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Sie sind hier: Start - Ausgabe 9 (2009), Nr. 1 - Rezension von: Kampfplatz Deutschland
Eine solch selektive Literatur- und Quellenrezeption hat freilich den Vorteil, sich
nicht mit Argumenten und Fakten auseinandersetzen zu müssen, die die eigenen
Thesen infrage stellen könnten. So lässt sich Stalin beispielsweise nur dann als
blinder Revolutionsexporteur darstellen, wenn man einige (teils schon lange
bekannte) Dokumente stillschweigend übergeht: Mit keinem Wort erwähnt Musial
beispielsweise, dass Stalin die Erfolgsaussichten des von der Komintern geplanten
Staatsstreiches im Jahr 1923 äußerst skeptisch beurteilte. "Wenn in Deutschland die
Macht heutzutage stürzt und die Kommunisten sie aufheben, dann werden sie mit
Pauken und Trompeten scheitern", hatte Stalin im August 1923 erklärt und daraus
für die Umsturzpläne der KPD gefolgert: "Meiner Meinung nach muss man die
Deutschen zurückhalten und nicht ermuntern." Nach dem absehbaren Scheitern der
von seinem Rivalen Trotzki vorangetriebenen deutschen Revolutionspläne strich
Stalin der KPD Ende 1924 folgerichtig auch die Zuschüsse für deren "Militärarbeit"
zusammen. Thälmann nörgelte daraufhin, die KPD müsse nun von "der konsequenten
Vorbereitung des Bürgerkrieges" abrücken.
Mit den vielen anderen Dokumenten über den Stand der sowjetischen Aufrüstung,
die Musial zitiert, lässt sich diese These allerdings nicht stützen. So hatte Stalin
noch im November 1940 geklagt, die sowjetische Luftwaffe sei faktisch wertlos und
müsse komplett neu aufgebaut werden. Hätte Musial ein Buch über die Rückschläge
der sowjetischen Rüstungsbemühungen schreiben wollen, hätte es ein
beeindruckendes Werk werden können: Detailliert schildert er, dass es den
Truppen an Munition fehlte, hunderttausende Soldaten barfuß zum Dienst
erscheinen mussten und wie häufig niemand die teuer eingekauften, modernen
Waffen zu bedienen wusste. Weshalb sich Stalin unter solchen Bedingungen zum
baldigen Angriff auf einen übermächtigen und an Blitzsiege gewohnten Gegner
entschlossen haben soll, bleibt Musials Geheimnis - er interpretiert selbst den
Beschluss, störanfällige Panzerketten auszutauschen, als Beleg für die Vorbereitung
eines Angriffskrieges.
Auch aus den Worten des sowjetischen Generalstabschefs, wenn die Sowjetunion
angegriffen werde, müsse die Rote Armee der feindlichen Armee "vernichtende
Schläge" versetzen, kann Musial nur offensive Absichten herauslesen. Folglich hält
er die hysterischen Warnungen der Bolschewiki vor einem drohenden Angriff
kapitalistischer Mächte auf die Sowjetunion für eine Propagandafinte. Musial
entgeht somit ein wesentliches Motiv sowjetischer Außenpolitik, denn tatsächlich
wähnten sich die Bolschewiki seit ihrer Niederlage gegen Polen vor Warschau im
August 1920 und seit den alliierten Interventionen im sowjetischen Bürgerkrieg von
Feinden umgeben, die nur auf eine günstige Gelegenheit warteten, auf die
Sowjetunion loszustürzen. Für Stalin war diese Bedrohung so real, dass er im
Oktober 1930 in einem Brief an den Geheimdienstchef Menschinski anregte, die
Arbeiter Westeuropas durch die Komintern über die angeblichen Angriffspläne der
westlichen Regierungen aufzuklären. Auf diese Weise, so war Stalin überzeugt,
ließen sich die alliierten "Interventionsversuche für die nächsten ein bis zwei Jahre
paralysieren, torpedieren, was für uns nicht unwichtig ist."
Derartige Überlegungen über die Motive der Täter und die Ursachen des Terrors
sind für Musial offensichtlich zu einfühlsam. Er will Stalins Verbrechen der
Zwischenkriegszeit, die er in seinem Buch ausführlich schildert, nicht erklären. Es
reicht ihm, sie zu verdammen. Da kann ein wenig spekulativer bodycount nicht
schaden: Als seien die belegbaren Opferzahlen nicht hoch genug, errechnet Musial
für die Sowjetunion und die sowjetisch besetzten Gebiete Osteuropas für die Zeit
zwischen 1917 und 1941 die "theoretische Zahl" von 16 Millionen Opfern des
kommunistischen Terrors - einschließlich der ungezeugten Kinder verhungerter und
erschossener Bauern. Damit - so konstatiert Musial auf der letzten Seite seines
Buches - überstieg die Gesamtopferzahl des kommunistischen Terrors in Europa die
des Nationalsozialismus. Man wird nach der Lektüre des Buches den Eindruck nicht
los, als sei diese Feststellung das eigentliche Ziel des Autors gewesen.
Bert Hoppe