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Bertolt Brecht

Gesammelte Werke 19
Schriften zur Literatur
und Kunst 2

Werkausgabe edition suhrkamp


SV ~~
werkausgabe edition suhrkamp
Bertolt Brecht Gesammelte Werke in 20 Bänden
Bertolt Brecht
Gesammelte Werke

Band 19

Suhrkamp Verlag
Herausgegeben vom Suhrkamp Verlag
in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann

Gesammelte Werke © Copyright Suhrkamp Verlag,


Frankfurt am Main 1967.
51. bis 75. Tausend: 1968. Alle Rechte vorbehalten.
Schriften zur Literatur und Kunst:
© Copyright Stefan S. Brecht 1967.
Schriften zur Literatur und Kunst 2

Über den Realismus 1937 bis 1941


Anmerkungen zur literarischen Arbeit 1935 bis 1941
Aufsätze zur Literatur 1934 bis 1946
Die Künste in der Umwälzung 1948 bis 1956
Redaktion: Werner Hecht
Über den Realismus
1937 bis 1941
Es hat keinen Sinn, eine Kritik aufzubauen, die wie das Subjekt dem
Objekt gegenübersteht, eine Legislative, zu der die Kunst dann die Exe-
kutive abgibt. Die Literatur muß einen wissenschaftlicheren Charakter be-
kommen, wenigstens insoweit, daß die Kontinuität der Produktion und die
Bereitstellung der Methoden gesichert ist. Die Kritik aber kann insofern
künstlerischer werden, als sie faktisch der Produktion hilft. (Schon wenn
sie verwirft, nur um anderes zu setzen, tut sie das. Es ist gleichgültig,
wie die Erkenntnisse zustande kommen. Es könnte die Kunst sein, die
Formen, Schreibweisen und so weiter zur Verfügung stellt, und die Kritik,
die sie benutzt.) Und wie immer die Kunst sich selbständig entwickeln
will, sie muß die Kontrolle (Kritik) in sich enthalten. Sie muß freie Stel-
len lassen, dem Widersprecher das Stichwort geben und so weiter.

Formalist ist,
wer sich an Formen klammert, alte oder neue. "Wer sich an Formen klam-
mert, ist Formalist, ob er Dichtungen schreibt oder Dichtungen kritisiert.
Richtlinien für die Literaturbriefe
der Zeitschrift »Das Wort«

Im allgemeinen soll nicht nur eine Übersicht über die Litera-


tur des betreffenden Landes gegeben, sondern das literarische
Leben selber verfolgt werden. Literarische Erscheinungen sol-
len als Ereignisse behandelt werden, und zwar als gesellschaft-
liche Ereignisse.

Die einzelnen Werke sollen daraufhin untersucht werden, wel-


che gesellschaftlich bedeutenden Vorstellungen sie vertreten
oder bekämpfen und welche neuen oder alten Stoffkomplexe
sie dem Leser vorführen.

Sie sollen auch daraufhin untersucht werden, welche formalen


Neuerungen sie zur Behandlung der Stoffe einführen. Solche
Neuerungen sind als technische Praktiken zu beschreiben,
nicht nur als Ausdrucksformen von Ingenien.

Selbstkritik
Im vierten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft hat der
Minister für Propaganda in Deutschland jede Art von Kunst-
kritik schlicht verboten. Vielen schien das als eine zu weit ge-
triebene Nervosität gegen Kritik. Aber das Verbot ist nur
logisch. Erstens braucht man keine Kunstkritik mehr, wenn
man keine Kunst mehr hat. Das Verbot der Kritik entspricht
288 Zur Literatur und Kunst

dem Verbot der Kunst. Insofern stellt es eine Hilfsaktion für


die Künstler dar. Man muß nicht erlauben, daß sie kritisiert
werden, wenn es ihnen nicht erlaubt wurde, Kunst zu machen.
Zweitens ist Kritik als Lebenshaltung dem Nationalsozialis-
mus verhaßt, während ihm eine künstlerische Lebenshaltung
sympathisch ist. Wird doch auch der Führer mit Vorliebe
als Staatskünstler bezeichnet, und das nicht nur vom Füh-
rer selber. Unter Kunst wird dabei ein eigentümlicher Trieb,
sich auszudrücken, verstanden. Das Handeln des Künstlers er-
folgt unbewußt, er gleicht dem Schlafwandler, seine Motive
sind ihm selber meist unbekannt, er folgt Eingebungen, und
er verlangt nicht, daß man ihn verstehe, sondern daß man
sich in ihn einfühle. Es ist die berühmte Definition, nach der
ein Künstler ein dummer Kerl und doch ein großer Künstler
sein kann. Dieser Staatskunst gegenüber wird das Opfer zum
Banausen. An die Stelle der Kritik wird der Bericht gesetzt, er
ist künstlerisch auszuschmücken.
Ist so im Dritten Reich die Kunstkritik unterbunden (die Kri-
tik an Kunstwerken, wohl nicht die Denunziation derselben),
wie ist es mit der Kunst in der Emigration? Diese Zeitschrift
läßt sie zu Wort kommen. Wie soll man kritisch dazu stehen?
Soll man überhaupt kritisch dazu stehen?
Man kann an dieser Zeitschrift vor allem aussetzen, daß sie
selber zuwenig kritisch sei. Ich muß sagen, daß weder ich
selbst noch einer meiner Redaktionskollegen mit allen Bei-
trägen einverstanden waren, die bei uns erschienen. Wir wa-
ren mit manchem nicht einverstanden, zumindest nicht alle,
und wir druckten sie doch. Warum?
Die Literatur der Emigration geht beschwerliche, unebene und
verwickelte Wege wie jener Teil des deutschen Volkes, mit
dem sie verbunden ist. Sie ist uneinheitlich wie dieser, haupt-
sächlich durch die gemeinsame Feindschaft gegen den Faschis-
mus zusammengehalten. Ihr politisches Wissen ist ungleich-
mäßig entwickelt, ein großer Teil von ihr, viele sagen, der
künstlerisch qualifiziertere* ist als politisch behandelt (und
Über den Realismus 289

ausgetrieben) worden, bevor er sich politischer Handlungen


bewußt war. Was dieser Teil gelernt hat, hat er aus erlebten
Fakten gelernt, aber gerade das Lernen aus Fakten war nicht
gerade seine Stärke. Und die anderen Wissensquellen sind
in der Emigration schwerer erreichbar, als sie es früher waren.
Produktionsstörungen, die im Verlauf des Umlernens fast
unvermeidbar eintreten, sind in der Emigration existenzge-
fährdend. Diejenigen von uns, die sich mit politischen Din-
gen mehr befaßt haben, entdecken mit einer gewissen Verle-
genheit, daß man vieles dem Nachbarn leichter erklärt als dem
Gast.. .
Aber die Hauptschwierigkeiten der Literatur kommen nicht
von der Emigration, sondern von dem Zustand der Welt, des-
sen Folge unter anderen Folgen die Emigration ist. Nicht nur
die deutsche Literatur befindet sich in einer tiefgreifenden
Krise, wenn auch die deutsche vielleicht sichtbarer ist, weil
sie eben zusammen mit ihrem Volk nahezu in das Zentrum
der Weltkrise gerückt ist. Der immer mehr anwachsende Wi-
derspruch zwischen der kapitalistischen Produktionsweise und
den Produktivkräften des Kapitalismus irritiert die Lite-
ratur immer mehr; sie wird nachgerade der Ausdruck dieses
Widerspruchs. Die Darstellung des menschlichen Zusammen-
lebens wird desto schwieriger, je schwieriger dieses Zusam-
menleben selber wird.
Etwa 1937
Formalismus und Realismus

