Gottes besteht darin, Christus zu ver- Das großartigste Beispiel für Ver-
herrlichen und den Gläubigen in sein gebungsbereitschaft ist Gott selbst. Die
Ebenbild zu verwandeln (2. Kor 3,18). Grundlage seiner Vergebung ist das
Wenn ein Christ sündigt, dann muß er Werk Christi auf Golgatha. Und wir sind
von diesem Dienst ablassen und sich dem die unwürdigen Empfänger seiner Ver-
Dienst der Wiederherstellung zuwenden. gebung. Gott hätte uns die Sünde nicht
Es betrübt den Heiligen Geist, den geistli- vergeben können, wenn dafür nicht Süh-
chen Fortschritt des Gläubigen von der ne getan worden wäre. In seiner Liebe
Sünde unterbrochen zu sehen. Er muß stellte er die Sühne bereit, die seine Ge-
den Christen zunächst zur Buße und zum rechtigkeit erforderte. »In Christus«, das
Bekenntnis der Sünde führen. heißt, in seiner Person und in seinem
4,31 Alle Sünden des Temperaments Werk, fand Gott die gerechte Grundlage,
und der Zunge sollten »weggetan« wer- auf der er uns vergeben konnte.
den. Der Apostel listet hier einige davon Weil er uns vergab, als wir »Millionen
auf. Obwohl es nicht möglich ist, jede von Mark« schuldig waren, sollten wir
von der anderen genau zu unterschei- anderen auch vergeben, wenn sie uns
den, so ist die allgemeine Bedeutung »ein paar Mark« schulden (Matth 18,23-
doch klar: 28, nach einer englischen Übertragung).
Bitterkeit – schwelender Ärger, man- Lenski rät:
gelnde Vergebungsbereitschaft, verhär- In dem Augenblick, da mir jemand Un-
tete Gefühle. recht tut, muß ich ihm vergeben. Dann ist
Wut – Zornesausbrüche, Wutanfälle, mein Gewissen frei. Wenn ich ihm das Un-
Emotionsausbrüche. recht weiter vorhalte, dann sündige ich gegen
Zorn – Feindschaft, Haß, Gries- ihn und Gott und setzte meine Vergebung bei
grämigkeit. Gott aufs Spiel. Ob der andere Reue zeigt,
Geschrei – laute Äußerungen von etwas wieder gut macht, mich um Vergebung
Ärger, Brüllen, ärgerliches Gezänk, Nie- bittet oder nicht, ist dann kein Unterschied
derschreien von Gegnern. mehr. Ich habe ihm sofort vergeben. Er muß
Lästerung – Beleidigungen, böse Nach- sich vor Gott für das Unrecht verantworten,
rede, Beschimpfungen. das er mir angetan hat, doch das ist seine und
Bosheit – anderen Böses wünschen, Gottes Sache und nicht meine, außer wenn
Gehässigkeit, Boshaftigkeit. ich ihm nach Matthäus 18,15 ff. helfen sollte.
4,32 Die eben genannten Tempera- Doch ob dies Erfolg hat oder nicht, und bevor
32)
mentssünden sollten aufgegeben wer- ich damit beginne, muß ich ihm vergeben.

929
Epheser 5

5,1 Gottes Beispiel der Vergebungsbe- 5,3 In den Versen 3 und 4 kommt der
reitschaft in 4,32 ist die Basis der Ermah- Apostel auf das Thema »sexuelle Sünde«
nungen des Paulus an dieser Stelle. Der zurück und ruft entschlossen alle Heili-
Zusammenhang ist folgender: Gott hat gen auf, sich durch Heiligung von diesen
dir in Christus vergeben. Nun sollen wir Sünden zu trennen. Als erstes erwähnt er
»Nachahmer Gottes« sein, indem wir verschiedene Formen der sexuellen Sit-
einander vergeben. Ein besonderes Mo- tenlosigkeit:
tiv wird mit den Worten »als geliebte Unzucht. Wann immer dieses Wort
Kinder« angesprochen. Im natürlichen mit Ehebruch im gleichem Atemzug ge-
Leben haben die Kinder eine Famili- nannt wird, handelt es sich dabei um un-
enähnlichkeit und sollten versuchen, den erlaubten Sexualverkehr zwischen Un-
Namen der Familie zu ehren. Im geistli- verheirateten. Wenn das Wort jedoch, wie
chen Leben sollen wir unseren Vater vor an dieser Stelle, nicht vom Ehebruch un-
der Welt repräsentieren und versuchen, terschieden wird, dann bezieht es sich
entsprechend unserer Würde als seine wahrscheinlich auf jede Form sexueller
geliebten »Kinder« zu leben. Unmoral. (Unser Wort »Pornographie«,
5,2 Noch auf andere Weise sollten wir wrtl. »Hurenschreiberei« ist mit dem
dem Herrn gleichen: durch unseren Wan- Wort verwandt, das hier mit »Unzucht«
del »in Liebe«. Der zweite Teil des Verses übersetzt wird.)
erklärt, daß Wandel »in Liebe« bedeutet, Unreinheit. Hierbei kann es sich eben-
sich selbst für andere hinzugeben. Das ist falls um Sittenlosigkeit handeln, aber
es, was Christus, unser vollkommenes auch unreine Bilder, obszöne Bücher und
Vorbild, getan hat. Welch erstaunliche anderes anstößiges Material bedeuten,
Tatsache: Er liebte uns! Den Beweis seiner die zu einem unanständigen Leben ge-
Liebe erbrachte er, als er am Kreuz von hören und die die Sinnlichkeit erregen.
Golgatha sich selbst in den Tod gab. Habsucht. Während wir dieses Wort
Seine Gabe wird hier als »Gabe und normalerweise mit Geldgier gleichsetzen,
Schlachtopfer« für Gott dargestellt. Eine bezieht es sich hier auf sinnliches Verlan-
»Gabe« ist alles, was man Gott gibt, ein gen – das unersättliche Verlangen, den
»Schlachtopfer« beinhaltet als zusätzliches Sexualtrieb außerhalb der Ehe zu befrie-
Element den Tod. Er war das echte digen (vgl. 2. Mose 20,17: »Du sollst nicht
»Schlachtopfer«, der Eine, der dem Willen begehren … deines Nächsten Weib.«)
Gottes ganz hingegeben war, auch bis zum So etwas sollte unter Christen »nicht
Tod am Kreuz. Sein »Schlachtopfer« unaus- einmal … genannt werden«. Es ist selbst-
sprechlicher Hingabe wird hier schön um- verständlich, daß man niemals einem
schrieben als »duftender Wohlgeruch« für Gläubigen nachsagen können sollte, daß
Gott. F. B. Meyer kommentiert: »In einer so er solches getan hat. Man sollte darüber
unermeßlichen Liebe, die keine Kosten für noch nicht einmal diskutieren, denn
Menschen scheute, die sie eigentlich nicht dadurch könnten diese Sünden ihre
wert waren, fand ein Schauspiel statt, das Sündhaftigkeit und Ungeheuerlichkeit
den Himmel mit Wohlgeruch und Gottes verlieren. Man steht immer in der Gefahr,
33)
Herz mit Freude erfüllte.« sie zu verharmlosen, sie zu entschuldi-
Der Herr Jesus erfreute seinen Vater, gen, oder ständig und vertraulich davon
indem er sich selbst für andere hingab. zu reden. Paulus betont seine Ermah-
Die Schlußfolgerung daraus lautet, daß nung mit dem Zusatz: »Wie es Heiligen
auch wir Gott eine Freude machen kön- geziemt.« Die Gläubigen sind von der
nen, indem wir uns für andere hingeben. Verderbnis dieser Welt getrennt, und jetzt
Andere, Herr, ja, andere! sollten sie in praktischer Absonderung
Laß das mein einziges Motto sein; von dunklen Leidenschaften leben, und
Hilf mir, für andere zu leben, zwar in Wort und Tat.
damit ich lebe wie du. 5,4 Ihr Reden sollte sich durch das Feh-
Charles D. Meigs len folgender Eigenschaften auszeichnen:

930
Epheser 5

Unanständigkeit. Das bezieht sich auf Habsucht Götzendienst genannt wird,


schmutzige Geschichten, anzügliche Wit- besteht darin, daß der eigene Wille über
ze mit sexuellem Bezug, und alle Formen den Willen Gottes gestellt wird. Ein drit-
der Obszönität und Unanständigkeit. ter Grund für diese Aussage ist, daß
Albernes Geschwätz. Das bedeutet lee- Habsucht dazu führt, eher das Geschöpf
re Phrasendrescherei, hier kann auch als den Schöpfer zu ehren (Röm 1,25).
Gossensprache dazugehören. Wenn Paulus sagt, daß solche Leute
Witzelei. Damit sind Witze oder das kein »Erbteil« haben »in dem Reich«, so
Sprechen in Andeutungen gemeint. kann man dies nicht umdeuten. Men-
Wenn man über etwas oft redet, darüber schen, deren Leben durch diese Sünden
Witze macht und oft in Unterhaltungen charakterisiert ist, sind verloren, sie sind
erwähnt, so führt man es in sein Denken auf dem besten Weg in die Hölle. Sie ge-
ein, und nähert sich so immer mehr der hören nicht zum unsichtbaren »Reich« in
eigentlichen Tat. unserem Zeitalter, und sie werden nicht
Es ist immer gefährlich, sich über zu dem Reich gehören, wenn Christus
Sünde lustig zu machen. Statt seine Zun- wiederkommt, um zu herrschen, und sie
ge für solch unwürdiges und ungehöri- werden auch auf ewig von dem Reich
ges Gerede zu benutzen, sollte der Christ des Himmels ausgeschlossen sein. Der
absichtlich die Praxis üben, Gott für allen Apostel sagt hier nicht, daß sie Menschen
Segen und alle Gaben »Danksagung« sind, die, obwohl sie zum Reich gehören,
darzubringen. Das gefällt dem Herrn, ist beim Richterstuhl Christi Schaden erlei-
ein gutes Beispiel für andere und nutzt den werden. Es geht hier um die Erlö-
auch dem eigenen inneren Leben. sung, nicht um Lohn. Sie mögen sagen,
5,5 Es gibt keinerlei Raum für Zweifel sie seien Christen, doch sie beweisen
bezüglich Gottes Meinung über unmora- durch ihr Leben, daß sie nie errettet wor-
lische Menschen: Sie haben keinen »Erb- den sind. Natürlich können sie gerettet
teil … in dem Reich Christi und Gottes«. werden, wenn sie umkehren und an den
Dieses Urteil steht im scharfen Kontrast Herrn Jesus glauben. Doch wenn sie
zur gegenwärtigen Haltung der Welt, wirklich bekehrt sind, werden sie diese
daß sexuelle Triebtäter krank sind und Sünden nicht länger tun.
psychiatrische Behandlung benötigen. Man beachte, daß die Gottheit Christi
Menschen sagen, daß Sittenlosigkeit eine in dem Ausdruck »Reich Christi und
Krankheit ist, doch Gott nennt es Sünde. Gottes« enthalten ist. »Christus« wird
Menschen entschuldigen solches Verhal- hier auf eine Stufe mit »Gott« dem Vater
ten, Gott verurteilt es. Der Mensch sagt, als Herrscher über das »Reich« gestellt.
die Lösung sei Psychoanalyse, Gott da- 5,6 Viele weltliche Menschen nehmen
gegen sagt, daß nur Wiedergeburt eine eine zunehmend tolerante und nachsich-
Lösung ist. tige Haltung gegenüber sexuellen Sün-
Drei Arten von Sündern werden hier den ein. Sie sagen, daß die Befriedigung
erwähnt, und zwar dieselben, die wir körperlicher Triebe notwendig und nütz-
auch in Vers 3 wiederfinden – nämlich lich sei, und daß ihre Unterdrückung
die Unzüchtigen, die Unreinen und die verklemmte und gehemmte Persönlich-
Habsüchtigen. Hier wird noch der Ge- keiten hervorbringe. Sie sagen, daß die
danke hinzugefügt, daß der »Habsüch- Moral völlig von der Kultur abhänge, in
tige … ein Götzendiener« ist. Ein Grund der wir aufwachsen; und weil »vorehe-
dafür, daß er »ein Götzendiener« ist, liegt licher«, »außerehelicher« und »homose-
darin, daß er eine falsche Vorstellung xueller« Verkehr (die Gottes Wort als Un-
davon hat, wer Gott ist: Seine Vorstel- zucht, Ehebruch und Perversion brand-
lung von Gott zeigt ein Wesen, das sinn- markt) in unserer Kultur akzeptiert sind,
liche Begier toleriert, denn sonst würde sollten sie von daher auch legalisiert
er es nicht wagen, auf diesem Gebiet zu werden. Erstaunlicherweise haben viele
sündigen. Ein anderer Grund, aus dem der führenden Leute in der Bewegung,

931
Epheser 5

die sexuelle Sünde akzeptabel machen Herrn«. Paulus sagt nicht, daß sie in der
will, hohe Kirchenämter inne. So werden Finsternis waren, sondern sie selbst
heute Laien, die immer der Ansicht waren personifizierte »Finsternis«. Jetzt
waren, daß Sittenlosigkeit falsch ist, von sind sie jedoch durch ihre Gemeinschaft
leitenden Kirchenleuten überzeugt, daß mit dem Herrn »Licht« geworden. Er ist
solch eine Haltung unzeitgemäß sei. Licht, und sie sind in ihm, deshalb sind
Christen sollten sich durch solche sie jetzt »Licht im Herrn«. Ihr Zustand
falschen Lehren nicht irreführen lassen, sollte von jetzt an mit ihrer Stellung über-
»denn dieser Dinge wegen kommt der einstimmen. Sie sollten als »Kinder des
Zorn Gottes über die Söhne des Unge- Lichts« wandeln.
horsams«. Die Haltung des Herrn zu sol- 5,9 Dieser Einschub erklärt die Art
chen Sünden wie Unzucht und Ehebruch der »Frucht«, die die Menschen hervor-
kann man in 4. Mose 25,1-9 sehen: Vier- bringen, die im Licht wandeln. Die
34)
undzwanzigtausend Israeliten wurden »Frucht des Lichts« besteht aus allen
umgebracht, weil sie mit den Frauen Formen der »Güte und Gerechtigkeit
Moabs gesündigt hatten. Die Haltung und Wahrheit«. »Güte« steht hier für alle
des Herrn gegenüber Homosexualität moralischen Tugenden. »Gerechtigkeit«
zeigte sich, als Sodom und Gomorra bedeutet Aufrichtigkeit im Handeln vor
durch Feuer und Schwefel vom Himmel Gott und Menschen. »Wahrheit« ist Ehr-
vernichtet wurden (1. Mose 19,24.28). lichkeit, Verläßlichkeit und Beständig-
Doch Gottes »Zorn« zeigt sich nicht keit. Wenn wir das alles zusammen neh-
nur durch solche übernatürliche Strafen. men, dann sehen wir hier das Licht eines
Wer sexuell sündigt, erfährt Gottes Ge- von Christus erfüllten Lebens vor dem
richt auch noch auf andere Art. Es gibt Hintergrund der Finsternis leuchten.
zum Beispiel körperliche Auswirkungen 5,10 Diejenigen, die im Licht wan-
wie Geschlechtskrankheiten und AIDS. Es deln, bringen nicht nur die Frucht her-
gibt psychische Auswirkungen, nervliche vor, die im vorhergehenden Vers er-
und emotionale Defizite, die von einem wähnt wurde, sondern finden auch her-
Schuldgefühl herrühren. Und es gibt Per- aus, »was dem Herrn wohlgefällig ist«.
sönlichkeitsveränderungen – der Ver- Sie prüfen jeden Gedanken, jedes Wort
weichlichte wird noch mehr verweichlicht und jede Handlung. Was denkt »der
(Röm 1,27). Und natürlich gibt es das ewi- Herr« darüber? Wie sieht das vor seinem
ge Endgericht Gottes über die Unzüchti- Angesicht aus? Jeder Lebensbereich wird
gen und Ehebrecher (Hebr 13,4). Den durchleuchtet – das Reden, der Lebens-
»Söhnen des Ungehorsams« wird keine standard, Kleider, Bücher, Geschäft,
Barmherzigkeit widerfahren – denen die Vergnügen, Zeitvertreib, Freundschaft,
vom ungehorsamen Adam abstammen Urlaub, Auto und Sport.
und die ihm absichtlich darin folgen, Gott 5,11 Gläubige sollten »nichts gemein
ungehorsam zu sein (Offb 21,8). mit den unfruchtbaren Werken der Fin-
5,7 Die Gläubigen werden ernsthaft sternis« haben, weder durch Teilnahme
davor gewarnt, sich an solch gottlosem noch durch eine Haltung, die Toleranz
Verhalten zu beteiligen. Wer das tut, ent- oder Gleichgültigkeit nahelegen könnte.
ehrt den Namen Christi, zerstört das Diese »Werke der Finsternis« sind für
Leben anderer, verdirbt sein eigenes Gott und Menschen »unfruchtbar«. Es
Zeugnis und lädt sich eine Lawine böser war diese Eigenschaft der völligen
Konsequenzen auf. Fruchtlosigkeit, die Paulus einst dazu
5,8 Um seine dringende Ermahnung brachte, die römischen Christen zu fra-
in Vers 7 zu betonen, schiebt der Apostel gen: »Welche Frucht hattet ihr denn
nun eindringliche Ausführungen über damals von den Dingen, deren ihr euch
»Finsternis« und »Licht« ein (V. 8-14). jetzt schämet?« (Röm 6,21; Elb). Außer-
Die Epheser waren »einst … Finsternis« dem sind es »Werke der Finsternis«: Sie
gewesen, doch »jetzt« sind sie »Licht im gehören der Welt des Zwielichts, der

932
Epheser 5

zugezogenen Vorhänge, der verschlosse- ausgesetzt wird, wird zum Christen.


nen Türen und Geheimkammern an. Sie Doch ist es auf geistlichem Gebiet ein all-
zeigen, daß der Mensch von Natur aus gemeines Prinzip, daß das Licht sich
die »Finsternis« bevorzugt, sie zeigen selbst vermehrt. Ein Beispiel dafür fin-
seine Angst vor dem Licht, wenn er den wir in 1. Petrus 3,1, wo gläubige Ehe-
Böses vollbracht hat (Joh 3,19). Der Gläu- frauen gelehrt werden, ihre ungläubigen
bige ist aufgerufen, sich nicht nur der Ehemänner durch das Beispiel ihres
»unfruchtbaren Werke der Finsternis« zu Lebens zu gewinnen: »Ebenso ihr Frau-
enthalten, sondern er soll sie auch aktiv en, ordnet euch den eigenen Männern
»bloßstellen«. Das kann er auf zweierlei unter, damit sie, wenn auch einige dem
Wegen tun: Erstens durch ein geheiligtes Wort nicht gehorchen, ohne Wort durch
Leben und zweitens durch ermahnende den Wandel der Frauen gewonnen wer-
Worte, die unter der Leitung des Heili- den.« So siegt das Licht der christlichen
gen Geistes weitergegeben werden. Ehefrau über die Finsternis eines heidni-
5,12 Nun erklärt der Apostel, warum schen Ehemannes, und der letztere wird
der Christ keine Gemeinschaft mit sittli- »Licht«.
cher Verderbnis haben darf, sondern sie 5,14 Das Leben des Gläubigen sollte
scheuen muß. Die bösen Sünden, die die immer eine Predigt sein, die die ihn um-
Menschen im Geheimen begehen, sind gebende Finsternis bloßstellt und immer
so niedrig, daß es schon »schändlich« ist, folgenden Einladung an die Ungläu-
sie nur zu erwähnen, geschweige denn, bigen ausspricht: »Wache auf, der du
sie zu tun. Die unnatürlichen Arten der schläfst, und stehe auf aus den Toten,
Sünde, die der Mensch erfunden hat, und der Christus wird dir leuchten!«
sind so schlecht, daß schon eine Beschrei- Das ist die Stimme des Lichtes, die zu
bung den Geist des Menschen, der dabei denen spricht, die in Finsternis schlafen
zuhört, verunreinigen würde. Deshalb und in geistlichem Tod gefangen sind.
wird der Christ gelehrt, davon noch Das Licht beruft sie zum Leben und zur
nicht einmal zu reden. Erleuchtung. Wenn sie auf die Einladung
5,13 Das »Licht« offenbart alles Dun- eingehen, dann wird »Christus« ihnen
kle. Deshalb offenbart ein geheiligtes »leuchten«.
christliches Leben die Sünde der Men- 5,15 In den nächsten sieben Versen
schen, die nicht wiedergeboren sind. stellt Paulus törichte Schritte und sorgfäl-
Und angemessene Mahnworte enthüllen tiges Verhalten durch eine Anzahl von
die Sünde auch in ihrem wahren Wesen. Ermahnungen einander gegenüber. Die
Blaikie erläutert: erste Ermahnung ist ein allgemeiner Auf-
Als zum Beispiel unser Herr die Heuche- ruf an seine Leser, »nicht als Unweise,
lei der Pharisäer angriff – ihre Praxis war sondern als Weise« zu wandeln. Wie
den Jüngern vorher nicht sehr böse erschie- schon weiter oben erwähnt, ist »Wandel«
nen, doch als Christus sie unter dem reinen eines der Schlüsselwörter des Briefes. Es
Licht der Wahrheit betrachtete, wurden sie in wird siebenmal genannt, um die »Ge-
ihrem wahren Wesen erkennbar – da erschie- samtheit der Aktivitäten im Leben des
nen und erscheinen die Pharisäer doch recht Einzelnen« zu beschreiben. »Sorgfältig
35)
abstoßend. wandeln« (Elb) heißt, im Licht unserer
»Denn alles, was offenbar wird, ist Stellung als Gottes Kinder zu leben. Als
Licht.« Das bedeutet einfach, daß andere »Unweise« wandeln heißt, sich aus dieser
Menschen zum Licht gebracht werden, hohen Stellung auf das Niveau des Ver-
wenn Christen ihren Dienst als Licht der haltens der Weltmenschen zu begeben.
Welt tun. Böse Menschen werden zu Kin- 5,16 Der Wandel in Weisheit beruft
dern des Lichtes durch den Ermah- uns dazu, die »gelegene Zeit« auszukau-
nungsdienst des Christen. fen, d. h. Gelegenheiten zu ergreifen.
Natürlich ist dies keine Regel ohne Jeder Tag hält für uns offene Türen und
Ausnahme. Nicht jeder, der dem Licht ungeheure Möglichkeiten bereit. Die

933
Epheser 5

»gelegene Zeit« auskaufen bedeutet, ein 1. Wenn er zu Ausschweifungen führt


Leben zu führen, das durch Heiligung (Spr 23,29-35),
gekennzeichnet ist, durch Barmherzig- 2. wenn Weintrinken zur Gewohnheit
keit und hilfreiches Reden. Die Tatsache, wird (1. Kor 6,12b),
daß unsere Zeit »böse« ist, macht das 3. wenn Weintrinken das schwache
Anliegen noch dringlicher. Sie erinnert Gewissen eines anderen Gläubigen
uns daran, daß Gott nicht immer den verletzt (Röm 14,13; 1. Kor 8,9),
Menschen so gnädig ist, daß der Tag der 4. wenn das Zeugnis eines Christen vor
Gnade bald zu Ende sein wird, und daß der Gesellschaft dadurch zerstört
dann die Gelegenheit zum Zeugnis und wird, und deshalb nicht zur Ehre
zum Dienst auf der Erde für immer vor- Gottes führt (1. Kor 10,31),
bei sein wird. 5. wenn der Gläubige sich nicht
5,17 Deshalb sollten wir »nicht sicher ist, ob er Wein trinken darf
töricht« sein, sondern verstehen, »was (Röm 14,23).
der Wille des Herrn ist«. Das ist außeror- Die von Paulus empfohlene Alterna-
dentlich wichtig. Weil das Böse sich ver- tive lautet, »voll Geist« zu werden. Die-
mehrt und die Zeit kurz ist, könnten wir ser Zusammenhang mag uns zunächst
versucht sein, unsere Zeit in fieberhafter erstaunen, doch wenn wir beide Zustän-
Aktivität zu verbringen, die wir uns de vergleichen und einander gegenüber-
selbst erwählen. Doch dies wäre nichts stellen, können wir erkennen, warum der
als Energieverschwendung. Wichtig ist Apostel sie auf diese Weise verbindet.
es, jeden Tag Gottes Willen für uns zu er- Erstens gibt es mehrere Ähnlich-
kennen und ihn zu tun. Nur so können keiten:
wir effektiv und effizient arbeiten. Es ist 1. In beiden Zuständen befindet sich
nur zu leicht möglich, christlichen Dienst der Betreffende unter der Herrschaft
nach unseren eigenen Vorstellungen und einer anderen Macht. Im ersten Fall
aus eigener Kraft zu tun, und uns dabei ist es die Herrschaft des Alkohols, im
vollkommen außerhalb des Willens Got- zweiten die Herrschaft des Heiligen
tes zu bewegen. Der Pfad der Weisheit »Geistes«.
besteht darin, Gottes Willen für unser 2. In beiden Zuständen wird der
persönliches Leben zu erkennen, und Mensch ekstatisch. Zu Pfingsten
dann auf den Buchstaben genau zu ge- wurde die Ekstase des Heiligen Gei-
horchen. stes als Trunkenheit mißgedeutet
5,18 »Und berauscht euch nicht mit (Apg 2,13).
Wein, worin Ausschweifung ist.« In vie- 3. In beiden Fällen ist der Wandel des
len christlichen Ländern wirkt ein solches Betreffenden verändert – der des Lei-
Gebot unnötig und schon fast schockie- bes bei Trunkenheit und der des sittli-
rend, weil völlige Abstinenz bei allen chen Verhaltens bei Erfüllung durch
Christen die Regel ist. Doch sind wir den Geist.
dankbar dafür, daß die Bibel für Gläubige Doch gibt es zwei Punkte, in denen
aller Kulturen geschrieben wurde. In vie- sich die beiden Zustände scharf vonein-
len Ländern ist Wein ein ganz normaler ander abheben:
Bestandteil eines Essens. Die Schrift 1. Trunkenheit führt zu »Ausschwei-
verurteilt nicht allgemein das Wein- fung« und Zügellosigkeit. Die Erfül-
trinken, sondern den Mißbrauch. Wein als lung mit dem Heiligen Geist hat dies
Medizin wird ausdrücklich empfohlen grundsätzlich nie zur Folge.
(Spr 31,6; 1. Tim 5,23). Der Herr Jesus 2. Im Falle der Trunkenheit verliert der
selbst hat für die Hochzeit zu Kana Was- Betroffene die Selbstkontrolle. Doch
ser zu Wein verwandelt (Joh 2,1-11). die Frucht des Geistes ist »Selbstbe-
Doch der Genuß von Wein wird in herrschung« (Gal 5,22; ER; Anm.).
folgenden Situationen mißbraucht und Ein Gläubiger, der »voll Geist« ist,
ist dann verboten: wird niemals die Kontrolle über sein

934
Epheser 5

Handeln verlieren, denn der Geist eines Jüngers, sondern eher ein ständiger
des Propheten ist dem Propheten Prozeß. Die wörtliche Übersetzung des
untertan (1. Kor 14,32). Gebotes lautet: »Werdet erfüllt mit dem
Manchmal erscheint die Erfüllung Geist.« Das kann als ein besonderes
mit dem »Geist« in der Bibel als souverä- Ereignis beginnen, doch muß es danach
nes Geschenk Gottes. So war zum Bei- als ständiger Vorgang weitergeführt wer-
spiel Johannes der Täufer »voll Geist« den. Die Erfüllung von heute reicht nicht
von seiner Mutter Leib an (Lk 1,15). In bis morgen. Und sicherlich handelt es
solch einem Fall erhält man den Geist, sich um einen Zustand, der besonders
ohne daß vorher Bedingungen erfüllt wünschenswert ist. Es handelt sich dabei
werden müßten. Man betet nicht darum, um den idealen Zustand für den Gläubi-
und man arbeitet nicht daran, der Herr gen auf Erden. Erfülltwerden bedeutet,
gibt diese Gabe nach seinem Wohlgefal- daß der Heilige Geist seinen Willen im
len. Hier in Epheser 5,18 wird dem Gläu- Leben des Christen ungetrübt erfüllen
bigen befohlen, sich vom Geist erfüllen zu kann, und daß der Gläubige deshalb den
lassen. Das setzt Handeln seinerseits vor- Plan, den Gott mit ihm hat, während die-
aus. Er muß bestimmte Bedingungen ser Zeit erfüllt.
erfüllen. Hier wird nicht automatisch Wie kann ein Gläubiger nun »voll
empfangen, sondern die Erfüllung mit Geist« werden? Der Apostel Paulus er-
dem Geist ist die Folge des Gehorsams. klärt es uns hier im Epheserbrief nicht,
Aus diesem Grund sollte man die sondern fordert uns nur auf, »voll Geist«
Erfüllung mit dem Heiligen Geist von zu werden. Doch aus anderen Teilen des
anderen Diensten des Geistes am Gläubi- Wortes Gottes wissen wir, daß man fol-
gen unterscheiden. Die Erfüllung mit gende Bedingungen erfüllen muß, wenn
dem Geist ist nicht gleichbedeutend mit man »voll Geist« werden will:
den folgenden Funktionen: 1. Wir müssen alle erkannten Sünden
1. Die Taufe mit dem Heiligen Geist. vor Gott bekennen und aus unserem
Dies ist ein Werk des Geistes, welches Leben verbannen (1. Joh 1,5-9). Es ist
den Gläubigen in den Leib Christi offensichtlich, daß eine so heilige Per-
einpflanzt (1. Kor 12,13). son wie der Geist nicht vorbehaltlos
2. Die Innewohnung. Durch diesen wirken kann, wenn im Leben des
Dienst nimmt der Tröster Wohnung Gläubigen Sünde geduldet wird.
im Leib des Christen und befähigt ihn 2. Wir müssen uns vollständig Gottes
zur Heiligung, zur Anbetung und Herrschaft unterstellen (Röm 12,1.2).
zum Dienst (Joh 14,16). Das bedeutet die Hingabe unseres
3. Die Salbung. Der Geist selbst ist die Willens, unseres Verstandes, unseres
Salbung, die das Kind Gottes alles Leibes, unserer Zeit, unserer Fähig-
Göttliche lehrt (1. Joh 2,27). keiten und unseres Besitzes. Jedes
4. Das Unterpfand und das Siegel. Wir Gebiet unseres Lebens muß seiner
haben schon gesehen, daß der Geist Herrschaft geöffnet werden.
als Unterpfand das Erbe für den 3. Laßt das Wort Christi reichlich in
Gläubigen garantiert, und als Siegel euch wohnen (Kol 3,16). Das bedeu-
garantiert er den Heiligen das zu tet Bibellesen, Bibelstudium und
erbende Gut (Eph 1,13.14). Gehorsam gegenüber dem Erkann-
Dies sind einige der Dienste des Gei- ten. Wenn das Wort Christi reichlich
stes, die er an einem Menschen voll- in uns wohnt, so folgt daraus dassel-
bringt, wenn er gerettet wird. Jeder, der be (Kol 3,16), was auch aus der Erfül-
in Christus ist, erhält automatisch die lung mit dem Geist folgt (Eph 5,19).
Geistestaufe, die Innewohnung, die Sal- 4. Schließlich müssen wir von uns selbst
bung, das Unterpfand und das Siegel. befreit sein (Gal 2,20). Um mit einer
Doch mit der Erfüllung ist es anders. neuen Flüssigkeit gefüllt zu werden,
Sie ist kein einmaliges Ereignis im Leben muß die alte erst einmal aus der Tas-

935
Epheser 5

se geschüttet werden. Um mit ihm daß Gott für und durch ihn wirkt, und
erfüllt zu werden, müssen wir erst doch kann er sich selbst dafür nicht rüh-
unser Selbst ausschütten. men. Im innersten Wesen erkennt er, daß
Ein unbekannter Autor schreibt: alles vom Herrn kommt.
Genauso, wie man die ganze Last der 5,19 Nun zeigt uns der Apostel die
Sünde hinter sich gelassen hat und auf dem Auswirkungen, wenn man mit dem
vollendeten Werk Christi ruht, so sollen wir Geist erfüllt ist. Als erstes reden geister-
auch die gesamte Last unseres Lebens und füllte Christen »zueinander in Psalmen
Dienstes hinter uns lassen und auf dem Werk und Lobliedern und geistlichen Lie-
des uns innewohnenden Heiligen Geistes dern«. Die Erfüllung mit dem Geist öff-
ruhen. Gib dich selbst hin, jeden Morgen, net den Mund, um von geistlichen Din-
damit du vom Heiligen Geist geleitet werden gen zu reden, und öffnet unser Herz, so
kannst, damit du voller Lob und getrost los- daß wir dies anderen mitteilen wollen.
gehst, und ihm überläßt, für dich deinen Tag Während einige alle drei genannten
zu planen. Man sollte diese Gewohnheit den Kategorien als Teile der Psalmen anse-
ganzen Tag über pflegen, freudig von ihm hen, ist es unser Verständnis, daß mit
abzuhängen, ihm zu gehorchen und von ihm »Psalmen« nur die inspirierten Schriften
zu erwarten, daß er erleuchtet, ermahnt, Davids, Asaphs und anderer Autoren
lehrt, benutzt und in und durch uns tut, was gemeint sind. »Loblieder« sind Lieder,
seinem Willen entspricht. Man muß mit sei- die nicht direkt von Gott inspiriert sind,
nem Werk als Tatsache rechnen, ohne zu aber Gott preisen und loben. Geistliche
sehen oder zu fühlen. Wir wollen nur an den Lieder sind andere lyrische Texte, die
Heiligen Geist als Herrscher unseres Lebens sich mit geistlichen Themen befassen,
glauben und ihm gehorchen, und uns von der auch wenn sie nicht direkt an Gott ge-
Last befreien, alles selbst machen zu wollen. richtet sind.
Dann wird die Frucht des Geistes nach sei- Ein zweiter Beweis für die Erfüllung
nem Willen zur Ehre Gottes in uns entste- mit dem Geist ist innere Freude und Lob
hen. Gottes: »Singt und spielt … dem Herrn
Weiß man, wenn man »voll Geist« mit eurem Herzen.« Das geisterfüllte
ist? In der Tat sind wir uns unserer eige- Leben ist wie ein Brunnen, der vor Freu-
nen Unwürdigkeit und Sündhaftigkeit de überquillt (Apg 13,52). Zacharias ist
umso mehr bewußt, je näher wir dem ein Beispiel dafür: Als er mit dem Hei-
Herrn sind. In seiner Gegenwart ent- ligen Geist erfüllt wurde, sang er
decken wir an uns nichts mehr, dessen von ganzem Herzen dem Herrn
wir uns rühmen könnten (Lk 5,8). Wir (Lk 1,67-79).
sind uns keiner geistlichen Überlegen- 5,20 Eine dritte Folge der Erfüllung
heit über andere bewußt, oder meinen, mit dem Heiligen Geist finden wir hier:
daß wir »am Ziel« angekommen wären. »Sagt allezeit für alles dem Gott und
Der Gläubige, der »voll Geist« ist, ist mit Vater Dank im Namen unseres Herrn
Christus beschäftigt, und nicht mit sich Jesus Christus!« Wo der Geist regiert, fin-
selbst. den wir Dankbarkeit gegen Gott, einen
Gleichzeitig kann er jedoch erkennen, tiefen Sinn der Wertschätzung und den
daß Gott an und durch sein Leben wirkt. spontanen Ausdruck dieser Wertschät-
Er sieht, daß vieles Übernatürliche ge- zung. Das findet nicht nur gelegentlich
schieht. Umstände passen auf wunder- statt, sondern ständig. Man dankt nicht
bare Weise zusammen. Menschen wer- nur für das Gute, sondern für alles. Jeder
den von Gott berührt. Die Dinge ent- kann für Sonnenschein dankbar sein,
wickeln sich nach einem göttlichen Plan. doch man braucht die Vollmacht des Hei-
Sogar die Naturgewalten sind auf seiner ligen Geistes, um für die Stürme des
Seite, denn sie scheinen an die Räder des Lebens dankbar zu sein.
Kriegswagens Gottes gebunden zu sein. Der kürzeste und sicherste Weg zum
Der Gläubige sieht all das, er erkennt, Glück ist folgender:

936
Epheser 5

Mach es dir zur Regel, Gott für alles zu D. Aufruf zur persönlichen Frömmig-
danken und zu loben, was dir geschieht. keit in der christlichen Familie
Denn es ist sicher, daß, welche scheinbaren (5,22 – 6,9)
Unglücke dich auch betreffen mögen, wenn 5,22 Obwohl hier ein neuer Abschnitt
du Gott dafür dankst und ihn preist, dann beginnt, gibt es eine enge Verbindung
verwandeln sie sich in einen Segen. Wenn du zum vorhergehenden Vers. In diesem
Wunder tun könntest, könntest du nicht hatte Paulus die gegenseitige Unterord-
mehr für dich tun als durch diesen dankbaren nung als ein Ergebnis der Erfüllung mit
Geist: Denn man braucht kein einziges Wort dem Heiligen Geist aufgezählt. Im Ab-
zu sagen, und doch verwandelt er alles, was schnitt von 5,22 bis 6,9 nennt er drei be-
er berührt, in Glück. (Sinngemäß) sondere Gebiete im christlichen Leben, in
5,21 Das vierte Kennzeichen eines denen Unterordnung der Wille Gottes ist:
geisterfüllten Lebens ist die gegenseitige Ehefrauen sollen sich ihren eigenen
Unterordnung »in der Furcht Christi«. Männern unterordnen.
Erdman mahnt: Kinder sollen sich ihren Eltern unter-
Dies ist ein Satz, der nur zu oft vernach- ordnen.
lässigt wird … Er zeigt uns ein Kennzeichen Sklaven sollen sich ihren irdischen Her-
der Geisterfülltheit, das Christen nur allzu ren unterordnen.
selten haben … Viele sind der Ansicht, daß Die Tatsache, daß alle Gläubigen in
Hallelujarufe und gefühlsbetonte Lieder und Christus Jesus eins sind, bedeutet nicht,
Äußerungen in mehr oder weniger »fremden daß alle irdischen Beziehungen damit
Zungen« schon ein Beweis dafür sind, mit aufgelöst wären. Wir müssen noch
Geist erfüllt zu sein. Doch all das kann be- immer die verschiedenen Formen der
deutungslos oder unecht sein und auf Irrwe- Autorität und Regierung anerkennen,
ge führen. Unterordnung unter unsere Mit- die Gott eingesetzt hat. Jede wohlgeord-
christen, bescheidenes Verhalten, Demut, die nete Gesellschaft ruht auf zwei Säulen –
Weigerung, Streitgespräche zu führen, Autorität und Unterordnung. Es muß
Nachsicht, Freundlichkeit – dies sind un- einige geben, die Autorität ausüben, und
mißverständliche Beweise der Macht des Hei- andere, die sich dieser Herrschaft unter-
ligen Geistes … Solche gegenseitige Unter- ordnen. Das Prinzip ist dermaßen grund-
ordnung unter den Mitchristen sollte »in der legend, daß es sich sogar bei Gott findet:
Furcht Christi« geschehen, d. h. aus Ehr- »Ich will aber, daß ihr wißt, daß … des
furcht vor ihm, den wir als Herrn und Mei- Christus Haupt Gott … ist« (1. Kor 11,3).
36)
ster aller anerkennen. Gott hat menschliche Regierung einge-
Dies sind nur vier Folgen der Erfül- setzt. Ganz gleich, wie verdorben eine
lung mit dem Heiligen Geist – reden, sin- Regierung sein mag, sie ist von Gottes
gen, danken und unterordnen. Doch es Standpunkt aus gesehen immer noch
gibt mindestens noch vier andere: besser als keine Regierung, und wir soll-
1. Freimut, Sünden beim Namen zu ten ihr soweit gehorchen, wie wir es kön-
nennen (Apg 13,9-12) und Zeugnis nen, ohne dem Herrn ungehorsam zu
für den Herrn zu geben (Apg 4,8- sein oder ihn zu verleugnen. Die Abwe-
12.31; 13,52-14,3). senheit von Regierung ist Anarchie, und
2. Vollmacht für den Dienst (Apg 1,8; keine Gesellschaft kann in der Anarchie
6,3.8; 11,24). überleben.
3. Großzügigkeit statt Selbstsucht Dasselbe gilt für die Familie. Es muß
(Apg 4,31.32). ein Haupt geben, und dem Haupt muß
4. Begeisterung für Christus (Apg 9,17. gehorcht werden. Gott hat es so angeord-
20) und für Gott (Apg 2,4.11; net, daß das Hauptsein dem Mann be-
10,44.46). stimmt ist. Er wies darauf hin, indem er
Wir sollten ernsthaft danach streben, erst den Mann schuf, und dann die Frau
mit dem Geist erfüllt zu sein, doch nur für den Mann. Auf diese Weise gab er
zur Ehre Gottes, nicht zur eigenen Ehre. dem Mann die Stellung der Autorität

937
Epheser 5

und der Frau die Stellung der Unterord- »Haupt« liebt und führt er sie, als Erhal-
nung, indem er sowohl die Reihenfolge ter sorgt er für sie und beschützt sie.
als auch den Zweck der Schöpfung so Wir alle wissen, daß es heute gegen
bestimmte. diese Lehre viel Auflehnung gibt. Die
Unterordnung heißt niemals, daß der Leute klagen Paulus als bigotten Jungge-
sich Unterordnende weniger wert sei. sellen an, als Chauvinisten und Frauen-
Der Herr Jesus ordnet sich Gott dem hasser. Oder sie sagen, daß seine Ansich-
Vater unter, doch ist er auf keinerlei Wei- ten die sozialen Verhältnisse der damali-
se weniger wert als er. Genauso ist die gen Zeit widerspiegeln, doch heute nicht
Frau ebenso viel wert wie der Mann. In mehr anwendbar seien. Solche Aussagen
vielem mag sie sogar höher stehen: in der sind natürlich ein frontaler Angriff auf
Hingabe, in Freundlichkeit, im Fleiß und die Inspiration der Schrift. Das sind nicht
im tapferen Erdulden. Doch werden einfach Paulusworte, sie sind Gottes
Frauen angewiesen, sich ihren »eigenen Wort. Wer sie ablehnt, lehnt auch Gott ab
Männern« unterzuordnen, und zwar »als und lädt sich Schwierigkeiten und Kata-
dem Herrn«. Indem sie sich der Autorität strophen ins Haus.
ihres Mannes fügen, ordnen sie sich 5,24 Nichts könnte die Rolle der Frau
gleichzeitig der Autorität des Herrn erhabener sein lassen als der Vergleich
unter. Das alleine sollte schon jede Wei- mit der »Gemeinde« als Braut Christi.
gerung oder Rebellion ausschließen. Die Unterordnung der Gemeinde ist ein
Die Geschichte ist voll von Beispielen Vorbild, das von der Frau befolgt werden
für das Chaos, das entsteht, wenn Gottes sollte. Sie soll sich »in allem« unterord-
Plan nicht befolgt wird. Indem sie die nen – d. h. in »allem«, was dem Willen
Führungsrolle übernahm und für ihren Gottes entspricht. Man kann von keiner
Ehemann handelte, führte Eva die Sünde Frau erwarten, ihrem Mann zu gehor-
samt ihrer schrecklichen Folgen in die chen, wenn er von ihr verlangt, ihre
Menschheitsfamilie ein. In neuerer Zeit Treue zum Herrn Jesus aufzugeben.
wurden viele Sekten von Frauen gegrün- Doch in allen normalen Lebensangele-
det, die sich eine Autoritätsstellung an- genheiten muß sie dem Mann gehor-
maßten, die Gott ihnen nie zugedacht chen, auch wenn er ungläubig ist.
hat. Frauen, die ihren von Gott gege- 5,25 Wenn die vorhergehenden An-
benen Bereich verlassen, können eine weisungen an die »Frauen« für sich allei-
ganze Gemeinde zum Schiffbruch brin- ne ständen, wenn es nicht entsprechend
gen, eine Ehe zerbrechen und eine Fa- hohe Anforderungen an die »Männer«
milie zerstören. gäbe, so wäre ihre Aufzählung minde-
Andererseits gibt es nichts anziehen- stens einseitig, wenn nicht unfair. Doch
deres als eine Frau, die die Rolle erfüllt, man beachte die wunderbare Ausgewo-
die Gott ihr gegeben hat. Ein vollständi- genheit der Wahrheit in der Schrift und
ges Porträt einer solchen Frau finden wir die entsprechenden Anforderungen, die
in Sprüche 31 – ein ewiges Denkmal für an den Mann gestellt werden. »Männer«
die Frau und Mutter, die dem Herrn sollen ihre Frauen nicht in Unterordnung
gefällt. halten, sondern sollen sie »lieben …, wie
5,23 Der Grund für die Unterordnung auch der Christus die Gemeinde geliebt
der Frau besteht darin, daß der »Mann« … hat«. Es ist einmal treffend bemerkt
ihr »Haupt« ist. Er hat das gleiche Ver- worden, daß keine Frau Schwierigkeiten
hältnis zu ihr, das Christus zur Gemein- mit der Unterordnung hätte, wenn ihr
de hat. »Der Christus« ist »das Haupt der Mann sie so lieben würde, wie »Christus
Gemeinde … , er als des Leibes Heiland«. die Gemeinde geliebt … hat«. Jemand
(Das Wort Heiland kann hier »Erhalter« hat einmal einen Mann beschrieben, der
bedeuten, wie in 1. Tim 4,10, ER; Anm.). fürchtete, er könne Gott mißfallen, in-
Genauso ist »der Mann … das Haupt der dem er seine Frau zu sehr liebe. Ein Seel-
Frau«, und er ist auch ihr Erhalter. Als sorger fragte ihn, ob er sie mehr liebe, als

938
Epheser 5

Christus die Gemeinde geliebt habe. 5,27 In der Vergangenheit zeigte sich
»Nein«, antwortete er. »Erst wenn du Christi Liebe in unserer Erlösung. In der
darüber hinausgehst«, antwortete der Gegenwart zeigt sie sich in unserer Heili-
Seelsorger, »dann liebst du deine Frau zu gung. In der Zukunft wird sie sich in
sehr«. Die Liebe Christi zur »Gemeinde« unserer Verherrlichung zeigen. Er wird
wird hier in drei majestätischen Bewe- »die Gemeinde sich selbst verherrlicht«
gungen von der Vergangenheit über die darstellen, damit sie »nicht Flecken oder
Gegenwart zur Zukunft beschrieben. In Runzel oder etwas dergleichen habe,
der Vergangenheit zeigte Christus seine sondern daß sie heilig und tadellos sei«.
Liebe zur »Gemeinde«, indem er »sich Sie wird dann den Höhepunkt der
selbst für sie hingegeben hat«. Das be- Schönheit und geistlichen Vollkommen-
zieht sich auf seinen Opfertod am Kreuz. heit erreicht haben.
Dort hat der den höchsten Preis gezahlt, A. T. Pierson kann zu Recht ausrufen:
um sich seine Braut zu erkaufen. Man denke nur daran – wenn das allwis-
Genauso wie Eva aus der geöffneten sende Auge eines Tages auf uns ruht, wird er
Seite Adam entstand, so entstand ge- nichts finden können, das seiner makellosen
wissermaßen die »Gemeinde« aus der Heiligkeit entgegenstehen könnte. Wie
37)
durchstochenen Seite unseres Erlösers. unglaublich!
5,26 Heute zeigt sich Christi Liebe zur F. W. Grant pflichtet dem bei:
Gemeinde durch sein Werk der Heili- Keine Zeichen des Alters mehr, kein
gung: »Um sie zu heiligen, sie reinigend Makel! Nichts wird ihn mehr freuen als die
durch das Wasserbad im Wort.« Heiligen Blüte und Vollkommenheit ewiger Jugend,
bedeutet aussondern. Von ihrer Stellung die Frische der Gefühle, die niemals erlahmen
her ist die Gemeinde bereits geheiligt, wird und die keine Vergänglichkeit kennen.
doch praktisch muß sie täglich geheiligt Die Gemeinde wird dann heilig und tadellos
werden. Sie durchläuft einen Prozeß sein. Nach allem, was wir von ihrer Ge-
moralischer und geistlicher Vorberei- schichte gehört haben, wäre es seltsam, hier-
tung, ähnlich dem einen Jahr Schönheits- von zu lesen, wenn wir nicht wissen würden,
urlaub, dem Esther sich unterzog, bevor wie herrlich Gott seinen Sieg über die Sünde
38)
sie vor dem König Ahasveros erschien und das Böse behalten wird.
(Est 2,12-16). Der Prozeß der Heiligung 5,28 Nachdem er sich zu dieser wun-
wird durch »das Wasserbad im Wort« derbaren Rhapsodie aufgeschwungen
herbeigeführt. Einfach ausgedrückt heißt hat, die die Liebe Christi für seine Ge-
das, daß das Leben der Gläubigen gerei- meinde zum Thema hat, kehrt Paulus
nigt wird, wenn sie das Wort Christi nun zurück, um die Ehemänner daran zu
hören und ihm gehorchen. Deshalb sagte erinnern, daß dies das Vorbild ist, dem
Jesus zu den Jüngern: »Ihr seid schon sie nacheifern sollen: »So sind auch die
rein um des Wortes willen, das ich zu Männer schuldig, ihre Frauen zu lieben
euch geredet habe« (Joh 15,3). Und er wie ihre eigenen Leiber.« In der Nachah-
verband das Wort auch im hohepriester- mung der Liebe Christi sollten sie »ihre
lichen Gebet mit der Heiligung: »Heilige Frauen« lieben, als wären sie tatsächlich
sie durch die Wahrheit: dein Wort ist »ihre eigenen Leiber«.
Wahrheit« (Joh 17,17). Genauso, wie das Im Griechischen kommt das Wort
Blut Christi uns ein für allemal von der »eigen« in den Versen 22-33 sechsmal
Schuld und Strafe der Sünde befreit, so vor. Dieser gehäufte Gebrauch des Wor-
reinigt uns das Wort Gottes ständig von tes »eigen« erinnert uns daran, daß die
der Verunreinigung und Verschmutzung Einehe Gottes Wille für sein Volk ist.
durch die Sünde. Dieser Abschnitt lehrt, Obwohl er die Mehrehe im AT duldete,
daß die Gemeinde in der Gegenwart hat er sie doch nie gutgeheißen.
nicht mit wörtlich verstandenem Wasser Es ist weiterhin interessant, die ver-
gebadet wird, sondern mit dem Reini- schiedenen Arten zu beachten, wie Pau-
gungsmittel des Wortes Gottes. lus die enge Beziehung von Eheleuten

939
Epheser 5 und 6

beschreibt. Er sagt, daß ein Mann seinen meinde.« Paulus kommt nun zum Höhe-
eigenen Leib liebt, wenn er seine Frau punkt der Ausführungen über die eheli-
liebt (V. 28a), daß er »sich selbst« liebt che Beziehung, indem er die bisher unbe-
(V. 28b.33) und »sein eigenes Fleisch« kannte, wunderbare Wahrheit verkün-
(V. 29). Weil die Ehe eine echte Einheit digt, nämlich, daß das, was eine Frau für
von Menschen bildet, und die beiden ein ihren Mann bedeutet, »die Gemeinde«
Fleisch werden, liebt ein Mann, der für »Christus« bedeutet.
»seine Frau liebt«, ganz praktisch »sich Wenn Paulus davon spricht, daß
selbst«. »dieses Geheimnis … groß« sei, so meint
5,29 Der Mensch wird mit dem er damit nicht, daß es besonders unver-
Instinkt geboren, für seinen eigenen Leib ständlich wäre. Sondern er meint damit,
zu sorgen. Er ernährt, kleidet und reinigt daß die Auswirkungen dieser Wahrheit
ihn, er bewahrt ihn vor Unheil, Schmer- kaum übersehbar sind. Das »Geheimnis«
zen und Verletzung. Sein Überleben ist der wundervolle Plan, der von Gott in
hängt von dieser Fürsorge ab. Diese Sor- früheren Zeitaltern verborgen gehalten
ge ist ein schwacher Schatten der Fürsor- wurde, jetzt aber offenbart ist. Dieser
ge des Herrn für »die Gemeinde«. Plan lautet, aus den Nationen ein Volk
5,30 »Denn wir sind Glieder seines herauszurufen, das zum Leib und zur
Leibes.« Die Gnade Gottes ist doch er- Braut seines verherrlichten Sohnes wer-
staunlich! Sie errettet uns nicht nur von den soll. Die eheliche Beziehung findet
Sünde und Hölle, sondern pflanzt uns also ihr vollkommenes Vorbild in der
auch als »Glieder« des geheimnisvollen Beziehung zwischen »Christus« und der
»Leibes« in Christus hinein. Das spricht »Gemeinde«.
doch Bände für seine Liebe zu uns: Er Ein Geist mit dem Herrn:
achtet uns so wert wie seinen eigenen Jesus, der Verherrlichte,
Leib. Welch eine Fürsorge: Er nährt, hei- macht seine Gemeinde, für die er blutete,
ligt und trainiert uns. Welch eine Sicher- zu seinem Leib und seiner Braut.
heit: Er möchte nicht ohne seine »Glie- Mary Bowley Peters
der« im Himmel leben. Wir sollen mit 5,33 Dieser Schlußvers ist eine Zu-
ihm in einem gemeinsamen Leben verei- sammenfassung dessen, was der Apostel
nigt werden. Was immer den Gliedern bisher über Eheleute zu sagen hatte. Für
widerfährt, es betrifft immer auch das die Ehemänner lautet die Abschluß-
Haupt. ermahnung so: »Jeder von euch«, ohne
5,31 Der Apostel zitiert nun 1. Mose Ausnahme, »liebe seine Frau wie sich
2,24 als Gottes ursprüngliches Konzept, selbst«. Nicht nur so wie euch selbst, son-
als er die Ehebeziehung geschaffen hat. dern auch in Anerkennung der Tatsache,
Als erstes wird die Beziehung des Men- daß sie mit euch eins ist. An die Frauen
schen zu seinen Eltern durch eine höhere ist das Wort gerichtet: »daß sie« stets
Treue ersetzt, d. h. die Treue zu seiner »Ehrfurcht vor dem Mann habe« und
Frau. Um das hohe Ideal der Ehe zu er- ihm gehorchen. Halten wir hier einmal
füllen, verläßt er seine Eltern und »wird inne und denken einen Augenblick nach!
… seiner Frau anhängen«. Das zweite Was würde passieren, wenn diese gött-
Kennzeichen ist, daß Mann und Frau lichen Anweisungen heute überall von
»ein Fleisch« werden: Es entsteht eine Christen befolgt würden? Die Antwort
echte Einheit zweier Personen. Wenn ist offensichtlich. Es gäbe keinen Zank,
diese beiden Grundtatsachen im Auge keine Trennung und keine Scheidung.
behalten würden, würden sie einerseits Unsere Familien wären viel mehr ein
die Schwierigkeiten mit den Schwieger- Vorgeschmack auf den Himmel, als sie es
eltern aufheben und andererseits viele heute oft sind.
Ehestreitigkeiten verhindern. 6,1 In Kapitel 5 erfuhren wir, daß eine
5,32 »Dieses Geheimnis ist groß, ich der Folgen der Erfüllung mit dem Hei-
aber deute es auf Christus und die Ge- ligen Geist die Unterordnung unterein-

940
Epheser 6

ander ist. Wir sahen z. B., daß eine vom Der vierte Grund ist, daß Gehorsam
Geist erfüllte Frau sich ihrem Ehemann zu einem erfüllten Leben verhilft: »Auf
unterordnet. Nun erfahren wir, daß daß … du lange lebst auf der Erde.« Im
geisterfüllte »Kinder« sich willig der AT hatte ein Kind, das seinen Eltern
Autorität ihrer Eltern unterordnen. Die gehorchte, ein langes Leben. In unserem
grundlegende Pflicht aller Kinder ist es, Zeitalter des Evangeliums ist diese Regel
ihren »Eltern im Herrn« zu gehorchen. nicht ohne Ausnahmen. Kindlicher Ge-
Ob die Kinder Christen sind, oder die horsam ist nicht immer mit einem langen
Eltern Christen sind, spielt dabei keine Leben verbunden. Ein gehorsamer Sohn
Rolle. Die Eltern-Kind-Beziehung ist für kann schon früh sterben. Doch gilt es in
alle Menschen eingesetzt worden, nicht allgemeinerer Weise, daß ein Leben der
nur für Gläubige. Das Gebot, »im Herrn« Selbstdisziplin und des Gehorsams Ge-
gehorsam zu sein bedeutet zuerst, daß sundheit und langes Leben fördert, wäh-
die Kinder in der Haltung »gehorchen« rend ein Leben der Rebellion und Rück-
sollten, und daß sie damit dem »Herrn« sichtslosigkeit oft vorzeitig endet.
gehorchen: Ihr Gehorsam sollte derselbe 6,4 Die Anweisungen an die Kinder
sein, den sie auch ihm entgegenbringen. werden nun durch Rat an die »Väter«
Zweitens bedeutet das, daß sie in allen ausgeglichen. Sie sollten ihre »Kinder«
Angelegenheiten gehorchen sollen, die nicht durch unvernünftige Forderungen,
nicht gegen den Willen Gottes verstoßen. unnötige Härte oder ständiges Nörgeln
Wenn ihre Eltern ihnen befehlen würden erzürnen. Besser sollten Kinder »in der
zu sündigen, so brauchen sie nicht zu Zucht und Ermahnung des Herrn« erzo-
gehorchen. In solch einem Fall sollten sie gen werden. »Zucht« bedeutet Diszipli-
sich höflich weigern und die Folgen nierung und Korrektur, ob das nun
demütig und ohne Rachsucht ertragen. durch Worte oder durch körperliche
Doch in allen anderen Fällen müssen sie Strafen erfolgt. »Ermahnung« bedeutet
gehorchen. Warnung, Tadel und Rüge. Das alles soll-
Es werden vier Gründe für ihren te im »Herrn« geschehen, d. h. in Über-
Gehorsam angegeben. Als erstes ist es einstimmung mit seinem Willen, wie er
»recht«. Es ist ein Grundprinzip, das in in der Bibel offenbart ist, und zwar durch
die Struktur des Familienlebens einge- eine Person, die als Gottes Stellvertreter
bunden ist, daß diejenigen, die unreif, handelt.
impulsiv und unerfahren sind, sich der Susannah Wesley, Mutter von sieb-
Autorität der Eltern unterordnen sollen, zehn Kindern, einschließlich John und
die älter und weiser sind. Charles Wesley, hat einmal geschrieben:
6,2 Der zweite Grund besteht darin, Die Eltern, die versuchen, den Selbstwil-
daß es schriftgemäß ist. Hier zitiert Pau- len des Kindes zu unterdrücken, arbeiten mit
lus 2. Mose 20,12: »Ehre deinen Vater Gott zusammen bei der Erneuerung und
und deine Mutter« (s. a. 5. Mose 5,15). Errettung seiner Seele. Die Eltern, die ihr
Dieses Gebot, die Eltern zu »ehren« ist Kind verwöhnen, tun einen Teufelsdienst,
das erste der Zehn Gebote, das mit einer machen die Religion unpraktisch und Erret-
besonderen »Verheißung« verbunden ist. tung unerreichbar und tun alles in ihrer
Es ruft die Kinder auf, ihre Eltern zu Macht stehende, ihre Kinder mit Leib und
39)
respektieren, zu lieben, und ihnen zu Seele für immer zu verdammen.
gehorchen. 6,5 Der dritte und abschließende Be-
6,3 Der dritte Grund ist, daß es im reich der Unterordnung in einem christli-
Interesse der Kinder ist: »auf daß es dir chen Haus betrifft den der »Sklaven«
wohlergehe«. Man denke einmal daran, gegenüber ihren Herren. Paulus nennt
was einem Kind geschehen würde, wenn hier die »Sklaven« oder Knechte, doch gilt
es von seinen Eltern nicht belehrt und dies für alle Diener oder Arbeitnehmer.
korrigiert würde. Es wäre unglücklich Die erste Pflicht eines Arbeitnehmers
und sozial untragbar. gilt seinem »irdischen Herren«. Der Aus-

941
Epheser 6

druck »irdische Herren« erinnert uns käufer antwortete: »Aber mein Herr
daran, daß der Vorgesetzte nur so weit schaut immer zu.« Als Diener Christi
urteilen darf, wie es um geistige oder sollten wir »mit Gutwilligkeit als dem
körperliche Arbeit geht, doch er darf Herrn« dienen, d. h. mit dem Verlangen,
nicht in geistlichen Angelegenheiten be- ihm zu gefallen. Erdman sagt:
fehlen oder das Gewissen verletzen. Unsere Arbeit wird unermeßlich durch
Zweitens sollten Diener ihren Herren Überlegungen wie diese geadelt. Die Aufgabe
gegenüber respektvoll sein. »Furcht und des niedrigsten Sklaven wird ausgezeichnet,
Zittern« bedeutet nicht, daß man feige indem sie so ausgeführt wird, daß sie Chri-
Unterwürfigkeit und erbärmliche Angst stus gefällt, mit solcher Bereitschaft, gutem
zeigt, sondern daß man dem Herren den Willen und Eifer, der uns das Wohlwollen des
40)
schuldigen Respekt erzeigt und sich Herrn erringt.
fürchtet, den Herren und den Vorgesetz- 6,7 Außerdem sollten wir »mit Gut-
ten zu erzürnen. willigkeit« dienen. Wir sollten nicht nach
Drittens sollte man den Dienst mit außen hin Einverständnis vortäuschen,
gutem Gewissen oder »in Einfalt« des wenn wir innerlich vor Ablehnung
»Herzens« tun. Wir sollten danach stre- schäumen, sondern willig und freudig
ben, wirklich für jede Stunde Arbeit, die dienen. Auch wenn ein Herr anmaßend,
wir bezahlt bekommen, auch 60 Minuten beleidigend oder unvernünftig ist, kön-
zu arbeiten. nen wir immer noch unsere Arbeit »als
Außerdem sollte unsere Arbeit so dem Herrn und nicht den Menschen«
geschehen, als würden wir sie für »Chri- tun. Genau diese Art des übernatür-
stus« tun. Diese Worte zeigen, daß es kei- lichen Verhaltens gibt in unserer heu-
ne echte Unterscheidung zwischen dem tigen Welt am deutlichsten Zeugnis.
weltlichen und dem geistlichen Bereich 6,8 Ein großer Anreiz, alles so zu tun,
geben sollte. All unser Tun sollte auf ihn als ob wir es direkt für Christus täten, ist
gerichtet sein – und wir sollten immer die Verheißung, daß Gott solch gute
daran denken, daß wir ihn dabei ehren Arbeit immer belohnen wird. Ob jemand
und ihm gefallen und andere zu ihm »Sklave oder Freier« ist, ist dabei kein
führen sollen. Die einfachsten und ge- Unterschied. Der Herr sieht allen Dienst,
wöhnlichsten Aufgaben unseres Lebens den wir ihm tun, ob er nun angenehm
werden geadelt und ausgezeichnet, wenn oder weniger angenehm ist, und er wird
wir sie zur Ehre Gottes tun – sogar der jeden Arbeiter belohnen.
tägliche Abwasch. Das ist der Grund, Ehe wir den Abschnitt über die Skla-
warum einige christliche Frauen über ven verlassen, sollten wir noch einige
ihrer Spüle dieses Motto stehen haben: Anmerkungen machen:
»Hier wird dreimal täglich Gott gedient.« 1. Das NT verurteilt nicht die Sklaverei
6,6 Wir sollten immer sorgfältig arbei- als solche. Es vergleicht sogar den
ten, nicht nur, wenn der Chef gerade hin- gläubigen Christen mit einem Skla-
schaut, sondern im Bewußtsein, daß ven Christi (V. 6). Doch die Mißstän-
unser Herr immer zuschaut. Es liegt in de der Sklaverei sind immer dort ver-
unserem natürlichen Wesen, sobald uns schwunden, wo das Evangelium hin-
der Chef den Rücken zukehrt, alles etwas kam – größtenteils durch eine morali-
langsamer laufen zu lassen, doch das ist sche Erneuerung.
eine Art der Unaufrichtigkeit. Die Maß- 2. Das NT hat mehr über Sklaven als
stäbe, die ein Christ an seine Arbeit an- über Könige zu sagen. Das kann ein
legt, sollten sich nicht entsprechend des Hinweis auf die Tatsache sein, daß
Aufenthaltsortes des Chefs ändern. Ein nicht viele Weise, Mächtige oder Edle
Kunde drängte einmal einen christlichen berufen sind (1. Kor 1,26). Wahr-
Verkäufer, ihm mehr zu geben, als er be- scheinlich findet man die meisten
zahlte, und versicherte dabei, daß sein Christen in geringeren ökonomischen
Chef es doch nicht sehen könne. Der Ver- und sozialen Verhältnissen. Die hö-

942
Epheser 6

here Repräsentanz der Sklaven zeigt Herrn und in der« grenzenlosen »Macht
uns auch, daß auch die geringsten seiner Stärke« immer wieder stärken zu
Sklaven nicht von den erlesensten lassen. Gottes beste Soldaten sind dieje-
Segnungen des Christentums ausge- nigen, die sich ihrer eigenen Schwäche
schlossen sind. und Verwundbarkeit bewußt sind und
3. Die Effektivität dieser Ermahnungen sich völlig auf Ihn verlassen. »Das
an die Sklaven zeigt sich in der Tatsa- Schwache der Welt hat Gott ausgewählt,
che, daß in der Zeit der ersten Chri- damit er das Starke zuschanden mache«
sten christliche Sklaven auf dem Skla- (1. Kor 1,27b). Unsere Schwäche befiehlt
venmarkt höhere Preise erzielten als sich der »Macht seiner Stärke« an.
heidnische. Es sollte auch heute gel- 6,11 Das zweite Gebot hier behandelt
ten, daß christliche Arbeitnehmer für die Notwendigkeit einer »Waffenrüstung
ihre Arbeitgeber mehr wert sind als Gottes«. Der Gläubige muß »die ganze
diejenigen, die nie von Christus ge- Waffenrüstung Gottes anziehen, damit«
hört haben. er »gegen die Listen des Teufels beste-
6,9 »Herren« sollten sich von densel- hen« kann. Es ist notwendig, ganz gerü-
ben allgemeinen Prinzipien leiten lassen stet zu sein, ein oder zwei Teile der Waf-
wie die Diener. Sie sollten fair, freundlich fenrüstung reichen nicht aus. Nur die
und ehrlich sein. Sie sollten sich beson- ganze Rüstung, die Gott uns zur Ver-
ders vor beleidigender und drohender fügung stellt, wird uns unverwundbar
Sprache hüten. Wenn sie sich auf diesem halten. Der »Teufel« hat verschiedene
Gebiet diszipliniert verhalten, dann wer- Strategien: Entmutigung, Frustration,
den sie es nie nötig haben, ihre Unterge- Verwirrung, sittliches Versagen und lehr-
benen körperlich zu züchtigen. Und sie mäßigen Irrtum. Er kennt unseren
sollten sich immer daran erinnern, daß schwächsten Punkt und zielt genau dar-
auch sie einen »Herrn« haben, nämlich auf. Wenn er uns nicht auf die eine Art
denselben »Herrn in den Himmeln«, unbrauchbar machen kann, dann wird er
dem auch der Sklave gehorcht. Sowohl eine andere Strategie versuchen.
der Herr als auch der Sklave werden 6,12 Bei diesem Kampf geht es nicht
eines Tages vor ihm Rechenschaft abzu- darum, gottlose Philosophien, geschickte
legen haben. Priester, christusverachtende Sekten
oder ungläubige religiöse Leiter zu be-
E. Ermahnungen zur christlichen kämpfen. Es geht um einen Kampf gegen
Kampfführung (6,10-20) dämonische Kräfte, gegen Heere von
6,10 Paulus schließt seinen Brief nun bald gefallenen Engeln und gegen böse Gei-
ab. Er wendet sich an die ganze Familie ster, die eine enorme Kraft aufbringen.
Gottes und spricht sie auf bewegende Obwohl wir sie nicht sehen können, wer-
Weise als Soldaten Christi an. Jedes echte den wir ständig von bösen Geisteswesen
Kind Gottes erfährt schon bald, daß das umgeben. Es stimmt zwar, daß sie einen
christliche Leben Kampf bedeutet. Die wahren Gläubigen nicht bewohnen kön-
Heerscharen Satans bemühen sich, das nen, sie können ihn jedoch unterdrücken
Werk Christi zu hindern und zu blockie- und belästigen. Der Christ sollte sich we-
ren und den einzelnen Soldaten aus der der übermäßig mit dem Thema Dämo-
Schlacht zu werfen. Je effektiver ein nen beschäftigen noch sollte er Angst vor
Gläubiger für den Herrn arbeitet, desto ihnen haben. In der Waffenrüstung Got-
mehr wird er den heftigen Angriffen des tes ist ihm alles gegeben, um sein Territo-
Feindes ausgesetzt sein: Der Teufel ver- rium gegen die Angriffe zu verteidigen.
schwendet seine Munition nicht an Der Apostel nennt diese gefallenen Engel
Namenschristen. In unserer eigenen »Gewalten, … Mächte, … Weltbeherr-
Kraft sind wir für den Teufel keine ernst- scher dieser Finsternis« und »Geister der
zunehmenden Gegner. Deshalb werden Bosheit in der Himmelswelt«. Wir haben
wir hier als erstes ermahnt, uns »im nicht genug Informationen, um zwi-

943
Epheser 6

schen diesen zu unterscheiden, vielleicht 6,15 Der Soldat muß »beschuht an


beziehen sich die Bezeichnungen auf den Füßen mit der Bereitschaft zur Ver-
Geist-Herrscher unterschiedlicher Rän- kündigung des Evangeliums des Frie-
ge, so wie es auf menschlicher Ebene dens« sein. Das bedeutet, daß er bereit
Präsidenten, Kanzler und Minister gibt. ist, die gute Nachricht »des Friedens« zu
6,13 Als Paulus schrieb, wurde er verbreiten und damit feindliches Gebiet
wahrscheinlich von einem römischen anzugreifen. Wenn wir uns in unseren
Soldaten in voller Rüstung bewacht. Er Zelten entspannen, sind wir in tödlicher
war immer bereit, geistliche Lektionen Gefahr. Unsere Sicherheit finden wir,
aus dem natürlichen Bereich zu ent- wenn wir den lieblichen Füßen unseres
wickeln und wendet sie hier sofort an. Erlösers über die Berge folgen und dabei
Wir werden von schrecklichen Feinden die gute Nachricht und Frieden bringen
bedroht, deshalb müssen wir »die ganze (Jes 52,7; Röm 10,15).
Waffenrüstung Gottes« anziehen, damit Nimm meine Füße und laß sie
wir »widerstehen« können, wenn der für dich lieblich und flink sein.
Konflikt seinen Höhepunkt erreicht, und Frances Ridley Havergal
noch immer zu stehen, wenn sich der 6,16 Außerdem muß der Soldat »den
Rauch der Schlacht verzogen hat. Der Schild des Glaubens« ergreifen, damit
»böse Tag« bezieht sich wahrscheinlich die »feurigen Pfeile des Bösen« daran
auf einen Zeitpunkt, wenn der Feind abprallen und wirkungslos zu Boden fal-
besonders gegen uns ankämpft. Die len. »Glaube« bedeutet hier festes Ver-
Angriffe Satans scheinen in Wellen zu trauen auf den Herrn und sein Wort.
erfolgen, die kommen und gehen. Sogar Wenn Versuchungen uns verfolgen, in
nachdem der Teufel unseren Herrn in der widrigen Umständen, wenn Zweifel auf-
Wüste versucht hatte, verließ er ihn für kommen will, wenn wir Schiffbruch zu
eine Weile (Lk 4,13). erleiden drohen, dann blickt der Glaube
6,14 Der erste Teil der Rüstung, der auf und sagt: »Ich glaube Gott mehr als
erwähnt wird, ist der Gürtel der »Wahr- den Umständen.«
heit«. Sicherlich müssen wir treu die 6,17 Der »Helm«, den Gott uns
Wahrheit des Wortes Gottes hochhalten, schenkt, ist das »Heil« oder die Erlösung
doch es ist auch für uns notwendig, daß (Jes 59,17). Ganz gleich wie heiß es in der
die Wahrheit uns hält. Wir müssen sie auf Schlacht hergeht, der Christ läßt sich
unser tägliches Leben anwenden. Wenn nicht beirren, weil er weiß, daß der end-
wir alles an der »Wahrheit« messen, gültige Sieg sicher ist. Die Verheißung
dann finden wir Kraft und Schutz in der der einstigen Befreiung bewahrt ihn vor
Schlacht. Rückzug oder Übergabe. »Wenn Gott für
Der zweite Teil ist der »Brustpanzer uns ist, wer kann gegen uns sein?«
der Gerechtigkeit«. Jeder Gläubige ist mit (Röm 8,31).
der Gerechtigkeit Gottes bekleidet (2. Kor Schließlich ergreift der Soldat noch
5,21), doch er muß die Integrität und Auf- »das Schwert des Geistes, das ist Gottes
richtigkeit seines persönlichen Lebens Wort«. Das klassische Beispiel dafür ist
aufrecht erhalten. Jemand hat gesagt: unser Herr, als er das »Schwert« in seiner
»Wenn jemand in praktische Gerechtig- Begegnung mit Satan verwendet. Drei-
keit gekleidet ist, dann ist er unangreifbar. mal zitiert er das Wort Gottes – nicht ein-
Worte sind keine Verteidigung gegen An- fach willkürlich, sondern die geeigneten
klagen, aber ein gutes Leben sehr wohl.« Verse, die ihm der Heilige Geist zu die-
Wenn unser Gewissen frei von Vergehun- sem Zweck eingab (Lk 4,1-13). Mit
41)
gen gegen Gott und Menschen ist, dann »Wort Gottes« ist hier nicht die ganze
hat der Teufel nichts, auf das er zielen Bibel gemeint, sondern ein besonderer
kann. David legte den »Brustpanzer der Abschnitt der Bibel, der am besten in die
Gerechtigkeit« in Psalm 7,4-6 an. Der Herr Situation paßt.
Jesus trug ihn allezeit (Jes 59,17). David Watson sagt:

944
Epheser 6

Gott gibt uns allen Schutz, den wir brau- Man beachte diese unpriesterliche Vor-
chen. Wir müssen darauf achten, daß uns ein stellung. So weit Paulus davon entfernt ist,
»Schutzwall der Wahrheit« in unserem Wan- einen Vorrat an Gnade für alle Epheser zu
del mit dem Herrn umgibt, daß unser Leben haben, brauchte auch er ihre Gebete, damit
vor Gott und Menschen gerecht ist, daß wir ihm aus dem lebendigen Vorrat die notwen-
43)
versuchen, Frieden zu stiften, wo immer wir dige Gnade zuteil werden konnte.
hingehen, und daß wir den Schild des Glau- Paulus schrieb aus dem Gefängnis.
bens aufnehmen, um die feurigen Pfeile des Trotzdem bittet er nicht um Gebet für
Bösen auszulöschen, daß wir unser Denken eine baldige Entlassung. Er bittet statt
von Angst und Furcht bewahren, die schnell dessen um Gebet, damit ihm »Rede ver-
angreifen, und daß wir Gottes Wort in der liehen werde, … mit Freimütigkeit das
Kraft des Heiligen Geistes recht anwenden. Geheimnis des Evangeliums« zu verkün-
Man beachte, daß Jesus nur durch wiederholte digen. Das ist die letzte Erwähnung des
Schwertschläge mit dem Wort Gottes in der »Geheimnisses« im Epheserbrief. Hier
42)
Einöde seinen Widersacher besiegen konnte. wird es als Ursache für seine Ketten vor-
6,18 »Gebet« wird hier nicht als Teil gestellt. Und doch bereut Paulus nichts.
der Waffenrüstung genannt, doch wür- Ganz im Gegenteil – er möchte es immer
den wir seine Bedeutung nicht überbe- mehr verbreiten.
werten, wenn wir sagen, daß es die 6,20 Botschafter genießen normaler-
Atmosphäre sein muß, in der der Soldat weise diplomatische Immunität und
lebt und atmet. Es ist der Geist, in dem können nicht in Haft genommen werden.
die Rüstung angelegt wurde und der Doch Menschen werden alles eher tole-
Gläubige sich dem Feind stellt. Wir soll- rieren als das Evangelium. Kein anderes
ten ständig beten, nicht nur sporadisch. Thema wühlt so die Gefühle auf, erweckt
»Gebet« sollte eine Gewohnheit sein, kei- solche Feindschaft, erregt solchen Arg-
ne isolierte Handlung. Der Soldat sollte wohn und provoziert solche Verfolgung.
auch alle Arten des Gebetes benützen: Deshalb war der Repräsentant Christi
öffentlich und privat, geplant und spon- »ein Gesandter in Ketten«. Eadie drückt
tan, Bitte und Fürbitte, Bekenntnis und es passend aus:
Demütigung, Lob und Dank. Ein Legat des höchsten Herrschers, der
Und das Gebet sollte »im Geist« ge- mit einer Botschaft unvergleichlicher Dring-
schehen, d. h. von ihm inspiriert und ge- lichkeit und Würde betraut war, dem die
leitet. Formelhafte Gebet, die nur routi- Beglaubigung unmißverständlicher Authen-
nemäßig dahergeplappert werden (ohne tizität mitgegeben war, wird hier in Gefan-
44)
daß man über ihre Bedeutung nach- genschaft gehalten.
denkt) – welchen Wert werden sie haben, Der Teil der paulinischen Botschaft,
wenn wir uns in der Schlacht gegen die der die Feindschaft bigotter Frömmler auf
Heerscharen der Hölle befinden? Wir sich zog, war die Ankündigung, daß gläu-
müssen im Gebet wachsam sein: »Wa- bige Juden und Heiden nun zu einer neu-
chet hierzu.« Wir müssen gegen Müdig- en Gemeinschaft werden, in der sie die
keit, Abschweifung und Beschäftigung gleichen Vorrechte haben und Christus als
mit anderem wachsam sein. »Gebet« er- ihr gemeinsames Haupt anerkennen.
fordert geistlichen Mut, Aufmerksamkeit
und Konzentration. Und das Gebet muß F. Die persönlichen Grüße des Paulus
anhaltend sein. Wir müssen immer wie- (6,21-24)
der bitten, suchen und klopfen (Lk 11,9). 6,21.22 Paulus sandte »Tychikus« von
Wir sollten »für alle Heiligen« flehen. Rom nach Ephesus, um die Heiligen
Auch sie stehen in der Schlacht und müs- wissen zu lassen, wie es ihm ging. Er
sen durch das Gebet ihrer Mitsoldaten empfiehlt »Tychikus« als »geliebten Bru-
getragen werden. der und treuen Diener im Herrn«. Dieser
6,19 Über die Bitte des Paulus »und Mann wird nur fünfmal im NT erwähnt.
auch für mich« bemerkt Blaikie: Er war bei denen, die mit Paulus von

945
Epheser 6

Griechenland nach Asien reisten 6,24 Schließlich wünscht der geliebte


(Apg 20,4), er war der Botschafter des Apostel »all denen … Gnade, … die un-
Apostels an die Kolosser (Kol 4,7), an die seren Herrn Jesus Christus« mit unver-
Epheser (vgl. 6,21 mit 2. Tim 4,12) und gänglicher Liebe ehren. Echte christliche
wahrscheinlich an Titus in Kreta (Ti- Liebe ist auf Dauer angelegt: Ihre Flam-
tus 3,12). Seine doppelte Mission war es me mag zwar hin und wieder kleiner
diesmal, die Heiligen über das Ergehen werden, doch wird sie niemals aus-
des Paulus im Gefängnis zu unterrich- gelöscht.
ten, und auch ihre »Herzen« zu trösten, Das römische Gefängnis hat schon
indem er ihnen unnötige Ängste nahm. lange seinen werten Insassen freige-
6,23 In den Abschlußversen finden geben. Der Apostel hat seinen Lohn er-
wir wieder die für Paulus typischen halten und schaut nun das Angesicht
Grüße – Friede und Gnade. Indem er diese seines Geliebten. Doch haben wir noch
beiden nennt, wünscht er seinen Lesern seinen Brief – so neu und lebendig wie
die Summe aller Segnungen. Auch könn- an dem Tag, als er ihn schrieb. Selbst
te er hier noch einmal verhüllt auf das im zwanzigsten Jahrhundert lehrt, in-
Geheimnis des Evangeliums anspre- spiriert, überführt und ermahnt er uns
chen – daß Juden und Heiden nun eins in noch.
Christus sind – indem er hier typisch Nun schließen wir unseren Kommen-
jüdische und heidnische Worte verwen- tar in Übereinstimmung mit den Worten
det. In Vers 23 wünscht er seinen Lesern von H. W. Webb-Peploe:
»Friede« und »Liebe mit Glauben«. Der Es gibt wohl keine Schrift im Buch Got-
Friede sollte ihre Herzen unter allen tes, die so majestätisch und wunderbar ist:
Lebensumständen bewahren. »Liebe« Deshalb ist es unmöglich für jeden Men-
würde es ihnen ermöglichen, Gott zu schen, auch wenn er ein Bote Gottes ist, die-
ehren und miteinander zu arbeiten. sem Buch gerecht zu werden: Ich hoffe, daß
»Glaube« würde sie vor Abfallen im wir von ihm angezogen werden, einfach, um
christlichen Kampf bewahren. Alle diese Lehren zu unserer Heiligung zu finden, Leh-
Segnungen kommen »von Gott, dem ren, durch die wir zu einem edleren und
Vater, und dem Herrn Jesus Christus«, höheren Leben als bisher geführt werden, und
eine Tatsache, die unmöglich wäre, wenn durch die wir in die Lage versetzt werden,
45)
Gott und Christus nicht gleich wären. Gott zu verherrlichen.

946
Anmerkungen

Anmerkungen 19) (3,16) Jamieson, Fausset, Brown,


Commentary Practical and Explanatory
on the Whole Bible, Bd. 6, S. 408.
1) (Einführung) William G. Moore- 20) (3,17) Kenneth S. Wuest, Wuest’s
head, Outline Studies in Acts and the Expanded Translation of the Greek New
Epistles, S. 214. Testament, 3 Bde, Grand Rapids: Wm.
2) (1,3) Lewis Sperry Chafer, The Ephe- B. Eerdmans Publishing Co., 1954.
sian Letter, S. 74. 21) (3,17) W. Graham Scroggie, »Paul’s
3) (Exkurs) W. G. Blaikie, »Ephesians«, Prison Prayers,« The Ministry of Kes-
Pulpit Commentary, Bd. 46, S. 3. wick, Second Series, S. 49.
4) (1,10) John G. Bellett, Brief notes on the 22) (3,18) Meyer, Key Words, S. 53-54.
Epistle to the Ephesians, S. 6 u. 7. 23) (3,21) George Williams, The Student’s
5) (1,17) R. W. Dale, The Epistle to the Commentary on the Holy Scriptures,
Ephesians; Its Doctrines and Ethics, S. 925.
S. 133. 24) (4,2) Walter C. Wright, Ephesians,
6) (1,19) F. B. Meyer, Key Words of the S. 85.
Inner Life, S. 92. 25) (4,10) F. W. Grant, »Ephesians,« in:
7) (1,19)Chafer, Ephesian Letter, S. 57. The Numerical Bible, Bd 6: Acts to 2
8) (1,20) Meyer, Key Words, S. 93. Corinthians, S. 341.
9) (2,3) Ebd., S. 140. 26) (4,11) Die »Regel nach Granville
10) (2,4) John Eadie, Commentary on the Sharp« besagt, daß im Griechischen
Epistle to the Ephesians, S. 141. zwei Nomen, die ein Amt, einen Titel
11) (2,5) A. T. Pierson, »The Work of oder eine Eigenschaft bezeichnen,
Christ for the Believer,« in: The Mini- die mit kai (und) verbunden sind,
stry of Keswick, First Series, S. 118-19. und bei dem nur das erste den
12) (2,7) 1. Kor 13,12 und 1. Joh 3,2 werden bestimmten Artikel trägt, sich auf
manchmal benutzt, um zu beweisen, dieselbe Person beziehen. Ein gutes
daß wir im Himmel allwissend sein Beispiel für diese Art der Satzbil-
werden. Doch das erste Zitat befaßt dung ist »unser Gott und Heiland
sich nur damit, daß wir im Himmel Jesus Christus« in 2. Petrus 1,1. (Die-
einander erkennen werden, und das se grammatische Regel ist erst im
zweite mit der moralischen und leib- späten 18. Jahrhundert ausdrücklich
lichen Ähnlichkeit mit Christus. so formuliert worden.) Im Plural,
13) (2,18) Eadie, Ephesians, S. 187. wie hier, ist diese Regel jedoch nicht
14) (2,21) Blaikie, »Ephesians«, Bd 46, immer anwendbar, obwohl die Kon-
S. 68. struktion mindestens darauf hin-
15) (3,1) R. Paxson, The Wealth, Walk and weist, daß die beiden Nomen eng
Warfare of the Christian, S. 57. verbunden sind (vgl. »Schriftgelehr-
16) (3,4) Blaikie, »Ephesians«, Bd. 46, te und Pharisäer« etc.).
S. 104. 27) (4,12) Vance Havner, Why Not Just Be
17) (3,8) Ibd, Bd 46, S. 105-6. Christians, S. 63.
18) (3,9) LU1912 übersetzt hier: »Ge- 28) (4,15) Blaikie, »Ephesians«, Bd. 46,
meinschaft des Geheimnisses.« Die- S. 150.
se traditionelle Lesart hat wenig stüt- 29) (4,19) Wright, Ephesians, S. 100.
zende Beweise, da das gr. Wort für 30) (4,21) Blaikie, »Ephesians«, Bd. 46,
»Verwaltung« oder »Haushaltung« S. 151.
besonders in den großbuchstabig ge- 31) (4,24) Grant, »Ephesians«, S. 344.
schriebenen frühen Manuskripten 32) (4,32) R. C. H. Lenski, The Interpreta-
sehr leicht mit dem sehr ähnlich aus- tion of St. Paul’s Epistles to the Galati-
sehenden Wort für »Gemeinschaft« ans, to the Ephesians, and to the Philip-
verwechselt werden konnte (vgl. pians, S. 588.
›Oikonomia‹ und ›Kononia‹). 33) (5,2) Meyer, The Heavenlies, S. 25.

947
Anmerkungen

34) (5,9) Der Mehrheitstext liest statt dern rhema (verwandt mit unserem
»Licht« (photos) »Geist« (pneumatos). Wort Rhetorik), ein besonderes Wort
35) (5,13) Blaikie, »Ephesians,« Bd. 46, oder ein Ausspruch, hier ein beson-
S. 209. deres »Wort« von Gott für eine be-
36) (5,21) Charles R. Erdman, Ephesians, sondere Situation. Manchmal sind
S. 106. logos und rhema jedoch praktisch
37) (5,27) Pierson, »The Work of Christ«, synonym.
S. 138. 42) (6,17) David Watson, Discipleship,
38) (5,27) Grant, »Ephesians«, Bd. 6, S. 183.
S. 350. 43) (6,19) Blaikie, »Ephesians«, Bd. 46,
39) (6,4) Zit. in: William W. Orr, Bible S. 260.
Hints on Rearing Children, S. 19. 44) (6,20) Eadie, Ephesians, S. 480.
40) (6,6) Erdman, Ephesians, S. 119. 45) (6,24) W. W. Webb-Peploe, »Grace and
41) (6,17) Paulus benutzt hier nicht das Peace in Four Pauline Epistles,« The
allgemein bekannte Wort logos, son- Ministry of Keswick, First Series, S. 69.

Bibliographie Erdman, Charles R.,


The Epistle of Paul to the Ephesians,
Philadelphia: Westminster Press, 1931.
Bellet, John G., Flint, V. Paul,
Brief Notes on the Epistle to the Ephesians, Epistle to the Ephesians:
London: G. Morrish, o. J. To the Praise of His Glory,
Blaikie, W. G., Oak Park, Il.: Emmaus Bible School, o. J.
»Ephesians«, Pulpit Commentary, Bd. 44, Meyer, Frederick Brotherton,
New York: Funk & Wagnalls, o. J. Key Words of the Inner Life:
Studies in the Epistle to the Ephesians,
Chafer, Lewis Sperry, Fleming H. Revell, 1893.
The Ephesian Letter,
Findlay, Ohio: Dunham, 1935. Ders.,
The Heavenlies,
Dale, R. W., Westchester, Il.: Good News, o. J.
The Epistle to the Ephesians: Its Doctrine Paxson, R.,
and Ethics, The Wealth, Walk and Warfare of the
London: Hodder and Stoughton, 1893. Christian,
Eadie, John, New York: Fleming H. Revell, 1939.
Commentary on the Epistle to the Wright, Walter C.,
Ephesians, Ephesians,
Grand Rapids: Zondervan, 1957. Chicago: Moody Press, 1954.

948
Der Brief an die Philipper
»Ein kleines Buch voll Güte, das in einen Umschlag von Gnade gebunden wurde.«
J. H. Jowett

Einführung begnügte sich nicht mit Heilung und


Lehre, sondern ging seinen Weg bis zum
Tod – bis zum Tod am Kreuz. Philipper
I. Die einzigartige Stellung im Kanon 2,5-11 bringt diese großartige Wahrheit in
Die »erste Gemeinde« einer Konfession einem schönen Abschnitt zum Aus-
in einer Stadt hat in den Augen ihrer Mit- druck, den viele für ein frühchristliches
glieder einen besonderen Status. Man Lied halten, das von Paulus entweder
stelle sich deshalb vor, welchen Status die zitiert wird, oder von ihm verfaßt wurde.
erste überhaupt bekannte Gemeinde hat, Doch dieser Abschnitt ist hier auch ein-
die gegründet wurde, ehe es Denomina- gefügt, um Einheit durch Demut zu leh-
tionen gab, und die die allererste in Euro- ren. Die Lehre läßt sich im NT nie von
pa war! Das war die Gemeinde in Philip- der Pflicht trennen, wie das oft unter
pi, im alten Mazedonien (Nordgriechen- heutigen Gemeindegliedern mit sehr be-
land). Wie konnten sich die Christen des dauernswerten Folgen praktiziert wird.
Westens freuen (und auch die Nichtchri- Das ist also der Philipperbrief, eines
sten, denn sie kamen in den Genuß der der fröhlichsten und anziehendsten
erfreulichen Nebeneffekte des Christen- Bücher des Wortes Gottes.
tums), daß Paulus dem Ruf nach Maze-
donien gefolgt war und sich bei seiner II. Verfasserschaft
Evangelisation des römischen Reiches Da die meisten Ausleger die paulinische
nach Westen statt nach Osten wandte! Verfasserschaft des Philipperbriefes un-
Vielleicht würde der asiatische Kontinent streitig anerkennen, zitieren wir die Be-
heute Missionare nach Europa entsenden weise hier fast ausschließlich aus Voll-
statt umgekehrt, hätte das Evangelium ständigkeitsgründen. Einige Ausleger
damals nicht in Europa Fuß gefaßt. sind der Ansicht, daß sie Spuren von
Die Gemeinde in Philippi war zwei verschiedenen Briefen im Philip-
großzügig und sandte Paulus immer perbrief entdecken können, oder daß
wieder Geld zur Unterstützung. Und das zumindest der Abschnitt über den Got-
ist, menschlich gesprochen, der Anlaß zu tesknecht ein Einschub ist. Es gibt keine
diesem »Dankesbrief«. Hinweise in den Manuskripten, um die-
Doch der Philipperbrief ist noch viel, se These zu rechtfertigen.
viel mehr als das. Er ist ein wirklicher Die äußeren Beweise sind sehr stichhal-
»Freudenbrief« – die verschiedenen For- tig. Zu denen, die schon früh den Philip-
men des Wortes »Freude« erscheinen perbrief zitieren – und oft ausdrücklich
mehr als zwölfmal in den vier Kapiteln. erwähnen, daß er von Paulus stammt –
Paulus wußte, wie er sich in guten und gehören Ignatius, Clemens von Rom,
schlechten Zeiten freuen konnte (4,11). Polykarp, Irenäus, Clemens von Alex-
Auch geht es in diesem auferbauenden andrien und Tertullian. Sowohl Marcions
Brief kaum um Streitpunkte, noch muß »Kanon« als auch das Muratorische Frag-
Paulus viel ermahnen. ment schreiben dieses Buch Paulus zu.
Der Hauptgrund, warum die Chri- Neben dem offensichtlichen Hinweis
sten sich freuen können, ist, daß der Sohn auf Paulus in 1,1 entspricht der gesamte
Gottes bereit war, als Mensch auf die Stil und die Wortwahl der des Paulus.
Erde zu kommen – sogar als Knecht. Er Die Argumente, die gegen eine Verfas-

949
Philipper

serschaft angeführt werden, sind alle- den, lassen uns auf ein Datum spät im
samt weit hergeholt, etwa, daß der Hin- Jahr 61 schließen.
weis auf »Aufseher und Diener« (oder
»Bischöfe und Diakone« LU84) in 1,1 ein IV. Hintergrund und Thema
späteres Abfassungsdatum erfordert. Es war ein wichtiger Augenblick der
Das wäre jedoch nur der Fall, wenn wir christlichen Missionsgeschichte, als der
spätere Vorstellungen von Bischöfen und Apostel Paulus auf seiner zweiten Missi-
Diakone ins erste Jahrhundert projizie- onsreise bis nach Troas kam. Troas lag an
ren würden. Doch Paulus verwendet das der Nordwestküste Kleinasiens, nur
Wort »Aufseher« (gr. episkopoi, in vielen durch das ägäische Meer von Griechen-
Übersetzungen »Bischöfe«) sowohl in land getrennt. Eines Nachts erschien
den Pastoralbriefen als auch in Apostel- dem Apostel in einer Vision ein Mann
geschichte 20,28 gleichbedeutend mit und sagte: »Komm herüber nach Maze-
»Älteste«. Auch sollte man festhalten, donien und hilf uns!« (Apg 16,9). Sofort
daß die eine Gemeinde, die hier ange- machte sich Paulus mit Timotheus,
sprochen ist, mehrere Bischöfe hatte. Lukas und Silas nach Mazedonien auf.
H. A. A. Kennedy faßt die inneren Sie setzten das erste Mal in Neapolis den
Beweise sehr schön zusammen: Fuß auf europäischen Boden, und reisten
Vielleicht trägt kein Paulusbrief deutli- dann weiter ins Landesinnere nach Phi-
chere Kennzeichen der Echtheit. Wir finden lippi. Diese Stadt war zu der Zeit eine
hier eine Ungekünsteltheit, einen Takt und römische Kolonie, von Römern verwaltet
ein offenes Ausschütten des Herzens, das und gab ihren Einwohnern die Rechte
1)
man so nicht nachahmen kann. und Privilegien der Römischen Bürger-
schaft.
III. Datierung Am Sabbat gingen die Prediger des
Wie der Epheser-, Kolosser- und der Phi- Evangeliums hinab zum Flußufer, wo
lemonbrief ist der Philipperbrief aus dem sich eine Gruppe von Frauen zum Gebet
Gefängnis geschrieben, von daher gibt es zu treffen pflegte (Apg 16,13). Eine von
die Gruppe der »Gefangenschaftsbriefe«. ihnen war Lydia, eine Purpurhändlerin
Doch während die anderen drei ziemlich aus der Stadt Thyatira. Als sie das Evan-
sicher etwa zur selben Zeit geschrieben gelium annahm, wurde sie die erste
wurden (um das Jahr 60), ist der Philip- bekannte Bekehrte auf dem europäi-
perbrief deutlich etwas später geschrie- schen Kontinent.
ben. Marcion sagt ausdrücklich, daß Doch der Aufenthalt des Paulus in
Paulus den Philipperbrief von Rom aus Philippi gestaltete sich nicht ausschließ-
schrieb, was sich gut mit Vers 1,13 und lich friedfertig. Eine junge Frau, die von
4,22 in Verbindung bringen läßt. Diese einem Wahrsagegeist besessen war,
Verse scheinen ebenfalls nahezulegen, begegnete den Knechten des Herrn und
daß Rom der Ort der Abfassung ist. Pau- folgte ihnen eine zeitlang und schrie
lus verbrachte zwei Jahre in römischer dabei: »Diese Menschen sind Knechte
Haft, und es finden sich Hinweise im Gottes, des Höchsten, die euch den Weg
Philipperbrief, daß er gegen Ende dieser des Heils verkündigen« (Apg 16,17).
Haftzeit geschrieben wurde. Z. B. legen Nicht bereit, das Zeugnis eines Men-
1,12-18 eine längere Zeit der Predigt in schen anzunehmen, der von einem bösen
der ewigen Stadt nahe, seit Paulus ange- Geist besessen war, befahl der Apostel
kommen ist. Daß der Fall des Paulus dem Dämon, aus der Frau auszufahren.
kurz vor einer Entscheidung stand (und Als ihre Herren, die von den Vorhersa-
zwar diesmal vor einer positiven) läßt gen des Mädchens profitiert hatten,
sich aus 1,12.13.19.23-26 entnehmen. sahen, was geschehen war, wurden sie
Diese Tatsachen einschließlich der böse. Sie schleppten Paulus und Silas auf
Zeit, die Besuche, Briefe und Geldgaben den Marktplatz, damit sie sich vor den
erforderten, die im Brief erwähnt wur- Vertretern Roms verantworten sollten.

950
Philipper

Diese Magistrate wiederum befahlen, sen, gingen Paulus und seine Gefährten
daß sie geschlagen und ins Gefängnis zunächst ins Haus der Lydia und verab-
geworfen werden sollten. schiedeten sich dann (Apg 16,40)
Was nun im Gefängnis von Philippi Etwa zehn Jahre später schrieb Pau-
geschah ist wohlbekannt. Gegen Mitter- lus den Philippern. Er war wieder einmal
nacht beteten Paulus und Silas zu Gott im Gefängnis. Die Philipper hatten von
und sangen. Plötzlich gab es ein Erdbe- seiner Gefangenschaft gehört und des-
ben, das alle Türen des Gefängnisses öff- halb sandten sie ihm eine Geldgabe. Epa-
nete und die Ketten der Gefangenen phroditus war damit beauftragt worden,
abfallen ließ. Der Kerkermeister, der diese Gabe Paulus zu überbringen.
dachte, daß die Gefangenen geflohen Nachdem er sie überbracht hatte, ent-
waren, wollte sich schon töten, als Paulus schied er sich, eine Weile dortzubleiben
ihm versicherte, daß seine Gefangenen und dem Apostel in seiner Not beizuste-
nicht geflohen waren. Dann rief der Ker- hen. Epaphroditus selbst wurde bei der
kermeister aus: »Ihr Herren, was muß ich Durchführung seiner Pflichten so krank,
tun, daß ich errettet werde?« Er erhielt daß er fast gestorben wäre. Doch Gott
die erinnerungswürdige Antwort: hatte Gnade mit ihm, und gab ihm noch
»Glaube an den Herrn Jesus, und du einmal seine Gesundheit zurück. Er ist
wirst errettet werden, du und dein nun bereit, in seine Heimatgemeinde
Haus« (Apg 16,31). Gottes Gnade hatte nach Philippi zurückzukehren und des-
nun seinen zweiten Siegespreis in Philip- halb sendet der Apostel seinen Dank-
pi davongetragen. Am Morgen drängten brief durch ihn.
die Obersten der Stadt Paulus und seine Der Philipperbrief ist der persönlich-
Gefährten, so schnell wie möglich die ste und herzlichste der Paulusbriefe. Er
Stadt zu verlassen. Paulus weigerte sich. offenbart deutlich, daß diese Gemeinde
Er erinnerte sie daran, daß sie ihn, einen von Paulus ganz besonders geschätzt
Römischen Bürger, geschlagen und ihn wurde. Wenn wir ihn lesen, entdecken
ohne Verhandlung ins Gefängnis gewor- wir das zarte Band, das zwischen diesem
fen hatten. Nach weiteren Aufforderun- großen Apostel und der Gemeinde
gen des Magistrats, die Stadt zu verlas- bestand, die er gegründet hatte.

Einteilung VI. Paulus verleugnet sein Erbe und


seine persönlichen Erfolge um
Christi willen (3,4-14)
I. Die Grüße des Paulus, Lobpreis VII. Ermahnung zum himmlischen
und Gebet (1,1-11) Wandel nach dem Beispiel des
II. Paulus’ Gefangenschaft, Apostels
Aussichten und Ermutigung zum VIII. Ermahnung zu Harmonie,
Ausharren (1,12-30) gegenseitiger Unterstützung,
III. Ermahnung zur Einheit aufgrund Freude, Vergebung, Gebet und
des Beispiels Christi in Demut und einem disziplinierten Gedanken-
Hingabe (2,1-16) leben (4,1-9)
IV. Das christusähnliche Vorbild IX. Paulus’ Dank für die Gabe der
von Paulus, Timotheus und Heiligen (4,10-20)
Epaphroditus (2,17-30) X. Abschließende Grüße (4,21-23)
V. Warnung vor Irrlehrern (3,1-3)

951
Philipper 1

Kommentar mit materiellen Belangen, etwa den


Finanzen, beschäftigten.
Es gab nur diese drei Gruppen in der
I. Die Grüße des Paulus, Lobpreis Gemeinde – »Heilige«, »Bischöfe« und
und Gebet (1,1-11) »Diakone«. Wenn es einen einzelnen
1,1 Paulus und Timotheus werden zu »Geistlichen« gegeben hätte, der die Ge-
Beginn des Briefes in einem Atemzug meinde leitete, so hätte Paulus ihn eben-
genannt. Das bedeutet nicht, daß Timo- falls erwähnt. Doch spricht er hier nur
theus geholfen hat, den Brief zu schrei- von »Bischöfen« (Mehrzahl) und Diako-
ben. Er war beim ersten Besuch des Pau- nen (ebenfalls Mehrzahl).
lus in Philippi bei diesem gewesen, und Hier sehen wir, wie einfach das Ge-
deshalb war er den Heiligen dort be- meindeleben in dieser Anfangszeit war.
kannt. Nun ist »Timotheus« bei »Paulus«, »Die Heiligen« werden als erste erwähnt,
als der Apostel seinen Brief schreibt. dann ihre geistlichen Leiter, und schließ-
Paulus war nun schon ein älterer lich ihre zeitlichen Diener. Das ist alles!
Mann (Philem 9), während Timotheus 1,2 In seinem für ihn typischen Gruß
noch recht jung war. So waren Jugend wünscht Paulus den Heiligen »Gnade«
und Alter hier im Dienst des besten und »Friede«. Mit der ersteren ist nicht
Herrn zusammen unter ein Joch gebun- so sehr die Gnade gemeint, die dem Sün-
den. Jowett drückt das treffend aus: »Es der zur Zeit seiner Bekehrung wider-
ist die Vereinigung von Frühling und fährt, sondern die Gnade, die er sich
Herbst, von Begeisterung und Erfah- ständig am Thron der Gnade erbitten
rung, von Impulsivität und Weisheit, von muß, damit sie ihm in Notzeiten zur Ver-
liebevoller Hoffnung und ruhiger reicher fügung steht (Hebr 4,16). Ebenfalls geht
2)
Sicherheit.« es beim »Frieden«, den Paulus für sie
Beide werden als »Knechte Christi erbittet, nicht so sehr um den Frieden mit
Jesu« beschrieben. Beide liebten ihren Gott, den sie schon haben, als den »Frie-
Herrn. Die Bande von Golgatha fesselten den« Gottes, der durch Gebet und Dank-
sie für immer im Dienst für ihren Erlöser. sagung zu ihnen kommt (4,6.7).
Der Brief ist an »alle Heiligen in Chri- Beide Segnungen kommen »von
stus Jesus, die in Philippi sind, samt den Gott, unserem Vater, und dem Herrn
Aufsehern und Dienern« gerichtet. Das Jesus Christus«. Der Apostel ehrte den
Wort alle findet sich in diesem Brief recht Sohn so, wie er den Vater ehrte (Joh 5,23).
oft. Paulus war an allen Kindern Gottes Es gibt für Paulus keinen Zweifel: Jesus
von Herzen interessiert. Christus ist Gott.
Der Ausdruck »die Heiligen in Chri- 1,3 Nun bricht der Apostel in ein
stus Jesus, die in Philippi sind« be- Danklied aus. Doch das ist für den Apo-
schreibt die zweifache Stellung der Gläu- stel nichts neues. Die Wände des Gefäng-
bigen. Ihre geistliche Stellung war die nisses zu Philippi hatten vom Echo der
des Ausgesondertseins für Gott »in Chri- Lieder des Paulus und Silas auf ihrem
stus Jesus«. Ihre geographische Stellung ersten Besuch dort widergehallt. Als er
war in »Philippi«. So waren sie an zwei diese Worte schreibt, ist er wahrschein-
Orten gleichzeitig. lich Gefangener in Rom – doch noch
Dann erwähnt der Apostel die immer singt er »Lieder in der Nacht«.
»Bischöfe und Diakone« (LU84). Die Der unermüdliche Paulus! »Jede Erinne-
»Bischöfe« waren die Ältesten oder Auf- rung« an die Philipper bringt ihm zum
seher in der Gemeinde – diejenigen, die herzlichen Danken. Sie waren nicht nur
als Hirten ein Interesse an der Herde seine Kinder im Glauben, sondern erwie-
Gottes hatten und sie durch ihr gottes- sen sich auch auf viele Weise als vorbild-
fürchtiges Beispiel leiteten. Die »Diako- liche Gemeinde.
ne« waren dagegen Diener der Gemein- 1,4 »In jedem« seiner »Gebete« trat er
de, die sich wahrscheinlich in erster Linie für die Philipper »mit Freuden« ein. Für

952
Philipper 1

ihn war es eine reine Freude, für sie zu Richterstuhl Christi, bei dem unser
beten, – keine lästige Pflicht. Aus dieser Dienst für ihn gesichtet und bewertet
und vielen ähnlichen Stellen in den Pau- werden wird.
lusbriefen können wir schließen, daß er 1,7 Paulus fühlt sich berechtigt, für
ein Mann des Gebetes war. Es ist nicht die Philipper dankbar zu sein. In seinem
nötig, nach einem anderen Grund als die- »Herzen« bewahrt er die Erinnerung,
sem für die Tatsache zu suchen, warum wie loyal sie ihm beigestanden haben, ob
er so wunderbar von Gott gebraucht er sich vor Gericht zu verantworten hat-
wurde. Wenn wir uns das Ausmaß seiner te, ob er im Gefängnis war oder ob er mit
Reisen vor Augen halten, und die vielen »der Verteidigung und Bekräftigung des
Christen, die er kannte, dann können wir Evangeliums« beschäftigt war. »Die Ver-
uns nur wundern, wie er solch ein per- teidigung des Evangeliums« bezeichnet
sönliches Interesse an ihnen allen auf- den Dienst, den Kritikern zu antworten,
recht erhalten konnte. während die »Bekräftigung des Evange-
1,5 Der besondere Grund für seinen liums« dafür steht, die Botschaft noch
Dank war ihre »Teilnahme« an seinem sicherer in den Herzen der Gläubigen zu
Vorantreiben des Evangeliums »vom verankern. W. E. Vine sagt: »Das Evange-
ersten Tag an bis jetzt«. »Teilnahme« lium überwindet seine Feinde und stärkt
3)
kann finanzielle Hilfe bedeuten, aber es seine Freunde.« Gnade bedeutet hier
wird sich hier auch auf Gebetsunterstüt- unverdiente Kraft von Gott, das Werk
zung und eine Hingabe von ganzem des Herrn auch angesichts heftigster
Herzen zur Verbreitung der guten Nach- Opposition weiterzuführen.
richt handeln. Wenn Paulus den »ersten 1,8 Die Erinnerung des treuen Han-
Tag« erwähnt, dann können wir nicht delns der Philipper läßt den Apostel
anders als uns zu fragen, ob wohl der nach ihnen »sehnen«. Er ruft »Gott« zum
Kerkermeister vielleicht noch lebte, als »Zeugen, wie« er sich »mit der herzli-
dieser Brief der Gemeinde in Philippi chen Liebe Christi Jesu« nach ihnen
öffentlich vorgelesen wurde. Wenn das sehnt. Es ist umso bemerkenswerter, wie
der Fall war, wird diese Erwähnung der Paulus hier seiner Liebe Ausdruck ver-
Einführung des Paulus bei den Gläubi- leiht, wenn wir uns erinnern, daß er als
gen in Philippi sicherlich sein Herz Jude geboren wurde und nun zu Men-
besonders angesprochen haben. schen heidnischer Herkunft spricht. Die
1,6 Wenn der Apostel an den guten Gnade Gottes hat den alten Haß wegge-
Anfang denkt, den die Gläubigen in nommen, und nun waren sie alle eins in
ihrem Christenleben gemacht haben, so Christus.
ist er »in guter Zuversicht«, daß Gott das 1,9 Die Danksagung wird nun durch
»gute Werk« vollenden wird, das er »an- Fürbitte abgelöst. Wird Paulus um Reich-
gefangen« hat. tum, Bequemlichkeit oder Freiheit von
Das Werk, das seine Güte begann, Schwierigkeiten für sie beten? Nein er
wird sein starker Arm vollenden. bittet, daß ihre »Liebe … in Erkenntnis
Seine Verheißung lautet Ja und Amen und aller Einsicht« immer stärker werde.
und ist bisher noch niemals aufgehoben Das Hauptziel des christlichen Lebens ist
worden. es Gott und seinen Nächsten zu lieben.
Augustus M. Toplady Doch Liebe hat nicht nur etwas mit den
»Gutes Werk« kann für die Erlösung Gefühlen zu tun. In einem wirksamen
der Philipper stehen, oder es kann ihre Dienst für den Herrn müssen wir unsere
aktive finanzielle Beteiligung an der Intelligenz gebrauchen und dabei »Ein-
Förderung des Evangeliums bedeuten. sicht« zeigen. Andernfalls sind unsere
Der »Tag Christi Jesu« bezeichnet den Bemühungen wahrscheinlich erfolglos.
Zeitpunkt seiner Wiederkunft, wenn er Deshalb bittet Paulus hier nicht nur dar-
sein Volk in den Himmel heimholt und um, daß die Philipper weiterhin ein Bei-
wahrscheinlich gehört dazu auch der spiel christlicher Liebe darstellen, son-

953
Philipper 1

dern daß ihre »Liebe« in voller »Erkennt- II. Paulus’ Gefangenschaft,


nis und aller Einsicht« geübt werde. Aussichten und Ermutigung zum
1,10 Liebe, die so erleuchtet ist, wird Ausharren (1,12-30)
die Philipper in die Lage versetzen zu er- 1,12 Das Gebet ist nun beendet. Als näch-
kennen, »worauf es ankommt«. In allen stes betrachtet Paulus, wie er gesegnet
Lebensbereichen gibt es Gutes und Bes- worden ist, d. h. die Wohltaten, die ihm
seres. Das Gute ist dabei oft der Feind aus seiner Gefangenschaft erwachsen
des Besten. Um im Dienst erfolgreich zu sind. Jowett nennt diesen Abschnitt
sein, muß man beides unterscheiden »Glück im Unglück«.
lernen. Der Apostel möchte, daß die »Brü-
Erleuchtete Liebe wird die Philipper der« wissen, daß seine »Umstände«, d. h.
auch in die Lage versetzen, alles zu mei- sein Gerichtsverfahren und seine Haft,
den, was fragwürdig oder ganz verkehrt »mehr zur Förderung des Evangeliums
4)
ist. Paulus möchte daß sie »lauter« sind, ausgeschlagen sind« statt es zu hindern,
d. h. völlig offen und tadellos angesichts wie man es vielleicht erwartet haben
des »Tages Christi«. »Unanstößig« be- mag. Das ist nun ein weiteres Beispiel
deutet nicht sündlos. Wir alle sündigen dafür, wie Gott die bösen Pläne von Men-
hin und wieder, doch der Unanstößige ist schen überwindet und Sieg aus scheinba-
jemand, der seine Sünden bekennt und rer Tragödie und Schönheit aus der
läßt, und auch die Menschen um Verge- Asche hervorbringt. Wie schlimm der
bung bittet, denen er Unrecht getan hat Mensch auch sein mag, Gott führt seine
und, wann immer es möglich ist, Wieder- Sache zum guten Ende.
gutmachung leistet. 1,13 Zunächst einmal ist allgemein
Der »Tag Christi« bezeichnet wie in »offenbar geworden«, daß Paulus’ »Fes-
Vers 6 die Entrückung und das darauf- seln« ihre Ursache »in Christus« haben.
folgende Gericht über die Werke des Damit meint er, daß es allgemein be-
Gläubigen. kannt war, daß er als Folge seines Zeug-
1,11 Die Schlußbitte des Apostelgebe- nisses für Christus und nicht als Krimi-
tes lautet, daß die Christen »mit der neller inhaftiert worden war.
Frucht der Gerechtigkeit« erfüllt werden Der wahre Grund für seine Ketten
mögen, d. h. mit der »Frucht«, die von war »im ganzen Prätorium« und an allen
der »Gerechtigkeit« hervorgebracht anderen Orten bekannt geworden. »Prä-
wird, oder mit allen christlichen Tugen- torium« bedeutet hier entweder 1. bei
den, die zu einem gerechten Leben der gesamten Palastwache, die ihren Sitz
gehören. Die Quelle dieser Tugenden ist im Prätorium hatte oder 2. im gesamten
»Jesus Christus«, und ihr Ziel ist die Prätorium. Das Prätorium war gleichzei-
»Herrlichkeit und« der »Lobpreis Got- tig der Palast und würde damit alle dort
tes«. Diese Bitte des Paulus stellt eine Arbeitenden einschließen. Jedenfalls sagt
Parallele zu den Worten in Jesaja 61,3 Paulus hier aus, daß seine Gefangen-
dar: »Damit sie Terebinthen der Gerech- schaft als Zeugnis für die Repräsentan-
tigkeit genannt werden (›erfüllt mit der ten der römischen Besatzungsmacht am
Frucht der Gerechtigkeit‹), eine Pflan- Ort diente.
zung des Herrn (›die durch Jesus Chri- T. W. Drury schreibt:
stus gewirkt wird‹), daß er sich durch sie Genau die Ketten, mit denen die Römer
verherrlicht (›zur Herrlichkeit und zum den Arm des Gefangenen an seinen Bewacher
Lobpreis Gottes‹).« fesselten, dienten dazu, daß Paulus einen
»Das Wort ›Frucht‹«, schreibt Leh- Zuhörer erhielt, der anschließend die Ge-
man Strauss, »hängt eng mit unserer Be- schichte des geduldig leidenden Christus
ziehung zu Christus und seinen Erwar- unter die trug, die am nächsten Tag vielleicht
tungen an uns zusammen. Die Reben Nero selbst dienten.6)
eines Weinstocks sind dazu da, Frucht zu 1,14 Eine zweite günstige Auswir-
5)
bringen.« kung seiner Gefangenschaft war, daß

954
Philipper 1

andere Christen dadurch ermutigt wur- rer sucht. Statt dessen ist er erfüllt von
den, furchtloser für den Herrn Jesus der Freude des Herrn und ermutigt seine
Zeugnis abzulegen. Verfolgung hat oft Leser, sich ebenfalls zu freuen.
die Folge, furchtsame und stille Gläubige Die Aussichten sind ermutigend. Der
in mutige Zeugen zu verwandeln. Apostel weiß, daß alle Entwicklungen zu
1,15 Das Motiv in den Herzen einiger seinem »Heil« führen werden. »Heil«
war Eifersucht und Rivalität. Sie predig- (Elb, »Seligkeit«) bedeutet nicht das See-
ten Christus »aus Neid« und Streitsucht. lenheil des Paulus, sondern seine Befrei-
Andere dagegen hatten ehrliche und ung aus dem Gefängnis. Die Mittel, die
reine Motive, sie predigten Christus »aus Gott zur Herbeiführung dieser Freilas-
gutem Willen« und in dem ehrlichen sung benutzen möchte, sind das »Gebet«
Bestreben, dem Apostel zu helfen. der Philipper und der Dienst oder die
1,16 Andere predigten das Evangeli- Hilfe des »Geistes Jesu Christi«. Wir dür-
um »aus« reiner »Liebe«, denn sie wuß- fen uns hier über die Bedeutung wun-
ten, daß Paulus entschlossen war, »das dern, die Paulus dem Gebet einer schwa-
Evangelium« zu verteidigen. In ihrem chen Gruppe von Gläubigen beimißt. Er
Dienst fand sich nichts Selbstsüchtiges, hält sie für ausreichend und kräftig
Sektiererisches oder Grausames. Sie genug, die Pläne der Großmacht Roms
wußten ganz genau, daß Paulus ins Ge- zunichte zu machen. Es ist schon wahr,
fängnis gekommen war, weil er so mutig daß Christen in der Lage sind, das
für das Evangelium eingetreten war. Geschick von Nationen zu beeinflussen
Deshalb waren sie entschlossen, das und den Gang der Geschichte durch ihr
Werk weiterzuführen, während er so ein- Gebet zu verändern.
gekerkert war. »Der Beistand des Geistes Jesu Chri-
1,17 Die eifersüchtigen Prediger sti« bedeutet die Macht des Heiligen
dachten, daß sie durch ihre Handlungs- »Geistes«, die um seinetwillen zur An-
weise dem Apostel seine Gefangenschaft wendung kommt – die Kraft, die der
vergällen könnten. Ihre Botschaft war Geist ihm geben wird. Im allgemeinen
gut, doch ihr Charakter schlecht. Es ist bezieht sich der Ausdruck auf »die gren-
traurig, daß es möglich ist, den christli- zenlosen Möglichkeiten, die der Geist
chen Dienst in der Kraft des Fleisches bereithält, um es Gläubigen zu ermögli-
durchzuführen und dabei von Streit- chen, festzustehen, ganz gleich, wie die
sucht, Neid, Stolz und Habgier getrieben Umstände sein mögen«.
zu sein. Das lehrt uns, daß wir immer 1,20 Als Paulus an die Gebete der
wieder unsere Motive untersuchen soll- Christen und an den Beistand des Heili-
ten, wenn wir dem Herrn dienen. Wir gen Geistes dachte, gab er seinem eifri-
dürfen den Dienst nicht zur Selbstdar- gen Verlangen und seiner »Hoffnung«
stellung mißbrauchen, zur Förderung Ausdruck, daß er niemals »zuschanden«
einer Denomination oder zur Verteidi- werden würde, sondern daß er immer
gung anderer Christen. ein furchtloser und freimütiger Zeuge
Hier haben wir ein gutes Beispiel für Christi bleiben würde.
die Notwendigkeit, daß unsere Liebe in Und ganz gleich, wie seine Gerichts-
Weisheit und mit Urteilsvermögen geübt verhandlung ausgehen mochte – ob er
werden soll. freigelassen würde oder sterben müßte –
1,18.19 Paulus weigert sich, sich von sein Ziel war es, »daß … Christus an« sei-
den verkehrten Motiven einiger nieder- nem »Leib groß gemacht werden« sollte.
drücken zu lassen. »Christus« wird von »Groß machen« bedeutet hier nicht, daß
beiden Gruppen »verkündigt«, und das Christus etwa größer gemacht werden
ist für ihn ein großer Grund zur Freude. könnte. Er ist schon groß, und nichts,
Es ist bemerkenswert, daß Paulus was wir tun können, kann zu seiner
sich unter solchen Umständen nicht Größe beitragen. »Groß machen« bedeu-
selbst bedauert oder das Mitgefühl ande- tet hier, daß Christus von anderen

955
Philipper 1

geschätzt und verehrt wird. Guy King Erde in seinem Dienst zu bleiben, den er
zeigt, wie Christus in unserem Leben auch sehr liebte. Er wußte nicht, was er
durch unsere Leiber »groß gemacht« »erwählen« würde.
werden kann. 1,23 »Von beidem bedrängt« werden
Er wird groß gemacht durch Lippen, die bedeutet, eine schwierige Entscheidung
fröhlich Zeugnis von ihm ablegen, durch zwischen beiden Möglichkeiten treffen
Hände, die in seinem frohen Dienst beschäf- zu müssen – der, in den Himmel heimzu-
tigt sind, durch Füße, die nur allzu froh sind, gehen, und der, als Apostel Jesu Christi
seine Sache zu fördern, durch Knie, die freu- auf Erden zu bleiben.
dig im Gebet gebeugt werden, durch Schul- Er sehnte sich sehr danach, »abzu-
tern, die fröhlich die Lasten des anderen tra- scheiden und bei Christus zu sein, denn
7)
gen. es ist weit besser«. Wenn er nur seine
Christus kann auch an unseren Lei- eigenen Interessen im Auge gehabt hätte,
bern »durch Tod« verherrlicht wer- dann wäre zweifellos diese Möglichkeit
den – Leiber, die in seinem Dienst ver- seine Wahl gewesen.
schlissen werden, Leiber, die von Steinen Man beachte hier, daß Paulus nicht an
getötet oder auf dem Scheiterhaufen ver- eine Theorie eines Seelenschlafes glaubte.
brannt werden. Er war der Ansicht, daß der Christ bei sei-
1,21 Hier haben wir die Lebensphilo- nem Tod hingeht, um »bei Christus zu
sophie des Paulus in der Nußschale. Er sein«, und daß er bewußt die Gegenwart
lebte nicht für Geld, Ruhm oder für sein des Herrn genießt. Wie lächerlich wäre es,
Vergnügen, sondern Ziel seines Lebens wenn er behaupten würde, wie es einige
war es, den Herrn Jesus zu lieben, zu heute tun: »Leben ist Christus und schla-
ehren und ihm zu dienen. Er wollte, daß fen ist Gewinn« oder »abscheiden und
sein Leben dem Christi gleich wurde. Er schlafen ist weit besser«. »Schlafen« wird
wollte, daß der Erlöser in seinem Leben im NT im Zusammenhang mit dem Leib
sichtbar die Führung hatte. des Gläubigen zur Zeit seines Todes ver-
»Und das Sterben … ist … Gewinn.« wendet (1. Thess 4,14), niemals aber im
Sterben heißt, bei Christus und für Zusammenhang mit seiner Seele. Der so-
immer ihm gleich zu sein. Es bedeutet, genannte »Seelenschlaf« ist ein Mythos.
ihm mit sündlosem Herzen und mit Man beachte auch, daß Tod nicht mit
Füßen zu dienen, die niemals vom Weg dem Kommen Christi zu verwechseln ist.
abweichen. Wir glauben normalerweise Wenn wir sterben, dann gehen wir, um
nicht, daß der Tod für uns ein Gewinn »bei Christus zu sein«. Zur Zeit der Ent-
sein könnte. Es ist traurig, das sagen zu rückung kommt er uns dann entgegen.
müssen, aber heute scheint zu gelten: 1,24 »Um« der Philipper willen war
»Leben ist irdischer Gewinn, und Ster- es für Paulus »nötiger«, auf der Erde wei-
ben würde das Ende dieses Gewinnes terzuleben. Man kann nicht anders, als
bedeuten.« Doch, sagt Jowett, »für den sich von der Selbstlosigkeit dieses
Apostel war der Tod kein dunkler Tun- großartigen Mannes beeindrucken zu
nel, in dem all unsere Schätze ganz lassen. Er denkt nicht an seine eigene
schnell verderben, sondern der Ort eines Bequemlichkeit oder sein Wohlergehen,
gnädigen Überganges, ein ›überdachter sondern an das, was dem Anliegen Chri-
8)
Weg, der zum Licht führt‹«. sti und dem Wohlergehen des Volkes
1,22 »Wenn« es Gottes Wille für Pau- Gottes am meisten dient.
lus wäre, daß er noch länger »im Fleisch« 1,25 »Im Vertrauen hierauf« – darauf,
leben sollte, dann würde das fruchtvolle daß er auf Erden noch zur Unterwei-
»Arbeit« bedeuten. Paulus wird weiter in sung, Tröstung und Ermutigung der Hei-
der Lage sein, dem Volk Gottes zu helfen. ligen gebraucht wurde – wußte Paulus,
Doch war es für ihn eine schwere Ent- daß er zu diesem Zeitpunkt noch nicht
scheidung – ob er heimgehen sollte zu getötet werden würde. Woher wußte er
seinem Erlöser, den er liebte, oder auf der das? Wir sind der Ansicht, daß er in so

956
Philipper 1

enger Gemeinschaft mit Gott lebte, daß 1,28 Auch sollten sie sich von den
der Heilige Geist ihm dieses Wissen Feinden des Evangeliums nicht »er-
übermitteln konnte. »Der Herr zieht ins schrecken« lassen. Furchtlosigkeit ange-
Vertrauen, die ihn fürchten« (Ps 25,14). sichts der Verfolgung hat eine doppelte
Diejenigen Menschen, die ganz tief in Bedeutung. Erstens ist sie ein Vorzeichen
Gott ruhen, die still über seine Wege der Verdammnis für diejenigen, die
nachsinnen, hören Geheimnisse, die gegen Gott kämpfen. Zweitens ist sie ein
durch den Lärm, die Eile und die Unruhe Zeichen des »Heils« für diejenigen, die
unseres heutigen Lebens übertönt wer- angesichts des Zornes ihrer Feinde Mut
den. Wir müssen Gott nahe sein, um ihn bewahren. »Heil« wird hier wohl in sei-
hören zu können. Und Paulus war ihm nem zukünftigen Sinne benutzt, und
nahe. bezieht sich auf die endgültige Befreiung
Indem er im Fleisch blieb, würde Pau- der Heiligen von der Versuchung und
lus in der Lage sein, die Philipper geist- auf die Erlösung ihres Leibes, ihrer Seele
lich zu fördern und ihre geistliche »Freu- und ihres Geistes.
de« zu vermehren, die sie durch ihr Ver- 1,29 Die Philipper sollten sich daran
trauen auf den Herrn gewonnen hatten. erinnern, daß es sowohl ein Vorrecht ist,
1,26 Dadurch, daß er für ein längeres für »Christus … zu leiden« als auch »an
Leben und längeren Dienst auf Erden ihn zu glauben«.
verschont würde, würden die Philipper Dr. Griffith John schrieb einmal, daß
weiteren Grund zur Freude im Herrn er, als er von einer feindlichen heidni-
haben, wenn er sie nochmals besuchen schen Menge umringt und geschlagen
könnte. Man kann sich deutlich vorstel- wurde, seine Hand vor das Gesicht
len, wie sie ihn umarmen und küssen schlug, und als er sie wieder wegnahm,
würden, und mit großer Freude den sie mit Blut bedeckt war. »Er hatte das
Herrn loben würden, wenn er in Philippi Gefühl außerordentlicher Erhebung, und
ankäme. Vielleicht würden sie sagen: freute sich, daß er für wert erachtet wor-
»Nun Paulus, wir haben für dich gebetet, den war, um seines Namens willen zu
aber wir haben nie erwartet, dich hier leiden.« Ist es nicht bemerkenswert, daß
wiederzusehen. Doch nun wollen wir im Christentum selbst das Leiden zu
den Herrn loben, daß er dich uns noch solch einen erhabenen Plan erhoben
einmal geschenkt hat!« wird? Wirklich, auch eine »scheinbare
1,27 Nun fügt Paulus eine Warnung Kleinigkeit brennt mit dem Feuer des
hinzu: »Wandelt nur würdig des Evange- Unsterblichen, wenn es in Übereinstim-
liums des Christus.« Christen sollten mung mit dem Unendlichen steht«. Das
christusähnlich sein. Bürger des Him- Kreuz adelt und zeichnet aus.
mels sollten sich entsprechend verhalten. 1,30 Die Verbindung dieses Verses
Wir sollten unserer Stellung gemäß zum vorhergehenden versteht man bes-
leben. ser, wenn man die Worte etwas ergänzt:
Zusätzlich zu dieser Bitte um Konse- Das Vorrecht, für Christus zu leiden, ist
quenz bittet Paulus die Philipper auch euch gewährt worden, weil ihr in demselben
um Standhaftigkeit. Insbesondere möch- Kampf steht, wie ihr ihn an mir gesehen habt,
te er, wenn er Berichte über sie hört, daß als ich in Philippi war, und jetzt von mir
sie, »ob« er nun kommt »oder abwe- hört, daß ich immer noch darin engagiert bin.
send« ist, sie »fest« in einem gemeinsa-
men Geist stehen, und gemeinsam ernst- III. Ermahnung zur Einheit aufgrund
lich »für den Glauben des Evangeliums« des Vorbildes Christi an Demut
arbeiten sehen, d. h. für den christlichen und Aufopferung (2,1-16)
Glauben. Christen stehen einem gemein- Obwohl die Gemeinde in Philippi in vie-
samen Feind gegenüber, sie sollten nicht ler Hinsicht vorbildlich war und Paulus
gegeneinander kämpfen, sondern sich Grund hatte, die Heiligen dort zu emp-
gegen den Feind verbünden. fehlen, gab es doch im Hintergrund Strei-

957
Philipper 1 und 2

tereien. Es gab Meinungsverschiedenhei- und handeln? Das Wort Gottes deutet


ten zwischen zwei Frauen, Evodia und das nirgends an. Während von uns aus-
Syntyche (4,2). Es ist hilfreich, sich dies drücklich erwartet wird, in den grundle-
zu vergegenwärtigen, weil der Apostel genden Wahrheiten des Christentums
in Kapitel 2 direkt auf den Grund und die übereinzustimmen, ist es doch offen-
Hilfe für Streitereien im Volk Gottes ein- sichtlich, daß man über weniger wichti-
geht. gen Fragen zu einer großen Breite an
2,1 Das »wenn« in diesem Vers bein- Meinungen kommen wird. Gleichheit
haltet keinen Zweifel, sondern ist die und Einheit sind zweierlei. Es ist möglich,
Einleitung eines Arguments. Dieser Vers die erstere ohne die zweite zu erreichen.
führt vier große Überlegungen auf, die Obwohl wir in weniger wichtigen Ange-
die Gläubigen in Harmonie und Koope- legenheiten nicht übereinstimmen, kön-
ration zusammenführen sollte. Der Apo- nen wir doch um unserer Geschwister
stel sagt praktisch: »Weil es nun so viel willen unsere eigene Meinung beiseite
Ermunterung in Christus gibt, weil seine stellen, wenn keine Glaubensgrundlagen
Liebe so überzeugend ist, weil der Heili- gefährdet sind.
ge Geist uns alle in solch wundervoller »Dieselbe Gesinnung« haben bedeu-
Gemeinschaft zusammenführt und weil tet in Wirklichkeit, wie Christus gesinnt
es soviel herzliches Mitleid und Erbar- zu sein, und zu reagieren, wie er reagiert
men gibt, wollten wir in der Lage sein, in hätte. »Dieselbe Liebe« haben bedeutet,
froher Harmonie miteinander zu leben.« anderen »dieselbe Liebe« zu erzeigen,
F. B. Meyer beschreibt diese vier wie sie uns der Herr erzeigt hat, eine Lie-
Motive folgendermaßen: be nämlich, die keinerlei Kosten scheut.
1. Die Überzeugungskraft durch Christus, »Einmütig« sein bedeutet in Harmonie
2. die liebevolle Fürsorge, die die Liebe auf ein gemeinsames Ziel hinzuarbeiten.
schenkt, Und »eines Sinnes« sein bedeutet, so ein-
3. der gemeinsame Heilige Geist, mütig zu handeln, daß deutlich wird,
9)
4. Menschlichkeit und Einfühlsamkeit. daß Christus unsere Aktivitäten leitet.
Es ist eindeutig, daß der Apostel hier 2,3 »Nichts«, was wir tun, sollte »aus
seinen Appell zur Einheit aufgrund der Eigennutz oder eitler Ruhmsucht« getan
gemeinsamen Hingabe an Christus und werden, weil diese beiden die größten
dem gemeinsamen Heiligen Geist erge- Feinde der Einigkeit unter dem Volk Got-
hen läßt. Mit allem, was wir in »Chri- tes sind. »Eigennutz« ist das Bestreben,
stus« finden, sollten die Glieder seines immer an erster Stelle zu stehen, ganz
Leibes zur Einheit des Ziels, der Liebe, gleich, was es kosten mag. »Eitle Ruhm-
der Zuneigung und Übereinstimmung sucht« spricht von Stolz und übertriebe-
finden können. ner Selbstdarstellung. Wann immer man
2,2 Wenn die vorangegangenen Argu- Leute findet, die daran interessiert sind,
mente für die Philipper auch nur die ge- ein Grüppchen um sich selbst zu sam-
ringste Bedeutung haben, dann bittet meln oder nur ihre eigenen Interessen zu
Paulus, daß sie aufgrund dieser Argu- fördern, wird man die Saat von Streitig-
mente seine »Freude erfüllen« möchten. keiten und Zwietracht finden. Die Lö-
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Phi- sung des Problems wird im zweiten Teil
lipper Paulus wirklich Freude bereitet. Er des Verses angegeben. »Sondern daß in
streitet das nicht einen Augenblick ab, der Demut einer den anderen höher ach-
doch er bittet nun darum, daß sie seinen tet als sich selbst.« Das bedeutet nicht,
Kelch der Freude bis zum Überfließen fül- daß wir der Ansicht sein müßten, daß
len. Das könnten sie tun, indem sie »die- Kriminelle charakterlich besser dastün-
selbe Gesinnung und dieselbe Liebe« hät- den als wir selbst, sondern eher, daß wir
ten und »einmütig, eines Sinnes« wären. ohne Selbstsucht für andere leben und
Bedeutet das, daß von Christen er- ihre Interessen über die eigenen stellen
wartet wird, daß sie alle gleich denken sollten. Es ist leicht, eine solche Ermah-

958
Philipper 2

nung im Worte Gottes zu lesen, doch wäre ihm unmöglich, dies aufzugeben.
ganz etwas anderes, wirklich zu verste- Doch in seiner Stellung blieb er nicht
hen, was hier gemeint ist, und es dann Gott gleich. Von aller Ewigkeit her hatte
auch in die Praxis umzusetzen. Den »an- er die gleiche Stellung wie sein Vater
deren höher achten als sich selbst« ist und erfreute sich der Herrlichkeit des
dem menschlichen Wesen außerordent- Himmels. Doch er »achtete« diese Stel-
lich fremd, und wir schaffen es nicht, aus lung nicht als etwas, das er unter allen
eigener Kraft entsprechend zu handeln. Umständen hätte festhalten müssen. Als
Nur weil wir den Heiligen Geist haben es darum ging, eine verlorene Mensch-
und von ihm unsere Kraft empfangen, heit zu erretten, war er gewillt, seine
können wir entsprechend leben. stellungsmäßige Gleichheit zu »Gott«
2,4 Die Lösung für Konflikte im Volk aufzugeben – die Freude und Bequem-
Gottes ist es, sich mehr »auf das der lichkeit des Himmels. Er war nicht der
anderen« als auf das »seine« zu konzen- Ansicht, daß diese etwas seien, das er für
trieren. Diese Worte sind auf ganz kon- immer und unter allen Umständen fest-
krete Weise der Schlüssel zu diesem zuhalten hätte.
Kapitel. Wenn wir unser Leben im hinge- Auf diese Weise wurde er willig, in
gebenen Dienst für andere führen, dann diese Welt zu kommen, um den Wider-
erheben wir uns über die selbstsüchtigen stand der Sünder gegen sich selbst zu
Streitereien der Menschen. ertragen. Gott der Vater wurde nie ange-
Andere, Herr, ja, andere! spuckt, geschlagen oder gekreuzigt. In
Laß das mein einziges Motto sein; diesem Sinne war der Vater höher als der
Hilf mir, für andere zu leben, Sohn – nicht als Person, sondern in sei-
damit ich lebe wie du. ner Stellung und in seiner Daseinsweise.
Charles D. Meigs Jesus drückt das in Johannes 14,28 aus:
2,5 »Diese Gesinnung sei in euch, die »Wenn ihr mich liebtet, so würdet ihr
auch in Christus Jesus war.« Paulus weist euch freuen, daß ich zum Vater gehe,
die Philipper nun auf das Vorbild des denn der Vater ist größer als ich.« Mit
Herrn Jesus Christus hin. Welche Hal- anderen Worten, die Jünger hätten sich
tung hatte er? Was war für sein Verhalten freuen sollen, daß er in den Himmel
anderen gegenüber kennzeichnend? Guy heimgehen würde. Als er auf Erden war,
King hat die Gesinnung Christi treffend wurde er gequält und abgelehnt. Er be-
beschrieben: 1. Selbstlosigkeit, 2. Opfer- fand sich in niedrigeren Umständen als
wille und 3. Dienstwille. Der Herr dach- sein Vater. In diesem Sinne war sein Vater
10)
te ständig an andere. größer. Doch als er in den Himmel zu-
Er hatte keine Tränen für seine eigenen rückkehrte, war er wieder sowohl von
Probleme, den Umständen her als auch von seiner
sondern schwitzte Blut für meine. Person her dem Vater gleich.
Charles H. Gabriel Gifford erklärt:
2,6 Wenn wir lesen, daß Christus »in So geht es hier nicht um die Natur oder
Gestalt Gottes war«, dann erfahren wir das Wesen … sondern um die Art der Exi-
hier, daß er vor aller Ewigkeit schon Gott stenz, die in diesem zweiten Halbsatz be-
war. Es bedeutet nicht einfach, daß er schrieben wird [»achtete es nicht für einen
Gott glich, sondern daß er im wahrsten Raub, Gott gleich zu sein«]; und eine Art der
Sinne des Wortes Gott war. Existenz kann gegen eine andere ausge-
Doch er »achtete … es nicht für einen tauscht werden, wenn auch das Wesen selbst
Raub …, Gott gleich zu sein«. Hier ist es nicht veränderbar ist. Wir sollten auf Paulus’
ausgesprochen wichtig, zwischen der eigenes Bild aus 2. Korinther 8,9 zurückgrei-
stellungsmäßigen und der persönlichen fen: »Er, da er reich war, wurde um euretwil-
Gleichheit mit Gott zu unterscheiden. len arm, damit ihr durch seine Armut reich
Als Person war Christus immer, ist er werdet.« In beiden Fällen geht es hier um eine
und wird er immer Gott gleich sein. Es Art der Existenz, nicht des Wesens. Wenn

959
Philipper 2

ein Armer reich wird, so wird die Art seiner uns seine wundervolle Liebe, indem er wie-
Existenz verändert, nicht jedoch sein Wesen derbrachte, was er nie genommen hatte.
als Mensch. Genauso ist es mit dem Sohn Wie schon vorher erwähnt, muß man
Gottes: Er stieg aus seiner reichen und herr- sehr vorsichtig sein, wenn man die Wor-
lichen Art der Existenz, die die rechte und te »er machte sich selbst zu nichts« er-
passende Verwirklichung seiner göttlichen klären möchte. Die sicherste Methode
Natur war, um unseretwillen hinab, und besteht darin, die Erklärung den darauf
zwar in eine bezüglich seines irdischen folgenden Beschreibungen zu entneh-
Lebens unendlich niedrigere und ärmere Art men. Er entleerte sich selbst, indem er
der Existenz, die er zusammen mit seinem »Knechtsgestalt« annahm und »den
11)
menschlichen Leib annahm. Menschen gleich geworden ist«. Mit an-
2,7 »Aber er machte sich selbst zu deren Worten, er entleerte sich, indem er
nichts.« Die wörtliche Übersetzung lau- etwas auf sich nahm, das er noch nie vor-
tet: »Er leerte sich aus.« Sofort erhebt sich her erlebt hatte – die Menschlichkeit. Er
die Frage: »Von was hat sich der Herr legte dabei seine Göttlichkeit nicht bei-
Jesus geleert?« seite, er verließ nur seine Stellung im
Wenn wir versuchen, diese Frage zu Himmel, und das auch nur zeitweilig.
beantworten, müssen wir äußerst vor- Wenn er nur ein Mensch gewesen
sichtig sein. Menschliche Versuche, dieses wäre, dann wäre das keine Handlung
»Leeren« zu definieren, hat ihn oft seiner gewesen, die ihn »entleerte«. Wir ma-
göttlichen Attribute beraubt. Einige sagen chen uns nicht selbst »zu nichts«, wenn
z. B., daß der Herr Jesus, als er auf der wir in diese Welt hineingeboren werden.
Erde war, nicht länger allwissend oder all- Doch wenn Gott Mensch wird, dann
mächtig war. Er war nicht länger allge- »entleert« er sich selbst. Es ist sogar so,
genwärtig. Sie sagen, daß er freiwillig die- daß nur Gott das tun konnte.
se Eigenschaften der Gottheit ablegte, als »Er … nahm Knechtsgestalt an.« Die
er als Mensch in die Welt kam. Einige Menschwerdung und das Leben des Hei-
sagen sogar, daß er den Beschränkungen landes könnte man durch die wunder-
aller Menschen unterlegen gewesen wäre, schönen Worte in Johannes 13,4 zusam-
daß er z. B. Irrtümern anheim fallen konn- menfassen: »Jesus … legt die Oberkleider
te und die allgemeinen Auffassungen und ab; und er nahm ein leinenes Tuch und
Mythen seiner Tage übernahm! umgürtete sich.« Das Tuch (oder die
Doch das bestreiten wir ausdrücklich. Schürze) ist ein Zeichen des Dienstes. Sie
Der Herr Jesus legte die Eigenschaften wurde von Sklaven benutzt. Und sie
der Gottheit nicht beiseite, als er in die wurde von unserem Herrn Jesus benutzt,
Welt kam. weil er nicht kam, »um bedient zu wer-
Er war noch immer allwissend. den, sondern um zu dienen und sein
Er war noch immer allgegenwärtig. Leben zu geben als Lösegeld für viele«
Er war noch immer allmächtig. (Matth 20,28). Doch sollten wir hier an-
Was er jedoch tat, war seine stellungs- halten und uns an den Gedankengang
mäßige Gleichheit mit Gott aufzugeben und dieses Abschnittes erinnern. Es gab Streit
die Herrlichkeit der Gottheit in einem zwischen den Heiligen in Philippi. Pau-
menschlichen Körper zu verhüllen. Die lus ermahnt sie, wie Christus gesinnt zu
Herrlichkeit war da, doch verborgen. Sie sein. Das Argument lautet, kurz gesagt,
schimmerte bei gewissen Begebenheiten daß wenn Christen bereit sind, den unte-
durch, so etwa bei der Verklärung. Es gab ren Weg zu gehen, anderen zu dienen
keinen Augenblick in seinem irdischen und ihr Leben als Opfer hinzugeben, es
Leben, in dem er nicht alle Eigenschaften keine Streitereien geben wird. Menschen,
der Gottheit besessen hätte. die bereit sind, für andere zu sterben, streiten
Er warf sein göttliches Gewand beiseite normalerweise nicht mit ihnen.
und verhüllte seine Gottheit in einem Schlei- Christus hat schon immer existiert,
er aus Erde, und in diesem Gewand zeigte er doch er kam in die Welt »der Gestalt nach

960
Philipper 2

wie ein Mensch erfunden«, was etwa erniedrigte, »hat Gott ihn auch hoch
heißt: »als wirklicher Mensch.« Die erhoben«. Als er selbst keinen Namen für
Menschheit des Herrn ist genauso real sich suchte, »hat Gott … ihm den Namen
wie seine Göttlichkeit. Er ist wahrer Gott verliehen, der über jedem Namen ist«.
und wahrer Mensch. Doch welch ein Als er seine Knie im Dienst an anderen
Geheimnis ist das! Kein erschaffener beugte, hat Gott bestimmt, daß »jedes
Geist wird je in der Lage sein, das zu ver- Knie« sich vor ihm »beugen« muß.
stehen. Und welche Lektion enthält das für
2,8 Jeder Teilsatz dieses Abschnittes die Philipper – und für uns? Die Lektion
beschreibt die nächsten Schritte der De- lautet, daß der Weg nach oben zuerst
mütigung des geliebten Sohnes Gottes. nach unten führt. Wir sollten nicht uns
Er war nicht nur bereit, die Herrlichkeit selbst erhöhen, sondern Diener der ande-
des Himmels zu verlassen. Er leerte sich ren sein, damit uns Gott zu seiner Zeit
auch selbst! Er nahm Knechtsgestalt an! erhöhen kann.
Er wurde Mensch! Doch nun lesen wir, Gott erhöhte Christus, indem er ihn
daß er »sich selbst … erniedrigte«! Es gab von den Toten auferweckte und den Him-
keine Tiefe, zu der er sich nicht hinabließ, mel öffnete, um ihn zurück zu seiner
um unsere schuldigen Seelen zu erlösen. Rechten zu empfangen. Und nicht nur
Gelobt sei sein herrlicher Name in das, sondern »Gott hat … ihm den Namen
Ewigkeit! verliehen, der über jedem Namen ist«.
Er »erniedrigte … sich selbst«, indem Die Ausleger sind geteilter Meinung,
er »gehorsam bis zum Tod« wurde. Das welcher Name hier gemeint ist. Einige
ist wirklich ein Wunder vor unseren sagen, es sei der Name Jesus, der den
Augen! Er gehorchte, auch wenn ihn das Gottesnamen Jahwe enthält. In Jesaja
das Leben kosten mochte. »Gehorsam bis 45,22.23 wird bestimmt, daß sich jedes
zum Tod« bedeutet, daß er bis ans Ende Knie im Namen Jahwes (Gottes) beugen
gehorsam war. Er war der wirkliche wird.
Kaufmann, der hinging und alles ver- Andere Ausleger sind der Ansicht,
kaufte, was er hatte, um die Perle zu daß der »Name, der über alle Namen ist«
einem großen Preis zu erwerben einfach ein bildlicher Ausdruck dafür ist,
(Matth 13,46). daß ihm die höchste Stellung im Univer-
»Ja, zum Tod am Kreuz.« »Tod« sum gegeben ist, eine Stellung der Herr-
durch Kreuzigung war die schmachvoll- schaft und der Überlegenheit. Beide
ste Hinrichtungsart. Man kann sie mit Erklärungen sind annehmbar.
dem Galgen, dem elektrischen Stuhl 2,10 Gott war so vollständig mit dem
oder der Gaskammer vergleichen – nur Erlösungswerk Christi zufrieden, daß er
für Mörder bestimmt. Und diese Art des bestimmte, daß sich »jedes Knie« vor
Todes stand dem Besten des Himmels ihm »beuge« – und zwar die Knie der
bevor, als er in diese Welt kam. Es wurde »Himmlischen und Irdischen und Unter-
ihm nicht gestattet, eines natürlichen irdischen«. Das bedeutet nicht, daß alle
Todes im Bett zu sterben. Er sollte auch diese Wesen errettet werden. Diejenigen,
nicht durch einen Unfall umkommen. Er die ihre Knie nicht willentlich vor ihm
mußte den schmachvollen »Tod am beugen, werden eines Tages dazu ge-
Kreuz« erleiden. zwungen werden. Diejenigen, die sich
2,9 Nun sehen wir hier einen plötzli- nicht am Tag der Gnade mit ihm versöh-
chen Wechsel. Die vorhergehenden Verse nen lassen, werden am Tage des Gerich-
beschreiben, was der Herr Jesus tat. Er tes gebeugt werden.
nahm den Pfad der Selbstverleugnung 2,11 In unvergleichlicher Liebe reiste
an. Er wollte sich nicht selbst einen der Herr aus der Herrlichkeit nach
Namen machen. Er demütigte sich selbst. Bethlehem, nach Gethsemane und nach
Doch nun überlegen wir, was Gott Golgatha. Gott dagegen wird ihn mit
getan hat. Als der Heiland sich selbst ewiger Ehre bedenken und ihn von allen

961
Philipper 2

als Herrn anerkennen lassen. Diejenigen, 2. Mit »Heil« könnte hier die Lösung
die seinen Anspruch leugnen, werden der Probleme in Philippi gemeint
eines Tages zugeben müssen, daß sie sein. Sie waren von Zank und Streit
Narren waren, daß sie sich fürchterlich geplagt. Der Apostel hat ihnen die
geirrt haben und daß Jesus von Nazareth Hilfe dafür gegeben. Nun sollen sie
tatsächlich der Herr der Herrlichkeit ist. diese Hilfe anwenden, indem sie wie
Ehe wir diesen wunderbaren Ab- Christus gesinnt sind. Sie sollten so
schnitt über die Person und das Werk des ihr eigenes »Heil … bewirken«, d. h.
Herrn Jesus verlassen, sollten wir wie- ihr Problem lösen.
derholen, daß er im Zusammenhang mit Das »Heil«, von dem hier die Rede
einem kleinen Problem in Philippi ent- ist, ist nicht das Seelenheil, sondern Be-
standen ist. Paulus setzte sich nicht hin, freiung von den Fallstricken, die die
um eine Abhandlung über den Herrn zu Christen daran hindern wollten, den Wil-
schreiben. Er wollte einfach nur die len Gottes zu tun. In ähnlichem Sinne
Selbstsucht und den Parteigeist der Hei- beschreibt Vine es als »die völlige, gegen-
ligen korrigieren. Die Heilung für ihren wärtige Erfahrung der Befreiung vom
Zustand ist die Gesinnung Christi. Pau- Bösen«.
lus bringt den Herrn in jede Situation ein. Heil hat viele verschiedene Bedeutun-
»Sogar, wenn er höchst delikate, ge- gen im NT. Wir haben schon bemerkt,
schmacklose und verzweifelte Angele- daß es in 1,19 die Befreiung aus dem
genheiten behandelt«, schreibt Erdman, Gefängnis bedeutet. In 1,28 ist damit die
»ist er in der Lage, die Wahrheit auf solch endgültige Erlösung unserer Leiber von
wunderschöne Weise darzustellen, daß der Gegenwart der Sünde gemeint. Die
sie wie ein wertvoller Edelstein in einem Bedeutung in jedem einzelnen Fall muß,
12)
Bett aus Erde erscheint.« zumindest teilweise, durch den Kontext
2,12 Nachdem er das Beispiel Christi bestimmt werden. Wir glauben, daß in
so brillant dargestellt hat, ist der Apostel diesem Abschnitt »Heil« die Lösung der
nun bereit, die Ermahnung anzubringen, Probleme der Philipper bedeutet, d. h.
die darauf aufbaut. die Befreiung von Streitereien.
Die Philipper waren Paulus »allezeit 2,13 Nun erinnert Paulus die Philip-
gehorsam gewesen«, wenn Paulus bei per daran, daß es für sie möglich ist, ihr
ihnen war. Nun, in seiner »Abwesenheit« Heil zu bewirken, weil es »Gott ist, … der
sollten sie »noch viel mehr« ihr »Heil mit in euch wirkt sowohl das Wollen als auch
Furcht und Zittern« bewirken. das Wirken zu [seinem] Wohlgefallen«.
Und wieder haben wir hier eine Das bedeutet, daß es »Gott« ist, der zuerst
Schriftstelle, über die viel Verwirrung in uns den Wunsch oder das Verlangen
herrscht. Zu Beginn sollten wir uns ein- legt. Dann bewirkt er in uns auch noch
deutig klar machen, daß Paulus nicht die Macht, diesen Wunsch zu erfüllen.
lehrt, daß die Erlösung durch Werke ver- Hier haben wir wieder die wunder-
dient werden kann. In allen seinen bare Vermengung des Göttlichen mit
Schriften betont er immer wieder, daß dem Menschlichen. In einer Hinsicht
die Erlösung nicht durch Werke, sondern sind wir aufgerufen, unsere Erlösung zu
aus dem Glauben an den Herrn Jesus bewirken. In anderer Hinsicht kann uns
Christus kommt. Was jedoch bedeutet nur Gott dazu befähigen, dies zu tun. Wir
dann dieser Vers? müssen unser Teil dazutun, und Gott
1. Er könnte bedeuten, daß wir die Erlö- wird seinen Teil dazutun. (Doch betrifft
sung, die Gott uns geschenkt hat, aus- dies nicht die Vergebung der Sünden
leben sollen. Gott hat uns das ewige oder die Wiedergeburt. Die Erlösung ist
Leben als kostenloses Geschenk gege- vollkommen ein Werk Gottes. Wir glau-
ben. Wir sollen es ausleben, indem ben einfach nur und erhalten sie.)
wir ein praktisches Heiligungsleben 2,14 Wenn wir zu seinem Wohlgefal-
führen. len handeln, dann sollten wir dies ohne

962
Philipper 2

Murren oder Hinterfragen tun: »Nicht IV. Das christusähnliche Vorbild


irgendwie, sondern siegreich.« Murren von Paulus, Timotheus und
und Zweifel führen oft zu noch schlim- Epaphroditus (2,17-30)
meren Vergehungen. Im vorhergehenden Abschnitt hat Paulus
2,15 Indem wir uns von Beschwerden den Herrn Jesus als das Beispiel für
und Streitgesprächen fernhalten, können Demut vorgestellt. Doch einige mögen
wir »tadellos und lauter« sein (ehrlich nun versucht sein zu sagen: »Ja, aber er
und schuldlos). »Tadellos« sein bedeutet, war schließlich Gott, und wir sind nur
daß man gegen jemanden keine Anklage sterbliche Menschen.« Deshalb zeigt
erheben kann (s. Dan 6,4). Ein »tadello- Paulus nun drei Beispiele für Menschen,
ser« Mensch kann sündigen, doch er ent- die sich die Gesinnung Christi zu eigen
schuldigt sich, bekennt seine Sünde und gemacht haben – sich selbst, Timotheus
leistet, wann immer möglich, Wiedergut- und Epaphroditus. Wenn Christus die
machung. »Lauter« sein heißt hier ehr- Sonne ist, dann sind diese drei wie Mon-
lich zu sein und ohne Hintersinn zu han- de, die die Herrlichkeit der Sonne wider-
deln. spiegeln. Sie sind Lichter in einer finste-
»Kinder Gottes« sollten »unbeschol- ren Welt.
ten« sein »inmitten eines verdrehten und 2,17 Der Apostel benutzt ein sehr
verkehrten Geschlechts«. Indem sie schönes Bild, um seinen eigenen und den
tadellos leben, werden Kinder Gottes Dienst der Philipper zu beschreiben. Er
sich noch deutlicher vor dem finsteren entlehnt dieses Bild aus der allgemeinen
Hintergrund dieser Welt abheben. Praxis sowohl der Juden als auch der
Das führt dazu, daß Paulus daran Heiden, ein »Trankopfer« zu einem
denkt, daß die Christen »Himmelslich- Opfer dazuzugeben.
ter« in einer finsteren Nacht sind. Je fin- Er spricht hier die Philipper als die
sterer die Nacht, desto heller erscheint Opfernden an. Ihr »Glaube« ist das
das Licht. Christen sind Himmelslichter Opfer. Paulus selbst ist das »Trankopfer«.
oder Lichtträger. Sie können kein Licht Er ist froh, wenn er »als Trankopfer«
schaffen, aber sie reflektieren die Herr- (d. h. als Märtyrer) »über das Opfer und
lichkeit des Herrn, so daß andere Jesus in den Dienst« ihres »Glaubens gesprengt«
ihnen sehen können. wird.
2,16 »Indem ihr das Wort des Lebens Williams kommentiert:
festhaltet.« Wir scheinen als Lichter, doch Der Apostel vergleicht die Selbstaufopfe-
das entbindet uns nicht von unserem rung und die Energie der Philipper mit seiner
Zeugnis mit dem Mund. Wir sollten das eigenen. Dabei erhöht er ihre Selbstaufopfe-
doppelte Zeugnis des Lebens und der rung und erniedrigt seine eigene. Beide
Lippen geben. gaben ihr Leben um des Evangeliums willen
Wenn die Philipper diese Funktionen hin, doch er sieht ihr Handeln als das große
erfüllen würden, weiß der Apostel, daß Opfer an, und er ist nur das Trankopfer, das
er am »Tag Christi … Grund zum Rüh- noch darüber gegossen wird. Mit diesem
men« hat. Er fühlt sich nicht nur dafür wunderschönen sprachlichen Bild spielt er
13)
verantwortlich, daß Seelen errettet wer- auf seinen möglichen Märtyrertod an.
den, sondern auch, »jeden Menschen Wenn das sein Schicksal sein sollte,
vollkommen in Christus darzustellen« dann würde er sich darüber freuen.
(Kol 1,28). 2,18 »Ebenso« sollten sich auch die
»Der Tag Christi« ist die Zeit seiner Philipper mit Paulus freuen. Sie sollten
Wiederkunft und des Gerichtes über den seinen möglichen Märtyrertod nicht als
Dienst der Gläubigen (1,6.10). Wenn die Tragödie sehen, sondern ihn zu einem
Philipper treu in ihrer Arbeit für den solch herrlichen Heimgang gratulieren.
Herrn sind, wird es an diesem Tage 2,19 Bis hierher hat Paulus zwei Bei-
offensichtlich, daß der Dienst des Paulus spiele sich selbst aufopfernder Liebe ge-
nicht »vergeblich« gewesen ist. nannt – den Herrn Jesus und sich selbst.

