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Diplomarbeit

Nikolas Hagele

Tabuthema männliche Prostitution


Eine Herausforderung an die soziale Arbeit

Diplom.de
Nikolas Hagele
Tabuthema männliche Prostitution - Eine Herausforderung an die soziale Arbeit

ISBN: 978-3-8366-0344-7
Druck Diplomica® Verlag GmbH, Hamburg, 2007
Zugl. Katholische Stiftungsfachhochschule München, München, Deutschland,
Diplomarbeit, 2006

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© Diplomica Verlag GmbH
http://www.diplom.de, Hamburg 2007
Printed in Germany
Inhaltsverzeichnis

Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ..................................................................................................................... 3
2. Die mann-männliche Prostitution................................................................................. 5
2.1. Überblick über die aktuelle Situation ............................................................... 5
2.2. Übersicht der vorhandenen Angebote und ihrer Grundmerkmale.................... 6
2.3. Zusammenfassung ............................................................................................ 8
3. Die verschiedenen Seiten der Prostitution.................................................................. 11
3.1. Stricher mit professionellem Bewusstsein...................................................... 11
3.2. Stricher ohne professionelles Bewusstsein..................................................... 11
3.2.1. Sexuelle Identität der Stricher ............................................................ 13
3.2.2. Motivation der Stricher....................................................................... 14
3.2.2. Problemlagen von Strichern ............................................................... 18
3.2.3. Lebenslagen von Strichern ................................................................. 21
3.2.4. Zusammenfassung .............................................................................. 23
3.3. Freier............................................................................................................... 23
3.3.1. Verschiedene Freiertypen ................................................................... 24
3.3.2. Identität der Freier .............................................................................. 25
3.3.3. Zusammenfassung .............................................................................. 26
4. Orte der Prostitution ................................................................................................... 27
4.1. Die reale Stricherszene ................................................................................... 27
4.1.1. Prostitution in öffentlichen Räumen................................................... 27
4.1.2. Prostitution in halböffentlichen Räumen............................................ 28
4.1.3. Prostitution in privaten Räumen ......................................................... 30
4.2. Die virtuelle Stricherszene.............................................................................. 30
4.3. Zusammenfassung .......................................................................................... 31
5. Prostitution und Geld.................................................................................................. 33
6. Prostitution und Recht ................................................................................................ 35
6.1. Das Prostitutionsgesetz................................................................................... 35
6.2. Das Infektionsschutzgesetz............................................................................. 36
6.3. Zusammenfassung .......................................................................................... 39
7. Die qualitative Datenerhebung ................................................................................... 41

1
Inhaltsverzeichnis

7.1. Die Fragestellung............................................................................................ 41


7.2. Die Methodik.................................................................................................. 42
7.2.1. Das Experteninterview ....................................................................... 42
7.2.2. Auswahl und Beschreibung der Interviewpartner .............................. 43
7.2.3. Entwicklung des Interviewleitfadens ................................................. 43
7.3. Die Stichprobe ................................................................................................ 44
8. Auswertung der Ergebnisse ........................................................................................ 47
8.1. Darstellung der verschiedenen Interviews...................................................... 47
8.1.1. Interview in der Einrichtung I, sub/way in Berlin .............................. 49
8.1.2. Interview in der Einrichtung II, looks e.V. in Köln............................ 57
8.1.3. Interview in der Einrichtung III, marikas e.V. in München ............... 65
8.2. Die Interpretation............................................................................................ 72
9. Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit.................................................................. 77
9.1. Ziele der sozialen Arbeit................................................................................. 77
9.2. Notwendigkeiten in der Arbeit mit Migranten ............................................... 78
9.3. Professionalität in der Stricherarbeit .............................................................. 82
9.4. Arbeitsbereich und Methoden in der Stricherarbeit ....................................... 84
9.5. Aussichten ...................................................................................................... 88
10. Literaturverzeichnis .................................................................................................. 89
11. Abbildungsverzeichnis ............................................................................................. 95
12. Interviewleitfaden..................................................................................................... 97
12. Anhang ................................................................................................................... 101

2
Einleitung

1. Einleitung

Diese Arbeit soll sich nicht nur mit der männlichen Prostitution im Allgemeinen befas-
sen, vielmehr soll es hier um die Probleme gehen, die durch die Migration in der männ-
lichen Prostitution entstehen. Durch die andauernde Erweiterung der EU kann man
Veränderungen der Klientel im Stricherbereich beobachten. Migranten, die hauptsäch-
lich aus Osteuropa, Afrika und Südamerika stammen sind nun, verglichen mit der
deutschen Klientel, stärker vertreten.

1989, nach dem Fall der Mauer war es ähnlich, als viele Stricher aus der ehemaligen
DDR und den Ostblockländern mit dem zunehmenden Strichertourismus in den Westen
kamen. Es entstand ein Überangebot an Strichern, welches alsbald zu existenziellen
Problemen der Stricher führte. Hinzu kam die rasant ansteigende Gewalt und das Prob-
lem, dass Stricher aus der ehemaligen DDR bis zu diesem Zeitpunkt nicht mit HIV und
AIDS konfrontiert waren und auf Safer Sex- Praktiken1 keinen Wert legten2. In den
darauf folgenden Jahren kamen zunehmend junge Männer aus Polen und Tschechien,
zunächst als Wochenendpendler, dann als Touristen, um sich in Deutschland zu prosti-
tuieren. Gründe hierfür waren die leicht auszulebende Homosexualität und das große
Geld, das sie glaubten in Deutschland verdienen zu können. Die Problematik ähnelt der
in der ehemaligen DDR. Angebot und Nachfrage ist im Ungleichgewicht und ein Exis-
tenzkampf beginnt. Heute machen den Hauptanteil in Deutschland Jungs3 aus Rumänien
und Bulgarien aus.

In dieser Arbeit wird nun das Thema der männlichen Prostitution zunächst allgemein
erläutert und dann mit Hilfe einer empirischen Untersuchung genauer auf die Migration
aus den Ländern Rumänien und Bulgarien in der männlichen Prostitution eingegangen.
Es wird untersucht, welche zusätzlichen Probleme mit dieser Klientel entstehen und wie
die soziale Arbeit darauf zu reagieren hat und welche Herausforderungen an sie gestellt
werden.

1
Bedeutet sexuelle Praktiken, bei denen das Risiko von sexuell übertragbaren Krankheiten minimiert
bzw. ausgeschlossen wird.
2
vgl. WERNER, 1993, S. 140.
3
Diese Bezeichnung für Stricher, welche vor allem in der Szene häufig gebraucht wird, wird ebenso in
der folgenden Arbeit verwendet.

3
Die mann-männliche Prostitution

2. Die mann-männliche Prostitution

Unter mann-männlicher Prostitution versteht man das regelmäßige oder gelegentliche


Angebot von sexuellen Dienstleistungen durch Jugendliche oder junge Männer. Als
Gegenleistung werden Geld oder materielle Werte wie Nahrungsmittel, Unterkunft oder
Kleidung, die zum Lebensunterhalt beitragen, geboten. Als Gegenwert kann auch die
Bereitstellung oder die Finanzierung von Drogen wie Heroin, Crack, synthetische
Drogen, Alkohol, Cannabis und Tabletten gehören. Auch dient Schmuck, teure Desig-
nerware als Zahlungsmittel. Die Erfüllung von emotionalen Bedürfnissen wie Gebor-
genheit, Liebe, Sicherheit und Zuwendung bleibt außen vor.4

2.1. Überblick über die aktuelle Situation

Männliche Prostitution ist ein urbanes Phänomen und findet hauptsächlich in Metropo-
len statt, dort vor allem in den Innenstädten bzw. Bahnhofsbereichen.

Eine genaue Angabe zu machen, wie viele Stricher es momentan in Deutschland gibt,
ist unmöglich. Es gibt nur grobe Schätzungen der einzelnen Stricherprojekte, da sich die
Zahl durch die vielen, nur zeitweise sich hier aufhaltenden Migranten, sowie der hohen
Fluktuation und Mobilität der Stricher, immer in Veränderung befindet. Eine weitere
Schwierigkeit stellt die hohe Anonymität dar, da nicht die ganze Szene institutionalisiert
ist. Ebenso ist der Begriff der „Stricher“ nicht klar zu definieren. Schickedanz gelangte
bereits in seiner Untersuchung aus dem Jahre 1979 zur Annahme, dass die Zahl der
Stricher, die sich in der damaligen BRD hauptberuflich prostituierten, auf 5000 kommt.
Zusätzlich schätzte er, dass sich weitere 15.000 Jungs und junge Männer gelegentlich
prostituieren5. Genauere Zahlen, die auf ganz Deutschland zu beziehen sind, sind nicht
vorhanden. Die einzelnen Stricherprojekte geben ungefähre Zahlen in deren jeweiligen
Regionen. So schätzt SUB/WAY Berlin e.V. die Zahl der anschaffenden jungen Männer
auf ca. 1000, Looks e.V. gibt an, dass sie ca. 500 Jungs im Jahr treffen, und schätzen,
dass 1000 Jungs im Jahr in Köln anschaffen6. Marikas in München redet von ca. 300
Jungs, die konstant in München ihre Dienste anbieten und 300 Jungs, die sie übers Jahr

4
vgl. WERNER, 1997, S. 182.
5
vgl. SCHICKEDANZ, 1979, S. V.
6
anschaffen bedeutet als männliche oder weibliche Prostituierte(r) zu arbeiten.

5
Die mann-männliche Prostitution

in München treffen.7 Einer genaueren Untersuchung zu Folge konnte Wright die Zahl
der Stricher, die im Ruhrgebiet und in Düsseldorf anschaffen exakt benennen. So halten
sich in Düsseldorf zwischen 488 - 598 und im gesamten Ruhrgebiet zwischen 110 - 130
Stricher auf.8 Diese Stricher sind nicht nur deutscher Herkunft, sondern kommen haupt-
sächlich aus den Ostblockländern wie Rumänien, Bulgarien, den slawischen Ländern,
Polen, Tschechien und der Türkei. Diese Migranten, die hier meist einen ungeregelten
Aufenthaltsstatus durch ein Touristenvisum haben und somit illegal arbeiten, machen
den größten Anteil der Klienten in den Stricherprojekten aus. Es wird häufig auch von
Armutsprostitution gesprochen, da viele der Jungs sich prostituieren, um sich und ihre
Familien in den Herkunftsländern durchzubringen9. Beachtenswert ist, dass sich in den
einzelnen Städten jeweils unterschiedliche ethnische Hauptgruppen angesiedelt haben.
So haben viele Migranten ihren Fixpunkt im Zielland Deutschland, zu dem sie immer
wieder zurückkehren, da dieser ihnen Vertrauen in einer Welt gibt, in der sie sich nicht
wirklich zurechtfinden.10

2.2. Übersicht der vorhandenen Angebote und ihrer Grund-


merkmale

Aktuell gibt es in Deutschland sieben Stricherprojekte. Diese Projekte haben einen sehr
niedrigschwelligen Zugang, das heißt sie befinden sich fast alle in Bahnhofsnähe bzw.
in der Nähe der Stricherszene11. Diese Anlaufstellen haben die Funktion einer Versor-
gungseinrichtung, die psychische und physische Grundbedürfnisse abdecken soll. So
bieten die Anlaufstelle konkrete Überlebenshilfen. Die Stricher haben hier die Möglich-
keit zu Beratungen, Gesprächen, medizinischer Versorgung und die Grundbedürfnisse
wie Essen, Körperhygiene, Erholung und Regeneration zu befriedigen. Nicht zuletzt
dient eine Anlaufstelle aber auch als Informationsvermittlung über HIV/ Aids12, STD13
und, Safer Sex, Safer Use14 und rechtliche Informationen.

7
vgl. Quelle aus persönlichen Gesprächen.
8
vgl. WRIGHT, 2003, S. 64ff.
9
vgl. REICHERT, taz Magazin Nr. 7624, S IV.
10
Quelle aus persönlichen Gesprächen.
11
Deutsche Aidshilfe, AKSD- Leitlinien, 2002, S.158.
12
HIV: human infected virus, so nennt sich der Virus. Aids: so nennt sich die Krankheit, die durch den
Virus entsteht.
13
STI aus dem englischen sexual transmitted infections: sexuell übertragbare Infektionen.
14
Safer use aus dem englischen: sicherer Gebrauch von intravenös injizierten Drogen.

6
Die mann-männliche Prostitution

Es ist wichtig, dass es in den Anlaufstellen täglich eine warme Mahlzeit gibt, da es
vielen Strichern nicht möglich ist durch ihre schlechte wirtschaftliche Lage, sich ausrei-
chend zu versorgen - und gerade diese Stricher stellen die Zielgruppe von solchen
Anlaufstellen dar.15 Viele Stricher sind oft tagelang auf der Straße unterwegs und des-
halb ist ein Angebot zur Körperhygiene ebenso wichtig. Um die allgemein schlechte
finanzielle Lage zu entschärfen, gibt es in vielen Einrichtungen eine Kleiderkammer.16

Als weitere Funktion dient eine Anlaufstelle als Schutzraum. Es wird hier vor allem ein
konkurrenz- und stressfreier Raum geschaffen, wo ein Austausch untereinander aber
auch Gespräche mit den Mitarbeitern stattfinden können. Die Anlaufstellen sind aber
auch ein Treffpunkt wo Gemeinschaft erfahren werden kann durch gemeinsame Aktivi-
täten. Kostenlose Kondome und Gleitmittel, Infobroschüren über sexuell übertragbare
Krankheiten, über HIV und Aids und Infos über rechtliche Veränderungen im Asylrecht
oder Prostitutionsgesetz17 gehören zur Grundausstattung einer jeden Anlaufstelle.

Einige Projekte haben zusätzlich ihre festen Notschlafstellen, die vor allem für minder-
jährige und obdachlose Stricher gedacht sind. Diese „Notunterkünfte“ sind oft in Form
von kompletten Wohnungen ebenfalls in sehr szenenahen Gebieten untergebracht18.

1993 haben sich die bis dahin bestehende fünf deutsche Stricherprojekte zu einem
Arbeitskreis für deutschsprachige Stricherprojekte (AKSD) vereint. „Der AKSD ver-
steht sich als Fachgremium von hauptamtlichen Mitarbeitern/ Mitarbeiterinnen in der
Stricher- Sozialarbeit. Aufgaben des AKSD sind es die Zusammenarbeit der Projekte zu
verbessern, um durch Erfahrungsaustausch und Reflexion eine professionellere Ar-
beitsweise zu gewähren. Des Weiteren wurde festgelegt, welche Arbeitsbereiche19 die
Stricherarbeit einschließt. Gegenseitige Unterstützung der verschiedenen Institutionen
und die Zusammenarbeit aller Stricherprojekte sind eine der wichtigsten Aufgaben.20
Der Arbeitskreis bietet interne Fortbildungsmöglichkeiten und Entwicklungsmöglich-
keiten an, ist aber auch ein Gremium für Informations- Fort- und Weiterbildung für
externe Interessierte, Projekte im Aufbau, Ämter etc.21 Heute sind auch in den Arbeits-
kreis Projekte aus den Niederlanden und der Schweiz mit einbezogen und der AKSD

15
vgl. SCHLAGHECK, 2002, S.40.
16
vgl. Deutsche Aidshilfe, AKSD- Leitlinien, 2002, Kapitel 158.
17
Eigene Beobachtung durch den Besuch mehrerer Einrichtungen.
18
vgl. SCHLAGHECK, 2002, S. 41f.
19
vgl. Punkt 8.4. dieser Arbeit.
20
vgl. Internationaler Fachkreis für Stricherarbeit im deutschsprachigem Raum, 2002, S.123f.
21
Vgl. Internationaler Fachkreis für Stricherarbeit im deutschsprachigem Raum, 2002, S. 126f.

7
Die mann-männliche Prostitution

wurde umbenannt in „internationaler Fachkreis für Stricherarbeit im deutschsprachigen


Raum“, wobei die Abkürzung AKSD beibehalten wurde. Aktuell existieren Leitlinien,
die 2002 entwickelt wurden und erstmals ein einheitliches Konzept und Grundsätze für
diesen neuen Bereich beinhalten. Die Inhalte stellen eine Beschreibung der Zielgruppe
dar, Ziele und Leitideen der Arbeit, Arbeitsmethoden, Arbeitsbereiche und Rahmenbe-
dingungen für die Stricherarbeit sowie eine Orientierungshilfe für Mitarbeiter/ Mitarbei-
terinnen.

Im Jahre 1997 wurde auf internationaler Ebene von AMOC/ DHV22 mit Partnern aus 18
verschiedenen Ländern das „European network of male prostitution“23 (ENMP) ins
Leben gerufen. Dabei hat jedes teilnehmende Land eine(n) Koordinator/ Koordinatorin,
die/ der für den Aufbau eines nationalen Netzwerkes im Bereich der männlichen Prosti-
tution verantwortlich ist und regelmäßig dem nationalen und internationalen Netzwerk
Bericht erstattet. ENMP ist in drei Hauptgruppen eingeteilt, nämlich Südeuropa, Mittel-
und Osteuropa und Nordeuropa. ENMP hat durch Zusammenarbeit der verschiedenen
Länder ein Handbuch entwickelt, wo all die unterschiedlichen Erfahrungen, vor allem
im Bereich HIV- und STI- Prävention, gesammelt und niedergeschrieben wurden.
Bisher wurden verschiedene Netzwerkaktivitäten durchgeführt: eine Pilotstudie, bei der
Migration unter Strichern als völlig neues und unbekanntes Phänomen beschrieben
wurde, ein Internetstudie, in der herausgefunden werden sollte, wie viele Männer Sex
im Internet anbieten, wie der gesamte Sexmarkt im Internet organisiert ist und welche
Möglichkeiten es für die soziale Arbeit gibt, mit diesem Sexmarkt umzugehen. Ebenso
wurde ein Training für Mitarbeiter in Strichereinrichtungen angeboten, bei dem es vor
allem um Methoden und Strategien in der Kontaktaufnahme ging, aber auch um Netz-
werk-Zusammenarbeit und um die Entwicklung von Präventionskonzepten.24

2.3. Zusammenfassung

Der Arbeitsbereich der männlichen Prostitution hat sich in den letzten Jahren, bedingt
durch die Erweiterung der EU und der Zunahme an männlichen Migranten in der Stri-
cherszene, ausgeweitet. In Deutschland gibt es mittlerweile sechs anerkannte Stricher-
projekte, die im Rahmen des AKSD zusammenarbeiten. Da die Klientel in diesem

22
Stichting Amsterdams Oecumenisch Centrum/ Stichting deutscher Hilfsverein.
23
ENMP: europäisches Netzwerk für männliche Prostitution.
24
Vgl. Deutsche Aidshilfe- ENMP, europäisches Netzwerk, 2003, S. 131- 136.

8
Die mann-männliche Prostitution

Bereich immer internationaler wird, ist man um eine Zusammenarbeit sowohl im natio-
nalen als auch im internationalen Bereich bemüht. So wird versucht, durch die Erfah-
rung der einzelnen Projekte das Angebot der Anlaufstellen auf die Klientel zuzuschnei-
den. Durch diese Zusammenarbeit sollen ebenso neue und dem Klientel angemessene
Präventionskonzepte entwickelt werden.

9
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

3. Die verschiedenen Seiten der Prostitution

Zur Prostitution gehören zwei Seiten: Einerseits derjenige, der die sexuellen Dienstleis-
tungen anbietet und als „Stricher“ bezeichnet wird und andererseits derjenige, der die
angebotenen sexuellen Dienstleistungen in Anspruch nimmt, dafür bezahlt und als
„Kunde“ oder „Freier“ bezeichnet wird. Es gibt „Freierinnen“, diese sind jedoch im
Verhältnis zu den Männern in der Minderheit.

3.1. Stricher mit professionellem Bewusstsein

Stricher mit professionellem Bewusstsein auch „Callboys“ genannt, sind junge, volljäh-
rige Männer, die bewusst und selbstsicher sexuelle Dienste anbieten, um ihren Lebens-
unterhalt zu verdienen um sich materielle Wünsche erfüllen zu können. Sie stellen hohe
Ansprüche an ihren eigenen Körper, an ihre Gesundheit und ihre Bildung. Callboys
müssen in ihrer Arbeit eine hohe Flexibilität hinsichtlich der Örtlichkeit als auch des
Angebotes der Dienstleistungen aufweisen. Sie zeichnen sich aus durch ihre ausgepräg-
te Identität in Bezug auf ihre Arbeit als Callboy und vor allem auf ihre sexuelle Orien-
tierung. Die Callboys sind von der Gesellschaft weniger diskriminiert und fühlen sich
selbst weniger desorientiert.25 Orte für die Prostitution dieser Strichergruppe sind die
eigene Wohnung, Clubs und Apartments, Striptease-Lokale, in der Pornobranche und in
Begleitagenturen (Escort-Service). Selten sind sie in öffentlichen Einrichtungen für
Stricher zu finden, da sie häufig ein anonymes Leben führen wollen und aufgrund ihrer
wirtschaftlichen sozialen Situation die Angebote nicht benötigen. Auch Angebote von
Einrichtungen zur Selbsthilfe für Callboys werden selten in Anspruch genommen, da
die Tätigkeit der Prostitution eine enorme Konkurrenz mit sich bringt und somit eine
Zusammenarbeit oft nicht stattfinden kann.

3.2. Stricher ohne professionelles Bewusstsein

Die Gruppe der Stricher ohne professionelles Bewusstsein ist weitaus größer als die der
Callboys. In dieser Arbeit wird nur auf diese Gruppe der Stricher eingegangen.

25
vgl. SCHICKEDANZ, 1979, S. 87f.

11
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

Die Jungs kommen aus unterschiedlichen Lebensräumen und Kulturen in verschiedenen


Lebensaltersstufen in die Prostitution, wobei sie sich hier selbst zurechtfinden müssen
und die Regeln der Stricherszene eigenständig erfahren und erlernen und die Szenen-
mitglieder einschätzen müssen.26 Sie gehen der Prostitution nach, um sich kurz- oder
langfristig ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Es dreht sich somit alles um das Geld, es
wird im Hier und Jetzt und von „der Hand in den Mund“ gelebt ohne Zukunftsplanung
und Zukunftsperspektiven. Ein Bewusstsein für die Prostitutionsausübung ist nicht
vorhanden, die Prostitution dient eher als Mittel zum Zweck des Überlebens. Viele der
Jungs und jungen Männer träumen von der klassischen Normalfamilie mit Frau und
Kind. Durch ihre mangelnde Identität, verglichen mit den professionellen Strichern,
verfestigen sie ihre Rolle in der unteren Schicht der sozialen Hierarchie in der Szene
und sind daher auch einer größeren Diskriminierung ausgesetzt.27 Es kann nicht von
dem typischen Strichjungen gesprochen werden, da die Jugendlichen und jungen Män-
ner, die der männlichen Prostitution nachgehen, eine äußerst heterogene Gruppe darstel-
len. Die einzige Gemeinsamkeit, ist der Verkauf von sexuellen Handlungen. Sie unter-
scheiden sich aber in ihren Einstellungen, in ihren Identitäten, Nationalitäten und Moti-
vationen.28

Zu den nicht professionellen Strichern zählen auch diejenigen, die auf Grund ihres
Alters oder ihres aufenthaltsrechtlichen Status juristisch unselbstständig und ebenso für
professionelle Hilfen schwer erreichbar sind29. Oft fliehen die Minderjährigen aus ihren
zerrütteten Familien oder aus Heimen und begeben sich auf Trebe,30 um der unerträgli-
chen Situation und den damit verbundenen Problemen zu entkommen31. Als Minderjäh-
rige verfügen sie nicht über das Recht, ihren Aufenthaltsort selbst zu bestimmen und
werden von der Jugendbehörde meist an den Ort zurückgebracht, von dem sie geflüchtet
sind. Aus dieser emotional schwierigen Situation heraus entstehen oft Kontakte zu
pädophilen Männern, die den Jungs scheinbar Freiheiten, Anerkennung, Liebe und
Geborgenheit geben. Jedoch stehen hier im Gegenzug die sexuellen Handlungen, die
diese aufgezählten Bedürfnisse wieder zunichte machen. Der Pädophile, der für den
Jungen Vaterersatz oder großer Bruder darstellt, verliert mit zunehmendem Alter des

26
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 64.
27
vgl. SCHICKEDANZ, 1978, S. 80; WAGNER, 1990, S. 45f.
28
vgl. ASKD Leitlinien, 2002, Kapitel 1, Zielgruppe.
29
vgl. WERNER, 1997, S. 184.
30
So nennt man von zu Hause ausgerissene Jugendliche, die vorübergehend ohne festen Wohnsitz sind
und die sich oft an Bahnhöfen und anderen öffentlichen Plätzen aufhalten.
31
vgl. MÖBIUS, 1990, S. 30.

12
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

Jungen das Interesse. In der Regel beginnen diese, ihre Jungs mit ca. 14 Jahren in die
Stricherszene einzuführen32. Das Ergebnis ist eine weitere große Enttäuschung des
Jungen, der sich nun in einer Notsituation befindet und sich dadurch unfreiwillig prosti-
tuiert.

3.2.1. Sexuelle Identität der Stricher

Eine klare und stabile sexuelle Identität haben viele Stricher, vor allem die Jüngeren,
noch nicht gefunden oder sie ist noch nicht genügend gefestigt, obwohl sich alle durch
die Prostitution homosexuell verhalten33. Ihre sexuellen Identitäten sind äußerst wider-
sprüchlich und spiegeln Tendenzen von Männlichkeitsideologien, Wunschdenken und/
oder Homosexuellenhass. So dient der Strich vielen Jungs, bewusst oder unbewusst, als
Experimentierfeld auf der Suche nach ihrer sexuellen und persönlichen Identität.34
Durch die sexuellen Handlungen, die zwischen Strichern und Freiern ablaufen, kommt
es häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, wenn die Männlichkeit der Stricher
in Frage gestellt wird. „Diese Jungen verteidigen also ihre sexuelle Identität, wie sie sie
begreifen; und diese Identität scheint fest verankert und erduldet nicht einmal eine
Relativierung zur so genannten Bisexualität.“35 Dies bedeutet aber nicht, dass es nur
heterosexuelle Jungs auf dem Strich gibt. „Unter den Strichjungen wird man Hetero-,
Homo- und Bisexuelle finden, aber auch solche, die sich ihrer Sexualorientierung noch
unsicher sind, solche, die ihre Heterosexualität unterstreichen, in der Prostitution aber
ihre latenten homosexuellen Anteile befriedigen, und solche, die die Prostitution als
Hilfe für ihr homosexuelles „Coming Out“ verwenden.36 Ebenso bezeichnen sich viele
Jungs als bisexuell. Die Prostitution wird als Geschäft angesehen, bei dem homosexuel-
le Handlungen nur für eine Gegenleistung praktiziert werden. So haben Stricher auch
auf privater Ebene sexuelle Kontakte zu nur Frauen, aber nicht immer aus Überzeugung,
sondern auch um sich selbst zu beweisen, für Bezahlung als homosexuell zu gelten.37
Zu beobachten ist jedoch eine gefestigte homosexuelle Identität bei den meisten profes-

32
vgl. FINK/WERNER, 2005, S. 68.
33
vgl. SCHROTT/ PANT/ KLEIBER, 1994, S. 399ff.
34
vgl. TEUERKAUF, 2003, S. 36.
35
LAUTMANN, 1990, S. 8.
36
vgl. TEUERKAUF, 2003, S. 28.
37
vgl. VOLKWEIN/ WERNER, 1998, S. 116f.

13
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

sionell anschaffenden Strichern bzw. Freiern38.Warum für viele der Stricher die Identi-
tätsfindung ein Problem darstellt, ist darauf zurückzuführen, dass viele Jungs unter
mangelnde Identifikationsmöglichkeiten, hervorgerufen durch die fehlende Vaterrolle
oder die oft daraus entstehende Überbehütung der Mütter leiden. Folgen sind dann
Identifikationsverluste, wodurch sie nicht mehr im Stande sind, selbstständig Entschei-
dungen zu treffen und sich nicht auf eine psychosoziale und psychosexuelle Identität
festlegen können.39

3.2.2. Motivation der Stricher

Männliche Prostituierte gehen der Prostitution aus sehr unterschiedlichen Gründen nach.
Diese variieren je nach Prostitutionsform, ob professioneller/ nicht professioneller
Prostitution, Armutsprostitution, Alter, existenzieller Situation und sozialer Herkunft.
Über allem steht jedoch immer noch Geld, das alle benötigen, um sich entweder nur ein
Taschengeld zu verdienen oder seinen gesamten Lebensunterhalt oder auch eine Dro-
gensucht damit zu finanzieren. Im Folgenden werden nun die häufigsten Motivations-
gründe aufgelistet, die Stricher dazu veranlassen, ihren Körper und sexuelle Handlungen
zu verkaufen.

• Die Suche nach dem Vater: Immer wieder sind auch in der männlichen Prostitu-
tion Jungs zwischen 9 und 14 Jahren anzutreffen, die sich häufig vor Klappen40,
schwulen Saunen oder in Schwimmbädern aufhalten. Hier warten sie, da sie
wissen, dass Männer diese Orte aufsuchen, um mit Jungs in Kontakt zu kom-
men. Was diese Jungs dazu motiviert, mit weitaus älteren Männern mitzugehen
und auch sexuelle Handlungen über sich ergehen zu lassen, hat unterschiedliche
Motive. Die Jungs sind auf der Suche nach einem Vater, da sie ihren eigenen nur
kurz oder nie gesehen haben. Es fehlt also die Vaterfigur in der Entwicklung des
Jungen, die die Mutter nicht auszugleichen vermag. Der Pädophile ist hier erst-
rangig die emotionale Bezugsperson, die so lange gesucht wird. Sie steht im
Vordergrund und der Junge ist bereit dafür sexuelle Handlungen auszuüben oder
über sich ergehen zu lassen41.

38
vgl. Punkt 3.1. dieser Arbeit.
39
SCHICKEDANZ, 1979, S. 151 ff.
40
vgl. Punkt 4.1.1. dieser Arbeit.
41
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 70.

14
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

• Die Flucht aus Heimen und der Familie: Viele der Jungs die anschaffen, stam-
men aus sehr zerrütteten Familien, wachsen in Heimen auf oder kommen aus
Familien der „sozialen Unterschicht“. Geprägt durch Alkoholismus in den Fami-
lien, Stiefväter ohne Interesse am Stiefkind, sexueller Missbrauch42 und psychi-
sche Gewalt sowie die Überbelastung allein erziehender Mütter und die aus allen
diesen Missständen resultierende soziale Vernachlässigung, bringt die meisten
Jungen dazu, das Leben auf der Straße dem zu Hause vorzuziehen. So verglei-
chen Jungen das Leben auf dem Strich mit ihrem Leben, das sie zuvor gelebt
haben und sehen die neue Lebenssituation als eine mit besseren Perspektiven.
Der Kontakt zu anderen Menschen mit Erfahrungen auf der Straße und der Kon-
takt zu diesen führt schnell dazu, dass sie dieses Milieu sehr rasch als ihre neue
Familie bezeichnen43. Hier finden sie aber auch Freier, die ihnen die volle Auf-
merksamkeit schenken, die ihnen bessere Wohnverhältnisse bieten und um sie
einen „Wettbewerb“ veranstalten. Noch dazu können sie sich ihre „Wahlfami-
lie44“ aussuchen. Auf sexueller Ebene gesehen, können sie Sex mit Freiern oder
anderen Strichern haben ohne als homosexuell abgestempelt zu werden. Das Ge-
fühl, sich den eigenen Lebensunterhalt zu verdienen, das Abenteuer und das An-
treffen von Gleichgesinnten, tragen auch zu dieser neuen und scheinbar besseren
Perspektive bei. Aber nicht nur materielle Werte sind Motivationsgründe, son-
dern auch die Abenteuerlust, der Spaß am Sex, die Möglichkeit zu wechselnden
Sexualpartnern45 und das Coming Out.

• Coming Out: Unter Coming Out versteht man den intensiven und lebenslangen
Prozess, bei dem sich ein Jugendlicher mit seiner homosexuellen Orientierung
auseinandersetzen muss, sich die Homosexualität selbst eingestehen muss und
lernen muss, sich so zu akzeptieren. Man teilt das Coming Out in unterschiedli-
che Phasen ein, nämlich das innere Coming Out, bei dem der Jugendliche er-
kennt, homosexuell oder bisexuell zu sein, das familiäre Coming Out, bei dem
der Jugendliche seiner näheren Umgebung, Familie, und Freunden mitteilt, ho-

42
vgl. STALLBERG, 1990, S. 23f; Nach einer Umfrage von Weissberg zufolge, wurden 29% der von ihr
Befragten von eigenen Familienmitgliedern und 15% von nicht Verwandten Personen missbraucht
worden zu sein.
43
vgl. PFENNIG, 1994, S. 9.
44
Stricher können sich den Freier aussuchen, bei dem sie sich wohl fühlen, der am ehesten der Vaterrolle
gerecht wird und der die von ihnen erwarteten Bedürfnisse nach Aufmerksamkeit und Zuneigung am
besten befriedigen kann.
45
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S.78 und 225.

15
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

mosexuell zu sein, das globale Coming Out, bei dem die Einstellung überwiegt,
dass es alle Welt wissen soll und letztens, das lebenslange Coming Out.46 Was
in dieser Phase passiert, ist abhängig davon, wie die vorherigen Phasen erfahren
wurden. Viele Jungs benutzten auch die Stricherszene als Ort des Coming Out,
da sie hier nicht dem Druck ausgesetzt sind, Stellung zu ihrer Sexualität zu be-
ziehen und nicht zugeben müssen, schwul oder bisexuell zu sein. So bietet die
Stricherszene guten Schutz, da demselben Problem ebenso viele Freier ausge-
setzt sind und das Thema tabuisiert wird. Ein großer Nachteil besteht darin, dass
Stricher, die ihr Coming Out in der Stricherszene erleben, nicht lernen, ihre ei-
genen Bedürfnisse nach Liebe und Geborgenheit zufrieden zu stellen und eigene
Wünsche anzumelden.47

• Aufarbeitung von sexuellem Missbrauch: Spätestens dann, wenn die Jungs eini-
ge Zeit anschaffen, erleben diese häufig Missbrauchserfahrungen durch gewalt-
bereite Freier. Viele von ihnen haben jedoch bereits in ihrer frühen Kindheit se-
xuellen Missbrauch durch Eltern oder Bekannte erlebt. So handeln diese Jungs
nach dem Belohnungsprinzip, das sie durch den Missbrauch sehr früh erlernt
und diese Verhaltensweisen verinnerlicht haben. Es besagt, dass sie durch sexu-
elle Handlungen mit Zuneigung, Liebe und Aufmerksamkeit belohnt werden.
Auf dem Strich versuchen sie die genannten Gefühle zu finden, bleiben jedoch
weiter in der Opferrolle, da sie den sexuellen Missbrauch noch nicht aufgearbei-
tet haben. Bisher ist man davon ausgegangen, dass nur deutsche Stricher, ge-
prägt durch sexuelle Missbrauchserfahrungen auch durch Pädophile, in die
männliche Prostitution hineingeraten. Nach Jahren berichten nun auch Stricher
aus osteuropäischen Ländern von sexuellen Erlebnissen vor ihrem 14ten Lebens-
jahr mit pädophilen Männern aus Deutschland.48

• Drogenabhängigkeit: Bei den Junkiestrichern49 ist Beschaffungsdruck Motivati-


on für die Prostitution. Der Drogenkonsum steht im Vordergrund. Die Prostitu-
tion ist nur ein Nebeneffekt, bei dem die Tendenz zu riskanten Sexualpraktiken
in Bezug auf HIV und STI steigt. Viele dieser Stricher verkaufen sich für sehr
wenig Geld und werden somit wiederum von anderen Strichergruppen diskrimi-

46
vgl. EURO-KOPS, 1999, 53ff.
47
vgl. FINK/WERNER, 2005, S. 90.
48
vgl. Protokoll DAH Seminar S. 9.
49
Dieser Begriff wurde 1992 bei einem Konzeptseminar der deutschen Aidshilfe definiert.

16
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

niert und mit Vorurteilen belastet. Die typischen Drogen in dieser Szene sind
Partydrogen wie Exctasy, Amphetamine und Kokain und natürlich Haschisch
und Marihuana, aber auch Heroin und Crack. Genauso gelten Drogen oft als
Zahlungsmittel der Freier. Vor allem Alkohol, dient als zeitliches Überbrü-
ckungsmittel, wenn die Stricher in den Kneipen oder auf dem Straßenstrich auf
Freier warten. Häufig entstehen aber auch Spielsüchte an Spielautomaten oder
mit dem Handy.50 Viele Jungs bezeichnen die Stricherszene an sich als Droge.
Der Ausstieg ist schwer, die einzigen Freunde sind in der Szene und neue
Freunde distanzieren sich, sobald sie von der Prostitutionsausübung erfahren.51

• Migration: Migranten nehmen in der Stricherszene einen Anteil von bis 85%
ein. Ein ständiger Wandel im Bereich der Migranten ist zu beobachten. Junge
Männer entscheiden sich für die Arbeit im Ausland, da sie in ihren Herkunfts-
ländern nicht genügend Förderung oder Möglichkeit haben, ihre physische oder
psychische Sicherheit zu erlangen. Es herrscht für sie der Eindruck, dass be-
stimmte Ziele, z. B. Anbindung an eine medizinische Grundversorgung in ihrer
Herkunftsgesellschaft nicht erreicht werden können. Ebenso emigrieren viele
junge Männer, da sie sich in den Herkunftsländern nicht verwirklichen können,
zum Beispiel auf Grund der strengen Sanktionen des Staates oder der Kirche. So
ist es für manche Migranten auch die einzige Chance, ihre Homosexualität un-
gehindert und ohne gesetzliche Bestrafung auszuleben. Es besteht auch oft nur
der Wunsch auszusteigen. Nicht immer ist die politische Situation gesichert und
führt dazu, dass sich einzelne Personen oder Gruppen auf die Flucht begeben
müssen. Die häufigsten Motivationsgründe sind aber immer noch die schlechten
wirtschaftlichen Verhältnisse, die es nicht zulassen, ein ausreichend gesichertes
Leben zu führen.52 Die meisten Migranten stammen momentan aus den Ost-
blockländern, vor allem aus den Ländern Rumänien und Bulgarien,53 aber auch
aus Südamerika, Afrika und aus Nah- und Fernost. Die schlechte wirtschaftliche
Lage veranlasst viel junge Männer ins Auslande zu gehen, dahin zu gehen, „wo
das Geld auf der Straße liegt“54, um die eigene Familie zu unterstützen. Die
schlechten Chancen auf dem deutschen Arbeitsmarkt, auch bedingt durch den il-

50
vgl. Information aus den durchgeführten Interviews.
51
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 83.
52
vgl. FINK/WERNER, 2005, S. 269f.
53
Informationen aus den durchgeführten Interviews.
54
Zitat aus dem Interview I.

17
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

legalen Aufenthaltsstatus, führen bei vielen Migranten als letzte Möglichkeit


Geld zu verdienen, zum Einstieg in die mann-männliche Prostitution.

• Abziehen: Einige nutzen die Szene, um an Geld zu gelangen ohne unbedingt als
Gegenleistung sexuelle Dienstleistungen anzubieten. Dieses so genannte „Abzie-
hen“ des Freiers hat zum einen den Effekt, dass ein Stricher an mehr Geld
kommt und zum anderen eine „Eigenschutzfunktion.“ Vor allem Jungen im Co-
ming Out versperren sich diese dadurch den Rückweg zu manchen Freiern, die
sie vielleicht als sympathisch und angenehm empfunden haben und verbieten
sich somit, den Freier wieder zu treffen. Ihre Angst, „etwas schön zu finden, was
überhaupt nicht schön sein darf.“ ist ebenso von großer Bedeutung. Genauso
dient es dem Selbstschutz der Stricher bei unangenehmen Freiern, den aufge-
kommenen Ekel zu verdrängen und durch das „Abziehen“ zu kompensieren.

3.2.2. Problemlagen von Strichern

Stricher, die mit einem unprofessionellem Bewusstsein anschaffen,55 sind häufig einer
Vielfalt von psychischen, sozialen und gesundheitlichen Problemen ausgesetzt. Die
Jungs leben hauptsächlich auf der Straße, da sie von zu Hause vertrieben wurden oder
von dort oder aus Heimen geflüchtet sind. Sie gehen einer von der Gesellschaft verach-
teten Tätigkeit nach und dadurch entstehen weitere Schwierigkeiten. Hinzu kommt, dass
Stricher in einem bestimmten Alter, oft schon Mitte 20, aus der Stricherszene herausfal-
len, da attraktivere junge Stricher nachkommen und die älteren vom Markt verdrän-
gen.56 Psychische Probleme sind häufig schon vorhanden, da viele aus zerrütteten
Familien oder chaotischen Familienkonstellationen kommen, Heim- und Psychiatrieauf-
enthalte hinter sich haben und frühe kindliche Erfahrungen durch sexuellen Missbrauch
gemacht haben. Somit ist bei den meisten die Herkunftsproblematik sehr ähnlich. „Für
einige Jungen bedeutet das Anschaffen nichts weiter als das, was sie zuvor schon in der
Familie machen mussten. Für etwas Geborgenheit, Aufmerksamkeit oder Zuneigung
mussten sie sich gut verkaufen können. Jungen, die anschaffen, sind auf der Suche nach
dem, was sie in der Familie nie selbstverständlich bekommen haben und setzen das ein,
was sie beispielsweise in den Herkunftsfamilien gelernt haben. Dazu gehört auch, dass

55
vgl. Abschnitt 2.2
56
vgl. LANG, 1989, S. 29.

18
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

in einigen Familien der Mutter oder dem Vater sexuelle Gegenleistungen zu erbringen
waren. Jungen erleben dabei vielfältige Rollenkonflikte (...), die sich in der Strichersze-
ne wiederholen.“57 Manche haben noch Kontakte zu ihren Müttern, so gut wie keiner
jedoch zu seinem Vater. Eine fehlende Schulausbildung ist bei den meisten Jungs auf
ihre frühe Flucht von zu Hause zurückzuführen.

Stricher müssen sich zusätzlich der Diskriminierung nicht nur der Gesellschaft allge-
mein stellen, sondern auch den Ausgrenzungen und Diskriminierungen in der schwulen
Szene selbst. Sie müssen mit unterschiedlichen Vorurteilen der Gesellschaft zurecht-
kommen, wie zum Beispiel damit, dass männliche Prostituierte als moralisch und sozial
krank gelten und deswegen hilfebedürftig sind, dass sie körperlich krank sind und als
Gefahr gelten, weil sie HIV und andere sexuell übertragbare Krankheiten in der Gesell-
schaft verbreiten und nicht zuletzt, dass sie kriminell sind.58 Für Außenstehende gelten
sie lieber als kriminell, als dass sie die Tätigkeit des Prostituierens zugeben würden.

Durch den ständigen Druck, der von der Gesellschaft auf sie einwirkt, das tägliche
Bemühen Geld zu verdienen, das zum Leben gebraucht wird, das harte Leben auf der
Straße und in der Prostitution, treten viele Stricher in Kontakt zu Drogen. Oft ist Prosti-
tution eine Möglichkeit um ihre Drogensucht zu finanzieren,59 oder sie nehmen Drogen,
um überhaupt der Prostitution nachgehen zu können. Durch die Drogenabhängigkeit der
Stricher entstehen mannigfache gesundheitliche Probleme, denen die Stricher ausgesetzt
sind.

Durch den intensiven Beschaffungsdruck lassen sich viele Jungs auf riskante Sexual-
praktiken ein, bei denen die Gefahr steigt, sich mit HIV/Aids oder STI60 zu infizieren.
Gerade die STI werden oft nicht frühzeitig erkannt und ziehen schwere körperliche
Schäden nach sich. So kommt es häufig zu einer Verwahrlosung des eigenen Körpers.
Aber nicht nur durch Drogen und deren damit verbundenen Lebenseinstellungen erge-
ben sich Gesundheitsprobleme, sondern viele leiden auch unter chronischen Erkrankun-
gen. Dazu gehören neben Hepatitis und HIV auch Erkrankungen des Bewegungs- und
Verdauungsbereiches sowie der Zähne und des Zahnfleisches auf Grund mangelnder
Körperhygiene. Die Scheu der Stricher gegenüber den Ärzten, diesen ihre Erwerbstätig-
keit zu offenbaren, aber auch die Unsicherheit der Ärzte selbst, wie mit diesen Jungs

57
VOLKWEIN / WERNER, 1998, S. 115
58
vgl. AKSD, Leitlinien für die soziale Arbeit mit Strichern, 2002, Kapitel 1.
59
Beschaffungsprostitution
60
sexuell übertragbare Krankheiten, wie Tripper, Syphilis, Hepatitis und Herpes.

19
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

umzugehen ist, tragen zu dieser Problematik bei. Stricher lehnen oft Therapieschemata
ab oder brechen Therapien ab, da sie sehr schnell den Eifer verlieren. Lieber wählen sie
aber den Weg, der ihnen den schnellsten Erfolg verspricht, welcher nicht von Dauer ist.
Durch die starke psychische Belastung kommt es häufig zu psychosomatischen Be-
schwerden in Form von Bauch- Rücken- und Kopfschmerzen bis hin zu autoaggressiven
Handlungen wie Suizidversuche, Selbstverstümmelungen durch Ritzen und Branding
aber auch zu vermehrten Drogenkonsum.61

Ein weiteres, häufig auftretendes Problem, das in der mann-männlichen Prostitution zu


finden ist, ist Gewalt. Hier zeigen die Formen der Gewalt sehr viele Gesichter. So tritt
hier vor allem neben psychischer und physischer Gewalt auch verbale und mitunter
strukturelle Gewalt62 auf. Die Stricher haben bereits in ihren Familien, in Heimen
Gewalt erlebt, vor allem dann, wenn Jungs homosexuelle Tendenzen zeigen, werden sie
häufig Opfer von Gewalt und sexueller Ausbeutung. Auch in der Prostitution wird
Gewalt durch Freier ausgeübt. Hier werden Stricher zu ungewollten Sexpraktiken
gezwungen, werden erpresst oder über längere Zeit festgehalten. Rechtlich sind solche
Übergriffe schwer nachzuweisen. Es ist ebenso schwierig für die Jungs darüber zu
reden, sich zu wehren oder ihre Schwäche einzugestehen. Dies führt dazu, dass sich
Stricher nicht ausreichend vor gefährlichen Freiern warnen. Auf der anderen Seite sind
es aber auch Stricher, die Gewalt gegen Freier ausüben. Man spricht von folgenden
Hauptgründen: Freier gelten als schwach oder pervers und sind somit leichte Opfer.
Durch die Nichtabsprache von sexuellen Dienstleistungen oder finanziellen Vereinba-
rung kommt es zu Konflikten, die in Gewaltakten enden. Bei Gewaltakten von Minder-
jährigen bietet das Gesetz Schutz, da diese noch nicht straffähig sind. Viele Gewalttaten
durch Stricher sind eine Entladung von Emotionen, die durch Ekel und Hass entstehen.
Die Auseinandersetzung mit der eigenen Prostitution, homophobe Tendenzen stehen
sich gegenüber und können in Gewaltausbrüche münden.63

Für viele Stricher gilt das Überlebensmotto „der Stärkere hält sich am Schwächeren
schadlos.“ Man spricht hier von einer Gewaltspirale.64 So werden vor allem neue und
junge Stricher als Konkurrenz gesehen, da sie auf dem Prostitutionsmarkt als „Frisch-

61
vgl. Deutsche Aidshilfe AKSD, Leitlinien für die soziale Arbeit mit Strichern 2002, Kapitel 1.
62
Darunter wird die Beeinträchtigung der Persönlichkeitsentwicklung verstanden.
63
vgl. Deutsche Aidshilfe AKSD Leitlinien für die soziale Arbeit mit Strichern 2002, Kapitel 1.
64
vgl. WERNER, 1993, S. 144 ff.