Die Expressionismusdebatte
Es wird im Augenblick wieder über den Expressionismus ge-
sprochen. Da haben wir die gepflegte marxistische Analyse,
welche Kunstrichtungen mit einer erschreckenden Ordnungs-
liebe in gewisse Schubkästen legt, wo schon politische Par-
teien liegen, den Expressionismus zum Beispiel der USP. Da
ist etwas Langbärtiges, Unmenschliches am "Werk. Da wird
eine Ordnung geschaffen nicht durch Produktion, sondern
durch Eliminierung. Da wird etwas »auf die einfachste For-
mel gebracht«. Da war etwas, was lebte, falsch. Ich erinnere
mich immer mit einer Mischung von Vergnügen und Grauen
(die es nicht geben sollte, wie?) an den Witzblattwitz, in dem
ein Aviatiker auf eine Taube deutet und sagt: Tauben zum
Beispiel fliegen falsch.
Da gingen einige Jahrgänge von Künstlern durch eine expres-
sionistische Periode. Diese Kunstrichtung war etwas Wider-
spruchsvolles, Ungleichmäßiges, Verworrenes (sie machte
derlei sogar zum Prinzip), und sie war voll von Protest (haupt-
sächlich dem der Ohnmacht). Der Protest richtete sich gegen
die Art der Darstellung durch die Kunst, zu einem Zeitpunkt,
wo auch das Dargestellte zum Protest herausforderte. Der Pro-
test war laut und unklar. Die Künstler entwickelten sich weiter,
in verschiedenen Richtungen. Der Kunstrichter sagt nun von
den einen: Sie wurden etwas trotz des Expressionismus, und von
den andern: Sie wurden nichts wegen des Expressionismus.
Was ärgert mich an diesem Kunstrichter? Das: ich bekomme
das Gefühl nicht los, daß er meint: Man muß die Kirche beim
Dorf lassen. Er will sagen: Diese Expressionisten haben die
Kirche nur woanders hingesetzt, statt sie zu entfernen. Aber
er sagt: Man muß sie beim Dorf lassen. Ich selbst war nie ein
Über den Realismus 291

Expressionist, aber solche Kunstrichter ärgern mich. Da ist ein


Wirrwarr in der Debatte, den Formalismus betreffend. Der
eine sagt: Ihr ändert nur die Form, nicht den Inhalt. Die an-
dern haben das Gefühl: Du gibst den Inhalt erst recht der
Form preis: nämlich der konventionellen. Vielen leuchtet
nämlich eines noch nicht ein: Gegenüber den immer neuen An-
forderungen der sich immer ändernden sozialen Umwelt die al-
ten konventionellen Formen festhalten ist auch Formalismus.
Können wir wirklich gegen das Experiment Stellung nehmen,
wir, die Umstürzler? Wie, »man hätte nicht zu den Waffen
greifen sollen«? Es wäre besser, die Nachteile des Futsches
zu erklären, indem man die Vorteile der Revolution erklärt.
Aber nicht die Vorteile der Evolution.
Den Realismus zu einer Formsache machen, ihn mit einer, nur
einer (und zwar einer alten) Form verknüpfen heißt: ihn ste-
rilisieren. Realistisches Schreiben ist keine Formsache. Alles
Formale, was uns hindert, der sozialen Kausalität auf den
Grund zu kommen, muß weg; alles Formale, was uns verhilft,
der sozialen Kausalität auf den Grund zu kommen, muß her.
Wenn man zum Volk sprechen will, muß man vom Volk ver-
standen werden. Aber das ist wieder keine bloße Formsache.
Das Volk versteht nicht nur die alten Formen. Marx, Engels
und Lenin haben, um dem Volk die soziale Kausalität auf-
zudecken, zu sehr neuen Formen gegriffen. Lenin sprach nicht
nur anderes als Bismarck, sondern er sprach auch anders. Er
wünschte weder in der alten Form zu sprechen noch in einer
neuen. Er sprach in einer geeigneten Form.
Die Fehler und Irrtümer einiger Futuristen sind offenkundig.
Sie setzten auf einen Riesenkubus eine Riesengurke, strichen
das Ganze rot an und nannten es: Bildnis Lenins. Was sie
wollten, war: Lenin sollte nichts gleichen, was je wo gesehen
worden war. Was sie erreichten, war: Sein Bild glich keinem
Bild, das je gesehen worden war. Das Bild sollte an nichts
erinnern, was man aus den alten, verfluchten Zeiten kannte.
Leider erinnerte es auch nicht an Lenin. Das sind schreckliche
292 Zur Literatur und Kunst

Vorkommnisse. Aber dadurch bekommen diejenigen Künst-


ler noch nicht recht, deren Bilder zwar jetzt an Lenin erin-
nern, deren Malweise aber keineswegs an Lenins Kampfweise
erinnert. Das ist ja auch offenkundig.
Wir müssen den Kampf gegen den Formalismus als Realisten
und als Sozialisten führen.
Etwa 1938

Praktisches zur Expressionismusdebatte


Sehr rasch ist die Debatte über den Expressionismus, die »Das
Wort« veranstaltete, zu einer Schlacht mit den Losungen Hie
Expressionismus! und Hie Realismus! geworden. Alte Wun-
den brechen auf, neue werden geschlagen, verjährte Feind-
und Freundseligkeiten werden ausgetragen, man schlägt sich
und anderen in die Brust. Überzeugt scheint niemand zu wer-
den, außer von seiner eigenen Auffassung. So weit ist alles in
schönster Unordnung, das heißt, die Parteien schließen kein
faules Kompromiß, sondern rüsten mit Macht auf. Etwas nie-
dergeschlagen stehen zwei Zuschauer auf der Walstatt, der
Schreiber und der Leser. Der zweite hat die Dinge gelesen
und gesehen, über die die Schlacht tobte, der erste hat noch
Dinge zu schreiben. Er betrachtet mit eingezogenen Schultern die
totale Aufrüstung, er hört, wie die Messer geschliffen werden.
Der Leser (und Betrachter, soweit es sich um Bilder handelt)
ist gleichfalls zerknirscht. Sein Vergnügen bei der Betrach-
tung eines Chagall, dessen er sich deutlich entsinnt, ist eben
als sündhaft enthüllt worden. Verschärft ist die Sache dadurch,
daß er einen als vorbildlich erklärten Roman seinerzeit nicht
zu Ende gelesen hat und auch jetzt weiß, daß er nicht die
moralische Kraft aufbringen wird, ihn noch einmal anzugehen.
Immerhin, Pferde sind tatsächlich nicht blau, das wurde in
der Debatte mit Recht gebrandmarkt.
Zerknirschung erzeugt Galgenhumor. Bei kräftiger Konstitu-
Über den Realismus 293

tion Zweifel. Vielleicht sind die Kampffronten nicht ganz


richtig eingezeichnet? In einem solchen Falle würde ein Wirr-
warr entstehen, der ungefähr dem unsrigen gliche. Zum Bei-
spiel wenn bei der Partei Hie Expressionismus! sich eine Reihe
von Realisten befänden und bei der Partei Hie Realismus! ein
Haufe Verschämter, die sich eigentlich nur »ausdrücken« (ex-
primere) wollen. Tollers »Wandlung« war ein expressioni-
stisches Stück, und es zeigte vielen von der Wirklichkeit aller-
hand, was sie nicht gewußt oder nur halb gewußt hatten. Es
zeigte keineswegs alles, und alles, was es zeigte, war nicht
wirklichkeitsgetreu. Aber Manns »Josephsroman« enthält viel-
leicht auch nicht die ganze Wirklichkeit? Noch seine »Bud-
denbrooks«. Und ist der »Josephsroman« wirklich so viel
volkstümlicher geschrieben als der »Ulysses«? Das Buch Joyces
habe ich von ganz intelligenten Lesern wegen seines Realismus
loben hören. Nicht, daß sie die Schreibweise als solche gelobt
hätten (einige sprachen von Manieriertheit), aber es schien
ihnen einen realistischen Inhalt zu haben. Wahrscheinlich wird
man mich einen Kompromißler nennen, wenn ich gestehe, daß
ich über den »Ulysses« beinahe ebenso gelacht habe als über
den »Schwejk«, und für gewöhnlich lacht unsereiner nur bei
realistischen Satiren. [. . .]
Es gibt genügend Leute, die strikt und konsequent gegen Rea-
lismus sind. Zum Beispiel die Faschisten. Sie haben ein Inter-
esse daran, daß die Realität nicht geschildert wird, wie sie ist.
Und mit ihnen hat der ganze Kapitalismus dieses Interesse,
wenn er es auch in weniger drastischer Form vertritt. George
Grosz hat sich nicht viel weniger formale Freiheiten erlaubt
als Franz Marc. Herr Hitler donnerte dagegen, daß die Pferde
bei Marc nicht so sind wie in der Wirklichkeit, aber er be-
hauptete nicht so laut, daß die Bürger bei Grosz anders sind
als in der Wirklichkeit. Grosz hatte sich noch einige andere
Freiheiten herausgenommen.
Wir dürfen nicht beim Formalen zu lange haltmachen. Oder
wir müssen genau sein und Konkretes sagen. Sonst werden
294 Zur Literatur und Kunst