963
Philipper 2

Beide waren gewillt, ihr Leben in den Paulus nennt ihn 1. »meinen Bruder«,
Tod zu geben. Es bleiben noch zwei wei- 2. meinen »Mitarbeiter« und 3. meinen
tere Beispiele der Selbstlosigkeit, näm- »Mitstreiter«. Der erste Titel drückt seine
lich »Timotheus« und Epaphroditus. Zuneigung aus, der zweite die Anerken-
Der Apostel hofft, »Timotheus bald« nung seiner harten Arbeit und der dritte
zu ihnen nach Philippi »zu senden«, die Gemeinschaft im Kampf für das
damit er durch neue Nachrichten von Evangelium. Er war jemand, der mit an-
ihnen ermutigt würde. deren zusammenarbeiten konnte, und
2,20 Unter den Gefährten des Paulus das ist im christlichen Leben und Dienst
war Timotheus einzigartig in seiner sicherlich eine wichtige Voraussetzung.
selbstlosen Sorge um den geistlichen Zu- Es ist eine Sache, unabhängig zu arbeiten
stand der Philipper. Es gab »keinen ihm und alles nach eigenen Vorstellungen tun
Gleichgesinnten«, den Paulus mit dem- zu können. Dagegen ist es viel schwieri-
selben Vertrauen hätte senden können. ger, mit anderen zusammenarbeiten zu
Das ist für jemanden, der so jung ist wie müssen, ab und zu mal nur die »zweite
Timotheus, wirklich eine großartige Geige« spielen zu können, individuelle
Empfehlung! Unterschiede auszuhalten und die eige-
2,21 Die anderen ließen sich von ihren nen Bestrebungen und Meinungen um
eigenen Interessen mit Beschlag belegen. des Ganzen willen unterzuordnen. Wir
Sie hatten sich so sehr dem »Ihren« ver- sollten »Mitarbeiter« und »Mitstreiter«
schrieben, daß sie keine Zeit mehr für werden!
»das, was Jesu Christi ist« hatten. Ist dies Weiter nennt Paulus ihn »euren Ab-
nicht eine Botschaft an uns, in unseren gesandten und Diener meines Bedarfs«.
Häusern mit Kühlschränken, Fernsehern Das zeigt uns noch andere wertvolle Ein-
und vielen anderen »Dingen«? (Vgl. zelheiten über seinen Charakter. Er war
Lk 8,14). gewillt, einfache Dienste zu tun. Viele
2,22 Timotheus war des Apostels sind heute nur interessiert, an Stellen zu
Kind im Glauben, und er erfüllte treu sei- arbeiten, wo die Arbeit Spaß macht und
ne Aufgabe. Die Philipper wußten um wo sie in der Öffentlichkeit stehen. Wie
seine »Bewährung«, sie kannten seinen dankbar sollten wir für diejenigen sein,
wahren Wert, sie wußten, daß Timothe- die still und unauffällig ihrer Routinear-
us, »wie ein Kind dem Vater« zusammen beit nachgehen. Epaphroditus erniedrig-
mit Paulus bei der Predigt des »Evange- te sich selbst, indem er harte Arbeit auf
liums« gedient hatte. sich nahm. Doch Gott erhob ihn, indem
2,23.24 Weil Timotheus sich so be- er seinen treuen Dienst in Philipper 2
währt hatte, hoffte Paulus ihn »sofort« erwähnen ließ, damit alle kommenden
zu den Philippern zu senden, sobald er Generationen davon erfahren sollten.
über den Ausgang seiner Berufung auf 2,26 Die Heiligen hatten Epaphrodi-
den Kaiser Nachricht hatte. Das meint tus gesandt, damit er Paulus helfen
der Apostel zweifellos mit dem Aus- konnte – er hatte dafür eine Reise von
druck: »wenn ich meine Lage übersehe.« mindestens 1100 km zurückzulegen. Der
Er hofft, daß seine Berufung Erfolg treue Bote wurde als Folge davon
haben und er freigelassen würde, so daß »krank«, so krank, daß er dem Tode nahe
er die Philipper noch einmal besuchen war. Das machte Epaphroditus besorgt,
kann. und zwar nicht so sehr aus dem Grunde,
2,25 Als nächstes sehen wir die Gesin- daß er selbst krank war, sondern aus
nung Christi am Beispiel des »Epaphro- Angst, daß die Heiligen davon erfahren
ditus«. Ob dies derselbe Mann wie »Epa- könnten. Wenn sie es erführen, würden
phras« in Kolosser 4,12 ist, läßt sich nicht sie sich nämlich sicherlich Vorwürfe
mit Sicherheit sagen. Jedenfalls lebte er machen, daß sie ihn auf die Reise ge-
in Philippi und war Botschafter der dor- schickt und damit sein Leben aufs Spiel
tigen Gemeinde. gesetzt hatten. Ganz sicher sehen wir in

964
Philipper 2 und 3

Epaphroditus einen Menschen, der ein ebenso großes Vorrecht, im Dienst


»ganz von sich selbst los« sein konnte. des Herrn zu stehen. Das sollten die
Viele Christen haben die unglückli- Geschwister anerkennen, auch wenn es
che Angewohnheit, lange und ausführ- jemanden betrifft, mit dem sie auf sehr
lich von ihren Krankheiten und Opera- vertrautem Fuß stehen.
tionen zu erzählen. Zu oft sind das nur 2,30 Wie schon weiter oben erwähnt,
Auswirkungen der unterschiedlichen hing die Krankheit des Epaphroditus mit
Sünden eines auf sich selbst ausgerichte- seinem unermüdlichen Dienst »um …
ten Lebens: Selbstliebe, Selbstmitleid, Christi willen« zusammen. Das ist in den
Beschäftigung mit sich selbst, Selbstdar- Augen des Herrn sehr wertvoll. Es ist
stellung. besser, für den Herrn auszubrennen, als
2,27 Epaphroditus war so »krank«, vor sich hin zu rosten. Es ist besser, im
daß er »dem Tod nahe« war, »aber Gott Dienste Jesu umzukommen, als nur einer
hat sich seiner erbarmt«. Dieser Ab- mehr in der Statistik derer zu sein, die
schnitt ist für uns sehr wertvoll, weil er durch Krankheit oder Unfall sterben.
einiges Licht auf die Frage einer von Gott Will Paulus mit dem Nebensatz »um
bewirkten Heilung wirft: den Mangel in eurem Dienst für mich
1. Krankheit ist nicht immer die Fol- auszugleichen« andeuten, daß die Phi-
ge einer Sünde. Hier haben wir einen lipper Paulus vernachlässigt hatten, und
Mann vor uns, der krank wurde, weil er daß Epaphroditus tat, was eigentlich die
seine Pflicht treu erfüllt hat (s. V. 30), Philipper hätten tun sollen? Das scheint
»denn um des Werkes Christi willen ist uns unwahrscheinlich zu sein, weil es die
er dem Tod nahe gekommen«. Heiligen in Philippi gewesen waren, die
2. lernen wir, daß es nicht immer Epaphroditus zu Paulus gesandt hatten.
Gottes Willen entspricht, sofort und Wir sind der Ansicht, daß mit dem
durch ein Wunder zu heilen. Es scheint Ausdruck »Mangel in eurem Dienst für
so, daß Epaphroditus länger krank war mich« gemeint ist, daß sie nicht selbst
und sich erst allmählich erholte (s. a. nach Rom hatten kommen können, um
2. Tim 4,20; 3. Joh 2). Paulus zu helfen, weil es viel zu weit war.
3. erfahren wir, daß Heilung ein Es handelt sich hier also nicht um Tadel,
Gnadenakt Gottes ist und nichts, das wir sondern um die einfache Feststellung,
rechtmäßigerweise von ihm verlangen daß Epaphroditus für die Philipper als
könnten. Stellvertreter das getan hatte, was sie
Paulus fügt hinzu, daß Gott sich selbst nicht hatten tun können.
»nicht nur seiner, sondern auch« Paulus’
»erbarmt« hat, damit er »nicht Traurig- V. Warnung vor Irrlehrern (3,1-3)
keit auf Traurigkeit« habe. Der Apostel 3,1 Paulus ermahnt hier die Philipper,
hatte schon mit seiner Gefangenschaft sich immer »im Herrn« zu freuen. Der
genug zu ertragen. Wenn Epaphroditus Christ kann immer echte Freude »im
auch noch gestorben wäre, hätte er noch Herrn« finden, ganz gleich unter wel-
mehr Kummer gehabt. chen Umständen er leben mag. »Die
2,28 Nachdem es Epaphroditus nun Quelle all seiner Lieder liegt ganz oben
wieder so gut ging, hat Paulus »ihn nun im Himmel.« Nichts kann seine Freude
desto eilender« nach Hause »gesandt«. wirklich beeinflussen, es sei denn, man
Die Philipper würden »wieder froh« nehme ihm vorher seinen Erlöser, und
werden, ihren geliebten Bruder zurück- das ist eindeutig unmöglich. Natürliche
zuerhalten, und das würde auch Paulus Freude wird von Schmerzen, Sorgen,
wieder etwas aufrichten. Krankheit, Armut und Katastrophen
2,29 Sie sollten Epaphroditus nicht beeinflußt. Doch die Freude des Chri-
nur freudig wieder aufnehmen, sondern sten steht weit über allem Übel des
sie sollten diesen Mann Gottes auch »in Lebens. Den Beweis dafür liefert Paulus,
Ehren« halten. Es ist eine große Ehre und der diese Ermahnung vom Gefängnis

965
Philipper 3

aus schreibt. Wir können von einem sol- Dann nennt Paulus sie noch »die Zer-
chen Mann ganz gewiß einen Rat an- schneidung«. Das ist ein sarkastisch ge-
nehmen! meinter Ausdruck, um ihre Haltung zur
Er findet es nicht unpassend, sich den Beschneidung zu bezeichnen. Zweifellos
Philippern gegenüber zu wiederholen, waren sie der Auffassung, daß man be-
denn er weiß, daß er es zu ihrer Sicher- schnitten sein müsse, um errettet zu wer-
heit tut. Doch wie wiederholt er sich? den. Doch was sie meinten, war die leib-
Bezieht es sich auf vorhergehende An- liche Beschneidung. Sie waren an der
weisungen, sich im Herrn zu freuen? geistlichen Bedeutung der Beschneidung
Oder bedeutet das, daß die folgenden nicht interessiert. Die Beschneidung
Verse sie vor den jüdischen Irrlehrern steht für den Tod des Fleisches. Sie be-
warnen? Wir sind der Meinung, daß das deutet, daß der Anspruch des Fleisches
letztere gemeint ist. Dreimal in Vers 2 nicht befriedigt werden soll. Diese Irrleh-
benutzt er das Wort »seht«. Sich so rer aber bestanden auf der Zeremonie
immer wieder zu wiederholen, ist ihm der wirklichen, leiblichen Beschneidung,
»nicht verdrießlich«, sondern eine Vor- und gaben damit dem Fleisch Raum. Sie
sichtsmaßnahme um ihretwillen. wollten nicht anerkennen, daß das
3,2 Sie sollen »auf die Hunde …, die Fleisch am Kreuz in den Tod gegeben ist.
bösen Arbeiter« und »auf die Zerschnei- Paulus will also sagen, daß sie zwar das
dung« sehen. Alle drei Ausdrücke leibliche Fleisch zerschnitten, aber dabei
bezeichnen wahrscheinlich die gleichen nicht zwischen der Zeremonie und der
Menschen – Irrlehrer, die versuchten, die ihr zugrunde liegenden Bedeutung zu
Christen wieder unter das Gesetz des unterscheiden wußten.
Judentums zu knechten und die lehrten, 3,3 Im Gegensatz zu diesen stellt Pau-
daß man Gerechtigkeit erlangen könne, lus fest, daß »wir«, d. h. die wahren
indem man sich an das Gesetz und seine Gläubigen, »die Beschneidung sind« –
Rituale halte. nicht diejenigen, die zufällig von jüdi-
Als erstes kennzeichnet Paulus diese schen Eltern geboren sind und leiblich
Irrlehrer als »Hunde«. In der Bibel sind beschnitten sind, sondern diejenigen, die
Hunde unreine Tiere. Der Ausdruck erkennen, daß das Fleisch nichts Gutes
wurde normalerweise von Juden be- bringt, und daß der Mensch aus eigener
nutzt, um damit die Heiden abfällig zu Kraft nichts tun kann, um das anerken-
bezeichnen! In den Ländern des Nahen nende Lächeln Gottes zu verdienen.
Ostens waren die Hunde heimatlose Dann nennt Paulus drei Eigenschaften
Wesen, die wild auf den Straßen herum- derer, die die wahre Beschneidung sind:
streunten, und sich ihr Futter zusam- 1. Sie »dienen … im Geist Gottes«. Das
menstahlen, wo es nur ging. Hier dreht bedeutet, daß sie wirklich geistlichen
Paulus den Spieß um und wendet diesen Dienst tun, nicht den toten Dienst der
Ausdruck auf diese jüdischen Irrlehrer Zeremonien. Im wirklichen Gottes-
an, die versuchten, die Gemeinden zu dienst nähert sich der Gläubige Gott
unterwandern. Sie waren die eigentli- im Glauben und lobt, preist und betet
chen, die draußen lebten und versuch- ihn an. Seelischer Gottesdienst
ten, von Riten und Zeremonien zu leben. braucht schöne Gebäude und heilige
Sie waren diejenigen, die sich »mit Krü- Einrichtungsgegenstände, zusätzlich
meln zufrieden gaben, wo sie am Fest- ausgefeilte Zeremonien, prächtige
mahl hätten teilnehmen können«. Priestergewänder und alles andere,
Zweitens waren sie »böse Arbeiter«. was das Gefühl anspricht.
Sie gaben vor, echte Gläubige zu sein und 2. Die Mitglieder der wahren Beschnei-
hatten so Zugang zu christlichen Ge- dung »rühmen« sich »in Christus
meinschaften. Dort wollten sie ihre Irr- Jesus«. Er allein ist der Grund all
lehren ausbreiten. Ihr Handeln konnte ihres Ruhmes. Sie sind nicht auf per-
nur Schlimmes zur Folge haben. sönliche Erfolge stolz, auf ihren kul-

966
Philipper 3

turellen Hintergrund oder auf ihre (Ri 5,14), und derjenige, aus dem der
Treue zum Sakrament. erste König Israels stammte.
3. Sie »vertrauen … nicht auf Fleisch«. »Hebräer von Hebräern« – er gehörte
Sie sind nicht der Ansicht, daß sie zu dem Teil des Volkes, das an seiner
durch ihre fleischlichen Bemühungen ursprünglichen Sprache, seinen Sitten
errettet werden könnten, oder daß und Gebräuchen festgehalten hatte.
diese Bemühungen sie im Glauben »Dem Gesetz nach ein Pharisäer« –
erhalten könnten. Sie erwarten von die Pharisäer waren orthodox geblieben,
ihrer Natur des alten Adam nichts während die Sadduzäer die rechte Lehre
Gutes und sind deshalb auch nicht von der Auferstehung fallengelassen
enttäuscht, wenn sie nichts Gutes hatten.
vorfinden! 3,6 »Dem Eifer nach ein Verfolger der
Gemeinde« – Paulus war ehrlich über-
VI. Paulus verleugnet sein Erbe und zeugt, daß er Gottes Willen tat, als er ver-
seine persönlichen Erfolge um suchte, die »Sekte« der Christen auszulö-
Christi willen (3,4-14) schen. Er sah in ihr eine Gefahr für seine
3,4 Als Paulus daran dachte, wie diese eigene Religion und mußte sie deshalb
Männer sich ihrer fleischlichen Vorteile bekämpfen.
und Erfolge rühmten, zeigte sich zweifel- »Der Gerechtigkeit nach, die im Ge-
los ein weises Lächeln auf seinen Zügen. setz ist, untadelig geworden« – das kann
Wenn sie sich rühmen konnten, dann nicht bedeuten, daß Paulus das Gesetz
konnte er es »noch mehr«. In den näch- völlig gehalten hätte. Er bekennt in Rö-
sten zwei Versen zeigt er uns, in welch er- mer 7,9.10, daß dies nicht der Fall gewe-
staunlichem Maße er alle diese natürli- sen ist. Er nennt sich »untadelig«, nicht
chen Ziele erreicht hatte, deren sich der jedoch sündlos. Wir können nur daraus
Mensch normalerweise rühmt. »Er hat schließen, daß Paulus, wenn er ein Ge-
wohl zu jener Art der Aristokratie gehört, setz verletzt hatte, streng darauf achtete,
die die Träume der Menschen bewegt das entsprechende Opfer zu bringen. Mit
und sie zu großen Taten aufstachelt.« anderen Worten, er hatte versucht, die
Über diese beiden Verse hat Arnot Regeln des Judentums bis auf das I-Tüp-
gesagt: »Hier wird der gesamte Vorrat felchen zu halten.
des selbstsüchtigen Pharisäers begutach- So war Saul von Tarsus nach seiner
tet. Paulus freut sich, diese schmutzigen Geburt, seinem Stammbaum, seiner
Lumpen vorzuzeigen und sie offen bloß- orthodoxen Haltung, seinem Eifer und
zustellen.« seiner persönlichen Gerechtigkeit ein
Sie werden feststellen, daß Paulus außergewöhnlicher Mann gewesen.
folgendes erwähnt: Stolz auf seine Vor- 3,7 Doch an diesem Punkt sagt uns
fahren (V. 5a), den Stolz der Orthodoxie Paulus, was ihm das heute noch wert ist.
(V. 5b), Stolz auf seine Taten (V. 6a) und Er zeigt uns seine persönliche »Gewinn-
Stolz auf seine moralischen Qualitäten und Verlustrechnung«. Auf der einen
(V. 6b). Seite führt er die eben erwähnten Eigen-
3,5 Hier ist sie nun, die Liste der schaften auf, die Dinge, die ihm einst
natürlichen und fleischlichen Vorzüge »Gewinn« waren. Auf der anderen Seite
des Paulus: führt er das eine Wort »Christus« auf.
»Beschnitten am achten Tag« – er war Alles andere ist so gut wie wertlos, wenn
Jude von Geburt, kein Ismaelit oder man es mit den Schätzen vergleicht, die
Proselyt. er in Christus gefunden hat. Er achtete
»Vom Geschlecht Israel« – ein Glied das alles »um Christi willen für Verlust«.
des auserwählten Volkes Gottes auf Guy King schreibt: »Aller finanzieller
Erden. Gewinn, alle materiellen Reichtümer, alle
»Vom Stamm Benjamin« – ein hoch- leiblichen Vorzüge, alle intellektuellen
angesehener, aristokratischer Stamm Vorteile, alle moralische Vortrefflich-

967
Philipper 3

keit – all dies ist kein Gewinn, wenn man wartsform ist hier gewählt, um zu zei-
es mit dem einen großen Gewinn ver- gen, daß dies noch immer seine Haltung
14)
gleicht.« ist – daß er immer noch alles andere als
Solange er auf diese Dinge vertraute, »Dreck« ansieht, wenn er es mit dem
konnte er niemals gerettet werden. Als er Wert Jesu Christi vergleicht. Das große
dann gerettet war, waren sie nicht länger Verlangen seines Herzens ist: »Christus
von Bedeutung, denn er hatte die Herr- soll mein Gewinn sein.« Kein Gold, kein
lichkeit des Herrn gesehen, und davon Silber, keine religiöse Anerkennung, son-
wurde alle irdische Herrlichkeit über- dern Christus.
strahlt. 3,9 »Und in ihm erfunden werde.«
3,8 Als Paulus Christus um seine Hier klingt es wieder so, als ob Paulus
Errettung bat, hatte Paulus »alles« ver- sich immer noch bemühen müsse, in
lassen und wertete alle seine Erfolge und Christus »erfunden« zu werden. Tatsa-
Vorzüge als wertlos gegenüber »der un- che ist jedoch, daß er immer noch auf die
übertrefflichen Größe der Erkenntnis außerordentliche Entscheidung zurück-
Christi Jesu«, seines »Herrn«. »Die un- blickt, die er zu treffen hatte, als er noch
übertreffliche Größe der Erkenntnis« ist nicht errettet war. War er gewillt, seine
eine hebräische Ausdrucksweise für eigenen Versuche, die Erlösung zu erlan-
»hervorragende Weisheit« oder »über- gen, aufzugeben? Er hat seine Wahl ge-
aus wertvolles Wissen«. troffen. Er hat alles andere aufgegeben,
Herkunft, Nationalität, Kultur, Anse- damit er in Christus »erfunden« werden
hen, Ausbildung, Religion, persönliche könnte. Sobald er an den Herrn Jesus
Erfolge – all das ließ der Apostel als glaubte, hatte er vor Gott eine neue Stel-
Grund seines Ruhmes beiseite. Er be- lung. Er war nicht mehr Kind des sündi-
trachtete all dies sogar als »Dreck« oder gen Adam, sondern in Christus, und
»Kot« (LU1912), damit er »Christus ge- konnte alle Vorrechte genießen, die der
winnen« könne. Herr Jesus bei Gott, dem Vater, genießt.
Obwohl in diesem und dem folgen- Ebenso hat er die schmutzigen Lum-
den Vers die Gegenwart als Zeitform pen seiner eigenen Selbstgerechtigkeit
gewählt ist, spricht Paulus hier in erster abgelegt, die er versucht hatte zu ge-
Linie von der Zeit seiner Bekehrung. Um winnen, indem er das Gesetz hielt, und
»Christus« zu »gewinnen«, hatte er allem hat die »Gerechtigkeit aus Gott« gewählt,
den Rücken gekehrt, was er als wertvoll die jedem gewährt wird, der den Erlöser
anzusehen gelehrt worden war. Wenn er annimmt. »Gerechtigkeit« wird hier ein
»Christus gewinnen« wollte, dann muß- Kleid oder Gewand genannt. Der
te er der Religion seiner Eltern absagen, Mensch braucht Gerechtigkeit, um vor
seinem Erbe und seinen persönlichen Er- Gott bestehen zu können. Doch der
rungenschaften. Mensch kann diese Gerechtigkeit nie
Und das tat er! Er löste seine Bande selbst hervorbringen. Deshalb gibt Gott
zum Judentum völlig, das ihm bisher die in seiner Gnade dem Menschen die
Hoffnung auf die Erlösung geboten hat- »Gerechtigkeit aus Gott«, denen, die sei-
te. Als er das tat, haben ihn seine Ver- nen Sohn als Herrn und Heiland anneh-
wandten enterbt, seine früheren Freunde men. »Den, der Sünde nicht kannte, hat
verlassen und seine Landsleute verfolgt. er (Gott) für uns zur Sünde gemacht,
Er erlitt wörtlich den »Verlust« all des- damit wir Gottes Gerechtigkeit würden
sen, als er Christi wurde. in ihm« (2. Kor 5,21).
Weil in Vers 8 die Gegenwartsform Und wieder möchten wir betonen,
verwendet wird, sieht es so aus, als ob daß die Verse 8 und 9 nicht andeuten
Paulus immer noch »Christus« zu »ge- wollen, daß Paulus zu dem Zeitpunkt,
winnen« suche. Natürlich hatte er Chri- als er schreibt, die Gerechtigkeit Gottes
stus schon gewonnen, als er ihn als noch nicht erlangt hatte. Im Gegenteil,
Herrn und Erretter annahm. Die Gegen- sie wurde sein Besitz, als er sich auf der

968
Philipper 3

Straße nach Damaskus bekehrte. Die Toten auferweckte. Dieselbe »Kraft«


Gegenwartsform soll hier lediglich an- steht allen Gläubigen zur Verfügung
deuten, daß die Folgen dieses wichtigen (Eph 1,19), damit sie sie im Glauben
Ereignisses bis zur Gegenwart anhielten anwenden. Paulus drückt nun seinen
und daß Paulus Christus noch immer für Wunsch aus, diese Kraft in seinem Leben
weitaus wertvoller hielt als alles, was er und Zeugnis zu erfahren.
aufgegeben hatte. »Und die Gemeinschaft seiner Lei-
3,10 Wenn wir diesen Vers lesen, den.« Es braucht göttliche Kraft, um für
kommen wir zu einem der höchsten Ge- Christus leiden zu können. Deshalb steht
fühle des Apostels. F. B. Meyer nennt das hier die »Kraft seiner Auferstehung« vor
»die Suche der Seele nach dem persönli- der »Gemeinschaft seiner Leiden«.
chen Christus«. Im Leben des Herrn kam zuerst das
Meistens wird dieser Abschnitt »ver- Leiden, dann die Herrlichkeit. Genauso
geistlicht« gesehen. Damit meint man, mußte es im Leben des Paulus sein. Er
daß man die Worte »Leiden, Tod und Auf- mußte die »Leiden« Christi teilen. Er er-
erstehung« nicht wörtlich zu nehmen kannte, daß seine Leiden keine Erlö-
habe. Sie würden vielmehr verschiedene sungskraft hatten wie die des Herrn, aber
geistliche Erfahrungen bezeichnen, wie er wußte auch, daß es äußerst inkonse-
geistliches Leiden, den Tod des Ich, und quent für ihn gewesen wäre, in Luxus
das Führen eines Auferstehungslebens und Bequemlichkeit in einer Welt zu
usw. Doch würden wir vorschlagen, die- leben, in der sein Herr abgelehnt, ge-
sen Abschnitt auch wörtlich zu nehmen. schlagen und gekreuzigt wurde. Jowett
Paulus sagt, er wolle leben, wie Christus kommentiert: »Er war nicht zufrieden,
gelebt hat. Litt Jesus? Dann möchte Pau- nur den Triumph des Ölberges mit ihm
lus das auch. Starb Jesus? Dann möchte zu teilen, er wollte auch etwas von den
Paulus auch als Märtyrer im Dienst für Leiden, der Kälte und der Einsamkeit
15)
Christus sterben. Auferstand Jesus von Gethsemanes erfahren.«
den Toten? Dann möchte Paulus das »Seinem Tod gleichgestaltet werden.«
ebenfalls. Er erkannte, daß der Knecht Wie schon weiter oben angedeutet, wird
nicht höher ist als der Meister. Deshalb das normalerweise so erklärt, daß Paulus
wollte er Christus in sein »Leiden«, seinen ein gekreuzigtes Leben führen wollte,
»Tod« und seine »Auferstehung« hinein praktisch der Sünde, dem Ich und der
folgen. Er ist nicht der Auffassung, daß Welt abgestorben. Doch wir sind der
alle diese Haltung einnehmen sollen, Ansicht, daß eine solche Auslegung dem
doch für ihn gab es keinen anderen Weg. Abschnitt viel von seiner schockierenden
»Um ihn … zu erkennen.« »Ihn er- Wirkung nimmt. Natürlich bedeutet es
kennen« bedeutet eine praktische, tägli- das, aber es bedeutet noch viel mehr.
che Gemeinschaft mit Christus zu haben, Paulus war ein hingegebener Nachfolger
und ihn damit so vertraut kennenzuler- des Einen, der am Kreuz von Golgatha
nen, daß Paulus selbst ihm immer ähn- gestorben war. Nicht nur das, sondern er
licher wurde. Er möchte, daß das Leben war auch Zeuge, als der erste Märtyrer
Christi sich in ihm wiederholt. der christlichen Gemeinde starb; er war
»Und die Kraft seiner Auferstehung.« sogar Komplize derer, die ihn umbrach-
Die »Kraft«, die den Herrn aus den Toten ten! Wir glauben, daß Paulus sich wirk-
auferweckt hat, wird in der Schrift als die lich wünschte, sein Leben auf dieselbe
größte Macht bezeichnet, die das Univer- Weise zu beenden. Vielleicht hätte er sich
sum je gesehen hat (Eph 1,19.20). Es geschämt, Stephanus im Himmel begeg-
schien so, als ob alle Mächte des Bösen nen zu müssen und auf einem bequeme-
entschlossen waren, den Leib im Grab zu ren Weg als der dort angekommen zu
halten. Doch Gottes große Macht besieg- sein. Jowett stimmt dem zu:
te diese höllische Armee, indem er den Viele Christen geben sich mit Bemühun-
Herrn Jesus am dritten Tag von den gen zufrieden, die nicht zu »Blutvergießen«

969
Philipper 3

führen. Sie geben, was sie ohne Probleme ent- ihn auch in seiner Auferstehungsherrlichkeit
behren können. Ihre Gaben sind abgelegte zu erreichen, und zwar auf demselben Weg,
Dinge, und wenn sie sie weggeben, so bluten den er dorthin gegangen ist.« Das ist der
sie nicht. Sie nehmen am Opfer teil, solange Geist der Märtyrer. Paulus wollte als Märty-
es das Leben nicht mit einbezieht. Wenn es rer den Pfad des Leidens und des Todes gehen,
um wirklich Wichtiges geht, so sind sie damit er die Auferstehung und die Herrlich-
unauffindbar. Sie sind die ersten, die einen keit auf demselben Pfad erreichte wie sein
Sieg feiern, und sie geben willig ein wenig geliebter Heiland, der sein Herz gewonnen
18)
Geld für farbige Dekoration – für Plakate hatte.
und Palmzweige, doch wenn das »Hurra« 3,11 Hier werden wir wieder mit
und »Hosianna« in drohendes Gemurmel einem Auslegungsproblem konfrontiert.
umschlägt und Golgatha in Sicht kommt, Sollen wir diesen Vers wörtlich verste-
16)
dann stehlen sie sich heimlich davon. hen, oder sollen wir ihn vergeistlichen.
Doch hier haben wir einen Apostel, Verschiedene Erklärungen sind geboten
der voller Freude diesem hohen und worden, davon sind die wichtigsten:
wichtigen Anspruch entgegensieht. Er ist 1. Paulus war sich nicht sicher, ob er
fast ungeduldig, sein eigenes Blut im von den Toten auferstehen würde,
Dienste des Reiches Gottes vergossen zu deshalb strengte er jeden Muskel an,
sehen. Er ist ganz bereit, wenn es nötig damit er an der Auferstehung teilha-
sein sollte, sein Blut zu vergießen! ben könnte. Solch eine Ansicht ist
In ähnlichem Sinne schrieb Hudson jedoch völlig unsinnig. Paulus lehrte
Taylor: immer, daß man die Auferstehung
Es ist unbedingt notwendig, daß wir uns als Geschenk und nicht als Ergebnis
selbst für das Leben der Welt hingeben … der eigenen Anstrengungen erhält.
Zum Fruchttragen gehört Kreuztragen. Außerdem schreibt er in 2. Korinther
»Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt 5,1-8, daß er sicher sei, an der Aufer-
und stirbt, so bleibt es allein.« Wir wissen, stehung teilzuhaben.
wie der Herr Jesus Frucht brachte – nicht 2. Paulus spricht hier nicht von einer
nur, indem er sein Kreuz trug, sondern auch, leiblichen Auferstehung, sondern
indem er daran starb. Wieviel wissen wir von von seinem Verlangen, ein Auferste-
der Gemeinschaft in diesem Tod? Es gibt kei- hungsleben zu führen, während er
ne zwei Christusse: einen harmlosen für noch hier auf Erden war. Wohl die
harmlose Christen, und einen leidenden für meisten Kommentatoren sind dieser
außergewöhnlich Gläubige. Es gibt nur einen Ansicht.
Christus. Sind wir gewillt, in ihm zu bleiben 3. Paulus spricht von der leiblichen
17)
und so Frucht zu bringen? Auferstehung, doch er will hier kei-
Schließlich sagt C. A. Coates dazu: nen Zweifel an seiner eigenen Aufer-
Die Erkenntnis Christi in Herrlichkeit stehung ausdrücken. Er sagte viel-
war das wichtigste Ziel von Paulus, und die- mehr, daß er sich um die Leiden nicht
ses Ziel konnte nicht erreicht werden, ohne kümmerte, die vor ihm auf dem Weg
daß in ihm das heftige Verlangen entstand, zur Auferstehung liegen würden. Er
ihn an dem Ort einzuholen, wo er war. Von war bereit, durch schwere Versu-
daher wendet sich eine Seele, die sich nach chungen und Verfolgungen zu gehen,
ihm sehnt, instinktiv dem Pfad zu, auf dem er wenn diese zwischen seiner Gegen-
diesen Ort der Herrlichkeit erreicht hat, und wart und seiner zukünftigen Aufer-
sehnt sich danach, diese Herrlichkeit auf dem stehung liegen sollten. Der Ausdruck
Pfad zu erreichen, den auch er beschritten »irgendwie« muß nicht notwendiger-
hat. Das Herz fragt: »Wie kam er in diese weise einen Zweifel beinhalten
Herrlichkeit? Durch Auferstehung? Doch (s. Apg 27,12; Röm 1,10;11,14), son-
ging der Auferstehung nicht Leid und Tod dern das große Verlangen oder die
voran?« Und dann fügt das Herz hinzu: Erwartung, die nicht auf die Kosten
»Nichts würde mich zufriedener machen, als achtet.

970
Philipper 3

Wir halten die dritte Auslegung für Gott an ihm beweisen konnte, was er an
richtig. Der Apostel wollte Christus einem Menschenleben tun kann. Er war
gleichgestaltet werden. Weil Christus noch nicht völlig in das Bild Christi ver-
gelitten hatte, gestorben und aus den wandelt. Der Prozeß dauerte noch an,
Toten auferweckt war, wollte Paulus und Paulus war es ein wichtiges Anlie-
nicht mehr und nicht weniger für sich gen, daß dieses Werk Gottes weitergehen
selbst. Wir fürchten, daß unser Verlangen und vertieft würde.
nach Komfort, Luxus und Bequemlich- 3,13 Dieser Mann, der gelernt hatte,
keit uns dazu bringt, die scharfen Ecken sich mit allen materiellen Umständen
solcher Bibelverse ein wenig zu glätten. zufrieden zu geben, in denen er sich
Wäre es nicht sicherer, sie solange in befinden mochte (4,11), konnte niemals
ihrem Wert stehen zu lassen – indem wir mit seinen geistlichen Errungenschaften
sie wörtlich nehmen – solange wir nicht zufrieden sein. Er dachte nicht »es«
sicher sein können, daß eine wörtliche schon »ergriffen« zu haben, er war noch
Auslegung im Widerspruch zur restli- nicht »angekommen«, wie wir es heute
chen Bibel steht? sagen würden. Doch was tat er dann?
Ehe wir diesen Vers verlassen, sollten »Eines aber tue ich.« Er war ein
wir anmerken, daß Paulus hier von der Mann, der nur ein einziges Ziel hatte,
»Auferstehung aus den Toten« spricht. eine Leidenschaft. Darin ähnelt er David,
Damit ist nicht die Auferstehung aller der sagte: »Eines habe ich vom Herrn
Toten gemeint. Hier wird vielmehr eine erbeten.«
»Auferstehung« beschrieben, bei der »Vergessen, was dahinten … ist« be-
einige auferweckt werden, andere jedoch deutet nicht nur seine Sünden und Ver-
im Grab bleiben. Wir wissen aus 1. Thes- fehlungen, sondern auch seine natür-
salonicher 4,13-18 und 1. Korinther lichen Vorrechte, Errungenschaften und
15,51-57, daß die Gläubigen beim Kom- seine Erfolge, die er schon in diesem
men Christi auferweckt werden (einige Kapitel besprochen hat, und sogar seine
bei der Entrückung, andere erst am Ende geistlichen Siege.
der Drangsalszeit), doch der Rest der »Strecke mich aber aus nach dem,
Toten wird erst am Ende des Tausend- was vorn ist«: nämlich nach den Vorrech-
jährigen Reiches Christi auf Erden aufer- ten und der Verantwortung eines christ-
weckt (vgl. Offb 20,5). lichen Lebens, ob es nun um das Lob
3,12 Der Apostel war nicht der Gottes, den Dienst in seinem Werk oder
Ansicht, daß er schon »vollendet« sei. die Entwicklung zu einer christlichen
»Vollendet« bezieht sich damit nicht auf Persönlichkeit geht.
die Auferstehung im vorigen Vers, son- 3,14 Paulus sah sich selbst als einen
dern auf das Gesamtthema der Ähnlich- Teilnehmer an einem Rennen. Er be-
keit mit Christus. Er war nicht der An- schreibt sich, wie er jede Mühe in seinem
sicht, daß es möglich sei, einen Zustand Lauf »auf das Ziel zu« auf sich nimmt,
der Sündlosigkeit zu einem Zeitpunkt im »hin zu dem Kampfpreis der Berufung
Leben zu erreichen, an dem es keinen Gottes nach oben in Christo Jesu«.
weiteren Fortschritt mehr gäbe. Er er- Das Ziel ist die Ziellinie am Ende der
kannte, daß »Zufriedenheit das Grab des Rennbahn. Der Preis ist die Medaille des
Fortschritts« ist. Siegers. Hier wäre das Ziel also das Ende
So arbeitete er weiter, damit das Ziel unseres irdischen Lebens, und vielleicht
erfüllt werden konnte, zu dem ihn der noch genauer der Richterstuhl Christi.
Herr Jesus erlöst hatte. Der Apostel war Der Preis wäre die Krone der Gerechtig-
auf der Straße nach Damaskus von keit, die Paulus an anderer Stelle als
»Christus Jesus ergriffen« worden. Was Belohnung für diejenigen beschreibt, die
war der Zweck dieser außerordentlichen gut gelaufen sind (2. Tim 4,8).
Begegnung? Paulus sollte zu einem Vor- Die »Berufung Gottes nach oben in
bild für die Gläubigen werden, damit Christus Jesus« beinhaltet alle Ziele, die

971
Philipper 3

Gott mit uns hatte, als er uns errettete. 3,17 Nun wendet sich Paulus der
Dazu gehört die Erlösung, die Gleichheit Ermahnung zu, indem er die Philipper
mit Christus, die gemeinsame Erbschaft zunächst ermutigt, Nachfolger oder
mit Christus, eine Heimat im Himmel »Nachahmer« von ihm zu werden. Es
und weitere unzählbare geistliche Seg- spricht für sein vorbildliches Leben, daß
nungen. er überhaupt so schreiben konnte. Wir
hören oft die nur halb ernst gemeinte
VII. Ermahnung zum himmlischen Bemerkung: »Tue, was ich sage, aber
Wandel nach dem Beispiel des nicht, was ich tue.« Das gilt für den Apo-
Apostels stel nicht! Er konnte sein eigenes Leben
3,15 »Soviele nun vollkommen sind« – als Beispiel für ganzherzige Hingabe an
sollten die Bereitschaft des Paulus teilen, die Sache Christi hochhalten.
für Christus zu leiden und zu sterben Lehman Strauss kommentiert:
und alle Bemühungen nur für das Ziel Paulus war der Ansicht, daß er Gnade
einzusetzen, Christus ähnlicher zu wer- von Gott empfangen hatte, damit er ein »Vor-
den. Das ist die Sicht des reifen Christen. bild« sein konnte. So war sein ganzes Leben,
Manche würden es extrem nennen, radi- angefangen von seiner Bekehrung, hingege-
kal oder fanatisch. Doch der Apostel sagt ben, um anderen zu zeigen, wie ein Christ
hier aus, daß diejenigen, die reif sind, leben sollte. Gott errettete Paulus, um uns
erkennen werden, daß dies die einzige am Beispiel dieser Bekehrung zu zeigen, daß
gesunde, logische und vernünftige Reak- er bereit sei, das, was Jesus Christus an Pau-
tion auf den ist, der sein Leben für sie auf lus getan hat, auch an anderen Menschen zu
Golgatha hingegeben hat. tun. War das nicht auch das besondere Ziel
»Und wenn ihr in irgend etwas unseres Herrn, als er mir und dir seine Gna-
anders denkt, so wird euch Gott auch de schenkte? Ich glaube, daß er uns errettet
dies offenbaren.« Paulus erkennt, daß hat, damit wir für alle zukünftigen Gläubi-
nicht alle einer solch gefährlichen Philo- gen ein Beispiel sein können. Können wir als
sophie zustimmen werden. Aber er ver- Beispiel für diejenigen dienen, die durch sei-
traut darauf, daß, wenn jemand wirklich ne Gnade gerettet sind? Daß es doch so sein
19)
die Wahrheit in dieser Angelegenheit möge!
wissen möchte, Gott ihm das dann »Und seht auf die, welche so wan-
»offenbaren« werde. Der Grund, aus deln, wie ihr uns zum Vorbild habt.« Das
dem wir heute eine so leichtlebige, bezieht sich auf alle anderen Christen,
selbstzufriedene Christenheit haben, die ein dem Paulus ähnliches Leben führ-
liegt darin, daß wir die Wahrheit nicht ten. Es geht nicht darum, sie tadelnd her-
wissen wollen, und wir sind nicht bereit, auszustellen, wie im nächsten Vers, son-
den Anforderungen eines idealen Chri- dern sie sollten sie beobachten mit dem
stentums zu gehorchen. »Gott« ist bereit, Ziel, ihren Fußstapfen zu folgen.
denen die Wahrheit zu zeigen, die bereit 3,18 So, wie Vers 17 beschreibt, wem
sind, ihr auch zu folgen. die Philipper nachfolgen sollten, so
3,16 Dann fügt der Apostel hinzu, beschreibt dieser Vers wem wir nicht fol-
daß wir in der Zwischenzeit dem Licht gen sollten. Der Apostel beschreibt diese
entsprechend leben sollen, das Gott uns Menschen nicht näher. Ob es sich bei
schon gegeben hat. Es reicht nicht aus, ihnen um die jüdischen Irrlehrer handel-
einfach nur zu warten, bis wir eine völli- te, die er in Kapitel 2 schon beschrieben
gere Erkenntnis dessen besitzen, was hat, oder um sogenannte »christliche
von uns als Christen verlangt wird. Lehrer«, die sich dem Liberalismus ver-
Während wir auf den Herrn warten, schrieben hatten, und die Gnade als Ent-
damit er uns alle Konsequenzen des schuldigung ihres Sündenlebens miß-
Kreuzes offenbart, sollten wir gehorchen, brauchten, sagt er uns nicht genau.
wieviel immer uns auch von der Wahr- Paulus hat die Heiligen schon vorher
heit bisher offenbart sein mag. vor diesen Männern gewarnt, und er tut

972
Philipper 3

es nicht ohne »Weinen«. Aber warum Das bedeutet nicht, daß Christen
Tränen mitten in einer solchen Anklage? nicht auch Bürger ihrer irdischen Nation
Weil diese Männer solchen Schaden in wären. Andere Schriftstellen lehren ein-
den Gemeinden Gottes anrichteten. deutig, daß wir der Regierung untertan
Wegen der vielen Menschen, die sie rui- sein sollen, weil sie von Gott eingesetzt
nierten. Wegen der Schande, die sie über ist (Röm 13,1-7). So sollten Gläubige der
den Namen Christi brachten. Weil sie die Regierung in allem gehorchen, außer in
wahre Bedeutung des Kreuzes Christi den Fällen, wo ein Gebot der Regierung
verschleierten. Ja, und auch, weil echte dem Willen Gottes widerspricht. Die Phi-
Liebe auch dann noch weint, wenn sie lipper schuldeten der lokalen Regierung
die »Feinde des Kreuzes Christi« bloß- ebenso Gehorsam wie dem Kaiser in
stellen muß, so wie der Herr Jesus über Rom. Ebenso haben die Gläubigen also
die Mörderstadt Jerusalem weinte. sich vor ihrer irdischen Herrschaft zu
3,19 Diese Männer waren zum ewi- verantworten, doch ihre vorrangige
gen Verderben bestimmt. Das bedeutet Treue gilt dem Herrn im Himmel.
nicht, daß sie »vernichtet«, sondern für Wir sind nicht nur Bürger des Him-
immer durch den Richterspruch Gottes mels, sondern wir »erwarten … auch den
in den Feuersee verbannt würden. Herrn Jesus Christus als Heiland« vom
Ihr »Gott« war »der Bauch«. Alle ihre Himmel her. Für »erwarten« steht im Ori-
Handlungen, sogar ihr sogenannter ginal ein sehr starker Ausdruck, um die
»Dienst für Gott«, war auf Essen (und ernsthafte Erwartung eines Ereignisses
wahrscheinlich Trinken) ausgerichtet, um auszudrücken, von dem man glaubt, daß
ihre leibliche Gier zu befriedigen. es bald bevorsteht. Es bedeutet wörtlich,
F. B. Meyer beschreibt diese Männer mit den Hals zu recken in ängstlichem Har-
Scharfblick: »Es gibt in ihrem Leben keine ren, nur ja das Erwartete nicht zu verpas-
Gemeinde. Alles ist für sie eine Küche.« sen und alles sehen und hören zu können.
Ihre »Ehre« lag »in ihrer Schande«. 3,21 Wenn der Herr Jesus vom Him-
Sie rühmten sich genau dessen, dessen mel herabkommen wird, dann wird er
sie sich schämen sollten – ihre Nacktheit unsere Leiber verwandeln. Am mensch-
und ihr unmoralisches Handeln. lichen Leib ist nichts an sich Böses oder
Sie beschäftigten sich nur mit dem Niedriges. Das Böse liegt in der falschen
»Irdischen«. Was bei ihnen zählte, war Verwendung unseres Leibes.
Essen, Kleidung, Ehre, Bequemlichkeit Doch handelt es sich um einen »Leib
und Vergnügen. Ewiges oder Himmli- der Niedrigkeit«, einen Leib der Demüti-
sches konnte sie nicht bei ihrem Wühlen gung. Er wird irgendwann Falten be-
im irdischen Dreck stören. Sie handelten, kommen, Narben, er wird altern, leiden,
als ob sie ewig auf dieser Erde leben krank werden und eines Tages sterben.
könnten. Er begrenzt uns und engt uns ein!
3,20 Der Apostel stellt nun die Der Herr wird ihn in einen »Leib der
Lebensweise eines echten Gläubigen in Herrlichkeit … umgestalten«. Wir ken-
Gegensatz zu dieser Haltung. nen nicht das volle Ausmaß der Bedeu-
Zu der Zeit, als der Brief geschrieben tung dieses Satzes. Er wird jedenfalls
wurde, war Philippi eine römische Kolo- nicht mehr dem Verfall und dem Tod
nie (Apg 16,12). Die Philipper waren preisgegeben sein, auch werden die Be-
römische Bürger und genossen den schränkungen von Raum und Zeit für
Schutz und die Vorrechte Roms. Doch ihn nicht mehr gelten. Es wird ein echter
waren sie auch Bürger ihres Ortes. Vor Leib sein, der jedoch den Bedingungen
diesem Hintergrund erinnert der Apo- im Himmel erstklassig angepaßt sein
stel die Gläubigen daran, daß »ihr Bür- wird. Er wird dem Auferstehungsleib
gerrecht … in den Himmeln« ist. Moffat des Herrn Jesus gleichen.
übersetzt hier: »Wir sind eine Kolonie Das bedeutet jedoch nicht, daß wir
des Himmels.« alle gleich aussehen werden. Jesus war

973
Philipper 3 und 4

nach seiner Auferstehung noch immer dann schließt er den Satz mit der Be-
zu erkennen, und zweifellos wird jeder zeichnung »Geliebte«. Der Apostel liebte
von uns in der Ewigkeit seine persön- die Menschen wirklich, und zweifellos
lichen Charakterzüge weiter behalten. ist dies eines der Geheimnisse seines
Auch lehrt dieser Abschnitt nicht, erfolgreichen Wirkens für den Herrn.
daß wir dem Herrn Jesus in seiner Gött- 4,2 »Evodia« und »Syntyche« waren
lichkeit gleich sein werden. Wir werden Frauen in der Gemeinde in Philippi, die
nie allwissend oder allmächtig sein, auch Schwierigkeiten hatten, miteinander zu-
werden wir nicht allgegenwärtig sein. recht zu kommen. Es wird hier nicht wei-
Doch wir werden moralisch wie der ter beschrieben, welcher Art diese
Herr Jesus sein, d. h. für immer frei von Schwierigkeiten waren (und wahr-
der Sünde. Dieser Abschnitt befriedigt scheinlich ist das auch gut so!).
nicht unsere Neugier, sondern reicht aus, Der Apostel verwendet zweimal das
um uns sicher zu machen und unsere Wort »ermahnen«, um zu zeigen, daß er
Hoffnung zu nähren. alle beide ermahnt, und nicht nur eine
»Nach der wirksamen Kraft, mit der von beiden. Paulus bittet sie, »dieselbe
er vermag, auch alle Dinge sich zu unter- Gesinnung zu haben im Herrn«. Es ist für
werfen.« Die Umgestaltung unseres Lei- uns unmöglich, in allen Dingen des tägli-
bes wird durch dieselbe göttliche Kraft chen Lebens die gleiche Meinung zu
bewirkt werden, die der Herr später ein- haben, aber soweit es die Angelegenhei-
mal benutzen wird, um »alle Dinge sich ten des »Herrn« betrifft, so ist es uns
zu unterwerfen«. Er kann »retten« möglich, unsere kleinlichen, persönli-
(Hebr 7,25). Er kann »helfen« (Hebr 2,18). chen Streitereien beiseite zu legen, damit
Er kann »erhalten« (Judas 24). Und nun der Herr verherrlicht und sein Werk
erfahren wir in diesem Vers, daß er »alle gefördert werde.
Dinge sich unterwerfen« kann. »Ja, dieser 4,3 Es ist schon viel darüber speku-
ist Gott, unser Gott für immer und ewig! liert worden, wer wohl der »rechte Ge-
20)
Er wird uns leiten« (Ps 48,15). fährte« (oder Jochgenosse ) gewesen ist,
den Paulus in diesem Vers anspricht.
VIII. Ermahnung zu Harmonie, Timotheus und Lukas sind beide vorge-
gegenseitiger Unterstützung, schlagen worden, doch ist es wahrschein-
Freude, Vergebung, Gebet lich Epaphroditus, von dem hier die Rede
und einem disziplinierten ist. Er wird ermahnt, den Frauen beizu-
Gedankenleben (4,1-9) stehen, die mit Paulus »in dem Evangeli-
4,1 Auf der Grundlage der wundervollen um … gekämpft haben«. Wir nehmen an,
Hoffnung, die der Apostel gerade im daß die in diesem Vers erwähnten Frauen
vorigen Vers den Gläubigen vorgestellt Evodia und Syntyche sind, und daß der
hat, ermahnt er sie nun »im Herrn … Apostel Paulus hier weitergibt, welche
fest« zu stehen. Dieser Vers enthält viele Erfahrung sich als guter Rat bewährt hat.
liebevolle Bezeichnungen für die Gläubi- Oftmals kann ein Streit zwischen zwei
gen. Zunächst einmal nennt Paulus die Leuten am einfachsten dadurch ge-
Philipper seine »Brüder«. Aber nicht nur schlichtet werden, daß man eine dritte
Brüder, sondern auch seine »geliebten … Person hinzuzieht – jemanden mit reifer,
Brüder«. Und dann fügt er den Gedan- geistlicher Urteilsfähigkeit. Es geht hier
ken hinzu, daß er sich nach ihnen sehnt, nicht darum, diesen Fall willkürlich zu
daß er gerne wieder mit ihnen zusam- behandeln und eine Entscheidung zu fäl-
men wäre. Außerdem spricht er von len, sondern darum, daß der Beratende in
ihnen als seiner »Freude« und seinem der Lage ist, die streitenden Parteien auf
»Siegeskranz«. Zweifellos meint er, daß das Wort Gottes hinzuweisen und eine
sie zu dieser Zeit seine Freude waren, schriftgemäße Lösung aufzuzeigen.
und daß sie beim Richterstuhl Christi Man sollte die Worte »die in dem
sein »Siegeskranz« sein würden. Und Evangelium zusammen mit mir ge-

974
Philipper 4

kämpft haben« besonders sorgfältig aus- Grab stehen. An einem Tag mag ich durch
legen. Auch wenn wir unserer Phantasie meinen Dienst für den Herrn zehn Bekehrte
die Zügel schießen lassen, kann das nicht gewinnen, und dann wieder bekehrt sich
bedeuten, daß die beiden gemeinsam mit tagelang niemand. Ja, unsere Tage sind so
dem Apostel Paulus das Evangelium veränderlich wie das Wetter, und doch kann
predigten. Es gibt viele andere Arten, auf die christliche Freude beständig bleiben. Wo
die Frauen »in dem Evangelium kämp- liegt das Geheimnis dieser herrlichen Bestän-
fen« können – indem sie gastfreundlich digkeit?
die Diener Christi aufnehmen, durch Hier haben wir es: »Siehe, ich bin bei euch
Hausbesuche, durch die Lehre jüngerer alle Tage.« In allen sich wandelnden Tagen
Frauen und Kinder – ohne daß man »ist er unwandelbar und ermüdet nicht«. Er
annimmt, daß es sich hier um einen ist nicht nur ein Schönwetterkamerad, der
öffentlichen Predigt- oder Lehrdienst mich verläßt, wenn die Jahre dunkel und kalt
handelt. werden. Er wählt nicht nur die Tage, wenn es
Ein weiterer Mitarbeiter namens mir gut geht und ich feiern kann, und verläßt
»Klemens« wird hier erwähnt. Außer mich, wenn ich arm bin und Niederlagen ein-
dieser Erwähnung hier läßt sich nichts stecken muß. Er zeigt sich nicht nur, wenn
Sicheres über ihn erfahren. Dann er- ich feierlich bekränzt bin, um sich zu verber-
wähnt Paulus seine »übrigen Mitarbeiter, gen, wenn ich den Dornenkranz trage. Er ist
deren Namen im Buch des Lebens sind«. bei mir »alle Tage« – in den guten Tagen wie
Er drückt auf liebevolle Art und Weise in den schlechten, an den Tagen, an denen das
aus, wie für uns der Glaube an Christus Totenglöcklein läutet und an den Tagen, an
und der Dienst für ihn mit ewigem und denen Hochzeit gefeiert wird. »Alle Tage«,
unaussprechlichem Segen verbunden ist. das heißt, am Tag des Lebens – am Tag des
21)
4,4 Paulus wiederholt nun seine lieb- Todes – am Tag des Gerichts.
ste Ermahnung, indem er sich an die 4,5 Paulus ermahnt die Philipper, ihre
gesamte Gemeinde wendet. Das Ge- »Milde … allen Menschen bekannt wer-
heimnis seiner Ermahnungen findet sich den« zu lassen. Hier wird auch mit »Hin-
in den Worten »im Herrn«. Ganz gleich, gabe«, »liebevolle Verläßlichkeit« und
wie finster die Lebensumstände sein »Bereitschaft, den eigenen Weg aufzuge-
mögen, es ist für den Christen immer ben« übersetzt. Die Schwierigkeit besteht
möglich, sich »im Herrn« zu freuen. jedoch nicht so sehr darin, zu verstehen,
Jowett bezeugt seine Erfahrungen mit was gemeint ist, sondern darin, der Vor-
der christlichen Freude: schrift »allen Menschen« gerecht zu wer-
Die christliche Freude ist eine Stim- den.
mung, die von unseren unmittelbaren Um- »Der Herr ist nahe« kann bedeuten,
ständen nicht abhängig ist. Wäre sie von daß der Herr jetzt gegenwärtig ist, aber
unserer Umwelt abhängig, dann wäre sie so auch, daß das Kommen des Herrn nahe
unsicher wie eine ungeschützte Kerze in ist. Beide Deutungen sind möglich, doch
einer stürmischen Nacht. Einen Augenblick favorisieren wir die zweite Deutung.
lang brennt die Kerze klar und hell, und im 4,6 Ist es einem Christen wirklich
nächsten Augenblick springt die Flamme bis möglich, »um nichts besorgt« zu ein? Es
ans Ende des Dochtes, so daß sie wenig oder ist solange möglich, wie wir Zuflucht
gar kein Licht mehr gibt. Doch die christliche zum gläubigen Gebet haben. Der Rest
Freude steht in keinerlei Beziehung zu den des Verses erklärt nun, wie unser Leben
vergänglichen Lebensumständen, und des- von sündigen Sehnsüchten frei werden
halb wird sie auch nicht das Opfer dahinei- kann. Alles sollte dem Herrn im »Gebet«
lender Tage. Zu bestimmten Zeiten sind mei- gebracht werden. »Alles« heißt wirklich
ne Umstände wie ein sonniger Junitag, und alles. Es ist nichts zu groß oder zu klein
schon wenig später wie ein trüber November- für seine liebevolle Fürsorge.
tag. An einem Tag besuche ich eine Hochzeit, »Gebet« ist sowohl eine Handlung als
am nächsten kann ich schon an einem offenen auch eine Atmosphäre. Wir kommen zu

975
Philipper 4

bestimmten Zeiten zum Herrn und brin- daß wir etwas dafür können. Das Ge-
gen ihm bestimmte Anliegen. Doch es ist heimnis liegt darin, unsere Gedanken
auch möglich, in einer Atmosphäre des aktiv zu steuern. Man kann keine bösen
Gebets zu leben. Es ist möglich, daß Gedanken hegen und gleichzeitig an den
unsere Lebenshaltung die des Gebets ist. Herrn Jesus denken. Wenn also jemand
Vielleicht steht das Wort Gebet in diesem von bösen Gedanken gequält wird, sollte
Vers für das Wesen unseres Lebens, er sie so schnell wie möglich loswerden,
während »Flehen« für bestimmte »Anlie- indem er über die Person und das Werk
gen« steht, die wir dem Herrn bringen. Christi nachdenkt. Die einsichtigeren
Doch sollten wir weiter festhalten, Psychologen und Psychoanalytiker un-
daß unsere »Anliegen« Gott »mit Dank- serer Tage sind sich mit Paulus in dieser
sagung … kund werden« sollen. Jemand Angelegenheit einig. Sie betonen die
hat diesen Vers einmal zusammengefaßt, Gefahren negativen Denkens.
indem er sagte, daß wir »uns um nichts Man braucht nicht sehr genau hin-
sorgen sollen, immer im Gebet leben soll- schauen, um den Herrn Jesus Christus in
ten und für alles dankbar sein sollten«. Vers 8 zu entdecken. »Alles, was wahr,
4,7 Wenn diese Haltungen unser alles, was ehrbar, alles, was gerecht, alles,
Leben bestimmen, dann wird »der Friede was rein, alles, was liebenswert, alles,
Gottes, der allen Verstand übersteigt« was wohllautend ist, wenn es irgendeine
unsere »Herzen und« unsere »Gedanken Tugend und wenn es irgendein Lob
bewahren in Christus Jesus«. Der Friede gibt«, dann findet es sich in ihm. »Wahr«
Gottes ist das Gefühl heiliger Ruhe und bedeutet hier das Gegenteil von unzu-
Zufriedenheit, das die Seele des Gläubi- verlässig, es bedeutet echt und wahrhaf-
gen durchströmt, wenn er sich auf den tig. »Ehrbar« bedeutet ehrlich oder sitt-
Herrn stützt. lich anziehend. »Gerecht« bedeutet ge-
Beim Herrn bleibend, recht vor Gott und vor Menschen. »Rein«
die Herzen überschwenglich gesegnet bezieht sich auf den hohen sittlichen
finden wir, wie versprochen, Standard im Leben eines Menschen.
vollkommenen Frieden und Ruhe. »Liebenswert« bedeutet alles Bewunde-
Frances Redley Havergal rungswürdige oder was man gern be-
Dieser »Friede … übersteigt … allen trachtet oder bedenkt. »Wohllautend« ist
Verstand«. Die Weltmenschen können auch mit »gutem Ruf« übersetzt worden.
das nicht verstehen, und sogar Christen, »Tugend« redet natürlich von sittlicher
die ihn haben, sehen darin ein wunder- Größe und mit »Lob« wird alles bedacht,
bares Geheimnis. Sie sind von ihrer eige- was empfehlenswert ist.
nen Furchtlosigkeit angesichts Tragödien In Vers 7 hat Paulus den Heiligen ver-
oder hinderlicher Umstände erstaunt. sichert, daß Gott ihre Herzen und Ge-
Dieser Friede bewacht das Herz und danken in Christus bewahren würde.
das Gedankenleben. Welch ein notwen- Doch er vergißt nicht, sie daran zu erin-
diges Tonikum ist er in unserer Zeit der nern, daß auch sie in dieser Angelegen-
Neurosen, der nervösen Zusammen- heit Verantwortung tragen. Gott wird
brüche, der Beruhigungsmittel und psy- das Gedankenleben eines Menschen, der
chischem Unglück. sich nicht wünscht, daß sein Gedankenle-
4,8 Nun gibt der Apostel noch einen ben rein bleibt, nicht bewahren.
abschließenden Rat zum Gedankenle- 4,9 Und wieder weist der Apostel
ben. Die Bibel lehrt uns überall, daß wir Paulus auf sein eigenes Vorbild hin. Er
kontrollieren können, was wir denken. ermahnt die Gläubigen, das umzusetzen,
Es ist sinnlos, eine herunterspielende was sie von ihm »gelernt und empfangen
Haltung einzunehmen und zu sagen, … und an« seinem Leben »gesehen«
daß wir einfach nichts dafür können, haben.
wenn unser Geist mit unwillkommenen Die Tatsache, daß diese Ermahnung
Gedanken erfüllt ist. Die Tatsache bleibt, so eng auf Vers 8 folgt, ist bedeutsam.

976
Philipper 4

Rechtes Leben ergibt sich aus rechtem Umständen völlig unabhängig ist. Er hat-
Denken. Wenn das Gedankenleben eines te es »gelernt«, sich »darin zu begnü-
Menschen rein ist, dann wird sein Leben gen«, ganz gleich, wie seine finanzielle
auch rein sein. Wenn jemand dagegen ein Situation sein mochte. »Zufriedenheit ist
Brunnen der Verderbnis ist, dann kann wirklich besser als Reichtum, denn wenn
man sicher sein, daß der Bach, der daraus Zufriedenheit auch nicht Reichtum her-
hervorgeht, ebenso verdorben ist. Und vorbringt, so erreicht sie doch dasselbe
wir sollten uns immer daran erinnern, Ziel, indem sie das Verlangen für diesen
daß jemand einem bösen Gedanken nur Reichtum beseitigt.«
lange genug nachhängen muß, um ihn »Es ist ein wunderbares Geheimnis,
schließlich in die Tat umzusetzen. Denje- wenn der Gläubige lernt, seinen Kopf
nigen, die treu dem Beispiel des Apostels hoch zu halten, auch wenn der Magen
folgen, wird verheißen, daß »der Gott leer ist, aufrecht zu gehen, wenn die
des Friedens« mit ihnen sein wird. In Taschen leer sind, ein frohes Herz zu
Vers 7 ist der Friede Gottes das Erbe behalten, auch wenn das Gehalt nicht ge-
derer, die im Gebet ausharren; hier nun zahlt wurde und Glauben an Gott zu
ist »der Gott des Friedens« der Begleiter haben, wo anderen der Glaube fehlt«
derer, die ein geheiligtes Leben führen. (sinngemäß).
Es geht hier darum, daß Gott den Men- 4,12 Paulus wußte, was es bedeutet,
schen durch gegenwärtige Erfahrungen »erniedrigt zu sein«, d. h. nicht einmal
ganz besonders nahe und lieb wird, das Notwendigste zum Leben zu haben,
deren Leben eine Verwirklichung der und er wußte auch, wie es ist, »Überfluß
Wahrheit ist. zu haben«, d. h. daß ihm zu einer be-
stimmten Zeit mehr gegeben wurde, als
IX. Paulus’ Dank für die Gabe der Hei- seine unmittelbaren Bedürfnisse erfor-
ligen (4,10-20) derten. »In jedes und in alles« war er
4,10 In den Versen 10-19 spricht Paulus »eingeweiht, sowohl satt zu sein als zu
von der Beziehung, die zwischen der hungern, sowohl Überfluß zu haben als
Gemeinde in Philippi und ihm durch Mangel zu leiden«. Wie hatte der Apostel
finanzielle Unterstützung entstand. Nie- diese Lektion »gelernt«? Einfach so: Er
mand kann jemals ausdrücken, wie war sich sicher, daß er im Willen Gottes
bedeutungsvoll diese Verse für einzelne lebte. Er wußte, daß er sich immer im
Heilige waren, die berufen waren, durch göttlichen Auftrag bewegte, wo und in
Zeiten finanzieller Engpässe und Widrig- was für Umständen er sich auch befin-
keiten zu gehen! den mochte. Wenn er hungrig war, dann
Paulus freut sich, daß die Philipper wollte Gott, daß er hungerte. Wenn er
»endlich einmal wieder«, nachdem eini- genug hatte, dann deshalb, weil sein
ge Zeit vergangen war, ihm praktische Herr es so geplant hatte. Eifrig und treu
Hilfe zum Werk des Herrn gesandt im Dienst seines Königs beschäftigt
haben. Er tadelt sie nicht für die Zeit, in konnte er sagen: »So sei es, Vater, denn so
der er nichts erhalten hat, er bezeugt hat es dir gefallen.«
ihnen ja, daß sie ihm Gaben senden woll- 4,13 Dann fügt der Apostel die Worte
ten, aber »keine Gelegenheit« dazu hat- hinzu, die für viele ein Rätsel sind: »Alles
ten. Moffat übersetzt: »Euch hat es nicht vermag ich in dem, der mich kräftigt.«
an Fürsorge gefehlt, sondern an Gelegen- Konnte er das etwa wörtlich meinen?
heit, diese zu erweisen.« Glaubte der Apostel wirklich, daß er tun
4,11 Es ist sehr schön zu sehen, wie könne, was ihm nur einfiele? Die Ant-
taktvoll, liebevoll und höflich Paulus das wort lautet: Wenn der Apostel Paulus
Thema Geld behandelt. Er möchte nicht, sagte, daß er »alles« tun könne, dann
daß sie denken, er beklage sich über meinte er »alles«, was der Wille Gottes
mangelnde Geldmittel. Er möchte ihnen war. Er hatte gelernt, daß die Aufträge
zeigen, daß er von solchen materiellen Gottes gleichzeitig Befähigung sind. Er

977
Philipper 4

wußte, daß Gott ihn niemals berufen dürfnis nach finanzieller Hilfe war sein
würde, eine Aufgabe zu lösen, ohne ihm Sehnen, daß sich »Frucht … zugunsten«
die dazu notwendige Gnade zu schen- der »Rechnung« der Philipper mehren
ken. »Alles« bezieht sich wahrscheinlich möge. Genau das passiert, wenn wir Gott
nicht auf waghalsige Leistungen, son- unser Geld zur Verfügung stellen. Es
dern auf große Entbehrungen und Hun- wird in den Rechnungsbüchern ver-
gerzeiten. merkt und am kommenden Tag hundert-
4,14 Trotz seiner vorhergehenden fältig zurückgezahlt.
Worte möchte er deutlich machen, daß All unser Eigentum gehört dem
die Philipper »wohl daran getan« haben, Herrn, wenn wir ihm also etwas geben,
daß sie an seiner »Bedrängnis teilgenom- dann geben wir es ihm nur zurück. Chri-
men« haben. Damit ist wahrscheinlich sten, die darüber diskutieren, ob sie den
das Geld gemeint, daß sie ihm sandten, Zehnten geben sollen oder nicht, haben
damit er seinen Lebensunterhalt im nicht verstanden, worum es geht. Der
Gefängnis damit bestreiten konnte. Zehnte, d. h. der zehnte Teil des Einkom-
4,15 In der Vergangenheit hatten sich mens, war für die Israeliten unter dem
die Philipper in der Gnadengabe des Gesetz die Mindestgabe. In unserem
Gebens sehr hervorgetan. In der Frühzeit Zeitalter der Gnade sollte die Frage nicht
des Dienstes des Paulus, als er »aus lauten: »Wieviel soll ich dem Herrn
Mazedonien wegging«, hatte ihn außer geben?« sondern »Wieviel wage ich, für
den Philippern »keine Gemeinde … am mich selbst zu behalten?« Es sollte das
gegenseitigen Geben und Empfangen Verlangen des Christen sein, sparsam
beteiligt«. und aufopferungsvoll zu leben, um
Es ist bemerkenswert, wie diese einen immer größeren Teil seines Ein-
scheinbar unwichtigen Einzelheiten für kommens in das Werk des Herrn zu inve-
immer in Gottes kostbarem Wort festge- stieren, damit nicht Menschen verloren
halten sind. Das lehrt uns, daß das, was gehen, weil sie das Evangelium Christi
wir den Dienern des Herrn geben, letzt- nicht gehört haben.
lich dem Herrn gegeben wird. Gott ist an 4,18 Wenn Paulus sagt: »Ich habe
jedem Pfennig interessiert. Er zeichnet alles«, dann meint er: »Ich habe alles Not-
alles auf, was wir ihm geben, und er wendige, ›und Überfluß.‹« Es scheint in
belohnt mit einem vollen, gerüttelten unseren so kommerziellen Tagen befrem-
und überfließenden Maß. dend, von einem Diener des Herrn zu
4,16 »Sogar« als er »in Thessalonich hören, der nicht um Geld bettelt, sondern
war«, hatten sie »nicht nur einmal, son- im Gegenteil zugibt, daß er ausreichend
dern zweimal für« seinen »Bedarf hat. Die ungezügelten Bettelkampagnen
gesandt«. Es ist offensichtlich, daß die unserer Tage sind Gott ein Greuel und
Philipper so eng mit dem Herrn zusam- Schmach für den Namen Christi. Sie sind
menlebten, daß er sie auch beim Geben völlig unnötig. Hudson Taylor hat ein-
leiten konnte. Der Herr legte ihrem Her- mal gesagt: »Dem Werk Gottes, das auf
zen eine Last für den Apostel Paulus auf. Gottes Weise getan wird, wird es nie an
Sie reagierten darauf, indem sie ihm Gottes Reichtum mangeln.« Unser Pro-
»zweimal« Geld sandten. Wenn wir uns blem heute ist, daß wir nicht mehr unter-
daran erinnern, daß Paulus nur kurze scheiden zwischen Dienst für Gott und
Zeit in Thessalonich war, so macht das Dienst Gottes. Es ist möglich, sich in
ihre Fürsorge für ihn umso bemerkens- sogenanntem christlichen Dienst zu
werter. engagieren, und trotzdem nicht im Wil-
4,17 Die ausgesprochene Selbstlosig- len Gottes zu handeln. Wo sehr viel Geld
keit des Paulus wird aus diesem Vers im Spiel ist, da besteht immer die Mög-
deutlich. Er war über ihren geistlichen lichkeit, daß Projekte in Angriff genom-
Fortschritt begeisterter als über ihre men werden, die nicht die göttliche
eigentliche »Gabe«. Größer als sein Be- Genehmigung erhalten haben. Um noch-

978
Philipper 4

mals Hudson Taylor zu zitieren: »Was Geben für Christus treu und hingegeben
wir zu fürchten haben, sind nicht leere sind, niemals Mangel leiden werden.
Kassen, sondern zuviel ungeweihtes Es ist oft bemerkt worden, daß Gott
Geld.« die Bedürfnisse seines Volkes nicht aus
Die Liebesgabe, die »Epaphroditus« seinem Reichtum bestreitet, sondern
Paulus von den Philippern brachte, wird »nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in
als »duftender Wohlgeruch, ein angeneh- Christus Jesus«. Wenn ein Millionär
mes Opfer, Gott wohlgefällig« beschrie- einem Kind einen Groschen gibt, dann
ben. Das einzige Mal, wo diese Worte in gibt er aus seinem Reichtum. Doch wenn
dieser Kombination noch einmal auftau- er für eine gute Sache hunderttausend
chen ist in Epheser 5,2, wo sie auf Chri- Mark spendet, dann gibt er nach seinem
stus selbst bezogen sind. Paulus adelt die Reichtum. Gott versorgt uns »nach sei-
aufopferungsvolle Gabe der Philipper, nem Reichtum in Herrlichkeit in Christus
indem er beschreibt, was es für Gott Jesus« und nichts könnte dies übertreffen!
bedeutet. Es stieg zu ihm wie ein wohl- Williams nennt Vers 19 einen Scheck
riechendes »Opfer« auf. Es war sowohl von der Glaubensbank:
»angenehm« als auch »wohlgefällig«. »Mein Gott« – Name des Bankiers.
Jowett ruft aus: »Wird erfüllen« – die Zahlungsver-
Wie groß sind doch die Auswirkungen einbarung.
von scheinbar unbedeutender Freundlich- »Alles, was ihr bedürft« – der Wert
keit! Wir dachten, daß wir einem Armen die- des Schecks.
nen, und in Wirklichkeit unterhielten wir »Nach seinem Reichtum« – das Kapi-
uns mit dem König. Wir stellten uns vor, daß tal der Bank.
der Duft auf unsere unmittelbare Nachbar- »In Herrlichkeit« – der Sitz der Bank.
schaft beschränkt sei, und siehe, der süße »In Christus Jesus« – die Unterschrift
Duft zieht durch das Universum. Wir dach- unter dem Scheck, ohne die der Scheck
23)
ten, wir hätten es nur mit Paulus zu tun, und ungültig wäre.
wir entdecken, daß wir dem Herrn und Erlö- 4,20 Als der Apostel an Gottes über-
22)
ser des Paulus gedient haben. reiche Fürsorge denkt, bricht er in Lob-
4,19 Nun fügt Paulus noch den be- preis aus. Das ist eine angemessene Spra-
kanntesten und vielleicht vielgeliebte- che für jedes Kind Gottes, das täglich die
sten Vers dieses gesamten Kapitels an. gnädige Fürsorge Gottes erlebt, nicht nur
Wir sollten festhalten, daß diese Ver- darin, daß ihm materielle Dinge ge-
heißung auf die Beschreibung der treuen schenkt werden, sondern auch, daß es
Haushalterschaft folgt. Mit anderen Wor- geführt wird, ihm in der Versuchung ge-
ten, weil die Philipper ihre materiellen holfen wird und sein mattes geistliches
Güter Gott zur Verfügung gestellt hatten, Leben wieder erquickt wird.
sogar in einem Grad, der ihren eigenen
Lebensunterhalt in Frage stellte, würde X. Abschließende Grüße (4,21-23)
Gott »alles, was« sie bedürfen, zur Verfü- 4,21 Als Paulus an die Gläubigen denkt,
gung stellen. Wie einfach ist es, diesen wie sie versammelt sind und auf den
Vers aus seinem Zusammenhang zu Brief hörten, den er ihnen schrieb, grüßt
reißen und ihn als Ruhekissen für Chri- Paulus »jeden Heiligen in Christus
sten zu mißbrauchen, die ihr Geld für Jesus« und sendet ihnen Grüße von den
sich selbst verschwenden und nur selten Brüdern, »die bei« ihm »sind«.
einen Gedanken für das Werk des Herrn 4,22 Wir lieben diesen Vers ganz
übrig haben! »Alles o.k., Gott wird schon besonders wegen der Erwähnung des
für alles sorgen.« Hauses »des Kaisers«. Dieser Satz regt
Es ist zwar allgemein richtig, daß unsere Phantasie an. Wer sind die Glie-
Gott für die Bedürfnisse seines Volkes der des Hauses Nero, die hier erwähnt
sorgt, doch handelt es sich hier um die werden? Waren es einige der Soldaten,
Verheißung, daß diejenigen, die in ihrem die bestimmt waren, den Apostel Paulus

979
Philipper 4

zu bewachen, und die durch seinen und findet sich nun an seinem Schluß
Dienst errettet wurden? Waren es Skla- wieder. Aus der Fülle des Herzens
ven oder Freigelassene, die im Palast spricht der Mund. Das Herz des Paulus
arbeiteten? Oder könnte es sich auch um war zum Überfließen erfüllt mit dem
einige Glieder der römischen Verwal- großartigsten Thema aller Zeiten – der
tung handeln? Wir können es nicht mit »Gnade« Gottes durch den »Herrn Jesus
Sicherheit sagen, doch haben wir hier Christus« – und es ist nicht erstaunlich,
eine wunderschöne Illustration der daß diese wertvolle Wahrheit jede Faser
Wahrheit, daß Christen wie Spinnen seines Wesens durchdringt.
ihren Weg auch in die Paläste der Könige Paul Rees schließt für uns:
finden (Spr 30,28)! Das Evangelium Der großartigste Mensch hat den liebe-
kennt keine Grenzen. Es kann die un- vollsten seiner Briefe geschrieben. Der Lie-
überwindlichsten Mauern durchdrin- besdienst ist vollendet. Der Tag ist vergan-
gen. Es kann sich selbst inmitten derer gen. Die Hand des Apostels ist noch immer
anpflanzen, die versuchen, es auszurot- festgekettet, der Soldat bewacht ihn immer
ten. Wirklich, die Pforten des Hades sol- noch. Doch darum braucht sich niemand zu
len die Gemeinde Christi nicht besiegen! kümmern. Der Geist des Paulus ist frei, sein
4,23 Nun schließt Paulus mit seinem Verstand klar und sein Herz glüht!
ihm charakteristischen Gruß. »Gnade« Und am nächsten Morgen bricht Epa-
24)
funkelt auf der ersten Seite diese Briefes, phroditus nach Philippi auf!

980
Anmerkungen

Anmerkungen 8) (1,21) Jowett, Calling, S. 34.


9) (2,1) F. B. Meyer, Devotional Commen-
tary on Philippians, S. 77-79.
1) (Einleitung) H. A. A. Kennedy, 10) (2,5) King, Joy Way, S. 51.
»Phillippians«, The Expositor’s Greek 11) (2,6) E. H. Gifford, The Incarnation,
Testament, Bd. 3, S. 407. S. 44-45.
2) (1,1) J. H. Jowett, The High Calling, 12) (2,11) Charles R. Erdman, keine wei-
S. 2. teren Angaben verfügbar.
3) (1,7) W. E. Vine, The Epistles to the 13) (2,17) George Williams, The Student’s
Philippians and Colossians, S. 23. Commentary on the Holy Scriptures,
4) (1,10) Wenn man dieses Wort ablei- S. 931.
tet, dann bedeutet das Wort, das hier 14) (3,7) King, Joy Way, S. 81.
mit »lauter« (eilikrines) übersetzt 15) (3,10) Jowett, Calling, S. 217.
wird, soviel wie »unvermischt« oder 16) (3,10) Ebd., S. 81-82.
»lichtecht«. Wenn das erstere der Fall 17) (3,10) Hudson Taylor, zitiert in
ist, dann entspricht die Bedeutung Mrs. Howard Taylor, Behind the Ran-
dem deutschen »lauter«. Bei dem ges, S. 170.
Wort »lichtecht« ist hier an einen 18) (3,10) C. A. Coates, keine weiteren
Bildhauer zu denken, der einen Feh- Angaben verfügbar.
ler im Gestein nicht einfach mit 19) (3,17) Strauss, Philippians, S. 202.
Wachs auffüllt, sondern sein Werk so 20) (4,3) »Jochgenosse« (gr. su(n)zugos)
arbeitet, daß der Fehler mit ausge- könnte ein Eigenname sein (Synzy-
hauen wird. Ein »unlauterer« Bild- gus). Obwohl dieser Name sonst nir-
hauer würde einfach mit Wachs auf- gendwo gefunden worden ist, kann
füllen, welches jedoch in der Sonne es sein, daß dies ein Sklavenname
durch das Schmelzen des Wachses gewesen ist.
bald entdeckt werden würde. 21) (4,4) Jowett, Day by Day, S. 169-171.
5) (1,11) Lehman Strauss, Devotional 22) (4,18) Ebd. S. 225.
Studies in Philippians, S. 63. 23) (4,19) Williams, Student’s Commen-
6) (1,13) T. W. Drury, The Prison Mini- tary, S. 934.
stry of St. Paul, S. 22. 24) (4,23) Paul Rees, The Adequate Man,
7) (1,20) Guy King, Joy Way, S. 33. S. 127.

981
Bibliographie

Bibliographie King, Guy H.,


Joy Way,
London: Marshall, Morgan & Scott, 1954.
Erdman, C. R.,
Meyer, F. B.,
The Epistle of Paul to the Philippians,
Devotional Commentary on Philippians,
Philadelphia: Westminster Press, 1928.
Grand Rapids: Kregel, 1979.
Gifford, E. H.,
Rees, Paul,
The Incarnation: A Study of Philippians,
The Adequate Man,
London: Hodder & Stoughton, 1897.
Westwood, NJ: Fleming H. Revell, 1959.
Jowett, J. H.,
Strauss, Lehman,
The High Calling,
Devotional Studies in Philippians,
London: Andrew Melrose, 1909.
Neptune, NJ: Loiseaux Bros., 1959.
Kelly, William,
Vine, W. E.,
Lectures on Philippians and Colossians,
The Epistles to the Philippians and
London: G. Morrish, o. J.
Colossians,
Kennedy, H. A. A., London: Oliphants, 1955.
»Philippians« in: The Expositor’s Greek
Testament, Bd. 3.,
Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans, 1961.

982
Der Brief an die Kolosser
»Sich in den Kolosserbrief einzuarbeiten, seinen inspirierten Gedankengängen,
die in eine inspirierte Sprache gekleidet sind, nachzugehen,
das Licht und die Macht dieser Gedanken die Seele erfüllen
und das Leben verändern zu lassen –
das ist eine Bereicherung für Zeit und Ewigkeit.«
R. C. H. Lenski

Einführung Alexandria, Tertullian und Origines. So-


wohl der Kanon des Marcion als auch das
Muratorische Fragment erkennen den
I. Einzigartige Stellung im Kanon Kolosserbrief als authentisch an.
Die meisten Briefe des Paulus wurden an Zu den inneren Beweisen gehört die
Gemeinden in großen oder bedeutenden einfache Tatsache, daß der Schreiber drei-
Städten geschrieben. Kolossä dagegen mal sagt, daß er Paulus ist (1,1.23; 4,18),
war eine Stadt, die schon einmal bessere und der Inhalt des Briefes stimmt mit die-
Zeiten erlebt hatte. Die Gemeinde dort ist ser Aussage überein. Die Darstellung der
in der frühen Kirchengeschichte nicht be- Lehre, die von Ausführungen über die
kannt geworden. Kurz gesagt, gäbe es christlichen Pflichten gefolgt wird, ist
nicht den inspirierten Brief an die Chri- typisch für den Apostel. Der wohl über-
sten dort, wäre der Name Kolossäs heute zeugendste Beweis für die Echtheit ist die
nur noch Historikern bekannt. enge Verbindung zum Philemonbrief,
Obwohl der Ort unbedeutend war, ist dessen Echtheit niemand anzweifelt.
der Brief, den der Apostel dorthin sand- Fünf Menschen, die im Philemonbrief ge-
te, sehr wichtig. Zusammen mit Johan- nannt werden, tauchen auch im Kolosser-
nes 1 und Hebräer 1 ist Kolosser 1 die brief auf. Sogar solch ein Kritiker wie
packendste Darstellung der völligen Renan war von den Parallelen zum Phile-
Gottheit unseres Herrn Jesus Christus. monbrief beeindruckt, und doch bezwei-
Weil diese Lehre für alle christlichen felt er die Echtheit des Kolosserbriefes.
Dogmen grundlegend ist, kann der Wert Die Argumente gegen eine paulinische
dieses Kapitels kaum überbetont wer- Verfasserschaft drehen sich um das Voka-
den. bular, die Lehre über Christus und offen-
Der Brief bietet auch reichlich Lehren sichtliche Bezüge auf den Gnostizismus.
zum Thema Beziehungen, Sekten und Zum ersten Punkt läßt sich sagen, daß im
das christliche Leben. Kolosserbrief einige der Lieblingsworte
von Paulus durch neue ersetzt werden.
Salmon, ein konservativer Gelehrter des
II. Verfasserschaft 19. Jahrhunderts, begegnet diesem Argu-
Es gibt keinerlei Beweis, daß die paulini- ment recht scharfsinnig: »Ich kann die
sche Verfasserschaft des Kolosserbriefes Lehre nicht unterstützen, daß jemand,
vor dem neunzehnten Jahrhundert be- der ein neues Werk schreibt, kein einziges
stritten wurde, so vollständig sind die Be- Wort in diesem neuen Werk verwenden
weise für seine Verfasserschaft. Die äuße- darf, das er nicht schon in einem seiner
ren Beweise sind besonders stichhaltig. Zu vorhergehenden Werke benutzt hat, ohne
1)
denen, die den Brief zitieren, oftmals, in- daß er seiner Identität verlustig geht.«
dem sie Paulus’ Namen nennen, gehören Zur Christologie des Kolosserbriefes ist
Ignatius, Justin der Märtyrer, Theophilus zu sagen, daß sie mit der des Philipper-
von Antiochien, Irenäus, Clemens von briefes und der Johannesbriefe überein-

983
Kolosser

stimmt, und nur diejenigen, die versu- fließt. Dort trifft das Wasser der heißen
chen, die Lehre von der Gottheit Christi Quellen in Hierapolis auf das kalte Was-
zu einer Entwicklung des zweiten Jahr- ser aus Kolossä und bringt die »lau-
hunderts unter Einfluß des Heidentums warmen« Zustände in Laodizäa hervor.
zu machen, sollten mit dieser Lehre Hierapolis war sowohl Heilungs- als
irgendwelche Probleme haben. auch Religionszentrum, während Lao-
Was den Gnostizismus angeht, so dizäa die Metropole der Region war.
war der liberale schottische Gelehrte Kolossä war vor der Zeit des NT einmal
Moffatt der Überzeugung, daß es die größer gewesen. Der Name soll an-
frühe Stufe des Gnostizismus, die wir im geblich mit dem Wort »Koloß« verwandt
Kolosserbrief vorfinden, schon im ersten sein, weil es in der Gegend bizarre Kalk-
2)
Jahrhundert gegeben haben könnte. steinformationen gibt.
Deshalb basiert die paulinische Ver- Wir wissen nicht, wie das Evangeli-
fasserschaft des Kolosserbriefes auf um genau nach Kolossä kam. Zu der
sicheren Grundlagen. Zeit, als Paulus seinen Brief schreibt, ist
er den Kolossern noch nicht begegnet
III. Datierung (2,1). Man glaubt allgemein, daß Epa-
Als einer der »Gefangenschaftsbriefe« phras als erster das Evangelium von der
könnte der Kolosserbrief sicherlich aus Errettung in diese Stadt gebracht hat
der zweijährigen Gefangenschaft in (1,7). Viele glauben, daß er sich durch
Cäsarea stammen (Apg 23,23; 24,27). den Dienst des Apostels Paulus bekehr-
Doch da dort der Evangelist Philippus te, als dieser drei Jahre in Ephesus ver-
sein Gastgeber war, scheint es unwahr- brachte. Phrygien ist ein Teil des prokon-
scheinlich, daß der Apostel ihn nicht sulischen Asien, und Paulus war in
nennen sollte, wo Paulus doch stets ein Phrygien (Apg 16,6; 18,23), jedoch nicht
höflicher und dankbarer Christ war. in Kolossä (2,1).
Man hat auch eine mögliche ephesische Wir wissen aus dem Brief, daß eine
Gefangenschaft vorgeschlagen, obwohl Irrlehre, die in ihrer ausgereiften Form
dies noch viel unwahrscheinlicher ist. als Gnostizismus bekannt ist, begann, die
Am wahrscheinlichsten ist wohl die Gemeinde in Kolossä zu bedrohen. Die
Mitte der ersten römischen Gefangen- Gnostiker selbst rühmten sich ihrer Er-
schaft des Paulus als Abfassungs- kenntnis (gr. gnosis). Sie behaupteten, In-
datum anzunehmen, etwa um 60 n. Chr. formationen zu haben, die die Lehre des
(Apg 28,30.31). Apostels überträfen und versuchten den
Glücklicherweise hängt, wie mei- Eindruck zu erwecken, daß man nicht
stens, das Verständnis dieses Buches wirklich glücklich sein könne, ehe man
nicht von der vollen Kenntnis der Um- nicht in die tiefsten Geheimnisse ihrer
stände ab, unter denen es verfaßt wurde. Sekte eingeweiht sei.
Einige Gnostiker bestritten die Gott-
IV. Hintergrund und Thema heit Christi. Sie lehrten, daß »der Chri-
Kolossä war eine Stadt in der Provinz stus« ein göttlicher Einfluß sei, der von
Phrygien in einem Gebiet, das als Klein- Gott stammte, und auf dem Menschen
asien bekannt war. Sie lag etwa 16 km Jesus bei seiner Taufe ruhte. Sie lehrten
östlich von Laodizäa und 21 km südöst- weiter, daß der Christus den Jesus kurz
lich von Hierapolis (vgl. 4,13). Sie war vor dessen Kreuzigung verließ. Die Fol-
etwa 150 km östlich von Ephesus ent- ge war angeblich, daß zwar Jesus starb,
fernt, am Beginn des Passes in die Kad- doch Christus nicht gestorben war.
mischen Berge (ein schmales Tal von Bestimmte Zweige des Gnostizismus
etwa 19 km Länge) an der Militärstraße lehrten noch, daß es zwischen Gott und
vom Euphrat nach Westen. Kolossä lag der Materie verschiedene Ebenen oder
am Fluß Lycus (Wolf), der nur ein wenig Grade geistlicher Wesen gäbe. Sie nah-
westwärts der Stadt in den Mäander men diese Sicht an, um den Ursprung

984
Kolosser

des Bösen erklären zu können. A. T. Ro- standen. Der Antinomismus ist für alle
bertson erklärt: kennzeichnend, die behaupten, daß wir
Die gnostischen Spekulationen beschäf- unter der Gnade leben, und deshalb
tigten sich in erster Linie mit dem Ursprung leben können, wie es uns gefällt. Der
des Universums und der Existenz des Bösen. Judaismus war ursprünglich eine von
Sie nahmen an, daß Gott gut ist, und es den- Gott gestiftete Offenbarung, dessen For-
noch Böses gibt. Ihre Theorie lautete, daß das men und Zeremonien geistliche Wahr-
Böse in der Materie lokalisiert sei. Und doch heiten bildlich darstellen sollten, wie der
konnte der gute Gott nicht die böse Materie Brief an die Hebräer und andere Teile des
erschaffen. Deshalb nahmen sie eine Reihe NT zeigen. Doch entwickelte es sich zu
von Emanationen, Äonen, Geistern und einem System, in dem die äußeren For-
Engeln an, die zwischen Gott und der Mate- men selbst als wertvoll angesehen wur-
rie standen. Es ging darum, daß ein Äon von den, und die geistlichen Bedeutungen in
Gott kam, der nächste jedoch aus diesem Vergessenheit gerieten. Der Judaismus
ersten Äon, und so weiter, bis man weit hat seine Entsprechung heute in den vie-
genug von Gott entfernt war, so daß Gott len religiösen Systemen, die lehren, daß
nicht mehr durch die Erschaffung der bösen man Gottes Wohlgefallen durch eigene
Materie verunreinigt wurde und doch noch Werke gewinnen, und dabei den gefalle-
nahe genug blieb, um die Kraft zu haben, das nen Zustand des Menschen und seine
3)
Schöpfungswerk zu vollbringen. Erlösungsbedürftigkeit vergessen oder
Einige Gnostiker glaubten, daß der bestreiten könne.
Leib an sich sündig war und praktizier- Im Kolosserbrief tritt Paulus all die-
ten deshalb die Askese. Das bedeutet, sen Irrtümern massiv entgegen, indem er
daß sie sich einem System der Selbstver- die Herrlichkeit der Person und des Wer-
leugnung und sogar Selbstzüchtigung kes unseres Herrn Jesus Christus dar-
verschrieben, um einen höheren geistli- stellt.
chen Zustand zu erlangen. Andere gin- Dieser Brief ähnelt sehr dem Epheser-
gen ins andere Extrem und lebten völlig brief. Dennoch handelt es sich nur um
in fleischlichen Gelüsten, weil sie sagten, Ähnlichkeit, aber keineswegs um Wie-
daß der Leib nicht zähle und auf das derholung. Der Epheserbrief zeigt die
geistliche Leben eines Menschen keiner- Gläubigen mit Christus in der Himmels-
lei Einfluß habe! welt. Der Kolosserbrief dagegen zeigt die
Es scheint so, daß sich Spuren dieser Gläubigen auf der Erde mit Christus,
beiden Irrtümer in Kolossä fanden. ihrem Haupt, im Himmel. Die Betonung
Dabei handelte es sich um die Antinomer im Epheserbrief liegt darauf, daß der Gläu-
und um Judaisten. Die Antinomer lehr- bige in Christus ist, während der Kolosser-
ten, daß man unter der Gnade keine brief von Christus im Gläubigen, der Hoff-
Selbstzucht üben brauche, sondern allem nung der Herrlichkeit, spricht. Im Ephe-
leiblichen Verlangen nachgeben sollte. serbrief liegt das Gewicht mehr auf der
Das Judentum des AT war zu einem Gemeinde als auf dem »Leib« Christi, der
System zeremonieller Riten degeneriert, »Fülle dessen, der alles in allen erfüllt«
durch die die Menschen hofften, gerecht (Eph 1,23). Von daher wird die Einheit
vor Gott zu werden. des Leibes betont. Im Kolosserbrief wird
Die Irrlehren, die damals in Kolossä Christus im ersten Kapitel besonders als
umgingen, gibt es auch heute noch. Der Haupt dargestellt, es wird gezeigt, wie
Gnostizismus ist in den Sekten der wichtig es ist, sich am »Haupt« festzuhal-
Christlichen Wissenschaft, der Theoso- ten (2,18.19) und sich ihm zu unterwer-
phen, der Mormonen, der Zeugen Jeho- fen. 45 der 155 Verse im Epheserbrief sind
vas, der Unitarier und anderen wiederer- Versen im Kolosserbrief ähnlich.

985
Kolosser 1

Einteilung II. Die Pflichten des Gläubigen


gegenüber dem alles überragenden
Christus (Kap. 3.4)
I. Die Lehre des alles überragenden A. Das neue Leben des Gläubigen:
Christus (Kap. 1.2) Den alten Menschen ausziehen
A. Begrüßung (1,1.2) und den neuen anlegen (3,1-17)
B. Der Dank des Paulus und sein B. Angemessenes Verhalten für
Gebet für die Gläubigen (1,3-14) Mitglieder eines christlichen
C. Die Herrlichkeit Christi als Haushaltes (3,18-4,1)
Haupt der Gemeinde (1,15-23) C. Das Gebetsleben des Gläubigen
D. Der Dienst, der Paulus und sein Zeugnis durch Leben
aufgetragen ist (1,24-29) und Sprache (4,2-6)
E. Christus ist größer als D. Einiges über die Mitarbeiter des
Philosophie, Gesetzlichkeit, Paulus (4,7-14)
Mystik und Askese (2,1-23) E. Grüße und Ermahnungen (4,15-18)

Kommentar Paulus führt seine Apostelschaft auf


»Gottes Willen« zurück (s. a. Apg 9,15;
Gal 1,1). Es war keine Beschäftigung, die
I. Die Lehre des alles überragenden er sich selbst erwählt hätte oder für die er
Christus (Kap. 1.2) von Menschen ausgebildet worden wäre.
Auch war ihm sein Amt nicht durch
A. Begrüßung (1,1.2) menschliche Ordination gegeben. Sein
1,1 Zur Zeit, als das NT geschrieben wur- Amt war nicht »von Menschen« (als
de, war es üblich, einen Brief mit dem Ursprung) und auch nicht »durch Men-
Namen des Schreibers zu beginnen. Des- schen« (als Werkzeuge). Er tat seinen
halb stellt »Paulus« sich hier als »Apostel ganzen Dienst unter der ernsten Er-
Christi Jesu durch Gottes Willen« vor. kenntnis, daß Gott selbst ihn erwählt hat-
Ein »Apostel« war jemand, der vom te, ein Apostel zu sein.
Herrn Jesus besonders als Bote gesandt Als Paulus den Brief schrieb, war
worden war. Damit die Apostel die Bot- »Timotheus, der Bruder« bei ihm. Es ist
schaft, die sie predigten, beglaubigen gut, hier festzuhalten, wie wenig offiziell
konnten, wurde ihnen die Kraft gegeben, Paulus den Timotheus hier behandelt.
Wunder zu vollbringen (2. Kor 12,12). Beide waren Glieder einer gemeinsamen
Zusätzlich lesen wir, daß in bestimmten Bruderschaft, und es gab keinen Gedan-
Fällen der Heilige Geist gegeben wurde, ken an eine Hierarchie von Kirchenobe-
wenn die Apostel Gläubigen die Hände ren mit pompösen Titeln und aufwendi-
auflegten (Apg 8,15-20; 19,6). Es gibt gen Gewändern.
heute im engeren Sinne des Wortes keine 1,2 Der Brief ist an die »heiligen und
Apostel mehr auf dieser Welt, und es ist gläubigen Brüder in Christus zu Kolos-
Unsinn, wenn Menschen behaupten, daß sä« gerichtet. Hier haben wir zwei der
sie Nachfolger der Zwölf seien. Viele wunderbaren Namen, die im NT allen
werten Epheser 2,20 als Hinweis, daß die Christen gegeben werden. »Heilige« sind
Arbeit derer, die die besondere Gabe des Menschen, die für Gott aus der Welt aus-
Apostels und Propheten hatten, in der gesondert sind, und die deshalb ein ge-
Hauptsache Gemeindegründung war, im heiligtes Leben führen sollten. Der Aus-
Gegensatz zum Dienst von Evangelisten, druck »gläubige Brüder« steht dafür, daß
Hirten und Lehrern (Eph 4,11), die es im sie durch den Glauben an den Herrn
gesamten Zeitalter der Gemeinde gibt. Jesus Kinder eines gemeinsamen Vaters
986
Kolosser 1

sind; sie sind gläubige Brüder und wir noch immer in unseren Sünden.
Schwestern. Christen werden in anderen Doch weil er die Initiative ergriffen hat
Abschnitten des NT auch noch Jünger und seinen Sohn sandte, damit er für uns
und Gläubige genannt. starb, können wir nun Frieden mit Gott
Die Worte »in Christus« sprechen von und mit den Menschen haben, und wir
ihrer »geistlichen« Stellung. Als sie erret- tragen den Frieden Gottes in unseren
tet wurden, hat Gott sie in Christus hin- Herzen. Auch wenn man all dies gesagt
einversetzt, so daß sie »angenommen in hat, muß man doch vor der Aufgabe ver-
dem Geliebten« sind. Seitdem besitzen zweifeln, solche herrlichen Worte wie
sie Jesu Leben und sein Wesen. Seitdem diese zu definieren.
sind sie in Gottes Augen nicht mehr
Söhne Adams oder unbekehrte Men- B. Der Dank des Paulus und sein
schen, sondern er sieht sie nun in all dem Gebet für die Gläubigen (1,3-14)
Wohlgefallen, mit dem er seinen eigenen 1,3 Nachdem er die Heiligen in Begriffen
Sohn ansieht. Der Ausdruck »in Chri- gegrüßt hat, die zu den Parolen des Chri-
stus« bedeutet mehr Annahme, Nähe stentums wurden, handelt der Apostel
und Sicherheit als ein menschlicher Geist wieder ganz charakteristisch: Er fällt auf
verstehen kann. Der geographische Auf- seine Knie und »dankt« und betet. An-
enthaltsort der Gläubigen wird durch scheinend hat der Apostel immer sein
den Ausdruck »zu Kolossä« beschrieben. Gebet mit dem Lobpreis seines Herrn
Es ist zu bezweifeln, ob wir je von dieser begonnen, und wir tun gut daran, die-
Stadt gehört hätten, wenn dort nicht das sem Beispiel zu folgen. Sein Gebet ist an
Evangelium gepredigt und Menschen den »Vater unseres Herrn Jesus Chri-
errettet worden wären. stus« gerichtet. Gebet ist das unaus-
Paulus entbietet nun den Heiligen sprechliche Vorrecht, eine Audienz beim
diesen wunderschönen Gruß: »Gnade Herrscher des Universums zu haben.
euch und Friede von Gott, unserem Doch kann man fragen: »Wie kann es ein
Vater!« Keine Worte könnten besser die einfacher Mensch wagen, sich in die
Segnungen des Christentums zusam- schreckliche Gegenwart des allerhöch-
menfassen als »Gnade und Friede«. sten Gottes zu begeben?« Die Antwort
»Gnade« war ein üblicher griechischer findet sich in unserem Text. Der herrliche
Gruß, während »Friede« der jüdische und majestätische Gott des Universums
Gruß war. Diese Worte wurden gesagt, ist der »Vater unseres Herrn Jesus Chri-
wenn man sich traf, und wenn man wie- stus«. Der Gott, der so unendlich hoch
der auseinander ging. Paulus nahm bei- ist, kommt uns ganz nahe. Weil wir als
de zusammen und adelte ihre Bedeutung Gläubige in Christus an Christi Leben
und ihre Verwendung. »Gnade« zeigt teilhaben, ist Gott auch unser Vater
uns Gott, wie er sich zur sündigen, verlo- (Joh 20,17). Wir dürfen uns durch Chri-
renen Menschheit in Liebe und zartem stus nähern. »Allezeit … für euch beten.«
Mitgefühl hinabbeugt. »Friede« faßt alle Wenn man diesen Satz an sich alleine
Folgen zusammen, die es hat, wenn ein sieht, scheint er nicht so bemerkenswert
Mensch Gottes Gnade als Geschenk an- zu sein, doch bekommt er eine neue
nimmt. R. J. Little sagt: »Gnade kann vie- Bedeutung, wenn wir uns daran erin-
les bedeuten, sie ist wie ein Blanko- nern, daß dies das Interesse des Paulus
scheck. Friede ist ausdrücklich ein Teil an Menschen beschreibt, denen er noch
des christlichen Erbes, und deshalb soll- nie begegnet ist. Wir finden es oft schwer,
ten wir Satan nicht gestatten, ihn uns zu vor dem Thron der Gnade an unsere
rauben.« Auch die Reihenfolge der Wor- eigene Verwandtschaft und unsere
te ist von Bedeutung: erst kommt die Freunde zu denken, doch man denke
»Gnade«, dann der »Friede«. Wenn Gott sich die Gebetsliste, die der Apostel
nicht als erster in Liebe und Barmherzig- Paulus gehabt haben muß! Er betete
keit an uns gehandelt hätte, dann wären nicht nur für Christen, die er persönlich

987
Kolosser 1

kannte, sondern auch für solche an ent- hat, unvermeidlich ist, daß er Christus
fernten Orten, deren Namen ihn von öffentlich bekennt.
anderen genannt worden waren. Es ist Die Liebe der Kolosser erstreckte sich
wirklich so, daß das unermüdliche Ge- auf »alle Heiligen«. Sie waren weder pro-
betsleben des Paulus uns hilft, ihn besser vinziell noch sektiererisch in ihrer Liebe.
zu verstehen. Sie liebten nicht nur die Glieder ihrer
1,4 Er hatte von dem »Glauben« der Ortsgemeinde, sondern wo immer sie
Kolosser »an Christus Jesus« gehört und echte Gläubige fanden, verbreiteten sie
von ihrer »Liebe … zu allen Heiligen«. Er ihre warmherzige und großzügige Liebe.
erwähnt als erstes ihren »Glauben an Das sollte für uns alle eine Lektion sein,
Christus Jesus«. Dort müssen wir immer daß unsere Liebe nicht engstirnig und
anfangen. Es gibt heute viele religiöse nur auf unsere Ortsgemeinde, oder Mis-
Menschen in der Welt, die immer von sionare aus unserem eigenen Land be-
ihrer Liebe zu anderen sprechen. Doch schränkt sein darf. Wir sollten die Schafe
wenn man sie hinterfragt, dann findet Christi anerkennen, wo immer wir sie
man heraus, daß sie keinen »Glauben« an finden, und, wenn irgend möglich, ihnen
den Herrn »Jesus« haben. Solche Liebe ist unsere Liebe erweisen.
hohl und bedeutungslos. Auf der ande- 1,5 Es ist nicht ganz eindeutig, wie
ren Seite gibt es diejenigen, die bekennen, dieser Vers mit dem vorangegangen zu-
»Glauben an Christus« zu haben, doch sammenhängt. Hängt er mit Vers 3 zu-
sucht man vergebens nach Beweisen der sammen: Wir danken … »wegen der Hoff-
»Liebe« in ihrem Leben. Paulus würde nung, die für euch in den Himmeln auf-
auch die Echtheit ihres Glaubens in Frage bewahrt ist«? Oder gehört er zum zweiten
stellen. Es ist echter »Glaube« an den Teil von Vers 4: Eure Liebe zu allen Heili-
Erlöser nötig, und dieser Glaube muß gen … »wegen der Hoffnung, die für euch
sich in einem Leben der Liebe zu Gott in den Himmeln aufbewahrt ist«? Beide
und den Nächsten beweisen. Deutungen sind möglich. Es kann sein,
Paulus spricht vom »Glauben an daß der Apostel nicht nur für ihren Glau-
Christus Jesus«. Es ist sehr notwendig, ben und ihre Liebe Dank sagt, sondern
dies festzuhalten. Der Herr Jesus wird in auch für ihr Erbe, das sie eines Tages ein-
der Schrift immer als Gegenstand unse- nehmen werden. Andererseits gilt auch,
res Glaubens genannt. Man mag unbe- daß Glaube an Jesus und Liebe zu allen
grenztes Vertrauen zu einer Bank haben, Heiligen im Hinblick auf das Kommende
doch dieser Glaube ist nur dann berech- geübt wurde. Jedenfalls können wir er-
tigt, wenn diese Bank auch verläßlich ist. kennen, daß Paulus hier die drei Kardi-
Der Glaube selbst wird nicht die Sicher- naltugenden des christlichen Lebens auf-
heit des Geldes garantieren, das auf einer zählt: Glaube, Liebe und »Hoffnung«.
Bank liegt, die schlecht verwaltet wird. Dies drei werden auch in 1. Korinther
Genauso ist es im geistlichen Leben. 13,13 und in 1. Thessalonicher 1,3 und 5,8
Glaube an sich reicht nicht aus. Der Glau- erwähnt. Lightfood sagt: »Der Glaube
be muß sich auf den Herrn Jesus Christus ruht auf der Vergangenheit, die Liebe
richten. Weil er niemals unzuverlässig wirkt in der Gegenwart und die Hoffnung
4)
sein kann, wird niemand, der auf ihn erstreckt sich auf die Zukunft.«
vertraut, enttäuscht werden. In diesem Vers bedeutet »Hoffnung«
Die Tatsache, daß Paulus von ihrem nicht die Haltung, auf etwas zu warten
»Glauben« und ihrer Liebe gehört hat, oder zu erwarten, sondern bezieht sich
zeigt uns, daß sie ganz gewiß nicht im auf den Gegenstand der Hoffnung. Hier
Geheimen gläubig waren. Es ist so, daß bedeutet es die Erfüllung unserer Erlö-
das NT kaum dazu ermutigt, eine gehei- sung, wenn wir in den Himmel aufge-
me Jüngerschaft zu führen. Die Lehre des nommen werden und unser ewiges Erbe
Wortes Gottes lautet, daß es, wenn je- antreten. Die Kolosser hatten von dieser
mand wirklich den Erlöser angenommen Hoffnung schon vorher gehört, viel-

988
Kolosser 1

leicht, als Epaphras ihnen das Evangeli- gleichzeitig gab es geistliches Wachstum
um predigte. Was sie gehört haben, wird im Leben der Gläubigen dort.
als »Wort der Wahrheit des Evangeli- Es scheint so, daß im ersten Jahrhun-
ums« beschrieben. Das Evangelium wird dert viele Gebiete durch das Evangelium
als Botschaft richtiger guter Nachrichten erreicht wurden. Es erreichte Europa, Asi-
bezeichnet. Vielleicht denkt Paulus hier en und Afrika, es kam weiter, als viele
beim Schreiben an die falschen Lehren der Leute glaubten. Doch gibt es trotzdem
Gnostiker. Jemand hat »Wahrheit« ein- keinen Grund anzunehmen, daß es wirk-
mal definiert als das, was Gott über eine lich die ganze Erde erreichte. Die Worte
Sache denkt (Joh 17,17). Das »Evangeli- »die Gnade Gottes« sind eine schöne Be-
um« ist wahr, weil es Gottes Wort ist. schreibung der Evangeliumsbotschaft.
1,6 Die Wahrheit des Evangeliums Was könnte die gute Nachricht besser
war zu den Kolossern ebenso »gekom- zusammenfassen als die wunderbare
men«, wie in die »ganze« damals be- Wahrheit der Gnade Gottes, die auf schul-
kannte »Welt«. Das darf man nicht im dige Menschen ausgegossen wird, die
absoluten Sinne verstehen. Es kann nicht eigentlich Gottes Zorn verdient hätten?
bedeuten, daß jeder Mann und jede Frau 1,7 Der Apostel sagt deutlich, daß die
auf der Welt das Evangelium gehört hat- Gläubigen die Evangeliumsbotschaft
ten. Es könnte bedeuten, daß mindestens von »Epaphras« gehört hatten und sie
einer aus jeder Nation das Evangelium durch ihn auch in ihrem Leben erfahren
von der Erlösung gehört hatte (Apg 2). haben. Paulus empfiehlt Epaphras als
Es kann auch heißen, daß das Evangeli- »geliebten Mitknecht« und »treuen Die-
um für alle Menschen gedacht ist, und es ner des Christus für« sie. Paulus war nie-
ohne absichtliche Begrenzung verbreitet mals bitter oder eifersüchtig. Es störte
wurde. Paulus beschreibt auch die un- ihn nicht, wenn ein anderer Prediger
ausweichlichen Folgen der Evange- empfohlen wurde. Er war sogar der
liumsverkündigung. In Kolossä und in erste, der seine Wertschätzung anderen
allen anderen Teilen der »Welt«, wo das Dienern des Herrn Ausdruck verlieh.
Evangelium gepredigt wurde, »bringt« 1,8 Von Epaphras selbst hatte Paulus
5)
es »Frucht … und wächst«. Das wird über die »Liebe im Geist« der Kolosser
ausgesagt, um den übernatürlichen Cha- gehört. Diese Liebe war nicht einfach
rakter des Evangeliums zu betonen. In menschliche Zuneigung, sondern echte
der Natur bringt eine Pflanze normaler- Liebe zum Herrn und zu seinem Volk,
weise nicht gleichzeitig mit dem Wachs- die durch die Innewohnung des Heiligen
tum Früchte. Oftmals müssen Pflanzen Geistes in ihrem Leben hervorgebracht
sogar zurückgeschnitten werden, damit wurde. Das ist die einzige Erwähnung
sie Frucht bringen, denn wenn man der des Heiligen Geistes in diesem Brief.
Pflanze erlaubt, ungehemmt zu wach- 1,9 Nachdem Paulus sein Dankgebet
sen, dann folgt daraus, daß alle Kraft an geschlossen hat, bittet er nun besonders
Blätter und Zweige verschwendet wird, für die Heiligen. Wir haben schon er-
statt zum Fruchttragen genutzt zu wer- wähnt, wie umfassend das Gebet des
den. Doch das Evangelium kann beides Apostels war. Wir sollten weiter festhal-
gleichzeitig. Es bringt »Frucht« der Erlö- ten, daß seine Bitten immer den Bedürf-
sung von Menschen und verbreitet sich nissen des Volkes Gottes an dem jeweili-
gleichzeitig von Stadt zu Stadt und von gen Ort angepaßt waren. Er betete nie in
Land zu Land. Allgemeinplätzen. Hier bittet er um vie-
Das ist genau die Folge, die das Evan- rerlei für die Kolosser: Um 1. geistliche
gelium im Leben der Kolosser hatte, und Erkenntnis, 2. einen würdigen Wandel, 3.
zwar »von dem Tag an, da« sie »es gehört überfließende Kraft, 4. einen dankbaren
und die Gnade Gottes in Wahrheit er- Geist.
kannt« haben. Es gab in der Gemeinde zu Paulus bittet nicht im kleinen Stil.
Kolossä zahlenmäßiges Wachstum, und Das wird besonders in den Versen 9, 10

989
Kolosser 1

und 11 deutlich, wo er die Worte »alles« unseren Ehrgeiz fördern. Der Herr zeigt
und »jedes« verwendet. uns statt dessen seinen Willen für unser
1. »In aller Weisheit und geistlichem Leben, damit wir ihm durch alles, was
Verständnis« (V. 9) wir tun, wohlgefallen.
2. »Zu allem Wohlgefallen« (V. 10). »Fruchtbringend in jedem guten
3. »In jedem guten Werk« (V. 10). Werk.« Hier ist es hilfreich, sich daran zu
4. »Mit aller Kraft« (V. 11). erinnern, daß man zwar nicht durch gute
5. »Zu allem Ausharren und aller Lang- Werke gerettet wird, daß man aber ganz
mut« (V. 11). sicher zu guten Werken errettet wird.
Das Wort »deshalb« verbindet diesen Manchmal kann es sein, daß wir den Ein-
Abschnitt mit den vorangegangenen Ver- druck erwecken, als hielten wir nichts
sen. Es bedeutet: Wegen des Berichtes von von guten Werken, wenn wir so stark be-
Epaphras (V. 4.5.8). Von der Zeit an, da er tonen, daß gute Werke zur Erlösung von
zum ersten Mal von den lieben Heiligen Menschen nichts nützen. Nichts könnte
in Kolossä und ihrem Glauben, ihrer Lie- weiter von der Wahrheit entfernt sein!
be und ihrer Hoffnung »gehört« hatte, Wir erfahren in Epheser 2,10, daß wir
hatte es der Apostel sich zur Angewohn- »sein Gebilde, in Christus Jesus geschaf-
heit gemacht, für sie zu beten. Zuerst fen zu guten Werken« sind. Auch schrieb
betete er, daß sie »erfüllt« werden mögen Paulus an Titus: »Das Wort ist gewiß;
»mit der Erkenntnis seines Willens … in und ich will, daß du auf diesen Dingen
aller Weisheit und geistlichem Verständ- fest bestehst, damit die, welche Gott ge-
nis«. Er bat nicht darum, daß sie mit der glaubt haben, Sorge tragen, gute Werke
aufgeblasenen »Erkenntnis« der Gnosti- zu betreiben« (Tit 3,8).
ker erfüllt würden. Er möchte, daß sie Paulus wollte nicht nur, daß sie »in
»die Erkenntnis seines Willens« für ihr jedem guten Werk« Frucht brächten, son-
Leben haben, wie sie in seinem Wort dern auch ihre »Erkenntnis Gottes« ver-
offenbart ist. Diese Erkenntnis ist weder mehrten. Wie kann man das erreichen?
weltlich noch fleischlich, sie zeichnet sich Zunächst einmal durch sorgfältiges Stu-
eher aus durch »Weisheit und geistliches dium des Wortes Gottes. Dann auch
Verständnis« – »Weisheit«, um das Er- durch den Gehorsam seinen Lehren
kannte auf die beste Weise anzuwenden, gegenüber und durch treuen Dienst.
und »Verständnis«, um zu erkennen, was (Um das letztere scheint es in unserem
mit Gottes Willen übereinstimmt und Fall in erster Linie zu gehen.) Wenn wir
was nicht. das tun, dann tauchen wir tiefer ein in
1,10 Zwischen Vers 9 und Vers 10 die »Erkenntnis« des Herrn. »Dann wer-
besteht eine sehr wichtige Verbindung. den wir erkennen, wenn wir nachfolgen,
Warum wollte der Apostel Paulus, daß um den Herrn zu erkennen« (Hos 6,3
die Kolosser mit der Erkenntnis des Wil- nach der englischen Übersetzung).
lens Gottes erfüllt würden? Damit sie Man beachte die Wiederholung von
vollmächtige Prediger oder aufsehener- Worten in Kapitel 1, die mit Erkenntnis
regende Lehrer würden? Damit sie eine zu tun haben, und beobachte, wie der
große Anhängerschaft um sich sammeln Gedankengang des Paulus mit jeder
konnten, wie es die Gnostiker versuch- Erwähnung fortschreitet. In Vers 6 hieß
ten? Nein, der wahre Zweck geistlicher es, daß sie »die Gnade Gottes … erkannt«
Weisheit und Einsicht ist es, dem Chri- hätten. In Vers 9 hatten sie »Erkenntnis
sten zu ermöglichen, »des Herrn würdig seines Willens«. In Vers 10 wuchsen sie
zu wandeln zu allem Wohlgefallen«. »durch die Erkenntnis Gottes«. Vielleicht
Hier haben wir eine sehr wichtige Lekti- könnten wir sagen, daß sich das erste auf
on zum Thema Führung. Gott offenbart die Erlösung bezieht, das zweite auf das
uns seinen Willen nicht, um unsere Neu- Studium der Heiligen Schrift, und das
gier zu befriedigen. Auch soll diese dritte auf den Dienst und auf christliche
Offenbarung nicht unseren Stolz oder Lebensführung. Gesunde Lehre sollte

990
Kolosser 1

zum rechten Verhalten führen, das sich in behalten, brauchen wir Gottes Kraft. Wer
gehorsamen Dienst äußert. so lebt, führt ein christliches Siegesleben.
1,11 Die dritte Bitte des Apostels lau- Der Unterschied zwischen »Ausharren«
tet, daß die Heiligen »gekräftigt« würden und »Langmut« ist einmal als der Unter-
»mit aller Kraft nach der Macht seiner schied definiert worden, ob man etwas
Herrlichkeit«. (Man beachte die Reihen- einfach nur klaglos erträgt oder aber
folge: erfüllt, V. 9; fruchtbringend, V. 10; ohne Vergeltungsgedanken. Gottes Gna-
gekräftigt, V. 11.) Das christliche Leben de hat eines ihrer höchsten Ziele im
kann nicht allein aus menschlicher Kraft Leben des Gläubigen erreicht, der gedul-
geführt werden. Man braucht dazu geist- dig leiden und Gott noch inmitten heftig-
liche Kraft. Deshalb möchte Paulus, daß ster Versuchung preisen kann.
die Gläubigen die Kraft des auferstande- 1,12 »Danksagend« bezieht sich in
nen Sohnes Gottes kennenlernen. Er diesem Vers auf die Kolosser, nicht auf
wünscht sich weiter, daß sie diese Kraft Paulus (im Gr. steht hier ein Plural). Pau-
»nach der Macht seiner Herrlichkeit« er- lus bittet, daß sie nicht nur mit aller Kraft
fahren. Die Bitte lautet hier nicht, daß gestärkt werden, sondern auch einen
diese Macht aus seiner Herrlichkeit stam- dankbaren Geist erhalten und niemals
men solle, sondern »nach« ihr, d. h. ent- vergessen, »dem Vater« ihren Dank aus-
sprechend dieser Herrlichkeit. »Seine zusprechen, der sie »fähig gemacht« hat
Herrlichkeit« ist grenzenlos und das ist »zum Anteil am Erbe der Heiligen im
genau die Tragweite dieses Gebetes. Pea- Licht«. Als Söhne Adams könnten wir
ke schreibt: »Die Ausrüstung mit Macht die Herrlichkeit des Himmels überhaupt
geschieht nicht nur einfach proportional nicht ertragen. Wenn unerlöste Men-
zu den Bedürfnissen des Empfängers, schen irgendwie in den Himmel gebracht
sondern entsprechend der göttlichen würden, dann könnten sie ihn nicht ge-
6)
Möglichkeiten.« nießen, sondern wären äußerst unglück-
Warum wollte Paulus, daß die Chri- lich. Um den Himmel schätzen zu kön-
sten diese Kraft hätten? Damit sie hinaus- nen, braucht man eine bestimmte Eig-
gehen und spektakuläre Wunder voll- nung. Auch als Gläubige haben wir per-
bringen könnten? Damit sie die Toten sönlich keine Eignung für den Himmel.
auferwecken, die Kranken heilen und die Der einzige Anspruch auf Herrlichkeit,
Dämonen austreiben sollten? Und wieder den wir haben, findet sich in der Person
lautet die Antwort »Nein«. Diese Kraft unseres Herrn Jesus Christus.
wird gebraucht, damit das Kind Gottes Wenn Gott jemanden rettet, dann gibt
alles »Ausharren und alle Langmut, mit er dieser Person sofort die Eignung für
Freuden« habe. Das sollten wir ganz den Himmel. Diese Eignung ist Christus
sorgfältig beachten! In einem Teil der selbst. Sie ist durch nichts zu verbessern.
Christenheit heute wird großer Wert auf Noch nicht einmal ein langes Leben des
sogenannte Wunder gelegt, etwa die Gehorsams und des Dienstes hier auf
Zungenrede, die Krankenheilung und Erden läßt jemanden geeigneter für den
andere sensationelle Vorkommnisse. Himmel sein, als er es am Tage seiner
Doch gibt es in unserem Zeitalter noch Bekehrung war. Unser Anspruch auf die
ein größeres Wunder als all dies: Ein Kind Herrlichkeit gründet sich in Jesu Blut.
Gottes, das inmitten von Versuchungen Während das Erbe »im Licht« und im
geduldig und dankbar sein Leid erträgt! Himmel ist, haben wir Gläubigen hier
In 1. Korinther 13,4 wird Langmut auf Erden den Heiligen Geist als »Garan-
mit Freundlichkeit zusammen gesehen, tie für unser Erbe«. Deshalb können wir
hier ist die »Freude« damit verbunden. uns über das freuen, was vor uns liegt,
Wir leiden, weil wir nicht unserem Anteil während wir schon jetzt die »Erstlings-
des Seufzens der Kreatur entgehen kön- früchte des Geistes« genießen.
nen. Um darin die innere »Freude« und 1,13 Indem Gott uns »zum Anteil am
Freundlichkeit anderen gegenüber zu Erbe der Heiligen im Licht … fähig