20
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

fleisch65“ sehr erfolgreich sind. Es hat sich aber auch eine klare Hierarchie in der Stri-
cherszene entwickelt, die sowohl die Orte der Prostitution, die Herkunft der Stricher,
das Alter und die Motivation der Stricher betreffen. Gemeinsamkeiten entstehen meist
dann, wenn man zusammen gegen eine andere Strichergruppe vorgeht. Gegnerische
Gruppen sind z. B. deutsche gegen ausländische Stricher, rumänische gegen Rromastri-
cher, Nichtjunkiestricher gegen Junkiestricher oder die Gruppe der schwulen gegen die
nicht schwulen Stricher. Der anderen Gruppe wird grundsätzlich die Schuld an schlech-
ten Preisen, Verbreitung von Krankheiten und die Schuld an der eigenen existenziellen
Not zugeschoben.66 So werden einzelne Stricher, ja ganze ethnische Gruppen von
Strichern aus der Szene vertrieben.

3.2.3. Lebenslagen von Strichern

Viele Stricher sind obdachlos und leben auf der Straße. Manche haben ein kleines
Apartment, das sie sich mit anderen teilen oder können für einige Zeit bei einem Freier
unterkommen. Die Straße ist jedoch der Ort an dem sie sich ihr Leben abspielt. Sie sind
auf Kunden angewiesen und müssen deswegen so oft als möglich an den Orten der
Prostitution präsent sein. So wird der gesamte Tagesablauf auf die Bedürfnisse der
Freier ausgerichtet. Dies hat allerdings zur Folge, dass sie ihre Arbeit und ihr Freizeitle-
ben bzw. ihr privates Leben nicht trennen können. Durch das oftmals beschriebene
„Rumhängen“ ist ihr Tag durch Warten, Hoffen und Zeit überbrücken gekennzeichnet.67
Im Gegensatz zur weiblichen Prostitution gibt es kein offensives Anwerben der
Prostituierten. Um von der Diskriminierung der Gesellschaft verschont zu bleiben,
bedeutet dies, sich diskret und zurückhaltend zu verhalten.68

Meist kommt es in der Stricherszene vor, dass die Jungs nicht als Menschen, sondern als
Sexobjekte betrachtet werden. Sie werden auf ihr Äußeres hin taxiert und dementspre-
chend bewertet. Wenn die Stricher jung sind und gut aussehen, können sie die Geschäf-
te mit den Freiern steuern, da junge und „unverbrauchte“ Stricher in der Szene am
beliebtesten sind. Werden sie dagegen älter, schwindet zunehmend das Interesse der
Freier, aber sie müssen trotzdem versuchen, auf dem Markt weiter zu überleben. Sie

65
so werden frisch in der Szene angekommene Jungs bezeichnet.
66
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 114 -129.
67
vgl. TEUERKAUF, 2003, S. 38.
68
vgl. STALLBERG, 1990, S. 22.

21
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

müssen sich umorientieren, Sexpraktiken zulassen, die sie bisher nicht geduldet haben
und unter Umständen auch riskanten Sexualpraktiken zustimmen.69 Dadurch schwindet
das so kurzzeitig erworbene Selbstwertgefühl und es entstehen neue Probleme.

Die Lebenslage der Stricher wird auch bestimmt durch das HIV. Die neuesten Untersu-
chungen zeigen, dass die Zahlen von Neuinfektionen mit HIV in der Gruppe der Män-
ner, die Sex mit Männern haben (MSM) am meisten zugenommen haben, nämlich im
Jahre 2005 um ca. 13%.70 Das Robert- Koch- Institut schätzt im Jahre 2005 den Anteil
der homosexuellen Männer auf 58%. So sind vor allem Stricher, die regelmäßigen
sexuellen Kontakt zu anderen Männern haben, gefährdet, da viele Freier es als unmänn-
lich ansehen, von Kondomen Gebrauch zu machen. Drogenabhängige, die zu riskanten
Sexualpraktiken bereit sind, Spritzbestecke gemeinsam benutzen oder damit tätowieren
oder Piercen, sind ebenfalls einem höherem Risiko ausgesetzt.71 Geringes Selbstwertge-
fühl und mangelndes Selbstbewusstsein, niedriger Bildungstand und die Diskriminie-
rung, der die Stricher ausgesetzt sind, tragen dazu bei, dass sie sich in Risikosituationen
nicht ausreichend schützen.72

Die Diskriminierung von männlichen Prostituierten ist im Vergleich zur weiblichen


Prostitution sehr viel stärker, da sie zusätzlich mit Homosexualität in Verbindung ge-
bracht werden. Das heißt, sie werden nicht nur in der Gesellschaft wegen ihres prostitu-
iven und homosexuellen Verhaltens diskriminiert, sondern auch in der homosexuellen
73
Subkultur selbst. Stricher werden auch vor allem durch den Anstieg der Beschaf-
fungsprostitution immer mehr in die Kriminalität abgedrängt. So ist die Kriminalität oft
Folge des Selbsthasses der Stricher. Stricher werden oft als „Todesboten“ (AIDS-
Virusträger) dämonisiert.74 Zunächst galten nur Homosexuelle als Hauptrisikogruppe
für HIV- Verbreiter, doch bald wurden auch die Stricher als eine weitere Risikogruppe
ins Auge gefasst, weil sie ständig wechselnde Sexualpartner haben, ohne sich regelmä-
ßig medizinischen Untersuchungen zu unterziehen.75

69
vgl. VOLKWEIN/ WERNER, 2003, S. 113.
70
vgl. Untersuchungen des Robert- Koch- Institutes und der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklä-
rung.
71
vgl. BUNDESZENTRALE FÜR GESUNDHEITLICHE AUFKLÄRUNG, 2006, S. 10f.
72
vgl. DEUTSCHE AIDS- HILFE, 2004, S. 15.
73
vgl. SCHICKEDANZ, 1979, S. 198f.
74
vgl. WAGNER, 1990, S. 47.
75
vgl. WAGNER, 1990, S. 47.

22
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

3.2.4. Zusammenfassung

Im Allgemeinen kann man sagen, dass nur Stricher mit fehlendem Bewusstsein für ihre
Tätigkeit und ihre sexuelle Orientierung mit vielen Problemen konfrontiert sind und
einer umfassenden Hilfe bedürfen. Diese Probleme spiegeln sich wieder in den unter-
schiedlichen Motivationen, in der Prostitution tätig zu sein, wie zum Beispiel wirt-
schaftliche Verhältnisse, sexueller Missbrauch und Coming Out und Drogenabhängig-
keit. Ihr Umfeld ist geprägt durch Gewalt, HIV/ STI, Obdachlosigkeit und Diskriminie-
rung. Regeln und Strukturen in der Stricherszene müssen erlernt und akzeptiert werden.

3.3. Freier

Die eine Seite der Prostitution sind die Stricher mit professionellem oder unprofessio-
nellem Bewusstsein, die anderen sind diejenigen, die für sexuelle Dienstleistungen
bezahlen, die so genannten Kunden oder Freier. „Freier sind Männer aller Altersklas-
sen, die, ungeachtet ihrer eigenen sexuellen Orientierung oder Lebensweise, gelegent-
lich oder regelmäßig Entlohnung für sexuelle Kontakte und/oder Gesellschaft von
Strichern und Callboys bieten.“76 Es wird davon ausgegangen, dass die Mehrzahl der
Freier aus der Mittelschicht stammt, jedoch findet man auch Ärzte, Pfarrer und Juristen,
die als Freier tätig werden77. Das Basis Projekt in Hamburg geht davon aus, dass sich
20- 30% der Männer, die im geschlechtsfähigen Alter sind, sexuelle Handlungen kau-
fen.78 Das Prostituiertenprojekt Hydra allerdings ist der Meinung, dass ca. 75% der
Männer als Freier gelegentlich oder regelmäßig in der männlichen oder weiblichen
Prostitution aktiv sind.79 Es gibt Freier, die kaufen sich ausschließlich professionelle
Stricher80, jedoch den größten Teil stellen diejenigen dar, die gelegentlich das Angebot
der männlichen Prostitution auf dem Straßen- oder Kneipenstrich wahrnehmen. Man
bezeichnet diese Freier auch als „Springer“, da sie kaum für aufeinander folgende
sexuelle Interaktionen zum gleichen Stricher gehen, um ihre Anonymität zu wahren.81
Die Kontakte sind oft nur von kurzer Dauer, z. B. der gemeinsame Besuch in einem
Sexkino. Im Gegensatz zu den „Springern“ stehen die „Stammkunden“, die bei den

76
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 96.
77
vgl. SCHICKEDANZ, 1979, S. 90.
78
vgl. http://www.freiersein.de/information/prostitution.php, Stand : 26.08.2006.
79
vgl. BILITEWSKI/ CZAIKA/ FISCHER u. a., 1991, S. 20.
80
vgl. auch Punkt 3.1. dieser Arbeit.
81
vgl. SCHICKEDANZ; 1979, S.89ff.

23
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

Strichern die Hingabe und die Vertrautheit suchen und sich aus diesem Grunde meist an
die gleichen Stricher wenden. Für diese Kunden ist Sex zweitrangig, viel mehr suchen
sie hier enge Beziehungen und intensiven Kontakt zu den Strichern. Diese Kontakte
können über mehrere Jahre andauern und sogar in feste Beziehungen übergehen. Jedoch
werden viele Stricher durch die überwältigenden Wünsche der Freier nach einer Part-
nerschaft, nach einem Geliebten und Kind in einem buchstäblich erdrückt und entflie-
hen aus der Obhut des Freiers. Der Freier steht unter starkem psychischen und sozialen
Druck. Das Verlassenwerden durch den Stricher kann bei den Freiern zu schweren
Depressionen bis hin zu Suiziden führen. Oft werden die aufgestauten Frustrationen
beim nächsten Stricher ausgelassen.82

3.3.1. Verschiedene Freiertypen

Auch die Gruppe der Freier ist eine nicht homogene Gruppe, die in zwei Gruppen
eingeteilt wird, wobei die Orte, an denen die Prostitution stattfindet, keine Rolle spielt.
Die eine Gruppe der Freier sieht die Prostitution ganz klar als Geschäft, die andere
Gruppe sucht in der Prostitution nach Zuwendung, engen Kontakten und Beziehungen.
In der erstgenannten Gruppe spielt es eine große Rolle, schnellen unkomplizierten Sex
zu haben, ohne dabei die Schwulenszene durchlaufen zu müssen. Der Sex wird hierbei
als Geschäft angesehen.83 So wollen Freier ihre homosexuellen Anteile ausleben, die sie
in ihrem parallel als heterosexuelle Männer geltenden Leben nicht leben können. Oft
schützen sich homo- und bisexuelle Männer durch eine Ehe, da sie sich durch den
immer noch hohen gesellschaftlichen Druck nicht frei in der Schwulenszene bewegen
können. Die versteckte männliche Prostitution bietet für diese Männer guten Schutz.
Auch Männer mit pädosexuellen Neigungen suchen hier Schutz.84 Die Flucht aus fami-
liären Bindungen bzw. Männer, die keine engen Beziehungen eingehen wollen oder
können, leben in der Stricherszene ihr Sexualleben aus, ohne dabei sich vor der Familie
oder der Gesellschaft rechtfertigen zu müssen. Auch der Reiz an perversen Sexprakti-
ken, die in anderen Beziehungen nicht ausgelebt werden können, wie sadistisch- maso-
chistische oder fetischistische Praktiken, motivieren Freier, zu Strichern zu gehen. Für
viele homosexuelle Männer ist Sex mit einem Strichjungen eine Abwechslung im

82
vgl. MÖBIUS, 1990, S.36f.
83
vgl. FINK/ KARIN, 2005, S. 103.
84
vgl. FINK, WERNER, 2005, S. 99

24
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

Alltagssex mit ihren Lebensgefährten. Es finden sich auch viele homosexuelle Männer
in der Stricherszene, die vorübergehend ohne Partner sind.

Die andere Hauptgruppe stellen Freier dar, die auf der Suche nach Liebe, Zärtlichkeit,
Geborgenheit, Wärme und Entspannung sind. Sie haben die Illusion, den finanziellen
Kontakt zu dem Stricher sobald wie möglich zu beenden und durch eine feste emotiona-
le Bindung zu ersetzen. Häufig entsteht beim Freier das Bedürfnis, den Strichern zu
helfen. „Sie belügen sich selber dadurch, dass sie so viel helfen wollen und so viel
unternehmen müssen, um die Stricher unterzubringen, weil diese so arm sind. Sie
bringen sie auch unter bei sich, Sex dazwischen ist ein reiner Zufall. Das sind Men-
schen, die nicht sehen, wie sie sich selbst belügen.“85 Diese Freier machen den Zufall
dafür verantwortlich, dass sie Sex mit den Jungs haben. Es steht im Vordergrund, den
Jungs zu helfen, ihnen den Vater ersetzten zu wollen oder den wohlmeinenden Erzieher.
Die Hilfestellungen der Freier werden den Jungs nicht gerecht, da die Altersunterschie-
de erschwerend hinzukommen und die Hilfen nicht auf den Stricher zugeschnitten sind.
Da es trotz allem zu sexuellen Handlungen kommt, werden die Jungs weiterhin ausge-
beutet. Hingegen gibt es auch Freier, deren Hilfe konstruktiv ist, zum Beispiel kosten-
freier juristischer Beistand.86

3.3.2. Identität der Freier

Es gibt wenige Männer, die wie Stricher keine Identität zu ihrem Freierdasein entwi-
ckelt haben. Auch in Bezug auf sexuelle Identität der Freier bestehen Unklarheiten.87
Die meisten Männer jedoch trennen strikt zwischen dem Freierleben und dem restlichen
Alltagsleben. Natürlich entstehen Konflikte bei der Trennung der verschiedenen Wel-
ten, wie zum Beispiel zwischen Sex und Liebe, Strich und Alltag oder Homo- und
Heterosexualität. Andere Freier sind unfähig, ihr privates Leben und das in der Stricher-
szene zu trennen. Durch Ihre Suche nach Liebe und Geborgenheit sind sie verletzlich
und werden leicht Opfer.88 Sie werden häufiger von den Strichern ausgeraubt, erpresst
oder Opfer von Gewalt. Hinzu kommt, dass sie sich mit ständigen Enttäuschungen über

85
Zitat aus dem Interview I, Zeile 262.
86
Information aus persönlichen Gesprächen.
87
vgl. SCHROTT- BEN- REDJEB, 1990, S. 18f.
88
vgl. Deutsche Aidshilfe AKSD, Leitlinien für die soziale Arbeit mit Strichern 2002, Kapitel 1.

25
Die verschiedenen Seiten der Prostitution

nicht zustande kommende emotionale Beziehungen auseinandersetzen müssen.89. Bei


dieser Gruppe fehlt eine Freieridentität und durch die längere sexuelle und emotionale
Beziehung die Bereitschaft zu Safer Sex. Die Freier, die eine gefestigte Identität haben
und Prostitution rein als Geschäft ansehen, assoziieren Kondomgebrauch automatisch
damit. Thomas Möbius schätzt, dass 60% der Freier nach außen heterosexuell leben,
verheiratet sind, Kinder haben und hin und wieder zu Strichern gehen.90 So leugnen
viele Freier ihre Intentionen und geben an, wie Schickedanz in seinen Untersuchungen
herausfand,91 verheiratet zu sein und Kinder zu haben. Der Strich ist somit der einzige
Bezugspunkt für deren Homosexualität. Es gibt wenige Kontakte unter den Freiern,
obwohl sich diese flüchtig aus den Stricherkneipen kennen, jedoch wird auch hier das
Freierdasein tabuisiert.

3.3.3. Zusammenfassung

Der Freier oder Kunde kann nicht klar definiert werden. Wie auch bei den Strichern
unterscheiden sich diese in Bezug auf ihre sexuelle Identität und auf das Freiersein. Der
Strich dient einigen nur dazu, ihre Homosexualität auszuleben und Sex zu haben, andere
wiederum suchen nach emotionalen Beziehungen, Liebe und Geborgenheit.

89
vgl. FINK/WERNER, 2005, S. 105.
90
vgl. MÖBIUS, 1990, S. 28.
91
vgl. SCHICKEDANZ, 1979, S.89.

26
Orte der Prostitution

4. Orte der Prostitution

4.1. Die reale Stricherszene

Die reale Stricherszene ist die Szene, wo sowohl Stricher als auch Freier persönlich
anwesend sind. Die Kontaktaufnahme findet im Wesentlichen in öffentlichen Bereichen
sehr verdeckt und verschleiert statt. Stricher senden nur eindeutige Signale an potentiel-
le Kunden oder überlassen die Annäherungsversuche gänzlich den Freiern. Es wird
dabei streng darauf geachtet, dass beide, Stricher und Freier, von der Öffentlichkeit
nicht als homosexuell identifiziert werden können auf Grund der Stigmatisierung des
prostituiven und homosexuellen Verhaltens durch die Gesellschaft. Die Kontaktauf-
nahme erfolgt in mehreren Phasen: einer Phase des Anmachens, in der beide Parteien
sich fixieren, imponieren und durch Körpersprache verständigen. Nach diesem Prozess
kommt es dann meist seitens des Kunden zur persönlichen Kontaktaufnahme mit Hilfe
von alltäglichen Fragen. Nun werden die geschäftlichen Fragen besprochen, wobei es
hier um das „wo“, „wie“ und „wie viel“ geht. Im Gegensatz zu den öffentlichen Räu-
men verläuft die Kontaktaufnahme in halböffentlichen Räumen anders ab. In Stricher-
kneipen zum Beispiel muss nicht so streng auf Anonymität und Diskretion geachtet
werden, da es leichter ist, Freier und Stricher als Personen zu identifizieren. Oft reicht
hier ein kurzes Augenzwinkern oder Zuwinken und die Mithilfe des Barkeepers um die
Kontaktaufnahme in Gang zu setzten.92

4.1.1. Prostitution in öffentlichen Räumen

Am häufigsten spielt sich männliche Prostitution auf den Straßen um den Bahnhof oder
am Bahnhof selbst ab. In einigen Städten dienen diese Bereiche auch als „cruising-
areas“93 von Homosexuellen. Die Prostitution in öffentlichen Gebieten ist gekennzeich-
net durch ihre schlechte Organisation und durch sehr hohe Anonymität, die durch das
doppelte Tabu Prostitution und Homosexualität bestimmt wird. Prostitution ist für
Unwissende unsichtbar, da sich sowohl Stricher und deren Kunden äußerst diskret

92
vgl. SCHICKEDANZ, 1979, S. 168ff.
93
engl./ amerik.: sich an „homosexuellen“ Treffpunkten auf die Suche nach einem Sexualpartner machen,
vor allem an öffentlichen Plätzen.

27
Orte der Prostitution

verhalten.94 Auf dem Bahnhofsgelände halten sich die unterschiedlichsten Menschen


auf und das ist für viele Jungs der Anfang ihres Stricherdaseins.95 Den meisten jungen
Männern, die sich hier prostituieren, fehlt der professionelle Umgang mit Prostitution.96
Gleichzeitig sind aber Bahnhöfe auch Orte der Gewalt. Die Städte versuchen die Bahn-
höfe frei von Prostitution zu halten. Dadurch kommt es immer wieder zu Hausverboten,
die die Stricher nicht einhalten, was zur Folge hat, dass sie kriminell werden.

Auf öffentlichen Toiletten, auch Klappen genannt, sowohl an Bahnhöfen, als auch in
anderen Gebieten, sind Homosexuelle auf der Suche nach schnellem Sex. Einige Stri-
cher, vor allem aber sehr junge und drogenabhängige Stricher halten sich hier auf, um
anzuschaffen. Klappen sind Orte, an denen es rein um Sex geht. Es wird nicht geredet,
Gespräche werden eher als Störung empfunden. Verständigung läuft auf nonverbaler
Ebene ab.97

Parkanlagen und Raststätten sind vor allem bekannt als cruising - areas für Homosexu-
elle. Es gibt Parkanlagen, die zu bestimmten Zeiten dafür bekannt sind, dass dort Prosti-
tution stattfindet. Oftmals können hier Stricher, die schon älter als 30 Jahre sind und auf
dem Prostitutionsmarkt nicht mehr viele Chancen haben, noch Geld verdienen. Auch
hier läuft Prostitution sehr diskret und anonym ab und Stricher und Freier offenbaren
sich nicht. Auch auf den Raststätten findet Prostitution statt. Probleme entstehen durch
die hohe Anonymität und Fluktuation, da sich das Aufdecken von gewaltbereiten Frei-
ern als viel schwieriger erweist als zum Beispiel an Bahnhöfen.98

4.1.2. Prostitution in halböffentlichen Räumen

Als halböffentlicher Raum, werden Räumlichkeiten verstanden, die von einem jeweili-
gen Besitzer oder Pächter zu einem für die Öffentlichkeit zugänglichem Raum genutzt
werden. Der jeweilige Besitzer oder Pächter kann letztendlich entscheiden, wer diesen
Raum nutzen kann und vor allem sind diese Räume nur beschränkt zugänglich für die

94
vgl. Deutsche Aidshilfe, AKSD- Leitlinien, 2002, S155.
95
vgl. PFENNING, 1996, S.9f;
96
vgl. NICK, 2000, S. 49f.
97
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 146.
98
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 144f.

28
Orte der Prostitution

Polizei.99 Hierzu gehören vor allem Clubs, Bars, Diskos und Kneipen, aber auch Bordel-
le.

In Stricherkneipen, meist größerer Städte sind hauptsächlich Stricher und Freier anzu-
treffen. Der Wirt fungiert als Hausherr und entscheidet über das Ausmaß der Prostituti-
on. Viele Kneipen besitzen einen Raum, in dem Sex stattfinden kann oder sind ange-
koppelt an Stundenhotels, in die sich Stricher und Kunde zurückziehen können.100 Auch
hier findet Gewalt statt. Es treffen oft Stricher, die eine heterosexuelle Identität haben,
und aus der untersten sozialen Schicht kommen, auf Freier, die aus denselben Schichten
stammen. Konflikte werden dementsprechend gelöst.101 Die im Vergleich zum Bahn-
hofs- und Straßestrich bessere bestehende Organisation bietet für die Stricher einen
Vorteil. So ist das Personal oft Ansprechpartner sowohl für Stricher als auch für Freier,
weil es einen guten Überblick über die Kneipengäste hat. Hier werden hauptsächlich
Partydrogen wie Kokain, LSD oder Amphetamine konsumiert.102

In Boy - Clubs oder Bordellen arbeiten bis zu 15 Jungs. Bemerkenswert ist die hohe
Anzahl von Migranten aus überwiegend südamerikanischen, asiatischen oder afrikani-
schen Ländern. In vielen Schwulenzeitschriften, im Internet oder in Schwulen- Reisfüh-
rern wird hier für solche Einrichtungen geworben. In diesen Clubs oder Bordellen gibt
es einen so genannten „boys - room“, in dem die Jungs auf ihre Kunden warten und in
dem sie die Möglichkeit haben zu essen und zu duschen. Die Jungs, die in Clubs an-
schaffen, haben eine gesicherte Existenz und es finden sich hier selten Jungs, die von
Verwahrlosung oder Verelendung betroffen sind. Oftmals gibt es auch einseitig durch-
sichtiges Schaufenster, wodurch die Freier sich ihre Sexualpartner aussuchen können.
Die Stricher, die hier arbeiten, haben meist eine ausgeprägte homosexuelle Identität,
sprechen eine oder mehrere Fremdsprachen, sind gebildet und haben Arbeits- und
Mietverträge. Solche Clubs bieten darüber hinaus ein umfangreiches Angebot zur HIV,
Aids und STI- Prävention durch ausreichendes Bereitstellen von Kondomen und Gleit-
mittel. Die Sicherheit der Stricher ist gewährleistet durch feste Arbeitszeiten, klare
Trennung zwischen Arbeit und Privatem und das Einlassverbot von alkoholisierten und
erkennbar gewaltbereiten Kunden.103 Es wird streng darauf geachtet, dass keiner der

99
vgl. AUSOBSKY, 1997, S. 168f.
100
vgl. SCHICKEDANZ, 1979, S. 171.
101
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 134.
102
vgl. Deutsche Aidshilfe, ASKD- Leitlinien, 2002, S.155.
103
vgl. GAFFNEY, 2002, S. 34.

29
Orte der Prostitution

Stricher HIV-positiv ist. Die Verträge sind so formuliert, dass die Stricher eine be-
stimmte Anzahl von Freiern pro Tag haben müssen und für genügend Getränkeumsatz
zu sorgen haben. Dadurch stehen die Stricher unter Druck und ein kollegiales Verhältnis
unter diesen Strichern wird weitgehend verhindert.104

4.1.3. Prostitution in privaten Räumen

Vor allem selbstständige, professionelle Stricher oder Callboys mit einer homosexuellen
Identität haben sich darauf spezialisiert Apartments anzumieten, um dort Prostitution
ausüben zu können. Das Anschaffen in privaten Räumen hat für die Stricher mehrere
Vorteile. Sie sind unabhängig und müssen keine Verträge eingehen, die sie zu bestimm-
ten Umsätzen oder Freierzahlen verpflichten und können ihre Arbeitszeiten selbst
einteilen. Außerdem sind sie jederzeit über Handy, Anrufbeantworter und Internet zu
erreichen. Die Gefahr an gewaltbereite Freier zu gelangen ist weniger groß, da sich
diese auf unbekanntem Gebiet bewegen. Außerdem bietet die Prostitution in eigenen
Räumen Schutz vor Diskriminierung oder Erpressung durch andere Stricher. Anderer-
seits besteht für die Callboys die Gefahr von Vereinsamung, da sie nicht mehr aus dem
Haus gehen, aus Angst davor, dass genau in diesem Moment ihr Traumfreier anrufen
könnte. Oft werden Appartements angemietet, um inoffizielle Boys - Club zu eröffnen.
Hier arbeiten sehr häufig Migranten ohne Arbeitserlaubnis, gesichert durch die Anony-
mität. Diese wiederum verlassen kaum die Appartements aus Angst vor Sanktionen und
polizeilichen Kontrollen. Ihre einzigen sozialen Kontakte beschränken sich auf Kolle-
gen und Freier. Es gibt unter diesen Appartementbesitzern so genannten „Handel“, d. h.
die Jungs werden von einem Besitzer zum nächsten weitergereicht.

4.2. Die virtuelle Stricherszene

Zur virtuellen Stricherszene, die sich hauptsächlich über das Medium Internet abspielt,
gehören sowohl sämtliche Foren, in denen man nach Escorts105 suchen kann, die Szene,
die sich rein über Handys verständigt und als sichtbare Szene nicht mehr vorhanden ist

104
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 139.
105
Escort werden bezahlte männliche oder weibliche Begleitpersonen genannt. Im Vergleich zu weibli-
chen Escorts geht es bei männlichen Escort mehr um sexuelle Dienstleistungen.

30
Orte der Prostitution

als auch Live-Web-Pornos und Kinderpornographie dazu gezählt. Durch stärkere Poli-
zeikontrollen verlagert sich die Prostitution immer mehr ins Internet.

Escorts findet man hauptsächlich im Internet auf Seiten, die homo-, bisexuellen und
transsexuellen Männern die Möglichkeit zur Kommunikation in Chats bietet. Jeder
„Escort“, hat hier die Möglichkeit, sich durch ein selbst gestaltetes Profil mit Photo
darzustellen und für sich zu werben. Es werden Angaben gemacht über Größe, Haarfar-
be, Vorlieben oder Tabus und klare Ansagen über Sexpraktiken und Safer Sex. Diese
Angebote beziehen sich auch auf Massagen oder Begleitung zu abendlichen Gesell-
schaften, versehen mit klaren Angaben über Preise. Da viele Escorts von Stadt zu Stadt
reisen, oftmals auch im gesamten mitteleuropäischen Raum, zeigen sie an, zu welchen
Terminen sie in bestimmten Städten sind. Kontakt wird dann entweder über das Internet
durch eine E-Mail aufgenommen oder sie werden auf den angegebenen Handynummern
kontaktiert.106

Das Internet bietet natürlich auch eine hohe Anonymität, vor allem für Freier mit einer
fehlenden Freieridentität und für solche, die viel zu verlieren haben. „Es gibt Freier, die
heterosexuell leben mit Frau und Kindern. Je versteckter ein Freier ist, desto eher wird
er das Internet nutzen als Anbahnungsmöglichkeit.“107

Mit dem zunehmenden Einsatz von Handys hat sich vor allem auch die Szene in der
Kinder- und Jugendprostitution geändert. Häufig schenken Freier beim Erstkontakt zu
neuen Jungs diesen ein Handy, damit sie für sie immer erreichbar sind. Eine Szene ist
somit überflüssig, Kneipen oder einschlägige Bars können von beiden Seiten vermieden
werden und eine größere Anonymität kann gewährleistet werden.108

4.3. Zusammenfassung

Die Szene spielt sich zu gleichen Teilen in realen Räumen, wie öffentlichen und halböf-
fentlichen Räumen ab. Die Anonymität wird gesucht und demnach werden die öffentli-
chen Räume frequentiert, die diese gewährleisten, wie zum Beispiel der Bahnhof. Je
privater die Örtlichkeiten, desto bessere wirtschaftliche Konditionen werden für die

106
vgl. www.gayromeo.com, Stand: 02.09.2006 sowie GAFFNEY, 2002, S. 29.
107
Interview II, Zeile 225- 228.
108
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 260f.

31
Orte der Prostitution

Stricher geschaffen. Durch die neuen Medien wie Internet und Handy ist ein virtueller
Ort entstanden, der diese Anonymität ebenso sichert.

32
Prostitution und Geld

5. Prostitution und Geld

Ähnliche Strukturen wie in der weiblichen Prostitution, wo Menschenhandel, Zwangs-


prostitution und Zuhälterei gängige Phänomene sind, sind bisher in der männlichen
Prostitution noch nicht so sehr bekannt. Trotzdem gibt immer häufiger Fälle, bei denen
vor allem sehr junge Migranten unter Druck zur Prostitution gezwungen werden. Weder
Polizei noch Streetworker haben Einblick in diese Szene, um diesen Menschenhandel
entgegen zu wirken.109 Die Nachfrage seitens der pädophilen Freier nach Jungs, die auf
Grund ihrer Minderjährigkeit keinen Zugang zu Clubs und Kneipen haben, ist sehr stark
gestiegen und deswegen werden diese direkt an Freier vermittelt.110 Die Geschäfte
machen hier die Vermittler. Vereinzelt treten die Phänomene auf, dass ausländische
Stricher sich als Zuhälter in der weiblichen Prostitution versuchen. So werden einige
Frauen aus unterschiedlichen Herkunftsländern nach Deutschland gebracht, und werden
hier ebenso zur Prostitution gezwungen.111
In den Bordellen, in denen professionelle Stricher arbeiten, haben diese einen Vertrag
mit den jeweiligen Geschäftsführern, worin geregelt ist, wie viel Miete zu zahlen ist und
wie hoch der Stricherlohn ist. Oft müssen sie 30- 50% ihres vereinbarten Grundstricher-
lohns an den Bordellbetreiber weitergeben.112
Sozialarbeiter machen immer wieder die Erfahrung, dass Freier ihre Jungs vor allem in
wirtschaftlich benachteiligten Ländern wie Rumänien oder Bulgarien aussuchen, diesen
die Fahrtkosten nach Deutschland bezahlen, um sie dann hier für sich in Anspruch zu
nehmen. Meistens sind diese Jungs minderjährig und wenn sie nicht mehr „gebraucht“
werden, landen sie auf der Straße oder werden bestenfalls in Stricherprojekten abgege-
ben.113

109
vgl. FINK/WERNER, 2005, S.126f.
110
vgl. Deutsche Aidshilfe, 2005, S. 11.
111
Information aus den durchgeführten Interviews.
112
vgl. FINK/WERNER, 2005, S. 139.
113
Information aus persönlichen Gesprächen.

33
Prostitution und Recht

6. Prostitution und Recht

Zwei wichtige Gesetzte, nämlich das Prostitutionsgesetz (ProstG) und das Infektions-
schutzgesetz (IfsG) haben in den letzten Jahren dazu beigetragen, dass sich im Bereich
der Prostitution wesentliche Dinge geändert haben. Darin wurde vor allem der Diskri-
minierung und Kriminalisierung der Prostitution entgegengewirkt, da es immer noch
Umstände und Rahmenbedingungen gab, die die Prostitution als kriminelle Handlung
gelten ließen, obwohl bereits legalisiert war. Die Fachwelt war sich bewusst, dass durch
restriktive Bestimmungen die Prostitution nicht verhindert werden kann, sondern mehr
in den Bereich der Illegalität abgedrängt wird, wo keine staatliche Kontrolle gewährleis-
tet werden kann und keine Hilfsangebote möglich sind.114 Im Folgenden wird nun kurz
beschrieben, welche Bedeutung diese neuen Gesetze für junge Männer und Jungs haben
und welche Auswirkungen die neuen Gesetze für sie bringen.

6.1. Das Prostitutionsgesetz

Am 1. Januar 2002 ist das neue Prostitutionsgesetz in Kraft getreten, welches ein Gesetz
zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Prostituierten darstellt. Die Regelung besagt,
dass Prostituierte bei Erbringen sexueller Dienstleistungen einen Anspruch auf die
Gegenleistung erwerben. Prostituierte können auf der Grundlage dieses Gesetzes ihre
Tätigkeit auch im Rahmen sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung ausüben. Das
Weisungsrecht der Arbeitgeber/ Arbeitgeberinnen ist jedoch eingeschränkt. Prostituierte
können jederzeit bestimmte sexuelle Praktiken ablehnen oder gänzlich aus der Prostitu-
tion aussteigen.115 Mit diesem Gesetz wurde der Begriff der „Sittenwidrigkeit“ der
Prostitution verabschiedet, mit dem Ziel der sozialen Besserstellung von Prostituierten,
mehr rechtliche Sicherheit für Prostituierte und die Prostitution aus dem rechtlichen
Zwielicht zu befreien. Sowohl Gesetze im Strafgesetzbuch (StGB) und im Ordnungs-
widrigkeitsgesetz (OWiG) bieten besseren Schutz für Prostituierte hinsichtlich der
Ausbeutung Prostituierter oder Zuhälterei. Die Prostitution ist jedoch nach wie vor unter
18 Jahren (§ 180 (2), StGB) und die Unterbringung von Personen unter 18 Jahren zur
Ausübung von Prostitution (§ 180a StGB) verboten. Es bestehen bis heute Paragraphen,

114
vgl. AKSD- Leitlinien, 2003, S. 140.
115
vgl. http://www.bmfsfj.de/Kategorien/gesetze,did=72948.html, Stand 13.09.2006.

35
Prostitution und Recht

die zur Kontrolle und zur Eindämmung der Prostitution dienen, wie die Sperrgebiets-
verordnung und das Werbeverbot für Prostituierte.116

Folgendes ist klar im Prostitutionsgesetz geregelt:

• Beschäftigungs- oder Arbeitsverhältnis: Es wurde festgelegt, dass die Prostituti-


on als sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis gilt und demnach
die Rechte und Pflichten aus dem Sozialrecht. Weiter wurde festgelegt, dass
Prostituierte ihre Kunden und Kundinnen selber auswählen dürfen und auch die
Art der Dienstleistung selbst bestimmen dürfen. Für vertraglich gebunden
Prostituierte wurde festgelegt, dass diese jederzeit fristlos kündigen können und
bei „schlechter Leistung“ dürfen diese nicht belangt werden.

• Das Werbeverbot und Sperrgebietsverordnung: Ziel des Werbeverbots und der


Sperrgebietsverordnung (§ 120 OWiG) ist der Schutz der Jugendlichen. Die
Sperrgebietsverordnung verbietet in einem bestimmten Gebiet jegliche Art der
Prostitutionsausübung, die nicht in Form eines bordellähnlichen Betriebes statt-
findet, also auch die Wohnungsprostitution. Trotz der Aufhebung der Sittenwid-
rigkeit ist es bis heute nicht gestattet, für sexuelle Dienstleistungen zu werben.

• Migranten in der Prostitution: Das Prostituieren bei ungeregeltem Aufenthalt-


status ist illegal. Zuwiderhandlungen können zu einer Abschiebung und einem
Widereinreiseverbot führen. Ebenso macht sich strafbar, wer Prostituierte mit
ungeregeltem Aufenthaltsstatus einstellt.

6.2. Das Infektionsschutzgesetz

„Das IfSG (Infektionsschutzgesetz) regelt, welche Krankheiten bei Verdacht, Erkran-


kung oder Tod und welche labordiagnostischen Nachweise von Erregern meldepflichtig
sind. Weiterhin legt das Gesetz fest, welche Angaben von den Meldepflichtigen ge-
macht werden und welche dieser Angaben vom Gesundheitsamt weiter übermittelt
werden müssen. Das Gesetz legt die Meldewege fest. Muster der Meldebögen und
Informationen über Belehrungen sind abrufbar. Mit der Einführung des IfSG wurden in
Deutschland Falldefinitionen zur routinemäßigen Übermittlung der meldepflichtigen

116
vgl. Looks e.V., Projektbeschreibung, 2001, S. 3.

36
Prostitution und Recht

übertragbaren Krankheiten eingeführt.“117 Die Aufklärung der Allgemeinheit über


übertragbare Krankheiten und die Möglichkeit zu deren Verhütung sind öffentliche
Aufgaben. Entsprechend fordert das IfSG von dem öffentlichen Gesundheitsdienst,
Angebote zur Aufklärung aller möglichen übertragbaren Krankheiten zu stellen und
diese für die gesamte Bevölkerungsgruppe bereitzustellen.

Durch Aufsuchende und effektive Angebote sollen darüber hinaus auch schwer erreich-
bare Personengruppen erreicht werden (§ 19 (1), S. 2, IfSG).118

Dieses Gesetz trat am 1. Januar als „Gesetz zur Verhütung und Bekämpfung von Infek-
tionskrankheiten“ in Kraft. Es wurden hier die unterschiedlichen Bestimmungen, z.B.
des Bundesseuchengesetzes und des Geschlechtskrankheitengesetzes zu einem einheit-
lichen Regelwerk zusammengefasst. „Zweck dieses Gesetzes ist es, übertragbare
Krankheiten beim Menschen vorzubeugen, Infektionen frühzeitig zu erkennen und ihre
Weiterverbreitung zu verhindern“119 durch

Prävention (Beratung und Aufklärung, §§ 3, 19 IfSG)

Untersuchungen und Behandlungen

Kooperation mit anderen medizinischen Einrichtungen.

Dies bedeutet vor allem für Gesundheitsämter, Untersuchungen auf Tuberkulose und
sexuell übertragbare Krankheiten anzubieten. Diese Angebote, die oft auch durch medi-
zinische Einrichtungen sichergestellt werden, sollen speziell für die Personengruppen
zur Verfügung stehen, die einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, sich mit solchen
Krankheiten zu infizieren. Alle Angebote können anonym in Anspruch genommen
werden. Neu an diesem Gesetz ist die Prävention durch aufsuchende Arbeit, zu der die
Information und Aufklärung der Allgemeinheit über Infektionswege und die Möglich-
keit zur Verhütung zählen.

Meldepflicht: Das neue Infektionsschutzgesetz geht bei der Personengruppe von Prosti-
tuierten von 15 Erkrankungen aus, die namentlich meldepflichtig sind, sowohl die
Krankheit selbst, als auch der Verdacht der Krankheit. Diese Krankheiten müssen vom
behandelnden Arzt/ Ärztin dem zuständigen Gesundheitsamt gemeldet werden. Darun-
ter fallen u. a. „akute Virushepatiden (A-E)“, „die Erkrankung und der Tod einer be-

117
http://www.rki.de/nn_226458/DE/Content/Infekt/IfSG/ifsg__node.html__nnn=true, Stand 13.09.2006.
118
vgl. MENZE/ WILLEKE, 2002, S. 1 f.
119
FINK, 2003, S. 100.

37
Prostitution und Recht

handlungsbedürftigen Tuberkulose, auch wenn ein bakteriologischer Nachweis nicht


vorliegt“ sowie „von zwei oder mehr gleichartigen Erkrankungen, bei denen ein epide-
mischer Zusammenhang wahrscheinlich ist oder vermutet wird, wenn dies auf eine
schwerwiegende Gefahr für die Allgemeinheit hinweist und Krankheitserreger als
Ursache in Betracht kommen, die nicht in §7 (Meldepflichtige Nachweise von Krank-
heitserregern“) genannt sind.120 Zu den meldepflichtigen Personen gehören alle behan-
delnden Ärzte/ Ärztinnen, Heilpraktiker/ Heilpraktikerinnen, Angehörige anderer Heil-
und Pflegeberufe sowie Leiter/Leiterinnen von Pflegeeinrichtungen, Heimen, Lagern
etc.

Eine namentliche Meldung muss unverzüglich, innerhalb von 24 Stunden, nach erlang-
ter Kenntnis, bei den Gesundheitsämtern erfolgen. Das Gesundheitsamt darf die perso-
nenbezogenen Daten nur für seine eigenen Aufgaben und Nutzen verwenden.

Nichtnamentliche Meldungen erfolgen unter anderem bei Infektionen mit HIV oder
Syphilis in verschlüsselter Form mit spezifischen Kriterien. Sie muss innerhalb zwei
Wochen ergehen und liefert Daten über den Erfolg der Aufklärungsstrategien zum
Schutz vor sexuell übertragbaren Krankheiten und lässt verändertes Risikoverhalten
erkennen.121

Behandlung von sexuell übertragbaren Krankheiten: Es wird die Pflicht des Betroffe-
nen, sich behandeln zu lassen ersetzt durch die Pflicht der zuständigen Behörde, die
drohende Gefahr für den Einzelnen oder die Allgemeinheit abzuwenden. Dieser § 16
des Seuchenrechtsneuordnungsgesetztes bezieht sich also nicht mehr auf die einzelne
Person, sondern auf die festgestellten Tatsachen, wobei Vorraussetzungen, die zum
Auftreten einer solchen Krankheit führen können, berücksichtigt werden. Damit ist
nicht nur die Intervention bei bestehenden Krankheiten gemeint, sondern Prävention,
wodurch im Vorfeld Krankheiten reguliert bzw. verhindert werden sollen. Zusätzlich
wird in § 19 des Seuchenrechtsneuordnungsgesetztes festgelegt, dass Gesundheitsämter
oder andere medizinische Einrichtungen Untersuchungen und Beratungen anbieten.
Auch hier gelten diese Angebote den Personen, die einem erhöhtem Risiko ausgesetzt
sind, sprich den Prostituierten.122

120
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S.190.
121
vgl. FINK, 2003, S. 100ff.
122
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 191ff.

38
Prostitution und Recht

6.3. Zusammenfassung

Das neue Prostitutionsgesetz bietet die Möglichkeit, Prostitution als sozialversiche-


rungspflichtiges Verhältnis auszuüben und die Art der Dienstleistungen selbst zu
bestimmen. Dies bedeutet für die Prostituierten einen persönlichen und wirtschaftlichen
Schutz. Allerdings kann die Mehrzahl der Prostituierten diesen Schutz nicht in An-
spruch nehmen, da viele mit ungeregeltem Aufenthaltsstatus in Deutschland arbeiten
und viele sich einen Eintritt in die Selbstständigkeit nicht leisten können.

Es besteht aber nach wie vor ein Regelungsbedarf, da das ProstG mit strafrechtlichen
Bedingungen kollidiert und es letztendlich den Rechtsvertretern/ Rechtsvertreterinnen
und Richtern/ Richterinnen überlassen ist, wie sie sich dem Tatbestand gegenüber
verhalten. Ziel wäre es, die bestehenden Gesetze dahingehend zu ändern, dass es für die
Prostituierten klare Rechtsverhältnisse gibt.

Das Infektionsschutzgesetz sieht die Pflicht bei der zuständigen Behörde und setzt
vermehrt auf Prävention.

39
Die qualitative Datenerhebung

7. Die qualitative Datenerhebung

Als Messinstrument der qualitativen Datenerhebung wurde die Form der persönlichen
Befragung ausgewählt. Darunter wird ein „planmäßiges Vorgehen mit einer wissen-
schaftlichen Zielsetzung verstanden, bei der die befragte Person durch gezielte Fragen
oder mitgeteilter Stimuli zu verbalen Informationen veranlasst werden soll.“123

Die angekündigten Vereinbarungen über Vertraulichkeit der Angaben und eine vertrau-
liche Gesprächsführung sollen das Gefühl vermitteln, dass die Antwortreaktionen der
Befragten weder in der Interviewsituation noch später in irgendeiner Weise sanktioniert
werden.

Da der Zugang zu ausländischen Migranten, die in der männlichen Prostitution arbeiten,


sehr schwer ist und ebenso die Sprache der verschiedenen Migrantengruppen als aus-
schlaggebende Barriere besteht, wurde von Interviews mit Klienten abgesehen, dafür
aber Experten124 interviewt, die durch ihre jahrelange Erfahrung aus der Arbeit mit
Migranten in der Prostitution in unterschiedlichen Strichereinrichtungen und unter-
schiedlichen Städten, als relevant gelten.125

7.1. Die Fragestellung

Im oberen Teil dieser Arbeit wurden im Allgemeinen behandelt, was Stricher und
männliche Prostitution bestimmt, welche Motivationsgründe bestehen, welche Problem-
lagen und welche Aspekte in Bezug auf deren Gesundheit beachtet werden müssen. Die
Stricherszene in Deutschland besteht nicht nur aus deutschen Strichern, vielmehr domi-
nieren in dieser Szene Migranten aus unterschiedlichen Ländern, mit unterschiedlichen
kulturellen Hintergründen. So treffen die oben beschriebenen Probleme auch auf die
Gruppe der Migranten. Im Folgenden soll durch diese qualitative Datenerhebung he-
rausgefunden werden, welchen zusätzlichen Problemen in Bezug auf die Kultur der
Herkunftsländer, sexuelle Identität und Stricheridentität, Integration und Gesundheit,
speziell diese Gruppen ausgesetzt sind und welche Motive diese haben, sich in Deutsch-
land zu prostituieren.

123
vgl. SCHEUCH, 1973, S. 70f.
124
Es wird hier nur die männliche Form verwendet, da es sich bei den Interviews ausschließlich um
männliche Interviewpartner handelt.
125
vgl. LAMNEK, 2005, S. 332.

41
Die qualitative Datenerhebung

Anliegen dieser Untersuchung ist die dreifache Stigmatisierung von Migranten, die in
der männlichen Prostitution arbeiten, nämlich der Homosexualität, der männlichen
Prostitution und der Tatsache, aus dem Ausland zu stammen. Darüber hinaus wird
untersucht, wie Migranten aus bestimmten Ländern, in dieser Arbeit aus den Ländern
Bulgarien und Rumänien, sich in bestimmten Gebieten in Deutschland etablieren und
wie mit den einzelnen Migrantengruppen umzugehen ist. Es wird der Frage nachgegan-
gen, welche Aufgaben die soziale Arbeit mit diesem Klientel übernehmen kann und was
notwendig ist, um die Hilfestellungen für diese Klientel gut und spezifisch zu gestalten.

7.2. Die Methodik

Um eine klare Subjektbezogenheit, eine Offenheit bezüglich Fragen und Antworten zu


gewährleisten, wurde auf die Methode der qualitativen Befragung zurückgegriffen. Dies
bietet sich an, da man mittels dieser Methode stärker in die Tiefe gehen kann, die Inter-
viewpartner ausgiebig zu Wort kommen lassen und das gewonnene Material intensiver
auswerten kann. Die qualitative Befragung erweist sich auch als gute Methode bei der
Erkenntnisgewinnung in der Randgruppen- und Milieuforschung.126
Mit Hilfe dieser Methode sollen empirische Sachverhalte und soziale Prozesse einge-
fangen werden, Typologien aufgestellt und Informationen anhand des empirischen
Materials gewonnen werden.

7.2.1. Das Experteninterview

Experteninterviews zählen zu den häufig angewendeten qualitativen Befragungsmetho-


den zur Rekonstruktion komplexer Wissensbestände über einen zu untersuchenden
Gegenstand.127 Die in den Interviews gewonnenen Informationen basieren auf praxisbe-
zogenen Kenntnissen und Einschätzungen von Menschen, in diesem Fall von Sozialar-
beitern in der Stricherarbeit, die auf Grund ihrer beruflichen Funktion und sozialen
Eingebundenheit in die örtlichen Bedingungen und Entwicklungen auf diesem bestimm-
ten Gebiet als Experten gelten. Diese Erfahrungen helfen, den Zugang zu spezifischen

126
vgl. DIEKMANN, 1995, S. 444f.
127
vgl. MEUSER/NAGEL, 1997, S. 482f.