wir als Kritiker Formalisten, ganz gleich, welches Vokabular


wir anwenden. Es verstört unsere heutigen Erzähler, wenn
sie allzuoft hören müssen, daß »unsere Großmutter eben ganz
anders erzählen konnte«. Mag sein, die Frau war eine Reali-
stin. Angenommen, wir sind ebenfalls Realisten, müßten wir
dann genauso erzählen wie unsere Großmütter? Da müssen
doch Mißverständnisse vorliegen.
Verkündet nicht mit der Miene der Unfehlbarkeit die allein-
seligmachende Art, ein Zimmer zu beschreiben, exkommuni-
ziert nicht die Montage, setzt nicht den inneren Monolog auf
den Index! Erschlagt die jungen Leute nicht mit den alten Na-
men! Laßt nicht bis 1900 eine Entwicklung der Technik in
der Kunst zu und ab da nicht mehr! Wie ist es mit diesem
Balzac, zweifellos einem großen Schriftsteller und ziemlichen
Realisten? »Pere Goriot« hat eine große Fabel, im Gegen-
satz zu Flauberts »Education Sentimentale«, einem ebenfalls
realistischen Werk von Bedeutung, aber andere Werke Balzacs
haben schwächere, weniger im Gedächtnis bleibende, weniger
fabelartige Fabeln. »Peau de Chagrin« ist symbolistisch, die
Schreibweise dieses Schriftstellers wechselt beständig, und
Taine findet, bei größter Bewunderung, daß er überhaupt nicht
schreiben konnte, unverzeihlicherweise für einen Franzosen!
Unter anderem montiert er dauernd Dutzende Seiten geschlos-
sener Abhandlungen über Themen ein, die »mit der Sache
gar nichts zu tun haben«! Er ist ein Realist, er arbeitet mit
allen Mitteln, um an die Realität heranzukommen. Und zu-
gleich, nicht zu vergessen, zwingt ihn die literarische Kon-
kurrenz zu erstaunlichen Abweichungen romantischer Art und
anderer Art. Haltet euch an Balzac, das ist ein Rat wie: Haltet
euch an das Meer!
Solange wir keine wissenschaftlich fundierte Definition des
Realismus haben, ist es vielleicht besser, das heißt praktischer,
das heißt realistisches Schreiben fördernder, von Realisten zu
sprechen und ihren Methoden, vermittels getreuer Abbildun-
gen der Wirklichkeit die Wirklichkeit zu beeinflussen. Wir
Über den Realismus 295

werden dann nicht so sehr darauf aus sein, die Zahl und Art
dieser Methoden einzuschränken, als vielmehr darauf, sie zu
erweitern. Wir werden so die Erfindung ermuntern, statt sie
zu entmutigen. Wir werden auf die Wahrheit einen Preis set-
zen und jede Ellenbogenfreiheit gewähren, dazu zu gelangen.
Kurz, wir werden als Realisten handeln.
Die marxistischen Klassiker haben dem Satz des alten Hegel,
daß die Wahrheit konkret ist, viel Beachtung geschenkt und
Beachtung verschafft. Er hat eine ganz außerordentliche
Sprengkraft bewiesen und wird sie immer wieder beweisen.
Kein Realist sollte ihn in der Bedeutung, die er bei den mar-
xistischen Klassikern erhalten hat, außer acht lassen. Man
sollte den Realismus, mit dem die Literatur der Antifaschisten
steht und fällt, nicht zu einer Formsache degradieren. Man
sollte auch als Kritiker Realist sein (nicht nur »für Realismus
sein«). Man sollte sagen: Die und die Szene in dem und dem
Roman entspricht nicht der Wirklichkeit, denn , oder: Das
Verhalten des Arbeiters X in der Situation Y entspricht nicht
dem wirklichen Verhalten eines Arbeiters mit den angegebe-
nen Zügen, denn . . . , oder: Die Behandlung der Tuberkulose
in diesem Roman erweckt eine ganz falsche Vorstellung, denn
in Wirklichkeit... Es ist ganz richtig, daß einer Sache bei
der Beschreibung zu wenige Seiten gegeben werden können,
so daß sie keinen realen Eindruck mehr macht. Das kann man
ganz konkret nachweisen, am Einzelfall. Andrerseits sind
Werke, die der Wirklichkeit keine neuen Seiten abgewinnen,
kaum große realistische Werke: Kein Realist begnügt sich
damit, immerfort zu wiederholen, was man schon weiß; das
zeigt keine lebendige Beziehung zur Wirklichkeit. Auch das
kann man konkret aufzeigen, am Einzelfall. Ein Realist
schreibt so, daß er verstanden werden kann, denn er will auf
wirkliche Menschen wirklich einwirken. Was verstehbar ist
und was nicht, kann man konkret aufzeigen, am Einzelfall.
(Es ist zum Beispiel nicht nur das verständlich, was schon ver-
standen ist.) Ein Realist, der sich mit Kunst befaßt (zum
296 Zur Literatur und Kunst

Beispiel Kritiker), erlaubt ihr eine gewisse Ellenbogenfreiheit,


damit sie realistisch sein kann. Er gesteht ihr das Recht auf
Humor (Unter- und Übertreibung), Phantasie, Freude am
Ausdruck (auch neuem Ausdruck, individuellem Ausdruck)
zu. Er weiß, daß es bei wirklichen Künstlern das gibt.
Realismus ist keine Formsache. Man kann nicht die Form von
einem einzigen Realisten (oder einer begrenzten Anzahl von
Realisten) nehmen und sie die realistische Form nennen. Das
ist unrealistisch. So verfahrend, kommt man dazu, daß ent-
weder Swift und Aristophanes oder Balzac und Tolstoi Rea-
listen waren. Und, wenn man die Form eines Toten nimmt,
daß kein Lebender ein Realist ist.
Geben wir so die Theorie auf? Nein, wir bauen sie auf. Wir
verhindern, daß wir eine Theorie bekommen, die aus einer
bloßen Beschreibung und Interpretation vorhandener Kunst-
werke besteht, aus denen rein formale Richtlinien ausgezo-
gen werden. Für die noch zu schaffenden Werke. Wir verhüten
einen Formalismus der Kritik. Es geht um den Realismus.
1938

[Die Essays von Georg Lukacs]


Ich habe mich mitunter gewundert, warum gewisse Essays
Georg Lnkdcs\ obwohl sie so viel Wissenswertes enthalten,
doch etwas Unbefriedigendes an sich haben. Er geht von
einem gesunden Prinzip aus, und doch kann man den Ein-
druck nicht loswerden, daß er ein wenig wirklichkeitsfremd
ist. Er untersucht den Abstieg des bürgerlichen Romans von
jener Höhe, die er einnahm, als die bürgerliche Klasse noch
progressiv war. So höflich er die zeitgenössischen Roman-
schreiber behandelt, soweit sie den Klassikern des bürgerli-
chen Romans darin folgen, daß sie zumindest formal realistisch
schreiben, so kann er doch kaum umhin, auch hier einen Ab-
stieg zu sehen. Es ist ihm ganz unmöglich, bei ihnen einen
Über den Realismus 297

Realismus zu finden, der dem der Klassiker an Tiefe, Breite,


Aggressivität gleichkäme. Wie sollten sie sich auch über ihre
Klasse darin erheben können? Auch ein Zerfall der Roman-
technik liegt vor, muß vorliegen. Es liegt nicht weniger tech-
nisches Geschick vor, nur bekommt die Technik etwas son-
derbar Technisches, wenn man will Selbstherrliches. Selbst in
die realistische Bauart nach klassischem Muster kriecht etwas
Formalistisches. Es gibt da eigentümliche Details. Selbst die
Schriftsteller, welche die Auspowerung, Entmenschung, Mecha-
nisierung des Menschen durch den Kapitalismus wahrnehmen
und bekämpfen, scheinen an diesem Akt der Auspowerung
teilzunehmen, indem auch sie in ihren Schilderungen weniger
Aufhebens von ihm zu machen scheinen, ihn im Hetztempo
durch die Ereignisse jagen, sein Innenleben als quantite
negligeable behandeln und so weiter. Auch sie rationalisieren
sozusagen. Sie machen die »Fortschritte« der Physik mit.
Sie verlassen die strenge Kausalität und gehen über zur
statistischen, indem sie den einzelnen Menschen, als dem
Kausalnexus streng folgend, aufgeben und nur über größere
Einheiten Aussagen machen. Sie haben sogar den Schrödinger-
schen Unsicherheitsfaktor, auf ihre Weise. Sie nehmen dem
Beobachter die Autorität und den Kredit und mobilisieren den
Leser gegen sich selber, nur noch subjektive Aussagen vor-
legend, die eigentlich bloß den Aussagenden charakterisieren
(Gide, Joyce, Döblin). Man kann Lukacs in all diesen Wahr-
nehmungen folgen und seinen Protest unterschreiben. Aber
nun kommt man zum positiven, konstruktiven, postulieren-
den Teil der Lukacs'schen Konzeption. Mit einer einzigen
Handbewegung wischt er die »unmenschliche« Technik vom
Tisch. Er kehrt zurück zu den Vätern, beschwört die entarte-
ten Sprößlinge, ihnen nachzueifern. Die Schriftsteller finden
einen entmenschten Menschen vor? Sein Innenleben ist ver-
wüstet? Er wird im Hetztempo durch sein Leben gehetzt?
Seine logischen Fähigkeiten sind geschwächt, wie die Dinge
verknüpft waren, scheinen sie nicht mehr verknüpft? So müssen
298 Zur Literatur und Kunst

