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JOHANNES TAULER

Predigt 56

Diese Predigt vom Oktavtage der Geburt Mariens unterweist uns


über das Bittgebet und die Versuchungen des bösen Feindes ; sie
berichtet von den Erscheinungen des Herrn an Job und Elias; sie
zeigen uns die Verdienste einer willigen Annahme der Leiden.

HEUTE BEGEHT MAN DIE OKTAV des Festes der Geburt Unserer
Lieben Frau. Und der heilige Bernhard, klug und verständig, und
andere Heiligen bekennen, daß sie sie nicht angemessen loben
können und ob des Lobes, das sie verdiente, schweigen müssen.
Jener sprach: »Liebe Frau, wie hoch euch auch eine
Verwandtschaft mit der anbetungswürdigen Gottheit gestellt
haben mag, so vergesset darüber nicht die Verwandtschaft, die
euch mit der armen Menschheit verbindet. Und verliert euch nicht
so sehr in den göttlichen Abgrund, daß ihr nicht der menschlichen
Schwäche gedächtet, die ihr (ja) wohl auf manche Weise erfahren
habt." Und solch innerlicher Gebete dieses und anderer Heiligen zu
ihr kennen wir noch mehr.
(Was das Gebet betrifft,) haben die Menschen zwei (voneinander)
verschiedene Weisen. Die einen wollen mit ihrem Gebet nichts
erbitten und sagen, das könnten sie nicht, denn sie wollen und
müssen sich Gott überlassen, damit er mit ihnen und ihren
Anliegen mache, was er wolle. Die anderen, die rufen gar eifrig
unsere Liebe Frau und die Heiligen um all ihre Angelegenheiten an.
Beider Art kann Mängel haben.
Die ersten haben nicht erkannt, daß die heilige Kirche das Beten
angeordnet hat. Und unser Herr hat uns selber gelehrt zu beten,
und das Vorbild des Gebetes hat er uns selber gegeben und zu
seinem Vater gebetet. Jene Menschen entschuldigt ihre schlichte
Meinung dafür, daß sie (von Gott) nichts erbitten; das entschuldigt
sie, und sie werden doch ,erhört, denn sie meinen es nicht böse.
Und es gibt Dinge, die der Herr nur auf das Gebet hin tun will.
Sankt Gregorius sagt: »Gott will gebeten sein."
Wisset: Gott läßt den Menschen oft in Not geraten, um ihn zum
Gebet anzutreiben; dann hilft Gott ihm und erhört ihn, damit seine
Liebe von neuem angeregt werde und der Mensch durch die
Erhörung Trost empfange.
Den anderen, die ihre Anliegen im Gebet Gott vortragen, kann es
daran fehlen, daß sie sich nicht Gott überlassen und wollen, daß
das Anliegen, wofür sie beten, vorangehe. Sie sollten wohl bitten,
aber das in rechter Gelassenheit, derart, daß das, was Gott gefiele,
ihnen lieb wäre in jeder Art und in allen Dingen.
Nun betrachten wir das Wort »transite" unseres Textes. Wir haben
in diesen Tagen viel davon gesprochen, wie die beginnenden
Menschen die groben, großen Sünden wegscheren sollen, die
groben Haare, und die zunehmenden die bösen Neigungen, und
die, welche der Vollkommenheit näher gerückt sind, die feinen
Haare in ihrem Inneren1. Der Mensch, der sich (von den
Geschöpfen) abgekehrt und sein Herz Gott zugewendet hat, ist
bestrebt, Gott allein zu lieben und an ihn allein zu denken. Den
bringt der Feind in solch schwere Versuchung, daß ein weltlich
(gesinnter) Mensch vor ihr erschräke.
Versuchungen haben (zwar) der innerliche wie der weltlich
gesinnte Mensch; aber ihr Grund ist verschieden. Dem weltlichen
Menschen kommt die Versuchung aus einem nicht (den
Geschöpfen) abgestorbenen Grunde, aus seiner Natur von Fleisch
und Blut, und er entledigt sich der Versuchung, indem er das tut,
was sie von ihm will.
Und der Feind braucht ihn nicht mehr weiter zu versuchen, ein
Hauch genügt, und er hat keine Mühe mehr (mit diesem
Menschen). Der gute Mensch aber steht in Lauterkeit da. Die
Versuchung kommt von außen an ihn heran und nicht aus seinem
Grunde, oder doch nur sehr wenig. Dieses Umstandes bedient sich
der Feind; er findet2 eine Neigung (zu irgend etwas Bösem),