42
Die qualitative Datenerhebung

Erscheinungsformen und Problemen sowie Handlungsmöglichkeiten des untersuchten


Gegenstandes zu eröffnen und Zusammenhänge zu erschließen.
Die Interviews dauerten zwischen 1,5 und 2h und wurden halbstrukturiert mit einem stichpunkt-
artigen Leitfaden durchgeführt. Jedes Interview wurde von nur einem Interviewer durchgeführt
und auf Tonband aufgenommen. Auf einen zweiten Interviewer/ Interviewerin wurde verzichtet.
Die folgenden Interviews wurden um der Authentizität willen im weitesten Sinne so transkri-
biert, wie sie gehalten wurden. Nur in einigen Fällen wurde der Verständlichkeit halber Struktur
und Grammatik verändert.

Alle in Frage gekommenen Interviewpartner haben den Befragungen zugestimmt, die in


einer angenehmen Gesprächsatmosphäre und sehr positiv verlaufen sind.

7.2.2. Auswahl und Beschreibung der Interviewpartner

Vorgestellt werden im Folgenden die Interviews von drei Experten128, die alle im Be-
reich der sozialen Arbeit mit deutschen und ausländischen Strichern tätig sind. Die
Auswahl von nur männlichen Interviewpartnern war nicht beabsichtigt, jedoch war es
terminlich nicht möglich, die mitarbeitenden Frauen zu interviewen. Die bewusste
Auswahl der zu Befragenden in den Städten Berlin, Köln und München ist darauf
zurückzuführen, dass diese Städte einen jeweils sehr hohen Anteil an männlichen
Migranten in der Prostitution haben und in den jeweiligen Einrichtungen Experten auf
diesem Gebiet arbeiten. Alle drei Interviewpartner sind Sozialarbeiter, wobei einer eine
zusätzliche Ausbildung als Sprachwissenschaftler und Dolmetscher absolviert hat. Sie
arbeiten zwischen 2,5 Jahren und 12 Jahren in diesem Bereich.

7.2.3. Entwicklung des Interviewleitfadens

Die Interviews129 wurden, in Bezug auf ausländische Stricher, alle leitfadenzentriert


durchgeführt, wobei folgende Aspekte angesprochen wurden:

männliche Prostitution als Tabuisierung, gesellschaftlich, persönlich und seitens


der Stricher und Freier

128
hier wird auf die weibliche Form verzichtet, da alle Interviewpartner männlich waren.
129
Der detaillierte Interviewleitfaden befindet sich im Anhang.

43
Die qualitative Datenerhebung

Informationen über Stricher und Freier


Problemlagen von Strichern
Persönliche Erfahrungen in dieser Arbeit
Herausforderungen und Grenzen
Aufgabenbereiche für die soziale Arbeit

Dieser stichpunktartige Leitfaden wurde entwickelt, da er die Möglichkeit zu einem


offenen Gespräch zulässt und ermöglicht, das Gespräch so flexibel wie möglich zu
halten. Durch die Komplexität dieses Themas kommt es immer wieder zu Überschnei-
dungen der einzelnen Punkte. Es wurde bewusst auf geschlossene Fragen verzichtet, um
an so viele Informationen wie möglich zu gelangen.
Der Interviewleitfaden ist halbstrukturiert erstellt, um eine angenehme Gesprächsatmo-
sphäre zu schaffen, ein offenes Gespräch entstehen zu lassen und möglichst fundierte
und ausführliche Informationen zu bekommen.130

7.3. Die Stichprobe

Die Auswahl der Stichproben ist nicht zufällig erfolgt, sondern wurde bewusst ausge-
wählt. Aus finanziellen Gründen wurden drei große Städte ausgewählt. Berlin, als
Hauptstadt und größte Stadt Deutschlands mit einer großen Stricherszene, Köln, als
Stichprobe im Ruhrgebiet mit einer vergleichbaren Schwulen- und Stricherszene und
München als Stichprobe in Bayern.

Da in den jeweiligen Stricherszenen der oben genannten Städte eine unterschiedliche


ethnische Migrantengruppe dominiert, stellten sich Experten dieser Städte als interes-
sante Zielbefragte dar.

130
vgl. DIEKMANN, 1995, S.445.

44
Die qualitative Datenerhebung

Geschlecht Bestehen
Interview Alter des Beruf des Berufserfahrung Anzahl der Durchschnittsalter
des der
in der Befragten Befragten des Befragten Migranten der Klienten
Befragten Einrichtung
Einrichtung Sprachwissen-
I, 40 Jahre schaftler, 12 Jahre männlich seit 1992 85 % 19 Jahre
Berlin Sozialarbeiter
Einrichtung
zwischen 22 und
II, 28 Jahre Sozialarbeiter 2,5 Jahre männlich seit 1995 60 %
24 Jahren
Köln
Einrichtung
zwischen 18 und
III, 34 Jahre Sozialarbeiter 6 Jahre männlich seit 1994 70 %
21 Jahren
München

Abb. 1:Überblick über die Einrichtungen und Interviewpartner

45
Auswertung der Ergebnisse

8. Auswertung der Ergebnisse

8.1. Darstellung der verschiedenen Interviews

Im Folgenden werden die drei verschiedenen Interviews dargestellt. Um ein Verständnis


der Thematik und Einblicke in die soziale Arbeit mit Strichern zu ermöglichen, werden
direkte und längere Zitate aus den Interviews eingefügt. Die Interviews werden unter
folgenden Aspekten näher betrachtet:
• Die Einrichtung
• Die Klientel
• Tabuthema „männliche Prostitution“ und „Homosexualität“ in den Herkunfts-
ländern
• Problemlagen ausländischer junger Männer
• Motive und Identität männlicher Migranten
• Gesundheitliche Aspekte
• Herausforderungen für die Einrichtung
• Herausforderung an das fachliche Wissen der Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterin-
nen
Vorweg ist zu sagen, dass seit 2001 in Rumänien Homosexualität nicht mehr strafrecht-
lich verfolgt wird und Schwule in Großstädten mittlerweile relativ offen leben.131 Auch
in Bulgarien war Homosexualität unter Frauen und Männern streng verboten. Seit 2004
existiert hier das Antidiskriminierungsgesetz. Jedoch gilt Homosexualität nach wie vor
als etwas Krankhaftes, Abnormales und wird dementsprechend nicht akzeptiert. Homo-
sexualität, vor allem männliche Homosexualität wird noch immer diskriminiert und
unter den Rromas noch stärker verurteilt.

131
Vgl. http://www.fgje.de/szenarien/laender/ro.htm, Stand: 19.09.2006.
Die Auswertung

Exkurs132: Rroma133
Als Rroma bezeichnen sich alle Angehörigen einer weltweit verbreiteten ethnischen
Minderheit indischer Herkunft. Sie stammen aus dem nordöstlichen Indien. Rroma
werden weniger als ethnische Gruppe bezeichnet, viel mehr werden sie von der Gesell-
schaft als nicht sesshafte Menschen aufgefasst, die in ihren Augen einen hemmungslo-
sen und extravaganten Lebensstil führen und oft abfällig als Zigeuner bezeichnet wer-
den. Vorurteile und Stereotype werden ungeprüft übernommen, ohne dass ein Blick auf
die Geschichte und die Kultur der Rroma geworfen wird. Dadurch ist der Alltag dieser
Minderheit nach wie vor durch Ausgrenzung und Diskriminierung geprägt. Die Rroma
verließen unfreiwillig seit dem fünften Jahrhundert ihre Heimat in Nordindien und
zogen von dort über Persien, Kleinasien, in das byzantinische Reich und verweilten im
14. Jahrhundert in Griechenland. Bis Ende des 16. Jahrhunderts verbreiteten sie sich in
ganz Europa, wo sie dann vor allem in Frankreich, England, Deutschland, auf dem
Balkan und später auch in Spanien vehement vertrieben, versklavt oder diskriminiert
wurden. Dagegen genossen diejenigen Rroma, die sich im Balkangebiet aufhielten und
zum Islam übertraten, besondere Privilegien. So hat sich auch die türkische Sprache
unter den in Bulgarien lebenden Rromas verbreitet und muslimische Namen haben sich
speziell im ehemaligen Bosnien - Herzegowina durchgesetzt. Die Diskriminierung und
Vertreibung hält allerdings weiter an.
Im 20. Jahrhundert wurden schätzungsweise 500.000 Sinti134 und Rroma Opfer der
Massenvernichtung im dritten Reich. Die momentane Lage der Rroma in Südosteuropa
ist noch immer gekennzeichnet durch starke Diskriminierung, Verelendung, Ghettobil-
dung, schlechte medizinische Versorgung und geringe Schulbildung. Im Kosovo-
Konflikt 1999 kam es abermals zu massiven Übergriffen und Vertreibungen von Rro-
mas.135
Durch die Verteilung der Rroma über die ganze Erde ist keine einheitliche Kultur oder
Sozialorganisation entstanden, jedoch besteht unter den Rromas eine starke Gruppen-
und Familienzusammengehörigkeit, eine starke Traditionsverbundenheit und die Ver-

132
da ein großer Teil der Migranten Rromas sind, soll an dieser Stelle ein kurzer Überblick über den
geschichtlichen Hintergrund gegeben werden.
133
Die Schreibweise mit doppeltem „Rr“ ist von der EU als Versuch gestartet, alle Untergruppen von
Roma, Sinti, Jenische, Cale, Manouche usw. in einem Begriff zu vereinen und gleichzeitig werden
Verwechslungen mit „rumänisch“ oder „römisch“ ausgeschlossen.
134
Sind schon lange in Deutschland und anderen mitteleuropäischen Staaten lebende Rromas.
135
Vgl. Deutsche Aidshilfe- Protokoll, 2005, S. 6 sowie http://www.geocities.com/~Patrin/pariah-
ch1.htm, Stand: 19.09.2006.

48
Die Auswertung

meidung von Kontakten zur Außenwelt, die als unrein gelten. Die Rroma sprechen eine
gemeinsame Sprache, die Rromanes - Sprache, die aus einer Vielzahl von Dialekten und
Lehnwörtern besteht und je nach Nation variiert, da auch Dialekte der lokalen Sprache
angenommen wurden. Auch im Glauben haben sich die Rroma an die Religionen der
jeweiligen Länder angepasst. Es gibt unter Ihnen Katholiken, Orthodoxe und Muslime,
wobei hier eigene religiöse Zeremonien eine wichtige Rolle spielen und der Kontakt zu
den jeweiligen religiösen Institutionen kaum besteht. In den unterschiedlichen Ländern
haben sich einzelne Clans gebildet, die aus mehreren Familien der gleichen Abstam-
mung entstanden sind und deren Oberhäupter als König oder Königin bezeichnet wer-
den. Jeder dieser Clans bringt ein bestimmtes Jahrhunderte altes Handwerk mit sich, wie
zum Beispiel Pferdehandel, Schmiedekunst und Kupferarbeiten sowie Verarbeitung von
Holz und Leder.136
Die meisten Rroma - Gruppen leben heute noch in Rumänien, wo sie einen Bevölke-
rungsanteil von 12% (ca. 3 Millionen Menschen) ausmachen. In Bulgarien leben ca. 800
000 Rroma, was einen Bevölkerungsanteil von etwa 10% ausmacht.137

8.1.1. Interview in der Einrichtung I 138, SUB/WAY e.V. in Berlin

1. Die Einrichtung
Die Einrichtung in Berlin liegt sehr nah an dem Bereich, welcher für die homosexuelle
Szene bekannt ist. Diese Einrichtung ist ausschließlich für Jungs, die für Geld Sex
bieten. In der Einrichtung tagsüber Essen
angeboten und es stehen Räume zur Kör-
perhygiene bereit. Darüber hinaus erwei-
tern Räume zur Erholung und verschiedene
Freizeitaktivitäten das Angebot. Die Jungs
können hier konkrete Hilfsangebote in An-
spruch nehmen wie Jugend-WGs, Ausbil-
dungshilfen sowie Gesundheitsfürsorge
Abb. 2: Eingangsbereich von sub/way in Berlin und Gesundheitsvorsorge. Die Bereitstel-
lung von Kondomen und Gleitmitteln ist

136
vgl. http://www.geocities.com/~Patrin/pariah-contents.htm, Stand : 19.09.2006
137
vgl. DAH-Seminar: unveröffentlichtes Protokoll 05-07.12.2005
138
Die gesamten Interviews befinden sich im Anhang.

49
Die Auswertung

selbstverständlich. Es stehen Sozialarbeiter für Beratungsgespräche zur Verfügung, zum


Beispiel wenn Jungs Opfer von sexuellen Übergriffen wurden oder Unterstützung bei
momentanen Lebenskrisen brauchen. Es arbeiten hier fünf hauptamtliche Sozialarbeiter.
Insgesamt engagieren sich hier über 20 Mitwirkende, mit einberechnet auch Ehrenamt-
liche, Reinigungspersonal, Zivildienstleistende, Praktikanten und Ärzte. Diese Einrich-
tung erhält über die Senatsverwaltung für Bildung Jugend und Sport und den Landes-
verband der Berliner Aids-Selbsthilfegruppen (LaBAS) eine Grundförderung. Zusätz-
lich ist die Einrichtung auf Spenden angewiesen. Eine Möglichkeit ist die Pacht von
einem von den 200m² großen Einrichtung zum Preis von monatlich 12,50 Euro zu
übernehmen.139
Die Einrichtung fühlt sich ausschließlich für die soziale Arbeit mit Strichern
verantwortlich. Dies bedeutet, Freier haben zu dieser Anlaufstelle keinen Zugang und
nur die Belange der Stricher zählen.
„…ergreife hier auch nur für den Klienten Partei und nicht für die Freier. Ich bin kein Schiedsrichter und
bin für die Jungs da und das wissen sie vom ersten Moment an. (…) Es ist von Anfang an klar, dass ich
auf der Seite der Jungs bin auch wenn es Ihnen dreckig geht…“140

2. Das Klientel
Die Berliner Anlaufstelle tritt im Jahr mit 1000 Jungs in Kontakt, davon sind 85%
Migranten. Von diesen 85% Migranten sind 75% rumänische Rromas. Weiterhin wird
die Klientel wie folgt beschrieben:
„Das Durchschnittsalter der Migranten liegt etwa bei 18,5, kurz über der Volljährigkeit, eher 19 Jahre.
Das Mindestalter haben wir hier irgend-
wo bei 12 Jahren gehabt und nach oben
ist es offen. Es gibt Stricher mit 45
Jahren. Das sind Stricher und keine
Callboys und das sind Männer mit
Glatze, die anschaffen. Es ist nicht
vorrangig unsere Zielgruppe; wir kennen
diese, geben ihnen Kondome und sehen
zu wie sie alt und grau werden, aber es
sind nicht so viele. Es sind viele Migran-
ten, die z. B. auch schon frühere Erfah-

Abb. 3: Karte von Herkunftsstädten der Klienten in


Osteuropa
139
vgl. http://www.subway-berlin.org/index.php?id=25, Stand 19.09.2006.
140
Interview I, Z. 563- 568.

50
Die Auswertung

rungen in diesem Bereich haben, die immer wieder, wenn es ihnen dreckig geht, hier ein bisschen Geld
verdienen wollen bzw. eine Szene finden wollen, wo sie sich wohl fühlen, wo sie ein bisschen trinken und
wenn es sich ergibt, dann auch verdienen. Zwischen 12 und 45 kennen wir sehr viele, aber die Extreme
sind sehr selten. Es passiert sehr oft, dass die älteren deutschen Stricher auch selber Freier sind, aber bei
den Migranten passiert das eher selten.(…) Kontinuierlich seit 1994 sind Rumänen auf dem ersten Platz,
fast gleich viele Bulgaren, es sind immer Wellen von Leuten. Anfänglich gab es sehr viele Polen, gerade
aus dem Pendelbereich, das heißt Polen, die übers Wochenende hierher gekommen sind. Diese waren
Schüler und Studenten, Schwule Jungs die sich einfach austoben wollten, auch drogenabhängige Polen.
Die Zahl der Polen ist allerdings zurückgegangen. Auch die Zahl der Tschechen ist zurückgegangen.
Nach Rumänien kommen all die Länder aus dem ehemaligen Jugoslawien. Wir arbeiten differenziert, d.
h. wir machen einen größeren Unterschied zwischen dem Kroaten, der hier als Transvestit anschafft und
dem kleinen bosnischen Flüchtlingskind, das hier in der Szene auch anschafft. Danach kommen in der
Reihenfolge die Polen, Litauer und Tschechen, unterschiedlich nach Saison. Es ist eine große Erleichte-
rung für Leute aus diesen Ländern, dass sie nun die Reisefreiheit haben. Seit 2002 können die Bulgaren
und Rumänen frei nach Europa 90 Tage im Jahr reisen und sich praktisch unbegrenzt hier aufhalten. Das
macht schon, dass die Fluktuation einerseits konstant ist, fast ein Schichtwechsel, sie kommen in Zyklen,
in jeweils etwa 90 Tage zu unterschiedlichen Zeiten. Davor waren diese hier als Asylbewerber und waren
keine Pendler. Das ist ein neues Phänomen, das mit dieser Reisefreiheit verbunden ist und damit verbinde
ich auch die osteuropäischen, baltischen Länder. Es gibt sehr viele, die gerade deswegen kommen“141

3. Tabuthema männliche Prostitution und Homosexualität in den Herkunftsländern


Natürlich wird Prostitution wie überall auf der Welt als etwas Schlechtes, Unreines angesehen.
Jedoch kristallisiert sich hier noch ein anderer Aspekt heraus, der für die Migranten von wichti-
gerer Bedeutung ist:
„wir bedenken eine andere Sache, nämlich aus welchen Schichten diese Leute dort kommen. Wenn diese
sich anstrengen, werden sie Straßenfeger, was in Rumänien eine Schande ist. Aber wenn man in Rumä-
nien Straßenfeger ist, bekommt man von der Stadt einen Schandzuschlag. Das heißt man bekommt dann
500 Lei142 als Zuschlag. Das ist ein Beruf, wo man sich schämen muss. (…) Wenn sie hierher kommen
und sich hier als Sexarbeiter sehen, dann haben sie einen Sprung nach oben gemacht. Deswegen ist ihre
Selbstwahrnehmung durchaus positiv. Sie machen was, sie haben Freier, die wer weiß, berühmte Fußball-
trainer oder Schauspieler oder durchaus reiche Männer sind. Das macht sie etwas stolz und so ist das
auch ein Sprung nach vorne. Finanziell gesehen und auch sozial, denn man darf nicht vergessen, was aus
ihnen geworden wäre, wenn sie zu Hause geblieben wären.“143

141
Interview I, Z. 28- 64.
142
entspricht ca. 10 Eurocent.
143
Interview I, Z. 75-89.

51
Die Auswertung

So wird Prostitution in diesen Ländern durchaus geduldet, wenn dies eine allgemeine
finanzielle Erleichterung für die Familie zur Folge hat. Es wird nicht darüber geredet,
aber viele der Angehörigen wissen über das Tun ihrer Söhne und Verwandten Bescheid.
„Die Leute haben grundsätzlich die Einstellung in Bezug auf Homosexualität, dass das etwas ganz Böses,
Krankhaftes ist, was die Gesellschaft zersetzt und gegen den Willen der Natur und Gottes ist. (…) Sie
stellen sich vor dass ihre Kinder diejenigen sind, die den aktiven Teil übernehmen. Man sieht die Sexuali-
tät als zwei Sorten von Menschen, Männer und Frauen, Kerle und Weiber, dass heißt die, die den
Schwanz reinstecken. Die sind immer erst gut angesehen, da sie die Aktiven sind. In was sie ihren
Schwanz reinstecken, das ist weniger wichtig. D.h. es wird durchaus toleriert, wenn jemand den aktiven
Part spielt.“144

4. Problemlagen der ausländischen jungen Männer


Das gravierende Problem ist die Obdachlosigkeit vieler junger Migranten. Es besteht
zwar die Möglichkeit, sich bei Freiern einzumieten, innerhalb der „Rroma- communi-
ty“145 unterzukommen oder bei anderen Strichern. Jedoch ist immer noch eine beträcht-
liche Zahl, vor allem von sehr unselbständigen und sehr jungen Migranten obdachlos.
„…es gibt viele die es nicht hinkriegen, wo zu schlafen, besonders im Winter ist das dramatisch. Im
Sommer schlafen viele draußen, aber im Winter versuchen wir sehr viel zu vermitteln. Das ist eine
unserer größten Sorgen.“146
Als weiteres Problem wird die Entwurzelung der Migranten dargestellt, die fernab von
ihren Heimatländern nicht mehr integriert sind, keine Kontakte mehr haben, gleichzeitig
aber auch nicht in Deutschland Fuß fassen können. Mühsam wurde eine homosexuelle
Identität entwickelt, jedoch ging die Identität zu ihrer Heimat verloren. Die Folgen sind
oft Depressionen.
„Oft kam es vor, dass Stricher mit den Erwartungen schwul zu leben und als solches wahrgenommen zu
werden, hierher kommen. Diese stellen aber leider fest, dass sie als Sexobjekt gelten und zum Beispiel
durch ihre dunkle Hautfarbe nicht wahrgenommen werden. Dann kommen Dramen und Tragödien zu
Stande, da sie zu Hause entwurzelt sind, hier gar nicht akzeptiert sind und mit Anfang 30 werden sie dann
für alte Knochen gehalten. Dann kommt es häufig zu Selbstmordversuchen, da sie nirgendwo ihren Platz
finden. Hier sind sie nicht mehr jung und knackig genug aber immer noch ein billigeres Sexobjekt. Das
heißt, sie kriegen nicht immer ihr Geld zusammen.“147

144
Interview I, Z. 77- 102.
145
die in Deutschland lebenden Rromas haben einen engen Zusammenhalt innerhalb ihres Volkes. So
findet man häufig Hilfsnetzwerke, die nicht zu unterschätzen sind. Es werden unselbständige Jungs
„durchgefüttert“, Zimmer vermietet und Überlebenshilfe geleistet.
146
Interview I, Z. 233- 235.
147
Interview I, Z. 140-148.

52
Die Auswertung

Die Wunschvorstellungen werden nicht erfüllt, viele Jungs können sich hier nicht so
ausleben, wie sie sich das vorgestellt haben und bekommen ein falsches Bild von Ho-
mosexualität, da sie nur die Stricherszene kennen lernen, die nur durch Sex und den
häufigen Wechsel von Sexualpartnern geprägt ist. Dadurch, dass die meisten die deut-
sche Sprache nicht beherrschen und das Erlernen auch ablehnen, können sie andere
Bereiche der homosexuellen Kultur nicht kennen lernen, wo Emotionen von Bedeutung
sind.
Probleme entstehen auch durch die zeitlich begrenzte Aufenthaltsdauer, da die Mehrheit
als Touristen ins Land einreist. Diese beträgt 90 Tage und dabei sind bei längerem
Aufenthalt mehrere Ein- und Ausreisen nötig.
„Eigentlich findet die Kontrolle nur durch die Heimatbehörden statt und diese sind sehr streng. Wenn
Leute einen Tag später kommen als die 90 Tage, wird ihnen der Pass eingezogen und sie bekommen viel
Ärger. Man muss dann von Glück reden, dass man dann jemanden kennt, den man vielleicht schmieren
kann, um seinen Pass zurückzubekommen oder muss mit Sperre rechnen.“148

Konflikte ergeben sich auch durch unterschiedliche Weltanschauungen. Viele der


jungen Migranten stellen fest, dass ihre Einstellung nicht mit der Einstellung der Gesell-
schaft von Deutschen übereinstimmt. Sie fühlen sich nicht verstanden und werden in die
Außenseiterrolle gedrängt.
„Während für den Bulgaren Wasser geben das allernormalste der Welt ist, versteht das der deutsche nicht,
dass der andere keinen Respekt vor dem Eigentum hat. Kulturelle Konflikte sind meistens der Grund,
dass die Leute hier sich nicht immer gut fühlen.“149

5. Gesundheitliche Aspekte
Vor allem bei den Rromas, die als Klienten in dieser Einrichtung am häufigsten vertre-
ten sind, besteht eine besondere Verbindung von Psyche und Soma. Auch ist die Angst
groß, sich mit HIV zu infizieren und daran zu erkranken, wobei die Vorbeugung gegen
andere schwere übertragbare Krankheiten oft leichtfertig gehandhabt wird.
„Sie verbinden Körper und Psyche sehr, sie haben keine psychosomatischen Störungen, wie wir dies hier
nennen. Sie haben ein Ganzkörpersyndrom. Wir haben zwei Ärzte hier und untersuchen viel. Die Leute
sagen, dass ihr Herz weh tut und spüren das. Dann haben sie auch oft Geisterschmerzen am ganzen
Körper und das alles kommt von der sehr schlechten Stimmung, die sie in sich tragen. (…) Es wird nie

148
Interview I, Z. 154-158.
149
Interview I, Z. 402- 405.

53
Die Auswertung

vorgebeugt, sondern nur interveniert. Man erwartet immer große Intervention seitens des Arztes, d.h. der
Arzt ist allmächtig und man erwartet, dass dieser alles heilen kann.“150

In Bezug auf Aids und sexuell übertragbare Krankheiten fehlt den meisten Migranten
das notwendige Wissen, um sich risikofrei davor zu schützen. Viele der Jungs haben
schon mal von Aids gehört aber die meisten werden in den Anlaufstellen der Zielländer
zum ersten Mal mit diesen Themen konfrontiert.
„Die meisten von Ihnen waren nie Ziel einer Präventionsarbeit. Alle Migranten, die wir aus dem südli-
chen Osteuropa antreffen, die aus den unteren sozialen Schichten kommen, die nicht so wirklich die
Schule besucht haben, die sind zum ersten mal hier konfrontiert mit einer gezielten Prävention. Das heißt,
vieles hören sie zum ersten Mal. Sie haben alle schon mal von Aids gehört, aber sie wissen nicht die
Übertragungswege usw. Ausnahme sind das nördliche Osteuropa wie Polen und manchmal Russland, die
ab und zu ein Vorwissen aus der Schule mitbringen. Grundsätzlich wird HIV und Aids überbewertet, es
wird sehr viel schwärzer gemacht und STI werden minimalisiert. Von Syphilis und Tripper sind die
Kenntnisse sehr gering. Die Hepatitiden sind auch kaum bekannt, wir impfen dagegen, aber jedes Mal mit
Aufklärungsarbeit verbunden. Ich würde sagen, Safer Sex wird eingehalten. Oft höre ich von den Jungs,
dass der Freier sagt, dass es mit Kondom Lust dämpfend ist. Aber oft bekommen die Jungs Angst, dass
sie sterben werden. Man hört immer wieder in der Szene, dass einer HIV hat und das ist abschreckend.
Wenn sie sich lange in der Szene aufhalten, dann passen sie auf. Die Jungs kaufen sich auch selbstständig
Kondome und das nur fürs Blasen, wo das Risiko ja minimalisiert ist. Das heißt, sie haben auch investiert
für ihre Gesundheit. Sie passen in ihren privaten Beziehungen nicht auf. Im Sexbusiness passen sie so viel
auf wie es nur geht, penetrierende Praktiken ohne Kondom gibt es hoffentlich kaum. Oral ohne Kondom
ist es öfters anzutreffen. Im privaten Bereich wird darauf gar nicht mehr geachtet. Sie sind Stricher und
haben sich für Liebe infiziert…“151

Gegen Drogenkonsum schützte sie bisher ihre Herkunft aus ehemaligen kommunisti-
schen Ländern, in denen Partydrogen und vor allem intravenös injizierte Drogen nicht
zur Verfügung standen. So überwiegt die Angst vor etwas Unbekannten. In den letzten
Jahren allerdings ist die Zahl der Drogen konsumierenden Migranten in Migranten
gestiegen. Viele Migranten, die hier in eine Drogensucht geraten, schaffen es nicht
mehr, sich nach einigen Jahren wieder in ihre Herkunftsländer abzusetzen. Die Drogen-
sucht bringt sie dazu, tiefer in illegale Geschäfte oder kriminelle Handlungen zu verwi-
ckelt zu werden.
„Je größer die Integration, desto größer und ähnlicher ist der Drogengebrauch wie bei der deutschen
Gruppe. Es gibt kulturelle Grenzen. Es gibt viele Völker, die würden sich niemals was injizieren. Rumä-

150
Interview I, Z. 407- 415.
151
Interview I, Z. 433- 453.

54
Die Auswertung

nen machen das sehr ungern. Diese rauchen lieber. Russen sind sehr gerne bei Heroin dabei, da gibt es
Parallelen zum Wodka. Slawen konsumieren auch sehr gerne Heroin. Diejenigen, die noch was bewahren
wollen von diesen Schemen im Leben und auch ein bisschen machomäßig drauf sind, nehmen automa-
tisch Kokain. Es gibt lokale Spezifiken und es ist immer noch weniger Problem wie bei Deutschen.“152

6. Motive und Identitäten junger Migranten


Wie schon erwähnt, stellt auch für einige Migranten, abgesehen vom Geld, die offene
und leicht auszulebende Homosexualität in Deutschland einen Grund dar, hierher zu
emigrieren.
„Geld ist die wichtigste Motivation, ein bisschen Abenteuerlust, hin und wieder, nicht die Regel, aber
anzutreffen, dass sie selbst schwul sind und das vor Ort nicht ausleben können. Sie wissen, dass es in
Deutschland legal ist, dass man sich da austoben kann, ohne dass man negativ abgestempelt wird, ohne
jegliche Folgen. Deswegen kommen sie dann auch. Aber das wichtigste ist das Geld, welches fast alles
zurück zu den Familien gegeben wird. Die schwulen Jungs machen das meistens nur für sich und schi-
cken nichts zur Familie. Sie übernehmen auch die Wertvorstellungen der westeuropäischen Schwulen
sehr schnell.“153

Die fehlende Identität als Stricher und den Hauptmotivationsgrund Geld erkennt man
daran, dass viele Migranten einen anderen Job annehmen, sobald sie die Möglichkeit
dazu haben. Man könnte hier auch von Gelegenheitsstrichern sprechen.
„…wenn in Spanien die Erdbeererntezeit anfängt, ist dies lukrativer als hier rumzuhängen und auf
irgendeinen Freier zu warten. Dann macht man sich auf den Weg, man kauft sich zu fünft ein Auto und
fährt nach Südspanien und fährt die Farmen ab und bekommt einen Arbeitsvertrag. Genauso im Herbst,
wo es hier relativ trübe zugeht, kann man sich ins Auto setzten und nach Italien, Kalabrien fahren und
Artischocken ernten. (…) Sie sehen sich als Wanderarbeiter, haben keine reine Stricheridentität; also
vorübergehend ansässige Migranten, die eben auch Stricher sind. Sie sind Stricher, heute hier, morgen, in
Milano am Bahnhof warten sie auf Arbeit; in der Zeit in der sie warten, machen sie dann eben auch noch
einen Freier. Aber sie denken, sie sind Bauarbeiter.“154

Auch die sexuelle Identität ist bei vielen nicht ganz klar. Viele stellen hier fest, dass sie
homosexuelle Tendenzen haben, andere bleiben heterosexuell und einige bezeichnen
sich als bisexuell. Jedoch ist es für alle sehr wichtig, mit Ausnahme derjenigen, die
eindeutig homosexuell sind und sich hier auch der Gesellschaft in Verhalten, Kultur und
Sprache anpassen, im Alter eine Familie mit Frau und Kindern zu haben.

152
Interview I, Z. 455- 462.
153
Interview I, Z. 112- 119.
154
Interview I, Z. 180- 191.

55
Die Auswertung

„…sie sehen, dass Sex mit Männern Spaß macht, aber es ist nichts für die Zukunft. Man kann kein Haus
bauen, nicht im Alter mit dem gleichen Mann zusammenbleiben. Das ist deren Erfahrung. Zu diesem
Entschluss kommen sie, nachdem sie hier mehrere Jahre schwul gelebt haben, dass sie niemanden halten
können. Sie kennen von der Szene nur den Teil, in dem nur sehr oberflächlich umgegangen wird. Dann
kommen sie zu dem Entschluss, dass sie mit Männern zwar Spaß haben, aber sie versuchen, eine Frau zu
finden, die Verständnis dafür hat, dass sie mit Männern Spaß haben, aber trotzdem mit dieser Frau leben
möchten und Haushalt und Kinder haben möchten.“155

7. Herausforderungen für die Einrichtung


Auch hier stellt das fachliche Wissen, die Möglichkeiten, Migranten zu unterstützen,
auch wenn ihnen seitens des Staates keine Unterstützungen zustehen, ein Herausforde-
rung für die Einrichtung dar. Flexibilität muss gewährt werden in Bezug auf das Klien-
tel, um so den Hilfebedarf zu decken, der seitens der Klienten besteht.
„Man kann sehr viele Erfolgserlebnisse haben, fast tagtäglich. Man kann Schicksaal positiv verändern. Es
ist ein Bereich, wo es sehr viel Hilfebedarf gibt, wo niemand etwas anbietet. Man kann unbürokratisch,
ohne Anwendung komplizierter Strukturen sofort helfen. Es geht nicht nur um die primären Hilfebedürf-
nisse, wie waschen und schlafen usw. sondern auch auf der Ebene der nächsten Stufe. Grenzen sind bei
Migranten erstmal die finanziellen Grenzen. Es ist tausendfach schwieriger, den, der dringend einen
Drogenentzug braucht und ein Notfall ist, irgendwo unterzubringen, als einen, der hier krankenversichert
ist. Es gibt hier immer mehr Hilfebrücken in Richtung Drogen oder Medizin insgesamt. Aber es ist
unheimlich schwer, da diese Menschen nicht existieren, da sie Touristen sind. Dass sie hier zum Teil seit
Jahren leben und eigentlich durchaus hier zu behandeln wären, trifft nicht zu. Es gibt zum Vergleich der
90er viel mehr Möglichkeiten, aber man muss sie kennen.“156

8. Herausforderungen an das fachliche Wissen der Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen


Auch die Kompetenz der Sozialabeiter/ Sozialarbeiterinnen wird herausgefordert. So
müssen diese durch Beziehungsarbeit eine gute Verbindung zu den Klienten aufbauen,
wobei hier eine klare Abgrenzung zwischen Klient und Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterin
bestehen muss. Oft werden diese Grenzen seitens der Klienten versucht zu überschreiten
und die Beziehung sexualisiert. Professionelles Arbeiten und Abgrenzung ist die Her-
ausforderung und definiert gleichzeitig auch Professionalität.
„Es kann sehr oft vorkommen, dass sich ein Klient in einen Sozialarbeiter verliebt. Abgrenzung ist da
gang und gäbe. Wir müssen professionell genug sein, um so etwas nicht zu zulassen. Wir haben in
unseren Arbeitsverträgen so genannte Keuschheitsklausel, d.h. geringste Kontaktaufnahme führt zur

155
Interview I, Z. 131- 140.
156
Interview I, Z. 465- 476.

56
Die Auswertung

sofortigen Kündigung. Das ist bewusst eingebaut, damit jeder weiß, dass dies ein Tabu ist. Das Ge-
schlecht der Sozialarbeiter ist wichtig. Wir arbeiten mit Jungs, die sich meistens ein Vorbild suchen,
vielleicht eine Orientierungshilfe. Die sexuelle Identität ist aus der Sicht der Betroffenen durchaus
wichtig. Aber ich glaube, es ist durchaus wichtiger zu verstehen, was da läuft. Man muss nicht unbedingt
in der Pfanne gelegen haben, um zu wissen, was ein Schnitzel ist. Man kann alles lernen zu verstehen.
Wir sind hier gemischt, auch zwei Heteros. Es gibt auch eine Frau. Das Projekt hat schon einen sehr
großen Anteil von schwulen Menschen, aber das ist keine Qualifikation an sich. Man muss irgendeine
Zusatzqualifikation bringen, um für den Beruf geeignet zu sein. Wenn man weiß, wie das alles mit dem
Coming Out ist, ist das super nützlich, wo man sehr viel helfen kann. Nach 10 Jahren weiß ich darüber
auch eine Menge, zwar nur theoretisch, aber ich kann trotzdem weiterhelfen. Meine Selbstidentifizierung
kommt aus dem Bereich, selbst Migrant zu sein. Die Qualifikation kann aus dem Bereich der Sexualität
deswegen auch sehr relevant sein. Das Vorbild wird überwiegend in den Männern gesucht. Die Wirkung
einer Frau ist auch positiv und auch oft ein Highlight, da es sich nur um Männer handelt. Da erinnern sie
sich an die Kindheit, an die Mutter, sie haben mehr Vertrauen. Man darf nicht vergessen, dass Stricher
nicht nur Männer mögen, sondern durchaus auch von Männern Schlechtes erlebt haben. Eine einheitliche
Besetzung wäre tragisch. Wir möchten die Gesellschaft widerspiegeln und eine Nische in der Gesellschaft
sein und wollen so sein wie die Gesellschaft selbst.“157

8.1.2. Interview in der Einrichtung II158, looks e.V. in Köln

1. Die Einrichtung
Die Einrichtung befindet sich nahe der Altstadt, dem Gebiet, in dem sich die Stricher-
szene befindet. Die Altstadt ist nicht nur den Touristen wegen der historischen Gebäude
ein Begriff, sondern auch ein fest eingebür-
gerter Begriff in der Schwulen- und Stricher-
szene. Es befinden sich in diesem Bereich
viele Stricherkneipen, Boys-Clubs und Bars,
sowie der nahe liegende Bahnhof, an dem
vor allem der Straßenstrich stattfindet. Durch
die zentrale Lage der Einrichtung kann die

Abb. 4: Türschild von looks e.V. in Köln


Niedrigschwelligkeit sehr gut gewährt werden. Die Angebote dieser Einrichtungen sind:
tägliches Essen und Getränke, Möglichkeit zur Körperhygiene, Wäsche waschen und
eine Kleiderkammer. Vor allem obdachlose Klienten haben die Möglichkeit, sich hier

157
Interview I, Z. 483- 505.
158
Die gesamten Interviews befinden sich im Anhang.

57
Die Auswertung

ein Postfach einzurichten und haben Zugang zu einem eigenen Schließfach. Einmal pro
Woche sucht ein Arzt die Anlaufstelle auf, die Behandlungen sind anonym und kosten-
frei. Das Team besteht aus fünf hauptamtlichen Mitarbeitern, darunter zwei Sozialarbei-
ter und zwei Sozialarbeiterinnen sowie eine bulgarische kulturelle Mediatorin. Die
Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen bieten Beratungsgespräche zu Ämterfragen, Drogen,
Schlafunterkünfte, über HIV und andere Gesundheitsthemen an sowie Begeleitungen zu
Ämtern.159 Finanziert wird diese Anlaufstelle durch öffentliche Gelder der deutschen
Aidshilfe (DAH), doch zusätzlich ist auch diese Einrichtung auf Spenden angewiesen.
Es wurde ein Konzept entwickelt, das durch Patenschaften einzelner Klienten in Höhe
von 10,- 20,- oder 25,- Euro im Monat, zum Beispiel das Bereitstellen von Medikamen-
ten oder Gebühren bei Behörden abdecken soll. Natürlich bleiben auch hier die Spender
anonym, um daraus Begegnungen zu verhindern und daraus resultierenden Bevorzu-
gungen zu vermeiden. Jeder Spender erhält regelmäßig den Jahresbericht und Auskunft
über die aktuelle Entwicklung dieser Einrichtung.160
Auch diese Einrichtung weist eine klare parteiliche Haltung für die Stricher auf und es
dürfen auch nur Stricher die Angebote dieser Anlaufstelle wahrnehmen.
„Wir haben bestimmte konzeptionelle Grundsätze, Niedrigschwelligkeit, Parteilichkeit und Akzeptanz
sind die wichtigsten. Parteilichkeit heißt parteilich für Stricher sein, für deren Interessen und Anliegen
einstehen. Das macht es für uns auch klar, dass wir für die Stricher das sind, wenn wir rausgehen in die
Altstadt. Wir wenden uns nicht in erster Linie an Freier. Es besteht immer wieder die Gefahr, dass wir mit
einem Freier ins Gespräch kommen und der uns z.B. Sachen über Stricher erzählt, wo es für uns dann
schwierig ist zu reagieren.“161

2. Die Klientel
Eine genauere Beschreibung der Klientel wird wie folgt dargestellt:
„Wir haben im Jahr etwa 480 verschiede Jungs in der Anlaufstelle, beim Streetwork usw. Von den 480
Jungs kennen wir nicht von jedem den kulturellen Hintergrund, aber wir können sagen, dass es sich um
60% Migranten handelt und 40% Deutsche. Wir haben in Köln den größten Anteil von deutschen Jungs in
den Stricherprojekten verglichen mit allen anderen Stricherprojekten in Deutschland. Wir rechnen zu den
Migranten auch Migranten in der zweiten Generation, immer dann, wenn Migration-Themen eine Rolle
spielen. Also sprich, wenn ein libanesischer Junge zu uns in die Anlaufstelle kommt und dieser Stress hat
mit dem Thema Anschaffen oder Homosexualität, weil seine Eltern aus einer komplett anderen Tradition

159
Vgl. Looks e.V. Tipps und Infos.
160
Vgl. http://www.looks-ev.org/, Stand: 20.09.2006.
161
Interview II, Z. 226-232.

58
Die Auswertung

kommen, dann rechnen wir ihn als Migranten. Wenn jemand hier total assimiliert lebt und keinen Stress
mehr hat, rechnen wir den nicht als Migranten.“162

Auch in dieser Stadt hat sich eine bestimmte Gruppe von Migranten etabliert, nämlich
Rroma, diese stammen aber überwiegend aus Bulgarien.
„Unsere Bulgaren sind auch nicht Bulgaren, sondern sind Rromas. Alles Leute, die selber noch im Inland,
im Herkunftsland einer diskriminierten Minderheit angehören. Die würden das auch nicht unbedingt
sagen. Aber wir wissen genug über die Jungs, um das von außen beurteilen zu können. Sie sprechen alle
türkisch. In Bulgarien gibt es zwei Minderheiten, die sich im Laufe der Geschichte vermixt haben. Das
sind die Türken und die Rroma. Die Türken haben es immer noch besser als die Rroma, sind aber auch
nicht gut angesehen. Die Jungs haben in Bulgarien selbst wenige Chancen zu einer guten Ausbildung zu
kommen, die haben so gut wie keine Chancen auf dem regulären Arbeitsmarkt Arbeit zu finden. Sie leben
in Ghettos, den so genannten „Machalas“, die es in Rumänien genauso gibt. Das sind Wohnviertel, die
abgetrennt von der bulgarischen Restgesellschaft nur aus Rroma bestehen. Sie haben wenig Zugang zur
Gesundheitsvorsorge bzw. überhaupt zur Gesundheitsversorgung. Fast alle haben einen festen Wohnsitz
und wandern nicht mehr umher. Die Jungs die hierher kommen, haben fast alle vier bis acht Jahre Schule
besucht, die meisten eher vier bis sechs Jahre. Sie sind eher Analphabeten, d. h. sie können wirklich
wenig lesen und schreiben, egal ob auf türkisch oder bulgarisch, was ja auch verschiedene Schriften sind,
da in Bulgarien kyrillisch geschrieben wird. Sie haben auch ganz wenig Allgemeinbildung.“163

Das Durchschnittsalter liegt hier etwas höher als in Berlin, nämlich bei ca. 19 Jahren.
Ebenfalls auffällig ist, dass in Köln der höchste Anteil an deutschen Strichern ist. Dies
hat möglicherweise mit der sehr großen und bekannten Schwulenszene in Köln zu tun.

3. Tabuthema männliche Prostitution und Homosexualität in den Herkunftsländern


Die große Tabuisierung dieses Themas in den Herkunftsländern bringt natürlich mit
sich, dass sich diese schwer tun, eine Identität zu ihrem Stricherdasein bzw. zu ihrer
Homosexualität aufzubauen.
„Es gibt das Merkmal, dass Homosexualität unbekannt ist und auch als soziales Konstrukt nicht existiert
in der Rromagemeinschaft. Das macht es nicht unbedingt leichter in der mann-männlichen Prostitution zu
arbeiten. Sie haben dies vielleicht schon einmal gehört, aber das ist ein totales Tabu. Ein zweites Merkmal
ist, dass viele der Jungs verheiratet sind und Kinder haben. (…) Im Schnitt sind diese zwischen 20 und 30
die meisten sind so 22 bis 24. Die 22jährigen kommen hierher und haben Kinder und haben zu Hause ne
Frau die sie versorgen. Das ist auch noch ein wichtiger Hintergrund. 100% derjenigen sind heterosexuell.