die Schriftsteller eben doch sich an die alten Meister hal-


ten, reiches Seelenleben produzieren, dem Tempo der Ereig-
nisse in den Arm fallen durch langsames Erzählen, den ein-
zelnen Menschen wieder in den Mittelpunkt der Ereignisse
stoßen durch ihre Kunst und so weiter und so weiter. Und
die Ausführungsbestimmungen gehen in ein Murmeln über.
Daß die Vorschläge nicht zu praktizieren sind, ist offenbar.
Kein Mensch, der die Grundkonzeption Lukacs' für richtig
hält, kann sich darüber wundern. Gibt es also keinen Ausweg?
Es gibt einen. Die neue heraufkommende Klasse zeigt ihn.
Es ist kein Rückweg. Es wird nicht angeknüpft an das gute
Alte, sondern an das schlechte Neue. Es handelt sich nicht um
den Abbau der Technik, sondern um ihren Ausbau. Der
Mensch wird nicht wieder Mensch, indem er aus der Masse
herausgeht, sondern indem er hineingeht in die Masse. Die
Masse wirft ihre Entmenschtheit ab, damit wird der Mensch
wieder Mensch (nicht einer wie früher). Diesen Weg muß die
Literatur in unserem Zeitalter gehen, wo die Massen an sich
zu ziehen beginnen, was es an Wertvollem, Menschlichem gibt,
wo die Massen diese Leute mobilisieren gegen die Entmen-
schung durch den Kapitalismus in seiner faschistischen Phase.
Das Moment des Kapitulierens, Zurückweichens, das utopi-
sche und idealistische Moment, das in Lukacs' Essays immer
noch steckt und das er bestimmt überwinden wird, ist es, was
seine Arbeiten, die so viel Wissenswertes enthalten, unbefrie-
digend macht und einem den Eindruck verschafft, es gehe ihm
um den Genuß allein, nicht um den Kampf, um den Ausweg,
nicht um den Vormarsch.

Über den formalistischen Charakter


der Realismustheorie
Der formalistische Charakter der Realismustheorie zeigt sich
auch darin, daß sie sich nicht nur einzig auf der Form weni-
Über den Realismus 299

ger bürgerlicher Romane des vorigen Jahrhunderts auf-


baut (neuere Romane werden nur herangezogen, soweit sie
diese Form zeigen), sondern auch nur auf einer bestimmten
Form des Romans. Was ist es mit dem Realismus in der
Lyrik, was mit ihm in der Dramatik? Das sind zwei Gattun-
gen der Dichtung, die besonders in Deutschland einen hohen
Standard aufweisen.

Ich fahre fort mit Persönlichem, um konkretes Material zu


liefern. Meine Tätigkeit ist, wie ich mir vorstelle, vielseitiger
als es unsere Realismustheoretiker glauben. Sie beliefern mich
ganz einseitig. Gegenwärtig arbeite ich an zwei Romanen,
einem Stück und einer Gedichtsammlung. Einer der Romane
ist ein historischer, er benötigt umfangreiche Studien, die rö-
mische Geschichte betreffend. Er ist satirisch. Nun ist der Ro-
man die Domäne unserer Theoretiker. Aber es ist nicht Bosheit,
wenn ich sage, daß ich für meine Arbeit an diesem Roman
»Die Geschäfte des Herrn Julius Cäsar« von ihnen nicht den
allergeringsten Fingerzeig bekommen kann. Für jene vom
bürgerlichen Roman des vorigen Jahrhunderts dem Drama
entlehnte Anballung von allerhand Konflikten persönlicher
Art in langen, breit ausgemalten Szenen mit Interieur habe ich
gar keine Verwendung. Ich benütze die Tagebuchform für
große Teile. Es hat sich als nötig herausgestellt, daß ich für
andere Teile den point of view wechseln muß. Meinen eigenen
Standpunkt nehme ich ein in der Montage der beiden fiktiven
Schreiberstandpunkte. Ich vermute, daß sich so etwas nicht als
nötig hätte herausstellen dürfen? Irgendwie fällt es aus dem
Schema, das vorgesehen ist. Als nötig hat sich jedoch diese
Technik herausgestellt für eine gute Erfassung der Wirk-
lichkeit, ich hatte rein realistische Motive. Das Stück ist ein
Szenenzyklus, der das Leben unter der braunen Diktatur be-
handelt. Bisher montierte ich 27 Einzelszenen. Auf einige von
ihnen paßt das »realistische« Schema X entfernt, wenn man
ein Auge zudrückt. Auf andere nicht, lächerlicherweise schon
300 Zur Literatur und Kunst

nicht, weil sie ganz kurz sind. Auf das Ganze paßt es über-
haupt nicht. Ich halte es für ein realistisches Stück. Aus den
Tafeln des Bauern-Breughel habe ich mehr herausgeholt da-
für als aus den Abhandlungen über Realismus. Über den zwei-
ten Roman, an dem ich schon lange arbeite, wage ich kaum zu
sprechen, so kompliziert sind da die Probleme und so primitiv
ist da das Vokabular, das mir die Ästhetik des Realismus, wie
sie jetzt ist, liefert. Die formalen Schwierigkeiten sind außer-
ordentlich, ich habe ständig Modelle zu bauen; wer mich bei
dieser Arbeit sähe, würde mich für nur an Formfragen in-
teressiert halten. Ich mache diese Modelle, weil ich die Wirk-
lichkeit darstellen möchte. Was Lyrik betrifft, so gibt es eben-
falls in ihr einen realistischen Standpunkt. Ich fühle aber,
daß man ganz außerordentlich vorsichtig vorgehen müßte,
wenn man darüber schreiben wollte. Andrerseits gewönne man
viel Aufschluß über Realismus in Roman und Dramatik.

Während ich in einem Haufen historischer Wälzer blättere


(sie sind in vier Sprachen verfaßt, dazu kommen Übersetzun-
gen aus zwei antiken Sprachen) und einen bestimmten Sach-
verhalt zu ergründen suche, voll von Skepsis, mir sozusagen
unausgesetzt den Sand aus den Augen wischend, habe ich
Farbenvorstellungen vager Art im Hinterkopf, Eindrücke be-
stimmter Jahreszeiten, höre Tonfälle ohne Worte, sehe Ge-
sten ohne Sinn, denke an wünschbare Gruppierungen von
nicht benamten Gestalten und so weiter. Die Vorstellungen
sind reichlich unbestimmt, keineswegs aufregend, ziemlich ober-
flächlich, wie mir scheint. Aber sie sind da. Der »Formalist«
in mir arbeitet.
Während mir langsam die Bedeutung der Sterbekassenver-
eine des Clodius aufgeht und mich eine gewisse Entdecker-
freude erfaßt, denke ich: Wenn man einmal ein sehr langes,
durchsichtig geschriebenes, herbstliches, glasklares Kapitel
schreiben könnte, mit einer unregelmäßigen Kurve, einer Art
roter Wellenlinie, die durchgeht! Die City bringt ihren De-
Über den Realismus 301

mokraten Cicero ins Konsulat, er verbietet die demokratischen


bewaffneten Straßenklubs, sie verwandeln sich in friedliche
Sterbekassen vereine, das Laub ist gelb im Herbst. Das Arbeits-
losenbegräbnis kostet zehn Dollar, darauf wird eingezahlt,
stirbt man zu spät, war es ein schlechtes Geschäft, aber wir
haben die Wellenlinie, manchmal sind in diesen Vereinen
plötzlich Waffen da, Herr Cicero wird aus der Stadt ge-
trieben, er hat Verluste, seine Villa wird niedergebrannt,
sie hat Millionen gekostet, wie viele? Schlagen wir nach,
nein, das gehört nicht hierher, wo waren die Straßenklubs
am 9. November 91? »Meine Herrn, ich garantiere für
nichts.« (Cäsar)
Ich bin in einem frühen Stadium meiner Arbeit.