1
Vetter 225,12 „die inwendig schoener sint“ gibt keinen annehmbaren Sinn. Corin, Sermons
HI, 14, Anm. 2, verweist auf eine Stelle in Predigt 57 (= Vetter Nr. 52), wo von den
.Schoßhaaren" die Rede ist, den bösen Neigungen, die infolge langer Gewohnheit im
Hintergrund geblieben sind, also sozusagen .inwendig" gewuchert haben. Unter Benutzung
dieses Hinweises - Sermons lII, 25 oben - ergibt sich eine vertretbare Obersetzung.
2
Vetter 225,24: „es vint". Mit Strauchs Verbesserung in PBB XLIV, 23 „er vint" ergibt sich
eine brauchbare Übersetzung.
wie lauter auch dieser Mensch sonst sei, etwa daß er eine Neigung
zum Zorn habe: sobald der Feind das merkt, so setzt er die Ruder
(in dieser Richtung) ein mit aller List und Bosheit. Solche Arbeit
verursacht der weltlich(gesinnte) Mensch(dem Feinde) nicht: er
folgt sogleich. Dem guten Menschen gegenüber verhält sich der
Feind wie einer, der einen Menschen mit Kletten bewirft: er wirft
eine nach der anderen auf ihn, bis jener ganz damit behängt ist.
So verhält sich der Feind: findet er einen Menschen zum Zorn
geneigt, so läßt er ihn ein Bild nach dem anderen sehen, das ihn
zum Zorn reizt; zuletzt wird der Mensch so zornig und ruft und
schreit, als ob er schlagen und stechen wolle. Könnte ein solcher
Mensch zu sich selber kommen, einen tiefen Fall vor Gott tun in
den Grund seiner Demut, falls er keinen Beichtiger aufsuchen kann;
könnte er mit dem Gegner sich ausgleichen und ihm genugtun, daß
er dann, ohne jegliche Entschuldigung, in das Bewusstsein seines
Nichts und seines großen Fehlers sänke: in einem solchen
Menschen schmölze sein Fehler vor Gott wie Schnee vor der
heißen Sonne; alles würde gesühnt; und der Feind zöge mit leeren
Händen ab. Und wollte der Mensch klug hieraus lernen, so würde er
lauterer werden und geeigneter, um zur Höhe zu steigen.
Nun wollen wir einen Gegenstand behandeln, der nicht jedermann
angeht. Arme Menschen, die wir sind, mögen wir erschrecken, von
solch hohen Dingen zu sagen und zu hören, wenn wir sie nicht
selbst erlebt haben. Die, für die das gilt, wissen davon und können
doch nicht vollständig darüber sprechen. Job sprach: "Als der
Geist, da im zugegen war, über mich hinwegzog, sträubten sich die
Haare meines Leibes. Jemand war da, dessen Gesicht ich nicht
kannte, und ich vernahm eine Stimme wie die eines leichten
Hauches.“3 In diesem Geist, der Job erschien und sich in Bewegung
kundtat, sieht Sankt Gregorius die heilige Menschheit unseres
Herrn. Die Form, die Job sah und nicht erkannte, war die
unbekannte Gottheit, verborgen und unerkennbar allen
Geschöpfen. Und er zieht heran, was im ersten Buch der Könige3
geschrieben steht: der Engel sprach zu Elias: er solle auf den Berg
steigen, damit der Herr komme.