162
Interview II, Z. 60-70.
163
Interview II, Z. 84-100.

59
Die Auswertung

Eine Familie haben vielleicht 80%, aber deutlich mehr als 50%. Heterosexuell sind alle. Es gibt „schwul
sein“ nicht.“164
„…Bulgarien hat ein relativ liberales Gesetz. Homosexualität und Prostitution ist bekannt in diesen
Ländern, z. B. in den Tourismusgebieten am schwarzen Meer ist es ähnlich wie in Rumänien, da gab es
auch schon immer mann-männliche Prostitution und es gibt auch Prostitution von Transvestiten. Es gibt
eine Gleichung in Bulgarien die heißt: Homosexualität = Transsexuell = Stricher. Es ist tatsächlich so,
dass in Bulgarien der Männerstrich der „Transenstrich“ war. Die Jungs die hierher kommen, sind auf
keinen Fall transsexuell, das gibt es in Berlin und in Hamburg. Prostitution war und ist gang und gäbe im
Sinne von der Tabuisierung dieses Themas.“165

4. Problemlagen der ausländischen jungen Männer


Durch die Armut in den Herkunftsländern können sich viele nicht mit ausreichend Nahrungs-
mitteln versorgen, geschweige denn mit Medikamenten, die von Familienmitgliedern benötigt
werden.
„Hauptproblem ist die Armut. Es gibt immer mal wieder Jungen die erzählen, wie sie gearbeitet haben.
z.B. haben einige Jungs im Schlachthof 10 Stunden am Tag gearbeitet, wovon sie sich von dem verdien-
ten Geld eine Packung Zigaretten kaufen konnten. Das heißt, es reicht nicht um die Familie zu versorgen.
Die anderen erzählen eher davon, dass sie keine Arbeit bekommen konnten. Sie stehen auch unter Druck,
dass sie Geld mit nach Hause bringen müssen, entweder für die eigene Familie oder für die Eltern. Viele
Jungs versuchen hier bestimmte Medikamente zu bekommen, da das Gesundheitssystem verlangt, die
Medikamente selbst zu bezahlen. Einige suchen auch bestimmte orthopädische Geräte für ihre Kinder und
versuchen so mit dem Geld, das sie hier verdienen, dies zu bezahlen. Die Bulgaren, wenn sie hier her-
kommen, finden sich in einer komplett anderen Welt vor, für die ist männliche Prostitution ein absolutes
Tabu, bei Frauen kennt man das, zwar auch tabuisiert; es verletzt die Männerehre, dass sie so einem Job
nachgehen. Sie sprechen die Sprache nicht, sie kennen diese Kneipen nicht, wie sie aussehen, d. h. sie
finden sich in einer komplett neuen Welt.“166

Auch hier ist die Armut wieder ein grundlegendes Merkmal, das viele andere Probleme
mit sich bringt. Zusätzlich stehen die Migranten unter einem ständigen Druck seitens
der Familien zu Hause, die dringend auf Geld angewiesen sind und sich dem Konsum-
druck der Gesellschaft anpassen möchten, um einen gewissen Status zu erreichen.
Andererseits entsteht ein zusätzlicher Druck durch die Illegalität, in der sie hier leben.
„Einzelne werden hier eher unter Druck gesetzt, aber auf einer sehr persönlichen Ebene, nämlich dass
jemand ankommt und viel Geld mitbringt aus Deutschland und die Familie sagt, geh doch auch nach

164
Interview II, Z. 105-113.
165
Interview II, Z. 140-148.
166
Interview II, Z. 320-334.

60
Die Auswertung

Deutschland und verdien dort Geld. Wenn sie in Deutschland waren, müssen sie auf jeden Fall auch
wieder Geld mit nach Hause bringen, sonst sind sie die totalen Versager.“167
„…Sie sind alle illegal hier, ab dem Moment, ab dem sie arbeiten, denn dann würden sie eine Arbeitsge-
nehmigung brauchen und die bekommt man nicht mit einem Touristenvisum. Sobald klar würde, dass
diese anschaffen, wäre das ein Abschiebungsgrund. Es gibt in München Lockfreier, die gezielt Leute
suchen, die illegal anschaffen. Hier weiß die Polizei um die Szene und es bestehen gute Kontakte zur
Polizei und die Szene wird hier geduldet.“168

In Bezug auf Drogen sind bisher noch keine Probleme entstanden. Die meisten der
Jungs aus Bulgarien sind sich bewusst, dass sie bei den kleinsten kriminellen Delikten
ausgewiesen werden können, dazu gehören auch Drogendelikte. Auch in Bezug auf
Gewalt sind die bulgarischen Migranten sehr vorsichtig, da sie wissen, jeder Kontakt
mit der Polizei, könnte eine Abschiebung bedeuten. Es entstehen viele psychische
Belastungen durch den Druck, dem sie ausgesetzt sind.
„…Wir haben bei den Deutschen 10- 20% psychische Auffälligkeiten, ähnlich bei den Bulgaren. Das
können Depressionen, akute Suizidgedanken, massive Zukunftsängste, wo auch Ängste um das Leben
bestehen, auffällige Verhaltensstörungen (Tickstörungen), Leute, die Zuckungen haben, welche die ganz
anders interagieren als andere, bis hin zu Schizophrenien und schizoiden Auffälligkeiten.
Viele sind auch obdachlos. Es hat gedauert, bis sie sich mittlerweile Wohnungen oder Zimmer mit Hilfe
der türkischen Community selbst organisiert haben. Es gibt mehrere Wohnungen, wo Vermieter vier
Bulgaren in einem Raum schlafen lassen für 50-100 Euro pro Woche.“169

5. Gesundheitliche Aspekte
Auch in Bezug auf HIV/Aids fehlt vielen die Vorstellung, was dies bedeutet. Aids ist in
Bulgarien noch nicht sehr stark verbreitet, dementsprechend gibt es auch in diesem
Land kaum Präventions- und Aufklärungsarbeit. In Deutschland werden diese aufge-
klärt über die Grundkenntnisse von HIV/ Aids.
„Man muss bestimmte Vorstellungen, die durch die Kultur geprägt sind, erstmal über Bord werfen, wie
zum Beispiel, dass man sich ansteckende Krankheiten nur von Frauen holen kann. Wir wissen, dass es
eine hohe Anzahl von Syphilisinfektionen in Bulgarien selber gibt, besonders auf dem Strich dort,
deutlich höher als in Deutschland. Auch Hepatitis A und B sind sehr häufig. Bisher haben wir noch
keinen HIV- positiven Jungen hier gehabt. Die Jungs werden benachrichtigt, dass sie sich auf diese
Krankheiten in der Anlaufstelle untersuchen lassen können. Möglicherweise haben wir so wenig HIV, da

167
Interview II, Z. 180-184.
168
Interview II, Z. 375-381.
169
Interview II, Z. 384-393.

61
Die Auswertung

Analsex bei den Bulgaren nicht ins Programm gehört, vielleicht auch generell beim Männerstrich keine
so große Rolle spielt. Verkaufter Sex bedeutet nicht gleich Analsex. Das ist unser Glück.“170

Fehlende Vorstellungen vor allem von Aids bringen Schwierigkeiten mit sich, die erst einmal
behoben werden müssen.
„Viele Jungs haben kein Verständnis was ihre Gesundheit angeht und haben komplett andere, sehr
archaische Vorstellungen von Gesundheit. (…) Aids ist eine Krankheit, die ist unsichtbar, du hast nicht
das eine oder andere Symptom. Das den Jungs zu erklären, ist fast unmöglich; dass du vier oder zehn
Jahre nichts davon merkst, aber trotzdem eine sehr schwere Krankheit in dir trägst, das ist für die Jungs
fast so gut wie unvorstellbar.“171

6. Motive und Identität junger Migranten


Im Vergleich zu einigen Strichern in Berlin findet man in Köln eher selten den Fall,
dass die in den Herkunftsländern nicht auszulebende Homosexualität Grund für die
Migration ist. Vielmehr ist ihr wichtigster Grund, an Geld zu gelangen, jedoch ent-
spricht die Realität nicht ihren Vorstellungen. Es laufen in den Herkunftsländern be-
stimmten Muster ab, wodurch viele junge Migranten aus z. B. denselben bulgarischen
Gebieten motiviert werden, nach Deutschland zu gehen, um Geld zu verdienen.
„Sie kommen mit der Idee hierher, dass sie im reichen Deutschland Arbeit bekommen und werden dann
mit der Realität konfrontiert, da es nicht möglich ist. Es ist wichtig, wie sich diese Szenen ausbilden,
wieso in Köln nur bulgarische Rroma sind und in Berlin vorwiegend rumänische Rroma und in München
nur Rumänen. Wir verwenden das Wort Brückenkopffunktion. Ein Junge kommt hierhin und lernt die
Stadt kennen, lernt die Kneipen kennen und den Strich. Dieser fährt wieder zurück nach Bulgarien und
bringt seinen Cousin und noch einen Bekannten und diese fahren wieder nach Bulgarien und bringen
wieder Freunde und Verwandte mit und sie fahren natürlich wieder in die Stadt, die sie kennen, da es
immerhin schon alles fremd genug ist. Die bulgarischen Klienten sind bei weitem nicht so mobil wie die
Deutschen oder die Tschechen, die schon seit Jahren nach Deutschland kommen. D. h. sie kommen
wirklich wieder dahin, wo sie Freier kennen oder wo sie schlafen können oder weil sie „looks“ kennen.
Sie wissen eher nicht, dass sie auf den Strich gehen. Es gibt mit Sicherheit einzelne Jungs, die, wenn sie
hier ankommen, schon wussten, dass sie auf den Strich gehen werden. Aber ich würde sagen, die Mehr-
zahl der Jungs der Bulgaren, die zum ersten Mal nach Deutschland kommt, die wussten es nicht, sondern
die haben die Idee, dass sie in irgendeiner Form Geld verdienen. In der Regel denken sie irgendwas auf
dem Bau. Aber die Jungs haben auch keine Ausbildung, um dort zu arbeiten. D. h. die Jungs können
wirklich nur absolute Hilfstätigkeiten machen und bei fünf Mio. Arbeitslosen haben sie keine Chance, auf

170
Interview II, Z. 410- 419.
171
Interview II, Z. 335- 342.

62
Die Auswertung

dem Bau zu arbeiten. Es wird auch nicht untereinander angesprochen, wenn sie ihre Freunde mitbrin-
gen.“172

Auch in Bezug auf deren Identität als Stricher herrscht Unklarheit, dagegen deren
sexuellen Identität ist in den meisten Fällen klar heterosexuell.
„Sie sind alle nicht schwul, verstehen sich auch alle nicht als Stricher und es ist auch schwieriger für sie
zu sagen, dass sie anschaffen gehen, als für deutsche Stricher. Sie fliehen nicht vor den schlechten
Lebensbedingungen für Schwule aus Bulgarien, sondern fliehen vor der Armut. Natürlich ist es so, dass
die, die länger hier sind, Klarheit darüber haben, dass sie anschaffen gehen und wissen, wie das Geschäft
läuft. Aber es dauert wirklich lange, nach dem 2. oder 3. Aufenthalt, bis sie sagen können, dass sie
anschaffen gehen. Vielleicht auch wenn sie selber in die Rolle kommen des Erklärens, dass sie sich
langsam antasten und aussprechen, dass sie Sex mit Männern haben.“173

7. Herausforderungen für die Einrichtung


Die größte Hürde ist wohl, auf diese Weise den Zugang zu Migranten zu finden, bei
dem von Anfang an Vertrauen vermittelt wird. Die Institutionsscheu ist bei Migranten
sehr hoch, da viele mit den Tätigkeiten der sozialen Arbeit nichts anfangen können, da
es diese in den Herkunftsländern nur selten gibt. Solche Einrichtungen oder Mitarbeiter/
Mitarbeiterinnen werden viel mehr mit dem Staat assoziiert und der Gefahr, dass ihre
Illegalität in Bezug auf die Prostitution aufgedeckt wird. Deswegen ist es seitens der
Einrichtung notwendig, diese Vorurteile abzubauen und die erforderlichen Grundlagen
bereitzustellen, um das Vertrauen der Migranten zu gewinnen und ihre Schwellenängste
abzubauen.
„Man muss den Zugang bekommen. Meine Erfahrung hier ist, dass soziale Träger Leute einstellen
müssen, die aus dem Land kommen. Das ist das A und O. Es dauerte sehr lange, bis die soziale Arbeit an
den Punkt kam, dass es nicht so wichtig ist, einen Sozialarbeiter für z. B. Präventionsarbeit zu haben,
sondern, dass es wichtiger ist, eine Person zu haben, die die Themen behandeln kann, die über Themen
wie HIV und Safer Sex sprechen kann. Der Zugang zu dieser Gruppe ist aber das schwierigste, die so
stigmatisiert und marginalisiert ist.“174

Länderpolitische Aufgaben können durch soziale Arbeit in diesen Einrichtungen nicht


gelöst werden, sondern nur auf politischer Ebene.

172
Interview II, Z. 116-136.
173
Interview II, Z. 156- 163.
174
Interview II, Z. 422-428.

63
Die Auswertung

„Die Armut und Diskriminierung, die die Rromas erleben, können wir hier nicht lösen. Das ist dann eine
Frage der Politik. Das, was sich an Flüchtlingsdramen am Mittelmeer abspielt, da können wir froh sein,
dass wir nicht am Mittelmeer liegen. Aber natürlich wird man diese ganzen afrikanischen Gruppen in der
Prostitution in Portugal, Spanien, Frankreich und Italien finden. Aktuell durch den Krieg im Libanon
haben wir die Verpflichtung auf Grund der Genfer Konvention, dass die Leute hier bleiben können, so
lange der Krieg ist. Wir werden mit Sicherheit in einem Vierteljahr Libanesen in der Prostitution haben.
Leuten, denen wir in unserer Gesellschaft nichts anderes anbieten, denen bleibt nur die Prostitution.“175

Eine besondere Schwierigkeit stellt die Verbindung von männlichen Prostituierten zum
Frauenstrich da. Es gibt Fälle, dass junge Männer Frauen aus ihren Herkunftsländern
mitbringen und anschaffen lassen.
„Nicht alle Jungs, aber vielleicht fünf bis zehn Männer, und das reicht schon, bringen eine oder vier
Frauen mit. Eben auch wegen der Parteilichkeit entsteht hier eine Schwierigkeit, da wir nicht mit Zuhäl-
tern zusammenarbeiten. Da kommen wir an unsere Grenzen, da auch dieser Mann oder Junge ein Hilfs-
angebot benötigen würde, aber gleichzeitig auch andere Frauen in Abhängigkeit bringt. In letzter Zeit
haben wir diesen auch den Zugang zur Anlaufstelle verweigert, da wir Prostitution als etwas sehen, das
man nicht freiwillig macht. „Du machst das nicht freiwillig und bei den Frauen ist das auch nicht anders,
wenn du daran mitverdienst, dann sehen wir das als Ausbeutung an.“176

8. Herausforderungen für das fachliche Können der Sozialarbeiter/Sozialarbeiterinnen


Die fehlende Vorstellung davon, was soziale Arbeit und Professionalität bedeutet, ist
bei sehr vielen Migranten vorhanden. In vielen Herkunftsländern gibt es nur selten
Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen, diesen fehlenden Bezug herzustellen, ist für die
Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen in Deutschland eine Herausforderung.
„Es ist schwierig, Leuten etwas zu vermitteln, die keine Ahnung davon haben, dass wir professionelle
Sozialarbeiter sind, die keine Vorstellung von professioneller sozialer Arbeit haben. Man muss sich
immer wieder sehr stark gegenüber den Migranten abgrenzen, vor allem im privaten Bereich und betonen,
dass man professionell arbeitet. Die deutschen Jungs sind da schon sehr daran gewöhnt, die kennen
Institutionen und haben oft ihre ganze Kindheit schon mit Sozialarbeitern durchlaufen.
Gerade für Frauen ist es eine Herausforderung, da „Mann sein“ und das „Heterosein“ unter Beweis
gestellt wird. Als Mann oder schwuler Mann muss man all das an Vorurteilen über Schwulsein aushalten,
was so grassiert in der Szene, dass man lernt damit umzugehen.“177

175
Interview II, Z. 435-443.
176
Interview II, Z. 553-561.
177
Interview II, Z. 452-461.

64
Die Auswertung

Nach Aussagen des Interviewpartners ist es wichtig, ein Team beiderlei Geschlechts zu
haben.
„Wir arbeiten sowohl mit Männern als auch mit Frauen, wobei die Männer schwul sind und die Frauen
heterosexuell sind. Zugang haben beide Gruppen, jedoch die größere Attraktion für die Migranten sind
die Frauen. Aber bei bestimmten Themen wendet man sich eher an einen Mann oder dementsprechend an
eine Frau. Das hängt auch mit der eigenen Biographie zusammen, da man gute oder schlechte Erfahrun-
gen mit dem eigenen Geschlecht verbindet. Ein schwuler Stricher wendet sich eher an einen schwulen
Mann. Es hat aber auch eher mit der Männer- Frauenrolle zu tun.“178

8.1.3. Interview179 in der Einrichtung III, marikas e.V. in München

1. Die Einrichtung
Die Einrichtung befindet sich im Glockenbachviertel in München, welches bekannt ist
für seine Schwulenszene. Da es in München so gut wie keinen Straßenstrich aufgrund
der Sperrgebietsverordnung gibt, liegt die Einrichtung nicht so bahnhofsnah wie in
anderen Städten. In dieser Einrichtung sind fünf hauptamtliche Mitarbeiter beschäftigt,
darunter eine rumänische Mediatorin und eine slowenischsprachige Mitarbeiterin. Die
Einrichtung hat einen stark akzeptierenden Ansatz und versucht durch Niedrigschwel-
ligkeit, dem Vorurteil der Kontrollinstanz der Klienten dieser Einrichtung entgegenzu-
wirken. Der Träger dieser Einrichtung ist das evangelische Hilfswerk München, das
dieses Projekt auch finanziert. Zusätzlich erhält dieses Projekt einen Zuschuss des
Stadtjugendamtes München.180 Die Einrichtung hat die Verbesserung von Lebens- und
Arbeitsbedingungen der Sexarbeiter, die Abwertung stigmatisierter Bewertung und
Diskriminierung gegenüber Sexarbeitern und die Entwicklung und Förderung attraktiver
Alternativen zur Prostitutionstätigkeit als Ziel.
Die Einrichtung in München bietet wie die anderen Einrichtungen auch, die Möglich-
keit, die Grundbedürfnisse zu befriedigen. Neben der Streetwork finden in der Anlauf-
stelle Beratungen über Gesundheit, rechtliche Dinge, Beratungen zum Ausstieg oder zur
Professionalisierung in der Prostitution statt sowie Begleitungen zu Behörden oder
Ämtern.

178
Interview II, Z. 462-468.
179
Das gesamte Interview befindet sich im Anhang.
180
vgl. http://www.hilfswerk-
muenchen.de/sachbericht/JB05_Marikas.pdf#search=%22marikas%20finanzierung%22, Stand
28.09.2006.

65
Die Auswertung

1. Das Klientel
„Wir halten uns mit Zahlen sehr zurück. Wir treffen ca. 300 verschiedene Personen im Jahr, die wir auch
mehrmals in den Kneipen treffen. Wir haben unsere Streetwork- Arbeit außerhalb unserer Anlaufstelle.
Die durchschnittliche Zahl der Jungs, die hier in München gleichzeitig ihre Dienste anbieten, rechnen wir
auch auf die gleiche Anzahl, also 300 Leute. Wir versuchen das zu überschlagen durch die Angebote, die
wir per Internet sehen können, durch die Angebote, die wir in der Zeitung sehen können oder die Leute,
die wir hier in der Einrichtung treffen. Es ist wirklich nur eine Schätzung und das kann man nur mit
wenig Sicherheit sagen. Es sind auch nicht alle Stricher gleich hilfebedürftig, dass diese unser Angebot
wahrnehmen müssen oder dass wir sie dort treffen, wo wir glauben, sie antreffen zu müssen. Die Jungs,
die wir treffen, sind alle volljährig, es gibt kaum welche, die unter 18 sind eher über 21 sind. Damit sie
durchs Anschaffen keine Probleme mit der Polizei kriegen, da unter 21 Prostitution nicht gestattet ist bzw.
versucht die Polizei das zu unterbinden, bestraft Leute, die Stricher anstellen über Zuhälterei. Menschen-
handel fällt dann unter diesen Paragraphen. Deswegen wird keine Kneipe, Stricher, die jünger als 21 sind,
bei sich dulden…“181

Auch hier variiert das Alter der Klientel im Vergleich zu den anderen Einrichtungen
und Städten. Die meisten Jungs, die in München anschaffen, sind oft 21 Jahre, mindes-
tens aber volljährig. Durch starke Kontrollen seitens der Polizei wird vielleicht eine
Szene verhindert, in der es viele minderjährige Jungs gibt. In anderen Großstädten, wo
die Szene toleriert wird und nicht so stark kontrolliert wird wie in München, findet man
Jungs jeden Alters. Auch in Bezug auf die Herkunft der Klientel gibt es deutliche Un-
terschiede zu den anderen Städten. So ist erkennbar, dass sich in jeder Stadt eine be-
stimmte ethnische Gruppe von Migranten angesiedelt hat, auf die jeweils, bezogen auf
die Kultur der Herkunftsländer, agiert werden muss.
„…Wir haben die meisten Jungs aus Rumänien, ca. 60- 70%. Dann haben wir Tschechen und Slowaken.
Die waren früher die meisten, sind jetzt aber die zweite Gruppe, gefolgt von den Bulgaren. Dann gibt es
vereinzelt Ungarn und Brasilianer. Irgendwann kommen die Deutschen. Die Mehrheit der Jungs stammt
aus Rumänien aus Familien, wo die Eltern Langzeitarbeitslose sind und sich mit Gelegenheitsarbeiten
durchschlagen. Die Jungs haben eine schlechte oder keine Schulausbildung und wenig Chancen in der
Region, aus der sie kommen, Arbeit zu finden. Es sind keine Rromas bei uns. Vielleicht 10% der Jungs
die zu uns aus Rumänien kommen sind Rromas. Die anderen sind Rumänen. Die meisten kommen aus
dem Kohlebecken bei Lupeni, Betrocham und Petrila. Das sind ca. 60% der Jungs. Dann gibt es welche
aus Siebenbürgen und welche aus dem östlichen Teilen, nahe der Moldau, ca. 10%. Dann kommen
welche aus Arad und vereinzelt welche aus Bukarest. Die meisten kommen aus Regionen, wo Industrie
angesiedelt war, die aber niedergegangen ist.“182 ´

181
Interview III, Z. 87-103.
182
Interview III, Z. 109-121.

66
Die Auswertung

Wo hingegen in den anderen Städten rumänische und bulgarische Rromas in der Mehr-
zahl sind, halten sich in München überwiegend Rumänen auf, die aus niedergegangenen
Arbeitergebieten stammen, in denen nun eine hohe Arbeitslosenrate besteht. In dieser
Einrichtung wird auch von Transmigranten gesprochen:
„Wir sprechen von Transmigranten, das heißt, diese haben einen Fixpunkt in ihrem Land in ihrer Stadt, in
der sie einen sozialen Status erwerben wollen. Diesen kann man unter den Umständen des wilden
Kapitalismus oder Neokapitalismus nur mit Geld in ihrem Land erwerben. Um dieses Geld zu beschaffen,
sind sie bereit, jede Arbeit im Ausland anzunehmen. Wichtig ist, dass sie diese Arbeit im Ausland
machen, da sie niemand im Ausland kennt und sie sich nicht kompromittiert fühlen. Da kann man dann
auch Arbeit machen, die zu Hause tabuisiert ist, wie zum Beispiel Prostitution. Die Familien reden sich
ein zu glauben, dass dieses Geld auf ehrliche Weise verdient wurde. Je mehr Geld nach Hause geschickt
wurde, desto erfolgreicher ist der Sohn/ die Tochter im Ausland. Je mehr die Familie sich Luxusgüter
dafür leisten kann, umso höher ist auch das Ansehen zu Hause. Deutschland ist dabei nur ein Punkt. Viele
Rumänen nutzen Deutschland vorwiegend für Prostitution oder vielleicht auch, über die Stricherszene
Jobs auf dem Bau oder Wohnungsrenovierungen anzunehmen.“183

3. Männliche Prostitution und Homosexualität in den Herkunftsländern


Homosexualität wird nach wie vor tabuisiert. Auch wenn es gesetzlich erlaubt ist,
feindet die orthodoxe Kirche Homosexualität, und damit auch die männliche Prostituti-
on sehr stark an. Homosexualität wird als etwas gesehen, was nicht mit einer Gefäng-
nisstrafe kuriert werden kann, da Homosexualität eine Plage ist. Demzufolge wird es
noch lange dauern, bis in Rumänien Homosexualität von der Gesellschaft akzeptiert
wird.184
„Es war eine Bedingung der EU, dass eben keiner wegen seiner sexuellen Orientierung, Religion oder
Nationalität verfolgt werden darf. Deswegen ist es erlaubt, aber es ist eigentlich undenkbar dort, eine
offene Beziehung zu leben oder zu heiraten. Insofern ist es natürlich ein Tabu, wenn man Sex mit Män-
nern zugibt. Allerdings glaube ich auch, dass die Leute, die dann von dem hier verdienten Geld leben,
nicht wissen wollen, wie das verdient wird. Hauptsache das Geld läuft. Die Jungs, die ich frage, was sie
denn daheim erzählen, sagen, dass sie ein bisschen im Service arbeiten oder machen mal dies, mal das.
Da denke ich mir auch, wenn da jemand genauer nachfragen würde, würden sich diese sicherlich verstri-
cken in irgendwelche Aussagen. Aber offenbar fragt keiner genauer nach. Das ist Fakt. Es will also keiner
wissen, Hauptsache die Kohle stimmt. Gerade in Rumänien und Bulgarien und vielen ärmeren ehemali-
gen Ostblockländern ist dieser Konsumzwang und Drang so enorm groß, dass man dann so was auch in

183
Interview III, Z. 234- 246.
184
EURO.KOPS, 1999, S. 67.

67
Die Auswertung

Kauf nimmt, auch wenn niemand darüber spricht, weil es so ein riesiges Tabuthema ist, eben mit der
Homosexualität und Prostitution. Aber fürs Geld würde man das trotzdem in Kauf nehmen...“185
„…Dann kommt auch noch die Rolle der Frau, bevor es um die eigene Prostitution geht. Es muss geregelt
sein, dass die Frau die Kinder hütet und vor dem Herd steht und Jungfrau ist, dann kommt erst die eigene
Sexualität oder die Prostitution. Es wird nicht so offen in den Herkunftsländern über Prostitution geredet,
aber wenn sie mit uns darüber reden, dann sagen sie immer, dass sie aktiv sind, um so auch noch die Ehre
zu erhalten.“186

4. Problemlagen der ausländischen jungen Männer


Hier wird vor allem der Druck als Problem geschildert, der seitens der Familien ausge-
übt wird sowie die falsche Vorstellungen von Deutschland.
„Den Druck, der durch die Familie entsteht, sehen wir als Problem. Es herrscht Perspektivlosigkeit. Sie
bringen kein Potential mit, sprich keine Ausbildung, mit der sie hier oder zu Hause einen Job ausüben
könnten. Wenn jemand eine Hotelausbildung hätte, könnte er sicherlich unterkommen. Sie kommen mit
falschen oder gar keinen Vorstellungen hierher, was sie hier erwartet, dass hier das Geld nicht auf der
Straße liegt, obwohl ihnen das von den Medien und den Freunden suggeriert wird. Um dies dann einzuse-
hen und umzusetzen und dann doch ein anderes Ziel zu verfolgen, fehlt vielen die Einsicht. Der hohe
Konsumdrang in den Herkunftsländern ist auch ein Problem. Es steht so über Allem, Geld zu besitzen,
sich darüber zu identifizieren und sozial aufzusteigen, mehr als althergebrachte traditionelle Werte aus
der rumänisch- orthodoxen oder muslimischen Religion. Geld ist Priorität und dann kommen andere
Sachen. (…) Dass die Rumänen keinen guten Stand hier haben, ist klar. Sie werden für Diebe gehalten,
gelten als Verbrecher und das bekommen sie auch zu spüren. So bleibt ihnen auch nur die Möglichkeit,
sich in der Prostitution zu betätigen. Das gilt nicht nur für Rromas, sondern für alle, die in Rumänien
leben. Wobei ist es hier auch wieder unterschiedlich, die Rromas kommen in der Hierarchie nach den
Rumänen ganz weit unten.“187

In Bezug auf Drogen ist folgendes zu sagen:


„…Alkohol ist bei den Osteuropäern weiter verbreit als intravenöse Drogen. Hier ist es auch so, dass
jemand, der offensichtlich drogenabhängig ist, sehr schnell von der Polizei kontrolliert wird. Diese
Drogen sind in der Heimat viel weniger verbreitet. Es sind eher die legalen Drogen wie Alkohol und
Spielsucht weiter verbreitet. Andere schwere Abhängigkeiten, entstehen dann erst hier. Oft bleiben sie
dann trotzdem hier, da sie zu hause auch keine Perspektive mehr haben.“188
„…Zerrüttete Familienverhältnisse über Jahre hinweg, haben Einfluss auf die psychische Verfassung der
Jungs. Die Prostitution hier, der Druck hier und von zu Hause, die Doppelstigmatisierung, zeigt sich auch
wieder. Wir beobachten Spielsüchte, oder Handysüchte. Auch der Konsumzwang ist ein Punkt, Drogen

185
Interview III, Z. 133-148.
186
Interview III, Z. 434-439.
187
Interview III, Z. 424-444.
188
Interview III, Z. 484-489.

68
Die Auswertung

(intravenöse Drogen) werden interessanterweise weniger konsumiert, eher ab und zu eine Partydroge.
Diese Süchte sind dann Therapie für solche Störungen. Es kommen selbst zerstörerische Tätigkeiten, wie
Ritzen und Brandig vor, Selbstverstümmelung, gefährliche sexuelle Handlungen und Bindungsprobleme
sind zu beobachten.“189
Ein weiteres Problem stellt die so genannte Szenenhierarchie dar. Hier wird auf Kosten
anderer das eigene Selbstwertgefühl aufgebessert.
„Jeder versucht sich durch den anderen, durch die starke Stigmatisierung, aufzuwerten, indem man den
anderen schlechter macht. Die Rumänen sagen, die Rromas sind die schlechteren, die Tschechen sagen,
die Rumänen haben den Markt kaputt gemacht und die Deutschen sagen das von den Tschechen. Die
Callboys sagen, dass der Straßenstrich schlecht ist. Aber es ist keine körperliche Gewalt, eher die psychi-
sche. Es gibt viele Zukunftsängste und Probleme, die aber verdrängt werden, da sie morgen das große
Geschäft machen, wodurch dann alles gelöst ist.“190

5. Gesundheitliche Aspekte
Auch hier wurde eine fehlende Aufklärung über sexuell übertragbare Krankheiten und Safer Sex
bemängelt. Das Benutzen von Kondomen ist in den Herkunftsländern relativ wenig verbreitet,
wodurch wenig Wissen über Safer Sex- Praktiken vorhanden ist.
„Sie sind relativ schlecht aufgeklärt in Bezug auf Safer Sex Praktiken. Sie haben alle schon mal was von
Aids und HIV gehört, aber wissen nicht wirklich darüber Bescheid. Sie haben eine panische Angst vor
Aids und dadurch, dass sie nicht genau wissen, wie man sich davor schützt, gibt es abstruse Ideen, wie
Schutz durch Desinfizieren. Da ist ein sehr großes Defizit und es ist wichtig, dass wir diese Arbeit gut
und genau machen. Es gibt keine Zahlen, da bei Eintritt der Krankheit die Jungs nicht mehr greifbar sind
und nach Hause fahren, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen können. Dadurch, dass sie
nicht so sexuell aktiv sind in diesem Job und eher das Geld anderweitig den Freiern aus der Tasche
ziehen, sind nicht mehr so viele Positiven unterwegs wie in der Schwulenszene. Vernunft gibt es in
diesem Bereich des Safer Sex sehr wenig. Es gibt Freier, die sagen ganz klar, dass sie Safer Sex wollen
und es gibt welche, die versuchen das zu umgehen und wollen sehr wenig Geld für zahlen. Es gibt auch
Jungs, die sagen, sie machen das nicht, aber je größer der Druck ist, den der Junge hat, desto leichter wird
er von seinen Prinzipien abgehen.“191

6. Motive und Identität junger Migranten


Wie auch in Berlin berichtet wurde, gilt für einige Jungs das Ausleben von Homosexualität,
welches in den Herkunftsländern nicht möglich ist, als Motivationsgrund. Aber auch ein anderes
Phänomen trifft immer häufiger zu:

189
Interview III, Z. 454-461.
190
Interview III, Z. 462-469.
191
Interview III, Z. 470-483.

69
Die Auswertung

„Es gibt durchaus auch die gleichen Phänomene, die es früher bei den Deutschen schon gab, dass Jungs in
sehr frühem Alter schon sexuelle Gewalterfahrungen haben. Das kommt sehr häufig vor. Das ist mit ein
Grund, dass sie Sexualität so kennen gelernt haben, dass man nur, wenn man eine sexuelle Dienstleistung
erbringt, auch eine Entlohnung durch Zuneigung, Geld oder Liebe erhält. Das hatten wir bei den osteuro-
päischen Jungs erst nicht vermutet, trifft aber doch zu. Dies könnte dann auch ein Motivationsgrund für
die Stricher sein, um ihre Erfahrungen aufzuarbeiten.“192

Eine klare Identität der Stricher ist nicht vorhanden. Auch wenn diese der Prostitution
nachgehen, sehen sie sich als Gelegenheitsjobber, für die es wichtig ist Geld zu verdie-
nen.
„Es ist mit der Identität schwierig, sie würden sich eher als Jobber in unterschiedlichen Bereichen be-
zeichnen und betätigen sich im In- und Export an möglichen Dingen. Die Dienstleistung Prostitution ist
ein Mittel um Geld zu verdienen. Wenn es sich lohnt in einem anderen Job zu arbeiten, würden sie diesen
auch annehmen. Das ist aber auch eine Schwierigkeit. Wie hart ist jemand bereit zu arbeiten, für wie
wenig Geld- also ab wann lohnt es sich. Ich habe auch festgestellt, dass einige Jungs Angebote zur Arbeit
haben und eben glauben, in der Prostitution mehr Geld zu verdienen und deswegen den Job nicht anneh-
men. Es wird niemand zugeben, dass sie nur hier sind, um ihre Homosexualität auszuleben. Das wird
niemand zugeben, weder vor seinem „Outing“ noch danach. Fakt ist, dass einige Jungs, die länger hier
sind, eine gewisse homosexuelle Neigung zeigen. Sie trauen sich, das zu leben oder ihr „Schwulsein“
darin offen zu tun oder für sich selbst erst anzuerkennen. Ich glaube bei vielen passiert es so im Unterbe-
wusstsein und während der Tätigkeit erst für sich selber klar werden. Vorher behaupten sie, dass sie nicht
schwul sind und wissen es selber nur noch nicht. Wir versuchen, dass die Jungs ein Bewusstsein zum
Anschaffen entwickeln. Aber wenn die Jungs keine Identität zum Job haben, dann ist es schwierig, eine
Professionalität zu entwickeln oder professionell zu handeln. Das ist das größte Problem im Moment.
Einige haben Familie zu Hause, einige versorgen ihre Eltern oder Geschwister mit. Sie haben schon
Druck, relativ regelmäßig Geld nach Hause zu schicken. Die Familie hat nicht unbedingt Auswirkung auf
den unterbewussten Versuch, irgendwelche homosexuellen Anteile auszuleben. Es ist durchaus möglich,
dass jemand, der schon zwei Kinder hat, feststellt, dass er sich auch zu Männern hingezogen fühlt. Hier
muss ich aber noch ergänzen, dass die Szene über die Freier relativ wenig Lust bringt, homosexuelle
Neigungen mit diesen auszuprobieren. Eher dann, dass sie mit anderen Strichern in Kontakt kommen und
es da ausprobieren oder wenn sie länger da sind, dass sie sich trauen über die Schwulenszene Leute
kennen zu lernen. Zu 90% ist die Motivation der finanzielle Anreiz. Die meisten Jungs, die wir hier
antreffen, betreiben Armutsprostitution, um sich aus ihrer finanziellen Situation zu verbessern. Die
Homosexualität ist ein relativ kleiner Bereich, der hier eine Rolle spielt. Nichtsdestotrotz ist es bei uns
Thema, bei den Beratungen nachzufragen, ob es da Schwierigkeiten gibt oder ob man darüber reden
muss. Ich und mein schwuler Kollege sind da als Person immer wieder Beispiel oder Anhaltepunkt für die
Jungs, wenn sie darüber reden wollen oder uns als Vorbild zu nehmen.“193

192
Interview III, Z. 446-453.
193
Interview III, Z. 181- 213.

70
Die Auswertung

Wie auch in den anderen Einrichtungen ist der Hauptmotivationsgrund das Geld. Einige
Jungs ändern im Laufe der Zeit ihre sexuelle Identität, andere behalten ihre heterosexu-
elle Identität bei. Bei den meisten ist aber, egal ob hetero- homo- oder bisexuell, eine
fehlende Identität in Bezug auf die Prostitution zu erkennen.

7. Herausforderungen für die Institution


„Grenze ist auf jeden Fall die Sprache. Der Verdrängungsmechanismus der Jungs, dass sie sich mit ihren
Problemen nicht auseinandersetzten wollen. Die Herausforderung für mich ist eine gute Beziehung
aufzubauen, um über diese Themen sprechen zu können. Das wichtigste Ziel ist, die Gesundheit, dass sie
sinnvolle Prävention bekommen und dass das Abrutschen in die Kriminalität vermieden wird.
Die Beziehung zwischen Sozialarbeiter und Klienten ist sehr wichtig, da hier diese Tabuthemen bespro-
chen werden. Da geht das dann nicht ohne Beziehungsarbeit. Wir grenzen uns ganz klar ab, dass wir
keine Freunde sind und dass es ein dienstlicher Auftrag ist. Private Kontakte in die Szene werden nicht
gepflegt. Die Leitlinien, die wir zusammen mit dem AKSD erarbeitet haben, sind für uns auch bindend.194

Als Herausforderung wird, wie in allen anderen Einrichtungen auch, die Sprache gese-
hen, als wichtiger Zugang zu Klienten aus dem Ausland. So sind auch in dieser Einrich-
tung zwei Mediatorinnen, die fließend rumänisch und slowenisch sprechen können,
unabdingbar. Auch die fehlende Identität stellt in dieser Einrichtung eine besondere
Herausforderung dar:
„Sie haben kein Berufsethos, sehen sich nicht als Stricher. Viele lehnen das ab, haben Probleme damit,
wenn sie so betitelt werden. Wenn wir unser Angebot so anpreisen, z. B. Beratungsstelle für Stricher oder
Seminare für Stricher, dann finden sie das oft abwertend und identifizieren sich nicht damit. Also wir
müssen versuchen, anders an die Jungs ranzukommen. Das ist ein Indikator dafür, dass sie das selber
wieder mehr tabuisieren und sich nicht in diese Ecke stellen lassen, die für sie mit Abwertung zu tun
hat.“195

8. Herausforderungen an das fachliche Können der Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen


Ebenso stellt die Auseinandersetzung mit der sexuellen Identität der Klienten eine
Herausforderung dar. Durch die tradierten Vorstellungen von Frau und Mann, die durch
die Kultur ihrer Herkunftsländer geprägt ist, entstehen Schwierigkeiten. Für die Sozial-
arbeiter und Sozialarbeiterinnen ist es ebenso eine Aufgabe, die Rolle der Frau, auch als

194
Interview III, Z. 492-502.
195
Interview III, Z. 23-29.

71
Die Auswertung

Sozialarbeiterin und die Rolle als Mannes, egal ob hetero- oder homosexuell, zu klären.
Weiter wird die Beziehungsarbeit als Herausforderung gesehen. Hier das Vertrauen
aufzubauen und gleichzeitig klare Grenzen zu ziehen und diese auch konsequent einzu-
halten, ist in der Arbeit mit dieser Klientel eine Schwierigkeit.
„Das Geschlecht und die sexuelle Identität der Sozialarbeiter spielt eine große Rolle. Man kann nicht
sagen, wer die besseren sind, ob Frauen oder Männer. Das ist situationsbedingt. Frauen haben dann oft
die Mutterrolle. Dann ist es auch wichtig, dass wir als schwule Männer positive Beispiele geben, was
homosexuelle Männer auch sein können außer Freier. Dann gibt es Themen, die man von Mann zu Mann
besprechen will. Dann gibt es Themen, wo man auf Grund ihrer Sozialisierung Frauen nicht als An-
sprechpartner akzeptieren will und deswegen einen Mann braucht. Es ist wichtig, dass ein Team dieses
alles anbieten kann, eine breite Vielfalt eben, wo das Geschlecht und die sexuelle Orientierung eine Rolle
spielt.“196

8.2. Die Interpretation

Migration gab es auch schon in der Vergangenheit und ist auch in der heutigen Zeit ein
weitreichendes Phänomen. Oft wird es ausgelöst durch schlechte wirtschaftliche Ver-
hältnisse, Überbevölkerung, militärische Verfolgung, Naturkatastrophen etc.197 Eine
klare Definition gibt es nicht. Man kann sagen Migration ist „die Wanderung von Per-
sonen oder Gruppen – zuweilen geschlossener Volksgruppen - die aus einem anderen
Land einreisen und damit einen ständigen oder vorübergehenden Wechsel ihres Wohn-
sitzes und ihres Lebensmittelpunktes vollziehen, gleichgültig auf welche Verursachung
dies zurückzuführen ist.“198 Hier in der männlichen Prostitution werden auch diejenigen
als Migranten angesehen, die noch ihren Lebensmittelpunkt in ihren Herkunftsländern
haben und in regelmäßigen Abständen nach Deutschland kommen, um dort zu arbeiten
oder von hier in andere Länder, wie Spanien, Italien und Frankreich weiterreisen, um
dort nach Arbeit zu suchen. Dies bedeutet, dass sich diese Menschen zwar freiwillig in
ein anderes Land begeben, jedoch die Bereitschaft zur Integration fehlt. So spricht man
von einem „Push - Pull - Modell“, welches in den 60er Jahren entwickelt wurde,199 in
dem der Push - Faktor die Ablehnung des eigenen Landes beinhaltet, die durch schlech-
te Beschäftigungsfaktoren der Herkunftsländer entsteht. Der Pull - Faktor wäre dem-
nach die Situation in den Einreiseländern, die ein besseres Beschäftigungsverhältnis

196
Interview III, Z. 503-511.
197
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 269f.
198
vgl. MEISTER, 1997, S. 17.
199
Dieses Modell wurde von E.S. Lee entwickelt.

72
Die Auswertung

aufweisen.200 Es gibt aber auch Migranten, die dauerhaft in Deutschland leben, manch-
mal bereits in zweiter Generation oder als anerkannte Asylbewerber hier leben. Bei
diesen erfolgt eine stärkere Integration, da sie ihren Lebensmittelpunkt in Deutschland
sehen und somit auch Interesse haben, die Sprache zu lernen. Zu Konflikten kann es
hier innerhalb der Familien kommen, da die nachfolgende Generation soweit integriert
ist, dass sie nicht mehr automatisch den ursprünglichen Traditionen und Religionen
unterwirft.

Die verschiedenen Interviews haben nun gezeigt, dass es sich hier um eine sehr hetero-
gene Klientel handelt. Es zeigt sich, dass sich in den unterschiedlichen Städten unter-
schiedliche Migrantengruppen aufhalten, dass es hinsichtlich der Motivationen Unter-
schiede in den verschiedenen Städten gibt und dass man somit spezielle Hilfsangebote
für das Klientel entsprechend entwickeln muss.

Einrichtung I Einrichtung II Einrichtung III


Berlin Köln München
85% Migranten von ca. 60% Migranten von ca. 70% Migranten von ca.
1000 Klienten jährlich 1000 Klienten jährlich 600 Klienten jährlich
Rumänische Rromas Bulgarische Rromas Rumänen (10% Rromas)
Bulgarische Rromas Türken Tschechen
Ehem. Jugoslawen Rumänische Rromas Slowaken
Polen Polen Bulgaren
Litauer Ehem. Jugoslawen Ungarn
Tschechen Tschechen Sonstige
Sonstige Russen
Sonstige
Abbildung 5: Die Tabelle zeigt in absteigender Form, welche Migrantengruppen in den jeweiligen
Städten vertreten sind. Nicht mit einbezogen sind hier außereuropäische Migrantengruppen.

Durch die Interviews hat sich gezeigt, dass sich der Klientel in den verschiedenen
Städten durch die so genannte Brückenkopffunktion etabliert. Dies bedeutet, dass sich
einzelne Migranten in bestimmten Städten niederlassen, nach Ablauf ihres 90ig-tägigen
Touristenvisums wieder in die Heimatländer zurückkehren und dort für diese Städte

200
vgl. FINK/WERNER, 2005, S. 270.

73
Die Auswertung

werben, in denen sie ihr Geld verdient haben. Es werden meistens junge Männer,
Freunde, Bekannte oder Verwandte aus dem Umfeld der Migranten neugierig gemacht.
Bei der Wiedereinreise nach Deutschland gehen fast alle wieder in diese Städte zurück,
die ihnen vertraut sind und in denen sie sich in der Szene auskennen. Die „Neuen“
werden mitgebracht und dann sich selber überlassen, da über Prostitution nicht gespro-
chen wird. Die Gruppen bestimmter Länder in deutschen Städten wachsen dadurch
langsam und dominieren die Szene. Dies beweist auch, dass es in der männlichen Pros-
titution keine festen Strukturen von Menschenhandel gibt.
Das Alter der Klienten variiert, wie es scheint, je nach Polizeikontrollen und Sperrge-
bietsverordnungen in den jeweiligen Städten. Je weniger Polizeikontrollen bestehen, je
mehr die Stricherszene in den Städten toleriert wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass
sich minderjährige Stricher in der Szene aufhalten.

In Bezug auf Homosexualität in den Herkunftsländern kann man sagen, dass diese, auch
wenn sie mittlerweile in Bulgarien und Rumänien rechtlich geregelt ist, nach wie vor
tabuisiert wird. Hier spielen vor allem noch die jeweiligen Religionen eine wichtige
Rolle, und ihre Äußerungen bezüglich der Homosexualität. „Homosexualität darf es
nicht geben“ und es wird nicht akzeptiert. Dagegen wird Prostitution als Form des
Gelderwerbs toleriert, jedoch nur, weil es vielen Familien zu einem besseren Lebenssta-
tus verhilft. Männliche Prostitution wird als Thema nicht verbalisiert, sondern es bleibt
ein Tabu. Die Rroma werden bereits in ihren Herkunftsländern stark diskriminiert und
gelten als Unterschicht. Viele erreichen durch die männliche Prostitution einen sozialen
Aufstieg, der sie weiterhin motiviert, in diesem Geschäft tätig zu bleiben und Bekannte
und Verwandte nach Deutschland zu bringen.

Auch HIV/ Aids gilt in vielen der Herkunftsländer als Tabu bzw. ist kein Thema, da die
Zahl der Infizierten in diesen Ländern noch sehr gering ist. Es gibt weder Aufklärungs-
noch Präventionsarbeit. Auf die Frage, wie viele Migranten sich in der prostituiven
Tätigkeit mit HIV infizieren, kann man keine klaren Zahlen nennen, da die meisten bei
Ausbruch der Krankheit wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Es gibt mit den
wenigen örtlichen Einrichtungen, die mit HIV- positiven Menschen arbeiten, so gut wie
keine Zusammenarbeit. Allerdings ist klar, dass durch die heterosexuelle Identität vieler
Migranten passive penetrative und somit riskante Sexualpraktiken ausbleiben und somit
das Risiko vermindert wird. Es ist aber auch eine erhöhte Anpassung von Migranten zu

74
Die Auswertung

beobachten, die auch eine gefestigte homosexuelle Identität entwickelt haben und
dadurch auch penetrative Sexualpraktiken eingehen. Ein weiterer Aspekt ist auch die
sehr große Angst vieler Migranten vor Aids, die sie vielleicht auch etwas vorsichtiger
handeln lässt. Jedoch ist ein entscheidender Aspekt, dass sie durch ihre finanzielle
Notsituation und ihrem mangelndem Durchsetzungsvermögen eine gefährdete Gruppe
in Bezug auf HIV/ Aids darstellen.201

In den Problemen, die Migranten mit sich bringen, sind keine großen Unterschiede in
Bezug auf das Herkunftsland festzustellen. Allgemein gilt, dass alle Migranten eine
falsche Vorstellung davon haben, wie die Situation in Deutschland ist, dass sie nicht mit
der Idee nach Deutschland reisen, in der Prostitution tätig zu sein, sondern andere Jobs
anzunehmen. Die Migranten flüchten vor der Armut in den Herkunftsländern und
Deutschland gilt als das Paradies, in dem es grenzenlos Arbeit gibt. So werden viele
Migranten obdachlos, weil sie mit der Situation überfordert sind und enttäuscht darüber,
dass es hier nicht ihren Vorstellungen entspricht.
Es hat sich gezeigt, dass die meisten Migranten, die in der männlichen Prostitution
arbeiten, diese Tätigkeit vorübergehend ausüben wollen, um so ihren Traum einer
eigenen Familie und einem eigenem Haus erfüllen zu können. Die soziokulturellen
Unterschiede zwischen Deutschland und den Herkunftsländern können zu Konflikten
führen und bestätigen sie dadurch als Außenseiter in Deutschland. Sie fühlen sich nach
wie vor verwurzelt in ihren Heimatländern, was zur Folge hat, dass sie sich nicht integ-
rieren, die deutsche Sprache nicht lernen wollen, dass sie wenig Kenntnisse über Geset-
ze und Sozialsysteme haben und Deutschland nutzen, um an schnelles Geld zu gelan-
gen. Ein anderes Problem entsteht bei der Anpassung von Migranten in der Szene in der
Gesellschaft, da das Risiko in eine Drogenabhängigkeit zu geraten, steigt. Sehr viele
deutsche Stricher leiden unter einer Drogenabhängigkeit oder konsumieren regelmäßig
und auch die Zahl der drogenabhängigen Migranten steigt.
Alle drei Einrichtungen berichteten, dass ein großes Problem sowohl die fehlende
Identität in Bezug auf Homosexualität als auch auf Prostitution ist. Es wurde sogar
berichtet, dass zum Beispiel ausgeschriebene Seminare für Stricher von den Strichern
nicht angenommen werden, da sich diese nicht als solche sehen. Da viele nach kurzer
Zeit feststellen, dass das Leben in Deutschland nicht das bringt, was sie sich erwartet

201
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 270ff.

75
Die Auswertung

haben, kann es zu einer Identitätskrise kommen und in der Folge auch zu einer Lebens-
krise. Die Migranten sind in der Jugendphase und können keine Lebensplanung entwi-
ckeln. Der ungesicherte Aufenthaltsstatus trägt zusätzlich zu dieser Krise bei. Sich
darüber hinaus noch mit der eigenen sexuellen Identität zu beschäftigen, ist für viele
eine Überforderung.202
Dies erschwert den Zugang zu dieser Klientel um ein Vielfaches und deshalb muss
zunächst Unterstützung bei der Identitätsfindung geleistet werden.