Da der Künstler es unausgesetzt mit Formalem zu tun hat, da


er unausgesetzt formt, muß man, was man Formalismus nennt,
sorgfältig und praktisch formulieren, sonst sagt man dem
Künstler nichts. Wenn man alles, was künstlerische Werke un-
realistisch macht, Formalismus nennen will, damit man sich
versteht, muß man diesen Begriff Formalismus nicht rein
ästhetisch bilden. Hie Formalismus! - Hie Inhaltismus! Das
ist doch zu primitiv und zu metaphysisch!
Rein ästhetisch genommen, macht der Begriff keine beson-
deren Schwierigkeiten. Wenn jemand zum Beispiel etwas be-
hauptet, was nicht wahr ist (oder nicht zur Sache gehört), nur
weil es sich reimt, so ist er ein Formalist. Aber wir haben un-
zählige Werke unrealistischer Art, die nicht auf Grund wu-
chernden Formensinns so unrealistisch wurden.
Wir können durchaus verständlich bleiben und dem Begriff
doch einen weiteren, fruchtbareren, praktischeren Sinn geben.
Wir müssen nur einen Augenblick von der Literatur absehen
und ins »gewöhnliche Leben« hinabsteigen. Was ist da For-
malismus ?
Nehmen wir den Ausdruck: Er hat formell recht. Das will sa-
gen, er hat eigentlich nicht recht, aber der Form nach, nur der
302 Zur Literatur und Kunst

Form nach, hat er recht. Oder: Formell ist die Aufgabe gelöst
will sagen, sie ist nicht eigentlich gelöst. Oder: Ich habe das ge-
tan, um die Form zu wahren. Das will sagen, es bedeutet nicht
viel, was ich getan habe, ich mache, was ich will, aber ich wahre
die Form, da kann ich am besten machen, was ich will.
Wenn ich lese, daß die Autarkie des Dritten Reichs auf dem Pa-
pier perfekt ist, weiß ich, daß es sich um politischen Formalis-
mus handelt. Der Nationalsozialismus ist ein Sozialismus der
Form nach, das heißt ein politischer Formalismus. Es han-
delt sich da nicht um wuchernden Formensinn.
Faßt man den Begriff so (und er wird verständlich so und
wichtig so), dann sind wir imstande, zurückkehrend zur Li-
teratur (ohne diesmal das gewöhnliche Leben völlig verlas-
send), auch Werke als formalistisch [zu] bezeichnen und [zu]
entlarven, die nicht die literarische Form über den sozialen
Inhalt stellen und doch der Realität nicht entsprechen. Wir
können auch solche Werke entlarven, die der Form nach reali-
stisch sind. Es gibt da viele.

Dem Formalismusbegriff diesen Sinn verleihend, bekommen


wir Maßstäbe in die Hand für Erscheinungen wie die Avant-
garde. Da kann sie vorn marschieren auf dem Rückzug oder
in den Abgrund. Da kann sie so weit vorn marschieren, daß
das Gros ihr gar nicht folgen kann, weil es sie aus den Augen
verliert und so weiter. Ihr unrealistischer Charakter kann
sich so zeigen. Es kann angegeben werden, wo sie sich trennt
vom Gros, warum, wodurch und wie sie sich wieder ver-
einen kann mit dem Gros. Naturalismus und eine gewisse
anarchische Montage können konfrontiert werden mit ihren
sozialen Wirkungen, indem man nachweist, wie sie nur die
Symptome der Oberfläche wiedergeben und nicht die tiefer-
liegenden sozialen Kausalkomplexe. Ganze große, scheinbar,
der Form nach radikale Haufen von Literatur können als rein
reformistische, also rein formelle Bestrebungen mit Lösungen
auf dem Papier gezeigt werden.
Über den Realismus 303

Eine solche Formalismusdefinition hilft gleichzeitig der Ro-


manschreibung und der Lyrik und der Dramatik, und sie
liquidiert, last but not least, eine gewisse formalistische Kri-
tik, die nur an Formalem interessiert scheint, auf ganz be-
stimmte, zeitlich gebundene Schreibformen eingeschworen ist
und literarische Gestaltungsprobleme, auch wenn sie gelegent-
lich historische Rückblicke »einmontiert«, auf rein literari-
schem Feld zu lösen sucht.

In einem großen satirischen Roman, dem »Ulysses« von


J. Joyce, gab es, außer der Verwendung mehrerer Schreibweisen
und noch einigem anderen Ungewohnten, [den] sogenann-
ten inneren Monolog. Eine Kleinbürgerin, morgens im Bett
liegend, meditierte. Ihre Gedanken wurden ungeordnet,
durcheinander, ineinander überfließend wiedergegeben. Das
Kapitel wäre kaum geschrieben worden ohne Freud. Die
Vorwürfe, die es seinem Verfasser einbrachte, waren dieselben,
die Freud sich seinerzeit zutrug. Es regnete: Pornographie,
krankhafte Freude am Schmutz, Uberwertung von Vorgängen
unterhalb des Nabels, Unmoral und so weiter. Erstaunlicher-
weise schlössen sich diesem Unsinn auch einige Marxisten an,
die ekelerfüllt den Ausdruck Kleinbürger hinzufügten. Als
technisches Mittel wurde der innere Monolog ebenfalls abge-
lehnt, man nannte ihn formalistisch. Ich habe die Begründung
nie verstanden. Daß Tolstoi so etwas anders gemacht hätte,
ist ja kein Grund, die Art, wie Joyce so etwas machte, abzu-
lehnen. Die Einwände waren so oberflächlich konstruiert, daß
man den Eindruck hatte: Wenn Joyce denselben Monolog in
die Sprechstunde eines Psychoanalytikers verlegt hätte, wäre
alles in Ordnung gewesen. Nun ist der innere Monolog ein
sehr schwierig zu verwendendes technisches Mittel, und das
zu betonen ist ganz nützlich. Ohne ganz bestimmte Maßnah-
men, wieder technischer Art, gibt innerer Monolog die Wirk-
lichkeit, das heißt die Totalität des Denkens oder Assoziie-
rens keineswegs so wieder, wie er das äußerlich zu tun scheint.
304 Zur Literatur und Kunst

Hier gibt es ein Nur der Form nach, das beachtet werden
muß, eine Verfälschung der Wirklichkeit. Es handelt sich nicht
nur um ein formales Problem (das mit einem Zurück zu Tol-
stoi zu lösen wäre). Rein formal hatten wir einen inneren
Monolog, den gerade wir sehr schätzten, ich denke an Tu-
cholskys Stücke.

Die Erinnerung an den Expressionismus ist für viele eine


Erinnerung an freiheitliche Stimmungen. Ich selbst war auch
damals gegen das »sich ausdrücken« als Beruf. (Siehe meine
Anweisungen an Schauspieler in den »Versuchen«.) Ich stand
skeptisch vor diesen peinlichen, beunruhigenden Unfällen, wo
einer »außer sich gerat«. Wohin gerät er da? Es wurde bald
darauf klar, daß sie sich nur von der Grammatik befreit
hatten, nicht vom Kapitalismus. Die Palme war dem Hasek
für den »Schwejk« zu reichen. Aber Befreiungen sind immer
auch ernst zu nehmen, denke ich. Heute noch sehen viele das
Niedersäbeln des Expressionismus in Bausch und Bogen mit
Unwillen, weil sie fürchten, daß da Befreiungsakte an und
für sich niedergedrückt werden sollen, ein Sichbefreien von
hemmenden Vorschriften, alten Regeln, die zu Fesseln gewor-
den sind, daß da ein Festhalten an Beschreibungsarten ver-
sucht werden soll, die für Gutsbesitzer paßten, nachdem man
die Gutsbesitzer selbst beseitigt hat. Um das Beispiel aus der
Politik zu nehmen: Wenn man den Putsch bekämpfen will,
muß man die Revolution lehren (und nicht die Evolution).

Es ist nötig, will man verstehen, die Literatur in ihrer Ent-


wicklung zu betrachten (es ist hier nicht Selbstentwicklung
gemeint). Es ergeben sich dann Phasen des Experiments, in
denen oft nahezu unerträgliche Verengerungen der Gesichts-
punkte auftreten, einseitige, besser gesagt, wenigseitige Pro-
dukte herauskommen, die Verwendbarkeit der Resultate pro-
blematisch wird. Es gibt Experimente, die im Sand verlaufen,
Experimente, die spät Früchte tragen oder kümmerliche
Über den Realismus 305

Früchte. Man sieht Künstler ihren Stoffen erliegen, gewis-


senhafte Leute, welche die volle Aufgabe sehen, ihr nicht aus-
weichen und ihr nicht gewachsen sind. Sie sehen nicht immer
selbst ihre Fehler, manchmal sehen andere sie, zugleich mit
den Aufgaben. Einige sieht man sich verbeißen in Spezial-
fragen; nicht alle von diesen sind mit der Quadratur des
Zirkels beschäftigt. Die Welt ist diesen Leuten gegenüber zur
Ungeduld berechtigt, und sie macht Gebrauch von diesem
Recht, ausgiebig. Sie ist aber auch zur Geduld berechtigt.