991
Kolosser 1

gemacht« hat, hat er »uns errettet aus der 1,14 Nachdem er das Reich des Soh-
Macht der Finsternis und versetzt in das nes seiner Liebe erwähnt hat, beginnt
Reich des Sohnes seiner Liebe« (vgl. Paulus mit einem der großartigsten Ab-
1. Joh 2,11). Das kann man bildlich an der schnitte des Wortes Gottes über die Per-
Erfahrung der Kinder Israel zeigen, wie son und das Werk des Herrn Jesus. Wir
sie im 2. Buch Mose aufgezeichnet ist. Sie wissen nicht, ob er sein Gebet schon
hatten in Ägypten gewohnt und unter beendet hat, oder ob es sich noch durch
der Knute der dortigen Aufseher ge- diese Verse erstreckt, die wir nun ge-
seufzt. Durch wunderbares göttliches nauer betrachten wollen. Doch das hat
Eingreifen befreite Gott sie aus dieser nur untergeordnete Bedeutung, denn
fürchterlichen Knechtschaft und führte auch, wenn die folgenden Verse kein
sie durch die Wüste ins gelobte Land. reines Gebet sind, so sind sie doch reine
Ähnlich waren wir als Sünder Knechte Anbetung.
Satans, doch durch Christus sind wir aus Sturz hat darauf hingewiesen, daß
seinen Klauen »errettet« und nun Bürger »in dieser erstaunlichen Passage, die
des Reiches Christi. Satans Reich ist ein Jesus Christus mehr erhebt als jede ande-
Reich der »Finsternis« – wo es kein Licht re, sein Name kein einziges Mal auf
gibt, keine Wärme und keine Freude, irgendeine Weise vorkommt«. Während
während das Reich Christi ein Reich der das im gewissen Sinne bemerkenswert
»Liebe« ist, womit gemeint ist, daß es ist, brauchen wir uns darüber nicht zu
dort all das gibt. wundern. Denn auf wen sonst als auf
Das »Reich« Christi wird in der unseren gelobten Erlöser könnte jemals
Schrift unter verschiedenen Aspekten die Beschreibung passen, die uns hier
gesehen. Als Jesus zur Erde kam, bot er gegeben wird? Der Abschnitt erinnert
das Reich dem Volk Israel an. Die Juden uns an Marias Frage an den Gärtner:
wollten Befreiung von den römischen »Herr, wenn du ihn weggetragen, so sage
Unterdrückern, doch sie wollten sich mir, wo du ihn hingelegt hast, und ich
nicht von ihren Sünden bekehren. Chri- werde ihn wegholen.« Sie nannte seinen
stus konnte jedoch nur über ein Volk Namen nicht. Sie hatte nur einen einzigen
herrschen, das in einer ordentlichen im Sinn.
geistlichen Beziehung zu ihm lebte. Als Christus wird als erstes als der Eine
7)
ihnen das verdeutlicht wurde, lehnten vorgestellt, in dem wir »die Erlösung …
sie ihren König ab und kreuzigten ihn. haben…, die Vergebung der Sünden«.
Seitdem ist der Herr Jesus in den Him- »Erlösung« beschreibt die Tat, durch die
mel zurückgekehrt, und das Reich be- wir vom Sklavenmarkt der Sünde er-
steht nun in seiner verborgenen Form kauft worden sind. Der Herr Jesus klebte
(Matth 13). Das bedeutet, daß das Reich uns gewissermaßen ein Preisschild auf.
nicht sichtbar erscheint. Der König ist Wie hoch schätzte er uns? Er sagte prak-
abwesend. Doch alle, die den Herrn tisch: »Sie sind mir so wertvoll, daß ich
Jesus Christus in unserem gegenwärti- bereit bin, mein Blut zu vergießen, um sie
gen Zeitalter annehmen, erkennen ihn zu erkaufen.« Weil wir für einen solch
als ihren rechtmäßigen Herrscher an und hohen Preis erkauft worden sind, sollte
werden somit Bürger seines Reiches. es uns klar sein, daß wir nicht länger uns
Eines Tages wird der Herr Jesus auf die selbst gehören. Deshalb sollten wir unser
Erde zurückkehren, sein Reich mit Jeru- Leben nicht so führen, wie es uns gefällt.
salem als Hauptstadt aufrichten und tau- Borden von Yale hat darauf hingewiesen,
send Jahre lang herrschen. Am Ende die- daß wir, wenn wir unser Leben nehmen,
ser Zeit wird Christus alle seine Feinde und mit ihm tun, was wir wollen, uns
unter seine Füße tun und dann das Reich etwas nehmen, das uns nicht gehört, und
Gott, dem Vater, übergeben. Damit wird wir deshalb Diebe sind.
das Reich eingeleitet, das sich durch ewi- Christus hat uns nicht nur erlöst, er
ge Zeiten erstrecken wird. hat uns auch die »Vergebung der Sün-

992
Kolosser 1

den« geschenkt. Das heißt, daß Gott die die herrlichste Schöpfung ist, die je aus
Schulden vergeben hat, die unsere Sün- den Händen Gottes hervorgegangen ist.
den verursacht haben. Der Herr Jesus Doch könnte nichts direkter der Lehre
Christus hat die Strafe am Kreuz bezahlt, des Wortes Gottes widersprechen.
und sie muß niemals wieder bezahlt wer- Der Ausdruck »Erstgeborener« hat in
den. Die Rechnung ist beglichen, und der Bibel mindestens drei verschiedene
Gott hat uns nicht nur vergeben, sondern Bedeutungen. In Lukas 2,7, wo Maria
er hat unsere Sünden so weit von uns ihren erstgeborenen Sohn bekommt,
weggenommen, wie der Osten vom wird er in der wörtlichen Bedeutung ver-
Westen ist (Ps 103,12). wendet. Dort bedeutet das Wort, daß der
Herr Jesus das erste Kind war, das sie
C. Die Herrlichkeit Christi als Haupt gebar. In 2. Mose 4,22 dagegen wird das
der Gemeinde (1,15-23) Wort im bildlichen Sinn verwendet:
1,15 In den nächsten vier Versen wird »Mein erstgeborener Sohn ist Israel.« In
unser Herr Jesus beschrieben: 1. in seiner diesem Vers geht es nicht um eine wirkli-
Beziehung zu Gott (V. 15); 2. in seiner che Geburt, die stattgefunden hat, son-
Beziehung zur Schöpfung (V. 16.17); 3. in dern der Herr benutzt dieses Wort, um
seiner Beziehung zur Gemeinde (V. 18). die herausragende Stellung zu bezeich-
Der Herr wird hier als »Bild des nen, die das Volk Israel in seinen Plänen
unsichtbaren Gottes« beschrieben. Das hat. Schließlich wird in Psalm 89,27 das
Wort »Bild« vermittelt hier mindestens Wort »Erstgeborener« benutzt, um eine
zwei Vorstellungen: Erstens vermittelt es überlegene, einzigartige und vorrangige
den Gedanken, daß der Herr Jesus es uns Stellung zu bezeichnen. Da sagt Gott, daß
ermöglicht hat zu erkennen, wie Gott ist. er David zu seinem Erstgeborenen
Gott ist Geist und deshalb unsichtbar. machen will, der höher ist als alle Könige
Doch in der Person Christi hat Gott sich der Erde. Nach dem Fleisch war David in
sterblichen Augen sichtbar gemacht. In Wirklichkeit der letztgeborene Sohn Jes-
diesem Sinne ist der Herr Jesus »das Bild ses. Doch Gott war entschlossen, ihm
des unsichtbaren Gottes«. Wer ihn gese- einen besonders bevorrechtigten, vor-
hen hat, der hat den Vater gesehen (s. Joh rangigen und souveränen Platz zu
14,9). Doch das Wort »Bild« hat auch die geben.
Bedeutung des »Stellvertreters« oder Ist das nicht genau der Gedanke von
»Repräsentanten«. Gott hatte ursprüng- Kolosser 1,15 – »der Erstgeborene aller
lich Adam auf die Erde geschickt, um Schöpfung«? Der Herr Jesus Christus ist
seine Interessen zu vertreten, doch Gottes einziger Sohn. Im gewissen Sinn
Adam versagte. Deshalb sandte Gott sei- sind zwar alle Gläubigen Söhne Gottes,
nen eingeborenen Sohn als Stellvertreter doch der Herr Jesus ist wie niemand
auf die Erde, damit er Gottes Interessen sonst Gottes Sohn. Er war schon vor aller
wahrnehmen und sein liebendes Herz Schöpfung und hat eine Vormachtstel-
den Menschen offenbaren sollte. In die- lung über sie. Er hat den Vorrang und die
sem Sinne ist er das Bild Gottes. Dasselbe Herrschaft. Der Ausdruck »Erstgebore-
Wort »Bild« wird auch in 3,10 verwendet, ner aller Schöpfung« hat nicht mit einer
wo es heißt, daß die Gläubigen »nach Geburt zu tun. Es bedeutet einfach, daß
dem Bilde« Christi gestaltet werden. Christus durch eine ewige Beziehung
Christus ist auch »der Erstgeborene Gottes Sohn ist. Es handelt sich um einen
aller Schöpfung« oder »jedes geschaffe- Titel der Vorrangstellung, nicht nur einer
nen Lebewesens«. Was bedeutet das? zeitlichen Reihenfolge.
Einige Irrlehrer sind der Ansicht, daß der 1,16 Irrlehrer benutzen Vers 15 (insbe-
Herr Jesus selbst ein geschaffenes Wesen sondere nach LU), um zu lehren, daß der
ist, daß er die erste Person war, die Gott Herr Jesus ein geschaffenes Wesen sei.
geschaffen hat. Einige sind sogar bereit Man kann Irrtümer normalerweise aus
so weit zu gehen, daß sie zugeben, daß er demselben Abschnitt widerlegen, den die

993
Kolosser 1

Sektenprediger mißbrauchen. Das ist hier lehren, daß unser Herr, ehe er in die Welt
der Fall. Vers 16 sagt ausdrücklich, daß kam, als Engel geschaffen wurde und
der Herr Jesus nicht geschaffen ist, son- kein anderer sei als der Erzengel Micha-
dern der Schöpfer selbst ist. In diesem el! Hier wehrt Paulus energisch solche
Verse erfahren wir, daß »alles« – das ge- absurden Vorstellungen ab, indem er in
samte materielle Universum – nicht nur den eindeutigsten Worten sagt, daß der
»in ihm«, sondern auch »durch ihn« und Herr Jesus Christus der Schöpfer der
»für ihn geschaffen« worden ist. Als Engel ist – sogar aller Wesen, ob sie nun
erstes lesen wir, daß »in ihm … alles … sichtbar oder unsichtbar sind.
geschaffen worden« ist. Hier geht es dar- 1,17 »Und er vor allem, und alles
um, daß die Macht zur Schöpfung in sei- besteht durch ihn.« Paulus sagt: »Er ist
nem Wesen lag. Er war der Architekt. (LU84) vor allen Dingen«, nicht »Er war
Später in dem Vers lernen wir, daß »alles vor allen Dingen«. Die Gegenwartsform
… durch ihn … geschaffen« ist. Das zeigt, wird in der Bibel oft verwendet, um die
daß er derjenige war, der aktiv geschaffen Zeitlosigkeit der Gottheit darzustellen.
hat. Er war die Person der Gottheit, durch So sagte der Herr Jesus z. B.: »Ehe Abra-
die die Schöpfungshandlung durchge- ham war, bin ich« (Joh 8,58).
führt wurde. Auch wurde »alles … für Doch der Herr Jesus existierte nicht
ihn geschaffen«. Er ist der eine, für den nur, ehe es eine Schöpfung gab, sondern
alles erschaffen wurde, er ist das Ziel der »alles besteht« auch »durch ihn«. Das
Schöpfung. bedeutet, daß er der Erhalter des Univer-
Paulus betont ganz ausführlich, daß sums und die Ursache seiner ständigen
»alles … durch« Christus »geschaffen« Bewegung ist. Er kontrolliert Sonne,
ist, ob es um Dinge »in den Himmeln« Mond und Sterne. Sogar während er hier
oder »auf der Erde« geht. Das läßt keine auf der Erde war, war er derjenige, der
Schlupflöcher für jemanden, der behaup- die Gesetze bestimmte, durch die unser
ten möchte, daß er zwar alle Dinge Universum in geordneter Weise funk-
geschaffen habe, doch selbst am Anfang tioniert.
geschaffen wurde. 1,18 Das Reich des Herrn Jesus
Der Apostel fährt nun fort mit der umfaßt nicht nur das materielle Univer-
Feststellung, daß die Schöpfung des sum, sondern bezieht auch das geistliche
Herrn »das Sichtbare und das Unsichtba- Reich ein. »Er ist das Haupt des Leibes,
re« umfaßt. Das Wort »sichtbar« verlangt der Gemeinde.« Während des gegenwär-
keine Erklärung, doch zweifellos erkann- tigen Zeitalters werden alle Gläubigen
te der Apostel Paulus, daß er die Neugier zum »Leib« Christi gemacht werden,
anfachen würde, wenn er das »Unsicht- nämlich zur »Gemeinde«. Genauso, wie
bare« nennt. Deshalb schlüsselt er auf, ein menschlicher Körper ein Mittel ist,
was er mit dem »Unsichtbaren« meint. durch den sich die Person ausdrückt, so
Dazu gehören »Throne«, »Herrschaf- ist der Leib Christi das Mittel, das Chri-
ten«, »Gewalten« und »Mächte«. Wir stus auf Erden erwählt hat, um sich selbst
sind der Ansicht, daß sich diese Begriffe vor der Welt darzustellen. »Und er ist das
auf Engelwesen beziehen, obwohl wir Haupt« dieses »Leibes«. Das Wort
nicht zwischen verschiedenen Arten die- »Haupt« spricht von Führung, Leitung
ser intelligenten Wesen unterscheiden und Kontrolle. Er nimmt in der Gemein-
können. de die Vorrangstellung ein.
Die Gnostiker lehrten, daß es ver- »Er ist der Anfang.« Wir verstehen
schiedene Ränge und Klassen von Geist- darunter, daß er »der Anfang« der neuen
wesen zwischen Gott und Materie gebe, Schöpfung ist (s. Offb 3,14), die Quelle
und daß Christus zu einer dieser Klassen des geistlichen Lebens. Das wird weiter
gehöre. In unseren Tagen behaupten Spi- erklärt durch den Ausdruck »der Erst-
ritisten, daß Christus ein hoher Geist der geborene aus den Toten«. Hier müssen
sechsten Sphäre ist. Die Zeugen Jehovas wir wieder sorgfältig betonen, das dies

994
Kolosser 1

nicht bedeutet, daß der Herr Jesus der Glied in der Kette. Doch gab es auf dem
erste gewesen sei, der von den Toten auf- weiteren Weg noch bessere Glieder. »Geh
erstanden ist. Es gab sowohl im AT als von ihm weiter«, drängten sie, »und du
auch im NT Fälle von Totenaufer- wirst die Fülle erlangen«. »Nein«, sagt
weckungen. Doch der Herr Jesus war der Paulus, »Christus selbst ist die ganze
erste, der von den Toten auferstand, um Fülle«.
niemals mehr zu sterben, er war der Alle Fülle wohnt in Christus. Das
erste, der mit einem verherrlichten Leib Wort, das hier steht, bedeutet »dauernd
9)
und als Haupt einer neuen Schöpfung wohnen« und nicht nur einen kurzen
auferstand. Seine Auferstehung ist ein- Besuch abstatten.
zigartig und die Garantie, daß alle, die 1,20 Vers 19 ist folgendermaßen mit
auf ihn vertrauen, ebenfalls auferstehen Vers 20 verbunden: »Und es gefiel dem
werden. Sie verkündigt ihn als Höchsten Vater, ›durch ihn (Christus) alles mit sich
der geistlichen Schöpfung. zu versöhnen – indem er Frieden gemacht
Alfred Mace hat das gut ausgedrückt: hat durch das Blut seines Kreuzes‹.« Mit
Christus kann nirgends die zweite Rolle anderen Worten, es gefiel der Gottheit
spielen. Er ist der »Erstgeborene der Schöp- nicht nur, daß die ganze Fülle in ihm woh-
fung«, weil er alles geschaffen hat nen sollte, sondern auch, daß Christus
(Kol 1,15.16). Er ist auch der Erstgeborene »alles mit sich … versöhnen« sollte.
von den Toten im Zusammenhang einer erlö- In diesem Kapitel werden zwei Ver-
sten himmlischen Familie. So geben Schöp- söhnungen erwähnt: 1. Die Versöhnung
fung und Erlösung ihm die Ehre des Vorran- von Dingen (alles, V. 20) und 2. die Ver-
ges, wegen seiner Eigenschaften und wegen söhnung von Menschen (V. 21). Die erste
seines Werkes »damit er in allem den Vor- liegt noch in der Zukunft, während die
8)
rang habe«. Er ist überall der Erste. zweite für die Vergangenheit derer gilt,
Der Herr Jesus hat so den doppelten die an Christus glauben.
Vorrang – zunächst in der Schöpfung,
und dann in der Gemeinde. Gott hat be-
stimmt, daß er »in allem den Vorrang Exkurs zum Thema Versöhnung
habe«. Welch eine Antwort ist das an die- Versöhnen bedeutet, eine rechte Bezie-
jenigen, die zur Zeit des Paulus (und in hung oder einen Maßstab wiederherzu-
unserer eigenen) versuchten, Christus stellen, oder dort Frieden zu machen, wo
seiner Göttlichkeit zu berauben, und ihn vorher Feindschaft war. Die Bibel spricht
nur zu einem Geschöpf machen wollten, nirgendwo davon, daß Gott mit den
sei es auch noch so hochstehend! Menschen versöhnt werden müsse, son-
Wenn wir lesen »damit er in allem den dern immer muß der Mensch mit Gott
Vorrang habe«, so ist es nur recht, wenn versöhnt werden. Die fleischliche Gesin-
wir uns selbst fragen: »Hat er auch in mei- nung ist Feindschaft wider Gott
nem persönlichen Leben den Vorrang?« (Röm 8,7) und deshalb muß der Mensch
1,19 Darby übersetzt Vers 19 folgen- versöhnt werden.
dermaßen: »Denn es war das Wohlgefal- Als die Sünde in die Welt kam, wurde
len der ganzen Fülle, in ihm zu wohnen« der Mensch von Gott entfremdet. Er nahm
(Elb). Aus manchen Übersetzungen eine feindselige Haltung gegen Gott ein.
könnte man entnehmen (z. B. Luther), Deshalb muß er versöhnt werden.
daß es Gott zu einem bestimmten Zeit- Doch die Sünde hat die gesamte
punkt gefallen habe, alle Fülle im Sohn Schöpfung in Mitleidenschaft gezogen,
wohnen zu lassen. Die wirkliche Bedeu- nicht nur die menschliche Familie.
tung hier ist, daß die »Fülle« der Gottheit 1. Bestimmte Engel haben in der Ver-
immer in Christus gewohnt hat. gangenheit gesündigt. (Doch gibt es
Die gnostischen Irrlehrer lehrten, daß in Gottes Wort keinerlei Hinweis dar-
Christus eine Art »Zwischenstufe« auf auf, daß diese Engel wieder versöhnt
dem Weg zu Gott sei, ein notwendiges werden könnten. Sie werden »zum

995
Kolosser 1

Gericht des großen Tages mit ewigen beseitigen. Das gelang ihm vollständig,
Fesseln in Finsternis verwahrt«, indem er die Sündenfrage zu Gottes völ-
(Judas 6). In Hiob 4,18 spricht Eliphas liger Befriedigung löste.
davon, daß Gott seine Engel des Die Tragweite der Versöhnung wird
Irrtums anklagt. wie folgt in Kolosser 1 ausgeführt:
2. Die Tiere der Schöpfung wurden 1. Alle, die an den Herrn Jesus Christus
durch die Sünde in Mitleidenschaft glauben, sind schon mit Gott ver-
gezogen. »Denn das sehnsüchtige söhnt (V. 21). Obwohl das Versöh-
Harren der Schöpfung wartet auf die nungswerk Christi für die gesamte
Offenbarung der Söhne Gottes. Denn Menschheit ausreicht, tritt es nur für
die Schöpfung ist der Nichtigkeit die in Kraft, die es für sich in
unterworfen worden … Denn wir Anspruch nehmen.
wissen, daß die ganze Schöpfung zu- 2. Am Ende der Zeiten werden alle Din-
sammen seufzt und zusammen in Ge- ge versöhnt, ob es sich um Irdisches
burtswehen liegt bis jetzt« (Röm 8,19- oder Himmlisches handelt (V. 20).
22). Die Tatsache, daß Tiere unter Das bezieht sich auf die Tiere und auf
Krankheit, Schmerz und Tod leiden, alles Unbelebte, das durch die Sünde
ist ein Beweis dafür, daß die Schöp- verunreinigt ist. Doch bezieht es sich
fung vom Fluch der Sünde nicht aus- nicht auf Satan, auf andere gefallene
genommen wurde. Engel oder auf ungläubige Men-
3. Der Erdboden wurde von Gott ver- schen. Ihr ewiges Schicksal wird in
flucht, nachdem Adam gesündigt der Schrift unmißverständlich darge-
hatte (1. Mose 3,17). Das zeigt sich stellt.
durch Unkraut, Dornen und Disteln. Versöhnung bezieht sich nach den
4. Im Buch Hiob berichtet uns Bildad, Aussagen der Schrift nicht auf »Dinge
daß selbst die Sterne in Gottes Augen unter der Erde«. Es gibt einen Unterschied
nicht rein sind (Hiob 25,5), so daß die zwischen Versöhnung und Unterwerfung.
Sünde offenbar auch die Sternenwelt Die letztere wird in Philipper 2,10 be-
in Mitleidenschaft gezogen hat. schrieben: »Damit in dem Namen Jesu
5. Hebräer 9,23 sagt, daß selbst Dinge jedes Knie sich beuge, der Himmlischen
im Himmel gereinigt werden müs- und Irdischen und Unterirdischen.« Oder,
sen. Wir wissen nicht, was alles damit wie Darby es übersetzt, »der himmlischen
gemeint ist, doch vielleicht geht die- und irdischen und höllischen Wesen«.
ser Vers davon aus, daß Dinge im Alle geschaffenen Wesen, sogar die gefal-
Himmel durch die Gegenwart Satans lenen Engel, werden eines Tages gezwun-
verunreinigt worden sind, der zu gen werden, sich vor dem Herrn Jesus zu
Gott als Ankläger der Brüder Zugang verneigen, doch das bedeutet nicht, daß
hat (Hiob 1,6.7; Offb 12,10). Einige sie versöhnt werden. Wir betonen das,
Ausleger sind der Ansicht, daß dieser weil Kolosser 1,20 benutzt worden ist, die
Abschnitt sich auf den Wohnort Got- Irrlehre von der Allversöhnung zu unter-
tes bezieht, andere denken an den stützen – nämlich, daß Satan selbst, die
Sternenhimmel. Die letzteren sind gefallenen Engel, und die ungläubigen
der Ansicht, daß Satan im Sternen- Menschen alle eines Tages mit Gott ver-
himmel Zugang zu Gott hat. Jeden- söhnt werden. Unser Abschnitt be-
falls sind sich alle einig, daß der schränkt das Ausmaß der Versöhnung auf
Thron Gottes sicherlich nicht durch Irdisches und Himmlisches. »Dinge unter
Sünde verunreinigt ist. der Erde« oder »Höllisches« sind nicht
Einer der Zwecke des Todes Christi eingeschlossen.
war es, die Versöhnung von Menschen
und Dingen mit Gott zu ermöglichen. 1,21 Paulus erinnert die Kolosser dar-
Um das zu erreichen, mußte er die Ursa- an, daß in ihrem Fall die Versöhnung
che von Feindschaft und Entfremdung schon geschehen ist. Vor ihrer Bekehrung

996
Kolosser 1

waren die Kolosser heidnische Sünder Bei der Suche nach einer Antwort auf
gewesen, »entfremdet« von Gott und sei- diese Frage, würden wir zu Beginn gerne
ne »Feinde nach der Gesinnung« durch feststellen, daß die ewige Sicherheit des
ihre »bösen Werke« (Eph 4,17.18). Sie Gläubigen eine wunderbare Wahrheit ist,
mußten unbedingt versöhnt werden, die sehr deutlich auf den Seiten des NT
und der Herr Jesus Christus hat in seiner festgehalten ist. Dennoch lehrt die Schrift
unvergleichlichen Gnade die Initiative auch, wie in diesem Vers, daß echter
dazu ergriffen. Glaube immer die Eigenschaft der Dauer
1,22 Er versöhnte sie »in dem Leib sei- hat, und daß jemand, der wirklich von
nes Fleisches durch den Tod«. Der Aus- Gott geboren wird, treu bis zum Ende
druck »Leib seines Fleisches« bedeutet bleiben wird. Beständigkeit ist also ein
einfach, daß der Herr Jesus die Versöh- Beweis der Echtheit des Glaubens. Na-
nung dadurch zustande brachte, daß er türlich gibt es immer die Gefahr, zurück-
am Kreuz in einem echten menschlichen zufallen, doch ein Christ fällt nur, um
Leib starb (nicht als Geistwesen, für den wieder aufzustehen (Spr 24,16). Er wird
ihn die Gnostiker hielten). Man verglei- nie den Glauben aufgeben.
che mit Hebräer 2,14-16, wo die Fleisch- Der Geist Gottes hat es für gut gehal-
werdung Christi als notwendiger Be- ten, viele solcher sogenannter »sofern«-
standteil der Erlösung dargestellt wird. Abschnitte im Wort Gottes zu verteilen,
Das gnostische Konzept leugnete diesen um diejenigen herauszufordern, die den
Punkt. Namen Christi bekennen, ohne daß ihr
Das wunderbare Ergebnis dieser Ver- Bekenntnis auf Tatsachen beruht. Wir
söhnung wird durch die Worte »um euch möchten nichts sagen, was diesen Ab-
heilig und tadellos und unsträflich vor schnitten die Spitze nehmen könnte. Wie
sich hinzustellen« ausgedrückt. Welch jemand einmal gesagt hat: »Diese ›so-
eine erstaunliche Gnade, daß gottlose ferns‹ in der Schrift betreffen Namens-
Sünder von ihrem vergangenen bösen christen hier in der Welt, und sie kom-
Leben befreit und in ein Reich solcher men als gesunde Herzensprüfungen zu
Segnungen versetzt werden können! ihnen.«
C. R. Erdman konnte ganz recht Pridham kommentiert diese heraus-
sagen: »In Christus finden wir einen fordernden Verse folgendermaßen:
Gott, der nahe ist, der sich sorgt, der hört, Man wird durch sorgfältiges Studium
10)
der Mitleid hat und der rettet.« des Wortes feststellen, daß es die Gewohnheit
Die ganze Wirkung der Versöhnung des Geistes ist, die großartigsten und absolu-
Christi bezüglich seines Volkes wird testen Wahrheiten über die Gnade durch
eines Tages erkannt werden, wenn wir Warnungen zu begleiten, die davon ausge-
ohne Sünde und ohne Makel vor Gott, hen, daß diejenigen, die nur dem Namen
den Vater, gestellt werden und wenn wir nach dem Glauben angehören, schlimm ver-
als Anbeter Christus froh als den Würdi- sagen werden … Warnungen, die den Ohren
gen anerkennen werden (Offb 5). falscher Bekenner hart klingen, werden von
1,23 Nun fügt der Apostel einen der gottesfürchtigen Menschen bereitwillig als
11)
»sofern« -Abschnitte an, die schon so Medizin eingenommen … Das Ziel all dieser
viele Kinder Gottes entmutigt haben. Lehren, die wir hier haben, ist es, den Glau-
Oberflächlich sieht es so aus, als ob die- ben zu ermutigen, und durch die Vorhersa-
ser Vers lehrt, daß die Fortsetzung un- gen rücksichtslose und selbstbewußte
12)
serer Erlösung davon abhängt, daß wir Namenschristen zu verurteilen.
»im Glauben« bleiben. Wenn das so Zweifellos hat Paulus in erster Linie
wäre, wie könnte man diesen Vers dann die Gnostiker im Sinn, wenn er die
in Übereinstimmung mit anderen Teilen Kolosser ermahnt, sich nicht »von der
des Wortes Gottes bringen, etwa Jo- Hoffnung« abbringen zu lassen, die zum
hannes 10,28.29, wo es heißt, daß kein »Evangelium« gehört bzw. die es weckt.
Schaf Christi je verloren gehen kann? Sie sollen »im Glauben« bleiben, den sie

997
Kolosser 1

von Epaphras gelernt haben, und zwar verfolgst du mich?« Saul hatte nicht
»gegründet und fest«. bewußt den Herrn verfolgt, er hatte nur
Und wieder spricht Paulus davon, die Christen verfolgt. Er lernte jedoch,
daß das Evangelium »der ganzen Schöp- daß er, als er die Gläubigen verfolgte,
fung unter dem Himmel gepredigt wor- eigentlich ihren Erlöser verfolgte. Das
den ist«. Das Evangelium richtet sich an Haupt im Himmel fühlt die Leiden sei-
die gesamte Schöpfung, doch hat es noch nes Leibes auf Erden.
nicht wirklich jedes Lebewesen erreicht. Deshalb hält Paulus alle Leiden, die
Paulus führt die weltweite Verkündi- Christen um des Herrn Jesu willen er-
gung des Evangeliums als Zeugnis sei- tragen müssen, für ein Teil der Leiden
ner Echtheit an. Er sieht das in der Tatsa- Christi, die »noch ausstehen«. Dazu
che, daß es den Bedürfnissen der Men- gehören Leiden um der Gerechtigkeit
schen an jedem Ort angepaßt werden willen, Leiden um seinetwillen (das
kann. Dieser Vers bedeutet nicht, daß Tragen seiner Schande), und um des
jeder Mensch zu der Zeit das Evangeli- Evangeliums willen.
um gehört hatte. Es handelte sich nicht Doch die »Drangsale des Christus«
um eine vollendete Tatsache, sondern sind nicht nur Leiden für Christus, son-
um einen Prozeß, der noch im Gange dern auch dieselbe Art von Leiden, wie sie
war. Auch war das Evangelium in die der Erlöser erduldete, als er hier war,
gesamte Welt der Bibel gelangt, d. h. in wenn auch in einem sehr viel geringerem
die Mittelmeerländer. Ausmaß.
Paulus spricht von sich selbst als Die Leiden, die der Apostel »in« sei-
»Diener«. Dieses Wort hat nichts Offiziel- nem »Fleisch« erduldete, geschahen
les an sich. Es beschreibt kein erhabenes »für« Christi »Leib«, d. h. für seine Ge-
Amt, sondern eine niedrige Aufgabe. meinde. Die Leiden von unerlösten Men-
schen sind in gewissem Sinne zwecklos.
D. Der Dienst, der Paulus aufgetragen Es ist keinerlei höhere Würde mit ihnen
ist (1,24-29) verbunden. Sie sind nur ein Vorge-
1,24 Die letzten sechs Verse des ersten schmack auf die Schmerzen der Hölle,
Kapitels beschreiben den Dienst des Pau- die dann für immer erlitten werden müs-
lus. Zunächst einmal wurde dieser sen. Das gilt jedoch nicht für die Leiden
Dienst in einer Atmosphäre des Leidens von Christen. Wenn sie für Christus lei-
getan. Paulus schreibt aus dem Gefäng- den, dann leidet Christus auf eine sehr
nis und kann sagen, daß er sich jetzt »in reale Weise mit ihnen.
den Leiden« für die Heiligen freut, d. h. 1,25 »Ihr Diener bin ich geworden.«
um ihretwillen. Als Diener des Herrn Paulus hat diesen Ausdruck schon am
Jesus Christus war er aufgerufen, unzäh- Ende von Vers 23 benutzt. Nun wieder-
lige Mühen, Verfolgungen und »Drang- holt er ihn. Doch gibt es hier einen Unter-
sale« zu erleiden. Das war für ihn ein schied in der Verwendung. Der Apostel
Vorrecht – das Vorrecht, das zu erfüllen, hatte einen zweifachen Dienst: Erstens
was von den »Drangsalen des Christus« war er gesandt, das Evangelium zu pre-
auf Erden »noch aussteht«. Was meint digen (V. 23) und zweitens war er ge-
der Apostel damit? Zunächst kann dies sandt, das wunderbare Geheimnis der
sich nicht auf das Erlöserleiden Christi am Gemeinde zu lehren (V. 25). Es gibt hier
Kreuz beziehen. Diese sind ein für alle- eine Lehre für jeden echten Diener Chri-
mal vollendet, und kein Mensch kann an sti. Es wird von uns nicht nur erwartet,
ihnen jemals teilhaben. Doch es gibt eine durch das Evangelium Menschen zu
Beziehung, in der der Herr Jesus noch Christus zu führen und sie dann zu ver-
immer leidet. Als Saulus von Tarsus auf lassen, damit sie weiterkommen, so gut
der Straße nach Damaskus zu Boden sie es eben vermögen. Von uns wird viel-
geworfen wurde, hörte er eine Stimme mehr erwartet, daß wir unsere evangeli-
vom Himmel, die sagte: »Saul, Saul, was stischen Bemühungen darauf richten,

998
Kolosser 1

örtliche neutestamentliche Gemeinden gen wolle. Soweit wir wissen, wurde das
zu gründen, in denen Bekehrte in ihrem Buch der Offenbarung von Johannes ge-
Glauben erbaut werden können, und schrieben, und es war zeitlich gesehen
zwar auch bezüglich der Wahrheit über das letzte, das zum NT hinzugefügt wur-
die Gemeinde. Der Herr will, daß seine de. In welchem Sinne hat Paulus also
Kinder an die Futterstationen geführt »das Wort Gottes« vollendet?
werden, wo sie ernährt werden und Als erstes kann »vollenden« soviel
wachsen können. wie »vollständig verkünden« oder
So haben wir in Kolosser 1 nun fol- »bekanntmachen« heißen. So hat Paulus
gendes gesehen: 1. Christi zweifache den ganzen Ratschluß Gottes verkün-
überragende Bedeutung, 2. Christi zwei- digt. Wir würden zweitens sagen, daß er
fache Versöhnung und 3. Paulus’ zweifa- das Wort Gottes lehrmäßig »vollendete«.
chen Dienst. Hier in Vers 25 bezieht sich Die große Wahrheit vom Geheimnis ist
Paulus, wenn er sagt »Ihr Diener bin ich der Schlußstein der NTlichen Offenba-
geworden«, auf seinen Dienst an der Ge- rung. Auf ganz bestimmte Weise vervoll-
meinde und nicht am Evangelium. Das ständigt sie den Kreis der Themen, die
wird aus dem folgenden Teil deutlich: vom NT behandelt werden. Während
»Nach der Verwaltung (oder Haushal- andere Bücher später geschrieben wur-
tung) Gottes, die mir im Blick auf euch den als das des Paulus, enthalten sie
gegeben ist.« Ein Verwalter ist jemand, doch keine großen Geheimnisse des
der für die Interessen eines anderen ein- Glaubens, die nicht auch in den Schriften
steht bzw. sein Eigentum verwaltet. Pau- des Apostels Paulus zu finden wären. In
lus war in dem Sinne ein Verwalter, daß einem sehr realen Sinne erfüllten die
ihm die großartige Wahrheit über die Offenbarungen über das Geheimnis der
Gemeinde auf besondere Weise anver- Gemeinde das Wort Gottes. Nichts, das
traut war. Das Geheimnis des Leibes später noch hinzugefügt wurde, war im
Christi wurde ihm zwar nicht allein selben Sinne eine neue Wahrheit.
offenbart, aber er war erwählt, diese 1,26 Daß Paulus’ Vollendung des Wor-
kostbare Wahrheit den Heiden zu brin- tes Gottes etwas mit dem »Geheimnis« zu
gen. Zu dieser Wahrheit gehört die ein- tun hat, wird in diesem Vers ausgeführt,
zigartige Stellung der Gemeinde in ihrer nämlich mit dem »Geheimnis, das von
Beziehung zu Christus und in den Zeital- den Weltzeiten und von den Geschlech-
tern, mit ihren Einrichtungen, ihrer be- tern her verborgen war, jetzt aber seinen
sonderen Hoffnung und ihrem besonde- Heiligen geoffenbart worden ist«. Im NT
ren Schicksal, und die vielen anderen ist ein Geheimnis eine Wahrheit, die bis-
Wahrheiten über ihr Leben und ihre Ord- her noch nicht offenbart worden ist, aber
nung, die Gott Paulus und den anderen den Menschen durch die Apostel und
Aposteln gegeben hat. Propheten des NT bekannt gemacht wur-
Wenn Paulus sagt: »Die mir im Blick de. Es handelt sich um Wahrheiten, die
auf euch gegeben ist«, dann denkt er an der Mensch niemals von sich aus erdacht
die Heiden als Heidenchristen. Der Apo- haben könnte, die Gott in seiner Gnade
stel Petrus war gesandt worden, dem bestimmt hat, verkündet zu werden.
jüdischen Volk zu predigen, während der Dieser Vers ist einer der vielen des NT,
gleiche Auftrag an Paulus erging, mit die lehren, daß die Wahrheit über die
dem Unterschied, daß er zu den Heiden Gemeinde im AT unbekannt war. Diese
gesandt war. Wahrheit war »von den Weltzeiten und
Einer der schwierigsten Teile diese von den Geschlechtern her verborgen«
Kapitels ist der Ausdruck: »um das Wort (Eph 3,2-13; Röm 16,25-27). Deshalb ist es
Gottes zu vollenden.« Was genau meint falsch, davon zu reden, daß die Gemeinde
der Apostel damit? Zunächst wissen wir, mit Adam oder mit Abraham begonnen
daß er nicht das vollständige Wort Gottes habe. Die Gemeinde wurde zu Pfingsten
meint, zu dem er das letzte Buch beitra- gegründet, und die Wahrheit der Gemein-

999
Kolosser 1

de wurde durch die Apostel offenbart. euch, die Hoffnung der Herrlichkeit.«
Die Gemeinde des NT ist nicht mit Israel Das war an die Kolosser gerichtet, die
im AT identisch. Sie ist eine Einrichtung, von ihrer Geburt her Heiden waren.
die vorher nicht existiert hat. F. B. Meyer ruft aus: »Daß er im Herzen
Israel wurde gegründet, als Gott eines Kindes Abrahams wohnen sollte,
Abraham aus Ur in Chaldäa berief und war schon ein wunderbarer Akt der
damit die übrigen Nationen ihren Sün- Herablassung, doch daß er eine Heimat
den und ihrem Götzendienst überließ. Er im Herzen eines Heiden finden sollte,
machte Abrahams Samen zu einem Volk, war unglaublich.« Und doch geht es in
das sich von allen anderen unterschied diesem Geheimnis genau darum, daß
und von ihnen abgesondert war. Bei der nämlich »die Nationen … Miterben und
Gemeinde ist es umgekehrt, denn sie ist Miteinverleibte … und Mitteilhaber der
eine Vereinigung von Gläubigen aller Verheißung in Christus Jesus durch das
Rassen und Nationalitäten in einem Leib, Evangelium« sein sollten (Eph 3,6). Um
der moralisch und geistlich von allen die Bedeutung dieser Wahrheit zu beto-
anderen abgesondert ist. Daß die Ge- nen, sagt der Apostel nicht einfach
meinde nicht die Fortsetzung Israels ist, »dieses Geheimnis« oder »die Herrlich-
kann man an verschiedenen Dingen keit dieses Geheimnisses«, sondern »der
sehen, eines davon ist das Bild vom Oli- Reichtum der Herrlichkeit dieses Ge-
venbaum, das Paulus in Römer 11 be- heimnisses«. Er häuft hier wieder Worte
nutzt, um zu zeigen, daß das Volk Israel aufeinander, um seinen Lesern die Tat-
seine Identität behält, auch wenn der ein- sache klar zu machen, daß dies eine
zelne Jude, der an Christus glaubt, Teil wunderbare Wahrheit ist, die unserer
der Gemeinde wird (Kol 3,10.11). gesamten Aufmerksamkeit wert ist.
1,27 Die Wahrheit dieses »Geheimnis- »Das ist: Christus in euch, die Hoff-
ses« kann man folgendermaßen zusam- nung der Herrlichkeit.« Christus, der in
menfassen: uns wohnt, ist »die Hoffnung der Herr-
1. Die Gemeinde ist der Leib Christi. lichkeit« für den Gläubigen. Wir haben
Alle echten Gläubigen sind Glieder keine andere Zugangsberechtigung für
an diesem Leib und werden Christi den Himmel als den Erlöser selbst. Die
Herrlichkeit für immer teilen. Tatsache, daß er in uns wohnt, macht uns
2. Der Herr Jesus ist das Haupt des Lei- den Himmel so sicher, wie wenn wir
bes und sorgt für sein Leben, seine schon dort wären.
Ernährung und seine Führung. 1,28 Der Ausdruck »ihn verkündigen
3. Juden werden in der Gemeinde nicht wir« ist bedeutsam. Das »ihn« bezieht
bevorzugt zugelassen, auch haben sich natürlich auf den Herrn Jesus (V. 27).
die Heiden keinerlei Nachteil. So- Paulus sagt hier, daß er eine Person pre-
wohl Juden als auch Heiden werden digt. Er verbrachte seine Zeit nicht mit
durch den Glauben Glieder des Lei- Politik oder Philosophie, sondern kon-
bes und bilden einen neuen Men- zentrierte sich auf den Herrn Jesus selbst,
schen (Eph 2,15; 3,6). Daß Heiden er- weil er erkannte, daß Christus das Chri-
rettet werden können, war im AT kei- stentum ist. »Indem wir jeden Menschen
ne verborgene Wahrheit, doch daß ermahnen und jeden Menschen in aller
bekehrte Heiden Glieder am Leib Weisheit lehren, um jeden Menschen
Christi werden konnten, und seine vollkommen in Christus darzustellen.«
Gefährten in der Herrlichkeit, um mit Hier erhalten wir weitere Einsicht in den
ihm zu regieren, das ist eine Wahr- Dienst des geliebten Apostels. Es war ein
heit, die bis dahin unbekannt war. Dienst von Mensch zu Mensch. Er warn-
Paulus betont in Vers 27 besonders te die Unerlösten vor dem zukünftigen
den Aspekt des Geheimnisses, daß der schrecklichen Zorn, und er lehrte die
Herr Jesus bereit ist, in einem heidni- Heiligen die großen Wahrheiten des
schen Herzen zu wohnen. »Christus in christlichen Glaubens.

1000
Kolosser 1 und 2

Dann sehen wir, welche Bedeutung Christus zu machen. Hier sind nun seine
Paulus der Nacharbeit beimißt. Er fühlte Anstrengungen anderer Natur. Nun wer-
sich wirklich für diejenigen verantwort- den sie »großer Kampf« im Gebet ge-
lich, die er auf den Herrn hingewiesen nannt. Und in diesem »großen Kampf«
hat. Er war nicht damit zufrieden, daß geht es um Menschen, denen er noch nie
sich etliche bekehren, und er weiterge- begegnet ist. Vom ersten Tag an, an dem
hen konnte. Er wollte »jeden Menschen er von den Kolossern gehört hatte, hatte
vollkommen in Christus darstellen«. er für sie alle gebetet und auch für »die
Paulus stellt sich hier selbst als der Prie- in Laodizäa« und für andere Christen,
ster dar, der Gott Opfer darbringt. Die die ihm noch nie begegnet waren (vgl.
Opfer sind hier Männer und Frauen. In Offb 3,14 zum späteren traurigen Zu-
welchem Zustand bringt er sie dem stand dieser Gemeinde).
Herrn dar? Als Schwache oder Säuglinge Vers 1 ist ein Trost für all diejenigen,
im Glauben? Nein, er möchte, daß sie rei- die niemals das Vorrecht eines öffentli-
fe, ausgewachsene, erwachsene Christen ches Amtes in der Gemeinde genießen.
sind. Er möchte, daß sie in der Wahrheit Er lehrt, daß wir nicht auf das beschränkt
wohlgegründet sind. Haben wir das glei- sein müssen, was wir vor den Menschen
che Anliegen für diejenigen, die wir zu tun. Wir können dem Herrn auf unseren
Christus geführt haben? Knien in der Abgeschiedenheit unseres
1,29 Auf dieses Ziel arbeitete der Zimmers dienen. Wenn wir in der
Apostel hin, genauso wie die anderen Öffentlichkeit dienen, dann hängt unsere
Apostel. Und doch erkannte er, daß er Effektivität in großem Maße von unseren
dies nicht aus eigener Kraft tat, sondern privaten Gesprächen mit dem Herrn ab.
»gemäß seiner Wirksamkeit, die in mir 2,2 Hier wird der genaue Inhalt des
wirkt in Kraft«. Mit anderen Worten, er Gebetes des Paulus wiedergeben. Der
erkannte, daß er nur deshalb in der Lage erste Teil des Gebets lautet, daß »ihre
war, dem Herrn zu dienen, weil er von Herzen getröstet werden«. Die Kolosser
ihm die Kraft dazu erhielt. Er war sich wurden durch die gnostischen Lehren
der Tatsache bewußt, daß der Herr »in« gefährdet. Deshalb bedeutet »getröstet«
ihm »in Kraft« wirkte, wenn er von Ort hier soviel wie festgemacht oder be-
zu Ort zog, Gemeinden gründete und die stärkt.
Heiligen Gottes erbaute. Der zweite Teil des Gebetes lautet:
Die Verse 28 und 29 sind nach der »vereinigt in Liebe«. Wenn die Heiligen
Phillips-Übersetzung besonders hilf- eine frohe, liebevolle Gemeinschaft
reich: untereinander aufrecht erhielten, dann
Deshalb verkündigen wir natürlich Chri- hätten sie eine gesicherte Flanke gegen
stus. Wir warnen jeden, den wir treffen, und die Angriffe des Feindes. Auch würde
wir lehren jeden, den wir nur lehren können, Christus, wenn sie ihn von Herzen lieben
alles, was wir über Jesus Christus wissen, würden, ihnen die tieferen Geheimnisse
damit wir, wenn möglich, jeden zur vollen des christlichen Glaubens enthüllen. Es
Reife in Christus bringen. Daran arbeite ich ist eine wohlbekannte biblische Tatsache,
ständig, und zwar mit all der Kraft, die Gott daß der Herr seine Geheimnisse denen
mir gibt. enthüllt, die sich eng an ihn halten. Jo-
hannes etwa war der Apostel, der an der
E. Christus ist größer als Philosophie, Brust Jesu ruhte, und es war kein Zufall,
Gesetzlichkeit, Mystik und Askese daß er derjenige war, dem die große
(2,1-23) Offenbarung Jesu Christi gegeben wurde.
2,1 Dieser Vers ist eng mit den letzten Als nächstes betet Paulus darum, daß
zwei Versen von Kapitel 1 verbunden. sie allen »Reichtum an Gewißheit des
Dort hat der Apostel Paulus seine An- Verständnisses« erhalten sollten. Je wei-
strengungen im Lehren und Predigen ter sie ein »Verständnis« des christlichen
beschrieben, um jeden Gläubigen reif in Glaubens erhielten, desto überzeugter

1001
Kolosser 2

würden sie von seiner Wahrheit sein. Je on, von Dämonen besessene spritistische
fester die Christen im Glauben gegrün- Medien und jede andere Form von Oppositi-
13)
det waren, desto weniger würden sie in on und Widerstand.
der Gefahr stehen, von den Irrlehrern 2,3 »In« Christus sind »alle Schätze
ihrer Tage in die Irre geleitet zu werden. der Weisheit und Erkenntnis verborgen«.
Der Ausdruck »volle Gewißheit« Die Gnostiker rühmten sich eines Ver-
wird im NT dreimal verwendet. ständnisses, das alles weit übersteige,
1. Volle Gewißheit des Glaubens – wir was sich in der schriftlichen göttlichen
ruhen auf Gottes Wort, seinem Zeug- Offenbarung finden ließ. Doch hier sagt
nis für uns (Hebr 10,22). Paulus, daß »alle Schätze der Weisheit
2. Volle Gewißheit des Verständnisses – und Erkenntnis« in Christus, dem
wir wissen und wir haben Gewißheit Haupt, verborgen sind. Deshalb gibt es
(Kol 2,2). für die Gläubigen keinen Grund, über
3. Volle Gewißheit der Hoffnung – wir das hinauszugehen, was in der Schrift
gehen weiter und wissen genau, was steht. »Die Schätze«, die in Christus sind,
wir zu erwarten haben (Hebr 6,11). sind dem Unglauben verborgen, und
Der Höhepunkt des Gebetes des Pau- sogar der Gläubige muß Christus gut
lus findet sich in den Worten »zur kennen, um mit ihnen nähere Bekannt-
Erkenntnis des Geheimnisses Gottes, das schaft zu machen.
ist Christus«. Christus ist in dem Gläubigen und zwar
Was meint Paulus nun, wenn er sagt, als Haupt, als Zentrum und als Quelle für
daß wir das »Geheimnis Gottes, … Chri- alles, was er braucht. Durch seine immensen
stus« erkennen sollen? Bezieht er sich unausforschlichen Reichtümer, durch den
noch immer auf die Wahrheit der Ge- überragenden Reichtum seiner unendlichen
meinde – Christus, das Haupt des Lei- Größe, durch alles, was er als Gott ist, durch
bes, und die Gläubigen als Glieder des alles, was er in der Schöpfung und Erlösung
Leibes? Doch er meint hier den besonde- geschaffen hat, durch seine persönlichen,
ren Aspekt, daß Christus das Haupt ist. moralischen und offiziellen Herrlichkeiten ist
Er möchte gerne, daß die Heiligen diese er weitaus mehr als eine ganze Armee von
Wahrheit anerkennen. Er weiß, daß sie, Professoren, Schriftstellern, Medien, Kriti-
wenn sie die Größe ihres Hauptes erken- kern und allen anderen, die gegen ihn aufge-
nen, sie dann von den Gnostikern oder führt werden mögen (sinngemäß).
anderen Irrlehrern nicht mehr bedroht Dieser Vers enthält mehr, als ein erster
werden können. Blick enthüllt. Alle »Erkenntnis« ist in
Paulus möchte, daß die Heiligen Christus zu finden. Er ist die fleischge-
Christus brauchen, seine Quellen in An- wordene Wahrheit. Er sagte: »Ich bin der
spruch nehmen und in jedem Notfall von Weg, die Wahrheit und das Leben.«
ihm abhängig sind. Er möchte, daß sie Nichts, was wirklich wahr ist, wird je sei-
erkennen, daß Christus, wie Alfred Mace nem Wort oder Werk widersprechen. Der
es ausdrückt, Unterschied zwischen »Erkenntnis« und
… in seinem Volk ist und jede Eigen- »Weisheit« ist oft folgendermaßen erklärt
schaft der Gottheit besitzt, unendliche, worden: »Erkenntnis« ist das Verstehen
unaussprechliche und unermeßliche Reichtü- oder Herausfinden einer Wahrheit, wäh-
mer hat, so daß sie niemals jemanden anderen rend »Weisheit« die Fähigkeit ist, die ge-
um etwas bitten mußten. »Ihnen wollte Gott lernte Wahrheit anzuwenden.
kundtun, was der Reichtum der Herrlichkeit 2,4 Weil alle Weisheit und alle
dieses Geheimnisses unter den Nationen sei, Erkenntnis in Christus sind, sollten
und das ist: Christus in euch, die Hoffnung Christen sich nicht von ȟberredenden
der Herrlichkeit« (Kol 1,27). Diese Wahrheit, Worten« irgendwelcher Sektenmitglie-
die an der Kraft erkannt wird, ist das sichere der einwickeln lassen. Wenn jemand
Gegengift gegen laodizäischen Stolz, rationa- nicht die Wahrheit hat, dann muß er ver-
listische Theologie, traditionalistische Religi- suchen, durch geschickte Präsentation

1002
Kolosser 2

seiner Botschaft eine Gefolgschaft an- der Architektur. Der Ausdruck »gewur-
zuziehen. Das ist genau das, was Irr- zelt« bezieht sich auf die Ereignisse zur
lehrer tun. Sie argumentieren mit Wahr- Zeit unserer Bekehrung. Es ist, als wenn
scheinlichkeiten und bauen ein Lehr- der Herr Jesus Christus der Erdboden ist
system auf Deduktionen auf. Wenn da- und wir Wurzeln in ihn schlagen und all
gegen jemand die Wahrheit Gottes unsere Nahrung von ihm erhalten. Das
predigt, dann braucht er sich nicht auf so betont auch, wie wichtig es ist, daß wir
etwas wie Redegewandtheit oder clevere tief verwurzelt sind, so daß wir nicht
Argumente zu verlassen. Die Wahrheit ausgerissen werden, wenn stürmische
ist selbst ihr bestes Argument und Winde wehen (Matth 13,5.20.21).
braucht sich nicht selbst zu verteidigen. Dann wechselt Paulus zum Bild eines
2,5 Dieser Vers zeigt, wie ausführlich Gebäudes. »Auferbaut in ihm.« Hier ist
dem Apostel Paulus die Probleme und Jesus der Grundstein, und wir sind auf
die Bedrohung der Kolosser bekannt ihm auferbaut, dem Fels der Ewigkeit
waren. Er stellt sich hier im Bild eines (Lk 6,47-49). Wir sind ein für allemal
Offiziers dar, der die versammelte Trup- »eingewurzelt«, doch wir werden stän-
pe überprüft, die sich vor ihm zum dig »auferbaut«.
Appell versammelt hat. Die Worte »Ord- »Und befestigt im Glauben.« Das
nung« und »Festigkeit« sind Begriffe aus Wort »befestigt« kann auch mit »be-
dem militärischen Bereich. Der erste be- stätigt« übersetzt werden. Hier geht es
schreibt die Ordnung einer aufmar- um den Gedanken, daß es sich um einen
schierten Truppe, während der zweite ständigen Prozeß handelt, der im Leben
für die solide Flanke steht, die sie dar- des Christen stattfindet. Epaphras hatte
stellen. Paulus freut sich, wenn er (»im den Kolossern die Grundlagen des Glau-
Geist« und nicht leiblich) sieht, wie die bens beigebracht. Während sie nun auf
Kolosser treu zu Gottes Wort stehen. dem christlichen Pfad wandelten, wür-
2,6 Nun ermutigt er sie, auf dieselbe den diese kostbaren Wahrheiten in ihren
Art, wie sie angefangen hatten, nun wei- Herzen und Leben ständig »bestätigt«.
terzumachen, d. h. durch den Glauben. Im Gegenzug dazu zeigt 2. Petrus 1,9,
»Wie ihr nun den Christus Jesus, den daß mangelnder Fortschritt im geistli-
Herrn, empfangen habt, so wandelt in chen Leben zu Zweifeln, Freudlosigkeit
ihm.« Die Betonung liegt hier wohl auf und Verlust der Segnungen des Evange-
dem Wort »Herr«. Mit anderen Worten, liums führt.
sie hatten anerkannt, daß der Herr für Paulus beschließt die Beschreibung
alle Bedürfnisse vollkommen ausreicht. mit den Worten: »Darin überströmend
Er war genug, nicht nur zu ihrer Erlö- mit Danksagung.« Er möchte nicht, daß
sung, sondern auch für ihr gesamtes die Christen nur kalte Doktrin in sich
Christenleben. Nun drängt Paulus die aufnehmen, sondern möchte, daß ihre
Heiligen, auch weiterhin die Herrschaft Herzen von den wunderbaren Wahrhei-
Christi anzuerkennen. Sie sollten nicht ten des Evangeliums erfüllt werden, so
von ihm abweichen, indem sie menschli- daß sie wiederum von Lob und Dank
che Lehren annahmen, so überzeugend gegenüber dem Herrn überfließen.
diese auch klingen mochten. Das Wort »Danksagung« für die Segnungen des
»wandeln« wird oft benutzt, um das Christentums ist ein wundervolles
christliche Leben zu beschreiben. Es Gegengift gegen das Gift der Irrlehre.
spricht von Handlung und Fortschritt. Arthur Way übersetzt Vers 7 folgen-
Man kann nicht laufen und gleichzeitig dermaßen: »Seid wie Bäume tief verwur-
am selben Ort bleiben. Genauso ist es im zelt, steht fest wie Gebäude, entdeckt sei-
Christenleben, entweder gehen wir vor- ne Gegenwart bei euch, und seid sogar
wärts oder rückwärts. (denn dazu haben wir euch gelehrt)
2,7 Paulus benutzt als erstes ein Wort unerschüttert in eurem Glauben und
aus der Landwirtschaft, dann eines aus fließt über vor Dankbarkeit.«

1003
Kolosser 2

2,8 Nun ist Paulus bereit, sich direkt Das Gesetz des Mose hat seinen Zweck
mit den besonderen Irrlehren zu befassen, als Vorbild des Zukünftigen erfüllt. Es war
die die Gläubigen im Tal des Lycus, in eine »Grundschule« gewesen, um die Herzen
dem Kolossä lag, bedrohten. »Seht zu, daß für den kommenden Christus zuzubereiten.
niemand euch einfange durch die Philoso- Zu diesem Gesetz jetzt zurückzukehren
phie und leeren Betrug.« Irrlehrer versu- hieße, den Irrlehrern in die Hände zu spielen,
chen, den Menschen das Wertvolle zu die zusammenarbeiteten, um durch ein über-
berauben, das sie besitzen, und etwas holtes System den Sohn Gottes zu ersetzen
wertloses als Ersatz dafür anzubieten. (aus dem englischen Material des Bibellese-
»Philosophie« bedeutet wörtlich »Weis- bundes).
heitsliebe«. Sie ist nicht an sich böse, son- Paulus wünschte, daß die Kolosser
dern wird böse, wenn Menschen Weisheit alle Lehren daran messen würden, ob sie
außerhalb des Herrn Jesus Christus mit der Lehre von »Christus« überein-
suchen. Hier wird das Wort benutzt, um stimmten oder nicht. Die Übersetzung
den Versuch des Menschen zu beschrei- von Phillips ist bei diesem Vers hilfreich:
ben, durch seinen eigenen Intellekt und »Sorgt dafür, daß niemand euren Glau-
seine Forschung die Tatsachen herauszu- ben durch Intellektualismus oder wohl-
finden, die nur durch göttliche Offenba- klingenden Irrtum verdirbt. All das
rung erkannt werden können (1. Kor 2,14). basiert im besten Falle auf den Vorstel-
Dieser Versuch ist böse, weil er den lungen der Menschen vom Wesen der
menschlichen Verstand über Gott stellt Welt, und hat mit Christus nichts zu
und damit das Geschöpf mehr ehrt als den tun.«
Schöpfer. Es ist für die Liberalen unserer 2,9 Es ist wunderbar zu sehen, wie
Zeit charakteristisch, daß sie sich ihres der Apostel Paulus seine Leser immer
Intellekts und ihres Rationalismus rüh- wieder zur Person Jesu Christi zurück-
men. Der Ausdruck »leerer Betrug« be- bringt. Hier gibt er ihnen einen der über-
zieht sich auf die falschen und wertlosen ragendsten und unmißverständlichsten
Lehren derer, die angeblich geheime Verse der Bibel über die Gottheit unseres
Wahrheiten einer besonderen Gruppe von Herrn Jesus Christus. »Denn in ihm
Menschen anbieten wollen. Es steckt wirk- wohnt die ganze Fülle der Gottheit leib-
lich nichts dahinter. Doch sammeln diese haftig.« Man beachte die beabsichtigte
Lehrer eine Gefolgschaft um sich, indem Anhäufung von Beweisen für die Tatsa-
sie die natürliche Neugier des Menschen che, daß Christus Gott ist. Als erstes
ansprechen. Auch appellieren sie an ihre haben wir seine Göttlichkeit: »Denn in
Eitelkeit, indem sie sie zu Mitgliedern ihm wohnt … Gottheit leibhaftig.« Zwei-
einer »auserwählten Gruppe« machen. tens haben wir etwas, daß jemand einmal
Die »Philosophie« und der »leere den »höchsten Grad der Göttlichkeit«
Betrug«, die Paulus beide bekämpft, ent- genannt hat: »Denn in ihm wohnt die …
sprechen »der Überlieferung der Men- Fülle der Gottheit leibhaftig.« Und
schen, … den Elementen der Welt und schließlich haben wir, was man auch die
nicht Christus«. Mit »Überlieferung der »absolute Vollkommenheit der Göttlich-
Menschen« sind hier religiöse Lehren keit« genannt hat: »Denn in ihm wohnt
gemeint, die von Menschen erdacht sind, die ganze Fülle der Gottheit leibhaftig.«
aber keine echte Grundlage in der Schrift (Das ist eine treffende Antwort auf alle
haben. (Eine Tradition ist die Festlegung Formen des Gnostizismus, die die Gött-
eines Brauches, der als gut erkannt wur- lichkeit des Herrn Jesus leugnen –
de, oder der in bestimmten Umständen Christliche Wissenschaft, Zeugen Jeho-
etwas Gutes bewirkte.) Die »Elemente vas, Unitarier, Theosophen usw.)
der Welt« beziehen sich auf jüdische Vincent sagt: »Dieser Vers enthält
Rituale, Zeremonien und Ordnungen, zwei unterschiedliche Aussagen: 1. daß
durch die Menschen erhoffen, Gottes die Fülle der Gottheit in Christus wohnt,
Wohlwollen zu erlangen. und 2. daß die Fülle der Gottheit in ihm

1004
Kolosser 2

wohnt, der einen menschlichen Leib Geistlich bedeutete das den Tod des Flei-
14)
hat.« Viele der oben erwähnten Sekten sches, oder das Beiseite-tun der bösen,
geben zu, daß irgendeine Form der Gott- verdorbenen und nicht wiedergeborenen
heit in Jesus wohnte. Doch dieser Vers Natur des Menschen. Unglücklicher-
sagt aus, daß »die ganze Fülle der Gott- weise beschäftigten sich die Juden zu
heit« in ihm war, in seiner Fleischwer- sehr mit der äußeren Zeremonie und ver-
dung. Das Argument ist eindeutig – gaßen darüber ihre geistliche Bedeutung.
wenn die Person des Herrn Jesus Chri- Indem sie Gottes Wohlwollen durch
stus so völlig befriedigend ist, warum Zeremonien und gute Werke erlangen
sollten wir uns mit Lehren zufrieden wollten, sagten sie praktisch, daß es
geben, die ihn ignorieren oder niedriger etwas am menschlichen Fleisch gab, das
machen, als er ist? Gott gefallen könnte. Nichts kann weiter
2,10 Der Apostel versucht noch von der Wahrheit entfernt sein.
immer, seinen Lesern klarzumachen, daß Im vorliegenden Vers geht es nicht
der Herr Jesus Christus für alle unsere um die leibliche Beschneidung, sondern
Bedürfnisse ausreicht, und welch eine um die geistliche Beschneidung, die für
vollkommene Stellung sie »in ihm« ha- jeden gilt, der seinen Glauben und sein
ben. Es ist ein wunderbarer Ausdruck der Vertrauen auf den Herrn Jesus gesetzt
Gnade Gottes, daß die Wahrheit von Vers hat. Dies wird durch den Ausdruck »Be-
10 der von Vers 9 folgen sollte. In Christus schneidung, die nicht mit Händen ge-
wohnt die Fülle der Gottheit leibhaftig, schehen ist« deutlich. Folgendes lehrt
und die Gläubigen sind »in ihm zur Fülle uns dieser Vers: Jeder Gläubige ist mit
gebracht«. Das bedeutet natürlich nicht, der »Beschneidung des Christus« be-
daß im Gläubigen die ganze Fülle der schnitten worden. »Die Beschneidung
Gottheit wohnt. Der einzige, für den das des Christus« bezieht sich auf seinen Tod
je gegolten hat, gilt oder gelten wird, ist am Kreuz von Golgatha. Der Gedanke
der Herr Jesus Christus. Doch dieser Vers dabei ist, daß als der Herr Jesus starb,
lehrt, daß der Gläubige in Christus alles auch der Gläubige starb. Er starb der
hat, was er für sein Leben und die Gottes- Sünde (Röm 6,11), dem Gesetz, sich
furcht benötigt. Spurgeon gibt uns eine selbst (Gal 2,20) und der Welt (Gal 6,14).
gute Definition der Fülle. Er sagt, wir (Diese Beschneidung ist »nicht mit Hän-
haben 1. die Fülle ohne Hilfe jüdischer den geschehen« in dem Sinne, daß
Zeremonien, 2. die Fülle ohne Hilfe der menschliche Hände keinen Anteil durch
Philosophie, 3. die Fülle ohne die Einbil- Verdienst haben können. Der Mensch
dungen des Aberglaubens, 4. die Fülle kann sie nicht verdienen. Es ist allein
ohne menschlichen Verdienst. Gottes Werk.) So hat er den »fleischlichen
Dieser Eine, in welchem wir die Fülle Leib« ausgezogen. Mit anderen Worten,
haben, »ist das Haupt jeder Gewalt und wenn jemand gerettet wird, dann wird er
jeder Macht«. Die Gnostiker waren ganz mit Christus in seinem Tod vereinigt,
eifrig mit dem Thema »Engel« beschäf- und sagt jeder Hoffnung ab, sich seine
tigt. Das wird etwas später in diesem Erlösung durch fleischliche Bemühun-
Kapitel erwähnt. Doch Christus ist das gen zu verdienen. Samuel Ridout
Haupt aller Engelwesen, und es wäre schreibt: »Der Tod unseres Herrn hat
lächerlich, sich mit den Engeln zu be- nicht nur die Frucht der Sünde beseitigt,
schäftigen, wenn wir den Schöpfer der sondern auch die Wurzel, die die Frucht
Engel lieben und mit ihm Gemeinschaft trug, verurteilt und beiseite gesetzt.«
haben dürfen. 2,12 Paulus wendet sich nun dem
2,11 »Beschneidung« war das für das Thema der »Taufe« zu. So wie die
Judentum kennzeichnende Ritual. Es Beschneidung vom Tode des Fleisches
handelt sich um eine kleine Operation, spricht, so spricht die »Taufe« von der
bei dem das Fleisch der männlichen Kin- Beerdigung des alten Menschen. Deshalb
der mit dem Messer behandelt wurde. lesen wir: »Mit ihm begraben in der Tau-

1005
Kolosser 2

fe, in ihm auch mitauferweckt durch den deren Worten, die Kolosser hatten ihren
Glauben an die wirksame Kraft Gottes, gesamten Lebensstil geändert. Ihre Ge-
der ihn aus den Toten auferweckt hat.« schichte als Sünder war zu Ende, und
Die Lehre hier lautet, daß wir nicht nur nun waren sie Neuschöpfungen in Chri-
mit Christus gestorben, sondern auch stus. Sie lebten auf der Auferstehungs-
»mit ihm begraben« sind. Das wurde seite des Grabes. Deshalb sollten sie alles
durch unsere Taufe versinnbildlicht. Daß verabschieden, das sie als Menschen im
wir mit begraben wurden, geschah schon Fleisch charakterisiert hatte.
bei unserer Bekehrung, doch wir gaben 2,14 Paulus fährt nun fort, indem er
dieser Tatsache durch das öffentliche Be- etwas anderes beschreibt, das im Werk
kenntnis Ausdruck, als wir ins Taufwas- Christi enthalten war. »Er hat den
ser stiegen. Taufe ist Begräbnis, das Be- Schuldschein gegen uns gelöscht, den in
gräbnis alles dessen, was wir als Kinder Satzungen bestehenden, der gegen uns
Adams sind. In der Taufe erkennen wir war, und ihn auch aus unserer Mitte fort-
an, daß nichts an uns selbst Gott je gefal- geschafft, indem er ihn ans Kreuz nagel-
len kann, und so tun wir das Fleisch für te.« In gewissem Sinne standen die Zehn
immer von Gottes Angesicht hinweg. Gebote gegen uns, indem sie uns verur-
Doch bleibt es nicht allein beim Begräb- teilten, weil wir sie nicht vollkommen
nis. Wir sind nicht nur mit Christus ge- gehalten haben. Doch der Apostel Paulus
kreuzigt und begraben, sondern auch denkt nicht nur an die Zehn Gebote, son-
mit ihm auferstanden, um in Neuheit des dern auch an das Zeremonialgesetz, das
Lebens zu wandeln. All das findet bei Israel gegeben war. Im Zeremonialgesetz
unserer Bekehrung statt. Es geschieht gab es alle möglichen Anordnungen über
»durch den Glauben an die wirksame heilige Tage, Essen und andere religiöse
Kraft Gottes, der« Christus »aus den Rituale. All diese waren Teil der den
Toten auferweckt hat«. Juden vorgeschriebenen Religion. Sie
2,13 Der Apostel Paulus wendet dies wiesen auf das Kommen des Herrn Jesus
nun alles auf die Kolosser an. Vor ihrer hin. Sie waren Schatten seiner Person
Bekehrung waren sie »tot« in ihren »Ver- und seines Werkes. Mit seinem Tode am
gehungen«. Das bedeutet, daß sie vor Kreuz hat er sie »fortgeschafft«, indem er
Gott durch ihre Sünden geistlich tot sie »ans Kreuz nagelte« und sie so ge-
waren. Es heißt nicht, daß sie selbst ge- löscht hat, wie ein Schuldschein gelöscht
storben wären, sondern daß es in ihnen wird, wenn die Schuld abgegolten ist.
keinerlei Bewegung zu Gott hin gab, und Wie Meyer es ausgedrückt hat: »Durch
daß es nichts in ihnen gab, das Gottes den Tod Christi am Kreuz, hat das Ge-
Wohlwollen erlangen konnte. Sie waren setz, das den Menschen verurteilt, seine
nicht nur »tot … in« ihren Sünden, son- Strafautorität verloren, und zwar in
dern Paulus spricht auch von »der Unbe- sofern, als Christus durch seinen Tod den
schnittenheit« ihres »Fleisches«. Das Fluch des Gesetzes für den Menschen
Wort »Unbeschnittenheit« wird im NT trug und damit das Ende des Gesetzes
15)
oft benutzt, um damit die Heidenvölker wurde.« Kelly faßt das treffend zusam-
zu bezeichnen. Die Kolosser waren Hei- men: »Das Gesetz ist nicht tot, sondern
den gewesen. Sie gehörten nicht zum wir sind ihm gestorben.«
irdischen Volk Gottes, den Juden. Des- Die Worte des Paulus beziehen sich
halb waren sie von Gott entfernt ge- hier sehr wahrscheinlich auf einen alten
wesen und hatten ihrem Fleisch mit Brauch, den schriftlichen Beweis einer
seinen Lüsten ganz nachgegeben. Doch Schuld, die bezahlt ist, an einem Platz
als sie das Evangelium hörten und an anzunageln als Erinnerung für alle, daß
den Herrn Jesus Christus glaubten, der Gläubiger keine Ansprüche mehr an
waren sie »mitlebendig gemacht mit« den Schuldner zu stellen hat.
Christus, und alle ihre »Vergehungen« 2,15 Durch seinen Tod am Kreuz und
sind ihnen »vergeben« worden. Mit an- die darauffolgende Auferstehung und

1006
Kolosser 2

Himmelfahrt hat der Herr Jesus auch die Tagen festhält. Einige Sekten, wie etwa
bösen »Mächte« besiegt, indem er »sie der Spiritismus, halten ihre Mitglieder
öffentlich zur Schau gestellt« und »den zum Vegetarismus an. Über Jahrhunder-
Triumph über sie gehalten« hat. Wir te hinweg durften Katholiken freitags
glauben, daß dies derselbe Sieg ist, den kein Fleisch essen. Viele Konfessionen
Epheser 4 beschreibt, wo von dem Herrn verlangen von ihren Mitgliedern Absti-
Jesus gesagt wird, daß er das Gefängnis nenz von bestimmten Speisen während
gefangen geführt habe. Sein Tod, sein bestimmter Fastenzeiten. Andere, wie
Begräbnis, seine Auferstehung und seine die Mormonen, sind der Ansicht, daß
Himmelfahrt waren ein herrlicher Tri- man bei ihnen kein Mitglied sein kann,
umph über alle Feinde der Hölle und wenn man Tee oder Kaffee trinkt. Noch
über Satan. Als er die Atmosphäre auf andere, besonders die Sieben-Tage-
seinem Weg zurück in den Himmel Adventisten, sind der Ansicht, daß man
durchquerte, durchquerte er genau das den Sabbath halten muß, damit man Gott
Reich dessen, der der Fürst der Mächte gefällt. Der Christ untersteht solchen
der Lüfte ist. Ordnungen nicht. Ausführlichere Be-
Vielleicht enthält dieser Vers beson- handlung erfährt das Thema Gesetz, Sab-
deren Trost für die bereit, die sich vom bath und Gesetzlichkeit in den Exkursen
Dämonismus bekehrt haben, aber immer bei Matthäus 5,18; 12,8 und Galater 6,18.
noch Angst vor bösen Geistern haben. Es 2,17 Die jüdischen religiösen Vor-
gibt nichts zu fürchten, wenn wir in Chri- schriften waren nur »Schatten der künfti-
stus sind, weil er »die Gewalten und die gen Dinge …, der Körper selbst aber ist
Mächte völlig entwaffnet« hat. des Christus«. Sie wurden zur Zeit des
2,16 Und wieder ist der Apostel Pau- AT als Vorbild eingesetzt. So ist z. B. der
lus sofort bereit, das soeben Gesagte Sabbath als Bild für die Ruhe gegeben
anzuwenden. Wir könnten das folgen- worden, die das Erbteil aller ist, die an
dermaßen zusammenfassen: Die Kolos- den Herrn Jesus Christus glauben. Nun,
ser waren allen Anstrengungen, Gott da der Herr Jesus gekommen ist, warum
durch das Fleisch zu gefallen, gestorben. sollten die Menschen sich weiter mit den
Sie waren nicht nur gestorben, sondern Schatten abgeben? Es ist, als ob man sich
auch mit Christus begraben worden und mit einem Foto beschäftigt, wenn die
mit ihm zu einem neuen Leben aufer- abgebildete Person anwesend ist.
standen. Deshalb sollten sie immun sein 2,18 Es ist ziemlich schwierig, die
gegenüber jüdischen Irrlehrern und genaue Bedeutung dieses Verses heraus-
Gnostikern, die versuchten, sie genau zu zufinden, da wir nicht alle Lehren der
den Dingen zurückzuziehen, denen die Gnostiker genau kennen. Vielleicht be-
Kolosser doch gestorben waren. »So rich- deutet er, daß diese Menschen vorgaben,
te euch nun niemand wegen Speise oder so demütig zu sein, daß sie es nicht wag-
Trank oder betreffs eines Festes oder ten, Gott direkt anzusprechen. Vielleicht
Neumondes oder Sabbaths.« Jede lehrten die Gnostiker, daß man Gott
menschliche Religion unterjocht den durch Engel ansprechen müsse, und so
Menschen unter Vorschriften, Regeln, verehrten sie in ihrer vermeintlichen
und einen religiösen Kalender. Dieser »Demut« die »Engel« anstatt den Herrn.
Kalender beinhaltet normalerweise jähr- Es gibt heute etwas ganz ähnliches. Es
liche Feste (heilige Feste), monatliche gibt Katholiken, die sagen, daß sie nicht
Feste (Neumonde) oder wöchentliche daran denken würden, direkt zu Gott
Feiertage (Sabbathe). Der Ausdruck »so oder zum Herrn Jesus zu beten, und des-
richte euch nun niemand« bedeutet, daß halb ist ihr Motto »durch Maria zu
ein Christ von anderen nicht zu Recht Jesus«. Das ist eine »falsche Demut« und
verurteilt werden kann, wenn er z. B. die Verehrung eines Geschöpfes. Chri-
Schweinefleisch ißt, oder wenn er nicht sten sollten niemand erlauben, ihnen
an einem religiösen Fest oder an heiligen ihren Lohn durch solch unbiblische Prak-

1007
Kolosser 2

tiken zu nehmen. Das Wort ist eindeutig, chung zu tun. Es bedeutet auf den ver-
daß »einer Mittler zwischen Gott und herrlichten Herrn zu schauen, um Stär-
Menschen, der Mensch Christus Jesus« kung und Führung zu erhalten, und mit
ist (1. Tim 2,5). ihm in Kontakt zu bleiben. Das wird wei-
Der Apostel Paulus fährt mit den ter durch den folgenden Satz erklärt:
unverständlichen Worten fort: »der auf »Von dem aus der ganze Leib, durch die
16)
Dinge eingeht, davon er nie etwas gese- Gelenke und Bänder unterstützt und zu-
hen hat« (2. Teil zitiert nach LU1912). Die sammengefügt, das Wachstum Gottes
Gnostiker behaupteten, tiefe, geheime wächst.« Die verschiedenen Glieder des
Mysterien zu kennen, und um zu er- menschlichen Leibes sind durch »Gelen-
fahren, worum es sich bei diesen Ge- ke und Bänder« verbunden. Der Leib da-
heimlehren handelte, mußte man initiiert gegen ist mit dem Haupt verbunden. Der
werden. Vielleicht gehörten viele soge- Leib erwartet vom Haupt Führung und
nannte Visionen zu diesen Geheimlehren. Leitung. Das ist genau der Gedanke, den
Sogenannte Visionen sind wichtiger Be- der Apostel Paulus hier betonen will. Die
standteil heutiger Irrlehren wie Mormo- Glieder des Leibes Christi auf Erden soll-
nismus, Spiritismus, Katholizismus und ten alle ihre Befriedigung aus ihm bezie-
anderer. Diejenigen, die in diese Mysteri- hen, und sich nicht von den scheinbar so
en eingeweiht waren, waren natürlich überzeugenden Argumenten dieser Irr-
stolz auf ihr Geheimwissen. Deshalb fügt lehrer weglocken lassen.
Paulus hinzu: »ohne Ursache aufgebla- »Das Haupt festhalten« betont die
sen«. Sie nahmen anderen gegenüber Notwendigkeit, in jedem einzelnen
eine überhebliche Haltung ein und er- Augenblick vom Herrn abhängig zu
weckten den Eindruck, daß man nur sein. Die gestrige Hilfe reicht für heute
glücklich werden konnte, wenn man in nicht aus. Wir können mit dem Wasser,
diese tiefen Geheimnisse eingeweiht das schon über die Staumauer gelaufen
würde. Wir sollten hier unterbrechen, um ist, keine Mühle mehr betreiben. Man
zu sagen, daß vieles davon auch für heu- sollte noch hinzufügen, daß da, wo Chri-
tige Geheimgesellschaften gilt. Der sten sich an das Haupt halten, das Ergeb-
Christ, der in Gemeinschaft mit seinem nis spontane Handlungen sein werden,
Herrn wandelt, wird weder Zeit noch die mit den anderen Gliedern des Leibes
den Wunsch haben, solche Organisatio- auf wunderbare Weise abgestimmt sind.
nen in irgendeiner Weise zu unterstützen. 2,20 Die »Elemente der Welt« sind in
Wichtig ist hier anzumerken, daß die diesem Vers Rituale und Vorschriften.
verschiedenen religiösen Praktiken die- Zum Beispiel waren die Rituale des AT
ser Männer ihrem eigenen Willen ent- Überbleibsel der Welt in dem Sinne, daß
sprangen. Sie hatten kein biblisches Fun- sie die »Elemente« der Religion lehrten,
dament. Sie handelten nicht im Auftrag gewissermaßen das ABC (Gal 4,9-11).
Christi. Sie waren »ohne Ursache auf- Vielleicht denkt Paulus auch an die
geblasen von dem Sinn« ihres »Flei- Rituale und Vorschriften im Zusammen-
sches«, weil sie nur das taten, was sie hang mit dem Gnostizismus und ande-
selbst wollten, ganz unabhängig vom ren Religionen. Insbesondere behandelt
Herrn; doch ihr Verhalten schien der Apostel die Askese, die sich aus dem
demütig und religiös zu sein. Judentum entwickelt hat, welches schon
2,19 »Und nicht festhält das Haupt.« seine Stellung vor Gott verloren hatte,
Hier wird vom Herrn Jesus als das oder des Gnostizismus oder irgendeiner
»Haupt« des Leibes gesprochen. »Das anderen Sekte, die niemals eine Stellung
Haupt festhalten« bedeutet, in dem vor Gott gehabt haben. Weil die Kolosser
Bewußtsein zu leben, daß Christus das »mit Christus … gestorben« waren, fragt
»Haupt« ist, alles, was man benötigt, aus er sie, warum sie immer noch das Verlan-
seinen unerschöpflichen Quellen zu gen hatten, sich solchen »Satzungen« zu
schöpfen und alles zu seiner Verherrli- unterwerfen, denn indem sie das tun,

1008
Kolosser 2

würden sie vergessen, daß sie ihre Bin- kommen seid, warum unterwerft ihr euch
dungen an die Welt gelöst haben. Viel- dann, als ob euer Leben noch von dieser Welt
leicht wird sich bei einigen die Frage wäre, solchen Vorschriften wie »fasse dies
erheben: »Wenn ein Christ den Vorschrif- nicht an, probiere jenes nicht« – welche sich
ten gestorben ist, warum hält er dann an auf solche Dinge beziehen, die dazu gemacht
Taufe und Herrenmahl fest?« Die offen- sind, verbraucht zu werden und zu verge-
sichtliche Antwort lautet, daß diese bei- hen – und seid gehorsam einer Lehre, die rein
den Vorschriften der christlichen Ge- menschlich ist?
meinde im NT gelehrt werden. Doch 2,23 Diese Praktiken der menschli-
sind sie keine »Gnadenmittel«, die uns chen Religion schaffen eine scheinbare
irgendwie für den Himmel geeigneter »Weisheit … in eigenwilligem Gottes-
machen oder uns vor Gott Verdienste dienst und in Demut« und in Härte
sichern, sondern sie sind einfache Glau- gegen den »Leib«. »Eigenwilliger Gottes-
benstaten vor dem Herrn. Die Taufe ist dienst« bedeutet, daß diese Menschen
die Identifikation mit Christus, das Mahl eine Art des Gottesdienstes annehmen,
ist die Erinnerung an seinen Tod. Diese die ihren eigenen Vorstellungen von rich-
Ordnungen sind auch nicht so sehr Ge- tig und falsch entsprechen, anstatt Gottes
setze, die wir halten müßten, sondern Wort. Sie sind scheinbar religiös, haben
Vorrechte, die wir genießen dürfen. jedoch mit echtem Christentum nichts zu
2,21 Dieser Vers läßt sich besser ver- tun. »Demut« bezieht sich hier auf die
stehen, wenn wir die Worte »wie etwa« falsche Demut, die wir schon näher er-
voranstellen. Mit anderen Worten, Pau- klärt haben – sie geben vor, zu demütig
lus sagt in Vers 20: »Warum unterwerft zu sein, um Gott direkt anzusprechen,
ihr euch noch immer solchen Anordnun- und wenden sich an Engel als Vermittler.
gen, als ob ihr noch in der Welt leben »Nichtverschonen des Leibes« bezieht
würdet, wie etwa (V. 21) berühre nicht, sich auf Askese. Es geht hier um den
koste nicht, betaste nicht!« Es ist sehr Glauben, daß man durch Selbstverleug-
befremdend, daß einige gelehrt haben, nung oder Selbstzüchtigung einen höhe-
daß Paulus hier den Kolossern befiehlt, ren Grad an Heiligung erlangen könne.
nicht zu berühren, zu kosten oder beta- Das findet sich vor allem im Hinduismus
sten. Das ist natürlich das genaue Gegen- und anderen mystischen Religionen des
teil der Bedeutung dieses Abschnitts. Ostens.
Man sollte hier erwähnen, daß einige Was sind alle diese Praktiken wert?
Ausleger, etwa William Kelly, glauben, Vielleicht wird das am besten mit dem
daß die Reihenfolge dieser Teilsätze eher Ende dieses Verses ausgedrückt: »also
lauten sollte: »Betaste nicht, koste auch nicht in einer gewissen Wertschätzung,
nicht, berühre noch nicht einmal.« Diese sondern zur Befriedigung des Fleisches.«
Reihenfolge würde eine fortschreitende Alles das gibt uns äußerlich ein besseres
Verschärfung der Askese nahelegen. Aussehen, aber man kann damit nicht
2,22 Die Bedeutung dieses Abschnitts die »Befriedigung des Fleisches« aus-
wird in Vers 22 noch weiter erklärt. Es merzen. (Sogar die wohlgemeinten Ab-
geht um Verbote, die von Menschen stinenzermahnungen erreichen ihr Ziel
gemacht sind, wie durch den Ausdruck nicht.) Kein falsches System kann den
»nach den Geboten und Lehren der Men- Menschen verbessern. Während man
schen« nahegelegt wird. Ist das etwa die den Eindruck erweckt, daß man durch
Grundlage echter Religion, sich mit das Fleisch Gottes Wohlgefallen errei-
Essen und Trinken zu beschäftigen, statt chen könne, ist man nicht in der Lage, die
mit dem lebendigen Christus selbst? Lüste und Begierden des Fleisches in
Weymouth übersetzt die Verse 20-22 Schach zu halten. Die christliche Haltung
folgendermaßen: lautet, daß wir dem Fleisch mit seinen
Wenn ihr mit Christus gestorben seid Lüsten und Begierden gestorben sind
und der Weltanschauung dieser Welt ent- und von nun an der Herrlichkeit Gottes

1009
Kolosser 2 und 3

leben. Wir tun das nicht aus Angst vor und Motivation beschreibt. Der Aus-
Bestrafung, sondern aus Liebe zu dem druck »darauf sinnen« ist derselbe wie in
Einen, der sich für uns hingegeben hat. Philipper 3,19: »Die auf das Irdische sin-
A. T. Robertson hat das gut ausgedrückt: nen.« A. T. Robertson schreibt: »Das ge-
»Es ist die Liebe, die uns wirklich befreit, taufte Leben bedeutet, daß der Christ
das Richtige zu tun. Die Liebe macht uns den Himmel sucht und ständig an ihn
die Wahl leicht. Die Liebe macht das denkt. Seine Füße sind auf der Erde,
Angesicht der Pflicht schön. Die Liebe doch sein Haupt ist bei den Sternen. Er
macht es uns zum Vergnügen, bei lebt wie ein Bürger des Himmels hier auf
17)
Christus zu bleiben. Die Liebe macht den Erden.«
Dienst des Guten zur Freiheit.« Während des zweiten Weltkrieges
berichtete ein junger Christ begeistert
II. Die Pflichten des Gläubigen einem reifen Diener Christi: »Ich habe
gegenüber dem alles überragenden gehört, daß unsere Bomber gestern
Christus (Kap. 3.4) Abend über feindliche Städte flogen.«
Darauf erwiderte der ältere Gläubige:
A. Das neue Leben des Gläubigen: »Ich wußte nicht, daß die Gemeinde Got-
Den alten Menschen ausziehen und tes Bomber besitzt.« Er betrachtete die
den neuen anlegen (3,1-17) Dinge offenbar vom göttlichen Stand-
3,1 »Wenn ihr nun mit dem Christus auf- punkt, anstatt sich an der Vernichtung
erweckt worden seid, so sucht, was dro- von Frauen und Kindern zu erfreuen.
ben ist, wo der Christus ist, sitzend zur F. B. Hole erklärt unsere Stellung ein-
Rechten Gottes.« Das »wenn« in diesem deutig:
Vers soll keinen Zweifel des Apostels Das Gegenstück zu unserer Identifikati-
Paulus ausdrücken. Es ist auch das on mit Christus in seinem Tod ist unsere
»Wenn-Argument« genannt worden, Identifikation mit ihm in seiner Aufer-
und man kann es mit »weil« übersetzen: stehung. Die Folge des ersteren ist es, daß wir
»Weil ihr nun mit Christus auferweckt von der Welt der Menschen getrennt sind,
seid …« von ihrer Religion und ihrer Weisheit. Die
Wie in Kapitel 2 erwähnt, wird der Folge der letzteren ist es, uns mit Gottes Welt
Gläubige als mit Christus gestorben an- und allem, was in ihr ist, in Berührung zu
gesehen, als mit ihm begraben und mit bringen. Die ersten vier Verse von Kapitel 3
ihm von den Toten auferstanden. Die entfalten uns die Segnungen, denen wir
18)
geistliche Bedeutung dessen ist, daß wir zugeführt werden.
unserem früheren Lebensstil abgesagt 3,3 Wenn Paulus sagt, daß der Gläu-
haben und ein völlig neues Leben begon- bige »gestorben« ist, dann spricht er von
nen haben, nämlich das Leben des aufer- der Stellung, nicht von der Praxis. Weil
standenen Herrn Jesus Christus. Weil wir wir mit Christus in seinem Tod identifi-
»mit dem Christus auferweckt worden« ziert werden, möchte Gott, daß wir uns
sind, sollten wir nach dem suchen, »was selbst für »gestorben« mit ihm halten.
droben ist«. Wir sind zwar noch auf der Unsere eigenen Herzen sind immer be-
Erde, aber wir sollten himmlische Hand- reit, diese Tatsache zu bestreiten, weil
lungsweisen kultivieren. wir uns so sehr der Sünde und der Ver-
3,2 Der Christ sollte in seinen Erwar- suchung ausgesetzt empfinden. Doch es
tungen nicht erdgebunden sein. Er sollte ist eine wundervolle Tatsache, daß wir,
die Dinge nicht so sehen, wie sie dem na- wenn wir uns selbst für gestorben halten,
türlichen Auge erscheinen, sondern im dies dann auch zu einer sittlichen Rea-
Bezug auf ihre Bedeutung vor Gott und lität in unserem Leben wird. Wenn wir
für die Ewigkeit. Vincent ist der Ansicht, Gestorbene sind, dann wird unser Leben
daß »suchen« in Vers 1 für das praktische immer mehr dem Leben des Herrn Jesus
Streben steht, und daß »den Sinn darauf Christus ähnlich. Natürlich werden wir
richten« in Vers 2 die innere Einstellung in diesem Leben niemals Vollkommen-

1010
Kolosser 3

heit erreichen, aber es handelt sich um offenbart werden«. Die Menschen wer-
einen Prozeß, der in jedem Gläubigen den uns dann verstehen und wissen, war-
stattfinden sollte. um wir uns so und nicht anders ver-
Wir sind nicht nur »gestorben«, son- halten haben.
dern unser »Leben ist verborgen mit dem 3,5 In Vers 3 wurde uns gesagt, daß
Christus in Gott«. Was die Weltmenschen wir gestorben sind. Hier wird uns gesagt,
interessiert und bewegt, findet sich auf daß wir unsere »Glieder« töten sollen,
dem Planeten, auf dem wir leben. Doch »die auf der Erde sind«. In diesen beiden
was den Gläubigen bewegt, ist alles in Versen haben wir die klare Darstellung
der Person des Herrn Jesus Christus des Unterschieds zwischen der Stellung
zusammengefaßt. Christi Schicksal und des Gläubigen und seinem Zustand. Sei-
unseres sind untrennbar miteinander ne Stellung ist, daß er gestorben ist. Sein
verbunden. Paulus ist der Ansicht, daß, Zustand sollte sein, daß er sich selbst der
weil unser »Leben … verborgen mit dem Sünde für tot hält, indem er seine »Glie-
Christus in Gott« ist, wir uns nicht mit der, die auf der Erde sind«, tötet. Unsere
den kleinlichen Anliegen dieser Welt Stellung entspricht dem, was wir in Chri-
befassen sollten, und zwar insbesondere stus sind. Unser Zustand ist das, was wir
nicht mit ihren religiösen. in uns selbst sind. Unsere Stellung ist das
Doch ist mit dem Satz »euer Leben ist kostenlose Geschenk Gottes durch den
verborgen mit dem Christus in Gott« Glauben an den Herrn Jesus Christus.
noch ein anderer Gedanke verbunden. Unser Zustand repräsentiert unsere
Die Welt sieht unser geistliches Leben Reaktion auf Gottes Gnade.
nicht. Die Menschen können uns nicht Hier sollten wir auch noch den Unter-
verstehen. Sie sind der Ansicht, daß es schied zwischen Gesetz und Gnade fest-
seltsam ist, daß wir anders leben als sie. halten. Gott sagt nicht: »Wenn du ein
Sie können unsere Gedanken, unsere Leben ohne Sünde lebst, dann werde ich
Motive und unsere Lebensweise nicht dir die Stellung ›mit Christus gestorben‹
verstehen. Genauso, wie es vom Heiligen geben.« Das wäre Gesetz. Unsere Stel-
Geist ausgesagt ist, daß die Welt ihn lung würde von unseren eigenen Be-
weder sieht noch kennt, so ist es mit mühungen abhängen, und man braucht
unserem geistlichen Leben, es »ist ver- es kaum zu sagen, keiner würde je diese
borgen mit dem Christus in Gott«. 1. Jo- Stellung erlangen. Statt dessen sagt Gott:
hannes 3,1 sagt uns: »Deswegen erkennt »Ich gebe allen, die an den Herrn Jesus
uns die Welt nicht, weil sie ihn nicht glauben, eine Stellung des Wohlwollens
erkannt hat.« Die wirkliche Trennung vor meinen Augen. Nun geht hin und
von der Welt besteht in der Tatsache, daß führt ein Leben, das zu solch einer hohen
die Welt das Verhalten des Gläubigen Berufung paßt.« Das ist Gnade! Wenn
mißversteht. der Apostel sagt, daß wir unsere »Glie-
3,4 Um seiner Beschreibung des der, die auf der Erde sind« töten sollen,
Anteils des Gläubigen an Christus einen dann meint er damit nicht, daß wir wört-
Höhepunkt zu verleihen, schaut der lich eines der Glieder unseres Leibes zer-
Apostel auf die Wiederkunft Christi. stören sollten. Es handelt sich um einen
»Wenn der Christus, unser Leben, ge- bildlichen Ausdruck, der in den folgen-
offenbart werden wird, dann werdet den Sätzen erklärt wird. Das Wort »Glie-
auch ihr mit ihm geoffenbart werden in der« steht für die verschiedenen Formen
Herrlichkeit.« In der Gegenwart sind wir von Begierde und Haß, die aufgezählt
mit Christus auferweckt und genießen werden.
ein Leben, das von Menschen weder »Unzucht« beschreibt normalerweise
gesehen noch verstanden wird. Doch ungesetzlichen sexuellen Kontakt oder
eines Tages wird der Herr Jesus für seine Sittenlosigkeit, insbesondere von Unver-
Heiligen wiederkommen. Dann werden heirateten (Matth 15,19; Mk 7,21).
wir »mit ihm … in Herrlichkeit … ge- Manchmal reicht die Bedeutung weiter

1011
Kolosser 3

und man versteht darunter jede sexuelle rung diesen Sünden hingegeben haben.
Sünde. »Unreinheit« bezieht sich auf Doch die Gnade Gottes kam und hat
unreine Gedanken, Taten oder Handlun- sie von ihrer Unreinheit erlöst. Damit
gen. Es geht hier mehr um moralischen wurde ihr Sündenleben ein Kapitel ihres
Schmutz als um materiellen. »Leiden- Lebens, das nun vom Blute Christi be-
schaft« bezeichnet starke und ungezü- deckt wird. Sie hatten nun neues Leben,
gelte Begierden. »Böse Lust« spricht vom das ihnen die Kraft schenkte, für Gott zu
intensiven und oft gewalttätigen Streben. leben. Siehe Galater 5,25: »Wenn wir
»Habsucht« bedeutet im allgemeinen durch den Geist leben, so laßt uns durch
Geiz oder das Verlangen, immer mehr zu den Geist wandeln.«
haben, doch hier kann es sich auch um 3,8 Weil die Kolosser für einen solch
ein unheiliges Verlangen handeln, die hohen Preis erkauft worden sind, sollten
sexuellen Begierden zu befriedigen, was sie nun all das wie ein schmutziges Klei-
»Götzendienst« ist. dungsstück »ablegen«. Der Apostel be-
Die Liste beginnt mit Handlungen zieht sich dabei nicht nur auf die ver-
und endet bei den Motiven. Es werden schiedenen Formen unheiliger Lüste, die
die verschiedenen Arten sexueller Sünde in Vers 5 aufgezählt sind, sondern auch
beschrieben und dann auf ihre Ursache auf die Formen bösen Hasses, die er
hin verfolgt, nämlich das habsüchtige danach aufzählt.
Herz des Menschen. Das Wort Gottes ist »Zorn« ist eine starke Abneigung
eindeutig in seiner Lehre, daß die Sexua- oder Feindseligkeit, ein rachsüchtiger
lität an sich nicht böse ist. Gott hat den Geist, ein tiefsitzendes Haßgefühl. »Wut«
Menschen mit der Fähigkeit zur Vermeh- beschreibt eine stärkere Form des Zorns,
rung geschaffen. Doch zur Sünde wird die auch gewalttätige Ausbrüche umfaßt.
es, wenn man diese Einrichtungen, die »Bosheit« ist böses Verhalten gegenüber
Gott uns als seinen Geschöpfen so gnä- anderen mit dem Ziel, diese Person oder
dig gegeben hat, zu bösen Zwecken miß- ihren Ruf zu schädigen. Es handelt sich
braucht. Die sexuelle Sünde war die um eine unvernünftige Abneigung, die
Hauptsünde der Heidenwelt zur Zeit des Gefallen daran findet, einen anderen lei-
Paulus, und auch heute noch steht sie auf den zu sehen. »Lästerung« bedeutet hier
Platz eins. Wo Gläubige nicht dem Hei- Schmähungen, d. h. ungezügelte Be-
ligen Geist hingegeben leben, kommen schimpfung eines anderen. Es bedeutet,
oft sexuelle Sünden in ihr Leben, und auf böse, unversöhnliche Weise zu
beweisen, daß sie gefallen sind. schimpfen. »Schändliches Reden« be-
3,6 Die Menschen denken, daß sie deutet unsaubere Sprache und beschreibt
diese schrecklichen Sünden begehen und alles was unanständig, lüstern oder ver-
gleichzeitig der Strafe entgehen können. dorben ist. Es handelt sich um ent-
Scheinbar schweigt der Himmel dazu, ehrende, unreine Sprache. In diesem Sün-
und der Mensch geht in seiner Unver- denkatalog bewegt sich der Apostel von
schämtheit immer weiter. Doch Gott läßt den Motiven zu den Handlungen. Die
sich nicht spotten. »Der Zorn Gottes« Bitterkeit beginnt im menschlichen Her-
wird um dieser Sünden willen »über die zen und manifestiert sich dann auf die
Söhne des Ungehorsams« (ER, Anm.) verschiedene hier beschriebene Weise.
kommen. Diese Sünden haben schon in 3,9 In Vers 9 sagt der Apostel prak-
diesem Leben Auswirkungen, denn die tisch: »Laßt euren Zustand eurer Stellung
Menschen ernten am eigenen Leib die entsprechen.« Die Kolosser haben »den
Folgen ihrer sexuellen Ausschweifung. alten Menschen mit seinen Handlungen
Zusätzlich werden sie eines Tages noch ausgezogen«, deshalb sollen sie ihn nun
die schreckliche Ernte des Gerichts ein- auch praktisch ausziehen, indem sie sich
sammeln müssen. der Lüge enthalten. Lüge ist eine der
3,7 Paulus erinnert die Kolosser Eigenschaften, die zum »alten Men-
daran, daß auch sie sich vor ihrer Bekeh- schen« gehört, und sie sollte im Leben

1012
Kolosser 3

des Kindes Gottes keinen Platz haben. Nationalität, der Religion, der Kultur
An jedem Tag unseres Lebens werden und der sozialen Schicht zählen hier
wir versucht, die Wahrheit zu verzerren. nicht mehr. Bezüglich ihrer Stellung vor
Es kann sein, daß wir auf einem Einkom- Gott sind alle Gläubigen gleich, und in
mensteuerformular Informationen vor- der Ortsgemeinde sollte dieselbe Hal-
enthalten, oder bei einer Prüfung schum- tung eingenommen werden.
meln, oder aber, indem wir die Einzelhei- Das bedeutet nicht, daß es in der
ten einer Geschichte übertreiben. Lügen Gemeinde keine Unterschiede gäbe.
wird zweifellos zu einer ernsten Angele- Einige haben die Gabe des Evangelisten,
genheit, wenn wir jemanden anderen andere die des Hirten, und wieder ande-
durch eine falsche Aussage verletzen, re die der Lehre. Einige sind Älteste,
oder indem wir einen falschen Eindruck andere wiederum Diakone. Deshalb ver-
erwecken. wischt dieser Vers nicht die wirklichen
3,10 Wir haben nicht nur den alten Unterschiede.
Menschen abgelegt, sondern haben auch Auch sollte der Vers nicht dazu be-
»den neuen angezogen … der erneuert nutzt werden, um zu lehren, daß diese
wird zur Erkenntnis nach dem Bild des- Unterschiede in der Welt abgeschafft
sen, der ihn erschaffen hat«. Genauso, wären. Das ist nicht der Fall. Dort gibt es
wie der alte Mensch all das bezeichnet, noch immer Griechen und Juden, wobei
was wir als Kinder Adams mit unserem die Griechen hier für die Heidenvölker
unerlösten Wesen waren, so bezieht sich allgemein stehen. Es gibt noch immer
der »neue Mensch« auf unsere neue Stel- »Beschneidung« und »Unbeschnitten-
lung als Kinder Gottes. Es hat eine heit«. Diese zwei Ausdrücke werden im
Neuschöpfung gegeben, und wir sind NT allgemein gebraucht, um die Juden
neue Geschöpfe. Gottes Ziel ist es, daß bzw. die Heiden zu beschreiben. Hier
dieser neue Mensch immer mehr wächst kann es sich jedoch auch noch auf das
und dem Herrn Jesus Christus ähnlicher Ritual selbst beziehen, das von den
wird. Wir sollten niemals mit unseren Juden praktiziert wurde und dem sich
gegenwärtigen Errungenschaften zufrie- die Heiden nicht unterzogen.
den sein, sondern sollten uns immer wei- Es gibt noch immer den »Barbar«
ter auf das Ziel zubewegen, unserem (den unkultivierten Menschen) und den
Erlöser ähnlicher zu werden. Er ist unser Skythen. Diese beiden Ausdrücke sind
Vorbild und der Maßstab für unser hier nicht im Gegensatz gegeneinander
Leben. Eines Tages, wenn wir vor dem gebraucht. Die Skythen waren auch Bar-
Richterstuhl Christi stehen werden, wer- baren, doch waren sie noch schlimmere
den wir nicht danach gerichtet, wieviel Barbaren als andere, sie waren bei wei-
besser unser Leben als das der anderen tem die wildesten und grausamsten. Der
war, sondern im Vergleich mit dem letzte Kontrast besteht zwischen Sklaven
Leben unseres Herrn Jesus selbst. und Freien. »Freie« bezeichnet hier sol-
Das Bild Gottes sieht man nicht an der che Menschen, die nie in Knechtschaft
äußeren Form unseres Leibes, sondern in der waren, sondern frei geboren sind. Für
Schönheit eines erneuerten Herzens und Sin- den Christen sind diese weltlichen
nes. Heiligung, Liebe, Demut, Sanftmut, Unterscheidungen nicht mehr wichtig.
Freundlichkeit und Vergebungsbereitschaft – Was wirklich zählt, ist Christus. Er ist
daraus besteht der göttliche Charakter. (Aus alles für den Gläubigen und in allem. Er
dem englischen Material des Bibellesebundes.) ist das Zentrum und die Peripherie des
3,11 In der neuen Schöpfung, von der christlichen Lebens.
der Apostel gesprochen hat, gibt es Bischof Ryle drückt diese Wahrheit
»weder Grieche noch Jude, Beschnei- sehr treffend aus:
dung noch Unbeschnittenheit, Barbar, Die drei Worte – Christus in allem – sind
Skythe, Sklave, Freier, sondern Christus die Essenz und die Substanz des Christen-
alles und in allen«. Unterschiede der tums. Wenn unsere Herzen mit diesen Wor-

1013
Kolosser 3

ten wirklich übereinstimmen, dann steht es beschreibt das mitleidvolle Herz. »Güte«
gut um unsere Seele … Viele räumen Chri- spricht von selbstlosen Taten für andere.
stus einen gewissen Platz in ihrer Religion Es ist die Haltung der Zuneigung und
ein, jedoch nicht den Platz, den Gott für ihn des Wohlwollens. »Demut« bedeutet die
geplant hat. Christus allein ist nicht »alles in Bereitschaft, auch niedrige Dienste zu
allem« für ihre Seele. Nein! Es ist entweder verrichten und andere höher zu schätzen
Christus und die Gemeinde – oder Christus als sich selbst. »Milde« spricht nicht von
und die Sakramente – oder Christus und sei- Schwäche, sondern von der Stärke, sich
ne berufenen Geistlichen – oder Christus selbst zu verleugnen und in Liebe zu
und ihre eigene Bekehrung – oder Christus allen Menschen zu wandeln. Vine
und ihre eigenen guten Taten – oder Christus schreibt:
und ihre eigenen Gebete – oder Christus und Man nimmt allgemein an, daß, wenn
ihre eigene Ehrlichkeit und Spendenbereit- jemand sanftmütig ist, er sich nicht durch-
19)
schaft, auf denen ihre Seele praktisch ruht. setzen kann, doch auch der Herr war »sanft-
3,12 In Vers 10 hatte Paulus gesagt, mütig«, obwohl er die unendlichen Macht-
daß wir den neuen Menschen angezogen mittel Gottes zu seiner Verfügung hatte.
haben. Nun zeigt er uns, wie sich das in Wenn man es negativ beschreiben will, dann
unserem täglichen Leben in die Praxis ist Sanftmut das Gegenteil von Selbstbe-
umsetzen läßt. Zunächst spricht er die wußtsein und Eigeninteresse, es ist Zufrie-
Kolosser als die »Auserwählten Gottes« denheit des Geistes, die weder in Hochstim-
an. Das bezieht sich auf die Tatsache, daß mung versetzt noch verzweifeln läßt, einfach,
sie von Gott in Christus vor Grundle- weil sie sich überhaupt nicht mit dem Ich
20)
gung der Welt erwählt worden sind. Got- beschäftigt.
tes erwählende Gnade ist eines der Ge- Wenn »Demut« die »Abwesenheit
heimnisse der göttlichen Offenbarung. von Stolz« ist, dann ist »Milde« die »Ab-
Wir glauben, daß die Schrift eindeutig wesenheit von Eifer«. »Langmut« spricht
lehrt, daß Gott in seiner Souveränität von Geduld unter Provokation und vom
Menschen erwählt hat, zu Christus zu ausdauerndem Ertragen von Beleidigun-
gehören. Wir glauben nicht, daß Gott gen. Es gehört Freude und eine freund-
jemals jemanden zur Verdammnis er- liche Haltung anderen gegenüber dazu,
wählt hat. Eine solche Lehre wider- gleichzeitig mit dem Ausharren in
spricht direkt der Schrift. Ebenso, wie Leiden.
wir an Gottes auserwählende Gnade 3,13 »Ertragt einander« beschreibt die
glauben, so glauben wir an die Verant- Geduld, die wir mit den Fehlern und
wortung des Menschen. Gott rettet Men- Schrullen unserer Geschwister haben
schen nicht gegen ihren Willen. Dieselbe sollten. Wenn wir mit anderen zusam-
Bibel, die sagt »erwählt nach dem Vor- menleben, ist es unausweichlich, daß wir
herwissen Gottes«, sagt auch »wer den ihre Fehler kennenlernen. Wir benötigen
Namen des Herrn anrufen wird, der soll oft die Gnade Gottes, um uns mit den
errettet werden«. Ungereimtheiten anderer zu versöhnen,
Als nächstes spricht Paulus die genauso wie es für sie schwer sein muß,
Kolosser »als Heilige und Geliebte« an. mit unseren zurechtzukommen. »Und
Heilig bedeutet hier geheiligt oder für vergebt euch gegenseitig, wenn einer
Gott aus der Welt ausgesondert. Wir sind Klage gegen den anderen hat.« Es gäbe
von unserer Stellung her heilig und wir nur wenige Streitpunkte im Volk Gottes,
sollten in unserem Leben auch praktisch die nicht schnell gelöst werden könnten,
heilig sein. Weil Gott uns liebt, haben wir wenn man diesen Aufforderungen fol-
das Verlangen, ihm auf jede Weise zu gen würde. Vergebung sollte man ande-
gefallen. ren gegenüber üben, wenn sie sich gegen
Nun beschreibt Paulus die christ- uns versündigt haben. Wie oft hören wir
lichen Tugenden, die wir als Kleider »an- die Klage: »Aber der hat angefangen …«
ziehen« sollen. »Herzliches Erbarmen« Das ist genau die Situation, in der wir

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Kolosser 3

vergeben sollen. Wenn der andere nicht dann solltest du nicht weitermachen.
angefangen hätte, dann gäbe es keine Wie jemand einmal gesagt hat: »Finster-
Ursache, Vergebung zu üben. Wenn wir nis zum Weitergehen heißt Licht zum
derjenige sind, der angefangen hat, dann Stehenbleiben.«
sollten wir hingehen und um Vergebung Christus hat uns berufen, seinen Frie-
bitten. Nachsicht bedeutet, daß wir uns den zu genießen, sowohl als einzelne
nicht ärgern, Vergebungsbereitschaft – Personen als auch in der Gemeinde. Man
daß wir unseren Ärger nicht festhalten. sollte nicht die Bedeutung des zweiten
Es kann wohl kaum einen größeren Teiles dieses Verses übersehen: »Zu dem
Anreiz für Vergebungsbereitschaft ge- ihr auch berufen worden seid in einem
ben, als sie in diesem Vers zu finden ist: Leib.« Eine Art, auf die wir den Frieden
»Wie auch der Christus euch vergeben genießen können, wäre, in Isolation von
hat, so auch ihr.« Wie hat Christus uns allen anderen Christen zu leben. Doch
»vergeben«? Er vergab uns grundlos. das ist nicht Gottes Ziel. Er hat den Ein-
Dasselbe sollten auch wir tun. Er schenk- zelnen in die Familiengemeinschaft ein-
te uns die Vergebung. Dasselbe sollten gebunden. Es ist Gottes Absicht, daß wir
auch wir tun. Sowohl in der Art und Wei- uns in Ortsgemeinden sammeln. Ob-
se als auch im Ausmaß sollten wir unse- wohl das Zusammenleben mit anderen
rem Herrn in dieser wunderbaren Hal- Christen manchmal unsere Geduld er-
tung nachfolgen. proben kann, so kann doch Gott auf die-
3,14 Die Liebe wird hier als äußeres se Weise Tugenden im Leben des Chri-
Gewand bezeichnet, oder als der Gürtel, sten entwickeln, die er auf keine andere
der alle anderen Tugenden zusammen- Weise hervorbringen könnte. Deshalb
bindet, damit alles »vollkommen« wird. sollten wir nicht von unserer Verantwor-
Dieses Band hält alle Teile des christli- tung in der Ortsgemeinde zurück-
chen Charakters in der Waage. Es ist schrecken, noch sie aufgeben, wenn wir
möglich, daß jemand eine dieser Tugen- herausgefordert oder beleidigt werden.
den hat, ohne Liebe im Herzen zu haben, Wir sollten statt dessen versuchen, in
und deshalb betont Paulus hier, daß Frieden mit unseren Mitgläubigen zu
alles, was wir tun, in einem Geist echter leben und versuchen, ihnen mit allem,
»Liebe« zu den Geschwistern getan wer- was wir tun und sagen, zu helfen.
den sollte. Unsere Handlungen sollten »Und seid dankbar.« Dieser Refrain
nicht aufgrund von Groll erfolgen, son- findet sich immer wieder in den Schrif-
dern sollten ganzherziger Zuneigung ten des Paulus. Das hat wohl seinen gu-
entspringen. Die Gnostiker meinten, daß ten Grund: Der Geist Gottes hält einen
Erkenntnis das »Band der Vollkommen- dankbaren Geist für sehr wichtig. Und
heit« sei, doch Paulus korrigiert diese wir glauben, daß es wirklich so ist –
Ansicht, indem er feststellt, daß die »Lie- wichtig nicht nur für das geistliche Leben
be … das Band der Vollkommenheit ist«. eines Menschen, sondern auch für sein
3,15 »Der Friede Gottes« sollte als leibliches Wohlergehen. Ärzte haben
Herrscher »in« unseren »Herzen« regie- herausgefunden, was die Schrift schon
ren. Wenn wir irgendwelche Zweifel immer gelehrt hat – daß eine freudige,
haben, dann sollten wir uns die Frage dankbare Geisteshaltung gut für den
stellen: »Dient es dem Frieden?« oder Leib ist, und daß Sorgen, Depression und
»Hätte ich Frieden in meinem Herzen, ein murrender Geist ausgesprochen
wenn ich hinginge und so handelte?« schädlich für die Gesundheit sind. Nor-
Dieser Vers ist besonders hilfreich, malerweise sind wir der Ansicht, daß
wenn wir Leitung durch den Herrn brau- Dankbarkeit etwas ist, das durch die
chen. Wenn der Herr wirklich möchte, gerade gegebenen Umstände bestimmt
daß wir etwas bestimmtes tun, dann wird, doch Paulus zeigt hier, daß es sich
wird er uns ganz sicher »Frieden« darü- um eine Gabe handelt, die wir üben soll-
ber geben. Wenn du keinen Frieden hast, ten. Wir sind verantwortlich dafür,

1015
Kolosser 3

»dankbar« zu sein. Von allen Völkern der gebenen Texte im gleichnamigen Buch
Welt haben wir den meisten Grund zur der Bibel, die im israelitischen Gottes-
Dankbarkeit (vgl. 5. Mose 33,29). Es liegt dienst gesungen wurden. »Loblieder«
nicht daran, daß wir nicht Grund genug dagegen sind Lieder, die an Gott, den
zum Danken haben, sondern nur an Vater oder an den Herrn Jesus Christus
unseren selbstsüchtigen Herzen. gerichtet sind und ihn loben und an-
3,16 Man ist sich nicht über die Zei- beten. »Loblieder« sind nicht in dem
chensetzung von Vers 16 einig. In den demselben Sinne inspiriert wie die
Originalen des NT gab es keine Satzzei- »Psalmen«. »Geistliche Lieder« bezieht
chen, und die Bedeutung eines solchen sich auf christliche Poesie, die christliche
Verses wird sehr stark von den Satzzei- Erfahrungen widerspiegeln.
chen bestimmt, die benutzt werden. Wir Wenn wir diese verschiedenen Arten
schlagen folgende Zeichensetzung vor: von Liedern singen, dann sollten wir »in
»Laßt das Wort Christi reichlich unter Gnade« oder mit Dank »in« unserem
euch wohnen: lehrt und ermahnt einan- »Herzen« für »Gott« singen. An diesem
der in aller Weisheit; mit Psalmen, Lob- Punkt mag es gut erscheinen zu sagen,
gesängen und geistlichen Liedern singt daß der Christ unterscheiden sollte, wel-
Gott dankbar in euren Herzen« che Art von Musik er benutzt. Viele so-
(LU1984). genannte »christliche« Musik von heute
Damit haben wir drei Abschnitte in ist leichtfertig und hohl. Ein Großteil
diesem Vers. Zunächst einmal sollen wir dieser Musik ist ausgesprochen schrift-
»Das Wort des Christus … reichlich in« widrig und noch mehr der weltlichen
uns wohnen lassen. »Das Wort des Chri- Pop- und Rockmusik ähnlich, so daß sie
stus« ist die Lehre Christi, wie wir sie in eine Schande für den Namen Christi ist.
der Bibel finden. Wenn wir unser Herz Vers 16 ist Epheser 5,18.19 sehr ähn-
und unseren Geist mit seinem heiligen lich, wo wir lesen: »Und berauscht euch
Wort sättigen, und danach streben, im nicht mit Wein, worin Ausschweifung
Gehorsam dagegen zu wandeln, dann ist ist, sondern werdet voll Geist, indem ihr
»das Wort des Christus« wirklich in zueinander in Psalmen und Lobliedern
unseren Herzen zuhause. und geistlichen Liedern redet und dem
Der zweite Gedanke lautet, daß wir Herrn mit eurem Herzen singt und
uns »in aller Weisheit … gegenseitig« spielt.« In Kolosser 3,16 ist der Hauptun-
lehren und ermahnen sollen. Jeder Christ terschied, daß es nicht heißt »werdet voll
trägt gegenüber seinen Brüdern und Geist«, sondern Paulus sagt: »Das Wort
Schwestern in Christus in dieser Hinsicht des Christus wohne reichlich in euch.«
eine Verantwortung. »Lehren« hat mit Mit anderen Worten, mit dem Heiligen
Glaubenstatsachen zu tun, während sich Geist und mit dem Wort Gottes erfüllt zu
»ermahnen« auf die Pflichten des Chri- sein ist notwendig, um ein freudiges,
sten bezieht. Wir schulden es unseren nützliches und fruchtbares Leben zu
Brüdern und Schwestern, unser Bibel- führen. Wir werden nicht mit dem Geist
wissen mit ihnen zu teilen und zu versu- erfüllt, wenn wir nicht voll des Wortes
chen, ihnen durch praktischen und got- Gottes sind, und das Studium des Wortes
tesfürchtigen Rat zu helfen. Wenn »in Gottes wird so lange ineffektiv bleiben,
aller Weisheit« gelehrt und ermahnt wie wir uns nicht von Herzen der Kon-
wird, dann wird solcher Rat viel eher trolle des Heiligen Geistes hingeben.
akzeptiert, als wenn wir unweise oder Können wir daraus nicht schließen, daß
lieblos sprechen. mit dem Heiligen Geist erfüllt zu wer-
Der dritte Gedanke lautet, daß wir den, bedeutet, auch mit dem Wort Gottes
»mit Psalmen, Lobliedern und geistli- erfüllt zu sein? Die Fülle des Heiligen
chen Liedern … Gott in« unseren »Her- Geistes ist keine geheimnisvolle, emotio-
zen in Gnade« singen sollen. »Psalmen« nale Krise, die wir einmal im Leben
bezieht sich auf die von Gott einge- durchmachen, sondern besteht darin,

1016
Kolosser 3

sich täglich von der Schrift zu nähren, Welt« enthält mehr Wahrheit, als man bei
über sie nachzudenken, ihr zu gehorchen oberflächlicher Betrachtung meint. Die
und nach ihr zu leben. Familieneinheit wurde von Gott dazu
3,17 Vers 17 ist eine allgemeine Regel, geschaffen, vieles, was das Leben lebens-
nach der wir unser Verhalten als Christen wert macht, zu bewahren. Während wir
beurteilen können. Heutzutage haben es immer weniger auf die Familie acht
junge Leute besonders schwer zu ent- haben, verkommt unsere Zivilisation
scheiden, ob bestimmte Dinge richtig immer mehr. Der erste Brief des Paulus
oder falsch sind. Dieser Vers kann sich, an Timotheus lehrt auf besondere Weise,
wenn er in unserem Gedächtnis einge- daß Gott das Familienleben als Mittel
brannt ist, als Schlüssel für viele dieser angeordnet hat, durch das man geistliche
Probleme erweisen. Die Frage, die wir Qualitäten erlangen kann, so daß die Eig-
uns immer wieder stellen müssen, ist: nung eines Menschen für die Leiterschaft
Kann ich das »im Namen des Herrn in der Gemeinde aus dem bewährten
Jesus« tun? Kann ich es ihm zu Ehren Familienleben entspringt.
tun? Kann ich erwarten, daß sein Segen In den folgenden Versen finden wir
darauf ruht? Möchte ich diese Tätigkeit einige der Grundprinzipien, die uns bei
ausüben, wenn er wiederkommt? Man der Gründung einer christlichen Familie
beachte, daß man diesen Maßstab so- leiten sollten. Wenn wir diesen Abschnitt
wohl auf unsere Worte als auch unsere betrachten, sollten wir uns die folgenden
Taten anwenden sollte. Wenn wir diesem Grundbedingungen vor Augen halten:
Gebot gehorchen, dann adelt das unser 1. Es muß einen Familienaltar geben –
ganzes Lebens. Es ist ein kostbares Ge- eine Zeit am Tag, zu der sich die Fa-
heimnis, wenn ein Christ es lernt, alles milie zum Lesen der Heiligen Schrift
für den Herrn und zu seiner Ehre zu tun. und zum Gebet versammelt.
Und wieder fügt der Apostel die Worte 2. Der Vater muß seine Autoritätsstel-
hinzu: »Und sagt Gott, dem Vater, Dank lung in der Familie haben und sie in
durch ihn.« Dank, Dank und nochmals Weisheit und Liebe ausüben.
Dank! Das ist die ewige Pflicht derer, die 3. Die Frau und Mutter sollte erkennen,
durch die Gnade errettet und für den daß ihre erste Verantwortung vor
Himmel bestimmt sind. Gott und der Familie in ihrem Haus
liegt. Im Allgemeinen ist es nicht
B. Angemessenes Verhalten für weise, wenn eine Frau einem Beruf
Mitglieder eines christlichen außerhalb des Hauses nachgeht. Na-
Haushaltes (3,18-4,1) türlich gibt es hier Ausnahmen.
Paulus gibt nun den Gliedern des christ- 4. Der Ehemann und die Frau sollten
lichen Haushalts einige Ermahnungen. für ihre Kinder ein Beispiel an Gottes-
Sie reichen bis Kapitel 4,1. Er hat Rat- furcht sein. Sie sollten in allem einig
schläge für Ehefrauen, Ehemänner, Kin- sein, wenn nötig, auch in der Züchti-
der, Eltern, Diener und Herren. Zunächst gung der Kinder.
mag dies wie ein abrupter Themenwech- 5. Die Einheit der Familie sollte aufrecht
sel erscheinen – von den Themen, die erhalten werden. Es ist viel zu schnell
Paulus bisher beschäftigt haben, zu solch möglich, sich so im Geschäft, im so-
einem profanen Thema wie dem Famili- zialen Leben und sogar im christ-
enleben. Doch in Wirklichkeit ist dies lichen Dienst zu engagieren, daß die
höchst bedeutsam. Kinder unter mangelnder Zunei-
gung, Gemeinschaft, Anleitung und
Disziplin leiden. Viele Eltern mußten
Exkurs zum Thema christliche Familie trauernd über einem abgewichenen
Gott hält die Familie für eine wichtige Sohn oder einer ausgescherten Toch-
Kraft im Leben des Christen. Das Sprich- ter bekennen: »Und es geschah, wäh-
wort »die Hand an der Wiege regiert die rend dein Knecht da und dort zu tun

1017
Kolosser 3

hatte, da war er nicht mehr da« dann bedeutet dieser Vers, daß sie ihm
(1. Kön 20,40). helfen sollte, seine Aufgabe in der Fami-
6. Bezüglich der Züchtigung von Kin- lie zu erfüllen, anstatt die Aufgaben
dern sind drei Grundregeln vorge- selbst an sich zu reißen, weil sie vielleicht
schlagen worden. Strafe nie im Zorn. intelligenter ist.
Strafe nie ungerecht. Strafe nie ohne 3,19 Es ist wunderschön, wie ausge-
Erklärung. glichen das Wort Gottes ist. Der Apostel
7. Es ist gut für die Kinder, in der bleibt nicht allein bei seinem Rat für die
Jugend zu lernen ihr Joch zu tragen Frauen, sondern zeigt, daß auch die
(Klgl 3,27), diszipliniert arbeiten zu Ehemänner eine Verantwortung haben.
lernen, Verantwortung zu überneh- Die »Männer« sollen ihre »Frauen« lie-
men und den Wert des Geldes ken- ben und »nicht bitter gegen sie« sein.
nenzulernen. Wenn man diesen einfachen Anweisun-
8. Vor allem sollten christliche Eltern gen folgen würde, dann würden viele
vermeiden, auf fleischliche und welt- Eheprobleme verschwinden, und Famili-
liche Weise ehrgeizig für ihre Kinder en wären sehr viel glücklicher im Herrn.
zu sein, sondern sollten ihnen ständig Denn keine Frau würde sich wohl wei-
den Dienst des Herrn als die beste Art gern, sich einem Ehemann zu unterwer-
vor Augen halten, ihr Leben zu ver- fen, der sie wirklich liebt. Man hat zu-
bringen. Für einige kann das den recht bemerkt, daß dem Ehemann hier
vollzeitigen Dienst auf dem Missi- nicht gesagt wird, er solle seine Frau
onsfeld bedeuten, für andere mag es dazu bringen, ihm zu gehorchen. Wenn
den Dienst für den Herrn in einem sie es nicht tut, dann sollte er die Angele-
säkularen Beruf heißen. Doch auf genheit vor den Herrn bringen. Die
jeden Fall sollte das Werk des Herrn Unterordnung sollte von ihrer Seite aus
das wichtigste Kriterium sein. Ob zu- freiwillig geschehen »wie es sich im
hause, bei der Arbeit oder wo immer Herrn geziemt«.
wir sein mögen, sollten wir uns der 3,20 Die »Kinder« werden ermahnt:
Tatsache bewußt sein, daß wir unse- »Gehorcht euren Eltern in allem, denn
ren Erlöser repräsentieren, und des- dies ist wohlgefällig im Herrn.« Zu allen
halb sollte jedes Wort und jede Tat Zeiten sind Familien durch zwei einfache
ihm würdig sein, und sollte, kurz Prinzipien zusammengehalten worden –
gesagt, von ihm bestimmt werden. Autorität und Gehorsam. Hier geht es
um das letztere. Man beachte hier, daß
3,18 Die erste Ermahnung des Apo- Gehorsam »in allem« gefordert wird.
stels ist an die »Frauen« gerichtet. Sie Das bedeutet nicht nur in angenehmen
werden eindringlich ermahnt, sich ihren Dingen, sondern auch da, wo Gehorsam
»Männern« unterzuordnen, »wie es sich nicht so angenehm ist.
im Herrn geziemt«. Der göttliche Plan Gläubige Kinder, die ungläubige
ist, daß der Ehemann das Oberhaupt der Eltern haben, stehen oft in einer schwie-
Familie ist. Die Frau hat eine untergeord- rigen Position. Sie wollen dem Herrn
nete Stellung unter ihren Mann bekom- treu sei und werden gleichzeitig mit den
men. Sie soll weder dominieren noch lei- Ansprüchen konfrontiert, die ihre Eltern
ten, sondern seiner Leitung folgen, wo an sie stellen. Im allgemeinen sind wir
immer sie es kann, ohne ihre Treue zu der Ansicht, daß Gott, wenn sie ihre
Christus zu gefährden. Es gibt natürlich Eltern ehren, auch sie ehren wird. So-
Fälle, in denen eine Frau ihrem Ehemann lange sie im Hause ihrer Eltern leben,
nicht gehorchen darf und trotzdem Chri- haben sie ganz besonders die Verpflich-
stus treu bleibt. In einem solchen Fall tung zum Gehorsam. Natürlich sollten
muß sie zuerst dem Herrn Jesus gehor- sie nichts tun, das den Lehren Christi
chen. Wenn eine christliche Ehefrau entgegensteht, doch normalerweise wer-
einen zurückgefallenen Ehemann hat, den sie nicht dazu aufgefordert. Oft

1018
Kolosser 3

mögen sie aufgefordert werden, Dinge hier die vorsichtige Anspielung, daß die-
zu tun, die sie ungern tun, doch solange se nur »Herren nach dem Fleisch« sind.
sie nicht ausgesprochen falsch oder sün- Sie haben einen anderen Herrn, der über
dig sind, können sie sich entschließen, sie allen steht, und der alles sieht, was dem
für den Herrn zu tun. Auf diese Weise geringsten seiner Kinder zugefügt wird.
können sie ein gutes Zeugnis für ihre Sklaven sollen »nicht in Augendienerei,
Eltern sein und versuchen, sie für den als Menschengefällige, sondern in Einfalt
Herrn zu gewinnen. des Herzens, den Herrn fürchtend« die-
3,21 »Väter« sollten ihre Kinder nicht nen. (Ein gutes Beispiel dafür im AT ist
»reizen, … damit sie nicht mutlos wer- 1. Mose 24,33.) Besonders wenn jemand
den«. Es ist interessant, daß dieser Rat an unterdrückt wird, dann ist er versucht,
die »Väter« gerichtet ist und nicht an die die Arbeit schleifen zu lassen, wenn sein
Mütter. Enthüllt das nicht, daß die Väter Herr gerade nicht hinschaut. Doch der
eher in der Gefahr stehen, diesen Fehler gläubige Diener wird erkennen, daß sein
zu begehen, als die Mütter? Kelly ist der Herr immer zuschaut, und auch wenn sei-
Ansicht, daß Mütter eher Gefahr laufen, ne irdischen Umstände sehr bitter sein
ihre Kinder zu verwöhnen. mögen, wird er seine Arbeit für den
3,22 Von Vers 22 bis zum Ende des Herrn im Himmel tun. »In Einfalt des
Kapitels spricht der Geist Gottes die Herzens« bedeutet, daß er reine Motive
»Sklaven« oder Knechte an. Es ist in- hat – er will nur dem Herrn Jesus gefallen.
teressant zu sehen, wieviel Platz das NT Es ist interessant, daß im NT die Skla-
den Sklaven widmet. Das ist nicht be- verei nicht verboten wird. Das Evangeli-
deutungslos. Es zeigt, daß, ganz gleich um wirft soziale Einrichtungen nicht
wie niedrig der soziale Status eines Men- durch Revolutionen über den Haufen.
schen sein mag, er doch durch Treue zum Doch wo immer das Evangelium hinge-
Wort Gottes wirklich hoch im christli- kommen ist, ist die Sklaverei ausgerottet
chen Leben aufsteigen kann. Vielleicht worden und verschwunden. Das bedeu-
zeigt das auch das Vorauswissen Gottes, tet nicht, daß diese Anweisungen des-
daß die meisten Christen eher in dienen- halb bedeutungslos für uns wären. Alles,
den als in herrschenden Positionen zu was hier gesagt wird, kann man auch auf
finden sein würden. Z. B. gibt es im NT Arbeitnehmer und Arbeitgeber an-
sehr wenig Anweisungen, die sich an wenden.
Herrscher richten, doch es gibt sehr viele 3,23 »Was« auch immer getan wird,
Ratschläge für diejenigen, die ihr Leben es sollte »von Herzen (wörtlich »aus der
im Dienst für andere zubringen. Die Seele«) als dem Herrn und nicht den
Sklaven zur Zeit des Paulus erhielten Menschen« getan werden. In jeder Form
normalerweise recht wenig Aufmerk- des christlichen Dienstes als auch in
samkeit, und zweifellos erschien es den jedem Lebensbereich gibt es viele Aufga-
frühen Christen als ungewöhnlich, daß ben, die die Menschen widerwärtig fin-
in diesen Briefen ihnen so viel Aufmerk- den. Wir brauchen kaum zu sagen, daß
samkeit gewidmet wurde. Doch das wir solchen Arbeiten lieber aus dem Weg
zeigt, wie die Gnade Gottes allen Men- gehen. Doch dieser Vers lehrt uns die
schen gilt, ganz gleich wie gering ihre wichtige Lektion, daß der niedrigste
Stellung auch sein mag. C. H. Mackin- Dienst verherrlicht und geadelt werden
tosh bemerkt: »Der Sklave ist nicht vom kann, wenn wir ihn für den Herrn tun. In
Dienst für Gott ausgeschlossen. Indem er diesem Sinne gibt es keinen Unterschied
einfach seine Pflicht vor dem Angesicht zwischen säkularer und christlicher
Gottes tut, kann er diese Lehre zieren Arbeit. Alles ist heilig. Im Himmel wer-
und Gott Ehre einbringen.« den wir nicht dafür belohnt, daß man
Den »Sklaven« wird befohlen »in unseren Dienst gesehen hat oder daß wir
allem« denen, die ihre »Herren nach dem besonders erfolgreich gewesen wären,
Fleisch« sind, zu gehorchen. Wir haben auch nicht für unsere Talente oder Gele-

1019
Kolosser 3 und 4

genheiten, sondern für unsere Treue. So bezahlen. Das ist direkt an die Adresse
werden auch unscheinbare Menschen gläubiger Arbeitgeber gerichtet. Gott
eines Tages sehr gut dastehen, wenn sie haßt es, wenn Arme unterdrückt werden,
ihre Pflichten treu als dem Herrn getan und die Gaben eines Menschen, der sein
haben. Zwei Mottos werden gerne über Geld durch unfaire Arbeitsbedingungen
die Küchenspüle gehängt: »Nicht irgend- verdient hat, lehnt Gott mit den Worten
wie, sondern siegreich« und »Hier wird ab: »Behalt dein Geld, ich mag die Art
dreimal täglich Gottesdienst gehalten«. nicht, wie du es erworben hast« (s. Jak
3,24 Der »Herr« ist jetzt dabei, die 5,1-4). Herren sollten nicht überheblich
Bücher zu führen, und alles, was für ihn sein, sondern ehrfürchtig. Auch sie
getan wird, erregt seine Aufmerksam- haben »einen Herrn in den Himmeln«,
keit. »Die Freundlichkeit Gottes wird die den Einen, der immer gerecht ist.
Freundlichkeit der Menschen belohnen.« Ehe wir diesen Abschnitt beschlie-
Diejenigen, die wenig irdisches Erbe ßen, ist es noch interessant zu bemerken,
haben, werden »das Erbe« des Himmels wie der Apostel Paulus diese Angelegen-
empfangen. Wir sollten uns daran erin- heiten des Alltagslebens unter das er-
nern, wenn wir das nächste Mal etwas forschende Licht der Herrschaft Christi
tun müssen, das wir nicht gerne tun, sei bringt:
es in der Gemeinde, Zuhause oder am 1. Frauen – wie es sich im Herrn ge-
Arbeitsplatz. Es ist ein Zeugnis für Chri- ziemt (V. 18).
stus, es klaglos zu erledigen und zwar 2. Kinder – wohlgefällig im Herrn (V. 20).
auf die bestmögliche Weise. 3. Sklaven – den Herrn fürchtend (V. 22).
3,25 Paulus sagt in Vers 25 nicht aus- 4. Sklaven – als dem Herrn (V. 23).
drücklich, wen er meint. Vielleicht wür-
den wir am ehesten an einen ungerechten C. Das Gebetsleben des Gläubigen
Herrn denken, der seine Sklaven unter- und sein Zeugnis durch Leben und
drückt. Vielleicht ist ein gläubiger Diener Sprache (4,2-6)
müde geworden, seinen ungerechten 4,2 Paulus wird nie müde, das Volk Got-
Forderungen zu gehorchen. »Kümmer tes zu ermahnen, sorgfältig ihr Gebetsle-
dich nicht drum«, sagt Paulus, »denn der ben zu pflegen. Zweifellos werden wir
Herr weiß alles darüber, und er wird alle einmal bedauern, wenn wir in den
auch die Ungerechtigkeiten, die du er- Himmel kommen, daß wir nicht mehr
tragen mußt, in seine Hand nehmen.« Zeit im Gebet verbracht haben, insbeson-
Doch obwohl dies auch die Herren dere, wenn wir sehen werden, wie sehr
einschließen könnte, ist es in erster Linie unsere Gebete erhört wurden. Mit dem
an die Sklaven gerichtet. Nachlässiger gesamten Thema »Gebet« ist viel ge-
Dienst, Betrug, Faulenzerei und andere heimnisvolles verbunden und viele Fra-
Formen der Unehrlichkeit werden nicht gen kann man nicht beantworten. Doch
unbemerkt bleiben. »Da ist kein Ansehen die beste Haltung für den Christen ist es,
der Person« vor Gott. Er ist der Herr nicht zu versuchen, diese tieferen Ge-
aller, und die Unterschiede unter den heimnisse des Gebetes zu analysieren
Menschen bedeuten ihm nichts. Wenn oder zu verstehen. Der beste Ansatz ist
Sklaven ihre Herrn berauben (wie es es, im einfachen Glauben zu beten und
Onesimus wohl getan hat), dann werden die intellektuellen Zweifel beiseite zu
sie darüber dem Herrn im Himmel schieben.
Rechenschaft ablegen müssen. Wir sollen »am Gebet« nicht nur fest-
4,1 Dieser Vers gehört von der Logik halten, sondern wir sollen auch »darin
her zum Schlußvers von Kapitel 3. »Her- wachen«. Das erinnert uns sofort an die
ren« sollten ihren »Sklaven« geben, »was Aufforderung des Herrn Jesus an seine
recht und billig ist«. Sie sollten ihnen Jünger im Garten Gethsemane: »Wachet
nicht einen gerechten Lohn vorenthalten, und betet, damit ihr nicht in Versuchung
sondern sollten sie für ihre Arbeit gut fallt.« Sie wachten nicht, sondern schlie-

1020
Kolosser 4

fen fest ein. Wir sollen uns nicht nur gegen Juden, war es den Juden letztendlich
den Schlaf wappnen, sondern auch gegen gelungen, ihn als Gefangenen nach Rom
wandernde Gedanken, Unaufmerksam- senden zu lassen.
keit und Unehrlichkeit. Und wir sollen Es gibt einige Ausleger, die der An-
aufpassen, daß uns nicht die Zeit zum sicht sind, daß das große Geheimnis der
Gebet geraubt wird (Eph 6,18). Außerdem Gemeinde Paulus im Gefängnis offenbart
sollen wir unsere Gebete »mit Danksa- wurde. Sie legen deshalb großen Wert auf
gung« verbinden. Wir sollten nicht nur die »Gefangenschaftsbriefe«, während
dankbar für geschehene Gebetserhörun- sie offensichtlich die Bedeutung der
gen sein, sondern im Glauben können wir Evangelien und der anderen Bücher des
dem Herrn schon für Gebete danken, die NT unterschätzen. Doch aus diesem Vers
er noch nicht erhört hat. Guy King faßt geht hervor, daß die Predigt des Geheim-
das schön zusammen: »Seine Liebe will nisses die Ursache für die Gefangenschaft
das Beste für uns, und seine Weisheit des Paulus war und daß es ihm deshalb
weiß, was das Beste für uns ist, und seine einige Zeit vor seiner Gefangenschaft
21)
Macht erreicht das Beste für uns.« offenbart worden sein muß.
4,3 Paulus bittet, daß die Kolosser 4,4 Er möchte das Geheimnis gerne
»auch für« ihn beten, und für die Diener »kundmachen«, d. h. auf solch klare und
des Herrn, die bei ihm in Rom sind. Es ist eindeutige Weise predigen, daß es von
schön zu sehen, daß er nicht darum bit- den Menschen leicht verstanden wird.
tet, aus dem Gefängnis zu kommen, son- Dies sollte das Anliegen jedes Christen
dern, »daß Gott« ihm »eine Tür … auf- sein, der Christus bekannt machen
tue«, um das Wort zu predigen. Der Apo- möchte. Es ist keine Tugend »tiefsinnig«
stel wünschte sich, daß Gott ihm die zu predigen. Wir sollten darauf abzielen,
Türen öffne. Welch eine wichtige Lehre die Massen zu erreichen, und dazu muß
enthält das doch für uns! Es ist nur zu die Botschaft einfach und deutlich prä-
leicht möglich, daß wir uns im christli- sentiert werden.
chen Dienst die Türen selbst aufmachen. 4,5 Christen sollten »in Weisheit
Doch das ist eine Gefahr, die wir meiden gegenüber denen, die draußen sind«
sollten. Wenn der Herr die Türen für uns wandeln. Sie sollten erkennen, daß ihr
öffnet, dann können wir mutig hineinge- alltägliches Verhalten sorgfältig von Un-
hen, und zwar in dem Bewußtsein, daß gläubigen beobachtet wird. Die Welt ist
er uns leitet. Wenn wir dagegen die an unserem Wandel mehr interessiert als
Türen selbst öffnen, dann können wir an unseren Worten. In der Sprache von
uns nicht sicher sein, in Gottes Willen zu Edgar Guest: »Ich sehe lieber jeden Tag
leben, und wir könnten uns schon bald eine Predigt, als mir eine anzuhören.«
fleischlicher Mittel bedienen, um das Das bedeutet nicht, daß der Christ nicht
sogenannte Werk des Herrn zu tun. Die Christus auch mit den Lippen bekennen
besondere Bitte des Paulus ist es, daß sollte, doch es geht hier darum, daß sein
ihm »eine Tür des Wortes« aufgetan Wandel mit seinen Worten übereinstim-
werde, »das Geheimnis des Christus zu men sollte. Man soll nie von ihm sagen
reden, dessentwegen« er »auch gebun- können: »Große Worte, nichts dahinter.«
den« war. »Das Geheimnis des Christus« »Die gelegene Zeit« auszukaufen
in diesem Vers ist die Wahrheit über die bedeutet, jede Gelegenheit wahrzuneh-
Gemeinde, und besonders der Aspekt, men. An jedem Tag unseres Lebens haben
den man durch den Ausdruck »Christus wir Gelegenheiten, von der erlösenden
für die Heiden« definieren könnte. Das Macht unseres Herrn Jesus Christus
war der besondere Aspekt der Evangeli- Zeugnis abzulegen. Wenn diese Gelegen-
umsbotschaft, die Paulus zur Predigt heiten kommen, dann sollten wir bereit
anvertraut war. Weil er es gewagt hatte sein, sie wahrzunehmen. Das Wort »aus-
zu behaupten, daß Heiden auf die glei- kaufen« bedeutet, daß damit oft Kosten
che Weise erlöst werden könnten wie die verbunden sind. Doch was immer es uns

1021
Kolosser 4

kosten mag, wir sollten bereit sein, von Fetzen Pergament all den riesigen Pomp
unserem kostbaren Herrn denen weiter- der Stadt überleben würde, und daß sein
zusagen, die ihn nicht kennen. Name, weil er in ihnen verzeichnet war,
4,6 Unser »Wort« sollte immer »in in der ganzen Welt bis ans Ende der Zeit
Gnade, mit Salz gewürzt« sein, damit wir bekannt sein würde«.
»wissen, wie« wir »jedem einzelnen ant- Paulus versichert hier den Heiligen,
worten« sollen. Wenn unsere Gespräche daß Tychikus ihnen »alles … mitteilen«
immer »in Gnade« sein sollen, so müssen werde, was ihn betrifft. Und wieder ist es
sie höflich, demütig und christusähnlich schön zu sehen, welche Titel Paulus
sein. Sie sollten ohne Klatsch, Leichtfer- diesem Bruder gibt. Er nennt ihn »gelieb-
tigkeit, Unreinheit und Bitterkeit sein. Der ten Bruder, treuen Diener und Mitknecht
Ausdruck »mit Salz gewürzt« kann meh- im Herrn«. Wieviel mehr sollten wir uns
rere Bedeutungen haben. Einige Ausleger nach solchen Titeln sehnen als nach den
denken, daß unsere Sprache zwar freund- hochtrabenden Kirchentiteln, die den
lich, aber auch ebenso ehrlich und ohne Kirchenoberen unserer Tage gegeben
Heuchelei sein soll. Andere denken, daß werden!
Salz den Geschmack verbessert, so daß 4,8 Die Reise des Tychikus nach
Paulus hier sagen will, daß unsere Ge- Kolossä hatte zwei Ziele. Zunächst sollte
spräche niemals flach, langweilig oder er den Heiligen Nachrichten aus erster
geistlos sein sollten, sondern immer nütz- Hand über Paulus und seine Gefährten
lich und wertvoll. Lightfoot sagt, das die in Rom geben, und er sollte auch die
heidnischen Autoren »Salz« als Bild für »Herzen« der Kolosser trösten. Hier hat
»geistreichen Witz« benutzten. Paulus »trösten« wahrscheinlich wieder mehr
würde wahrscheinlich hier statt Witz die Bedeutung von »stärken« oder »er-
Weisheit meinen. Vielleicht kann man die- mutigen« (s. 2,2). Sein Dienst an ihnen
sen Satz am besten erklären, wenn wir die sollte die allgemeine Auswirkung haben,
Sprache unseres Herrn Jesus untersuchen. daß sie gegen die Irrlehre der Gnostiker
Zu der Frau, die im Ehebruch ergriffen bestehen konnten.
wurde, sagte er: »So verurteile auch ich 4,9 Die Erwähnung des Namens
dich nicht: Geh hin und sündige nicht »Onesimus« bringt uns die schöne Ge-
mehr.« Und zu der Frau am Jakobsbrun- schichte in Erinnerung, die wir in Paulus’
nen sagte er: »Gib mir zu trinken … geh Brief an Philemon erfahren. Onesimus
hin, rufe deinen Mann!« Das erste spricht war ein entlaufener Sklave, der versucht
von Gnade, während das zweite uns hatte, einer Bestrafung zu entgehen, in-
mehr an das Salz erinnert. dem er nach Rom floh. Irgendwie war er
»Ihr sollt wissen, wie ihr jedem ein- mit Paulus in Kontakt gekommen, der
zelnen antworten sollt.« Vielleicht denkt ihn wiederum auf Christus hingewiesen
der Apostel Paulus hier besonders an die hatte. Nun wird Onesimus zurück zu sei-
Gnostiker, die mit ihren wohlklingenden nem früheren Meister, Philemon in
Lehren zu den Kolossern kamen. Die Kolossä, zurückkehren, während Tychi-
Kolosser sollten bereit sein, diesen Irrleh- kus den Brief an die Gemeinde in Kolos-
rern mit weisen und glaubensvollen sä überbringen würde. Man halte sich
Worten zu »antworten«. die Aufregung der Gläubigen in Kolossä
vor Augen, wenn die beiden Brüder mit
D. Einiges über die Mitarbeiter des Briefen von Paulus ankämen. Zweifellos
Paulus (4,7-14) würde man bis spät in die Nacht aufblei-
4,7 »Tychikus« war offensichtlich derje- ben, Fragen über die Bedingungen in
nige, der vom Apostel Paulus ausge- Rom stellen und von Paulus’ Mut im
wählt worden war, um diesen Brief von Dienst für seinen Erlöser hören.
Rom nach Kolossä zu bringen. Maclaren 4,10 Wir wissen nicht viel über »Ari-
stellt dar, wie erstaunt Tychikus gewesen starch«, außer, daß er schon vorher ein-
wäre, hätte man ihm gesagt, daß »dieser mal wegen seines Dienstes für den Herrn

1022
Kolosser 4

gefangen gewesen war, wie es in Apo- gen. Epaphras, der in Kolossä geboren
stelgeschichte 19,29 festgehalten ist. Nun war, erinnerte sich immer der Gläubigen
ist er Paulus’ »Mitgefangener« in Rom. »in den Gebeten« und bat den Herrn, daß
»Markus« wird hier als »Vetter des sie »vollkommen und völlig überzeugt in
Barnabas« erwähnt. Dieser junge Mann allem Willen Gottes« dastehen mögen.
war mit Paulus und Barnabas zu den 4,13 Paulus gibt »ihm Zeugnis«, daß
ersten Missionsreisen aufgebrochen. Epaphras im Gebet nicht nur für die in
Weil er versagt hatte, beschloß Paulus, Kolossä, sondern auch für die Christen
ihn bei der nächsten Reise zu Hause zu »in Laodizäa und die in Hierapolis«
lassen, doch Barnabas hatte darauf be- gerungen hat. Dieser Mann hatte ein per-
standen, ihn mitzunehmen. Das war die sönliches Interesse an den Kindern Got-
Ursache zu einem Bruch zwischen den tes, mit denen er bekannt war. Zweifellos
beiden älteren Missionaren. Dennoch ist hatte er eine sehr lange Gebetsliste, und
es schön zu erfahren, daß Markus nicht es wäre kaum überraschend, wenn er
für immer ein Versager blieb, sondern jeden täglich im Gebet erwähnen würde.
nun wieder das Vertrauen des geliebten Die New English Bible übersetzt: »Er
Paulus besitzt. betet immer sehr für euch, daß ihr fest
Wenn Markus nach Kolossä käme, stehen mögt, reif in der Überzeugung
sollten die Heiligen dort ihn »aufneh- und ganz dem Tun des Willens Gottes
men«. Der Ausdruck »dessentwegen ihr hingegeben.«
Befehle erhalten habt« bedeutet nicht 4,14 Nun sendet Paulus noch Grüße
notwendigerweise, daß die Kolosser von »Lukas, dem geliebten Arzt, und
schon vorher Anweisung wegen Markus Demas«. Hier haben wir eine Studie der
bekommen haben. Es kann sich auf die Gegensätze. Lukas war viel mit Paulus
Anweisungen beziehen, die Paulus gereist und hat ihm wohl sowohl leiblich
ihnen gerade gibt: »Wenn er zu euch als auch geistlich während Krankheit,
kommt, so nehmt ihn auf.« Die Zeitform Verfolgung und Gefangenschaft gedient.
des Verbs »erhalten« kann einfach be- Demas dagegen war wohl eine Weile
deuten, daß die Kolosser, wenn sie die- bei dem Apostel gewesen, doch schließ-
sen Brief gelesen haben, Anweisungen lich mußte der Apostel von ihm sagen:
erhalten haben. »Demas hat mich verlassen, da er den
4,11 Von einem anderen Mitarbeiter jetzigen Zeitlauf liebgewonnen hat, und
des Paulus ist die Rede, nämlich von ist nach Thessalonich gegangen«
»Jesus, genannt Justus«. Jesus war damals (2. Tim 4,10).
ein gewöhnlicher Name, wie noch heute
in bestimmten Ländern. Es war die grie- E. Grüße und Ermahnungen (4,15-18)
chische Entsprechung des hebräischen 4,15 Nun werden noch Grüße an »die
Namens »Joschua«. Zweifellos wurde Brüder in Laodizäa und Nympha und
dieser Mann »Justus genannt«, weil seine die Gemeinde in seinem Haus« gesandt.
christlichen Freunde es als unpassend Wir lesen von der Gemeinde in Laodizäa
ansahen, ihn mit demselben Namen wie noch einmal in Offenbarung 3,14-22. Die
den des Sohnes Gottes zu rufen. Gemeinde dort war in geistlichen Ange-
Die drei vorhergehenden Männer legenheiten lau geworden. Sie war aus-
waren alle bekehrte Juden. Sie waren gesprochen materialistisch und selbstzu-
sogar die einzigen ehemaligen Juden, die frieden. Man meinte, daß alles in Ord-
»Mitarbeiter am Reich Gottes« zusam- nung sei und sah die eigene Nacktheit
men mit Paulus waren, Männer, die ihm nicht. Die Manuskripte unterscheiden
»ein Trost gewesen« sind. sich darin, ob Nymphas (ein Mann) oder
4,12 Als Paulus seinen Brief langsam Nympha (eine Frau) angesprochen ist.
zu Ende bringt, erinnert ihn Epaphras Doch es ist ausreichend zu bemerken,
daran, seine persönlichen Grüße an die daß in diesem Haus in Kolossä eine
lieben Heiligen in Kolossä hinzuzufü- Gemeinde war. In diesen Tagen hatten

1023
Kolosser 4

die Christen keine besonderen Gebäude, 4,17 »Archippus« wird befohlen:


wie wir es heute gewohnt sind. Doch die »Sieh auf den Dienst, den du im Herrn
meisten von uns werden sicherlich zu- empfangen hast, daß du ihn erfüllst.«
stimmen, daß die Kraft Gottes in einer Hier haben wir wieder keine genaue
Ortsgemeinde weitaus wichtiger ist, als Information darüber, welcher »Dienst«
ein schönes Gebäude mit ausgesuchter gemeint ist. Viele glauben, daß »Archip-
Einrichtung. Die Kraft Gottes ist von die- pus« ein Sohn des Philemon war, und
sen Dingen unabhängig, und luxuriöse daß er in der Gemeinde in Kolossä aktiv
Gemeindehäuser waren oft ein Hinder- gewesen sei. Der Vers wird bedeutsamer
nis für die Kraft Gottes. für uns, wenn wir für den Namen
4,16 »Wenn der Brief« in Kolossä »Archippus« unseren eigenen einsetzen,
»gelesen« worden war, dann sollte er an und den Geist Gottes zu uns sagen hören:
die »Gemeinde der Laodizäer« weiterge- »Sieh auf den Dienst, den du im Herrn
leitet werden, damit er dort auch gelesen empfangen hast, daß du ihn erfüllst.«
werden konnte. Zweifellos wurde das Jedem von uns ist ein Dienst vom Herrn
getan, doch wir erfahren aus Offenba- gegeben worden, und wir werden eines
rung 3, daß die Laodizäer nicht auf die Tages Rechenschaft ablegen müssen, was
Botschaft dieses Briefes hörten, zumin- wir damit getan haben.
dest nicht dauerhaft. 4,18 An diesem Punkt nahm der Apo-
Paulus gibt auch die Anweisung, daß stel den Stift in die eigene »Hand« und
der Brief »aus Laodizäa« auch in Kolossä unterschrieb seinen »Gruß« mit seinem
gelesen werden solle. Wir können nicht heidnischen Namen »Paulus«. Zweifel-
wissen, auf welchen Brief sich das be- los waren die »Fesseln« an seinen Hän-
zieht. Einige glauben, daß der sogenann- den beim Schreiben hinderlich, doch
te Epheserbrief des Paulus gemeint erinnerte es ihn daran, die Kolosser auf-
gewesen sei. Einige alte Manuskripte las- zufordern: »Gedenkt meiner Fesseln.«
sen die Worte »in Ephesus« in Epheser »Das Geräusch des Stiftes und der Ketten
1,1 aus. Das hat viele Kommentatoren zusammen ist das endgültige Zeichen,
dazu gebracht zu glauben, daß der Ephe- daß die Ketten des Predigers das Wort
23)
serbrief vielleicht ein Rundbrief war, der Gottes nicht fesseln können.«
in verschiedenen Gemeinden vorgelesen Dann schließt er den Brief mit den
werden sollte – z. B. in Ephesus, Laodi- Worten: »Die Gnade sei mit euch. Amen.«
zäa und dann in Kolossä. Diese Ansicht (LU1912). A. T. Robertson schreibt: »Es
wird auch durch die Tatsache unter- gibt kein größeres Wort als das Wort
stützt, daß im Epheserbrief wesentlich ›Gnade‹, denn es enthält die ganze Liebe
weniger persönliche Anspielungen ent- Gottes, wie wir sie im Geschenk seines
22) 24)
halten sind als im Kolosserbrief. Sohnes für uns sehen.« »Amen.«

1024
Anmerkungen

Anmerkungen und verschiedene grammatikalische


Konstruktionen, um die Art des
Zustandes zu beschreiben, den der
1) (Einleitung) George Salmon, A Histo- Schreiber oder Sprecher im Sinn hat.
rical Introduction to the Study of the Hier steht das ei mit dem Indikativ
Books of the New Testament, S. 384. epimenete, damit haben wir Konditio-
2) (Einleitung) New Bible Commentary, nal I (Paulus nimmt es als sicher an,
S. 1043. daß sie fest bleiben werden).
3) (Einleitung) A. T. Robertson, Paul 12) (1,23) Pridham, keine weiteren An-
and the Intellectuals, S. 16. gaben verfügbar.
4) (1,5) J. B. Lightfoot, Saint Paul’s Epist- 13) (2,2) Alfred Mace, keine weiteren
les to the Colossians and to Philemon, Angaben verfügbar.
S. 134. 14) (2,9) Marvin Vincent, Word Studies in
5) Einige Manuskripte haben die Worte the New Testament, Bd. 2, S. 906.
»und wächst« nicht, in NA und im 15) (2,14) H. A. W. Meyer, Critical and
Mehrheitstext stehen sie jedoch. Exegetical Handbook to the Epistels to
LU1912 läßt diese Worte ebenfalls the Philippians and Colossians, S. 308.
aus. 16) (2,18) Das Wort »nie« ist in NA aus-
6) (1,11) A. S. Peake, »Colossians«, The gelassen, doch würde sich dieselbe
Expositor’s Greek Testament, Bd. 3, Bedeutung ergeben. Ob sie nun
S. 499. wirklich etwas gesehen haben oder
7) (1,14) Die Worte »durch sein Blut« nicht, es war alles leere Fleischlich-
(LU1912) gehören definitiv zur keit.
Parallelstelle in Epheser 1,7, jedoch 17) (3,2) Robertson, Intellectuals, S. 149.
sind sie hier weder in den ältesten 18) (3,2) F. B. Hole, Paul’s Epistles, Bd. 2,
Manuskripten (NA) noch in der S. 105.
Mehrheit der Manuskripte zu fin- 19) (3,11) J. C. Ryle, Holiness, S. 436 + 455.
den. 20) (3,12) W. E. Vine, Expository Dictio-
8) (1,18) Alfred Mace, keine weiteren nary of New Testament Words, S. 56.
Angaben verfügbar. 21) (4,2) Guy King, Crossing the Border,
9) (1,19) Die gesteigerte Form von S. 111.
oikeo, die hier benutzt wird (katoi- 22) (4,16) Andererseits hat Paulus drei
keo), bedeutet: sich niederzulassen Jahre in Ephesus verbracht, so daß er
und zuhause zu sein. dort so viele Menschen kannte, daß es
10) (1,22) Charles R. Erdman, Epistle of ungerecht gewesen wäre, einige aus-
Paul to the Colossians and Philemon, zuwählen und den Rest zu ver-
S. 46. ärgern.
11) (1,23) Die griechische Sprache hat 23) (4,18) New Bible Commentary, S. 1051.
zwei Worte für »sofern« (ei und ean) 24) (4,18) Robertson, Intellectuals, S. 211.