Die Klientel in diesem Arbeitsbereich kann relativ schnell wechseln. So ist es durchaus
möglich, dass auf Grund der Erweiterung der EU schon bald die Migranten aus den
Ländern Russland und Moldawien, die sich im Moment nur als Asylanten in Deutsch-
land aufhalten, in der Prostitution zu finden sind. Viele junge Männer aus dem ehemali-
gen Jugoslawien haben als Kriegsflüchtlinge in Deutschland Schutz gesucht und sind in
der Prostitution gelandet, da die Gesellschaft wenige Möglichkeiten bieten konnte,
diesen Menschen Arbeit zu geben. Für die jeweiligen Einrichtungen bedeutet dies eine
finanzielle Belastung durch zusätzlich kulturelle Mediatoren dieser Länder und eine
hohe Flexibilität in der Arbeit und dem Einbeziehen der jeweiligen Kulturen.
Dieses Verständnis für deren Heimatländer und Kulturen ist äußerst wichtig, um die
Klienten zu verstehen und professionell mit ihnen arbeiten zu können.

Es hat sich in den Interviews gezeigt, dass alle Einrichtungen es für wichtig halten, dass
in diesem Arbeitsbereich Frauen, homo- und heterosexuelle Männer arbeiten. Homose-
xuelle Männer in dieser Arbeit haben eine Vorbildfunktion im Coming Out, sollen
Vorurteilen gegen Homosexuelle entgegenwirken und das widerspiegeln was Homose-
xualität auch sein kann. Der Mann als Ansprechpartner ist wichtig, da bestimmte The-
men lieber mit Männern als mit Frauen besprochen werden. Hingegen nimmt die Frau
unter anderem die Rolle der Mutter ein, die Vertrauen und Sicherheit für die Klienten
schafft. Dies bringt natürlich wieder Probleme mit sich, da Frauen, vor allem in der
Arbeit mit Migranten, ihren Status als professionelle Arbeiterinnen und nicht nur als
Frau und Mutter klarstellen müssen.

202
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 271f.

76
Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit

9. Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit

9.1. Ziele der sozialen Arbeit

Als Hauptziel aller Projekte steht die gesundheitliche Verbesserung der Situation der
Klienten bzw. ein Gesundheitsbewusstsein zu erreichen und Wissen über sexuell über-
tragbare Krankheiten zu vermitteln, um dadurch deren psychische und physische Le-
bensverhältnisse zu verbessern. Hier hat der AKSD detaillierte Ziele formuliert, die
wiederum für alle Institutionen gelten, die Mitglied des AKSD sind.
• Emanzipation: Dieses Ziel ist dann erreicht, wenn ein Stricher die Fähigkeit er-
langt hat, seine eigenen Bedürfnisse anzumelden, seinen eigenen Willen zu be-
haupten und die Hoffnung aufgegeben hat, in der Prostitution Liebe und Gebor-
genheit zu finden. Dies bedeutet auch, mit einem klaren Bewusstsein bzw. Pro-
fessionalität in Bezug auf ihre Arbeit, sexuelle Identität, Unabhängigkeit von so-
zialen Hilfesystemen und so eine geregelten Wohnsituation.
• Psychische Stabilität: Dieses Ziel ist dann erreicht, wenn ein Stricher zerstöreri-
sche Emotionen durch angemessene Bewältigungsstrategien ersetzen kann. Dies
bedeutet, die eigenen negativen Erfahrungen aus der Familie, Heim, Straße und
Szene erkannt zu haben bzw. zu erkennen. Psychische Stabilität in diesem Zu-
sammenhang bedeutet aber auch die Fähigkeit, Konflikte zu lösen, Gefühle zu
zeigen und eine bestimmte Frustrationstoleranz erlernt zu haben.
• Erfolgreiche Identitätsbildung: Dieses Ziel ist dann erreicht, wenn ein Stricher
gelernt hat, sowohl eine Identität als Stricher als auch zu seiner Sexualität zu
bilden, d. h. eine gefestigte sexuelle Orientierung zu haben und sich dadurch
auch positiv selbst erleben.
• Körperbewusstsein: Dieses Ziel ist dann erreicht, wenn ein Stricher gelernt hat,
seinen eigenen Körper und die Gesundheit wertschätzen und seine Körpersigna-
le zu achten. Das bedeutet, dass Safer Sex- Praktiken angewandt werden, dass
ein bewusster Umgang mit Drogen besteht und dass bewusst auf Körperhygiene
geachtet wird.
Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit

• Soziale Stabilität: Dieses Ziel ist dann erreicht, wenn ein Stricher gelernt hat, ein
soziales Umfeld zu schaffen, das sich aus Verbindlichkeiten, Berechenbarkeit
und Lebensperspektiven zusammensetzt. Dies bedeutet, dauerhafte Freundschaf-
ten und Beziehungen eingehen zu können, in soziale Netzwerke integriert zu
sein und das Aufsuchen von Ansprechpartnern bei akuten Problemen.
• Professionelles Arbeiten in der Prostitution: Dieses Ziel ist dann erreicht, wenn
ein Stricher gelernt hat, bewusst anzuschaffen und die Ausübung nicht dem Zu-
fall überlässt. Auch die Abgrenzung zu Freiern und Wissen über Sexualprakti-
ken und Safer Sex gehört dazu. Dies bedeutet auch, die Erkenntnis zu gewinnen,
den Ort der Prostitution bestimmen zu können, Absprachen mit Freiern zu tref-
fen, sich selbst Grenzen zu setzen und Pläne in Bezug auf Altersvorsorge zu tref-
fen.
• Entdiskriminierung der männlichen Prostitution: Dieses Ziel ist dann erreicht,
wenn ein Stricher gelernt hat anzuschaffen, ohne für sich einen gesellschaftli-
chen Nachteil zu haben. Dies bedeutet, dass sein Anschaffen nicht verheimlicht
wird und seinerseits eine positive und selbstbewusste Haltung gegenüber der
Prostitution besteht. Die Prostitution muss als Beruf anerkannt werden und die
Leistungen rechtlich abgesichert sein, so dass damit bewusst und vorurteilsfrei
mit diesem Thema auf gesellschaftlicher Ebene umgegangen wird. Ziel ist auch
eine gegenseitige Akzeptanz innerhalb bestimmter Szenen und Einrichtungen.

9.2. Notwendigkeiten in der Arbeit mit Migranten

Im folgenden Abschnitt wird nun genau darauf eingegangen, welche Arbeitsbereiche


und Methoden für die Arbeit mit jungen ausländischen Migranten notwendig sind.
Natürlich sind bestimmte Arbeitsbereiche und Methoden nicht nur für die Arbeit mit
Migranten sinnvoll, sondern allgemein mit der Klientel in der männlichen Prostitution,
jedoch werden nun die relevanten Ansätze für professionelles Arbeiten mit Migranten
zuerst dargestellt.
Besonders wichtig für einen guten Zugang zu jungen Migranten, ist das Medium zu
finden, das sowohl Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterin und Migrant miteinander verbindet.
Dieses Medium ist die gemeinsame Sprache. Durch den Erstkontakt in der eigenen
Landessprache kann Vertrauen geschaffen werden, da der Mensch im Vordergrund steht

78
Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit

und nicht ihre sexuellen Dienstleistungen. So entsteht eine Verbindung, bei der sich der
Klient über sein Land identifizieren kann.
Deswegen ist es unabdingbar, kulturelle Mediatorinnen und Mediatoren zu haben, die
durch ihr sprachliches Wissen eine Verbindung zu der entsprechenden Klientel aufbau-
en können. Diese können der Institutionsscheu der Migranten entgegenwirken und sie
über Angebote spezieller Einrichtungen aufklären. Aber nicht nur die Sprache ist hier
von Nöten, es muss auch kulturelles Wissen über die Herkunftsländer bestehen. Darum
machen einige Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter von Stricherprojekten Reisen in
die Herkunftsländer, zum Beispiel nach Rumänien und Bulgarien, um sich dort selber
einen Überblick über die Situation zu verschaffen, um Kontakte zu knüpfen mit Einrich-
tungen, die sich mit Prostitution und HIV/Aids befassen und nicht zuletzt um einen
Einblick in die Kultur zu bekommen. Besteht guter Kontakt zu Klienten, ist es hilfreich,
auch deren Angehörige zu besuchen, um sich ein Bild über die Herkunft und das soziale
Umfeld zu verschaffen.203 Wichtig ist es besonders im Umgang mit Migranten, behut-
sam mit den Themen Homosexualität und Prostitution umzugehen und dabei die kultur-
spezifischen Besonderheiten zu berücksichtigen. Das gilt vor allem bei den Erstkontak-
ten.
Zu dem Aufgabenbereich eines kulturellen Mediators gehört also nicht nur eine Verbin-
dung über das Heimatland herzustellen, sondern sie sollen auch Coming Out-Hilfen für
Migranten anbieten, da Information über Sexualität, Männlichkeit, Werte und Normen
und ein Verständnis für psychosoziale Entwicklungsprozesse in der eigenen Sprache
besser vermittelt werden kann, um damit den Migranten besondere Unterstützung in
ihren Coming Out - Versuchen zu bieten. Nur mit Hilfe kultureller Mediatoren/ Media-
torinnen kann so eine kulturell- sensitive Aufklärungsarbeit, abgestimmt auf die jewei-
lige Kultur, stattfinden.204

Aufklärungsarbeit ist ein wichtiger Aufgabenbereich, mit der sich die soziale Arbeit
auseinandersetzen muss. Die meisten Migranten bringen so gut wie kein Wissen über
HIV/Aids, STI und die Bedeutung von sozialer Arbeit mit. Hier ist es wichtig, Klarheit
darüber zu schaffen, was professionelles Sozialarbeiten in einer Einrichtung bedeutet.
Es muss klar definiert werden, was die Aufgabenbereiche einer Sozialarbeiterin und
eines Sozialarbeiters sind, und welche Motivationen sie zu dieser Arbeit bewegen.

203
vgl. Interview I, Zeile 100ff sowie Interview II, Z. 440ff.
204
Vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 272.

79
Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit

Besondere Aufklärungsarbeit muss für die Akzeptanz der Frau als Sozialarbeiterin
geleistet werden. Da Heterosexualität oft unter Beweis gestellt wird, ein fehlendes
Verständnis für soziale Arbeit vorliegt und das Bild der Frau nicht mit dem in Deutsch-
land übereinstimmt, kann es zu Grenzüberschreitungen kommen.
Viele Migranten hegen großes Misstrauen gegenüber Einrichtungen und Sozialarbeite-
rinnen/ Sozialarbeitern. Sie haben Angst von der Polizei aufgefasst, abgeschoben oder
ausgewiesen zu werden und ein Wiedereinreiseverbot erteilt zu bekommen. Außerdem
drohen ihnen Sanktionen im Heimatland auf Grund ihrer Homosexualität. Deswegen
verhalten sie sich häufig sehr unauffällig und meiden Kontakte zu Streetworkern/
Streetworkerinnen, da diese ihrer Meinung nach, der verlängerte Arm des Gesetzes
sind.205 Sie tauchen ab in die Illegalität, wo sie dann für Präventionsarbeit nicht mehr
greifbar sind.206
Nur mit Hilfe von Aufklärungsarbeit können diese Verurteile behoben werden.
Auch bei der physischen Gesundheit ist Aufklärungsarbeit unumgänglich, um dann erst
Präventionsarbeit leisten zu können. Viele der Migranten, besonders die Rroma- Jungs
haben keine Vorstellung von Safer Sex -Praktiken. So muss ein Verständnis und eine
Vorstellung für Safer Sex geschaffen werden, auch hier ist die Hilfe eines kulturellen
Mediators unumgänglich. Für eine gelingende HIV/Aids und STI- Prävention ist es
wichtig, dass die Migranten eine gefestigte sexuelle Identität haben. So sollen intensive
Beratungs- und Betreuungsangebot in den Stricherprojekten stattfinden, in denen sich
die Migranten intensiv mit der eigenen Sexualität und Identität auseinandersetzen. Das
ist die Grundlage einer effektiven Präventionsarbeit, da Prävention in diesem Bereich
immer im Zusammenhang mit der jeweiligen sexuellen Identität vermittelt werden
soll.207 Nur über Grundversorgungsangebote in den Stricherprojekten bzw. in den
Anlaufstellen208 führt der Weg zu intensiven Beratungs- und Betreuungsangeboten.

Hauptsächlich durch aufsuchende Sozialarbeit wird der Zugang zu Migranten geschaf-


fen und findet häufig auf der Straße statt. In einigen Städten haben sich Ärzte dazu
bereit erklärt, in einem Wohnmobil medizinische Versorgung anzubieten. Hier können
die Klienten behandelt werden, können kostenfreie Impfungen gegen Hepatitis A und B

205
vgl. AKSD- Leitlinien, 2003, S. 144.
206
vgl. AKSD- Leitlinien, 2003, S. 166.
207
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 273.
208
vgl. Punkt 2.2. dieser Arbeit.

80
Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit

bekommen, sich regelmäßig auf sexuell übertragbare Krankheiten untersuchen lassen


und können ärztlichen Rat einholen. Wichtig ist es Printmedien zu verteilen, die Infor-
mation und Wissen über HIV/Aids, STI und Angebote der Anlaufstellen beinhalten,
jeweils in den Sprachen der unterschiedlichen Herkunftsländer der Migranten. Die
Übersetzungen müssen so formuliert werden, dass es auf Grund der unterschiedlichen
Kulturen nicht zu Beleidigungen oder Missverständnissen kommen kann, über deren
Normen und Werte. Vielmehr soll eine kul-
turgemäße Diskussion herbeigeführt werden
und durch aktive Beteiligung der Migranten
gemeinsame Lösungsstrategien und Lö-
sungswege erarbeitet werden.
Es ergeben sich finanzielle Schwierigkeiten
in der medizinischen Versorgung der Mi-
granten, da sie nicht krankenversichert sind
Abb. 6: Wohnmobil der Einrichtung
SUB/WAY e.V.Berlin und somit keinen Anspruch auf die üblichen
Angebote im Sozial- und Gesundheitswesen
haben. Durch Spenden und Patenschaften von Privatleuten werden in einigen Einrich-
tungen diese Angebote geschaffen und aufrechterhalten.

Ein wichtiger Bestandteil in der Arbeit mit Migranten sind Beratungsgespräche. Wo es


in Beratungsgesprächen mit deutschen Strichern häufig um die Themen Professionali-
sierung im Bereich der Prostitution geht, sexuellen Missbrauch, Sozialhilfeberatungen
und Wohnungssucheunterstützung oder um Ausstieg aus der Prostitution, fokussiert
sich die Beratung für Migranten auf den ausländerrechtlichen Bereich. Es wird Unter-
stützung angeboten bei Anträgen von Aufenthaltserlaubnissen jeglicher Art, bei Asylbe-
ratung, bei Antrag auf Befristung bei Einreisesperren, über die Möglichkeit zum Studi-
um in Deutschland und Deutschkursen, über Saisonarbeiterregelungen, über spezielle
Ausbildungsmöglichkeiten für Migranten, Visumsverlängerung bzw. Überschreitung
und juristische Vertretung bzw. Beistand bei gerichtlichen Verfahren. Ebenso werden
Information gegeben über weltweite Visumsregelungen, über Arbeitserlaubnisse in
Deutschland und über Möglichkeiten eines geregelten Aufenthaltes durch Heirat.209

209
Vgl. DAH-Seminar: Protokoll vom 05.-07.12.2005.

81
Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit

Dies erfordert gute Kenntnisse der Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen im Ausländer-


recht.

9.3. Professionalität in der Stricherarbeit

Um seitens der Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen professionell arbeiten zu können,


wurden vom AKSD bestimmte Leitideen, basierend auf den Erfahrungen dieser Mitar-
beiter/ Mitarbeiterinnen entwickelt, die sowohl Möglichkeiten aber auch Grenzen in der
Arbeit mit Strichern aufzeigen. Auch bei der Befragung der einzelnen Einrichtung hat
sich gezeigt, dass folgende Merkmale sowohl bei Konzeptentwicklungen aber vor allem
bei der praktischen Arbeit im Mittelpunkt stehen müssen. „Professionalität ist das
Wichtigste, sonst hält man es nicht aus.“210 Zur Professionalität gehört, wie ein anderer
Mitarbeiter einer Einrichtung beschreibt, dass man erkennt, dass die Klientel in dieser
Arbeit überwiegend aus Migranten besteht und somit auch die Angebote dementspre-
chend auf diese Klientel ausgerichtet werden muss.

• Akzeptanz: Diese spielt in der Arbeit mit Strichern eine große Rolle. Es ist wich-
tig, die Themen der Klienten anzunehmen ohne dass Moral- und Wertevorstel-
lungen der Mitarbeiter hier einfließen und ohne den Lebensstil der Klienten zu
beurteilen. Die Ziele des Klienten, der Klient entscheidet über seine Ziele, ste-
hen im Mittelpunkt und müssen berücksichtigt werden.
• Parteilichkeit: In der Beziehungsarbeit mit Strichern bedeutet Parteilichkeit für
den Stricher, dass klar gezeigt wird, dass Sozialarbeiter ausschließlich für die
Stricher da sind und somit nur in seinem Auftrag handeln. Es ist aber von großer
Bedeutung, dass nicht nur die Interessen des Einzelnen vertreten werden, son-
dern die der gesamten Zielgruppe. Es muss für die Klientel eine klare Abgren-
zung zur Freierarbeit ersichtlich sein. Einige Einrichtungen verzichten sogar
gänzlich auf die Arbeit mit Freiern, um sicherzustellen, dass die Parteilichkeit
nur den Strichern gilt, und um ihr Vertrauen nicht zu verlieren. Parteilichkeit be-
deutet auch, den Strichern zu signalisieren, dass es ihnen erlaubt ist, auf den
Strich zu gehen. Respektvolle Kritik kann hilfreich und sinnvoll sein und muss
nicht die Parteilichkeit in Frage stellen.

210
INTERVIEW I, Zeile 532- 533.

82
Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit

• Abgrenzung: Viele Stricher weisen starke sexualisierte Verhaltensweisen auf,


die auch oft gegenüber den Mitarbeitern gezeigt werden. Durch die gesellschaft-
liche Isolation und die erlebten Grenzverletzungen, hat die Beziehung der Stri-
cher zu den Sozialarbeitern/ Sozialarbeiterinnen einen hohen Stellenwert. Die
ständige Auseinandersetzung mit Nähe und Distanz ist hier erforderlich und es
muss seitens der Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen klargestellt werden, dass sie
nicht als „Flirtpartner“ in Frage kommen. Einige Einrichtungen haben Vertrags-
klausel, die besagen, dass bei Austausch von privaten Telefonnummern die
Kündigung droht. Viele Migranten wollen ihre Heterosexualität unter Beweis
stellen und somit sind vor allem Sozialarbeiterinnen Zielobjekte. Professionelle
Arbeit bedeutet hier sich klar aus der freundschaftlichen Rolle zu entziehen.
• Anonymität: Durch die hohe Institutionsscheu sowohl deutscher als auch auslän-
discher Stricher ist es wichtig für sie, anonym zu arbeiten um den Klienten Si-
cherheit und Vertrauen zu geben. Es sollten Namen der Klienten nur unter Ab-
sprache an Dritte weitergegeben werden.
• Freiwilligkeit: Es besteht keine Verpflichtung durch Institutionen für Stricher,
solche Einrichtungen in Anspruch zu nehmen. Dies bedeutet, den Klienten klar
die Möglichkeiten, Angebote und Ziele einer Einrichtung zu offenbaren, um so
das Interesse dieser zu wecken.
• Empowerment: Im Mittelpunkt steht hier die Stärkung des Selbstwertgefühls
und die Fähigkeit zur Selbstbehauptung. Viele Stricher zeigen eine defizitäre
Selbstbetrachtung, die durch den Ausschluss aus der Gesellschaft und ihre prob-
lematische Lebenssituation bedingt ist. Es ist wichtig, dass die Fähigkeiten der
einzelnen Klienten hervorgehoben und entsprechend bestärkt werden. Dadurch
soll ein eigenverantwortliches und selbstbewusstes Handeln angeregt werden.
• Verlässlichkeit: Es ist wichtig der Klientel in dieser Arbeit Kontinuität und ein
verlässliches Angebot sowie geregelte Zeiten zu bieten. Das heißt, nicht nur die
Anlaufstellen sollten ihre festen Zeiten haben, sondern auch die regelmäßige
Präsenz der Streetworker/ Streetworkerinnen in der Szene und klare Regeln sind
notwendig, um die Verlässlichkeit zu fördern. Der Lebensrhythmus der Stricher
ist sehr flexibel, spontan und geprägt von Unsicherheiten und Unregelmäßigkei-
ten. Deswegen ist seitens der Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen auch Flexibili-
tät und Spontaneität gefragt. Die Klienten müssen sich auf die Mitarbeiter/ Mit-

83
Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit

arbeiterinnen verlassen können. Allerdings muss weiterhin genügend Freiraum


für die Stricher bestehen, um nicht durch bindende Strukturen die Klienten wie-
der abzuschrecken.
• Bedürfnisorientierung: Diese setzt den Respekt gegenüber der Lebenswelt der
Stricher voraus. Unter bedürfnisorientiertem Arbeiten versteht man eine regel-
mäßige Bestandaufnahme der Zielgruppe und regelmäßige Evaluation der An-
gebote, ständige Weiterentwicklung von Konzepten und deren Umsetzung. Die
Partizipation der Stricher selbst muss gewährleistet sein, damit so eine Identifi-
kation mit den Projekten erzeugt wird. So richtet sich die Arbeit mit Strichern
auf deren Bedürfnisse aus.

9.4. Arbeitsbereich und Methoden in der Stricherarbeit

Die Methoden und Arbeitsweisen, die vom AKSD211 entwickelt wurden, gelten nicht
speziell für Migranten in der männlichen Prostitution, sondern allgemein für die soziale
Arbeit in der männlichen Prostitution. Zu jedem Arbeitsbereich gehören bestimmte
Arbeitsmethoden, die bestimmte Handlungen erfordern und die entsprechende Fach-
kenntnis voraussetzen.
Durch die jahrelange Erfahrung der Mitarbeiter, die in dem AKSD zugehörigen Stri-
cherprojekten arbeiten, wurden folgende Arbeitsbereiche und Arbeitsmethoden entwi-
ckelt, die in der Arbeit mit Strichern unbedingt erforderlich sind:

• Streetwork: Aufsuchende Sozialarbeit oder Straßensozialarbeit ist die häufigste


Kontaktform, bei der die Sozialarbeiter/ Sozialarbeiterinnen in den Lebensraum
der Klienten eintreten, wie Bahnhöfe, Parks, Bars und Kneipen. Diese Mitarbei-
ter/ Mitarbeiterinnen sollten immer in die Arbeit von Anlaufstellen eingebunden
sein, um die Kontinuität zwischen den bestehenden Angeboten zu fördern. Ge-
rade in der Arbeit mit Migranten ist Streetwork erforderlich, da Streetwork oft
den einzigen Zugang bedeutet. Hauptziel der Streetwork ist es, Erstkontakte zu
Strichern zu knüpfen, auf die Angebote der jeweiligen Anlaufstellen zu verwei-
sen und einen Überblick über die Situation der Stricher zu bekommen. Durch
den Einblick in deren Lebenswelt können gezielte Hilfen angeboten werden. Da

211
vgl. Punkt 2.2 dieser Arbeit.

84
Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit

der Streetworker/ Streetworkerin direkt in die Lebenswelt der Stricher eintreten,


ist es wichtig die Stricher in ihrer Anonymität zu belassen und entsprechende
Hilfen anzubieten und nicht als Kontrollinstanz zu erscheinen, sondern viel mehr
als parteilicher Informationsträger. Die Fortsetzung des Kontaktes in den An-
laufstellen ist notwendig, da Räumlichkeiten der Streetwork nicht die passenden
Bedingungen für z. B. eine intensivere Beratung darstellen.
• Anlaufstellen: Als weiteres niedrigschwelliges und szenenahes Angebot dienen
die Anlaufstellen. Hier erfolgen Beratungs- und Informationsgespräche und die
Grundbedürfnisse in psychischer und physischer Form der Klienten können e-
benso befriedigt werden. Es besteht nicht die Notwendigkeit zu Terminvereinba-
rungen, sondern die Möglichkeit, Beratungen und Angebote in Anspruch zu
nehmen, die auf die Lebensweise der Klientel zugeschnitten ist.212
• Einzelhilfe und Beratung: Diese
Methoden werden genutzt, um Stri-
chern in der Bewältigung psychoso-
zialer Probleme zu unterstützen
bzw. um eine Verbesserung der Le-
benssituation der Stricher zu errei-
chen. Dies bedeutet, Hilfestellungen
und Hilfsangebote zu entwickeln,
die gezielt auf den Einzelnen ge-
richtet sind und dessen Problemlage
entsprechen. Hier gilt der Ansatz,
Hilfe zur Selbsthilfe zu bieten. Es
ist eine besondere Feinfühligkeit er-
Abb. 7: Beratungsraum der Einrich-
tung looks e. V. forderlich, da diese Klientel immer
noch starke Vorurteile gegenüber den Beratern hegt. Zu diesem Bereich gehört
auch die Vermittlung an weiterführende Stellen oder Organisationen sowie die
Gefangenenbetreuung oder der Besuch von Klienten in Psychiatrien. Zum we-
sentlichen Bestandteil der psychosozialen Arbeit zählt die Beziehungsarbeit,
welche eine permanente Reflexion erfordert, eine relative Ich-Stärke sowie
Fach- und Sachkompetenz auf Grund der hohen emotionalen Belastung. Für den

212
Vgl. Punkt 2.2. dieser Arbeit

85
Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit

Stricher ist die Beziehungsarbeit sehr wichtig, da hier neue Verhaltensmuster


ausprobiert werden und entstehen können. Darüber hinaus können neue Kon-
fliktlösestrategien entwickelt werden, bei denen der Stricher lernt mit Aggressi-
on und Wut besser umgehen.
• Medizinische Versorgung: Nicht nur die aktive medizinische Versorgung steht
im Vordergrund, sondern es ist auch Ziel, die Hemmschwellen gegenüber ärztli-
chen Hilfen und institutionellen Organisationen abzubauen. Deshalb ist es wün-
schenswert, eine enge Kooperation mit den örtlichen Gesundheitsämtern und
Ärzten aufzubauen, um so eine effektive medizinische Versorgung und Präven-
tionsarbeit leisten zu können. Hilfreich ist ein ständiges Angebot für Stricher,
dass diese sich regelmäßig auf sexuell übertragbare Krankheiten untersuchen
lassen können, sich kostenfrei gegen Hepatitis A und B impfen lassen können
und der Möglichkeit einer dementsprechenden Behandlung. Zudem soll erreicht
werden, dass ein verantwortungsbewusster Umgang mit diesen Krankheiten er-
zielt wird, um die Lebenssituationen der Stricher zu verbessern. Das Angebot
muss freiwillig, anonym und kostenfrei sein, da viele Stricher, nicht nur Migran-
ten, nicht krankenversichert sind und oftmals sehr skeptisch gegenüber repressi-
ven Maßnahmen sind. Auch in diesem Bereich ist die aufsuchende Arbeit in der
Szene eine wichtige Methode.
• Vernetzung auf nationaler und internationaler Ebene: Da es in der männlichen
Prostitution häufig zu Wanderungsphänomenen der Klienten in Städte im inner-
und außereuropäischen Ausland kommt und die Problemkonstellationen der
Stricher sehr kompliziert und vielschichtig sind, ist eine Zusammenarbeit der
jeweiligen Stricherprojekte und anderen sozialen Einrichtungen sehr wichtig.
Um möglichst effektive und für die Klientel erfolgreiche Hilfestellungen bieten
zu können, ist eine Vernetzung auf nationaler und internationaler Ebene erfor-
derlich. Damit ist der Erfahrungsaustausch der einzelnen Einrichtungen gemeint,
die Empfehlung ausländischer Einrichtungen, die zum Beispiel Hilfe für HIV-
positive Klienten im Ausland anbieten.
• Öffentlichkeitsarbeit: Die Öffentlichkeitsarbeit dient vor allem dem Bewusstma-
chen von prostitutionsspezifischen Themen in der Gesellschaft. Durch Informa-
tionsarbeit und Informationsgespräche für Schüler/ Schülerinnen und Studenten/
Studentinnen, durch Printmedien, Presseberichte und persönliche Einladungen
zum Kennen lernen der Einrichtungen. Dadurch soll die Gesellschaft sensibili-
86
Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit

siert werden, um Stigmatisierung und Diskriminierung abzubauen, die immer


noch in unserer Gesellschaft besonders in Bezug auf Prostitution, Homosexuali-
tät und Migration vorhanden sind.
• Peer-Involvement: Dies bedeutet, dass Gleiche von Gleichen lernen. Da es in der
Stricherszene nur vereinzelt zu Gruppenbildungen kommt, auf Grund der starken
Mobilität der Stricher, ist diese Szene eher geprägt durch Vereinzelung. Es muss
hier mit Multiplikatoren gearbeitet werden, die in speziellen Schulungen ausge-
bildet werden und meist aus der Szene stammen. Die Ausgabe von Stricherzei-
tungen dient weiter als wichtiges und für Stricher relevantes Mittel, um Informa-
tion verbreiten zu können. Bei den Migranten kommt es häufiger zu Gruppen-
bildungen auf Grund ihrer gemeinsamen Herkunft, Kultur und Sprache. Einzelne
Migranten werden somit als peer-educator genutzt, um auch an schwer erreich-
bare Migranten Präventionsmaterialien und Informationen weitergeben zu kön-
nen. Durch peer-involvement soll aber auch das Selbstbewusstsein der Stricher
durch die Kenntnis über, z. B. Infektionswege von STI, Sexualpraktiken und
HIV-Relevanzen gestärkt werden und durch Training eine Sicherheit gegenüber
Freiern eingeübt werden, um Ausbeutung zu verhindern. Jedoch scheitert diese
Methode auf Dauer, da viele Jungs wandern und die Multiplikatoren einen Unsi-
cherheitsfaktor im Hinblick auf Verlässlichkeit darstellen.
• Präventionsarbeit: Der bekannte Ansatz aus der Präventionsarbeit, wo zwischen
Primärprävention, Sekundärprävention und Tertiärprävention unterschieden
wird, ist auch in der Gesundheitsprävention in der Stricherarbeit zu finden. So
wird unter Primärprävention die Verhütung und die Vorbeugung von Infektio-
nen und Krankheiten gesehen. Unter Sekundärprävention werden die Verhütung
und die Vorbeugung eines erneuten Auftretens einer Krankheit verstanden und
die Tertiärprävention, ist die Verhütung und Vorbeugung einer Verelendung.213
Die Orte, an denen die Präventionsarbeit stattfindet, sind nur durch aufsuchende
Sozialarbeit zu erreichen.
Man arbeitet mittlerweile nicht nur in der Gesundheitsprävention, sondern hat
Präventionskonzepte erarbeitet, die einen Eintritt in die Prostitution verhindern
bzw. reduzieren sollen. So war SUB/WAY e.V. in Berlin eine der ersten Einrich-
tungen, die Präventions- und Aufklärungsarbeit in Schulen ins Leben gerufen

213
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 198f.

87
Schlussfolgerungen für die soziale Arbeit

hat, um dort Mädchen und Jungen über Pädophilie und deren Strukturen aufzu-
klären. Es wird gemeinsam mit den Kindern erarbeitet, wie man solche Männer
erkennt, was zu tun ist, falls es zu solchen Annäherungsversuchen kommt und
man versucht ihnen ihre Hemmung zu nehmen, diese Themen mit Erwachsenen
anzusprechen.
Durch die immer größer werdende virtuelle Szene im Internet, die für die Sozi-
alarbeiter/ Sozialarbeiterinnen nicht mehr durch persönliches Streetwork er-
reichbar ist, ist es äußerst sinnvoll, auch in diesen Portalen Präventionsarbeit zu
leisten. Man kann auch im Internet klare verlässliche Angebote schaffen, kann
Online-Beratungen anbieten oder auch Erstkontakte zu Klienten knüpfen. Des-
wegen ist es wichtig, auch Seiten einzurichten, auf denen Jungs die Möglichkeit
haben, Informationen über relevante Themen zu bekommen. Auch in der Arbeit
mit Migranten ist das Internet von Vorteil, da Seiten in bestimmten Portalen ein-
gerichtet werden können, die dann über die Situation in Deutschland aufklären,
um zu verhindern, dass junge Männer und Jugendliche durch die große Enttäu-
schung von Deutschland in die männliche Prostitution gelangen.214

9.5. Aussichten

In dem Bereich der männlichen Prostitution wird Migration immer ein Thema bleiben.
Die Klientel ist einem ständigen Wandel unterzogen, der abhängig ist von unterschiedli-
chen Faktoren wie EU-Zugehörigkeit, wirtschaftliche Situation und politische Lage der
Herkunftsländer. Noch vor einiger Zeit haben sich vor allem polnische und tschechische
junge Männer in dieser Szene aufgehalten. Heute sind es zunehmend Migranten aus
Rumänien und Bulgarien. Durch die immer größer werdende materielle Not ist ein
Anstieg von russischen und moldawischen jungen Männern zu beobachten. Dies bedeu-
tet für die soziale Arbeit erneut umzudenken und sich wieder in andere Kulturen hinein
zu versetzten. Frühzeitige Präventionsstrategien und das Vorbereiten durch kulturelles
Wissen auf diese Klientel sind notwendig, um so frühzeitig die geeigneten Hilfestellun-
gen geben zu können.

214
vgl. FINK/ WERNER, 2005, S. 263f. sowie INTERVIEW II, Zeile 478ff.

88
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Chancen und Herausforderungen. http://www.fgje.de/szenarien/laender/ro.htm,
Stand: 19.09.2006.

93
Anhang 1: Abbildungsverzeichnis

11. Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: graphische Stichprobe.


Quelle: eigener Entwurf.

Abbildung 2: Abbildung des Bereiches vor der Einrichtung sub/ way in Berlin.
Quelle: eigene Photografie.

Abbildung 3: Karte von den Ländern in Osteuropa, zu sehen vor allem Rumänien und
Bulgarien. Die roten Markierungen sind gekennzeichnete Städte, aus denen Klienten
stammen in der Einrichtung sub/ way Berlin.
Quelle: eigene Photografie.

Abbildung 4: Abbildung des Türschildes von looks e. V. in Köln.


Quelle: eigene Photografie.

Abbildung 5: Graphik über die Klienten der verschiedenen Länder in absteigender


quantitativer Folge.
Quelle: eigener Entwurf.

Abbildung 6: Wohnmobil für medizinische Zwecke und Kurzerholungsraum für Klien-


ten von sub/ way in Berlin.
Quelle: eigene Photografie.

Abbildung 7: Abbildung eines Beratungszimmers in der Einrichtung looks e.V. in


Köln.
Quelle: eigene Photografie.

95
Anhang 2: Interviewleitfaden

12. Interviewleitfaden

Interviewleitfaden für die Befragung zur Diplomarbeit


„Tabuthema männliche Prostitution-
eine Herausforderung für die soziale Arbeit“

Daten der InterviewpartnerIn


Alter
Beruf (wie lange)
Motivation für diese Arbeit

Tabuisierung männlicher Prostitution


persönlich
Stricher und Freier
Gesellschaft

Stricher
Herkunftsländer der Stricher – Situation dieser Länder
Aktuelle Zahlen in dieser Stadt, deutschlandweit
Kulturelle Hintergründe
Homosexualität, Prostitution in diesen Ländern
Aufenthaltsstatus ( wie lange bleiben die meisten in D.)
Identitäten / Professionalität der Stricher
Motivation der Stricher
Wanderungsphänomen und Wohnsituation (obdachlos, beim Freier, ei-
gene Wohnung..)
Schleuserorganisationen

97
Anhang 2: Interviewleitfaden

Freier
speziell Freiertypen
aktuelle Zahlen
Gewalt zwischen Freier und Stricher
Identitäten der Freier
Geschlechterverteilung
Zugang zu Freiern und Zusammenarbeit

Erfahrungen in der Praxis


Konkreter Ablauf eines Hilfeprozesses (Kontaktaufnahme, Ziele, Erfol-
ge)
Erschwernisse/ Hindernisse in der Kontaktaufnahme verglichen mit
deutschen Strichern
Umgang mit Erschwernissen
Konkrete Beispiele

Problemlagen von Strichern


Probleme und Konflikte aus den Herkunftsländern
Probleme und Konflikte in Deutschland in Bezug auf
- Integration
- Gewalt
- den Aufenthaltsstatus
- die Wohnsituation
- psychische Auffälligkeiten oder Störungen
Probleme und Konflikte zwischen deutschen und ausländischen Stri-
chern

Gesundheit
Umgang mit HIV/ Aids und STD verglichen zu deutschen Strichern
Aufklärung von Safer Sex- Praktiken
Drogenabhängigkeit

98
Anhang 2: Interviewleitfaden

Herausforderungen und Grenzen für die soziale Arbeit


Herausforderungen und Grenzen
Ziele
Rolle des Geschlechts der SozialarbeiterIn ( Wer hat besseren Zugang;
Ängste…)
Utopien
Defizite

Aufgabenbereiche der SozialarbeiterIn


Kooperation mit anderen Institutionen im Inland und Ausland (weiter-
führende Projekte im Ausland, Zusammenarbeit mit Einrichtungen)
Reflexionsmöglichkeiten ( gibt es die Möglichkeit, besteht Bedarf)
Zeitlich räumliche Organisation der Arbeit (Flexibilität durch Erreichbar-
keit der Klienten, Streetwork, Notschlafstelle)
Reflexionsvermögen
Parteilichkeit für die Klienten (Was spielt dies für eine Rolle und wie zeige
ich mich gegebenenfalls für das Klientel parteilich?)
Professionalität (was macht in diesem Bereich Professionalität aus und was
sehen sie als unprofessionell?)

Abschließende Worte und Ergänzungen


Wünsche
Äußerungen
Anregungen

99
Anhang 3: Interview I

12. Anhang

Interview I, Berlin

5
Tabuthema
In meiner Arbeit ist Prostitution Alltag und Gang und Gebe. Ich weiß, dass von Außen-
seitern männliche Prostitution durchaus noch tabuisiert wird, andererseits wenn man
große Städte nimmt wie Berlin, ist das schon Alltag und nur wer es nicht sehen möchte,
10 sieht es nicht. Es ist Tabuthema bei bestimmten Schichten, bei bestimmten Menschen.
Es ist viel mehr Tabuthema in den Herkunftsländern der Jungs, als in Deutschland
selbst. Man muss sehen, wie angenommen die homosexuelle Lebensweise in Deutsch-
land ist und wie selbstverständlich dies ist. Dann ist auch die dazugehörige Prostitution
akzeptiert oder toleriert. Es gibt viele Situationen, wo man sagen kann, dass die Leute
15 Vorurteile darüber haben. Das treffe ich oft bei Ämtern. Die Polizei arbeitet täglich mit
dieser Zielgruppe und sie zeigen auch ganz klar, dass sie Vorurteile haben. Für ein Tabu
halt ich das jetzt nicht. Es hat sich was geändert in den letzten Jahren. Ein Tabu ist es
eindeutig noch in den Herkunftsländern. Hier gibt es noch den Grund zu Vorurteilen,
was nicht besser ist. Stricher und Freier sehen das selbst sehr unterschiedlich, je nach
20 dem wie selbstbewusst sie sind. Es gibt Stricher, die sehr gut damit umgehen und
durchaus sehr professionell sind und damit keine Stricher mehr sind. Genauso gibt es
Freier, die sehr selbstbewusst damit umgehen, dass sie als Freier leben und käuflichen
Sex bevorzugen bzw. damit leben dass sie mit käuflichem Sex glücklich werden. Es gibt
wiederum Jungs und erwachsene Männer, die nicht mit ihrer Rolle klar kommen und
25 dann die entsprechende Problematik mitbringen.

Stricher
Das Durchschnittsalter der Migranten liegt etwa bei 18,5, kurz über der Volljährigkeit,
eher 19. Das Mindestalter haben wir hier irgendwo bei 12 gehabt und nach oben ist es
30 offen. Es gibt Stricher mit 45. Das sind Stricher und keine Callboys und das sind Män-
ner mit Glatze, die anschaffen. Es ist nicht vorrangig unsere Zielgruppe, wir kennen
diese, geben ihnen Kondome und sehen zu wie sie alt und grau werden, aber es sind
nicht so viele. Es sind viele Migranten, die z. B. auch schon frühere Erfahrungen in
101
Anhang 3: Interview I

diesem Bereich haben, die immer wieder wenn es ihnen dreckig geht, hier ein bisschen
35 Geld verdienen wollen bzw. eine Szene finden wollen, wo sie sich wohl fühlen, wo sie
ein bisschen trinken und wenn es sich ergibt, dann auch verdienen. Zwischen 12 und 45
kennen wir sehr viele, aber die Extreme sind sehr selten. Es passiert sehr oft, dass die
älteren deutschen Stricher auch selber Freier sind, aber bei den Migranten passiert das
eher selten. Oft ist es so, dass viele Leute, die hier wohnen, auch Migranten in zweiter
40 Generation, solche Freierstrukturen nachmachen. Aber es handelt sich eher um Aus-
nahmen. Kontinuierlich seit 1994 sind Rumänen auf dem ersten Platz, fast gleich viele
Bulgaren, es sind immer Wellen von Leuten. Anfänglich gab es sehr viele Polen, gerade
aus dem Pendelbereich, das heißt Polen, die übers Wochenende hierher gekommen sind.
Diese waren Schüler und Studenten, schwule Jungs die sich einfach austoben wollten,
45 auch drogenabhängige Polen. Die Zahl der Polen ist allerdings zurückgegangen. Auch
die Zahl der Tschechen ist zurückgegangen. Nach Rumänien kommen all die Länder
aus dem ehemaligen Jugoslawien. Wir arbeiten differenziert, d. h. wir machen einen
größeren Unterschied zwischen dem Kroaten, der hier als Transvestit anschafft und dem
kleinen bosnischen Flüchtlingskind, das hier in der Szene auch anschafft. Danach
50 kommen in der Reihenfolge die Polen, Litauer und Tschechen, unterschiedlich nach
Saison. Wir unterscheiden in Regionen, d. h. wir haben Südeuropäer, Osteuropäer und
jetzt die arabischen Staaten wie Türkei, oder auch Lateinamerikaner. Diese Gruppe ist
auch sehr groß. Wenn man die Entwicklung im Laufe der Jahre beobachtet, dann sieht
man und merkt, dass auch in Zeiten, als Rumänien und Bulgarien überhaupt nicht nach
55 Europa reisen durften, die Zahlen der Stricher aus den Ländern konstant hoch waren. Es
ist eine große Erleichterung für Leute aus diesen Ländern, dass sie nun die Reisefreiheit
haben. Seit 2002 können die Bulgaren und Rumänen frei nach Europa 90 Tage im
halben Jahr reisen und sich praktisch unbegrenzt hier aufhalten. Das macht schon, dass
die Fluktuation einerseits konstant ist, fast ein Schichtwechsel, sie kommen in Zyklen,
60 in jeweils etwa 90 Tage zu unterschiedlichen Zeiten. Davor waren diese hier als Asyl-
bewerber und waren keine Pendler. Das ist ein neues Phänomen, was mit dieser Reise-
freiheit verbunden ist und damit verbinde ich auch die osteuropäischen, baltischen
Länder. Es gibt sehr viele, die gerade deswegen kommen. In Rumänien, Bulgarien und
Jugoslawien ist die Religion nicht sehr wichtig in der Weltanschauung der Leute, d. h.
65 alle sind sich bewusst, dass sie Orthodoxe sind, wobei aus Bulgarien zur Zeit fast nur
Moslems kommen. Die Religion ist nicht entscheidend. Die meisten sind in ihrer Welt-
anschauung nicht von ihrer Religion getrieben, sondern sie haben ein Weltanschauung,

102
Anhang 3: Interview I

die nur die Wurzeln hat, z.B. haben die Leute, grundsätzlich die Einstellung in Bezug
auf Homosexualität, dass das etwas ganz Böses, Krankhaftes ist, was die Gesellschaft
70 zersetzt und gegen den Willen der Natur und Gottes ist. Die kulturellen Unterschiede
sind aber auf einer ganz anderen Ebene z. B, was die Lebensplanung betrifft. Wenn man
hier sogar als am Rande der Gesellschaft stehender Mensch sich einige Pläne macht,
wird dort von heut auf morgen, auch in wirtschaftlichen Aspekten wird von der Hand in
den Mund gelebt. Das Wichtigste ist der Bezug zum Geld, zum Vermögen, zum Eigen-
75 tum. Prostitution ist schlecht angesehen in diesen Ländern. Es ist eine Sache, die nir-
gendwo gut angesehen wird, nichts, womit man sich schmücken kann. Aber wir beden-
ken eine andere Sache, nämlich aus welchen Schichten diese Leute dort kommen. Wenn
diese sich anstrengen, werden sie Straßenfeger, was in Rumänien eine Schande ist. Aber
wenn man in Rumänien Straßenfeger ist, bekommt man von der Stadt ein Schandezu-
80 schlag. D.h., man bekommt dann 500 Lei als Zuschlag. Das ist ein Beruf, wo man sich
schämen muss. Das bekommen die meisten da, wenn sie die Rromas bedenken, die
Leute aus den untersten Schichten oder im besten Fall, wenn sie Bauern sind, Tagelöh-
ner. Wenn sie hierher kommen und sich hier als Sexarbeiter sehen, dann haben sie einen
Sprung nach oben gemacht. Deswegen ist ihre Selbstwahrnehmung durchaus positiv.
85 Sie machen was, sie haben Freier, die wer weiß berühmte Fußballtrainer oder Schau-
spieler sind oder durchaus reiche Männer sind, macht sie das etwas stolz und so ist das
auch ein Sprung nach vorne. Finanziell gesehen und auch sozial, denn man darf nicht
vergessen, was aus ihnen geworden wäre, wenn sie zu Hause geblieben wären. Es wird
zu Hause was ganz anderes erzählt, was man hier macht, meistens reduziert man das auf
90 irgendwelche Berufe in der Gastronomie, dass sie in irgendeiner Bar arbeiten oder sogar
tanzen, wenn sie etwas mutiger sind und schon Andeutungen auf etwas Erotisches in
ihrem Beruf machen wollen. Aber keiner von ihnen sagt, dass er Stricher ist. Mit der
Zeit, wenn man die Familien selbst kennt, was mir auch öfters gelungen ist, stellt man
fest, dass sie Bescheid wissen, was sie machen. Aber sie stellen sich vor dass ihre
95 Kinder diejenigen sind die den aktiven Teil übernehmen. Das ist dann weniger schwer
sich das vorzustellen, wie wenn sie passiv wären. Man sieht die Sexualität in Südosteu-
ropa, nicht im Sinne von Osteuropa wie Russland, Polen usw. eher Rumänien, Türkei
und Bulgarien, als zwei Sorten von Menschen, Männer und Frauen, Kerle und Weiber,
dass heißt die, die den Schwanz reinstecken. Die sind immer erst gut angesehen, da sie
100 die Aktiven sind. In was sie ihren Schwanz reinstecken, das ist weniger wichtig. D.h. es
wird durchaus toleriert, wenn jemand den aktiven Part spielt. Du machst den Mann