In der Kunst gibt es das Faktum des Mißglückten und des


teilweise Geglückten. Unsere Metaphysiker müssen das be-
greifen. Die Werke können so leicht mißglücken, da sie doch so
schwer glücken! Da schweigt einer, weil es ihm an Gefühl
fehlt, dort, weil ihm das Gefühl die Sprache verschlägt. Da
befreit sich einer nicht von der Last, die auf ihm kniet, son-
dern nur von einem Gefühl der Unfreiheit. Dort schlägt einer
sein Handwerkszeug zusammen, weil man es zu lange miß-
braucht hat, ihn auszubeuten. Die Welt ist nicht zur Sentimen-
talität verpflichtet. Aber man darf aus den Niederlagen, die
festgestellt werden müssen, nicht die Folgerung ziehen, daß
keine Kämpfe mehr stattfinden sollen.

Für mich ist der Expressionismus nicht nur eine »peinliche


Affäre«, nicht nur eine Entgleisung. Der Grund: weil ich ihn
überhaupt nicht nur als »Phänomen« betrachte und ihn mit
einem Zettel versehe. Da gab es viel zu lernen für Realisten,
die ja auf Lernen aus sind und den Dingen die praktische
Seite abzugewinnen suchen. Bei Kaiser, bei Sternheim, bei
Toller, bei Goering gab es Ausbeute für den Realisten. Offen
gestanden lerne ich leichter da, wo ähnliche Aufgaben ange-
gangen wurden. Ohne Umschweife gesagt, dem Tod ins Auge
geblickt: Ich lerne bei Tolstoi und Balzac schwerer (weniger).
Sie hatten andere Aufgaben zu bewältigen. Und dann: Davon
ist mir schon allerhand in Fleisch und Blut übergegangen,
306 Zur Literatur und Kunst

wenn man mir diesen Ausdruck genehmigen will. Natürlich


bewundere ich diese Leute, die Art und Weise, wie sie mit
ihren Aufgaben fertig geworden sind. Gelernt kann auch aus
ihnen werden. Es ist aber anzuraten, daß man [sie] dann
nicht einzeln heranzieht, sondern ihnen andere Schriftsteller
mit anderen Aufgaben gesellt, etwa den Swift und den Vol-
taire. Die Verschiedenheit der Aufgaben wird dann deutlich,
wir können leichter abstrahieren und vom Standpunkt unse-
rer Aufgaben an sie herangehen.

Die Problemstellung für unsere Tendenzliteratur hat es mit


sich gebracht, daß ein bestimmtes Problem sehr aktuell wurde:
der Sprung von einer Weise der Gestaltung zur andern in
ein und demselben Kunstwerk. Das ging ganz praktisch zu.
Das Weltanschauliche, Politische ergriff nicht die ganze Ge-
staltung, der Handlung wurde der Leitartikel einmontiert.
Der Leitartikel war meist sehr »unkünstlerisch« verfaßt, und
seine unkünstlerische Natur war so in die Augen springend,
daß das Unkünstlerische der Handlung, in die er eingebettet
war, übersehen wurde (Handlung war immerhin etwas
Künstlerischeres, als Leitartikel es sind). Es entstand ein deut-
licher Bruch. Praktisch gab es zwei Möglichkeiten, hier zu
Rande zu kommen. Man konnte den Leitartikel in die Hand-
lung auflösen oder die Handlung in den Leitartikel und die-
sen künstlerisch gestalten. Man konnte aber auch die Hand-
lung künstlerisch gestalten und den Leitartikel künstlerisch
gestalten (er verlor dann natürlich seinen Leitartikelcharak-
ter) und den Sprung von einem Idiom zum andern beibehal-
ten und ebenfalls künstlerisch gestalten. Das schien neuartig,
aber wenn man will, kann man immerhin Vorbilder nennen,
deren Kunstcharakter nicht bezweifelt werden kann: die
Unterbrechung der Handlung durch Chöre im attischen
Theater. Auf dem chinesischen Theater gibt es ähnliche Ge-
staltungen.
Über den Realismus 307

Die Frage, mit wie vielen Andeutungen man bei Schilderun-


gen auskommt, was zuwenig, was zuviel Plastik ist, kann
praktisch behandelt werden, im Einzelfall. Bei bestimmten
Dingen kommen wir mit weniger Andeutungen aus als unsere
Voreltern. Was die Psychologie betrifft, so ist die Frage, ob
Ergebnisse neu etablierter Wissenschaften verwendet werden
sollen, keine Glaubensfrage. Man hat zu prüfen, im Einzelfall,
ob sich die Charakterzeichnung durch Verarbeitung wissen-
schaftlicher Erkenntnisse verbessert oder nicht, auch, ob die
Verarbeitung eine gute ist oder nicht. Es kann der Literatur
nicht untersagt werden, sich der neuerworbenen Fähigkeiten
des zeitgenössischen Menschen, wie der, simultan aufzuneh-
men oder kühn zu abstrahieren oder schnell zu kombinieren,
zu bedienen. Es muß, wenn Anspruch auf Wissenschaftlichkeit
erhoben wird, eben auch mit dem Bienenfleiß der Wissenschaft
untersucht werden, wie sich im Einzelfall die künstlerische
Adaption solcher Fähigkeiten auswirkt. Der Künstler mag
überall abgekürzte Wege gehen, vieles »aus der Luft auf-
fangen«, große Teile des unaufhörlichen Prozesses mehr oder
weniger bewußt durchmachen — die Kritik, jedenfalls die
marxistische, hat hier methodisch und konkret vorzugehen,
eben wissenschaftlich. Geplauder nützt hier nichts, in welchem
Vokabular immer es stattfindet. Unter keinen Umständen
reicht es zu einer praktikablen Definition des Realismus aus,
nur aus literarischen Werken die nötigen Richtlinien auszuzie-
hen. (Seid wie Tolstoi - ohne seine Schwächen! Seid wie Balzac
- aber von heute!) Realismus ist eine Angelegenheit nicht nur
der Literatur, sondern eine große politische, philosophische,
praktische Angelegenheit und muß als solche große, allgemein
menschliche Angelegenheit behandelt und erklärt werden.
Etwa 1938
308 Zur Literatur und Kunst

[Bemerkungen zu einem Aufsatz]


Man sollte ohne große Erwartungen Leute anhören, die zu
gern das Wort »Form« benutzen als etwas anderes als Inhalt
oder in Beziehung zum Inhalt oder wie immer, und das Wort
»Technik« allzusehr verabscheuen, etwa als etwas »Mechani-
sches«. Man soll sich nicht darum kümmern, daß sie die Klas-
siker (des Marxismus) zitieren und dort das Wort »Form«
vorkommt: Sie haben nicht die Technik des Romanschreibens
gelehrt. Und das Wort »mechanisch« braucht niemanden zu
schrecken, solang es sich auf Technik bezieht; es gibt eine
Mechanik, die der Menschheit große Dienste erwiesen hat und
noch erweist, eben die der Technik. Die »Rechtgläubigen« unter
uns, die, auf anderem Gebiet, Stalin von den Schöpferischen
unterscheiden, pflegen mit gewissen Wörtern, willkürlichst
angewandt, die Geister zu bannen.

Unsere Erbverwalter dekretieren, daß ohne »kampfvolle


Wechselbeziehungen der Menschen zueinander«, ohne »Erpro-
bung der Menschen in wirklichen Handlungen«, ohne die
»kampfvolle und verschlungene Wechselwirkung zwischen
ihren Menschen« keine bleibenden Gestalten geschaffen wer-
den können. Aber die »komplizierten (!) Methoden, mit de-
nen die alten Schriftsteller ihre Handlungen in Gang gebracht
haben«, wo sind sie bei Hasek, und doch ist sein Schwejk
sicher eine schwer vergeßbare Gestalt. Ich weiß nicht, ob sie
»bleiben« wird, ich weiß auch nicht, ob eine Gestalt von Bal-
zac oder Tolstoi bleiben wird, ich weiß das so wenig wie sonst
jemand, ich selber schätze, offen gesagt, den Begriff des Blei-
bens nicht so unmäßig hoch... Wie sollen wir voraussehen,
ob nachfolgende Geschlechter diese Figuren im Gedächtnis
werden behalten wollen (Balzac und Tolstoi werden sie kaum
dazu zwingen können, auch nicht durch noch so sinnreiche
Methoden, mit denen sie ihre Handlungen in Gang gebracht
haben); ich vermute, es wird davon abhängen, ob es eine ge-
Über den Realismus 309

sellschaftlich eingreifende Aussage sein wird, wenn man sagen


wird: »Das (und der >Das< ist dann ein Zeitgenosse) ist eine
Vater-Goriot-Natur.« Vielleicht bleiben diese Naturen gar
nicht? Vielleicht standen sie gerade in solchen kampfvollen
Wechselbeziehungen, die es dann nicht mehr geben wird?