1025
Bibliographie

Bibliographie Meyer, H. A. W.,


Critical and Exegetical Handbook to the
Epistles to the Philippians and Colossians,
(Kolosser und Philemon) New York: Funk and Wagnalls, 1884.

Carson, Herbert M., Nicholson, W. R.,


The Epistles of Paul to the Colossians Popular Studies in Colossians:
and to Philemon, Oneness with Christ,
Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans, 1960. Grand Rapids: Kregel, 1903.
Peake, Arthur S.,
English, E. Schuyler, »Colossians«,
Studies in the Epistle to the Colossians, The Expositor’s Greek Testament. Bd. 3.,
New York: Our Hope, 1944. Grand Rapids: Wm. B. Eerdmans, 1961.
Erdman, Charles R., Robertson, A. T.,
Epistles of Paul to the Colossians Paul and the Intellectuals,
and Philemon, Nashville: Sunday School Board of the
Philadelphia: Westminster, 1933. Southern Baptist Convention, 1928.
King, Guy, Rutherford, John,
Crossing the Border, St. Paul’s Epistles to Colossae and Laodicea,
London: Marshall, Morgan and Scott, Edingburgh: T. & T. Clark, 1908.
1957. Sturz, Richard,
Lightfoot, J. B., Studies in Colossians,
Saint Paul’s Epistle to the Colossians Chicago: Moody Press, 1955.
and to Philemon, Thomas, W. H. Griffith,
Grand Rapids: Zondervan, Reprint der Studies in Colossians and Philemon,
Ausgabe von 1879 von MacMillan. Grand Rapids: Baker Book House, 1973.
Maclaren, Alexander, Vine, W. E.,
»Colossians and Philemon«, The Epistle to the Philippians and
The Expositor’s Bible, Colossians,
London: Hodder and Stoughton, 1888. London: Oliphants, 1955.

1026
Der erste Thessalonicherbrief
»Dieser Brief zeichnet sich mehr als jeder andere des Paulus
durch seine Einfachheit, seine Freundlichkeit und Zuneigung aus …
Hier gibt es keine Kontroversen.«
W. Graham Scroggie

Einführung Bücher – wobei einer von Häretikern,


der andere von Gläubigen stammt).
An inneren Beweisen haben wir den
I. Einzigartige Stellung im Kanon Gebrauch eines paulinischen Vokabulars
Das erste Buch jedes berühmten Autoren und Stils, und die Einstellung eines liebe-
wird normalerweise hoch gelobt, weil es vollen geistlichen Vaters. Die histori-
als erstes Richtung und Gabe des Autors schen Anspielungen passen zur Apostel-
zeigt. Der erste Thessalonicherbrief geschichte. Sowohl in 1,1 als auch in 2,18
könnte durchaus der erste inspirierte nennt sich der Autor Paulus.
Brief des Paulus sein. Die erstaunliche
Menge christlicher Lehren, die der Apo- III. Datierung
stel in der kurzen Zeit seines Aufenthalts Der erste Thessalonicherbrief wurde von
in Thessalonich angesprochen hat, wird Korinth aus geschrieben, und zwar
deutlich durch die vielen Lehren, die er während des achtzehnmonatigen Auf-
bei den Thessalonichern als bereits enthalts des Paulus dort, nicht lange
bekannt voraussetzt. nachdem Timotheus zu Paulus gekom-
Heute wird die Entrückung und die men war (1. Thess 3,6; 2,17). Da man
Wiederkunft unseres Herrn von vielen annimmt, daß Gallio (Apg 18) im Früh-
evangelikalen Christen erwartet und sommer des Jahres 51 als Prokonsul dort
daran geglaubt. Das war nicht immer so. ankam, muß Paulus dort Anfang 50
Die Wiederbelebung des Interesses an angekommen sein und schon bald dar-
dieser Lehre insbesondere durch die auf den 1. Thessalonicherbrief geschrie-
frühen Brüder in Großbritannien (1825- ben haben. Fast alle Gelehrten datieren
1850) basierte zum Großteil auf dem das Buch auf die frühen 50er Jahre und
1. Thessalonicherbrief. Ohne diesen kur- man kann es mit Sicherheit genauer auf
zen Brief würden wir viele Aspekte der die Jahre 50 oder 51 datieren, nur zwan-
Wiederkunft Christi kaum verstehen. zig Jahre nach der Himmelfahrt unseres
Herrn.
II. Verfasserschaft
Daß der 1. Thessalonicherbrief ein echter IV. Hintergrund und Thema
Paulusbrief ist, wird von kaum einem Während der zweiten Missionsreise des
Gelehrten bestritten. Die Beweislage für Paulus brach das Licht des Evangeliums
diesen Brief ist ausreichend, wie J. E. Fra- in die Finsternis Thessalonichs ein
me sagt, »es sei denn, daß man behaup- (Apg 17,1-10).
ten wolle, daß Paulus niemals gelebt Nachdem Paulus und Silas aus dem
habe, oder daß von ihm kein Brief über- Gefängnis von Philippi entlassen waren,
1)
liefert sei«. reisten sie über Amphipolis und Apollo-
Wir finden äußere Beweise, daß Paulus nia nach Thessalonich. Thessalonich war
der Autor ist, bei Polykarp, Ignatius und zu dieser Zeit eine strategisch wichtige
Justin, ebenso wie im Marcionitischen Stadt, sowohl für den Handel als auch
und Muratorischen Kanon (frühe Listen für die Politik. Entsprechend seiner
der mit zum Kanon der Bibel gehörigen Gewohnheit ging Paulus zunächst in die

1027
1. Thessalonicher

jüdische Synagoge und bewies aus dem Gefährten nur drei Sabbathe in Thessalo-
AT, daß der Messias sterben und von den nich verbrachten. Doch kann es sein, daß
Toten auferstehen mußte. Dann fuhr er sie nur drei Sabbathe in der Synagoge lehr-
fort zu erklären, daß Jesus von Nazareth ten. Es kann sein, daß Paulus mit seinen
der verheißene Messias war. Das tat er Gefährten bis zu drei Monaten in der
drei Sabbathe lang. Einige der Juden Stadt blieb. Die Briefe des Apostels an die
waren überzeugt und nahmen ihren Gemeinde zeigen, daß sie mit vielen
Platz als Gläubige mit Paulus und Silas christlichen Lehren ausführlich bekannt
ein. Auch viele der griechischen Prose- waren, und daß sie kaum in drei oder
lyten und einige der führenden Frauen vier Wochen soviel Stoff hätten bewälti-
der Stadt bekehrten sich. Dann setzte der gen können.
Rückschlag ein. Die Juden, die nicht Von Beröa aus reiste Paulus nach
glaubten, hetzten einige Strolche des Athen weiter (Apg 17,15). Dort hörte er,
Straßenpöbels auf, inszenierten einen daß die Gläubigen in Thessalonich erst-
Aufstand und belagerten das Haus mals verfolgt wurden. Er versuchte, sie
Jasons, wo Paulus und Silas sich aufhiel- zu besuchen, doch Satan hinderte ihn
ten. Als sie die Prediger nicht im Haus daran (1. Thess 2,17.18), so daß er Timo-
fanden, zerrten sie Jason und einige theus zu ihnen sandte (3,1.2). Timotheus
andere Gläubige vor die Stadtobersten brachte einen ermutigenden Bericht mit
(Politarchen), und klagten sie an, die (3,6-8) und das veranlaßte den Apostel
ganze Welt in Aufruhr zu versetzen. Das zur Abfassung dieses Briefes. In ihm ver-
war ein ungewolltes Kompliment! Dann teidigt er seinen Dienst gegen verleum-
klagten sie die Christen an, daß sie derische Angriffe, er ruft zur Trennung
Caesar stürzen wollten, indem sie einen von der Sittenlosigkeit ihrer Kultur auf,
anderen König namens Jesus prokla- er korrigiert Mißverständnisse über die-
mierten. Die Politarchen waren besorgt. jenigen, die in Christus gestorben sind
Sie verlangten von Jason und seinen Kol- und er ermahnt diejenigen, die aufgehört
legen eine Kaution, und fügten wahr- hatten zu arbeiten, weil die Wiederkunft
scheinlich noch die strenge Anweisung Christi nahe sei, und ermahnt die Hei-
hinzu, daß seine Gäste aus der Stadt zu ligen, ihre geistlichen Führer zu respek-
verschwinden hätten. Dann wurden tieren.
Jason und die anderen freigelassen. Eines der wichtigsten Themen des
Die Brüder in Thessalonich entschie- 1. Thessalonicherbriefes ist die Wieder-
den, daß es am weisesten wäre, wenn die kunft des Herrn Jesus. Sie wird in jedem
Prediger die Stadt verließen und sandten der fünf Kapitel mindestens einmal
sie bei Nacht nach Beröa. erwähnt. G. R. Harding Wood hat diese
Bemerkenswert ist, daß Paulus und Anspielungen zusammengefaßt in der
Silas, als sie gingen, eine Gemeinde von folgenden ausgezeichneten Synopse:
Gläubigen hinterließen, die gründlich in Der Christ, der die Wiederkunft unseres
den Hauptlehren des Glaubens unter- Herrn Jesus erwartet, hat keinen Platz für: 1.
richtet war und die durch die Verfol- Götzen in seinem Herzen (1,9.10), 2. Nach-
gung, die sie erleiden mußten, nicht von lässigkeit in seinem Dienst (2,9.19), 3. Spal-
ihrem Glauben abgebracht wurden. Es tungen in seiner Gemeinde (3,12.13), 4.
wäre einfach, aus Apostelgeschichte 17,2 Depressionen in seinem Geist (4,13-18) oder
2)
zu schließen, daß Paulus und seine 5. Sünde in seinem Leben (5,23).

1028
1. Thessalonicher 1

Einteilung E. Die Sendung des Timotheus nach


Thessalonich (3,1-10)
F. Das eindeutige Gebet des Paulus
I. Gruß (1,1) (3,11-13)
II. Die persönliche Beziehung des III. Praktische Ermahnungen (4,1-5,22)
Paulus zu den Thessalonichern A. Heiligung nach dem Willen
(1,2-3,13) Gottes (4,1-8)
A. Paulus empfiehlt die B. Die Liebe, die an andere denkt
Thessalonicher (1,2-10) (4,9.10)
B. Rückblick auf den Dienst des C. Das Leben, das Außenstehende
Paulus, seine Botschaft und sein anspricht (4,11.12)
Verhalten in Thessalonich (2,1-12) D. Die Hoffnung, die die Gläubigen
C. Rückblick auf die Reaktion tröstet (4,13-18)
der Thessalonicher auf das E. Der Tag des Herrn (5,1-11)
Evangelium (2,13-16) F. Verschiedene Ermahnungen an
D. Erklärung für das Fernbleiben die Heiligen (5,12-22)
des Paulus von Thessalonich IV. Schlußgrüße an die Thessalonicher
(2,17-20) (5,23-28)

Kommentar ser Erde in Erfüllung gehen können.


»Gnade« ist Gottes unverdientes Wohl-
wollen in allen Lebensumständen. »Frie-
I. Gruß (1,1) de« ist die ungestörte Ruhe, die die zer-
1,1 Der Brief beginnt mit den Namen drei- mürbenden Umstände unseres Lebens
er Männer, die angeklagt waren, die Welt glättet. »Gnade« ist die Ursache, »Friede«
in Aufruhr versetzt zu haben. Die Ankla- die Wirkung. Paulus wiederholt die gött-
ge war als Beleidigung gemeint, in Wirk- lichen Namen als gemeinsame Quelle des
lichkeit war sie jedoch ein Kompliment. Segens und setzt dabei das Possessiv-
3)
»Paulus« war der Autor des Briefes. pronomen »unser« vor das Wort Vater.
Zu dieser Zeit reisten »Silvanus und
Timotheus« mit ihm, deshalb werden II. Die persönliche Beziehung des
ihre Namen erwähnt. »Silvanus« ist Paulus zu den Thessalonichern
eventuell derselbe wie Silas, der mit Pau- (1,2-3,13)
lus im Gefängnis von Philippi ein Duett
sang (Apg 16,25). »Timotheus« ist der A. Paulus empfiehlt die
junge Bruder aus Lystra, der kurz vor Thessalonicher (1,2-10)
Pauluss’ Reise nach Thessalonich zu die- 1,2.3 Wann immer Paulus betete, er-
sem gestoßen war (Apg 16,1). wähnte er die Thessalonicher. (Sind wir
Der Brief ist an die »Gemeinde der so treu und gedenken so oft unserer
Thessalonicher in Gott, dem Vater, und christlichen Brüder und Schwestern?)
dem Herrn Jesus Christus« gerichtet. Das Und immer betete er mit »Danken« für
Wort, das wir mit »Gemeinde« überset- sie, weil er an ihr »Werk des Glaubens«
zen, wurde zu dieser Zeit für jede Art dachte, an ihre »Bemühung der Liebe«
von Versammlung benutzt, deshalb will und ihr »Ausharren in der Hoffnung auf
Paulus verdeutlichen, daß es sich nicht unseren Herrn Jesus Christus«.
um irgendeine heidnische Versammlung Mit »Werk des Glaubens« ist wahr-
handelte, sondern eine, die mit »Gott« als scheinlich in erster Linie die Bekehrung
»Vater« und mit »Jesus Christus« als der Thessalonicher gemeint. Diese Be-
»Herrn« verbunden ist. schreibung des »Glaubens« als »Werk«
Der Gruß »Gnade euch und Friede« erinnert uns an den Vorfall, als einige
umfaßt die besten Wünsche, die auf die- Menschen Jesus fragten: »Was sollen wir

1029
1. Thessalonicher 1

tun, damit wir die Werke Gottes wir- 1,4 Der Apostel war sich sicher, daß
ken?« Jesus antwortete ihnen: »Dies ist diese Heiligen »von Gott« vor Grundle-
das Werk Gottes, daß ihr an den glaubt, gung der Welt erwählt waren. Doch
den er gesandt hat« (Joh 6,28.29). In die- woher wußte er das? Hatte er übernatür-
sem Sinne ist der Glaube eine Handlung liche Erkenntnis? Nein, sondern die Art,
oder ein Werk. Doch ist er keine Anstren- wie sie das Evangelium angenommen
gung, durch die der Mensch einen Ver- hatten, machte ihn sicher, daß sie zu den
dienst erlangt oder dessen er sich rüh- Erlösten gehörten.
4)
men kann. Der Glaube ist sogar das ein- Die Lehre von der »Auserwählung«
zige Werk, das er tun kann, ohne Chri- lautet, daß Gott bestimmte Menschen in
stus seiner Herrlichkeit als Erlöser zu Christus vor Grundlegung der Welt
berauben und seinen eigenen Zustand erwählte (Eph 1,4). Sie lehrt nicht, daß
als verlorener Sünder abzustreiten. Glau- einige zur Verdammnis auserwählt sind.
be ist ein verdienstloses Werk, durch das Wenn Menschen einmal verloren gehen,
das Geschöpf seinen Schöpfer und der dann wegen ihrer eigenen Sünde und
Sünder seinen Erlöser anerkennt. Der wegen ihres Unglaubens.
Ausdruck »Werk des Glaubens« umfaßt Dieselbe Bibel, die die Erwählung
auch das Leben des Glaubens, das auf die lehrt, lehrt auch die menschliche Verant-
Bekehrung folgt. wortung oder den freien Willen des Men-
Außer ihres »Werkes des Glaubens« schen. Gott macht allen Menschen ein
erinnert sich Paulus auch noch an ihre allgemeines Erlösungsangebot. Wer zu
»Bemühung der Liebe«. Damit ist ihr Christus kommt, wird herzlich empfan-
Dienst für Gott gemeint, der durch die gen werden.
Liebe zum Herrn Jesus motiviert war. Diese beiden Lehren, die Erwählung
Christentum ist kein Leben, das man um und die Freiheit der Entscheidung, sind
der Pflicht willen erduldet, sondern eine für den menschlichen Geist ein nicht zu
Person, der man aus Liebe dient. Christi vereinbarender Konflikt. Doch die Bibel
Knecht zu sein ist völlige Freiheit und lehrt beides, und deshalb sollten wir
»Liebe zu ihm macht die Unterwerfung auch beides glauben, auch wenn wir die
göttlich«. Verglichen mit der Liebe ist das Konzepte nicht miteinander vereinbaren
Profit-Motiv eine billige, schmutzige Ver- können.
suchung. Liebe zu Christus bringt Dien- Wir wissen nicht, wer die Erwählten
ste hervor, die das Geld nie hervorbrin- sind, deshalb sollten wir das Evangelium
gen könnte. Die Thessalonicher waren in alle Welt tragen. Die Sünder dürfen die
lebendige Zeugnisse dieser Tatsache. Lehre von der Erwählung nicht als Ent-
Schließlich war Paulus noch für das schuldigung für ihren Unglauben benut-
»Ausharren« der Thessalonicher »in der zen. Wenn sie Buße tun und an den
Hoffnung« dankbar. Damit ist ihr stand- Herrn Jesus Christus glauben, dann wird
haftes Warten auf Jesus gemeint. Sie Gott auch sie erretten.
waren schwer verfolgt worden, weil sie 1,5 Wenn Paulus von »unserem Evan-
so tapfer für Christus eingetreten waren. gelium« spricht, so meint er damit nicht
Doch ihr »reines zähes Ausharren«, wie eine andere Botschaft als die der anderen
Phillips es ausdrückt, war nicht erschüt- Apostel. Der Inhalt war derselbe, der
tert worden. Unterschied lag in den Botschaftern. Die
Der Ort der Erinnerung wird mit den Thessalonicher hatten die Botschaft nicht
Worten »vor unserem Gott und Vater« wie einen religiösen Vortrag gehört. Sie
angegeben. Wenn Paulus im Gebet in die hatten die Botschaft natürlich durch das
Gegenwart Gottes trat, dann erinnerte er Wort empfangen, aber »nicht im Wort
sich an die geistliche Geburt und das allein«.
Wachstum der Heiligen und gab dort sei- Das Evangelium kam zu ihnen »in
nem Dank für ihren Glauben, ihre Liebe Kraft und im Heiligen Geist und in
und ihre Hoffnung Ausdruck. großer Gewißheit«: 1. »In Kraft«. Die Bot-

1030
1. Thessalonicher 1

schaft wirkte mit übernatürlicher Kraft gung ein Vorbild für die Gläubigen »in
in ihrem Leben und bewirkte Überzeu- Mazedonien und in Achaja«, d. h. für alle
gung von Sünde, Buße und Bekehrung. Christen in Griechenland.
2. »Im Heiligen Geist«. Diese Kraft hatte 1,8 Doch ihr Zeugnis hörte dort nicht
ihren Ursprung im Heiligen Geist. 3. »In auf. Sie wurden Christen, die sich ver-
großer Gewißheit«. Paulus predigte mit mehrten. Wie die Wellen in einem Teich
großem Vertrauen auf die Botschaft. Die verbreitete sich »das Wort des Herrn« in
Thessalonicher nahmen sie mit »großer immer größeren Kreisen: erst »in Maze-
Gewißheit« als Wort Gottes an. Das donien und Achaja«, dann an »jedem
Ergebnis in ihrem Leben war die voll- Ort«. Schon bald verbreitete sich die
ständige Sicherheit im Glauben. Nachricht ihres »Glaubens an Gott« so
Paulus erinnert die Thessalonicher weit, daß Paulus kaum davon zu spre-
nun an sein eigenes Verhalten, als er bei chen brauchte, denn die Menschen kann-
ihnen war. Er predigte nicht nur das ten ihn schon.
Evangelium, sondern lebte auch entspre- Wir sollen nicht Endstationen der
chend. Die beste Predigt ist ein geheilig- Segnung sein, sondern Kanäle, durch die
tes Leben. die Segnungen anderen zufließen kön-
1,6 Deshalb konnte Paulus sagen: nen. Gott scheint in unsere Herzen, so
»Und ihr seid unsere Nachahmer gewor- daß das Licht auch anderen scheinen
den und die des Herrn.« Man würde er- möge (2. Kor 4,6). Wenn wir wirklich von
warten, daß er sagte: »Ihr seid Nachah- den Wassern der Erlösung gekostet ha-
mer des Herrn und von uns geworden«, ben, dann werden von uns auch Ströme
und damit den Herrn zuerst erwähnt hät- lebendigen Wassers zu den Menschen
te. Doch hier gibt er die Reihenfolge der um uns herum fließen (Joh 7,37.38).
Erfahrung der Thessalonicher an. Ihre 1,9 Man sprach allgemein davon, daß
erste Begegnung mit dem Herrn Jesus der Apostel und seine Gefährten eine
hatten sie durch das Leben des Apostels. herzliche Aufnahme gefunden hatten,
Wie ernüchternd ist es, sich daran zu als sie nach Thessalonich kamen. Auch
erinnern, daß Menschen Christus an uns war es allgemein bekannt, daß sich im
sehen sollen. Wir sollten in der Lage sein, Leben vieler Menschen eine erstaunliche
mit Paulus zu sagen: »Seid meine Nach- Veränderung ergeben hatte. Sie hatten
ahmer, wie auch ich Christi Nachahmer sich »von den« heidnischen »Götzen zu
bin« (1. Kor 11,1). Gott bekehrt« und hatten als Knechte
Man beachte, daß sie das Wort »in viel ihren Willen Gott ausgeliefert.
Drangsal« und »Freude« empfangen Man beachte, daß sie sich »zu Gott
haben. Damit haben sie den Herrn und von den Abgöttern« (LU1912) bekehrt
die Apostel nachgeahmt. Nach außen hin haben, nicht von den Götzen zu Gott. Sie
war »Drangsal«, nach innen »Freude«. hatten nicht von ihren Götzen genug
Das ist eine ungewöhnliche Kombination! gehabt und hatten sich dann entschlos-
Für den Weltmenschen ist es unmöglich, sen, Gott eine Chance zu geben. Nein, sie
gleichzeitig »Drangsal« und »Freude« zu bekehrten sich »zu Gott« und fanden ihn
empfinden, für ihn ist Leid das Gegenteil so erfüllend, daß sie ihre Götzen aufge-
von »Freude«. Der Christ hat eine ben konnten.
»Freude des Heiligen Geistes«, die von Wir sollten niemals das Gefühl der
den Umständen unabhängig ist, für ihn Erregung und Ehrfurcht vergessen, das
ist das Gegenteil von »Freude« Sünde. in diesem Bericht liegt. Zwei Männer
Die »Drangsal«, die sie erlitten, war gehen mit dem Wort Gottes in eine heid-
die Verfolgung, die auf ihre Bekehrung nische Stadt. Sie predigen das Evangeli-
folgte. um in der Kraft und im Geist Gottes. Das
1,7 Die Thessalonicher wurden vor- Wunder der Wiedergeburt findet statt:
bildliche Christen. In erster Linie war ihr Männer und Frauen werden so von
Beispiel der Freude inmitten der Verfol- ihrem Erlöser begeistert, daß sie ihre

1031
1. Thessalonicher 1

Götzen aufgeben. Als nächstes haben wir 2. Korinther 5,2 – »Denn in diesem
eine Ortsgemeinde von Gläubigen, die freilich seufzen wir und sehnen uns
Gott loben, ein Leben der Heiligung danach, mit unserer Behausung aus dem
führen, tapfer Verfolgung ertragen und Himmel überkleidet zu werden.«
andere für Christus gewinnen. Wahrhaf- Galater 5,5 – »Wir nämlich erwarten
tig, der Dienst des Herrn ist die aller- durch den Geist aus Glauben die Hoff-
höchste Berufung! nung der Gerechtigkeit.«
1,10 Die Thessalonicher dienten nun Philipper 3,20 – »Denn unser Bürger-
nicht nur dem lebendigen und wahrhaf- recht ist in den Himmeln, von woher wir
tigen Gott (im Gegensatz zu den Götzen, auch den Herrn Jesus Christus als Hei-
die leblos und falsch sind), sondern sie land erwarten.«
erwarteten auch den Herrn Jesus. Philipper 4,5 – »Der Herr ist nahe.«
Man beachte die Einzelheiten ihrer Titus 2,13 – »… indem wir die glück-
Erwartung: selige Hoffnung und Erscheinung der
1. Die Person – »sein Sohn«. Herrlichkeit unseres großen Gottes und
2. Der Ort – »aus den Himmeln«. Heilandes Jesus Christus erwarten.«
3. Die Garantie – »den er aus den Toten Hebräer 9,28 – »… so wird auch der
auferweckt hat«. Christus, nachdem er einmal geopfert
4. Der kostbare Name – »Jesus«. worden ist, um vieler Sünden zu tragen,
5. Die Aussicht – »der uns errettet von zum zweiten Male ohne Beziehung zur
dem kommenden Zorn«. Sünde denen zum Heil erscheinen, die
So haben wir in den Versen 9 und 10 ihn erwarten.«
drei Aspekte der Erfahrung der Thessa- Jakobus 5,7-9 – »Habt nun Geduld,
lonicher: Brüder, bis zur Ankunft des Herrn! …
Umkehr (Vgl. Werk des Glaubens, Habt auch ihr Geduld, … denn die An-
V. 3) kunft des Herrn ist nahe gekommen …
Dienst (Vgl. Bemühung der Liebe, V. 3) Siehe, der Richter steht vor der Tür.«
Warten (Vgl. Ausharren in der Hoff- 1. Petrus 4,7 – »Es ist aber nahe ge-
nung, V. 3) kommen das Ende aller Dinge.«
5)
G. R. Harding Wood analysiert die 1. Johannes 3,3 – »Und jeder, der die-
Erfahrung der Thessalonicher folgender- se Hoffnung auf ihn hat, reinigt sich
maßen: selbst, wie er rein ist.«
Nachfolge – auf Gott schauen Judas 21 – »… indem ihr die Barm-
Dienen – auf die Ernte schauen herzigkeit unseres Herrn Jesus Christus
Warten – auf Jesus schauen erwartet zum ewigen Leben.«
Die Thessalonicher warteten auf Got- Offenbarung 3,11 – »Ich komme
tes »Sohn aus den Himmeln«. Das heißt, bald.« 22,12 – »Siehe, ich komme bald
daß sie es für möglich hielten, daß er …« 22,20 – »Ja, ich komme bald. Amen,
jeden Moment während ihres Lebens wie- komm Herr Jesus.«
derkommen konnte. Die nahe bevorste- Der Christ weiß, daß er eventuell den
hende Wiederkunft des Herrn Jesus ist Tod durchschreiten muß, doch er weiß
die Hoffnung des Christen. Sie findet auch, daß der Herr jeden Moment kom-
sich in vielen Abschnitten des NT, von men kann und daß er in diesem Fall ohne
denen die folgenden nur einige sind: zu sterben in den Himmel kommt.
Lukas 12,36 – »… ihr seid Menschen Keine Prophezeiung der Schrift muß
gleich, die auf ihren Herrn warten.« vor dem Kommen Christi für sein Volk
Römer 8,23 – »Wir … erwarten die noch erfüllt werden. Es handelt sich
Sohnschaft: die Erlösung unseres Leibes.« dabei um das nächste große Ereignis in
1. Korinther 11,26 – »Denn sooft ihr Gottes Plan.
dieses Brot eßt und den Kelch trinkt, ver- Wir könnten nicht ständig das Kom-
kündigt ihr den Tod des Herrn, bis er men des Herrn erwarten, wenn es vorher
kommt.« noch ein Ereignis oder eine Zeitspanne

1032
1. Thessalonicher 1 und 2

geben müßte. Die Ansicht, daß die Ent- konto stimmt; doch ein Christ, der seinen
6)
rückung noch vor der Großen Trübsal Charakter verloren hat, hat alles verloren.
stattfindet, ist die einzige, die es dem Der Märtyrer und Missionar Jim
Gläubigen erlaubt, jeden Tag die Wieder- Elliot schreibt in seinem Tagebuch:
kunft Christi zu erwarten. Andere An- Wenn in einem Beruf der Charakter die
sichten würden uns dazu zwingen, nicht Qualität der Arbeit beeinflußt, dann im
mehr daran zu glauben, daß er bald wie- geistlichen Dienst. Shelley und Byron mögen
derkommt. moralische Freidenker sein, dennoch können
Der Eine, auf den wir warten, ist sie gute Poesie schreiben. Wagner mag
Jesus, unser Erlöser »von dem kommen- lüstern gewesen sein, doch er konnte noch
den Zorn«. Diese Beschreibung unseres immer gute Musik schreiben. Doch so geht es
kommenden Erretters kann man auf im Werk Gottes nicht. Paulus konnte den
zweierlei Weise verstehen: Thessalonichern seinen eigenen Charakter
1. Er erlöst uns von der ewigen Bestra- und seine Lebensweise als Beweis für seine
fung für unsere Sünden. Am Kreuz Aussagen bringen. Im ersten Brief an diese
erlitt er den Zorn Gottes gegen unse- Gemeinde sagt er neunmal »ihr wißt«, und
re Sünden. Durch Glauben an ihn meint damit, daß die Thessalonicher aus
wird uns der Wert seines Werkes erster Hand das Privat- sowie das öffentliche
angerechnet. Hinfort gibt es für uns Leben des Paulus hatten beobachten können.
keine Verdammnis mehr, da wir in Paulus ging nach Thessalonich und führte
Christus Jesus sind (Röm 8,1). ein Leben, das mehr als beispielhaft für seine
2. Doch er erlöst uns auch vom zukünf- Predigt war, es war ein überzeugender Be-
tigen Zeitalter des Gerichtes, in dem weis. Kein Wunder, daß so viel Arbeit im
der »Zorn« Gottes auf die Welt, die Reich Gottes so vergeblich ist, man betrachte
seinen Sohn abgelehnt hat, ausgegos- sich nur einmal den moralischen Charakter
7)
sen wird. Diese Zeit ist als »Große der Arbeiter.
Trübsal« bekannt oder auch die Zeit Vielleicht verteidigt sich der Apostel
der »Bedrängnis Jakobs« (Dan 9,27; in diesen Versen auch gegen falsche
Matth 24,4-28; 1. Thess 5,1-11; Anklagen seiner Kritiker. Jedenfalls erin-
2. Thess 2,1-12; Offb 6,1 – 19,10). nert er die Thessalonicher zuerst daran,
daß sein Dienst erfolgreich war. Sie selbst
B. Rückblick auf den Dienst des waren der lebendige Beweis dafür, daß
Paulus, seine Botschaft und sein sein Werk fruchtbar gewesen war. Sie
Verhalten in Thessalonich (2,1-12) wußten, daß sein Besuch »nicht vergeb-
2,1 Im zweiten Teil von 1,5 hat Paulus lich« gewesen war. Sie selbst waren
kurz auf seinen persönlichen Charakter bekehrt worden und eine Gemeinde hat-
und auf sein Verhalten bei seinem Besuch te sich gebildet.
in Thessalonich angespielt. Nun beginnt 2,2 Auch war sein Dienst mutig
er mit einem etwas ausführlicheren gewesen. Der bittere Widerstand und die
Rückblick auf seinen Dienst, seine Bot- unerhörte Behandlung »in Philippi«
schaft und seinen Lebensstil. einschließlich der Gefangenschaft mit
Wichtig ist, daß der erste Dienst eines Silas konnten ihn weder erschrecken,
Christen ein Dienst des Charakters ist. entmutigen noch verzagt machen. Er
Was wir sind, ist weitaus wichtiger als ging sofort nach Thessalonich weiter.
was wir je sagen mögen. Unser unbe- Dort predigte er angesichts »viel Kampf
wußter Einfluß spricht lauter als unser … das Evangelium Gottes« mit einem
bewußter Einfluß. James Denney sagte: Mut, den nur Gott geben konnte. Ein
Der Charakter eines Christen ist das ein- weniger robuster Mensch hätte sich viel-
zige Kapital, das er hat, um seine Aufgabe zu leicht zahlreiche theologische Gründe
erledigen. In den meisten anderen Berufen ausdenken können, warum Gott ihn zu
kann man weiterarbeiten, ganz gleich, wel- einem angenehmeren Publikum berufe.
chen Charakter man hat, wenn nur das Bank- Aber nicht so Paulus! Er predigte die Bot-

1033
1. Thessalonicher 2

schaft furchtlos trotz großer Gegner- ein selbstsüchtiges Verlangen nach


schaft, eine direkte Auswirkung der Reichtum verbergen konnte. Sein Dienst
Erfüllung mit dem Geist. war keine Maske für »Habsucht«.
2,3 Die »Ermahnung« des Paulus, das Um jede Anklage wegen Schmeichelei
Evangelium zu predigen, war wahr von abzuschmettern, wendet er sich an die
der Quelle her, rein in ihren Motiven und Heiligen. Um jedoch jeden Gedanken an
verläßlich in der Methode. Von der Quel- Habsucht zu vereiteln, wendet er sich an
le her entsprang seine Ermahnung nicht Gott, der der einzige ist, der in unsere
einer Irrlehre, sondern der Wahrheit Got- Herzen sehen kann.
tes. Vom Motiv her war der Apostel 2,6.7a Hier gewinnen wir eine weite-
selbstlos in bezug auf die Thessalonicher, re eindrückliche Einsicht in den Charak-
er hatte nur ihr Bestes im Sinn, und hatte ter dieses großen Mannes Gottes. »Als
keine Hintergedanken und kein unreines Christi Apostel« hatten er und seine Mit-
Verlangen. Von der Methode her hatte er arbeiter ein Anrecht auf finanzielle
keinen cleveren Plan gefaßt, um sie zu Unterstützung (hier als Ehre bezeichnet)
betrügen. Offensichtlich klagten ihn sei- von den Thessalonichern. Doch waren
ne neidischen Feinde der Häresie, der die Apostel entschlossen, daß sie den
lüsternen Begierde und der Hinterlist an. Thessalonichern nicht zur Last fallen
2,4 Für Paulus war der Dienst eine wollten, deshalb arbeiteten sie Tag und
heilige Verwalterschaft. Er war der Ver- Nacht, um ihr eigenes Einkommen
walter, »von Gott tauglich befunden«, sicherzustellen. Es war eine andere Situa-
und »das Evangelium« war ein kostbarer tion als in Korinth. Dort arbeitete Paulus,
Schatz, der ihm von Gott anvertraut wor- damit er seinen Kritikern keine Ursache
den war. Er war verantwortlich dafür, gab, ihn anzuklagen, er predige für Geld.
Gott durch die treue Verkündigung der In Thessalonich arbeitete er, weil die Hei-
Botschaft zu gefallen, ganz gleich, wie ligen arm und verfolgt waren, und er
Menschen darauf reagieren würden. Es wollte ihnen nicht noch zusätzlich zur
war ihm klar, daß er nicht sowohl Gott Last fallen.
als auch Menschen gefallen konnte, also 2,7b Statt in Gottes Erbe herumzu-
wählte er Gott, dem er gefallen wollte, kommandieren, war er »zart« gewesen
»der unsere Herzen prüft« und an- »wie eine stillende Mutter ihre Kinder
schließend entsprechend belohnt. versorgt«. Paulus erkannte, daß Neube-
Ein Verwalter hat die Aufgabe, dem kehrte »Pflege« brauchen, und er führte
zu gefallen, der ihn bezahlt. Prediger diesen Dienst mit allem Eifer einer hin-
mögen manchmal versucht sein, nicht die gegebenen Mutter durch.
volle Wahrheit zu sagen, weil sie Angst 2,8 So tief war seine liebevolle Sorge
vor den Maßnahmen derer haben, die zu für sie, daß er mit ihnen lieber teilen
ihrem Unterhalt beitragen. Aber Gott ist wollte, als von ihnen etwas annehmen.
der Meister und er weiß, ob die Botschaft Er predigte das »Evangelium Gottes«
verwässert oder unterdrückt wird. nicht kalt und funktional, sondern legte
2,5 In Vers 5-12 legt Paulus Rechen- seine ganze Seele hinein. Er liebte sie,
schaft über sein Verhalten in Thessalo- und Liebe scheut keine Kosten. Wie sein
nich ab, womit er uns ein wunderbares Herr kam er nicht, um sich dienen zu las-
Vorbild für alle Diener Christi hinterlas- sen, sondern um zu dienen und sein
sen hat. Als erstes hat er sich nie zu Leben hinzugeben (Mk 10,45).
Schmeichelei oder Unehrlichkeit hin- 2,9 Hier haben wir einen weiteren
reißen lassen, um bestimmte Ergebnisse Beweis der Selbstlosigkeit des Paulus.
hervorzubringen. Seine Worte waren Wir sehen, wie er als Zeltmacher arbeitet,
ehrlich und gerade heraus, und seine um seinen Lebensunterhalt zu verdie-
Motive waren frei von Heuchelei. nen, damit er den Menschen dienen
Zweitens benutzte er nie das Werk konnte, ohne ihnen »beschwerlich zu fal-
des Herrn als »Vorwand«, hinter dem er len«. Es stimmt zwar, daß der Prediger

1034
1. Thessalonicher 2

Anspruch auf Unterstützung von ande- Alle Erretteten sind Untertanen des
ren Christen hat, doch ist es empfehlens- Reiches Gottes. Zur Zeit ist dieses
wert, wenn er von Zeit zu Zeit dieses »Reich« unsichtbar, und der König ist
Recht aufgibt. Ein echter Diener Christi abwesend. Doch die Moral und die ethi-
wird das Evangelium weiter predigen, schen Lehren des Reiches gelten für uns
ob er Geld dafür bekommt, oder arbeiten heute. Wenn der Herr Jesus wieder-
muß, um sich selbst zu finanzieren. Man kommt, um zu regieren, wird das »Reich«
beachte die Ausdrücke »Mühe und in seiner sichtbaren Form errichtet wer-
Beschwerde« und »Nacht und Tag«. Das den, und wir werden die »Herrlichkeit«
Evangelium kostete die Thessalonicher des Königs an diesem Tage teilen.
keinen einzigen Pfennig, doch Paulus
kostete es viel. C. Rückblick auf die Reaktion der
2,10 Die Gläubigen konnten das vor- Thessalonicher auf das Evangelium
bildliche Verhalten des Paulus ihnen (2,13-16)
gegenüber bezeugen. Auch »Gott« war 2,13 Nun nimmt der Apostel ein anderes
Zeuge, daß er hingegeben (oder »hei- Thema auf, das er schon in 1,5a ange-
lig«), »gerecht« und »untadelig« war. sprochen hatte – die Reaktion der Thes-
Heilig bedeutet von der Sünde abgeson- salonicher auf die Predigt des Evangeli-
dert. Er war in Charakter und Verhalten ums. Als sie die Botschaft hörten, nahmen
gerecht, untadelig vor Gott und Men- sie sie nicht als Menschenwort, sondern
schen. Wenn die beste Predigt ein gehei- als Gotteswort an. Das bringt ER deutlich
ligtes Leben ist, dann war Paulus ein zum Ausdruck:
großartiger Prediger. Nicht wie ein ande- Und darum danken auch wir Gott un-
rer Prediger, dessen Beredsamkeit größer ablässig, daß, als ihr von uns das Wort der
war als sein Verhalten. Kunde von Gott empfinget, ihr es nicht als
2,11 In Vers 7 hatte Paulus sich mit Menschenwort aufnahmt, sondern, wie es
einer stillenden Mutter verglichen, nun wahrhaftig ist, als Gottes Wort, das in euch,
nimmt er ein anderes Bild, nämlich das den Glaubenden, auch wirkt.
einen hingegebenen Vaters. Wenn in dem Paulus ist sehr dankbar für ihre Auf-
vorhergehenden Bild Zartheit und nahme und die Annahme der Botschaft.
Zuneigung zum Ausdruck kamen, so Dies ist ein weiteres Beispiel für seine
will dieses Weisheit und Güte vermitteln. Selbstlosigkeit. Die meisten von uns wol-
»Wie ein Vater« hat er die Thessalonicher len, daß andere uns glauben, weil wir es
ermahnt, heilig zu leben, trotz Verfolgun- gesagt haben. Doch Menschenwort ist
gen im Herrn zu bleiben, und er gab ein schwankendes Fundament für den
Zeugnis, wie segensreich der Gehorsam Glauben. Nur Gott kann man ganz ver-
gegenüber dem Willen und dem Wort trauen, und nur dann, wenn man seinem
Gottes ist. Wort vertraut, werden Herz und Leben
2,12 Das Ziel des Dienstes von Paulus verändert. Das geschah bei den Thessalo-
war, daß die Heiligen »des Gottes wür- nichern; das Wort »wirkte« an ihnen,
dig … wandeln, der« sie »zu seinem weil sie glaubten. Walter Scott schrieb:
Reich und seiner Herrlichkeit beruft«. Sein Wort, die Bibel, ist inspiriert oder
Aus uns selbst sind wir sowohl Gottes von Gott eingehaucht, und zwar in allen
als auch eines Platzes im Himmel unwür- Büchern und Teilen der Urschriften. Sie ist
dig, der einzige Verdienst, den wir haben, unsere einzige Autorität in allen Angelegen-
findet sich in dem Herrn Jesus Christus. heiten, unter allen Umständen und zu allen
Doch als Söhne Gottes wird von uns Zeiten. Wir brauchen wieder eine Generati-
erwartet, unserer hohen Berufung »wür- on, die vor dem Wort Gottes zittert. Die Bibel
dig zu wandeln«. Wir können das tun, ist die Landkarte für unser Leben, unsere
indem wir uns der Führung des Heiligen Führung, unser Licht und unser moralischer
Geistes unterstellen und Sünde in unse- Maßstab. Ich danke Gott für dieses heilige
8)
rem Leben ständig bekennen und lassen. Buch.

1035
1. Thessalonicher 2

2,14 Welche Resultate erbrachte die entschlossen waren, den Kelch ihrer Sün-
Bibel nun im Leben dieser Gläubigen? de stets gut gefüllt zu halten.
Sie sind nicht nur gerettet worden, sie Doch ihr Schicksal ist schon beschlos-
sind auch befähigt worden, angesichts sen, denn »der Zorn ist endgültig über sie
der Verfolgung fest zu bleiben. Das war gekommen«. Paulus führt hier nicht aus,
ein guter Beweis für die Echtheit ihrer was er mit »Zorn« meint. Vielleicht will er
Bekehrung. Durch ihr standhaftes Erdul- hier allgemein auf das kommende Ge-
den waren sie »Nachahmer« der christli- richt als Ergebnis eines Maßes voller
chen »Gemeinden Gottes … in Judäa« Schuld anspielen. Wir wissen, daß schon
geworden. Der einzige Unterschied war, zwanzig Jahre später (70 n. Chr.) Jerusa-
daß die Thessalonicher durch ihre heid- lem zerstört wurde und die überlebenden
nischen »Landsleute« litten, während die Juden in alle Winde zerstreut wurden.
Gläubigen in Judäa »von den Juden« ver- Aus solchen Abschnitten haben eini-
folgt worden waren. ge Ausleger geschlossen, daß Paulus ein
2,15 Bei dieser Erwähnung der Juden Antisemit gewesen sei und das NT ein
beginnt Paulus mit einer Anschuldigung antisemitisches Buch sei. Die Wahrheit
der Juden als Erzfeinde des Evangeli- ist, daß Paulus seine Landsleute, die
ums. Und wer sollte besser darüber Juden sehr liebte, und sogar bereit war,
Bescheid wissen als er? Er selbst gehörte sich von Christus trennen zu lassen,
doch einst zu den führenden Kräften, die wenn er damit ihre Erlösung hätte erwir-
versuchten, den christlichen Glauben ken können (Röm 9,1-3). Obwohl er in
auszurotten. Dann, nach seiner eigenen erster Linie zu den Heiden geschickt war,
Bekehrung, bekam er die Schneide des verlor er nie das Anliegen der Judenmis-
Schwertes ihrer Verfolgung selbst zu sion aus den Augen, und zeitweilig
spüren. scheint dieses Anliegen sogar stärker
Die Hauptsünde der Juden war es, gewesen zu sein als sein erster Auftrag.
daß sie »den Herrn Jesus« getötet haben. Was der Apostel hier über die jüdi-
Zwar war die eigentliche Kreuzigung schen Führer sagt, ist eine historische
von den Römern ausgeführt worden, Tatsache und keine bösartige Verleum-
doch waren es die Juden, die sie dazu dung. Und wir müssen uns daran erin-
brachten. Das war der Höhepunkt von nern, daß Gott ihn dazu brachte, so zu
Jahrhunderten der Verfolgung der »Pro- schreiben. Antisemitismus ist unchrist-
pheten« Gottes, die dem Volk Israel ge- lich und kann unter keinen Umständen
sandt wurden (Matth 21,33-39). gerechtfertigt werden. Doch ist es nicht
Zur Zeit der Christen hatten sie auch antisemitisch zu sagen, daß das jüdische
schon Paulus und andere Apostel »ver- Volk von Gott für den Tod seines Sohnes
folgt« und hatten gedacht, mit ihrem Tun verantwortlich gemacht wird (Apg 2,23),
»Gott« zu gefallen. Ihre Handlungen genauso, wie die Heiden für ihre Taten
gefielen Gott aber nicht, und sie machten verantwortlich sind (1. Kor 2,8).
sich »allen Menschen feindlich«.
2,16 Die Juden waren nicht zufrieden, D. Erklärung für das Fernbleiben des
selbst das Evangelium abzulehnen, son- Paulus von Thessalonich (2,17-20)
dern waren zudem entschlossen, Paulus 2,17 In den nächsten vier Versen erklärt
und seine Mitarbeiter davon abzuhalten, der Apostel, warum er nicht nach Thes-
die Botschaft »den Nationen« zu predi- salonich zurückgekehrt war. Vielleicht
gen. Nichts konnte sie mehr erzürnen als haben ihn seine nörgelnden Kritiker der
zu hören, daß Heiden auf dieselbe Art Feigheit angeklagt, daß er nicht zurück-
»errettet werden« können wie die Juden. kehre, weil er die dort auf ihn wartende
In ihrem Widerstand gegen den Wil- Opposition fürchte.
len Gottes führten sie fort, was ihre Väter Paulus macht als erstes deutlich, daß
begonnen hatten: »Um ihr Sündenmaß ihre Trennung rein räumlich war. Der
stets voll zu machen.« Es war, als ob sie Ausdruck »da wir für kurze Zeit von

1036
1. Thessalonicher 2

euch verwaist waren« bedeutet, daß sie Offensichtlich geht aus diesem Vers
durch den Weggang ihres geistlichen hervor, daß Paulus erwartete, die Thessa-
Vaters zu Waisen geworden waren. Den- lonicher im Himmel wiederzuerkennen.
noch hatte sich sein liebevolles Interesse Und daraus folgt, daß auch wir unsere
an ihnen nicht verändert. Man beachte Lieben im Himmel wiedererkennen wer-
die Worte, mit denen er seine Liebe den.
beschreibt: »um so mehr mit großem Ver- In Vers 19 spricht Paulus davon, daß
langen bemüht«. seine Kinder im Glauben sein »Ruhmes-
2,18 Zweimal versuchte Paulus, nach kranz« sind. An anderer Stelle im NT
Thessalonich zurückzukehren, doch lesen wir von anderen Kränzen: dem Sie-
zweimal hat »Satan« ihn »gehindert«. geskranz der Gerechtigkeit (2. Tim 4,8),
Wie Satan genau vorging, ist nicht vom Siegeskranz des Lebens (Jak 1,12;
bekannt. Offb 2,10) und vom Siegeskranz der
Auch wissen wir nicht, wie Paulus Herrlichkeit (1. Petr 5,4) – und sie alle
sicher sein konnte, daß es Satan gewesen sind unvergänglich (1. Kor 9,15).
war, der »gehindert« hatte und nicht 2,20 Die Heiligen waren seine »Herr-
Gott. In Apostelgeschichte 16,6 lesen wir, lichkeit und Freude«. Er hatte in mensch-
daß Paulus und seine Gefährten durch liche Persönlichkeiten investiert und sei-
den Heiligen Geist gehindert wurden, ne Belohnung waren geistliche Söhne
das Wort in Asien zu predigen. Im näch- und Töchter, die in alle Ewigkeit das
sten Vers versuchen sie nach Bithynien Lamm Gottes anbeten würden.
zu gehen, doch wieder will es der Geist
ihnen nicht erlauben. Wie können wir
wissen, wann der Geist und wann Satan Exkurs über das Kommen des Herrn
uns hindert? Vielleicht auf diese Weise: In Vers 19 lesen wir das erste Mal in
Wenn wir wissen, daß wir uns im Willen 1. Thessalonicher von der »Ankunft« in
Gottes bewegen, dann sind alle Hinder- bezug auf das Wiederkommen des Herrn.
nisse, die sich auf diesem Weg auftun, Weil dies das Hauptthema dieses Briefes
von Satan und nicht vom Geist. Auch ist, machen wir an dieser Stelle eine Pause
kann man erwarten, daß Satan immer und erklären die nach unserer Meinung
dann hindert, wenn Gott segnet. Doch schriftgemäße Lehre zu diesem Thema.
Gott kann Satans Gegenwehr immer Es gibt drei griechische Worte, die im
besiegen. In diesem besonderen Fall NT für die Wiederkunft Christi benutzt
führte die Tatsache, daß Paulus gehin- werden:
dert wurde, nach Thessalonich zu gehen, parousia: Kommen und anschließende
dazu, daß er diesen Brief schrieb. Der Anwesenheit
Brief wiederum hat zu großer Verherrli- apokalypsis: Enthüllung, Offenbarung
chung Gottes und zu großem Segen für epiphaneia: Erscheinung
uns geführt. Das Wort, das allgemein benutzt
2,19 Warum war der Apostel so in- wird, ist das Wort parousia. Es bedeutet
teressiert daran, zu den Gläubigen in Anwesenheit oder Kommen. Vine sagt, daß
Thessalonich zurückzukehren? Weil sie es sowohl Ankunft als auch die darauf
seine Kinder im Glauben waren. Er hatte folgende Anwesenheit bezeichnet. Wenn
sie auf Christus hingewiesen und fühlte wir an das Kommen des Herrn denken,
sich verantwortlich für ihr geistliches dann sollten wir es uns nicht nur als
Wachstum. Er wußte, daß er darüber einen einzelnen Vorfall, sondern als
eines Tages Rechenschaft abgeben muß- einen Zeitraum denken.
te. Sie waren seine »Hoffnung« auf Be- Sogar im Deutschen kann man das
lohnung beim Richterstuhl Christi. Er Wort Kommen auf diese Weise benutzen,
wollte sich an ihnen freuen können. Sie etwa: »Das Kommen Christi nach Galiläa
würden sein »Ruhmeskranz … vor« dem brachte der Volksmenge Heilung.« Hier
»Herrn Jesus bei seiner Ankunft« sein. meinen wir nicht den Tag, an dem er in

1037
1. Thessalonicher 2

Galiläa ankam, sondern die gesamte Christus und unserer Vereinigung


Zeit, die er in diesem Gebiet verbrachte. mit ihm (2. Thess 2,1).
Wenn wir also an das Kommen Christi Habt nun Geduld, Brüder, bis zur
denken, dann sollten wir eher einen Zeit- Ankunft des Herrn! Siehe, der Bauer
raum als einen isolierten Vorgang vor wartet auf die köstliche Frucht der
Augen haben. Erde und hat Geduld ihretwegen, bis
Wenn wir nun alle Stellen untersu- sie den Früh- und Spätregen empfan-
chen, an denen im NT das Wort parousia ge. Habt auch ihr Geduld, befestigt
vorkommt, so werden wir finden, daß eure Herzen, denn die Ankunft des
diese Stellen einen Zeitraum mit 1. einem Herrn ist nahe gekommen (Jak 5,7.8).
Anfang, 2. einem Verlauf, 3. einer Er- Und nun, Kinder, bleibt in ihm, damit
scheinung und 4. einem Höhepunkt be- wir, wenn er geoffenbart werden
schreiben. wird, Freimütigkeit haben und nicht
1. Der Anfang der parousia ist die Ent- vor ihm beschämt werden bei seiner
rückung. Sie wird in den folgenden Ankunft (1. Joh 2,28).
Abschnitten beschrieben (die Über- 2. Zum Verlauf der parousia gehört der
setzung des Wortes parousia steht je- Richterstuhl Christi, bei dem den
weils in kursiv): Gläubigen für ihren treuen Dienst
Denn wie in Adam alle sterben, so Lohn gegeben werden wird:
werden auch in Christus alle lebendig Denn wer ist unsere Hoffnung oder
gemacht werden. Jeder aber in seiner Freude oder Ruhmeskranz – nicht
eigenen Ordnung: der Erstling, Chri- auch ihr? – vor unserem Herrn Jesus
stus; sodann die, welche Christus ge- bei seiner Ankunft? (1. Thess 2,19).
hören bei seiner Ankunft (1. Kor Er selbst aber, der Gott des Friedens,
15,22.23). heilige euch völlig; und vollständig
Wir wollen euch aber, Brüder, nicht in möge euer Geist und Seele und Leib
Unkenntnis lassen über die Entschla- untadelig bewahrt werden bei der
fenen, damit ihr nicht betrübt seid Ankunft unseres Herrn Jesus Christus
wie die übrigen, die keine Hoffnung (1. Thess 5,23).
haben. Denn wenn wir glauben, daß Ein anderes Ereignis, das wahr-
Jesus gestorben und auferstanden ist, scheinlich zum Verlauf der parousia
wird auch Gott ebenso die Entschla- gehört, ist das Hochzeitsmahl des
fenen durch Jesus mit ihm bringen. Lammes. Von seiner Stellung in der
Denn dies sagen wir euch in einem Offenbarung wissen wir, daß es vor
Wort des Herrn, daß wir, die Leben- der wunderbaren Herrschaft Christi
den, die übrigbleiben bis zur Ankunft stattfinden wird. Wir fügen es hier
des Herrn, den Entschlafenen keines- ein, auch wenn das Wort »Ankunft«
wegs zuvorkommen werden. Denn in diesem Zusammenhang nicht ver-
der Herr selbst wird beim Befehlsruf, wendet wird.
bei der Stimme eines Erzengels und Und ich hörte etwas wie eine Stimme
bei dem Schall der Posaune Gottes einer großen Volksmenge und wie ein
herabkommen vom Himmel, und die Rauschen vieler Wasser und wie ein
Toten in Christus werden zuerst auf- Rollen starker Donner, die sprachen:
erstehen; danach werden wir, die Halleluja! Denn der Herr, unser Gott,
Lebenden, die übrigbleiben, zugleich der Allmächtige, hat die Herrschaft
mit ihnen entrückt werden in Wolken angetreten. Laßt uns fröhlich sein
dem Herrn entgegen in die Luft; und und frohlocken und ihm die Ehre
so werden wir allezeit beim Herrn geben; denn die Hochzeit des Lam-
sein. So ermuntert nun einander mit mes ist gekommen, und sein Weib hat
diesen Worten (1. Thess 4,13-18). sich bereitgemacht. Und ihr wurde
Wir bitten euch aber, Brüder, wegen gegeben, daß sie sich kleide in feine
der Ankunft unseres Herrn Jesus Leinwand, glänzend, rein; denn die

1038
1. Thessalonicher 2

feine Leinwand sind die gerechten chen Größe gewesen sind (1. Petr
Taten der Heiligen. Und er spricht zu 1,16). [Hier spricht Petrus über die
mir: Schreibe: Glückselig, die geladen Erscheinung von Christi parousia, wie
sind zum Hochzeitsmahl des Lam- sie auf dem Berg der Verklärung vor-
mes! (Offb 19,6-9). geschattet wurde.]
3. Die Erscheinung der Wiederkunft 4. Schließlich haben wir noch den Höhe-
Christi ist seine Wiederkunft auf die punkt der parousia. Er wird im folgen-
Erde in Macht und großer Herrlich- den Vers erwähnt:
keit, um als König der Könige und … und sagen: Wo ist die Verheißung
Herr der Herren zu regieren. Die Ent- seiner Ankunft? Denn seitdem die
rückung wird von der Welt nicht Väter entschlafen sind, bleibt alles so
gesehen werden, denn sie findet im von Anfang der Schöpfung an (2. Petr
Bruchteil einer Sekunde statt. Doch 3,4).
jedes Auge wird Christus sehen, In diesem letzteren Abschnitt lesen
wenn er wiederkommt, um zu regie- wir von Lästerern, die sich in den letz-
ren. Deshalb wird hier von der ten Tagen erheben werden und die die
Erscheinung seiner parousia gespro- Wahrscheinlichkeit der Wiederkunft
chen. Das ist die dritte Phase seines Christi leugnen werden. Welchen
Kommens. Aspekt der parousia meinen sie?
Als er aber auf dem Ölberg saß, traten Beziehen sie sich auf die Entrückung?
seine Jünger für sich allein zu ihm Nein, denn sie wissen wahrscheinlich
und sprachen: Sage uns, wann wird nichts davon. Beziehen sie sich auf
das sein, und was ist das Zeichen dei- das Kommen Christi zur Herrschaft?
ner Ankunft und der Vollendung des Nein, es ist offensichtlich, daß sie das
Zeitalters? (Matth 24,3). nicht meinen. Der gesamte Kontext
Denn wie der Blitz ausfährt von zeigt, daß sie sich über die Bestrafung
Osten und bis nach Westen leuchtet, aller Bösen durch den Herrn lustig
so wird die Ankunft des Sohnes des machen. Sie meinen das letzte, größte
Menschen sein (Matth 24,27). Gericht Gottes auf Erden, oder das,
Aber wie die Tage Noahs waren, so was sie das »Ende der Welt« nennen.
wird auch die Ankunft des Sohnes des Ihr Argument lautet, daß sie sich kei-
Menschen sein (Matth 24,37). ne Sorgen machen brauchen. Gott hat
… und sie es nicht erkannten, bis die in der Geschichte nicht eingegriffen
Flut kam und alle wegraffte, so wird und wird es auch in Zukunft nicht
auch die Ankunft des Sohnes des tun. So fühlen sie sich frei, ihre bösen
Menschen sein (Matth 24,39). Worte und Taten fortzusetzen.
… um eure Herzen zu festigen, unta- Petrus beantwortet ihre Lästerung,
delig in Heiligkeit zu sein vor unse- indem er auf die Zeit nach der tausend-
rem Gott und Vater bei der Ankunft jährigen Herrschaft Christi hinweist,
unseres Herrn Jesus mit allen seinen wenn der Himmel und die Erde in
Heiligen (1. Thess 3,13). der uns bekannten Form zerstört
Dann wird der Gesetzlose geoffen- werden. Dieser Höhepunkt der parou-
bart werden, den der Herr Jesus sia findet nach dem Tausendjährigen
beseitigen wird durch den Hauch sei- Reich und zu Beginn der Ewigkeit
nes Mundes und vernichten durch statt.
die Erscheinung seiner Ankunft Außer dem Wort parousia werden in
(2. Thess 2,8). der Originalsprache des NT noch die
Denn wir haben euch die Macht und Worte apokalypsis und epiphaneia be-
Ankunft unseres Herrn Jesus Christus nutzt, um die Wiederkunft des Herrn
kundgetan, nicht indem wir ausge- zu beschreiben.
klügelten Fabeln folgten, sondern Apokalypsis bedeutet Enthüllung oder
weil wir Augenzeugen seiner herrli- Offenbarung. Die Ausleger sind sich

1039
1. Thessalonicher 2

nicht einig, ob es sich immer auf die ten durch die Erscheinung seiner
dritte Phase des Kommens Christi Ankunft (2. Thess 2,8).
bezieht – seine Ankunft auf der Erde … daß du das Gebot unbefleckt, unta-
in Macht und Herrlichkeit – oder ob delig bewahrst bis zur Erscheinung
es sich auch auf die Entrückung unseres Herrn Jesus Christus (1. Tim
beziehen könnte, wenn Jesus Chri- 6,14).
stus der Gemeinde offenbart werden Ich bezeuge ernstlich vor Gott und
wird. Christus Jesus, der Lebende und Tote
In den folgenden Versen könnte es richten wird, und bei seiner Erschei-
sich sowohl auf die Entrückung als nung und seinem Reich (2. Tim 4,1)
auch auf sein Kommen zur Herr- Fortan liegt mir bereit der Sieges-
schaft über die Erde beziehen: kranz der Gerechtigkeit, den der
Daher habt ihr an keiner Gnadengabe Herr, der gerechte Richter, mir zur
Mangel, während ihr das Offenbar- Vergeltung geben wird an jenem Tag:
werden unseres Herrn Jesus Christus nicht allein aber mir, sondern auch
erwartet (1. Kor 1,7). allen, die seine Erscheinung lieben
… damit die Bewährung eures Glau- (2. Tim 4,8).
bens viel kostbarer erfunden wird als … indem wir die glückselige Hoff-
die des vergänglichen Goldes, das nung und Erscheinung der Herrlich-
aber durch Feuer erprobt wird, zu keit unseres großen Gottes und Hei-
Lob und Herrlichkeit und Ehre in der landes Jesus Christus erwarten (Tit
Offenbarung Jesu Christi (1. Petr 1,7). 2,13).
Deshalb umgürtet die Lenden eurer Der erste und der dritte dieser Verse
Gesinnung, seid nüchtern und hofft beschreiben eindeutig das Erscheinen
völlig auf die Gnade, die euch Christi vor der Welt. Die anderen
gebracht wird bei der Offenbarung könnten sich auch auf die Ent-
Jesu Christi (1. Petr 1,13). rückung beziehen. Eines wird jedoch
… sondern freut euch, insoweit ihr deutlich: Sowohl die Entrückung als
der Leiden des Christus teilhaftig auch das Kommen Christi zur Herr-
seid, damit ihr euch auch in der schaft werden dem Gläubigen immer
Offenbarung seiner Herrlichkeit mit wieder als Ereignisse vorgestellt, die
Frohlocken freut (1. Petr 4,13). er sehnsüchtig erwarten soll. Zur Zeit
In einem anderen Abschnitt bezieht der Entrückung wird er den Heiland
sich dieses Wort ziemlich deutlich auf sehen und seinen verherrlichten Leib
Christi Kommen zur Herrschaft über empfangen. Wenn Christus zur Erde
die Erde: zurückkehrt, dann wird der Gläubige
… und euch, den Bedrängten, durch mit ihm in Herrlichkeit erscheinen
Ruhe, zusammen mit uns bei der (Kol 3,4). Zu dieser Zeit wird auch
Offenbarung des Herrn Jesus vom der Lohn des Gläubigen offenbar
Himmel her mit den Engeln seiner werden. Dieser Lohn wird schon vor-
Macht (2. Thess 1,7). her beim Richterstuhl Christi verteilt,
Epiphaneia heißt soviel wie Erschei- doch wird er erst von allen gesehen,
nung oder Ankunft. Und wieder sind wenn Christus auf die Erde kommt,
einige der Ansicht, daß es sich um zu herrschen. Wie sieht der Lohn
sowohl auf die Ankunft für seine Hei- aus? In Lukas 19,17-19 gibt es einen
ligen und auf die Ankunft mit seinen Hinweis, daß er mit der kommunalen
Heiligen bezieht. Das Wort findet sich Regierung im Tausendjährigen Reich
in den folgenden Abschnitten: zu tun haben wird. Der eine wird
… und dann wird der Gesetzlose über zehn Städte herrschen, ein ande-
geoffenbart werden, den der Herr rer über fünf.
Jesus beseitigen wird durch den Durch das Studium der verschiede-
Hauch seines Mundes und vernich- nen Hinweise auf die Wiederkunft

1040
1. Thessalonicher 2 und 3

des Herrn haben wir gesehen, daß es gelium des Christus.« Welch ein Privileg
dabei eher um einen Zeitraum als um war es für Timotheus, Mitarbeiter des
ein einzelnes Ereignis geht, und daß geliebten Bruders Paulus zu sein. Nach
dieser Zeitraum verschiedene Phasen seiner Bewährung wird er allein auf eine
oder Stufen hat. Es gibt einen Anfang, Mission nach Thessalonich gesandt.
einen Verlauf, eine Erscheinung und Der Zweck der Reise war es, die Hei-
einen Höhepunkt. Die Wiederkunft ligen ihres »Glaubens wegen … zu befe-
beginnt mit der Entrückung, dann stigen und zu trösten«. Sie waren wegen
gehört der Richterstuhl Christi dazu, ihres Bekenntnisses zu Christus verfolgt
sichtbar wird die Wiederkunft, wenn worden. Das war für die Jungbekehrten
Christus auf die Erde zurückkehrt, eine kritische Zeit, denn Satan wollte
und sie endet damit, wenn Himmel ihnen sicherlich unterschwellig einre-
und Erde, wie wir wissen, im Feuer den, daß es doch falsch gewesen sei,
zerstört werden. Christen zu werden!
Es wäre sicherlich interessant, Timo-
theus lehren zu hören, wie er ihnen sagt,
E. Die Sendung des Timotheus nach sie müßten Widerstand erwarten, ihn
Thessalonich (3,1-10) mutig ertragen und sich darüber freuen.
Die Worte »euer Glaube« kommen in Sie brauchten Ermutigung, um unter
Kapitel 3 fünfmal vor (V. 2.5.6.7.10) und dem Druck des Widerstandes nicht zu
sind Schlüsselworte zum Verständnis zerbrechen.
des Abschnittes. Die Thessalonicher 3,3 In der Hitze der Verfolgung wür-
mußten schwere Verfolgung ertragen, den die Thessalonicher sicher denken,
und Paulus wollte gerne wissen, wie ihr daß es seltsam wäre, daß sie so leiden
Glaube diese Prüfung bestand. Deshalb müßten, und sich fragen, ob Gott mit
ist das Kapitel eine Lektion über die ihnen vielleicht unzufrieden wäre. Timo-
Bedeutung der Nacharbeit. Es reicht theus erinnerte sie daran, daß das ganz
nicht, Sünder zum Heiland zu führen. und gar nicht seltsam sei: Es ist ein ganz
Man muß ihnen helfen, in der Gnade und normaler Zustand für Christen, deshalb
der Erkenntnis des Herrn zu wachsen. sollten sie nicht »wankend« oder mutlos
3,1 In Kapitel 3 hören wir den Herz- werden.
schlag des Paulus, in dem er seinem 3,4 Paulus erinnert sie daran, daß er
ungetrübten Interesse an den Heiligen in selbst schon, als er in Thessalonich war,
Thessalonich Ausdruck gibt. Während er ihnen gesagt hatte, daß sie als Christen
»in Athen« war, hatte er das unerträg- zum Leiden bestimmt sind. Seine Vor-
liche Verlangen zu wissen, wie seine Be- aussage wurde in ihrem Leben wahr. Das
kehrten vorwärts kamen. Satan hatte wußten die Thessalonicher nur zu
verhindert, daß Paulus persönlich zu- genau!
rückkehren konnte. Schließlich konnte er Anfechtung ist für unser Leben not-
nicht mehr länger tatenlos bleiben und wendig:
entschloß sich, Timotheus zu den Thessa- 1. Sie erprobt die Echtheit unseres Glau-
lonichern zu schicken, während er in bens und sortiert die Menschen aus,
Athen blieb. (Hier ist das redaktionelle die nur mit dem Mund bekennen
»wir« gebraucht.) Es stimmt traurig, sich (1. Petr 1,7).
ihn dort so »allein« vorzustellen. Er 2. Sie ermöglicht es uns, andere zu trö-
konnte sich an den Sehenswürdigkeiten sten und zu ermutigen, die gerade
der großen Stadt nicht freuen, denn er Anfechtungen erleben (2. Kor 1,4).
war mit der Sorge für die Gemeinden 3. Sie entwickelt in uns bestimmte
beschwert. Tugenden, etwa Geduld (Röm 5,3).
3,2 Man beachte die »Titel« hinter 4. Sie spornt uns an, noch eifriger das
dem Namen des Timotheus: »Unser Bru- Evangelium zu verbreiten (Apg 4,29;
der und Mitarbeiter Gottes in dem Evan- 5,27-29; 8,3.4).

1041
1. Thessalonicher 3

5. Sie hilft uns, die Schlacken aus un- weiß, welche Kraft sie in unserem Leben
serem Leben auszusondern (Hiob entfaltet.« Wenn es an ihrer Hoffnung
23,10). fehlte, dann will Paulus sie sicherlich in
3,5 Der Apostel wiederholt hier den diesem Brief der Hoffnung wiederher-
Inhalt von Vers 1 und 2: Als weitere Ver- stellen.
zögerung für ihn unerträglich wurde, Timotheus berichtete auch, daß die
»sandte« er Timotheus zu den Thessalo- Thessalonicher sich gerne an den Apo-
nichern, um herauszufinden, wie die stel und seine Freunde erinnerten, und
Christen den Sturm überstanden hatten. daß sie an einer Wiederbegegnung eben-
Er hatte große Sorge, daß der Teufel sie so interessiert waren wie Paulus, Silas
vielleicht mit seinen Tricks dazu ge- und Timotheus.
bracht hatte, ihr intensives Zeugnis für 3,7 Diese Nachricht war wie kühles
Christus aufzugeben, um damit ein Wasser für die durstige Seele des Paulus
Nachlassen der Verfolgung zu erkaufen. (Spr 25,25). In all seiner Anfechtung wur-
Das ist die immer vorhandene Versu- de er »durch« ihren »Glauben« ermutigt.
chung, die Treue zu Christus gegen per- 3,8 Er ruft aus: »Denn jetzt leben wir,
sönliches Wohlergehen einzutauschen, wenn ihr feststeht im Herrn.« Die An-
nämlich das Kreuz auf dem Weg zur spannung, die die Ungewißheit mit sich
Erlangung der Krone zu umgehen. Wer brachte, hieß für ihn, lebendig tot zu sein.
von uns muß etwa nicht beten: »Herr Nun kehrte das Leben schnell in ihn
vergib mir, daß ich so oft Wege finde, um zurück, als er hörte, daß alles in Ordnung
den Schmerz und das Opfer der Jünger- war. Welch ein Kommentar ist das zur
schaft zu umgehen. Stärke mich heute, selbstlosen Hingabe dieses großen Man-
mit dir zu gehen, ganz gleich, was es nes Gottes!
kosten mag.« 3,9 Worte konnten kaum den »Dank«
Wenn es Satan gelungen wäre, die zum Ausdruck bringen, den sein Herz
Heiligen zum Widerruf zu verführen, »Gott« gegenüber erfüllte. Sein Freuden-
dann wäre seine Arbeit nach Paulus’ becher floß jedesmal über, wenn er sich
Ansicht vergeblich gewesen. ihrer »vor« seinem »Gott« erinnerte.
3,6 »Timotheus« kam »von« den 3,10 Paulus’ Gebetsleben war eine
Thessalonichern mit »guter Botschaft« ständige Gewohnheit, er betete nicht nur
zurück. Als erstes konnte er Paulus ver- sporadisch: »Tag und Nacht«. Es war
sichern, daß ihr »Glaube« und ihre »Lie- intensiv und leidenschaftlich: »aufs
be« nicht nachgelassen hatten. Sie stan- inständigste bitten«. Es war eindeutig:
den nicht nur treu zu den Lehren des »euer Angesicht zu sehen«. Es war
christlichen »Glaubens«, sondern bewie- selbstlos: »das zu vollenden, was an
sen auch die besonders kennzeichnende eurem Glauben mangelt«.
Tugend der »Liebe«. Sie ist immer eine
Prüfung für die Echtheit des Glaubens: F. Das eindeutige Gebet des Paulus
Nicht nur orthodoxe Annahme des (3,11-13)
christlichen Glaubens, »sondern der 3,11 Das Kapitel schließt mit dem Gebet
durch Liebe wirksame Glaube« (Gal 5,6) des Paulus um eine Rückkehr zu den
ist wichtig. Nicht nur »Glaube an den Thessalonichern, und für die Entwick-
Herrn Jesus« zählt, sondern auch »Liebe lung einer noch größeren Liebe zu ihnen.
zu allen Heiligen« (Eph 1,15). Die Bitte ist an den »Gott und Vater
Ist es von Bedeutung, daß Timotheus selbst« und den »Herrn Jesus Christus«
ihren »Glauben« und ihre »Liebe« er- gerichtet. Das Subjekt im Plural wird von
wähnte, aber nichts zu ihrer Hoffnung einem Verb im Singular gefolgt. Dieser
sagte? Hatte Satan ihr Vertrauen auf die Gebrauch deutet auf die Gottheit Christi
Wiederkunft Christi erschüttert? Mögli- und die Einheit der Gottheit hin.
cherweise. Wie William Lincoln sagte: 3,12 Die Thessalonicher waren echte
»Der Teufel haßt diese Lehre, weil er Vorbilder durch die Liebe, die sie zeig-

1042
1. Thessalonicher 3 und 4

ten, doch gibt es immer die Möglichkeit, an der Wiederkunft des Herrn aus, doch
Gutes zu verbessern. Und so betet er, daß wenn Paulus davon spricht, dann sagt er:
ihre Liebe noch vertieft werde: »Euch ›Mit den Engeln seiner Macht‹ (2. Thess
9)
aber mache der Herr reicher und über- 1,7).
strömend in der Liebe.« Ihre »Liebe« soll-
te ihre Mitgläubigen und alle Menschen III. Praktische Ermahnungen (4,1-5,22)
einschließlich ihrer Feinde umfassen.
Das Vorbild sollte die Liebe der Apostel A. Heiligung nach dem Willen Gottes
sein: »Wie auch wir gegen euch sind.« (4,1-8)
3,13 Dem Ergebnis der Liebe in die- 4,1 Das Wort »übrigens« bedeutet nicht,
sem Leben ist Untadeligkeit am näch- daß Paulus nun schon den Brief
sten. Wenn wir die Geschwister und alle schließen will. Es deutet häufig einen
Menschen lieben, dann werden wir Wechsel des Themas an, wie etwa den
»untadelig in Heiligkeit vor unserem Übergang zu praktischen Ermahnungen.
Gott und Vater« stehen, wenn der »Herr Drei wichtige Worte am Ende des 3.
Jesus mit allen seinen Heiligen« kommt, Kapitels waren Heiligung, Liebe und
denn Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes »Kommen«. Diese sind drei der Haupt-
(Röm 13,8; Jak 2,8). themen im vierten Kapitel: 1. Heiligung
Jemand hat dieses Gebet einmal so (V. 1-8), 2. Liebe (V. 9.10) und 3. Wieder-
ausgedrückt: »Der Herr ermögliche es kunft (V.13-18). Das letzte Hauptthema
euch, eurer Leben immer mehr für ande- ist Fleiß (V. 11.12).
re hinzugeben, damit er euren christli- Kapitel 4 beginnt mit der Bitte, gehei-
chen Charakter jetzt so festige, daß ihr ligt zu leben und damit Gott zu gefallen,
von jeder Anklage gerechtfertigt werden und schließt mit der Entrückung der
könnt, die man vielleicht gegen euch Gläubigen. Paulus dachte wahrschein-
erheben könnte …« lich an Henoch, als er dies schrieb. Man
In Kapitel 2 sahen wir, daß die Wie- beachte die Parallelen: 1. Henoch wan-
derkunft Christi verschiedene Stadien delte mit Gott (1. Mose 5,24a), 2. Henoch
oder Phasen hat: Einen Anfang, einen gefiel Gott (11,5b), 3. Henoch wurde ent-
Verlauf, eine Erscheinung und einen rückt (1. Mose 5,24b; Hebr 11,5a). Der
Höhepunkt. Auf die dritte Phase spielt Apostel empfiehlt die Gläubigen wegen
Vers 13 an: Die »Ankunft unseres Herrn ihrer praktischen Heiligung, doch er
Jesus mit allen seinen Heiligen«. Der ermahnt sie, neue Errungenschaften auf
Richterstuhl Christi wird schon im Him- diesem Gebiet zu machen. Heiligung ist
mel stattgefunden haben. Der Lohn wird ein Prozeß und nichts, das man ein für
ausgeteilt sein. Doch dieser Lohn wird allemal erlangen könnte.
erst dann offenbart, wenn der Heiland 4,2 Als er bei ihnen war, hatte Paulus
auf die Erde als König der Könige und die Thessalonicher wiederholt in der
Herr der Herren wiederkommt. Autorität des »Herrn Jesus« ermahnt,
»Heilige« sind hier wahrscheinlich daß sie Gott durch ein Leben praktischer
die Gläubigen, die bei der Entrückung in Heiligung gefallen möchten.
den Himmel hinaufgenommen werden 4,3 »Gottes Wille« für sein Volk ist sei-
(1. Thess 4,14). Einige sind der Ansicht, ne »Heiligung«. Etwas heiligen bedeutet,
daß es sich auf Engel bezieht, doch Vin- es zum göttlichen Gebrauch auszuson-
cent sagt, daß es sich auf das heilige und dern. In gewissem Sinne sind alle Gläu-
verherrlichte Volk Gottes bezieht. Er bigen für den Dienst des Herrn aus der
weist darauf hin, daß Engel mit diesem Welt ausgesondert worden. Das wird als
Brief nichts zu tun haben, doch daß ver- »geheiligte Stellung« bezeichnet. Sie ist
herrlichte Gläubige sehr eng mit dem vollkommen und vollendet (1. Kor 1,2;
Thema zusammenhängen, das die Thes- Hebr 10,10). Dennoch sollten sich die
salonicher betrübte. Er fügt hinzu: »Das Gläubigen auch selbst heiligen, d. h. sie
schließt nicht die Teilnahme von Engeln sollten sich von allen Formen der Sünde

1043
1. Thessalonicher 4

absondern, das wird als »praktische« Lust zu befriedigen. Für sie bedeutet
oder »fortschreitende Heiligung« be- Keuschheit Schwäche, und Ehe ist ein
zeichnet. Diese Heiligung ist ein Prozeß, Mittel, Sünde zu legalisieren. Durch ihre
der bis zur Wiederkunft des Herrn wei- schmutzigen Unterhaltungen und die
tergeht. In diesem Sinne ist das Wort obszönen Kritzeleien auf öffentlichen
»Heiligung« in Vers 3 verwendet. (Vgl. Wänden verherrlichen sie ihre Schande.
auch unten die Abhandlung über Heili- 4,6 Sexuelle Verfehlung ist eine Sünde
gung unter 5,23.) gegen den Heiligen Geist Gottes (1. Kor
Die besondere Sünde, vor der Paulus 6,19), sie ist eine Sünde gegen den eige-
warnt, ist ungesetzliche sexuelle Betäti- nen Leib (1. Kor 6,18), aber sie ist auch
gung, in diesem Abschnitt wahrschein- eine Sünde gegen andere Menschen.
lich mit Ehebruch gleichzusetzen. Sie ist Deshalb fügt Paulus hinzu: »Daß er sich
eine der Hauptsünden der heidnischen keine Übergriffe erlaube noch seinen
Welt. Die Ermahnung »daß ihr euch von Bruder in der Sache übervorteile.« Mit
der Unzucht fernhaltet« ist heute noch anderen Worten, ein Christ darf die
genauso nötig wie in der Gemeinde des Grenzen der Ehe nicht überschreiten und
ersten Jahrhunderts. einen »Bruder … übervorteilen«, indem
4,4 Das christliche Programm lautet: er die Zuneigung der Ehefrau dieses Bru-
»Daß jeder von euch sich sein eigenes ders stiehlt. Obwohl diese Sünden im all-
Gefäß in Heiligkeit und Ehrbarkeit zu gemeinen heutzutage nicht von Gerich-
gewinnen wisse.« Das Wort »Gefäß« kann ten bestraft werden, ist »der Herr Rächer
entweder »Ehefrau« oder aber den eige- … über dies alles«. Sexuelle Sünde bringt
nen Leib des Mannes bedeuten. Es wird eine schreckliche Ernte leiblicher und
für »Ehefrau« in 1. Petrus 3,7 benutzt und geistlicher Unordnung im diesseitigen
für den Leib in 2. Korinther 4,7. Leben, doch diese sind nichts verglichen
Die meisten deutschen Übersetzun- mit den ewigen Folgen, wenn die Sün-
gen (soweit sie nicht wörtlich überset- den nicht bekannt und vergeben werden.
zen), geben »Gefäß« mit »Ehefrau« wie- Paulus hatte den Thessalonichern dies
der, Bruns bietet jedoch beide Überset- »ernsthaft bezeugt«.
zungsmöglichkeiten als Alternative: Einer der begabtesten Schriftsteller
Ein jeder habe seine eigene Frau und lebe Großbritanniens im 19. Jahrhundert fiel
mit ihr in Heiligung und Ehren (andere in sexuelle Sünde und endete in Gefäng-
Übersetzung: »jeder von euch halte seinen nis und Entehrung. Er schrieb:
eigenen Leib rein in Heiligung und Zucht«)! Die Götter haben mir fast alles geschenkt,
Wenn wir den Kontext entscheiden doch ich ließ mich zu sinnloser und sinnli-
lassen, dann bedeutet »Gefäß« Ehefrau cher Bequemlichkeit verführen … Der Höhen
des Mannes. Hier wird gelehrt, daß jeder müde wanderte ich absichtlich in die Tiefe auf
Mann seine Frau ehrbar und ordentlich der Suche nach neuen Erlebnissen … Ich
behandeln soll und niemals irgendeine kümmerte mich nicht mehr um das Leben
Form ehelicher Untreue zulassen darf. anderer. Ich vergnügte mich wo es mir gefiel,
Damit wird die Monogamie als Gottes und ging dann weiter. Ich vergaß, daß jede
Wille für die Menschheit bestätigt (s. a. kleine Handlung des Alltags einen Charakter
1. Kor 7,2). bildet oder verdirbt, und daß deshalb das, was
4,5 Die christliche Sicht der Ehe steht man einmal in einer geheimen Kammer getan
im scharfen Kontrast zu der der Gottlo- hat, einmal laut von den Dächern gerufen
sen. Wie ein Kommentator sagte: »Als wird. Ich war nicht mehr Herr meiner selbst.
Jesus seine Hände auf die Frau in Lukas Ich war nicht mehr der Steuermann meiner
13,13 legte, wurde sie gerade. Wenn ein Seele und wußte es nicht. Ich erlaubte es dem
heidnischer Mann eine Frau berührt, Vergnügen, mich zu beherrschen. Schließlich
10)
dann wird sie verkrümmt.« endete ich in schrecklicher Entehrung.
»Die Nationen« sehen die Sexualität Er kümmerte sich nicht mehr um das
als ein Mittel an, die Leidenschaft der Leben anderer, oder, wie Paulus sagen

1044
1. Thessalonicher 4

würde, er sündigte gegen seinen »Bruder Indem er sie dafür lobte, hat Paulus die
in der Sache« und tat ihm Unrecht. Thessalonicher für immer im Gedächtnis
4,7 »Denn Gott hat uns nicht« auf der der Christenheit festgeschrieben.
Basis sittlicher »Unreinheit berufen«, 4,10 Wie schon erwähnt, ist brüderli-
sondern zu einem Leben der »Heili- che Liebe nichts, was man einmal er-
gung« und der Reinheit. Er hat uns aus reicht, sondern etwas, das ständig prakti-
dem Sündenpfuhl der Entehrung beru- ziert werden muß, und deshalb ermahnt
fen und hat in uns den lebenslangen Pro- Paulus die Gläubigen, in dieser Tugend
zeß begonnen, der uns immer mehr ihm »reichlicher zuzunehmen«. Warum ist
ähnlich macht. Liebe zu den »Brüdern« so wichtig? Weil
4,8 Jeder, der diese Anweisungen dort, wo Liebe ist, auch Einigkeit ist, und
»verwirft«, der verachtet nicht nur die wo Einigkeit ist, dort ist der Segen des
Lehre eines Menschen, etwa des Paulus, Herrn (Ps 133,1.3).
sondern er leugnet und mißachtet Gott
selbst, er lehnt ihn ab und setzt sich über C. Das Leben, das Außenstehende
ihn hinweg – ihn, »der« uns »seinen Hei- anspricht (4,11.12)
11)
ligen Geist gegeben hat« (LU1912). 4,11 Paulus ermutigt die Heiligen in drei
Das Wort »heilig« muß hier betont Dingen ihre »Ehre darein zu setzen«. In
werden. Wie kann jemand, in dem der heutigem Umgangsdeutsch würden die
»Heilige Geist« wohnt, sich der sexuellen drei Anweisungen dieses Verses lauten:
Sünde hingeben? 1. Versuche nicht, dich ins Rampenlicht
Man beachte, daß in diesem Ab- zu stellen. Sei zufrieden, »klein und
schnitt alle drei Glieder der Dreieinigkeit unscheinbar zu sein und von Chri-
erwähnt werden: Der Vater (V. 3), der stus allein geliebt und gelobt zu wer-
Sohn (V. 2) und der »Heilige Geist« (V. 8). den«.
Welch wunderbarer Gedanke! Alle drei 2. Kümmere dich um deine eigenen
Personen der Gottheit sind an der Heili- Angelegenheiten und mische dich
gung des Gläubigen interessiert und an nicht in die anderer Leute ein.
ihr beteiligt. 3. Sorge für deinen eigenen Unterhalt.
Das Thema wechselt nun von Lust (V. Sei kein »Schnorrer« oder Parasit, der
1-8) zu Liebe (V. 9-12), und die Ermah- andere ausnützt.
nung, sich zu enthalten, wechselt zur Er- 4,12 Die Tatsache, daß wir Christen
mahnung, sich fleißig zu üben. sind und auf Christi Wiederkunft war-
ten, befreit uns nicht von der praktischen
B. Die Liebe, die an andere denkt Verantwortung für unser Leben. Wir soll-
(4,9.10) ten uns daran erinnern, daß die Welt uns
4,9 Der Gläubige soll nicht nur seinen beobachtet. Menschen beurteilen un-
Leib unter Kontrolle halten, sondern soll- seren Heiland nach uns. Wir sollten
te auch ein liebevolles Herz für seine gegen die Ungläubigen »anständig wan-
Geschwister im Herrn haben. »Liebe« ist deln« und von ihnen finanziell unab-
das Schlüsselwort des Christentums, so hängig sein.
wie das Schlüsselwort des Heidentums
»Sünde« ist. D. Die Hoffnung, die die Gläubigen
Es war »nicht nötig«, den Thessaloni- tröstet (4,13-18)
chern etwas über diese Tugend zu schrei- 4,13 Die Gläubigen des AT hatten ein
ben. Sie waren »selbst von Gott« in der unzureichendes und unvollständiges
Bruderliebe »gelehrt«, sowohl durch Wissen über das, was einem Menschen
göttlichen Instinkt (1. Joh 2,20.27) als nach dem Tod passiert. Für sie war scheol
auch durch die Unterweisung christlicher ein Wort, das immer benutzt wurde, um
Lehrer. Die Gläubigen in Thessalonich den leblosen Zustand zu beschreiben,
waren insofern besonders, als sie alle und zwar sowohl den der Gläubigen als
Christen in ganz Mazedonien liebten. auch den der Ungläubigen.

1045
1. Thessalonicher 4

Sie glaubten, daß jeder einmal ster- Schlaf ist ein uns sehr nahes Bild, da wir
ben würde, und daß am Ende der Welt jede Nacht in diesem Symbol des Todes
eine allgemeine Auferstehung und ein verbringen, und jeder Morgen wie eine
Endgericht stattfinden würden. Martha Auferstehung ist.
zeigte diese skizzenhaften Vorstellun- Die Bibel lehrt nicht, daß die Seele
gen, als sie sagte: »Ich weiß, daß er aufer- nach dem Tode schläft. Der reiche Mann
stehen wird in der Auferstehung am letz- und Lazarus waren im Totenreich beide
ten Tag« (Joh 11,24). bei Bewußtsein (Lk 16,19-31). Wenn der
Der Herr Jesus brachte »Leben und Gläubige stirbt, dann ist er »einheimisch
Unvergänglichkeit ans Licht durch das beim Herrn« (2. Kor 5,8). Sterben bedeu-
Evangelium« (2. Tim 1,10). Heute wissen tet »bei Christus« zu sein, eine Stellung,
wir, daß der Gläubige zur Zeit seines die Paulus als »Gewinn« und »weit bes-
Todes weggeht, um bei Christus zu sein ser« bezeichnet (Phil 1,21.23). Das wäre
(2. Kor 5,8; Phil 1,21.23). Vom Ungläubi- kaum wahr, wenn die Seele schlafen
gen heißt es, daß er sich im hades befinde würde!
(Lk 16,22.23). Wir wissen, daß nicht alle Auch lehrt die Bibel keine Vernich-
Gläubigen sterben werden, daß aber alle tung. Das Wesen des Menschen hört
einst verwandelt werden (1. Kor 15,51). nicht irgendwann nach dem Tode auf.
Wir wissen, daß es mehr als eine Aufer- Der Gläubige genießt ewiges Leben
stehung geben wird. Bei der Entrückung (Mk 10,30). Der Ungläubige erleidet ewi-
werden die Gläubigen auferweckt ge Strafe (Mk 9,48; Offb 14,11).
(1. Kor 15,23; 1. Thess 4,16); die in Sün- Bezüglich der Heiligen, die gestorben
den gestorbenen Menschen werden sind, sagt der Apostel, daß man nicht
gegen Ende des Tausendjährigen Reiches hoffnungslos trauern braucht. Er will die
Christi auferweckt (Offb 20,5). Trauer nicht verbieten, denn Jesus wein-
Als Paulus zum ersten Mal nach te am Grab des Lazarus, obwohl er wuß-
Thessalonich kam, belehrte er die Chri- te, daß er ihn schon in wenigen Minuten
sten über die Wiederkunft Christi zur auferwecken würde (Joh 11,35-44). Doch
Herrschaft und die darauffolgenden er möchte keine verzweifelte Trauer
Ereignisse. Doch in der Zwischenzeit derer, die keine Hoffnung auf den Him-
hatten sich Fragen bezüglich der Heili- mel, eine Wiedervereinigung oder nur
gen ergeben, die gestorben sind. Würden noch auf das Gericht haben.
ihre Leiber bis zum letzten Tag in den Der Ausdruck »die übrigen, die keine
Gräbern bleiben? Wären sie von der Hoffnung haben« erinnert mich immer
Anteilnahme am Kommen Christi und an eine Beerdigung, an der ich teilnahm,
seinem herrlichen Reich ausgeschlossen? wo sich die Verwandten um den Sarg
Um ihre Fragen zu beantworten und ihre drängten und immer wieder untröstlich
Furcht zu beruhigen, beschreibt Paulus klagten: »O, Marie, mein Gott, mein Gott,
nun die Reihenfolge der Vorgänge zur Marie.« Das war eine unvergeßliche Sze-
Zeit des Kommens Christi für sein Volk. ne von untröstlicher Hoffnungslosigkeit.
Die Formel »wir wollen euch aber, 4,14 Die Grundlage der Hoffnung des
Brüder, nicht in Unkenntnis lassen« wird Gläubigen ist die Auferstehung Christi.
benutzt, um die Leser auf eine wichtige Genauso sicher, wie »wir glauben, daß
Ankündigung aufmerksam zu machen. Jesus gestorben und auferstanden ist«, so
Hier geht es um eine Ankündigung können wir glauben, daß diejenigen, die
»über die Entschlafenen«, d. h. über die in Jesus entschlafen, auferweckt werden
Gläubigen, die gestorben sind. Schlaf wird und an seinem Kommen teilhaben.
hier benutzt, um den Leib von gestorbe- »Denn wie in Adam alle sterben, so wer-
nen Christen zu beschreiben, niemals den auch in Christus alle lebendig
ihren Geist oder ihre Seele. Schlaf ist ein gemacht werden« (1. Kor 15,22). Seine
geeignetes Gleichnis des Todes, weil der Auferstehung ist das Pfand und der
Mensch im Tod scheinbar schläft. Und Beweis für unsere Auferstehung.

1046
1. Thessalonicher 4

Man beachte den Ausdruck »die Ent- stus wiederkehrt, keinen Vorteil oder
schlafenen durch Jesus« oder »Entschla- Vorrang vor den schlafenden Heiligen
fenen in Jesus«. Unser Wissen, daß es nur haben.
der Liebste unserer Seele ist, der die Lei- In diesem Vers spricht Paulus von
ber seiner Geliebten schlafen läßt, raubt sich selbst als einem, der bei der »An-
dem Tod seinen Schrecken. kunft« Christi ein »Lebender« sein wür-
Wir können ganz sicher sein, daß die- de (s. a. 1. Kor 15,51.52). Doch in 2. Ko-
jenigen, die in Christus gestorben sind, rinther 4,14 und 5,1 spricht er von der
von »Gott ebenso … mit ihm gebracht« Möglichkeit, daß er unter denen sein
werden. Das kann man auf zweierlei wird, die auferweckt werden. Die offen-
Weise verstehen: sichtliche Schlußfolgerung lautet, daß
1. Es könnte bedeuten, daß Gott zum wir den Herrn jederzeit erwarten sollen,
Zeitpunkt der Entrückung die Leiber jedoch auch erkennen müssen, daß wir
der Gläubigen auferweckt und sie auch berufen sein könnten, den Himmel
mit dem Herrn Jesus zurück in den durch den Tod hindurch zu erreichen.
Himmel bringt. 4,16 Die genaue Reihenfolge der Vor-
2. Oder es könnte heißen, daß, wenn gänge der Wiederkunft Christi für seine
Christus auf die Erde kommt, um zu Heiligen wird nun aufgeführt. »Denn der
regieren, Gott diejenigen mit Christus Herr selbst wird … herabkommen vom
zurückbringen wird, die im Glauben Himmel.« Er wird uns keinen Engel sen-
gestorben sind. Mit anderen Worten, den, sondern er wird »selbst« kommen!
der Apostel will sagen: »Macht euch Er wird »beim Befehlsruf, bei der
keine Sorgen darum, daß die Gestor- Stimme eines Erzengels und bei dem
benen die Herrlichkeit des kommen- Schall der Posaune Gottes« kommen.
den Reiches verpassen werden. Gott Verschiedene Erklärungen sind zur Be-
wird sie mit Jesus zurückbringen, deutung dieser Klänge gegeben worden,
wenn er in Kraft und großer Herrlich- doch es ist ehrlich gesagt fast ausge-
keit zurückkehrt.« (Das ist die Bedeu- schlossen, darüber eine abschließende
tung, die allgemein bevorzugt wird.) Aussage zu machen:
Doch wie kann das sein? Ihre Leiber 1. Einige sind der Ansicht, daß der
liegen nun im Grab. Wie können sie mit »Befehlsruf« von dem Herrn Jesus
Jesus wiederkommen? Die Antwort dar- selbst ausgeht, mit dem er die Toten
auf wird in den Versen 15-17 gegeben. auferweckt (Joh 5,25; 11,43.44) und
Bevor Christus kommt, um sein Reich die Lebenden verwandelt. Andere
aufzurichten, wird er wiederkommen, wie Hogg und Vine sagen, daß der
um sein Volk zu sich in den Himmel »Befehlsruf« die Stimme des Erzen-
heimzuholen. Später dann wird er mit gels sei.
ihnen auf die Erde zurückkehren. 2. Die »Stimme« des »Erzengels« Mich-
4,15 Woher wußte Paulus dies nun? ael wird allgemein als Sammlungsruf
Seine Antwort lautet: »Denn dies sagen für die Heiligen des AT verstanden,
wir euch in einem Wort des Herrn.« Er weil dieser Erzengel eng mit Israel
empfing dies als direkte Offenbarung vom verbunden ist (Dan 12,1; Judas 9;
»Herrn«. Wir erfahren nicht, wie er diese Offb 12,4-7). Andere sind der An-
Offenbarung empfangen hat – ob durch sicht, daß sein Zweck ist, Israel als
eine Vision, eine hörbare Stimme oder Nation wiedererstehen zu lassen.
einen inneren Eindruck, den ihm der Und wieder andere sind der Ansicht,
Heilige Geist vermittelt hat. Doch han- daß die »Stimme eines Erzengels« die
delt es sich um eine Wahrheit, die den Engel als Militäreskorte zusammen-
Menschen vor dieser Zeit nicht bekannt ruft, um den Herrn und seine Heili-
war. gen durch das Feindesland zurück in
Dann fährt Paulus fort zu erklären, den Himmel zu begleiten (vgl.
daß die lebendigen Heiligen, wenn Chri- Lk 16,22).

1047
1. Thessalonicher 4

3. Die »Posaune Gottes« ist dieselbe wie lus in 2. Korinther 12,2.4 und für den
die »letzte Posaune« in 1. Korinther Knaben in Offenbarung 12,5.
15,52, die mit der Auferstehung der »Die Luft« ist der Herrschaftsbereich
Gläubigen zum Zeitpunkt der Ent- Satans (Eph 2,2), deshalb ist dies eine
rückung zu tun hat. Sie beruft die siegreiche Versammlung in offener Miß-
Heiligen zum ewigen Leben. Sie darf achtung des Teufels in seinem eigenen
nicht mit der siebten Posaune aus Reich.
Offenbarung 11,15-18 verwechselt Man bedenke, was alles in diesen Ver-
werden, die das Signal zur endgülti- sen enthalten ist! Die Erde und das Meer
gen Ausgießung des Gerichtes über werden den Staub aller Toten in Christus
die Welt während der Drangsal gibt. hergeben. Dann stelle man sich das Wun-
Die letzte »Posaune« hier ist die letzte der vor, durch das dieser Staub zu den
für die Gemeinde. Die siebte Posaune verherrlichten Leibern geformt wird, die
der Offenbarung ist die letzte für die in Ewigkeit frei von Krankheit, Schmerz
ungläubige Welt (obwohl sie niemals und Tod sein werden. Dann der Raum-
ausdrücklich »letzte Posaune« ge- flug in den Himmel. Und all das wird in
nannt wird). einem Augenblick geschehen (1. Kor
Die Leiber der »Toten in Christus 15,52).
werden zuerst auferstehen«. Es ist frag- Die Menschen dieser Welt haben
lich, ob dies die Heiligen des AT mit Schwierigkeiten, den Bericht von der
umfaßt. Diejenigen, die diese Ansicht Schöpfung des Menschen in 1. Mose 1
vertreten, weisen darauf hin, daß man und 2 zu glauben. Wenn sie Schwierig-
die Stimme des Erzengels zu diesem keiten mit der Schöpfung haben, was
Zeitpunkt hören werde, und daß er eng werden sie dann von der Entrückung
mit dem Schicksal Israels verbunden ist denken – wenn Gott Millionen von Men-
(Dan 12,1). Diejenigen, die denken, daß schen aus dem Staub wiedererstehen
die Heiligen des AT nicht bei der Ent- läßt, der begraben, verstreut oder an den
rückung auferweckt werden, erinnern Stränden dieser Welt verteilt wurde?
uns daran, daß der Ausdruck »in Chri- Die Weltmenschen sind begeistert
stus« (»die Toten in Christus«) niemals von der Raumfahrt. Doch können ihre
auf Gläubige angewendet wird, die vor größten Errungenschaften mit dem
dem Zeitalter der Gemeinde lebten; diese Wunder verglichen werden, in dem
Gläubigen werden wahrscheinlich gegen Bruchteil einer Sekunde in den Himmel
Ende der Drangsalszeit auferweckt wer- zu reisen, ohne unsere eigene Atmosphä-
den (Dan 12,2). Jedenfalls ist es ein- re mitnehmen zu müssen, wie die Raum-
deutig, daß es sich hier nicht um eine all- fahrer es tun müssen, wenn sie nur klei-
gemeine Auferstehung handelt. Nicht ne Hüpfer in den Raum unternehmen
alle Toten werden zu diesem Zeitpunkt wollen?
auferweckt, sondern nur »die Toten in Im Zusammenhang mit dem Kom-
Christus«. men Christi gibt es einen Klang zu hören,
4,17 Dann werden »die Lebenden … eine Ansicht zu sehen, ein Wunder zu
zugleich mit ihnen entrückt werden in fühlen, eine Zusammenkunft zu genie-
Wolken dem Herrn entgegen in die ßen und einen Trost zu erfahren.
Luft«. Das Wort Entrückung, das wir Es ist auch gut, die Verwendung des
benutzen, um die erste Phase der Wie- Wortes »Herr« in diesen Versen zu
derkunft des Herrn zu beschreiben, ist beachten: Das Wort des Herrn (V. 15), die
von dem Verb abgeleitet, das hier ver- Ankunft des Herrn (V. 15), der Herr selbst
wendet wird, das soviel wie »hinaufge- (V. 16), dem Herrn entgegen (V. 17), alle-
holt« heißt. Eine Entrückung ist ein zeit beim Herrn sein (V. 17).
»Hinwegnehmen« oder »hinaufneh- »Allezeit beim Herrn!« Wer kann alle
men«. Das Wort wird für Philippus in Freude und Segnung beschreiben, die
Apostelgeschichte 8,39 benutzt, von Pau- mit diesen Worten verbunden sind?

1048
1. Thessalonicher 4

4,18 »So ermuntert nun einander mit sich in diesem Augenblick über große
diesen Worten.« Gedanken an das Kom- Gebiete der Erde.
men des Herrn lassen den Gläubigen 6. Der drastische Verfall der Sitten
nicht erschrecken. Sie sind eine Hoffnung, (2. Tim 3,1-5). Man braucht nur einen
die uns erregt, aufmuntert und tröstet. Blick in die Tagespresse zu werfen,
um Beweise genug dafür zu finden.
7. Gewalt und öffentlicher Ungehorsam
Exkurs zu den Anzeichen der letzten (2. Thess 2,7.8). Ein Geist der Gesetz-
Tage losigkeit herrscht im Familienleben,
Es gibt viele Anzeichen, daß die Ent- im Leben der Nationen und sogar in
rückung nahe ist. Wir betrachten das fol- den Kirchen.
gende als Anzeichen: 8. Menschen mit äußerer Frömmigkeit,
1. Die Gründung des Staates Israel im die die göttliche Kraft aber verleug-
Jahr 1948 (Lk 21,29). Der Feigenbaum nen (2. Tim 3,5).
treibt, d. h. er treibt Blätter (Lk 21,29- 9. Das Aufkommen eines antichristli-
31). Zum ersten Mal seit fast zwei chen Geistes (1. Joh 2,18), der sich in
Jahrtausenden haben die Juden einen der Vermehrung von Sekten zeigt, die
eigenen Nationalstaat. Das bedeutet, vorgeben Christen zu sein, aber jede
daß das Reich Gottes nahe ist. grundlegende Lehre des Glaubens
2. Das Aufkommen vieler anderer leugnen. Sie verführen durch Nach-
Nationen (Lk 21,29). Jesus sagte vor- ahmung (2. Tim 3,8).
aus, daß nicht nur der Feigenbaum 10. Die Tendenz, daß sich Nationen
austreiben würde, sondern auch die zusammenschließen, die dem Zu-
anderen Bäume. Wir haben erst kürz- sammenschluß der letzten Tage glei-
lich den Zusammenbruch kolonialer chen. Der gemeinsame Markt der
Mächte erlebt und das Aufkommen Europäischen Union, der auf den
neuer Nationen. Wir steuern auf eine römischen Verträgen basiert, könnte
Zeit neuen Nationalismus zu. zu einer Wiederbelebung des Römi-
3. Die Wiederkehr Israels in das Land schen Reiches führen – den 10 Zehen
des Unglaubens (Hes 36,24.25). Hese- aus Eisen und Ton (Dan 2,32-35).
kiel prophezeite, daß sie nach ihrer 11. Leugnung des künftigen Eingreifens
Rückkehr von ihren Sünden gereinigt Gottes in die Angelegenheiten der
würden. Israel ist heute größtenteils Welt durch sein Gericht (2. Petr 3,3.4).
ein agnostisches Volk, nur ein kleiner, Zu diesen könnte man noch Anzei-
doch recht stimmgewaltiger Teil des chen wie die sich häufenden Erdbeben in
Volkes ist orthodox. vielen Ländern hinzuzählen, oder die
4. Die ökumenische Bewegung Drohung einer weltweiten Hungerkata-
(Offb 17,18). Wir verstehen unter strophe, und die wachsende Feindschaft
Babylon, der großen Stadt, ein riesi- unter den Nationen (Matth 24,6.7). Das
ges religiöses, politisches und kom- Versagen der Regierungen bei der Auf-
merzielles System, das aus abgefalle- rechterhaltung von Recht und Ordnung
nen religiösen Autoritäten besteht, und der Verhinderung des Terrorismus
die vorgeben Christen zu sein und schafft ein Klima, das für einen Weltdik-
vielleicht den abgefallenen Katholi- tator wie geschaffen ist. Das Aufhäufen
zismus mit dem abgefallenen Prote- nuklearer Waffenarsenale gibt solchen
stantismus vereinigen werden. Das Fragen wie etwa: »Und wer kann mit
Christentum wird immer mehr Irr- ihm (dem Tier) kämpfen?« (Offb 13,4)
lehren anhängen (1. Tim 4,1; 2. Thess erst Bedeutung. Die weltweite Verbrei-
2,3) und sich zu einer riesigen Welt- tung des Fernsehens könnte das Mittel
kirche entwickeln. sein, um die Schrift zu erfüllen, die Ereig-
5. Die weltweite Ausbreitung des Spiri- nisse beschreibt, die auf der ganzen Welt
tismus (1. Tim 4,1-3). Er verbreitet gesehen werden können (Offb 1,7).

1049
1. Thessalonicher 4 und 5

Die meisten dieser Ereignisse werden aufgenommen werden ehe diese Epoche
nach den Prophezeiungen vor der Wie- beginnt.
derkunft Christi als Herrscher auf der Zweitens sind »die Zeiten und Zeit-
Erde geschehen. Die Bibel sagt nicht, daß punkte« und der Tag des Herrn Themen,
sie vor der Entrückung stattfinden, aber die vom AT behandelt werden. Die Ent-
vor seinem Erscheinen in Herrlichkeit. rückung ist ein Geheimnis (1. Kor 15,51),
Wenn das so ist, und wenn wir diese das erst zur Zeit der Apostel enthüllt
Trends sich schon entwickeln sehen, wurde.
dann ist die offensichtliche Schlußfolge- 5,2 Die Heiligen wußten schon etwas
rung, daß die Entrückung nahe bevorste- über den »Tag des Herrn«. Sie wußten,
hen muß. daß die genaue Zeit unbekannt ist, und
daß er kommen wird, wenn man es am
wenigsten erwartet. Was meint Paulus
E. Der Tag des Herrn (5,1-11) mit »Tag des Herrn«? Es geht sicherlich
5,1 Bibellehrer entschuldigen sich oft für nicht um einen 24-Stunden-Tag, sondern
die Kapiteleinteilung und erklären, daß einen Zeitraum mit bestimmten Merk-
das Thema ohne Unterbrechung weiter- malen.
geht. Doch hier ist das neue Kapitel ange- Im AT wurde dieser Ausdruck
bracht. Paulus beginnt hier mit einem benutzt, um jede Zeit des Gerichts, der
neuen Thema. Er verläßt seine Ausfüh- Finsternis und der Verwüstung zu
rungen über die Entrückung und wendet beschreiben (Jes 2,12; 13,9-16; Joel 2,1.2).
sich dem Tag des Herrn zu. Die Worte, Es ging um die Zeit, wenn Gott gegen die
die mit »was aber … betrifft« übersetzt Feinde Israels auszog und sie bestrafte
werden (gr. peri de), deuten einen neuen (Zeph 3,8-12; Joel 3,14-16; Ob 15-17; Sach
Gedanken an, wie auch oft im 1. Ko- 12,8.9). Doch wurde damit auch jedes
rintherbrief. Gericht Gottes über sein eigenes Volk
Für echte Gläubige ist die Ent- wegen Abgötterei und Abfall bezeichnet
rückung eine tröstende Hoffnung, doch (Joel 1,15-20; Amos 5,18; Zeph 1,7-18). Im
was wird sie für diejenigen bedeuten, Wesentlichen wurde der Ausdruck für
die nicht in Christus sind? Es wird den Gericht über die Sünde, für den Sieg der
Beginn eines Zeitalters bedeuten, das Anliegen des Herrn (Joel 2,31.32) und für
hier »Zeiten und Zeitpunkte« genannt unzählige Segnungen für sein treues
wird. Dieser Abschnitt hat in erster Volk benutzt.
Linie jüdischen Charakter. Während In der Zukunft wird der »Tag des
dieser Zeit wird Gott sein Handeln mit Herrn« etwa dieselbe Zeitspanne umfas-
dem Volk Israel wieder aufnehmen, und sen wie »die Zeiten und Zeitpunkte«. Er
die endzeitlichen Ereignisse, die die wird nach der Entrückung beginnen und
ATlichen Propheten vorausgesagt folgendes beinhalten:
haben, werden stattfinden. Als die Apo- 1. Die Große Trübsal, d. h. die Zeit der
stel Jesus fragten, wann er sein Reich Bedrängnis Jakobs (Dan 9,27; Jer 30,7;
errichten werden, antwortete er, daß es Matth 24,4-28; 2. Thess 2,2; Offb 6,1-
ihnen nicht zukäme, »Zeiten oder Zeit- 19,16).
punkte« zu kennen (Apg 1,7). Es 2. Das Kommen Christi mit seinen Hei-
scheint, daß »Zeiten und Zeitpunkte« ligen (Mal 3,19-21; 2. Thess 1,7-9).
sowohl die Zeit vor der Errichtung des 3. Die tausendjährige Regierung Christi
Reiches als auch das Reich selbst auf der Erde (Joel 3,18 [vgl. V. 14];
bezeichnen. Sach 14,8.9 [vgl. V. 1]).
Paulus hielt es für »nicht nötig«, den 4. Die endgültige Zerstörung von Him-
Thessalonichern über »die Zeiten und mel und Erde im Feuer (2. Petr
Zeitpunkte« zu schreiben. Einmal wür- 3,7.10).
den die Gläubigen davon nicht betroffen »Der Tag des Herrn« ist die Zeit, zu
sein, denn sie würden in den Himmel der Jahwe sich öffentlich in die mensch-

1050
1. Thessalonicher 5

lichen Angelegenheiten einmischen Gläubigen zwar ergriffen werden, jedoch


wird. Sie wird im Zeichen des Gerichtes nicht wie von einem Dieb. Doch das
über die Feinde Israels und über den stimmt nicht. Sie werden überhaupt nicht
abgefallenen Teil des Volkes Israels, der ergriffen, weil dann, wenn der Dieb in
Befreiung seines Volkes, der Errichtung die Nacht dieser Welt kommt, die Heili-
des Reiches Christi in Frieden und des gen schon im ewigen Licht weilen wer-
Reichtums und der Herrlichkeit für ihn den.
selbst stehen. 5,5 Alle Christen sind »Söhne des
Der Apostel erinnert seine Leser dar- Lichtes und Söhne des Tages«. Sie »ge-
an, daß der »Tag des Herrn … wie ein hören nicht der Nacht noch der Finster-
Dieb in der Nacht« kommen wird. Er nis«. Diese Tatsache nimmt sie vom Ge-
wird völlig unerwartet kommen und die richt Gottes aus, das er über die Welt aus-
Menschen überraschen. Die Welt wird gießen wird, die seinen Sohn abgelehnt
gänzlich unvorbereitet sein. hat. Das Gericht des Tages des Herrn
5,3 Dieser Tag wird auch trügerisch, zielt nur auf diejenigen, die in mora-
plötzlich, zerstörerisch und unausweich- lischer Finsternis und geistlicher Nacht
lich kommen, so daß niemand entfliehen leben, auf die von Gott Entfremdeten.
kann. Wenn es hier heißt, daß Christen
Zu dieser Zeit wird ein Klima des »Söhne des Tages« sind, dann geht es
Selbstvertrauens und der Sicherheit auf nicht um den Tag des Herrn. »Söhne des
der Welt herrschen. Dann wird Gottes Tages« sein bedeutet, zum Reich des
Gericht plötzlich herabkommen mit Guten zu gehören. Der Tag des Herrn ist
ungeheuer zerstörerischer Kraft. »Ver- eine Zeit des Gerichtes über diejenigen,
derben« bedeutet nicht, daß die Men- die zum Reich des Bösen gehören.
schen nicht mehr sind oder vernichtet 5,6 Die nächsten drei Verse rufen die
würden, sondern den Verlust des Wohl- Gläubigen zu einem Leben auf, das zu
ergehens oder Ruin der Existenz erlei- ihrer erhöhten Stellung paßt. Das bedeu-
den. Das Verderben wird so unausweich- tet Wachsamkeit und Nüchternheit. Wir
lich »wie die Geburtswehen« für eine sollen gegenüber der Versuchung, der
»Schwangere« sein. Die Ungläubigen Faulheit, der Lethargie und der Ablen-
können diesem Gericht nicht entfliehen. kung wachsam sein. Und wir sollen
5,4 Es ist wichtig, den Wechsel des wachsam die Wiederkunft des Heilandes
Pronomens von »sie« in den vorherge- erwarten.
henden Versen zu »ihr« in den folgenden Nüchternheit bedeutet hier nicht nur,
Versen zu betrachten. »nüchtern« zu reden und ganz allgemein
Der Tag des Herrn wird eine Zeit des nüchtern zu denken, sondern auch, mit
Zornes über die unerrettete Welt bedeu- Essen und Trinken mäßig zu sein.
ten. Doch was wird er für uns bedeuten? 5,7 Im natürlichen Bereich ist der
Die Antwort lautet, daß wir nicht in Schlaf mit der »Nacht« verbunden. So ist
Gefahr schweben, weil wir »nicht in Fin- es auch im geistlichen Bereich, wo sorg-
sternis« sind. lose Gleichgültigkeit die Söhne der Fin-
»Der Tag« wird wie ein Dieb in der sternis bestimmt, d. h. die Unbekehrten.
Nacht kommen (V. 2). Die einzige Art, Die Menschen betrinken sich bevor-
wie er jemanden »ergreifen« wird, ist zugt »bei Nacht«, sie lieben die Finsternis
»wie ein Dieb«, und die einzigen Perso- mehr als das Licht, weil ihre Werke böse
nen die »ergriffen« werden, sind diejeni- sind (Joh 3,19). Schon die Bezeichnung
gen, die in der Nacht leben, d. h. die »Nachtclub« verbindet die Vorstellung
Unbekehrten. Er wird keinen Gläubigen von Trinken und Gelagen mit der Fin-
»ergreifen«, weil sie »nicht in Finsternis« sternis der Nacht.
sind. 5,8 Diejenigen, »die dem Tag ge-
Beim ersten Lesen mag es so schei- hören«, sollten im Licht wandeln, wie er
nen, daß dieser Vers aussagt, daß die Licht ist (1. Joh 1,7). Das bedeutet, Sünde

1051
1. Thessalonicher 5

im eigenen Leben zu richten und zu las- wird, sondern zum »Heil« im vollsten
sen, und Exzesse jeder Art zu meiden. Es Sinne des Wortes – der Freiheit von jegli-
bedeutet auch, die geistliche Waffenrü- cher Anwesenheit von Sünde.
stung anzuziehen und anzubehalten. Die Einige verstehen »Zorn« hier als die
Waffenrüstung besteht aus »dem Brust- Strafe, die die Ungläubigen in der Hölle
panzer des Glaubens« und dem »Helm« erdulden müssen. Natürlich ist es wahr,
der »Hoffnung des Heils«. Mit anderen daß Gott uns dazu nicht bestimmt hat,
Worten, die Waffenrüstung besteht aus doch ist es überflüssig, diesen Gedanken
»Glaube«, »Liebe« und »Hoffnung« – hier einzuführen. Paulus spricht nicht
den drei Kardinaltugenden des Christen. von der Hölle, sondern von den zukünf-
Es ist nicht notwendig, hier Details über tigen Ereignissen auf der Erde. Der Kon-
den »Brustpanzer« und den »Helm« aus- text spricht vom Tag des Herrn – der
zuführen. Der Apostel sagt ganz einfach, schlimmsten Zeit des Zorns in der
daß Söhne des Lichts die Schutzkleidung Geschichte des Menschen auf Erden
eines konsequenten und gottesfürchti- (Matth 24,21). Wir haben keine Verabre-
gen Lebens tragen sollen. Was beschirmt dung mit dem Richter, sondern mit dem
uns vor der Zerstörung, die in der Welt Erlöser.
durch Lust entsteht? »Glaube« oder Einige sagen, daß die große Trübsal
Abhängigkeit von Gott, »Liebe« zum die Zeit des Zornes Satans ist
Herrn und füreinander und die »Hoff- (Offb 12,12), nicht die des Zornes Gottes.
nung« auf die Wiederkunft Christi. Sie sagen, daß die Gemeinde den Zorn
Wichtige Gegensätze in Kapitel 5 Satans zu spüren bekommt, doch durch
Ungläubige Gläubige den Zorn Gottes bei der Wiederkunft
Christi davon befreit wird. Doch die fol-
(»sie«) (»ihr«) genden Verse sprechen vom Zorn Gottes
schlafen wachen und des Lammes, und ihre Zeit ist
betrunken nüchtern während der großen Trübsal: Offenba-
in Finsternis im Licht rung 6,16.17; 14,9.10.19; 15,1.7; 16,1.19.
von der Nacht Söhne des Lichtes 5,10 Dieser Vers betont den großen
und der Finsternis und Söhne des Preis, den unser Herr Jesus Christus
Tages gezahlt hat, um uns von dem Zorn zu
erlösen und unser Heil zu erwerben. Er
werden unerwartet werden nicht ist »für uns gestorben, … damit wir, ob
ergriffen von dem unerwartet wir wachen oder schlafen, zusammen
Tag des Herrn wie ergriffen von dem mit ihm leben«.
ein Dieb in der Tag des Herrn wie Es gibt zwei Arten, den Ausdruck
Nacht ein Dieb in der »ob wir wachen oder schlafen« zu verste-
Nacht hen. Einige Ausleger verstehen darunter
plötzliches und nicht zum Zorn, »leben oder tot sein« zum Zeitpunkt der
unausweichliches sondern zur Entrückung. Sie weisen darauf hin, daß
Verderben, wie die Erlösung bestimmt es zwei Klassen von Gläubigen geben
Geburtswehen einer wird – diejenigen, die in Christus gestor-
Schwangeren ben sind, und diejenigen, die noch leben.
5,9 Die Entrückung hat zwei Aspekte, Deshalb wäre der Gedanke ihrer Mei-
nämlich das »Heil« und den »Zorn«. Für nung nach, daß es gleichgültig ist, ob wir
den Gläubigen bedeutet sie Vervollstän- bei der Wiederkunft Christi tot sind oder
digung seines »Heils« im Himmel. Für noch leben, wir werden »zusammen mit
den Ungläubigen ist sie der Beginn einer ihm leben«. Christen, die sterben, ver-
Zeit des Zorns auf der Erde. passen nichts. Der Herr erklärte das
Weil wir des Tages sind, »hat Gott uns Martha: »Ich bin die Auferstehung und
nicht zum Zorn bestimmt«, den er das Leben; wer an mich glaubt, wird
während der großen Trübsal ausgießen leben [d. h. er wird von den Toten aufer-

1052
1. Thessalonicher 5

weckt], auch wenn er gestorben ist [d. h. und bei anderen schmarotzten. Und
ein Christ, der vor der Entrückung zweifellos haben diese Drohnen sich die-
stirbt]; und jeder, der da lebt und an mich se Ermahnung nicht zu Herzen genom-
glaubt [d. h. ein Gläubiger, der zur Zeit men! Das könnte eine Erklärung für die-
der Entrückung noch lebt], wird nicht se Ermahnung an die Führer und die
sterben in Ewigkeit« (Joh 11,25.26). Geführten sein.
Die andere Auffassung, die von Aus- Wenn Paulus die Heiligen ermahnt,
legern vertreten wird, lautet, daß die anzuerkennen, »die unter« ihnen
»wachen oder schlafen« bedeutet »arbeiten«, dann meint er, daß sie ihre
»wachend oder weltlich gesinnt«. Mit geistlichen Führer respektieren und
anderen Worten, Paulus sagte, ob wir ihnen gehorchen sollen. Das wird aus
geistlich aufmerksam oder fleischlich den Worten deutlich »die … euch vorste-
gleichgültig gegenüber dem Geistlichen hen im Herrn und euch zurechtweisen«
sind, wir werden hinaufgenommen, um deutlich. Die Ältesten sind die Unterhir-
dem Herrn zu begegnen. Unsere ewige ten über Gottes Herde. Sie haben die Ver-
Errettung hängt nicht davon ab, wie antwortung, zu lehren, zu korrigieren
unsere geistliche Verfassung gegen Ende und zu warnen.
unseres Aufenthaltes hier auf Erden ist. Dieser Vers ist einer der vielen im NT,
Wenn wir wirklich bekehrt sind, dann der beweist, daß es keine Ein-Mann-
werden wir »zusammen mit ihm leben«, Führung in den apostolischen Gemein-
wenn er wiederkommt, ob wir ihn nun den gab. Es gab in jeder Gemeinde eine
gespannt erwarten oder ob wir schlum- Gruppe von Ältesten, die die örtliche
mern. Unsere geistliche Verfassung wird Herde hüteten. Wie Denney erklärt:
unseren Lohn bestimmen, doch unsere In Thessalonich gab es keinen einzelnen
Erlösung hängt nur vom Glauben an Pastor in unserem Sinne, der in gewissem
Christus ab. Maße eine ausschließliche Verantwortung
Diejenigen, die die zweite Ansicht trug; sondern die Vorsteherschaft in der
13)
vertreten, weisen darauf hin, daß für das Gemeinde lag immer bei vielen Männern.
Wort »wachen« dasselbe Wort wie in Doch die Tatsache, daß es keine Ein-
Vers 6 verwendet wird. Und das Wort Mann-Führung gab, rechtfertigt noch
»Schlaf« wird in den Versen 6 und 7 nicht die Jedermann-Führung. Eine Ge-
benutzt, um »Interesselosigkeit an Geist- meinde sollte keine Demokratie, sondern
lichem und Gleichförmigkeit mit der eine Aristokratie sein, wo die, die am
Welt« zu bezeichnen (Vine). Doch es ist besten geeignet sind, herrschen.
nicht dasselbe Wort, das in 4,13-15 für 5,13 Älteste dienen als Stellvertreter
12)
den Tod verwendet wird. des Herrn. Ihr Werk ist das Werk Gottes.
5,11 Angesichts einer so großen Erlö- Aus diesem Grund sollten sie geehrt und
14)
sung, eines so liebevollen Erretters und geliebt werden. Die Ermahnung »haltet
im Licht seiner baldigen Wiederkehr soll- Frieden untereinander« ist keine zufällige
ten wir einander durch Lehre, Ermuti- Einfügung. Das größte Problem unter
gung und Beispiel ermahnen und wir allen Christen ist, miteinander auszukom-
sollten einander mit dem Wort Gottes in men. Jeder Gläubige hat noch genügend
liebevoller Fürsorge auferbauen. Weil Fleischliches in sich, um eine Ortsgemein-
wir einst mit ihm leben werden, sollten de zu spalten oder zu zerstören. Nur
wir jetzt miteinander kooperativ zusam- wenn wir vom Heiligen Geist die Kraft
menleben. erhalten, können wir Liebe, Zerbrochen-
heit, Vergebungsbereitschaft, Freund-
F. Verschiedene Ermahnungen an lichkeit, Takt und Nachsicht entwickeln.
die Heiligen (5,12-22) Eine besondere Bedrohung des »Frie-
5,12 Vielleicht hatten die Ältesten der Ge- dens«, vor der Paulus hier vielleicht
meinde in Thessalonich diejenigen er- warnt, ist die Bildung von Parteiungen
mahnt, die aufgehört hatten zu arbeiten um menschliche Führer.