103
Anhang 3: Interview I

glücklich, letztendlich hast du ihn erniedrigt, du hast ihn besessen, dadurch warst du der
Stärkere. Vielleicht hast du auch Macht ausgespielt, es soll aber nicht mit Gewalt
gleichgestellt werden. Es wird aber nicht so negativ angesehen. Wesentlich schwerer
105 haben es die, die effeminiert sind, die eindeutig den passiven Teil spielen und eindeutig
die „Flittchen“ sind. Dann werden sie auch dementsprechend von der Öffentlichkeit
bestraft. In jeder Wertvorstellung, sobald sie sich nicht allzusehr integriert haben, ist das
ohne Wert, das sehen sie keinesfalls als Berufserfahrung, als Professionalität. Das sehen
sie eher in geschlossenen Kreisen, wo sie wissen, wie man anschafft, wie sie Männer
110 nach sich verrückt machen. Aber sie würden damit niemals nach außen protzen. Geld ist
die wichtigste Motivation, ein bisschen Abenteuerlust, hin und wieder. Nicht die Regel,
aber anzutreffen, dass sie selbst schwul sind und das vor Ort nicht ausleben können. Sie
wissen, dass es in Deutschland legal ist, dass man sich da austoben kann ohne dass man
negativ abgestempelt wird, ohne jegliche Folgen. Deswegen kommen sie dann auch.
115 Aber das wichtigste ist das Geld, welches fast alles zurück zu den Familien gegeben
wird. Die schwulen Jungs machen das meistens nur für sich und schicken nichts zur
Familie. Sie übernehmen auch die Wertvorstellungen der westeuropäischen Schwulen
sehr schnell. Es wird ihnen dann eingeredet, dass Familie scheiße ist usw. und versu-
chen das zu kopieren. Deswegen verwenden diese fast alles für sich. Die meisten haben
120 eine eigene Familie zu Hause mit Frau und Kindern. Ich würde sie nicht unbedingt als
homosexuell bezeichnen, sondern bisexuell. Wir haben diese Geschichten, als jemand
gesagt hat, dass er bisexuell ist, da er hier homosexuell ist und zu hause heterosexuell
ist. So wird es nicht jeder bezeichnen, aber die meisten haben eine Familie, weil sie es
so sehen, dass Sex mit Männern Spaß macht, aber es ist nichts für die Zukunft. Man
125 kann kein Haus bauen, nicht im Alter mit dem gleichen Mann zusammenbleiben. Das
ist deren Erfahrung. Zu diesem Entschluss kommen sie, nachdem sie hier mehrere Jahre
schwul gelebt haben, dass sie niemanden halten können. Sie kennen von der Szene nur
den Teil, in dem nur sehr oberflächlich umgegangen wird. Dann kommen sie zu dem
Entschluss, dass sie mit Männern zwar Spaß haben, aber sie versuchen, eine Frau zu
130 finden, die Verständnis dafür hat, dass sie mit Männern Spaß haben, aber trotzdem mit
dieser Frau leben möchten und Haushalt und Kinder haben möchten. Es ist ein falsches
Bild, das sie von Homosexualität vermittelt bekommen, aber die Szene ist mit nichts
besser. Das was sie in dieser Szene kennen lernen und auch das, was sie am Rande der
Szene kennen lernen, wo ohne Geld mit sehr viel Promiskuität, Sex mit Unbekannten
135 praktiziert wird, ist das was ihnen zugänglich ist. Die anderen Bereiche des schwulen

104
Anhang 3: Interview I

Lebens, wo durchaus auf den anderen Menschen eingegangen wird, sind ihnen einer-
seits wegen der Sprache nicht zugänglich, andererseits wegen dem großen Misstrauen
der Menschen selbst gegenüber. Und hier kommen die Vorurteile über Stricher ins
Spiel. Oft kam es vor, dass Stricher mit den Erwartungen, schwul zu leben und als
140 solches wahrgenommen zu werden, hierher kommen. Diese stellen aber leider fest, dass
sie als Sexobjekt gelten und zum Beispiel durch ihre dunkle Hautfarbe nicht wahrge-
nommen werden. Dann kommen Dramen und Tragödien zu Stande, da sie zu Hause
entwurzelt sind, hier gar nicht akzeptiert sind und mit Anfang 30 werden sie dann für
alte Knochen gehalten. Dann kommt es häufig zu Selbstmordversuchen, da sie nir-
145 gendwo ihren Platz finden. Hier sind sie nicht mehr jung und knackig genug aber immer
noch ein billigeres Sexobjekt. D. h. sie kriegen nicht immer ihr Geld zusammen. Die
Mehrheit ist hier als Tourist, darauf wird auch akribisch geachtet, dass die Zeiten nicht
überschritten werden, damit sie wieder zurück können. Das Visum ist in sechs Monaten,
90 Tage bei mehrmaligen Ein- und Ausreisen, berechnet ab dem ersten Tag der ersten
150 Einreise. D. h. die westeuropäischen Grenzbehörden und Polizisten kucken nicht so
genau, wann zum ersten Mal eingereist wird, sie kucken nur genau, dass nach der
letzten Ausreise nicht gleich wieder eine Einreise kommt. Eigentlich findet die Kontrol-
le nur durch die Heimatbehörden statt, und diese sind sehr streng. Wenn Leute einen
Tag später kommen als die 90 Tage, wird ihnen der Pass eingezogen und sie bekommen
155 viel Ärger. Man muss dann von Glück reden, dass man dann jemanden kennt, den man
vielleicht schmieren kann, um seinen Pass zurückzubekommen oder muss mit Sperre
rechnen. Ich habe sehr viele Jungs, die ein Sperre für zwei drei Jahre zu ihren Heimat-
ländern bekommen haben. Diese Länder haben einen Auftrag von der EU bekommen,
ihre eigenen Leute zu kontrollieren und zu bestrafen. Es gibt keine Schleußerorganisati-
160 onen, aber es gibt deutsche Freier, die sich Jungs von dort holen, die eindeutig Men-
schenhändler sind. Aber sie machen das für sich selbst und sitzen deswegen nicht im
Knast. Sie werden als Menschen mit zahlreichen Sexualpartnern angesehen, aber wir
sehen sie schon als Menschenhändler. Es gibt in ganz Europa ein Wanderungsphäno-
men, es ist bekannt, dass in Südeuropa im Vergleich zu Nordeuropa viel Arbeit ist, dort
165 boomt es, man geht nach Spanien z. B., nicht nur aus Deutschland sondern genauso gut
aus Rumänien, vor allem deswegen, da es nicht schwer ist für sie Spanisch in kurzer
Zeit zu lernen, wegen der Verwandtschaft der Sprachen. Außerdem bekommt man
sofort einen Arbeitsvertrag, der legal ist, vor allem im Agrarbereich und in der Bau-
branche. Nach den Attentaten vom 11. März in Madrid sind die ganzen Schwarzarbeiter

105
Anhang 3: Interview I

170 aus dem Land geschafft worden, wovon die meisten Marokkaner waren. Das waren
durchaus Hassaktionen gegen diese Gruppe. Dann gab es extrem viel Arbeit und die
Regierung hat akzeptiert, speziell Rumänen, Ukrainern und Bulgaren Saisonarbeitsplät-
ze anzubieten. Das ist unabhängig von der Prostitution, aber wenn in Spanien die Erd-
beererntezeit anfängt, ist dies lukrativer als hier rumzuhängen und auf irgendeinen
175 Freier zu warten. Dann macht man sich auf den Weg, man kauft sich zu fünft ein Auto
und fährt nach Südspanien und fährt die Farmen ab und bekommt einen Arbeitsvertrag.
Genauso im Herbst, wo es hier relativ trübe zugeht, kann man sich ins Auto setzten und
nach Italien, Kalabrien fahren und Artischocken ernten. Die Stricher, die nicht sehr gut
angedockt sind, keine super Wohnung bei einem super Freier haben und nicht sehr gut
180 verdienen und nicht sehr viel investiert haben in ihr Aussehen usw., diese sind flexibel
und fahren da hin, wo es irgendetwas gibt. Sie sehen sich als Wanderarbeiter, haben
keine reine Stricheridentität. Also vorübergehend ansässige Migranten, die eben auch
Stricher sind. Sie sind Stricher heute hier, morgen in Milano am Bahnhof warten sie auf
Arbeit, in der Zeit in der sie warten, machen sie dann eben auch noch einen Freier. Aber
185 sie denken, sie sind Bauarbeiter. Innerhalb Deutschlands ist die Fluktuation natürlich
geringer. Bekannt ist, dass Leute für einen Wochenendtrip sich nach Hamburg oder
Köln bewegen, um dort zu verdienen. Sie verdienen da an einigen Tagen auch ganz
schön, aber sie kommen immer zurück, da wo sie angedockt haben, wo sie Leute ken-
nen, wo sie Freier kennen. Das soziale Umfeld ist entscheidend. Man möchte sich
190 immer irgendwie auskennen und das ist das Entscheidende. Die Gruppen werden
erstmal örtlich festgelegt, d.h. Leute aus einer bestimmten Gegend, möglichst gleicher
Ort und möglichst gleiche ethnische Herkunft und gleiche soziale Herkunft, tun sich
zusammen und sind dann als Gruppe sehr stark. Zum Beispiel schaffen Rromas mit
ihrer Gruppensolidarität das, was die Bedingung zum Überleben ist. Es gibt viele unter
195 ihnen, die nicht überlebensfähig wären in der Sprache, der geistigen Fähigkeit, zu
begreifen, was hier los ist, die Fähigkeit, fürs erste Essen und für das schlafen zu sor-
gen, haben diese nicht. Aber trotzdem kommen diese. Dadurch, dass sie Mitglied in
einer Gruppe sind, werden sie sofort aufgenommen, untergebracht, essen wird organi-
siert, es wird brüderlich geteilt. Sie sind zwar auch sehr hart untereinander, aber sie
200 unterstützen sich in ihren inneren Strukturen, die auch weitergehen. Diese Netzwerke
sind nicht auf einen Ort bezogen, man hilft sich auch unter den Rromas, die hier in
Deutschland aus jugoslawischer Herkunft leben. Es entstehen Hilfsnetzwerke, die nicht
zu unterschätzen sind. Diese sind sehr wichtig und machen sehr viel Arbeit, welche wir

106
Anhang 3: Interview I

gar nicht leisten könnten. Konkurrenz ist hier total out. Es ist als sehr schlecht in dieser
205 Szene angesehen, sich wegen eines Freiers zu streiten. Das sind nur Freier und für die
streitet man sich nicht. Andererseits in der weiblichen Prostitution ist es unfair, wenn
sich jemand vordrängelt, das ist hässlich. Das ist sehr schlecht für deren Ruf und die
Karriere ist somit auch beendet. Je nach Saison und je nach Gruppe, schaffen es die
großen Gruppen, obwohl sie die wenigsten Chancen hätten, in diesem Land überhaupt
210 an irgendein Zimmer zu kommen, schaffen sie es durch das verlängerte Netzwerk der
Rromas. Sie wohnen meistens bei anderen Rromas, die sehr billig eine Unterkunft
bieten. Sie sind gewohnt auf engem Raum zu wohnen, deswegen werden gerne von drei
Zimmern zwei vermietet. Man nimmt dann etwa fünf Euro pro Nacht. Das ist ein Zu-
satzeinkommen oder eine brüderlich Geste. Dann gibt es noch die Variante der etwas
215 selbstständigeren Jungs, wo diese meistens durch Vermittlung eines Freiers eine Woh-
nung mieten, da sie nicht selber mieten dürfen. Der Freier hat natürlich auch Vorteile
davon, sexueller Art, mietet die Wohnung und vermietet diese weiter an die Jungs, die
ihn zahlen. Das ist eine andere Variante. Das ist sehr erwünscht bei uns, da dies wie
eine Stricher - WG ist. Der Freier ist letztendlich derjenige, der die Kontrolle hat, wer
220 reinkommt, aber man kann durchaus sich mit Freunden oder Gleichgesinnten zusam-
mentun und durchaus selbstständig leben. Natürlich muss man immer wieder den Freier
zufrieden stellen. Es gibt keinen Freier, der aus humanitären Gründen gehandelt hat.
Alle die ich kannte, haben mich irgendwann enttäuscht, weil sie die Jungs ausgenutzt
haben und das ist leider so. Es gibt die dritten, die sehr europäisch wirken und deutsch
225 sprechen können, die können sich einmieten und sich einen Mietvertrag organisieren.
Wenn sie für die Kaution das Geld haben, dann kuckt keiner mehr auf den Pass, ob er
jetzt letztendlich Europäer ist, oder übermorgen Europäer, das ist für viele dann egal.
Gerade wenn dann noch ein Makler beteiligt ist, der seine Vermittlungsgebühr be-
kommt, für eine miese Wohnung, ist er sehr glücklich dass er jemanden untergebracht
230 hat. Nicht zu vergessen und für uns auch die wichtigste Zielgruppe sind die Obdachlo-
sen. Es gibt sehr viele Obdachlose, es gibt viele, die es nicht hinkriegen, wo zu schlafen,
besonders im Winter ist das dramatisch. Im Sommer schlafen viele draußen, aber im
Winter versuchen wir sehr viel zu vermitteln. Das ist eine unserer größten Sorgen. Es
gibt Obdachlosenheime, die auf einem bestimmten Level jeden unterbringen und es gibt
235 Heime, die etwas bessere Einrichtungen sind, wo man Sozialarbeit leisten muss, damit
da jemand wohnen darf. Das Durchschnittseinkommen ist wesentlich geringer als in der
weiblichen Prostitution, weniger als man sich vorstellt, kann aber auch in Ausnahmefäl-

107
Anhang 3: Interview I

len sehr hoch sein. Ich würde sagen, Jungs, die in einer Woche ca. 50 Euro verdienen,
können sich gut über Wasser halten. Das ist sehr wenig, aber das ist die Regel. Das ist
240 die große dunkle Masse, die versuchen in die Szene rein zu kommen. Sie sind mit 50
Euro essen und schlafen gerade an der Grenze. Es ist sehr wenig, aber hin und wieder,
einmal pro Woche gelingt ihnen doch ein 50-Euro extra Gewinn. Wenn man länger
dabei ist und die Tipps und die Geheimnisse in der Szene kennt, dann sind 600 Euro pro
Monat das Ziel der Jungs, die mehrere Male hierher gekommen sind. Das sind diejeni-
245 gen, die relativ regelmäßig kommen. Callboys gibt es aller Art, die 3000 pro Wochen-
ende nehmen, aber das sagen sie nur. Es gibt deutsche oder exotische Callboys, die
durchaus sehr viel Geld verdienen. In der Stricherszene sind die Preise so, dass man
über 25 fürs blasen nie bekommt. 50 für Analverkehr ist auch ein super Preis. Wenn
man bedenkt, dass momentan unheimlich wenig echte Geschäfte zustande kommen, es
250 wird zwar sehr viel angefasst und angebandelt in den Bars oder in der Szene, jedoch
ohne Bezahlung. Ein Freier pro Abend ist ideal, zwei ist Glück und drei ist paradiesisch.

Freier
Freier sind meistens Männer über der Lebensmitte, die von der Struktur her Sex für
255 Geld bevorzugen. Meistens sind sie beziehungsunfähig. Auch wenn sie mit gutem
Willen versuchen eine Beziehung einzugehen, versuchen sie es trotzdem mit einem
Stricher. Das heißt, es ist von Anfang an angesichts der beiden Komponenten zum
Scheitern verurteilt. Es findet selten konsequent statt. Sie belügen sich selber, dass sie
so viel helfen wollen und so viel machen müssen, weil die Stricher so arm sind und sie
260 sie unterbringen müssen. Sie bringen sich auch unter bei sich, Sex dazwischen ist ein
reiner Zufall. Das sind traurige Gestalten, die nicht sehen, wie sie sich selbst belügen.
Damit mache ich ihnen ein Kompliment, da aus meiner Sicht viele sehr bewusst die
Jungs ausnutzten. Ich kenne sehr viele, die regelmäßig Reisen nach Osteuropa machen,
die Jungs selektieren, sich von anderen Jungs Photos bringen lassen, junge Jungs, sehr
265 junge Jungs, diese auch bestellen und Geld für die Fahrt schicken. Dann wird der Junge
hergebracht und nach einer Woche kann der Junge gehen und wird auf die Straße ge-
stellt. Im besten Fall, wenn die Beziehung zwischen dem Freier und uns gut ist, bringen
sie den Jungen vorbei. Es wird von menschlicher Würde sehr wenig gehalten. Es gibt
auch gute Freier, welche, die Anwälte sind und mir Klienten um sonst vertreten, weil sie
270 was machen wollen, was gut ist. Es gibt viele, die Lebenspartnerschaften eingehen mit
ihren Lieblingsstrichern und auch dadurch helfen. Das ist zwar auch als echte Bezie-

108
Anhang 3: Interview I

hung nicht zukunftsträchtig. Es gibt die Deutschen, die rein schwul sind und sich auch
keine andere Lebensweise vorstellen können und mit denen man auch gut arbeiten kann.
Es gibt welche, die nicht bewusst sind, die das absolut ablehnen, gerade im Bereich, wo
275 wir in Sexkinos unser Streetwork machen, die behaupten, verheiratet zu sein und hete-
rosexuell nach außen leben. Das ist so die Regel. Sie sind aber auch nicht in der Lage,
die Rolle wahrzunehmen, dass sie Sex kaufen. Sie machen den Zufall dafür verantwort-
lich und achten auch auf Prävention nicht. Genauso die anderen, die selbstbewussten
schwulen Freier, achten auch nicht immer auf Prävention. Meistens, wenn wir da Kon-
280 dome verteilen, hör ich Sprüche, die einem Gedanken machen Wie schwer es einem
Jungen fällt sich durchzusetzen, dass mit Kondom gearbeitet wird, ist nicht zu verglei-
chen mit der weiblichen Prostitution. Da ist ganz klar, dass der Freier nichts zu sagen
hat. Hier wird immer noch versucht, es ohne zu machen. Da fragt man sich, was diese
Leute für einen Selbstrespekt haben, wenn sie in einer sexuellen Interaktion mit einem
285 Unbekannten eingehen, der tagtäglich verschiedene Sexpartner wechselt. Sie respektie-
ren sich selbst und andere nicht und diese Gruppe ist extrem gefährlich für alle. Es gibt
auch Freierinnen, wenn auch nicht so häufig, die wir auch kennen. Die gaukeln sich
noch mehr vor als die Männer, dass sie Helferinnen sind. Es wird noch mehr über die
Hilfeschiene gemacht. Es gibt auch selbstbewusste Freierinnen, die sich einen Jungen
290 für 40 Euro nehmen und ihn dann vor die Tür stellen. Es gibt auch welche, die gar nicht
zahlen wollen, weil sie denken, dass sie den Jungen verführt haben. Der Junge muss
dann ein Telefonat vortäuschen, wo die Mama Medizin braucht, um dann an Geld zu
kommen. Solche Simulationen kommen auch in der mann- männlichen Prostitution vor,
mehr aber noch in der frau- männlichen. Bei Männern vor allem dann, wenn sie sich auf
295 eine Zeit einlassen, wo sie mit dem Freier wohnen. So ist das auch in Thailand, wo die
Frauen sich auf die Zeit des Urlaub mit einem Mann auf eine Art Ehe einlassen, so
lassen sich Stricher auch darauf ein, dass zusammen gekocht wird, dass zusammen
ausgegangen wird, wo Liebe eine angebliche Rolle spielt. Zum Schluss kommt dann das
Problem, wo etwas simuliert wird, um dann vom Freier Geld rausgepresst wird. Es gibt
300 auch Beispiele, wo das klar ausgemacht wird, dann gibt es auch 600- 800 Euro. Ich
würde sagen, angesichts der Tatsache, dass es Prostitution ist, wo viele unterschiedliche
Menschen aufeinander treffen, wo das meiste nachts passiert, gibt es aus unserer Sicht
bemerkenswert wenig Gewalt. Es gibt auch Organisation, die die Interessen der Freier
vertreten, wie Maneo, die das Gegenteil behaupten, dass es sehr viel Gewalt gäbe. Es
305 gibt Gewalt aus beiden Richtungen, das ist aber eher die Ausnahme. Viele Stricher

109
Anhang 3: Interview I

beklauen Freier. Wenn man hier Stopp macht, dann sind die Schuldigen die Stricher.
Wenn man weiter kuckt, wieso es dazu gekommen ist, dann stellt man fest, dass der
Junge für seine Dienstleistungen nichts bekommen hat. Oft hört man dann, dass das
Portmonee leer ist. Das ist so scherzhaft, wenn man Stricher sieht, die sehr korrekte und
310 reine Menschen sind und es dann irgendwo zum Geschäft hingeht und dann wird den
Jungs gesagt, dass die Geldbörse leer ist und dass dieser das Geld geklaut hat. Der
Junge hat nicht die Möglichkeit, das Geld einzuklagen. Der Kubaner wird es vielleicht
nicht tun, aber die Osteuropäer greifen sehr schnell zur Selbstjustiz und nehmen das in
die Hände. Dann kommt es zu Gewalt. Dass Gewalt von der anderen Seite entsteht
315 kommt auch vor. Ich kenne Freier, die minderjährige Jungs in den Knast gebracht haben
für Jahre, indem sie sie beschuldigt haben, K.O.-Tropfen benutzt zu haben, was nicht
der Fall war. Nur weil sie diese loswerden wollten. Es wird nie den Strichern geglaubt.
Das ist für mich auch Gewalt, einen Menschen bewusst in den Knast zu bringen. Das ist
nicht die Regel, aber zwei dreimal pro Jahr kommt das vor. Gewalt existiert, aber es
320 könnte viel mehr geben. Wir arbeiten präventiv auch mit Freiern, beraten nur im Sinne
der jungen Leute, d.h. wir nehmen mit diesen Kontakt auf, haben deren Telefonnum-
mern, insoweit wie wir die Interessen der Jungen durchsetzen können. Präventiv geben
wir ihnen natürlich nicht vordergründlig Kondome, aber versuchen sie hinzuweisen,
dass sie akzeptieren mit Kondom zu arbeiten.
325
Erfahrungen in der Praxis
Das Wichtigste aus meiner Sicht, wo ich mich fast ausschließlich auf Migranten kon-
zentriere, findet dadurch statt, dass ich weiß, dass ein Migrant, der nicht in seiner Hei-
mat ist, sich über seinen Heimatort identifiziert. Dann versuch ich anhand meiner Erfah-
330 rung festzustellen, aus welcher Stadt, aus welcher Gegend er kommt und welcher ethni-
schen Gruppe er zugehört. Dadurch gehe ich auf ihn zu, indem ich ihn in seiner Heimat-
sprache anspreche, indem ich sage, „Ach, du bist nicht etwa aus Mardin“ wenn ich
einen Kurden sehe. Dann erkenne ich auch Gesichtzüge und Verhaltensweisen die
typisch sind für diese Gegend. Dieser ist dann sehr überrascht, vor allem darüber, dass
335 ich Türken und Kurden unterscheiden kann und somit hat man eine Brücke geschaffen.
Man bekommt Anerkennung und die sind froh, dass sie nicht als Stricher angesprochen
werden, sonder als „Mardiner“ und auch als solcher erkannt wurde. Das ist meine Art,
an Leute ranzukommen. Zum Beispiel wenn ich Albaner sehe, dann sehe ich, dass
dieser zu den Kosovo- Albaner gehören müsste und gehe dann auf ihn zu, indem ich

110
Anhang 3: Interview I

340 zeige, dass ich sehr gut weiß, was seinesgleichen hier getrieben hat. Was für Probleme
seine Gruppe hat. Es ist ein bisschen schematisch erklärt und ich benutze natürlich ein
paar Klischees. Das sind nicht Klischees, die in den Medien sind, sondern welche, die
innerhalb der Gruppe entstehen. Das heißt, ich erkenne ihn als das, als was er sich selbst
identifiziert in der Gruppe. Ich lasse ihm sofort Platz frei, dass er mir weiter die Spezifi-
345 ken seiner Person darlegt. Das machen sie auch alle sehr gerne. Über Anschaffen wird
erst gar nicht geredet. Wenn die Verbindung da ist, dann kann man sehr schnell zum
Anschaffen, zur Prävention übergehen oder fragen, wie lange er dabei ist, was er so
macht usw. So lange man sozusagen einen Namen hat, eine ethnische Zugehörigkeit,
einen Charakter, Wünsche und Probleme, dann wird auch übers Anschaffen offen
350 geredet. Es wird nicht rumgeeiert. Sie sind nicht anonym, ich kenn sie mit echten Na-
men. Es ist eine echte Verbindung die sie mit mir eingehen und darauf wird Wert ge-
legt, dass man keine Geheimnisse hat. Es ist etwas, was sie nicht täglich erleben, dass
jemand sie als das wahrnimmt, was sie wirklich sind. Ich stelle mich auch klar vor, sage
welche Verbindung ich zu deren Heimat habe und gebe klar an, dass ich Streetworker
355 bin. Sie wundern sich natürlich, dass es so einen Job gibt und dass man dafür bezahlt
wird. Oft erwarten sie, dass ich auch ein persönliches Interesse an ihnen habe. Das stelle
ich auch von Anfang an klar, dass ich nicht interessiert bin und dass meine Interesse
rein kultureller Art ist und dass ich mich grundsätzlich für Außenseiter oder Migranten
interessiere. Die Sprache ist ein großes Hindernis, wenn ich sie nicht kann. Das Wich-
360 tigste ist, dass man sich verständigen kann, sonst kann man nicht arbeiten. Die meisten
können auch wenig deutsch. Es gibt wenig, die nach Jahren auch deutsch können, aber
die wollen wir jetzt nicht erwähnen. Es gibt viele Beispiele, vom jungen Russen, der
hier als Menschenhandelopfer über ein Jahr lang in verschiedenen Häusern eingesperrt
wird und sexuell misshandelt und missbraucht wird, bis es nicht mehr geht. Dann
365 kommt er raus und man muss mit ihm hinkriegen, dass er erstmal hier bleibt und eine
Unterkunft bekommt. Wir schalten uns dann auch als Vormund ein, um seine Interessen
zu vertreten. Dann gibt es auch einen jugoslawischen Stricher, der sein Leben lang als
Taschendieb ausgebildet wurde, bis zwölf Jahre klauen musste und dann in den Stri-
cherbereich kam. Lebt dann hier eine Weile, kommt in Knast, wird abgeschoben, kann
370 kaum serbisch, muss aber in Serbien leben. Dann gibt es die rumänischen Pendler, die
bulgarische Transe, die kaum noch eine Selbstwahrnehmung eines Mannes hat, aber
gleichzeitig Kinder und Frau zu Hause hat. Er muss sich dann extrem anstrengen, in der
kurzen Zeit in der er zu Hause ist, noch männlich zu wirken. Meistens gelingt das nicht,

111
Anhang 3: Interview I

und die Familie muss mit Geld überschüttet werden, damit das Ganze übersehen wird.
375 Es gibt viele tragische aber auch glückliche Situationen. Einige kommen auch regelmä-
ßig in die Psychiatrie, da sie schwul sind, dies aber in ihrer Heimat nicht ausleben
können, hier aber nicht akzeptiert werden. Es gibt auch den Junkie, der sich mit 19 eine
Überdosis setzt, bevor er begriffen hat, was das Leben bedeutet. Ich würde sagen,
wirtschaftliche Aspekte sind die größten Probleme der Herkunftsländer. In den meisten
380 gibt es keine politische Verfolgung. Es gibt Folgen von politischen Situation oder
Kriegssituationen bei der Gruppe der Ex- Jugoslawen, die gar nicht in die Situationen
gekommen, wären, so zu leben wie sie jetzt leben, wenn da nicht der Krieg gewesen
wäre, der die ganzen Bevölkerungsgruppen zum Flüchten gebracht hat. Aktuell ist das
aber kein Grund. Ich habe keine Stricher zurzeit in Berlin, die politisch geflüchtet sind.
385 Es gibt immer eine Konstante, das ist die Homosexualität, die nicht ausgelebt werden
kann und es wird entschieden, dies irgendwo in Westeuropa auszuleben. In jedem
Bereich gibt es viele Konflikte. Ein Aufenthalt ist nicht erwünscht. Die meisten möch-
ten nicht nach Deutschland übersiedeln und hier bleiben. Nachdem sie eine Zeit hier in
Deutschland verbracht haben, stellen sie fest, dass die Weltanschauung so unterschied-
390 lich ist, dass sie hier nicht leben möchten. Sie möchten pendeln und viel Geld verdie-
nen, möglichst auch noch zehn Jahre, sich aber dann niederlassen in der Heimat. Ihr
Lebensmittelpunkt ist meistens nicht hier sondern in der Heimat. Eine Aufenthaltsge-
nehmigung ist heute viel einfacher als früher, wenn man schwul ist, wenn man sich
einlässt mit einem Einheimischen. Dann kann man eine Lebenspartnerschaft schließen.
395 Dann gibt es die Möglichkeit, für die, die ein Abi haben, zu studieren. Dann gibt es für
die, die aus Osteuropa kommen, die Möglichkeit eine Firma zu gründen, wenn sie mehr
Grips haben. Wenn sie fit sind, können sie durchaus aussteigen aus der Prostitution. Es
gibt sehr viele Konflikte in der Weltanschauung. Ich stelle täglich fest, wie die Weltan-
schauungen aneinander kollidieren (Das Beispiel mit dem Wasser). Bei solchen Sachen
400 stellen viele fest, dass sie nicht alles übernehmen können. Das sind Kleinigkeiten.
Während für den Bulgaren Wasser geben das allernormalste der Welt ist, versteht das
der deutsche nicht, dass der andere kein Respekt vor dem Eigentum hat. Kulturelle
Konflikte sind meistens der Grund, dass die Leute hier sich nicht immer gut fühlen. In
Bezug auf Gesundheit besteht eine ganz andere Sichtweise. Gerade bei den Rromas,
405 welche die größte Gruppe darstellt, haben diese eine viel größere Verbindung zur Psy-
che und Soma. Sie verbinden Körper und Psyche sehr, sie haben keine psychosomati-
schen Störungen, wie wir dies hier nennen. Sie haben ein Ganzkörpersyndrom. Wir

112
Anhang 3: Interview I

haben zwei Ärzte hier und untersuchen viel. Die Leute sagen, dass ihr Herz weh tut und
spüren das. Dann haben sie auch oft Geisterschmerzen am ganzen Körper und das alles
410 kommt von der sehr schlechten Stimmung, die sie in sich tragen. Das wird schlecht
unterschieden, man wendet sich an einen Arzt der im Moment wohl sehr kritisch ist. Es
wird ganz anders wahrgenommen. Es wird nie vorgebeugt, sondern nur interveniert.
Man erwartet immer große Intervention seitens des Arztes, d.h. der Arzt ist allmächtig
und man erwartet, dass dieser alles heilen kann. Es gibt große Unterschiede in dieser
415 Sichtweise. Aber nicht vergessen, die meisten dieser Jungs sind Gypsis. Von den 1000
Jungs pro Jahr, mit denen wir im Jahr Kontakt haben, sind es 85% Migranten, davon
sind 75% Rroma. Eine sehr hohe Zahl. Mehrere hundert Menschen sind Rroma. Es
kommt selten zu Konflikten, aber es ist auch keine Liebe. Es kommt sehr selten zu einer
Freundschaft, wenn dann sind die Drogen die Verbindung. Was die Zukunft betrifft,
420 gibt es ganz verschiedene Ansätze. Ängste haben sie alle. Während Deutsche, was die
Zukunft betrifft, sich keine Sorgen machen, haben Ausländer oft Zukunftssorgen,
obwohl sie es nicht beeinflussen können. Sie möchten alle traditionelle Lebensweisen,
ein Haus mit Kindern usw. Sie leben zwar von der Hand in den Mund, aber sie denken,
dass sie später ein traditionelles Leben führen. Dagegen die deutschen Stricher möchten
425 sehr viel Selbstständigkeit, Unabhängigkeit, finanzielle Unabhängigkeit und schmieden
auch nicht so viele berufliche Pläne. Die meisten schaffen es auch so ein würdiges
Leben zu führen, wenn sie nicht in eine Drogen- oder Alkoholabhängigkeit fallen.

Gesundheit
430 Die Jungs haben schematische Kenntnisse über HIV. Es wird natürlich verwechselt mit
Aids. HIV und Aids lernen sie erst hier kennen. Die meisten von Ihnen waren nie Ziel
einer Präventionsarbeit. Alle Migranten, die wir aus dem südlichen Osteuropa antreffen,
die aus den unteren sozialen Schichten kommen, die nicht so wirklich die Schule be-
sucht haben, die sind zum ersten mal hier konfrontiert mit einer gezielten Prävention.
435 Das heißt: Vieles hören sie zum ersten Mal. Sie haben alle schon mal von Aids gehört,
aber sie wissen nicht die Übertragungswege usw. Ausnahme sind das nördliche Osteu-
ropa wie Polen und manchmal Russland, die ab und zu ein Vorwissen aus der Schule
mitbringen. Grundsätzlich wird HIV und Aids überbewertet, es wird sehr viel schwärzer
gemacht und STI werden minimalisiert. Von Syphilis und Tripper sind die Kenntnisse
440 sehr gering. Die Hepatitiden sind auch kaum bekannt, wir impfen dagegen, aber jedes
Mal mit Aufklärungsarbeit verbunden. Ich würde sagen Safer Sex wird eingehalten. Oft

113
Anhang 3: Interview I

höre ich von den Jungs, dass der Freier sagt, dass es mit Kondom Lust dämpfend ist.
Aber oft bekommen die Jungs Angst, dass sie sterben werden. Man hört immer wieder
in der Szene, dass einer HIV hat und das ist abschreckend. Wenn sie sich lange in der
445 Szene aufhalten, dann passen sie auf. Die Jungs kaufen sich auch selbstständig Kondo-
me und das nur fürs Blasen, wo das Risiko ja minimalisiert ist. Das heißt, sie haben
auch investiert für ihre Gesundheit. Sie passen in ihren privaten Beziehungen nicht auf.
Im Sexbusiness passen sie so viel auf, wie es nur geht, penetrative Praktiken ohne
Kondom gibt es hoffentlich kaum. Oral ohne Kondom ist es öfters anzutreffen. Im
450 privaten Bereich wird darauf gar nicht mehr geachtet. Sie sind zwar Stricher und haben
sich für Liebe infiziert. Die Drogenabhängigkeit kommt nach und nach mit. Vor einigen
Jahren hätte ich gesagt, sie ist nahezu null. Inzwischen sage ich, dass die Zahl gefährlich
groß ist. Je größer die Integration, desto größer und ähnlicher ist der Drogengebrauch
wie bei der deutschen Gruppe. Es gibt kulturelle Grenzen. Es gibt viele Völker, die
455 würden sich niemals was injizieren. Rumänen machen das sehr ungern. Diese rauchen
lieber. Russen sind sehr gerne bei Heroin dabei, da gibt es Parallelen zum Wodka.
Slawen konsumieren auch sehr gerne Heroin. Diejenigen, die noch was bewahren
wollen von diesen Schemen im Leben und auch ein bisschen machomäßig drauf sind,
nehmen automatisch Kokain. Es gibt lokale Spezifiken und es ist immer noch weniger
460 ein Problem wie bei Deutschen.

Herausforderungen und Grenzen


Man kann sehr viele Erfolgserlebnisse haben, fast tagtäglich. Man kann Schicksaale
positiv verändern. Es ist Bereich, wo es sehr viel Hilfebedarf gibt, wo niemand etwas
465 anbietet. Man kann unbürokratisch, ohne Anwendung komplizierter Strukturen sofort
helfen. Es geht nicht nur um die primären Hilfebedürfnisse, wie waschen und schlafen
usw. sondern auch auf der Ebene der nächsten Stufe. Grenzen sind bei Migranten
erstmal die finanziellen Grenzen. Es ist tausendfach schwieriger, den, der dringend
einen Drogenentzug braucht und ein Notfall ist, irgendwo unterzubringen zum Drogen-
470 entzug, als einen, der hier krankenversichert ist. Es gibt hier immer mehr Hilfebrücken
in Richtung Drogen oder Medizin insgesamt. Aber es ist unheimlich schwer, da diese
Menschen nicht existieren, da sie Touristen sind. Dass sie hier zum Teil seit Jahren
leben und eigentlich durchaus hier zu behandeln wären, trifft nicht zu. Es gibt zum
Vergleich der 90er viel mehr Möglichkeiten, aber man muss sie kennen. Mein Ziel ist,
475 dieses Level halten zu können, welches wir momentan haben. Wir wollen, dass es

114
Anhang 3: Interview I

keinen Zwang zur Prostitution gibt. Wir wollen nicht die Stricher um jeden Preis aus der
Szene raus ziehen. Wenn sie damit gut leben können und sie sich bewusst sind, was sie
da machen, dann ist da o.k. Wir möchten ihnen nur eine andere Alternative anbieten und
sie haben die Wahl. Das oberste Ziel ist, dass sie relativ gesund leben, im weitesten
480 Sinne. Es kann sehr oft vorkommen, dass sich ein Klient in einen Sozialarbeiter verliebt.
Abgrenzung ist da gang und gäbe. Wir müssen professionell genug sein, um so etwas
nicht zu zulassen. Wir haben in unseren Arbeitsverträgen so genannte Keuschheitsklau-
sel, d.h. geringste Kontaktaufnahme führt zur sofortigen Kündigung. Das ist bewusst
eingebaut, damit jeder weiß, dass dies ein Tabu ist. Das Geschlecht der Sozialarbeiter ist
485 wichtig. Wir arbeiten mit Jungs, die meistens sich ein Vorbild suchen, vielleicht eine
Orientierungshilfe. Die sexuelle Identität ist wichtig aus der Sicht der Betroffenen. Aber
ich glaube, es ist durchaus wichtiger zu verstehen, was da läuft. Man muss nicht unbe-
dingt in der Pfanne gelegen haben, um zu wissen, was ein Schnitzel ist. Man kann alles
lernen zu verstehen. Wir sind hier gemischt, auch zwei Heteros. Es gibt auch eine Frau.
490 Das Projekt hat schon einen sehr großen Anteil von schwulen Menschen, aber das ist
keine Qualifikation an sich. Man muss irgendeine Zusatzqualifikation bringen, um für
den Beruf geeignet zu sein. Wenn man weiß, wie das alles mit dem Coming Out ist, ist
das super nützlich, wo man sehr viel helfen kann. Nach 10 Jahren weiß ich darüber auch
eine Menge, zwar nur theoretisch, aber ich kann trotzdem weiterhelfen. Es gibt positive
495 und negative Seiten. Meine Selbstidentifizierung kommt aus dem Bereich, selbst
Migrant zu sein. Die Qualifikation kann aus dem Bereich der Sexualität deswegen auch
sehr relevant sein. Das Vorbild wird überwiegend in den Männern gesucht. Die Wir-
kung einer Frau ist auch positiv und auch oft ein Highlight, da es sich nur um Männer
handelt. Da erinnern sie sich an die Kindheit, an die Mutter, sie haben mehr Vertrauen.
500 Man darf nicht vergessen, dass Stricher nicht nur Männer mögen, sondern durchaus
auch von Männern Schlechtes erlebt haben. Eine einheitliche Besetzung wäre tragisch.
Wir möchten die Gesellschaft widerspiegeln und eine Nische in der Gesellschaft sein
und wollen so sein wie die Gesellschaft selbst. Utopien kann man schmieden. Ich bin
ein großer Realist. Ich gehe so ran, dass ich möglichst viele Ziele erreiche und deswe-
505 gen setze ich sie nicht hoch. Es ist Utopie, wenn man das wieder nicht schafft, was man
sich vorgenommen hat. Ein Defizit in der Arbeit mit Migranten ist, dass diese nie Ziel-
gruppe als Menschen sind. Sie werden vokalisiert aus der Sicht der Prävention. Da-
durch, dass sie in der Szene aktiv sind. Diesen Arbeitsbereich würde es nicht geben,
wenn sie nicht aus der Sicht der Gesundheitsprävention, der HIV und STI –Prävention

115
Anhang 3: Interview I

510 wichtig wären. Das heißt, sie als Menschen, interessieren den Staat gar nicht. Es geht
nur darum, dass sie Sex mit der hiesigen Bevölkerung haben und dadurch, dass sie mit
mehreren Sex haben, können sie Krankheiten übertragen. Somit sind sie die Mücken in
den Malariafällen. Manchmal ist es ein bisschen blöd dies zu sagen, aber als Menschen
sind sie für niemanden interessant. Trotzdem bin ich dankbar, dass wir die Arbeit aus-
515 führen können, da sie im Gesundheitsbereich Akteure sind.

Aufgabenbereiche der Sozialarbeiter


Wir haben Kooperationen mit anderen Projekten. Es gibt lokal die besten Kooperatio-
nen, gerade im Gesundheitsbereich agierende Institutionen. Es gibt internationale Ko-
520 operationen, es gibt mehrere EU-Organisationen, die etwas Formelles anstreben. Ich
koordiniere nebenberuflich den so genanten national fokal point, die die gesamten
Projekte für aids und mobility, die mit Gesundheit und Aids und mit Migranten zu tun
haben. International ist es auf theoretischer Ebene. Bundesweit ist es durchaus inhaltlich
und lokal wichtig und es findet statt auf sehr konkreter Ebene. Es wird nicht mehr
525 gekuckt auf den Background der Institution, d.h. wir arbeiten mit staatlichen, mit nicht-
staatlichen Organisationen, mit Polizei, mit Berliner Gesundheitszentren. Während auf
den anderen Ebenen es immer abstrakter wird. Es gibt in dieser Hinsicht kaum Organi-
sationen in Rumänien. Ich fände es sehr wichtig, dass man dort präventiv arbeiten
würde, dass man vor Ort klar macht, dass in Deutschland nichts auf der Straße herum-
530 liegt, dass es hier keine Arbeit, keine Perspektiven gibt, außer in der Prostitution. Viele
kommen hierher und hoffen, eigentlich woanders einzusteigen. Das was hier auf sie
zukommt, erfahren sie erst hier. Hier fände ich Prävention sehr wichtig. Es gibt Organi-
sationen in Rumänien, die wir kennen, aber wir haben keine Zusammenarbeit mit de-
nen. Aus dem Kreis des AKSD war zum Beispiel aus Hamburg jemand in Rumänien,
535 um sich zu informieren. Es ist wichtig, dass man die Länder kennt, dass jeder, der mit
der Gruppe arbeitet, die Länder, die Städte und die Hauptproblematiken kennt. Die
Organisation aus dem Land, mit denen zu arbeiten ist nicht unsere Aufgabe, wir würden
dies schlecht unterbringen. Ich als Rumäne habe natürlich meine Kontakte in den rumä-
nischen Organisationen. Aber die kommen eher aus dem Bereich aids mobility.
540 Wir haben viele Möglichkeiten der Supervision. Das Klassische ist Supervision. Wir
haben unsere Qualitätsgremien, wo wir sehr viel diskutieren, wie wir das machen, was
wir uns vornehmen. Im Team intern gibt’s ausreichend Möglichkeiten, um das Ganze zu
reflektieren. Auch im Rahmen von AKSD - Treffen und Seminaren und anderen Tref-

116
Anhang 3: Interview I

fen, je nach Zusatzqualifikation. Nicht jeder macht alles, sondern jeder ist in einem
545 bestimmten Arbeitsbereich besonders gut. Es sind nicht die gewöhnlichen Bürozeiten,
die wir haben. Meistens geht es spät los bis sehr spät. Das ist persönlich hin und wieder
belastend, wenn ich bedenke, dass ich in den letzten zehn Jahren nie vor zwei drei Uhr
morgens zu Hause war. Es ist aber auch sehr viel positiv. Ich komme, wenn ich meine
Termine und die Beratung habe. Wenn ich nichts habe, kann ich früher gehen und das
550 Ganze schreiben wir ganz gewissenhaft auf und wir müssen nicht hetzen. Freitagabend
ist bei uns der Haupttag, freitagnachts. Sonntag haben wir früher gemacht. Es macht
keinen Sinn, dass wir auch Freitag auftreten, da dieselben Leute da sind. Es ist ein
großer Unterschied zwischen Dienstag und Freitagabend. Es bekommt nicht jeder
Klient eine Akte. Nur für jeden Klient, bei dem was los ist, wo was passiert, wo Schrift-
555 verkehr stattfindet, wo es für jeden nachvollziehbar sein muss, was passiert, wird eine
Akte angelegt. Bei den meisten Klienten verzichten wir darauf. Wir führen sehr viel
Protokoll, wo wir schreiben, dass jeder nachvollziehen kann, was mit den Klienten so
los ist, aber eine Akte führen, wäre unmöglich. Ich habe jetzt schon 100 Fälle, wo was
los ist. Von Anfang an zeige ich, dass ich für den Klienten Partei ergreife. Das ist eine
560 eindeutige Sache. Ich ergreife hier auch nur für den Klienten Partei und nicht für die
Freier. Ich bin kein Schiedsrichter und bin für die Jungs da und das wissen sie vom
ersten Moment an. Ich beleidige keine Freier vor den Jungs, das ist eine Sache der
Ethik, aber es ist von Anfang an klar, dass ich auf der Seite der Jungs bin auch wenn es
ihnen dreckig geht. Professionalität ist das Wichtigste, sonst hält man es nicht aus. Dazu
565 gehört Distanz, Identifizierung mit der Zielgruppe, sehr viel Wissen, Inhalt über Aids,
über Migranten, ihre Länder und ihre Sprachen. Man kann nicht ignorant rangehen und
sagen, irgendeiner von irgendwo hat irgendwas gesagt. Man muss sich abgrenzen und
alles hier lassen, wenn man nach Hause geht. Unprofessionell wäre, dass man sich
persönlich impliziert im Sinne von Verwicklungen in private Kontakte. Das ist sehr
570 schlimm, wenn man denkt man hat eine Freundschaft oder man hilft jemandem Beson-
deres usw. Das ist das gleiche wie bei Ärzten. Das kam hier auch schon vor.

117
Anhang 3: Interview II

Interview II, Köln

Tabuthema
5 Also, es ist auf jeden Fall ein unbekanntes Thema und wenn ich hier jemandem erzähle,
den ich noch nicht kenne und der mich noch nicht kennt, was ich mach, dann sind die
meisten überrascht und die meisten haben überhaupt keine Idee, dass es das gibt in
Köln. Das ist schon ein Wunder, also ich meine es ist, und das ist vielleicht auch ein
Zeichen für die Tabuisierung, dass einfach niemand Bescheid weiß. Wir sagen, wir
10 treffen im Jahr 500 verschiedene Jungs. Das kann ich statistisch belegen und deswegen
sagen wir 1000 Jungs schaffen im Jahr an in Köln, weil wir nicht jeden treffen. Eine wie
ich finde, realistische Einschätzung und wenn wir sagen 1000 Jungs schaffen an, dann
kucken die Leute mich an und sagen, das ist ja unglaublich und wundern sich, dass es
das überhaupt gibt. Tabuisierung von Strichern hat auch mit der Tabuisierung von
15 Homosexualität zu tun. Wir haben es mit mann- männlicher Prostitution zu tun.
Frauen tauchen hier als Freier so gut wie nie auf. Das heißt es spielt schon auch eine
Rolle, dass man sich innerhalb von der schwulen Szene noch mal einem Tabuthema
nähert. Der Durchschnittshetero hat eigentlich auch schon Schwierigkeiten, sich in
schwule Lebenswelten hinein zu finden und dann kommt noch dazu, dass es sich um
20 Prostitution handelt.

Gibt es eine Veränderung im Stadt Landbereich?


In Städten liberaler aufgefasst? Ich glaube nicht, wäre nicht mein Eindruck. Ich glaube
dass du Leute, die sehr liberal darüber denken und sich auch schon mal Gedanken
25 darüber gemacht haben, in der Stadt genauso triffst wie auf dem Land oder umgekehrt.
Ich bin überrascht davon, wie wenig Leute in Köln darüber Bescheid wissen. Eigentlich
ist das eine Stadt mit einem sehr liberalen Klima. Ich meine die Leute sagen dann nicht
entsetzlich und abschaffen und so, das ist schon mal ganz gut.

30 Wie sehen Stricher und Freier das Thema?


Sie sehen es als Tabu, wobei sie dieses Wort nicht haben. Sie sagen nicht, ich arbeite im
tabuisierten Bereich. Aber man erkennt es an anderen Sachen. Man erkennt es an den
Strichern im Wesentlichen daran, dass es häufig Auseinandersetzungen gibt mit der
Selbstidentifikation. Also bis ein Stricher sozusagen dahin kommt, dass er von sich

119
Anhang 3: Interview II

35 selber sagt, er ist Sexarbeiter oder Stricher, da vergehen in der Regel mehrere Jahre. Ich
treffe die Jungs ganz regelmäßig in der Szene, aber dass er dann sagt, ich schaffe an, das
braucht mindestens 1- 1,5 Jahre. Das zeigt schon, wie das belegt ist, wenn es nicht so
tabuisiert wäre, oder stigmatisiert wäre, dann würde es den Jungs vielleicht einfacher
fallen, dazu zu stehen, was sie machen. Bei den Freiern ganz genau dasselbe. Wir
40 machen ja in erster Linie keine Freierarbeit. Aber ich weiß so viel, dass, wenn ich in
eine Kneipe gehe, sich ein Freier nicht als Freier identifiziert. Er hat eventuell auch
noch mehr zu verlieren als ein Stricher. Aber ich glaube, da kommt es wieder sehr auf
den Einzelfall an und es gibt einzelne Stricher, die auch sehr viel zu verlieren haben und
das ist besonderes bei Migranten der Fall. Bei den Freiern ist es so, wer offen schwul
45 lebt, hat weniger Schwierigkeiten als Freier zu gelten, als wenn jemand zu Hause Frau
und Kind hat. Der würde niemals sagen, dass er ein Freier ist von männlichen Prostitu-
ierten.