Ich habe keinen Grund, auf Gedeih und Verderb die Dos
Passos'sche Montagetechnik zu propagandieren; als ich einen
Roman schrieb, habe ich selber so etwas wie »kämpfvolle und
verschlungene Wechselbeziehungen« zu gestalten versucht. (Was
ich von der Montagetechnik benutzte, benutzte ich in diesem
Roman anderweits.) Aber ich möchte eine Verurteilung dieser
Technik lediglich zugunsten der Schaffung bleibender Gestalten
doch nicht zulassen. Erstens hat gerade Dos Passos »kampf-
volle1 und verschlungene Wechselbeziehungen von Menschen«
ausgezeichnet dargestellt, wenn auch seine Kämpfe nicht die
der Tolstoischen Gestalten und seine Verschlingungen nicht
die der Balzacschen Fabeln waren. Zweitens steht und fällt
der Roman durchaus nicht mit der »Gestalt« und besonders
nicht mit der Gestalt der Art, wie sie im vorigen Jahrhun-
dert existierte. Man sollte nicht die Vorstellung nähren von
einer Art Walhalla der bleibenden Gestalten der Literatur,
einer Art von Madame Tussaudschen Panoptikums, in dem
von der Antigone bis zur Nana und von Äneas bis Nechlju-
dow (wer ist das übrigens?) lauter bleibende Gestalten stehen.
In einem Lachen über eine solche Vorstellung sehe ich nichts
Despektierliches. Wir wissen einiges darüber, auf welchen
Grundlagen der Kult des Individuums, wie er in der Klas-
sengesellschaft getrieben wurde, beruht: Es sind historische
Grundlagen. Wir sind weit davon entfernt, das Individuum
abschaffen zu wollen. Aber wir sehen immerhin mit einiger
Nachdenklichkeit, wie dieser (historische, besondere, vorüber-

1 Eine scheußliche Wortbildung, Euphuismus für »konfliktreich«, das


da zu sehr nach »Intrige« riecht.
310 Zur Literatur und Kunst

gehende) Kult einen Andre Gide hindert, in der Sowjet-


jugend Individuen zu entdecken. Ich war, Gide lesend, nahe
daran, Nechljudow (wer immer das sein mag) als bleibende
Gestalt aufzugeben, wenn, wie es ja immerhin möglich wäre,
nur dadurch die Gestalten unter der Sowjetjugend, die ich
selber gesehen habe, bleiben könnten. Um auf unsere Grund-
frage zurückzukommen: Es ist grundfalsch, das heißt, es führt
zu nichts, das heißt, es lohnt sich für den Schriftsteller nicht,
sich sein Problem so zu vereinfachen, daß der riesige, kompli-
zierte, tatsächliche Lebensprozeß der Menschen im Zeitalter
des Endkampfs der bürgerlichen mit der proletarischen Klasse
als »Fabel«, Staffage, Hintergrund für die Gestaltung großer
Individuen »verwendet« werden soll. Den Individuen kann
in den Büchern nicht viel mehr Platz eingeräumt und vor
allem kein anderer Platz eingeräumt werden als in der Wirk-
lichkeit. Rein praktisch gesprochen: Für uns entstehen die
Individuen bei der Gestaltung der Prozesse des menschlichen
Zusammenlebens, und es kann dann »groß« sein oder »klein«.
Es ist grundfalsch zu sagen: Man nehme eine große Gestalt
und lasse sie vielfach reagieren, mache ihre Beziehung zu ande-
ren Gestalten möglichst wenig flüchtig und oberflächlich.

Das Dramatische (die Wucht des Zusammenpralls), die Lei-


denschaften (der Hitzegrad), die Spannweite der Figuren, das
alles kann nicht gesondert, getrennt von der sozialen Funk-
tion betrachtet oder propagiert werden.
Die Kämpfe (der kampfvollen und verschlungenen Wechsel-
beziehungen) sind die Konkurrenzkämpfe des sich entfalten-
den Kapitalismus, die in ganz bestimmter Weise Individuen
hervorbrachten. Der sozialistische Wettbewerb bringt in an-
derer Weise Individuen hervor und andere Individuen. Und
es ist dann noch die Frage, ob es überhaupt so sehr individua-
lisierend wirkt wie der kapitalistische Konkurrenzkampf. In
gewissem Sinne ertönt da bei unseren Kritikern die verhäng-
nisvolle, an die einzelnen gerichtete Parole: »Bereichert euch!«
Ü b e r den Realismus 311

Balzac ist der Dichter der Monstrositäten. Die Vielgestaltig-


keit seiner Helden (Breite ihrer Sonnen-, Tiefe ihrer Schat-
tenseiten) widerspiegelt die Dialektik des Fortschritts der
Produktion als eines Fortschritts des Elends. »Die Geschäfte
wurden bei ihm poetisch« (Taine), aber: »Balzac war zum
ersten ein Geschäftsmann, und zwar ein verschuldeter Ge-
schäftsmann ..., warf er sich aufs Spekulieren..., stellte er
die Zahlungen ein, um die Schulden abzutragen, schrieb er
seine Romane.« Die Poesie wurde bei ihm also auch zum
Geschäft! Die Individuen kämpfen gegen die Individuen in
dieser Urwaldepoche des Kapitalismus, gegen Gruppen von
Individuen, im Grund »gegen die ganze Gesellschaft«. Gerade
dies macht eben ihre Individualität aus. Jetzt wird uns der
Rat gegeben, wieder, immer noch, nein, aufs neue Individuen
zu schaffen, natürlich andere, aber auf die gleiche Weise,
freilich auf eine andere, also was? Balzacs »Sammlerleiden-
schaft grenzte an Monomanie (und so weiter, S. 11) zu
setzen«. Diesen Fetischismus des Dinges finden wir auch in
seinen Romanen, auf Hunderten, ja Tausenden von Seiten.
Das sollen wir allerdings wohl weglassen, Tretjakow wird von
Lukacs mit erhobenem Zeigefinger verwarnt wegen solcher
Meinungen. Aber eben dieser Fetischismus macht die Figu-
ren des Balzac zu Individuen. Es ist nur lächerlich, da an
einen einfachen Austausch der das Individuum aufbauenden
sozialen Leidenschaften und Funktionen zu denken. Baut etwa
die Produktion von Gebrauchsgütern für das Kollektiv ebenso
Individuen auf, wie das »Sammeln«? Natürlich kann man
auch da mit einem Ja antworten. Diese Produktion findet
doch statt, und es gibt doch Individuen. Aber das sind eben
so sehr andere Individuen, daß Balzac sie überhaupt nicht
als solche erkannt hätte (und Gide sie heute nicht als 'solche
erkennt). Ihnen wird das Monströse fehlen, das Hohe und
Niedrige in einem, das Verbrechertum und Heiligsein in einem
und so weiter.
312 Zur Literatur und Kunst

Nein, Balzac montiert nicht. Aber er schreibt gigantische Ge-


nealogien, er verheiratet die Geschöpfe seiner Phantasie wie
Napoleon seine Marschälle und Brüder, er folgt den Vermö-
gen (Fetischismus des Dings) durch Generationen von Fami-
lien, ihr Überwechseln von einer zur andern. Er hat vor sich
lauter »Organisches«, die Familien sind Organismen, in ihnen
»wachsen« die Individuen, sollen wir also wieder die Zelle
setzen oder die Fabrik oder den Sowjet, da ja die Familie
offenkundig mit dem Fall des Privateigentums an Produk-
tionsmitteln im Ausbilden von Individuen nachgelassen ha-
ben dürfte? Aber diese neuen, unzweifelhaft individuenbil-
denden Gebilde sind eben, im Vergleich zur Familie, montiert!
Im Wortsinn zusammengesetzt! Schon im heutigen New York
wird, vom heutigen Moskau ganz zu schweigen, zum Beispiel
die Frau weniger vom Mann »geformt« als im Paris Balzacs,
sie hängt weniger von ihm ab, das ist soweit ganz einfach.
Gewisse Kämpfe »bis zur Weißglut« fallen also fort, die an-
deren Kämpfe, die an ihre Stelle treten, natürlich treten
andere an ihre Stelle, sind mindestens so stark, aber vielleicht
weniger individualistisch. Nicht, als ob sie nichts Individuelles
besäßen, sie werden von Individuen ausgekämpft, aber da
spielen zum Beispiel die Verbündeten eine riesige Rolle, die
sie zu Balzacs Zeit nicht spielten.