3
Das Zitat Taulers ist nach Parsch, a. a. o. berichtigt (Job 4, 15-16); gleich darauf auch die
falsche Angabe aus den Büchern der Könige.
Als Elias auf dem Berge stand, kam ein gewaltiger Sturm
dahergebraust, der Berge wegriß, harte Felsen spaltete, Steine in
Stücke brach. Aber der Herr war nicht in diesem Sturm. Dann
geschah ein großes, gewaltiges Erdbeben: aber darin war der Herr
nicht; es folgte ein gewaltiges Feuer: doch auch darin erschien der
Herr nicht. Endlich wehte ein milder, ruhiger Wind, beruhigend,
leise wie ein Murmeln: und darin erschien dem Elias der Herr. Elias
hielt sich im Eingang einer Grotte und zog sich den Mantel über die
Augen. In keiner dieser Weisen, weder in der Bewegung noch in der
Verwüstung, auch nicht im Feuer kam der Herr. Das alles war (nur)
Vorbereitung und Weg zu des Herrn Kommen.
Nach dem heiligen Gregorius sind die hohen Berge die Menschen
eines erhabenen, bedeutsamen Seelengrundes ; die harten Felsen
aber, die von der Erschütterung so mitgenommen wurden, sind die
ungelassenen Herzen und die Leute, die auf ihren eigenen
Vorsätzen beharren, in harter Eigenwilligkeit und in Ungelassenheit,
die großes Aufsehen erregen und beachtliche Werke tun, aber alles
mit Eigenwillen4. Will der Herr dann zu diesen Menschen kommen,
so muß er zuerst eine große Bewegung senden, die alles in diesen
Menschen umkehrt. Leider gibt es nicht viele Leute, die so mit sich
verfahren lassen5. Dies ist die Ursache: sie klammern sich an
zeitliche Dinge und verharren in der Anhänglichkeit unserer
elenden Natur (an die sinnlichen Dinge) und in sinnlichem Behagen.
Unter denen jedoch, in welchen jener Stoß sich auswirkt und recht
fühlbar ist, wennschon mehr oder weniger, habe ich viele
kennengelernt, die mehr als hundertmal glaubten, mit ihrem Leben
sei es zu Ende.
Ein Mensch fragte unseren Herrn, was er tun solle, da er Tag und
Nacht glaubte sein Leben einbüßen zu müssen, ob er auf solche
Weise sein Leben daransetzen solle. Da antwortete ihm unser Herr:
„Kannst du das nicht daransetzen und innerlich leiden, was ich in
so furchtbarer Weise körperlich litt, an meinen Händen, meinen
Füßen und meinem ganzen Leibe?"

4
Die Änderung der Zeichensetzung bei Vetter 226,32 ergibt einen besseren Sinn. Vgl. Corin,
Sermons III, 17, Anm. 1.
5
Die Beifügung zu Vetter 226,34 »die so mit sich verfahren lassen" dient der
Verdeutlichung.
Diese (innerliche) Erschütterung6 können manche Leute nicht
ertragen; sie laufen hierhin und dorthin. Sie suchen Ruhe außerhalb
und finden keine. Sie sollten sich in Geduld schicken und sich bis in
den Grund in das Leiden fügen. Was glaubt ihr wohl, was dem
Sterben (dieser Menschen) folgen werde? Das ist wunderbar.
Wäre ein Mensch so rein, als er unmittelbar nach seiner Taufe
gewesen ist, hätte er niemals eine Sünde begangen, er müßte
selbst dann, wollte er zur höchsten Stufe der lebendigen Wahrheit
emporsteigen, durch diese Bewegung hindurch auf diesem Weg in
vollkommener Gelassenheit voranschreiten: sonst bliebe er zurück.
Nach dieser Erschütterung kam Feuer: der Herr aber kam darin
nicht und war auch nicht darin. Meine Lieben, das ist die
brennende Liebe, die verzehrt Mark und Blut, und in der gerät der
Mensch ganz außer sich, Ein Mensch erglühte einst so sehr,
innerlich und äußerlich von diesem Brand, daß er keinem Stroh
nahe zu kommen wagte aus Furcht, er werde es entzünden7. Ein
anderer, er lebt noch, konnte infolge dieser Glut nur im Winter
schlafen, wenn viel Schnee gefallen war. Dann wälzte er sich im
Schnee und schlief ein, und sogleich verwandelte sich der Schnee
rings um ihn fern und nahe in Wasser. Seht, so dringt die feurige
Liebe durch den Geist in den (menschlichen) Körper ein.
In alldem aber kam der Herr nicht. Dann geschah ein sanftes,
mildes, leises Raunen, wie (einer Menschenstimme) Wispern: und
darin erschien der Herr.
Ach, meine Lieben, was glaubt ihr wohl, was das war, worin der
Herr kam? Wenn der Herr in den Menschen kommt nach all diesen
ungestümen und starken Vorbereitungen, die soviel Bewegung und
Getümmel hervorgerufen, und wenn alles, was in der armen
Menschennatur und im Menschengeist ist, so durchglüht ist, und
dann der Herr selber kommt, was glaubt ihr wohl, was da
geschehen werde?