1053
1. Thessalonicher 5

5,14 Dieser Vers ist wohl an die geist- anderen Worten, der Christ wird anderen
lichen Leiter der Versammlung gerichtet. Gläubigen und auch den Unerlösten
Er weist sie an, wie sie mit problemati- instinktiv Freundlichkeit und Liebe
schen Brüdern umgehen sollen: erweisen.
1. »Weist die Unordentlichen zurecht« – 5,16 Freude kann eine ständige Erfah-
diejenigen, die aus der Reihe tanzen rung des Christen sein, auch in den
und darauf bestehen, den Frieden der widrigsten Umständen, weil Christus die
Gemeinde mit ihrem unverantwortli- Quelle und Ursache seiner Freude ist,
chen Verhalten zu stören. Hier sind und weil Christus alle seine Umstände in
mit den »Unordentlichen« diejenigen der Hand hat. Im griechischen NT ist
gemeint, die nicht arbeiten wollen. übrigens »Freut euch allezeit« der kürze-
Das sind dieselben, die in 2. Thessalo- ste Vers, auch wenn »Jesus weinte« der
nicher 3,6-12 beschrieben werden, die kürzeste im deutschen NT ist.
unordentlich leben, nicht arbeiten, 5,17 Das Gebet sollte die ständige
aber unnütze Dinge treiben. Haltung des Christen sein – nicht, daß er
2. »Tröstet die Kleinmütigen« – diejeni- seine normalen Pflichten vergißt und
gen, die ständige Ermahnung brau- sich ganz dem Gebet hingibt. Er betet zu
chen, sich über ihre Schwierigkeiten bestimmten regelmäßigen Zeiten, doch
zu erheben und standhaft im Herrn er betet auch außerhalb dieser Zeiten,
zu bleiben. wie sich die Notwendigkeit ergibt, und
Ockenga bemerkt zur Übersetzung er erfreut sich ständiger Gemeinschaft
von KJ (die kleinmütig mit »dümm- mit dem Herrn im Gebet.
lich« wiedergibt): »Und wenn das 5,18 Gott Dank zu sagen, sollte die
Wort wirklich ›dümmlich‹ bedeuten natürlichste christliche Regung sein.
würde, so würden wir sie doch Wenn Römer 8,28 wahr ist, dann sollte es
immer noch trösten. Sie scheinen sich uns jederzeit möglich sein, den Herrn zu
zu versammeln, sobald das Evangeli- preisen, unter allen Umständen und für
um gepredigt wird.« Und ist das »alles«, und zwar solange wir mit diesem
nicht ein Lob für das Evangelium und Handeln nicht versuchen, eine Sünde zu
die Gemeinde? Zumindest gibt es entschuldigen.
hier einen Ort, an dem sie Sympathie, Diese drei guten Gewohnheiten sind
Liebe und Beachtung finden. einmal die Grundordnung der Gemein-
3. »Nehmt euch der Schwachen an« – de genannt worden. Sie sind »der Wille
d. h. helft denen, die geistlich, sittlich Gottes in Christus Jesus für« uns. Die
oder leiblich schwach sind. Geistliche Worte »in Christus Jesus« erinnern uns
und sittliche Unterstützung der daran, daß er uns dies während seines
»Schwachen« im Glauben ist wahr- irdischen Dienstes gelehrt hat und daß er
scheinlich der Hauptgedanke, doch die lebendige Verwirklichung seiner
wir sollten finanzielle Hilfe hier nicht Lehre war. Durch Lehre und Beispiel
ausnehmen. offenbarte er uns Gottes Willen über die
4. »Seid langmütig gegen alle« – Zeigt Freude, das Gebet und den Dank.
die Gnadengabe der Geduld, wenn 5,19 Die nächsten vier Verse behan-
andere euch immer wieder irritieren deln das Verhalten in der Versammlung.
und provozieren. Den »Geist« auszulöschen bedeutet,
5,15 Paulus spricht nun zu Christen sein Werk in unserer Mitte zu verhin-
allgemein und verbietet jeden Rachege- dern, zu begrenzen oder zu unter-
danken. Die natürliche Reaktion ist es, drücken. Die Sünde löscht den Geist aus.
zurückzuschlagen, nach der Devise »wie Traditionen löschen den Geist aus.
du mir, so ich dir« zu handeln. Doch die Menschliche Regeln und Vorschriften im
Christen sollten in so enger Gemein- Gottesdienst löschen den Geist aus.
schaft mit dem Herrn Jesus leben, daß sie Uneinigkeit löscht den Geist aus. Jemand
auf übernatürliche Weise reagieren. Mit hat einmal gesagt: »Kalte Blicke, verächt-

1054
1. Thessalonicher 5

liche Worte, mit jemandem nicht reden, 2. Der gebetsvolle Charakterzug (17).
gewollte Mißachtung unterdrücken den Gebet sollte niemals unpassend oder
Geist sehr. Ebenso lieblose Kritik.« Ryrie unschicklich erscheinen.
sagt, daß der Geist immer dann aus- 3. Der dankbare Charakterzug (18).
gelöscht wird, wenn der Dienst für den Auch in Umständen, die dem Fleisch
Herrn auf einen einzelnen Menschen nicht gefallen.
oder auf die Gemeinde beschränkt wird. 4. Der geistliche Charakterzug (19). Er
5,20 Wenn wir diesen Vers mit dem sollte frei an und in uns handeln dür-
vorhergehenden verbinden, dann lautet fen.
der Gedanke, daß wir den Geist auslö- 5. Der belehrbare Charakterzug (20).
schen, wenn wir Prophezeiungen »ver- Jeder Kanal, den Gott erwählt, soll
achten«. Zum Beispiel mag ein junger lehren dürfen.
Bruder eine nicht so ganz elegante Aus- 6. Der beurteilende Charakterzug (21).
sage in einer Predigt machen. Indem wir Vgl. 1. Johannes 4,1. Alles am Wort
ihn so kritisieren, daß er sich seines Gottes messen.
Zeugnisses für Christus schämt, löschen 7. Der geheiligte Charakterzug (22).
wir den Geist aus. Wenn sich Böses in dir regt, dann
16)
In seiner Grundbedeutung im NT meide es.
bedeutet »Weissagung« das Wort Gottes
reden. Die inspirierten Äußerungen der IV. Schlußgrüße an die Thessalonicher
Propheten sind für uns in der Bibel fest- 5,23 Nun betet Paulus um die Heiligung
gehalten. In einem weiteren Sinne bedeu- der Christen. Die Quelle der Heiligung
tet weissagen, die Meinung Gottes kund- ist »der Gott des Friedens«. Das Ausmaß
zutun, wie sie uns in der Bibel offenbart der Bitte umschreibt das Wort »völlig«,
ist. das soviel bedeutet wie »jeder Teil eures
5,21 Wir müssen beurteilen, was wir Wesens«.
hören, und »das Gute«, das Wahre und Dieser Vers ist von einigen miß-
das Echte festhalten. Der Maßstab, an braucht worden, um die sogenannte
dem wir alle Predigt und Lehre zu mes- »Heiligungslehre« zu beweisen – daß
sen haben, ist das Wort Gottes. Es wird ein Gläubiger in diesem Leben sündlos
immer wieder einmal Mißbräuche geben, und vollkommen werden könne. Doch
wann immer der Geist Gelegenheit hat, das meint Paulus nicht, wenn er betet:
durch verschiedene Brüder zu sprechen. »Der Gott des Friedens heilige euch völ-
Doch den Geist auszulöschen ist kein lig.« Er bittet nicht um die Ausrottung
Mittel, diese Mißbräuche zu verhindern. der Sündennatur, sondern daß die Hei-
Wie Dr. Denney schrieb: ligung jeden Teil ihres Wesens erfassen
Eine offene Versammlung, die Freiheit möge, nämlich »Geist und Seele und
der Weissagung, ein Gottesdienst in dem Leib«.
jeder sprechen kann, wie ihm der Geist zu
reden eingibt, ist eine der Einrichtungen, die
die Kirche heute nötig bräuchte.
15) Exkurs zum Thema Heiligung
5,22 »Von aller Art des Bösen haltet Es gibt vier Phasen der Heiligung im
euch fern« kann bedeuten, sich von NT – Heiligung vor der Bekehrung, stel-
falscher Zungenrede, irrigen Prophezei- lungsmäßige Heiligung, praktische Hei-
ungen und Lehren fernzuhalten, oder ligung und vollkommene Heiligung.
aber vom »Bösen« ganz allgemein. 1. Schon bevor ein Mensch errettet
A. T. Pierson weist darauf hin, daß es wird, wird er zu einer Stellung äußer-
in den Versen 16-22 sieben verschiedene licher Bevorrechtigung ausgesondert.
christliche Charakterzüge gibt: So lesen wir in 1. Korinther 7,14, daß
1. Der lobende Charakterzug (16). Man ein ungläubiger Ehemann durch sei-
findet dann Gottes Handeln unend- ne gläubige Frau geheiligt wird. Das
lich großartig. ist Heiligung vor der Bekehrung.

1055
1. Thessalonicher 5

2. Wann immer ein Mensch wiederge- Aus diesem Vers und anderen geht
boren wird, wird er durch seine Ver- hervor, daß wir dreigeteilte Wesen sind.
einigung mit Christus von seiner Unser »Geist« ist der Teil, der es uns
Stellung her geheiligt. Das bedeutet, ermöglicht, Gemeinschaft mit Gott zu
daß er für Gott von der Welt aus- haben. Unsere »Seele« ist der Sitz der
gesondert wurde. Diese Heiligung ist Gefühle, des Verlangens und der Nei-
in solchen Schriftstellen wie Apostel- gungen (Joh 12,27). Unser Leib ist das
geschichte 26,18; 1. Korinther 1,2; Haus, in dem wir wohnen (2. Kor 5,1).
6,11; 2. Thessalonicher 2,13; Hebräer Alle unsere Teile müssen »bewahrt
10,10.14 gemeint. werden«, d. h. vollständig und gesund
3. Doch dann gibt es noch die fortschrei- erhalten werden. Ein Kommentator hat
tende Heiligung. Dies ist die gegenwär- den Bedarf nach Bewahrung folgender-
tige Aussonderung des Gläubigen für maßen beschrieben:
Gott von Welt, Sünde und Ego. Es ist 1. Der Geist muß bewahrt werden vor
der Prozeß, durch den wir christus- a) allem, das ihn verunreinigen
ähnlicher werden. Das ist die Heili- könnte (2. Kor 7,1),
gung, um die Paulus an dieser Stelle b) vor allem, das das Zeugnis des
für die Thessalonicher bittet. Sie findet Heiligen Geistes über das Verhält-
sich auch in 1. Thessalonicher 4,3.4; nis der Heiligen zu Gott behin-
2. Timotheus 2,21. Sie wird durch den dern könnte (Röm 8,16), und
Heiligen Geist bewirkt, wenn wir dem c) vor allem, das die Anbetung ver-
Wort Gottes gehorchen (Joh 17,17; hindert, die Gott zusteht (Joh 4,23;
2. Kor 3,18). Diese praktische Heili- Phil 3,3).
gung ist ein Prozeß, der solange fort- 2. Die Seele muß bewahrt werden vor:
bestehen sollte, wie der Gläubige auf a) bösen Gedanken (Matth 15,18.19;
Erden ist. Er wird niemals Vollkom- Eph 2,3),
menheit oder Sündlosigkeit auf Erden b) vor fleischlichem Verlangen, das
erlangen, doch er sollte immer auf die- gegen sie streitet (1. Petr 2,11) und
ses Ziel hinarbeiten. c) Bitterkeit und Streit (Hebr 12,15).
4. Vollkommene Heiligung bezieht sich 3. Der Leib muß bewahrt werden vor
auf den Zustand des Gläubigen im a) Verunreinigung (1. Thess 4,3-8)
Himmel. Wenn er beim Herrn sein und
wird, so wird er moralisch wie der b) Mißbrauch (Röm 6,19).
Herr sein, völlig und für immer von Einige Ausleger sind der Ansicht,
der Sünde getrennt (1. Joh 3,1-3). daß unerlöste Menschen keinen Geist
haben. Vielleicht gründen sie diese An-
Dann bittet der Apostel um die sicht auf der Tatsache, daß sie geistlich
Bewahrung der Thessalonicher. Diese tot sind (Eph 2,1). Doch die Tatsache, daß
Bewahrung sollte die ganze Person um- die Unerlösten geistlich tot sind, bedeu-
fassen: »Geist und Seele und Leib«. Man tet nicht, daß sie keinen Geist hätten. Es
beachte die Reihenfolge. Der Mensch bedeutet, daß sie tot sind bezüglich ihrer
sagt immer »Leib, Seele und Geist«. Gott Gemeinschaft mit Gott. Ihr Geist kann
sagt immer »Geist, Seele und Leib«. Zu sehr wohl lebendig sein, z. B. soweit es
Anfang der Schöpfung war der Geist am um Kontakt mit der Welt des Okkulten
wichtigsten, und der Leib am unwichtig- geht, doch sie sind für Gott tot.
sten. Die Sünde hat diese Ordnung um- Lenski warnt:
gekehrt, der Mensch lebt von Natur aus Viele Menschen geben sich mit einem teil-
für den Leib und vernachlässigt den weisen Christentum zufrieden, wobei einige
Geist. Wenn wir füreinander beten, dann Teile ihres Lebens noch immer weltlich sind.
sollten wir der biblischen Ordnung fol- Die apostolischen Ermahnungen schauen
gen, und die geistlichen Bedürfnisse vor ständig in alle Ecken unseres Wesens, so daß
17)
die leiblichen stellen. keine der Reinigung entkommen kann.

1056
1. Thessalonicher 5

Das Gebet fährt fort mit dem Verlan- len, indem er darauf besteht, daß der
gen, daß Gottes Heiligung und Bewah- »Kuß« heilig sein muß.
rung sich so auf jeden Teil ihrer Persön- 5,27 Der Apostel verlangt, »daß ihr
lichkeit auswirkt, daß die Gläubigen »bei diesen Brief lesen lasset vor allen heili-
18)
der Ankunft unseres Herrn Jesus Christus gen Brüdern« (LU1912). Zwei Punkte
… untadelig« sein würden. Das scheint sollten dabei hier festgehalten werden:
auf den Richterstuhl Christi hinzuweisen, 1. Paulus verleiht diesem Brief die
der auf die Entrückung folgt. Zu dieser Autorität des Wortes Gottes. Das AT
Zeit wird des Christen Leben, Dienst und wurde öffentlich in den Synagogen
Zeugnis beurteilt, und er wird belohnt vorgelesen. Nun wird dieser »Brief«
werden oder Verlust erleiden. in den Gemeinden laut »vorgelesen«.
5,24 Wie wir in 4,3 gelernt haben, ist 2. Die Bibel ist für alle Christen
unsere Heiligung der Wille Gottes. Er hat geschrieben, nicht nur für einen
uns berufen, eines Tages makellos vor begrenzten Kreis oder eine bevor-
ihm zu stehen. Nachdem er sein Werk an rechtigte Kaste. Ihre Wahrheiten sind
uns begonnen hat, wird er es auch voll- für alle Heiligen bestimmt.
enden (Phil 1,6). Der, der uns »beruft« ist Denney besteht auf Folgendem:
seinem Versprechen »treu«. Es gibt keine Weisheit oder Güte, die
5,25 Als Paulus abschließt, bittet er durch das Evangelium irgendeinem Men-
um die Gebete der Heiligen. Er kam nie schen vorenthalten wird, und es gibt kein
in ein Stadium, in dem er die Gebete sichereres Kennzeichen für Glaubenslosigkeit
nicht mehr nötig gehabt hätte, und das- und Verrat in einer Kirche als dies, daß sie
selbe gilt auch für uns. Es ist eine Sünde, ihre Mitglieder in ewiger Schülerschaft oder
für die Geschwister nicht zu »beten«. Unterlegenheit hält, indem sie den freien
5,26 Als nächstes bittet er darum, daß Gebrauch der Heiligen Schrift verbietet und
»alle Brüder« mit »heiligem Kuß« ge- dafür sorgt, daß ihr gesamter Inhalt den
19)
grüßt werden mögen. Zu dieser Zeit war Geschwistern nicht vorgelesen wird.
das eine anerkannte Begrüßungsform. In Man beachte, daß sich in den Versen
einigen Ländern ist es noch heute üblich, 25-27 drei Schlüssel zu einem erfolgrei-
daß Männer Männer küssen und Frauen chen christlichen Leben finden:
Frauen. In noch anderen Kulturen küs- 1. Gebet (V. 25),
sen Männer die Frauen und umgekehrt. 2. Liebe zu den Mitgläubigen, die von
Doch meist hat das zu Mißbräuchen Gemeinschaft spricht (V. 26) und
geführt und mußte eingestellt werden. 3. das Lesen und Studieren des Wortes
Der Kuß ist nicht vom Herrn als vor- (V. 27).
geschriebene Begrüßungsform einge- 5,28 Schließlich haben wir noch die
setzt worden, noch wurde sie von den für Paulus charakteristischen Schluß-
Aposteln als notwendig gelehrt. Die worte. Er hat seinen ersten Thessaloni-
Bibel erlaubt in ihrer Weisheit andere cherbrief mit der Gnade begonnen, und
Formen der Begrüßung in Kulturen, wo nun schließt er ihn mit demselben The-
Küssen zu sexueller Unordnung führen ma. Für den Apostel ist das Christentum
könnte. Der Geist Gottes scheint sich von Anfang bis Ende »Gnade«. »Amen«
gegen solche Unordnung sichern zu wol- (LU1912).

1057
Anmerkungen

Anmerkungen 9) (3,13) Marvin Vincent, Word Studies


in the New Testament, Bd. 4, S. 34.
10) (4,6) Oscar Wilde, der seine hübsche
1) (Einführung) James Everett Frame, A Frau verließ, um sich der Homose-
Critical and Exegetical Commentary on xualität hinzugeben.
the Epistles of St. Paul to the Thessa- 11) (4,8) Der kritische Text (und damit
lonians, (ICC), S. 37. ER) liest: »gibt«.
2) (Einführung) George Robert Har- 12) (5,10) Die Worte im Original sind fol-
ding Wood, St. Paul’s First Letter, gende: Wachen in 5,10 und 5,6 ist gre-
S. 13-14. goreo (daher kommt der männliche
3) (1,1) In der Mehrheit der Handschrif- Name »Gregor«, »der Wachsame«).
ten lautet der Gruß: »Paulus und Sil- Schlafen in 5,6.7 steht für katheudo,
vanus und Timotheus der Gemeinde was sich auf wirklichen Schlaf oder
zu Thessalonich in Gott dem Vater »geistige Bequemlichkeit und
und dem Herrn Jesus Christus. Gna- Gleichgültigkeit beziehen kann«
de sei mit euch und Friede von Gott, (Arndt und Gingrich). In 4,13-15
unserm Vater, und dem Herrn Jesus steht »Entschlafene« für koimao.
Christus!« (LU1912). Der zweite Teil 13) (5,12) James Denney, The Epistles to
ist vielleicht einmal beim Abschrei- Thessalonians, S. 205.
ben übersehen worden, weil dieser 14) (5,13) Eine ausführliche Auslegung
Teil fast gleichlautend einen Satz des Ältestenamtes findet sich beim
vorher schon steht. NA und damit Kommentar zu 1. Timotheus 3,1-7
die meisten modernen deutschen und Titus 1,5-9.
Übersetzungen lassen dies aus. 15) (5,21) Denney, Thessalonians, S. 244.
4) (1,4) Siehe Epheser 1 mit einem 16) (5,22) Arthur T. Pierson, keine weite-
Exkurs über die göttliche Erwäh- ren Angaben verfügbar.
lung. 17) R. C. H. Lenski, The Interpreation of
5) (1,10) Wood, First Letter, S. 17. St. Paul’s Epistles to the Colossians, to
6) (2,1) James Denney, keine weiteren the Thessalonians, to Timothy, to Titus,
Angaben verfügbar. and Philemon. S. 364.
7) (2,1) Elliot, Elisabeth, Hrg. The Jour- 18) Der kritische Text läßt das Wort
nals of Jim Elliot, S. 218. »heilig« aus.
8) (2,13) Walter Scott, keine weiteren 19) (5,27) Denney, Thessalonians, S. 263-
Angaben verfügbar. 64.

1058
Bibliographie

Bibliographie Frame, James E.,


A Critical and Exegetical Commentary on
the Epistles of Paul to the Thessalonians,
(1. und 2. Thessalonicher) ICC. New York: Chas. Scribner’s Sons,
1912.
Buckland, A. R.,
Hogg, C. F. and W. E. Vine,
St. Paul’s First Epistle to the
The Epistles of Paul the Apostle to the
Thessalonians,
Thessalonians,
Philadelphia: The Union, 1908.
London: C. A. Hammond, 1953.
Ders., Morris, Leon,
St. Paul’s Second Epistle to the The Epistles of Paul to the Thessalonians,
Thessalonians, TBC. Grand Rapids: Wm. B. Eerdman,
Philadelphia: The Union, 1909. 1957.
Ders.,
Denney, James,
The First and Second Epistles to the
The Epistles to the Thessalonians,
Thessalonians,
New York: George H. Doran, o. J.
NIC. Grand Rapids: Wm. B. Eerdman,
Eadie, John, 1959.
A Commentary on the Greek Text of the Wood, George Robert Harding,
Epistles of Paul to the Thessalonians, St. Paul’s First Letter,
London: MacMillan, 1877. London: Henry E. Walter, 1952.

1059
Der zweite Thessalonicherbrief
»Wie in seinem ersten Brief bekämpft der Apostel den Irrtum nicht direkt,
sondern bereitet die Herzen der Heiligen schrittweise und von allen Seiten darauf vor,
so daß die Wahrheit festgehalten und der Irrtum ausgeschlossen wird,
sobald er in Erscheinung tritt.
Das ist die Vorgehensweise der göttlichen Gnade und Weisheit;
das Herz wird zurecht gebracht,
und es wird nicht nur der einzelne Irrtum oder die einzelne Sünde behandelt.«
William Kelly

Einführung 1. Thessalonicherbriefes geschrieben.


Man braucht nicht viel mehr als ein paar
Monate oder sogar Wochen zu veran-
I. Einzigartige Stellung im Kanon schlagen, die zwischen der Abfassung
Die wichtigen Wahrheiten, die sich in der beiden Briefe vergangen sind. Pau-
diesem Brief finden, sind sowohl lehr- lus, Silvanus und Timotheus sind noch
mäßiger als auch praktischer Art. Paulus immer beieinander (1,1), und Korinth ist
vertieft und korrigiert das Wissen der die einzige Stadt, in der sie nach unseren
Thessalonicher über die Wiederkunft Informationen zusammen gewesen sind
Christi und die Offenbarung des Men- (Apg 18,1.5). Von daher liegt das Datum
schen der Sünde. Er gibt auch bezüglich in den frühen fünfziger Jahren, wahr-
der Gläubigen nüchterne Ratschläge, die scheinlich 50 oder 51 n. Chr.
die Wiederkunft Christi als Ausrede
IV. Hintergrund und Thema
dafür benutzen wollten, nicht zu arbei-
ten – dann sollen sie auch nicht essen! Es gab drei Hauptgründe, einen zweiten
Brief schon so bald nach dem ersten zu
II. Verfasserschaft schreiben. Die Heiligen wurden verfolgt
Wenn überhaupt, dann sind die äußeren und brauchten Ermutigung (Kap. 1). Sie
Beweise für den 2. Thessalonicherbrief wurden bezüglich des Tages des Herrn in
noch aussagekräftiger als die für den die Irre geführt und brauchten Erleuch-
1. Thessalonicherbrief. Er wird nicht nur tung (Kap. 2). Einige lebten angesichts der
früh durch Polykarp, Ignatius und Justin Wiederkunft des Herrn im Müßiggang
bezeugt (auch im Marcionitischen Prolog und mußten korrigiert werden (Kap. 3).
und im Muratorischen Kanon), sondern In bezug auf den Tag des Herrn
Irenäus zitiert den 2. Thessalonicherbrief fürchteten die Gläubigen, daß sie ihn
auch namentlich. schon erlebten. Ihre Furcht wurde durch
Weil der Brief so kurz ist, finden sich falsche Gerüchte bestärkt, die besagten,
in ihm nicht so viele innere Beweise wie im daß Paulus selbst lehre, daß der Tag
1. Thessalonicherbrief, doch ergänzt er schon gekommen sei. Deshalb berichtigt
diesen Brief so gut und stimmt mit ihm der Apostel dies.
so gut überein, daß nur wenige Gelehrte Es sollte eindeutig sein, daß der Tag
zögern, ihn als Paulusbrief zu akzep- des Herrn nicht dasselbe ist wie das
tieren. Kommen des Herrn, d. h. die Ent-
rückung. Die Heiligen fürchteten nicht,
III. Datierung daß der Herr schon gekommen sei, son-
Der 2. Thessalonicherbrief wurde als dern fürchteten, daß sie schon in der Zeit
Antwort auf weitere Fragen und auch der großen Trübsal lebten, der ersten
auf Mißverständnisse von Teilen des Phase des Tages des Herrn.

1061
2. Thessalonicher 1

Paulus hatte niemals gelehrt, daß ist nichts wichtiger, als zwischen der Ent-
noch irgendwelche Ereignisse vor der rückung, dem Tag des Herrn und dem
Entrückung stattfinden müßten. Doch Kommen Christi zur Herrschaft zu
lehrt er nun, daß vor dem Tag des Herrn unterscheiden. Der Tag des Herrn wird
noch ein großer Abfall stattfinden wird, in den Anmerkungen zu 1. Thessaloni-
daß derjenige, »welcher jetzt zurück- cher 5,2 definiert. Der Unterschied zwi-
hält«, weggenommen und der Mensch schen der Entrückung und der Offenba-
der Sünde vorher noch offenbart wird. rung wird in einem Exkurs zu 2. Thessa-
Um diesen Brief richtig zu verstehen, lonicher 1,7 behandelt.

Einteilung IV. Danksagung und Gebet (2,13-17)


A. Der Dank des Paulus dafür,
daß die Heiligen dem Gericht
I. Gruß (1,1.2) entgehen (2,13.14)
II. Paulus und die Thessalonicher B. Das Gebet des Paulus um Trost
(1,3-12) und Bewahrung der Heiligen
A. Die Dankesschuld des Paulus (2,15-17)
(1,3-5) V. Praktische Ermahnungen (3,1-15)
B. Das gerechte Gericht Gottes A. Zum gegenseitigen Gebet (3,1-5)
(1,6-10) B. Zum Umgang mit den
C. Das Gebet des Paulus für die Widerspenstigen (3,6-15)
Heiligen (1,11.12) VI. Segen und Gruß (3,16-18)
III. Vom Tag des Herrn (2,1-12)
A. Ein Aufruf zur Standhaftigkeit
(2,1.2)
B. Der Mensch der Sünde (2,3-12)

Kommentar heit in allen Umständen. Was kann man


für sich selbst oder andere mehr verlan-
gen?
I. Gruß (1,1.2) »Gnade … und Friede« kommen
1,1 »Silvanus und Timotheus« waren bei »von Gott, dem Vater, und dem Herrn
»Paulus«, als er diesen Brief von Korinth Jesus Christus«. Die »Gnade« steht vor
aus schrieb. Der Brief ist an die »Gemein- dem Frieden; wir müssen Gottes »Gna-
de der Thessalonicher« geschrieben, da- de« kennen, ehe wir seinen »Frieden«
mit wird seine menschliche Verfasser- erfahren können. Daß Paulus »Gott, den
schaft und geographische Bestimmung Vater, und den Herrn Jesus Christus« als
angegeben. Die Bezeichnung »in Gott, gemeinsame Quelle dieser Segnungen
unserem Vater« unterscheidet die Ver- nennt, impliziert die Gleichheit von
sammlung von einer heidnischen Ver- Vater und Sohn.
sammlung. »Und« in »dem Herrn Jesus
Christus« bezeichnet sie als christliche II. Paulus und die Thessalonicher
1)
Gemeinde. (1,3-12)
1,2 Der Apostel wünscht den Heili-
gen weder Ruhm, Glück oder Vergnü- A. Die Dankesschuld des Paulus
gen, sondern »Gnade … und Friede«. (1,3-5)
»Gnade« schenkt uns die Fähigkeit, alles 1,3 Der Brief beginnt mit Dank für die
zu tun, was dem Willen Gottes ent- Heiligen. Wenn wir das lesen, so hören
spricht, und »Friede« gibt uns Gelassen- wir den Herzschlag eines echten Dieners
1062
2. Thessalonicher 1

Christi, wie er sich über seine geliebten Das hat mit der menschlichen Verant-
geistlichen Kinder freut. Für ihn war wortung zu tun. Durch Gottes Souveränität
Danksagung eine angemessene Pflicht sind wir geeignet gemacht worden, Teilhaber
vor »Gott«, und sie war auch eine geeig- des Erbes der Heiligen im Licht zu sein, und
nete Pflicht angesichts des »Glaubens« diese Eignung geht nur auf unsere Verbin-
und der »Liebe« der Christen. Ihr Glaube dung mit Christus in seinem Tod und seiner
machte erstaunliche Fortschritte, und Auferstehung zurück. Wir sind in dem
jeder ohne Ausnahme erzeigte den ande- Geliebten begnadet, und zwar unabhängig
ren immer mehr »Liebe«. Das war eine vor irgendwelchen Eigenschaften von uns
Antwort auf das Gebet des Apostels selbst, ob es vor oder nach unserer Bekehrung
(1. Thess 3,10.12). stattfand. Doch Gott läßt es zu, daß sein Volk
Man beachte die Reihenfolge: erst durch Verfolgung und Anfechtungen geht,
»Glaube«, dann »Liebe«. »Der Glaube um in ihnen moralische Qualitäten zu ent-
bringt uns in Kontakt mit der ewigen wickeln, die sie zu »würdigen Bürgern« die-
Quelle der Liebe in Gott selbst«, schreibt ses Reiches macht.
C. H. Mackintosh, »und die notwendige Einige der Apostel freuten sich, daß sie
Konsequenz davon ist, daß unsere Her- wert geachtet wurden, für den Namen Jesu
zen in Liebe zu allen hingezogen werden, zu leiden. Das Gebet des Paulus für die Thes-
die ihm gehören«. salonicher, daß Gott sie ihrer Berufung wür-
1,4 Für den geistlichen Fortschritt der dig erachte, hat ganz sicher nichts damit zu
Thessalonicher konnten Paulus und sei- tun, daß wir dem Werk Christi etwas hinzu-
ne Mitarbeiter sich vor den anderen fügen müßten. Das Kreuz macht den Gläubi-
»Gemeinden Gottes … rühmen«. Sie gen seiner Stellung im Reich würdig, doch
waren trotz der »Verfolgungen«, die sie Geduld und Glaube in Drangsal zeigen, daß
ertrugen, standhaft und voll Glaubens solch einer des Reiches moralisch wert ist.
geblieben. »Ausharren« bedeutet hier Unter den Mitgliedern jeder irdischen
soviel wie Standhaftigkeit oder Durch- Gesellschaft gibt es solche, die in Mißkredit
haltevermögen. geraten, aber auch andere. Paulus betete dar-
1,5 Die Tatsache, daß sie unter den um, daß es unter den Heiden nicht so sein
2)
Verfolgungen und Anfechtungen so tap- möge.
fer standhielten, war ein Zeichen des
»gerechten« Handelns »Gottes«. Er B. Das gerechte Gericht Gottes (1,6-10)
unterstützte sie, er stärkte und ermutigte 1,6 Das »gerechte« Handeln Gottes wird
sie. Wenn sie seine göttliche Kraft nicht auf zweierlei Weise gesehen – Bestra-
empfangen hätten, wären sie niemals in fung für die Verfolgung und Ruhe für die
der Lage gewesen, solche Geduld und Verfolgten.
solchen Glauben im Leiden für Christus Williams sagt:
zu zeigen. Als Gott erlaubte, daß sein Volk verfolgt
Ihr heroisches Aushalten bewies, daß wurde und die Verfolger überhaupt existier-
sie »würdig … des Reiches Gottes« ten, hatte er ein zweifaches Ziel – zunächst,
waren. Es geht hier nicht um irgendeinen die Eignung seines Volkes zur Herrschaft zu
persönlichen Verdienst, der sie berechtig- erproben (V. 5) und zweitens, die Eignung
3)
te, in das Reich Gottes zu gelangen, denn ihrer Verfolger zum Gericht zu zeigen.
nur durch den Verdienst Christi kann 1,7 So, wie Gott den Feinden seines
man dort hinkommen. Doch diejenigen, Volkes Bestrafung zuteil werden läßt, wird
die um des Reiches willen leiden, bewei- er denen, die um seinetwillen leiden, »Ru-
sen, daß sie zu denjenigen gehören, die he« als Belohnung zuteil werden lassen.
eines Tages mit ihm herrschen werden Wir sollten aus Vers 7 nicht schließen,
(Röm 8,17; 2. Tim 2,12). daß leidende Heilige keine Erlösung von
E. W. Rogers sagt bei der Auslegung der Versuchung erhalten werden, bis
des Nebensatzes »daß ihr würdig geach- Christus vom Himmel mit flammendem
tet werdet des Reiches Gottes«: Feuer zurückkehrt. Wenn ein Gläubiger

1063
2. Thessalonicher 1

stirbt, erlangt er die Ruhe. Lebende Gläu- Herrn Jesus vom Himmel her mit den
bige werden Befreiung von allen Span- Engeln seiner Macht«. Die Vergeltung für
nungen zur Zeit der Entrückung finden. die Gottlosen und »Ruhe« für die Gläu-
Dieser Vers will eher aussagen, daß, bigen gehören zu seiner Wiederkunft.
wenn der Herr das Gericht über seine Welche Phase des Kommens Christi ist
Feinde ausschütten wird, die Welt dann hier angesprochen? Es geht eindeutig um
sehen wird, daß die Heiligen zu dieser die dritte Phase, nämlich die Erscheinung
Zeit »Ruhe« genießen. seines Kommens, wenn er mit seinen
Die Zeit der gerechten Vergeltung Heiligen auf die Erde zurückkehren
Gottes ist »bei der Offenbarung des wird.

Exkurs zu Entrückung und Offenbarung


Doch mag jemand fragen: »Woher wissen Sie, daß die Entrückung und die Offenbarung
unterschiedliche Ereignisse sind? Die Antwort lautet, daß sie in der Schrift auf folgen-
de Weise unterschieden werden:

Die Entrückung Die Offenbarung


1. Christus kommt in die Luft (1. Thess 1. Er kommt auf die Erde (Sach 14,4).
4,17).
2. Er kommt für seine Heiligen (1. Thess 2. Er kommt mit seinen Heiligen
4,16.17). (1. Thess 3,13; Judas 14).
3. Die Entrückung ist ein Geheimnis, 3. Die Offenbarung ist kein Geheimnis,
d. h. eine Wahrheit, die zur Zeit des sondern Thema vieler ATlicher Pro-
AT unbekannt war (1. Kor 15,51). phezeiungen (Ps 72; Jes 11; Sach 14).
4. Es wird von Christi Kommen für sei- 4. Sein Kommen mit den Heiligen wird
ne Heiligen nie ausgesagt, daß es von durch Zeichen am Himmel angekün-
himmlischen Erscheinungen beglei- digt (Matth 24,29.30).
tet wird.
5. Die Entrückung wird mit dem Tag 5. Die Offenbarung wird mit dem Tag
Christi identifiziert (1. Kor 1,8; 2. Kor des Herrn identifiziert (2. Thess 2,1-
1,14; Phil 1,6.10). 12; NA-Text)
6. Die Entrückung wird als Zeit des 6. Das Hauptgewicht der Offenbarung
Segens dargestellt (1. Thess 4,18). liegt auf dem Gericht (2. Thess 2,8-12).
7. Die Entrückung findet in einem 7. Die Offenbarung wird weltweit sicht-
Moment statt, in einem Augenblick bar sein (Matth 24,27; Offb 1,7).
(1. Kor 15,52). Das beinhaltet sehr
wahrscheinlich, daß die Welt dabei
nicht Zeuge sein wird.
8. Die Entrückung wird ausschließlich 8. Die Offenbarung betrifft in erster
die Gemeinde betreffen (Joh 14,1-4; 1. Linie Israel, jedoch auch die heidni-
Kor 15,51-58; 1. Thess 4,13-18). schen Nationen (Matth 24,1-25,46).
9. Christus kommt als der »glänzende 9. Er kommt als die Sonne der Gerech-
Morgenstern« (Offb 22,16). tigkeit mit Heilung unter ihren Flü-
geln (Mal 3,20).
10. Die Entrückung wird in den synopti- 10. Die Offenbarung ist für die Synopti-
schen Evangelien nicht erwähnt, ker charakteristisch, wird jedoch im
doch wird im Evangelium des Johan- Evangelium des Johannes kaum er-
nes mehrmals darauf angespielt. wähnt.
11. Diejenigen, die entrückt werden, 11. Diejenigen, die genommen werden,
werden zum Segen entrückt (1. Thess kommen ins Gericht. Diejenigen,
4,13-18). Diejenigen die zurückblei- die übrig bleiben, werden zum
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2. Thessalonicher 1

ben, bleiben zum Gericht zurück Segen zurückgelassen (Matth 24,


(1. Thess 5,1-3). 37-41).
12. Es gibt kein System von Datierungen
für die Ereignisse vor der Ent- 12. Ein genau ausgearbeitetes Datie-
rückung. rungssystem wird für die Offenba-
rung genannt, so wie die 1260 Tage,
42 Monate und 3 1/2 Jahre (s. Dan
7,25; 12,7.11.12; Offb 11,2; 12,14; 13,5).
13. Der Titel »Sohn des Menschen« wird 13. Die Offenbarung wird als das Kom-
in keinem Abschnitt verwendet, der men des Menschensohnes bezeichnet
sich mit der Entrückung befaßt. (Matth 16,28; 24,27.30.39; 26,64; Mk
13,26; Lk 21,27).

Vorausgesetzt, daß diese beiden die Welt, die seinen Sohn abgelehnt
Ereignisse unterschiedlich sind, wie kön- hat, ausgegossen wird. Von der Ge-
nen wir wissen, daß sie nicht etwa zur meinde wird niemals erwähnt, daß
gleichen Zeit stattfinden? Woher wissen sie während dieser Zeit auf der Erde
wir, daß sie durch eine längere Zeitspan- sei. Die Gemeinde wird offensichtlich
ne getrennt sind? Drei Beweise können am Ende von Kapitel 3 in den Himmel
genannt werden: aufgenommen. In Offenbarung 19,11
1. Der erste basiert auf Daniels Prophe- kehrt Christus auf die Erde zurück,
zeiung der siebzig Jahrwochen um seine Feinde zu unterwerfen und
(Dan 9,25-27). Wir leben gegenwärtig sein Reich aufzurichten – am Ende
in der Zwischenzeit des Zeitalters der der großen Trübsal.
Gemeinde, zwischen der neunund- 3. Es gibt einen dritten Gedankengang,
sechzigsten und der siebzigsten Jahr- der es notwendig macht, eine Zeit-
woche. Die siebzigste Woche ist die spanne zwischen dem Kommen Chri-
große Trübsal, die sieben Jahre dau- sti für seine Heiligen und seinem
ern wird. Die Gemeinde wird vor der Kommen mit den Heiligen anzuneh-
großen Trübsal in den Himmel ent- men. Bei der Entrückung werden alle
rückt (Röm 5,9; 1. Thess 1.10; 1. Thess Gläubigen aus der Welt genommen
5,9; Offb 3,10). Das Kommen Christi und sie erhalten ihre verherrlichten
zur Herrschaft findet nach der sieb- Leiber. Doch wenn Christus wieder-
zigsten Woche statt (Dan 9,24; kehrt, um zu regieren, wird es Gläu-
Matth 24). bige auf Erden geben, die jedoch noch
2. Die zweite Argumentation als Beweis keine verherrlichten Leiber haben,
für eine Zeit zwischen der Ent- und die während des Tausendjähri-
rückung und der Offenbarung basiert gen Reiches heiraten und Kinder
auf der Struktur des Buches der bekommen werden (Jes 11,6.8). Wo
Offenbarung. In den ersten 3 Kapitel kommen diese Gläubigen her? Es
sehen wir die Gemeinde auf Erden. muß eine Zeitspanne zwischen der
Die Kapitel 4 bis 19,10 beschreiben die Entrückung und der Offenbarung
große Trübsal, wenn Gottes Zorn auf geben, in der sie sich bekehren.

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2. Thessalonicher 1

Wir kehren nun zu Vers 7 zurück und Stellen kann es »Zeitalter mit begrenzter
finden dort die Wiederkunft »des Herrn Dauer« bedeuten. An allen anderen Stel-
Jesus« in Macht und großer Herrlichkeit. len bedeutet es »ewig« oder »ohne
Er wird von »Engeln« begleitet, durch Ende«. Es wird in Römer 16,16 benutzt,
die seine Macht ausgeübt wird. um die niemals aufhörende Existenz
1,8 Der Ausdruck »flammendes Feu- Gottes zu beschreiben.
er« könnte ein Hinweis auf die Shekina »Verderben« bedeutet niemals »Ver-
sein, die Herrlichkeitswolke, die die An- nichtung« oder »Aufhören der Existenz«.
wesenheit Gottes symbolisiert (2. Mose Es bedeutet den Verlust des Wohlerge-
16,10). Oder er könnte ein Bild des Ge- hens, oder den Bankrott, soweit es den
richts im Feuer sein, das ausgegossen Sinn des Lebens angeht. Die Schläuche,
werden soll (Ps 50,3; Jes 66,15). Wahr- die der Herr Jesus in Lukas 5,37 be-
scheinlich ist die letztere die richtige schreibt, waren »zerrissen« (dieselbe
Bedeutung. Wortwurzel wie im vorliegenden Vers).
Wenn Gott »Vergeltung … übt«, dann Sie hörten nicht auf zu existieren, son-
handelt es sich nicht um Rachsucht, son- dern sie waren verdorben, weil sie ihrem
dern um gerechten Lohn. Es geht nicht Zweck nicht mehr dienen konnten.
darum, etwas »auszugleichen«, sondern Dieser Abschnitt wird von Ausle-
das gerechte Urteil zu vollstrecken, das gern, die die These vertreten, daß die
Gottes heiliger, gerechter Charakter ver- Gemeinde erst nach der großen Trübsal
langt. Er hat kein Gefallen am Tode des entrückt wird, benutzt, um ihre Auffas-
Gottlosen (Hes 18,32). sung zu stützen. Sie meinen, daß er aus-
Paulus beschreibt zwei Sorten von sagt, daß die Gläubigen keine Ruhe
Menschen, die zur Vergeltung bestimmt erlangen und ihre Verfolger nicht eher
sind: bestraft werden, ehe Christus nicht zur
1. Diejenigen, »die Gott nicht kennen« – Herrschaft wiederkommt, und dieses
diejenigen, die das Wissen vom wah- Ereignis findet ja nach der großen Trüb-
ren Gott, wie es in der Schöpfung und sal statt. Deshalb, so schließen sie, be-
im Gewissen offenbart wird, abge- stünde die Hoffnung der Gläubigen dar-
lehnt haben (Röm 1, 21). Es kann sein, in, die Entrückung nach der großen Trüb-
daß sie niemals vom Evangelium sal zu erleben.
gehört haben. Diese Ausleger übersehen jedoch die
2. Diejenigen, »die dem Evangelium Tatsache, daß die Thessalonicher, an die
unseres Herrn Jesus nicht gehor- dies geschrieben worden ist, alle schon
chen« – diejenigen, die das Evange- gestorben sind, und schon die Ruhe mit
lium gehört haben und es ablehnen. dem Herrn im Himmel genießen. Ebenso
Das Evangelium ist nicht einfach eine sind ihre Verfolger schon alle gestorben
Sammlung von Tatsachen, die man und leiden schon im Hades.
glauben muß, sondern es geht dar- Warum sagt Paulus dann scheinbar,
um, einer Person zu gehorchen. Zum daß diese Bedingungen erst erfüllt wer-
Glauben im Sinne des NT gehört Ge- den, wenn Christus auf die Erde in
horsam. großer Macht und Herrlichkeit zurück-
1,9 »Sie werden Strafe leiden.« Ein kehrt? Der Grund liegt darin, daß dies
Gott, der nicht bestraft, ist überhaupt die Zeit ist, zu der diese Bedingungen
kein Gott. Die Vorstellung, daß ein Gott der Welt offenbart werden. Dann wird die
der Liebe nicht strafen dürfe, übersieht Welt sehen, daß die Thessalonicher recht
die Tatsache, daß Gott auch heilig ist und hatten und ihre Verfolger Unrecht. Die
tun muß, was ethisch richtig ist. Welt wird erkennen, daß die Heiligen
Das Wesen der Bestrafung wird hier die Ruhe genießen, wenn sie mit Chri-
»ewiges Verderben« genannt. Das Wort, stus in Herrlichkeit auf die Erde zurück-
das mit »ewig« übersetzt wird (aionios), kehren. Das »Verderben« der Feinde des
wird im NT siebzigmal benutzt. An drei Herrn am Ende der großen Trübsal wird

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2. Thessalonicher 1

eine öffentliche Demonstration des werdet, zusammen mit uns Ruhe schen-
Schicksals aller sein, die Gottes Volk in ken – mit Paulus, Silvanus und Timo-
den verschiedenen Zeitaltern verfolgt theus. Er wird eure Feinde richten,
haben. wenn er mit den Engeln wiederkehrt,
Es wird uns helfen, uns daran zu erin- die seinen Willen mit dem Flammen-
nern, daß Christi Kommen zur Herr- schwert ausführen, und wird diejenigen
schaft eine Zeit der Offenbarung ist. Was richten, die absichtlich Gott ignorieren,
bisher schon wahr gewesen ist, wird nun und diejenigen, die absichtlich dem
der ganzen Welt enthüllt. Das gilt nicht Evangelium ungehorsam sind. Diese
für die Entrückung. werden ewige Verdammnis erleiden, ja,
Zur Bestrafung der Bösen gehört sogar die Verbannung vom Angesicht
auch, daß sie »vom Angesicht des Herrn des Herrn und der Darstellung seiner
und von der Herrlichkeit seiner Stärke« Macht, wenn er wiederkehrt, um in
verbannt werden. Ohne ihn zu sterben allen Gläubigen verherrlicht zu wer-
bedeutet, immer ohne ihn sein zu den – zu denen ihr gehört, weil ihr der
müssen. Botschaft des Evangelium, das wir euch
1,10 Sein Kommen wird eine Zeit der predigten, geglaubt habt.«
Verherrlichung für den Herrn und der
Verwunderung für die Zuschauer sein. C. Das Gebet des Paulus für die
Er wird »in seinen Heiligen verherr- Heiligen (1,11.12)
licht« werden, d. h. er wird für das geehrt 1,11 In den vorhergehenden Versen hat
werden, was er für und durch seine Hei- der Apostel die herrliche Berufung der
ligen getan hat. Ihre Erlösung, ihre Heili- Heiligen beschrieben. Sie sind aufgeru-
gung und Verherrlichung werden seine fen worden, Verfolgung zu ertragen, die
unvergleichliche Gnade und Macht sie wiederum befähigt, im Reich Christi
erkennen lassen. mitzuregieren. Nun betet er, daß ihr
Er wird »in allen denen bewundert … Leben bis dahin einer solch hohen »Beru-
werden, die geglaubt haben«. Den er- fung … würdig« sei, und daß Gottes
staunten Zuschauern wird es den Atem große »Kraft« sie befähige, jedem Impuls
verschlagen, wenn sie sehen, was er mit zu gehorchen, Gutes zu tun, und jede
solch schwachen menschlichen Wesen Aufgabe, die sie übernehmen, im »Glau-
erreichen konnte! ben« durchzuführen.
Und dazu werden auch die Gläubi- 1,12 Daraus ergäbe sich ein zweifa-
gen in Thessalonich gehören, weil sie das ches Ergebnis. Erstens würde »der Name
»Zeugnis« des Apostels angenommen unseres Herrn Jesus Christus in« ihnen
und geglaubt haben. Sie werden an der »verherrlicht«. Das bedeutet, daß sie ihn
Herrlichkeit »an jenem Tag« teilhaben, vor der Welt richtig darstellen und ihm
nämlich am Tag der Offenbarung Jesu so Ehre bringen würden. Dann würden
Christi. auch sie »in ihm« verherrlicht. Ihre Ver-
Zurückschauend könnte man die bindung mit ihm, ihrem Haupt, würde
Verse 5-10 wie folgt umschreiben: »Eure ihnen Ehre als Glieder seines Leibes brin-
Geduld mitten in der Verfolgung ist von gen.
großer Bedeutung. Mit all dem verfolgt Kapitel 1 schließt mit der Erinnerung
Gott seinen gerechten Zweck. Euer daran, daß dieses Gebet nur »nach der
standfestes Ausharren in der Verfol- Gnade unseres Gottes und des Herrn
gung zeigt, daß ihr zu denen gehört, die Jesus Christus« erhört werden kann. So
an der Herrlichkeit der Wiederkunft beschließt Paulus eine wunderbare
Christi zur Herrschaft Anteil haben Erklärung der Bedeutung und der Fol-
werden. Einerseits wird Gott dann das gen von Leid im Leben des Gläubigen.
Gericht über diejenigen üben, die euch Man stelle sich vor, wie ermutigt die
nun bedrängen. Auf der anderen Seite Thessalonicher waren, als sie diese Bot-
wird er euch, die ihr jetzt drangsaliert schaft lasen!

1067
2. Thessalonicher 2

III. Vom Tag des Herrn (2,1-12) Der Ausdruck »wegen der Ankunft
unseres Herrn Jesus Christus und unse-
A. Ein Aufruf zur Standhaftigkeit rer Vereinigung mit ihm« bezieht sich
(2,1.2) unmißverständlich auf die Entrückung.
2,1 Paulus korrigiert nun ein Mißver- Das ist der Zeitpunkt, wenn wir alle ver-
ständnis, das bei den Heiligen »wegen sammelt werden, um ihm in der Luft zu
der Ankunft unseres Herrn Jesus Chri- begegnen.
stus« und dem Tag des Herrn aufgekom- 2,2 Es sollte klar sein, daß die Ent-
men ist. Die Heiligen litten unter einer rückung nicht dasselbe ist wie der Tag
solch schlimmen Verfolgung, daß sie des Herrn. Die Thessalonicher machten
leicht auf den Gedanken verfallen konn- sich keine Sorgen darüber, daß der Herr
ten, daß sie sich schon im ersten Teil des schon gekommen sei, denn sie wußten,
Tages des Herrn befänden, d. h. in der das das noch nicht geschehen war. Doch
großen Trübsal. Und es gab Gerüchte, machten sie sich Sorgen darüber, ob der
daß der Apostel selbst glaube und lehre, Tag des Herrn schon begonnen habe. Die
daß der Tag des Herrn schon gekommen intensive Verfolgung, die sie erdulden
sei! Deshalb muß er die Berichte richtig- mußten, ließ sie denken, sie lebten schon
stellen. in der großen Trübsal, der ersten Phase
Eine wichtige Frage ergibt sich in des Tages des Herrn.
Vers 1 über das kleine Wort, das Paulus Es hatte Gerüchte gegeben, daß Pau-
benutzt: wegen (gr. hyper). Das Problem lus selbst gesagt habe, der Tag des Herrn
ist, ob er die Heiligen wegen der oder sei schon da. Wie die meisten Gerüchte
durch die »Ankunft unseres Herrn Jesus waren sie sehr entstellt. Eine Version
Christus« bittet. Wenn die erste Bedeu- wollte wissen, daß Paulus diese Informa-
tung richtig ist, dann lehrt dieser Ab- tion »durch Geist« erhalten habe, d. h.
schnitt, daß die Entrückung und der Tag durch eine besondere Offenbarung.
des Herrn ein und dasselbe Ereignis dar- Nach einem anderen Bericht ist die
stellen, weil es in den folgenden Versen Nachricht »durch Wort« gekommen,
eindeutig um den Tag des Herrn geht. d. h. der Apostel habe öffentlich gelehrt,
Wenn die zweite Bedeutung richtig ist, daß die große Trübsal schon begonnen
dann bittet Paulus sie auf der Basis der habe. »Durch Brief, als von uns« wird all-
vorhergehenden Entrückung, daß sie gemein so verstanden, daß damit ein
nicht denken sollten, daß sie schon den gefälschter Brief gemeint ist, der Paulus
Tag des Herrn erleben würden. Die Frage zugeschrieben wird, in dem gesagt wird,
ist strittig. Wir stimmen mit William daß der Tag des Herrn schon begonnen
Kelly überein, der den zweiten Stand- habe. Der Ausdruck »als von uns«
punkt vertritt: bezieht sich wahrscheinlich auf »Geist«,
Der Trost des Kommens des Herrn wird »Wort« und »Brief«. Keiner dieser Quel-
hier als Motivation genannt und als Mittel, len war zu trauen.
um dem Unbehagen entgegen zu wirken, das Nach LU1912 (der Mehrheit der
durch die falschen Vorstellungen, der Tag Manuskripte folgend) fürchteten die
(des Herrn) sei schon da, hervorgerufen wor- Heiligen, daß »der Tag Christi« schon
4)
den war. gekommen sei. »Der Tag Christi« und
Wir verstehen Paulus so: »Ich bitte ähnliche Ausdrücke beziehen sich nor-
euch aufgrund der Entrückung, daß ihr malerweise auf die Entrückung und den
nicht fürchten sollt, daß der Tag des Richterstuhl Christi (1. Kor 1,8; 5,5;
Herrn schon da sei. Die Entrückung muß 2. Kor 1,14; Phil 1,6.10; 2,15.16).
zuerst stattfinden. Ihr werdet zu diesem Doch die Thessalonicher fürchteten
Zeitpunkt heim in den Himmel aufge- nicht, daß der Tag Christi schon gekom-
nommen werden und werdet so den men sei. Das würde nämlich bedeuten,
Schrecken des Tages des Herrn ent- daß ihre Leiden schon beendet seien. Die
gehen.« meisten Ausleger, die der Ansicht sind,

1068
2. Thessalonicher 2

daß die Entrückung vor der großen Trüb- … das scharlachrote Tier mit sieben
sal stattfindet, ziehen die Lesart der ER Köpfen und zehn Hörnern (Offb 17,4.
vor: »als ob der Tag des Herrn da 8-14)
5)
wäre.« Die Leser des Paulus hatten … der König des Nordens (Dan 11,6)
demnach Angst, daß der Tag des Zornes … der König des Südens (Dan 11,40)
Gottes schon begonnen habe. … der falsche Prophet (Offb 19,20;20,10)
… Gog aus Magog (Hes 38,2-39,11)
B. Der Mensch der Sünde (2,3-12) [nicht zu verwechseln mit dem Gog
2,3 Nun erklärt der Apostel, warum die aus Offenbarung 20,8, der sich nach
Thessalonicher noch nicht »diesen Tag« dem Tausendjährigen Reich erhebt]
erlebten. Bestimmte Ereignisse müssen … der in seinem eigenen Namen kommt
vorher noch geschehen. Diese Gescheh- (Joh 5,43)
nisse werden nach der Entrückung statt- »Der Mensch der Sünde« ist durch
finden. die Jahrhunderte schon auf viele histori-
Zuerst wird es einen »Abfall« sche Institutionen oder Menschen gedeu-
6)
geben. Was bedeutet das? Wir können tet worden. Er ist mit der katholischen
nur annehmen, daß es sich um ein völli- Kirche gleichgesetzt worden, dem Papst,
ges Aufgeben des Christentums handelt, dem Römischen Reich, mit der Endform
daß man ganz bewußt den christlichen des abgefallenen Christentums, mit dem
Glauben ablehnt. wiederauferstandenen Judas, mit dem
Dann erhebt sich ein großartiger wiederauferstandenen Nero, dem jüdi-
Weltpolitiker. Vom Charakter her ist er schen Staat, mit Mohammed, Luther,
der »Mensch der Sünde« (LU1912) oder Napoleon, Mussolini, Hitler und mit
7)
»der Gesetzlosigkeit« , d. h. die fleisch- dem fleischgewordenen Satan.
gewordene Sünde und Auflehnung. Vom 2,4 Er wird jede Form göttlicher Ver-
Schicksal her ist er »der Sohn des Verder- ehrung bekämpfen und wird sich selbst
bens«, er ist auf ewig verurteilt. »in den Tempel Gottes« in Jerusalem set-
In der Schrift finden wir viele Be- zen. Diese Beschreibung zeigt eindeutig,
schreibungen von wichtigen Persönlich- daß er der Antichrist ist, der gegen Chri-
8)
keiten, die sich während der großen stus ist, und sich an seine Stelle setzt.
Trübsal erheben werden, und es ist Daniel 9,27 und Matthäus 24,15 zei-
schwer zu entscheiden, welche Namen gen, daß diese gotteslästerliche Hand-
sich auf dieselbe Person beziehen. Einige lung des Antichristen in der Mitte der
Kommentatoren glauben, daß der großen Trübsal stattfinden wird. Diejeni-
Mensch der Sünde ein jüdischer Anti- gen, die ihn nicht anbeten wollen, wer-
christ sein wird. Andere lehren, daß er den verfolgt werden, und viele von
der heidnische Herrscher des wiederer- ihnen als Märtyrer sterben.
standenen Römischen Reiches sein wer- 2,5 Paulus hat sie dies schon gelehrt,
de. Hier sind die Namen einiger der als er »noch bei« ihnen »war«. Doch sie
großen Herrscher der Endzeit: hatten vergessen, was der Apostel gesagt
… der Mensch der Sünde und Sohn des hatte, weil sie gegenteilig gelehrt wur-
Verderbens (2. Thess 2,3) den, wobei diese Lehre scheinbar gut zu
… der Antichrist (1. Joh 2,18) der schlimmen Verfolgung paßte, die sie
… das kleine Horn (Dan 7,8.24b-26) erleiden mußten. Wir alle vergessen zu
… der König mit dem harten Gesicht schnell und müssen immer wieder an die
(Dan 8,23-25) großen Glaubenswahrheiten erinnert
… der kommende Fürst (Dan 9,26) werden.
… der König, der nach seinem Belieben 2,6 Die Thessalonicher wußten, was
handelt (Dan 11,36) die volle und öffentliche Offenbarung
… der nichtige Hirte (Sach 11,17) des Menschen der Sünde zurückhielt,
… das Tier aus dem Meer (Offb 13,1-10) und was ihn bis zur bestimmten Zeit
… das Tier aus der Erde (Offb 13,11-17) zurückhalten würde.

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2. Thessalonicher 2

Das bringt uns zur dritten großen dann gibt es nichts mehr, was die Gesetz-
unbeantworteten Frage dieses Kapitels. losigkeit aufhalten kann.
Die erste dieser Fragen ist: »Was ist der 2,7 Schon zu der Zeit, als Paulus
Abfall?«, die zweite: »Wer ist der Mensch schrieb, war »das Geheimnis der Gesetz-
der Sünde?« und die dritte lautet »Wer losigkeit wirksam«. Darunter verstehen
oder was hält zurück?« wir einen starken Geist des Ungehor-
Im ersten Teil von Vers 6 wird derje- sams gegen Gott, der sich schon unter
nige, der »zurückhält« unpersönlich be- der Oberfläche regt. Er war nicht in einer
schrieben: »was zurückhält«. Doch in geheimnisvollen Form am Werk – er war
Vers sieben handelt es sich um eine Per- nicht mysteriös, sondern noch nicht ganz
9)
son: »Welcher jetzt zurückhält.« ausgereift. Dieser Geist hatte noch die
E. W. Rogers drückt das deutlich aus: Form eines Samenkorns.
Es ist etwas und jemand, der es absicht- Was hat nun die volle Entwicklung
lich, bewußt und vorsätzlich in Schach hält dieses Geistes behindert? Wir glauben,
mit der Absicht, daß der Mensch der Gesetz- daß die Anwesenheit des Heiligen Gei-
losigkeit zu seiner eigenen Zeit offenbart wer- stes, der in der Gemeinde und in jedem
10)
den wird. einzelnen Gläubigen wohnt, diese
Sieben der häufiger vertretenen Auf- bewahrende Kraft hat. Er wird diese
fassungen, wer derjenige ist, der zurück- Funktion ausüben, bis er »aus dem Weg
hält, sind: 1. Das Römische Reich, 2. der ist«, d. h. bis zur Entrückung.
jüdische Staat, 3. Satan, 4. das Prinzip von Doch hier gibt es einen Einwand. Wie
Gesetz und Ordnung, wie es sich in kann der Heilige Geist aus der Welt ent-
menschlicher Herrschaft findet, 5. Gott, 6. fernt werden? Ist er als eine der Personen
der Heilige Geist und 7. die wahre Ge- der Gottheit nicht allgegenwärtig, d. h.
meinde, in der der Heilige Geist wohnt. überall und zu jeder Zeit anwesend? Wie
Der Heilige Geist, der in der Gemein- kann er dann die Welt verlassen?
de und im einzelnen Gläubigen wohnt, Natürlich ist der Heilige Geist allge-
scheint uns besser und vollständiger der genwärtig. Er ist immer zu ein und der-
Beschreibung zu entsprechen, als jeder selben Zeit an allen Orten anwesend.
andere Genannte. So wie der, der zurück- Und doch ist er in einem ganz anderen
hält einmal ein Ding und einmal eine Per- Sinne zu Pfingsten auf die Erde gekom-
son ist, so wird vom Geist in Johannes men. Jesus hatte wiederholt verheißen,
14,26; 15,26; 16,8.13.14 als sowohl im daß er und der Vater den Geist senden
Neutrum (»das« Heilige Geist) als auch würden (Joh 14,16.26; 15,26; 16,7). Wie
11)
im Maskulinum (er) gesprochen. Schon kam nun der Geist? Er kam, um ständig
in 1. Mose 6,3 wird erwähnt, daß der Hei- in der Gemeinde und in jedem Gläubi-
lige Geist etwas mit dem Zurückhalten gen zu wohnen. Bis zum Pfingsttag war
des Bösen zu tun hat. Später wird er dann der Geist bei den Gläubigen, doch seit
in Jesaja 59,19b, Johannes 16,7-11 und Pfingsten wohnt er in ihnen (Joh 14,17).
1. Johannes 4,4 in dieser Rolle gesehen. Bis zum Pfingsttag konnte es vorkom-
Dadurch, daß der Geist in den Gläu- men, daß der Geist von Gläubigen wie-
bigen wohnt, werden sie zum Salz der der wegging – daher das Gebet Davids:
Erde (Matth 5,13) und zum Licht der »Den Geist deiner Heiligkeit nimm nicht
Welt (Matth 5,14). Salz ist ein Konservie- von mir!« (Ps 51,11b). Seit Pfingsten
rungsstoff, doch verhindert es auch die bleibt der Heilige Geist für immer in den
Ausbreitung von Zerstörung. Licht ver- Gläubigen des Zeitalters der Gemeinde
treibt die Finsternis, den Bereich, in dem (Joh 14,16).
die Menschen gerne ihre bösen Taten Der Heilige Geist wird, so glauben
begehen (Joh 3,19). Wenn der Heilige wir, die Welt in dem selben Sinne verlas-
Geist die Welt verläßt, weil er ja ständig sen, wie er zu Pfingsten gekommen ist –
in der Gemeinde (1. Kor 3,16) und in den d. h. in den Gläubigen und in der Ge-
einzelnen Gläubigen wohnt (1. Kor 6,19), meinde innewohnend. Er wird noch

1070
2. Thessalonicher 2

immer in der Welt sein, Menschen von Der Teufel und seine Heerscharen kön-
ihrer Sünde überzeugen und sie zum ret- nen ebenfalls Wunder vollbringen. Der
tenden Glauben an Christus führen. Mensch der Gesetzlosigkeit wird dies
Wenn er bei der Entrückung weggenom- tun (Offb 1,13-15).
men wird, so heißt das nicht, daß nie- Ein Wunder ist ein Zeichen übernatür-
mand während der großen Trübsal geret- licher, nicht jedoch notwendigerweise
tet werden würde. Natürlich werden göttlicher Macht. Die Wunder unseres
Menschen auch dann noch errettet. Doch Herrn wiesen ihn als den verheißenen
diese Menschen werden nicht zur Ge- Messias aus, nicht einfach, weil sie über-
meinde gehören, sondern Untertanen natürlich waren, sondern weil sie die
des herrlichen Reiches Christi werden. Prophezeiungen erfüllten und Satan sie
2,8 Nachdem die Gemeinde in den nicht hätte tun können, ohne sich selbst
Himmel entrückt worden ist, »wird der zu schaden.
Gesetzlose« der Welt »geoffenbart wer- 2,10 Der Antichrist wird skrupellos
den«. In diesem Vers übergeht der Apo- jede Art der Bosheit benutzen, um die
stel die Karriere des Antichristen und Menschen, die verloren gehen, zu betrü-
beschreibt sein endgültiges Schicksal. Es gen. – Diejenigen, die während des Zeit-
klingt fast so, als würde er vernichtet, alters der Gnade das Evangelium gehört
sobald er offenbart wird. Das ist natür- haben, die jedoch keine »Liebe der Wahr-
lich nicht so. Ihm wird erlaubt, eine heit« hatten. Wenn sie geglaubt hätten,
Schreckensherrschaft auszuüben, ehe er wären sie errettet worden. Doch nun
durch die Wiederkunft Christi zur Herr- werden sie von den Wundern des
schaft überwältigt wird. Antichristen betrogen.
Wenn wir mit unserer Annahme recht 2,11 Gott wird ihnen sogar noch Irr-
haben, daß der Mensch der Sünde nach tümer senden, so »daß sie der Lüge glau-
der Entrückung offenbart wird und daß ben«. »Die Lüge« ist natürlich die
er fortfährt, bis Christus offenbart wird, Behauptung des Antichristen, Gott zu
dann dauert seine Karriere fast sieben sein. Diese Menschen haben es abgelehnt,
Jahre lang – die Zeit der großen Trübsal. den Herrn Jesus als fleischgewordenen
Der »Herr« Jesus wird ihn »beseiti- Gott anzunehmen. Als er auf Erden war,
gen … durch den Hauch seines Mundes« warnte er die Menschen: »Ich bin in dem
(vgl. Jes 11,4; Offb 19,15), und durch »die Namen meines Vaters gekommen, und
Erscheinung seiner Ankunft« zunichte ihr nehmt mich nicht auf; wenn ein ande-
machen. Nur ein Wort von Christus und rer in seinem eigenen Namen kommt,
das helle Scheinen (gr. epiphaneia) seiner den werdet ihr aufnehmen« (Joh 5,43).
Erscheinung (parousia) ist nötig, um die Deshalb nehmen sie den Menschen der
Herrschaft dieses rasenden Thronräu- Sünde an, der in seinem eigenen Namen
bers zu beenden. kommt und als Gott verehrt werden will.
Die Erscheinung der Ankunft Christi »Abgelehntes Licht bedeutet von Gott
findet, wie schon erklärt wurde, statt, verweigertes Licht.« Wenn ein Mensch in
wenn er auf die Erde zurückkehrt, um seinem Herzen einen Götzen errichtet,
die Herrschaft und den Thron für tau- dann wird Gott ihn nach diesem Götzen
send Jahre einzunehmen. behandeln (Hes 14,4).
2,9 Die »Ankunft« des Gesetzlosen Der Antichrist wird wahrscheinlich
geschieht entsprechend »der Wirksam- jüdischer Herkunft sein (Hes 28,9.10;
keit Satans«. Seine Karriere ähnelt der Dan 11,37.38). Die Juden würden von
Satans, weil er seine Macht von ihm keinem betrogen werden können, der
bekommt. Er wird alle Arten von sich als Messias ausgibt, es sei denn, er
»Machttaten … Zeichen und Wundern behauptete, vom Stamm Juda zu sein
der Lüge« tun. und zur Familie Davids zu gehören.
Hier ist des wichtig zu bemerken, daß 2,12 Aus diesem Abschnitt scheint
nicht alle Wunder von Gott kommen. hervorzugehen, daß diejenigen, die das

1071
2. Thessalonicher 2

Evangelium in diesem Zeitalter der Gna- Wunsch, daß alle gerettet werden (1. Tim
de hören, aber Christus nicht vertrauen, 2,4; 2. Petr 3,9). Doch die Bibel lehrt keine
keine weitere Gelegenheit erhalten, nach »Allversöhnung«, die Theorie, daß alle
der Entrückung an Christus zu glauben. eines Tages errettet werden.
Wenn Menschen jetzt nicht dem Herrn »Von Anfang an.« Das kann zweierlei
Jesus glauben, werden sie einst dem heißen. Erstens kann es bedeuten, daß
Antichristen glauben. Es heißt hier, daß Gottes Wahl vor Grundlegung der Welt
sie »alle« gerichtet werden, und zwar getroffen wurde (Eph 1,4). Zweitens
wegen ihres Unglaubens und ihrer Liebe kann man hier lesen »als Erstlingsfrüch-
zum Bösen. Das erinnert an Lukas 14,24: te«, was bedeuten würde, daß die Thes-
»Denn ich sage euch, daß nicht einer salonicher so weit in der Anfangszeit des
jener Männer, die geladen waren, mein Christentums erlöst wurden, daß sie von
Abendmahl schmecken wird.« Gott auserwählt wurden, unter den
Wir wissen, daß viele Menschen ersten Früchten einer großen Ernte erlö-
während der großen Trübsal errettet ster Seelen zu sein.
werden. Die hundertvierundvierzigtau- »Zur Errettung.« Hier haben wir
send Juden z. B. werden gerettet und einen Kontrast zu den vorhergehenden
werden Gottes Boten in der Predigt des Versen. Ungläubige sind durch ihren
Evangeliums des Reiches in der Welt Unglauben zur ewigen Verdammnis
sein. Durch ihren Dienst werden viele bestimmt, während Gläubige »zur Erret-
andere gerettet werden. Doch es scheint tung« erwählt sind.
so zu sein, daß diejenigen, die gerettet »In Heiligung des Geistes.« Hier
werden, Menschen sind, die noch nie haben wir das Werk des Heiligen Geistes
deutlich das Evangelium in diesem Zeit- vor der Bekehrung. Er sondert Einzelne für
alter gehört haben und niemals absicht- Gott von der Welt aus, überzeugt sie von
lich den Erlöser abgelehnt haben. der Sünde und weist sie auf Christus hin.
Jemand hat einmal gut gesagt: »Wenn
IV. Danksagung und Gebet (2,13-17) Christus nicht wäre, gäbe es kein Fest-
mahl, wenn der Geist nicht wäre, gäbe es
A. Der Dank des Paulus dafür, daß keine Gäste.«
die Heiligen dem Gericht entgehen »Im Glauben an die Wahrheit.«
(2,13.14) Zuerst haben wir Gottes Anteil an der
2,13 In den ersten zwölf Versen hat Pau- Erlösung gesehen, jetzt sehen wir den
lus das Schicksal des Antichristen und des Menschen. Beide sind notwendig.
seiner Anhänger beschrieben. Nun wen- Einige Menschen können nur Gottes
det er sich den Thessalonichern zu und Erwählung sehen und meinen, daß der
denkt im Gegensatz zum eben Beschrie- Mensch nichts dazutun könne. Andere
benen an ihre Berufung und ihr Schick- überbetonen den Anteil des Menschen
sal. Indem er das tut, dankt er Gott für und vernachlässigen Gottes souveränes
diese »vom Herrn geliebten Brüder«, Handeln. Die Wahrheit liegt in beiden
und fährt fort, eine Zusammenfassung Extremen. Erwählung und menschliche
ihrer Erlösung zu geben – der vergange- Verantwortlichkeit sind beides biblische
nen, gegenwärtigen und zukünftigen. Lehren, und es ist am besten, an beide zu
»Gott … hat euch erwählt.« Die Bibel glauben und beide zu lehren, auch wenn
lehrt deutlich, daß »Gott« Menschen zur wir nicht verstehen, wie beides gleichzei-
Erlösung erwählt, doch lehrt sie nir- tig wahr sein kann.
gends, daß er Menschen zur Verdamm- 2,14 »Wozu er euch auch berufen hat
nis erwählt. Menschen gehen durch ihre durch unser Evangelium.« Gott hat uns
eigene Wahl verloren. Ohne Gottes Ein- von Ewigkeit her zur Errettung erwählt. Er
greifen würden alle verloren gehen. Hat berief uns in der Zeit. Das Wort »Beru-
Gott das Recht, einige zur Errettung zu fung« bezieht sich auf den Augenblick,
erwählen? Grundsätzlich ist es sein wenn ein Mensch die Wahrheit glaubt.

1072
2. Thessalonicher 2

»Unser Evangelium« heißt nicht, daß es Wenn rein menschliche Überlieferungen


noch andere echte Evangelien gäbe. Es als der Bibel gleichbedeutend angenom-
gibt nur ein Evangelium, doch es gibt men werden, wer entscheidet dann, wel-
viele verschiedene Prediger dieses Evan- che Traditionen richtig und welche falsch
geliums und viele verschiedene Zuhörer- sind?
schaften. Paulus bezieht sich mit diesem 2,16 Nachdem der Apostel seine Bot-
Ausdruck auf das »Evangelium« Gottes, schaft ausformuliert hat, faßt er sie noch
das von ihm gepredigt wird. einmal in ein Gebet. Sehr häufig läßt Pau-
»Zur Erlangung der Herrlichkeit lus auf seine Lehre das Gebet folgen
unseres Herrn Jesus Christus.« Hier (1. Thess 5,23.24; 2. Thess 3,16). Das Ge-
schaut der Apostel in die Zukunft und bet ist an »unseren Herrn Jesus Christus
sieht das endgültige Ergebnis der Erlö- und Gott, unseren Vater« gerichtet. Wir
sung – für immer bei Christus und ihm sind es gewöhnt, daß Paulus diese bei-
gleich zu sein. den Personen der Gottheit im selben
So haben wir in den Versen 13 und 14 Atemzug nennt, doch ist es für ihn unge-
»ein theologisches System en miniature«, wöhnlich, daß er den Sohn zuerst nennt.
eine wunderbare Zusammenfassung der Hier will er natürlich ihre wesensmäßige
Spannweite der Pläne, die Gott für sein Einheit und vollständige Gleichheit beto-
gläubiges Volk hat. Er hat uns gezeigt, nen. Im Griechischen wird das Subjekt in
daß die Erlösung »in einer göttlichen der Mehrzahl von vier Verbformen in der
Wahl ihre Ursache hat, durch die göttli- Einzahl begleitet (»geliebt hat, gegeben
che Kraft durchgeführt, durch eine gött- hat, tröste und befestige«). Was ist dies
liche Botschaft in Kraft gesetzt und in anders als ein weiterer Hinweis auf die
göttlicher Herrlichkeit vervollkommnet wesensmäßige Einheit von Sohn und
wird«. Vater?
Gottes Fürsorge in der Vergangenheit
B. Das Gebet des Paulus um Trost und wird als Ermutigung angeführt, auch in
Bewahrung der Heiligen (2,15-17) Zukunft von ihm Mut und Kraft zu
2,15 Angesichts dieser wunderbaren Be- erwarten. Er »hat uns geliebt und uns in
rufung werden die Heiligen ermahnt, seiner Gnade ewigen Trost und gute
»fest« zu stehen »und die Überlieferun- Hoffnung gegeben«. Zweifellos verweist
gen« festzuhalten, die sie »gelehrt wor- das zurück auf den größten Liebesbe-
den« sind, entweder durch die Worte des weis Gottes – auf die Gabe des Sohnes.
Apostels oder durch seine Briefe. Wichtig Weil wir wissen, daß er auf Golgatha die
ist hier anzumerken, daß die einzigen Sündenfrage gelöst hat, haben wir nun
»Überlieferungen«, die verläßlich und ewigen »Trost« und die »Hoffnung« auf
autoritativ sind, die inspirierten Äuße- eine herrliche Zukunft – und all das
rungen der Apostel sind. Jesus verur- haben wir durch seine wunderbare
teilte die Schriftgelehrten und Pharisäer »Gnade« erlangt.
dafür, daß sie die Gebote Gottes durch 2,17 Das Gebet selbst lautet, daß Gott
ihre Traditionen zunichte machten ihre »Herzen … trösten« und sie »in
(Matth 15,6). Und Paulus warnte die jedem guten Werk und Wort … befesti-
Kolosser vor den menschlichen Traditionen gen« möge. Es geht nicht nur um Ermuti-
(Kol 2,8). Die »Überlieferungen«, an die gung inmitten von Leid, sondern auch
wir uns halten sollten, sind die großen um Kraft, im Gefecht vorwärts zu gehen.
Wahrheiten, die uns in der Heiligen Das Wort »Rückzug« gab es im Vokabu-
Schrift gegeben sind. lar des Apostels nicht, deshalb sollte es
Dieser Vers wird manchmal benutzt, auch in unserem fehlen.
um die Traditionen von Kirchen oder Wir sollten den Ausdruck »jedes gute
religiösen Führern zu rechtfertigen. Doch Werk und Wort« nicht vergessen. Wahr-
jede Tradition, die dem Wort Gottes ent- heit auf unseren Lippen reicht nicht, sie
gegensteht, ist wertlos und gefährlich. muß sich auch in unserem Leben auswir-

1073
2. Thessalonicher 3

ken. So sollte es in unserem Leben die 3,4 »Treue ist nicht aller Teil, treu ist
Ordnung von Lehre und Tat, Lehre und aber der Herr … wir haben aber im
Pflicht, Predigt und Praxis geben. Herrn das Vertrauen (den Glauben) zu
euch.« Wie Denney angemerkt hat: »In
V. Praktische Ermahnungen (3,1-15) dem Herrn kannst du dich auf die ver-
lassen, die von Natur aus schwach,
A. Zum gegenseitigen Gebet (3,1-5) töricht, unbeständig und eigensinnig
3,1 Paulus wußte, daß er die Gebete der sind.« Nun erinnert Paulus die Heiligen
Heiligen brauchte. Dieses Kapitel be- an ihre Verantwortung, das, was er
ginnt mit seiner Bitte um Fürbitte auf befohlen hat »auch« zu »tun«. Hier fin-
drei Gebieten: 1. Für die Ausbreitung der den wir wieder die seltsame Vermi-
Botschaft, 2. für den Sieg der Botschaft schung des Göttlichen und des Menschli-
und 3. für die Bewahrung der Boten. chen: Gott hält euch, nun haltet auch die
Er möchte, »daß das Wort des Herrn Gebote. Es ist derselbe Gedanke wie in
laufe« – ein Bild des Evangeliums, wie es 1. Petrus 1,5: »In der Kraft Gottes (Gottes
trotz Hindernissen von Ort zu Ort sprin- Anteil) durch Glauben (unser Anteil)
tet (s. Ps 147,15). bewahrt.« Wir sehen dasselbe in Philip-
Er möchte auch, daß das Wort per 2,12.13: »Bewirkt euer Heil mit
andernorts dieselben wunderbaren Furcht und Zittern (unser Anteil) …
geistlichen und moralischen Revolutio- denn Gott ist es, der in euch wirkt
nen hervorbringt wie in Thessalonich. (Gottes Anteil).«
3,2 Die dritte Bitte lautet, daß der 3,5 In Zeiten der Verfolgung kann es
Apostel und seine Mitarbeiter »von den leicht geschehen, daß man bittere Gedan-
schlechten und bösen Menschen errettet ken in bezug auf andere entwickelt, weil
werden« mögen. Er scheint sich auf die Intensität und Dauer des Leidens zu
einen bestimmten Widerstand zu bezie- groß wird. Aus diesem Grund betet der
hen, vielleicht von den Juden in Korinth Apostel, daß die Thessalonicher so lieben
(Apg 18,1-18). Die Wahl des Wortes können, wie Gott es tut, und so standhaft
»unverständig« (LU1912) an dieser Stelle bleiben, wie Christus es war.
war angemessen, denn es gibt nichts Irra- Die Übersetzung der Zürcher Bibel
tionaleres als den Widerstand der Men- »zum geduldigen Harren auf Christus«
schen gegen das Evangelium und seine wird in ER mit »das Ausharren des Chri-
Boten. Es fordert Erklärungen heraus. stus« wiedergegeben. In der Version der
Menschen mögen über Politik, Wissen- Zürcher Übersetzung würde es bedeu-
schaft oder eine Menge anderer Themen ten, daß man standhaft bleibt, während
vernünftig sprechen können, doch wenn man auf die Wiederkunft Christi wartet.
es um das Evangelium geht, dann verlie- In ER bedeutet es, daß man dasselbe
ren sie alle Vernunft. »Ausharren« oder dieselbe Geduld hat,
3,3 Verpassen Sie nicht die Schönheit die Christus als Mensch auf Erden zeigte
des Kontrastes zwischen Vers 2: »Denn und die er noch immer als Mensch im
12)
die Treue ist nicht aller Teil«, und Vers 3: Himmel zeigt.
»Treu ist aber der Herr.« Das lehrt uns, Die Worte »der Herr« können sich in
von treulosen Menschen wegzuschauen diesem Vers auf den Heiligen Geist
auf unseren Gott, der uns nie im Stich beziehen, und damit wären alle drei Glie-
läßt. Er ist »treu«, uns bis zum Ende fest- der der Trinität erwähnt, wie in 2,13.14.
zuhalten (1. Kor 1,9). Er ist treu, uns aus
der Versuchung zu befreien (1. Kor 10, B. Zum Umgang mit den
13). Er ist treu und gerecht, daß er uns die Widerspenstigen (3,6-15)
Sünden vergibt und uns reinigt von aller 3,6 Es schein klar zu sein, daß einige der
Ungerechtigkeit (1. Joh 1,9). Und hier ist Heiligen in Thessalonich nicht mehr für
er »treu«, uns zu »befestigen und vor ihren Lebensunterhalt arbeiteten, weil
dem Bösen« (d. h. Satan) zu »bewahren«. sie die Wiederkunft des Herrn so bald

1074
2. Thessalonicher 3

erwarteten. Paulus ermutigt dies nicht dann sollte »er auch nicht essen«. Steht
als geistliche Haltung, sondern gibt hier das im Gegensatz zu der Tatsache, daß
definitive Anweisungen, wie man mit Gläubige immer freundlich sein sollten?
solchen Brüdern umgehen sollte. Überhaupt nicht. Man erweist nieman-
Seine Anweisungen stehen in der dem Freundschaft, wenn man Faulheit
Form eines Befehls, daß sie sich zurück- unterstützt. Spurgeon sagt: »Die echteste
ziehen sollten »von jedem Bruder, der Liebe gegenüber denen, die irren, ist
unordentlich … wandelt«, d. h. von nicht, sich mit ihnen in ihrem Irrtum
jedem, der nicht wie die anderen lebt, zusammenzutun, sondern in allem Jesus
sondern sich zu arbeiten weigert und treu zu bleiben.«
andere ausnützt (vgl. V. 10.11). Gläubige 3,11 Nun benutzt der Apostel ein
13)
sollten ihr Mißfallen über einen solchen schönes Wortspiel , um die Inkonse-
Bruder dadurch Ausdruck verleihen, mit quenz der Pseudo-Geistlichkeit dieser
ihm keinen Umgang mehr zu pflegen. unordentlichen Brüder herauszustellen.
Doch die Sünde ist nicht schlimm genug, Im Deutschen ist dieses Wortspiel leider
um eine Exkommunikation aus der nicht wiederzugeben, daher wird der
Gemeinde nach sich zu ziehen. Text folgendermaßen übersetzt: »Denn
Die Überlieferung, die die Thessalo- wir hören, daß einige unter euch unor-
nicher von Paulus »empfangen« hatten, dentlich wandeln, indem sie nicht arbei-
war die eines unermüdlichen Fleißes, ten, sondern unnütze Dinge treiben.«
harter Arbeit und eines Lebens von eige- 3,12 Allen »solchen« wird befohlen
ner Hände Arbeit. und sie werden »im Herrn Jesus Chri-
3,7 Paulus hat seine Zeltmacherei stus« ermahnt, zu arbeiten, ohne es groß
nicht einfach deshalb aufgegeben, weil er herauszustellen und »ihr eigenes Brot«
wußte, daß der Herr Jesus wiederkom- zu verdienen. Das ist ein gutes Zeugnis
men würde. Natürlich erwartete er, daß und verherrlicht Gott.
Christus jeden Augenblick wiederkom- 3,13 Diejenigen, die treu gearbeitet
men würde, doch er diente und arbeitete haben, werden ermutigt, damit fortzu-
in der Erkenntnis, daß der Herr vielleicht fahren. Sie stehen am Ende eines wichti-
nicht während seines Lebens auf Erden gen Rennens, nicht am Anfang, deshalb
kommen würde. sollten sie »nicht ermatten«, das Richtige
3,8 Niemand konnte ihn anklagen, er zu tun.
habe sich im Haus eines Menschen fest- 3,14 Doch was sollte man mit jeman-
gesetzt und esse, was ein anderer ihm dem tun, der sich weigert, den Anwei-
erarbeitet habe. Er verdiente seinen eige- sungen des Apostels zu »gehorchen«?
nen Lebensunterhalt, während er das Die anderen Christen sollten ihn zurecht-
Evangelium predigte. Das bedeutete lan- weisen, indem sie sich weigerten, mit
ge Tage und Nächte, doch Paulus war ihm Umgang zu haben. Der Zweck die-
entschlossen, niemandem »beschwerlich ser Strafe ist es, ihn wegen seines Verhal-
zu fallen«. tens zu beschämen und ihn zu zwingen,
3,9 Als Prediger des Evangeliums sein Verhalten zu korrigieren.
hatte der Apostel das Recht, sich von 3,15 Doch ist diese Strafe nicht so
denen ernähren zu lassen, die durch sei- schlimm wie eine Exkommunikation. In
nen Dienst bekehrt wurden (1. Kor 9,6- diesem Fall ist der Sünder immer noch
14; 1. Tim 5,18). Doch er zog es vor, sein »als ein Bruder« angesehen. Wenn
Recht nicht wahrzunehmen, damit er ein jemand exkommuniziert wird, dann ist
»Beispiel« von nobler Unabhängigkeit er zu behandeln wie ein »Heide und
und unermüdlichem Eifer wäre. Zöllner« (Matth 18,17).
3,10 Die Thessalonicher waren schon Die Bestrafung eines Gläubigen
angewiesen worden, Schmarotzer nicht erfolgt immer mit dem Ziel, ihn für den
zu unterstützen. Wenn jemand, der dazu Herrn und das Volk Gottes zurechtzu-
in der Lage war, nicht arbeiten wollte, bringen. Sie sollte nie in Bitternis oder

1075
2. Thessalonicher 3

Feindschaft durchgeführt werden, son- 2. Kor 13,14; Gal 6,18; Eph 6,24; Phil 4,23;
dern in christlicher Höflichkeit und Kol 4,18; 1. Thess 5,28; 1. Tim 6,21; 2. Tim
Festigkeit. Derjenige, der einen Fehler 4,22; Tit 3,15; Philem 25; und, falls Paulus
gemacht hat, sollte »nicht als ein Feind, ihn selbst geschrieben haben sollte,
… sondern … als ein Bruder« behandelt Hebr 13,25). Aus diesen Verweisstellen
werden. erkennen wir, daß seine Briefe immer mit
Es mag uns heute seltsam erscheinen, einem Hinweis auf die »Gnade« enden.
daß die Christen in Thessalonich den
Herrn so sicher erwarteten, daß sie ihre
täglichen Pflichten aufgaben. Das scheint Exkurs über die Entrückung der
für unsere heutige Gemeinde keine Gemeinde
Gefahr zu sein. Wir sind in das andere Die Wahrheit der Wiederkunft des Herrn
Extrem verfallen. Wir sind so beschäftigt erscheint in jedem Kapitel des 1. Thessa-
mit Geschäft und Geldverdienen, daß lonicherbriefes und in den ersten zwei
wir die Frische und Erregung der Hoff- Kapiteln des zweiten Briefes. Sie ist das
nung auf sein baldiges Kommen verlo- gemeinsame Thema, der rote Faden.
ren haben. Doch wir müssen uns immer vor
Augen halten, daß Prophezeiungen nicht
VI. Segen und Gruß (3,16-18) dazu da sind, unseren Intellekt heraus-
3,16 Dieser Vers ist auch »friedevoller zufordern oder unsere Neugier zu befrie-
Schluß eines stürmischen Briefes« ge- digen. Der Zweck der Prophezeiungen
nannt worden. In ihm bittet Paulus dar- ist es, einen verändernden Einfluß auf
um, daß die leidenden Heiligen in Thes- unser Leben auszuüben.
salonich den »Frieden« des Herrn »des Für die Gläubigen hat die Hoffnung
Friedens« jederzeit und »auf alle Weise« auf eine baldige Wiederkehr Christi
erfahren mögen. praktische Konsequenzen von großer
Um seine Standhaftigkeit aufrecht zu Bedeutung.
erhalten, ist der Christ von nichts in die- 1. Sie sollte einen reinigenden Einfluß
ser Welt abhängig. Sie basiert völlig auf auf unser Leben haben (1. Thess 5,23;
der Person und dem Werk des Herrn 1. Joh 3,3).
Jesus. Die Welt kann diese Standhaftig- 2. Sie sollte uns die Last auflegen, für
keit weder geben noch nehmen. Doch die Erlösung der Verlorenen zu beten
müssen wir sie in allen Lebensumstän- und zu arbeiten (1. Mose 19,14;
den anwenden. »Friede heißt nicht, daß Hes 33,6; Judas 21-23).
die Verfolgung aufhört, sondern ist die 3. Sie sollte uns ermutigen, trotz Verfol-
Ruhe des Herzens, die aus dem Glauben gung und Anfechtung auszuhalten
an Gott entsteht und von den Umstän- (Röm 8,18; 2. Kor 4,17; 1. Thess 4,13-
den unabhängig ist.« 18).
3,17.18 An diesem Punkt hat »Pau- 4. Sie sollte uns dazu bringen, unsere
lus« offensichtlich selbst den Stift in die materiellen Besitztümer zu verrin-
Hand genommen und den »Gruß« eigen- gern, weil ihr Wert immer kleiner
händig geschrieben. Er spricht davon, wird, wenn sein Kommen bevorsteht
daß sein Gruß »ein Zeichen in jedem (vgl. 3. Mose 25,8-10.14-16).
Brief« sei, den er schreibe. Einige haben 5. Sie sollte uns dazu bringen, uns bei
darunter verstanden, daß dies bedeutet, jedem zu entschuldigen, dem wir
daß die eigene Handschrift des Paulus Unrecht getan haben und, wenn not-
am Ende dieses Briefes bewies, daß er wendig, auch Wiedergutmachung zu
wirklich von ihm stammte. Andere glau- leisten (Matth 5,24; Jak 5,16).
ben, daß das »Zeichen« die charakteristi- 6. Sie sollte uns zum eifrigen Dienst
sche paulinische Segensformel ist: »Die inspirieren, da wir wissen, daß die
Gnade unseres Herrn Jesus Christus sei Nacht kommt, da niemand wirken
mit euch allen« (Röm 16,24; 1. Kor 16,23; kann (Joh 9,4; 1. Thess 1,9.10a).

1076
2. Thessalonicher 3

7. Sie sollte uns in einer Erwartungshal- mindestens sieben Jahre dauern, ehe
tung halten (Lk 12,36), daß wir in ihm er käme, weil wir noch nicht in der
bleiben, so daß wir nicht vor ihm großen Trübsal sind, und wenn sie
beschämt werden, wenn er kommt (1. kommt, dann wird sie sieben Jahre
Joh 2,28). dauern. Die Ansicht, daß die Ent-
8. Sie sollte uns Mut zum Bekenntnis rückung vor der großen Trübsal
Christi geben (Mk 8,38; Lk 9,26). kommt, ist die einzige, die es erlaubt
9. Sie sollte sich uns als tröstende Wahr- zu glauben, daß Christus jeden
heit erweisen (Joh 14,1-3.28; 1. Thess Augenblick kommen kann.
4,18; 2. Thess 1,7; 2. Tim 2,12). Hier sind einige der Verse, die zeigen,
10. Sie sollte eine Ermutigung zu Mäßi- daß wir ständig darauf gefaßt sein
gung, Freundlichkeit und liebevoller sollten, daß der Herr kommt, weil wir
Vernunft sein (Phil 4,5). den Zeitpunkt dieses Ereignisses
11. Sie sollte ein Motiv für Einigkeit und nicht kennen.
Liebe sein (1. Thess 3,12.13). Nicht allein aber sie, sondern auch
12. Sie sollte eine weltabgewandte Hal- wir selbst, die wir die Erstlingsgabe
tung in uns erzeugen (Kol 3,1-4). des Geistes haben, auch wir selbst
13. Sie sollte uns an das kommende seufzen in uns selbst und erwarten die
Gericht und den Lohn erinnern (Röm Sohnschaft: die Erlösung unseres Lei-
14,10-12; 1. Kor 3,11-15; 2. Kor 5,10). bes (Röm 8,23).
14. Sie sollte bei der Predigt des Evange- Denn sooft ihr dieses Brot eßt und den
liums als mächtiger Anreiz benutzt Kelch trinkt, verkündigt ihr den Tod des
werden (Apg 3,19-21; Offb 3,3). Herrn, bis er kommt (1. Kor 11,26 – An
Diejenigen, die nicht glauben, sollte die Korinther gerichtet drückt dieser
die Wahrheit der Wiederkehr Christi Vers den Gedanken aus, daß der Herr
dazu führen, ihre Sünden zu bereuen noch zu ihrer Lebenszeit kommen
und ihm ihr Leben als Herrn und Erlöser könnte).
ganz hinzugeben. Nur diejenigen, die in Denn in diesem freilich seufzen wir
Christus sind, werden bei der Ent- und sehnen uns danach, mit unserer
rückung dabei sein. Alle anderen werden Behausung aus dem Himmel über-
zum Gericht zurückgelassen. kleidet zu werden (2. Kor 5,2 – Die
Was wäre, wenn er heute wieder- Gläubigen werden bei der Ent-
käme? rückung mit ihren verherrlichten Lei-
Wegen der Bedeutung der Wieder- bern überkleidet).
kunft Christi in den Thessalonicherbrie- Wir nämlich erwarten durch den Geist
fen und im Leben des Christen fügen wir aus Glauben die Hoffnung der Ge-
die folgenden Zusammenfassungen an: rechtigkeit (Gal 5,5 – Die Hoffnung
der Gerechtigkeit ist das Kommen
Argumente für die Entrückung vor der des Herrn und der verherrlichte Leib,
großen Trübsal den wir dann erhalten werden).
1. Das erste Argument basiert darauf, Denn unser Bürgerrecht ist in den
daß die Entrückung nahe bevorsteht. Himmeln, von woher wir auch den
Es gibt viele Bibelstellen, die andeu- Herrn Jesus Christus als Heiland
ten, daß die Christen bereit sein sol- erwarten, der unseren Leib der Nied-
len, daß der Herr jederzeit kommen rigkeit umgestalten wird zur Gleich-
kann. Wir sollten wachen und war- gestalt mit seinem Leib der Herrlich-
ten, auch wenn wir die Zeit seines keit, nach der wirksamen Kraft, mit
Kommens nicht kennen. Wenn die der er vermag, auch alle Dinge sich
Gemeinde erst noch durch die große zu unterwerfen (Phil 3,20.21).
Trübsal gehen müßte, dann könnten Eure Milde soll allen Menschen be-
wir ihn nicht jeden Moment erwar- kannt werden; der Herr ist nahe
ten. In der Tat, es würde sogar noch (Phil 4,5).

1077
2. Thessalonicher 3

Denn sie selbst erzählen von uns, Der diese Dinge bezeugt, spricht: Ja,
welchen Eingang wir bei euch hatten ich komme bald. Amen, komm, Herr
und wie ihr euch von den Götzen zu Jesus! (Offb 22,20).
Gott bekehrt habt, dem lebendigen Es gibt noch andere Texte, die zwar
und wahren Gott zu dienen und sei- nicht direkt die Entrückung nennen,
nen Sohn aus den Himmeln zu erwar- doch den generellen Eindruck er-
ten, den er aus den Toten auferweckt wecken, daß das Kommen Christi
hat – Jesus, der uns errettet von dem bald bevorsteht. In ihrer Geschichte
kommenden Zorn (1. Thess 1,9.10). hat die gläubige Kirche immer festge-
… indem wir die glückselige Hoffnung halten, daß die Zeit des Kommens
und Erscheinung der Herrlichkeit un- Christi unbekannt ist und daß es des-
seres großen Gottes und Heilandes halb jeden Augenblick soweit sein
Jesus Christus erwarten (Tit 2,13). kann.
… so wird auch der Christus, nach- Wacht also, denn ihr wißt nicht, zu wel-
dem er einmal geopfert worden ist, cher Stunde euer Herr kommt. Das aber
um vieler Sünden zu tragen, zum erkennt: Wenn der Hausherr gewußt
zweiten Male ohne Beziehung zur hätte, in welcher Wache der Dieb
Sünde denen zum Heil erscheinen, komme, so hätte er wohl gewacht
die ihn erwarten (Hebr 9,28). und nicht zugelassen, daß in sein
Denn noch eine ganz kleine Weile, und Haus eingebrochen würde. Deshalb
der Kommende wird kommen und seid auch ihr bereit; denn in der
nicht säumen (Hebr 10,37). Stunde, in der ihr es nicht meint,
Habt nun Geduld, Brüder, bis zur An- kommt der Sohn des Menschen
kunft des Herrn! Siehe, der Bauer war- (Matth 24,42-44).
tet auf die köstliche Frucht der Erde Von jenem Tag aber oder der Stunde weiß
und hat Geduld ihretwegen, bis sie niemand, weder die Engel im Himmel
den Früh- und Spätregen empfange. noch der Sohn, sondern nur der Vater.
Habt auch ihr Geduld, befestigt eure Her- Seht zu, wacht! Denn ihr wißt nicht,
zen, denn die Ankunft des Herrn ist nahe wann die Zeit ist. Wie ein Mensch,
gekommen. Seufzt nicht gegeneinan- der außer Landes reiste, sein Haus
der, Brüder, damit ihr nicht gerichtet verließ und seinen Knechten die Voll-
werdet. Siehe, der Richter steht vor der macht gab, einem jeden sein Werk,
Tür (Jak 5,7-9). und dem Türhüter einschärfte, daß er
Es ist aber nahe gekommen das Ende aller wache, so wacht nun! Denn ihr wißt
Dinge. Seid nun besonnen und seid nicht, wann der Herr des Hauses kommt,
nüchtern zum Gebet (1. Petr 4,7). ob des Abends oder um Mitternacht oder
Und jeder, der diese Hoffnung auf ihn um den Hahnenschrei oder frühmorgens,
hat, reinigt sich selbst, wie er rein ist damit er nicht, wenn er plötzlich
(1. Joh 3,3). kommt, euch schlafend finde. Was ich
Erhaltet euch in der Liebe Gottes, aber euch sage, sage ich allen: Wacht!
indem ihr die Barmherzigkeit unseres (Mk 13,32-37).
Herrn Jesus Christus erwartet zum ewi- Und ihr, seid Menschen gleich, die
gen Leben (Judas 21). auf ihren Herrn warten, wann er auf-
Ich komme bald. Halte fest, was du brechen mag von der Hochzeit, da-
hast, damit niemand deinen Sieges- mit, wenn er kommt und anklopft, sie
kranz nehme (Offb 3,11). ihm sogleich aufmachen (Lk 12,36).
Und siehe, ich komme bald. Glückselig, Daher habt ihr an keiner Gnadengabe
der die Worte der Weissagung dieses Mangel, während ihr das Offenbar-
Buches bewahrt (Offb 22,7). werden unseres Herrn Jesus Christus
Siehe, ich komme bald und mein Lohn erwartet (1. Kor 1,7).
mit mir, um einem jeden zu vergelten, Ich bezeuge ernstlich vor Gott und
wie sein Werk ist (Offb 22,12). Christo Jesu, der im Begriff steht zu

1078
2. Thessalonicher 3

richten Lebendige und Tote (2. Tim 4,1, auf Erden in den Kapiteln 6-19. Die
Elb Anm.). Heiligen der Gemeinde sind zu die-
Kinder, es ist die letzte Stunde, und wie sem Zeitpunkt schon im Himmel.
ihr gehört habt, daß der Antichrist 5. Die große Trübsal wird nicht eher
kommt, so sind auch jetzt viele Anti- beginnen, als daß der Mensch der
christen aufgetreten; daher wissen wir, Sünde offenbart worden ist (2. Thess
daß es die letzte Stunde ist (1. Joh 2,18). 2,3). Doch der Mensch der Sünde
Wenn du nun nicht wachst, werde ich wird erst offenbart, wenn der, der ihn
kommen wie ein Dieb, und du wirst nicht zurückhält, weggenommen ist
wissen, zu welcher Stunde ich über dich (2. Thess 2,7.8). Der Heilige Geist ent-
kommen werde (Offb 3,3b). spricht sicherlich diesem Wesen, das
Siehe, ich komme wie ein Dieb. Glück- hier zurückhält, er hindert oder ver-
selig, der wacht und seine Kleider hindert die volle Entwicklung des
bewahrt, damit er nicht nackt umher- Bösen, solange die Gemeinde noch in
gehe und man nicht seine Schande der Welt ist. Er wird bei der Ent-
sehe (Offb 16,15). rückung als der Gemeinde innewoh-
2. Das zweite Argument basiert auf der nend weggenommen.
Verheißung, daß die Gemeinde vor In gewissem Sinne war der Heilige
dem kommenden Zorn bewahrt Geist immer in der Welt und wird es
wird. In Römer 5,9 sagt Paulus, daß auch immer sein. Doch es gab einen
wir »durch ihn vom Zorn gerettet besonderen Sinn, in dem er zu Pfing-
werden«. 1. Thessalonicher 1,10 be- sten kam, d. h. als der, der ständig in
schreibt den Herrn Jesus als unseren den Gläubigen und in der Gemeinde
Erretter vor dem kommenden Zorn. wohnt. In diesem Sinne wird er bei
Und in 1. Thessalonicher 5,9 lernen der Entrückung auch weggenom-
wir, daß Gott uns nicht zum Zorn men. Das bedeutet nicht, daß der
bestimmt hat, sondern zur Errettung Geist Gottes seinen Dienst während
durch unseren Herrn Jesus Christus. der großen Trübsal nicht mehr tun
Das Wort »Zorn« kann sich auf den wird. Er wird noch immer von der
Zorn der großen Trübsal beziehen, Sünde überzeugen und Sünder
oder auf Gottes ewiges Gericht über bekehren. Doch er wird nicht mehr
die Ungläubigen. In den Briefen an ständig in ihnen wohnen und sie zu
die Thessalonicher läßt der Kontext einer Gemeinde machen. Sein Dienst
eher an den Zorn der großen Trübsal wird dann in gewisser Weise ver-
denken (s. 1. Thess 5,2.3; 2. Thess 1,6- gleichbar mit dem zur Zeit des AT
10; 2,10-21). sein.
3. In Offenbarung 3,10 verspricht Chri- 6. In 1. Thessalonicher 4,18 wird die
stus, sein Volk »vor (gr. ek, wrtl. aus, Entrückung eine tröstende Aussicht
heraus) der Stunde der Versuchung« genannt. Der Tag des Herrn kommt
zu bewahren, die über die ganze Welt nicht als Tröster, sondern als Dieb in
kommen wird, um die zu versuchen, der Nacht (1. Thess 5,2). Es ist eine
die auf der Erde wohnen. Zeit plötzlicher Zerstörung (V. 3) und
4. Die Struktur des Buches der Offenba- des Zorns (V. 9), vor der man nicht
rung unterstreicht die Lehre einer fliehen kann (V. 3). Dagegen ist die
Entrückung vor der großen Trübsal. Entrückung eine immer herrlichere
In den Kapiteln 2 und 3 sehen wir die Hoffnung, nicht eine, die uns für
Gemeinde auf Erden, doch nach Ka- immer in Angst versetzt.
pitel 3 wird nirgends mehr erwähnt, 7. Es muß eine Zwischenzeit zwischen
daß sie auf der Erde sei. In den Kapi- dem Kommen Christi für seine Heili-
teln 4 und 5 sehen wir die Gemeinde gen und seinem Kommen mit seinen
im Himmel, wie sie die Siegeskrone Heiligen geben. Wenn Christus für
trägt. Dann folgt die große Trübsal seine Heiligen kommt, dann werden

1079
2. Thessalonicher 3

alle Gläubigen aus der Welt genom- rückung nach der großen Trübsal
men und werden ihre verherrlichten stattfinden würde.
Leiber empfangen (1. Kor 15,51). Doch 10. Die große Trübsal ist von ihrem Cha-
wenn Christus zurückkommt, um zu rakter her ausgesprochen jüdisch. Sie
herrschen, wird es errettete Men- wird auch »Trübsal Jakobs« genannt
schen geben, die noch immer in ihren (Jer 30,7). Man beachte die jüdischen
irdischen Leibern sind, was man an der Anspielungen in Matthäus 24: Judäa
Tatsache erkennt, daß sie noch Kinder (V. 16), Sabbath (V. 20) und der Tem-
aufziehen (Jes 65,20-25; Sach 8,5). pel (V. 15). Diese Begriffe haben mit
Wenn die Entrückung und das Offen- der Gemeinde nichts zu tun.
barwerden zur gleichen Zeit stattfin- 11. Mehrere Bilder des AT verweisen auf
den (die Auffassung, daß die Ent- eine Entrückung vor der großen
rückung erst nach der großen Trübsal Trübsal. Wir gründen keine Lehre mit
stattfindet, behauptet dies), woher den Vorbildern, doch sie passen zur
kommen dann diese letztgenannten Auffassung, daß die Entrückung vor
Gläubigen? der großen Trübsal stattfinden wird.
Es gibt noch einen zweiten Grund, Henoch, ein Bild für die Gemeinde,
warum es eine Zwischenzeit zwi- wurde verwandelt, ehe das Gericht
schen der Entrückung und der Herr- Gottes durch die Wasser kam, wäh-
schaft Christi geben muß. Der Rich- rend Noah und seine Familie, Vorbil-
terstuhl Christi muß nach der Ent- der für den gläubigen jüdischen
rückung im Himmel stattfinden, Überrest, durch die Flut hindurch
wenn der Herr über die Treue seiner gerettet wurden.
Heiligen richtet und sie entsprechend Lot wurde aus Sodom errettet, bevor
belohnen wird (2. Kor 5,10). Der das Feuer auf die Stadt fiel.
Lohn, der uns zu dieser Zeit gegeben Die Opferung Isaaks durch Abraham
wird, wird das Ausmaß der Herr- zeigt Gott, wie er seinen Sohn auf
schaft bestimmen, das einzelnen Hei- Golgatha opferte. Das erste Mal wird
ligen während des Tausendjährigen Isaak nach diesem Ereignis genannt,
Reiches gegeben wird (Lk 19,17.19). als er hinging, seine Braut zu be-
Wenn die Entrückung und das Kom- grüßen und sie heimzuführen. So
men zur Herrschaft gleichzeitig ge- wird auch Christi erstes Erscheinen
schehen würde, gäbe es keine Zeit, zu nach Seiner Himmelfahrt dann sein,
der der Richterstuhl Christi stattfin- wenn er seine Braut in den Himmel
den könnte. heimholen wird.
8. Der Tag des Herrn kommt nur wie Elia wurde in den Himmel geholt,
ein Dieb in der Nacht über die Men- bevor das Gericht an der bösen Isebel
schen (1. Thess 5,2). Doch behauptet vollstreckt wurde.
Paulus ausdrücklich, daß er die Gläu- 12. Die neunundsechzig Wochen der
bigen nicht wie ein Dieb in der Nacht Prophezeiung Daniels (9,24-27) er-
überfällt (1. Thess 5,4). Deshalb wird streckten sich von dem Erlaß des
er überhaupt keine Gläubigen über- Artaxerxes im Jahr 445 v. Chr. bis zur
fallen. Warum nicht? Es gibt zwei Kreuzigung Christi. Sie haben nichts
Gründe dafür: a. Gläubige sind keine mit der Gemeinde zu tun. Warum
Kinder der Nacht, sondern des Tages sollte sich dann die Gemeinde in der
(1. Thess 5,4.5). b. Gott hat die Gläu- siebzigsten Woche finden, d. h. wäh-
bigen nicht zum Zorn bestimmt rend der großen Trübsal? (Das Zeital-
(1. Thess 5,9). ter der Gemeinde findet statt dessen
9. Bei der Entrückung gehen die Gläu- in einer Zwischenzeit statt, die nicht
bigen zurück ins Vaterhaus (Joh 14,3), erwähnt wird und zwischen der
nicht direkt zurück auf die Erde, wie neunundsechzigsten und der siebzig-
man annehmen müßte, wenn die Ent- sten Jahrwoche liegt.)

1080
2. Thessalonicher 3

Argumente gegen die Entrückung vor wir durch viele Trübsale in das Reich
der großen Trübsal und für eine Gottes eingehen müssen« (Apg 14,22).
Entrückung nach ihr Doch gibt es einen großen Unter-
1. Die Verheißung in Offenbarung 3,10 schied zwischen der Trübsal, die dem
lautet nicht, daß die Heiligen vor der Gläubigen verheißen ist, und der
großen Trübsal bewahrt werden, son- großen Trübsal, die die Welt, die Chri-
dern daß sie durch sie hindurch stus abgelehnt hat, erwartet.
bewahrt werden (vgl. Joh 17,15). 4. 2. Thessalonicher 1,7 zeigt, daß die
Antwort: Die Worte, die in diesem Heiligen keine Ruhe erlangen, ehe
Vers mit »bewahren vor« übersetzt der Herr Jesus am Ende der großen
werden, bedeuten wörtlich »heraus- Trübsal auf die Erde zurückkehrt.
halten aus«. Die Präposition im Grie- Antwort: Die Thessalonicher, an die
chischen (ek) bedeutet »aus, heraus«. dies gerichtet ist, haben ihre Ruhe im
Deshalb ist der Gedanke hier nicht, Himmel schon erlangt. Doch das
daß die Gemeinde durch die große Schicksal ihrer Verfolger und die
Trübsal hindurch bewahrt wird, son- Rechtfertigung der Heiligen wird der
dern daß sie vollständig aus ihr her- Welt erst offenbart werden, wenn der
ausgehalten wird. Herr Jesus in Macht und großer Herr-
Dieselben Worte werden in Johannes lichkeit wiederkehrt.
17,15 benutzt, wo Jesus betet: »Ich 5. Nach Apostelgeschichte 3,21 wird
bitte nicht, daß du sie aus der Welt der Himmel den Herrn Jesus bis zur
wegnimmst, sondern daß du sie Zeit der Wiederbringung aller Dinge
bewahrst vor dem Bösen.« Plummer festhalten, d. h. bis zum Tausend-
kommentiert: »Genauso, wie die Jün- jährigen Reich.
ger in Christus leben und sich bewe- Antwort: Diese Worte wurden den
gen, so sollen sie aus [ek] dem Bösen »Männern von Israel« gesagt (V. 4).
herausgehalten werden, wie Jesus Diese Aussage gilt bezüglich des Volkes
betet.« Das Gebet ist beantwortet, die Israels. Sie stimmt mit dem Worten
Gläubigen sind aus dem Herrschafts- des Heilands über Jerusalem in Mat-
bereich Satans befreit worden und in thäus 23,39 überein: »Ihr werdet mich
das Reich des geliebten Sohnes Got- von jetzt an nicht sehen, bis ihr
tes versetzt worden. sprecht: Gepriesen sei, der da kommt
2. Im Griechischen heißt es in Römer im Namen des Herrn!« Das wird am
5,3: »Wir wissen, daß die Trübsal Aus- Ende der großen Trübsal stattfinden.
harren bewirkt.« Doch die Gemeinde wird schon sie-
Antwort: Paulus sagt hier nicht, daß ben Jahre früher in den Himmel ent-
die Trübsal nur während der großen rückt worden sein.
Trübsal Geduld lehrt. Sein Argument 6. Psalm 110,1 sagt, daß Christus zur
lautet eindeutig, daß Trübsal, der die Rechten Gottes sitzen werde, bis sei-
Gläubigen in diesem Leben ausge- ne Feinde vernichtet werden. Das
setzt sind, allgemein Geduld ent- wird aber erst am Ende der großen
wickelt. Auch haben im Griechischen Trübsal sein.
wie auch im Französischen und Spa- Antwort: In Offenbarung 20,8.9 lesen
nischen abstrakte Hauptwörter oft wir von einigen, die am Ende des
einen Artikel, deshalb ist auch die Tausendjährigen Reiches Christi
Übersetzung ohne den Artikel (z. B. Feinde sein werden, d. h. 1000 Jahre
LU1984) richtig. nach dem Ende der großen Trübsal.
3. Christen ist immer Trübsal vorausge- Der Ausdruck »zur Rechten Gottes«
sagt worden (Joh 16,33). Es gibt kei- kann sowohl einen Ehrenplatz als
nen Grund, warum sie die große auch einen Ort bezeichnen.
Trübsal nicht erleben sollten. 7. In Titus 2,13 wird die »glückselige
Antwort: Niemand bestreitet, »daß Hoffnung« mit der »Erscheinung der

1081
2. Thessalonicher 3

Herrlichkeit« gleichgesetzt. Deshalb Regel, hat auch Granville Sharps


findet die Entrückung zur gleichen Regel Ausnahmen. Eine finden wir in
Zeit wie die Offenbarung Christi Lukas 14,23, wo es im Griechischen
statt. Deshalb warten wir nicht auf heißt: »Geht hinaus auf die Wege und
eine Entrückung vor der großen Zäune.« Wenn die Regel zutrifft,
Trübsal, sondern auf das Kommen dann müssen wir glauben, daß die
Christi zur Herrschaft. Wege dasselbe seien wie die Zäune!
Antwort: Dieses Argument basiert Eine zweite Ausnahme finden wir in
auf einer Regel der griechischen Syn- Epheser 2,20: »Die Grundlage der
tax, die man »Regel nach Granville Apostel und Propheten.« Doch kei-
Sharp« nennt. Sie besagt: Wenn zwei ner, der die Bibel sorgfältig studiert
Hauptwörter durch »und« (gr. kai) hat, würde behaupten, daß Apostel
verbunden sind und denselben Kasus und Propheten dasselbe seien.
haben, und ein definierter Artikel vor Doch auch wenn wir annehmen, daß
dem ersten, jedoch nicht vor dem die »glückselige Hoffnung« dasselbe
zweiten Hauptwort steht, dann be- ist wie die »Erscheinung der Herr-
zieht sich das zweite Hauptwort auf lichkeit«, was hält uns davon ab, die
dieselbe Person oder Sache, auf die Entrückung als seine »Erscheinung
sich auch das erste Hauptwort be- der Herrlichkeit« für die Gemeinde
zieht und ist eine weitere Beschrei- anzusehen, während das Offenbar-
bung davon. Um ein Beispiel zu ge- werden Christi die Erscheinung der
ben: In Titus 2,13 heißt es: »Herrlich- Herrlichkeit für die Welt ist? Die Wor-
keit unseres großen Gottes und Hei- te apokalypsis (Offenbarung) und epip-
landes Jesus Christus.« Die Worte haneia (Hervorleuchten oder Erschei-
»Gott« und »Heiland« sind durch nung) könnten sich sowohl auf die
»und« verbunden, sie haben densel- Entrückung als auch auf Christi
ben Kasus (Genitiv), der bestimmte Kommen zur Herrschaft beziehen.
Artikel (ein Teil des griechischen 8. Andere Schriftstellen, die zeigen,
Wortes für »unser«) steht vor »Gott«, daß die Hoffnung des Christen die
aber nicht vor »Heiland«. Deshalb Wiederkunft Christi zur Herrschaft
bezieht sich nach Granville Sharps ist, sind 1. Korinther 1,7; 1. Timotheus
Regel das Wort »Heiland« auf diesel- 6,14; 2. Timotheus 4,8; 1. Petrus
be Person, nämlich »Gott« und 1,7.13; 4,13.
beschreibt ihn weiter. Das beweist Antwort: Die Worte »Offenbarung«
natürlich, daß unser Erlöser, Jesus und »Erscheinen« werden in diesen
Christus, Gott ist. Abschnitten sowohl für Christi Kom-
In demselben Vers heißt es im Grie- men für seine Heiligen als auch für
chischen: »indem wir die glückselige sein Kommen mit seinen Heiligen
Hoffnung und Erscheinung der Herr- benutzt. Zuerst offenbart er sich selbst
lichkeit … erwarten.« Man behauptet der Gemeinde und erscheint ihr, spä-
nun, daß nach der Regel Granville ter tut er dasselbe vor der Welt.
Sharps die »glückselige Hoffnung« Doch selbst wenn alle die zitierten
dasselbe ist wie die »Erscheinung der Verse sich auf Christi Kommen zur
Herrlichkeit«. Und da die »Erschei- Herrschaft beziehen würden, sollte es
nung der Herrlichkeit« allgemein als klar sein, daß die Hoffnung des Chri-
Christi Kommen zur Herrschaft ver- sten alle Segnungen der propheti-
standen wird, wäre die Hoffnung des schen Zukunft umfaßt. Wir erwarten
Gläubigen nicht eine Entrückung vor die Entrückung, Christi Kommen zur
der großen Trübsal, sondern Christi Herrschaft, das Tausendjährige Reich
Kommen in Herrlichkeit. und die Ewigkeit.
Es gibt auf diese Argumentation zwei 9. Die traditionelle Hoffnung der Ge-
Antworten. Erstens, wie jede gute meinde ist nicht die Entrückung vor

1082
2. Thessalonicher 3

der großen Trübsal. Diese Auffassung die die Entrückung vor der großen
wurde erst in den letzten etwa 160 Trübsal datieren.
Jahren vertreten, und zwar durch die Antwort: Die erste Auferstehung ist
Lehren von J. N. Darby. kein isoliertes Ereignis, sondern dazu
Antwort: Die Gemeinde wartete gehören mehrere Einzelereignisse.
immer auf Gottes Sohn vom Himmel. Sie begann mit der Auferstehung
Die Heiligen wußten nicht, wann er Christi (1. Kor 15,23). Die nächste
kommen würde, deshalb erwarteten Phase wird die Auferstehung der
sie ihn jederzeit. Gläubigen bei der Entrückung sein.
Argumente, die sich auf das bezie- Die dritte Phase wird bei der Aufer-
hen, was jemand gelehrt hat oder stehung der Heiligen der großen
nicht, werden ad-hominem-Argumen- Trübsal sein, und zwar wenn Chri-
te genannt und werden als für die stus auf die Erde wiederkehrt
Wahrheit nicht entscheidend angese- (Offb 20,4.5). Mit anderen Worten, die
hen. Die Frage lautet: »Was lehrt die erste Auferstehung umfaßt die Auf-
Heilige Schrift?« und nicht: »Was hat erstehung Christi und die aller echten
dieser oder jener gelehrt?« Gläubigen, ganz gleich, wann sie auf-
10. Die letzte Posaune in 1. Korinther erweckt werden. Alle Ungläubigen
15,52 und die Posaune Gottes werden gegen Ende des Tausend-
(1. Thess 4,16) sind mit der Ent- jährigen Reiches auferweckt, um vor
rückung identisch und sind dasselbe dem großen weißen Thron gerichtet
wie die siebte Posaune von Offenba- zu werden (Offb 20,11-15).
rung 11,15. Weil die siebte Posaune 12. In Matthäus 13,24-30 wachsen Wei-
gegen Ende der großen Trübsal zen und Unkraut zusammen bis ans
erklingt, wenn die »Reiche dieser Ende des Zeitalters, d. h. bis zum
Welt zum Reich unseres Herrn und Ende der großen Trübsal.
seines Christus geworden sind«, muß Antwort: Das stimmt, doch spricht
die Wiederkehr nach der großen dieses Gleichnis vom Reich der Him-
Trübsal stattfinden. mel und nicht von der Gemeinde. Es
Antwort: Diese Posaunen sind kei- wird echte und unechte Gläubige in
nesfalls gleichzusetzen. Die »letzte dem Reich geben, das bis zum Ende
Posaune« ist dasselbe wie die »Posau- der großen Trübsal dauert.
ne Gottes«. Sie kündigt die Ent- 13. Die Entrückung kann nicht im Ver-
rückung an und ist das Signal für die borgenen stattfinden, weil ein
Auferstehung der Gläubigen und Befehlsruf, die Stimme eines Erzen-
ihrer Überführung ins Vaterhaus. Sie gels und die Posaune Gottes zu hören
ist für die Gemeinde die »letzte Posau- sein werden (1. Thess 4,16).
ne«. Die siebte Posaune in Offen- Antwort: Die Lehre, daß die Ent-
barung 11,15 ist die letzte einer Reihe rückung im Verborgenen geschieht,
von Gerichten während der großen basiert auf der Tatsache, daß sie in
Trübsal. Sie ist die letzte Posaune für einem Augenblick stattfinden wird
das ungläubige Israel und die un- (1. Kor 15,52). Sie wird schon vorbei
gläubigen Heiden. Die »letzte Posau- sein, ehe die Welt irgend etwas sehen
ne« in 1. Korinther 15,52, auch »Po- kann oder weiß, was geschehen ist.
saune Gottes« genannt (1. Thess 4,16), 14. Georg Müller, Samuel Tregelles,
ertönt vor der großen Trübsal. Die Oswald Smith und andere bekannte
siebte Posaune ertönt gegen Ende der Christen waren der Ansicht, daß die
großen Trübsal. Entrückung nach der großen Trübsal
11. Die erste Auferstehung aus Offenba- stattfindet.
rung 20,4.5 findet gegen Ende der Antwort: Dieses Argument beweist
großen Trübsal statt, und nicht sieben gar nichts. Es hat auf beiden Seiten
Jahre früher, wie die Leute meinen, genügend bekannte Männer gegeben.

1083
2. Thessalonicher 3

15. Die meisten Hinweise im NT auf die 17. Wenn Jesus sagt: »Ich komme bald«
Wiederkunft Christi beziehen sich (Offb 22,7.12.20) dann heißt das nicht,
auf sein Kommen zur Herrschaft. daß er jeden Augenblick kommen
Antwort: Das leugnet nicht die Wahr- würde. Es bedeutet eher, daß er plötz-
heit der Entrückung. Nur weil es lich kommen wird.
mehr Erwähnungen des Himmels im Antwort: Das ist ein umstrittener
NT gibt als der Hölle, bedeutet das Punkt. Sogar, wenn das Wort »bald«
nicht, daß es keine Hölle gäbe. hier »plötzlich« bedeuten sollte, gibt
16. Die Gemeinde wird nicht den Zorn es noch immer Verse wie Hebräer
Gottes während der großen Trübsal 10,37: »Denn noch eine ganz kleine
zu spüren bekommen, sondern den Weile, und der Kommende wird
Zorn des Antichristen oder Satans. kommen und nicht säumen.«
Antwort: Sechsmal wird im Buch der 18. Der, der »zurückhält« in 2. Thessalo-
Offenbarung der Zorn der großen nicher 2,6-8 ist nicht der Heilige
Trübsal als »Zorn Gottes« bezeichnet: Geist, sondern entweder die rö-
Und ein anderer, dritter Engel folgte mische Regierung oder die Macht
ihnen und sprach mit lauter Stimme: Gottes.
Wenn jemand das Tier und sein Bild Antwort: Dieses Argument wird
anbetet und ein Malzeichen annimmt beim Kommentar des entsprechen-
an seine Stirn oder an seine Hand, so den Abschnittes behandelt.
wird auch er trinken vom Wein des 19. Das Kommen Christi hätte während
Grimmes Gottes, der unvermischt im der apostolischen Zeit nicht ständig
Kelch seines Zornes bereitet ist; und er kommen können, weil sowohl Petrus
wird mit Feuer und Schwefel gequält als auch Paulus wußten, daß sie ster-
werden vor den heiligen Engeln und ben würden (Joh 21,18.19; 2. Petr 1,14.
vor dem Lamm (14,9.10). 15; 2. Tim 4,6).
Und der Engel warf seine Sichel auf Antwort: Manchmal spricht Paulus
die Erde und las den Weinstock der davon, daß er noch leben werde,
Erde ab und warf die Trauben in die wenn der Herr wiederkäme (1. Thess
große Kelter des Grimmes Gottes 4,15) und manchmal zählt er sich zu
(14,19). den Gläubigen, die sterben und auf-
Und ich sah ein anderes Zeichen im erweckt werden (Phil 3,10.11). Das ist
Himmel, groß und wunderbar: Sie- die richtige Haltung für uns alle. Wir
ben Engel, die sieben Plagen hatten, erwarten, daß der Herr während
die letzten; denn in ihnen wurde der unserer Lebzeit kommen kann, doch
Grimm Gottes vollendet (15,1). erkennen wir auch, daß wir vielleicht
Und eines der vier lebendigen vor der Entrückung sterben.
Wesen gab den sieben Engeln sieben Petrus glaubte, daß das Ende aller
goldene Schalen, voll des Grimmes Dinge nahe gekommen sei (1. Petr
Gottes, der da lebt in alle Ewigkeit 4,7) und er verurteilte die Spötter, die
(15,7). das Kommen des Herrn leugneten
Und ich hörte eine laute Stimme aus und sagten, daß »alles so von Anfang
dem Tempel zu den sieben Engeln der Schöpfung an« bleiben werde
sagen: Geht hin und gießt die sieben (2. Petr 3,4).
Schalen des Grimmes Gottes aus auf 20. Das Kommen des Herrn kann nicht
die Erde (16,1). jederzeit geschehen, weil das Evange-
Und die große Stadt wurde in drei lium aller Welt verkündigt werden
Teile gespalten, und die Städte der muß, ehe er kommt (Matth 24,14).
Nationen fielen, und der großen Stadt Antwort: Das bezieht sich auf das
Babylon wurde vor Gott gedacht, ihr Evangelium vom Reich (V. 14), das wäh-
den Kelch des Weines des Grimmes rend der großen Trübsal auf der gan-
seines Zornes zu geben (16,19). zen Welt verkündigt werden wird. Die

1084
2. Thessalonicher 3

Bedingungen dieses Evangeliums lau- entsprachen (Apg 18,21; Röm 1,10;


ten: »Glaube an den Herrn Jesus Chri- 1. Kor 4,19). Er arbeitete, als ob der
stus, und du wirst errettet werden; Herr nicht mehr während seines
und wenn Christus wiederkommt, Lebens wiederkäme, doch er wachte
dann wirst du mit ihm ins Tausend- und wartete, als ob er jederzeit wie-
jährige Reich kommen.« Es handelt derkommen könne.
sich um die gleiche Erlösungsmetho- 23. Paulus sprach von schrecklichen Zei-
de, die wir predigen, doch erwarten ten in den letzten Tagen (1. Tim 4,1-3;
wir die Entrückung. Mit anderen Wor- 2. Tim 3,1-5). Das setzt eine Zwi-
ten, wir sagen: »Glaube an den Herrn schenzeit voraus, während der der
Jesus Christus und du wirst errettet Herr nicht wiederkommen würde.
werden; und du wirst mit ihm in des Antwort: Paulus sagte, daß das
Vaters Haus kommen.« »Geheimnis der Gesetzlosigkeit«
21. Abschnitte wie Matthäus 28,19.20 schon am Werk wäre (2. Thess 2,7)
und Apostelgeschichte 1,8 sprechen und Johannes sagte, daß die »letzte
davon, daß das Evangelium »allen Stunde« schon zu seiner Zeit gekom-
Völkern« verkündet und »bis zu den men sei (1. Joh 2,18). Diese Männer
Enden der Erde« verbreitet werde. haben offenbar kein Problem gese-
Wenn das stimmt, dann war es wäh- hen, welches die Hoffnung auf Chri-
rend der Lebenszeit der Apostel nicht sti sofortige Wiederkehr unmöglich
möglich, daß Christus wiederkam. gemacht hätte.
Antwort: In Kolosser 1,6.23 sagt Pau- 24. Gleichnisse wie Matthäus 25,14-30
lus, daß »in der ganzen Welt« und »in und Lukas 19,11-27 setzen voraus,
der ganzen Schöpfung unter dem daß eine längere Zeit vergehen wür-
Himmel« das Evangelium gepredigt de, ehe Christus wiederkehrt. Des-
worden sei. In Römer 10,18 wird von halb konnten die ersten Gläubigen
dem Evangelium ausgesagt, es sei gar nicht die Wiederkehr des Herrn
»ausgegangen zu der ganzen Erde«. jederzeit erwarten.
Natürlich verstehen wir, daß diese Antwort: Offensichtlich basierte die
Abschnitte sich auf die damals be- Lehre der frühen Gläubigen nicht auf
kannte Welt beziehen, nämlich auf Gleichnissen, denn sie haben die Ent-
die Mittelmeerländer. rückung erwartet! (1. Thess 1,10).
22. Die langfristigen Missionspläne des Doch außerdem ist die »lange Zeit«
Paulus, wie wir sie in Apostelge- von Matthäus 25,19 zu ungenau, um
schichte 18,21; 23,11; Römer 15,22- damit auszuschließen, daß er zur Zeit
25.30.31 finden, zeigen, daß er nicht der Apostel kommen könne. Das
erwartete, daß der Herr in näherer Gleichnis in Lukas lehrt, daß das
Zukunft kommen würde. Reich nicht sofort kommen würde (Lk
Antwort: Die Pläne des Paulus wur- 19,11), doch das schließt nicht aus,
den immer unter der Voraussetzung daß die Gemeinde jederzeit entrückt
gefaßt, daß sie dem Willen Gottes werden kann.

1085
Anmerkungen

Anmerkungen 7) (2,3) »Sünde« ist die Lesart des Tex-


tus Receptus und der Mehrheit der
Manuskripte; »Gesetzlosigkeit« ist
1) (1,1) Es gibt noch immer (oder besser die kritische Lesart.
wieder) eine Gemeinde von Christen 8) (2,4) Die griechische Präposition
in Thessalonich (heute Saloniki). (hier eigentlich ein Präfix) anti hat
2) (1,5) E. W. Rogers, Concerning the sowohl die Bedeutung »gegen« als
Future, S. 80. auch »anstelle von«. Beide Bedeu-
3) (1,6) George Williams, The Student’s tungen treffen auf den Antichristen
Commentary on the Holy Scriptures, zu.
S. 948. 9) (2,6) Im Griechischen steht der Arti-
4) (2,1) William Kelly, keine weiteren kel und das Partizip in V. 6 im Neu-
Angaben verfügbar. trum, in Vers 7 dagegen im Maskuli-
5) »Herr« (kyrios) ist die kritische Lesart num.
(NA). Die traditionelle Lesart »Chri- 10) (2,6) Rogers, Future, S. 65.
stus« (Textus Receptus), wie auch 11) (2,6) Der Heilige Geist wird aus rein
LU1912 übersetzt, ist nicht schlecht grammatischen Gründen im Neu-
bezeugt, sie findet sich im Mehrheits- trum behandelt (das Wort pneuma ist
text. Einige Ausleger verstehen unter Neutrum). Das Maskulinum wird
dem »Tag Christi« einen Hinweis auf verwendet, um zu betonen, daß er
die letzte Periode der Verfolgung, eine Person ist.
die erst beginnen kann, wenn der 12) (3,5) Beides sind richtige Überset-
Mensch der Sünde offenbart ist. Eini- zungen des Nomens im Genitiv Chri-
ge Thessalonicher nahmen fälschlich stou (wrtl. des Christus). Die Zürcher
an, daß dieser Zeitraum schon be- Übersetzung übersetzt als Objektiv-
gonnen habe. Indem Paulus diesen Genitiv (der Genitiv bezieht sich auf
Zeitraum mit einem Vorgang nach das Verb, das von dem Nomen im-
der Entrückung verbindet, widerlegt pliziert ist, das dazu gehört). ER da-
er diese Vorstellung. gegen übersetzt als Subjekt-Genitiv,
6) (2,3) Einige Theologen, wie etwa womit Christus derjenige ist, der
J. Dwight Pentecost, übersetzen apo- ausharrt.
stasia mit »Weggehen«, und meinen 13) (3,11) Die griechischen Worte lauten:
damit die Entrückung selbst. Wenn »indem sie nicht ergazomenous (arbei-
das stimmt, dann haben wir hier ten), sondern periergazomenous (her-
einen wasserdichten Beweis dafür, umwirtschaften oder herumma-
daß die Entrückung vor der großen chen).« (Man beachte die Wurzel
Trübsal stattfindet. erg – Arbeit.)

Bibliographie

Siehe Bibliographie am Ende von


1. Thessalonicher.

1086
Die Pastoralbriefe
»Die Pastoralbriefe haben in der Kirchengeschichte eine wichtige Rolle gespielt
und sind ganz berechtigtermaßen in den neutestamentlichen Kanon aufgenommen worden.
Ihr Reiz liegt in ihrer Mischung von nüchternem, praktischen Rat und
theologischen Aussagen, die für die Christen unschätzbaren Wert besitzen,
sowohl für die Gemeinde als auch für den einzelnen Gläubigen.«
Donald Guthrie

Einführung »Fälschungen«, allerdings »fromme Fäl-


schungen« (als ob Betrug sich mit echtem
Glauben vertrüge!) zu bezeichnen. Die
I. Die Bedeutung des Wortes meisten liberalen und einige sonst kon-
»Pastoralbriefe« servative Ausleger haben Probleme, die-
Seit dem 18 Jahrhundert sind der 1. und se Bücher als echt paulinisch anzusehen,
2. Timotheusbrief und der Titusbrief als oder sind zumindest der Ansicht, daß sie
»Pastoralbriefe« bezeichnet worden. Die teilweise nicht von ihm stammen. Weil sie
Beschreibung kann sowohl irreführend viele wichtige Lehren über Gemeinde-
als auch hilfreich sein, ganz abhängig leitung und andere wichtige Dogmen
davon, was man darunter versteht. enthalten – einschließlich der Warnungen
Wenn die Bezeichnung nahe legt, daß vor Irrlehrern und Unglauben in den letzten
die Briefe praktische Vorschläge enthal- Tagen – sind wir der Ansicht, daß es not-
ten, wie man für die Herde Gottes sorgen wendig ist, hier ausführlicher über die
kann, dann hat sie ihre Aufgabe gut er- Echtheit zu sprechen als über irgendwel-
füllt. che anderen Briefe außer 2. Petrus.
Wenn sie jedoch nahelegt, daß Timo-
theus und Titus in den Gemeinden in Äußere Beweise
Ephesus und Kreta ordinierte Geistliche Die äußeren Beweise für die Pastoral-
waren (heutige Pastoren), dann hat die briefe sind äußerst stichhaltig. In der Tat,
Bezeichnung uns in die Irre geführt. wenn sie das einzige Kriterium für eine
Timotheus und Titus sind für zeitlich Annahme oder Ablehnung wären, dann
begrenzte Aufgaben vom Apostel Paulus müßten die Briefe zweifellos als echt be-
zu den Gemeinden gesandt worden, um zeichnet werden.
die Gläubigen zu lehren und sie vor Irr- Irenäus ist der erste bekannte Autor,
lehrern zu warnen. der diese Briefe direkt zitiert. Tertullian
Da fast alle Ausleger der einhelligen und Clemens von Alexandria schrieben
Ansicht sind, daß diese drei Briefe aus der sie Paulus zu, ebenso wie das Muratori-
selben Zeit und von der selben Hand stam- sche Fragment. Zu den frühen Kirchen-
men, werden wir ihre Verfasserschaft vätern, die diese Briefe gekannt haben,
und Echtheit gemeinsam besprechen. gehören Polykarp und Clemens von
Rom.
II. Die Verfasserschaft dieser Briefe Marcion rechnete diese drei Bücher
Bis 1804, als Schmidt bestritt, daß Paulus nach Tertullian nicht zu seinem Kanon.
diese Briefe geschrieben habe, akzeptier- Doch das ist wahrscheinlich nicht so sehr
te die gesamte Kirche und sogar Ungläu- ein Votum gegen ihre Authentizität, son-
bige diese Briefe als authentische Schrift- dern gegen ihren Inhalt. Marcion war
stücke des großen Apostels. einer der Sektenführer, die sich unter
Seit dieser Zeit ist es allgemein immer Paulus’ harten Angriffen gegen den auf-
üblicher geworden, diese Bücher als kommenden Gnostizismus wanden (s. a.

1087
Die Pastoralbriefe

Einleitung zum Kolosserbrief), die in den Jahrhunderte waren. Tatsache ist, daß
Pastoralbriefen zu finden sind. Abschnit- Philipper 1,1, ein früherer Brief, mehrere
te, die diesem antisemitischen Häretiker Bischöfe in einer Gemeinde erwähnt,
wohl nicht gefallen haben, sind z. B. nicht einen einzelnen in einer Gemeinde,
1. Timotheus 1,8; 4,4; 6,20 und 2. Timo- noch einen Bischof über mehrere Ge-
theus 3,16.17. meinden. Auch werden die Worte Ȁl-
teste« und »Bischöfe« in den Timotheus-
Innere Beweise briefen und im Titusbrief austauschbar
Fast alle Angriffe auf die Behauptung, benutzt, während ausgehend vom zwei-
daß Paulus die Pastoralbriefe geschrie- ten Jahrhundert an, durch Ignatius stän-
ben habe, basieren auf sogenannten Be- dig gefördert, ein »Bischof« ausgewählt
weisen für das Gegenteil innerhalb der wurde, der über den anderen Männern,
Briefe selbst. den »Presbytern« stand.
Drei Hauptargumente, die diese Be- Die grundlegende Lehre über Ge-
hauptung stützen wollen, sind histori- meindeleiter legt deshalb als Datum das
scher, kirchengeschichtlicher und lingui- Zeitalter der Apostel nahe, nicht das
stischer Natur. Wir wollen jedes der drei zweite Jahrhundert.
Probleme kurz untersuchen und erklären. Das linguistische Argument. Der Haupt-
Das historische Problem. Einige Ereig- angriff basiert auf dem unterschiedlichen
nisse und Leute in diesen Büchern kön- Stil und Vokabular dieser drei Briefe und
nen mit der Apostelgeschichte oder un- den anderen zehn, die als Paulusbriefe
serem Wissen über den Dienst des Pau- angenommen werden. Einige der Lieb-
lus aus anderen Briefen nicht in Überein- lingsworte und Lieblingsausdrücke fin-
stimmung gebracht werden. Daß Paulus den sich in den Pastoralbriefen nicht, und
Trophimus krank in Milet zurückgelas- es werden viele Worte benutzt, die in sei-
sen habe und seinen Mantel und seine nen anderen Briefen nicht vorkommen
Pergamente in Troas, paßt nicht zu sei- (36% neue Worte). Statistische Methoden
nen bekannten Reisen. werden also herangezogen, um zu »be-
Dieses Argument kann leicht entkräf- weisen«, daß Paulus diese Briefe nicht
tet werden. Ja, es ist wahr, daß sie nicht geschrieben haben »kann«. (Dieselbe Me-
zur Apostelgeschichte passen, doch das thode wurde benutzt, um einige Shakes-
brauchen sie auch gar nicht. Philipper 1,25 peare-Gedichte als unecht auszuweisen.)
legt nahe, daß Paulus erwartete, befreit Man tut gut daran, anzuerkennen, daß
zu werden, und die christliche Tradition es sich hier um wirkliche Probleme handelt.
sagt, daß dies in der Tat geschah. Er dien- Hier ist eines der wenigen Argumente,
te der Gemeinde danach noch mehrere das nicht fast vollständig auf Vorurteilen
Jahre, bevor er nochmals ins Gefängnis gegen unangenehme biblische Lehren
kam und enthauptet wurde. Die Ereig- basiert. (Dennoch, die Beschreibung der
nisse, Freunde und Feinde, die in den endzeitlichen Irrlehrer in den Pastoral-
Pastoralbriefen erwähnt werden, stam- briefen paßt erstaunlicherweise recht auf
men von daher aus dieser Zeit missiona- genau die Gelehrten, die darauf bestehen,
rischer Arbeit zwischen den beiden Inhaf- daß Paulus nicht ihr Autor sein kann.)
tierungen. Zunächst einmal ist es wichtig, sich
Das kirchengeschichtliche Problem. Man daran zu erinnern, daß dies die Briefe
behauptet, daß die Kirchenorganisation eines Mannes sind, der dem Tod gegen-
in der Form erst später auftauchte, näm- übersteht, der viele Reisen gemacht hat
lich im 2. Jahrhundert. Es stimmt zwar, und viele neue Freunde gewonnen hat,
daß in den Pastoralbriefen Bischöfe, seit er aus dem Gefängnis gekommen ist
Älteste und Diakone erwähnt werden, (2. Timotheus ist aus der 2. Gefangen-
doch gibt es keinerlei Hinweis darauf, schaft geschrieben). Jeder vergrößert sein
daß es schon die »monarchischen« Bi- Vokabular, wenn er älter wird, liest, reist
schöfe des zweiten und der folgenden und neue Menschen trifft.