Die Gesellschaft?
50 Was die Gesetzgebung angeht, ist ganz klar bei dem Gesetzesentwurf zu dem Prostituti-
onsgesetz angewiesen, dass man immer von Männern und Frauen spricht oder besser,
dass man das Geschlecht offen lässt im Gesetzestext. Das ist in anderen Staaten zum
Teil anders. Aber natürlich ist es so, dass sich die Bildzeitung mit weiblicher Prostituti-
on auseinandersetzt und nicht mit männlicher. Wir haben ein schönes Beispiel, 10-
55 jährige Jubiläumsfeier, Bürgermeisterin präsent, aber kein Pressevertreter da, obwohl es
vereinbart war. Grund dafür war, dass es nicht interessant genug war, zu viel tabuisiert,
stigmatisiert.

Stricher
60 Wir haben im Jahr etwa 480 verschiedene Jungs in der Anlaufstelle, beim Streetwork
usw. Von den 480 Jungs kennen wir nicht von jedem den kulturellen Hintergrund, aber
wir können sagen, dass es sich um 60% Migranten handelt und 40% Deutsche. Wir
haben in Köln den größten Anteil von deutschen Jungs in den Stricherprojekten, vergli-
chen mit allen anderen Stricherprojekten in Deutschland. Wir rechnen zu den Migranten
65 auch Migranten in der zweiten Generation, immer dann, wenn Migration-Themen eine
Rolle spielen. Also sprich, wenn ein libanesischer Junge zu uns in die Anlaufstelle
kommt und dieser Stress hat mit dem Thema Anschaffen oder Homosexualität, weil
seine Eltern aus einer komplett anderen Tradition kommen, dann rechnen wir ihn als

120
Anhang 3: Interview II

Migranten. Wenn jemand hier total assimiliert lebt und keinen Stress mehr hat, rechnen
70 wir den nicht als Migranten. So kommt das zu 60- 40%. Eine andere Statistik ist viel-
leicht noch spannender: Es ist so dass wir 40% Deutsche haben und dann haben wir
20% Migranten, die dauerhaft in Köln leben, weil sie vielleicht zweite Generation sind
oder weil sie als anerkannte Asylbewerber hier leben dürfen, für immer. Dann haben
wir noch 40% Klienten, die sich nur vorübergehend in Köln aufhalten und diese Leute
75 sind Leute, die haben keinen Aufenthaltsstatus in Deutschland und gehen wieder zurück
in ihre Herkunftsländer oder reisen weiter nach Italien oder Spanien. Die Herkunftslän-
der der Stricher haben wir 2005 aufgeteilt von diesen 60% Migranten in 31% Bulgaren,
9% Rumänen, 16% Türken, meistens zweite Generation, Tschechen 5%, Polen 9%,
Asien 4%, Nordafrika 8%. Wir sind ein reine Bulgarenstadt, das heißt wir hatten in
80 absoluten Zahlen 81 Klienten aus Bulgarien. Das ist eine riesengroße Gruppe.

Situation von Bulgarien


Unsere Bulgaren sind auch nicht Bulgaren, sondern sind Rromas. Alles Leute, die selber
noch im Inland, im Herkunftsland einer diskriminierten Minderheit angehören. Die
85 würden das auch nicht unbedingt sagen. Aber wir wissen genug über die Jungs, um das
von außen beurteilen zu können. Sie sprechen alle türkisch. In Bulgarien gibt es zwei
Minderheiten, die sich im Laufe der Geschichte vermixt haben. Das sind die Türken und
die Rromas. Die Türken haben es immer noch besser als die Rroma, sind aber auch
nicht gut angesehen. Die Jungs haben in Bulgarien selber wenige Chancen, zu einer
90 guten Ausbildung zu kommen, die haben so gut wie keine Chancen auf dem regulären
Arbeitsmarkt Arbeit zu finden. Sie leben in Ghettos, den so genannten „Machalas“, die
es in Rumänien genauso gibt. Das sind Wohnviertel, die abgetrennt von der bulgari-
schen Restgesellschaft nur aus Rroma bestehen. Sie haben wenig Zugang zur Gesund-
heitsvorsorge bzw. überhaupt zur Gesundheitsversorgung. Fast alle haben einen festen
95 Wohnsitz und wandern nicht mehr umher. Die Jungs, die hierher kommen, haben fast
alle vier bis acht Jahre Schule besucht, die meisten eher vier bis sechs Jahre. Sie sind
eher Analphabeten, d. h. sie können wirklich wenig lesen und schreiben, egal ob auf
türkisch oder bulgarisch, was ja auch verschiedene Schriften sind, da in Bulgarien
kyrillisch geschrieben wird. Sie haben auch ganz wenig Allgemeinbildung. D. h. wenn
100 wir hier ankommen mit Präventionsthemen, wenn wir erklären, schütz dich vor Aids,
dann müssen wir wirklich bei null anfangen. Da haben die Jungs noch nie was davon

121
Anhang 3: Interview II

gehört. Das Thema Aids ist etwas ganz neues für diese. Eher bei den deutschen ist es so,
dass diese schon mal was davon gehört haben, aber es nicht genau füllen können.
Es gibt das Merkmal, dass Homosexualität unbekannt ist und auch als soziales Kon-
105 strukt nicht existiert in der Rromagemeinschaft. Das macht es nicht unbedingt leichter
in der mann-männlichen Prostitution zu arbeiten. Sie haben dies vielleicht schon einmal
gehört, aber das ist ein totales Tabu. Ein zweites Merkmal ist, dass viele der Jungs
verheiratet sind und Kinder haben. Im Schnitt sind diese zwischen 20 und 30 die meis-
ten sind so 22 bis 24. Die 22jährigen kommen hierher und haben Kinder und haben zu
110 Hause ne Frau, die sie versorgen. Das ist auch noch ein wichtiger Hintergrund. 100%
derjenigen sind heterosexuell. Eine Familie haben vielleicht 80%, aber deutlich mehr als
50%. Heterosexuell sind alle. Es gibt Schwul Sein nicht.

Motivation
115 Sie kommen mit der Idee hierher, dass sie im reichen Deutschland Arbeit bekommen
und werden dann mit der Realität konfrontiert, da es nicht möglich ist. Es ist wichtig,
wie sich diese Szenen ausbilden, wieso in Köln nur bulgarische Rroma sind und in
Berlin vorwiegend rumänische Rroma und in München nur Rumänen. Wir verwenden
das Wort Brückenkopffunktion. Ein Junge kommt hierhin und lernt die Stadt kennen,
120 lernt die Kneipen kennen und den Strich. Dieser fährt wieder zurück nach Bulgarien und
bringt seinen Cousin und noch einen Bekannten und diese fahren wieder nach Bulgarien
und bringen wieder Freunde und Verwandte mit und sie fahren natürlich wieder in die
Stadt, die sie kennen, da es immerhin schon alles fremd genug ist. Die bulgarischen
Klienten sind bei weitem nicht so mobil wie die Deutschen oder die Tschechen, die
125 schon seit Jahren nach Deutschland kommen. D. h. sie kommen wirklich wieder dahin,
wo sie Freier kennen oder wo sie schlafen können oder weil sie uns kennen. Sie wissen
eher nicht, dass sie auf den Strich gehen. Es gibt mit Sicherheit einzelne Jungs, die,
wenn sie hier ankommen, schon wussten, dass sie auf den Strich gehen werden. Aber
ich würde sagen: Die Mehrzahl der Jungs der Bulgaren, die zum ersten Mal nach
130 Deutschland kommt, die wussten es nicht, sondern die haben die Idee, dass sie in ir-
gendeiner Form Geld verdienen. In der Regel denken sie an irgendwas auf dem Bau.
Aber die Jungs haben auch keine Ausbildung, um dort zu arbeiten. D. h. die Jungs
können wirklich nur absolute Hilfstätigkeiten machen und bei fünf Mio. Arbeitslosen
haben sie keine Chance auf dem Bau zu arbeiten. Es wird auch nicht untereinander
135 angesprochen, wenn sie ihre Freunde mitbringen. (Bsp. Junge bringt Cousin mit in die

122
Anhang 3: Interview II

Kneipe und sagt, dass er hier also arbeiten kann, aber auch keine klaren Worte von
Prostitution und keine Anleitung- alles unausgesprochen.) Das ist dann auch unsere
Aufgabe als Institution, das Thema anzusprechen und darüber zu reden, was Prostitution
ausmacht.
140 Homosexualität war in Rumänien verboten, in Bulgarien nicht. Bulgarien hat ein relativ
liberales Gesetz. Homosexualität und Prostitution ist bekannt in diesen Ländern, z. B. in
den Tourismusgebieten am Schwarzen Meer ist es ähnlich wie in Rumänien, da gab es
auch schon immer mann-männliche Prostitution und es gibt auch Prostitution von
Transvestiten. Es gibt eine Gleichung in Bulgarien die heißt: Homosexualität = Trans-
145 sexuell = Stricher. Es ist tatsächlich so, dass in Bulgarien der Männerstrich der Tran-
senstrich war. Die Jungs die hierher kommen, sind auf keinen Fall transsexuell, das gibt
es in Berlin und in Hamburg. Prostitution war und ist gang und gäbe im Sinne von der
Tabuisierung dieses Themas. Gesetzlich ist Prostitution in Bulgarien momentan etwas
unklar geregelt, es gibt kein Verbot, es gibt aber auch kein klares o.k. und es gibt vor
150 allem örtliche, Landes- kommunale Gesetze, die die Prostitution auch erschweren.
Durch den EU- Beitritt kommen hauptsächlich Rumänen und Bulgaren nach Deutsch-
land, da durch den EU Beitrittsstatus sie die Möglichkeit haben, ein dreimonatiges (90
Tage) Aufenthaltsvisum als Tourist zu bekommen und sie müssen keinen Antrag stellen
bei der Botschaft. Dies bedeutet 90 Tage hier und dann wieder 90 Tage zurück nach
155 Bulgaren.
Sie sind alle nicht schwul, verstehen sich auch alle nicht als Stricher und es ist auch
schwieriger für sie zu sagen, dass sie anschaffen gehen, als für deutsche Stricher. Sie
fliehen nicht vor den schlechten Lebensbedingungen für Schwule aus Bulgarien, sonder
fliehen vor der Armut. Natürlich ist es so, dass die, die länger hier sind, Klarheit darüber
160 haben, dass sie anschaffen gehen und wissen wie das Geschäft läuft. Aber es dauert
wirklich lange, nach dem 2. oder 3. Aufenthalt bis sie sagen, können dass sie anschaffen
gehen. Vielleicht auch wenn sie selber in die Rolle des Erklärens kommen, dass sie sich
langsam antasten und aussprechen, dass sie Sex mit Männern haben.
Wenn sie eine Chance haben eine andere Arbeit zu bekommen sind sie dabei, aber das
165 passiert so selten. Mittlerweile gibt es drei Bulgaren die sind verheiratet mit einer Deut-
schen Frau, zwei haben Kinder mit deutschen Frauen und es gibt klare Wohnsituatio-
nen. Es gibt Leute, die Zimmer vermieten aus der türkischen Community in Köln, wo
sie bleiben. Das alles führt dazu, dass sie ein bisschen etablierter sind. Es gibt einen
Arbeitgeber, der hin und wieder Jungs in der Gastronomie anstellt, aber im Ruhrgebiet.

123
Anhang 3: Interview II

170 Dies könnte man als Arbeitsstrich bezeichnen. Er vergibt dies an vier Bulgaren und das
ist nicht die Masse. Sie organisieren sich nicht selbst, um Jobs in Spanien oder Italien
als Erntearbeiter anzunehmen. Die anderen Migrantengruppen, z. B. die Tschechen und
die Polen, die in Deutschland schon lange anschaffen, seit den 90ern, die sind mobiler
und reisen von Frankfurt nach Köln und nach Berlin. Bei den Südamerikanern ist das
175 auch so. Sie sind sehr mobil. Barcelona, Frankfurt, London. Dementsprechend auch sehr
professionell und sich darüber klar, dass sie anschaffen gehen wollen und kommen
teilweise auch aus Clubs oder Bordellen aus Südamerika. Die Clubs zahlen dann auch
teilweise die Reisekosten für die Stricher.
Es gibt eher keine Schleußerorganisationen, die Stricher nach Deutschland bringen.
180 Eher findet diese Brückenkopffunktion statt. Einzelne werden hier eher unter Druck
gesetzt, aber auf einer sehr persönlichen Ebene, nämlich dass jemand ankommt und viel
Geld mitbringt aus Deutschland und die Familie sagt, geh doch auch nach Deutschland
und verdien dort Geld. Wenn sie in Deutschland waren, müssen sie auf jeden Fall auch
wieder Geld mit nach Hause bringen, sonst sind sie die totalen Versager. Das Durch-
185 schnittseinkommen in drei Monaten ist 400 bis 1000 Euro. Davon können sie ein halbes
Jahr zu Hause mit einer fünfköpfigen Familie leben. Das ist das Ideal. In Wirklichkeit
verdienen sie viel weniger, das ist aber abhängig, wie professionell ein Junge anschafft.
Es gibt mehrere Jungs, die verdienen fast kein Geld. Die verdienen in einer Woche
manchmal nur 30 Euro und können somit gerade überleben. Es besteht deswegen aber
190 nicht die Gefahr, dass ein erhöhtes Suchtrisiko besteht. Dagegen die deutschen Jungs
sind fast alle abhängig und konsumieren, wo hingegen die Bulgaren kaum konsumieren.
Wenn dann fangen sie hier an zu konsumieren, aber sehr selten. Weder Alkohol noch
andere Drogen, die in der Prostitution eine Rolle spielen.

195 Freier
Es gibt keine klaren Zahlen über Freier in Köln. Looks kümmert sich nur um Notlagen
in der Prostitution, wir kümmern uns nicht um professionelle Stricher, um solche die
eigene Homepages haben oder Profile haben, das ist nicht unsere Zielgruppe. Wir
arbeiten mit Jungs die keine andere Alternative haben, als sich zu prostituieren und die
200 sind vorwiegend in der Altstadt, weil die es in der Regel nicht schaffen im Internet
anzuschaffen, da ihnen die Schreib- und Lesefertigkeiten fehlen. Genauso ähnlich
verhält es sich mit den Freiern. Die Freier die in die Altstadt kommen, haben sicherlich
ein niedriges Bildungsniveau. Das sind auch eher Männer, die eher einfach sind oder die

124
Anhang 3: Interview II

das auch als Stammkneipe nutzen. Ich habe etwas Probleme, Stricher und Freier zu
205 typologisieren. Natürlich gibt es einen, der steht auf irgendwelche SM-Spiele und dann
gibt es einen, der ist eher der Kuscheltyp und eher so die Gesellschaft möchte und das
schöne Gespräch und ein bisschen streicheln. Es gibt auch einzelne Freier, die die
Stricher ausnutzen und abzocken (Vergewaltigung). Aber das ist nicht so häufig und wir
erfahren auch nicht so alles. Aber ich glaube auch nicht, dass es so häufig zu Gewaltfäl-
210 len kommt. Dagegen Stricher, die Freier abzocken gibt es mit Sicherheit sehr häufig,
wenn sich die Gelegenheit bietet, für jemanden, der auf der Straße lebt und der Prostitu-
tion nachgeht. Demjenigen ist es ja egal, womit er sein Geld verdient, ob er klaut oder
anschafft. Wenn sich eine gute Gelegenheit bietet, dann ist das einfacher verdientes
Geld als dafür ne Nacht im Hotel zu verbringen.
215 Stricher mit einer heterosexuellen Identität lassen gelegentlich auch ihren Hass aus. Das
spielt auch eine Rolle, dass sie es dem Freier heimzahlen wollen, eine Art Genugtuung.
Aber es ist auch abhängig von der Gelegenheit. Wenn sich jemand etablieren will in der
Szene, dann ist das beschissen und er hat dann auch wenige Chancen, wieder auf den
Boden zu kommen. Es gibt die Freier, die ganz klar auf den Strich gehen, die sagen, ich
220 will mir einen Jungen kaufen für die Nacht, bis hin zu denjenigen, die in den Kneipen
abhängen, deren Stammkneipe das ist, die einmal im Monat einen Jungen mitnehmen.
Dann gibt es Freier, die als heterosexuell leben mit ihrer Frau und ihren Kindern, die
sehr aufpassen, wenn sie sich einen Jungen holen. Je versteckter ein Freier ist, desto
eher wird er das Internet als Anbahnungsmöglichkeit nutzen. Es gibt keine Frauen als
225 Freier.
Wir haben bestimmte konzeptionelle Grundsätze. Niedrigschwelligkeit, Parteilichkeit
und Akzeptanz sind die Wichtigsten. Parteilichkeit heißt parteilich für Stricher sein, für
deren Interessen und Anliegen einstehen. Das macht es für uns auch klar, dass wir für
die Stricher das sind, wenn wir rausgehen in die Altstadt. Wir wenden uns nicht in erster
230 Linie an Freier. Es besteht immer wieder die Gefahr, dass wir mit einem Freier ins
Gespräch kommen und der uns z.B. Sachen über Stricher erzählt, wo es für uns dann
schwierig ist zu reagieren (der und der hat mich abgezockt usw.). Auf der anderen Seite
gibt es in den letzten eineinhalb Jahren eine Entwicklung, dass wir zunehmend Kontakt
zu den Freiern aufnehmen, dass wir sie entdecken, als Präventionszielgruppe und dass
235 wir sie nicht mehr außer Acht lassen. Es gibt viele Freier, die wir kennen, da sie fast so
häufig in der Altstadt sind wie wir oder wie die Jungs und die uns auch ganz wohl
gesonnen sind und auch unsere Arbeit schätzen. Es gibt auch Freier, die ganz gute

125
Anhang 3: Interview II

Hilfsangebote machen. Die so genannten Sozialfreier oder Frikadellenfreier, die den


Jungs eine Nacht anbieten in einem Bett und dann auch Sex dafür erwarten. Es gibt
240 auch welche, die ganz gute Angebote machen und zum Beispiel einen Job vermitteln.
Die Jungs sind häufig darauf angewiesen, dass es solche Möglichkeiten gibt. Zum Teil
erfolgen diese Angebote aus schlechtem Gewissen und zum Teil aus der Interesse
daran, dem Jungen da herauszuhelfen.

245 Erfahrungen in der Praxis


Wir lernen in der Regel jemanden in der Altstadt bei der Streetwork kennen. Wir gehen
zweimal die Woche, dienstags und donnerstags. Wir kommen in eine Kneipe rein und
da stehen dann sieben Jungs von denen ich sechs kenne und einen kenne ich vielleicht
nicht. Ich gehe dann erst zu den anderen, verteile Kondome und unterhalte mich mit
250 denen, unterhalte mich mit dem Wirt. Das kriegt in der Regel der neue Junge auch mit.
Ich stelle es auch so hin, dass er es mitbekommt und dass ich nicht als Freier und auch
nicht als Junge unterwegs bin und dass ich schon mal komisch bin, aber trotzdem die
Anderen mir vertrauen. Dann geh ich zu ihm und biete ihm Kondome und Gleitmittel an
und dann kommt es darauf an, wie er beim ersten Mal darauf reagiert. Häufig ist es so,
255 dass die sagen, dass sie es nicht wollen und nicht brauchen und eher zufällig hier sind
oder nicht schwul sind oder nicht anschaffen. Dann lasse ich ihn auch erst mal dabei
und dränge mich nicht auf. Beim zweiten Mal nimmt er das Kondom und das Gleitmit-
tel und beim dritten Mal ist er so neugierig, dass er auch was wissen will. Dann erzähl
ich, wer wir sind, was wir machen, dass wir eine Anlaufstelle haben und auch ärztliches
260 Angebot haben, frag ihn wo er herkommt usw. Das kann auch beim ersten Mal sein. Es
geht erst mal ganz viel um Smalltalk. Die wissen in der Regel beim ersten Mal nicht
darüber Bescheid, dass es solche Angebote gibt. Es gibt auch die Situation, dass Klien-
ten mit anderen Jungs in die Anlaufstelle kommen und die Einrichtung mal vorstellen
wollen. Auch beim Streetwork kommen einige Klienten auf uns zu und sagen, dass es
265 dort einen Neuen gibt. Bei den Migranten ist es so, da hier in Köln eine relativ stabile
bulgarische Gruppe ist, dass neue Bulgaren oft direkt zu looks kommen oder werden
direkt von anderen mitgebracht, da diese auf die Hilfsangebote wie duschen, waschen
und essen angewiesen sind und in der Regel keine Wohnung haben oder nur sehr be-
grenzt. Anfangs war es sehr schwierig, Kontakt aufzunehmen, besonders wegen der
270 Sprache. Die lernen auch kein deutsch, da sie auch nicht das Ziel haben, in Deutschland
zu bleiben. Wir haben am Anfang Kondome und Gleitmittel verteilt, haben in unserer

126
Anhang 3: Interview II

Jungsbroschüre darauf gezeigt, was es für Angebote gibt durch Symbole oder haben
jemanden der türkisch konnte, dazu benutzt, zu übersetzten. Das hat sich geändert, seit
dem wir eine bulgarische Kollegin haben. Wir haben etwa ein Jahr gebraucht, bis wir
275 eine bulgarische Honorarkraft hatten. Es gab ein Jahr eine bulgarische Szene. Jetzt
macht die bulgarische Kollegin den Erstkontakt zu bulgarischen Strichern. Sie ist per se
eine Attraktion, da sie Bulgarin ist, eine Frau ist und in der Stricherszene ist. Sie muss
nicht viel dafür tun, um in guten Kontakt mit den Jungs zu kommen. Eine Sache ist
noch wichtig, dass es nicht darum geht, bei der Kontaktaufnahme, ob du jetzt Stricher
280 bist oder nicht. Ich lasse es offen. In der Regel lässt es auch der Junge offen. Je nach
dem was mir signalisiert wird im Gespräch, spreche ich es an. Wenn mir jemand sagt,
dass er aus Düsseldorf kommt, dann frage ich ihn, ob der die und die Kneipen kennt.
Wenn er dann sagt, dass er diese kennt, dann weiß ich, dass er schon mal so ne Vorstel-
lung hat, dass es hier um Strich geht. Dann sage ich, da gibt es ja auch eine Stricheror-
285 ganisation. Wenn die sagen, dass sie diese Kneipen nicht kennen, dann werde ich denen
auch nicht das Wort Stricherorganisationen vorsetzten. Denen erzähl ich, dass wir eine
Organisation sind, für die Jungs hier in der Altstadt. Dann muss er sich seinen Teil
selber denken.
Da die Frau eine Attraktion ist für die meisten der heterosexuellen Jungs, ist es anderer-
290 seits auch eine Erschwernis für die pädagogische Seite. Es bedeutet viel Abgrenzungs-
arbeit. Sie kennen keine SozialarbeiterInnen. Die beschreiben uns als gute Menschen.
Das macht es auch nicht unbedingt einfacher. Unsere Mitarbeiterin muss viel dafür tun,
um nicht nur als Frau wahrgenommen zu werden. Also die erste Frage die die Bulgaren
haben, ist, ob sie verheiratet ist. Das gilt auch für andere Migrantengruppen. Auch die
295 andere Kollegin wird immer erst auf ihre Frauenrolle angesprochen (Freund, Kinder,
verheiratet). Wir führen immer beim ersten Besuch in der Anlaufstelle ein Erstgespräch.
Da geht es darum, noch mal genau zu erklären was wir machen, was es hier für Hilfsan-
gebote gibt und dann auch etwas über den Jungen zu erfahren, über seine Background
und zu überlegen, was für Hilfsangebote er brauchen könnte oder welche Unterstützung.
300 Das reicht von Ausruhen hier in der Anlaufstelle bis hin zu Nachfragen zu Therapien.
Bei den bulgarischen Jungs ist es im Laufe der zweieinhalb Jahren immer wichtiger
geworden, dass wir klarmachen, dass wir ein Stricherprojekt sind. Wo ich sehr vorsich-
tig bin in der Altstadt beim Streetworken, bin ich hier in der Anlaufstelle umso klarer.
D.h. ich oder mein Kollege sagen dem Jungen ganz klar, dass wir ein Stricherprojekt
305 sind und fragen ihn ob er anschaffen geht. Dann muss sich der Junge dazu verhalten.

127
Anhang 3: Interview II

Das eine ist, um selber mit dieser Selbstidentifikation zu beginnen- ich gehe selber
anschaffen und ich muss mich mit bestimmten Themen auseinandersetzen. Das heißt
zum Anschaffen gehört Saver- sex dazu und es gehören klare Absprachen dazu. Das
alles kann ich erst mit diesem Jungen bearbeiten, wenn er die Idee hat, dass er tatsäch-
310 lich anschaffen geht und das auch aussprechen kann. Der Rahmen dieses Erstgesprächs
ist immer anonym und es wird klargemacht, dass alles unter uns bleibt. Dadurch sagen
sie auch, dass sie Geld durch Sex mit Männern verdienen. Der eine Grund ist, sich zu
professionalisieren in der Arbeit. Der andere ist, dass dieser Raum hier von Leuten in
Anspruch genommen wurde, die wir zuvor in der Altstadt nie gesehen haben. Es ist
315 wichtig, dass die Jungs klar sehen, was wir sind und keine anderen Leute mitbringen,
die aus unserer Zielgruppe herausfallen.

Problemlagen von Strichern


Das Hauptproblem ist die Armut. Es gibt immer mal wieder Jungen, die erzählen, wie
320 sie gearbeitet haben. Zum Beispiel haben einige Jungs im Schlachthof zehn Stunden am
Tag gearbeitet, wovon sie sich von dem verdienten Geld eine Packung Zigaretten kau-
fen konnten. Das heißt es reicht nicht, um die Familie zu versorgen. Die anderen erzäh-
len eher davon, dass sie keine Arbeit bekommen konnten. Sie stehen auch unter Druck,
dass sie Geld mit nach Hause bringen müssen, entweder für die eigene Familie oder für
325 die Eltern. Viele Jungs versuchen hier bestimmte Medikamente zu bekommen, da das
Gesundheitssystem verlangt, die Medikamente selbst zu bezahlen. Einige suchen auch
bestimmte orthopädische Geräte für ihre Kinder und versuchen so, mit dem Geld, das
sie hier verdienen, dies zu bezahlen. Die Bulgaren, wenn sie hier herkommen, finden
sich in einer komplett anderen Welt vor, für die ist männliche Prostitution ein absolutes
330 Tabu, bei Frauen kennt man das, zwar auch tabuisiert aber es verletzt die Männerehre,
dass sie so einem Job nachgehen. Sie sprechen die Sprache nicht, sie kennen diese
Kneipen nicht, wie sie aussehen, d. h. sie finden sich in einer komplett neuen Welt.
Viele Jungs haben kein Verständnis was ihre Gesundheit angeht und haben komplett
andere, sehr archaische Vorstellungen von Gesundheit. Als wir angefangen haben mit
335 der Safer- sex Prävention, haben die Jungs häufig gesagt, dass sie sich nur von den
Frauen ansteckende Krankheiten holen können aber nicht von Männern. Viele Jungs
glauben daran. Aids ist eine Krankheit die ist unsichtbar, du hast nicht das eine oder
andere Symptom. Das den Jungs zu erklären, ist fast unmöglich; dass du vier oder zehn

128
Anhang 3: Interview II

Jahre nichts davon merkst, aber trotzdem eine sehr schwere Krankheit in dir trägst, das
340 ist für die Jungs fast so gut wie unvorstellbar.
Drogenkonsum ist bei den bulgarischen Jungs wenig Thema. Wenn, dann fangen sie
hier in Deutschland an Drogen zu konsumieren. Ich habe aber noch keinen erlebt, der
abhängig geworden ist. Es ist eine Gefahr in eine Szene zu kommen, wo lauter Drogen-
substanzen genommen werden und die Jungs kennen diese von der Wirkung auch nicht.
345 Die Jungs werden allerdings auch von den Freiern dazu verführt oder angestiftet, Dro-
gen zu konsumieren. Das weiß ich aber nicht genau, wie sich die Bulgaren dazu verhal-
ten.
Bei den Deutschen ist das mit Sicherheit so: Es wird viel gekokst, da Kokain eine Droge
ist, die dich sehr enthemmt und du Dinge machst, die du sonst nicht machen würdest.
350 Ich finde, dass mit den Migranten erstaunlich wenig Gewalt passiert. Gewalt geht bei
uns in der Szene eher aus von den Migranten in der zweiten Generation, die sich auch
gegen das „Schwule“ auflehnen müssen in der mann- männlichen Prostitution und die
sich auch bedeutend sicherer sind. Die Jungs, die sich vorübergehend hier aufhalten
trauen sich nicht gewalttätig zu werden, da sie durch das kleinste Delikt, wie Drogen-
355 konsum oder Diebstahl, aus dem Land rausfliegen. Auch dadurch dass sie anschaffen ist
das ein Grund abgeschoben zu werden, da sie keine Arbeitserlaubnis haben. D.h. diese
sind sehr vorsichtig. Sie erleben auch sehr selten Gewalt, da in der Innenstadt und in
zwei anderen sehr multikulturellen Vierteln, in denen sich die meisten aufhalten, rechts-
radikale Übergriffe sehr selten sind. Es gibt ein paar Jungs, allerdings die Minderheit,
360 die sich vorstellen können, in Deutschland zu leben oder auch wollen. Die meisten
wollen aber ihr Leben zu Hause finanzieren und stellen sich vor, zu Hause ein Haus
davon zu bauen und dass sie dann irgendwann wieder komplett zurückgehen und nicht
mehr nach Deutschland kommen, zum Anschaffen. Das gilt für die Tschechen und
Polen im Grunde genauso. Das ist auch die Mehrheit. Die, die dauerhaft hier leben
365 wollen, kann ein Grund deren „Schwulsein“ sein und dass sie sich nicht mehr vorstellen
können, in ihren Herkunftsländer zu leben.
Diesen Aufenthaltsstatus dauerhaft herzustellen geht nur über Heirat. Die andere Mög-
lichkeit ist sich als Prostituierter selbstständig zu machen. Bei Selbstständigkeit be-
kommt man eine Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis, befristet. Wenn man dann das
370 Einkommen erwirtschaftet und die Sprache sprechen lernt, straffrei bleibst usw., dann
besteht die Möglichkeit, dass man das Ganze in einen unbefristeten Status überführen
kann. Viele Migranten in der zweiten Generation oder Leute im Flüchtlingsstatus haben

129
Anhang 3: Interview II

geringe Möglichkeiten, in einen unbefristeten Status zu gelangen. Von der Gesetzge-


bung ist das sehr schwer. Sie sind alle illegal hier, ab dem Moment, ab dem sie arbeiten,
375 denn dann würden sie eine Arbeitsgenehmigung brauchen und die bekommt man nicht
mit einem Touristenvisum. Sobald klar würde, dass diese anschaffen, wäre das ein
Abschiebungsgrund. Es gibt in München Lockfreier, die gezielt Leute suchen, die
illegal anschaffen. Hier weiß die Polizei um die Szene und es bestehen gute Kontakte
zur Polizei und die Szene wird hier geduldet. Es gibt viele Belastungen von Jungs, die
380 hier sind, die sie mitbringen. Sicherlich entstehen auch welche, aber es gibt manifeste
und auffällige psychische Störungen, die schon mitgebracht werden. Wir haben bei den
Deutschen 10- 20% psychische Auffälligkeiten, ähnlich bei den Bulgaren. Das können
Depressionen, akute Suizidgedanken, massive Zukunftsängste, wo auch Ängste um das
Leben bestehen, auffällige Verhaltensstörungen (Tickstörungen), Leute, die Zuckungen
385 haben, welche die ganz anders interagieren als andere, bis hin zu Schizophrenien und
schizoiden Auffälligkeiten.
Viele sind auch obdachlos. Es hat gedauert, dass sie sich mittlerweile Wohnungen oder
Zimmer organisiert haben mit Hilfe der türkischen Community. Es gibt mehrere Woh-
nungen, wo Vermieter vier Bulgaren in einem Raum schlafen lassen für 50- 100 Euro
390 pro Woche.
Es entstehen auch Konflikte zwischen den deutschen und ausländischen Strichern, da
die Deutschen sagen, die Ausländer machen den Preis kaputt. Da diese sehr angewiesen
sind auf das Geld, bieten diese für deutlich weniger Geld Sex an als die Deutschen. Es
wird daher ganz massiv als Konkurrenzkampf gesehen und die Bulgaren waren daher
395 auch eine zeitlang die Sündenböcke in der Szene. Freundschaften entstehen äußerst
selten. Nur wenn die Deutschen auch die Vorurteile über Bord werfen können. Das was
jetzt mit den Bulgaren ist, war vor ca. 7 Jahren mit den Polen und Tschechen so. Man
sieht, wenn diese Leute lange in Deutschland sind, passiert was, da diese Leute nun gut
ankommen, Freunde haben, in Kneipen als Barkeeper arbeiten usw. Für die meisten
400 sieht die Zukunft so aus, dass sie wieder in ihre Heimatländer zurückgehen wollen. Wir
hatten auch relativ alte bulgarische Stricher, 28, sehen aber nochmals 8 Jahre älter aus,
da sie meistens nicht in guter Gesundheit sind. Geld verdienen die nicht mehr wirklich
viel. Jemand der über 35 ist, den treffen wir nicht mehr in der Szene.

405

130
Anhang 3: Interview II

Gesundheit
Sie kommen mit keinem Wissen hier an und man muss hier erstmal viel Wissen vermit-
teln. Man muss bestimmte Vorstellungen, die durch die Kultur geprägt sind, erstmal
über Bord werfen, wie zum Beispiel, dass man sich ansteckende Krankheiten nur von
410 Frauen holen kann. Wir wissen, dass es eine hohe Anzahl von Syphilisinfektionen in
Bulgarien selber gibt, besonders auf dem Strich dort, deutlich höher als in Deutschland.
Auch Hepatitis A und B sind sehr häufig. Bisher haben wir noch keinen HIV-positiven
Jungen hier gehabt. Die Jungs werden benachrichtigt, dass sie sich auf die Krankheiten
in der Anlaufstelle untersuchen lassen können. Möglicherweise so wenig HIV, da
415 Analsex bei den Bulgaren nicht ins Programm gehört, vielleicht auch generell beim
Männerstrich keine so große Rolle spielt. Verkaufter Sex bedeutet nicht gleich Analsex.
Das ist unser Glück.

Herausforderungen und Grenzen für die soziale Arbeit


420 Man muss den Zugang bekommen. Meine Erfahrung hier ist, dass soziale Träger Leute
einstellen müssen, die aus dem Land kommen. Das ist das A und O. Es dauerte sehr
lange, bis die soziale Arbeit an den Punkt kam, dass es nicht so wichtig ist, einen Sozi-
alarbeiter für z. B. Präventionsarbeit zu haben, sondern, dass es wichtiger ist, eine
Person zu haben, die die Themen behandeln kann, die über Themen wie HIV und Safer
425 Sex sprechen kann. Der Zugang zu dieser Gruppe ist aber das Schwierigste, die so
stigmatisiert und marginalisiert ist. Wie schafft man es, jemandem Wissen zu vermit-
teln, der so gut wie nichts hat und auch bestimmte Barrieren in seinem Kopf hat. Wir
werden immer in der Prostitution auf Leute stoßen, die nichts zu verlieren haben und
deshalb nach Deutschland kommen, um anzuschaffen. Das gilt momentan für die Bul-
430 garen und die Rumänen, da sie relativ leicht nach Deutschland kommen. Wenn die EU
weiter erweitert, werden das in einigen Jahren Weißrussen sein, die hierher kommen.
Diese Sachen sind nicht hier zu lösen. Die Armut und Diskriminierung die die Rromas
erleben, können wir hier nicht lösen. Das ist dann eine Frage der Politik. Das, was sich
an Flüchtlingsdramen am Mittelmeer abspielt, da können wir froh sein, dass wir nicht
435 am Mittelmeer liegen. Aber natürlich wird man diese ganzen afrikanischen Gruppen in
der Prostitution in Portugal, Spanien, Frankreich und Italien finden. Aktuell durch den
Krieg im Libanon haben wir die Verpflichtung auf Grund der Genfer Konvention, dass
die Leute hier bleiben können, so lange der Krieg ist. Wir werden mit Sicherheit in
einem viertel Jahr Libanesen in der Prostitution haben. Leuten, denen wir in unserer

131
Anhang 3: Interview II

440 Gesellschaft nichts anderes anbieten, denen bleibt nur die Prostitution. Dieser Bereich
kann sich sehr schnell verändern, von der Klientel her. Es gibt immer wieder eine
Zusammenarbeit mit Flüchtlingsorganisationen. Es ist schwierig Organisationen zu
finden für diejenigen, die sich nur vorübergehend hier aufhalten. Es gibt ein ärztliches
Angebot für Illegale in Köln. Es gibt das ION, eine Organisation, die für Migranten auf
445 internationaler Ebene arbeiten und die Rückführungen machen, vor allem in der weibli-
chen Prostitution. Die übernehmen auch die Kosten. Etwas heikel, da die auch an den
Rückführungen interessiert sind. Diese müssen versichern, dass sie nicht mehr nach
Deutschland kommen.
Es ist schwierig, Leuten etwas zu vermitteln, die keine Ahnung davon haben, dass wir
450 professionelle Sozialarbeiter sind, die keine Vorstellung von professioneller sozialer
Arbeit haben. Man muss sich immer wieder sehr stark gegenüber den Migranten ab-
grenzen, vor allem im privaten Bereich und betonen, dass man professionell arbeitet.
Die deutschen Jungs sind da schon sehr daran gewöhnt, die kennen Institutionen und
haben oft ihre ganze Kindheit schon mit Sozialarbeitern durchlaufen.
455 Gerade für Frauen ist es eine Herausforderung, da Mannsein und Heterosein unter
Beweis gestellt wird. Als Mann oder schwuler Mann muss man aushalten, all das was
an Vorurteilen an Schwulsein so grassiert in der Szene, dass man lernt damit umzuge-
hen.
Wir arbeiten sowohl mit Männern als auch mit Frauen, wobei die Männer schwul sind
460 und die Frauen heterosexuell sind. Zugang haben beide Gruppen, jedoch die größere
Attraktion für die Migranten sind die Frauen. Aber bei bestimmten Themen wendet man
sich eher an einen Mann oder dementsprechend an eine Frau. Das hängt auch mit der
eigenen Biographie zusammen, da man gute oder schlechte Erfahrungen mit dem eige-
nen Geschlecht verbindet. Ein schwuler Stricher wendet sich eher an einen schwulen
465 Mann. Es hat aber auch eher mit der Männer- Frauenrolle zu tun.
Als Utopie sehe ich eine verantwortungsvollere Integrationspolitik die nach dem neuen
Integrationsgesetz nicht erfolgt ist. Leute die zehn Jahre in Deutschland leben, die
brauchen eine Arbeitserlaubnis und die Sicherheit, dass sie hier weiterhin bleiben kön-
nen, da sie sonst in die illegalen Bereiche abgleiten wie Drogenhandel oder Prostitution,
470 Raub usw. Wer hier 15 Jahre ist, der braucht eine Klarheit, um mit ihm auch effektiv
arbeiten zu können. 20% Migranten mit denen wir arbeiten, die dauerhaft in Deutsch-
land sind, darunter gibt es so viele, die eine ungünstigen Aufenthaltsstatus haben. Wir
müssen uns klarer als Migrationsprojekt sehen, da wir mit 60% Migranten arbeiten.

132
Anhang 3: Interview II

Man bekommt auch keine Gelder für Migranten, sie tauchen nicht im KJHG auf, auch
475 nicht in kommunalen Gesetzen zur Gesundheit, da sie keine Deutschen sind. Ist natür-
lich Unfug, da sich die Deutschen genauso anstecken wie die Migranten. Für eine gute
HIV-Prävention bedeutet dies, dass man auch Gelder locker machen muss, für Gruppen,
die offiziell nicht existieren in Deutschland. Natürlich gibt es die zuhauf. Die deutsche
Aidshilfe hat dieses Jahr unser Projekt finanziert und damit ganz klar die Migrantenar-
480 beit.

Aufgabenbereiche der sozialen Arbeit


Ziel der Bulgarienreise war kennen zu lernen, wie die Lebenswirklichkeit der Jungs ist,
um ein besseres Verständnis zu haben. Das Zweite war, in Bulgarien über die Situation
485 aufzuklären und dort zu sensibilisieren für dieses Thema, dass es sich hier um Rroma
handelt. Das dritte war Kooperationspartner zu finden. Im Falle, dass ein Bulgare ein
positives Testergebnis hat, muss überlegt werden, was mit ihm gemacht wird. Wer kann
in Bulgarien positive Klienten übernehmen. Im Inland ist der AKSD ein super Gremi-
um, weil das der Arbeitskreis ist, wo man fachlich am meisten rausziehen kann, sowohl
490 an Methodik als auch an Fachwissen. Auf der anderen Seite sind wir vernetzt mit den
Frauenprojekten in der Prostitution.
Es gibt neuerdings auch Zuhälterei. Jungs die wir als Stricher kennen, sind gleichzeitig
auch Zuhälter in der weiblichen Prostitution. Da ist es wichtig auch in die weibliche
Prostitution zu kucken. Der Austausch von Informationen über Aids und Hepatitis
495 zwischen Deutschland und Bulgarien soll stattfinden, damit die Klienten hier in
Deutschland über zuständige Einrichtungen informiert werden können. Es gibt ein
Antrag auf Finanzierung über ein gemeinsames Stricherprojekt zwischen Sofia und drei
weiteren europäischen Ländern. Hier sollen die Bulgaren erfahren, wie es wirklich ist in
der Prostitution in Deutschland sowohl die Sozialarbeiter als auch die Klienten, um
500 diese zu desillusionieren, dass man nicht legal arbeiten kann und dass wir all das lernen,
wo die kulturellen Unterschiede liegen.
Wir haben einmal in sechs Wochen Fallsupervision, wöchentliches Team. Es gibt ein
Dokumentationssystem, in dem jeder Klient, der in der Anlaufstelle auftritt dokumen-
tiert wird.
505 Kontinuität, verlässliches Angebot, geregelte Zeiten für die Jungs ist wichtig. Der
Lebensrhythmus der Jungs ist so flexibel, dass dieses verlässliche Angebot ganz viel
wert ist und das über Jahre sagen zu können. Flexibilität natürlich auch, dass wir bereit

133
Anhang 3: Interview II

sind, Informationen nachzugehen. Das Internet ist auch sehr wichtig, nicht für die
Migranten, für alles andere was sich mit Prostitution abspielt ist das ein großes Thema,
510 den Schritt zu schaffen, in diesen virtuellen Raum. Es werden da dieselben Angebote
gemacht, die auch in der Szene gemacht werden, in der Altstadt. Man kann genau so
klare verlässliche Angebote schaffen, kann den Zugang bekommen durch verschiedene
Portale und ebenso eine Beratung machen. Am Wochenende gehen wir einmal im Portal
Streetworken, eher aber selten, da der Zugang schwer ist und das Geschäft im Mittel-
515 punkt steht. Eher um sich einen Überblick zu schaffen, wie die Szene gerade so ist,
nicht unbedingt Kontakte herzustellen.
Die Parteilichkeit ist sehr wichtig. Wir zeigen dies so, indem wir überwiegend für die
Stricher da sind. Es spielt eine große Rolle, auch auf Grund der Stigmatisierung, den
Jungs ein klares Signal zu geben, dass wir für sie da sind, wenn sie auf den Strich gehen
520 und dass sie das auch dürfen. Ebenso signalisieren wir ihnen, dass sie auch auf den
Strich gehen müssen, um in unsere Anlaufstelle kommen zu dürfen. Das alles ist wich-
tig, um eine Öffnung zu diesen Themen zu erreichen, dass sich die Stricher trauen über
Sex mit den Freiern zu reden.
Hier ist es ein reiner Kneipenstrich. Es gibt ein Bordell, da gibt es aber auch keine
525 Bulgaren, eher Südamerikaner. Wir arbeiten auch mit diesen Bordellbesitzern zusam-
men und gehen da einmal im Monat hin zum Streetworken.
Professionalität macht aus, dass man erkennt, dass die Zielgruppe zum größten Teil aus
Migranten besteht. Es gibt sehr interessante Themen mit den Deutschen, aber was
Prävention angeht, sind die Migranten viel mehr gefährdet. Deswegen ist es wichtig,
530 was man für Angebote schaffen kann für diese Jungs. Man muss inhaltlich gute Ange-
bote haben und wissen welche Gesundheitsversorgung für Migranten möglich ist.
Man muss das bestimmte Fachwissen haben (Asylrecht, Gesundheitswesen, Gesetzesre-
gelungen). Man braucht hier in der Niedrigschwelligkeit eine sehr klare Distanz. Wir
sind eine Einrichtung, die im Vergleich zu anderen Einrichtungen, sehr nahe an den
535 Klienten dran ist, da wir viel privates Wissen über die Klienten und die auch über uns.
Dementsprechend ist auch der Umgangston hier in der Einrichtung. Umso wichtiger ist
es dann, klar zu wissen, wo die Grenze ist, vor allem aus meinem privaten Bereich aber
auch um auszuschließen, dass ich nicht als Flirtpartner in Frage komme. Jedoch fällt
Distanz unterschiedlich aus, je nach dem, ob Mann oder Frau, homosexuell oder nicht.
540 Wenn ein Klient selber nicht sagt, dass er schwul ist, ist er es auch nicht.

134
Anhang 3: Interview II

Akzeptanz ist, das anzunehmen, was der Junge mir an Themen anbietet und das auch
nicht zu bewerten. Wichtig auch nicht derjenige zu sein, der den Lebensstil der Stricher
beurteilt, sondern zu fragen, was ein Junge will und ihn dabei zu unterstützen.
Die Niedrigschwelligkeit spielt ein große Rolle, dahinzugehen, wo die Jungs sind, um
545 es den Jungs leicht zu machen und keine schwierigen Regeln aufzubauen.