6
Zu Vetter 227,9: Wörtlich: „dieses innere Treiben"; deutlicher: „diese innere
Erschütterung". So ähnlich bald darauf nochmals.
7
Vetter, 227,22: „empfangen"; Corin schlägt, Sermons III, 18 und Anm. 2, „entfunkt" vor,
was einen besseren Sinn gibt.
Wisset: erhielte Gott die Natur (des Menschen) nicht in
übernatürlicher Weise, so könnte ein Mensch, und hätte er auch
die hundertfache Kraft, aus eigener Kraft solch eine Freude, so
Wunderbares nicht ertragen. Und doch dauert das nur einen
Augenblick.
Der Herr kam wie ein Blitz. Aber der Glanz (seines Blickes)
überschritt jegliches Maß; er war so gewaltig, daß Elias, im Eingang
der Höhle stehend, den Mantel über die Augen zog. Die Höhle
bedeutet die menschliche Unfähigkeit (dergleichen zu ertragen),
der Eingang nichts anderes als den Blick in die Gottheit. Und daß er
den Mantel über die Augen zog, die Ursache dessen war die
(göttliche) Erscheinung. So kurz und rasch verlaufend ein solches
Gesicht auch sein mag, es geht über die Kräfte jeder
Menschennatur, und diese allein könnte es weder ertragen noch
begreifen.
Dieses Gesicht ist wahrhaftig Gott. Der Herr ist in Wahrheit
zugegen. Die Süßigkeit (dieses Geschehens) geht über Honig und
Honigseim — und das gilt unter den äußeren Dingen für das
süßeste. Solch ein Gesicht geht über alle Sinne, jedes Verständnis,
alle Kräfte und verliert sich in unergründlicher Tiefe. Wie ein
krankes Auge das Sonnenlicht nicht ertragen kann, tausendmal
weniger vermag die (menschliche) Natur infolge ihrer Schwäche
diese Empfindung (Gottes) zu ertragen.
Was man auch davon sagen mag, wie groß und gut man mit den
Sinnen, den Worten, der Fassungskraft (solch ein Gesicht)
darzustellen versucht, es bleibt ebensoviel und -weit hinter der
Wahrheit zurück, als ob ich euch von einem Stück schwarzer Kohle
sagte: „Seht, das ist die klare Sonne, die alle Welt erleuchtet."
Hier wird, ihr, meine Lieben, der wahre, wesentliche Friede
geboren, der Friede, der alle Sinne übertrifft. Ein Mensch (der solch
ein Gesicht gehabt), ist von da ab im wesentlichen Frieden
gegründet, und niemand vermag ihm diesen Frieden zu nehmen.
Was die Gestalt angeht, die Job erblickte, doch nicht erkannte, so
war das die liebevolle Person des Sohnes in der Gottheit, und das
sanfte, leise Raunen, in dem der Herr kam, war der Heilige Geist.
Sankt Gregorius fragt hierzu: „Was bedeutete das, daß (Gott) in
stillem Raunen und nicht mit lautem Lärm kam?"
Und als Ursache gibt er an: „Der Herr kommt für die äußeren
Menschen in sinnlicher Weise, damit sie in äußerer Tätigkeit für die
Christenheit wirken könnten. Aber (im Fall des Job) war diese
Weise nicht vonnöten. Da diese Erscheinung im Geist kam,
bedurfte es keiner anderen Weise." Selig der Mensch, wann immer
er geboren ist, der auch nur einen Augenblick vor seinem Tod zu
diesem großen Besitz kommt.
Doch wisset: Wie groß und gut (solch ein Besitz) sei, so ist er
doch so wenig der Süssigkeit des ewigen Lebens zu vergleichen
wie der geringste Tropfen Wasser dem grundlosen Meer.
Wo aber bleiben, wohin gelangen die Menschen, denen diese
unaussprechliche Freude, dieses Wunder dargeboten und eröffnet
worden ist? Sie versinken in ihr abgründiges Nichts in
unaussprechlicher Weise. Ihre Freude wäre, hundertmal — wäre
dies möglich — zunichte zu werden, Gott zum Lob, oder daß sie
vor Gottes hohem Sein um seiner großen Würde willen und aus
Liebe zu ihm ins Nichtsein hinabsteigen könnten. Vor Gottes
Hoheit wollten sie gerne in den tiefsten Grund sinken. Denn je
mehr sie seine Hoheit erkennen, um so mehr wird ihnen ihre
Kleinheit und ihr Nichts deutlich.
In dieser Vernichtung sind sie ihrem eigenen Selbst so sehr
entzogen, daß, wollte Gott ihnen des Trostes und des Empfindens
(das sie durch jenes Gesicht erhielten) noch mehr geben, so
wollten sie es nicht und eilten davon; und wollten sie wirklich mit
freiem überlegtem Willen (jenes Trostes und jener Empfindung)
mehr erlangen, so würde bei ihnen nichts Rechtes daraus; ja sie
könnten leicht in Fehler fallen und Fegfeuer dafür leiden müssen:
und das wäre ein Zeichen dafür, daß es mit ihnen nicht durchaus
gut stünde8.
Die liebende Kraft freilich muß stets den gleichen Durst spüren,
Vernunft und Urteil aber fliehen hinweg. Diese Menschen haben
den heftigsten Durst nach Leiden. Für all die Freude und den Trost,
den Gott ihnen gegeben hat, suchen sie dem liebevollen Vorbild
ihres Herrn nachzufolgen und verlangen danach in der härtesten,
schimpflichsten, schmerzhaftesten Weise, die man (nur) ertragen
kann.