1088
Die Pastoralbriefe

Zweitens müssen wir erkennen, daß Es gibt bestimmte Worte und The-
das Thema dieser Briefe – Gemeinde- men, die in diesen Briefen oft auftau-
ämter, Ethik und Abfall – neue Wörter chen. Sie geben uns Einsicht in die The-
erfordert. men, die Paulus mehr und mehr beschäf-
Diese Briefe sind auch viel zu kurz, tigten, als sich sein Dienst dem Ende
um sie wirklich statistisch auswerten zu zuneigte.
können. Vielleicht am bezeichnendsten Glaube ist eines der charakteristischen
ist die Tatsache, daß 80 % des Vokabular Worte. Als die Gefahr des Abfalles
des NT, das sich nur in den Pastoralbrie- größer wurde, wollte Paulus die großen
fen findet, sich im griechischen AT findet christlichen Lehren betonen, die er den
(Septuaginta), wie Guthrie in seiner Ein- Heiligen überliefert hatte. Er beschreibt
führung aussagt. Weil Paulus in griechi- verschiedene Haltungen, die Menschen
scher Sprache lehrte, ist es offensichtlich, gegenüber dem Glauben einnahmen
daß er das AT in dieser Sprache ebenso oder einnehmen würden.
gut kannte wie in der Originalsprache 1. Einige erlitten Schiffbruch im Glau-
Hebräisch. Kurz gesagt, diese fremden ben (1. Tim 1,19).
Worte, von denen man behauptet, daß 2. Einige würden vom Glauben abkom-
Paulus sie geraucht habe, waren zumin- men (1. Tim 4,1). Einige würden den
dest Teil seines »passiven Vokabulars«. Glauben verleugnen (1. Tim 5,8).
Die Kirchenväter, für die Griechisch die 3. Einige würden ihren Glauben leug-
Umgangssprache war, sahen kein Pro- nen (1. Tim 5,8).
blem darin, daß Paulus diese Briefe 4. Einige würden ihren ersten Glauben
geschrieben haben soll. (Die Tatsache, wegwerfen (1. Tim 5,12).
daß einige sogar der Auffassung waren, 5. Einige würden vom Glauben abwei-
daß der Hebräerbrief von Paulus chen (1. Tim 6,10).
stammt, zeigt, daß sie sehr wohl auf den 6. Einige haben das Ziel des Glaubens
Stil eines Autors achteten.) nicht erreicht (1. Tim 6,21).
Wenn wir alle Antworten auf die Sehr damit verbunden ist der Aus-
Argumente zusammennehmen, und druck »gesunde Lehre«. »Gesund« be-
wenn wir sie insbesondere mit der alten deutet hier mehr als nur richtig und
und allgemeinen Annahme dieser Briefe rechtgläubig, sondern vielmehr heilbrin-
durch orthodoxe Gläubige zusammen- gend und heilend. Es handelt sich hier
nehmen, dann können auch wir sie guten um das griechische Wort, von dem unser
Gewissens als von Paulus eigener Hand Wort Hygiene abgeleitet ist. Hier geht es
geschrieben annehmen. In der Tat, der natürlich um geistliche Hygiene. Man
hohe ethische Gehalt dieser Briefe beachte das folgende:
schließt einen Fälscher aus, sei er nun Gesunde Lehre (1. Tim 1,10; 2. Tim
»fromm« oder nicht. Wir haben es hier 4,3; Titus 1,9; 2,1).
mit dem inspirierten Wort Gottes zu tun Lehre, die gemäß der Gottseligkeit ist
(2. Tim 3,16.17), das uns durch den Apo- (1. Tim 6,3).
stel Paulus überliefert wurde. Gesunde Worte (2. Tim 1,13).
Gesund im Glauben (Titus 1,13; 2,2).
V. Hintergrund und Thema der Gesunde Rede (Titus 2,8).
Pastoralbriefe Das Wort Gewissen wird sechsmal
Offen gesagt, haben wir nicht sehr viel benutzt, nämlich:
Hintergrundinformation über den Le- 1. Timotheus 1,5.19; 3,9; 4,2
bensabschnitt des Paulus, der durch die- 2. Timotheus 1,3
se Briefe abgedeckt ist. Wir können höch- Titus 1,15
stens die biographischen Aussagen zu- Gottseligkeit wird als praktischer
sammenzufügen, die wir in den Briefen Beweis dafür angesehen, daß man
selbst finden, und diese sind ziemlich gesunde Lehren vertritt – 1. Timotheus
skizzenhaft. 2,2.10; 3,16; 4,7.8; 5,4; 6,3.5.6.11; 2. Timo-

1089
Die Pastoralbriefe

theus 3,5 (nur die äußere Form der Gott- Gute Treue (Titus 2,10).
seligkeit); 3,12; Titus 1,1 und 2,12. Schließlich gibt es noch ein interes-
Nüchternheit ist eine Eigenschaft, die santes Wortstudium über die medizini-
der Apostel für wichtig hielt. Seine jun- schen Ausdrücke, die sich in diesen Brie-
gen Mitarbeiter sollten sie kultivieren – fen finden. Einige sind der Ansicht, daß
1. Timotheus 2,9.15; 5,6.8; 2. Timotheus dies eine Auswirkung der Tatsache ist,
3,2.11; Titus 1,8; 2,2.4.6.12. daß Dr. Lukas zu dieser Zeit ein enger
Wir sollten auch die vielen guten Din- Gefährte des Paulus war.
ge beachten, die der Apostel erwähnt: Wir haben schon erwähnt, daß das
Gutes Gewissen (1. Tim 1,5.19). Wort »gesund« hier auch »heilend«
Das Gesetz ist gut (1. Tim 1,18). bedeutet, und benutzt wird, um Lehre,
Gebet ist gut (1. Tim 2,3). Worte, Reden und Glauben zu beschrei-
Gute Werke (1. Tim 2,10; 3,1; 5,10.25; ben.
6,18; 2. Tim 2,21; 3,17; Titus 1,16; 2,7.14; In 1. Timotheus 4,2 spricht Paulus
3,1.8.14). von einem »gebrandmarkten« Gewissen.
Gutes Benehmen (1. Tim 3,2). Gebrandmarkt bedeutet, mit einem
Gutes Zeugnis (1. Tim 3,7). heißen Werkzeug ein Mal eingebrannt zu
Gutes Ansehen (LU1984, 1. Tim 3,13). bekommen.
Jedes Geschöpf ist gut (1. Tim 4,4). Der Ausdruck »krank an Streitfra-
Ein guter Diener (1. Tim 4,6). gen« bedeutet, daß man regelrecht davon
Gute Lehre (1. Tim 4,6). besessen ist und bezieht sich auf eine
Gottesfurcht ist angenehm (1. Tim 5,4). psychische Störung (1. Tim 6,4).
Der gute Kampf des Glaubens (1. Tim Krebs finden wir in 2. Tim 2,17.
6,12; 2. Tim 4,7). »Ohrenkitzel« (2. Tim 4,3) ist der letz-
Das gute Bekenntnis (1. Tim 6,12.13). te Ausdruck, den der Apostel Paulus bei
Die gute Grundlage (1. Tim 6,19). seiner Diagnose der endzeitlichen
Das schöne Gut (2. Tim 1,14; Titus 1,8; Krankheitsfälle nennt.
2,5). Auf diesem Hintergrund können wir
Ein guter Streiter (2. Tim 2,3). uns nun dem ersten Brief des Timotheus
Gute Menschen (2. Tim 3,3; Titus 1,8; zuwenden, indem wir ihn Vers für Vers
2,5). studieren.

1090
Der erste Timotheusbrief
»Dieser Brief sollte Timotheus einen dokumentarischen Beweis
für seine Autorisierung als Vertreter des Apostels Paulus geben.
Entsprechend befaßt sich ein Großteil mit dem persönlichen Leben und
Aktivitäten von Timotheus selbst.«
D. Edmond Hiebert

Einführung in 1. Timotheus. Wie ein Mensch Gottes


leben sollte, wird durch das Vorbild par
excellence verdeutlicht, nämlich durch
I. Einzigartige Stellung im Kanon Paulus selbst.
Diejenigen, die der Gemeinde die Pasto-
ralbriefe als echte Paulusbriefe rauben II. Verfasserschaft
wollen, fügen dem Glauben einen Eine Diskussion der Verfasserschaft von
schlimmen Schaden zu. Wir denken, daß 1. Timotheus findet sich in der Einleitung
das Hauptproblem für sie nicht so sehr zu den Pastoralbriefen.
im sogenannten »nicht-paulinischen Vo-
kabular« liegt, sondern in der sehr pauli- III. Datierung
nischen Art, in der die Worte angewen- Fast alle konservativen Ausleger sind
det werden! Paulus verurteilt im voraus der Ansicht, daß der 1. Timotheusbrief
genau die Dinge, die einige dieser Leute als erster der Pastoralbriefe geschrieben
tun und lehren. wurde, wobei Titus bald danach und
Die Wahrheit, Schönheit und geistli- 2. Timotheus kurz vor dem Tod des Apo-
che Kraft des 1. Timotheusbriefes wird stels geschrieben wurde. Wenn Paulus
jedem auffallen, der über diesen Text an aus seinem Hausarrest im Jahr 61 entlas-
sich und ohne Vorurteile nachdenkt. So- sen wurde, dann wäre ein Datum zwi-
gar viele, die die paulinische Verfasser- schen 64 und 66 denkbar, da man noch
schaft des Textes leugnen, fühlen dies so Zeit für zwischenzeitliche Reisen einräu-
sehr, daß sie sich gezwungen fühlen an- men muß. Der Brief ist wahrscheinlich
zunehmen, daß Teile von echten Paulus- von Griechenland aus geschrieben.
briefen in diese angeblich exzellente Fäl-
scherarbeit eingewoben wurden! Zum IV. Hintergrund und Thema
Beispiel schreibt der französische Skep- Das Thema des 1. Timotheusbriefes wird
tiker des letzten Jahrhunderts, Ernest eindeutig in 3,14.15 genannt:
Renan: »Einige Abschnitte dieser Briefe Dies schreibe ich dir in der Hoffnung,
sind so schön, daß wir uns fragen müs- bald zu dir zu kommen; wenn ich aber
sen, ob der Fälscher nicht einige authen- zögere, damit du weißt, wie man sich
tische Notizen des Paulus hatte, die er in verhalten muß im Hause Gottes, das die
seine apokryphische Komposition einbe- Gemeinde des lebendigen Gottes ist, der
1)
zogen hat.« Pfeiler und die Grundfeste der Wahrheit.
Wieviel einfacher ist es doch, die von Paulus sagt hier einfach aus, daß es
ihrer Frühzeit an fast einhellige Lehre der für die Gemeinde einen Verhaltensmaß-
Kirche anzunehmen, daß dies – in ihrer stab gibt, und daß er Timotheus schreibt,
Gesamtheit – »authentische Notizen des damit dieser ihn kennt.
Paulus« sind! Es reicht nicht, wenn man einem
Sehr wichtige Offenbarungen über Kind, daß sich daneben benimmt, sagt:
die Gemeindeordnung, den Dienst der »Benimm dich!«, wenn das Kind nicht
Frau und die Gemeindeämter finden sich weiß, was von ihm als gutes Benehmen

1091
1. Timotheus 1

erwartet wird. Es muß erst erklärt be- lichen Gebet verhalten sollen und be-
kommen, was gutes Benehmen ist. Der schreibt die Rolle der Frau in der Öffent-
1. Timotheusbrief tut das für das Kind lichkeit. Kapitel 3 beschreibt die Anfor-
Gottes in seinem Verhältnis zur Ge- derungen an diejenigen, die Stellungen
meinde Gottes. der Verantwortung und der Leiterschaft
Ein Blick auf die verschiedenen Ka- in der Gemeinde einnehmen. Kapitel 5
pitel unterstützt die Themenangabe, wie betont die Verantwortung der Versamm-
wir sie oben beschrieben haben. Kapitel 2 lung für Witwen.
zeigt uns, wie wir uns in unserem öffent-

Einteilung IV. Über den Abfall in der Gemeinde


(4,1-16)
A. Warnung vor dem kommenden
I. Gruß (1,1.2) Abfall (4,1-5)
II. Der Auftrag des Paulus an B. Anweisungen in Hinblick
Timotheus (1,3-20) auf den kommenden Abfall
A. Auftrag, die Irrlehrer zum (4,6-16)
Schweigen zu bringen (1,3-11) V. Besondere Anweisungen
B. Dank für die echte Gnade Gottes über verschiedene Gruppen
(1,12-17) von Gläubigen (5,1 – 6,2)
C. Wiederholung des Auftrages an A. Verschiedene Altersgruppen
Timotheus (1,18-20) (5,1.2)
III. Anweisungen zum Thema B. Witwen (5,3-16)
Gemeindeleben (2,1 – 3,16) C. Älteste (5,17-25)
A. Über das Gebet (2,1-7) D. Sklaven und Herren (6,1.2)
B. Über Männer und Frauen (2,8-15) VI. Irrlehrer und Geldgier (6,3-10)
C. Über Älteste und Diakone (3,1-13) VII. Abschließende Aufträge an
D. Über das Verhalten in der Timotheus (6,11-21)
Gemeinde (3,14-16)

Kommentar Vater »unser Heiland« genannt. Norma-


lerweise wird im NT der Herr Jesus
unser Heiland genannt. Doch das ist kein
I. Gruß (1,1.2) Gegensatz. Gott ist der »Heiland« der
1,1 »Paulus« stellt sich zunächst selbst als Menschen in dem Sinne, daß er möchte,
»Apostel Christi Jesu« vor. Ein »Apostel« daß sie errettet werden, daß er seinen
ist ein »Gesandter«, deshalb sagt hier Sohn geschickt hat, um das Werk der
Paulus einfach aus, daß er von Gott zur Erlösung zu vollbringen und er allen
missionarischen Arbeit bestimmt wurde. ewiges Leben gibt, die den Herrn Jesus
Die Autorität des Paulus gründete sich im Glauben annehmen. Christus ist der
auf den »Befehl Gottes, unseres Hei- Heiland in dem Sinne, daß er selbst ans
landes, und Christi Jesu, unserer Hoff- Kreuz ging und das Werk vollendete, das
nung«. Das betont, daß Paulus diesen notwendig war, damit Gott gerechter-
Dienst nicht selbst erwählt hatte, um sei- weise gottlose Sünder retten könnte.
nen Lebensunterhalt zu verdienen, auch Vom Herrn Jesus Christus wird hier
war er nicht von Menschen in seine Auf- als »unserer Hoffnung« gesprochen. Das
gabe eingesetzt worden. Er hatte einen erinnert uns an Kolosser 1,27: »Christus
Ruf von Gott zu predigen, zu lehren und in euch, die Hoffnung der Herrlichkeit.«
zu leiden. In diesem Vers wird »Gott« der Unsere einzige Hoffnung, in den Him-

1092
1. Timotheus 1

mel zu gelangen, findet sich in der Per- die in Not sind und straucheln. »Friede«
son und dem Werk des Herrn Jesus. In bedeutet die innere Ruhe, die aus der Ge-
der Tat, alle die wunderbaren Aussich- wohnheit entspringt, sich auf den Herrn
ten, die uns in der Bibel verheißen wer- zu verlassen. Diese drei Segnungen kom-
den, sind nur deshalb unser, weil wir mit men »von Gott, dem Vater, und von Chri-
Christus Jesus verbunden sind. stus Jesus, unserem Herrn«. Die Gottheit
Man beachte weiter Epheser 2,14, wo Christi ist in diesem Vers vorausgesetzt,
Christus unser Friede genannt wird, und weil Paulus ihn hier mit dem Vater gleich
Kolosser 3,4, wo er unser Leben ist. Chri- setzt. Der Ausdruck »Jesus Christus unser
stus ist unser Friede, denn er hat unser Herr« betont die Herrschaft Christi. Wäh-
Sündenproblem in der Vergangenheit rend das Wort »Heiland« vierundzwan-
gelöst; Christus ist unser Leben, denn er zigmal im NT vorkommt, erscheint das
hat das Problem der Kraft für die Gegen- Wort »Herr« 522 mal. Wir sollten in der
wart gelöst; und Christus ist unsere Hoff- Lage sein, diese wichtigen statistischen
nung, denn er hat das Problem unserer Daten auf unser Leben anzuwenden.
Befreiung für die Zukunft gelöst.
1,2 Der Brief ist an »Timotheus« II. Der Auftrag des Paulus an
gerichtet, der als echtes »Kind im Glau- Timotheus (1,3-20)
ben« beschrieben wird (»im« Bereich des
»Glaubens«). Dies könnte heißen, daß A. Auftrag, die Irrlehrer zum
Timotheus durch den Apostel gerettet Schweigen zu bringen (1,3-11)
wurde, vielleicht während des ersten Be- 1,3 Es ist sehr wohl wahrscheinlich, daß
suches des Paulus in Lystra (Apg 14,6- Paulus nach seiner ersten Gefangen-
20). Doch der allgemeine Eindruck in der schaft in Rom zusammen mit Timotheus
Apostelgeschichte ist eher, daß Timothe- Ephesus besuchte. Als Paulus nach Ma-
us schon ein Jünger war, als Paulus ihm zedonien weiterreiste, befahl er Timothe-
das erstemal begegnete (Apg 16,1.2). In us, eine Weile in Ephesus zu bleiben, um
diesem Falle bedeutet der Ausdruck das Wort Gottes zu lehren und die Gläu-
»echtes Kind im Glauben«, daß Timothe- bigen vor Irrlehrern zu warnen. Von Ma-
us dieselben geistlichen und ethischen zedonien aus ist Paulus offensichtlich
Eigenschaften wie Paulus hatte, er war südwärts nach Korinth gereist, und er
ein echter Nachkomme des Apostels, hat vielleicht aus dieser Stadt seinen
weil er denselben Charakter hatte. ersten Brief an Timotheus geschrieben. In
Stock sagt: »Glücklich ist der junge Vers 3 sagt der Apostel Paulus praktisch:
christliche Mitarbeiter, der einen solchen »Ebenso, wie ich dich vorher bat, in
Leiter hat und glücklich ist der christli- Ephesus zu bleiben, als ich nach Maze-
che Leiter, der seinen ›Köcher voller‹ sol- donien reiste, so wiederhole ich diese
cher ›echter‹ Kinder hat. Anweisung jetzt.« Dieser Vers ist nicht so
Die normale Begrüßung in den Brie- zu verstehen, daß Timotheus der ordi-
fen des NT lautet »Gnade und Friede«. In nierte Pastor der Gemeinde in Ephesus
1. und 2. Timotheus, Titus und 2. Johan- gewesen wäre. Dieser Gedanke findet
nes wird dieser Gruß ausgedehnt zu sich in dem Abschnitt nicht. Er war dort
»Gnade, Barmherzigkeit und Friede«. eher auf einer zeitweiligen Mission, bei
Alle diese Briefe wurden an Einzelperso- der er bestimmte Männer in der Gemein-
nen geschrieben und nicht an Gemein- de ermahnen sollte, keine Dogmen zu
den, und das erklärt die Hinzufügung »lehren«, die dem christlichen Glauben
des Wortes »Barmherzigkeit«. entweder entgegenstehen, oder aber so-
»Gnade« bedeutet alle göttliche Kraft, genannte Ergänzungen sind. Die wich-
die wir für unser christliches Leben und tigsten Irrlehren, die hier in Frage kom-
unseren Dienst brauchen. »Barmherzig- men, sind die Gesetzlichkeit und der
keit« spricht von Gottes liebevoller Für- Gnostizismus. Nur für den Fall, daß
sorge und seinem Schutz für diejenigen, Timotheus versucht war, diesen Pro-

1093
1. Timotheus 1

blemen auszuweichen, fordert Paulus »Liebe« umfaßt zweifellos die Liebe


ihn auf, seine Aufgabe durchzuführen. zu Gott, den Mitgläubigen und zu verlo-
1,4 Timotheus wurde auch ermahnt, renen Sündern im allgemeinen. Sie muß
diese Menschen aufzufordern, auf »Fa- einem »reinen Herzen« entspringen.
beln und endlose Geschlechtsregister« Wenn das Innenleben eines Menschen
nicht zu achten. Wir können nicht genau unrein ist, dann kann sich daraus kaum
wissen, wobei es bei diesen »Fabeln und echte christliche Liebe ergeben. Diese Lie-
Geschlechtsregistern« ging. Einige Aus- be muß das Nebenprodukt eines »guten
leger bringen sie mit Legenden in Zu- Gewissens« sein, d. h. eines Gewissens,
sammenhang, die sich durch einige jüdi- das vor Gott und Menschen ohne Anstoß
sche Lehrer ergeben hatten. Andere den- ist. Schließlich muß diese Liebe zu »unge-
ken an die Mythen und Geschlechtsregi- heucheltem Glauben« führen, d. h. zu
ster der Gnostiker. Es ist interessant zu einem Glauben, der keine Maske ist.
bemerken, daß heutige Sekten sich eben- Irrlehren konnten niemals das hier
falls durch solche Dinge auszeichnen. von Paulus Aufgezählte erreichen, und
Viele umständliche Geschichten ranken sicherlich ist es niemals das Ergebnis von
sich um die Gründer von Irrlehren, und Fabeln und endlosen Geschlechtsregi-
Geschlechtsregister spielen bei den Mor- stern! Es ist die Lehre von der Gnade
monen eine wichtige Rolle. Gottes, die ein reines Herz, ein gutes
Solche wertlosen Themen dienen nur Gewissen und einen ungeheuchelten
dazu, Fragen und Zweifel bei den Leuten Glauben hervorbringt, und schließlich
aufzubringen. Sie fördern nicht »die Ver- zur »Liebe« führt.
waltung Gottes, die im Glauben ist«. Der Vers 5 gibt uns einen Maßstab an die
ganze Erlösungsplan ist von Gott erdacht Hand, um echte Lehre zu erkennen: Er-
worden, und zwar nicht, um Zweifel und reicht die Lehre die hier genannten Ziele?
»Streitfragen« zu nähren, sondern um 1,6 Es gab einige, die von diesen Din-
»Glauben« in den Herzen der Menschen gen »abgeirrt« sind, d. h. von einem rei-
hervorzubringen. Die Menschen in der nen Herzen, einem guten Gewissen und
Gemeinde von Ephesus sollten ihre Auf- einem ungeheuchelten Glauben. Der
merksamkeit nicht solch wertlosen The- Ausdruck »zugewandt« kann einmal
men wie »Fabeln und Geschlechtsregi- bedeuten, daß sie falsch gezielt haben,
stern« widmen, sondern vielmehr den oder aber, daß sie ihr Ziel verfehlt haben.
großen Wahrheiten des christlichen Das erstere ist zweifellos hier die richtige
Glaubens, die sich als Segen für die Men- Bedeutung. Es ging nicht um die Frage,
schen erweisen und ihren »Glauben« ob diese Männer vielleicht versucht hät-
statt Zweifel wecken. ten, diese Dinge zu erreichen, sie hatten
1,5 Es ist vielleicht am wichtigsten zu sie noch nicht mal anvisiert. Als Folge
verstehen, daß »Weisung« in diesem Vers davon »haben« sie »sich leerem Ge-
sich nicht auf das Gesetz des Mose oder schwätz zugewandt«. Ihre Predigt hatte
die Zehn Gebote bezieht, sondern auf die kein Ziel, sie führte nirgendwo hin und
Anweisung der Verse 3 und 4. Das wird konnte die Menschen nicht heiligen.
von der Elberfelder Übersetzung gut Paulus benutzt in diesem Brief oft das
wiedergegeben: »Das Endziel der Wei- Wort »einige«. Zu der Zeit, als er den
sung aber ist Liebe …« Paulus sagt hier, 1. Timotheusbrief schrieb, bildeten diese
daß daß Ziel der Anweisungen, die er Irrlehrer eine Minderheit in der Ge-
Timotheus gerade gegeben hat, nicht ist, meinde. Wenn wir zum 2. Timotheus-
nur eine starre Rechtgläubigkeit zu erzie- brief kommen, werden wir sehen, daß
len, sondern »Liebe aus reinem Herzen das Wort »einige« nicht länger hervor-
und gutem Gewissen und ungeheuchel- sticht. Die Machtverhältnisse hatten sich
tem Glauben«. Das sind immer die Fol- geändert. Die Abweichung war weiter
gen, wenn das Evangelium der Gnade verbreitet. Die Minderheit war offen-
Gottes gepredigt wird. sichtlich zur Mehrheit geworden.

1094
1. Timotheus 1

1,7 Die Irrlehrer, die in den vorher- das Gesetz gegeben wurde,noch das Ver-
gehenden Versen genannt wurden, hältnis des Gläubigen zum Gesetz.
waren jüdische Gesetzeslehrer, die ver- 1,8 Paulus macht immer wieder deut-
suchten, Judentum mit Christentum und lich klar, daß am Gesetz an sich nichts
Gesetz mit Gnade zu vermischen. Sie auszusetzen ist. »So ist also das Gesetz
waren der Ansicht, daß Glaube an Chri- heilig und das Gebot heilig und gerecht
stus für die Erlösung nicht ausreichte. Sie und gut« (Röm 7,12). Doch das Gesetz
bestanden darauf, daß man beschnitten muß »gesetzmäßig gebraucht« werden.
sein und das Gesetz des Mose halten Es wurde nie als Mittel zur Erlösung
müsse. Sie lehrten, daß das Gesetz die gegeben (Apg 13,39; Röm 3,20; Gal 2,16.
Lebensregel der Gläubigen sei. 21; 3,11). Der gesetzmäßige Gebrauch des
Diese Irrlehre hat es in jedem Jahr- Gesetzes ist es, es in Lehre und Predigt so
hundert der Kirchengeschichte gegeben, einzusetzen, daß es von der Sünde über-
und es ist immer noch die Pest, die am führt. Es sollte nicht als Mittel zur Erlö-
erfolgreichsten unser heutiges Christen- sung oder Lebensregel benutzt werden.
tum verdirbt. In ihrer modernen Form Guy King hat herausgestellt, daß uns
behauptet sie, daß zwar der Glaube an das Gesetz drei Lektionen lehrt: »Wir
Christus notwendig für die Erlösung sei, sollten. Wir haben nicht. Wir können
daß man jedoch zusätzlich noch getauft nicht.« Wenn das Gesetz seine Aufgabe
sein müsse, oder der Gemeinde ange- im Leben eines Sünders getan hat, dann
hören müsse, oder das Gesetz halten ist dieser Mensch bereit, zu Gott zu rufen:
2)
müsse, oder zur Beichte gehen müsse, »Herr, erlöse mich durch Deine Gnade!«
daß man den Zehnten geben müsse oder Diejenigen, die lehren, daß das Gesetz
irgend eine andere Art »guter Werke« zur Erlösung oder Heiligung notwendig
tun müsse. Diejenigen, die diese heutige sei, sind inkonsequent. Sie sagen, daß ein
Gesetzlichkeit lehren, erkennen nicht, Christ, wenn er das Gesetz bricht, die
daß wir die Erlösung durch den Glauben Todesstrafe nicht zu erleiden braucht.
an Christus ohne Gesetzeswerke erhalten. Damit untermauern sie aber nicht die
Sie erkennen nicht, daß gute Werke die Autorität des Gesetzes. Gesetz ohne Stra-
Folge der Erlösung sind und nicht ihre fe ist nicht mehr als ein guter Rat.
Ursache. Man wird kein Christ, wenn 1,9 »Indem er dies weiß, daß für einen
man diese guten Taten tut, sondern man Gerechten das Gesetz nicht bestimmt
tut sie, weil man Christ ist. Sie sehen ist.« Wenn ein Mensch gerecht ist, dann
nicht ein, daß Christus und nicht das braucht er kein Gesetz. Das gilt für den
Gesetz die Lebensregel des Christen ist. Christen. Wenn er durch die Gnade Got-
Sie verstehen nicht, daß ein Mensch sich tes erlöst ist, dann braucht er nicht mehr
nicht unter das Gesetz stellen kann, ohne unter den Zehn Geboten zu stehen, um
seinem Fluch zu verfallen. Das Gesetz ein geheiligtes Leben zu führen. Es ist
verurteilt alle zum Tode, die seine heili- nicht die Angst vor Strafe, die einen
gen Vorschriften verletzen. Weil kein Christen gottesfürchtig leben läßt, son-
Mensch das Gesetz vollständig halten dern die Liebe zum Heiland, der auf Gol-
kann, sind alle zum Tode verurteilt. Doch gatha starb.
Christus hat die Gläubigen von dem Der Apostel beschreibt nun weiter
Fluch des Gesetzes erlöst, weil er für uns die Sorte Menschen, für die das Gesetz
zum Fluch gemacht wurde. gegeben wurde. Viele Ausleger haben
Der Apostel sagt von diesen selbster- darauf hingewiesen, daß eine enge
nannten »Gesetzeslehrern«, daß sie nicht Beziehung zwischen dieser Beschrei-
verstanden, »was sie sagen, noch« worü- bung und den Zehn Geboten besteht. Die
ber sie so selbstsicher Aussagen mach- Zehn Gebote bestehen aus zwei
ten. Sie konnten nicht wirklich verstän- Abschnitten: Die ersten vier beschreiben
dig über das Gesetz sprechen, weil sie die Pflicht des Menschen vor Gott (Got-
weder den Zweck verstanden, zu dem tesfurcht), während die restlichen sechs

1095
1. Timotheus 1

mit seinen Pflichten gegen seinen Näch- geschenkt, was seine Heiligkeit verlan-
sten zu tun haben (Gerechtigkeit). Die gen mußte, und nun erhalten alle, die
folgenden Worte entsprechen dem ersten den Herrn Jesus annehmen, das ewige
Teil der Zehn Gebote: »Für Gesetzlose Leben.
und Widerspenstige, für Gottlose und Das ist das »Evangelium …, das«
Sünder, für Heillose und Unheilige …« dem Apostel »anvertraut worden ist«. Es
Der Ausdruck »Mörder« gehört zum dreht sich um den verherrlichten Herrn
sechsten Gebot: »Du sollst nicht töten.« Jesus Christus und sagt dem Menschen,
Hier bezieht sich »Mörder« auf Men- daß er nicht nur der Heiland, sondern
schen, die absichtlich jemanden getötet auch der Herr ist.
haben, nicht auf solche, die jemanden
unabsichtlich töten. B. Dank für die echte Gnade Gottes
1,10 Die Worte »Unzüchtige« und (1,12-17)
»Knabenschänder« beschreiben Hetero- 1,12 Im vorhergehenden Abschnitt hat
sexuelle, die ungesetzlichen sexuellen Paulus die Irrlehrer beschrieben, die ver-
Kontakt haben, und auch Homosexuelle. suchten, den Gläubigen in Ephesus das
Sie stehen hier im Zusammenhang mit- Gesetz wieder aufzudrängen. Er erinnert
dem siebten Gebot: »Du sollst nicht ehe- sich nun an seine eigene Bekehrung. Sie
brechen.« Das Wort »Menschenräuber« geschah nicht durch das Halten des Ge-
bezieht sich zweifellos auf das achte setzes, sondern durch die Gnade Gottes.
Gebot: »Du sollst nicht stehlen.« »Lüg- Der Apostel war kein Gerechter ge-
ner« und »Meineidige« verstoßen gegen wesen, sondern der größte aller Sünder.
das neunte Gebot: »Du sollst nicht falsch Die Verse 12-17 zeigen den gesetzmä-
Zeugnis geben.« ßigen Gebrauch des Gesetzes im Leben
Die abschließenden Worte »und des Paulus. Das Gesetz wurde ihm nicht
wenn etwas anderes der gesunden Lehre als Erlösungsweg gegeben, sondern als
entgegensteht« sind nicht direkt mit dem ein Mittel, ihn von seiner Sünde zu über-
zehnten Gebot verbunden, sondern wol- zeugen.
len auf alle Gebote hinweisen und sie Zuerst dankt er »Christus Jesus« für
zusammenfassen. seine Gnade, die ihn zu seinem Dienst
1,11 Es ist schwer zu entscheiden, wie befähigt. Die Betonung liegt nicht auf
dieser Vers mit dem Vorhergehenden dem, was Saul von Tarsus für den Herrn
verbunden ist. Er kann bedeutet, daß die getan hat, sondern darauf, was der Herr
gesunde Lehre, die in Vers 10 erwähnt für ihn getan hat. Der Apostel wunderte
wurde, »nach dem Evangelium« ist. Er sich immer wieder darüber, daß der Herr
kann aber auch heißen, daß alles, was Jesus ihn nicht nur gerettet hatte, son-
Paulus in den Versen 8-10 über das Ge- dern ihn als »treu erachtet« und in seinen
setz gesagt hat, in vollkommener Über- Dienst berufen hatte. Das Gesetz hätte
einstimmung mit »dem Evangelium« ihm niemals solche Gnade erweisen kön-
steht, das er gepredigt hat. Oder er kann nen. Seine starren Bedingungen hätten
bedeuten, daß alles, was Paulus in den statt dessen den Sünder Paulus zum
Versen 3-10 über die Irrlehrer gesagt hat, Tode verurteilen müssen.
mit »dem Evangelium« übereinstimmt. 1,13 Daß Paulus die Zehn Gebote vor
Während es stimmt, daß das Evangelium seiner Bekehrung gebrochen hat, wird
herrlich ist, könnte hier der Schwerpunkt aus diesem Vers deutlich. Er spricht von
auf der Tatsache liegen, daß das »Evan- sich als ehemaligem »Lästerer und Ver-
gelium« uns von »der Herrlichkeit« be- folger und Gewalttäter«. Als »Lästerer«
richtet (hier hat ER die wörtlichste Über- redete er schlecht über die Christen und
setzung). Es sagt uns, wie derselbe Gott, ihren Anführer Jesus. Als »Verfolger«
der heilig und gerecht ist, gleichzeitig ein versuchte er, Christen zu töten, weil er
Gott der Gnade, Barmherzigkeit und Lie- der Ansicht war, daß diese neue Sekte
be sein kann. Seine Liebe hat uns das eine Gefahr für das Judentum sei. Als er

1096
1. Timotheus 1

seine bösen Pläne durchführte, freute er deutung scheint uns klarer, wenn wir
sich an Gewalttaten gegen die Gläubi- diese Aussage so verstehen, daß Gottes
gen. Obwohl es aus den deutschen Wor- Gnade von Paulus nicht zurückgewiesen
ten nicht so deutlich hervorgeht, steigern wurde, sondern daß er darauf reagierte,
sich die beschriebenen Sünder in den indem er dem Herrn Jesus vertraute und
drei Worten »Lästerer, Verfolger, Gewalt- den Gesegneten, den er vorher gehaßt
täter«. Die erste Sünde ist allein eine hatte, nun liebte.
Wortsünde. Die zweite beschreibt, daß er 1,15 Dies ist das erste der »gewissen
anderen wegen ihres Glaubens Leiden Worte« in den Pastoralbriefen. »Das Wort
zufügte. Die dritte umfaßt dagegen die ist gewiß«, weil es das Wort Gottes ist,
Vorstellung von Grausamkeit und Miß- der weder lügen noch sich irren kann.
handlung. Die Menschen können dieser Aussage
»Aber« Paulus empfing Barmherzig- völlig vertrauen. Es wäre sogar äußerst
keit. Er erhielt nicht die Strafe, die er ver- töricht und unvernünftig, ihr nicht zu
dient hatte, »weil« er »unwissend im Un- glauben. Die Aussage ist »aller Annahme
glauben« gehandelt hatte. Als er die wert«, weil sie auf alle anwendbar ist,
Christen verfolgte, dachte er, er tue Gott und beschreibt, was Gott für alle Men-
einen Gefallen. Weil die Religion seiner schen getan hat und wie er die Gabe der
Väter ihn die Verehrung des wahren Got- Erlösung auf alle ausdehnt.
tes gelehrt hatte, konnte er nur daraus Der Ausdruck »Christus Jesus« be-
schließen, daß der christliche Glaube tont die Gottheit unseres Herrn. Der vom
dem ATlichen Glauben an Jahwe entge- Himmel auf die Erde kam, war zunächst
gengesetzt war. Mit allem Eifer und aller einmal Gott (»Christus«) und dann erst
Kraft, derer er fähig war, versuchte er, die Mensch (»Jesus«). Die Präexistenz des
Ehre Gottes zu verteidigen, indem er die Heilandes findet sich in den Worten »in
Christen umbrachte. die Welt gekommen«. Seine Existenz be-
Viele lehren, daß Eifer, Ernsthaftig- gann nicht erst in Bethlehem. Er hatte
keit und Ehrlichkeit vor Gott das wich- von aller Ewigkeit her beim Vater
tigste sind. Doch das Beispiel des Paulus gewohnt, doch er kam als Mensch in die
zeigt, daß Eifer allein nicht ausreicht. Welt, um eine besondere Aufgabe zu
Denn wenn ein Mensch falsch handelt, erfüllen. Der Kalender bezeugt uns, daß
dann verstärkt sein Eifer den Irrtum nur. er kam, denn wir sprechen vom Jahr
Je eifriger er ist, desto mehr Unheil rich- 19.. n. Chr., oder dem Jahr des Herrn 19..
tet er an! Warum kam er? »Sünder zu erretten.« Er
1,14 Paulus entging nicht nur der kam nicht, um gute Menschen zu erret-
Strafe, die er eigentlich verdient hätte ten (es gab und gibt schließlich keine!).
(Barmherzigkeit), sondern er empfing Auch wollte er nicht diejenigen retten,
auch noch »überströmende« Freundlich- die das Gesetz vollkommen gehalten hat-
keit, die er nicht verdient hatte (»Gna- ten (denn auch das hatte niemand
de«). Wo seine Sünde überströmend geschafft).
wurde, wurde Gottes Gnade noch viel Hier kommen wir zum Hauptunter-
überschwenglicher (Röm 5,20). schied zwischen echtem Christentum
Die Tatsache, daß die »Gnade« des und anderen Religionen. Falsche Religio-
Herrn an Paulus nicht verschwendet nen sagen dem Menschen, daß er etwas
war, wird durch die Worte »mit Glauben tun kann, um das Wohlwollen Gottes zu
und Liebe, die in Christus Jesus sind« erlangen. Das Evangelium sagt dem
angezeigt. Die Gnade, die Paulus emp- Menschen, daß er ein Sünder ist, daß er
fing, wurde von »Glauben und Liebe, die verloren ist, daß er sich selbst nicht retten
in Christus Jesus sind«, begleitet. Diese kann, und daß er nur dann in den Him-
Aussage könnte natürlich bedeuten, daß mel kommen kann, wenn er das stellver-
der Glaube und die Liebe ebenso wie die tretende Werk des Herrn Jesus am Kreuz
Gnade vom Herrn kamen. Doch die Be- für sich in Anspruch nimmt. Die Art der

1097
1. Timotheus 1

Lehre, die Paulus etwas vorher in diesem schattung der zukünftigen Bekehrung
Kapitel beschrieben hat, gibt dem Fleisch des Volkes Israel. Er war eine »unzeitige
eine Aufgabe. Sie sagt dem Menschen, Geburt« (1. Kor 15,8) in dem Sinne, daß
was er hören möchte, nämlich, daß er auf er vor der Wiedergeburt seines Volkes
bestimmte Weise etwas zu seiner Erlö- Israels wiedergeboren wurde. Genauso,
sung beitragen kann. Doch das Evangeli- wie er durch eine direkte Offenbarung
um sagt, daß alle Herrlichkeit für das vom Himmel und ohne menschliche Hil-
Werk der Erlösung nur Christus zu- fe gerettet wurde, so wird der jüdische
kommt, daß der Mensch nichts anderes Überrest vielleicht auf dieselbe Weise
als Sünde tut, und daß der Herr Jesus während der zukünftigen »Großen Trüb-
allein alles Retterwerk vollbringt. sal« errettet. Diese Interpretation scheint
Der Geist Gottes brachte Paulus so- durch die Worte »erster« und »Vorbild«
weit, daß er erkannte, daß er der »erste« in Vers 16 nahegelegt zu sein.
Sünder sei, oder, wie manche es über- 1,16 Das Vorhergehende erklärt, war-
setzen: der »schlimmste« der Sünder um Paulus Barmherzigkeit widerfuhr. Er
(GN). Wenn er nicht der schlimmste war, sollte zu einem Beispiel für die »Lang-
dann war er doch sicherlich unter den mut … Jesu Christi« werden. Genauso,
schlimmsten. Man beachte, daß der Titel wie er der »erste Sünder« gewesen ist, so
»erster Sünder« nicht einem Menschen sollte er nun der erste sein, der die uner-
verliehen wird, der dem Götzendienst müdliche Gnade des Herrn beweist. Er
oder der Unzucht ergeben war, sondern sollte ein lebendiges Beispiel werden,
einem tief religiösen Mann, einem, der in wie William Kelly sagte, »für die göttli-
einer jüdisch-orthodoxen Familie aufge- che Liebe, die sich über die größte Feind-
wachsen war! Seine Sünde bezog sich auf seligkeit erhebt, und für die göttliche
die Lehre, er nahm das Wort Gottes über Langmut, die die schlimmste und ein-
3)
die Person und das Werk des Herrn Jesus fallsreichste Opposition ermüdet«.
Christus nicht an. Die Ablehnung des Der Fall des Paulus sollte ein »Vorbild«
Sohnes Gottes ist die schlimmste aller werden. Die Bekehrung des Paulus sollte
Sünden. ein »Vorbild« für das sein, was Gott mit
Auch sollte man beachten, daß er sagt dem Volk Israel tun würde, sobald »aus
»von welchen ich der erste bin« – nicht Zion der Erretter« kommt (Röm 11,26).
»war« sondern »bin«. Die gottesfürchtig- In einem allgemeineren Sinne bedeu-
sten Heiligen waren oft diejenigen, die tet dieser Vers, daß niemand verzweifeln
sich ihrer eigenen Sündhaftigkeit am muß, ganz gleich wie verdorben er sein
meisten bewußt waren. mag. Sie können sich trösten, daß auch
In 1. Korinther 15,9 (geschrieben sie Gnade und Barmherzigkeit finden
etwa im Jahr 57) nannte Paulus sich können, indem sie zu ihm als reuige Sün-
selbst »den geringsten unter den Apo- der kommen, weil Gott ja schon den
steln«. Dann, in Epheser 3,8 (geschrieben ersten Sünder erlöst hat. Indem sie an ihn
etwa im Jahr 60), nennt er sich selbst glauben, können auch sie »ewiges
»den allergeringsten von allen Heiligen«. Leben« finden.
Und nun, in 1. Timotheus 1,15, einige 1,17 Als Paulus an Gottes wunderbar
Jahre später, nennt er sich »erster Sün- gnädiges Handeln mit ihm denkt, bricht
der«. Hier haben wir ein Beispiel für den er in diesen wunderschönen Lobpreis
Fortschritt des Paulus in der Demut. aus. Es ist schwer zu wissen, ob er sich an
Die Übersetzung »erster Sünder« Gott, den Vater oder an den Herrn Jesus
drückt nicht so sehr den Gedanken aus, richtet. Die Worte »König der Zeitalter«
daß er der schlimmste aller Sünder ge- scheinen sich auf den Herrn Jesus zu
wesen wäre, die je gelebt haben, sondern beziehen, weil er »König der Könige und
daß er der erste war in Beziehung zum Herr der Herren« (Offb 19,16) genannt
Volk Israel. Mit anderen Worten, seine wird. Dennoch scheint das Wort »un-
Bekehrung war eine einzigartige Vor- sichtbar« sich eher auf den Vater zu

1098
1. Timotheus 1

beziehen, weil der Herr Jesus ganz offen- 1,19 In seinem Kampf sollte er »den
sichtlich für sterbliche Augen sichtbar Glauben … und ein gutes Gewissen«
war. Die Tatsache, daß wir nicht in der bewahren. Es ist nicht genug, lehrmäßig
Lage sind, welche Person der Gottheit ge- richtige Auffassungen vom christlichen
meint ist, könnte als ein Hinweis auf ihre Glauben zu vertreten. Man kann manch-
absolute Gleichheit gewertet werden. mal so konservativ sein, daß es staubt,
Der »König der Zeitalter« wird in und trotzdem kein »gutes Gewissen«
erster Linie »unverweslich« genannt. haben.
Das bedeutet, daß er nie vergeht. Gott ist Hamilton Smith schreibt:
von seinem Wesen her auch noch »un- Diejenigen, die begabt sind, und für die,
sichtbar«. Menschen haben im AT Er- die in der Öffentlichkeit mit ihren Gaben die-
scheinungen Gottes gesehen, und der nen, gilt das ganz besonders: Sie müssen acht
Herr Jesus offenbarte uns Gott völlig in geben, daß sie nicht in ständigem Engage-
sichtbarer Form, doch die Tatsache bleibt ment, Predigen und öffentlicher Arbeit vor
bestehen, daß Gott selbst für mensch- Menschen das geheime Leben der Gottselig-
liche Augen unsichtbar ist. Als nächstes keit vor Gott vernachlässigen. Warnt uns die
wird Gott der »allein Weise« genannt Schrift nicht davor, daß es möglich ist, mit
(LU1912). Wenn wir die Analyse wirk- Menschen- und mit Engelszungen zu predi-
lich zu Ende führen, erkennen wir, daß gen, und doch nichts zu sein? Was Frucht
alle Weisheit von Gott kommt (Jak 1,5). bringt für Gott und eines Tages einen großen
Lohn einbringt, ist ein Leben der Gottes-
C. Wiederholung des Auftrages an furcht, aus dem aller echter Dienst erwachsen
Timotheus (1,18-20) muß.
4)

1,18 Das »Gebot«, das hier erwähnt ist, Einige derjenigen, die zur Zeit des
ist zweifellos das Gebot, das Paulus dem Paulus lebten, hatten das gute Gewissen
Timotheus in den Versen 3 und 5 gege- weggeworfen und damit »im Hinblick
ben hatten, nämlich die Irrlehrer zu er- auf den Glauben Schiffbruch erlitten«.
mahnen. Um sein »Kind Timotheus« zu Sie werden mit einem törichten Seemann
ermutigen, diesen wichtigen Auftrag verglichen, der seinen Kompaß über
durchzuführen, erinnert ihn der Apostel Bord geworfen hat.
an die Umstände, die zu seiner Berufung Diejenigen, die »Schiffbruch« im
in den christlichen Dienst geführt haben. Glauben erlitten hatten, waren echte
»Nach den vorangegangenen Weissa- Gläubige, doch sie konnten ihr Gewissen
gungen über dich« bedeutet wohl, daß, nicht rein erhalten. Ihr Christenleben hat-
ehe Paulus Timotheus getroffen hatte, te wie ein schönes Schiff begonnen, daß
ein Prophet in der Gemeinde aufgestan- auf See hinausfährt, doch anstatt voll
den war und angekündigt hat, daß Timo- geflaggt und mit voller Ladung in den
theus vom Herrn in seinem Dienst be- Hafen zurückzukehren, sind sie an Klip-
nutzt werden würde. Ein Prophet war pen gestoßen und haben sich selbst und
ein Sprecher Gottes, der Offenbarungen ihrem Zeugnis Schande gemacht.
des Willens Gottes bezüglich besonderer 1,20 Wir wissen nicht, ob »Hymenäus
Handlungsweisen empfing und diese und Alexander« diejenigen sind, die
Offenbarungen an die Gemeinde weiter- auch in 2. Timotheus 2,17 und 4,14 er-
gab. Der junge Timotheus wurde durch wähnt werden. Auch kennen wir die Art
Prophetien ausgesondert und seine zu- ihrer Lästerung nicht. Alles, was uns hier
künftige Rolle als Diener Jesu Christi gesagt wird, ist, daß sie kein gutes Ge-
wurde auf diese Weise bekannt gemacht. wissen mehr hatten und daß sie gelästert
Wenn er je versucht sein sollte, im Werk haben. Im NT bedeutet »lästern« ebenso
des Herrn entmutigt zu sein, dann sollte wie im Deutschen nicht ausschließlich,
er sich dieser »Weissagungen« erinnern daß man schlecht über Gott spricht. Das
und so angeregt werden, »den guten Wort kann auch benutzt werden, um
Kampf« zu kämpfen. Beschimpfungen oder böse Nachrede

1099
1. Timotheus 1 und 2

gegen seine Mitmenschen zu bezeich- sen und geht nun weiter zum Thema Ge-
nen. Es kann benutzt werden, um sowohl bet. Man ist sich allgemein einig, daß die-
das Leben dieser Männer als auch ihre ser Abschnitt mit öffentlichem Gebet zu
Worte zu bezeichnen. Indem sie im Glau- tun hat, obwohl hier nichts steht, was
ben Schiffbruch erlitten, haben sie zwei- man nicht auch auf das persönliche Ge-
fellos andere dazu gebracht, böse über bet in der Stille anwenden könnte.
den Weg der Wahrheit zu lästern, und so 2,1 Gebet »für alle Menschen« ist so-
war ihr Leben eine gelebte Lästerung. wohl ein Vorrecht wie auch eine Ver-
Sie erlebten die Tragödie von einst pflichtung. Es ist ein reines Vorrecht für
strahlenden, nützlichen Christen, die uns, daß Gott uns hört, wenn wir für
durch das Ersticken ihres Gewissens in unsere Mitmenschen bitten. Und es ist
Irrtümer hineingeführt wurden. auch eine Verpflichtung, denn wir sind
Der Apostel sagt, daß er diese Män- Schuldner aller in bezug auf die Gute
ner »dem Satan übergeben habe«. Einige Nachricht von der Erlösung.
Ausleger sehen in diesen Worten einfach Der Apostel nennt vier Aspekte des
eine Bezeichnung für den Akt der Ex- Gebets – »Flehen, Gebete, Fürbitten,
kommunikation. Sie verstehen darunter, Danksagungen«. Es ist ziemlich schwie-
daß Paulus diese beiden Männer aus der rig, zwischen den ersten dreien zu unter-
Ortsgemeinde ausgeschlossen hat und scheiden. Im modernen Sprachgebrauch
daß diese Handlung dazu gedacht war, denkt man bei Flehen an ernstliches und
sie zur Buße und zur Wiederherstellung anhaltendes Bitten, doch ist hier mehr an
der Gemeinschaft mit dem Herrn und besondere Bitten für bestimmte Nöte
seinem Volk zu bringen. Das Problem bei gedacht. Das Wort, das hier mit »Gebete«
dieser Ansicht ist, daß die Exkommuni- wiedergegeben ist, ist ein sehr allgemei-
kation die Aufgabe der Ortsgemeinde nes Wort, das alle Arten der respektvol-
und nicht eines Apostels war. In 1. Ko- len Annäherung umfaßt. »Fürbitten« be-
rinther 5 exkommunizierte Paulus den schreibt die Form von Bitten, in denen
Mann nicht, der Inzest begangen hatte, wir uns vor Gott für andere verwenden.
sondern rät den Korinthern, dies zu tun. »Danksagungen« beschreibt Gebete, in
Die andere Interpretation dieses Ab- denen wir uns an die Gnade und Freund-
schnittes ist, daß die Übergabe an Satan lichkeit unseres Herrn erinnern und
eine Vollmacht war, die den Aposteln ge- unser Herz in Dankbarkeit vor ihm
geben war, die es heute aber nicht mehr ausschütten.
gibt, weil es keine Apostel mehr gibt. Wir könnten diesen Vers also zusam-
Nach dieser Ansicht konnten die Apostel menfassen, indem wir sagen, daß wir in
einen Sünder in die Hände Satans geben, unserem Gebet für alle Menschen demü-
damit er sie körperlich züchtigt, oder, in tig, anbetungsvoll, vertrauend und dank-
Extremfällen, daß er sie tötet, wie im bar sein sollten.
Falle von Ananias und Sapphira (Apg 5, 2,2 Hier werden »Könige und alle, die
1-11). Die Strafe hier war offensichtlich in Hoheit sind«, besonders erwähnt. Sie
so gedacht, daß sie sich deswegen besser- sollten in unseren Gebeten einen beson-
ten – »damit sie zurechtgewiesen wer- deren Platz einnehmen. An anderer Stel-
den, nicht zu lästern«. Es ging hier nicht le hat Paulus uns daran erinnert, daß die
um die Frage der Verdammnis, sondern Regierungen von Gott eingesetzt sind
um Bestrafung. (Röm 13,1) und daß sie uns zum Besten
dienen (Röm 13,4).
III. Anweisungen zum Thema Dieser Vers bekommt eine besondere
Gemeindeleben (2,1 – 3,16) Note, wenn wir uns daran erinnern, daß
er zur Zeit Neros geschrieben wurde. Die
A. Über das Gebet (2,1-7) schrecklichen Verfolgungen, unter denen
Paulus hat seinen ersten Auftrag an Ti- die Christen unter diesem Schreckens-
motheus wegen der Irrlehrer abgeschlos- herrscher zu leiden hatten, konnten die

1100
1. Timotheus 2

Tatsache nicht umwerfen, daß Christen gegen ihren Willen. Er wird seinen Him-
für ihre Regierung zu beten haben. Das mel nicht mit widerspenstigen Unterta-
NT lehrt, daß ein Christ der Regierung nen bevölkern. Die Menschen müssen zu
zu gehorchen hat, unter der er lebt, es sei dem kommen, der gesagt hat: »Ich bin
denn, diese Regierung fordert von ihm, der Weg, die Wahrheit und das Leben.«
Gott ungehorsam zu sein. Dann muß der Das ist die menschliche Seite.
Christ zuerst Gott gehorchen. Ein Christ Aus diesem sollte hervorgehen, daß
sollte sich nicht an Revolutionen oder dieser Vers keine Allversöhnung lehrt.
Gewaltanwendung gegen die Regierung Obwohl Gott sich wünscht, »daß alle
beteiligen. Er darf sich jedoch einfach Menschen errettet werden«, werden
weigern, einer Anweisung zu gehorchen, doch nicht alle gerettet. Anfangs war es
die dem Wort Gottes entgegensteht und auch nicht Gottes Wille, daß die Kinder
hat dann still und unterwürfig die Fol- Israel 38 Jahre in der Wüste umherzogen,
gen zu tragen. doch genau das geschah. Gott erlaubte
Der Grund, den der Apostel dafür es, doch es war nicht der Weg der Seg-
gibt, daß wir für unsere Regierenden nung, den er ursprünglich für sie einge-
beten sollen, lautet: »Damit wir ein ruhi- plant hatte.
ges und stilles Leben führen mögen in 2,5 Die Verbindung dieses Verses mit
aller Gottseligkeit und Ehrbarkeit.« Es ist dem Vorhergehenden ist nicht völlig klar.
zu unserem Besten, wenn eine Regierung Doch scheint uns der Gedankengang fol-
stabil ist, und daß unser Land vor Revo- gendes zu sein: Gott ist »einer«, deshalb
lutionen, Bürgerkrieg, Unordnung und ist er der Gott aller Menschen, und die
Anarchie bewahrt bleibt. Gebete für alle Menschen sollten an ihn
2,3 Daß wir für alle Menschen, ein- gerichtet werden. Als der eine Gott
schließlich Könige und andere Herr- möchte er die Errettung aller Menschen.
schende beten sollen, »ist gut und ange- Wenn er einer von vielen Göttern wäre,
nehm vor unserem … Gott«. Es ist schon würde er sich vielleicht nur um seine
an sich gut und »angenehm vor unserem eigenen Verehrer kümmern.
Heiland-Gott«. Der Titel, den Paulus Zweitens ist nur »einer Mittler zwi-
Gott hier gibt, ist bedeutungsvoll. Gott schen Gott und Menschen«. Wenn das so
möchte, daß alle Menschen gerettet wer- ist, dann kann kein Mensch auf andere
den. Deshalb heißt, für alle Menschen zu Weise mit Gott in Verbindung treten. Ein
beten, den Willen Gottes in dieser Hin- »Mittler« ist jemand, der zwischen zwei
sicht zu fördern. Parteien steht und die Kommunikation
2,4 Dieser Vers erklärt weiter, was wir der beiden Parteien ermöglicht. Durch
schon in Vers 3 herausgestellt haben. Christus, der selbst Mensch war, ist es
Gott »will, daß alle Menschen errettet Gott möglich, dem Menschen die Ver-
werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gebung der Sünden zu vermitteln. Dar-
kommen« (Hes 33,11; Joh 3,16; 2. Petr. aus folgt, daß jeder arme Sünder ihn
3,9). Deshalb sollten wir für »alle Men- ansprechen kann, und auf keinen Fall
schen« in der Welt beten. abgelehnt wird.
Dieser Vers zeigt uns deutlich den Paulus nennt den Mittler den
göttlichen und den menschlichen Aspekt »Mensch Christus Jesus«. Das will nicht
der Erlösung. Die erste Hälfte des Verses die Gottheit Jesu leugnen. Um ein »Mitt-
zeigt, daß der Mensch »errettet werden« ler zwischen Gott und Menschen« zu
muß. Das Verb hier ist passiv, der sein, mußte er sowohl Gott als auch
Mensch kann sich nicht selbst retten, son- Mensch sein. Der Herr Jesus ist Gott von
dern muß von Gott »errettet« werden. aller Ewigkeit her, doch er wurde
Das ist die göttliche Seite der Erlösung. Mensch in der Krippe zu Bethlehem. Er
Um errettet zu werden, muß der vertritt die gesamte Menschheit. Die Tat-
Mensch »zur Erkenntnis der Wahrheit sache, daß er sowohl Gott als auch
kommen«. Gott rettet Menschen nicht Mensch ist, wird in dem Namen Christus

1101
1. Timotheus 2

Jesus verdeutlicht. »Christus« beschreibt geliums in dem Zeitalter verkündigt


ihn als Gottes Gesandten, den Messias. werden soll, in dem wir leben. All dies
»Jesus« ist der Name, der ihm bei seiner soll zeigen, wie sehr sich Gott danach
Menschwerdung gegeben wurde. sehnt, die Menschheit zu segnen.
Der Vers ist eine eindeutige Antwort 2,7 Als abschließende Demonstration
auf die Lehren, die heute so verbreitet des Verlangens Gottes, alle Menschen zu
sind, nämlich daß die gesegnete Jungfrau retten, stellt Paulus fest, daß er selbst
Maria oder Engel oder Heilige Mittler »bestellt worden« ist »als Herold und
zwischen Gott und Mensch sein könnten. Apostel« und als »Lehrer«. Ein Herold ist
Es gibt nur einen »Mittler«, und sein ein Prediger, der das Evangelium verkün-
Name ist »Christus Jesus«. digt. Die Pflichten eines »Apostels« kön-
Vers 5 faßt die Botschaft des AT und nenetwas weiter gefaßt sein, er predigt
des NT zusammen. »Ein Gott« ist die nicht nur das Evangelium, sondern grün-
Botschaft des AT, wie sie Israel anver- det Gemeinden, gibt Ortsgemeinden
traut wurde. »Ein Mittler« ist die Bot- Anleitung in Fragen von Recht und Ord-
schaft des NT, wie sie der Gemeinde an- nung und spricht mit Vollmacht als einer,
vertraut wurde. So wie Israel bei seiner der direkt vom Herrn Jesus Christus
Aufgabe versagte, indem es Götzen an- gesandt wurde. Ein »Lehrer« legt das
betete, so hat die sogenannte Christen- Wort Gottes auf solche Weise aus, daß es
heit bei ihrer Aufgabe versagt, indem sie von den Menschen verstanden wird.
andere Mittler einsetzte – Maria, Heilige, Um seinen Aussagen noch mehr Ge-
Geistliche etc. wicht zu verleihen, bekräftigt Paulus
2,6 Die Betonung liegt hier auf der seinen Anspruch, »ein Lehrer der Na-
Tatsache, daß Gott die Errettung aller tionen« zu sein, durch die Worte »ich
Menschen will. Hier wird dies noch wei- sage die Wahrheit, ich lüge nicht«. Die
ter durch die Tatsache bewiesen, daß Worte »in Glauben und Wahrheit« kön-
Christus Jesus »sich selbst als Lösegeld nen sich auf die Wahrhaftigkeit des Pau-
für alle gab«. Ein »Lösegeld« ist ein Preis, lus beziehen, doch wahrscheinlicher ist
der gezahlt wird, um einen Menschen es, daß sie den Inhalt seiner Lehre
freizukaufen. Man beachte, daß das Lö- beschreiben. Mit anderen Worten, er
segeld »für alle« gezahlt wurde. Das be- lehrte die Heiden zu Themen des »Glau-
deutet, daß das Werk des Herrn Jesus am bens« und der »Wahrheit«.
Kreuz von Golgatha ausreichend war,
um »alle« Sünder zu erretten. Es bedeu- B. Über Männer und Frauen (2,8-15)
tet jedoch nicht, daß auch alle wirklich 2,8 Das Thema »öffentliches Gebet« wird
gerettet werden, denn der Wille des Men- nun wieder aufgenommen, und diesmal
schen ist hier zusätzlich im Spiel. wird unsere Aufmerksamkeit auf dieje-
Dieser Vers ist einer von vielen, die nigen gelenkt, die das Volk Gottes im
lehren, daß der Tod Christi stellvertre- Gebet leiten. Die einleitenden Worte »ich
tend war. Er starb anstelle aller Men- will nun« drücken den aktiven und
schen. Ob alle dies annehmen werden, ist inspirierten Willen des Paulus in dieser
eine andere Frage, doch bleibt die Tatsa- Angelegenheit aus.
che bestehen, daß das Erlösungswerk Die Anweisung des Apostels lautet
Christi an Wert »für alle« ausreicht. ausdrücklich, daß das öffentliche Gebet
Der Ausdruck »als Zeugnis zur rech- eher von Männern und nicht von Frauen
ten Zeit« bedeutet, daß das Zeugnis über geleitet werden sollte. Und sie bedeutet,
das stellvertretende Werk Christi zu sei- daß alle Männer, nicht etwa nur die Älte-
ner eigenen Zeit vollendet wurde. Der- sten, beten sollten.
selbe Gott, der die Errettung aller Men- Der Ausdruck »an jedem Ort« kann
schen möchte, und den Erlösungsweg bedeuten, daß jeder einzelne Mann zu
für alle Menschen geschaffen hat, hat jeder Zeit beten kann, ganz gleich, wo er
beschlossen, daß die Botschaft des Evan- sich befindet. Doch weil es hier offen-

1102
1. Timotheus 2

sichtlich um das öffentliche Gebet geht, kommen, einer Hochzeit oder zum Karneval?
wäre es besser, man verstünde diesen Dort mögen solche kostbaren Dinge ange-
Vers so, daß »die Männer« und nicht die bracht sein, aber hier brauchen wir nichts da-
Frauen diese Übung leiten sollten, was von. Du bist gekommen, um zu beten, um
immer für eine gemischte Gemeinschaft Vergebung deiner Sünden zu bitten, wegen
von Christen versammelt sein mag. deiner Übertretungen zu flehen, den Herrn
5)
Drei Eigenschaften werden auf- anzubeten … Hinweg mit solcher Heuchelei!
gezählt, die auf diejenigen zutreffen »Schamhaftigkeit« bedeutet, alles zu
müssen, die öffentlich beten. Zunächst vermeiden, das Schande bringen könnte.
einmal sollten sie »heilige Hände auf- Es beinhaltet den Gedanken, bescheiden
heben«. Die Betonung liegt hier nicht so und diskret zu sein. »Sittsamkeit« bedeu-
sehr auf der äußerlichen Haltung des tet Mäßigung in der Kleidung. Einerseits
Beters als auf seinem inneren Leben. Sei- sollte die Frau nicht versuchen, durch
ne Hände sollten »heilige Hände« sein. teure, auffällige Moden die Aufmerksam-
Die »Hände« stehen hier bildlich für die keit auf sich zu ziehen. Das könnte dazu
Lebensweise des Mannes. Zweitens soll- führen, daß sie Bewunderung oder sogar
te er »ohne Zorn« sein. Das weist auf die Neid bei denen erweckt, die eigentlich
Inkonsequenz eines Menschen hin, der Gott anbeten sollten. Andererseits sollte
zu Zornesausbrüchen neigt, der sich in sie vermeiden, die Aufmerksamkeit auf
der Ortsgemeinde erhebt, um für alle sich zu ziehen, indem sie unmodische
Versammelten zu Gott zu sprechen. oder düstere Kleidung trägt. Die Schrift
Schließlich sollte er noch »ohne … zwei- lehrt eine bescheidene, mittelmäßige Hal-
felnde Überlegung« sein. Das kann be- tung in bezug auf Kleidung.
deuten, daß er den Glauben an die Bereit- Einige der Exzesse, die man vermei-
schaft und Möglichkeiten Gottes hat, den sollte, sind »Haarflechten und Gold
Gebet zu hören und zu beantworten. Wir oder Perlen oder kostbare Kleidung«.
können diese Eigenschaften zusammen- »Haarflechten« schließt nicht unbedingt
fassen, indem wir sagen, daß jemand, der einfache Zöpfe aus, die sehr bescheiden
in der Versammlung beten will, Heili- sein können, sondern eine ausgeklügelte
gung und Reinheit sich selbst gegenüber Schmückung des Kopfes mit auffälligen
zeigen sollte, Liebe und Frieden gegenü- Frisuren. Der Gebrauch von Schmuck
ber den Menschen und zutrauenden oder teuren Kleidern als Mittel der
Glauben gegenüber Gott. Selbstdarstellung ist beim Gebet ent-
2,9 Nachdem er die persönlichen An- schieden unpassend.
forderungen an die Männer diskutiert 2,10 Die positive Seite des weiblichen
hat, die das öffentliche Gebet leiten, wen- Schmucks wird uns in diesem Vers ge-
det sich der Apostel nun den Eigenschaf- zeigt. Der Schmuck, der für »Frauen«
ten der »Frauen« zu, die zu dieser Zeit in passend ist, »die sich zur Gottesfurcht
der Versammlung sind. Zunächst einmal bekennen«, findet sich in »guten Wer-
sagt er aus, daß sie »sich in würdiger ken«. Solche »Kleidung« lenkt andere
Haltung mit Schamhaftigkeit und Sitt- nicht von ihrer Gemeinschaft mit Gott
samkeit schmücken« sollten. Johannes ab, sondern führt eher zu solcher Ge-
Chrysostomus gibt eine Definition für meinschaft. Auch verursacht sie weder
»bescheidenes Äußeres« (Elb), die man Neid noch Eifersucht im falschen Sinne,
kaum verbessern kann: sondern ermutigt andere, dem Beispiel
Und was ist nun bescheidenes Äußeres? zu folgen. »Gute Werke« sind eines der
Etwas, das sie vollständig und anständig ver- Hauptthemen der Pastoralbriefe, und
hüllt, ohne überflüssigen Schmuck, denn das bilden einen wichtigen Ausgleich zu
eine ist anständig, das andere nicht. Was? nüchterner Lehre.
Willst du dich Gott nahen, um zu beten, wenn 2,11 Bezüglich ihrer Rolle in öffent-
du geschmücktes Haar und goldenen lichen Versammlungen der Gemeinde
Schmuck trägst? Bist du zu einem Ball ge- heißt es: »Eine Frau lerne in der Stille in

1103
1. Timotheus 2

aller Unterordnung.« Das stimmt mit hätte Eva nicht unabhängig handeln sol-
den übrigen Bibelstellen zu diesem The- len. Sie hätte zu Adam gehen und ihm
ma überein (1. Kor 11,3-15; 14,34.35). die Angelegenheit vorlegen sollen. Statt
2,12 Wenn Paulus sagt: »Ich erlaube dessen gestattete sie es sich selbst, von
aber einer Frau nicht, zu lehren«, dann Satan »betrogen« zu werden »und fiel in
spricht er hier inspirierte Worte Gottes. Übertretung«.
Es spiegelt nicht seine persönlichen Vor- In diesem Zusammenhang sollten
urteile wider, wie einige behaupten. Es wir darauf hinweisen, daß Irrlehrer heut-
ist Gott, der bestimmt, daß Frauen kei- zutage normalerweise Hausbesuche ma-
nen öffentlichen Lehrdienst in der Ge- chen, wenn die Frau am wahrscheinlich-
meinde übernehmen sollen. Die einzige sten alleine ist, d. h. wenn der Ehemann
Ausnahme bildet, daß ihnen erlaubt ist, mit Sicherheit an seinem Arbeitsplatz ist.
Kinder zu lehren (2. Tim 3,15) und junge »Adam wurde nicht betrogen.« Es
Frauen (Titus 2,4). Auch soll eine Frau scheint so, daß er offenen Auges gesün-
nicht »über den Mann … herrschen«. Das digt hat. Es gibt einige Ausleger, die der
bedeutet, daß sie keine Autorität über Meinung sind, daß er, als er gesehen hat-
einen Mann hat, sondern »sich in der Stil- te, daß seine Frau schon gesündigt hatte,
le halte«. Vielleicht sollten wir hinzufü- seine Einheit mit ihr erhalten wollte und
gen, daß der letztere Teil dieses Verses sich deshalb in die Sünde stürzte. Doch
auf keinen Fall nur auf die Ortsgemeinde die Schrift macht dazu keine Aussage.
beschränkt ist. Es handelt sich um ein Sie sagt nur, daß »die Frau … betrogen«
Grundprinzip in Gottes Handeln mit den wurde, »Adam« jedoch »nicht«.
Menschen, daß der Mann das Haupt ist 2,15 Dies ist einer der schwierigsten
und daß die Frau eine untergeordnete Verse der Pastoralbriefe, und viele Er-
Stellung einnimmt. Das bedeutet nicht, klärungen sind hierfür angeboten wor-
daß sie weniger wert wäre, das stimmt den. Einige denken, daß es sich um eine
ganz bestimmt nicht. Doch es bedeutet, einfache Verheißung Gottes handelt, daß
daß es dem Willen Gottes entgegensteht, eine christliche Mutter beim leiblichen
wenn die Frau Autorität oder Herrschaft Akt des »Kindergebärens« vor dem Tod
über den Mann hat. »gerettet« wird. Doch das gilt nicht
2,13 Um sein Argument zu stützen, immer, denn einige gottesfürchtige und
greift Paulus zunächst auf die Erschaf- hingegebene Christinnen sind beim Kin-
fung von »Adam« und »Eva« zurück. dergebären schon gestorben. Andere
»Adam wurde zuerst gebildet, danach denken, daß »Kindergebären« (wörtlich
Eva.« Schon die Reihenfolge der Schöp- das Kindergebären) sich auf die Geburt
fung war bedeutungsvoll. Indem er den des Messias bezieht, und daß Frauen
Mann »zuerst« schuf, hat Gott ihn zum durch den Einen errettet werden, der von
Haupt bestimmt, zu demjenigen, der die einer Frau geboren wurde. Doch dies
Leitung inne hat, und zu demjenigen, der scheint kaum in den Zusammenhang des
die Autorität haben würde. Die Tatsache, Abschnittes zu passen, da Männer auf
daß die Frau als zweite geschaffen wur- dieselbe Weise gerettet werden. Nie-
de, bedeutet, daß sie in Unterordnung mand könnte vernünftigerweise anneh-
unter ihrem Ehemann leben sollte. In- men, daß eine Frau ewige Errettung
dem er seine Argumente auf die Schöp- erhält einfach durch die Eigenschaft,
fung stützt, schließt Paulus jeden Ge- Mutter von Kindern geworden zu sein.
danken daran aus, daß es sich hier um Das wäre pure Werkgerechtigkeit, und
kulturelle Probleme handeln könnte. zwar auf eine äußerst seltsame Art!
2,14 Der zweite angeführte Beweis Wir schlagen das Folgende als die
bezieht sich auf den Sündenfall. Statt vernünftigste Interpretation des Ab-
»Adam« direkt anzusprechen, ging die schnittes vor. Zunächst einmal bezieht
Schlange mit ihren Verführungskünsten sich »Errettung« in diesem Zusammen-
und Lügen zu Eva. Nach Gottes Absicht hang nicht auf die Seele der Frau, sondern

1104
1. Timotheus 2 und 3

auf die Errettung ihrer Stellung in der wenn Mann und Frau ein konsequentes
Gemeinde. Von dem, was Paulus gerade christliches Zeugnis aufrecht erhalten,
in diesem Kapitel gesagt hat, könnte sich Christus in ihrer Familie ehren und ihre
in einigen Köpfen die Vorstellung festset- Kinder in der Furcht und Anbetung Got-
zen, daß eine Frau keine Aufgabe in Got- tes erziehen, dann wird die Stellung der
tes Ratschlüssen und Plänen hat, und auf Frau »gerettet« werden. Doch wenn
ein Nichtssein beschränkt wäre. Doch Eltern sorglos ein weltliches Leben füh-
solch eine Behauptung würde Paulus ren und die Erziehung ihrer Kinder ver-
bestreiten. Obwohl es stimmt, daß sie nachlässigen, dann können diese Kinder
kein öffentliches Amt in der Gemeinde für Christus und die Gemeinde verloren
einnehmen sollte, bekommt sie doch gehen. In solch einem Fall erreicht die
einen ganz wichtigen Dienst. Gott hat be- Frau nicht die wahre Würde, die Gott für
schlossen, daß die Aufgabe der Frau in sie bestimmt hat.
der Familie liegt und insbesondere in Es soll niemand denken, daß der
dem Dienst, Kinder zur Ehre und Herr- Dienst der Frau irgendwie weniger wich-
lichkeit des Herrn Jesus Christus heran- tig sei als der Dienst, der öffentlich ist,
zuziehen. Man denke an die Mütter von nur weil er im Verborgenen in der der
heutigen christlichen Gemeindeleitern! Familie geschieht. Man hat ganz recht
Diese Frauen haben nie eine öffentliche gesagt: »Die Hand an der Wiege regiert
Kanzel betreten, um das Evangelium zu die Welt.« Eines Tages, beim Richterstuhl
predigen, doch indem sie ihre Kinder für Christi, wird die Treue zählen, und sie ist
Gott erzogen haben, sind sie wirklich etwas, das man zu Hause ebenso ent-
»gerettet« worden, was ihre Position und wickeln kann wie auf der Kanzel.
Fruchtbarkeit für Gott betrifft.
Lilley schreibt: C. Über Älteste und Diakone (3,1-13)
Sie soll von den Folgen der Sünde errettet 3,1 Das zweite gewisse »Wort« in 1. Ti-
werden und es soll ihr ermöglicht werden, motheus beschäftigt sich mit der Aufga-
eine einflußreiche Position in der Gemeinde be der Bischöfe (Ältesten) in der Ortsge-
einzunehmen, indem sie ihre natürliche Be- meinde. Ein »Aufseher« ist ein christ-
stimmung als Frau und Mutter annimmt, licher Mann, der im Glauben erfahren
vorausgesetzt diese Hingabe ist weiterhin und verständig ist, der mithilft, entspre-
dadurch unterstrichen, daß sie die Frucht chend dem Willen Gottes für das geistli-
eines geheiligten christlichen Wesens hervor- che Leben einer Ortsgemeinde zu sorgen.
6)
bringt. Er regiert nicht über Gottes Erbe, sondern
Man mag an dieser Stelle Fragen: er führt durch sein geistliches Beispiel.
»Was ist mit den Frauen, die ledig blei- Heute bezeichnet »Bischof« einen
ben?« Die Antwort lautet, daß Gott in Kirchenmann, der Autorität über viele
diesem Abschnitt die Frau allgemein Ortsgemeinden hat. Doch immer wieder
behandelt. Die Mehrheit der christlichen sagt das NT, daß es mehrere Bischöfe in
Frauen heiratet und bekommt Kinder. einer Gemeinde gegeben hat (Apg 14,23;
Bezüglich der Ausnahmen gilt, daß es 20,17; Phil 1,1; Jak 5,14).
genügend nützliche Dienste gibt, die Ein Bischof ist dasselbe wie ein »Auf-
ihnen übertragen werden können und seher«. Das Wort, das in ER mit Aufseher
die kein öffentliches Lehren oder Herr- übersetzt wird, wird in anderen Bibel-
schen über Männer beinhalten. übersetzungen mit »Bischof« wieder-
Man beachte den Zusatz am Ende gegeben. Ein Bischof im biblischen Sinne
von Vers 15: »Sie wird aber durch das ist dasselbe wie ein Ältester. Dieselben
Kindergebären gerettet werden, wenn sie Männer, die in Apostelgeschichte 20,17
bleiben in Glauben und Liebe und Hei- Älteste genannt werden, werden in
ligkeit mit Sittsamkeit.« Wir haben es Apg 20,28 »Aufseher« genannt (vgl.
hier nicht mit einer bedingungslosen auch Titus 1,5.7). Älteste sind dasselbe
Verheißung zu tun. Der Gedanke ist, wie Presbyter, denn obwohl sich das

1105
1. Timotheus 3

letztere Wort nicht im NT findet, ist das Das Erkennen von Ältesten durch eine
deutsche Wort »Ältester« eine Überset- Ortsgemeinde kann ganz formlos gesche-
zung des griechischen Wortes presbyteros. hen. Es passiert sehr oft, daß Christen
Deshalb beziehen sich die Worte instinktiv wissen, wer ihre Ältesten sind,
»Bischof«, »Aufseher«, »Ältester« und weil sie sich mit den Anforderungen an
»Presbyter« alle auf dieselbe Person. Älteste in 1. Timotheus 3 und Titus 1 ver-
In Wirklichkeit wird das Wort, das traut gemacht haben. Andererseits kann
mit »Ältester« übersetzt wird (presbyte- die Anerkennung von Ältesten auch for-
ros), manchmal benutzt, um einen älteren meller geschehen. Eine Ortsgemeinde
Mann zu beschreiben, und zwar einen, mag sich ausdrücklich zu dem Zweck
der nicht notwendigerweise ein Gemein- versammeln, öffentlich Älteste zu ernen-
deleiter ist (1. Tim 5,1, gr.), doch an den nen. In diesem Fall sollte man normaler-
meisten anderen Stellen beschreibt weise die fraglichen Schriftstellen verle-
»Ältester« einen Mann, der in einer Orts- sen, sie auslegen und dann die Ortsge-
gemeinde als einer anerkannt ist, der den meinde bitten, diejenigen zu benennen,
Hirtendienst im Volk Gottes übernimmt. die sie für Älteste in dieser Gemeinde hal-
Das NT kennt Bischöfe oder Älteste ten. Die Namen werden dann vor der ge-
in jeder Ortsgemeinde (Phil 1,1). Doch samten Gemeinde genannt. Wenn eine
wäre es nicht richtig zu sagen, daß eine Gemeinde keine qualifizierten Ältesten
Gemeinde ohne Bischöfe nicht existieren hat, dann ist ihre einzige Möglichkeit, den
kann. Aus Titus 1,5 geht klar hervor, daß Herrn zu bitten, daß er ihnen in Zukunft
es in Kreta junge Gemeinden gab, in solche Menschen schenken möge.
denen noch keine Ältesten eingesetzt Die Schrift gibt keine Anzahl von
worden waren. Ältesten vor, die für eine Gemeinde nötig
Nur der Heilige Geist Gottes kann sind, obwohl es immer mehrere sind. Es
einen Mann zum Ältesten ernennen. Das ist einfach eine Frage, wie viele Männer
geht aus Apostelgeschichte 20,28 hervor. auf die Führung des Heiligen Geistes in
Der Heilige Geist legt einem Mann eine dieser Angelegenheit reagieren.
Last aufs Herz, diesen wichtigen Dienst »Wenn jemand nach einem Aufseher-
zu tun und er rüstet ihn auch dafür aus. dienst trachtet, so begehrt er ein schönes
Es ist unmöglich, einen Mann zum Werk.« Es gibt die Tendenz, dieses Werk
Bischof zu machen, indem man ihn in als ein würdiges Kirchenamt zu betrach-
dieses Amt wählt oder ihn ernennt. Die ten, das wenig oder keine Verantwor-
Verantwortung der Ortsgemeinde be- tung fordert, obwohl der »Aufseher-
steht darin, die Männer in ihrer Mitte zu dienst« in Wirklichkeit ein demütiger
erkennen, die vom Geist Gottes zu Älte- Dienst unter dem Volk Gottes ist. Dieses
sten gemacht worden sind (1. Thess 5,12. Werk ist mit viel Arbeit verbunden.
13). Es stimmt, daß wir die Ernennung 3,2 Die Eigenschaften, die ein Bischof
von Ältesten im Titusbrief finden, doch braucht, werden in den Versen 2-7 be-
hier ging es einfach um die Aufgabe, schrieben. Sie betonen 4 Haupteigen-
Männer auszusondern, die die Eigen- schaften: persönlichen Charakter, das
schaften von Ältesten hatten. Zu dieser Zeugnis der Familie, Fähigkeit zur Lehre
Zeit hatten die Christen das NT noch und ein gewisses Maß an Erfahrung. Das
nicht in geschriebener Form vorliegen, sind Gottes Anforderungen an diejeni-
wie wir es heute haben. Deshalb wußten gen, die gerne geistliche Leitungsämter
sie nicht genau, welche Anforderungen in der Ortsgemeinde bekleiden wollen.
an Älteste zu stellen waren. Deshalb hat Einige argumentieren, daß man heute
Paulus den Titus mit diesen Informatio- niemanden mehr an diesen Maßstäben
nen zu ihnen gesandt und wies Titus an, messen könne. Doch das ist nicht wahr.
diejenigen Männer auszusondern, die Eine solche Argumentation beraubt die
vom Geist Gottes für dieses Werk auser- Heilige Schrift ihrer Autorität und er-
sehen worden waren. laubt es, daß Menschen die Stellung

1106
1. Timotheus 3

eines Bischofs einnehmen, die niemals Mann, der in Mehrehe lebt, errettet wird.
vom Geist dazu ernannt worden sind. Vielleicht hatte er zur Zeit seiner Bekeh-
»Der Aufseher nun muß untadelig rung vier Frauen. Daraufhin bittet er um
sein.« Das bedeutet, daß man ihn keiner Taufe und Aufnahme in die Ortsgemein-
schweren Sünden anklagen kann. Es de. Was soll nun der Missionar tun?
bedeutet nicht, daß er sündlos sein muß, Mancher mag antworten, daß der Mann
sondern daß er, wenn er einen Fehler drei seiner Frauen wegschicken soll.
begeht, es vor Gott und Menschen so Doch eine solche Handlungsweise bringt
schnell als möglich wieder ins reine sehr viel Schwierigkeiten. Erstens ist es
bringt. Er muß unangreifbar sein, nicht fraglich, welche er wegschicken soll. Er
nur, weil er einen guten Ruf hat, sondern liebt sie alle und bietet allen ein Zuhause.
auch, weil er ihn verdient. Wenn er drei Frauen wegschicken wür-
Zweitens muß er »Mann einer Frau« de, dann bedeutet das meist, daß sie kei-
sein. Diese Anforderung ist verschieden nen Lebensunterhalt mehr haben, und
verstanden worden. Einige sind der An- einige von ihnen könnten gezwungen
sicht, daß es bedeutet, daß ein Ältester sein, sich diesen Lebensunterhalt durch
verheiratet sein sollte. Die Argumenta- Prostitution zu erwerben. Gottes Lösung
tion lautet, daß ein Junggeselle nicht die eines solchen Problems besteht aber nie
Breite der Erfahrung hat, um mit Fami- darin, eine Sünde zu verhindern, indem
lienproblemen zurechtzukommen, wenn er sie durch schlimmere ersetzt. Christli-
sie auftauchen. Wenn dieser Vers bedeu- che Missionare an vielen Orten lösen das
tet, daß ein Bischof verheiratet sein muß, Problem, indem sie erlauben, daß dieser
dann heißt das, daß er nach Vers 4 und 5 Mann getauft und von der Gemeinde
auch Kinder haben muß, weil man dann angenommen wird, doch er kann nie-
hier ebenso argumentieren muß. mals Ältester in der Gemeinde werden,
Andere Ausleger sind der Meinung, solange er mehrere Frauen hat.
daß »Mann einer Frau« bedeutet, daß ein »Nüchtern« bezieht sich nicht nur auf
Bischof nicht wieder heiraten darf, wenn Mäßigung beim Essen und Trinken, son-
seine erste Frau gestorben ist. Das ist eine dern auch auf die Meidung von Extre-
sehr strenge Auslegung und könnte auch men in geistlichen Angelegenheiten.
Licht auf die Heiligkeit der ehelichen Be- »Besonnen« bedeutet, daß dieser
7)
ziehung werfen. Mann nicht leichtfertig oder flatterhaft
Eine dritte Auslegung besagt, daß sein darf. Er ist ernst, umsichtig und dis-
diese Worte bedeuten, daß ein Bischof kret. Er erkennt: »Tote Fliegen lassen das
nicht geschieden sein darf. Diese Ansicht Öl des Salbenmischers stinken und gä-
hat beträchtlichen Wert, obwohl dies ren. Ein wenig Torheit hat mehr Gewicht
wohl kaum eine vollständige Erklärung als Weisheit und Ehre« (Pred 10,1).
liefert. Ein Bischof muß »sittsam« sein, d. h.
Eine andere Ansicht ist, daß ein Bi- sein Verhalten muß ordentlich und
schof sich keiner Untreue oder Unregel- freundlich sein.
mäßigkeit in seinem Eheleben schuldig »Gastfrei« zeigt an, daß er Fremde
machen darf. Sein sittliches Verhalten liebt. Sein Haus ist für Gläubige wie für
muß über jeden Tadel erhaben sein. Das Ungläubige gleichermaßen offen, und er
stimmt sicherlich, was immer noch diese möchte allen ein Segen sein, die unter
Aussage bedeuten mag. sein Dach kommen.
Eine letzte Erklärung lautet, daß dies Ein Ältester muß »lehrfähig« sein.
bedeutet, daß ein Bischof nicht in Mehr- Wenn er Menschen mit geistliche Proble-
ehe leben darf. Das scheint für uns eine men besucht, muß er in der Lage sein,
recht fremdartige Erklärung zu sein, sich der Schrift zuzuwenden und den
doch ist diese Erklärung sicher recht Willen Gottes in diesen Angelegenheiten
wertvoll. Auf den heutigen Missionsfel- zu erklären. Er muß in der Lage sein, die
dern geschieht es recht häufig, daß ein Herde Gottes zu weiden (1. Petr 5,2) und

1107
1. Timotheus 3

die Schrift zu benutzen, um Irrlehrer ein Mann »dem eigenen Haus gut vor-
abzuweisen (Apg 20,29-31). Es bedeutet steht«, dann wird er die Extreme von un-
nicht notwendigerweise, daß der Bischof nötiger Härte und ungerechter Laxheit
die Lehrgabe haben muß, sondern daß er meiden.
sowohl in seinem Besuchsdienst als auch 3,5 Das Argument hier ist eindeutig.
in der Gemeinde die Lehren des Glau- Wenn es einem Mann nicht gelingt, »dem
bens darstellen und das Wort der Wahr- eigenen Haus … vorzustehen«, wie will
heit recht austeilen kann, und daß er er jemals »für die Gemeinde Gottes sor-
bereit ist und den Mut hat, es zu tun. gen«? In seiner Familie ist die Anzahl der
3,3 Der Ausdruck »Trinker« bezieht Personen relativ gering. Sie sind alle mit
sich auf Alkoholabhängige. Der Bischof ihm verwandt, und die meisten Familien-
darf sich dem Trunk nicht hingeben und mitglieder werden sehr viel jünger sein
auf diese Weise Streit verursachen, d. h. als er selbst. In der Gemeinde dagegen
Schlägereien. hat er es meist mit viel mehr Leuten zu
»Kein Schläger« bedeutet, daß dieser tun, und mit diesen größeren Zahlen
Mann keine physische Gewalt auf ande- gehen auch entsprechende Unterschiede
re ausüben darf. Wenn er z. B. ein Herr im Temperament einher. Es ist offensicht-
über Sklaven ist, dann schlägt er diese lich, daß, wenn jemand nicht in der Lage
niemals. ist, einem kleinen Bereich vorzustehen, er
Die Worte »nicht unehrliche Hantie- dann sicherlich auch nicht in der Lage ist,
rung treiben« (LU1912) finden sich in einem größeren vorzustehen.
einigen alten Manuskripten nicht, jedoch Vers 5 ist wichtig, weil er die Arbeit
8)
in der Mehrheit der Manuskripte. Un- eines Ältesten definiert. Seine Aufgabe
ehrliches Handeln wird in der Gemeinde besteht darin, »für die Gemeinde Gottes«
und in der Welt sehr schlechte Früchte zu »sorgen«. Man beachte, daß es nicht
hervorbringen. heißt, über die Gemeinde Gottes zu herr-
Ein Ältester muß »gütig« sein. In sei- schen. Ein Ältester ist kein Despot, ja
ner Gemeindearbeit braucht er Geduld, noch nicht einmal ein gütiger Herrscher,
Nachsicht und einen Geist der Hingabe. sondern jemand, der das Volk Gottes lei-
Er darf »nicht streitsüchtig« sein, tet wie ein Hirte seine Herde.
nachtragend oder über jede Kleinigkeit Das einzige andere Mal, bei dem der
in Aufregung geraten. Er besteht nicht Ausdruck »sorgen« im NT benutzt wird,
auf seinen eigenen Rechten, sondern hat ist in der Geschichte vom barmherzigen
ein ausgeglichenes Temperament und ist Samariter (Lk 10,34). Dieselbe zarte,
anderen sympathisch. mitleidsvolle Fürsorge, die vom barm-
Ein Bischof darf »nicht geldliebend« herzigen Samariter dem Opfer der
sein, d. h. geizig. Hier liegt die Betonung Räuber erzeigt wurde, sollte von dem
auf der Liebe zum Geld. Der Bischof soll- Ältesten erzeigt werden, der für die Ge-
te am geistlichen Leben des Volkes Got- meinde sorgt.
tes interessiert sein und sich nicht von 3,6 »Nicht ein Neubekehrter.« Je-
einem großen Verlangen nach Reichtum mand, der gerade erst zum Christentum
ablenken lassen. bekehrt worden ist, oder jemand, der
3,4 Um als Ältester anerkannt zu wer- noch jung im Glauben ist, ist nicht quali-
den, muß der Mann »dem eigenen Haus fiziert, Ältester zu werden. Diese Arbeit
gut« vorstehen »und die Kinder mit aller erfordert erfahrene und im Glauben ver-
Ehrbarkeit in Unterordnung« halten. ständige Männer. Die Gefahr ist, daß ein
Diese Qualifikation trifft solange zu, wie Neubekehrter »aufgebläht« vor Stolz ist
die Kinder im Haus des Ältesten woh- und dann »dem Gericht des Teufels« ver-
nen. Wenn sie ausgezogen sind und ihre fällt. Das »Gericht des Teufels« bedeutet
eigenen Familien gegründet haben, dann nicht das Gericht, das Satan über einen
besteht nicht mehr die Möglichkeit, diese Menschen bringt, sondern das Gericht,
Unterordnung zu demonstrieren. Wenn das Satan selbst wegen seinem Stolz traf.

1108
1. Timotheus 3

Er wollte eine hohe Stellung einnehmen, Sie dürfen »nicht vielem Wein erge-
für die er nicht bestimmt war, und als ben« sein. Das NT verbietet den Gebrauch
Ergebnis wurde er aus seiner Stellung von Alkohol zu medizinischen Zwecken
gestürzt. nicht, oder als Getränk in den Ländern,
3,7 Ein Bischof ist ein Mann, der in wo das Wasser normalerweise verunrei-
der Gemeinschaft einen »guten« Ruf hat. nigt ist. Doch obwohl auch der mäßige
Die, »die draußen sind«, sind die unerlö- Gebrauch von Wein erlaubt ist, muß der
sten Nachbarn. Ohne dieses »gute Zeug- Christ sein Zeugnis in dieser Angelegen-
nis« wird er von Menschen angeklagt heit bedenken. Während es in einigen
werden und »in den Fallstrick des Teu- Ländern vollkommen richtig ist, wenn ein
fels« geraten. Die Anklagen können so- Christ Wein trinkt und er damit sein
wohl von Gläubigen als auch von Zeugnis nicht gefährdet, so kann in ande-
Ungläubigen kommen. Der »Fallstrick ren Ländern gelten, daß er einen Ungläu-
des Teufels« ist die Falle, die Satan für bigen damit zum Straucheln bringt, wenn
diejenigen auslegt, deren Leben nicht mit er einen Christen sieht, der Wein trinkt.
ihrem Bekenntnis übereinstimmt. Wenn Deshalb mag der Genuß von Wein zwar
er Menschen einmal in dieser Falle hat, erlaubt, aber nicht geraten sein.
dann setzt er sie dem Spott, dem Zorn Diakone dürfen »nicht schändlichen
und der Verachtung aus. Gewinn« erstreben. Wie schon erwähnt
3,8 Der Apostel kommt nun von den wurde, gehört zu den Aufgaben der Dia-
Bischöfen zu den »Dienern« (Diakone). kone auch die Verwaltung der Gelder der
Im NT ist ein Diakon einfach jemand, der Ortsgemeinde. Dies ist für den Diakon
dient. Man versteht generell darunter, eine besondere Versuchung, wenn er
daß ein Diakon jemand ist, der sich um geldgierig ist. Er könnte versucht sein,
die weltlichen Belange der Gemeinde sich aus der Gemeindekasse zu bedie-
kümmert, während der Bischof für ihre nen. Judas war nicht der letzte Schatz-
geistlichen Anliegen da ist. Dieses Ver- meister, der seinen Herrn für Geld ver-
ständnis der Pflichten eines Diakons raten hat!
basiert größtenteils auf Apg 6,1-15, wo 3,9 Diakone müssen »das Geheimnis
Männer ernannt wurden, die für die täg- des Glaubens in reinem Gewissen be-
liche Verteilung der Gaben an die Wit- wahren«. Das bedeutet, daß sie in Lehre
wen der Gemeinde bestimmt wurden. In und Praxis nüchtern sein müssen. Sie
diesem Abschnitt wird das Hauptwort müssen die Wahrheit nicht nur kennen,
Diakon überhaupt nicht benutzt, son- sondern auch ausleben. »Das Geheimnis
dern nur das entsprechende Verb in Vers des Glaubens« ist eine Beschreibung für
2: »Es ist nicht gut, daß wir das Wort Got- den christlichen Glauben. Viele der Leh-
tes vernachlässigen und die Tische bedie- ren der Christenheit wurden in der Zeit
nen (wrtl. diakonieren).« des AT von Gott geheim gehalten, doch
Die erforderlichen Qualifikationen dann den Aposteln und Propheten des
eines »Diakons« sind denen für die NT offenbart. Deshalb wird hier das
Bischöfe sehr ähnlich, obwohl sie nicht Wort »Geheimnis« benutzt.
ganz so streng sind. Ein bemerkenswer- 3,10 Diakone sollten »zuerst erprobt
ter Unterschied ist, daß von einem Dia- werden«, wie auch die Ältesten. Das
kon nicht verlangt wird, daß er lehrfähig bedeutet, daß man sie für einige Zeit
sein müsse. beobachten sollte und ihnen vielleicht
Diakone müssen »ehrbar« sein, wür- für einige Zeit eine untergeordnete Ver-
dig und respektwürdig. Sie dürfen »nicht antwortung in der Gemeinde übertragen
doppelzüngig« sein, d. h. sie dürfen kei- sollte. Wenn sie sich als vertrauenswür-
ne unterschiedlichen Aussagen vor ver- dig erweisen, dann können ihnen größe-
schiedenen Personen bzw. zu verschie- re Aufgaben zugewiesen werden.
denen Zeitpunkten machen. Sie müssen »Dann« sollen »sie dienen«. Wie bei den
in ihren Aussagen zuverlässig sein. Bischöfen liegt die Betonung nicht so

1109
1. Timotheus 3

sehr auf einem kirchlichen Amt, sondern den christlichen Glauben alleine bezie-
auf dem Dienst am Herrn und seinem hen, sondern auch darauf, daß sie verläß-
Volk. lich, treu und vertrauenswürdig sind. Sie
Wann immer jemand »untadelig« in sollten in der Lage sein, persönliche
seinem persönlichen und öffentlichen Bekenntnisse und Familiengeheimnisse
Leben erfunden worden ist, darf er als für sich zu behalten.
Diakon arbeiten. »Untadelig« bezieht 3,12 Der Apostel kehrt nun zum
sich besonders auf die Qualifikationen, Thema »Diener« zurück. Als erstes
die vorher genannt worden sind. bestimmt er, daß sie »Mann einer Frau«
An diesem Punkt wäre es gut, einige sein müssen. Die verschiedenen Bedeu-
der Männer zu erwähnen, die in der tungen dieses Ausdrucks sind schon in
Gemeinde als Diakone angesehen wer- Zusammenhang mit Vers 2 dieses Ka-
den können. Sicherlich wäre der Kassen- pitels besprochen worden.
wart ein Diakon, außerdem der Sekretär, Auch sie sollen ihren »Kindern und
der Leiter der Sonntagsschule und die den eigenen Häuser gut vorstehen«. Das
Platzanweiser. NT sieht ein Versagen auf diesem Gebiet
3,11 Dieser Vers bezieht sich offen- als ernsthaften Charakterfehler an. Das
sichtlich auf die »Frauen« der Diakone, bedeutet nicht, daß die Männer selbst-
oder aber auf die Frauen von Bischöfen herrlich und herrisch sein müßten, son-
und Diakonen. Die »Frauen« von denen, dern es bedeutet, daß ihre Kinder ge-
die Verantwortung in der Gemeinde tra- horsam und ein Zeugnis für die Wahrheit
gen, sollten sicherlich Frauen sein, die sein sollen.
ein gutes christliches Zeugnis haben und 3,13 Der Satz »denn die, welche gut
integer sind, so daß sie ihre Männer bei gedient haben, erwerben sich eine
ihrer wichtigen Aufgabe unterstützen schöne Stufe und viel Freimütigkeit im
können. Glauben, der in Christus Jesus ist« zeigt
Doch das Wort, das hier steht, kann sich sehr schön im Fall von Philippus
man sowohl mit Ehefrau als auch einfach und Stephanus. In Apostelgeschichte 6,5
neutral mit »Frau« übersetzen. Diese werden diese beiden Männer unter den
Interpretation würde es erlauben, daß sieben Diakonen erwähnt, die gewählt
auch Frauen Diakone sein können. Es wurden. Die Aufgabe, zu der sie ernannt
gab solche Frauen in der Urgemeinde, wurden, war die Verteilung des Geldes
z. B. in Römer 16,1, wo Phöbe als »Diene- unter den Witwen der Gemeinde. Als sie
rin«, wörtlich »Diakon« der Gemeinde in diesen Dienst treu taten, hat der Geist sie
9)
Kenchreä genannt wird. Ein Schlüssel in weitere Gebiete des Dienstes einge-
für die Art des Dienstes, den diese Frau- führt. Im weiteren Verlauf der Apostel-
en taten, findet sich in Römer 16,2, wo geschichte finden wir Philippus im
Paulus von Phöbe sagt, daß sie »vielen Dienst als Evangelisten und Stephanus
ein Beistand gewesen« ist, »auch mir als Lehrer. Sie hatten »gut gedient« und
selbst«. wurden nun gewissermaßen befördert.
Welcher Interpretation man auch Sie hatten eine »schöne Stufe« in den
immer den Vorzug geben mag, diese Frau- Augen der Ortsgemeinde erreicht. Ein
en »sollen ebenso ehrbar«, würdig und Mensch, der eine Aufgabe treu erledigt,
nüchtern sein. Sie dürfen »nicht verleum- auch wenn es sich um eine Kleinigkeit
derisch« sein, ihre Zeit nicht mit Klatsch handelt, wird bald wegen seiner Hin-
und Tratsch verbringen oder falsche oder gabe und Verläßlichkeit respektiert und
bösartige Reden verbreiten, die den Ruf geschätzt werden.
anderer schädigen könnten. Sie müssen Außerdem erhielten Philippus und
»nüchtern« sein, Selbstkontrolle üben Stephanus »viel Freimütigkeit im Glau-
können und zurückhaltend sein. ben, der in Christus Jesus ist«. Das be-
Schließlich müssen sie noch »treu in deutet zweifellos, daß sie freimütig für
allem« sein. Das kann sich nicht nur auf Christus Zeugnis ablegten, vollmächtig

1110
1. Timotheus 3

lehrten und beteten. Das galt auf jeden digung und Untermauerung der Wahr-
Fall für Stephanus in seiner gewaltigen heit Gottes beauftragt ist.
Predigt vor seinem Märtyrertod. 3,16 Dies ist ein schwieriger Vers. Eine
Schwierigkeit besteht darin, zu bestim-
D. Über das Verhalten in der men, wie er in den vorhergehenden Zu-
Gemeinde (3,14-16) sammenhang paßt. Ein Vorschlag ist, daß
3,14 Der Apostel hat das Vorangegan- wir es hier mit einer Darstellung der Wahr-
gene in der Hoffnung geschrieben, Timo- heit zu tun haben, für die die Gemeinde
theus bald wiederzusehen. Das Wort die Grundfeste ist (V. 15). Ein anderer Vor-
»dies« kann sich allerdings nicht nur auf schlag lautet, daß dieser Vers das Vorbild
das Vorhergehende, sondern auch auf der Gottseligkeit und ihre Macht zeigt, die
das Folgende beziehen. für Paulus einen wichtigen Bestandteil des
3,15 Paulus erkannte die Möglichkeit, richtigen Verhaltens im Hause Gottes
daß er zögern oder verhindert werden darstellt. J. N. Darby sagt:
könnte. Vielleicht würde er überhaupt Dieser Vers wird oft so zitiert, als stelle er
nicht nach Ephesus kommen. Wir wissen das Geheimnis der Gottheit oder der Person
nicht, ob es ihm gelang, Timotheus in Christi dar. Doch es geht hier um das Ge-
Ephesus wiederzusehen. Und weil er heimnis der Gottseligkeit, oder das Geheim-
nicht wußte, wie lange er brauchen wür- nis, durch welches alle echte Gottseligkeit her-
de, wollte er, daß Timotheus wußte, vorgebracht wird – die göttliche Quelle alles
»wie« die Gläubigen »sich verhalten« dessen, was man Frömmigkeit des Menschen
sollten »im Hause Gottes«. nennen könnte. … Gottseligkeit entspringt
In den vorhergehenden Versen hat dem Wissen über die Menschwerdung, den
Paulus beschrieben, wie sich Bischöfe, Tod, die Auferstehung und Himmelfahrt des
Diakone und ihre Frauen zu verhalten Herrn Jesus Christus. … So können wir Gott
haben. Nun erklärt er, wie Christen all- erkennen, und wenn wir darin bleiben, so ent-
10)
gemein sich »im Hause Gottes« zu ver- steht dadurch Gottseligkeit.
halten haben. Wenn Paulus sagt, daß »das Geheim-
Das »Haus Gottes« wird hier defi- nis … groß« sei, dann meint er damit
niert als »die Gemeinde des lebendigen nicht, daß es besonders geheimnisvoll
Gottes …, der Pfeiler und die Grundfeste sei, sondern daß die vorher unbekannte
der Wahrheit«. Im AT wohnt Gott im Wahrheit über das Werk und die Person
Allerheiligsten und im Tempel, doch im des Herrn Jesus sehr großartig und wun-
NT wohnt er in der »Gemeinde«. Sie derbar ist.
11)
wird »Gemeinde des lebendigen Gottes« Der Ausdruck »Gott ist offenbart im
genannt, was sie von einem Tempel, in Fleisch« (LU1912) bezieht sich auf den
welchem leblose Götzen stehen, unter- Herrn Jesus und insbesondere auf seine
scheidet. Fleischwerdung. Echte »Gottseligkeit«
Die Gemeinde wird »Pfeiler und die wurde zum erstenmal Fleisch, als der
Grundfeste der Wahrheit« genannt. Ein Heiland als kleines Kind im Stall zu
Pfeiler ist nicht nur eine Stütze eines Bethlehem geboren wurde.
Gebäudes, sondern wurde auch oft auf Bedeutet »gerechtfertigt im Geist«,
einem öffentlichen Marktplatz aufge- daß er »in seinem eigenen menschlichen
stellt. Daran wurden dann Ankündigun- Geist gerechtfertigt« worden ist? Oder
gen aufgehängt. Somit war sie auch ein bedeutet es »gerechtfertigt durch den
Verkündiger. Die Gemeinde ist die Ein- Heiligen Geist«? Wir verstehen unter
heit auf Erden, die Gott erwählt hat, um diesem Ausdruck das Letztere. Christus
seine »Wahrheit« zu zeigen und zu ver- wurde durch denselben Heiligen Geist
kündigen. Sie ist auch die »Grundfeste bei seiner Taufe (Matth 3,15-17), seiner
der Wahrheit«. Grundfeste bedeutet so- Verklärung (Matth 17,5), seiner Aufer-
viel wie Fundament. Dieses Bild zeigt die stehung (Röm 1,3.4) und seiner Himmel-
Gemeinde als Einheit, die mit der Vertei- fahrt (Joh 16,10) gerechtfertigt.

1111
1. Timotheus 3 und 4

Der Herr Jesus wurde »von den sein müßte. Einige Ausleger glauben, daß
Engeln gesehen« bei seiner Geburt, bei wir in diesem Vers einen Teil eines
der Versuchung, bei seinem Glaubens- frühen christlichen Liedes haben. Wenn
kampf im Garten Gethsemane, bei seiner das so ist, dann ist es unserem Lied
Auferstehung und bei seiner Himmel- »Eines Tages« sehr ähnlich:
fahrt. Im Leben liebte er mich,
Vom Pfingsttag an wurde er »unter im Sterben rettete er mich,
den Nationen gepredigt«. Die Verkündi- in seinem Begräbnis nahm er
gung hat nicht nur das jüdische Volk meine Sünden für immer hinweg,
erreicht, sondern die äußersten Enden in seiner Auferstehung hat er mich
der Erde. bedingungslos für immer gerechtfertigt.
Der Ausdruck »geglaubt in der Welt« Eines Tages wird er wieder kommen –
beschreibt die Tatsache, daß einige von o, welch herrlicher Tag!
fast jedem Stamm und jedem Volk ihr Charles H. Marsh
Leben dem Herrn Jesus anvertraut ha-
ben. Es heißt nicht, daß ihm von der Welt IV. Über den Abfall in der Gemeinde
geglaubt worden sei. Obwohl seine Ver- (4,1-16)
kündigung in die ganze Welt hinausge-
gangen ist, ist er doch nur teilweise ange- A. Warnung vor dem kommenden
nommen worden. Abfall (4,1-5)
Man nimmt allgemein an, daß sich 4,1 Es gibt zwei Arten, auf die der »Geist«
der Ausdruck »aufgenommen in Herr- etwas »ausdrücklich« sagen kann. Zu-
lichkeit« auf Christi Himmelfahrt be- nächst einmal wurde das, was Paulus
zieht, nachdem das Werk der Erlösung hier jetzt sagen muß, ihm sicherlich durch
vollendet war. Es bezieht sich weiter auf göttliche Offenbarung gegeben. Doch
seinen jetzigen Aufenthalt im Himmel. könnte es auch heißen, daß in der Schrift
Vincent weist darauf hin, daß es heißt und insbesondere im NT »ausdrücklich«
»aufgenommen in (nicht in die) Herrlich- gelehrt wird, daß die »späteren Zeiten«
keit«. Das bedeutet, »daß er mit den ihm durch eine Abweichung vom Glauben
gebührenden Ehren wie ein siegreicher gekennzeichnet sein werden.
General in den Himmel aufgenommen Der Ausdruck »spätere Zeiten« be-
wurde«. deutet eine Zeitspanne, die auf diejenige
Einige Ausleger meinen, daß diese folgt, in der der Apostel schreibt.
Liste von Ereignissen chronologisch ge- »Manche werden vom Glauben abfal-
ordnet ist. Sie sagen etwa, daß »geoffen- len.« Das Wort »manche« ist charakteri-
bart im Fleisch« sich auf die Fleischwer- stisch für den 1. Timotheusbrief. Was in
dung bezieht, »gerechtfertigt im Geist« diesem Brief noch eine Minderheit ist,
auf den Tod Jesu, sein Begräbnis und sei- scheint in 2. Timotheus schon eine Mehr-
ne Auferstehung, »gesehen von den heit geworden zu sein. Die Tatsache, daß
Engeln« auf seine Himmelfahrt, »gepre- diese Menschen »vom Glauben abfallen«
digt unter den Nationen« und »geglaubt oder abweichen werden, bedeutet nicht,
in der Welt« auf die Ereignisse nach sei- daß sie irgendwann einmal gerettet ge-
ner Himmelfahrt und schließlich »aufge- wesen sind, sondern nur, daß sie sich ein-
nommen in Herrlichkeit« auf den Tag, an mal zu Christus bekannt haben. Sie wuß-
dem alle Erlösten versammelt werden, ten alles über den Herrn Jesus Christus.
von den Toten auferstehen und mit ihm Ihnen war gesagt worden, daß er der ein-
in die Herrlichkeit aufgenommen wer- zige Erlöser ist. Sie bekannten sich eine
den. Dann, und erst dann, wird nach die- Zeit zu seiner Nachfolge, doch dann fie-
ser Ansicht das »Geheimnis der Gottse- len sie vom Glauben ab.
ligkeit« vervollständigt sein. Man kann diesen Abschnitt kaum
Doch wir sehen keinen Grund, war- lesen, ohne an das Aufkommen von Sek-
um dies eine chronologische Reihenfolge ten in unseren Tagen zu denken. Die Art

1112
1. Timotheus 4

und Weise, auf die diese Irrlehren sich Das widerspricht direkt dem Wort Got-
verbreitet haben, wird hier ausführlich tes. Gott selbst hat die Ehe eingesetzt,
beschrieben. Ein Großteil ihrer Mitglie- und zwar, noch ehe die Sünde in die Welt
der gehörte früher einmal zu den soge- gekommen war. Es gibt an der Ehe nichts
nannten christlichen Kirchen. Vielleicht Unheiliges, und wenn Irrlehrer die Ehe
waren diese Gemeinden früher einmal verbieten, dann greifen sie an, was Gott
gesund im Glauben gewesen, doch dann eingesetzt hat.
ließen sie sich durch ein sogenanntes Ein Beispiel für diese Lehre ist das
soziales Evangelium von der Hauptsa- Gesetz, das es bestimmten Priestern und
che ablenken. Die Sektenlehrer kamen Nonnen »verbietet, zu heiraten«. Doch
dann und boten eine attraktivere Bot- noch direkter bezieht sich dieser Vers auf
schaft an, und diese Namenschristen die Lehre der Spiritisten, die geistliche
wurden eingefangen. Affinität genannt wird, durch welche
Sie »achten« bereitwillig »auf be- nach A. J. Pollock »die eheliche Bindung
trügerische Geister und Lehren von Dä- verspottet wird«, und in ihrer prak-
monen« und stimmen ihnen zu. »Be- tischen Auswirkung werden Männer
trügerische Geister« wird hier in bild- und Frauen von ihren richtigen Partnern
lichem Sinne gebraucht, um Irrlehrer zu weggelockt, um unheilige und gesetz-
beschreiben, die von bösen Geistern lose Verbindungen mit ihren sogenann-
besessen sind, die die Unachtsamen be- ten »geistlichen Affinitäten« einzugehen.
trügen. »Lehren von Dämonen« bedeutet Wir könnten auch die Haltung der soge-
nicht Lehren über Dämonen, sondern sol- nannten Christlichen Wissenschaft hier
che »Lehren«, die von Dämonen inspi- aufführen. Mrs. Eddy, die Gründerin,
riert sind oder ihren Ursprung in der dreimal verheiratet, schrieb:
Welt der Dämonen haben. Wenn wir nicht lernen, daß Gott der
4,2 Das Wort »Heuchelei« bedeutet Vater aller ist, wird die Ehe weiter bestehen.
soviel wie »eine Maske tragen«. Wie … Die Ehe, die einst eine feste Tatsache unter
typisch ist das doch für Sektenprediger! uns war, muß ihre gegenwärtige Anhänger-
12)
Sie versuchen, ihre wahre Identität zu schaft verlieren.
verbergen. Sie möchten nicht, daß die Die zweite dämonische Lehre »gebie-
Menschen das System kennenlernen, zu tet, sich von« bestimmten »Speisen zu ent-
dem sie gehören. Sie verstellen sich, in- halten«. Solche Lehren finden sich unter
dem sie biblische Ausdrücke gebrauchen Spiritisten, die behaupten, daß das Essen
und christliche Lieder singen. Sie sind von Fleisch den Menschen hindere, mit
nicht nur Heuchler, sondern auch Lüg- Geistern in Kontakt zu kommen. Auch
ner. Ihre Lehre entspricht nicht der Wahr- gibt es unter den Theosophen und den
heit des Wortes Gottes und sie wissen es. Hindus die Furcht davor, irgendeine Art
Trotzdem betrügen sie die Menschen von Leben zu opfern, weil sie fürchten,
absichtlich. der Mensch könne als Tier oder ein an-
»Ihr Gewissen« ist »gebrandmarkt«. deres Lebewesen wiedergeboren werden.
In ihrem früheren Leben hatten sie viel- Das Pronomen »die« kann sich ent-
leicht einmal ein empfindliches Gewis- weder auf die Ehe oder auf die »Speisen«
sen, doch sie haben es so oft unterdrückt beziehen. Beide wurden von »Gott ge-
und so oft gegen das Licht gesündigt, schaffen«, um von uns »mit Dank-
daß ihr Gewissen nun gefühllos und ver- sagung« genossen zu werden. Gott woll-
härtet ist. Sie haben keine Skrupel mehr, te nicht, daß sie nur für die sind, die nicht
dem Wort Gottes zu widersprechen und wiedergeboren sind, sondern auch »für
Dinge zu lehren, von denen sie wissen, die, welche glauben und die Wahrheit
daß sie nicht stimmen. erkennen«.
4,3 Zwei der dämonischen Lehren 4,4 »Jedes Geschöpf« (oder Schöp-
werden nun genannt. Die erste Lehre fung) »Gottes ist gut.« Sowohl Speisen als
lautet, daß es schlecht sei, »zu heiraten«. auch die Einrichtung der Ehe sind Schöp-

1113
1. Timotheus 4

fungen Gottes und »nicht verwerflich«, Der Apostel rät Timotheus, »die un-
wenn« sie »mit Danksagung genommen« heiligen und altweiberhaften Fabeln« ab-
werden. Gott hat die Ehe eingesetzt, um zuweisen. Er soll sie nicht bekämpfen
das menschliche Leben weiterzugeben oder viel Zeit mit ihnen verbringen. Er
(s. 1. Mose 1,28) und als Speise zur Er- soll sie einfach ablehnen, sie mit Verach-
haltung dieses Lebens (1. Mose 9,3). tung strafen. »Altweiberhafte Fabeln«
4,5 »Gottes Wort« sondert sowohl lassen uns an die sogenannte »Christ-
Speise als auch die Ehe für den menschli- liche Wissenschaft« denken, die von
chen Gebrauch aus. Die Speise wird so einer Frau gegründet wurde, offensicht-
»geheiligt« in 1. Mose 9,3; Markus 7,19; lich meist ältere Frauen anspricht und
Apostelgeschichte 10,14.15 und 1. Korin- Fabeln statt der Wahrheit lehrt.
ther 10,25.26. Die Ehe wird in 1. Korin- Statt die Zeit mit Mythen und »Fa-
ther 7 und Hebräer 13,4 geheiligt. beln« zu verbringen, sollte Timotheus
Beide sind auch »durch Gebet … ge- sich in »Gottseligkeit« üben. Zu solchen
heiligt«. Ehe wir an einer Mahlzeit teil- Übungen gehört das Lesen und Studie-
nehmen, sollten wir unser Haupt beugen ren der Bibel, das Gebet, und das Zeug-
und für die Speisen danken (s. Matth 14, nis gegenüber anderen. Stock sagt: »Es
19; Apg 27,35). Durch diese Handlung gibt kein sogenanntes ›hineinkommen‹
bitten wir den Herrn, das Essen zu heili- in die Gottseligkeit, denn wir müssen
gen, damit es unseren Leib stärkt, damit gegen den Strom schwimmen, um sie zu
wir ihm noch besser dienen können. Ehe erreichen.« Wir brauchen »Übung«, die
wir eine Ehe eingehen, sollten wir beten, wiederum Anstrengung bedeutet.
daß Gott diese Ehe zu seiner Ehre segnen 4,8 Hier werden zwei Arten der
möge, daß andere dadurch gesegnet »Übung« einander gegenüber gestellt.
werden und daß sie sowohl der Braut als »Leibliche Übung« hat einen gewissen
auch dem Bräutigam zum Guten diene. Wert für den Leib, doch dieser Wert ist
Es ist ein gutes Zeugnis, wenn Chri- begrenzt und von kurzer Dauer. »Gottse-
sten vor der Mahlzeit danken, wenn sie ligkeit« dagegen ist für den Geist, die
in der Gegenwart unerretteter Menschen Seele und den Leib des Menschen gut.
sind. Der Dank sollte nicht zur Schau ge- Sie nützt nicht nur in der Zeit, sondern
stellt werden, doch sollten wir auch nicht auch für die Ewigkeit. Soweit es das
versuchen, die Tatsache zu verbergen, »Leben« angeht, so bringt uns die »Gott-
daß wir Gott für unser Essen danken. seligkeit« die größte Freude, soweit es
das »zukünftige« Leben angeht, so bringt
B. Anweisungen im Hinblick auf den sie das Versprechen großer Belohnung
kommenden Abfall (4,6-16) und der Fähigkeit, die Herrlichkeit die-
4,6 Indem Timotheus die »Brüder« über ser Ewigkeit zu genießen, mit sich.
»dies«, was in den Versen 1-5 erwähnt 4,9 Man ist sich allgemein einig, daß
wird, unterrichtet, wird er »ein guter Die- dieser Vers sich auf die Aussage über die
ner Christi Jesu sein«. Er wird ein »Die- Gottseligkeit zurückbezieht. Die Tatsa-
ner« sein, »der sich nährt durch die Worte che, daß Gottseligkeit von großem und
des Glaubens und der guten Lehre, der« ewigem Wert ist, ist »gewiß und aller
er bis zu diesem Zeitpunkt »gefolgt« ist. Annahme wert«. Dies ist daß dritte
4,7 In diesem Abschnitt vergleicht »gewisse Wort« dieses Briefes.
Paulus den christlichen Dienst mit einer 4,10 »Denn dafür arbeiten wir und
13)
Art sportlichem Wettbewerb. In Vers 6 werden geschmäht.« Der Grund, der
sprach er von der geeigneten Ernährung hier für die Arbeit genannt wird, ist das
für denjenigen, der Christus dient – er Leben der Gottseligkeit. Paulus sagt hier
sollte sich mit Glaubensworten und gu- aus, daß dies das große Ziel ist, auf das
ter Lehre ernähren. In Vers 7 spricht er alle seine Bemühungen hinzielen. Das
von der Übung, die »Gottseligkeit« als wäre für Ungläubige kein würdiges Ziel
Ziel hat. für dieses Lebens. Doch der Christ sieht

1114
1. Timotheus 4

weiter als die Vergänglichkeit dieser Welt zwar sowohl der Geist, in dem man
und setzt seine Hoffnung auf den »leben- sich verhält, als auch das Ziel des Ver-
digen Gott«. Diese Hoffnung kann nie- haltens.
mals enttäuscht werden, weil er eben der »Im Geist« fehlt in den meisten mo-
»lebendige Gott« ist, »der ein Retter aller dernen Bibelausgaben und Kommenta-
Menschen ist, besonders der Gläubigen«. ren, die dem kritischen Text folgen. Doch
Gott ist der »Retter aller Menschen« in die Worte kommen sowohl im Textus
dem Sinne, daß er sie täglich erhält. Doch Receptus als auch im Mehrheitstext vor.
er ist auch »Retter aller Menschen« in Guy King betont die Tatsache, daß Begei-
dem Sinne, auf den vorher schon hinge- sterung, wie er diesen Ausdruck schön
wiesen wurde, nämlich, daß er für die übersetzt, eine Qualität sei,
Errettung aller Menschen Vorsorge be- die dem Make-up der meisten Christen
trieben hat. Er ist auf besondere Weise fehle. Es gibt viel Begeisterung für Fußball-
der Retter der »Gläubigen«, weil sie sich spiele, für den Wahlkampf, doch so wenig
unter diese Vorsorge gestellt haben. Wir Begeisterung für den Dienst GOTTES. Wie
könnten sagen, daß er der potentielle sehr beschämt uns doch die Begeisterung der
Retter aller Menschen ist und der wirk- christlichen Wissenschaftler, der Zeugen
liche Retter der Gläubigen. Jehovas und der Kommunisten. Ach, hätten
4,11 Das Wort »dies« ist wahrschein- wir doch diese flammende Begeisterung, die
lich rückbezüglich auf die Worte des einst für die Kirche charakteristisch war. Die-
Paulus in Vers 6-10. Timotheus soll diese ser feine Geist wird Timotheus sehr helfen,
Anweisungen »gebieten und lehren«, wenn er seine Stellung sichern und die Li-
14)
d. h., sie ständig dem Volk Gottes vor nien vorantreiben will.
Augen halten. »Im Glauben« bedeutet wahrschein-
4,12 Zur Zeit der Abfassung dieses lich »in Treue«, und steht für Verläßlich-
Briefes war Timotheus wahrscheinlich keit und Standhaftigkeit.
zwischen dreißig und fünfunddreißig »Keuschheit« sollte nicht nur die
Jahren alt. Im Gegensatz zu den Ältesten Taten des Timotheus, sondern auch seine
der Gemeinde in Ephesus war er ein ver- Motive kennzeichnen.
hältnismäßig junger Mann. Deshalb sagt 4,13 Dieser Vers bezieht sich wahr-
Paulus hier: »Niemand verachte deine scheinlich in erster Linie auf die Ortsge-
Jugend.« Das bedeutet nicht, daß Timo- meinde und nicht so sehr auf das persön-
theus sich selbst auf einen Podest stellen liche Leben des Timotheus. Er sollte »an-
und sich für immun gegen Kritik halten halten« (Elb) mit dem öffentlichen »Vor-
sollte. Es bedeutet, daß niemand Anlaß lesen« der Schrift, »mit Ermahnen« und
hat, ihn zu verurteilen. Indem er »ein »mit dem Lehren«. Wir haben hier eine
Vorbild der Gläubigen« war, sollte er bedeutsame Reihenfolge. Als erstes be-
mögliche gerechtfertigte Kritik aus- tont Paulus, daß das Wort Gottes öffent-
schließen. lich vorgelesen werden soll. Das war zu
»Im Wort« bezieht sich auf das Reden dieser Zeit besonders nötig, da die Ver-
des Timotheus. Seine Rede sollte immer breitung der Schrift recht begrenzt war.
seiner Stellung als Kind Gottes entspre- Nur wenige Menschen konnten sich eine
chen. Er sollte nicht nur Redeweisen ver- Abschrift der Bibel leisten. Nachdem die
meiden, die ausdrücklich verboten sind, Schriften gelesen waren, sollte Timothe-
sondern auch solche, die seine Zuhörer us die Gläubigen aufgrund des Vorgele-
nicht erbauen. senen ermahnen und dann die großen
»Im Wandel« bezieht sich auf das ge- Wahrheiten des Wortes Gottes lehren.
samte Verhalten eines Menschen. Nichts Dieser Vers erinnert uns an Nehemia 8,8:
in seiner Haltung sollte eine Schande für »Und sie lasen aus dem Buch, aus dem
den Namen Christi sein. Gesetz Gottes, abschnittsweise vor, und
»In Liebe« bedeutet, daß Liebe das gaben den Sinn an, so daß man das Vor-
Motiv für das Verhalten sein sollte, und gelesene verstehen konnte.«

1115
1. Timotheus 4

Doch wir sollten nicht den Gedanken diesem Menschen keine Gabe, sondern
an die eigene Stille Zeit aus diesem Vers erkennt nur die Gabe an, die er schon
heraushalten. Ehe Timotheus andere vom Heiligen Geist empfangen hat.
ermahnen und sie das Wort Gottes lehren Es gibt einen Unterschied zwischen
konnte, mußte er es erst in seinem eige- dem, was geschah, als die Ältesten Timo-
nen Leben studieren und verwirklichen. theus ihre Hände auflegten, wie es hier
4,14 Wir wissen nicht genau, welche erwähnt ist, und den Geschehnissen, als
»Gnadengabe« Timotheus gegeben war – Paulus dem Timotheus die Hände auf-
ob die des Evangelisten, des Hirten oder legte, wie es in 2. Timotheus 1,6 beschrie-
des Lehrers. Die allgemeinen Aussagen ben wird. Im ersteren Falle war die
dieser Briefe führen uns zu der Schluß- Handlung keinesfalls mit einem Amt
folgerung, daß er ein Hirtenlehrer war. verbunden, und außerdem war diese
Doch wir wissen, daß »die Gnadengabe« Handlung nicht die Ursache für eine
ihm »durch Weissagung mit Handaufle- Gabe des Timotheus. Die Handaufle-
gung der Ältestenschaft gegeben worden gung bedeutete nur Gemeinschaft mit
ist«. Zunächst einmal wurde sie »durch ihm am Werk des Herrn. Im zweiten Fal-
Weissagung« oder zusammen mit ihr ge- le war Paulus wirklich der apostolische
geben. Das bedeutet einfach, daß ein Pro- Kanal, durch den eine Gabe vermittelt
phet in einer Gemeinde aufstand und wurde.
erklärte, daß der Geist Gottes Timotheus 4,15 Die Worte »bedenke dies sorgfäl-
eine bestimmte »Gnadengabe« gegeben tig« können auch übersetzt werden »kul-
habe. Der Prophet hat die Gabe nicht ge- tiviere dies« oder »gib dir damit beson-
geben, sondern sie angekündigt. Dies dere Mühe«. Das kann hier sehr wohl die
wurde durch »Handauflegung der Älte- Bedeutung sein, weil die nächsten Worte
stenschaft« begleitet. Und wieder wollen »lebe darin« lauten. Paulus ermutigt
wir betonen, daß die Presbyter oder Älte- Timotheus hier, sich ungeteilt und ohne
sten nicht die Macht hatten, diese Gabe Ablenkung dem Werk des Herrn zu wid-
an Timotheus weiterzugeben. Durch ihre men. Er sollte bei seinen Bemühungen
Handauflegung haben sie vielmehr ihre wirklich alles geben. Auf diese Weise
öffentliche Anerkennung dessen kund- sollten seine »Fortschritte allen offenbar«
gegeben, was der Heilige Geist schon werden. Paulus will nicht, daß Timothe-
getan hatte. us eine bestimmte Ebene in seinem
Diesen Vorgang kann man auch in christlichen Dienst erreicht und sich dort
Apostelgeschichte 13 beobachten. In Vers dann zur Ruhe setzt. Er möchte statt des-
zwei sonderte der Heilige Geist Barnabas sen, daß er immer weiter im geistlichen
und Saulus zu einer bestimmten Auf- Leben fortschreitet.
gabe aus. Vielleicht wurde auch dieses 4,16 Man beachte hier die Reihenfol-
Wort von einem Propheten weiter- ge. Timotheus soll zuerst auf sich
gegeben. Dann fasteten und beteten die »selbst« und dann »auf die Lehre« acht-
Brüder der Ortsgemeinde und legten haben. Das betont die Bedeutung des
Barnabas und Paulus ihre Hände auf und persönlichen Lebens des Dieners Christi.
sandten sie aus (V. 3). Wenn sein Leben falsch ist, dann kann er
Dieselbe Vorgehensweisen wird in seiner Lehre noch so rechtgläubig sein,
heute in vielen christlichen Ortsgemein- so nützt es überhaupt nichts. A. W. Pink
den befolgt. Wenn die Ältesten erkennen, hat sehr schön gesagt: »Der Dienst wird
daß jemand eine bestimmte Gabe vom zu einer Falle und zum Bösen, wenn wir
Heiligen Geist bekommen hat, dann ihm erlauben, unsere Anbetung und die
befehlen sie diesen Mann dem Herrn Pflege des eigenen geistlichen Lebens zu
und seinem Werk an. Sie erzeigen ihm verdrängen.«
damit ihr Vertrauen und erkennen das Indem Timotheus in all dem bleibt,
Werk des Heiligen Geistes in seinem worüber Paulus geschrieben hat, näm-
Leben an. Ihre Handauflegung gibt lich im Lesen, der Ermahnung und der

1116
1. Timotheus 4 und 5

Lehre, würde er sich »selbst« und »auch B. Witwen (5,3-16)


die die« ihn »hören«, erretten. Das Wort 5,3 In den Versen 3-16 nimmt Paulus das
»erretten« hat in diesem Falle nichts mit Thema »Witwen« in der Ortsgemeinde
der Errettung der Seele zu tun. Das Ka- auf und die Behandlung, die sie erfahren
pitel begann mit einer Beschreibung von sollen.
Irrlehrern, die Unheil unter dem Volk Zunächst sollte die Gemeinde alle
Gottes anrichteten. Paulus will Timo- »ehren, … die wirklich Witwen sind«.
theus sagen, daß er durch treue Hingabe »Ehren« bedeutet hier nicht nur Respekt
an ein gottesfürchtiges Leben und an das haben, sondern beinhaltet auch den
Wort Gottes sich selbst und seine Zu- Gedanken an finanzielle Hilfe. Eine
hörer vor diesen Irrlehren »erretten« wirkliche Witwe ist eine, die keine ande-
kann. ren Mittel zum Unterhalt hat, sondern
gänzlich auf den Herrn geworfen ist, was
V. Besondere Anweisungen ihren Unterhalt angeht. Sie hat keine
über verschiedene Gruppen lebenden Verwandten, die für sie sorgen.
von Gläubigen (5,1 – 6,2) 5,4.5 Eine zweite Gruppe von »Wit-
wen« wird in diesem Vers beschrieben.
A. Verschiedene Altersgruppen (5,1.2)
Das sind diejenigen, die »Kinder oder
5,1 Dieser Vers führt einen Abschnitt Enkel« haben. In solchen Fällen sollen
über das Verhalten des Timotheus gegen- die »Kinder« lernen, praktische Gottes-
über Mitgliedern der christlichen Familie furcht im eigenen Heim zu üben, indem
ein, in der er arbeiten sollte. Da er jünger sie ihrer Mutter (oder Großmutter) all
und vielleicht aggressiver war, könnte das zurückzahlen, was sie für sie getan
Timotheus versucht sein, ungeduldig hat. Der Vers lehrt eindeutig, daß Gottes-
und verachtend mit einem »älteren furcht im »eigenen Haus« beginnt. Es ist
Mann« zu reden. Von daher haben wir ein schlechtes Zeugnis für den christli-
die Ermahnung, daß er »einen älteren chen Glauben, wenn man lauthals über
Mann nicht hart« anfahren solle. Statt seinen Glauben spricht und dabei die
dessen solle er ihn »als einen Vater … vernachlässigt, mit denen uns Blutsban-
ermahnen«. Es wäre für ihn als jüngeren de verbinden.
15)
Mann ungehörig gewesen, einen solchen Es ist »angenehm« in den Augen
Mann verbal anzugreifen. Gottes, wenn Christen für ihre Verwand-
Es könnte auch die Gefahr bestehen, ten sorgen, die sonst keine Versorgung
daß dieser junge Diener Christi eine zu haben. In Epheser 6,2 lehrt der Apostel
strenge Haltung gegenüber »jüngeren« Paulus eindeutig: »Ehre deinen Vater und
Männern einnehmen könnte. Deshalb deine Mutter – das ist das erste Gebot mit
befiehlt Paulus ihm, daß er die jüngeren Verheißung.« Wie schon vorher erwähnt,
Männer »als Brüder« behandeln solle. Er ist eine echte »Witwe« eine, die keine
soll einfach einer der ihren sein, und finanzielle Hilfe hat und für ihr tägliches
ihnen gegenüber keine dominante Hal- Brot ganz »auf Gott« angewiesen ist.
tung einnehmen. 5,6.7 Im Gegensatz zur gottesfürchti-
5,2 »Ältere Frauen« sollen als »Müt- gen Witwe von Vers 5 steht diejenige, die
ter« betrachtet werden, und mit der Ehr- sich der »Üppigkeit« hingibt. Es gibt
furcht, Liebe und dem Respekt behandelt Uneinigkeit darüber, ob eine solche Frau
werden, die ihnen gebührt. »Keuschheit« eine echte Gläubige ist oder nur Namens-
sollte seinen gesamten Umgang mit »jün- christin. Wir glauben, daß sie eine echte
geren Frauen« kennzeichnen. Er sollte Christin ist, die jedoch im Glauben zu-
nicht nur alles meiden, was ausgespro- rückgegangen ist. Sie ist »tot«, soweit
chen sündig ist, sondern er sollte sich ihre Gemeinschaft mit Gott oder ihre
auch von indiskretem Handeln und Nützlichkeit für ihn betroffen sind. Ti-
jedem Verhalten, das falsch ausgelegt motheus soll solche Witwen davor war-
werden könnte, enthalten. nen, »in Üppigkeit« zu leben, und er soll

1117
1. Timotheus 5

auch die Christen lehren, für die zu sor- keine Tugend, sondern nur, sie gut auf-
gen, die zu ihnen gehören und verlassen zuziehen.
sind. Ein anderes Kennzeichen einer got-
5,8 Die Ernsthaftigkeit der Sünde, tesfürchtigen Witwe ist, daß sie »Frem-
wenn jemand »für die Seinen« (d. h. den« gegenüber gastfreundlich ist. Im-
seine Verwandten) »und besonders für« mer wieder wird die Tugend der Gast-
diejenigen, die seinem Haushalt an- freundschaft im NT erwähnt und emp-
gehören, nicht sorgt, wird hier betont. fohlen.
Ein solches Handeln stellt eine Verleug- Das Waschen der Füße der Besucher
nung des Glaubens dar. Der christliche war die Aufgabe eines Sklaven. Hier ist
Glaube gebietet durchgehend, daß die- wohl der Gedanke folgender, daß näm-
jenigen, die wirklich gläubig sind, für lich die Witwe für ihre Mitchristen sehr
einander sorgen sollten. Wenn ein Christ niedrige Dienste geleistet hat. Doch es
das nicht tut, dann leugnet er durch sein kann auch bedeuten, daß sie auf geist-
Handeln genau die Wahrheiten, die das liche Weise »der Heiligen Füße ge-
Christentum lehrt. So jemand ist waschen« hat, nämlich indem sie sie mit
»schlechter als ein Ungläubiger« und dem Wasser des Wortes wusch. Das be-
zwar aus dem einfachen Grunde, daß die deutet keinen öffentlichen Dienst, son-
meisten Ungläubigen für ihre Verwand- dern den Besuch in Familien und die
ten liebevoll sorgen. Auch kann ein Anwendung des Wortes Gottes auf sol-
Christ auf diese Weise Schande über den che Weise, daß Gläubige von den Verun-
Namen des Herrn bringen, wie es ein reinigungen gereinigt wurden, die sie
Ungläubiger nie könnte. sich in ihrem Alltag zugezogen haben.
5,9 Es geht aus diesem Vers hervor, Hilfe für »Bedrängte« bezieht sich auf
daß eine Liste von Namen in jeder Orts- barmherzige Taten für die Kranken,
gemeinde geführt wurde, die namentlich Trauernden oder auf andere Art Leiden-
diejenigen Witwen erwähnte, für die die den.
Gemeinde aufkam. Paulus bestimmt Kurz gesagt, um in der Liste der Orts-
hier, daß keine »Witwe« in dieses »Ver- gemeinde eingetragen zu sein, mußte
zeichnis eingetragen« werden soll, die diese Witwe »jedem guten Werk nachge-
nicht »wenigstens sechzig Jahre alt ist«. gangen« sein.
Der Ausdruck »eines Mannes Frau« 5,11 Dies ist ein schwieriger Vers,
bringt die gleichen Probleme mit sich wie doch wir sind der Auffassung, daß die
der entsprechende Ausdruck im Zusam- Bedeutung folgende ist: Im allgemeinen
menhang mit den Bischöfen und Diako- wäre es ein Fehler, »junge Witwen« zu
nen. Die Erklärungen lauten in diesem Almosenempfängerinnen der Gemeinde
Zusammenhang ähnlich. Es bedeutet zu- zu machen. Da sie jung sind, »wollen« sie
mindest, daß das Leben einer solchen sicher wieder »heiraten«. Das wäre an
Witwe über jeden Zweifel erhaben sein sich nichts böses, doch dieses Verlangen
muß, ohne daß man irgendwelches Un- könnte zeitweilig so stark werden, daß
recht vermuten kann. diese jungen Witwen sogar einen Un-
5,10 Um in das Verzeichnis aufge- gläubigen heiraten könnten. Der Apostel
nommen zu werden, muß eine Witwe nennt das »Christus zuwider üppig
auch dafür bekannt sein, daß sie solche geworden«. Wenn sie die Wahl haben,
»guten Werke« getan hat, wie es einem einen Heiden zu heiraten oder aus Liebe
geistlich gesinnten Gläubigen ansteht. zu Christus und aus Gehorsam gegen
Die Worte »wenn sie Kinder auferzo- seinen Willen ledig zu bleiben, wird eine
gen« hat, bedeuten zweifellos, daß sie sie junge Witwe wahrscheinlich »heiraten«.
in solcher Weise aufgezogen haben muß, Das würde natürlich Schande über die
daß sie von ihrer Glaubhaftigkeit und Gemeinde bringen, die sie unterstützt.
ihrer christlichen Familie Zeugnis able- 5,12 »Urteil« heißt hier nicht ewige
gen. Kinder aufzuziehen ist an sich noch Verdammnis, sondern daß sie dieses

1118
1. Timotheus 5

»Urteil« haben, weil sie »das erste Gelöb- dem Sinne, daß sie der Stimme »Satans«
nis verworfen« hat. Früher einmal hat sie gehorcht hatten und im Ungehorsam
große Treue und Hingabe zu Jesus Chri- gegen das Wort des Herrn einen ungläu-
stus bekannt, doch wenn nun die Gele- bigen Partner gewählt hatten.
genheit kommt, jemanden zu heiraten, 5,16 Paulus wendet sich nun dem
der Christus nicht liebt, vergißt sie ihre Thema der Verantwortung der Verwand-
anfänglichen Gelübde und Versprechen ten zu, für die Ihren zu sorgen. »So aber
16)
an Christus, verläßt Christus mit diesem ein Gläubiger oder« eine »Gläubige«
Ungläubigen und wird damit dem eine Witwe in der Familie hat, die Unter-
himmlischen Bräutigam untreu. stützung braucht, dann sollte der Betref-
Paulus kritisiert keine junge Witwe, fende diese Verantwortung übernehmen,
nur weil sie heiratet. Er möchte sogar, so daß »die Gemeinde« frei ist, sich um
daß sie heiratet (V. 14). Er kritisiert hier die zu kümmern, die wirklich verlassen
ihren geistlichen Rückfall, daß sie göttli- sind und keine nähere Verwandtschaft
che Prinzipien über den Haufen wirft, haben.
um einen Mann zu bekommen. Dieser gesamte Abschnitt, die Verse
5,13 Wenn die Ortsgemeinde volle 3-16, sagen aus, was die Gemeinde unter
finanzielle Verantwortung für die jungen bestimmten Umständen tun muß, und
Witwen übernähme, so könnte das diese nicht, was sie tun kann, wenn sie der An-
ermutigen, »müßig« zu sein, mit allen sicht ist, daß es mildernde Umstände gibt
damit verbundenen Übeln. Statt selbst- und sich in der Lage sieht, so zu handeln.
verantwortlich zu handeln, könnten sie Die Länge dieses Abschnittes zeigt, daß
»geschwätzig und vorwitzig« werden, es ein wichtiges Thema für den Heiligen
und sich mit Angelegenheiten beschäfti- Geist ist, und doch ist es eines, das in den
gen, die sie nichts angehen. Keine Maß- meisten Gemeinden heute vernach-
nahme der Gemeinde sollte solches Ver- lässigt wird.
halten ermutigen, denn, wie schon vor-
her erwähnt, ist es ungünstig für das C. Älteste (5,17-25)
Zeugnis der Gemeinde. 5,17 Der Rest des Kapitels befaßt sich mit
5,14 Paulus sagt deshalb, daß es in den Ältesten. Zunächst einmal legt Pau-
der Regel wünschenswert ist, wenn »jün- lus die Regel fest, daß »Ältesten, die gut
gere Witwen heiraten, Kinder gebären« vorstehen, … doppelte Ehre« gebührt.
und einen christlichen Haushalt führen, »Vorstehen« kann auch mit »leiten«
der über jede Kritik erhaben ist. Natür- übersetzt werden (Darby). Es ist nicht
lich wußte auch Paulus, daß es nicht eine Frage der Herrschaft, sondern des
immer für jede junge Witwe möglich sein Beispiels. Solche Ältesten sind »doppel-
würde, wieder zu heiraten. Die Initiative ter Ehre würdig«. »Ehre« kann hier hei-
muß normalerweise vom Mann ausge- ßen »Respekt«, aber dahinter steht auch
hen. Doch er legt hier nur ein allgemei- der Gedanke an finanzielle Entschädi-
nes Prinzip dar, dem man folgen sollte, gung (Matth 15,6). »Doppelte Ehre« um-
wann immer es möglich ist. faßt beide Vorstellungen. Zunächst ist
Der »Widersacher«, oder Satan, hält ein solcher Ältester des Respektes des
immer Ausschau nach Anklagepunkten Volkes Gottes um seiner Arbeit willen
gegen das Zeugnis der Christen, und würdig, doch wenn seine Zeit diesem
Paulus will sich gegen die Möglichkeit Werk ganz gewidmet ist, dann ist er auch
verwahren, daß es wirklichen Grund der finanziellen Unterstützung »wür-
»zur Schmähung« gibt. dig«. »Die in Wort und Lehre arbeiten«
5,15 Was der Apostel hier über die sind wahrscheinlich diejenigen, die so
jungen Witwen gesagt hat, ist keine bloße viel Zeit zum Predigen und Lehren
Annahme oder Spekulation. Es war aufwenden, daß sie nicht in der Lage
schon geschehen. »Schon« hatten »sich sind, einem normalen Broterwerb
einige abgewandt, dem Satan nach« in nachzugehen.