Anregungen
Eine besondere Schwierigkeit in der Migration ist die Verbindung zum Frauenstrich, die
es gibt und die alle Projekte kennen. Nicht alle Jungs, aber vielleicht fünf bis zehn
550 Männer, und das reicht schon, bringen eine oder vier Frauen mit. Eben auch wegen der
Parteilichkeit entsteht hier eine Schwierigkeit, da wir nicht mit Zuhältern zusammenar-
beiten. Da kommen wir an unsere Grenzen, da auch dieser Mann oder Junge ein Hilfs-
angebot benötigen würde, aber gleichzeitig auch andere Frauen in Abhängigkeit bringt.
In letzter Zeit haben wir diesen auch den Zugang zur Anlaufstelle verweigert, da wir
555 Prostitution als etwas sehen, das man nicht freiwillig macht. „Du machst das nicht
freiwillig und bei den Frauen ist das auch nicht anders, wenn du daran mitverdienst,
dann sehen wir das als Ausbeutung an.“

135
Anhang 3: Interview III

Interview III, marikas e.V., München

Tabuthema?
5 Für mich ist es eigentlich kein Tabuthema. Zuerst mal finde ich, muss jeder selber
verantworten was er macht. Das ist meine persönliche Vorstellung von Moralkodex. Ich
muss das, was ich selber mache, auch verantworten vor mir, meinem Nächsten, viel-
leicht auch vor Gott. Insofern ist das auch so bei Prostitution, wenn jemand sich jeman-
den kaufen will, soll er das machen, wenn er das verantwortungsbewusst tut. Also wenn
10 das, was vorher abgesprochen wird, auch eingehalten wird, ist das für mich auch ein
ganz legales Geschäft und habe da niemanden zu verurteilen. Ich kenne viele Leute, die
mir erzählt haben, dass sie früher Stricher waren oder noch sind, die ich jetzt unabhän-
gig von der Arbeit kennen gelernt habe oder Freunde, mit denen ich früher im Sandkas-
ten gespielt habe. Das passiert gar nicht so selten. Da hab ich kein Problem damit. Es
15 ändert sich nichts in der Beziehung zu diesen. Aber auch mit Leuten, die gesagt haben,
sie haben sich schon mal als Freier betätigt, oder eine geile Session gekauft, habe ich
kein Problem im Umgang.
Es gibt alle Formen, also auch alle Möglichkeiten, die man sich vorstellen kann, wie sie
Freier sind, wie sie Stricher sind, können vorkommen. Aber die Tendenz ist, dass bei
20 den Strichern ein Identitätsverlust stattfindet. Stricher sehen sich nicht mehr als Stricher.
Sie haben keine Identität mehr als Stricher. Die Jungs, mit denen wir hier zu tun haben,
die brauchen schnell viel Geld und wie sie dieses Geld bekommen, da ist Prostitution
ein Mittel zum Zweck. Sie haben keinen Berufsethos, sehen sich nicht als Stricher.
Viele lehnen das ab, haben Probleme damit, wenn sie so betitelt werden. Wenn wir
25 unser Angebot so anpreisen, z. B. Beratungsstelle für Stricher oder Seminare für Stri-
cher, dann finden sie das oft abwertend und identifizieren sich nicht damit. Also wir
müssen versuchen, anders an die Jungs ranzukommen. Das ist ein Indikator dafür, dass
sie das selber wieder mehr tabuisieren und sich nicht in diese Ecke stellen lassen, die für
sie mit Abwertung zu tun hat. Ich würde sagen, früher war das anders. Deutsche Jungs,
30 die zu uns kamen, hatten auch eine politische Meinung dazu und fanden das auch ein
Stück weit legitim, dass sie sich da in einer Szene aufhalten. Sie haben sich da beheima-
tet gefühlt und sich ein ganzes Stück weit damit identifiziert. Natürlich haben diese das
nicht nur toll gefunden und es stolz präsentiert. Sie haben sich sicher auch gegenüber

137
Anhang 3: Interview III

anderen Gruppen in der Szene gegenseitig auf und abgewertet, dass sie gesagt haben:
35 die Ausländer sind schlecht, die versauen uns den Preis. Das passiert auch heute so.
Aber sie haben sich mehr identifiziert als heute.
Bei den Freiern ist es eher umgekehrt. Es gibt mehr Freier, die dazu stehen, dass sie sich
ab und zu einen Jungen kaufen. Trotzdem ist es bei der Mehrzahl so, dass sie sich nicht
als Freier sehen, sondern eher als besseren Sozialarbeiter, der jemandem, der aus dem
40 Osten kommt, kein Geld und kein Dach über dem Kopf hat, von der Straße weghilft und
ihn unterstützen und fördern will. Dass sie dann nebenher eine Kleinigkeit an sexuellen
Wiedergutmachungen für den Aufwand anfordern, das sehen sie dann nicht so wirklich.
Jedoch wenn sie sich als Freier betitelt sehen, wäre ihnen das zu plump und zu krass.
Sie würden sich eher so als Helfer sehen wollen und dass man da eine Nettigkeit erwar-
45 tet, ist dann selbstverständlich. Ich denke eher so, ist die Argumentationslinie von
denen.
Ich sehe das als Sozialpädagoge allerdings anders. Da sie doch eine sehr hohe Macht-
stellung haben, wenn der Junge nicht so spurt, wie sie sich das dann vorstellen oder
wenn er als unwillig oder unbelehrbar gilt, fliegt der schnell wieder raus. Die sozialar-
50 beiterischen Ambitionen lassen dann doch sehr schnell wieder nach. Also dann doch
eher wieder die Richtung des klassischen Freiers.
Ich denke in den Metropolen, wo auch große Schwulenszenen sind, wird so was auch
eher gesehen oder bemerkt. Es ist aber grundsätzlich so, dass Prostitution, nachdem es
in den letzten Jahren relativ liberaler gehandhabt wurde, von dem Rest der Republik
55 wahrgenommen wird, vor allem auch durch die neue Gesetzgebung. Zum Beispiel,
gehört in Hamburg Prostitution einfach dazu. Da hat schon die Tabuisierung ein biss-
chen nachgelassen, weil es schon eher anerkannter ist, wenn das ordentlich läuft, dann
kann man das auch akzeptieren oder erlauben oder auch Sperrgebietsregelung zu hinter-
fragen oder zu lockern.
60 Jetzt mit der Fußball-WM hat sich das umgekehrt und relativ schnell sind alle wieder
von diesem Pferd abgesprungen, dass man es abschaffen und verbieten muss. Wenn das
dann auch noch Männer miteinander machen… Überall ist die Mafia und Zwangsprosti-
tution dabei… da wird dies doch eher wieder von der Politik her tabuisiert, um eine
Handhabung dagegen zu haben. Es ist eher ein politisches Instrument, diese neuerliche
65 Tabuisierung. Diese Befürchtungen, dass es tausende illegale Prostituierte während der
WM geben wird, haben sich nicht bewahrheitet. Sicher gibt es Zwangsprostitution, aber
man muss da genau hinschauen, wo das ist und eine allgemeine Hysterie hilft weder den

138
Anhang 3: Interview III

Zwangsprostituierten noch sind das geeignete Wege um dieser Problematik her zu


werden. Es hat alles nicht so stattgefunden wie es heraufbeschworen wurde. Jetzt hat
70 auf einmal auch keiner mehr behauptet, dass es so eintreffen wird. Aber nichts-
destostrotz schreien alle nach mehr Sicherheit, nach mehr Überwachung, nach Geboten,
nach neuen, strengeren Gesetzen usw. Speziell hier in München ist es sowieso so, dass
die CSU-Landesregierung versucht, die Umsetzung in Bayern, das Prostitutionsgesetz
zu hemmen und zu blockieren. Es versucht auch der Staat aufzuerlegen was zu tun ist
75 und auch im Stadtrat selber gab es eine relativ liberale Meinung auch von der SPD. Die
Damen und Herren ziehen sich da jetzt zurück und meinen jetzt, man muss da mit
Sanktionen reingehen, um die Szene besser kontrollieren zu können, obwohl keine
Befürchtungen während der WM eingetroffen sind. Ich glaube auch nicht, dass die
Polizei da etwas übersehen hätte. Mit der jetzigen Gesetzesregelung haben sie das
80 offenbar gut im Griff und einen Überblick über das, was in München stattfindet. Den-
noch ist die Tendenz eher rückwärts reaktionär, das alles zu verschärfen.
Als Einrichtung werden wir von der Gesellschaft kaum wahrgenommen, wenn wir uns
nicht selber in den Mittelpunkt stellen und Pressearbeit usw. machen würden. Seitens
der Gesellschaft gibt es nicht viele Reaktionen.
85
Stricher
Wir halten uns mit Zahlen sehr zurück. Wir treffen ca. 300 verschiedene Personen im
Jahr, die wir auch mehrmals in den Kneipen treffen. Wir haben unsere Streetworkarbeit
außerhalb unserer Anlaufstelle. Die durchschnittliche Zahl der Jungs, die hier in Mün-
90 chen gleichzeitig ihre Dienste anbieten, rechnen wir auch auf die gleiche Menge, also
300 Leute. Wir versuchen das zu überschlagen durch die Angebote, die wir per Internet
sehen können, durch die Angebote, die wir in der Zeitung sehen können oder die Leute,
die wir hier in der Einrichtung treffen. Es ist wirklich nur eine Schätzung und das kann
man nur mit wenig Sicherheit sagen. Es sind auch nicht alle Stricher gleich hilfebedürf-
95 tig, dass diese unser Angebot wahrnehmen müssen oder dass wir sie dort treffen, wo wir
glauben, sie antreffen zu müssen.
Die Jungs, die wir treffen, sind alle volljährig, es gibt kaum welche, die unter 18 sind
eher über 21 sind. Damit sie durchs Anschaffen keine Probleme mit der Polizei kriegen,
da unter 21 Prostitution nicht gestattet ist bzw. versucht die Polizei das zu unterbinden,
100 bestraft Leute, die Stricher anstellen über Zuhälterei. Menschenhandel fällt dann unter
diesen Paragraphen. Deswegen wird keine Kneipe, Stricher, die jünger als 21 sind, bei

139
Anhang 3: Interview III

sich dulden. Ich denke das ist eine bundesweite Einteilung. Es kommt auch darauf an,
wie scharf die Polizei da kontrolliert. Wenn die Polizei damit zufrieden ist, dass die
Jugendschutzbestimmungen für den Aufenthalt in einer Kneipe erfüllt werden, reicht 18
105 Jahre. Wenn sie denen unterstellen, dass sie der Prostitution nachgehen, würde das nicht
reichen. Aber ich denke, das unterstellen sie nicht und das ist das entscheidende Kriteri-
um, welches die Polizei da anwendet.
Wir haben die meisten Jungs aus Rumänien, ca. 60- 70%. Dann haben wir Tschechen
und Slowaken. Die waren früher die meisten, sind jetzt aber die zweite Gruppe gefolgt
110 von den Bulgaren. Dann gibt es vereinzelt Ungarn und Brasilianer. Irgendwann kom-
men die Deutschen. Die Mehrheit der Jungs stammt aus Rumänien aus Familien, wo die
Eltern Langzeitarbeitslose sind und sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlagen. Die
Jungs haben ein schlechte oder keine Schulausbildung und wenig Chancen in der Regi-
on, aus der sie kommen, Arbeit zu finden. Es sind keine Rromas bei uns. Vielleicht 10%
115 der Jungs die zu uns aus Rumänien kommen sind Rromas. Die anderen sind Rumänen.
Die meisten kommen aus dem Kohlebecken bei Lupeni und Betrocham und Petrila. Das
sind ca. 60% der Jungs. Dann gibt es welche aus Siebenbürgen und welche aus dem
östlichen Teilen, nahe der Moldau, ca. 10%. Dann kommen welche aus Arad und ver-
einzelt welche aus Bukarest. Die meisten kommen aus Regionen, wo Industrie angesie-
120 delt war, die aber niedergegangen ist.
Es sind keine organisierten Schlepperbanden, die da Menschenhandel treiben, sondern
eher, dass irgendwelche Freunde zurückkommen, angeben wieviel Geld sie hier verdie-
nen und sagen, wie locker und toll das Ganze hier ist und sich als tollen Held verkaufen
und andere dann wieder mitbringen. Dass diese dann vielleicht über diese Leute, die sie
125 mitbringen, sich die Reise finanzieren lassen, sich einen kleinen Bonus bezahlen lassen,
kommt schon vor. Aber es ist was anderes als Zuhälterei oder Menschenhandel. Das
sind Freundschaftsdienste mit Umkostenbeitrag. Aber ich denke auch, dass es doch sehr
oft über Mund zu Mund geht. Dann gibt es aber auch welche, die hier her kommen,
versuchen Geld zu verdienen, auch in anderen Bereichen und dann in der Prostitution
130 landen. Es ist nicht immer das Ziel, hier in der Prostitution zu arbeiten.
Homosexualität ist in Rumänien seit ein paar Jahren erlaubt. Es war eine Bedingung der
EU, dass eben keiner wegen seiner sexuellen Orientierung, Religion oder Nationalität
verfolgt werden darf. Deswegen ist es erlaubt, aber es ist eigentlich undenkbar dort, eine
offene Beziehung zu leben oder zu heiraten. Insofern ist es natürlich ein Tabu, wenn
135 man Sex mit Männern zugibt. Allerdings glaube ich auch, dass die Leute, die dann von

140
Anhang 3: Interview III

dem hier verdienten Geld leben, nicht wissen wollen, wie das verdient wird. Hauptsache
das Geld läuft. Die Jungs, die ich frage, was sie denn daheim erzählen, sagen, dass sie
ein bisschen im Service arbeiten oder machen mal dies, mal das. Da denke ich mir auch,
wenn da jemand genauer nachfragen würde, würden sich diese sicherlich verstricken in
140 irgendwelche Aussagen. Aber offenbar fragt keiner genauer nach. Das ist Fakt. Es will
also keiner wissen, Hauptsache die Kohle stimmt.
Gerade in Rumänien und Bulgarien und vielen ärmeren ehemaligen Ostblockländern ist
dieser Konsumzwang und Drang so enorm groß, dass man dann so was auch in Kauf
nimmt, auch wenn niemand darüber spricht, weil es so ein riesiges Tabuthema ist, eben
145 mit der Homosexualität und Prostitution. Aber fürs Geld würde man das trotzdem in
Kauf nehmen.
Indirekt werden sie natürlich auch durch Werte der Religion geprägt. Praktisch haben
wir sehr selten praktizierende Christen, die dann wirklich beichten gehen oder es als
Sünde oder als moralisch verwerflich ansehen, weil es jetzt die Kirche so vorschreibt.
150 Aber im Prinzip ist es für sie schon ein Tabu.
Bei den Rroma sieht es manchmal ein bisschen anders aus. Da ist Prostitution eher eine
Möglichkeit Geld zu verdienen, da es über Jahrhunderte die Rolle der Zigeuner war, alle
legalen und illegalen Möglichkeiten auszuschöpfen. Wir hatten schon selber am Telefon
mitgehört, wie die Großmutter den Jungen aufgefordert hat, dass er endlich den Arsch
155 hinhalten soll, damit das Geld kommt. Ich tue mich schwer, da wir sehr wenige Rromas
haben, das zu verallgemeinern, aber ich vermute sehr, dass es legitimierter ist als bei
den anderen.
Die rumänischen und bulgarischen Jungs haben mittlerweile auch die Freizügigkeit in
der EU, d. h. sie können sich als Touristen drei Monate am Stück aufhalten und dann
160 müssen sie das Land wieder verlassen. Nach frühestens drei Monaten können sie wieder
hierher kommen. In Bayern sieht die Polizei das anders. Sie sagen, diese dürfen drei
Monate hier bleiben und müssen doppelt so lang zu Hause sein, wie sie hier sind, um
nachzuweisen, dass sie eben ihr Lebensmittelpunkt in ihrem Herkunftsland haben und
hier nur als Touristen sind. Wenn sie das nicht glaubwürdig nachweisen können, kann
165 man ihnen unterstellen, dass sie der illegalen Erwerbstätigkeit nachgehen, vor allem
wenn sie ständig in der Stricherszene entdeckt werden und nicht nachweisen können,
wie sie ihr Geld verdienen, mit dem sie ihren Lebensunterhalt bestreiten. Fakt ist, es
muss nachweisbar sein, dass die Jungs ihren Lebensmittelpunkt in ihren Herkunftslän-
dern haben. Dann muss nachgewiesen werden, dass sie zu Hause Geld verdient haben,

141
Anhang 3: Interview III

170 dass sie sich wieder einen dreimonatigen Aufenthalt leisten können. Auch wenn im
Ausweis die Stempel so unregelmäßig drin sind oder ein Junge da ist und keinen Stem-
pel hat und von der Polizei kontrolliert wird und nicht genau nachweisen kann, wann er
gekommen ist, wird das gegen ihn verwendet. Wenn er die letzten Zeiten alle gestem-
pelt hat und ständig alle drei Monate hier aufkreuzt und keinen Stempel hat, weil er
175 nicht kontrolliert wurde, kann ihm unterstellt werden, dass er schon länger hier ist. Es
ist immer wichtig, den Ausreisestempel zu bekommen und auch sich bei der Polizei zu
melden, wenn sie keinen Stempel an der Grenze bekommen haben. In Bälde wird sich
das jedoch erübrigen, wenn diese Länder in die EU beitreten.
Es ist mit der Identität schwierig, sie würden sich eher als Jobber in unterschiedlichen
180 Bereichen bezeichnen und betätigen sich im In- und Export an möglichen Dingen. Die
Dienstleistung Prostitution ist ein Mittel um Geld zu verdienen. Wenn es sich lohnt in
einem anderen Job zu arbeiten, würden sie diesen auch annehmen. Das ist aber auch
eine Schwierigkeit. Wie hart ist jemand bereit zu arbeiten für wie wenig Geld. Also ab
wann lohnt es sich. Ich habe auch festgestellt, dass einige Jungs Angebote zur Arbeit
185 haben und eben glauben, in der Prostitution mehr Geld zu verdienen und deswegen den
Job nicht annehmen. Es wird niemand zugeben, dass sie nur hier sind, um ihre Homose-
xualität auszuleben. Das wird niemand zugeben, weder vor seinem Outing noch danach.
Fakt ist, dass einige Jungs, die länger hier sind, eine gewisse homosexuelle Neigung
zeigen. Sie trauen sich, das zu leben oder ihr „Schwulsein“ darin offen zu tun oder für
190 sich selbst erst anzuerkennen. Ich glaube bei vielen passiert es so im Unterbewusstsein
und während der Tätigkeit erst für sich selber klar werden. Vorher behaupten sie, dass
sie nicht schwul sind und wissen es selber nur noch nicht.
Wir versuchen, dass die Jungs ein Bewusstsein zum Anschaffen entwickeln. Aber wenn
die Jungs keine Identität zum Job haben, dann ist es schwierig, eine Professionalität zu
195 entwickeln oder professionell zu handeln. Das ist das größte Problem im Moment.
Einige haben Familie zu Hause, einige versorgen ihre Eltern oder Geschwister mit. Sie
haben schon Druck, relativ regelmäßig Geld nach Hause zu schicken. Die Familie hat
nicht unbedingt Auswirkung auf den unterbewussten Versuch irgendwelche homosexu-
ellen Anteile auszuleben. Es ist durchaus möglich, dass jemand der schon zwei Kinder
200 hat, feststellt, dass er sich auch zu Männern hingezogen fühlt. Hier muss ich aber noch
ergänzen, dass die Szene über die Freier relativ wenig Lust bringt, homosexuelle Nei-
gungen mit diesen auszuprobieren. Eher dann, dass sie mit anderen Strichern in Kontakt

142
Anhang 3: Interview III

kommen und es da ausprobieren oder wenn sie länger da sind, dass sie sich trauen, über
die Schwulenszene Leute kennen zu lernen.
205 Zu 90% ist die Motivation der finanzielle Anreiz. Die meisten Jungs, die wir hier antref-
fen, betreiben Armutsprostitution, um sich aus ihrer finanziellen Situation zu verbes-
sern. Die Homosexualität ist ein relativ kleiner Bereich, der hier eine Rolle spielt.
Nichtsdestotrotz ist es bei uns Thema, bei den Beratungen nachzufragen, ob es da
Schwierigkeiten gibt oder ob man darüber reden muss. Ich und mein schwuler Kollege
210 sind da als Person immer wieder Beispiel oder Anhaltepunkt für die Jungs, wenn sie
darüber reden wollen oder uns als Vorbild zu nehmen. Anschaffen, wenn’s nicht ums
Geld geht.
Die meisten haben besonders noch am Anfang die Illusion, dass sie hier schnell Geld
machen können und sich zu Hause eine Existenz aufzubauen und zwar eine solche, wo
215 sie nicht mehr arbeiten müssen, sondern andere für sich arbeiten lassen. Hier bleiben
wollen die Jungs, die dann eine schwule Identität entwickeln. Diese versuchen, sich zu
binden oder zu heiraten. Ebenso wollen die Jungs hier bleiben, die nicht mehr attraktiv
genug sind, um in der Prostitution zu arbeiten und noch kein Vermögen angehäuft
haben, aber in der Heimat auch keine Perspektiven mehr haben. Sie versuchen auch
220 einen dauerhaften Aufenthalt hier zu bekommen, um in anderen Bereichen zu arbeiten
oder eine Arbeitsgenehmigung zu bekommen. Wir haben auch Stricher, die als Zuhälter
in der weiblichen Prostitution gelten. Diese kommen von sich aus nicht mehr in die
Anlaufstelle, da sie uns nicht mehr brauchen, weil sie bereits ein Vermögen angehäuft
haben. Sie leben davon, dass sie die Frauen hierher bringen oder auch den einen oder
225 anderen Jungen. Auch über Zimmervermietung machen diese ihr Geld. Nichtsdesto-
trotz, wenn wir die in der Stricherszene antreffen, sprechen wir mit diesen und hinter-
fragen und beraten sie, wenn Bedarf ist. Natürlich versuchen wir sie auch positiv zu
beeinflussen, dass sie diese Frauen gut behandeln und nicht ausnehmen. Wir fragen oder
hinterfragen auch ihre Einstellung dazu, wie sie das selber finden. Zu den Angeboten,
230 wo für andere Jungs ein Schutzraum zur Verfügung steht, werden sie nicht mehr zuge-
lassen. Mitunter schaffen sie auch noch selber bei ihren Stammfreiern an.
Wir sprechen von Transmigranten, das heißt diese haben einen Fixpunkt in ihrem Land,
in ihrer Stadt, in der sie einen sozialen Status erwerben wollen. Diesen kann man unter
den Umständen des wilden Kapitalismus oder Neokapitalismus nur mit Geld in ihrem
235 Land erwerben. Um dieses Geld zu beschaffen, sind sie bereit, jede Arbeit im Ausland
anzunehmen. Wichtig ist, dass sie diese Arbeit im Ausland machen, da sie niemand im

143
Anhang 3: Interview III

Ausland kennt und sie sich nicht komprimiert fühlen. Da kann man dann auch Arbeit
machen, die zu Hause tabuisiert ist, wie zum Beispiel Prostitution. Die Familien reden
sich ein zu glauben, dass dieses Geld auf ehrliche Weise verdient wurde. Je mehr Geld
240 nach Hause geschickt wurde, desto erfolgreicher ist der Sohn/ die Tochter im Ausland.
Je mehr die Familie sich Luxusgüter dafür leisten kann, umso höher ist auch das Anse-
hen zu Hause. Deutschland ist dabei nur ein Punkt. Viele Rumänen nutzen Deutschland
vorwiegend für Prostitution oder vielleicht auch, über die Stricherszene Jobs auf dem
Bau oder Wohnungsrenovierungen anzunehmen. In Italien arbeiten sie viel in der
245 Landwirtschaft, in Spanien auch. In Irland kann man auch wieder mehr auf dem Bau
arbeiten. Da gibt es auch diese legalen Arbeitsbedingungen, da geht es schneller. Da
gibt es kein Arbeitsverbot als Angestellter, sondern da gibt es Möglichkeiten sektional
oder längere offizielle Arbeitsverträge zu machen. In Italien ist das so: wenn man da
längere Zeit illegal gearbeitet hat und dies funktioniert hat, dann bekommst du einen
250 legalen Status mit dem du dann arbeiten darfst. Dass es so wirklich gemeinschaftsorga-
nisierte Gruppen gibt, ist selten. Es gibt Freunde, die sich beim Anschaffen treffen oder
auch eine Fahrgemeinschaft bilden. Aber eigentlich ist hier jeder ein Einzelgänger,
macht sein Ding alleine und man trifft sich immer wieder an verschiedenen Stationen,
die für alle vielleicht gleich verlaufen, vielleicht mal einen Wechsel von hier nach
255 Zürich und dann mal nach Hamburg. München, Wien, Zürich ist immer so eine Verbin-
dung, auch mal als Aushilfe in Teilen der Landwirtschaft. Aber dort eher einzeln. Das
gibt es schon, dass ethnische Gruppen untereinander einen Verbund bilden. Ich würde
aber sagen, wenn es ums finanzielle geht, dann kuckt schon jeder wo er bleibt. Es ist
eher so, dass sie ein Stück Heimat sehen, da sie dieselbe Sprache sprechen. Man trifft
260 sich dann wieder, da es ein Stück weit Geborgenheit gibt. Aber es ist keine Versiche-
rung dafür, dass sie von den anderen durchgefüttert werden, wenn’s darauf ankommt.
Soweit reicht die Zuneigung dann auch nicht. Sie sehen sich schon eher als Konkurren-
ten. Es gibt immer die Ausnahme, wo welche miteinander Freundschaft schließen. Es
gibt schon Zweierreisegruppen, aber größere Gemeinschaften eher selten. Dies sind
265 dann meistens auch Verwandte oder Cousins, kommen aus dem gleichem Dorf oder
sogar Geschwister.
Es gibt durchaus Jungs, die sich tatsächlich ein Bleiberecht erworben haben und in ihrer
Wohnung auch an ihre Landsleute untervermieten. Das ist eine Möglichkeit, wo sie
sagen, sie wohnen bei Freunden. Dann gibt es aber viele Freier, die aus ihrer Wohnung
270 eine kleine Pension machen und immer wieder den interessantesten Jungen einladen.

144
Anhang 3: Interview III

Die kommen dann schon auch über Zuspruch von Strichern, die schon länger bei dem
Freier gewohnt haben und empfehlen einem Freund, dass der Freier den auch aufneh-
men könnte. Letztendlich entscheidet der Freier, wer bei ihm wohnt. Es wohnen unter-
schiedlich viele Stricher beim Freier, der interessanteste schläft dann im Bett vom Freier
275 und der nicht so interessante schläft umso weiter weg. Es ist klar, dass es eine ausnut-
zende Machtposition des Freiers ist, die dies selber so nicht sehen und ablehnen. Wir
finden dies sehr problematisch. Aber wir haben keine Möglichkeit, da wir nicht so viele
Schlafräume anbieten können, noch sehen wir das auch sinnvoll. Toll ist es für die
Jungs nicht, so zu leben. Eine andere Wohnmöglichkeit ist, dass sich die Stricher zu-
280 sammen ein Hotelzimmer anmieten. Es gibt Hotels, die Zimmer zu Festpreisen vermie-
ten und es ist dann egal wie viele Jungs da schlafen. Das heißt aber nicht, dass sie dann
eine dauerhafte Reiseverbindung haben und zusammen umherreisen. Es wird nur das
Zimmer geteilt.
Es sind ganz viele, die nicht wissen, wo sie abends hin sollen. Das sind meistens dieje-
285 nigen, die am unattraktivsten sind, weil sie zu alt oder zu arm sind und sich nicht pfle-
gen können oder drogenabhängig sind. Auf Grund dieser Drogenabhängigkeit auch
wieder weniger attraktiv sind. Eins beeinflusst auch wieder das andere. Das ist mindes-
tens die Hälfte, die nicht wissen wohin sie sollen. Wir vermitteln auch an Obdachlo-
senwohnheime, aber es kommt meistens keiner an. Im Sommer gibt es so ein Camping-
290 angebot, wo es Übernachtung für sechs Euro mit Frühstück gibt, dann vermitteln wir
zur Heilsarmee und zu einer Einrichtung vom evangelischen Hilfswerk. Sie suchen sich
dann meistens selber Sachen. Obdachlosenunterkünfte sind für sie nur ein Notfall.
Wenn sie gut verdienen, verdienen sie mehr als ich, wenn sie jung sind und es gut
anstellen. Man kann das durchaus auch in der Stricherszene verdienen, dann ist es schon
295 eine gewisse Professionalität. Nur weil man ein Zimmer hat und einen geregelten Auf-
enthalt hat, heißt das nicht gleich professionell. Wenn man als rumänischer Junge gut
aussieht, weiß was man will, bereit ist, Praktiken einzugehen, die der Freier wünscht
und das Geschick hat, den Freier um den Finger zu wickeln und dann eine Illusion
verkauft, setzt das schon eine Professionalität voraus. Aber auch wenn man Klarheit in
300 sich hat und Ziel gerichtet auf dieses Geschäft hinarbeitet. Aber ich denke, das kann
durchaus auch ein Stricher machen, wenn er geschickt ist. Aber das schaffen die we-
nigsten. Da gibt es ein zwei Beispiele. Die anderen haben offensichtlich die Illusion,
dass alle so viel Geld verdienen können. Sie denken auch, dass sie das können und
wenn sie es heute nicht schaffen, dann morgen. Sie leben von heut auf morgen. „Mor-

145
Anhang 3: Interview III

305 gen hab ich vielleicht die Chance und ich muss weiter in der Szene bleiben, um diese
Chance nicht zu verpassen.“ Diese Illusion besteht und jeder glaubt das. Fakt ist, dass
die meisten so viel verdienen, dass sie sich ihr essen leisten können, ihre Zigaretten und
ab und zu noch ein Bier oder Partydrogen, um zu vergessen, in was für einem Scheiß
man sich gerade aufhält. Dass es von der Hand in den Mund reicht, trifft bei den meis-
310 ten zu. Einige verdienen auch noch was, dass sie sich was wegsparen können oder es
nach Hause schicken. Einige kaufen sich Wohnungen und sichern sich eine Existenz.
Das erzählen uns immer wieder welche, dass sie eine Wohnung oder ein Auto kaufen.
Nachprüfen können wir das nicht, ob das wirklich stimmt. Aber es ist möglich.
Es gibt sicherlich welche, die nicht schwul sind und ihren Job trotzdem sehr gut ma-
315 chen. Allerdings müssen sie die Homosexualität des Freiers und die Szene ein Stück
weit akzeptiert haben. Wenn sie es wirklich noch sehr negativ bis ablehnend sehen,
dann können sie diesen Job weniger gut ausführen. Ein Freier ist dann oft nicht mehr
bereit, nochmals einen guten Preis zu bezahlen, weil die Freier sich nicht ernst genom-
men fühlen und das nicht als toll empfinden.
320
Freier
Ich glaube die Freier unterscheiden sich relativ wenig zu Freiern in anderen Städten.
Viele Stricher sagen, dass man in München mehr verdienen kann als in anderen Städten
und dass die Stricherszene nicht so heruntergekommen ist, da die Freier einen anderen
325 Anspruch haben, dass die Szene noch nicht so heruntergekommen ist. Drogenstrich ist
in München nicht so nachgefragt. Den gibt es auch, aber es ist ein kleineres Marktseg-
ment als es vielleicht in Frankfurt oder in Hamburg ist. Aber sonst gibt es die gleichen
Typen, die sich eher als Helfer oder als Sozialarbeiter sehen. Es gibt die reichen Freier,
die mal mit dem Rolls Royce vorgefahren sind. Es gibt den armen Rentner, der sich das
330 vom Mund abspart und sich das nur alle halbe Jahre leisten kann. Es gibt den jungen
Schwulen, der etwas ausprobieren will, es gibt alles. In den Kneipen sind es meistens
die gleichen Leute, die sich da aufhalten, die sich in der Szene wohlfühlen, die das als
ihr soziales Umfeld sehen und sich da verlustieren, ihre Freierfreunde treffen, gerne sich
mit dem Barkeeper und dem Stricher unterhalten. Wenn ihnen dann einer gefällt, neh-
335 men sie ihn mit heim. Sonst sind viele aber sehr geizig und sparsam und unterhalten
sich lieber lange und führen Gespräche, damit sie sich zu Hause selbst befriedigen
können. Es ist nicht immer so klar, dass die Freier, die in den Kneipen sind, es unbe-
dingt abgesehen haben auf eine sexuelle Handlung. Es ist in München das Sperrgebiet

146
Anhang 3: Interview III

sehr streng ausgelegt und deswegen ist ein Straßenstrich auch sehr schwierig. Hier ist
340 Prostitution im Sperrbezirk sowohl in Kneipen oder in Puffs als auch in Privatwohnun-
gen und auch auf der Straße verboten. Das heißt, die wenigen Straßen, die in München
außerhalb des Sperrbezirks liegen, sind von den Frauen besetzt. Das bedeutet für die
mann- männliche Prostitution, die sich immer am Rande der Schwulenszene befindet,
die wiederum traditionell in der Innenstadt und um das Hauptbahnhofgebiet angesiedelt
345 ist, dass es zu kaum einer Straßenprostitution kommt. Es gibt in München ein Etablis-
sement, das mann- männlich Prostitution anbietet, mit mäßigem Erfolg. Es gibt hier
auch Kontrollen von der Polizei, mit Lockfreiern. Meistens kontrolliert die Polizei die
ausländerrechtlichen Delikte und Drogen.
Es kommt immer wieder zu Gewalt. Wir stellen fest, dass Freier Stricher mit nach
350 Hause nehmen und dort beklaut werden aus welchen Gründen auch immer. Wenn die
Jungs uns das erzählen, dann sagen sie, dass der Freier das nicht eingehalten hat, was er
versprochen hat. Die Freier sagen, dass der Junge nicht das eingehalten hat, was er
versprochen hat und die Jungs bedienen sich dann selber. Die Freier sind meistens sehr
leichtsinnig, weil sie leichtsinnig Jungs mit nach Hause nehmen und selber betrunken
355 sind und einschlafen. Fakt ist, dass der Junge Geld braucht, um zu überleben, der Freier
hat das Geld in der Sicht des Jungen und der Freier hat auf jeden Fall auch die Macht zu
sagen, ich mach das Geschäft mit ihm oder nicht. Der Freier hat da eine überlegene
Position. Aus dieser Sichtweise, aus der Parteilichkeit für Stricher, würde ich auch
sagen, dass in den meisten Fällen der Freier schuld ist, wenn’s schief läuft. Es ist sehr
360 müßig, für ein Stricherprojekt genaue Fakten aufzulegen und zu sagen, so oder so ist es.
Wir vermitteln nicht zwischen Freiern und Stricher bei Gewalttaten. Dadurch, dass der
Stricher seinen Lebensunterhalt zusammenkriegen muss, nimmt er unter Umständen
auch illegale Möglichkeiten in Anspruch, um an dieses Geld zu kommen.
Es gibt sehr selten frau- männliche Prostitution. Wir arbeiten nicht mit den Freiern
365 zusammen. Wir bilden schon Multiplikatoren aus über den AKSD und machen da
Professionalisierungsseminar. Hier werden Stricher nochmals intensiv geschult, wie
professionelles anschaffen ist und auch wie sie mit ihrer Situation klarkommen. Da ist
es wichtig, eine gewisse multiplikatorische Wirkung auf die Jungs zu haben, dass sie
ihren Stricherfreunden raten und auf sie einwirken können, wenn diese tabulos und
370 blauäugig durch die Gegend laufen. Aber eine dauerhafte Arbeit mit geschulten Multi-
plikatoren, die für uns Präventionsarbeit machen, scheitert daran, dass die Jungs zu sehr
wandern und dies für uns ein zu unsicherer Faktor ist. Man kann sich nicht genug darauf

147
Anhang 3: Interview III

verlassen, dass erstens die Inhalte weitergegeben werden, die uns wirklich wichtig sind
und nicht verfälscht werden, aber auch, dass man dauerhaft mit den Jungs zusammenar-
375 beitet. Wenn wir jemanden länger kennen, kann der für uns übersetzten. Das ist schon
sehr viel, weil wir nicht nachvollziehen können, wie er wirklich übersetzt. Aber dadurch
kann ich ihn einschätzen, was er für eine Haltung hat. Aber ich würde sie nie alleine im
Auftrag von unserer Einrichtung losschicken. Freier als Multiplikatoren funktioniert
nicht. Da sind wir strenger als andere, weil wir denken, dass die Parteilichkeit verwischt
380 wird. Es ist für die Jungs nicht mehr auseinander zu halten, für wen wir da sind, die
Freier oder die Jungs. Wir unterhalten uns gerne in den Kneipen mit dem Freier, wenn
er eine Frage hat, wir machen auch eine Beratung, wenn er sagt, er hat einen Jungen zu
Hause und was er damit machen soll. Dann laden wir ihn außerhalb der Anlaufstellen-
zeit hier ein. Das sind immer nur Tipps und Hinweise, die wir ihm geben. Wir erledigen
385 keine Aufgaben für die Freier und machen auch keine dauerhafte Freierberatung. Wir
sagen auch nicht, dass die Freier ihre Jungs zu uns schicken sollen. Es ist schon schwie-
rig für Jungs, einer sozialpädagogischen Beratungsstelle zu vertrauen, ohne eine solche
Einrichtung zu kennen, die staatlich unabhängig arbeitet und keine Restriktionen von
irgendwelchen Obrigkeiten durchführt. Es ist schwer verständlich, dass diese keine
390 moralische Werte durchpresst und nur zum Wohle der Klienten da ist und eine Einrich-
tung ist, an die sie sich hinwenden können, ohne dass dies ein verlängerter Arm des
Gesetztes sind. Das ist schon unverständlich und schwierig genug und deswegen brau-
chen wir auch nicht mit diesen Verwischungen ankommen.

395 Persönliche Praxiserfahrung


Für Jungs ist es sehr schwierig zu verstehen, wer wir sind und was wir machen. Bei
einer Kontaktaufnahme mit einem z.B. rumänischen Jungen, der wenig deutsch spricht,
wenn er hier ankommt, wäre das ohne unsere kulturelle Mediatorin überhaupt nicht
möglich. Wir brauchen sie, dass sie ihn in seiner Muttersprache anspricht um erstmal
400 ganz viel Eis zu brechen und uns dann auch vorstellt. Dann ist es nicht wichtig, sie
direkt auf die Strichsituation anzusprechen. Es geht erst um das Befinden und erst später
um die sexuellen Dienstleistungen.
Ziel ist die Vermeidung von körperlichen und psychischen Schädigung in der Prostituti-
on. Wenn er diesen Job schon macht, soll er ihn so machen, dass er relativ ungeschädigt
405 da wieder raus kommt. Alternativen, zu sagen, dass wir ihn erst gar nicht einsteigen
lassen und ihn zum Ausstieg zu beraten oder ihn in dieser Szene nicht verfestigen zu

148
Anhang 3: Interview III

lassen, das ist blauäugig. Wir können ihnen nicht das Geld bieten und können ihnen
keine Jobs anbieten. Wir können nur fragen, ob sie sich sicher sind, das wirklich ma-
chen zu wollen, sich den Risiken bewusst sind und wie sie es sicherer machen können
410 zum Beispiel durch Safer Sex. Wir bieten ihnen die Möglichkeit, regelmäßige Arztbe-
suche wahrzunehmen oder sich nicht illegal zu betätigen, um keine Probleme mit der
Polizei zu bekommen. Das ist unsere Aufgabe mit dem Ziel eben, dass er in seinem
späteren Leben wenige Probleme damit hat in gesundheitlicher Hinsicht, in psychischer
als auch in persönlicher Sache.
415 Letztendlich ist es deren Ding, womit sie uns den Auftrag geben. Die Erschwernisse
sind ganz klar die Sprache. Ohne die kulturelle Mediatorin wären wir aufgeschmissen.

Problemlagen der Stricher


Den Druck, der durch die Familie entsteht, sehen wir als Problem. Es herrscht Perspek-
420 tivlosigkeit. Sie bringen kein Potential mit, sprich keine Ausbildung, mit der sie hier
oder zu Hause einen Job ausüben könnten. Wenn jemand eine Hotelausbildung hätte,
könnte er sicherlich unterkommen. Sie kommen mit falschen oder gar keinen Vorstel-
lungen hierher, was sie hier erwartet, dass hier das Geld nicht auf der Straße liegt,
obwohl ihnen das von den Medien und den Freunden suggeriert wird. Um dies dann
425 einzusehen und umzusetzen und dann doch ein anderes Ziel zu verfolgen, fehlt ihnen
die Einsicht. Dieser hohe Konsumdrang ist auch ein Problem. Dies steht so über Allem,
Geld zu besitzen, sich darüber zu identifizieren und sozial aufzusteigen, zählt mehr als
althergebrachte traditionelle Werte aus der rumänisch- orthodoxen oder muslimischen
Religion. Geld ist Priorität und dann kommen andere Sachen. Dann kommt auch noch
430 die Rolle der Frau, bevor es um die eigene Prostitution geht. Es muss geregelt sein, dass
die Frau die Kinder hütet und vor dem Herd steht und Jungfrau ist, dann kommt erst die
eigene Sexualität oder die Prostitution. Es wird nicht so offen in den Herkunftsländern
über Prostitution geredet, aber wenn sie mit uns darüber reden, dann sagen sie immer,
dass sie aktiv sind, um so auch noch die Ehre zu erhalten. Dass die Rumänen keinen
435 guten Stand hier haben, ist klar. Sie werden für Diebe gehalten, gelten als Verbrecher
und das bekommen sie auch zu spüren. So bleibt ihnen auch nur die Möglichkeit, sich in
der Prostitution zu betätigen. Das gilt nicht nur für Rromas, sondern für alle, die in
Rumänien leben. Wobei ist es hier auch wieder unterschiedlich, die Rromas kommen
nach den Rumänen in der Hierarchie ganz weit unten.

149
Anhang 3: Interview III

440 Um einen Rroma zu erkennen, braucht man schon eine bessere Kenntnis, um ihn an der
Sprache usw. zu erkennen. Alleine vom Aussehen kann man das nicht. Es gibt durchaus
auch die gleichen Phänomene, die es früher bei den Deutschen schon gab, dass Jungs in
sehr frühem Alter schon sexuelle Gewalterfahrungen haben. Das kommt sehr häufig
vor. Das ist mit ein Grund, dass sie Sexualität so kennen gelernt haben, dass man nur,
445 wenn man eine sexuelle Dienstleistung erbringt, auch eine Entlohnung durch Zunei-
gung, Geld oder Liebe erhält. Das hatten wir bei den osteuropäischen Jungs erst nicht
vermutet, trifft aber doch zu. Dies könnte dann auch ein Motivationsgrund für die
Stricher sein, um ihre Erfahrungen aufzuarbeiten.
Zerrüttete Familienverhältnisse über Jahre hinweg, haben Einfluss auf die psychische
450 Verfassung der Jungs. Die Prostitution hier, der Druck hier und von zu Hause, die
Doppelstigmatisierung, zeigt sich auch wieder. Wir beobachten Spielsüchte oder Han-
dysüchte. Auch der Konsumzwang ist ein Punkt, Drogen (intravenöse Drogen) werden
interessanter Weise weniger konsumiert, eher ab und zu eine Partydroge. Diese Süchte
sind dann Therapie für solche Störungen. Es kommen selbstzerstörerische Tätigkeiten,
455 wie Ritzen und Brandig vor, Selbstverstümmelung, gefährliche sexuelle Handlungen
und Bindungsprobleme sind zu beobachten.
Es gibt eine Szenehierarchie. Jeder versucht sich durch den anderen, durch die starke
Stigmatisierung, aufzuwerten, indem man den anderen schlechter macht. Die Rumänen
sagen, die Rromas sind die schlechteren, die Tschechen sagen, die Rumänen haben den
460 Markt kaputt gemacht und die Deutschen sagen das von den Tschechen. Die Callboys
sagen, dass der Straßenstrich schlecht ist. Aber es ist keine körperliche Gewalt, eher die
psychische.
Es gibt viele Zukunftsängste und Probleme, die aber verdrängt werden, da sie morgen
das große Geschäft machen, wodurch dann alles gelöst ist.
465 Sie sind relativ schlecht aufgeklärt in Bezug auf Safer Sex Praktiken. Sie haben alle
schon mal was von Aids und HIV gehört, aber wissen nicht wirklich darüber Bescheid.
Sie haben eine panische Angst vor Aids und dadurch, dass sie nicht genau wissen, wie
man sich davor schützt, gibt es abstruse Ideen, wie Schutz durch Desinfizieren. Da ist
ein sehr großes Defizit und es ist wichtig, dass wir diese Arbeit gut und genau machen.
470 Es gibt keine Zahlen, da bei Eintritt der Krankheit die Jungs nicht mehr greifbar sind
und nach Hause fahren, weil sie ihren Lebensunterhalt nicht mehr verdienen können.
Dadurch, dass sie nicht so sexuell aktiv sind in diesem Job und eher das Geld anderwei-
tig den Freiern aus der Tasche ziehen, sind nicht mehr so viele Positive unterwegs wie

150
Anhang 3: Interview III

in der Schwulen Szene. Vernunft gibt es in diesem Bereich des Safer Sex sehr wenig. Es
475 gibt Freier, die sagen ganz klar, dass sie Safer Sex wollen und es gibt welche, die versu-
chen das zu umgehen und wollen sehr wenig Geld für zahlen. Es gibt auch Jungs, die
sagen, sie machen das nicht, aber je größer der Druck ist, den der Junge hat, desto
leichter wird er von seinen Prinzipien abgehen.
Alkohol ist bei den Osteuropäern weiter verbreit als intravenöse Drogen. Hier ist es
480 auch so, dass jemand, der offensichtlich drogenabhängig ist, sehr schnell von der Polizei
kontrolliert wird. Diese Drogen sind in der Heimat viel weniger verbreitet. Es sind eher
die legalen Drogen wie Alkohol und Spielsucht weiter verbreitet. Andere schwere
Abhängigkeiten, entstehen dann erst hier. Oft bleiben sie dann trotzdem hier, da sie zu
hause auch keine Perspektive mehr haben.
485
Herausforderungen und Grenzen an die soziale Arbeit
Grenze ist auf jeden Fall die Sprache.
Der Verdrängungsmechanismus der Jungs, dass sie sich mit ihren Problemen nicht
auseinandersetzten wollen. Die Herausforderung für mich ist es, eine gute Beziehung
490 aufzubauen, um über diese Themen sprechen zu können. Das wichtigste Ziel ist, die
Gesundheit, dass sie sinnvolle Prävention bekommen und dass das Abrutschen in die
Kriminalität vermieden wird.
Die Beziehung zwischen Sozialarbeiter und Klienten ist sehr wichtig, da hier diese
Tabuthemen besprochen werden. Da geht das dann nicht ohne Beziehungsarbeit. Wir
495 grenzen uns ganz klar ab, dass wir keine Freunde sind und dass es ein dienstlicher
Auftrag ist. Private Kontakte in die Szene werden nicht gepflegt. Die Leitlinien, die wir
zusammen mit dem AKSD erarbeitet haben, sind für uns auch bindend.
Das Geschlecht und die sexuelle Identität der Sozialarbeiter spielt eine große Rolle.
Man kann nicht sagen, wer die besseren sind, ob Frauen oder Männer. Das ist situati-
500 onsbedingt. Frauen haben dann oft die Mutterrolle. Dann ist es auch wichtig, dass wir
als schwule Männer positive Beispiele geben, was homosexuelle Männer auch sein
können außer Freier. Dann gibt es Themen, die man von Mann zu Mann besprechen
will. Dann gibt es Themen, wo man auf Grund ihrer Sozialisierung Frauen nicht als
Ansprechpartner akzeptieren will und deswegen einen Mann braucht. Es ist wichtig,
505 dass ein Team dieses alles anbieten kann, eine breite Vielfalt eben, wo das Geschlecht
und die sexuelle Orientierung eine Rolle spielt.

151
Anhang 3: Interview III

Utopie ist die Jungs zu retten oder einen Ausstieg zu vermitteln. Der Junge muss selber
für sein Leben entscheiden und das muss ich ihm vermitteln. Defizit ist eindeutig die
Sprache, die wir nicht sprechen. Finanzielles Defizit, dass wir unser Angebot nur so
510 weit ausbauen können, wie wir Geld haben. In der Migrantenarbeit werden wir gut
gefördert und dies wurde in den letzten Jahren nicht gekürzt. Kurzfristig auf neue Be-
dingungen zu reagieren ist schwer, weil man einfach die Finanzierung langfristig bean-
tragen muss und innerhalb einer Finanzierungsperiode keine Möglichkeit ist das zu
verändern oder Geld dazu zu bekommen. Es geht nicht, sich schnell anzupassen. Wir
515 brauchen unbedingt eine Nachtbereitschaft, aber wir können das nicht finanzieren.

Aufgabenbereich für die soziale Arbeit


Kooperation ist für uns zum Austausch wichtig. Der AKSD ist Austausch mit anderen
Stricherprojekten. Supervision ist wichtig und unabdingbar. Es gibt auch Einrichtungen
520 in Rumänien, die sich mit HIV beschäftigen, aber eher aus dem AKSD. Flexibilität ist
wichtig, dass man schnell reagieren muss, authentisch sein muss und seine Persönlich-
keit darauf abstimmen muss. Parteilichkeit ist für den Klienten ganz wichtig, zuhören
und sich aber auch abgrenzen von der Freierarbeit. Professionalität ist Authentizität,
dass man ihn akzeptiert, aber auch die Tätigkeit, die er ausübt und damit auch Vertrauen
525 schafft. Sich aber dann auch abgrenzt und sagt, dass man nicht der Kumpel ist etc.
sondern Sozialarbeiter ist und die Distanz wahrt. Im Gegenzug wäre es unprofessionell
ein private Beziehung zu führen, oder Desinteresse am Klientel oder Eigeninteresse.
Wir führen Akten nur über Beratungsprozesse, damit wir wissen, wie der Stand ist.

152
Autorenvorstellung

Autorenvorstellung

Nikolas Hagele, geb. 1981,wuchs in der Nähe von Augsburg auf. Er studierte Sozialpä-
dagogik. In seiner Diplomarbeit beschäftigt er sich mit Migranten aus osteuropäischen
Ländern, die durch männliche Prostitution ihren Lebensunterhalt bestreiten. Derzeit ist
der als Sozialpädagoge tätig.

153
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