8
Zu dieser bei Vetter 229,18 schwer verständlichen Stelle gibt Corin III, 21 eine einsichtige
Übertragung.
Sie dürstet nach dem Kreuz, und sie beugen sich voll Liebe und
innigen Begehrens unter das geliebte Kreuz des von ihnen
geliebten Heilandes. Da wird das heilige Kreuz erhoben. Das ist des
heiligen Kreuzes (Fest)tag in Wahrheit. Denn das Leiden lieben sie
so sehr, und hier wird das Vorbild unseres Herrn nachgeahmt in
seinem wahren Adel.
Sankt Paulus, der edle Himmelsfürst, der in den Himmel entrückt
war, sprach: „Fern sei mir, mich zu rühmen, außer im Kreuz meines
Herrn Jesus Christus." Und unser lieber Job sagte: „Erhängt will
meine Seele werden, den Tod erwählt hat all mein Gebein."
Das hatte er erwählt für all das Gute, das Gott ihm erwiesen hatte.
Das Hängen am Kreuz bereitet den größten Schmerz, da sein Gott
um seinetwillen an dem Kreuz hing. (Ist in einem Menschen der
Wunsch erwacht, dem leidenden, gekreuzigten Heiland
nachzufolgen ), so schickt Gott ihm die furchtbarste Finsternis
9

und das tiefste Elend vollkommener Verlassenheit. Wie behauptete


sich die liebende Kraft, die im Brand der Liebe derart empfangen
ward und nun ganz und gar zu Boden geschlagen und aller
Empfindung des Trostes beraubt worden ist?
Da kommt Vernunft und Urteil und spricht zur Liebeskraft:
„Sieh, Liebender, das ist, was dein Geliebter dir hinterlassen, was
er den von ihm Geliebten zurückgelassen hat, eine Seele Gottes
voll und eine Natur voller Leiden." Und je nachdem die Liebe
weniger oder mehr brennt, um so mehr und besser freut sich ein
Mensch dieses Erbes, mehr sogar als aller Trost ihn je erfreut hat.
Das ist das begehrenswerte Erbe, das unser Herr seinen Freunden
durch den Propheten versprochen hat, und je edler sie dieses Erbe
erheben und lieben, um so mächtiger, innerlicher, seliger werden
sie das himmlische Erbe in alle Ewigkeit besitzen. Dieses Erbe
haben die heiligen Märtyrer mittels ihrer großen Liebe erlangt.
(Was) die Menschen (betrifft) (von denen ich gesprochen habe),
so glauben sie, daß sie erst zu leben angefangen, und sie fühlen
sich recht als Anfänger.

9
Eine bei Corin, Sermons III, 22, Anm. 1 angegebene Erläuterung ist in den Text
aufgenommen („Ist.. . nachzufolgen").
Ach, daß dieses köstliche, außergewöhnliche, große, wahre, lautere
Gut nicht erstrebt, daß es um so geringer, unbedeutender Dinge
willen vernachlässigt wird, das muß den barmherzigen Gott
erbarmen und ihm immer mehr geklagt sein.
Daß wir alle den rechten Weg gehen und zu dem erhabensten Ziel
kommen mögen, dazu helfe uns Gott.

AMEN.

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