1119
1. Timotheus 5

5,18 Zwei Schriftstellen werden hier sondern auf alle Christen bezieht. Sicher-
angeführt, um die Aussage zu untermau- lich ist dieser Vers auf alle Christen anzu-
ern, daß die Ältesten der Vergütung wür- wenden, doch der Zusammenhang die-
dig sind. Das erste stammt aus 5. Mose ses Verses verbindet ihn unseres Erach-
25,4 und das zweite aus Lukas 10,7. Die- tens nach direkt mit den Ältesten.
ser Vers ist besonders interessant im Zu- 5,21 Im Zusammenhang mit der Ge-
sammenhang der Inspiration der Schrift. meindezucht sollten zwei Dinge vermie-
Paulus nimmt einen Vers aus dem AT den werden. Das erste ist das »Vorurteil«
und einen anderen aus dem NT, stellt sie und das zweite ist die Parteilichkeit. Es ist
nebeneinander auf dieselbe Stufe und leicht, gegen einen Menschen ein Vorur-
nennt sie beide »die Schrift«. Daraus teil zu haben und so den Fall schon im
folgt offensichtlich, daß Paulus die voraus zu beeinflussen. Auch ist es nur
Schriften des NT für gleichwertig mit zu leicht möglich, einem Mann zuviel
denen des AT gehalten hat. »Gunst« zu erweisen, weil er reich ist, an-
Diese Schriftstellen lehren, daß einem gesehen oder beliebt. Deshalb ermahnt
»Ochsen«, der zur Ernte herangezogen Paulus Timotheus »ernstlich vor Gott
wird, nicht sein ihm gebührender Anteil und Christus Jesus und« auch vor »den
an der Ernte vorenthalten werden soll. auserwählten Engeln«, daß er diesen An-
Auch ein »Arbeiter« soll seinen Teil der weisungen folgen soll, ohne eine Angele-
Frucht seiner Arbeit erhalten. Genauso genheit schon zu beurteilen, ehe alle Tat-
ist es mit den Ältesten. Auch wenn ihre sachen bekannt sind, und ohne jemanden
Arbeit nicht körperlicher Natur sein zu bevorzugen, nur weil er ein Freund
mag, so sind sie doch des Unterhalts oder bei den anderen beliebt ist. Jeder Fall
durch das Volk Gottes wert. muß so behandelt werden, als werde er
5,19 Weil Älteste eine Verantwor- »vor Gott und Christus Jesus« verhan-
tungsposition in der Gemeinde inne- delt, und auch vor »den auserwählten
haben, werden sie zu einem beliebten Engeln«. Die Engel beobachten unsere
Ziel der Angriffe Satans. Aus diesem Welt, in der wir leben, und sie sollten völ-
Grund unternimmt der Geist Gottes hier lige Gerechtigkeit im Zusammenhang
Schritte, um sie vor falschen Anklagen mit Gemeindezucht erleben können. »Die
zu schützen. Das Prinzip wird dargelegt, auserwählten Engel« sind diejenigen, die
daß keine Strafaktion »gegen einen Älte- sich nicht an Sünde oder Rebellion gegen
sten« veranlaßt wird, es sei denn, daß die Gott beteiligt haben, sondern in ihrem
Anklage durch das Zeugnis von »zwei ursprünglichen Zustand geblieben sind.
oder drei Zeugen« untermauert werden 5,22 Wenn Prominente sich mit einer
kann. Eigentlich gilt dasselbe Prinzip für Ortsgemeinde verbinden, dann gibt es
die Bestrafung jedes Gemeindegliedes, manchmal die Tendenz, ihnen schon
doch wird es hier noch einmal betont, bald verantwortliche Stellungen zu
weil Älteste besonders in der Gefahr geben. Hier wird Timotheus davor ge-
stehen, ungerecht angeklagt zu werden. warnt, neue Mitglieder zu schnell anzu-
5,20 Im Falle eines Ältesten, der sich erkennen. Er sollte sich auch nicht mit
einer Sünde schuldig gemacht hat, die Männern identifizieren, deren Charakter
das Zeugnis der Gemeinde verunglimp- ihm nicht bekannt ist, damit er nicht
fen kann, sollte ein solcher Mann öffent- dabei »Teil an fremden Sünden« hat. Er
lich ermahnt werden. Diese Handlung soll sich nicht nur moralisch »rein« be-
zeigt allen Gläubigen, wie schwer eine wahren, sondern auch in dem Sinne rein
Sünde im Zusammenhang mit dem bleiben, daß er mit den Sünden anderer
christlichen Dienst wirkt und dient als nichts zu schaffen hat.
ein wirksames Mittel, andere von eben- 5,23 Es ist nicht klar, wie dieser Vers
solchen Sünden abzuhalten. mit dem vorhergehenden zusammen-
Einige Kommentatoren glauben, daß hängt. Vielleicht hat der Apostel weise
Vers 20 sich nicht besonders auf Älteste, vorausgesehen, daß das Engagement des

1120
1. Timotheus 5 und 6

Timotheus bei den Gemeindeproblemen digt, und zwar den ganzen Weg bis zu
und -Schwierigkeiten schlechte Auswir- seinem »Gericht«. Doch das ist nicht
kungen auf seinen Magen haben würde. immer der Fall. Einige Sünden werden
Wenn das der Fall wäre, dann wäre nicht entdeckt, diesen Menschen »folgen
Timotheus sicherlich nicht der der erste sie auch nach«.
oder letzte, der diese Probleme hat. Im ersten Falle könnten wir an einen
Wahrscheinlicher ist jedoch, daß Timo- Trinker denken, der für sein Verhalten in
theus öfter das Opfer von verunreinig- der gesamten Gemeinschaft bekannt ist.
tem Wasser war, wie es in vielen Teilen Andererseits gibt es da z. B. den Ehe-
der Welt üblich ist. Der Rat des Apostels mann, der eine geheime Liebesaffäre mit
»trinke nicht länger nur Wasser« bedeu- einer anderen Frau hat. Die Gemeinde
tet, daß Timotheus nicht ausschließlich mag davon zur Zeit nichts wissen, doch
Wasser trinken sollte. Paulus rät dazu, oft wird der gesamte Skandal später
»ein wenig Wein« um seines »Magens offenbart.
und« seines »häufigen Unwohlseins wil- 5,25 Ähnlich ist es bei guten Men-
len« zu gebrauchen. Dieser Vers betrifft schen. Einige sind ganz offensichtlich
nur den medizinischen Gebrauch von gut. Andere dagegen sind zurückhalten-
Wein und sollte niemals dazu benutzt der und bescheidener, und nur mit der
werden, den übermäßigen Weingenuß Zeit wird ihre wirkliche Güte bekannt.
zu sanktionieren. Auch wenn wir das Gute noch nicht
Es gibt keine Zweifel, daß es hier um sehen können, wird es doch eines Tages
wirklichen Wein geht und nicht etwa um ans Licht kommen. Die Lehre, die wir
Traubensaft. Es ist zweifelhaft, ob es aus all dem ziehen sollten, lautet, daß wir
Traubensaft zu dieser Zeit überhaupt einen Menschen nicht vom ersten Ein-
gab, weil er nur durch Pasteurisierung druck her beurteilen sollen, sondern eini-
haltbar gemacht werden kann, ein Pro- ge Zeit vergehen lassen sollen, so daß
zeß, den es damals noch nicht gab. Die sich sein wahrer Charakter zeigen kann.
Tatsache bleibt bestehen, daß mit dem
Ausdruck »ein wenig Wein« echter Wein D. Sklaven und Herren (6,1.2)
gemeint ist. Wenn es nicht um echten 6,1 Das Verhalten von Sklaven ist jetzt
Wein gegangen wäre, dann hätte es kei- das Thema. Sie werden »Sklaven« ge-
nen Sinn, daß nur »ein wenig« davon nannt, die »unter dem Joch sind«, d. h.
benutzt werden sollte. unter dem »Joch« der Sklaverei. Der
Dieser Vers wirft auch Licht auf das Apostel spricht zunächst zu Sklaven, die
Thema »göttliche Heilung«. Obwohl ungläubige Herren haben. Sollten Skla-
Paulus als Apostel sicherlich die Voll- ven in solch einem Fall unverschämt zu
macht hatte, alle möglichen Krankheiten ihren Herrn sein? Sollen sie rebellieren
zu heilen, hat er diese Gabe nicht immer und weglaufen? Ganz im Gegenteil, sie
benutzt. Hier rechtfertigt er die Benut- sollten »ihre eigenen Herren aller Ehre
zung einer Medizin, um ein Magenleiden würdig achten«. Das bedeutet, daß sie
zu heilen. ihnen den nötigen Respekt erzeigen sol-
5,24 In diesem Vers scheint der Apo- len, gehorsam und treu arbeiten und im
stel zu der Diskussion in Vers 22 zurück- allgemeinen versuchen sollen, eher eine
zukehren, wo er Timotheus davor ge- Hilfe als ein Hindernis zu sein. Das große
warnt hatte, anderen Männern zu schnell Motiv für einen solchen eifrigen Dienst
die Hände aufzulegen. Die Verse 24 und ist, daß es um das Zeugnis für Christus
25 erläutern das näher. geht. Wenn ein christlicher Sklave auf-
»Von manchen Menschen sind die rührerisch wäre, dann würde sein Herr
Sünden vorher offenbar« und so offen- den Namen Gottes und den christlichen
sichtlich, daß sie mit einem Trompeter Glauben »verlästern«. Er würde schlie-
vergleichbar sind, der vor dem Mann ßen, daß die Gläubigen eine wertlose
hertrompetet und ihn als Sünder verkün- Bande seien.

1121
1. Timotheus 6

Die Geschichte der frühen christli- sondern auch »welche die Wohltat emp-
chen Kirche offenbart, daß christliche fangen« (Elb). Darunter versteht man all-
Sklaven normalerweise einen höheren gemein, daß sie auch an den Segnungen
Preis auf dem Sklavenmarkt erzielten als der Erlösung teilhaben. Doch könnte
ungläubige. Wenn ein Meister wußte, man diese Worte auch so verstehen, daß
daß ein bestimmter Sklave bei der Aukti- sie bedeuten, daß sowohl Sklaven als
on Christ war, dann war er im allgemei- auch Herren daran interessiert sind,
nen bereit, mehr für diesen Sklaven zu Gutes zu tun, und sie auch zusammen
bezahlen, weil er wußte, daß dieser Skla- dienen sollten, wobei jeder versucht,
ve ihm treu und gut dienen würde. Das dem anderen zu helfen. Die Worte »dies
ist eine großartige Anerkennung des lehre und ermahne« beziehen sich
christlichen Glaubens. zweifellos auf die vorangegangenen An-
Dieser Vers erinnert uns daran, daß weisungen an christliche Sklaven. Die
man, wie niedrig man auch immer auf heutige Anwendung bezieht sich natür-
der sozialen Leiter stehen mag, trotzdem lich auf die Beziehung zwischen Arbeit-
jede Menge Möglichkeiten hat, ein Zeug- geber und Arbeitnehmer.
nis für Christus zu sein und seinem
Namen Ehre zu machen. VI. Irrlehrer und Geldgier (6,3-10)
Es ist oft darauf hingewiesen worden, 6,3 Paulus wendet seine Aufmerksam-
daß die Sklaverei an sich im NT nicht keit nun denen zu, die vielleicht neue
verurteilt wird. Doch wo sich die Lehre und fremde Lehren in die Gemeinde
des Christentums verbreitet hat, wurde bringen könnten. Diese Männer wenden
dem Mißbrauch der Sklaverei ein Ende sich nicht »den gesunden Worten« zu.
gesetzt. »Gesund« bedeutet heilsam. Solcherart
Jeder echte Gläubige sollte erkennen, waren die Worte, die »unser Herr Jesus
daß er ein Sklave Jesu Christi ist. Er ist Christus« gesprochen hat, als er hier auf
für einen hohen Preis erkauft worden, Erden war und wie wir sie in den Evan-
und gehört nicht länger sich selbst. Er gelien finden. Solcherart ist auch die
gehört Jesus Christus und zwar mit gesamte Lehre des NT. Das ist »Lehre,
Geist, Seele und Leib, und Jesus Christus die gemäß der Gottseligkeit ist« in dem
gebührt das Beste, was man zu bieten Sinne, daß sie gottesfürchtiges Verhalten
hat. ermutigt und fördert.
6,2 Dieser Vers handelt von Sklaven, 6,4 Solche Männer sind »aufgebla-
»die gläubige Herren haben«. Zweifellos sen«. Sie geben vor, besonderes Wissen
wäre die Versuchung groß, daß solche zu haben, doch in Wirklichkeit wissen sie
Sklaven ihre Herren »geringachten«. Es »nichts«. Wie Paulus schon vorher er-
ist nicht allzu unwahrscheinlich, daß bei wähnt hat, wissen sie nicht, wovon sie
der Zusammenkunft der Gemeinde am reden.
Tag des Herrn zum Brotbrechen Sklaven Sie sehnen sich nach »Streitfragen
und Herren am gleichen Tisch sitzen und Wortgezänken«. Das Wort »krank«
würden – allesamt »Brüder« in Christus. ist hier wörtlich gemeint. Sie waren geist-
Doch die Sklaven sollten nicht denken, lich nicht gesund, und anstatt heilsame
daß die sozialen Unterschiede deshalb Worte zu predigen, wie es im vorherigen
nicht mehr gelten würden. Nur weil sein Vers erwähnt ist, lehren sie Worte, die
Herr ein Christ war, hieß das noch lange kranke Heilige hervorbringen. Sie brin-
nicht, daß er ihm nicht Respekt und gen verschiedene Fragen auf, die geist-
Dienst schuldig war. Die Tatsache, daß lich nicht erbauen und streiten sich über
sein Herr sowohl ein Gläubiger als auch Worte.
ein »Geliebter« war, sollte den Sklaven Weil das, wovon sie reden, keine
dazu bringen, ihm noch treuer zu dienen. biblischen Lehren sind, gibt es keine
Christliche Herren werden hier nicht Möglichkeit, diese Dinge abschließend
nur »Gläubige« und »Geliebte« genannt, zu beurteilen. Als Folge dieser Lehren

1122
1. Timotheus 6

entstehen deshalb »Neid, Hader, Läste- ist – den Verkauf von Luxusgütern, Lot-
rungen« und »böse Verdächtigungen«. teriespiele, Basare und Verkäufe etc. »Tue
19)
Lenski sagt: dich von solchen.« (LU1912) Uns wird
In ihren Fragen und Wortgefechten befohlen, sich von solchen gottlosen
beneidet einer den anderen um die Fähigkei- Namenschristen fernzuhalten.
ten, die der andere entwickelt; man versucht, 6,6 Genauso, wie der vorherige Vers
einander in widersprüchlichen Ansichten zu eine falsche Definition von Gewinn gab,
übertreffen. Daraus entstehen dann Läste- so gibt dieser Vers die echte Bedeutung
rungen, nämlich Anklagen, die in heilige dieses Wortes an. Die Kombination von
17)
Worte gefaßt werden. »Gottseligkeit mit Genügsamkeit aber ist
6,5 Diese »Zänkereien« entstehen ein großer Gewinn«. Gottseligkeit ohne
durch »Menschen, die in ihrer Gesin- Zufriedenheit ergäbe ein einseitiges
nung verdorben«, d. h. krank sind. Lens- Zeugnis. Zufriedenheit ohne Gottselig-
ki kommentiert beißend: keit hätte mit Christentum nichts mehr
Der kranke Geisteszustand besteht in zu tun. Doch echte Gottseligkeit zu
Verdorbenheit und Zerfall – die geistigen haben und gleichzeitig mit den persönli-
Fähigkeiten funktionieren im geistlichen und chen Umständen zufrieden zu sein, ist
moralischen Bereich nicht mehr richtig. Diese mehr, als Geld uns beschaffen kann.
Menschen reagieren auf die Wahrheit nicht 6,7 Dieses Kapitel ähnelt sehr den
mehr normal. Alle Realität und ihr Ausdruck Lehren des Herrn Jesus in der Bergpre-
in abstrakten Wahrheiten sollten dazu führen, digt. Vers 7 erinnert uns an seine Anwei-
daß Menschen sie annehmen, insbesondere sung, daß wir unserem himmlischen
die errettenden göttlichen Evangeliumswahr- Vater bezüglich der Erfüllung unserer
heiten sollten diesen Effekt haben. Alle Lügen, Bedürfnisse vertrauen sollten.
Falschheiten und Verdrehungen sollten dage- Es gibt drei Gelegenheiten im Leben,
gen Ablehnung hervorrufen, insbesondere auf bei denen wir mit leeren Händen daste-
moralischem und geistlichem Gebiet … Wenn hen – bei der Geburt, wenn wir zu Jesus
der verirrte Geist auf »die Wahrheit« trifft, kommen und im Tod. Dieser Vers erin-
dann sieht und sucht er nur Einwände, wenn nert uns an das erstgenannte und an das
er auf Abweichungen von der Wahrheit trifft, letztgenannte. »Denn wir haben nichts in
sann sieht und sucht er Gründe, diese Abwei- die Welt hereingebracht, so daß wir auch
18)
chungen anzunehmen. nichts hinausbringen können.«
Auch sind diese Männer »der Wahr- Ehe Alexander der Große starb, sagte
heit beraubt«. Sie haben einmal die er: »Wenn ich tot bin, so tragt mich auf
Wahrheit gekannt, doch weil sie das meiner Bahre hinaus, wickelt aber die
Licht abgelehnt haben, sind sie auch Hände nicht ein, sondern laßt sie drau-
noch der »Wahrheit beraubt« worden, ßen, so daß alle Menschen sehen können
die sie einst kannten. daß sie leer sind.« Bates kommentiert
Diese Männer »meinen, die Gottselig- dies:
keit sei ein Mittel zum Gewinn«. Offen- Ja, diese Hände, die einst das stolzeste
sichtlich erwählen sie den Beruf des Zepter der Welt hielten, die einst das sieg-
geistlichen Lehrers, weil sie in ihm für reichste Schwert führten, die einst mit Silber
ein Minimum an Arbeit gut bezahlt wer- und Gold gefüllt waren, die einst die Macht
den. »Sie degradieren die heiligste aller hatten, Leben zu schenken oder zu nehmen,
20)
Berufungen zu einem gewinnbringen- waren nun LEER.
den Handwerk.« 6,8 Genügsamkeit bedeutet, damit
Das erinnert uns nicht nur an die zufrieden zu sein, das zum Leben unbe-
Mietlinge, die vorgeben, christliche Hir- dingt Notwendige zu haben. Unser
ten zu sein, aber auch keine wirkliche himmlischer Vater weiß, daß wir »Nah-
Liebe zur Wahrheit haben, sondern es rung« und Bedeckung brauchen und hat
erinnert uns auch an das Geschäftsden- versprochen, für diese zu sorgen. Der
ken, das in der Christenheit so verbreitet größte Teil des Lebens eines Ungläubi-

1123
1. Timotheus 6

gen dreht sich um »Nahrung und Klei- so sehr mit dem Materiellen beschäftigt,
dung«. Der Christ sollte zuerst nach dem daß sie »in Verderben und Untergang«
Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit ertrinken. In ihrer unaufhörlichen Sucht
suchen, und Gott wird darauf sehen, daß nach Gold vernachlässigen sie ihre un-
ihm das Lebensnotwendige nicht fehlt. sterbliche Seele. Barnes warnt:
Das Wort, das hier mit »Kleidung« Die Zerstörung ist vollständig. Oft wird
übersetzt wird, bedeutet »Bedeckung« das Lebensglück, die Tugend, der Ruf und die
und kann sowohl eine Wohnung be- Seele dazu ruiniert. Das Verlangen nach
zeichnen als auch die Kleider, die wir tra- Reichtum führt auf einen Weg der Torheit,
gen. Wir sollten zufrieden sein, wenn wir die alles hier auf Erden und in der kommen-
»Nahrung, Kleidung« und eine Woh- den Welt zerstört. Wie viele menschliche
nung haben. Familien sind schon auf diese Weise zerstört
21)
6,9 Die Vers 9-16 sprechen direkt von worden!
Menschen, die das unstillbare Verlangen 6,10 »Denn eine Wurzel alles Bösen
haben, »reich« zu »werden«. Ihre Sünde ist die Geldliebe.« Nicht alles Böse im
liegt nicht darin begründet, daß sie reich Universum entspringt der »Geldliebe«.
sind, sondern in dem Verlangen, es zu Doch ist sie sicherlich eine der größten
sein. »Die … reich werden wollen« sind Ursachen für viele verschiedene Übel.
Menschen, die mit Nahrung, Kleidung Sie führt z. B. zu Neid, Eifersucht, Dieb-
und Wohnung nicht zufrieden sind, son- stahl, Unehrlichkeit, Trunkenheit, Ver-
dern mehr haben wollen. gessen von Gott, Selbstsucht, Unterschla-
Das Verlangen »reich« zu sein, führt gung usw.
den Menschen »in Versuchung«. Um sein Es geht hier nicht um Geld an sich,
Ziel zu erreichen, ist er geneigt, unehr- sondern um die »Geldliebe«. Geld darf
liche und oftmals sogar gewalttätige Me- für den Dienst des Herrn auf verschiede-
thoden zu benutzen. Zu diesen Methoden ne Weise benutzt werden, wenn nur
gehört Spielen, Spekulation, Betrug, Gutes daraus folgt. Doch hier ist es das
Meineid, Diebstahl und sogar Mord. außerordentliche Verlangen nach »Geld«,
Solch ein Mensch gerät in einen »Fall- das zu Sünde und Schande führt.
strick« oder eine Falle. Das Verlangen Ein besonderes Übel der Geldliebe
wird so stark, daß er sich von ihm nicht wird nun erwähnt, nämlich ein Abwei-
mehr befreien kann. Vielleicht verspricht chen vom christlichen »Glauben«. In
er sich selbst, daß er aufhören wird, wenn ihrem verrückten Streben nach Geld ver-
er einen bestimmten Betrag auf seinem nachlässigen die Menschen den geist-
Bankkonto verbuchen kann. Doch er kann lichen Bereich und es wird schwierig zu
nicht aufhören. Wenn er dieses Ziel er- sagen, ob sie überhaupt jemals errettet
reicht hat, dann verlangt ihn nach mehr. worden sind.
Das Verlangen nach Geld bringt auch Sor- Sie verlieren nicht nur ihre geistlichen
gen und Ängste mit sich, die die Seele Werte, sondern sie haben »sich selbst mit
umgarnen. Menschen, die entschlossen vielen Schmerzen durchbohrt«. Man den-
sind, reich zu werden, »fallen … in viele ke an die Sorgen, die mit der Sucht nach
unvernünftige … Begierden«. Da haben Reichtum verbunden sind! Da haben wir
wir z. B. das Verlangen, »mit den Meiers die Tragödie eines verschwendeten
mitzuhalten«. Um eine bestimmte soziale Lebens. Da ist der Schmerz, seine Kinder
Stellung im Wohnort einzunehmen, wer- an die Welt zu verlieren. Da ist die Trauer,
den sie oftmals dazu getrieben, die wirkli- den Reichtum über Nacht dahinschwin-
chen Werte des Lebens zu opfern. den zu sehen. Das ist die Angst, Gott zu
Sie »fallen« auch in »schädliche Be- begegnen, ob man nun unerrettet oder
gierden«. Habsucht führt Menschen da- aber mit leeren Händen kommt.
zu, ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen Bischof J. C. Ryle faßt zusammen:
und ihre Seelen zu gefährden. Das ist oft Geld ist in Wirklichkeit eines der am
das Ziel, auf das sie hinsteuern. Sie sind wenigsten befriedigenden Besitztümer. Es

1124
1. Timotheus 6

nimmt zweifellos einige Sorgen, doch es christlichen Charakter kultivieren – das


bringt mindestens so viele Sorgen mit sich, einzige, was man mit in den Himmel
wie es wegnimmt. Einmal ist da die Sorge, es nehmen kann. Hier werden als Teile des
zu erlangen. Dann die Angst, es auch zu christlichen Charakters genannt: »Ge-
behalten. Dann die Versuchungen beim Aus- rechtigkeit, Gottseligkeit, Glauben, Lie-
geben. Es gibt Schuld, die man mit seinem be, Ausharren, Sanftmut.«
Mißbrauch auf sich lädt. Da gibt es das Leid, »Gerechtigkeit« spricht von Ehrlich-
wenn man Geld verliert. Da ist die Verlegen- keit und Gerechtigkeitssinn in der
heit, wie man es vererben soll. Zweidrittel Behandlung unserer Mitmenschen.
aller Streitereien und Gerichtsverfahren auf »Gottseligkeit« ist Gottesähnlichkeit.
der Welt haben ihre Ursache in einem einfa- »Glaube« kann hier auch Treue heißen,
22)
chen Grund: Geld! oder Zuverlässigkeit. »Liebe« spricht
Der reichste Mann der Welt seiner von unserer Zuneigung sowohl zu Gott
Zeit besaß Ölquellen, Raffinerien, Tanker als auch zu unseren Mitmenschen. »Aus-
und Pipelines, dazu Hotels, eine Lebens- harren« ist mit Geduld oder Aushalten
versicherungsgesellschaft, eine Finanzie- unter Versuchung definiert worden,
rungsgesellschaft und ein Luftfahrtun- während »Sanftmut« einen freundlichen
ternehmen. Doch er umgab seinen gro- und demütigen Geist bezeichnet.
ßen Landbesitz mit Bodygards, scharfen 6,12 Nicht nur fliehen und nachfolgen
Hunden, stählernen Zäunen, Flutlich- soll Timotheus, er soll auch »kämpfen«.
tern, Alarmglocken und Sirenen. Zusätz- Hier bedeutet »kämpfen« nicht Krieg
lich zu seiner Furcht vor Flugzeugen, führen, sondern eher etwas mit allen Mit-
Schiffen und Einbrechern fürchtete er teln zu erreichen suchen. Das Wort ist
sich vor Krankheit, Alter, Hilflosigkeit nicht aus der Kriegssprache entlehnt,
und Tod. Er war einsam und traurig und sondern aus dem Bereich des sportlichen
gab zu, daß Geld kein Glück erwerben Wettbewerbes. Der »gute Kampf« und
23)
kann. der damit verbundene Wettbewerb wird
hier »Glaubenskampf« genannt. Timo-
VII.Abschließende Aufträge an theus soll in diesem Wettlauf gut ab-
Timotheus (6,11-21) schneiden. Er soll »das ewige Leben«
6,11 Timotheus wird hier als »Mensch ergreifen. Das bedeutet nicht, daß er um
Gottes« angesprochen. Dieser Titel wur- die Erlösung kämpfen müsse. Sie gehört
de oft den Propheten des AT gegeben ihm schon. Hier geht es darum, im der
und beschreibt einen Mann, der sich alltäglichen Praxis das »ewige Leben«,
gottesfürchtig verhielt. Dieser Titel könn- das man schon hat, auch auszuleben.
te auch darauf hinweisen, daß Timotheus Timotheus war schon bei seiner Be-
die Gabe der Prophetie hatte. Das Gegen- kehrung zum »ewigen Leben« berufen
teil von »Mensch Gottes« ist der worden. Auch hatte er »das gute Be-
»Mensch der Sünde«, wie wir ihn in kenntnis vor vielen Zeugen … bekannt«.
2. Thessalonicher 2 finden. Der Mensch Vielleicht weist dies auf die Taufe hin,
der Sünde wird die personifizierte Sünde obwohl es auch das ganze darauffolgen-
sein. Alles an ihm wird einen an Sünde de Zeugnis für den Herrn Jesus Christus
denken lassen. Timotheus soll ein umfassen könnte.
»Mensch Gottes« sein, ein Mensch, der 6,13 Der Apostel gibt Timotheus nun
andere an Gott und seine Herrlichkeit einen ernsten Rat, und er tut dies in der
denken läßt. Anwesenheit der zwei größten Zeugen.
In seinem Dienst für Christus sollte Zunächst ermahnt er ihn »vor Gott, der
Timotheus »fliehen« vor Einbildung allem Leben gibt«. Als Paulus an Timo-
(V. 4), vor Unreinheit (V. 5), vor Unzu- theus schreibt, ist Paulus sich vielleicht
friedenheit (V. 6-8), vor unvernünftigen bewußt, daß er eines Tages sein Leben
und schädlichen Begierden (V. 9) und für sein Zeugnis für den Herrn Jesus
vor der Geldliebe (V. 10). Er sollte seinen geben muß. Wenn das der Fall sein sollte,

1125
1. Timotheus 6

dann wäre es gut für diesen jungen kehrt, um sein Reich aufzurichten. Dann
Kämpfer, sich daran zu erinnern, daß werden die Folgen von Treue und Un-
Gott derjenige ist, »der allem Leben treue deutlich offenbart.
gibt«. Auch wenn es den Menschen ge- 6,15 Die Ausleger sind sich nicht
lingen sollte, Timotheus zu töten, so ruht einig darüber, ob die Pronomen dieses
doch sein Glauben auf dem Einen, der Verses sich auf Gott, den Vater, oder auf
von den Toten auferweckt. den Herrn Jesus Christus beziehen.
Zweitens gibt er den Rat »vor Chri- Wenn man Vers 15 allein nimmt, so
stus Jesus«. Er ist das große Vorbild des scheint er sich auf den Herrn Jesus zu
»guten Bekenntnisses«. »Vor Pontius beziehen, weil er in Offenbarung 17,14
Pilatus« hat er »das gute Bekenntnis eindeutig als »König der Könige und
bezeugt«. Obwohl sich dies auf alle Wor- Herr der Herren« bezeichnet wird. An-
te und Taten des Heilands vor dem römi- dererseits bezieht sich Vers 16 offenbar
schen Statthalter beziehen kann, bezieht auf Gott, den Vater.
es sich vielleicht besonders auf seine Jedenfalls ist die Bedeutung von Vers
Aussage in Johannes 18,37: »Ich bin dazu 15 folgendermaßen: Wenn der Herr Jesus
geboren und dazu in die Welt gekom- Christus wiederkommt, um über die
men, daß ich für die Wahrheit Zeugnis Erde zu herrschen, dann werden die
gebe. Jeder, der aus der Wahrheit ist, hört Menschen erkennen, wer »der selige und
meine Stimme.« Dieses furchtlose Be- alleinige Machthaber« ist. Die Erschei-
kenntnis wurde Timotheus als ein Bei- nung wird zeigen, wer der wahre
spiel vor Augen gestellt, dem er beim Be- »König« ist. Zu der Zeit, als Paulus dem
zeugen der Wahrheit nacheifern sollte. Timotheus schrieb, war der Herr Jesus
6,14 Timotheus wird ermahnt, »das der Abgelehnte, und er ist es noch
Gebot« zu »bewahren«. Einige denken, immer. Doch eines Tages wird es deutlich
daß dies sich auf das oben erwähnte Ge- gezeigt werden, daß er der »König« über
bot bezieht, den guten Kampf des Glau- alle Herrscher ist und der »Herr« über
bens zu kämpfen. Andere sind der Mei- alle, die als »Herren« regieren.
nung, daß es sich auf die gesamten Rat- »Selig« bedeutet nicht nur würdig,
schläge bezieht, die Paulus dem Timo- gepriesen zu werden, sondern ist auch
theus in diesem Brief gegeben hat. eine Bezeichnung für den, der in sich alle
Andere wiederum sind der Ansicht, daß Seligkeit der Welt vereint.
das Gebot die Botschaft des Evangeliums 6,16 Beim Erscheinen des Herrn Jesus
ist, oder die Offenbarung Gottes, wie wir werden die Menschen auch erkennen,
sie in seinem Wort finden. Wir glauben, daß nur Gott »allein Unsterblichkeit
daß es sich hier um den Auftrag handelt, hat«. Das bedeutet, daß er der einzige ist,
die Wahrheit des christlichen Glaubens dem diese Eigenschaft an sich zukommt.
zu »bewahren«. Die Engel erhalten diese Eigenschaft
Die Ausdrücke »unbefleckt« und übertragen, und bei der Auferstehung
»untadelig« beziehen sich eher auf Timo- werden die Gläubigen unsterbliche Lei-
theus als auf das Gebot. Wenn er das ber empfangen (1. Kor 15,53.54), doch
Gebot hält, dann soll Timotheus damit Gott ist die »Unsterblichkeit« selbst.
ein Zeugnis aufrecht erhalten, das »unbe- Von Gott wird als nächstes ausgesagt,
fleckt« ist, daß man ihm nichts Böses daß er »ein unzugängliches Licht be-
nachsagen kann. wohnt«. Das spricht von der hell schei-
Im NT wird dem Gläubigen ständig nenden Herrlichkeit, die den Thron Got-
die »Erscheinung unseres Herrn Jesus tes umgibt. Der Mensch in seinem natür-
Christus« vor Augen gehalten. Treue zu lichen Zustand würde durch diese Herr-
Christus in dieser Welt wird beim Rich- lichkeit vergehen. Nur diejenigen, die in
terstuhl Christi belohnt werden. Dieser den Geliebten angenommen sind und
Lohn wiederum wird offenbar werden, vollständig in Christus sind, können sich
wenn der Herr Jesus auf die Erde zurück- Gott nähern, ohne vernichtet zu werden.

1126
1. Timotheus 6

Das wahre Wesen Gottes hat noch nierung eines Luxuslebens, sondern sagt
»keiner der Menschen gesehen« noch einfach aus, daß Gott die Quelle wahrer
»kann« ihn ein Mensch »sehen«. Im AT Freude ist, und daß materielle Dinge dies
sahen die Menschen Erscheinungen Got- nicht hervorbringen können.
tes, die man auch »Theophanien« nennt. 6,18 Der Christ wird daran erinnert,
Im NT hat Gott sich selbst vollkommen daß das Geld, das er besitzt, nicht sein
in der Person seines geliebten Sohnes, Eigentum ist. Es wird ihm zur Verwal-
des Herrn Jesus Christus, offenbart. tung gegeben. Er ist dafür verantwort-
Doch noch immer gilt, daß Gott selbst lich, es zur Verherrlichung Gottes und
sterblichen Augen unsichtbar bleibt. zum Segen seiner Mitmenschen einzu-
Diesem Einen nun gebührt »Ehre und setzen. Er sollte es zu »guten Werken«
ewige Macht«, und Paulus schließt seine benutzen und bereit sein, es mit Bedürf-
Ermahnung an Titus mit diesem Lob- tigen zu teilen.
preis Gottes. Die Lebensregel des John Wesley lau-
6,17 Paulus hat schon vorher ausführ- tete: »Tue soviel Gutes, wie du kannst,
licher über die Menschen gesprochen, mit allen Mitteln, mit denen du es
die gerne reich werden möchten. Hier kannst, auf alle Arten, auf die du es
spricht er nun von denen, die schon zu kannst, an allen Orten, wo du es kannst,
»den Reichen« gehören. Timotheus soll zu allen Zeiten, zu denen du es kannst,
ihnen »gebieten, nicht hochmütig zu allen Leuten, denen du es kannst und
sein«. Das ist eine Versuchung der Rei- solange du es kannst.«
chen. Sie sehen schnell auf die herab, die »Mitteilsam« sein heißt, daß man
nicht viel Geld haben und meinen, sie bereit sein sollte, sein Geld zu geben,
seine ungeschlacht, unkultiviert und wohin immer der Herr uns führen mag.
nicht besonders schlau. Das stimmt na- 6,19 Dieser Vers betont die Wahrheit,
türlich nicht notwendigerweise. Großer daß es für uns möglich ist, in diesem
Reichtum ist im NT kein Zeichen von Leben unsere materiellen Güter auf sol-
Gottes besonderem Segen, wie es im AT che Weise zu benutzen, daß sie Ewig-
der Fall war. Während unter dem Gesetz keitswerte erarbeiten. Indem wir unser
Reichtum ein Zeichen göttlichen Wohl- Geld jetzt für das Werk des Herrn geben,
gefallens war, liegt die große Segnung »sammeln« wir uns »selbst eine gute
des neuen Zeitalters im Leiden. Grundlage auf die Zukunft«. Auf diese
Die »Reichen« sollten ihre »Hoff- Weise »ergreifen« wir »das wirkliche
nung« nicht »auf die Ungewißheit des Leben«.
Reichtums … setzen«. Geld hat die Ten- 6,20 Nun kommen wir zur letzten
denz, Flügel zu bekommen und davon- Ermahnung des Paulus an Timotheus. Er
zufliegen. Während große Vorräte den wird ermutigt, das ihm »anvertraute
Anschein geben, Sicherheit zu bringen, Gut« zu bewahren. Das bezieht sich
bleibt doch die Tatsache bestehen, daß sicherlich auf die wahren Lehren des
das einzig Verläßliche in dieser Welt das christlichen Glaubens. Es geht hier nicht
Wort Gottes ist. um die Frage der Seele des Timotheus
Deshalb werden die Reichen er- oder seiner Errettung, sondern um die
mahnt, »auf Gott« zu vertrauen, »der uns Wahrheit des Evangeliums von der Gna-
alles reichlich darreicht zum Genuß«. de Gottes. Wie Geld auf einer Bank sollte
Einer der schlimmen Fallstricke des die Wahrheit, die Timotheus anvertraut
Reichtums ist es, daß es schwierig ist, sie war, »völlig und ganz und unverdorben«
zu besitzen, ohne auf sie zu vertrauen. bewahrt werden.
Doch dies ist sogar eine Form des Göt- Er sollte alle »unheiligen leeren
zendienstes. Man leugnet damit die Tat- Reden und Einwände der fälschlich so-
sache, daß Gott derjenige ist, »der uns genannten Erkenntnis« meiden. »Leere
alles reichlich darreicht zum Genuß«. Reden« ist törichtes Geschwätz über
Diese letztere Aussage ist keine Sanktio- nutzlose Themen.

1127
1. Timotheus 6

Paulus erkannte, daß Timotheus vie- Schulen gelehrt wird. Keine wahre Ent-
len Lehren begegnen würde, die ihre deckung der Naturwissenschaft wird je
Weisheiten als wahres Wissen ausgaben, der Bibel widersprechen, weil die Ge-
jedoch in Wirklichkeit der christlichen heimnisse der Wissenschaft von demsel-
Offenbarung entgegenstanden. Bischof ben Schöpfer im Universum verborgen
Moule schreibt: wurden, der auch die Bibel geschrieben
Die Gnostiker der Zeit des Paulus be- hat, nämlich Gott selbst. Doch viele soge-
haupteten, ihre Jünger »weiter als die norma- nannte Fakten der Wissenschaft sind in
le Herde der einfachen Gläubigen zu einem Wirklichkeit nicht mehr als unbewiesene
überlegenen und begabten Zirkel zu führen, Hypothesen. Jede dieser Hypothesen, die
der die Geheimnisse des Seins erkennen kön- der Bibel widersprechen, sollte man ab-
ne, und die durch diese Erkenntnis von der lehnen.
Sklaverei der Materie befreit würden und in 6,21 Paulus erkannte, daß einige Na-
24)
der Welt des Geistes frei leben könnten«. menschristen diese Irrlehren angenom-
Von all dem sollte Timotheus sich men hatten und »vom Glauben abgeirrt«
fernhalten. waren. Die Schlußverse zeigen uns eine
Das bezieht sich in unserer Zeit in große Gefahr des sogenannten Intellek-
erster Linie auf Sekten wie etwa auf die tualismus, des Rationalismus, des Mo-
»Christliche Wissenschaft«. Dieses Sy- dernismus und des Liberalismus und
stem behauptet, christlich zu sein und aller anderen Ismen, die Christus leug-
behauptet auch, echte »Erkenntnis« zu nen oder die Wahrheit über ihn verwäs-
haben, doch wird sie »fälschlich so ge- sern.
nannt«. Sie ist weder christlich noch wis- »Die Gnade sei mit euch.« Dieser
senschaftlich. Segen ist das »Markenzeichen« des Pau-
Dieser Vers kann auch auf viele lus, weil nur Gottes »Gnade« sein Volk
Formen der Naturwissenschaften ange- auf dem »geraden und engen« Pfad hal-
wandt werden, wie sie heute in unseren ten kann. »Amen.«

1128
Anmerkungen

Anmerkungen Theta vom Omikron unterscheidet


und einem anderen Strichlein über
dem Wort, das anzeigt, daß es sich
Einführung in die Pastoralbriefe um eine Abkürzung handelt. Die
1) Albert Barnes, Notes on the New Testa- Handschriften lesen unterschiedlich
ment: Thessalonians, Timothy, Titus, »Gott« (Textus Receptus und Mehr-
Philemon, S. 289. heitstext), »der« (NA) und »wel-
ches«. Wir folgen hier der tradi-
1. Timotheus tionellen Lesart, der Mehrheit der
1) (Einführung zu 1. Timotheus) Zitiert Handschriften, wie sie von der KJV
von George Salmon in A Historical und dem alten Luthertext benutzt
Introduction to the Study of the Books of wurden.
the New Testament, S. 413. 12) (4,3) Mary Barker Eddy, Science and
2) (1,8) Guy King, A Leader Lead, S. 25. Help With Key to the Scriptures, S. 64-
3) (1,16) William Kelly, An Expostition of 65.
the Two Epistles to Timothy, S. 22. 13) (4,10) Der kritische Text liest »denn
4) (1,19) Hamilton Smith, keine weite- dafür arbeiten und kämpfen wir«.
ren Angaben verfügbar. 14) (4,12) King, Leader, S. 79.
5) (2,9) Johannes Chrysostomos, zitiert 15) (5,4) Sowohl in den ältesten als auch
von Alfred Plummer in The Pastoral in der Mehrheit der Handschriften
Epistles, S. 101. fehlen die Worte »wohlgetan und«
6) (2,15) J. P. Lilley, The Pastoral Epistles, (LU1912) vor dem Wort »ange-
S. 94. nehm«. Die kürzere Lesart ist zwei-
7) (3,2) Christen, die diese Ansicht fellos die ursprüngliche.
haben, betonen die Treue eines Älte- 16) (5,16) Die Auslassung des »Gläubi-
sten zu einer einzigen Frau, die in gen« in diesem Vers in NA ist wahr-
der griechischen Konstruktion hier scheinlich zufällig. Es ist sehr wahr-
nahegelegt zu sein scheint: »Ein ein- scheinlich, daß Paulus nicht nur
frauiger Mann.« schreiben würde, daß sich Frauen um
8) (3,3) Weil Diakone nicht geldliebend die Witwen in ihrem Haushalt zu
sein dürfen (3,38) scheint es uns kümmern hätten.
unwahrscheinlich, daß Paulus diese 17) (6,4) R. C. H. Lenski, The Interpretati-
Eigenschaft bei den weit mehr Ver- on of St. Paul’s Epistles to the Thessalo-
antwortung tragenden Ältesten aus- nians, to Timothy, to Titus and to Phile-
gelassen haben sollte. mon, S. 700.
9) (3,11) Vielleicht war es zu dieser 18) (6,5) Ebd., S. 701-2.
frühen Zeit noch kein Gemeindeamt 19) (6,5) NA läßt diesen Satz aus.
für die Frauen geworden. Man ver- 20) (6,7) Edward Herbert Bates, Spiritual
gleiche die Anmerkung der Ryrie Thoughts from the Scriptures of Truth,
Study Bible, NKJV, S. 1850. London: Pickering and Inglis, o. J.,
10) (3,16) J. N. Darby, »Notes of a Lectu- S. 160.
re on Titus 2,11-14«, The Collected 21) (6,9) Albert Barnes, Notes on the New
Writings of J. N. Darby, Bd. 7, S. 333. Testament: Thessalonians, Timothy,
11) (3,16) Der heilige Name Gottes, Chri- Titus, Philemon, S. 199.
sti und des Heiligen Geistes wurde 22) (6,10) J. C. Ryle, Practical Religion,
in alten Handschriften abgekürzt. S. 215.
Die griechische Abkürzung für 23) (6,10) Nach Zeitungsberichten über
»Gott« sieht genauso aus wie das den verstorbenen Howard Hughes.
rückbezügliche »der« mit einem kur- 24) (6,20) H. C. G. Moule, Studies in II
zen horizontalen Strich, der das Timothy, S. 91.

1129
Bibliographie

Bibliographie King, Guy H.,


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(Pastoralbriefe) Fort Washington, Pa: Christian
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Cambridge: University Press, 1899. To My Son: An Expositionals Study
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Edinburgh: T. & T. Clark, 1874. Handbooks for Bible Classes,
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London: Weston, 1901. Lange’s Commentary on the Holy Scriptures,
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Kent, Homer A., The Pastoral Epistles in the Greek New
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Chicago: Moody Press, 1958. Grand Rapids: Wm. B. Eerdman, 1953.

1130
Der zweite Timotheusbrief
»Der zweite Timotheusbrief ist ein Ausdruck des Herzens des Paulus,
der unter Gottes Führung die Gemeinde außerhalb Palästinas gegründet und aufgebaut hat,
und sie wurde im Hinblick auf ihr Versagen und ihre Abweichung
von den Prinzipien geschrieben, auf die er sie gegründet hatte.«
J. N. Darby

Einführung II. Verfasserschaft


Eine Diskussion der Verfasserschaft von
2. Timotheus findet sich in der Einleitung
I. Einzigartige Stellung im Kanon zu den Pastoralbriefen.
Die letzten Worte berühmter Menschen
werden normalerweise von denen, die III. Datierung
sie geliebt haben, hoch geachtet. Wäh- Der zweite Timotheusbrief ist aus dem
rend der zweite Timotheusbrief nicht Gefängnis geschrieben worden (der Tra-
wirklich die letzten Worte des Paulus dition nach aus dem Mamertingefängnis
enthält, so ist es doch sein letzter bekann- in Rom, das noch heute den Touristen
ter Brief an die Christen, und wurde gezeigt wird). Als römischer Bürger
ursprünglich an seinen geliebten jungen konnte Paulus nicht den Löwen vorge-
Mitarbeiter Timotheus gesandt. worfen oder gekreuzigt werden, doch
Paulus sitzt in seinem dunklen Ver- eine »ehrenvolle« Exekutionsweise war
ließ in Rom, in das Licht nur durch ein die Enthauptung mit dem Schwert. Da er
Loch in der Decke strömt und wartet auf unter Nero starb, der am 8. Juni 68 starb,
seine Exekution durch Enthauptung. Der beschränkt sich die Datierungsmöglich-
geistliche, intelligente und zartfühlende keit für 2. Timotheus wohl auf die Zeit
Apostel, der nun gealtert und durch sein zwischen Herbst 67 und Frühjahr 68.
langes und beschwerliches Wirken für
Gott erschöpft ist, schreibt einen letzten IV. Thema
Aufruf, sich fest an die Wahrheit und das Das Thema des zweiten Timotheusbrie-
Leben zu halten, so wie Timotheus ge- fes wird in 2,15 sehr gut ausgedrückt:
lehrt worden war. »Strebe danach, dich Gott bewährt zur
Wie einige andere »zweite« Briefe be- Verfügung zu stellen als einen Arbeiter,
schäftigt sich der 2. Timotheusbrief mit der sich nicht zu schämen hat, der das
Irrlehrern und den Häretikern der End- Wort der Wahrheit in gerader Richtung
zeit. Man kann nicht anders als an- schneidet.« Im Gegensatz zu 1. Timo-
nehmen, daß viele der frontalen Angriffe theus, wo die gemeinsame Verantwor-
auf die Echtheit von 2. Timotheus (und tung, das der Gemeinschaft dienende
sogar noch mehr auf 2. Petrus) ihre Ursa- Verhalten betont wird, geht es hier mehr
che darin haben, daß die skeptischen um persönliche Verantwortung und in-
Theologen, die diese negativen Theorien dividuelles Verhalten. Dieses Thema
erfinden, selbst davon überführt sind, könnte man auch »individuelle Verant-
daß sie die Religion als einen Vorwand wortung in einer Zeit gemeinschaft-
benutzten, genau das Verbrechen, vor lichen Versagens« nennen.
dem uns Paulus vorwarnt (3,1-9) Es gibt in der sich christlich nennen-
Ganz gleich, was manche auch sagen den Gemeinde viel gemeinschaftliches
mögen, der 2. Timotheusbrief ist von Versagen. Man ist weit vom Glauben und
außerordentlicher Bedeutung und nur der Wahrheit abgekommen. Wie wirkt
allzu echt! sich das auf den einzelnen Gläubigen

1131
2. Timotheus 1

aus? Wird er von der Aufgabe entschul- schaft geführt wurde. Hat Daniel des-
digt, an der Wahrheit und einem gottes- halb zu sich gesagt: »Ich könnte genauso-
fürchtigen Leben festzuhalten? Die Ant- gut das Gesetz und die Propheten ver-
wort des 2. Timotheusbriefes ist ein be- gessen und mich den Praktiken, Maßstä-
stimmtes Nein! »Strebe danach, dich Gott ben und der Moral hier in Babylon an-
bewährt zur Verfügung zu stellen …« passen«? Die Geschichte beschreibt die
Die Situation des jungen Daniel am hell glühende Antwort seines bemer-
Hof von Babel ist ein Beispiel dafür. kenswerten Glaubenslebens in scheinbar
Wegen des fortgesetzten Götzendienstes so widrigen Umständen.
der Israeliten waren er und eine Anzahl Deshalb spricht auch die Botschaft
anderer als Gefangene von Nebukadne- des zweiten Timotheusbriefes vom ein-
zar nach Babylon verschleppt worden. zelnen Kind Gottes, das das gemeinsame
Sie wurden aller äußerer Formen der Bekenntnis der Gemeinde als weit ent-
jüdischen Religion beraubt – sie hatten fernt von der Einfachheit und Heiligkeit
weder Opfer noch Priester noch Tempel des NT findet, in der es begonnen hat. Er
noch was sonst dazugehörte. Dieser oder sie sind noch immer verantwortlich,
Dienst hörte schon wenige Jahre später »gottesfürchtig in Christus Jesus« zu
ganz auf, als Jerusalem zerstört wurde leben (2. Tim 3,12).
und das ganze Volk in die Gefangen-

Einteilung III. Glaube kontra Abfall (2,14-4,8)


A. Treue zum wahren Christentum
(2,14-26)
I. Einleitende Grüße an Timotheus B. Der kommende Abfall (3,1-13)
(1,1-5) C. Der Mensch, der sich angesichts
II. Ermahnungen an Timotheus des Abfalls auf Gott verläßt
(1,6-2,13) (3,14-4,8)
A. Ermahnung zur Treue (1,6-18) IV. Persönliche Bitten und
B. Ermahnung zum Ausharren Bemerkungen (4,9-22)
(2,1-13)

Kommentar Der Ruf in die Apostelschaft gehörte für


Paulus zu dieser »Verheißung«. Hätte es
diese Verheißung nicht gegeben, wäre
I. Einleitende Grüße an Timotheus ein Apostel wie Paulus überhaupt nicht
(1,1-5) nötig gewesen.
1,1 Paulus stellt sich selbst am Anfang Wie Vine es ausdrückt: »Es entsprach
des Briefes als »Apostel Christi Jesu« vor. dem göttlichen Plan, daß das Leben, das
Ihm war dieser besondere Auftrag vom in der ewigen Vergangenheit in Christus
verherrlichten Herrn gegeben worden. Jesus war, uns gegeben werden sollte. Zu
Diese Ernennung geschah weder von diesem Plan gehörte auch, daß Paulus
1)
noch durch Menschen, sondern direkt ein Apostel werden sollte.«
»durch Gottes Willen«. Auch nennt Pau- V. Paul Flint legt die fünf Erwähnun-
lus seine Apostelschaft »nach Verhei- gen des Lebens in diesem Brief aus als
ßung des Lebens, das in Christus Jesus 1,1 – die Verheißung des Lebens; 1,10 –
ist«. Gott hat allen, die an »Christus die Offenbarung des Lebens; 2,11 – die
Jesus« glauben, die »Verheißung« gege- Teilhabe am Leben; 3,12 – die Struktur des
ben, daß sie das ewige »Leben« erhalten. Lebens und 4,1 – den Zweck des Lebens.
1132
2. Timotheus 1

1,2 »Timotheus« wird als »geliebtes Der Apostel diente Gott nun »mit rei-
Kind« angesprochen. Es kann nicht end- nem Gewissen«, so wie es seine jüdi-
gültig bewiesen werden, daß Timotheus schen »Voreltern« getan hatten. Obwohl
sich wirklich durch den Dienst des Pau- seine Vorfahren keine Christen waren,
lus bekehrte. Ihre erste aufgezeichnete glaubten sie doch an den lebendigen
Begegnung findet sich in Apostel- Gott. Sie verehrten ihn und wollten ihm
geschichte 16,1, wo Timotheus schon als dienen. Sie hielten die »Hoffnung und
Jünger beschrieben wird, als Paulus nach die Auferstehung der Toten« fest, wie
Lystra kommt. Jedenfalls sah der Apostel Paulus in Apostelgeschichte 23,6 betont.
ihn als »geliebtes Kind« im christlichen Deshalb konnte er in Apostelgeschichte
Glauben an. 26,6 und 7a sagen: »Und nun stehe ich
Wie im 1. Timotheusbrief besteht der vor Gericht wegen der Hoffnung auf die
Gruß des Apostels aus »Gnade, Barmher- von Gott an unsere Väter geschehene
zigkeit, Friede«. Es ist im Kommentar zu Verheißung, zu der unser zwölfstämmi-
1. Timotheus schon darauf hingewiesen ges Volk, unablässig Nacht und Tag Gott
worden, daß Paulus, wenn er einer dienend, hinzugelangen hofft.«
Gemeinde schreibt, ihnen normalerweise So konnte Paulus davon sprechen,
Gnade und Friede wünscht. Als er Timo- daß sein Dienst für den Herrn nach dem
theus schreibt, fügt er das Wort »Barm- Beispiel seiner Vorfahren geschah. Das
3)
herzigkeit« hinzu. Guy King hat vorge- Wort, das er hier für »dienen« steht,
schlagen, daß man »Gnade« für jeden bedeutet soviel wie Loyalität und Treue.
Dienst braucht, »Barmherzigkeit« dage- Er erkannte den wahren Gott damit an.
gen für jedes Versagen und »Friede« für Als nächstes spricht Paulus davon,
alle Umstände. Jemand hat einmal gesagt: daß er »unablässig« in seinen »Gebeten«
»Gnade für die Wertlosen, Barmherzig- an Timotheus denkt, und zwar »Nacht
keit für die Hilflosen und Friede für die und Tag«. Wann immer der große Apo-
Ruhelosen.« Hiebert definiert »Barmher- stel im Gebet mit dem Herrn sprach, er-
zigkeit« als »die aus Gott selbst stammen- innerte er sich an seinen geliebten jungen
de, spontane liebevolle Freundlichkeit Mitarbeiter und brachte seinen Namen
Gottes, die ihn dazu veranlaßt, mit Mit- vor den Thron der Gnade. Paulus wußte,
leid und zartem Mitgefühl mit den Ver- daß seine eigene Dienstzeit schon bald
2)
zweifelten und Traurigen umzugehen«. beendet sein würde. Er wußte, daß Timo-
Diese Segnungen kommen »von theus dann, menschlich gesprochen,
Gott, dem Vater, und von Christus Jesus, allein bleiben würde, um seinen Zeugen-
unserem Herrn«. Hier haben wir wieder dienst für Christus zu tun. Er wußte, wel-
einmal den Fall vorliegen, wo Paulus den che Schwierigkeiten auf ihn warten wür-
Sohn so ehrt, wie er den Vater ehrt. den, und deshalb betete er ständig für
1,3 In seinem charakteristischen Stil diesen jungen Glaubenskämpfer.
bricht Paulus nun in Danksagung aus. 1,4 Wie gerührt muß Timotheus
Wenn wir dies lesen, sollten wir uns dar- gewesen sein, als er diese Worte las! Der
an erinnern, daß er von einem römischen Apostel Paulus hatte, wie es Moule ein-
Verließ aus schreibt. Er ist wegen der Pre- mal genannt hat, ein »heimwehkrankes
digt des Evangeliums gefangen worden Sehnen«, Timotheus »zu sehen«. Das war
und wurde wie ein gewöhnlicher Krimi- sicherlich ein Kennzeichen besonderer
neller behandelt. Der christliche Glaube Liebe und Wertschätzung und spricht
wurde zu dieser Zeit von den römischen deutlich von der Liebe, Freundlichkeit
Herrschern aktiv unterdrückt, und schon und Demut des Paulus.
viele Gläubige hatten ihr Leben lassen Vielleicht brach Timotheus zusam-
müssen. Trotz all dieser widrigen Um- men, als sie sich das letzte Mal vonein-
stände kann Paulus seinen Brief an Timo- ander verabschiedet hatten. Seine »Trä-
theus mit den Worten beginnen: »Ich nen« hatten bei seinem älteren Mitarbei-
danke Gott!« ter einen tiefen Eindruck hinterlassen.

1133
2. Timotheus 1

Hiebert ist der Ansicht, daß es geschah, II. Ermahnungen an Timotheus


als Paulus von der Polizei oder rö- (1,6-2,13)
mischen Soldaten weggeholt worden
4)
war. Paulus konnte das nicht verges- A. Ermahnung zur Treue (1,6-18)
sen, und nun sehnt er sich danach, wie- 1,6 Wegen seiner frommen Familie und
der bei Timotheus zu sein, damit er »mit seines eigenen Glaubens wird Timotheus
Freude erfüllt« würde. Er tadelt Timo- ermahnt, »die Gnadengabe anzufachen,
theus wegen dieser »Tränen« nicht, als die in« ihm ist. Einige sind der Ansicht,
ob sie unmännlich seien, oder als ob für daß damit der Heilige Geist gemeint ist.
Gefühle kein Platz im Christentum sei. Andere verstehen darunter eine beson-
J. H. Jowett sagte immer: »Tränenlose dere Fähigkeit, die vom Herrn für eine
Herzen können niemals Herolde der bestimmte Form des christlichen Dien-
Passion sein. Wenn unser Mitgefühl kei- stes geschenkt wird, z. B. die Gabe des
nen Schmerz mehr empfindet, können Evangelisten, Hirten oder Lehrers. Es
wir nicht mehr Diener der Passion scheint klar zu sein, daß Timotheus in
sein.« den christlichen Dienst berufen worden
1,5 Auf irgendeine Weise war Paulus war und dazu einige besondere Gaben
an den »ungeheuchelten Glauben« des erhalten hat. Hier wird er nun ermutigt,
Timotheus erinnert worden. Sein »Glau- die »Gabe« zu einer lebendigen Flamme
be« war echt, treu und trug keine Maske »anzufachen«. Er soll sich nicht durch
5)
zur Schau. Doch Timotheus war nicht das allgemeine Versagen um ihn herum
der erste seiner Familie, der errettet wur- entmutigen lassen. Er sollte seine Aufga-
de. Offensichtlich hatte seine jüdische be auch nicht einfach als normale Arbeit
»Großmutter Lois« die gute Nachricht ansehen und in bequeme Routine verfal-
der Erlösung gehört und den Herrn Jesus len. Er sollte statt dessen achtgeben, sei-
als Messias angenommen. Und ihre ne Gabe immer mehr zu gebrauchen,
Tochter »Eunike«, auch eine Jüdin während die Zeiten immer schlimmer
(Apg 16,1), war Christin geworden. Auf würden.
diese Weise hatte Timotheus die großen Diese »Gabe« hatte Timotheus
Wahrheiten des christlichen Glauben »durch das Auflegen« der »Hände« des
kennengelernt, und er glaubte in der Apostels empfangen. Dies darf man
dritten Generation in dieser Familie an nicht mit einem Ordinationsgottesdienst
den Heiland. In der Schrift steht nichts verwechseln, wie er in kirchlichen Krei-
darüber, ob sich der Vater von Timotheus sen heute üblich ist. Es bedeutet genau,
je bekehrt hat. was hier steht – nämlich, daß die Gabe
Obwohl die Erlösung nicht von gläu- Timotheus wirklich in dem Augenblick
bigen Eltern geerbt werden kann, so ist gegeben wurde, als Paulus ihm die Hän-
es doch sicher wahr, daß es in der Schrift de auflegte. Der Apostel war der Kanal,
ein Prinzip des Haushaltes gibt. Es durch den die Gabe übertragen wurde.
scheint so, daß Gott gerne ganze Fa- Es erhebt sich sofort die Frage: »Fin-
milien errettet. Es entspricht nicht det so etwas auch heute noch statt?« Die
seinem Willen, daß ein Glied nicht dazu- Antwort lautet: »Nein.« Die Vollmacht,
gehört. eine Gabe durch Auflegung der Hände
Man beachte, daß es heißt, daß der zu vermitteln, wurde Paulus als Apostel
»Glaube« in »Lois« und »Eunike« ge- Jesu Christi gegeben. Weil wir heute kei-
wohnt habe. Er war kein gelegentlicher ne Apostel in dem Sinne mehr haben,
Besucher, sondern ständig bei ihnen. haben wir auch nicht mehr die Voll-
Paulus war »überzeugt«, daß das »auch« macht, apostolische Wunder zu vollbrin-
für Timotheus galt. Es war trotz aller gen.
Anfechtungen, die damit einhergehen Dieser Vers sollte im Zusammenhang
würden, ein echter Glaube, den Timothe- mit 1. Timotheus 1,18 und 4,14 gelesen
us aufrecht erhalten sollte. werden. Wenn wir diese drei Verse zu-

1134
2. Timotheus 1

sammen nehmen, finden wir, daß die Christ, der eng mit dem Herrn zusam-
Reihenfolge der Vorgänge nach Vine fol- menlebt, niemals seelisch krank werden
gendermaßen war: Durch eine propheti- könnte. Das ist jedoch keine schriftge-
sche Äußerung wurde Paulus zu Timo- mäße Lehre. Psychische Krankheiten
theus als einem geführt, der auf besonde- können oftmals vererbt sein. Viele ande-
re Weise für den Dienst geeignet sei. re haben ihre Ursache in körperlichen
Durch die förmliche Handlung des Apo- Leiden, die in keiner Weise mit dem
stels hat der Herr Timotheus eine Gabe geistlichen Leben der betroffenen Person
gegeben. Die Ältesten erkannten das an, zu tun haben. Dieser Vers lehrt jedoch,
was der Herr getan hat, indem sie ihm daß Gott uns einen Geist der Selbstkon-
die Hände auflegten. Das letztere war trolle oder Selbstzucht gegeben hat. Wir
nun weder eine Ordination noch die sollen überlegt handeln, und nicht über-
Übertragung einer Gabe oder kirchlichen eilt, töricht oder spontan. Ganz gleich,
6)
Position. wie widerwärtig unsere Umstände sein
Oder, wie Stock zusammenfaßt: »Die mögen, wir sollten ein ausgeglichenes
Gabe kam ›durch‹ die Hände des Paulus, Urteilsvermögen bewahren und nüch-
nicht ›mit‹ den Händen der Ältesten.« tern handeln.
1,7 Da Paulus selbst dem Märtyrertod 1,8 Timotheus wird aufgefordert, sich
entgegensah, nahm er sich die Zeit, nicht zu schämen. In Vers 13 sagt Paulus
Timotheus daran zu erinnern, daß »Gott aus, daß er selbst sich nicht schämt. Und
… uns nicht einen Geist der Furchtsam- schließlich lesen wir noch in Vers 16, daß
keit« oder Feigheit gegeben hat. Es ist Onesiphorus sich ebenfalls nicht
nicht an der Zeit, Angst oder Furcht zu schämte.
empfinden. Zu dieser Zeit war die Predigt des
Doch Gott hat uns den Geist »der Evangeliums ein Verbrechen. Diejenigen,
Kraft« gegeben. Wir haben unbegrenzte die öffentlich ihren Herrn und Heiland
Kraft zu unserer Verfügung. Durch die bezeugen wollten, wurden verfolgt.
Befähigung des Heiligen Geistes kann Doch sollte das Timotheus nicht aus der
der Gläubige tapfer dienen, geduldig Ruhe bringen. Er sollte sich »des Zeug-
ertragen, siegreich leiden, und, wenn nisses unseres Herrn« nicht schämen,
nötig, ebenso siegreich sterben. auch wenn das Leiden mit sich bringen
Gott hat uns auch einen Geist »der würde. Auch sollte er sich nicht schä-
Liebe« gegeben. Es ist unsere Liebe zu men, daß der Apostel Paulus im Gefäng-
Gott, die die Furcht austreibt und uns nis war. Schon hatten ihm einige Chri-
bereit macht, uns ganz Christus hinzuge- sten den Rücken gekehrt. Zweifellos
ben, was immer die Kosten sein mögen. fürchteten sie, daß sie, wenn sie sich mit
Es ist unsere Liebe zu unseren Mitmen- ihm identifizierten, mit Verfolgung und
schen, die uns bereit macht, alle mögli- sogar dem Tod rechnen müßten.
chen Arten von Verfolgung auf uns zu Timotheus wurde ermahnt, seinen
nehmen und sie mit Freundlichkeit zu Anteil der Leiden »nach der Kraft Got-
vergelten. tes« zu tragen, die mit dem »Evangeli-
Schließlich hat uns Gott auch noch um« zusammenhängen. Er sollte nicht
einen Geist der »Besonnenheit« oder Dis- versuchen, der Schande auszuweichen,
ziplin gegeben. Die Übersetzung »des die damit vielleicht verbunden sein
gesunden Sinnes« (Elb Anm.) gibt den könnte, sondern mit Paulus zusammen
Gedanken nicht ganz exakt wieder. Man diese Schande ertragen.
könnte meinen, es bedeute, daß ein 1,9 Der Apostel hatte Timotheus er-
Christ immer seelisch gesund sein müs- mutigt, eifrig zu sein (V. 6.7) und mutig
se, daß er keine nervösen Zusammen- (V. 8). Nun erklärt Paulus, warum das
brüche haben dürfe oder andere psychi- die einzig vernünftige Haltung ist. Die
sche Krankheiten. Dieser Vers ist oft Erklärung findet sich in Gottes wunder-
mißbraucht worden zu lehren, daß ein vollem Gnadenhandeln an uns. Zu-

1135
2. Timotheus 1

nächst einmal hat er »uns errettet«. Das bedeutet, daß Gott sich in der vergange-
bedeutet, daß er uns von der Strafe für nen Ewigkeit zu seinem wundervollen
die Sünde befreit hat. Er befreit uns stän- Erlösungsplan entschlossen hat. Er ent-
dig von der Macht der Sünde und eines schloß sich, schuldige Sünder durch das
Tages wird er uns sogar von der Gegen- stellvertretende Werk seines lieben Soh-
wart der Sünde befreien. Auch hat er uns nes zu erlösen. Er entschied sich, das
von der Welt und von Satan befreit. Angebot des ewigen Lebens allen zu
Und außerdem hat Gott uns »mit hei- machen, die Jesus Christus als ihren
ligem Ruf« berufen. Er hat uns nicht nur Herrn und Erlöser annehmen würden.
vom Bösen befreit, sondern er hat uns all Die Methode, durch die wir gerettet wur-
die geistlichen Segnungen in der Him- den, wurde nicht nur vor unserer Geburt
melswelt in Christus Jesus geschenkt. geplant, sondern »vor den Zeiten der
Die heilige Berufung des Christen wird Zeitalter« (Elb).
ausführlich in Epheser 1-3 beschrieben, 1,10 Dasselbe Evangelium, das schon
besonders aber in Kapitel 1. Dort lernen in der Ewigkeit geplant wurde, wurde in
wir, daß wir erwählt worden sind, vor- der Zeit »geoffenbart«. Es wurde »geof-
herbestimmt, adoptiert als Söhne, ange- fenbart … durch die Erscheinung unse-
nommen in dem Geliebten, erlöst durch res Heilandes Jesus Christus«. Während
sein Blut, der Vergebung teilhaftig, mit seines Erdenlebens verkündigte er
dem Heiligen Geist versiegelt und teil- öffentlich die gute Nachricht von der Er-
haftig des Pfandes für das Erbe. (Zusätz- lösung. Er lehrte die Menschen, daß er
lich zu dieser heiligen Berufung haben sterben, begraben und von den Toten
wir noch eine hohe Berufung, Philipper auferstehen mußte, um gottlose Sünder
3,14, und eine himmlische Berufung, zu erretten.
Hebräer 3,1). Er hat »den Tod zunichte gemacht«.
Diese Erlösung und Berufung gesche- Doch wie kann das sein, wo wir doch
hen »nicht nach unseren Werken«. Mit wissen, daß der Tod in der Welt immer
anderen Worten, sie sind uns durch die noch an der Tagesordnung ist? Der
Gnade Gottes gegeben. Das bedeutet, Gedanke ist, daß er dem Tod die Macht
daß wir sie nicht verdient haben, son- genommen hat. Er darf nicht mehr herr-
dern genau das Gegenteil verdient hät- schen. Vor der Auferstehung Christi
ten. Wir hätten sie uns nicht verdienen herrschte der Tod als grausamer Tyrann
können, und wir wollten sie auch gar über die Menschheit. Er war ein gefürch-
nicht haben. Doch Gott hat sie uns ohne teter Feind. Die Todesfurcht hielt die
Vorbedingung geschenkt. Menschen gefangen. Doch die Auferste-
Das wird weiter durch die Worte hung des Herrn Jesus ist ein Pfand für
»nach seinem eigenen Vorsatz und der alle, die auf ihn vertrauen, daß sie von
Gnade« erklärt. Warum sollte Gott die den Toten auferstehen werden, um nie
gottlosen Sünder so lieben, daß er bereit wieder zu sterben. In diesem Sinne ist
war, seinen einzigen Sohn zu senden, der Tod »zunichte« gemacht. Er ist seines
damit der für sie starb? Warum sollte er Stachels beraubt. Der Tod ist nun ein
sich in solche Kosten stürzen, um sie vor Bote Gottes, der die Seele des Gläubigen
der Hölle zu erretten, so daß sie die in den Himmel führt. Er ist unser Diener
Ewigkeit mit ihm verbringen konnten? statt unser Herr.
Die einzige mögliche Antwort lautet: Der Herr Jesus hat nicht nur den »Tod
»Nach seinem eigenen Vorsatz und der zunichte gemacht«, sondern auch »Le-
Gnade.« Die Gründe für sein Verhalten ben und Unvergänglichkeit ans Licht ge-
lagen nicht in uns. Sein großes liebendes bracht … durch das Evangelium«. Zur
Herz war der Grund. Er liebte uns, weil Zeit des AT hatten die Menschen eine
er uns liebte! sehr ungenaue und verschwommene
Seine Liebe wurde »uns in Christus Vorstellung vom Leben nach dem Tod.
Jesus vor ewigen Zeiten gegeben«. Das Sie sprachen davon, daß ihre Verstorbe-

1136
2. Timotheus 1

nen im Scheol waren, was einfach einen im Gefängnis war, bedauerte er nichts. Er
unsichtbaren Zustand von dahingeschie- »schämte« sich nicht, und auch Timothe-
denen Seelen bedeutet. Obwohl sie eine us sollte sich nicht schämen. Obwohl er
himmlische Hoffnung hatten, verstan- bezüglich seiner eigenen Sicherheit nicht
den sie sie jedoch zum Großteil nicht. gerade zuversichtlich sein konnte, war er
Seit dem Kommen Christi haben wir doch völlig zuversichtlich in bezug auf
sehr viel größere Einsicht in dieses The- den, an den er »geglaubt« hatte. Obwohl
ma. Z. B. wissen wir, daß der Geist eines es Rom gelingen mochte, den Apostel zu
Gläubigen, wenn er verstirbt, bei Chri- töten, konnten die Menschen doch seinen
stus ist, was viel besser ist. Er wohnt Herrn nicht angreifen. Paulus wußte, daß
nicht mehr im Leib und ist beim Herrn der eine, dem er vertraut hatte, »mächtig
zuhause. Er geht in das ewige Leben in ist«. »Mächtig« wozu? »Mächtig, mein
all seiner Fülle. anvertrautes Gut bis auf jenen Tag zu
Christus hat nicht nur »Leben … ans bewahren.« Die Kommentatoren sind un-
Licht gebracht«, sondern auch »Unver- terschiedlicher Meinung, was Paulus hier
gänglichkeit«. Unvergänglichkeit steht meint. Einige denken an die Erlösung sei-
für die Auferstehung des Leibes. Wenn ner Seele. Andere sind der Ansicht, daß
wir in 1. Korinther 15,53 lesen, daß »die- hiermit das Evangelium gemeint ist. Mit
ses Verwesliche Unverweslichkeit anzie- anderen Worten, obwohl der Apostel
hen« muß, dann wissen wir, daß, auch Paulus selbst vielleicht hingerichtet wür-
wenn der Leib ins Grab gelegt und zu de, würde doch das Evangelium nicht
Staub wird, doch derselbe Leib beim behindert werden können. Je mehr die
Kommen Christi aus dem Grab aufer- Menschen versuchten, dem Evangelium
weckt und in einen Herrlichkeitsleib ver- zu widerstehen, desto mehr würde es
wandelt wird, ähnlich dem des Herrn verbreitet werden.
Jesus selbst. Die Heiligen des AT hatten Vielleicht ist es am besten, diesen
dieses Wissen nicht. Es wurde uns Ausdruck im weitesten Sinne zu verste-
»durch die Erscheinung unseres Heilan- hen. Paulus war der Überzeugung, daß
des Jesus Christus … gebracht«. sein ganzer Fall in den besten Händen
1,11 Paulus wurde zur Verkündigung ruhte. Auch als er dem Tod gegenüber-
dieses herrlichen Evangeliums »bestellt stand, hatte er keine Bedenken. Jesus
… als Herold und Apostel und Lehrer«. Christus war sein allmächtiger Herr, und
Ein »Herold« ist ein Prediger, dessen mit ihm zusammen gab es keine Nieder-
Funktion es ist, eine Botschaft öffentlich lage oder Versagen. Er brauchte sich um
zu verkündigen. Ein »Apostel« ist je- nichts Sorgen zu machen. Die Erlösung
mand, der von Gott gesandt, ausgerüstet war Paulus sicher, und ebenso der Erfolg
und mit Kraft ausgestattet wurde. Ein seines Dienstes für Christus hier auf
»Lehrer« ist jemand, dessen Funktion es Erden.
ist, andere zu lehren. Er erklärt die Wahr- »Jener Tag« ist einer der Lieblings-
heit auf verständliche Weise, so daß an- ausdrücke des Paulus. Er bezieht sich auf
dere durch Glauben und Gehorsam dar- das Kommen des Herrn Jesus Christus,
auf reagieren können. Die Worte »der und besonders auf den Richterstuhl
7)
Heiden« (LU1912) betonen den beson- Christi, wenn der Dienst für ihn beurteilt
deren Dienst des Paulus an den nichtjü- werden wird, und wenn die Güte Gottes
dischen Nationen. die Treue der Menschen belohnen wird.
1,12 Wegen der treuen Durchführung 1,13 Diesen Vers kann man auf zwei-
seiner Pflicht litt Paulus nun Gefangen- erlei Weise verstehen. Zunächst einmal
schaft und Einsamkeit. Er hatte nie gezö- wird Timotheus ermutigt, »das Vorbild
gert, die Wahrheit Gottes zu verkündi- der gesunden Worte« festzuhalten. Es
gen. Keine Furcht um seine persönliche geht nicht nur darum, daß er der Wahr-
Sicherheit hatte je seine Lippen verschlos- heit des Wortes Gottes treu sein soll, son-
sen. Auch als er nun festgenommen und dern daß er genau an den Formulie-

1137
2. Timotheus 1

rungen festhalten soll, durch die diese aufziehen, wird er daran erinnert, wie
Wahrheit weitergegeben wurde. Viel- die Christen »in Asien … sich« von ihm
leicht kann ein Beispiel uns helfen, dies »abgewandt« haben. Weil zu der Zeit, als
zu verstehen. In unseren Tagen wird der Brief geschrieben wurde, Timotheus
manchmal gesagt, wir sollten solche alt- wahrscheinlich in Ephesus weilte, wußte
modischen Ausdrücke wie »wiederge- er genau, worüber der Apostel schrieb.
boren werden« oder »das Blut Jesu« fal- Es ist wahrscheinlich, daß die Chri-
len lassen. Die Menschen würden gerne sten in Asien ihre Verbindung zu Paulus
eine gebildetere Sprache benutzen. Doch lösten, als sie erfuhren, daß er gefangen
liegt hierin eine unterschwellige Gefahr. genommen worden war. Sie verließen
Wenn wir die schriftgemäße Art der For- ihn zu der Zeit, als er sie am meisten ge-
mulierung fallen lassen, dann lassen wir braucht hätte, vielleicht weil sie um ihre
damit oft gleichzeitig die Wahrheiten fal- eigene Sicherheit fürchteten. Die römi-
len, die durch diese Formulierungen aus- sche Regierung suchte nach allen, die
gedrückt werden. Deshalb sollte Timo- versuchten, den christlichen Glauben zu
theus »das Vorbild der gesunden Worte« verbreiten. Der Apostel Paulus war einer
festhalten. der bekanntesten Vertreter des Christen-
Doch der Vers könnte auch nahele- tums. Jeder, der es wagte, öffentlich Kon-
gen, daß die Worte des Paulus als Vorbild takt zu ihm zu halten, würde als jemand
für Timotheus dienen sollten. Alles, was dastehen, der sich mit seiner Sache iden-
Timotheus von nun an lehren würde, tifizierte.
sollte mit den Grundlagen übereinstim- Es wird weder gesagt noch angedeu-
men, die ihm mitgegeben worden waren. tet, daß diese Christen den Herrn oder
Bei der Durchführung seines Dienstes, die Gemeinde verließen. Trotzdem han-
sollte Timotheus das »in Glauben und delten sie feige und untreu, als sie Paulus
Liebe, die in Christus Jesus sind«, tun. in dieser Krisensituation allein ließen.
»Glauben« heißt hier nicht nur Vertrau- Vielleicht waren »Phygelus und Her-
en, sondern auch Abhängigkeit. Zur mogenes« Leiter der Bewegung, die sich
»Liebe« gehört nicht nur die Liebe zu von Paulus absetzen wollte. Jedenfalls
Gott, sondern auch »Liebe« zu den Mit- brachten sie unglaubliche Schande und
christen und der verlorenen Welt. Verachtung über sich selbst, weil sie sich
1,14 »Das schöne anvertraute Gut« ist weigerten, zusammen mit seinem Diener
das Evangelium. Die Botschaft der erlö- die Schmach Christi zu ertragen. Guy
senden Liebe ist Timotheus »anvertraut« Kings Kommentar lautet, daß sie »für
worden. Er soll nichts hinzufügen oder ihre häßlichen Namen nichts konnten,
versuchen, sie zu verbessern. Seine Ver- doch sie konnten ganz sicher etwas für
antwortung ist es, es »durch den Heili- ihren häßlichen Charakter«.
gen Geist, der in uns wohnt« zu bewah- 1,16 Es gibt zwei Ansichten über
ren. Als Paulus diesen Brief schrieb, war »Onesiphorus«. Einige denken, daß auch
er sich des weitverbreiteten Abweichens er Paulus verlassen hatte, und daß des-
vom Glauben bewußt, das die Gemeinde halb der Apostel bete, Gott möge »Barm-
bedrohte. Angriffe auf den christlichen herzigkeit« mit ihm haben. Andere sind
Glauben würden aus vielen verschiede- der Ansicht, daß er als schöne Ausnahme
nen Richtungen kommen. Timotheus derer erwähnt wird, die eben beschrie-
wird ermahnt, treu zum Wort Gottes zu ben worden sind. Wir glauben, daß die
stehen. Er würde das nicht in eigener letztere Ansicht die richtige ist.
Kraft tun müssen. Der in ihm wohnende Paulus bittet den Herrn, daß er »dem
»Heilige Geist« würde alle Mittel bereit- Hause des Onesiphorus Barmherzigkeit«
stellen, die er zur Bewältigung dieser geben möge. »Barmherzigkeit« ist nach
Aufgabe benötigte. Matthäus 5,7 die Belohnung der Barm-
1,15 Als der Apostel an die dunklen herzigen. Uns wird nicht genau gesagt,
Wolken denkt, die über der Gemeinde wie Onesiphorus Paulus »erquickt« hat.

1138
2. Timotheus 1 und 2

Vielleicht brachte er ihm Nahrung und 1,18 Der Apostel betet, daß dieser
Kleidung in das feuchte, finstere Verließ treue Freund »Barmherzigkeit finde an
in Rom. Jedenfalls schämte er sich nicht, jenem Tag«. »Barmherzigkeit« ist hier im
zu Paulus ins Gefängnis zu gehen. Keine Sinne von Belohnung gemeint. »Jener
Sorgen wegen seiner persönlichen Tag« ist, wie schon früher erwähnt, die
Sicherheit konnten ihn abhalten, seinem Zeit, zu der den Gläubigen ihre Beloh-
Freund in Zeiten der Not zu helfen. nung gegeben werden wird, nämlich
Jowett hat das ausgezeichnet ausge- beim Richterstuhl Christi.
drückt: Am Schluß dieses Abschnittes erin-
In diesem Satz des Apostels wird eine nert der Apostel Timotheus daran, wie
wunderschöne Charakterisierung des We- Onesiphorus ihm in Ephesus auf viele
sens des Onesiphorus gegeben: »Er hat sich verschiedene Weise gedient hat.
meiner Ketten nicht geschämt.« … Die Ket-
ten eines Menschen verkleinern oft den Kreis B. Ermahnung zum Ausharren (2,1-13)
seiner Freunde. Die Kette der Armut hält vie- 2,1 »Stark in der Gnade, die in Christus
le Menschen ab, ebenso die Kette der Unbe- Jesus ist«, zu sein bedeutet, mit der Kraft
liebtheit. Wenn ein Mensch überall geehrt mutig zu sein, die Christi »Gnade« uns
wird, hat er viele Freunde. Doch wenn er Ket- gibt, und treu für den Herrn zu arbeiten
ten trägt, dann werden die meisten von ihm mit der unverdienten Befähigung, die
abfallen. Doch die Diener der Morgenkühle uns durch die Vereinigung mit ihm
lieben es, im Schatten der Nacht zu kommen. geschenkt ist.
Es freut sie, im Bereich der Niedergeschla- 2,2 Timotheus soll nicht nur sich
genheit zu dienen, wenn die Ketten am selbst stärken, sondern er soll auch geist-
schwersten auf der Seele liegen. »Er hat sich liche Stärkung für »andere« bieten. Er ist
meiner Ketten nicht geschämt.« Die Ketten verantwortlich, anderen die inspirierten
waren in Wirklichkeit ein Reiz für Onesi- Lehren zu übermitteln, die er vom Apo-
phorus. Sie beschleunigten seinen Schritt stel empfangen hat. Paulus würde schon
8)
und gaben seinem Dienst Dringlichkeit. bald von der Bildfläche verschwinden.
Dieser Vers ist manchmal mißbraucht Er hatte Timotheus treu »in Gegenwart
worden, um das Gebet für die Toten zu vieler Zeugen« gelehrt. Die Zeit des
begründen. Das Argument lautet, daß Dienstes würde für Timotheus im besten
Onesiphorus schon tot war, als Paulus Falle kurz sein, und auch er sollte seinen
dies schrieb, und daß Paulus Gott bat, Dienst so ordnen, daß andere vorbereitet
ihm Barmherzigkeit zu erzeigen. Es gibt wären, ihn als Lehrer weiterzuführen.
jedoch nicht den geringsten Hinweis dar- Dieser Vers unterstützt nicht die Vor-
auf, daß Onesiphorus schon tot war. Die stellung der apostolischen Sukzession.
Verteidiger dieser Ansicht sind törichte Auch bezieht er sich nicht auf die heutige
Schwätzer, die sich an einen Strohhalm Praxis der Pastorenordination. Es han-
klammern, um eine unbiblische Praxis delt sich dagegen einfach um die Anwei-
zu begründen. sung des Herrn an die Gemeinde, eine
1,17 Als Onesiphorus »in Rom war«, Folge kompetenter Lehrer auszubilden.
hatte er mindestens drei Möglichkeiten. Es ist oft darauf hingewiesen, daß in
Erstens konnte er jeden Kontakt mit den diesem Vers vier Generationen von Gläu-
Christen dort meiden. Zweitens hätte er bigen genannt werden, und zwar:
sich mit den Gläubigen im Geheimen 1. Der Apostel Paulus
treffen können. Und schließlich konnte 2. Timotheus und viele Zeugen
er sich selbst tapfer der Gefahr aussetzen, 3. Treue Menschen
indem er Paulus im Gefängnis besuchte. 4. andere.
Dies würde ihn in direkten Kontakt mit Die Schrift betont die Bedeutung der
den Römern bringen. Es spricht für Evangelisation durch jedes Gemeinde-
immer für ihn, daß er das letztere wählte. mitglied. Wenn jeder Gläubige wirklich
Er »suchte« Paulus »eifrig und fand« ihn. seine Aufgabe erfüllen würde, könnte

1139
2. Timotheus 2

die Welt in einer Generation evangeli- angelegenheiten im Hintergrund blei-


siert werden. Doch ist dies angesichts der ben. Kelly sagt: »Sich in den Lebensge-
Perversion des menschlichen Willens schäften verstricken bedeutet, daß wir
rein hypothetisch, und die rivalisieren- die Trennung von der Welt aufgeben,
den Missionsbestrebungen der Weltreli- indem wir unseren Anteil an den All-
gionen und Sekten und anderes tun ihr tagsgeschäften als Partner mit eben die-
9)
übriges, um das zu verhindern. Eines ist ser Welt absolvieren.«
jedoch ganz sicher: Die Christen könnten Ein »Streiter« oder Soldat im Dienst
viel mehr tun, als es ihnen bisher ge- hält sich immer für Befehle vom Haupt-
lungen ist! quartier bereit. Er möchte »dem gefallen,
Man beachte, daß Timotheus die der ihn angeworben hat«. Der Gläubige
Wahrheit »treuen Menschen« anvertrau- ist natürlich vom Herrn angeworben
en soll, d. h. Menschen, die gläubig sind, worden, und unsere Liebe zu ihm sollte
und auf die Verlaß ist. Diese Männer soll- uns dazu bringen, daß wir nur wenig an
ten fähig sein, »auch andere zu lehren«. Irdischem hängen.
Das setzt einige Fähigkeiten im Lehr- 2,5 Nun haben wir das nächste Bild
dienst voraus. vor uns, nämlich das eines Athleten, der
2,3 Es ist oft darauf hingewiesen an einem »Wettkampf teilnimmt«. Um
worden, daß Paulus in diesem Kapitel den Siegespreis zu bekommen, muß er
reichlich Bilder benutzt, um Timotheus »gesetzmäßig« kämpfen, d. h. nach den
zu beschreiben: 1. Sohn (V. 1), 2. Soldat geltenden Regeln. Genauso ist es auch im
(V. 3.4), 3. Athlet (V. 5), 4. Bauer (V. 6), christlichen Dienst. Wieviele fallen schon
5. Arbeiter (V. 15), 6. Gefäß (V. 21) und vor der Ziellinie aus, weil sie dem Wort
7. Knecht (V. 24). Gottes nicht ohne es zu hinterfragen
»Als ein guter Streiter Christi Jesu« gehorchen!
sollte Timotheus an »Leiden« und Här- Welche Regeln gibt es nun in Zusam-
ten teilnehmen. (Eine Liste der vielen menhang mit dem christlichen Dienst?
Leiden, die Paulus selbst erduldet hat, 1. Ein Christ muß selbstdiszipliniert
findet sich in 2. Korinther 11,23-29). leben (1. Kor 9,27).
2,4 Der Soldat wird in diesem Vers als 2. Er darf nicht mit fleischlichen Waffen
Soldat im Dienst beschrieben. Nicht nur kämpfen, sondern muß geistliche be-
das, sondern er steht auch mitten im nutzen (2. Kor 10,4).
Getümmel der Schlacht. Unter solchen 3. Er muß sich rein erhalten.
schwierigen Umständen wird sich kein 4. Er darf nicht eifern, sondern muß
Soldat »in die Beschäftigungen des geduldig sein.
Lebens« verwickeln. Jemand hat einmal gesagt: »Ein Frei-
Bedeutet das, daß wir uns im Dienst zeit-Christ ist ein Widerspruch in sich.
unseres Herrn niemals mit säkularen Das ganze Leben eines Menschen sollte
Dingen beschäftigen sollen? Ganz sicher ein angestrengtes Bestreben sein, das
nicht! Paulus selbst arbeitete als Zeltma- Christentum in jedem Augenblick und in
cher, während er das Evangelium pre- jedem Lebensbereich auszuleben.«
digte und Gemeinden gründete. Er be- 2,6 »Der Ackerbauer, der sich müht,
zeugte, daß er mit seinen eigenen Hän- muß als erster an den Früchten Anteil
den seinen Lebensunterhalt verdient hat. haben.« Nach allen gerechten Prinzipien
Die Betonung liegt hier in dem Wort hat derjenige, der arbeitet, um die Ernte
»verwickelt«. Der Soldat darf nicht zu- einzubringen, das Vorrecht, sie zu ge-
lassen, daß die Alltagsgeschäfte zum nießen.
Hauptsache werden. Z. B. darf er nicht Darby ist zwar der Ansicht, daß dies
den Broterwerb und das Beschaffen von eine mögliche Bedeutung des Verses ist,
Kleidung zu seinem Lebensziel machen. doch ist er der Ansicht, daß es wirklich
Der Dienst Christi muß immer den bedeutet, daß der Bauer arbeiten muß,
ersten Platz haben, während die Alltags- um einen Anteil an der Ernte zu erhalten.

1140
2. Timotheus 2

Deshalb übersetzt er: »Der Ackerbauer Leiden und Tod drohen, werden durch
muß, um die Früchte zu genießen, zuerst die Erinnerung sehr ermutigt, daß sogar
arbeiten« (Elb). Das bewahrt den Gedan- der Herr Jesus selbst die himmlische
ken der Notwendigkeit: Der Streiter muß Herrlichkeit nur über das Kreuz und das
erdulden, der Athlet die Regeln beachten Grab erreichte.
und der Bauer hart arbeiten. 2,9 Paulus saß gefesselt in einem
2,7 Doch steckt hinter diesen drei Bil- römischen Gefängnis, weil er das Evan-
dern des christlichen Dienstes noch mehr gelium verkündet hatte, das in Vers 8
als es oberflächlich scheinen mag. Timo- beschrieben wird. Er wurde als »Übel-
theus wird ermahnt, darüber genauer täter« angesehen, als gewöhnlicher
nachzudenken. Und während er das tut, Krimineller. Er hätte über vieles ent-
10)
betet Paulus, daß der »Herr« ihm »in mutigt sein können. Die Römer wollten
allen Dingen … Verständnis geben« ihn unbedingt umbringen, zudem hatten
möge. Er wird erkennen, daß der christ- sich einige seiner christlichen Freunde
liche Dienst einem Kampf gleicht, einem von ihm abgewendet.
Wettlauf und dem Ackerbau. Jede dieser Und trotz dieser bitteren Umstände
drei Beschäftigungen hat ihre eigenen erhebt sich der fröhliche Geist des Paulus
Anforderungen und bringt ihren eigenen hoch über die Wände seines Gefängnis-
Lohn. ses. Er vergißt seine eigenen schlimmen
2,8 An diesem Punkt erreicht der Aussichten, als er sich daran erinnert,
Apostel den Höhepunkt seiner Reihe daß »das Wort Gottes … nicht gebunden«
von Ermutigungen für den jungen Timo- ist. Wie Lenski so treffend formuliert hat:
theus. Er kommt zum Vorbild des Herrn »Die lebendige Stimme des Apostels mag
Jesus, und es gibt nichts Höheres. Er gibt in seinem eigenen Blut ertränkt werden,
uns das Beispiel des Leidens, auf das die doch was der Herr durch ihn gesagt hat,
Herrlichkeit folgt. »Halte im Gedächtnis hallt noch immer durch die ganze Welt.«
Jesus Christus, auferweckt aus den Auch alle Armeen der Welt können das
Toten, aus dem Samen Davids, nach mei- Wort Gottes nicht behindern. Sie könnten
nem Evangelium.« Hier ist nicht daran genausogut versuchen, den Regen oder
gedacht, daß sich Timotheus an be- den Schnee aufzuhalten (Jes 55,10.11).
stimmte Dinge über den Herrn Jesus erin- Harvey sagt:
nern sollt, sondern eher, daß er sich an Mit unwiderstehlicher göttlicher Energie
seine Person selbst erinnern soll, »aufer- wird es in seiner Siegeskarriere weiterkom-
weckt aus den Toten«. men, auch wenn seine Verteidiger unter Ge-
In gewissem Sinne ist dieser Vers eine fängnis und Märtyrertod leiden. Menschen
kurze Zusammenfassung des Evange- mögen sterben, doch Christus und sein Evan-
liums, das Paulus predigte. Der sprin- gelium leben und siegen durch die Jahr-
12)
gende Punkt des Evangeliums ist die tausende.
Auferstehung des Heilandes. Hiebert 2,10 Wegen der unwiderstehlichen
schreibt: »Nicht die Vorstellung eines Natur des Evangeliums war Paulus ge-
gekreuzigten Jesus sondern eines auf- willt, »alles um der Auserwählten wil-
erstandenen Herrn wird Timotheus vor len« zu erdulden. Das Wort »Auserwähl-
11)
Augen gestellt.« te« steht hier für alle, die von Gott zur
Der Ausdruck »Same Davids« ist die ewigen Errettung erwählt sind. Die Bibel
einfache Aussage, daß Jesus der Christus lehrt zwar, daß Gott Menschen erwählt,
ist, der Nachkomme Davids, in dem die damit sie gerettet werden, doch sagt sie
messianischen Verheißungen Gottes er- nirgends, daß er einige erwählt, verur-
füllt sind. teilt zu werden. Diejenigen, die errettet
Ständige Erinnerung an die Person werden, werden durch die souveräne
des Heilandes und sein Werk ist für jeden Gnade Gottes errettet. Diejenigen, die
wichtig, der ihm dienen möchte. Ins- verloren gehen, gehen verloren, weil sie
besondere diejenigen, denen eventuell es selbst so gewollt haben.

1141
2. Timotheus 2

Niemand sollte mit Gott über die die ihm so in den Tod folgen, werden ihm
Lehre von der Erwählung streiten. Diese auch gleichermaßen in die Auferstehung
Lehre erlaubt es Gott, einfach nur Gott zu folgen.
sein, der unumschränkte Herrscher des 2,12 In gewissem Sinne gilt auch für
Universums, der in Gnade, Gerechtigkeit alle Christen, daß sie »ausharren« und
und Liebe mit den Menschen umgeht. Er auch mit Christus »mitherrschen« wer-
tut niemals etwas unfaires oder un- den. Wahrer Glaube ist immer dauerhaft,
freundliches, sondern er erzeigt uns oft und in diesem Sinne harren alle Gläubi-
Wohlwollen, wo es völlig unverdient ist. gen aus.
Der Apostel erkannte, daß durch sein Doch sollte man auch darauf hinwei-
Leiden um des Evangeliums willen See- sen, daß nicht alle mit Christus im glei-
len errettet würden, und daß genau diese chen Ausmaß regieren werden. Wenn er
Seelen eines Tages an der »ewigen Herr- wiederkommt, um über die Erde zu herr-
lichkeit« mit »Christus Jesus« teilneh- schen, dann werden seine Heiligen mit
men werden. Die Vorstellung, wie schul- ihm wiederkehren und an dieser Herr-
dige Sünder, die von der Gnade Gottes schaft teilhaben. Doch das Ausmaß des
errettet wurden, zusammen mit Christus Herrschens wird für jeden einzelnen
Jesus in der Herrlichkeit weilten, war für durch seine Treue während des gegen-
Paulus ausreichende Inspiration, alles zu wärtigen Lebens bestimmt.
ertragen. Diejenigen, die Christus »verleug-
2,11 Einige Ausleger sind der An- nen«, werden auch von ihm verleugnet
sicht, daß die Verse 11-13 aus einem früh- werden. Hier geht es nicht um eine zeit-
christlichen Lied stammen. Ob das so ist weilige Leugnung des Heilandes unter
oder nicht, sie stellen sicherlich einige Zwang, wie etwa im Falle des Petrus,
feststehende Prinzipien über die Bezie- sondern um eine dauernde gewohnheits-
hung des Menschen zum Herrn Jesus mäßige Leugnung. Diese Worte beschrei-
Christus dar. Hiebert schreibt: »Die zen- ben einen Ungläubigen – einen, der nie
trale Wahrheit dieser Kernaussagen ist, zum Glauben an den Herrn Jesus gekom-
daß Glauben an Christus den Gläubigen men ist. Alle diese Menschen werden
mit Christus in allem identifiziert, und eines Tages vom Herrn verleugnet wer-
genauso sicher Unglaube die Menschen den, ganz gleich, wie fromm ihr Bekennt-
13)
von ihm trennt.« Dies ist das vierte nis auch gewesen sein mag.
»gewisse Wort« in den Paulusbriefen an 2,13 Dieser Vers beschreibt ebenfalls
Timotheus. Ungläubige. Dinsdale Young erklärt:
Das erste Prinzip lautet, daß wir, »Gott kann sich nicht selbst widerspre-
wenn wir mit Christus »mitgestorben chen. Es würde seinem Charakter wider-
sind, … wir auch mitleben« werden. Das sprechen, wenn er Gläubige und Ungläu-
gilt für jeden Gläubigen. Im geistlichen bige gleich behandeln würde. Das ist
Sinne sind wir in dem Augenblick mit nicht der Fall. Wenn Menschen ›untreu‹
ihm »mitgestorben«, als wir auf ihn als sind, so muß er seinem Charakter doch
unseren Erretter vertrauten. Wir wurden ›treu‹ bleiben und sie entsprechend be-
14)
mit ihm begraben und wir sind mit ihm handeln.«
von den Toten auferstanden. Christus Man sollt die Worte nicht so interpre-
starb als unser Repräsentant oder Stell- tieren, daß sie lehren, daß Gottes Treue
vertreter. Wir hätten für unsere Sünden sich darin zeige, daß er diejenigen erhält,
sterben sollen, doch Christus starb an die nicht glauben. Das ist nicht der Fall.
unserer Statt. Gott hält uns für »mitge- Wenn Menschen nicht glauben, so muß
storben«, und das bedeutet, daß wir auch er seinem eigenen Charakter »treu« blei-
mit ihm im Himmel »mitleben« werden. ben und sie entsprechend behandeln.
Vielleicht kann man diesen Vers auch Wie Van Oosterzee sagt: »Er ist seinen
auf die Menschen anwenden, die als Drohungen ebenso treu wie seinen Ver-
15)
christliche Märtyrer sterben. Diejenigen, heißungen.«

1142
2. Timotheus 2

III. Glaube kontra Abfall (2,14-4,8) recht zu verwalten und sie nicht zu ver-
17)
fälschen«.
A. Treue zum wahren Christentum 2,16 »Die unheiligen, leeren Ge-
(2,14-26) schwätze« sind Lehren, die respektlos,
2,14 Timotheus soll »dies in Erinnerung böse und nutzlos sind. Sie nützen dem
bringen«, d. h. den Inhalt der Verse 11-13. Volk Gottes nicht und sollten geächtet
Doch wem soll Timotheus das »in Erin- werden. Timotheus wird nicht beauf-
nerung bringen«? Er bezieht sich sicher- tragt, diese Lehren zu bekämpfen, son-
lich ganz allgemein auf die Zuhörer des dern sie mit Verachtung zu behandeln
Timotheus und im besonderen auf dieje- und sie nicht durch seine Beachtung auf-
nigen, die versucht haben, Irrlehren ein- zuwerten.
zuführen. Dies geht aus dem Rest des Ein schlimmes Merkmal dieser
Verses hervor, wo diejenigen, die offen- Schwätzer ist es, daß sie niemals stehen-
sichtlich die Stellung von Lehrern oder bleiben. Sie »schreiten« in ihrer »Gottlo-
Predigern einnahmen, gewarnt werden, sigkeit« immer weiter »fort«. Das gilt für
keinen »Wortstreit« zu »führen«. Offen- alle Formen des Irrtums. Diejenigen, die
sichtlich gab es solche in Ephesus, die Irrtümer lehren, müssen immer noch
großes Gerede über die theoretische Be- etwas hinzufügen. Das erklärt die neuen
deutung von bestimmten Worten mach- Dogmen und Verkündigungen, die stän-
ten. Statt die Heiligen in der Wahrheit dig von falschen religiösen Systemen
des Wortes Gottes aufzuerbauen, unter- verkündigt werden. Man braucht kaum
minierten sie nur den Glauben einiger, zu sagen, daß die Ergebnisse, je mehr
die ihnen zuhörten. diese Irrlehren ausgeführt werden,
Dinsdale Young warnt: immer noch »zu weiterer Gottlosigkeit
Es ist so einfach, ein theologischer Gries- fortschreiten«.
gram zu werden – wir werden so schnell von 2,17 Die Art, wie sich Irrlehre ausbrei-
Fragen vereinnahmt, die fast bedeutungslos tet, wird mit »Krebs« verglichen. Die
sind. Das Leben ist zu kurz und wir haben zu meisten von uns wissen nur zu gut, wie
viel zu tun, um unseren Verstand und unser diese gefürchtete Krankheit sich schnell
Herz an Dinge zu verschwenden, die den im menschlichen Körper ausbreitet und
Charakter nicht bilden. überall, wo sie hinkommt, Gewebe zer-
Wenn eine Welt auf Evangelisation war- stört.
tet, dann bekommt es uns schlecht, ständig Das Wort Krebs kann auch mit
irgendwelche lehrmäßigen Seitenpfade zu »Brand« übersetzt werden. Brand ist die
betreten. Wir sollten uns an die großen Bezeichnung der Verwesung, die auftritt,
Straßen halten. Wir sollten an den großen wenn ein Teil des Körpers von der nor-
Wahrheiten festhalten. Wir sollten das malen Blutzirkulation und Versorgung
Wesentliche betonen, nicht Nebensächlichkei- mit Nährstoffen abgeschnitten ist.
ten. Wir sollten nicht den Opfern der Panik An anderen Stellen des NT wird Irr-
nacheifern, die in den Tagens Schamgars und lehre mit Sauerteig verglichen, der, wenn
Jaels lebten, die die großen Straßen unbesetzt es ihm gestattet wird, sich auszubreiten,
16)
ließen, und über Nebenwege gingen. schließlich das gesamte Mehl infiziert.
2,15 Timotheus sollte »danach stre- Zwei Männer werden namentlich ge-
ben«, sich »Gott bewährt zur Verfügung nannt, deren Lehren die Gemeinde zer-
zu stellen«. Er sollte seine Bemühungen störten. Es waren »Hymenäus und Phile-
darauf konzentrieren, ein »Arbeiter zu tus«. Weil sie das Wort der Wahrheit nicht
werden, der sich nicht zu schämen hat«. recht behandelten, kamen sie zusammen
Dies konnte er tun, indem er »das Wort mit anderen auf Gottes Schandliste.
der Wahrheit in gerader Richtung« 2,18 Ihre Irrlehre wird hier bloßge-
schnitt. Dieser letzte Ausdruck bedeutet, stellt. Sie erzählten den Menschen, »die
die Schrift recht zu behandeln, oder, wie Auferstehung« sei »schon geschehen«.
Alford es ausgedrückt hat, »die Wahrheit Vielleicht meinten sie damit, daß jemand,

1143
2. Timotheus 2

wenn er erlöst und zur Neuheit des heißung Gottes, den christlichen Glau-
Lebens mit Christus auferweckt worden ben oder auf die Lehre von der Erwäh-
war, das die einzige Auferstehung sei, lung. Doch ist es nicht eindeutig, daß der
die er erwarten konnte. Mit anderen »Grund Gottes« alles ist, was unser Herr
Worten, sie vergeistlichten die Auferste- tut? Wenn er sein Wort aussendet, so
hung und spotteten über die Idee einer kann nichts es hindern. Hamilton Smith
wörtlichen Auferstehung des Leibes aus sagt: »Kein Versagen des Menschen kann
dem Grab. Paulus erkannte dies als den Grund verrücken, den Gott gelegt
ernsthafte Bedrohung der Wahrheit des hat, oder Gott davon abhalten, das zu
Christentums. vollenden, was er begonnen hat … Dieje-
Hamilton Smith schreibt: nigen, die dem Herrn gehören, mögen
Wenn die Auferstehung schon der Ver- zwar in der Masse untergehen, doch sie
gangenheit angehört, dann haben die Heili- können nicht endgültig verloren
19)
gen ihren Endzustand schon auf Erden gehen.«
erreicht. Damit hört die Gemeinde auf, die Der »Grund Gottes« hat ein zweifa-
Wiederkunft des Herrn zu erwarten, sie ver- ches »Siegel«. Es gibt sowohl eine göttli-
liert die Wahrheit ihrer himmlischen Bestim- che als auch eine menschliche Seite. Von
mung und gibt ihren Charakter als Fremde der göttlichen Seite aus lautet das Siegel:
und Pilger auf. Nachdem die Gemeinde ihren »Der Herr kennt, die sein sind.« Er
himmlischen Charakter verloren hat, läßt sie »kennt« sie, nicht nur in dem Sinne, daß
sich auf Erden nieder und nimmt Teil am er sie wiedererkennt, sondern er liebt sie
System zur Verbesserung und Beherrschung und erkennt sie an. Lenski sagt, er kenne
18)
der Welt. sie mit »umfassender und effektiver Lie-
20)
Indem sie »den Glauben mancher« be«. Die menschliche Seite des »Sie-
zerstörten, verdienten sich diese Männer gels« lautet: »Jeder, der den Namen des
einen sehr unangenehmen Eintrag in Herrn nennt, stehe ab von der Ungerech-
Gottes ewigem Buch. tigkeit!« Mit anderen Worten, diejenigen,
2,19 Wenn Paulus an Hymenäus und die sich zu Christus bekennen, können
Philetus denkt und an ihre Irrlehre, so die Echtheit ihres Bekenntnisses durch
erkennt er von neuem, welch finstere ihr geheiligtes und gottesfürchtiges Le-
Tage auf die Gemeinde zukommen. Un- ben beweisen. Der echte Christ sollte mit
gläubige sind in die Ortsgemeinde auf- »Ungerechtigkeit« nichts zu tun haben.
genommen worden. Das geistliche Leben Ein Siegel ist ein Zeichen des Eigentü-
ist auf solch einem Tiefstand angelangt, mers und auch ein Zeichen für Garantie
daß es oft schwer ist, echte Christen von und Sicherheit. So zeigt das Siegel auf
Namenschristen zu unterscheiden. Die Gottes »Grund«, daß er diejenigen be-
Christenheit ist zu einer gemischten sitzt, die echte Gläubige sind. Das Siegel
Menge geworden, und die daraus fol- ist auch eine Garantie dafür, daß alle, die
gende Verwirrung ist verheerend. sich bekehrt haben, die Echtheit ihres
Inmitten solcher Bedingungen findet neuen Lebens beweisen werden, indem
Paulus Trost in der Versicherung, daß sie sich von Ungerechtigkeit fernhalten.
»der feste Grund Gottes steht«. Das be- 2,20 Unsere Auslegung des hier ver-
deutet, daß alles, was von Gott selbst ein- wendete Bildes lautet, daß das »große
gesetzt worden ist, trotz allen Nieder- Haus« die allgemeine Christenheit ist. Im
gangs der Namenschristenheit bestehen weiteren Sinne verstanden, gehören zur
bleiben wird. Christenheit Gläubige und Namenschri-
Es sind verschiedene Erklärungen sten – diejenigen, die wirklich wiederge-
dafür angeboten worden, was mit dem boren sind und diejenigen, die sich nur
»festen Grund Gottes« gemeint ist. Eini- äußerlich zum christlichen Glauben be-
ge sind der Ansicht, daß es sich um die kennen.
wahre Gemeinde handelt. Andere sagen, »Goldene und silberne Gefäße«
der Ausdruck beziehe sich auf die Ver- wären demnach die echten Gläubigen.

1144
2. Timotheus 2

»Hölzerne und irdene« Gefäße be- unmöglich, ohne sein christliches Zeug-
zieht sich nicht im allgemeinen auf nis aufzugeben, weil die Christenheit alle
Ungläubige, sondern insbesondere auf einschließt, die sich in irgendeiner Weise
diejenigen, die schlechte Arbeiter sind zu Christus bekennen. Doch geht es hier
und Irrlehren verbreiteten, wie etwa um die Trennung von Übeltätern und
Hymenäus und Philetus (V. 17). darum, die Verbreitung von Irrlehren zu
Man sollte zu diesen Gefäßen be- verhindern.
stimmte Dinge anmerken. Zunächst ein- Wenn jemand sich von bösen Verbin-
mal gibt es eine wichtige Unterschei- dungen fernhält, so wird er »ein Gefäß
dung der Materialien, aus denen die Ge- zur Ehre sein«. Gott kann in seinem hei-
fäße gemacht sind. Zweitens gibt es ligen Dienst nur reine Gefäße verwen-
unterschiedliche Arten, diese Gefäße zu den. »Haltet euch rein, die ihr die Geräte
gebrauchen. Und schließlich unterschei- des Herrn tragt!« (Jes 52,11, ER Anm.).
den sie sich in ihrem endgültigen Schick- Solch ein Mensch wird auch »geheiligt«
sal. Die hölzernen und irdenen Gefäße sein in dem Sinne, daß er vom Bösen für
werden irgendwann weggeworfen, doch den Dienst Gottes ausgesondert wird. Er
die goldenen und silbernen werden ihres wird »nützlich dem Hausherrn« sein –
Wertes wegen behalten. eine Eigenschaft, die von allen angestrebt
Der Ausdruck »einige zur Ehre, die werden sollte, die den Herrn lieben.
anderen zur Unehre« ist verschieden Schließlich wird er noch »zu jedem guten
interpretiert werden. Einige sind der An- Werk bereitet« sein. Er wird jederzeit
sicht, daß »Unehre« einfach weniger bereit sein, sich gebrauchen zu lassen,
Ehre bedeutet. In diesem Falle würden und zwar auf die Weise, wie sein Herr es
alle Gefäße für echte Gläubige stehen, wünscht.
wobei einige für ehrenvollere und ande- 2,22 Doch Timotheus soll sich nicht
re für bescheidenere Aufgaben benutzt nur von bösen Menschen absondern,
werden. Andere sind der Ansicht, daß sondern sich auch von den »jugend-
die Gefäße »zur Ehre« sich auf Männer lichen Lüsten« trennen. »Jugendliche
wie Paulus und Timotheus bezieht, wäh- Lüste« kann sich nicht nur auf leibliches
rend die »zur Unehre« sich auf solche Verlangen beziehen, sondern auch auf
Männer wie Hymenäus und Philetus das Streben nach Geld, Ruhm und Ver-
beziehen. gnügen. Auch kann Eigenwille, Unge-
2,21 Die Interpretation dieses Verses duld, Stolz und Leichtfertigkeit dazu
beruht größtenteils darauf, was man gehören. Wie wir schon erwähnt haben,
unter »diesen« versteht: »Wenn nun je- war Timotheus wahrscheinlich zu dieser
mand sich von diesen reinigt.« Bezieht Zeit fünfunddreißig Jahre alt. Deshalb
sich »diesen« auf die Gefäße aus Holz sind mit »jugendlichen Lüsten« nicht
und Ton? Oder bezieht es sich auf die Irr- unbedingt die Lüste gemeint, die für Tee-
lehren, die weiter oben in dem Kapitel nager charakteristisch sind, sondern um-
erwähnt wurden? Oder bezieht es sich in faßt auch alle unheiligen Gelüste, die
allgemeiner Weise auf böse Menschen? sich einem jungen Diener des Herrn bie-
Die natürlichste Bedeutung ist wohl, ten mögen und ihn von seinem Pfad der
wenn wir »diesen« mit den Gefäßen zur Reinheit und Gerechtigkeit abbringen
Unehre gleichsetzen. Timotheus wird wollen.
aufgefordert, sich von bösen Menschen Timotheus soll nicht nur »fliehen«,
zu trennen und insbesondere von sol- sondern auch nachfolgen. Es gibt immer
chen Irrlehrern, wie Paulus sie eben ge- eine negative und eine positive Seite.
nannt hat – Hymenäus und Philetus. Er soll »nach Gerechtigkeit« streben.
Timotheus wird nicht aufgefordert, Das bedeutet einfach, daß sein Umgang
die Gemeinde zu verlassen. Auch wird er mit Menschen, ob sie nun errettet oder
nicht aufgefordert, das Christentum als unerlöst sind, immer von Ehrlichkeit, Ge-
solches zu verlassen. Dies wäre für ihn rechtigkeit und Fairness geprägt sein soll.

1145
2. Timotheus 2 und 3

»Glaube« kann auch Treue oder abso- sein und Menschen eher mit dem Vorsatz
lute Integrität bedeuten. Andererseits gegenübertreten, sie zu belehren, als eine
kann es hier auch um ständige Abhän- Diskussion zu gewinnen. Er muß »lehr-
gigkeit vom Herrn gehen. Hiebert defi- fähig« gegenüber denjenigen sein, die
niert hier mit »echtem und dynamischen nur langsam verstehen, und auch gegen-
21)
Vertrauen auf Gott«. über denen, die anscheinend nicht ge-
»Liebe« kann hier nicht auf Liebe zu willt sind, die Wahrheit des Wortes Got-
Gott beschränkt werden, sondern muß tes anzunehmen.
auch die Liebe zu den Geschwistern und 2,25 Der Knecht des Herrn muß
zu einer Welt verlorener Sünder ein- »duldsam« und demütig sein, wenn er
schließen. Liebe denkt immer an den an- mit Widerstand zu tun hat. Wer sich vor
deren, sie ist im Wesentlichen selbstlos. dem Wort Gottes nicht beugt, tut seiner
»Friede« beinhaltet die Vorstellung eigenen Seele unrecht. Solche Menschen
von Harmonie und Verträglichkeit. müssen korrigiert werden, damit sie
Diese Tugenden sollen »mit denen, nicht unwissend in der falschen Vorstel-
die den Herrn aus reinem Herzen anru- lung weitermachen, daß ihre Ansicht
fen«, befolgt werden. Genauso wie Timo- biblisch sei.
theus in Vers 21 aufgefordert wurde, sich »Ob ihnen Gott nicht etwa Buße gebe
von bösen Menschen zu trennen, so wird zur Erkenntnis der Wahrheit.« Auf den
er hier gelehrt, sich mit Christen zusam- ersten Blick mag es scheinen, daß hier
menzutun, die in Reinheit vor dem Gottes Bereitschaft in Frage gestellt wird,
Herrn wandeln. Er soll die Tugenden diesen Menschen Vergebung zu gewäh-
eines christlichen Lebens nicht in Isolati- ren. Das ist jedoch nicht der Fall. Tatsa-
on üben, sondern soll seinen Platz als che ist, daß Gott nur darauf wartet, ihnen
Glied am Leib einnehmen, und versu- zu vergeben, wenn sie nur in Bekenntnis
chen, mit den anderen Gliedern zum und Buße zu ihm kommen. Gott würde
Guten des Leibes zusammenzuarbeiten. nie Menschen an der Buße hindern; doch
2,23 Im Laufe seines christlichen Menschen sind oft nur so wenig bereit
Dienstes würde Timotheus oft mit dum- zuzugeben, daß sie sich geirrt haben.
men und unwichtigen Fragen konfron- 2,26 Der Diener des Herrn sollte so
tiert werden. Solche Fragen entspringen mit irrenden Menschen umgehen, daß
einem unwissenden und ungelehrten »sie wieder aus dem Fallstrick des Teu-
Geist und sind völlig nutzlos. Solche fels heraus nüchtern werden«. Sie sind
»Streitfragen« sollten zurückgewiesen »von ihm für seinen Willen gefangen
werden, weil sie nur »Streitigkeiten er- worden«, und zwar indem sie von ihm
zeugen«. bezaubert oder berauscht worden sind.
Man braucht eigentlich kaum zu er-
wähnen, daß es hier nicht um Fragen B. Der kommende Abfall (3,1-13)
großer grundsätzlicher Wahrheiten des 3,1 Der Apostel gibt Timotheus nun eine
christlichen Glaubens geht, sondern eher Beschreibung von Bedingungen, die
um törichte Problemstellungen, mit kurz vor der Wiederkehr des Herrn auf
denen man nur Zeit verschwendet und der Welt herrschen werden. Es ist oft dar-
Verwirrung stiftet. auf hingewiesen worden, daß die Sün-
2,24 Der »Knecht des Herrn« hier ist denliste, die hier folgt, sehr ähnlich der
wörtlich der Sklave des Herrn. Es ist sehr Beschreibung des gottlosen Heiden in
passend, daß dieser Titel in einem Vers Römer 1 ist. Bemerkenswert ist, daß
verwendet wird, in welchem zu Liebens- genau die Bedingungen, die unter den
würdigkeit und Geduld ermutigt wird. Heiden in ihrem wilden und unzivili-
Obwohl ein Knecht des Herrn für die sierten Zustand herrschen, die Namens-
Wahrheit einstehen muß, darf er doch christen »in den letzten Tagen« kenn-
nicht zänkisch oder streitsüchtig sein. Er zeichnen werden. Das ist wirklich sehr
muß statt dessen »milde … gegen alle« bedauerlich!

1146
2. Timotheus 3

Der Ausdruck »die letzten Tage« »Aufgeblasen« – Nutzlos etwas vor-


bezieht sich auf die Tage zwischen der spiegeln, eingebildet.
apostolischen Zeit und der Erscheinung »Mehr das Vergnügen liebend als
Christi, um sein Reich zu errichten. Gott« – Diejenigen, die das sinnliche
3,2 Man kann diese Verse nicht stu- Vergnügen lieben, aber Gott nicht.
dieren, ohne auf die Wiederholung des 3,5 Äußerlich scheinen diese Men-
Wortes »liebend« zu stoßen. In Vers 2 fin- schen religiös zu sein. Sie bekennen sich
den wir z. B. die Selbstliebe und die zwar äußerlich zum Christentum, doch
Geldliebe. In Vers 3 werden Menschen ihre Taten sprechen lauter als ihre Worte.
»das Gute nicht liebend« erwähnt. In Durch ihr gottloses Verhalten zeigen sie,
Vers 4 lesen wir von Menschen »mehr daß sie in der Lüge leben. Es gibt keine
das Vergnügen liebend als Gott«. Anzeichen der Macht Gottes in ihrem
In den Versen 2-5 finden wir 19 Eigen- Leben. Sie mögen sich zwar in gewisser
schaften der Menschheit während der Weise verändert haben, doch sind sie
letzten Tage. Wir listen sie einfach auf nicht wiedergeboren. Weymouth über-
und geben Synonyme an, die ihre Bedeu- setzt: »Sie halten eine vorgetäuschte
tung erklären: Frömmigkeit aufrecht und schließen
»Selbstsüchtig« – Egoistisch, einge- doch ihre Kraft aus.« Ähnlich Moffatt:
bildet, sich um sich selbst drehend. »Obwohl sie äußerliche Formen der Reli-
»Geldliebend« – Geldgierig, hab- gion einhalten, haben sie mit ihrer Kraft
süchtig. nichts zu tun.« Phillips drückt es so aus:
»Prahlerisch« – Angeber, die groß- »Sie halten eine fromme Fassade auf-
spurig daherreden. recht, doch ihr Verhalten leugnet deren
»Hochmütig« – Arrogant, anmaßend, Echtheit.« Sie wollen religiös sein und
hochnäsig. gleichzeitig an ihren Sünden festhalten
»Lästerer« – Menschen, die böse re- (vgl. Offb 3,14-22). Hiebert warnt: »Wir
den, die gewöhnliche, gewalttätige, ver- haben es hier mit dem schrecklichen Por-
dorbene verächtliche oder beleidigende trät einer abgefallenen Christenheit zu
Sprache benutzen. tun, mit Neuheidentum, das sich als
22)
»Den Eltern ungehorsam« – Rebel- Christentum verkleidet.«
lisch, unzuverlässig, ungezogen. »Von« solchen Leuten soll Timotheus
»Undankbar« – Die Leistung anderer sich »wegwenden«. Sie sind die Gefäße,
nicht anerkennend. die im vorhergehenden Kapitel beschrie-
»Unheilig« – Unfromm, gottesläster- ben werden, von denen er sich reinigen
lich, respektlos, nichts für heilig halten. soll.
3,3 »Lieblos« – Hartherzig, gefühllos, 3,6 Unter den verdorbenen Menschen
auf unnatürliche Weise herzlos. der letzten Tage macht Paulus nun eine
»Unversöhnlich« – Sich weigern, Frie- besondere Gruppe aus, nämlich die Lei-
den zu schließen, Versöhnungsversuche ter und Lehrer von Sekten. Diese aus-
ablehnen, verbittert. führliche Beschreibung ihres Charakters
»Verleumder« – Böse und übelwol- und ihrer Methoden findet seine Erfül-
lende Berichte weitergeben. lung in den Sekten unserer Tage.
»Unenthaltsam« – Menschen ohne Zunächst einmal lesen wir, daß sie
Selbstzucht, zügellos, ausschweifend. sich »in die Häuser schleichen«. Es ist
»Grausam« – Ohne Prinzipien, wild. kein Zufall, daß diese Beschreibung uns
»Das Gute nicht liebend« – Wer alles an die Bewegung einer Schlange er-
Gute haßt, dem Guten in jeder Form innert. Wenn sie ihre echte Herkunft
widerstrebend. preisgeben würden, dann könnten sie
3,4 »Verräter« – Menschen, denen nicht in so viele Familien eindringen,
kein Versprechen heilig ist. doch sie benutzen dazu verschiedene
»Unbesonnen«–Rücksichtslos, eigen- geschickte Mittel, etwa sprechen sie von
willig, voreilig. Gott, der Bibel und von Jesus, auch

1147
2. Timotheus 3

wenn sie nicht glauben, was die Schrift Sekten immer wieder sagen »Ich lerne
über diese lehrt. …« wobei sie dann den Namen der Sekte
Als nächstes wird gesagt, daß sie nennen. Sie können niemals davon spre-
»lose Frauen verführen«. Das ist charak- chen, daß sie die Erlösung durch den
teristisch. Sie planen ihre Besuche, wenn Glauben an Jesus Christus erlangt haben.
der Ehemann auf Arbeit oder sonstwie Dieser Vers läßt uns auch an die heu-
abwesend ist. Die Geschichte wiederholt tige Wissensexplosion in allen Bereichen
sich. Satan näherte sich Eva im Garten menschlicher Forschung denken, den
Eden und betrog sie. Sie maßte sich Auto- großen Wert, den man heutzutage auf
rität über ihren Mann an, indem sie eine Bildung legt, und doch so sehr dabei ver-
Entscheidung traf, die ihm hätte überlas- sagt, die Menschen zur Erkenntnis der
sen werden sollen. Die Methoden Satans Wahrheit zu führen.
haben sich nicht geändert. Er nähert sich 3,8 Drei Menschenpaare werden in
den Frauen noch immer mit seinen Irr- diesem Brief genannt:
lehren und verführt sie. Diese Frauen Phygelus und Hermogenes (1,15), die
sind in dem Sinne lose, daß sie schwach sich der Wahrheit schämten.
und unsicher sind. Ihnen fehlt es nicht an Hymenäus und Philetus (2,17.18), die
Verstand, sondern an Widerstandskraft. sich über die Wahrheit irrten.
Sie werden beschrieben als »mit Sün- »Jannes und Jambres« (3,8), die der
den beladen«. Das bedeutet zunächst Wahrheit widerstanden.
einmal, daß sie unter einem Schuldge- In diesem achten Vers kehrt Paulus
fühl leiden und etwas in ihrem Leben zu den Führern und Lehrern von Irrleh-
fehlt. Genau zu solch schwierigen Zeiten ren zurück. Er vergleicht sie mit »Jannes
erscheinen die Sektenprediger. Wie und Jambres, die Mose widerstanden«.
schlimm ist es doch, daß diejenigen, die Eigentlich werden ihre Namen im AT
die Wahrheit des Wortes Gottes kennen, nicht erwähnt, doch allgemein versteht
nicht eifriger versuchen, diese suchen- man darunter die beiden ägyptischen
den Seelen zu erreichen. Zweitens lesen Zauberer, die vom Pharao herbeigerufen
wir, daß sie »von mancherlei Begierden wurden, um die Wunder nachzuahmen,
getrieben werden«. Weymouth versteht die von Mose vollführt wurden.
darunter, daß sie »von immer anderen Es erhebt sich die Frage, wie Paulus
Launen geleitet« sind. Es geht hier wohl ihre Namen kennen konnte. Das sollte
darum, daß sie sich ihrer Sünden bewußt eigentliche keine Schwierigkeit sein,
sind und Befreiung davon suchen, und denn wenn sie nicht durch die jüdische
deshalb bereit sind, sich selbst jedem Tradition überliefert wurden, so könnte
vorbeikommenden Wind einer Lehre Gott ihm ihre Namen offenbart haben.
auszusetzen und jede religiöse Modetor- Wichtig daran ist, daß sie »Mose
heit mitmachen. widerstanden«, indem sie seine Wunder
3,7 Der Ausdruck »immer lernen« nachahmten. Genau dasselbe gilt für die
bedeutet nicht, daß sie ständig mehr über Sektenführer. Sie widerstehen dem Werk
den Herrn Jesus und das Wort Gottes ler- Gottes, indem sie es nachahmen. Sie ha-
nen. Es bedeutet statt dessen, daß sie von ben ihre eigene Bibel, ihren eigenen Erlö-
einer Sekte zur anderen rennen, doch sungsweg – kurz, sie haben einen Ersatz
»niemals zur Erkenntnis der Wahrheit für jede Einzelheit des Christentums. Sie
kommen können«. Der Herr Jesus selbst widerstehen der Wahrheit Gottes, indem
ist die Wahrheit. Diese Frauen kommen sie eine billige Verdrehung davon anbie-
ihm zeitweilig scheinbar nahe, doch sie ten und manchmal auch okkulte Fähig-
werden vom Feind ihrer Seelen gefangen keiten mit heranziehen.
genommen und erlangen nie die Ruhe, Wenn ihr christlicher »Glaube« er-
die wir im Heiland finden können. probt wird, so findet man heraus, daß er
Man sollte an dieser Stelle anmerken, »unbewährt« und unecht ist. Am ein-
daß die Mitglieder der verschiedenen fachsten kann man diesen Glauben prü-

1148
2. Timotheus 3

fen, indem man ihnen eine einfache Fra- Die »Lehre« des Apostels entsprach
ge stellt: »Ist Jesus Christus Gott?« Viele dem Wort Gottes und er war der Person
von ihnen versuchen, ihre Irrlehre zu des Herrn Jesus Christus treu. Sein
verbergen, indem sie zugeben, daß Jesus »Lebenswandel« oder Verhalten stimmte
der Sohn Gottes ist, doch sie meinen mit der Lehre überein, die er predigte.
damit, daß er nur in dem Sinne Sohn Sein »Vorsatz« oder Ziel im Leben war es,
Gottes ist, in dem es auch andere Men- sich von moralischen und lehrmäßigen
schen sind. Doch wenn sie mit der Frage Übeln fernzuhalten. »Glaube« bedeutet
konfrontiert werden: »Ist Jesus Christus hier das Vertrauen des Paulus auf den
Gott?«, dann zeigen sie, wer sie wirklich Herrn, seinen eigenen persönlichen Glau-
sind. Sie leugnen nicht nur die Gottheit ben. Timotheus wußte, daß Paulus ganz
Jesu Christi, sondern werden oft auch vom Herrn abhängig und gleichzeitig
ärgerlich, wenn man sie so herausfor- ehrlich und vertrauenswürdig war. Die
dert. Das gilt für die Christliche Wissen- »Langmut« des Apostels sah man an sei-
schaft, die Christadelphier, die Zeugen ner Haltung gegenüber seinen Verfolgern
Jehovas und andere christliche Sekten. und Kritikern, und gegenüber leiblichen
3,9 Paulus versichert Timotheus, daß Leiden. Seine »Liebe« drückte sich in
diese Irrlehrer »nicht weiter vorwärts- selbstloser Hingabe an den Herrn und an
kommen« werden. Die Schwierigkeit seine Mitmenschen aus. Je weniger ande-
hier ist, daß sie in jedem Zeitalter überall re ihn liebten, desto entschlossener war
so erfolgreich zu sein scheinen, und er, selbst zu lieben. »Ausharren« heißt
scheinbar nichts ihren Erfolg behindert! wörtlich »unter einer Last bleiben«, d. h.,
Die mögliche Bedeutung ist, daß jede daß dazu Stärke und Geduld nötig ist.
Irrlehre eines Tages entlarvt wird. Irrleh- 3,11 Einige der »Verfolgungen« und
ren kommen und gehen, eine nach der »Leiden« (oder Anfechtungen) des Pau-
anderen. Obwohl sie so sehr zu florieren lus werden in 2. Korinther 11,23-28 be-
scheinen, kommt doch eine Zeit, an der schrieben. Doch denkt er besonders an die
ihr Irrtum allen bekannt wird. Sie kön- Verfolgungen und Leiden, mit denen Ti-
nen Menschen bis zu einem bestimmten motheus persönlich vertraut war. Weil die
Punkt führen und sogar ein gewisses Heimatstadt des Timotheus »Lystra« war,
Maß an Verbesserung bringen. Doch wußte er über die »Verfolgungen« Be-
können sie keine Wiedergeburt bieten. scheid, die Paulus dort und in den Nach-
Sie können dem Menschen keine Freiheit barstädten »Antiochia« und »Ikonium«
von der Strafe und der Macht der Sünde erlitt. Den inspirierten Bericht dieser Lei-
anbieten. Sie können kein Leben geben. den finden wir in der Apostelgeschichte –
Jannes und Jambres konnten Mose Antiochia in Apostelgeschichte 13,45.50;
bis zu einem bestimmten Punkt mit ihrer Ikonium in Apostelgeschichte 14,3-6; und
Magie nachahmen. Doch als es darum Lystra in Apostelgeschichte 14,19.20.
ging, Leben aus toter Materie hervorzu- Paulus freut sich der Tatsache, daß
bringen, waren sie ausgesprochen »der Herr« ihn aus allen diesen Verfol-
machtlos. Genau an dieser Stelle ver- gungen »gerettet« hat. Der Herr hatte ihn
sagen alle Irrlehren. nicht vor diesen Anfechtungen errettet,
3,10 In deutlichem Gegensatz zu die- sondern »aus« ihnen. Das ist eine Erinne-
sen Irrlehrern stand das Leben und der rung für uns, daß uns kein Leben ohne
Dienst des Paulus. Timotheus war sich Schwierigkeiten verheißen ist, sondern
sehr wohl der guten Eigenschaften be- daß der Herr bei uns ist und uns durch
wußt, die diesen Diener des Herrn cha- die Probleme hindurch begleitet.
rakterisierten. Er hatte eng mit Paulus 3,12 Verfolgung gehört zu einem hin-
zusammengearbeitet und konnte von gegebenen christlichen Leben dazu. Es
der Tatsache Zeugnis ablegen, daß es ist gut, jeden jungen Timotheus daran zu
sich hier um einen Mann handelte, der erinnern. Andernfalls mag es sein, wenn
Christus und seinem Wort treu war. er berufen ist, durch tiefe Wasser zu

1149
2. Timotheus 3

gehen, daß er versucht ist zu glauben, sagt werden, daß solche Lehren altmo-
daß der Herr ihn verlassen hat oder daß disch oder nicht kultiviert oder intellek-
der Herr aus irgendeinem Grunde an tuell genug seien. Doch sollte er die
ihm kein Gefallen mehr hat. Tatsache ist Wahrheit nicht für Theorien oder
jedoch, daß Verfolgung für alle, »die menschliche Spekulationen eintauschen.
gottesfürchtig leben wollen in Christus Der Apostel rät ihm weiter, sich daran
Jesus«, unausweichlich ist. zu erinnern, »von wem« er diese Wahr-
Der Grund für diese Verfolgung ist heiten »gelernt« hatte. Es gibt Meinungs-
einfach. Ein »gottesfürchtiges« Leben verschiedenheiten darüber, ob Paulus mit
stellt heraus, wie böse die anderen leben. »wem« sich selbst meint, die Mutter und
Menschen mögen es nicht, wenn sie auf Großmutter des Timotheus oder die Apo-
diese Art bloßgestellt werden. Statt über stel im allgemeinen. Jedenfalls geht es
ihrer Gottlosigkeit Buße zu tun und sich hier darum, daß ihm die Heilige Schrift
Christus zuzuwenden, versuchen sie von solchen Menschen nahegebracht
denjenigen zu vernichten, der ihnen ge- worden war, deren Leben von der Echt-
zeigt hat, wie sie wirklich sind. Es han- heit ihres Glaubens Zeugnis abgab. Es
delt sich natürlich um ein völlig irratio- waren gottesfürchtige Menschen, die nur
nales Verhalten, doch ist dies für den zur Verherrlichung des Herrn lebten.
gefallenen Menschen ganz typisch. 3,15 Dies ist ein äußerst eindrückli-
3,13 Paulus hatte keine Illusionen cher Vers. Es geht hier darum, daß Timo-
darüber, daß die Welt allmählich immer theus »von Kind auf« die Heiligen Schrif-
besser werden würde, bis eines Tages alle ten oder Briefe gekannt hat. Man könnte
Menschen bekehrt werden würden. Er sogar daran denken, daß seine Mutter,
kannte statt dessen die göttliche Offenba- als sie ihm das Lesen beibrachte, dies
rung, daß genau das Gegenteil der Fall anhand von Abschnitten aus dem AT
sein würde. »Böse Menschen und Betrü- getan hat. Von Kindheit an stand er unter
ger aber werden zu Schlimmerem fort- dem Einfluß inspirierter Schriften, und
schreiten.« Sie würden immer geschick- unter keinen Umständen sollte er dieses
ter in ihren Methoden und frecher in wunderbare Buch vergessen, daß sein
ihren Angriffen. Sie werden nicht nur Leben für immer verändert hat.
andere betrügen, sondern auch sie selbst Von den »heiligen Schriften« wird
würden sich in die Irrlehren verstricken, ausgesagt, daß sie die Menschen »weise
mit denen sie ihre Zuhörer zu ködern machen … zur Errettung«. Das bedeutet
suchen. Nachdem sie sie ihr Leben lang zunächst einmal, daß Menschen den Weg
verbreitet haben, werden sie schließlich zur »Errettung« aus der Bibel erfahren
selbst daran glauben. können. Es mag auch daran gedacht sein,
daß die Heilsgewißheit aus dem Wort
C. Der Mensch, der sich angesichts Gottes kommt.
des Abfalls auf Gott verläßt Die »Errettung« kommt »durch den
(3,14-4,8) Glauben, der in Christus Jesus ist«. Wir
3,14 Immer wieder wird Timotheus dar- sollten uns das sehr gut merken. Nicht
an erinnert, daß er beständig in der Leh- durch gute Werke, Taufe, Gemeindemit-
re des Wortes Gottes »bleiben« solle. Das gliedschaft, Konfirmation, Halten der
wird sein großer Rückhalt in der Zeit Zehn Gebote oder auf irgendeine andere
sein, wenn Irrlehren überhand nehmen Weise werden wir durch menschliche
würden. Wenn er die Schrift kennt und Bemühung oder eigenen Wert errettet.
ihr gehorcht, würde er nicht diesen sub- Die »Errettung« kommt »durch den
tilen Irrtümern anheim fallen. Glauben« an den Sohn Gottes.
Timotheus hatte nicht nur die großen 3,16 Wenn Paulus von der ganzen
Wahrheiten des Glaubens »gelernt«, son- »Schrift« spricht, dann bezieht er sich auf
dern er war von ihnen auch persönlich das vollständige AT, und auch auf die
»überzeugt«. Zweifellos würde ihm ge- Teile des NT, die damals schon existier-

1150
2. Timotheus 3

ten. In 1. Timotheus 5,18 zitiert er das das auf die Ahnentafeln und unver-
Lukasevangelium (10,7) als Schriftstelle. ständlichen Abschnitte zutrifft, wird
Und Petrus spricht von den Paulusbrie- doch der vom Geist gelehrte Verstand
fen als »Schrift« (2. Petr 3,16). Heute kön- erkennen, daß in jedem Wort, das vom
nen wir gerechtfertigterweise den Vers Mund Gottes ausgegangen ist, geistliche
auf die gesamte Bibel beziehen. Nahrung steckt.
Dies ist einer der wichtigsten Verse Die Bibel ist »nützlich zur Lehre«. Sie
der Bibel zum Thema Inspiration. Er zeigt, wie Gott über solche Themen wie
lehrt, daß die Schrift von Gott »einge- Dreieinigkeit, Engel, den Menschen, die
23)
haucht« wurde. Auf wunderbare Weise Sünde, die Erlösung, die Heiligung, die
hat Gott sein Wort an die Menschen ver- Gemeinde und die Zukunft denkt.
mittelt und sie geleitet, es festzuhalten, Außerdem ist sie »nützlich zur Über-
indem sie es niederschrieben. Was sie führung«. Wenn wir die Bibel lesen, so
schrieben, war ganz Wort Gottes, inspi- spricht sie eindeutig zu uns über die Din-
riert und unfehlbar. Es stimmt zwar, daß ge in unserem Leben, die Gott nicht ge-
der individuelle Schreibstil der Verfasser fallen. Auch ist sie nützlich, um Irrlehren
nicht zerstört wurde, doch ist es ebenso zurückzuweisen und dem Versucher zu
wahr, daß jedes Wort, das verwendet antworten.
wurde, vom Heiligen Geist »eingegeben« Außerdem ist das Wort »nützlich zur
wurde. So lesen wir in 1. Korinther 2,13: Zurechtweisung«. Es zeigt uns nicht nur,
»Davon reden wir auch, nicht in Worten, was wir falsch machen, sondern zeigt
gelehrt durch menschliche Weisheit, son- uns auch den Weg, wie wir unser Han-
dern in [Worten], gelehrt durch den Geist, deln verbessern können. Z. B. sagt die
indem wir Geistliches durch Geistliches Schrift nicht nur, »Wer gestohlen hat,
deuten.« Wenn diese Verse überhaupt stehle nicht mehr«, sondern sie fügt hin-
eine Bedeutung haben, dann diese, daß zu: »Er mühe sich vielmehr und wirke
die inspirierten Autoren WORTE ge- mit seinen Händen das Gute, damit er
brauchten, die sie der Heilige Geist lehr- dem Bedürftigen etwas mitzugeben
te. Das ist mit Verbalinspiration gemeint. habe.« Der erste Teil des Verses stellt eine
Die Autoren der Bibel legten nicht »Überführung« dar, während der zweite
ihre eigene Interpretation der Lehre dar, die »Zurechtweisung« enthält.
sondern schrieben die Botschaft, die Schließlich ist die Bibel »zur Unter-
ihnen von Gott gegeben war. »Indem ihr weisung in der Gerechtigkeit« nützlich.
dies zuerst wißt, daß keine Weissagung Die Gnade Gottes lehrt uns, gottesfürch-
der Schrift aus eigener Deutung ge- tig zu leben, doch das Wort Gottes zeigt
schieht. Denn niemals wurde eine Weis- uns die Details, die ein gottesfürchtiges
sagung durch den Willen eines Men- Leben ausmachen.
schen hervorgebracht, sondern von Gott 3,17 Durch das Wort kann der
her redeten Menschen, getrieben vom »Mensch Gottes vollkommen« oder reif
Heiligen Geist« (2. Petr 1,20.21). werden. Er ist »völlig zugerüstet« mit
Es ist falsch, wenn man sagt, daß Gott allem, was er benötigt, um »jedes gute
einfach den einzelnen Schreibern seine Werk« zu vollbringen, was das Ziel sei-
Gedanken eingegeben habe und ihnen ner Erlösung ist (Eph 2,8-10). Dies steht
erlaubt habe, diese Gedanken mit ihren im scharfen Kontrast zur modernen Vor-
eigenen Worten auszudrücken. Die stellung, daß man sich durch akademi-
Wahrheit, von der die Schrift überzeugt sche Abschlüsse »zurüsten« könne.
ist, lautet, daß jedes einzelne Wort, das Lenski schreibt:
»Gott« den Menschen gegeben hat, von Die Schrift ist deshalb völlig unvergleich-
ihm eingehaucht wurde. lich. Kein anderes Buch, keine Bibliothek oder
Weil die Bibel das Wort Gottes ist, ist sonst etwas anderes in der Welt ist in der
sie »nützlich«. Jeder Teil davon ist »nütz- Lage, den Sünder zur Erlösung zu führen.
lich«. Obwohl man sich fragen mag, wie Keine andere Schrift, welchen Nutzen sie

1151
2. Timotheus 4

auch immer haben mag, ist dazu nützlich, daß Gott jederzeit seine Diener beo-
weil ihr die Inspiration Gottes fehlt: Die bachtet und sie eines Tages belohnen
Schrift allein lehrt uns die wahren Fakten der wird. Er sollte dem Wort Dringlichkeit
Erlösung – sie weist die Lügen und Illusio- verleihen und selbst jede Gelegenheit
nen zurück, die diese Tatsachen leugnen wol- zur Predigt wahrnehmen. Die Botschaft
len – sie bringt den Sünder oder gefallenen kommt immer »gelegen«, auch wenn
Christen wieder in eine aufrechte Positi- einige meinen, sie käme »ungelegen«.
on – sie lehrt, trainiert und macht uns zu Als Diener Christi ist Timotheus auf-
24)
Jüngern mit echter Gerechtigkeit. gerufen zu »überführen«, d. h. er sollte
4,1 Paulus beginnt nun mit seinen überzeugen oder beweisen. Er soll
abschließenden ernsthaften Ermahnun- »strafen«, was falsch ist. Und er soll die
gen an Timotheus. Er tut es »vor Gott Sünder zum Glauben und die Heiligen
und Christus Jesus«. Aller Dienst sollte zum Weitergehen mit dem Herrn
in der Erkenntnis getan werden, daß er »ermahnen«. In all dem soll er unaus-
von Gottes allwissendem Auge beobach- weichlich geduldig »mit aller Langmut
tet wird. und« in treuer »Lehre« nüchterner
In diesem Vers wird der Herr Jesus Dogmen bleiben.
der Eine genannt, »der Lebende und Tote 4,3 In den Versen 3-6 führt der Apo-
richten wird, … bei seiner Erscheinung stel zwei wichtige Gründe für seine
und seinem Reich«. Das deutsche Wort Ermahnung an, die er Timotheus soeben
»bei« könnte nahelegen, daß es eine all- gegeben hat. Der erste ist, daß es ein all-
gemeine Auferstehung und ein allgemei- gemeines Abwenden von der »gesunden
nes Gericht gibt, wenn der Erlöser auf die Lehre« geben wird. Der zweite lautet,
Erde wiederkehrt, um sein Reich zu daß er selbst bald sterben würde.
errichten. Doch im Original bedeutet das Der Apostel sieht eine Zeit vorher, zu
25)
Wort kata wörtlich »nach« oder »in der die Menschen ausgesprochenes
Übereinstimmung mit«. Mißfallen an heilsamer »Lehre« haben
Der Herr Jesus ist der Eine, »der werden. Sie werden sich willentlich von
Lebende und Tote richten wird«, doch denen abwenden, die die Wahrheit des
wird hier nichts über den Zeitpunkt aus- Wortes Gottes lehren. Ihre »Ohren« wer-
gesagt. Die »Erscheinung« Christi und den ihnen nach Lehren jucken, die gefal-
»sein Reich« werden von Paulus hier als len und bequem sind. Um ihre Neugier
Motivation für treuen Dienst vorgestellt. und ihr Sehnen nach gefälliger Lehre zu
Wir wissen aus anderen Schriftstel- befriedigen, werden sie »sich selbst Leh-
len, daß die Wiederkunft Christi nicht der rer« sammeln, die ihnen sagen, was sie
Zeitpunkt ist, an dem er die Lebendigen hören wollen.
und die Toten richten wird. Die bösen 4,4 Die Lust nach bequemer Predigt
Toten werden nach Offenbarung 20,5 erst wird die Menschen veranlassen, »die
am Ende des Tausendjährigen Reiches Ohren von der Wahrheit« abzukehren
Christi gerichtet. und sich Mythen zuzuwenden. Das ist
Der Dienst der Gläubigen wird beim ein schlechter Handel – die Wahrheit für
Richterstuhl Christi belohnt werden, »Fabeln« einzutauschen – doch dies ist
doch dieser Lohn wird erst »bei seiner der schreckliche Lohn derer, die die
Erscheinung und seinem Reich« offen- gesunde Lehre ablehnen.
bart werden. Es ist wohl so, daß der Lohn 4,5 »Nüchtern in allem« sein kann
im Zusammenhang mit der Herrschaft auch soviel wie »wachsam zu sein« be-
oder Verwaltung während des Tausend- deuten. Timotheus sollte in seiner Arbeit
jährigen Reiches steht. Z. B. werden die- ernsthaft, gemäßigt und ausgeglichen
jenigen, die treu waren, über zehn Städte sein. Er sollte »Leid« nicht ausweichen,
herrschen (Lk 19,17). sondern sollte bereitwillig alle Härten
4,2 Timotheus sollte »das Wort« auf sich nehmen, die ihm im Dienst für
predigen, indem er sich vor Augen hielt, Christus begegnen würden.

1152
2. Timotheus 4

Es gibt einige verschiedene Meinun- abbrach um sich auf die kommende


gen über den Ausdruck »tue das Werk Wanderung vorzubereiten.
eines Evangelisten«. Einige Ausleger 4. benutzten die Philosophen das Wort,
denken, daß Timotheus ein Evangelist um damit die »Lösung« eines Pro-
war und daß Paulus ihm hier nur sagt, er blems zu bezeichnen. Hier sehen wir
solle diesen Dienst tun. Andere denken, wieder, wie bildreich der Apostel zu
daß Timotheus nicht die Gabe des Evan- formulieren versteht.
gelisten hatte, sondern eher ein Hirte 4,7 Auf den ersten Blick scheint es so,
oder Lehrer war, doch daß ihn das nicht als wolle der Apostel in diesem Vers mit
davon abhalten sollte, das Evangelium seiner Leistung angeben. Doch das ist
Ungläubigen zu predigen, wenn er Gele- nicht der Fall. Es geht nicht so sehr dar-
genheit dazu hätte. Es ist wohl wahr- um, daß er einen guten Kampf gekämpft
scheinlich, daß Timotheus schon ein hat, sondern daß er »den guten Kampf
»Evangelist« war und daß Paulus ihn gekämpft« hat und noch weiter kämpft,
hier einfach ermutigen will, alle Aufga- nämlich den Kampf des Glaubens. Er hat
ben zu erfüllen, die ein Evangelist hat. alle seine Energien in diesem guten
In jeder Weise sollte er seinen »Dienst Kampf verbraucht. Kampf muß nicht un-
vollbringen«, indem er seine besten bedingt eine Kriegshandlung sein, son-
Talente auf alle Anforderungen seines dern kann auch einen sportlichen Wett-
Dienstes anwandte. kampf bedeuten.
4,6 Der zweite Grund für die ernste Als er schrieb, erkannte er, daß der
Ermahnung an Timotheus war Paulus’ anstrengende »Lauf« fast vollendet war.
eigener baldiger Tod. Er würde schon Er war seine Strecke gelaufen und sah
bald »als Trankopfer gesprengt«. Er ver- schon das Ziel.
gleicht den Tod eines Märtyrers mit dem Paulus hatte auch »den Glauben be-
Ausgießen eines »Trankopfers« über ein wahrt«. Das bedeutet nicht nur, daß Pau-
Opfer (vgl. 2. Mose 29,40; 4. Mose 15,1- lus selbst im Glauben stand und den
10). Paulus hatte schon früher einmal in großen Lehren des christlichen Glaubens
Philipper 2,17 seinen Tod mit einem gehorchte, sondern daß er auch als Ver-
Trankopfer verglichen. Hiebert sagt: walter die Lehre bewahrt hatte, die ihm
»Sein ganzes Leben war Gott als lebendi- anvertraut war und sie unverfälscht an
ges Opfer hingegeben, sein Tod wird das andere weitergegeben hatte.
Opfer nun noch vollenden, so wie das 4,8 Der Apostel drückt hier sein Ver-
Ausgießen des Weines der letzte Teil der trauen aus, daß die »Gerechtigkeit«, die
26)
Opferungszeremonie war.« er in seinem Dienst zeigte, von dem
»Die Zeit meines Abscheidens steht gerechten Herrn beim Richterstuhl Chri-
bevor.« Das griechische Wort analysis sti belohnt werden würde.
(wrtl. »Auflösung«, daher unser Fremd- Der Herr wird hier »der gerechte
wort Analyse), welches Paulus hier be- Richter« genannt, doch es geht hier nicht
nutzt, um sein »Abscheiden« zu be- so sehr um einen Richter am Gericht,
zeichnen, ist sehr ausdrucksstark und ent- sondern um einen Schiedsrichter bei
hält mindestens vier verschiedene Bilder: einem Wettkampf. Anders als irdische
1. handelte es sich um ein Wort der See- Richter wird er ein vollständiges Wissen
mannssprache, das benutzt wurde, haben, er wird die Person nicht ansehen,
um das Lösen eines Schiffes von sei- er wird sowohl Motive als auch Hand-
nem Anker zu beschreiben. lungen richten, und seine Richtersprüche
2. benutzten Bauern das Wort, um werden genau und unparteiisch sein.
damit das Losschirren der Tiere von »Der Siegeskranz der Gerechtigkeit«
ihrem Joch nach einem harten ist der Kranz (hier ist kein Diadem und
Arbeitstag zu beschreiben. keine Krone gemeint), der denjenigen
3. handelte es sich um einen Ausdruck Gläubigen gegeben werden wird, die in
der Reisenden, wenn man das Zelt ihrem Dienst »Gerechtigkeit« haben wal-

1153
2. Timotheus 4

ten lassen. Er wird sogar »allen« gegeben gleich, wie niedrig ihre Stellung im
werden, »die seine Erscheinung lieben«. Leben sein mag, auch ein kleiner Dienst
Wenn ein Mensch sich wirklich nach der für den Herrn wird nicht unbemerkt
Wiederkunft Christi sehnt und im Lichte oder unbelohnt bleiben.
dieses Ereignisses lebt, dann wird sein 4,11 Der geliebte Arzt »Lukas« war
Leben gerecht sein, und er wird entspre- der einzige, der in Rom den Kontakt mit
chend belohnt werden. Hier haben wir Paulus aufrecht erhielt. Wieviel muß es
eine erneute Erinnerung daran, daß die dem Apostel bedeutet haben, die geistli-
Wiederkunft Christi, wenn man wirklich che Ermutigung und die Fähigkeiten die-
daran glaubt und sie liebt, einen heili- ses großen Mannes Gottes zur Verfügung
genden Einfluß auf unser Leben ausübt. zu haben!
Und wie dankbar können wir für den
IV. Persönliche Bitten und zweiten Teil von Vers 11 sein! Er enthält
Bemerkungen (4,9-22) für alle von uns, die im Dienst an un-
4,9 Der gealterte Paulus sehnt sich nach serem Herrn versagt haben, die Ermu-
Gemeinschaft mit seinem jüngeren Bru- tigung, daß er uns immer noch eine
der im Herrn. Deshalb drängt er ihn, sein Chance läßt, für ihn zu arbeiten. »Mar-
bestes zu tun, um bald nach Rom »zu kus« ging mit Paulus und Barnabas auf
kommen«. Der Apostel empfand die Ein- die erste Missionsreise, doch verließ er
samkeit seiner Kerkerhaft in Rom als sie in Perge, um nach Hause zurückzu-
sehr bedrückend. kehren. Als die Zeit der zweiten Mis-
4,10 Eine der bittersten Erfahrungen sionsreise gekommen war, wollte Paulus
im christlichen Dienst ist es, von denen Markus nicht mitnehmen, weil er sich
verlassen zu werden, die einst Mitarbei- gedrückt hatte. Als Barnabas darauf
ter waren. »Demas« war ein Freund des bestand, daß Markus sie begleiten sollte,
Paulus gewesen, ein Mitgläubiger und löste man die Angelegenheit so, daß
ein Mitarbeiter. Doch nun war Paulus im Paulus mit Silas nach Syrien und Cilicien
Gefängnis und die Christen wurden ver- reiste, während Barnabas mit Markus
folgt. Das politische Klima war für Chri- nach Zypern reiste. Später versöhnten
sten ausgesprochen ungesund. Statt die sich Paulus und Markus wieder, und
Erscheinung des Herrn zu lieben, ver- hier bittet der Apostel ausdrücklich um
liebte Demas sich in »den jetzigen Zeit- »Markus« als einem, der ihm »nützlich
lauf«, verließ Paulus und reiste »nach zum Dienst« wäre.
Thessalonich«. Das heißt nicht notwen- 4,12 Diejenigen, die glauben, daß
digerweise, daß Demas sein christliches Timotheus in Ephesus war, als Paulus
Zeugnis aufgab und ein Abtrünniger diesen Brief an ihn schrieb, sind der An-
wurde. Auch bedeutet das nicht, daß er sicht, daß der Apostel »Tychikus« nach
nicht ein echter Gläubiger gewesen sei. Ephesus sandte, um Timotheus während
Vielleicht hatte die Sorge um seine per- dessen Abwesenheit zu vertreten. Sie
sönliche Sicherheit ihn zu dieser Ent- sind der Ansicht, daß Paulus hier meint:
scheidung gebracht. »Aber ich habe Tychikus beauftragt, nach
Der Apostel fügt dann hinzu, daß Ephesus zu kommen.«
»Krescenz nach Galatien« und »Titus 4,13 Der »Mantel«, der hier erwähnt
nach Dalmatien« gegangen sei. In diesen ist, kann entweder ein Übergewand
Worten liegt keinerlei Anspielung auf gewesen sein, oder aber eine Tasche, in
einen Tadel, vielleicht waren sie im der man Bücher transportieren kann.
christlichen Dienst an diese Orte gegan- Doch allgemein versteht man hier das
gen. Dies ist die einzige Erwähnung von erstere darunter.
»Krescenz« in der Bibel (der Name Es gibt verschiedene Meinungen dar-
bedeutet »wachsend«). Wir wissen nicht über, was denn der Unterschied zwi-
mehr von ihm. Das sollte eine Ermuti- schen den »Büchern« und den »Perga-
27)
gung für alle Gläubigen sein. Ganz menten« ist. Waren es Teile der Heili-

1154
2. Timotheus 4

gen Schrift? Waren es einige der Paulus- 4,16 Paulus denkt wahrscheinlich
briefe? Waren es Papiere, die er bei seiner noch an die Ereignisse der gerade ver-
Gerichtsverhandlung benötigte? Waren gangenen Tage. Seine »erste Verteidi-
es leere Stücke aus Papyrus oder Perga- gung« ist wohl die erste Gelegenheit, die
ment, die er zum Schreiben benutzen ihm zur Verteidigung bei diesem seinem
wollte? Es ist unmöglich, dies endgültig letzten Gerichtsverfahren gegeben wur-
29)
zu entscheiden. Doch es ist wohl richtig de. Es scheint in der Tat so gewesen zu
anzunehmen, daß Paulus trotz seiner sein, daß »niemand« aufstand, um ein
Gefangenschaft sich mit Schreiben und Wort für diesen kühnen Apostel einzule-
Lesen beschäftigt halten wollte. gen, dessen Schriften die darauffolgen-
Eine interessante wahre Geschichte den Jahrhunderte so sehr bereichert
wird im Zusammenhang mit diesem haben. Niemand wollte ihn verteidigen,
scheinbar so unwichtigen Bibelvers er- doch ist in Paulus’ Herzen deshalb keine
zählt. F. W. Newman, der jüngere Bruder Bitterkeit zurückgeblieben. Wie der Hei-
von Kardinal Newman, fragte einmal land vor ihm betet er darum, daß »es
J. N. Darby, ob wir wohl auf irgendeine ihnen nicht zugerechnet« werde.
Weise ärmer würden, wenn dieser Vers 4,17 Er mag von Menschen verlassen
nicht in der Bibel stünde. War er nicht gewesen sein, »der Herr aber stand bei«
nur von zeitlich begrenzter Bedeutung? ihm. Nicht nur das, sondern er bekam von
Würde irgend etwas fehlen, wenn Paulus Gott auch die Kraft, bei seiner Verhand-
ihn nie geschrieben hätte? Darby antwor- lung das Evangelium zu predigen. Die
tete prompt darauf: »Ich hätte ganz Botschaft durfte ohne Hinderung weiter-
gewiß etwas verloren, denn dieser Vers gegeben werden, und so konnte ein heid-
hielt mich davon ab, meine Bibliothek zu nischer Gerichtshof die Botschaft von der
verkaufen. Jedes Wort, darauf kann man Erlösung hören. Stock wundert sich:
sich verlassen, ist vom Geist eingegeben Alle Heiden – welch eine Menge hochste-
28)
und von ewigem Wert.« hender Römer kann mit diesem einfachen
4,14 »Alexander, der Schmied« könn- Satz gemeint gewesen sein! – hörten an die-
te derselbe sein, den Paulus in 1. Timo- sem Tag die Botschaft Gottes an die Mensch-
theus 1,20 erwähnt, daß er Schiffbruch heit. Alle hörten von dem gekreuzigten und
im Glauben erlitten habe. Jedenfalls hat- erhöhten Jesus, der der einzige Erlöser ist.
te er dem Apostel großen Schaden zuge- Das ist ein überwältigender Gedanke, die
fügt. Wir können nur über die genauen Phantasie kann sich kaum eine solche außer-
Einzelheiten spekulieren. Wenn wir gewöhnliche Szene vorstellen. Es muß sich
diesen Vers mit dem Folgenden verbin- um einen der großartigsten Augenblicke der
den, ist es möglich, daß »Alexander« Geschichte gehandelt haben, und was mag
gegen den Apostel ausgesagt hatte und uns noch die Ewigkeit von den Folgen dieser
30)
falsche Anklage gegen ihn erhoben hat. Stunde zu berichten haben?
Conybeare und Howson übersetzen: Das Wort »stärkte« in diesem Vers ist
»Alexander der Schmied hat mich böse kein gewöhnliches, es findet sich im NT
verklagt.« Der Apostel vertraut jedoch nur achtmal. Es wird in Apostelgeschich-
darauf, daß »der Herr ihm« eines Tages te 9,22 für den Anfang des öffentlichen
»nach seinen Werken … vergelten« wird. Dienstes des Paulus verwendet: Er
4,15 Dieser Vers rechnet mit der »erstarkte … im Wort«. Hier wird es wie-
Ankunft des Timotheus in Rom. Er soll der verwendet, doch nun gegen Ende
sich »auch … vor« Alexander »hüten«, seines öffentliches Dienstes – eine rüh-
damit er nicht auch durch diesen Mann rende Erinnerung an die erhaltende Kraft
Böses erleidet. Es ist nicht unwahrschein- des Herrn, wie sie sich im Leben dieses
lich, daß Alexander den »Worten« des Dieners zeigte.
Paulus »sehr widerstanden« hat, indem Der Ausdruck »ich bin gerettet wor-
er dessen Zeugnis bei einer Anhörung in den aus dem Rachen des Löwen« ist die
Frage stellte. Art, wie Paulus ausdrückt, daß ihm Auf-

1155
2. Timotheus 4

schub gewährt wurde. Doch der Prozeß stel oft erquickt hatte und sich seiner
ging weiter. Die Gefahr war nur zeitwei- Gefangenschaft nicht geschämt hat.
lig abgewendet worden. Man hat ver- 4,20 Vielleicht ist »Erastus« derselbe,
sucht, in dem Löwen Nero oder Satan der in Korinth Schatzmeister der Stadt
oder aber wirkliche wilde Tiere wieder- war (Röm 16,23).
zuerkennen. Vielleicht ist es einfacher, »Trophimus« wird schon in Apostel-
unter diesem Wort eher eine allgemeine geschichte 20,4 und 21,29 erwähnt. Er
Gefahr zu verstehen. bekehrte sich in Ephesus und begleitete
4,18 Als der Apostel sagte, daß »der Paulus nach Jerusalem. Die Juden hier
Herr« ihn »von jedem bösen Werk ret- dachten, daß Paulus ihn mit in den Tem-
ten« würde, meint er damit nicht, daß pel genommen habe. Hier erfahren wir,
ihm schließlich die Exekution erspart daß Paulus ihn »in Milet krank zurück-
werden würde. Er wußte, daß die Zeit gelassen« hat. Diese Aussage ist wichtig,
seines Todes nahe gekommen war (V. 6). weil sie zeigt, daß der Apostel, obwohl er
Was meinte er dann? Zweifellos, daß der die Vollmacht zur Wunderheilung hatte,
Herr ihn vor allem bewahren würde, das diese nicht immer benutzte. Die Wunder-
seine letzten Tage des Zeugnisses für ihn heilung ist nie ein Mittel persönlicher
beschmutzen könnte. Der Herr würde Bequemlichkeit, sondern eher ein Zeug-
ihn davor bewahren zu widerrufen, sei- nis für die Wahrheit des Evangeliums
nen Namen zu leugnen, sich feige zu ver- gegenüber ungläubigen Juden gewesen.
halten und vor jeder anderen Form eines 4,21 Timotheus sollte sein Bestes tun,
moralischen Zusammenbruchs. noch »vor dem Winter zu kommen«, weil
Nicht nur das, sondern Paulus war das Wetter sonst größere Reisen schwie-
sich auch sicher, daß der Herr ihn »in rig oder unmöglich machte. Die wieder-
sein himmlisches Reich hineinretten« holten Aufforderungen an Timotheus,
würde. »Sein himmlisches Reich« be- doch zu kommen, sind sehr rührend
zieht sich nicht auf das Tausendjährige (s. 1,3.4; 4,9).
Reich Christi auf Erden, sondern auf den Als nächstes finden wir Grüße an
Himmel, wo die Herrschaft des Herrn Timotheus von »Eubulus und Pudens
vollkommen anerkannt ist. und Linus und Klaudia und« allen Brü-
Hier bricht der Apostel in einen Lob- dern. Diese Namen mögen relativ un-
preis aus: »Ihm sei die Herrlichkeit in alle wichtig sein, doch sind sie eine rührende
Ewigkeit!« »In alle Ewigkeit« heißt wört- Erinnerung daran, wie Rodgers sagt, daß
lich »zu den Zeitaltern der Zeitalter«. Die »eine der besonderen Freuden und Vor-
Worte repräsentieren den stärksten Aus- rechte des christlichen Dienstes in der
druck der Ewigkeit, den die griechische Art besteht, wie Freundschaften entste-
Sprache kennt. Theoretisch gesehen gibt hen und vertieft werden«.
es in der Ewigkeit keine »Zeitalter«, doch 4,22 Und nun bringt Paulus seinen
weil der menschliche Geist keine Vorstel- letzten Brief zu einem Ende. Er spricht
lung von der Zeitlosigkeit hat, ist er insbesondere zu Timotheus und sagt:
31)
gezwungen, Ausdrücke zu gebrauchen, »Der Herr Jesus Christus sei mit dei-
die zeitliche Vorstellungen enthalten. nem Geist!« Dann spricht er alle an, die
4,19 Nun sendet Paulus Grüße an ein bei Timotheus waren, als er den Brief
verheiratetes Paar, das oft mit ihm am erhielt: »Die Gnade sei mit euch! Amen«
Evangelium gedient hatte. »Priska« oder (LU1912).
Priscilla »und Aquila« trafen ihn zuerst Hier legt Paulus seinen Stift nieder.
in Korinth. Später reisten sie mit ihm Der Brief ist fertig, sein Dienst beendet.
nach Ephesus. Sie lebten eine Zeit lang in Doch der Duft seines Lebens und Zeug-
Rom (Röm 16,3) und waren wie Paulus nisses bleibt, und wir werden ihn einst
Zeltmacher. wieder treffen und mit ihm über die
»Onesiphorus« ist schon in 1,16 er- großen Themen des Evangeliums und
wähnt worden als jemand, der den Apo- der Gemeinde sprechen können.

1156
Anmerkungen

Anmerkungen 16) (2,14) Dinsdale T. Young, The Enthu-


siasm of God, S. 154.
17) (2,15) Henry Alford, The Greek Testa-
1) (1,1) W. E. Vine, Exposition of the ment, Bd. 3, S. 384.
Epistles to Timothy, S. 60-61. 18) (2,18) Hamilton Smith, keine weite-
2) (1,2) D. Edmond Hiebert, Second ren Angaben verfügbar.
Timothy, S. 26. 19) (2,19) Hamilton Smith, The Second
3) (1,3) Das griechische Wort lautet Epistle to Timothy, S. 27.
latreuo, verwandt mit latreia, »Got- 20) (2,19) R. C. H. Lenski, The Interpreta-
tesdienst«. tion of St. Paul’s Epistels to the Colossi-
4) (1,4) Hiebert, Second Timothy, S. 31. ans, to the Thessalonians, to Timothy, to
5) (1,5) Ein Heuchler ist nach dem Grie- Titus and to Philemon, S. 804.
chischen ein Schauspieler, der unter 21) (2,22) Hiebert, Second Timothy, S. 76.
einer Maske (hupo) hervor antwortet. 22) (3,5) Ebd., S. 86.
6) (1,6) Vine, Exposition, unter den 23) (3,16) Das gr. Wort lautet theopneu-
angegebenen Versen. stos.
7) (1,11) NA läßt die Worte »der Hei- 24) (3,17) Lenski, Epistles, S. 841.
den« aus. 25) (4,1) Der kritische Text liest hier kai
8) (1,16) J. H. Jowett, Things that Matter (und) statt kata.
Most, S. 161. 26) (4,6) Hiebert, Second Timothy, S. 109-
9) (2,4) William Kelly, An Exposition of 110.
the Two Epistles to Timothy, S. 213. 27) (4,13) Gr. membranas. Diese teuren
10) (2,7) Der kritische Text (und damit Manuskripte waren wahrscheinlich
ER) liest »der Herr wird dir … biblische Bücher oder vielleicht
geben«, d. h. es ist hier kein Gebet, Kommentare.
sondern eine Voraussage gemeint. 28) (4,13) Zitiert von H. A. Ironside in:
11) (2,8) Hiebert, Second Timothy, S. 62. Timothy, Titus and Philemon, S. 255.
12) Zitiert von Edmond Hiebert in: 29) (4,16) Möglicherweise ist auch die
Second Timothy, S. 60. Verhandlung am Ende der ersten
13) (2,11) Hiebert, Second Timothy, S. 62. Haftzeit des Paulus gemeint.
14) (2,13) Dinsdale T. Young, Unfamiliar 30) Eugene Stock, Plain Talks on the Pasto-
Texts, S. 253. ral Epistles, keine Seitenangabe ver-
15) (2,13) J. J. Van Oosterzee, »The Pasto- fügbar.
ral Letters«, in: Lange’s Commentary 31) (4,22) NA läßt »Jesus Christus« aus.
on the Holy Scriptures, Bd. 11, S. 95.

Bibliographie

Siehe Bibliographie am Ende von


1. Timotheus.

1157
Der Titusbrief
»Dies ist eine kurze Epistel, aber ein Ausbund christlicher Lehre,
darinnen allerlei so meisterlich verfasset ist,
was einem Christen not ist zu wissen und zu leben.«
Martin Luther

Einführung III. Datierung


Wegen der Ähnlichkeit der Themen- und
Wortwahl nehmen die meisten konserva-
I. Einzigartige Stellung im Kanon tiven Ausleger an, daß er um dieselbe
Drei kurze Kapitel, vor mehr als 1900 Jah- Zeit oder bald nach dem 1. Timotheus-
ren verfaßt und von einem alternden Mis- brief geschrieben wurde. Jedenfalls ist er
sionar an einen unbekannten Missionar zwischen dem 1. und 2. Timotheusbrief
auf einer weit entfernten Insel gerichtet – entstanden, nicht nach dem 2. Timo-
welche eine Bedeutung kann dies für die theusbrief. Während es unmöglich ist,
Christen unseres »erleuchteten« zwanzig- ein genaues Abfassungsdatum anzuge-
sten Jahrhunderts haben? Sicherlich, wenn ben, ist eine Zeit zwischen 64 und 66
es sich um die einzigen Worte des Paulus wahrscheinlich. Er wurde wahrschein-
handeln würde (und die meisten liberalen lich von Mazedonien aus geschrieben.
Theologen wollen noch nicht einmal das
zugeben), so hätten sie wahrscheinlich nur IV. Hintergrund und Thema
Interesse für Kirchengeschichtler oder Neben den allgemeinen Themen, die der
Menschen, die sich mit frühchristlichem Titusbrief mit den anderen Pastoralbrie-
Gedankengut beschäftigen. fen teilt (s. Einleitung zu den Pastoral-
Doch dies sind auch »Worte, die der briefen), gibt Titus eine schöne Zusam-
Heilige Geist lehrt« und als solche haben menfassung, wie der Gläubige die Lehre
sie einen Beitrag zu erfüllen, den kein von der Gnade mit Gottesfurcht und guten
anderes Buch erfüllen kann. Die Behand- Werken schmücken soll. Viele, die sich an
lung des Themas Älteste unterstützt und der Lehre von der Gnade erfreuen, schei-
bekräftigt die sehr ähnlichen Lehren in 1. nen heute kaum noch Interesse daran zu
Timotheus. Die Wiederholung ist nicht haben, sie durch gute Werke oder Gottes-
überflüssig, sondern wie so viele andere furcht zu beweisen. Solch eine Haltung
Parallelen in der Bibel, insbesondere im ist falsch und läßt auf ein Mißverständnis
AT, betont sie nur, wie sehr es Gott daran echter Gnade schließen.
gelegen ist, daß sein Volk bestimmte Paulus faßt das Thema vollkommen
Prinzipien erkennt. zusammen: »Das Wort ist gewiß; und ich
Die wohl am meisten geschätzte Pas- will, daß du auf diesen Dingen fest
sage im Titusbrief ist 2,11-14, die in einem bestehst, damit die, welche Gott geglaubt
wunderschön ausgeglichenen Stil gehal- haben, Sorge tragen, gute Werke zu be-
ten ist, der die Lehre von der Gnade noch treiben« (3,8a).
unterstreicht.

II. Verfasserschaft
Eine Diskussion der Verfasserschaft des
Titusbriefes findet sich in der Einleitung
zu den Pastoralbriefen.

1159
Titus 1

Einteilung III. Irrlehren in der Gemeinde (1,10-16)


IV. Einübung in den Glauben in der Ge-
meinde (2,1-15)
I. Begrüßung (1,1-4) V. Ermahnung in der Gemeinde (3,1-11)
II. Älteste in der Gemeinde (1,5-9) VI. Schluß (3,12-15)

Kommentar Menschen vor Grundlegung der Welt in


Christus erwählt mit dem Ziel, daß sie
heilig und tadellos vor ihm sein sollen
I. Begrüßung (1,1-4) (Eph 1,4).
1)

1,1 »Paulus« war sowohl »Knecht Got- Nachdem er gesagt hat, daß seine
tes« als auch ein »Apostel Jesu Christi«. Apostelschaft mit »dem Glauben der
Das erste zeigt ihn als Sklave des höch- Auserwählten Gottes« zu tun hat und
sten Herrn und das zweite als Botschaf- ihrer »Erkenntnis der Wahrheit«, fügt
ter des souveränen Herrn. Das erste Paulus nun hinzu, daß diese »Wahrheit
spricht von Unterordnung, das zweite … der Gottseligkeit gemäß ist«. Das
von Autorität. Er wurde »Knecht« durch bedeutet, daß der christliche Glaube mit
persönliche Hingabe und »Apostel« echter Heiligung zusammengehört und
durch göttliche Ernennung. dazu geeignet ist, Menschen zu prak-
Die Ziele seines Dienstes entsprachen tischer »Gottseligkeit« anzuleiten. Ge-
»dem Glauben der Auserwählten Got- sunder Glaube hat ein reines Leben zur
tes« und »der Erkenntnis der Wahrheit«. Voraussetzung. Nichts könnte inkonse-
»Nach dem Glauben« kann einmal quenter sein als ein Prediger, von dem
heißen, daß er die Auserwählten zum man sagt: »Wenn er auf der Kanzel steht,
Glauben oder zur Bekehrung gebracht wünscht man sich, er würde sie nie ver-
oder sie aber im Glauben nach der Bekeh- lassen. Wenn er sie verlassen hat,
rung geleitet hat. Weil der Ausdruck wünscht man sich, er hätte sie nie ver-
»nach der Erkenntnis der Wahrheit« uns lassen.«
die zweite Bedeutung schon nahelegt, 1,2 Der Auftrag an Paulus bezüglich
sind wir der Ansicht, daß er hier seine des Evangeliums hatte noch einen drit-
beiden grundlegenden Ziele meint: 1. ten Schwerpunkt. Er war nicht nur 1.
Evangelisation – die Förderung des Glau- zum Evangelisieren (Förderung des
bens »der Auserwählten Gottes« und 2. Glaubens der Erwählten Gottes, Vergan-
Lehre – die Förderung ihrer »Erkenntnis genheit) und 2. zur Lehre (Förderung
der Wahrheit«. Es handelt sich hier um ihrer Erkenntnis der Wahrheit, Gegen-
eine Umsetzung von Matthäus 28,20 – wart), sondern auch 3. zur Erwartung
das Predigen des Evangeliums allen Völ- (»in der Hoffnung des ewigen Lebens«,
kern und das Lehren der Gläubigen, alle Zukunft) gesandt.
Gebote zu beachten, die Christus gelehrt Das NT nennt das »ewige Leben«
hat. Indem Paulus ohne sich zu entschul- sowohl ein gegenwärtiges Eigentum als
digen aussagt, daß er den »Glauben der auch eine zukünftige Hoffnung. Das
Auserwählten Gottes« fördern will, kon- Wort »Hoffnung« impliziert dabei kei-
frontiert uns der Apostel mit der Lehre nerlei Unsicherheit. In dem Augenblick,
von der Erwählung. Nur wenige Lehren an dem wir Christus als Retter vertrauen,
der Schrift sind mehr mißverstanden haben wir ewiges Leben als gegenwärti-
worden, haben mehr Diskussionen her- ges Eigentum (Joh 5,24) und werden
vorgerufen und mehr Intellektuellen Erben aller guten Auswirkungen des
Probleme bereitet. Kurz gesagt, geht es in Erlösungswerkes Christi, doch wir wer-
dieser Lehre darum, daß Gott bestimmte den diese Auswirkungen nicht alle prak-

1160
Titus 1

tisch genießen, ehe wir nicht unsere ewi- Wir müssen uns seine Biographie aus
ge Heimat im Himmel erreicht haben. den spärlichen Hinweisen auf ihn in drei
Wir hoffen in dem Sinne, daß wir das Paulusbriefen zusammenstückeln. Er
»ewige Leben« in seiner Endform erwar- war von Geburt aus Grieche (Gal 2,3)
ten, wenn wir unsere verherrlichten Lei- und wurde, eventuell durch den Dienst
ber erhalten werden und für immer frei des Paulus, wiedergeboren durch den
von Sünde, Krankheit, Leid, Schmerz Glauben an den Herrn Jesus (Titus 1,4).
und Tod sein werden (Phil 3,20.21; Zu dieser Zeit gab es einen Kampf um
Titus 3,7). das echte Evangelium. Auf der einen Sei-
Die »Hoffnung« ist uns sicher, weil te standen Paulus und all die, die die
sie von »Gott … verheißen« ist. Nichts Erlösung aus Gnade durch den Glauben
kann so sicher sein wie das Wort Gottes, ohne Zusätze predigten. Auf der anderen
»der nicht lügen kann«, der nicht betro- Seite standen die jüdischen Irrlehrer, die
gen werden kann und der niemals betrü- darauf bestanden, daß Beschneidung
gen würde. Wir gehen keinerlei Risiko (und damit das Halten des Gesetzes)
ein, wenn wir glauben, was er sagt. In nötig war, um in Gottes Reich einen be-
der Tat ist nichts vernünftiger, als wenn vorzugten Platz zu erhalten. Titus wurde
ein Geschöpf seinem Schöpfer glaubt. zu einem Testfall in diesem Streit. Paulus
Gott hat das ewige Leben »vor ewigen und Barnabas nahmen ihn mit nach Jeru-
Zeiten verheißen«. Das kann man auf salem (Gal 2,1) zu einer Konferenz mit
zweierlei Weise verstehen. Erstens hat den Aposteln und Ältesten. Der Be-
Gott sich in der vergangenen Ewigkeit schluß des Rates lautete, daß ein Heide
entschlossen, allen das ewige Leben zu wie Titus sich nicht den jüdischen Ge-
geben, die an den Herrn Jesus glauben setzen und Zeremonien unterwerfen
würden, und sein Entschluß war dasselbe brauchte, um gerettet zu werden
wie die Verheißung. Es kann aber auch (Apg 15,11). Die Heiden brauchten keine
heißen, daß alle Segnungen der Erlösung Juden werden. Die Juden brauchten
schon als Samenkorn in der Verheißung nicht Heiden werden. Juden und Heiden
des Messias in 1. Mose 3,15 enthalten wurden dagegen zu einer neuen Schöp-
waren. Das geschah, ehe sich die Zeitalter fung, wenn sie an Jesus glaubten.
oder Dispensationen entfalteten. Danach wurde Titus zu einem der
1,3 »Zu seiner Zeit« hat Gott diesen wichtigsten Mitarbeiter des Paulus, der
herrlichen Plan des ewigen Lebens be- als »Problemlöser« nach Korinth und
kannt gemacht, den er schon vor Zeital- Kreta geschickt wurde. Der Apostel
tern beschlossen hat. Er hat ihn in der sandte ihn zuerst von Ephesus nach Ko-
Zeit des AT nicht vollständig enthüllt. rinth, wahrscheinlich, um die lehrmäßi-
Die Gläubigen dieser Zeit hatten eine ge und sittliche Unordnung in der Ge-
sehr verschwommene Vorstellung eines meinde dort zu beseitigen. Als Titus spä-
Lebens nach dem Tod. Doch die Ver- ter Paulus in Mazedonien wiedertraf,
schwommenheit hatte ein Ende, als der freute sich Paulus sehr darüber, daß die
Heiland kam. Er hat »Leben und Unver- Korinther positiv auf seine apostolischen
gänglichkeit ans Licht gebracht durch Ermahnungen reagiert hatten (2. Kor
das Evangelium« (2. Tim 1,10). Und die 2,12.13; 7,5-7.13-16). Von Mazedonien
gute Nachricht wurde von Paulus und aus sandte Paulus den Titus wieder nach
den anderen Aposteln in Erfüllung des Korinth, diesmal, um eine Sammlung für
»Befehls unseres Heiland-Gottes« ver- die verarmten Heiligen in Jerusalem zu
breitet, d. h. in Gehorsam gegenüber erheben (2. Kor 8,6.16.17; 12,18). Paulus
dem Missionsbefehl. beschreibt ihn als »mein Gefährte und in
1,4 Der Brief ist an »Titus« adressiert, bezug auf euch mein Mitarbeiter« (2. Kor
Paulus’ echtem »Kind nach dem gemein- 8,23). Wir wissen nicht genau, wann Pau-
samen Glauben«. Doch wer ist dieser lus bei Titus in Kreta war, doch nimmt
Titus? man allgemein an, das dies nach der

1161
Titus 1

ersten Gefangenschaft des Apostels in Wir wissen nicht, wie der christliche
Rom war. Glaube nach Kreta kam. Die vielleicht
Die letzte Erwähnung des Titus fin- beste Annahme lautet, daß zu Pfingsten
det sich in 2. Timotheus 4,10. Er war bei in Jerusalem auch Kreter anwesend
Paulus während eines Teils seiner zwei- waren (Apg 2,11), die mit der guten
ten Gefangenschaft, doch dann berichtet Nachricht zurückkehrten, und daß dar-
Paulus davon, daß er nach Dalmatien aufhin Ortsgemeinden entstanden.
abgereist sei, einem Teil des ehemaligen Auch können wir nicht sicher sein,
Jugoslawien. Es kann sein, daß Paulus wann Paulus mit Titus in Kreta war. Wir
ihn dorthin gesandt hat, obwohl der all- wissen, daß er in Kreta auf seiner Reise
gemeine Ton dieses Verses der eines ein- nach Rom als Gefangener vorbeikam
samen und verlassenen Mannes ist. (Apg 27,12), doch die Umstände haben
Der Apostel nennt Titus sein echtes wohl kaum einen aktiven Dienst in den
»Kind nach dem gemeinsamen Glau- Gemeinden erlaubt. Weil die Apostelge-
ben«. Das kann bedeuten, daß Paulus schichte sonst nicht erwähnt, daß Paulus
von Gott zur Bekehrung des Titus ge- in Kreta gewesen wäre, nimmt man allge-
braucht wurde, doch nicht notwendiger- mein an, daß sein Besuch dort nach seiner
weise. Paulus hat auch Timotheus sein ersten römischen Gefangenschaft statt-
echtes Kind im Glauben genannt (1. Tim fand. Wenn wir ein wenig biblische
1,2), doch ist es möglich, daß Timotheus Detektivarbeit leisten, können wir das
schon ein Jünger war, als Paulus ihm das Folgende aus den verschiedenen Anmer-
erste Mal begegnete (Apg 16,1). Deshalb kungen in den Paulusbriefen entnehmen:
kann der Ausdruck bedeuten, daß diese Zunächst segelte Paulus auf seinem
jungen Männer ähnliche geistliche Qua- Weg nach Asien (heutige Westtürkei)
litäten wie Paulus hatten, und daß sie im von Italien nach Kreta. Nachdem er Titus
christlichen Dienst für Paulus wie Söhne in Kreta gelassen hatte (Titus 1,5), reiste
gewesen waren. er nach Ephesus, der Hauptstadt der Pro-
Seinem jungen Mitarbeiter wünscht vinz Asien. In Ephesus half er Timothe-
Paulus »Gnade, Barmherzigkeit, Friede« us, die Irrlehren zu bekämpfen, die dort
(LU1912). In diesem Zusammenhang be- eingedrungen waren (1. Tim 1,3.4). Dann
deutet »Gnade« göttliche Kraft, die zum segelte er über das Ägäische Meer nach
Leben und Dienst benötigt wird. »Barm- Mazedonien, um sein Hauptvorhaben zu
herzigkeit« ist Mitleid mit der großen erfüllen, das er im Gefängnis beschlossen
Bedürftigkeit des Menschen. »Friede« hatte, nämlich Philippi zu besuchen,
bedeutet Freiheit von Angst, Furcht und sobald er frei war (Phil 1,26). Schließlich
Ablenkung trotz widriger Umstände. reiste er nach Südwesten über Griechen-
Diese kommen zusammen »von Gott, land nach Nikopolis, wo er überwintern
dem Vater, und von Christus Jesus, unse- wollte und wo er erwartete, daß Titus ihn
rem Heiland«. Indem er so den Vater und treffen würde (Titus 3,12).
den Sohn als Quelle von Gnade, Barm- Nach Homer gab es auf Kreta schon
herzigkeit und Friede nennt, zeigt der zu seiner Zeit zwischen neunzig und
Geist Gottes, daß beide völlig gleich sind. hundert Städte, und Gemeinden hatten
sich offensichtlich in etlichen davon
II. Älteste in der Gemeinde (1,5-9) gebildet. In jeder mußten verantwortli-
1,5 Als Paulus Kreta verließ, gab es noch che Älteste ernannt werden.
einiges, »was noch … in Ordnung«
gebracht werden mußte. Es gab Irrlehrer,
die zum Schweigen gebracht werden Exkurs zum Thema Älteste
mußten, und in den Gemeinden waren Älteste im Sinne des NT sind reife christ-
anerkannte geistliche Leiter dringend liche Männer mit festem Charakter, die
nötig. Er ließ Titus zurück, um diese An- geistliche Leiterschaft in der Ortsge-
gelegenheiten zu regeln. meinde ausüben. Die Bezeichnung

1162
Titus 1

»Ältester«, die sich auf die geistliche Rei- sind niemals gleich. Wahrscheinlich reist
fe des Mannes bezieht, ist eine Überset- ein Pastor mehr durch die Gemeinden,
zung des griechischen Wortes presbuteros während ein Ältester normalerweise mit
(von dem das deutsche Wort »Presbyter« einer Ortsgemeinde verbunden ist.
stammt). Das griechische Wort episkopos, Die Funktionen der Ältesten werden
das auch mit »Bischof« oder »Aufseher« sehr ausführlich beschrieben:
übersetzt wird, wird auch benutzt, um 1. Sie hüten und sorgen für die Gemein-
Älteste zu bezeichnen. Damit wird ihre de des Herrn (Apg 20,28; 1. Tim 3,5; 1.
Funktion als Unterhirten der Herde Got- Petr 5,2).
tes beschrieben. 2. Sie müssen achtgeben, die Gemeinde
Die Bezeichnungen »Älteste« und von Angriffen zu bewahren, und
»Bischöfe« werden normalerweise so zwar von äußeren wie von inneren
verstanden, daß sie sich auf dieselben Angriffen (Apg 20,29-31).
Personen beziehen, und zwar aus folgen- 3. Sie leiten und herrschen, jedoch
den Gründen: In Apostelgeschichte 20,17 durch Leitung, nicht durch Antreiben
bat Paulus die »Ältesten« (presbuteroi) zu (1. Thess 5,12; 1. Tim 5,17; Hebr 13,7.
sich, in Vers 28 redet er sie als »Aufseher« 17; 1. Petr 5,3).
an (episkopoi). In 1. Petrus 5,1.2 benutzt 4. Sie predigen das Wort, lehren gesun-
Petrus diese Begriffe ebenfalls gleichbe- de Lehre und weisen diejenigen zu-
deutend. Die Eigenschaften für »Bischö- rück, die ihr widersprechen (1. Tim
fe« (episkopoi) in 1. Timotheus 3 und die 5,17; Titus 1,9-11).
für »Älteste« (presbuteroi) in Titus 1 sind 5. Sie mäßigen und schlichten in lehr-
im wesentlichen die gleichen. mäßigen und ethischen Auseinander-
Im modernen Sprachgebrauch ist ein setzungen (Apg 15,5.6; 16,4).
»Bischof« ein Geistlicher, der eine Diöze- 6. Durch ihr Leben sind sie ein Vorbild
se oder eine Gruppe von Gemeinden in für die Herde (Hebr 13,7; 1. Petr 5,3).
einem Gebiet beaufsichtigt. Doch das 7. Sie versuchen, Gläubige wiederher-
bedeutet das Wort im NT niemals. Nach zustellen, die von einem Fehltritt
der Schrift gibt es immer mehrere Bischö- übereilt worden sind (Gal 6,1).
fe in einer Gemeinde, und nicht einen 8. Sie wachen über die Seelen der Chri-
Bischof über mehrere Gemeinden. sten der Ortsgemeinde als solche, die
Auch sollte man das Ältestenamt einmal Rechenschaft ablegen müssen
nicht mit den heutigen Pastoren gleich- (Hebr 13,17).
setzen, die in erster Linie für die Predigt, 9. Sie üben einen Gebetsdienst, insbe-
die Lehre und die Verwaltung der Sakra- sondere für die Kranken (Jak 5,14.15).
mente einer Gemeinde zuständig sind. 10. Sie sind verantwortlich für die armen
Es ist allgemein anerkannt, daß es solch Heiligen (Apg 11,30).
ein Amt in der Urgemeinde nicht gege- 11. Sie haben Anteil an der Empfehlung
ben hat. Die einfachen Gemeinden be- begabter Männer zu dem Werk, zu
standen aus Heiligen, Bischöfen und dem Gott sie berufen hat (1. Tim 4,14).
Diakonen (Phil 1,1) – das ist alles. Das Es ist eindeutig, daß in der Urgemein-
klerikale System entstand erst im 2. Jahr- de die Ältesten von den Aposteln oder
hundert. ihren Stellvertretern eingesetzt wurden
Ein Pastor im Sinne des NT ist je- (Apg 14,23; Titus 1,5). Das bedeutet
mand, der besondere Dienstgaben hat, jedoch nicht, daß die Apostel und ihre
die der auferstandene und aufgefahrene Mitarbeiter die Macht hatten, einen Mann
Christus gegeben hat, um die Heiligen zu einem Ältesten zu machen. Um Bischof
zum Dienst aufzuerbauen (Eph 4,11.12). zu werden, war sowohl göttliche Befähi-
In vieler Hinsicht sind die Aufgaben des gung als auch menschliche Bereitschaft
Pastoren und der Ältesten ähnlich, denn nötig. Nur der Heilige Geist kann einen
beide sind berufen, die Herde Gottes zu Mann zu einem Bischof oder Leiter
hüten und zu ernähren. Doch die beiden machen (Apg 20,28), doch der Mann muß

1163
Titus 1

das Werk tun wollen (1. Tim 3,1). Wieder nis vor Gott, Entschuldigung bei den
ist diese Vermengung von Göttlichem Menschen, denen sie Unrecht getan
und Menschlichem nötig. haben, und, wenn möglich, durch Wie-
Wenn Ortsgemeinden in apostoli- dergutmachung bereinigen.
scher Zeit gegründet wurden, gab es dort Die zweite Qualifikation, daß sie
keine Ältesten, denn alle Gläubigen »Mann einer Frau« sein sollen, ist minde-
waren Neubekehrte. Doch wenn einige stens auf sieben verschiedenen Arten
Zeit verging, bereitete der Herr bestimm- verstanden worden: 1. Der Betreffende
te Menschen für dieses wichtige Amt vor. muß verheiratet sein, 2. er darf nicht ge-
Weil das NT noch nicht in seiner ge- schieden sein, 3. er darf nicht nach einer
schriebenen Form vorlag, wußten die Scheidung wieder verheiratet sein, 4. er
Christen im allgemeinen nicht, welche darf nicht nach dem Tod seiner Frau wie-
Qualifikationen und Pflichten ein Älte- der geheiratet haben, 5. er darf nicht in
ster haben mußte. Nur die Apostel und Vielehe leben, 6. er darf weder Konkubi-
ihre Mitarbeiter wußten das. Aufgrund nen noch Nebenfrauen haben, 7. er muß
dieses Wissens wählten die Apostel ein treuer Ehemann und Vorbild strenger
Männer aus, die dem göttlichen Maßstab Moralvorstellungen sein.
entsprachen und benannten sie öffentlich Wenn der Ausdruck »Mann einer
als solche. Frau« bedeutet, daß ein Mann verheira-
Heute haben wir das vollständige tet sein müßte, um Ältester zu sein, dann
NT. Wir wissen, was ein Ältester ist und würde dieselbe Argumentation verlan-
was er tun soll. Wenn wir qualifizierte gen, daß er Kinder hat, weil im selben
Männer sehen, die aktiv als Leiter Vers ausgesagt wird, daß seine »Kinder«
fungieren, dann erkennen wir sie an gläubig sein müssen. Sicherlich ist es
(1. Thess 5,12) und gehorchen ihnen vorzuziehen, wenn ein Ältester Familie
(Hebr 13,17). Es geht nicht darum, daß hat, denn er kann besser auf die Famili-
wir sie wählen, sondern wir sollen dieje- enprobleme in der Gemeinde eingehen.
nigen erkennen, die Gott für dieses Amt Doch es ist recht zweifelhaft, ob dieser
ausgewählt hat. Vers es verbietet, daß ein Unverheirateter
Die Qualifikationen für Älteste fin- Ältester wird.
den sich in 1. Timotheus 3,1-7 und hier Es bedeutet wahrscheinlich nicht,
im Titusbrief. Manchmal hören wir die daß er unter keinen Umständen geschie-
Bemerkung, daß es heute keine Bischöfe den sein darf, weil der Erlöser lehrte, daß
mehr gäbe, wenn das wirklich die Anfor- Scheidung in mindestens einem Falle
2)
derungen sind. Diese Vorstellung ver- erlaubt ist (Matth 5,32; 19,9).
wässert die Autorität der Schrift, indem Auch kann der Vers nicht als generel-
sie annimmt, daß die Bibel nicht meint, les Verbot der Wiederheirat nach einer
was sie sagt. In den angegebenen Maß- Scheidung in allen Fällen gelten. So kann
stäben ist nichts, was unvernünftig oder es z. B. geschehen, daß ein Gläubiger, der
unerreichbar wäre. Wir verraten nur un- völlig unschuldig ist, von einer ungläubi-
seren eigenen niedrigen geistlichen Zu- gen Frau verlassen wird, die dann wieder
stand, wenn wir die Bibel als idealistisch heiratet. In solch einem Falle ist der
bezeichnen. Christ nicht verantwortlich. Weil die erste
Ehe durch Scheidung und Wiederheirat
1,6 Älteste sind Männer, die »untade- des ungläubigen Partners gebrochen
lig«, d. h. von zweifelsfreier Integrität wurde, ist er frei, wieder zu heiraten.
sind. Keine Anklage wegen Irrlehren Die Auslegung, daß ein Ältester nicht
oder falschem Verhalten kann gegen sie mehr geeignet für das Amt ist, wenn er
aufrecht erhalten werden. Es bedeutet nach dem Tode seiner ersten Frau wieder
nicht, daß sie sündlos wären, doch wenn heiratet, wird durch das Prinzip ausge-
sie kleinere Sünden begehen, dann sehen schlossen, das in 1. Korinther 7,39 darge-
sie zu, daß sie sie schnell durch Bekennt- stellt wird: »Eine Frau ist gebunden,

1164
Titus 1

solange ihr Mann lebt; wenn aber der Angelegenheiten in Gottes Gemeinde zu
Mann entschlafen ist, so ist sie frei, sich regeln. Hier wird zum zweiten Mal
zu verheiraten, an wen sie will, nur im gesagt, daß er »untadelig« sein muß –
Herrn muß es geschehen.« ganz sicher liegt hier die Betonung auf
Sicherlich bedeutet der Ausdruck seinem Ruf. Ganz zweifellos gilt, daß er
»Mann einer Frau«, daß ein Ältester kein ein Mann sein muß, der über aller Kritik
Polygamist sein darf, und daß er auch steht, sowohl von der Lehre als auch von
keine Konkubine oder »Freundin« haben seinem Lebenswandel her. Er darf »nicht
darf. Zusammengefaßt bedeutet es, daß eigenmächtig« sein. Wenn ein Mann
sein Eheleben für die Gemeinde ein Bei- dickköpfig auf seinem Recht besteht,
spiel an Reinheit sein muß. auch wenn es sein könnte, daß diejeni-
Zusätzlich dazu muß er »gläubige gen, die nicht seiner Meinung sind, recht
Kinder« haben, »die nicht eines aus- haben, wenn er unnachgiebig und unge-
schweifenden Lebens beschuldigt oder duldig auf Widerspruch reagiert, dann
aufsässig sind«. Mehr als die meisten ist er nicht geeignet, ein geistlicher Leiter
von uns zugeben würden, hält die Bibel zu sein. Ein Ältester ist ein Vermittler,
die Eltern für verantwortlich, wie sich kein dogmatischer Alleinherrscher.
ihre Kinder entwickeln (Spr 22,6). Wenn Er darf nicht »jähzornig« sein. Wenn
eine Familie gut geleitet und im Wort er ein explosives Temperament hat, dann
Gottes unterrichtet wird, dann folgen die muß er gelernt haben, es zu zügeln.
»Kinder« im allgemeinen dem gottes- Wenn er wirklich heißblütig ist, dann
fürchtigen Beispiel ihrer Eltern. Obwohl darf er es niemals zeigen.
ein Vater nicht die Erlösung seiner Kin- Er darf »nicht dem Wein ergeben«
der hervorbringen kann, kann er doch sein. In unserer Kultur ist das so grund-
den Weg des Herrn vorbereiten, indem er legend, daß man es kaum zu erwähnen
sie im Wort unterrichtet, sie liebevoll dis- braucht. Doch dürfen wir nicht verges-
zipliniert und Heuchelei und Inkonse- sen, daß die Bibel für alle Kulturen
quenz in seinem eigenen Leben meidet. geschrieben ist. In Ländern, wo Wein von
Wenn Kinder verschwendungssüch- Christen als gewöhnliches Getränk ange-
tig sind oder gegen die Autorität ihrer sehen wird, besteht die Gefahr, sich zu
Eltern aufbegehren, dann zieht die viel zu genehmigen und dann unkontrol-
Schrift den Vater dafür zur Verantwor- liert zu handeln. Diese mangelnde
tung. Seine Laxheit und Nachgiebigkeit Selbstkontrolle ist hier gemeint.
sind dafür verantwortlich. Wenn er seine Die Bibel unterscheidet zwischen
eigene Familie nicht ordentlich beherr- Gebrauch und Mißbrauch von Wein. Sein
schen kann, dann ist es unwahrschein- mäßiger Gebrauch als Getränk wurde von
lich, daß er ein geeigneter Ältester wäre, Jesus erlaubt, als er bei der Hochzeit zu
weil in beiden Fällen die gleichen Prinzi- Kana Wasser in Wein verwandelt hat
pien gelten (1. Tim 3,5). (Joh 2,1-11). Die medizinische Verwen-
Es stellt sich die Frage, ob die Anfor- dung wurde von Paulus dem Timotheus
derung, gläubige Kinder zu haben, nur verschrieben (1. Tim 5,23; s. a. Spr. 31,6).
so lange gilt, wie die Kinder unter der Der Mißbrauch von Wein und stärkeren
elterlichen Autorität zu Hause stehen, Getränken wird in Sprüche 20,1; 23,29-35
oder ob es auch die einschließt, die nicht verurteilt. Während in der Welt totale Ab-
mehr zu Hause leben. Wir geben der stinenz nicht notwendig ist, gibt es doch
ersten Ansicht den Vorzug, doch erin- Situationen, in denen Abstinenz erforder-
nern wir uns daran, daß die häusliche lich ist, nämlich, wenn das Trinken von
Lehre eine der prinzipiellen Grundlagen Wein einen schwächeren Bruder entwe-
für den Charakter legt. der stören oder ihn zu Fall bringen würde
1,7 Ein »Aufseher« ist »Gottes Ver- (Röm 14,21). Dieses ist ein bedeutsames
walter«. Er verwaltet nicht seine eigene Argument, das viele Christen zur voll-
Gemeinde. Er ist ausersehen, Gottes ständigen Alkoholabstinenz bringt.

1165
Titus 1

Für den Ältesten gilt, daß es nicht um tet, daß der Betreffende jede Leiden-
ein vollständiges Verbot des Weins geht, schaft und jedes Begehren so unter Kon-
sondern um seinen übermäßigen Ge- trolle hat, daß er Christus gehorchen
brauch, der zu unkontrolliertem Verhal- kann. Während die Kraft dazu nur vom
ten führt. Heiligen Geist kommen kann, ist dazu
Auch sollte ein Ältester kein »Schlä- Disziplin und Mitarbeit vom Gläubigen
ger« sein. Er darf keine physische Gewalt nötig.
anwenden, indem er andere schlägt. Wir 1,9 Der Älteste muß einen nüchternen
haben von übereifrigen Geistlichen ge- Glauben haben. Er muß an geistlich
hört, die unbotmäßige Glieder ihrer Ge- gesunder Lehre festhalten, die vom
meinde schon mal schlugen. Diese Art Herrn Jesus und den Aposteln gelehrt
der gewalttätigen Einschüchterung ist und für uns im NT festgehalten wurden.
dem Ältesten verboten. Nur dann wird er in der Lage sein, den
Er darf auch nicht »schändlichem Heiligen eine ausgeglichene Ernährung
Gewinn« nachjagen, er darf nicht auf aus »gesunder Lehre« zu geben, und die-
jeden Fall darauf bedacht sein, reich zu jenigen zum Schweigen zu bringen, die
werden, und darf nicht darauf sehen, wie gegen die Wahrheit reden.
seine Stellung bezahlt ist. Es stimmt, wie Dies sind die Qualifikationen für
Samuel Johnson gesagt hat, daß »die geistliche Leiter in der Ortsgemeinde.
Lust auf Gold, Gefühllosigkeit und Un- Man sollte festhalten, daß nichts über die
barmherzigkeit, die unterste Stufe des leiblichen Fähigkeiten, die Ausbildung,
gefallenen Menschen ist«. Ein wahrer den sozialen Status oder den Geschäfts-
Ältester kann mit Paulus sagen: »Ich erfolg eines Ältesten gesagt ist. Es stimmt
habe von niemandem Silber oder Gold nicht, wie manchmal gesagt wird, daß
oder Kleidung begehrt« (Apg 20,33). dieselben Qualitäten, die einen Mann
1,8 Zu den positiven Eigenschaften im Geschäft erfolgreich sein lassen, ihn
eines Ältesten gehört, daß er »gastfrei« auch zur Leiterschaft in der Gemeinde
sein sollte. Sein Haus sollte immer Frem- befähigen.
den offen stehen, denen, die persönliche Ein anderer Punkt sollte noch er-
Probleme haben, den Entmutigten und wähnt werden. Das Bild, das hier von
Unterdrückten. Es sollte immer ein Ort einem gottesfürchtigen Ältesten gezeich-
froher christlicher Gemeinschaft sein, wo net wird, ist nicht das eines Menschen,
jeder Gast aufgenommen wird, als wäre der Vorträge organisiert, Finanzen ver-
er der Herr selbst. waltet, Verträge für Gebäudesanierun-
Als nächstes muß er »das Gute lie- gen aufsetzt oder was es sonst noch so
ben« – gute Menschen und gute Dinge. gibt. Der wahre Älteste ist in erster Linie
Seine Rede, sein Handeln und seine Ver- am geistlichen Leben der Gemeinde
bindungen sollten zeigen, daß er sich beteiligt, indem er lehrt, ermahnt, ermu-
von allem Zweideutigen, Fragwürdigen tigt, tadelt und korrigiert.
und Falschen absondert.
Er muß »besonnen« sein. Das bedeu- III. Irrlehren in der Gemeinde (1,10-16)
tet, daß er selbstbeherrscht, diskret und 1,10 In der Urgemeinde gab es die »Frei-
umsichtig handelt. Dasselbe Wort wird heit des Heiligen Geistes«, d. h. Freiheit
in Titus 2,2.5.6.12 verwendet, wo es dar- für die Männer, an den Versammlungen
um geht, vernünftig, nüchtern und teilzunehmen, wie sie vom Heiligen
selbstbeherrscht zu sein. Geist dazu geleitet wurden. Paulus be-
Er muß in seinem Handeln an ande- schreibt solch eine »offene« Versamm-
ren »gerecht« sein. In bezug auf Gott lung in 1. Korinther 14,26: »Was ist nun,
muß er »heilig« sein, in bezug auf sich Brüder? Wenn ihr zusammenkommt, so
selbst »enthaltsam«. Das erwähnt Paulus hat jeder einen Psalm, hat eine Lehre, hat
auch in Galater 5,22.23: »Die Frucht des eine Sprachenrede, hat eine Offenba-
Geistes ist … Enthaltsamkeit.« Es bedeu- rung, hat eine Auslegung; alles geschehe

1166
Titus 1

zur Erbauung.« Das ist die Idealsituati- schaft sprach die gesetzliche Ader in den
on, wenn der Geist Gottes so frei ist, Menschen an und ermutigte sie zu glau-
durch verschiedene Glieder der Gemein- ben, daß sie Gottes Wohlwollen gewin-
de zu sprechen. Doch wie die menschli- nen können, indem sie bestimmte religiö-
che Natur nun einmal ist, wo immer sol- se Praktiken beachten, auch wenn ihr
che Freiheit besteht, finden sich schon Leben ansonsten korrupt und unrein war.
bald Männer, die diese Freiheit durch Irr- Sie lehrten »um schändlichen Gewinnes
lehren, unerbauliche Kleinlichkeit oder willen«, wozu sie kein Recht hatten.
scheinbar endloses, völlig geistloses Ge- 1,12 Hier erinnert Paulus Titus daran,
plapper mißbrauchen. mit welchen Menschen er es zu tun hat.
Das war in den kretischen Gemein- Die außergewöhnlich unverblümte und
den geschehen. Paulus erkannte, daß bissige Beschreibung galt sowohl für die
hier eine starke geistliche Führerschaft Irrlehrer im Besonderen als auch für die
notwendig war, um den Mißbrauch zu »Kreter« allgemein. Er zitiert Epime-
kontrollieren und die Freiheit des Geistes nides, einen ihrer eigenen Dichter, der
trotzdem zu erhalten. Er erkannte auch, etwa 600 v. Chr. lebte und sie als unver-
daß große Sorgfalt bei der Ernennung besserliche »Lügner, böse, wilde Tiere,
von Ältesten nötig war, die wirklich qua- faule Bäuche« bezeichnet. Es scheint so
lifiziert waren. Deshalb führt er hier die zu sein, daß jedes Volk einen National-
Zustände auf, die zum baldigen Handeln charakter hat, doch es gibt nur wenige
durch Ernennung von Ältesten in den Völker, die die Kreter überbieten konn-
Gemeinden nötigten. ten. Sie waren gewohnheitsmäßige und
»Viele aufsässige« Menschen hatten zwanghafte »Lügner«. Sie waren wie
sich erhoben, um die Autorität der Apo- wilde Tiere, die nur lebten, um wilde und
stel zu untergraben und ihre Lehren zu rohe Triebe zu befriedigen. Sie reagierten
leugnen. Sie waren sowohl »hohle allergisch gegen Arbeit und der Völlerei
Schwätzer« als auch »Betrüger«. Ihr verfallen führten sie ein Leben, das nur
Reden war geistlich völlig unnütz. Statt der Küche galt, aber nicht der Kirche!
dessen beraubten sie Menschen der 1,13 Der Apostel bestätigt die Wahr-
Wahrheit und führten sie zu Irrtümern. heit der Charakterskizze. Titus hatte
Die wichtigsten Unruhestifter waren wenig vielversprechendes Rohmaterial,
»die aus der Beschneidung«, d. h. jüdi- mit dem er zu arbeiten hatte – genug, um
sche Irrlehrer, die vorgaben Christen zu jeden Missionar zur Verzweiflung zu
sein, und doch darauf bestanden, daß treiben! Doch Paulus hat diese Menschen
Christen beschnitten sein und das Zere- weder abgeschrieben noch riet er Titus,
monialgesetz halten müßten. Dies war sie zu verlassen. Durch das Evangelium
eine praktische Leugnung der Tatsache, gibt es auch für die schlimmsten Men-
daß das Werk Christi für alles völlig aus- schen Hoffnung. Deshalb rät Paulus sei-
reicht. nem Mitarbeiter, sie »streng« zurechtzu-
1,11 Menschen wie diese mußten zum weisen, »damit sie im Glauben gesund
Schweigen gebracht werden. Sie mußten seien«. Eines Tages könnten sie nicht nur
lernen, daß die Gemeinde keine Demo- vorbildliche Gläubige sein, sondern auch
kratie ist, und daß Redefreiheit auch ihre gottesfürchtige Älteste der Ortsgemein-
Grenzen hat. Sie hatten ganze »Häuser« de. Dieser Abschnitt fließt vor Ermuti-
umgekehrt. Bedeutet das, daß sie ihre gung über für Christen, die auf schwieri-
schlimmen Lehren außerhalb der Öffent- gen Arbeitsfeldern dieser Welt arbeiten
lichkeit in den Familien verbreitet hatten? (und welches Feld hat keine Schwierig-
Diese ist eine Lieblingsmethode der Sek- keiten?). Über die Rohheit, Beschränkt-
ten (2. Tim 3,6). Auch ihre Motive waren heit und Gleichgültigkeit hinaus gibt es
suspekt. Sie waren auf Geld aus, wollten immer die Vorstellung daß sie freundli-
den Dienst als Grundlage eines lukrati- che, reine und fruchtbare Heilige werden
ven Geschäftes mißbrauchen. Ihre Bot- können.

1167
Titus 1

1,14 Wenn Titus die Irrlehrer ernst- unrein machen, doch für einen Christen,
haft ermahnen würde, sollte er sie auch der unter der Gnade lebt, völlig erlaubt
vor den »jüdischen Fabeln und Geboten sind. Das offensichtliche Beispiel ist das
von Menschen« warnen, »die sich von Essen von Schweinefleisch. Das war dem
der Wahrheit abwenden«. Die jüdischen Volk Gottes des AT verboten, doch der
Irrlehrer lebten in einer Welt religiöser Herr Jesus hat dies alles für ungültig
Phantasien und Regeln, die sich um reine erklärt, als er sagt, daß nichts, was in den
und unreine Speisen, die Beachtung von Menschen hineinginge, ihn beschmutzen
Feiertagen und die Vermeidung zeremo- könne (Mk 7,15). Damit erklärte er alle
nieller Unreinheit drehten. Darüber Speisen für rein (Mk 7,19). Paulus wie-
schrieb Paulus in Kolosser 2,23: »Die derholte diese Wahrheit, als er sagte:
zwar einen Schein von Weisheit haben in »Speise aber macht uns nicht angenehm
eigenwilligem Gottesdienst und in vor Gott; weder sind wir, wenn wir nicht
Demut und im Nichtverschonen des Lei- essen, geringer, noch sind wir, wenn wir
bes, also nicht in einer gewissen Wert- essen, besser« (1. Kor 8,8). Wenn er sagt:
schätzung, sondern zur Befriedigung des »Dem Reinen ist alles rein«, dann meint
Fleisches.« er, daß dem wiedergeborenen Gläubigen
1,15 Was der Apostel als nächstes alle Speisen rein sind, jedoch »den
sagt, hat Anlaß zu so großen Mißver- Befleckten aber und Ungläubigen ist
ständnissen gegeben, daß es einer sorg- nichts rein«. Nicht was ein Mensch ißt,
fältigen Erklärung bedarf. Er schreibt: verunreinigt ihn, sondern was aus sei-
»Den Reinen ist alles rein; den Befleckten nem Herzen kommt (Mk 7,20-23). Wenn
aber und Ungläubigen ist nichts rein, das innere Leben eines Menschen unrein
sondern befleckt ist sowohl ihre Gesin- ist, wenn er nicht an den Herrn Jesus
nung als auch ihr Gewissen.« glaubt, dann ist ihm nichts rein. Die
Wenn wir die Worte »den Reinen ist Beachtung von Speisevorschriften bringt
alles rein« aus ihrem Zusammenhang ihm keinen Vorteil. Mehr als alles andere
reißen und als eine absolute Wahrheit für muß er sich bekehren, damit er die Erlö-
alle Lebensgebiete nehmen, dann geraten sung als Geschenk erhält, statt zu versu-
wir in ernsthafte Schwierigkeiten! Nicht chen, sich durch Rituale und Gesetzlich-
alles ist rein, auch nicht für die, die reines keit die Erlösung zu verdienen. Gerade
Herzens sind. Doch haben Menschen der Geist und das Gewissen von unrei-
wirklich diesen Vers benutzt, um porno- nen Menschen sind verschandelt. Ihre
graphische Schriften, anstößige Filme Gedankengänge und Verstandeskräfte
und sogar eheliche Untreue zu begrün- sind beschmutzt. Es geht hier nicht um
den. Das ist es, was Petrus meint, wenn eine Frage äußerlicher zeremonieller Ver-
er sagt, daß Menschen die Schrift »zu unreinigung, sondern um innere Verdor-
ihrem eigenen Verderben« verdrehen benheit und Verworfenheit.
(2. Petr 3,16). 1,16 Offensichtlich spricht Paulus
Wir sollten uns absolut klar darüber hier von den Irrlehrern und sagt, daß sie
sein, daß dieser Vers nichts mit Dingen vorgeben, »Gott zu kennen, aber« in
zu tun hat, die an sich sündig sind und in ihren »Werken verleugnen sie ihn«. Sie
der Bibel verurteilt werden. Dieser tun so, als seien sie christliche Gläubige,
sprichwortartige Ausspruch des Paulus doch ihr Leben entspricht nicht ihrem
muß in seinem Zusammenhang verstan- Bekenntnis. Um seine stechende Geiße-
den werden. Paulus hat nicht von ein- lung ausführlicher zu erläutern, bezeich-
deutig falschen Dingen gesprochen, es net der Apostel sie als »abscheulich und
geht hier nicht um eindeutige sittliche ungehorsam und zu jedem guten Werk
Regeln. Er spricht hier vielmehr von unbewährt«. Ihr persönliches Verhalten
Angelegenheiten, die moralisch gesehen war abscheulich. In Gottes Augen hatten
neutral sind, Dinge, die dem Juden, der sie nur schlimmsten Ungehorsam bewie-
unter dem Gesetz lebt, zeremoniell sen. Was gute Werke für Gott oder Men-

1168
Titus 2

schen anbetraf, so waren sie wertlos. Lag sollten auch »gesund … in der Liebe«
es noch innerhalb der Grenzen christli- sein. Liebe ist nicht selbstbezogen, sie
cher Nächstenliebe, daß Paulus mit solch denkt an andere und zeigt sich im Geben.
starken Ausdrücken über andere Men- Und sie sollten »im Ausharren« oder in
schen sprach? Die Antwort ist ein ausge- der Geduld eifrig sein. Das Alter hat sei-
sprochenes Ja! Die Liebe verniedlicht ne Krankheiten und Wehwehchen, die
Sünde nie. Diese Männer verdrehten das man oft nur schwer erträgt. Diejenigen,
Evangelium, entehrten die Person und die gesund im Ausharren sind, ertragen
das Werk des Herrn Jesus und führten diese Versuchungen freudig und mit
Menschen in die Irre. Solche Betrüger Stärke.
noch zu schonen, wäre Sünde. 2,3 »Alte Frauen« sollten auch eine
»Haltung« haben, »wie es der Heiligkeit
IV. Einübung in den Glauben in der geziemt«. Herr, befreie uns von den
Gemeinde (2,1-15) leichtfertigen Frauen, deren Gedanken
2,1 Das Leben dieser Irrlehrer war eher um überflüssige Angelegenheiten krei-
eine Verleumdung des Glaubens als eine sen! Sie sollten »nicht verleumderisch«
Bibel. Durch ihr Verhalten leugneten sie sein. Das Wort, das Paulus hier benutzt,
die großen Glaubenswahrheiten. Wer ist das griechische Wort für den Teufel
kann den Schaden ermessen, der dem (diabolos). Es ist ein geeignetes Wort, weil
christlichen Zeugnis von solchen zuge- böser Klatsch von seiner Quelle und
fügt wurde, die große Heiligkeit vorga- Natur her teuflisch ist. Sie sollten nicht
ben, deren Leben aber durch die Lüge dem Trunk ergeben sein. Auch sollten sie
gekennzeichnet war? Die Aufgabe, die nicht von Speisen, Getränken oder Medi-
Titus (und allen echten Dienern des zin abhängig sein. Obwohl sie kein öffent-
Herrn) gegeben worden war, lautete, das liches Lehramt in der Gemeinde beklei-
zu lehren, »was der gesunden Lehre ge- den, sind ältere Frauen angehalten, im
ziemt«. Er sollte die schreckliche Kluft Haus zu lehren. Wer kann die Möglich-
zwischen den Lippen des Volkes Gottes keiten eines solchen Dienstes ermessen?
und ihrem Leben schließen. Dies ist auch 2,4 Insbesondere sollten ältere Frauen
der Schlüssel zu diesem Brief – die prak- »die jungen Frauen unterweisen«. Jahre
tische Verwirklichung gesunder Lehre des Bibelstudiums und der praktischen
durch gute Werke. Die folgenden Verse Erfahrung ermöglichen es ihnen, denen
geben praktische Beispiele, wie diese wertvollen Rat zu erteilen, die ihr Leben
guten Werke aussehen sollten. gerade erst beginnen. Andernfalls ist
2,2 Zunächst kommen wir zu den jede neue Generation dazu bestimmt, die
»alten Männern« – nicht Älteste im offi- Fehler der Vergangenheit zu wiederho-
ziellen Sinne, sondern Männer, die schon len. Während die Verantwortung zur
alt und reif waren. Sie sollten »nüchtern« Lehre den alten Frauen gegeben wird,
sein. In erster Linie bedeutet das, daß sie wird jede verständige junge Frau eine
beim Weintrinken mäßig sein sollten, Freundschaft mit gottesfürchtigen älte-
doch heißt es weiter, daß sie in allen Ver- ren Christen pflegen und sie um Rat und
haltensbereichen Vorsicht walten lassen Korrektur bitten.
sollten. Sie sollten »ehrbar« und würdig Eine junge Frau sollte gelehrt wer-
sein, aber nicht – trübsinnig! Andere den, ihren Mann »zu lieben«. Doch be-
haben genug eigene Probleme. Die älte- deutet das mehr als ihm einen Ab-
ren Männer sollten »besonnen« sein, schiedskuß zu geben, wenn er zur Arbeit
d. h. ausgleichend und diskret. Sie soll- geht. Dazu gehören tausende Möglich-
ten »gesund im Glauben« sein. Das Alter keiten, auf die sie ihm zeigen kann, daß
macht manche Menschen bitter, zynisch sie ihn wirklich respektiert – indem sie
und herzlos. Diejenigen, die »gesund im seine Leiterschaft in der Familie aner-
Glauben« sind, sind dankbar, optimi- kennt, indem sie keine größeren Ent-
stisch und immer gute Gesellschafter. Sie scheidungen ohne ihn trifft, ihm die

1169
Titus 2

Wohnung ordentlich hält, indem sie auf stert« bzw. entehrt wird. In seinem
ihre persönliche Erscheinung achtet, in- ganzen Brief ist sich Paulus der Schmach
dem sie innerhalb ihrer Geldmittel lebt, bewußt, die auf des Herrn Sache kommt,
indem sie sofort Sünden bekennt, groß- weil sein Volk viel zu inkonsequent lebt.
zügig vergibt, die Kommunikation auf- 2,6 Paulus hat Titus nicht aufgefor-
recht erhält, indem sie ihn nicht vor dert, selbst die jungen Frauen zu lehren.
anderen kritisiert oder ihm widerspricht, Um nicht bösen Lästerzungen Ursache
und indem sie ihn unterstützt, wenn zu geben, wird dieser Dienst den älteren
Schwierigkeiten auftauchen. Frauen überlassen. Doch wird er aufge-
Sie sollten gelehrt werden, »ihre Kin- fordert, »die jungen Männer« zu ermah-
der zu lieben« – indem sie ihnen aus der nen, und zwar insbesondere, daß sie »be-
Bibel vorlesen und mit ihnen beten, sonnen« sein sollen und sich selbst unter
indem sie sie fest und gerecht in Zucht Kontrolle halten sollen. Das ist hier eine
halten, indem sie sie für den Dienst des angebrachte Ermahnung – denn die
Herrn heranbilden, statt für die Welt und Jugend ist die Zeit überschäumenden
damit – die Hölle. Eifers, rastloser Energie und brennender
2,5 Junge Frauen sollten gelehrt wer- Triebe. Auf jedem Lebensgebiet müssen
den, »besonnen« zu sein. Das bedeutet, sie Ausgleich und Beschränkung lernen.
daß sie ein feines Gespür dafür ent- 2,7 Paulus hat auch für Titus selbst
wickeln, was für sie als Christen richtig Rat. Als einer, der mit einem öffentlichen
ist und wie sie Extreme meiden können. Amt in der Gemeinde betraut ist, muß
Sie sollten »keusch« sein, ihrem Ehe- Titus sicherstellen, ein konsequentes
mann treu und unreine Gedanken, Wor- »Vorbild guter Werke« zu sein. Es sollte
te oder Handlungen vermeiden. Sie soll- enge Parallelen zwischen seiner »Lehre«
ten »mit häuslichen Arbeiten beschäf- und seinem Verhalten geben. Seine Lehre
tigt« sein. Sie sollten erkennen, daß dies sollte sich durch Unverfälschtheit (nach
der göttliche Dienst ist, der zur Verherr- LU1984) und »würdigen Ernst« auszeich-
lichung Gottes getan werden kann. Älte- nen. »Unverfälschte Lehre« (LU1984) be-
re Frauen sollten versuchen, die hohe deutet, daß seine Lehre mit dem ein für
Ehre des Dienstes für den Herrn in der allemal den Heiligen offenbarten Glau-
Familie als Hausfrau und Mutter den ben übereinstimmen sollte. Mit »würdig«
jungen Frauen einzuprägen, statt ihnen meint Paulus, daß die Lehre vernünftig
nahezulegen, in der Industrie oder im und respektvoll sein soll. Mit »Unverdor-
Geschäftsleben zu arbeiten und Heim benheit« (eine Tugend, die in den meisten
und Familie zu vernachlässigen. Junge Bibelversionen ausgelassen wird) ist der
Frauen sollten gelehrt werden, »gütig zu ehrliche Lehrer gemeint, der nicht vom
sein« – wie sie für andere leben können, Weg der Wahrheit abgebracht werden
wie sie gastfreundlich und großzügig kann.
sein können statt selbstbezogen und ver- 2,8 »Gesunde, unanfechtbare Rede«
einnahmend. Sie sollten sich »den eige- ist frei von jedem Anstoß. Sie sollte keine
nen Männern« unterordnen und sie als unwichtigen Nebensachen, lehrmäßige
Haupt des Hauses anerkennen. Wenn Moden, Seltsamkeiten oder ähnliches
eine Frau begabter ist als ihr Ehemann, enthalten. Ein solch gesunder Dienst ist
dann sollte sie ihn nicht zu beherrschen unwiderstehlich. Diejenigen, die ge-
versuchen, sondern ihn ermutigen und sunder Lehre widerstehen, werden be-
dabei helfen, eine aktivere Rolle in der schämt, weil sie keine Lücke in der
Familienleitung und im Dienst der Orts- Rüstung des Gläubigen finden können.
gemeinde einzunehmen. Wenn sie ver- Es gibt kein Argument, das so effektiv
sucht sein sollte, zu kritisieren, dann soll- wäre wie ein geheiligtes Leben!
te sie dieser Versuchung widerstehen 2,9 Nun werden den Sklaven beson-
und ihn statt dessen loben. All dies dient dere Anweisungen gegeben. Wir sollten
dazu, daß »das Wort Gottes nicht verlä- uns daran erinnern, daß die Bibel die Exi-

1170
Titus 2

stenz von Einrichtungen anerkennt, die che Ethik hielt sie zu völliger Ehrlichkeit
sie nicht notwendigerweise für gut hält. an. Ist es ein Wunder, daß christliche
So berichtet z. B. das AT über die Polyga- Sklaven bei Versteigerungen höhere Prei-
mie der Patriarchen, doch war Polyga- se erzielten als Nichtchristen? Im allge-
mie niemals Gottes Wille für sein Volk. Er meinen wurden sie gelehrt, vollständige
hat auch niemals die Ungerechtigkeit und echte »Treue zu erweisen«. Sie soll-
und Grausamkeiten der Sklaverei gutge- ten völlig vertrauenswürdig sein, und so
heißen und wird die Sklavenhalter eines »die Lehre, die unseres Heiland-Gottes
Tages zur Rechenschaft ziehen. Gleich- ist«, sowohl in ihrem Leben als auch
zeitig jedoch lehrt das NT keine Abschaf- ihrem Dienst »zieren«. Was für einen
fung der Sklaverei durch eine gewalttäti- christlichen Sklaven damals galt, sollte
ge Revolution. Sie verurteilt den Miß- heute für alle christlichen Arbeitnehmer
brauch der Sklaverei jedoch und verän- genauso gelten.
dert durch die Macht des Evangeliums. 2,11 Die nächsten vier Verse zeigen
Die Geschichte zeigt, daß die Übel der ein schönes Bild unserer Erlösung. Doch
Sklaverei überall dort verschwunden wenn wir diesen literarischen Edelstein
sind, wo das Wort Gottes weit verbreitet bewundern, dürfen wir ihn nicht aus sei-
und gelehrt wurde. ner Fassung (d. h. aus dem Zusammen-
Doch in der Zwischenzeit, in der es hang) entfernen. Paulus hat alle Glieder
immer noch Sklaverei gibt, ist ein Sklave der Familie Gottes zu konsequenter
nicht von den besten Vorzügen des Chri- Umsetzung der christlichen Lehre aufge-
stentums ausgeschlossen. Er kann ein fordert. Nun zeigt er, daß eines der
Zeuge der verändernden Macht Christi großen Ziele unserer Erlösung ist, ein
werden und so der Lehre unseres Herrn Leben von unverdorbener Heiligung
und Heilandes zur Zierde gereichen. Im hervorzubringen.
NT ist den Sklaven mehr Raum gegeben »Denn die Gnade Gottes ist erschie-
als den Beherrschern der Nationen! Dies nen.« Hier ist die Gnade Gottes praktisch
mag ein Hinweis auf ihre relative Bedeu- gleichbedeutend mit dem Sohn Gottes.
tung im Reich Gottes sein. Christliche Gottes Gnade »erschien«, als der Herr
»Sklaven« sollten »sich in allem unter- Jesus auf unsere Erde kam, und insbe-
ordnen«, außer wenn es heißen sollte, sondere, als er sich selbst für unsere Sün-
dadurch dem Herrn nicht zu gehorchen. den hingab. Er erschien zur Erlösung
In diesem Falle müßten sie sich weigern aller »Menschen«. Sein stellvertretendes
und als Christen geduldig die Folgen Werk reicht für die Erlösung aller aus.
ihres Handelns auf sich nehmen. Sie soll- Allen wird die Vergebung angeboten.
ten ihre Herren in jeder Hinsicht zufrie- Doch nur diejenigen, die ihn wirklich als
denstellen, d. h. sowohl in der Qualität Herrn und Heiland annehmen, werden
als auch in der Quantität. Solcher Dienst gerettet. Weder hier noch anderswo in
kann als dem Herrn getan werden und der Bibel wird angedeutet, daß einmal
wird von ihm voll belohnt. Sie sollten alle Menschen errettet werden. Die All-
nicht »widersprechen« oder Widerworte versöhnung ist eine Lüge Satans.
geben. Viele Sklaven hatten das Vorrecht, 2,12 Dieselbe Gnade, die uns dient,
in der Frühzeit des Christentums ihre lehrt uns auch in der Schule der Heili-
Herren zum Herrn Jesus zu führen, und gung. Es gibt Verbote in dieser Schule,
zwar größtenteils, weil der Unterschied denen wir folgen lernen müssen. Das
zwischen ihnen und den heidnischen erste Verbot gilt der »Gottlosigkeit«,
Sklaven so eindeutig war. d. h., daß wir nicht so leben dürfen, als
2,10 Einer der offensichtlichsten gäbe es Gott nicht. Das zweite Verbot
Unterschiede war, daß die Christen sich betrifft die »weltlichen Lüste« – nicht
nicht der häufigsten Sünde der anderen nur sexuelle Sünden, sondern auch das
Sklaven schuldig machten, daß sie näm- Streben nach Reichtum, Macht, Vergnü-
lich nichts »unterschlugen«. Die christli- gen, Ruhm und allem anderen, was

1171
Titus 2 und 3

grundsätzlich dem weltlichen Bereich würden. Wir sollten eifrig sein, in seinem
angehört. Namen und zu seiner Ehre gute Taten zu
Auf der Seite der Gebote lehrt uns die tun. Wenn wir an den Eifer der Men-
Gnade, »besonnen und gerecht« anderen schen in Sport, Politik und Geschäft den-
gegenüber zu leben, und »gottesfürch- ken, dann sollten wir uns zu heilsamer
tig« im Licht von Gottes Gegenwart zu Eifersucht herausfordern und inspirieren
sein. Dies sind die Tugenden, die uns in lassen, gute Taten zu vollbringen.
dieser Welt kennzeichnen sollten, in der 2,15 »Dies« sollte Titus lehren – alles,
sich alle Maßstäbe auflösen. Diese Welt was in den vorangegangenen Versen dis-
ist der Schauplatz unserer Pilgerschaft kutiert wurde und besonders den Zweck
und nicht unsere Heimat. des Leidens unseres Heilandes. Er sollte
2,13 Während wir als Fremdlinge in die Heiligen »ermahnen« oder ermun-
der Welt leben, werden wir von einer tern, ein Leben praktischer Heiligung zu
wunderbaren »Hoffnung« getrieben – führen und jeden zu »überführen«, der
nämlich von der Hoffnung auf die »Er- den apostolischen Lehren entweder in
scheinung der Herrlichkeit unseres Taten oder Worten widersprach. Und er
großen Gottes und Heilandes Jesus Chri- sollte sich nicht für seine Strenge ent-
stus«. Haben wir darunter die Ent- schuldigen, sondern »mit allem Nach-
rückung zu verstehen, wenn Christus druck« und dem Mut des Heiligen Gei-
der Gemeinde in Herrlichkeit erscheint stes lehren. »Niemand soll dich verach-
und sie in den Himmel holt (1. Thess ten!« Titus sollte keine Skrupel wegen
4,13-18)? Oder bezieht sie sich auf die seiner Jugend, seinem heidnischen Hin-
kommende Herrschaft Christi, wenn er tergrund oder wegen irgendeines Man-
der Welt in Herrlichkeit erscheint, seine gels haben. Er verkündigte das Wort Got-
Feinde überwindet und sein Reich er- tes, und das machte den Unterschied aus.
richtet (Offb 19,11-16)? Wir glauben, daß
Paulus grundsätzlich hier eher von der V. Ermahnung in der Gemeinde
Entrückung spricht – dem Kommen (3,1-11)
Christi für seine Braut, die Gemeinde. 3,1 Titus sollte die Gläubigen in den kre-
Doch ob er nun als Bräutigam oder tischen Gemeinden auch an ihre Verant-
König kommt, der Gläubige sollte auf wortung gegenüber ihrer Regierung
seine Erscheinung in »Herrlichkeit« vor- »erinnern«. Der christliche Ansatz lautet,
bereitet sein und auf sie warten. daß alle Regierungen von Gott eingesetzt
2,14 Während wir auf Christi Wieder- sind (Röm 13,1). Eine Regierung kann
kehr warten, vergessen wir nie den unchristlich oder sogar antichristlich
Zweck seines ersten Kommens und sei- sein, doch jede Regierung ist besser als
ner Opfers am Kreuz. Er »hat sich selbst gar keine. Die Abwesenheit von Regie-
für uns gegeben« nicht nur, um uns von rung ist Anarchie, und in einer Anarchie
der Schuld und Strafe der Sünde zu erlö- können Menschen nicht lange überleben.
sen, sondern auch »von aller Gesetzlosig- Auch wenn ein Herrscher Gott nicht
keit«. Es wäre wohl nur eine halbe Erlö- kennt, so ist er doch noch immer »Gottes
sung, wenn die Strafe für die Sünde zwar Gesalbter« in seinem öffentlichen Amt
bezahlt gewesen wäre, doch ihre Herr- und sollte als solcher respektiert werden.
schaft über unser Leben weiter bestehen Christen sollten »staatlichen Gewalten
würde. und Mächten« gehorchen. Doch wenn
Er gab sich auch hin, »um sich selbst eine Regierung ihren von Gott bestimm-
ein Eigentumsvolk« zu reinigen. Er starb, ten Bereich verläßt und einem Gläubigen
damit wir ein »Volk« würden, das ihm befiehlt, Gott ungehorsam zu werden,
auf ganz besondere Weise gehört – ihm, dann sollte sich der Gläubige aufgrund
und nicht der Welt oder gar uns selbst. von Apostelgeschichte 5,29 weigern:
Und er »hat sich selbst für uns gegeben, »Man muß Gott mehr gehorchen als
damit« wir »eifrig in guten Werken« Menschen.« Wenn er dafür bestraft wird,

1172
Titus 3

sollte er die Bestrafung demütig für den 8. Wenn ein Christ wählt, so würde er
Herrn ertragen. Er sollte sich niemals an normalerweise jemanden wählen,
einer Rebellion gegen die Regierung der aufrecht und ehrlich ist. Doch
beteiligen noch versuchen, sie durch manchmal ist es Gottes Wille, die
Gewalt zu Fall zu bringen. niedrigsten Menschen zu erhöhen
(Dan 4,17). Wie können wir in einem
solchen Fall den Willen Gottes erken-
Exkurs über den Christen nen und ihm gehorchen?
und diese Welt Die andere Frage lautet, ob ein Gläu-
Christen sollten dem Gesetz (einschließ- biger in den Krieg ziehen sollte, wenn
lich der Verkehrsgesetze) gehorchen und seine Regierung es ihm befiehlt. Es gibt
ihre Steuern und anderen Abgaben ent- auf beiden Seiten stichhaltige Argumen-
richten. Im allgemeinen sollten sie geset- te, doch scheint es mir so zu sein, daß die
zestreue, gehorsame Untertanen sein. meisten Argumente dagegen sprechen,
Doch gibt es drei Gebiete, auf denen am Krieg teilzunehmen. Die Prinzipien,
Christen sehr unterschiedlicher Meinung die oben aufgelistet sind, gelten auch für
sind, wie sie ihre Verantwortung zu er- dieses Problem, doch gibt es noch zusätz-
füllen haben. Dabei geht es um 1. ihren liche.
Gang zur Wahl, 2. sich selbst um ein 1. Unser Herr sagte: »Wenn mein Reich
öffentliches Amt zu bewerben und 3. um von dieser Welt wäre, so hätten meine
den bewaffneten Kriegsdienst. Zu den Diener gekämpft« (Joh 18,36).
ersten zwei Punkten finden sich die fol- 2. Er hat auch gesagt: »Alle, die das
genden hilfreichen Richtlinien in der Schwert nehmen, werden durchs
Bibel: Schwert umkommen« (Matth 26,52).
1. Christen sind in der Welt, aber nicht 3. Die Vorstellung, ein Menschenleben
von der Welt (Joh 17,14.16). gewaltsam zu beenden, steht im kras-
2. Das ganze Weltsystem befindet sich sen Gegensatz zu der Lehre dessen,
in den Händen des Bösen und ist von der gesagt hat: »Liebt eure Feinde«
Gott verurteilt (1. Joh 5,19b; 2,17; (Matth 5,44).
Joh 12,31). Diejenigen, die es ablehnen, eine Waf-
3. Die christliche Mission besteht nicht fe zu tragen, können dankbar sein, wenn
darin, die Welt zu verbessern, son- sie in einem Land leben, in dem Wehr-
dern dafür zu sorgen, daß Menschen dienstverweigerung gestattet ist.
aus ihr errettet werden. Andererseits haben viele Christen
4. Während der Gläubige fast unaus- ehrenvoll an Kriegen teilgenommen. Sie
weichlich ein Bürger irgendeines irdi- haben festgestellt, daß das NT römische
schen Landes ist, ist die wesentliche- Offiziere (z. B. Cornelius und Julius) im
re Bürgerschaft die des Himmels – besten Licht darstellt. Auch werden Bil-
und zwar so sehr, daß er sich selbst der aus der Militärsprache benutzt, um
als Pilger und Fremdling hier ansieht den geistlichen Kampf zu bezeichnen
(Phil 3,20; 1. Petr 2,11). (z. B. Eph 6,10-17). Wenn Kriegsdienst an
5. Kein Soldat im aktiven Dienst sollte sich verkehrt wäre, so ist es schwierig zu
sich in die Geschäfte dieses Lebens erklären, warum Paulus uns aufruft
verstricken, damit er nicht dem »gute Streiter Christi Jesu« zu sein. Was
mißfällt, der ihn angeworben hat immer jemand zu diesem Thema denkt,
(2. Tim 2,4). wir sollten diejenigen nicht verurteilen,
6. Der Herr Jesus sagte: »Mein Reich ist die anders denken. An dieser Stelle ist
nicht von dieser Welt« (Joh 18,36). Raum für unterschiedliche Ansichten.
7. Politiker lassen sich oft aufgrund
ihres Wesens korrumpieren. Christen Eine andere Verpflichtung des Chri-
sollen sich jedoch vom Bösen trennen sten ist es, »zu jedem guten Werk bereit
(2. Kor 6,17.18). zu sein«. Nicht alle Arbeiten sind ehr-

1173
Titus 3

bar – z. B. basiert ein großer Teil moder- hat. Sie ist niemals rauh, vulgär oder
nen Marketings auf Lügen, und manche ruppig.
Geschäfte verkaufen Produkte, die 3,3 Und wieder fügt der Apostel
schlecht für die geistliche, geistige oder inmitten eines sehr praktischen Ab-
körperliche Gesundheit sind. Mit gutem schnittes ein klassisches Wort zu unserer
Gewissen sollte man solche Beschäfti- Erlösung ein, wobei die Betonung darauf
gungen meiden. liegt, daß das Ziel unserer Erlösung ein
3,2 Ein Christ sollte »niemand … Leben guter Werke ist. Der Gedanken-
lästern«. An anderen Stellen verbietet die gang ist folgender: 1. Unser Zustand vor
Bibel es ausdrücklich, böse von einem der Erlösung (V. 3), 2. die Art unserer Er-
Herrscher zu reden (2. Mose 22,28; lösung (V. 4-7), 3. die praktischen Auswir-
Apg 23,5) – ein Gebot, an das sich alle kungen der Erlösung (V. 8). Gottes Bild
Christen auch in der Hitze politischer von uns vor der Erlösung ist nicht gerade
Auseinandersetzungen oder in Zeiten schmeichelnd. Obwohl wir dachten, auf
der Unterdrückung und Verfolgung erin- alles eine Antwort zu haben, waren wir
nern sollten. Doch hier wird die Ermah- vom Wesen her »unverständig«, nicht in
nung ausgeweitet, um jeden Menschen der Lage, geistliche Wahrheiten zu verste-
vor Spott, Hohn, Beleidigung oder übler hen und äußerst unweise in unseren Ent-
Nachrede zu schützen. Welch Meere von scheidungen und unserem Verhalten. Wir
Trübsal und Problemen könnten die waren »ungehorsam« gegen Gott und
Christen vermeiden, wenn sie nur die- vielleicht auch unseren Eltern und ande-
sem einfachen Gebot gehorchen würden, ren Autoritäten gegenüber. Wir »gingen
»niemand zu lästern«! in die Irre« – dem Satan und unserem
Wir sollten »nicht streitsüchtig« sein eigenen verdorbenen Urteilsvermögen
und Streit vermeiden. Man braucht nach, verpaßten immer wieder den rech-
immer zwei zu einem Streit. Als jemand ten Weg und landeten immer wieder in
einmal versuchte, mit Dr. Ironside einen Sackgassen. Wir »dienten mancherlei«
Streit über ein nebensächliches Thema schlechten Gewohnheiten, waren durch
anzufangen, über das dieser gepredigt ein böses Gedankenleben geknechtet und
hatte, erwiderte er: »Nun, lieber Bruder, von allen möglichen Sünden beherrscht.
wenn wir in den Himmel kommen, dann Unser Leben war von ständigem »Neid«
wird einer von uns sicherlich unrecht und Haß gegenüber anderen Menschen
haben, und es kann gut sein, daß ich das geprägt. Lieblos und selbstsüchtig waren
bin.« Solch eine Gesinnung hatte alle wir selbst unglücklich und machten an-
Streitereien beendet. dere unglücklich. »Verhaßt, einander
Wir sollten »milde« sein. Man kann hassend«: Welch ein trauriger Kommen-
kaum über diese Eigenschaft nachsin- tar über das Leben streitsüchtiger Nach-
nen, ohne an den Herrn Jesus zu denken. barn, verfeindeter Arbeitnehmer, kon-
Er war milde und freundlich, friedlich kurrierender Geschäftspartner und in
und versöhnend. Und wir sollten ande- Fehde lebender Familien!
ren Menschen »alle Sanftmut« oder auch 3,4 Das düstere Bild der menschli-
Demut erweisen. Es scheint so passend, chen Verworfenheit wird von einem der
daß Höflichkeit als eine der christlichen großen »aber« in der Heiligen Schrift
Tugenden bezeichnet wird. Im wesentli- unterbrochen. Wie dankbar können wir
chen geht es darum, demütig zuerst an für diese kleinen Konjunktionen sein, die
andere zu denken, den anderen an die Gottes wunderbares Eingreifen darstel-
erste Stelle zu setzen und alles liebevoll len, damit der Mensch sich nicht selbst
zu sagen und zu tun. Höflichkeit dient zerstört! Jemand hat sie einmal Gottes
dem anderen, ehe sie sich selbst dient, Straßenbarrikaden auf dem Weg des
und nimmt jede Gelegenheit wahr, dem Menschen zur Hölle genannt.
anderen zu helfen, und dankt für jeden »Als aber die Güte und die Men-
Gefallen, den man erwiesen bekommen schenliebe unseres Heiland-Gottes er-

1174
Titus 3

schien.« Das geschah, als der Herr Jesus Erlösung. Wo immer es echte Erlösung
vor über neunzehnhundert Jahren auf gibt, wird es auch gute Werke geben. So
dieser Welt erschien. In einem anderen können wir lesen, daß Gott uns »nicht
Sinne ist uns Gottes Liebe und »Güte« aus Werken« rettete, »die, in Gerechtig-
erschienen, als er uns errettete. Es war keit [vollbracht], wir getan hatten, son-
eine Verwirklichung dieser Eigenschaf- dern nach seiner Barmherzigkeit«. Die
ten, daß er seinen geliebten Sohn sandte, Erlösung geschieht aus Barmherzigkeit –
damit er für eine Welt aufrührerischer nicht aus Gerechtigkeit. Gerechtigkeit
Sünder starb. Das Wort, das hier für verlangt, daß die verdiente Strafe auch
»Menschenliebe« benutzt wird, ist das vollzogen wird; Barmherzigkeit dagegen
griechische Wort, das unserem Wort Phi- zeigt einen gerechten Ausweg aus der
lanthropie zugrunde liegt. Es verbindet Bestrafung.
die Gedanken an Liebe, Mitleid und Gott rettete uns »durch die Waschung
Güte. Der Titel »Heiland-Gott« bezieht der Wiedergeburt«. Die Bekehrung ist
sich auf Gott, den Vater – unseren Hei- wirklich eine neue Schöpfung (2. Kor
land in dem Sinne, daß er seinen Sohn als 5,17) und hier wird uns diese Neuschöp-
Opfer für die Sünde in diese Welt schick- fung im Bild der Waschung gezeigt. Es ist
te. Der Herr Jesus wird auch »Gott und dasselbe Bild, das auch der Herr Jesus
Heiland« genannt (2,13), weil er die not- benutzt hat, als er die Jünger lehrte, daß
wendige Strafe getragen hat, damit uns es nur ein Bad der Wiedergeburt gibt,
vergeben werden konnte. doch viele notwendige Reinigungen von
3,5 Er »errettete uns« von der Schuld Verunreinigung (Joh 13,10). Dieses Bad
und Strafe für alle unsere Sünden – den der Wiedergeburt hat nichts mit der Tau-
vergangenen, den gegenwärtigen und fe zu tun. Es geht hier nicht um eine leib-
den zukünftigen. Sie lagen, als der Herr liche Reinigung durch Wasser, sondern
starb, alle noch in der Zukunft, und sein eine moralische Reinigung durch das
Tod geschah trotzdem für alle diese Sün- Wort Gottes (Joh 15,3). Die Taufe ist noch
den. Doch eine der einfachsten Wahrhei- nicht einmal ein Symbol für dieses Bad,
ten des Evangeliums ist für den Men- sondern zeigt statt dessen unser Begra-
schen am schwierigsten anzunehmen. bensein mit Christus in den Tod
Diese Erlösung geschieht »nicht« auf- (Röm 6,4).
grund von »Werken«, man wird nicht Unsere Wiedergeburt wird auch
Christ, wenn man ein christliches Leben »Erneuerung des Heiligen Geistes« ge-
führt. Es sind nicht die guten Menschen, nannt. Der Geist Gottes bewirkt eine
die in den Himmel kommen. Das durch- wunderbare Veränderung – und zwar
gehende Zeugnis der Bibel lautet, daß nicht, indem er dem alten Menschen
der Mensch sich die Erlösung nicht ver- neue Kleider anzieht, sondern in diese
dienen kann (Eph 2,9; Röm 3,20; 4,4.5; neuen Kleider einen neuen Menschen
9,16; 11,6; Gal 2,16; 3,11). Der Mensch steckt! Der Heilige Geist vollbringt die
kann sich nicht selbst durch gute Werke Wiedergeburt, und das Wort Gottes ist
erlösen, alle seine gerechten Taten sind das Mittel dazu.
vor Gott wie schmutzige Lumpen 3,6 Gott hat den Heiligen Geist
(Jes 64,6). Er kann nicht Christ werden, »reichlich über uns ausgegossen«. Jeder
indem er ein christliches Leben führt, Gläubige hat den Heiligen Geist, sobald
und zwar aus dem einfachen Grunde, er wiedergeboren wird. Der Geist reicht
daß niemand an sich die Kraft hat, ein aus, um die wunderbare Erneuerung
solches Leben zu führen. Nicht die Guten hervorzubringen, von der wir soeben ge-
kommen in den Himmel, sondern Sün- sprochen haben. Der Geist wird »durch
der, die von Gottes Gnade erlöst worden Jesus Christus, unseren Heiland« gege-
sind! ben. Genauso, wie der Überfluß des Pha-
Gute Werke verdienen uns nicht die rao durch Joseph den Söhnen Jakobs ver-
Erlösung, sondern sind das Ergebnis der mittelt wurde, so werden uns die Seg-

1175
Titus 3

nungen Gottes einschließlich der unver- gistern«, sowohl von Engeln als auch von
gleichlichen Gabe des Heiligen Geistes Menschen. Es gab Streit über ein aus-
durch den Herrn Jesus vermittelt. So führliches Regelwerk, das dem Gesetz
gesehen ist Jesus unser »Joseph«. übergestülpt worden war. Paulus be-
Alle drei Personen der Dreieinheit zeichnet diese Streitereien als »unnütz
werden im Zusammenhang mit unserer und wertlos«. Diener des Herrn in unse-
Erlösung genannt: Gott der Vater (V. 4), rer Zeit nehmen sich den Rat des Paulus
der Heilige Geist (V. 5) und Gott, der zu Herzen, indem sie die folgenden Ge-
Sohn (V. 6). fahren meiden:
3,7 Die sofortige Folge unserer Wie- Hauptsächliche Beschäftigung mit
dergeburt ist, daß wir »gerechtfertigt Äußerlichkeiten statt geistlichen Realitä-
durch seine Gnade« und »Erben nach der ten. Z. B. die alten Streitereien über den
Hoffnung des ewigen Lebens« werden. Gebrauch von vergorenem Wein oder
Durch die Erlösung, die in Christus Jesus Traubensaft, gesäuertem oder ungesäu-
ist, hält Gott uns in seiner erstaunlichen ertem Brot, gemeinsamem Kelch oder
Gnade für gerecht. Und wir werden Einzelkelchen – als ob das die wesent-
»Erben« alles dessen, was Gott denen be- lichen Fragen der Bibel wären!
reitet hat, die ihn lieben. Alles, was wir in Streitereien über einzelne Worte.
Christus sind, ist unsere Hoffnung, und Sich ausschließlich mit einer Haupt-
unsere Ähnlichkeit mit ihm in Ewigkeit. wahrheit zu beschäftigen, oder sogar nur
3,8 Wenn Paulus sagt: »Das Wort ist einem Aspekt einer solchen Wahrheit.
gewiß«, haben wir darunter dann den Allegorisierung der Schrift bis hin zu
vorhergehenden Abschnitt oder das Fol- Absurditäten.
gende zu verstehen? Die Argumentation Theologische Kleinlichkeit, die nie-
ist wohl, daß wir, nachdem wir mit solch manden erbaut.
einer herrlichen Erlösung von solch Abweichen vom Wort auf politische
schrecklicher Verdammnis erlöst worden Nebenwege und auf christliche Kreuzzü-
sind, nun auch so leben sollen, wie es ge gegen dies oder jenes.
unserer hohen Berufung würdig ist. Welch eine Tragödie, wenn man kost-
Titus sollte »auf diesen Dingen« in bare Zeit auf so etwas verschwendet,
seinem Dienst in Kreta »fest« bestehen während Millionen von Menschen verlo-
(was in den Versen 1-7 besprochen wur- ren gehen!
de), damit die Gläubigen »Sorge tragen, 3,10 Wer solche Streitfragen zu
gute Werke zu betreiben«. Obwohl der seinem Hauptanliegen macht, ist ein
Ausdruck »gute Werke« hier auch be- »sektiererischer« oder häretischer
3)
deuten kann, daß man einer ehrbaren »Mensch«. Normalerweise hat er nur ein
Beschäftigung nachgeht, so ist doch die einziges Anliegen, das er immer wieder
Bedeutung hier sicherlich weiter zu fas- vorbringt. Schon bald versammelt er um
sen, so daß es hier um »gute Werke« all- sich eine Anhängerschaft mit der glei-
gemein geht. Die Lehre, die ein Verhalten chen negativen Einstellung und vertreibt
verlangt, das mit dem christlichen Zeug- alle anderen. Er wird eher eine Gemeinde
nis der betreffenden Person überein- spalten, als sein lehrmäßiges Stecken-
stimmt, ist »gut und nützlich«. Alle Leh- pferd aufzugeben. Keine Gemeinde sollte
re sollte eine persönliche und praktische solchen Unsinn dulden. Wenn er nach ein
Anwendung finden. oder zwei Verwarnungen nicht hören
3,9 Natürlich gibt es im christlichen will, so sollte er aus der Gemeinschaft der
Dienst immer wieder Fallen. Zur Zeit des Ortsgemeinde ausgeschlossen werden
Paulus gab es »törichte Streitfragen« und die Christen sollten mit ihm keinen
über reine und unreine Speisen, über die Umgang mehr pflegen. Hoffentlich wird
Sabbathvorschriften und über die Beach- ihn solch ein Ausschluß zur Besinnung
tung anderer heiliger Tage. Außerdem und einer ausgeglicheneren Anwendung
erhob sich Streit wegen »Geschlechtsre- des Wortes Gottes bringen.

1176
Titus 3

3,11 Damit niemand denkt, daß »ein gesandt wurde, um ihm dabei zu helfen,
solcher« Mensch keine Gefahr für die die nicht enden wollenden Zänkereien
Gemeinde sei, brandmarkt der Apostel über das Gesetz des Mose zu beenden
ihn als »verkehrt« und sagt aus, daß er (V. 9). Wenn es sich um einen Anwalt han-
»sündigt und durch sich selbst verurteilt delte, dann war er sicher ein ehrlicher!
ist«. Sein Verhalten ist eine Verkehrung Der einzige andere Apollos, von dem wir
des Christentums. Er »sündigt«, indem im NT lesen, ist der in Apostelgeschichte
er eine Sekte oder Partei gründet. Er »ist 18,24-28 und in 1. Korinther erwähnte.
durch sich selbst verurteilt«, weil er stör- Vielleicht handelte es sich um ein und die-
risch an seinem Irrtum festhält, nachdem selbe Person. Als Paulus Titus den Auf-
er von verantwortlichen Christen er- trag gab, den beiden »mit Sorgfalt das
mahnt worden ist. Geleit« zu geben, so ermahnte er damit
auch zur Gastfreundschaft während ihres
VI. Schluß (3,12-15) Aufenthaltes in Kreta und daß sie alles,
3,12 Der Brief schließt mit einigen kurzen was sie für ihre weitere Reise brauchen
Anweisungen an Titus. Paulus hatte vor, würden, von ihm erhalten sollten.
entweder »Artemas oder Tychikus« zu 3,14 Titus sollte die anderen Christen
senden, um Titus in Kreta abzulösen. (»die Unseren«) lehren, gastfreundlich
Tychikus ist uns schon begegnet zu sein, für die Kranken und Leidenden
(Apg 20,4; Eph 6,21; Kol 4,7), doch von zu sorgen und großzügig gegenüber den
»Artemas« haben wir bisher noch nicht Bedürftigen zu sein. Statt nur für ihren
gehört. Es geht wohl aus 2. Timotheus eigenen Bedarf zu arbeiten, sollten sie die
4,12 hervor, daß »Tychikus« nach Ephe- außerordentlich christliche Vorstellung
sus statt nach Kreta gesandt wurde, des- haben, Geld zu verdienen, um es mit
halb war »Artemas« wohl derjenige, der anderen zu teilen, die weniger privile-
nach Kreta zur Ablösung des Titus giert sind (s. Eph 4,28b). Das würde sie
geschickt wurde. Sobald er angekommen von Selbstsucht heilen und vor der
war, sollte Titus nach »Nikopolis« reisen, Tragödie eines verschwendeten fruchtlo-
wo Paulus »überwintern« wollte. Es gab sen Lebens bewahren.
zu dieser Zeit mindestens sieben Städte 3,15 Die Schlußgrüße sollten nicht für
des Namens Nikopolis, doch die meisten unwichtig und banal gehalten werden.
Kommentatoren glauben, daß Titus das In Ländern, in denen es wenig Christen
in Epirus, Westgriechenland, wählte. gibt, in denen sie verachtet und verfolgt
3,13 Titus sollte bald Besuch bekom- werden, bringen diese Worte viel Liebe,
men, nämlich »Zenas, den Gesetzesge- Freundschaft und Ermutigung zum Aus-
lehrten und Apollos«. Vielleicht brachten druck. »Alle, die bei« dem Apostel
diese den Brief von Paulus zu Titus. Es waren, sandten ihre Grüße an Titus, und
gab zu dieser Zeit zwei Arten von Geset- Titus sollte Grüße an alle sagen, die Pau-
zesgelehrten, nämlich Schriftgelehrte, die lus und seine Mitarbeiter »im Glauben«
das religiöse Gesetz auslegten, und An- liebten. Schließlich beendet Paulus sei-
wälte, die die bürgerliche Gesetzgebung nen Brief mit dem Thema, das sein Leben
handhabten. Es bleibt uns überlassen zu beherrschte – nämlich mit der »Gnade«
entscheiden, zu welcher Gruppe »Zenas« des Herrn.
gehört haben mag. Ich glaube, daß er eher »Die Gnade sei mit euch allen!
ein Schriftgelehrter war und zu Titus Amen.« (LU1912).

1177
Anmerkungen

Anmerkungen Amt innehat, auf keinen Fall geschie-


den sein dürfe.
3) (3,10) Das Wort »Häretiker« stammt
1) (1,1) Siehe Erklärung Römer 1 und von einem gr. Wort, das so viel wie
Epheser 1, wo die Lehre von der Er- »spalterisch« oder »kleinlich« be-
wählung ausführlicher behandelt deutet. Ein Mensch, der Gemeinden
wird. spaltet, lehrt normalerweise falsche
2) (1,6) Einige Ausleger sind der An- oder »häretische« Lehren, doch ist
sicht, daß zwar Scheidung unter dies eine spätere Entwicklung der
gewissen Umständen erlaubt ist, daß Bedeutung des Wortes hairetikos
jedoch jemand, der ein geistliches selbst.

Bibliographie

Siehe Bibliographie am Ende von


1. Timotheus.

1178
Der Philemonbrief
»Ein echtes Meisterstück der Kunst des Briefschreibens.«
Ernest Renan
»Wir alle sind [des Herrn] Onesimi.«
Martin Luther

Einführung tritt mit allem, was er vermag, und stellet


sich nicht anders, als sei er selbst Onesimus,
der sich versündigt habe.
I. Einzigartige Stellung im Kanon Doch tut er das nicht mit Gewalt oder
Einige Bibelleser werden der Ansicht Zwang, wozu er wohl Recht hätte, sondern
sein, daß wir sehr gut ohne diesen Brief entäußert sich seines Rechtes, womit er
von Paulus auskommen könnten. Sie zwingt, daß Philemon auf sein Recht auch
haben völlig unrecht. Zunächst einmal verzichten muß. Eben wie uns Christus
wird er allgemein als authentischer per- getan hat gegenüber Gott dem Vater, also tut
sönlicher Brief direkt aus dem Herzen auch St. Paulus für Onesimus gegenüber
des Apostels anerkannt. Als solcher ist er Philemon … Denn wir sind alle seine
1)
zunächst einmal ein Kleinod. Er ist Onesimi, wenn wir’s glauben.
oft mit einem weltlichen Brief zum
gleichen Thema – über einen entlau- II. Verfasserschaft
fenen Sklaven – verglichen worden, der Jeder bis auf die allerkritischsten Ausle-
von dem römischen Autor Plinius dem ger akzeptieren die paulinische Verfasser-
Jüngeren an einen Freund gerichtet wur- schaft des Philemonbriefes. Renan war
de. Außer im Bereich eleganter Rhetorik sich sogar der Echtheit dieses Briefes so
ist dieser Paulusbrief der bessere. sicher, daß er daraufhin seine eigene Ab-
Dieser kleine Brief zeigt die Höf- lehnung der Echtheit des eng mit diesem
lichkeit, den Takt – mit einem Quent- Brief verbundenen Kolosserbriefes an-
chen Humor – und das liebende Herz zweifelte.
des Paulus. Während er keine direkten Weil der Philemonbrief so kurz und
Lehren enthält, ist er ein vollkommenes so persönlich ist, ist es nicht erstaunlich,
Beispiel der Lehre des stellvertretenden daß es nur wenige frühe Zitate aus die-
Auf-sich-Nehmens von Konsequenzen, sem Brief gibt.
weil Paulus Philemon auffordert, alles
ihm anzurechnen. So, wie das Fehl- Äußere Beweise
verhalten dem Paulus angerechnet Philemon wird zitiert bzw. es wird auf
wurde, und seine Fähigkeit zu helfen auf ihn angespielt in den Schriften des Igna-
den hilflosen Zustand des Onesimus tius, des Tertullian und Origines. Eusebi-
angewendet wurde, so werden auch die us sagt, daß er eines der biblischen
Sünden des Christen unserem Herrn Bücher sei, die von allen Christen akzep-
angerechnet und die errettenden Ver- tiert würden (homologoumena). Marci-
dienste unseres Herrn werden dem on führt ihn in seinem »Kanon« auf, und
Christen angerechnet. Kein Wunder, daß der Brief wird auch vom Muratorischen
der große Reformator Martin Luther Kanon genannt.
schrieb:
Diese Epistel zeigt ein meisterlich lieblich Innere Beweise
Exempel christlicher Liebe. Denn da sehen Auch in diesem kurzen Brief erwähnt
wir, wie St. Paulus sich des armen Onesimus Paulus seinen Namen dreimal (V. 1.9.19).
annimmt und ihn gegen seinen Herrn ver- Die Verse 2.23.24 weisen eine enge Ver-

1179
Philemon

bindung mit Kolosser 4,10-17 auf, und so ihm die Freiheit eines eigenen gemieteten
unterstützen die beiden Briefe gegen- Hauses gewährt wurde (Apg 28,30).
seitig ihre Authentizität. Die inneren Durch verschiedene Umstände traf One-
Beweise stimmen also mit den äußeren simus den Paulus in der geschäftigen
überein. Hauptstadt und wurde durch seinen
Dienst zu Christus geführt (V. 10). In der
III. Datierung Folgezeit entwickelte sich zwischen ihnen
Der Brief wurde gleichzeitig mit dem ein festes Liebesband (V. 12) und Onesi-
Brief an die Kolosser abgeschickt (etwa mus erwies sich als geschätzte Hilfe für
60 n. Chr), oder etwa dreißig Jahre nach den Apostel (V. 13). Doch waren sich bei-
der Himmelfahrt unseres Herrn. de einig, daß es richtiger wäre, wenn One-
simus zu Philemon zurückkehren würde
IV. Hintergrund und Thema und versuchen würde, das Unrecht der
Wir müssen uns die Entstehung dieses Vergangenheit wiedergutzumachen. Des-
Briefes aus dem Brief selbst und aus dem halb schrieb Paulus diesen Brief an Phile-
Kolosserbrief zusammenreimen. Phile- mon, in dem er für Onesimus eintritt und
mon war wohl ein Bewohner der Stadt stichhaltige Gründe nennt, warum er wie-
Kolossä (vgl. Kol 4,17 mit Philem 2), der der das Wohlwollen seines Herrn erlan-
durch den Apostel Paulus bekehrt wor- gen sollte (V. 17). Zu dieser Zeit schrieb
den war (V. 19). Einer seiner Sklaven, Paulus auch den Brief an die Kolosser. Er
Onesimus, war ihm entlaufen (V. 15.16) bestimmte Tychikus als Überbringer und
und es wird angedeutet, daß Onesimus sandte Onesimus mit ihm zurück nach
dabei wohl einigen Besitz seines Herrn Kolossä (Kol 4,7-9).
hatte »mitgehen« lassen (V. 18). Dieser Brief ist der persönlichste aller
Der Flüchtling erreichte Rom, als Pau- Paulusbriefe. Die Briefe an Timotheus
lus dort in Gefangenschaft war (V. 9). Wir und Titus wurden ebenfalls an Einzel-
können uns nicht sicher sein, ob der Apo- personen geschrieben, doch behandeln
stel zu dieser Zeit wirklich hinter Gittern sie viele Gemeindeangelegenheiten und
saß, oder ob es während der Zeit war, als nicht so sehr Persönliches.

Einteilung III. Paulus’ Eintreten für Onesimus


(1,8 – 1,20)
IV. Abschließende Bemerkungen
I. Gruß (1,1 – 1,3) (1,21 – 1,25)
II. Dank und Gebet des Paulus für
Philemon (1,4 – 1,7)

Kommentar gener Christi Jesu«. Keine einzige Mi-


nute will er als Gefangener Roms daher-
kriechen. Er sieht hinter dem Kaiser den
I. Gruß König der Könige stehen. »Timotheus«
1,1 »Paulus« stellt sich hier als »Gefan- war bei ihm, als er schrieb, und deshalb
gener« vor, nicht als Apostel. Er hätte bezieht er diesen treuen Jünger ein,
seine Autorität in den Vordergrund obwohl der Brief offensichtlich von
stellen können, doch er zieht es vor, von Paulus stammt.
einer scheinbar niedrigen, weniger Der Hauptadressat ist »Philemon«.
begünstigten Stellung aus zu appellie- Sein Name bedeutet »Liebevoller« und
ren. Doch vergoldet der Apostel diese offensichtlich entsprach er diesem Na-
niedrige Stellung mit der Herrlichkeit men, denn Paulus nennt ihn »geliebter …
des Himmels, denn er ist »ein Gefan- Mitarbeiter«.

1180
Philemon

1,2 Weil »Appia« ein weiblicher de, die Gott über sein Volk ausschüttet.
Name ist, nehmen die Ausleger an, daß »Friede« ist hier die geistliche Haltung,
sie die Frau des Philemon war. Die Tatsa- die das Leben derer festigt, die durch sei-
che, daß der Brief zum Teil auch an sie ne Gnade gelehrt sind. Beide Segnungen
gerichtet ist, erinnert uns daran, daß das kommen »von Gott, unserem Vater, und
2)
Christentum die Frau hoch ehrt. Später dem Herrn Jesus Christus«. Das ist von
werden wir sehen, daß es auch die Skla- größter Bedeutung. Das heißt nämlich,
ven ehrt. Fast immer haben fromme Aus- daß der Herr Jesus mit »Gott« dem
leger »Archippus« als den Sohn des Phi- »Vater« gleich ist, indem er Gnade und
lemon angesehen. Wir können uns des- Friede austeilt. Es wäre eine Blasphemie,
sen nicht sicher sein, doch wissen wir, wenn man Christus solch eine Ehre zuteil
daß er aktiv am christlichen Kampf teil- werden ließe, wenn er nicht voll und
nahm. Paulus ehrt ihn als »Mitkämpfer«. ganz Gott wäre.
Wir können ihn uns als hingegebenen
Jünger des Herrn Jesus vorstellen, der II. Dank und Gebet des Paulus für
vor heiliger Leidenschaft brannte. Im Philemon (1,4-7)
Kolosserbrief wird ihm besondere Auf- 1,4 Wann immer Paulus für Philemon
merksamkeit gewidmet: »Und sagt betete, dankte er »Gott« für diesen edlen
Archippus: Sieh auf den Dienst, den du Bruder. Wir haben guten Grund zu glau-
im Herrn empfangen hast, daß du ihn ben, daß er eine erlesene Trophäe der
erfüllst« (Kol 4,17). Gnade Gottes war – die Art Mensch, die
Wenn Philemon, Appia und Archip- man sich als Freund und Bruder wün-
pus ein Bild der NTlichen christlichen schen würde. Einige Ausleger sind der
Familie sind, dann ruft der Ausdruck Ansicht, daß Paulus in diesen Anfangs-
»Gemeinde, die in deinem Haus ist« die versen sehr diplomatisch vorgeht, daß es
Vorstellung einer NTlichen Gemeinde ihm darum geht, daß Herz des Philemon
hervor. Es geht hieraus hervor, daß das zu erweichen, damit er den Onesimus
»Haus« des Philemon ein Versamm- wieder annimmt. Das schreibt dem Apo-
lungsort einer Gemeinde von Gläubigen stel jedoch ein unwürdiges Motiv zu und
war. Dort versammelten sie sich zur An- wirft einen Schatten auf den inspirierten
betung, zum Gebet und zum Bibelstudi- Text. Paulus hätte nicht so geredet, wenn
um. Von dort gingen sie hinaus, um einer er es nicht ehrlich gemeint hätte.
Welt von Christus Zeugnis abzulegen, 1,5 Es gab zwei Eigenschaften von
die ihre Botschaft niemals willkommen Philemons Charakter, die Paulus sehr
heißen würde, sie jedoch auch nicht wie- freuten: Seine »Liebe« und den »Glau-
der vergessen würde. Wenn sie sich im ben«, den er »an den Herrn Jesus und
Haus des Philemon trafen, waren die allen Heiligen gegenüber« hatte. Sein
Christen alle eins in Christus Jesus. Rei- Glaube an Christus zeigt, daß er im Glau-
che und Arme, Männer und Frauen, Her- ben verwurzelt war; und seine Liebe
ren und Sklaven – sie alle waren vollgül- gegenüber »allen Heiligen« zeigte, daß er
tige Mitglieder der Familie Gottes. So- auch Frucht brachte. Sein Glaube war
bald sie an ihren weltlichen Arbeitsplatz keine graue Theorie.
zurückkehrten, erschienen die sozialen In Epheser 1,15.16 und Kolosser 1,3.4
Unterschiede wieder. Doch beim Herren- drückt Paulus ähnlichen Dank für die
mahl z. B. standen sie alle gemeinsam Heiligen aus, an die diese Briefe gerichtet
auf einer Ebene als heilige Priester. Phile- waren. Doch an diesen Stellen stellte er
mon wäre in einem solchen Fall Onesi- den Glauben vor die Liebe. Hier jedoch
mus auf keinen Fall überlegen. kommt die Liebe zuerst. Warum dieser
1,3 Der charakteristische Gruß des Unterschied? Maclaren antwortet: »Die
Paulus vereint anscheinend das beste, Reihenfolge hier ist die Reihenfolge der
das er denen wünschen konnte, die er Analyse, die sich von der Auswirkung
liebte. »Gnade« ist die unverdiente Gna- zur Ursache hinarbeitet. Die Reihenfolge

1181
Philemon

in den Parallelstellen entspricht der Rei- ferungsvoller Liebe war von Kolossä
henfolge der Entstehung und steigt von nach Rom getragen worden, und brachte
der Wurzel zur Frucht auf.« dem Gefangenen Christi »große Freu-
3)
Es gibt hier noch eine andere interes- de« (oder Dankbarkeit) und Trost. Es
sante Eigenschaft der Ausdrucksweise war das große Vorrecht des Paulus gewe-
des Paulus. Er teilt den Ausdruck »Liebe sen, Philemon zum Herrn zu leiten, doch
zu allen Heiligen« auf, indem er nach welch eine Belohnung war es jetzt, von
»Liebe« »Glauben … an den Herrn ihm zu hören, daß dieses Kind im Glau-
Jesus« einfügt. Wir könnten das wie folgt ben an den Herrn gut vorwärtskam. Wie
schreiben: »Liebe (und Glaube … an den ermutigend war es zu wissen, daß »die
Herrn Jesus) allen Heiligen gegenüber.« Herzen den Heiligen« durch diesen
Der Glaube ist nicht irgendein Glaube, »Bruder« sehr »erquickt worden sind«,
sondern der »Glaube an den Herrn und zwar besonders durch seine »Lie-
Jesus«. Die Liebe ist nicht irgendeine Lie- be«. Niemand lebt sich selbst und nie-
be, sondern »Liebe allen Heiligen gegen- mand stirbt sich selbst. Alle unsere
über«. Doch Paulus umfaßt die Aussage Handlungen beeinflussen andere Men-
über den Glauben mit der Aussage über schen. Wir können unseren Einfluß über-
die Liebe, als ob er Philemon vorwarnen haupt nicht ermessen. Wir haben ein fast
möchte, daß er ihm nun eine besondere unendliches Potential des Bösen oder
Gelegenheit geben möchte, die Echtheit Guten zu unserer Verfügung.
seines Glaubens zu beweisen, indem er
seinem Sklaven Onesimus Liebe erweist. III. Paulus’ Eintreten für Onesimus
Deshalb liegt hier die besondere Beto- (1,8-20)
nung auf dem Wort alle – »allen Heiligen 1,8 Nun kommt Paulus zum Hauptanlie-
gegenüber«. gen seines Briefes. Er will für Onesimus
1,6 Die vorhergehenden zwei Verse eintreten. Doch wie wird er dieses The-
drücken den Dank des Paulus für Phile- ma anschneiden? Als Apostel konnte er
mon aus. Dieser Vers zeigt uns den Ge- Philemon gerechtfertigterweise sagen:
betseifer des Apostels für ihn. »Gemein- »Nun, Bruder, es ist als Gläubiger deine
schaft des Glaubens« bedeutet die prak- Pflicht, diesem entlaufenen Sklaven zu
tische Freundlichkeit, die Philemon an- vergeben und ihn wieder anzunehmen,
deren erzeigte. Wir können unserer und genau das ist mein Befehl an dich.«
Glaubensgemeinschaft nicht nur da- Paulus hätte ihm befehlen können und
durch Ausdruck verleihen, daß wir Chri- Philemon hätte zweifellos gehorcht.
stus predigen, sondern auch dadurch, Doch in diesem Falle wäre das ein
daß wir die Hungrigen speisen, die schlechter Sieg gewesen.
Nackten kleiden, die Trauernden trösten 1,9 Wenn der Apostel nicht das Herz
und die Verzweifelten ermutigen – ja, des Philemon erreichen konnte, dann
und auch dadurch, daß wir einem weg- würde Onesimus ein kühler Empfang er-
gelaufenen Sklaven vergeben. Paulus wartet haben. Nur Gehorsam, der durch
betete dann, daß Philemons Güte dazu Liebe motiviert wurde, konnte die Stel-
führen würde, daß viele erkannten, daß lung des Sklaven in diesem Haus erträg-
alle seine guten Taten »im Hinblick auf lich machen. Vielleicht dachte Paulus, als
Christus« geschehen waren. Es liegt viel er das schrieb, an die Worte unseres Hei-
Kraft und Einfluß in einem Leben, in landes: »Wenn ihr mich liebt, so werdet
dem sich die Liebe Gottes zeigt. Es ist ihr meine Gebote halten« (Joh 14,15).
eine Sache, in einem Buch über Liebe zu Und deshalb zog der Apostel es vor, »um
lesen, doch wie überzeugend ist es, wenn der Liebe willen« zu bitten, statt zu
wir das Wort in einem Menschenleben befehlen. Würde die Liebe des Philemon
4)
Fleisch werden sehen! über das Meer reichen, wo der »Alte« ,
1,7 Die Nachricht von Philemons der Botschafter Christi, als Gefangener
überragender Großzügigkeit und aufop- um Jesu Christi willen saß? Würde er

1182
Philemon

sich von zwei Überlegungen bewegen zurückkehrte, war ein viel besserer Skla-
lassen, nämlich, daß Paulus schon alt ve als der, der weggelaufen war. Man
war und »jetzt auch ein Gefangener Jesu sagt, daß zur Zeit des NT christliche
Christi« war? Wir wissen nicht genau, Sklaven einen höheren Preis erzielten als
wie alt der Apostel zu dieser Zeit war. andere. Das sollte auch heute für christli-
Die Schätzungen reichen von 53 bis 63 che Arbeitnehmer gelten, daß sie besser
Jahren. Das erscheint uns heute nicht alt, arbeiten als Ungläubige.
doch ist er wahrscheinlich frühzeitig ge- 1,12 Die Haltung des NT zur Sklave-
altert, weil er im Dienst Christi ausge- rei wird in diesem Brief sichtbar. Wir
brannt war. Und nun war er ein »Gefan- sehen, daß Paulus die Sklaverei weder
gener« für »Jesus Christus«. Paulus sucht verurteilt noch sie verbietet. Er sendet so-
nicht das Mitleid des Philemon, wenn gar Onesimus zurück zu seinem Herrn.
er das erwähnt, sondern er hofft, daß Doch die Mißbräuche der Sklaverei wer-
Philemon diese Tatsachen in seine Ent- den im gesamten NT verurteilt und ver-
scheidung mit einbeziehen würde. boten. Maclaren schreibt:
1,10 Auch im Original steht der Name Das Neue Testament mischt sich nicht
Onesimus an letzter Stelle: »Ich bitte dich direkt in politische oder soziale Angelegen-
für mein Kind, das ich gezeugt habe in heiten ein, sondern legt Prinzipien dar, die
den Fesseln, Onesimus.« Als der Name diese grundlegend ändern werden und über-
des entlaufenen Sklaven genannt wurde, läßt es den Prinzipien, in die allgemeine Mei-
5)
war Philemon wahrscheinlich schon ent- nung überzugehen.
waffnet. Man stelle sich seine Überra- Eine gewalttätige Revolution ist nicht
schung vor, wenn er erfuhr, daß dieser der biblische Weg, um soziale Mißstände
»Gauner« sich bekehrt hatte, und, noch zu bessern. Die Ursache der Unmensch-
überraschender, von Paulus, dem Gefan- lichkeit des Menschen liegt in seiner
genen, zu Christus geführt worden war! gefallenen Natur. Das Evangelium geht
Eine der verborgenen Freuden des die Ursache an und bietet ein neues Leben
christlichen Lebens ist es, Gott auf wun- in Christus Jesus an.
derbare Weise am Werk zu sehen, indem Es ist verständlich, daß ein Sklave,
er sich darin offenbart, daß er Umstände der einen freundlichen Herren hat, bes-
zusammenbringt, die nicht durch Zufall ser dran ist, als wenn er unabhängig
erklärt werden können. Zunächst hatte wäre. Das gilt z. B. für Gläubige, die ja
Paulus Philemon zum Herrn geführt. Knechte des Herrn Jesu sind. Diejenigen,
Dann war der Apostel gefangen genom- die seine Sklaven sind, erfahren wirk-
men und nach Rom zur Verhandlung ge- liche Freiheit. Indem Paulus Onesimus
bracht worden. Philemons Sklave war zu Philemon »zurückgesandt« hat, be-
während der Romreise des Paulus ent- ging er an dem Sklaven keine Ungerech-
laufen. Irgendwie hatte er Paulus getrof- tigkeit. Sowohl Herr als auch Sklave
fen und hatte sich durch ihn bekehrt. waren gläubig. Philemon war verpflich-
Nun waren Herr und Sklave durch den- tet, Onesimus mit christlicher Freund-
selben Prediger wiedergeboren worden, lichkeit zu behandeln. Von Onesimus
auch wenn es an verschiedenen Orten konnte erwartet werden, daß er nun mit
und unter ganz unterschiedlichen Um- christlicher Ehrlichkeit diente. Die tiefe
ständen geschah. Konnte das einfach nur Zuneigung des Apostels zu Onesimus
Zufall sein? drückt sich in den Worten aus: »Ihn, das
1,11 Der Name Onesimus bedeutet ist mein Herz.« Paulus fühlte sich, als ob
»der Nützliche«. Doch als er entlaufen er einen Teil seiner Selbst verlöre.
war, nannte Philemon ihn zweifellos Wir sollten festhalten, daß hier das
einen »nutzlosen Schurken«. Paulus sagt wichtige Prinzip der Wiedergutmachung
nun praktisch: »Natürlich war er für dich erklärt wird. Nun, da Onesimus errettet
nützlich, doch nun ist er ›dir und mir war, war es da nötig, daß er zu seinem ur-
nützlich‹.« Der Sklave, der zu Philemon sprünglichen Herrn wieder zurückkehrt?

1183
Philemon

Die Antwort ist ein ausdrückliches »Ja«. de keine normale Herr-Sklaven-Bezie-


Die Erlösung nimmt die Strafe und die hung mehr sein. Onesimus war nun
Macht der Sünde weg, doch hebt sie keine »mehr als« ein »Sklave«, er war ein »ge-
Schulden auf. Der neue Christ muß alle liebter Bruder« in dem Herrn. Von nun an
unbezahlten Rechnungen einlösen und würde die Furcht durch die Liebe ersetzt
alles Unrecht wiedergutmachen, soweit werden. Paulus hatte seine Gemeinschaft
es menschenmöglich ist. Onesimus war als »geliebter Bruder« schon genossen.
verpflichtet, in den Dienst seines Herrn Doch nun würde er ihn nicht mehr länger
zurückzukehren, und ihm das Geld zu- bei sich in Rom haben. Der Verlust des
rückzugeben, das er gestohlen hatte. Apostels würde der Gewinn des Phile-
1,13 Der Apostel hätte es wohl vorge- mon werden. Er würde nun Onesimus als
zogen, Onesimus bei sich in Rom zu Bruder »sowohl im Fleisch als im Herrn«
»behalten«. Es gab vieles, das der bekehr- kennen. Der frühere Sklave würde das
te Sklave für Paulus hätte tun können, Vertrauen des Paulus sowohl »im
während dieser um des Evangeliums Fleisch«, d. h. durch seinen hingegebenen
willen gefangen war. Und es wäre eine weltlichen Dienst bei Philemon, rechtfer-
Gelegenheit für Philemon gewesen, dem tigen, als auch »im Herrn«, d. h. in Ge-
Apostel zu »dienen« – indem er ihm meinschaft als Gläubiger.
nämlich Onesimus als Hilfe zur Verfü- 1,17 Die Bitte des Apostels erstaunt
gung stellte. Doch wäre das ohne das sowohl in ihrer Kühnheit als auch in ihrer
Wissen und Einverständnis des Phile- Freundlichkeit. Er bittet Philemon, One-
mon nicht recht gewesen. simus aufzunehmen »wie« den Apostel
1,14 Paulus wollte von dem Eigen- selbst. Er sagt: »Wenn du mich nun für
tümer des Sklaven keinen Gefallen er- deinen Gefährten hältst, so nimm ihn auf
zwingen, indem er Onesimus bei sich in wie mich.« Die Worte erinnern an die
Rom behielt. Er würde im Hinblick auf Aussagen des Heilands: »Wer euch auf-
Onesimus »nichts« tun, ohne Philemons nimmt, nimmt mich auf, und wer mich
Einverständnis zu erhalten. Der Gefallen aufnimmt, nimmt den auf, der mich
wäre keiner mehr gewesen, wenn er gesandt hat« (Matth 10,40) und: »Wahr-
nicht »freiwillig« geschehen wäre. lich, ich sage euch, wenn ihr es einem der
1,15 Es ist ein Zeichen geistlicher Rei- geringsten dieser meiner Brüder getan
fe, in der Lage zu sein, über die widrigen habt, habt ihr es mir getan

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