Glossen zu einer formalistischen Realismustheorie


Wer den Realismus nicht rein formalistisch definiert (als das,
was um die neunziger Jahre auf dem Gebiet des bürgerlichen
Romans unter Realismus verstanden wurde), der kann gegen
solche Techniken der Erzählung wie Montage, inneren Mono-
log oder Verfremdung alles Mögliche einwenden, nur nichts
vom Standpunkt des Realismus aus. Selbstverständlich kann
es inneren Monolog geben, der als formalistisch zu bezeichnen
ist, aber auch solchen, der realistisch ist, und mit Montage
Über den Realismus 313

kann man [...] die Welt schief darstellen und auch richtig,
da ist kein Zweifel. Bei den reinen Formfragen soll man nicht
allzu unbedenklich im Namen des Marxismus sprechen. Das
ist nicht marxistisch.

Nicht verwechseln sollte man Montage mit jener technischen


Ungeschicklichkeit, durch die in ganz konventionelle Erzäh-
lung längere Partien »Theoretisches« eingesprengt werden,
Meinungen des Verfassers, Leitartikel, Schilderungen, die für
die Erzählung ohne Belang sind. Mit diesem Kunstfehler hat
die Montage gar nichts zu tun.

Der Vorschlag, die Romane des Balzac und des Tolstoi zu


studieren, ist nicht schlecht. Diese Schriftsteller entwickeln tat-
sächlich einige sehr wichtige Techniken für realistische Darstel-
lung. (Es ist übrigens ein fast unbegreiflicher Denkfehler,
jemandem, der vorschlägt, unter den Darstellungsmitteln von
Schriftstellern eine Auswahl zu treffen, ohne weiteres vorzu-
werfen, er wolle die betreffenden Werke zersäbeln; den
Werken geschieht da gar nichts. Die historische Forschung hat
sie natürlich als Ganzes zu betrachten, für sie sind sie nicht
ein Haufen technischer Mittel, das ist klar. Aber der technisch
lernende Schriftsteller geht von einem andern Gesichtspunkt
aus an die Werke früherer Generationen und anderer Klassen
heran, das ist ebenfalls klar.)

[Bemerkungen zum Formalismus]

Der Kampf gegen den Formalismus in der Literatur ist von


größter Bedeutung, keineswegs nur Sache einer »Phase«. Er
muß in aller Breite und Tiefe ausgekämpft werden, eben nicht
nur »formell«, damit die Literatur ihre gesellschaftliche
314 Zur Literatur und Kunst

Funktion erfüllen kann. Bei einer Bemühung, die der Liquidie-


rung von leeren Formen, nichtsbesagenden Sagen gilt, ist es
wichtig, daß die Formen keinen Augenblick von den gesell-
schaftlichen Funktionen getrennt, von ihnen abgesondert, an-
erkannt oder verworfen werden. Was ist Formalismus?

Das proletarische Schrifttum bemüht sich, von alten Werken


formal zu lernen. Das ist natürlich. Es wird erkannt, daß
man nicht einfach vorhergegangene Phasen überspringen
kann. Das Neue muß das Alte überwinden, aber es muß das
Alte überwunden in sich haben, es »aufheben«. Man muß er-
kennen, daß es jetzt ein neues Lernen gibt, ein kritisches Ler-
nen, ein umformendes, revolutionäres Lernen. Es gibt Neues,
aber es entsteht im Kampf mit dem Alten, nicht ohne es, nicht
in der freien Luft. Viele vergessen das Lernen oder behandeln
es verächtlich, als Formsache, und einige behandeln das kri-
tische Moment als Formsache, als etwas Selbstverständliches.

Es kommt zu komischen Haltungen. Leute loben den Inhalt


eines bestimmten Werkes und lehnen seine Form ab, andere
verfahren umgekehrt. Stoff und Inhalt werden verwechselt,
die Tendenz des Autors steht im Widerspruch zu der Ten-
denz seines Stoffes.

Der Realismus wird mit Sensualismus gleichgesetzt, obgleich


es natürlich ganz unrealistische sensualistische Werke gibt und
ganz realistische unsensualistische Werke. Eine plastische Be-
schreibung gilt vielen als nur auf sensualistischer Basis her-
stellbar, alles andere nennen sie Reportage, als ob es nicht
auch plastische Reportage gäbe. Die »Gestaltung« wird als
rein formale Angelegenheit hingestellt. Bei der Verurteilung
der Montage kommen manche, da sie diese nicht tatsächlich
untersucht haben, ihren Wirkungskreis nicht abgesteckt, ihre
Leistungen nicht beachtet haben, in die gefährlichste Nähe von
Blut und Boden und einer anrüchigen Metaphysik des Orga-
Über den Realismus 315

nischen. Mit einem rein ästhetischen Vokabular versucht man


den Ästhetizismus zu bekämpfen, nur auf Formen bedacht,
dem Formalismus auf den Leib zu rücken. Die Literatur hat
nur noch die Aufgabe, Literatur zu sein. Die Aufgabe der
Schriftsteller ist, ihre Formen zu verbessern.

Man kann die nichteuklidische Geometrie nicht gut verste-


hen, wenn man die euklidische nicht gelernt hat. Aber die
nichteuklidische Geometrie setzt auch mit der Kenntnis der
euklidischen zugleich ein gewisses Nichtmehrverstehen der-
selben voraus.

Änderungen, die keine Änderungen sind, Änderungen »der


Form nach«, Beschreibungen, die nur Äußerliches wiederge-
ben, aus denen man sich aber kein Urteil formen kann, förm-
liches Benehmen, Handeln, um der Form zu genügen, die
Form zu wahren, Schöpfungen, die nur auf dem Papier ste-
hen, Lippendienst, das alles ist Formalismus. Man sollte bei
Begriffen in der Literatur sich nicht allzuweit von ihrer Be-
deutung auf anderen Gebieten entfernen. Der Formalismus
in der Literatur ist etwas Literarisches, aber nicht nur etwas
Literarisches. Man kann zum Beispiel auch den Realismus
nicht bestimmen, wenn man nicht an den Realismus, an rea-
listisches Handeln, Urteilen, an Realisten auf andern Gebieten
denkt.

Unser Kampf gegen Formalismus würde sehr schnell selber


zu hoffnungslosem Formalismus, wenn wir uns auf bestimmte
(historische, vergängliche) Formen festlegten.

Ein Beispiel: Wir finden in der Wirklichkeit des Hochkapita-


lismus nicht nur den Wunsch der Kapitalisten, die volle Ent-
faltung der Menschen zu vernachlässigen, sondern auch ihre
316 Zur Literatur und Kunst

Praxis, die sie tatsächlich verkrüppelt, einseitig macht, ent-


leert und so weiter, also auch die verkrüppelten, einseitigen,
entleerten Menschen. Wir können nicht den Schriftsteller, der
solche Menschen schildert, einfach beschuldigen, er vertrete den
Wunsch der Kapitalisten, er selber »behandle« seine Menschen
wie ein Kapitalist. Natürlich entfaltet der Kampf um das
volle Menschentum in den kämpfenden Menschen wieder die
Menschlichkeit, aber das ist ein komplizierter Prozeß, und
er findet eben nur bei den Kämpfenden statt. Der Schriftstel-
ler, welcher bestrebt wäre, die Menschen lediglich »anders«
einzuschätzen, als es die Kapitalisten tun, und sie deshalb
»rund«, »harmonisch«, »seelisch reich« schilderte, würde nur
auf dem Papier »runde« Menschen formen, er wäre ein
schlimmer Formalist. Die Technik der Balzac macht aus
Henry Ford keine Persönlichkeit von der Art des Vautrin,
aber, was schlimmer ist, sie gestattet nicht, die neue Mensch-
lichkeit des klassenbewußten Proletariers unserer Zeit zu ge-
stalten. Upton Sinclairs Technik ist nicht zu neu, sondern zu
alt für solche Aufgaben. Das ist nicht zuwenig Balzac, sondern
zuviel Balzac.

Wir machen einen schweren Fehler, wenn wir die Bemühungen,


den Genuß am Balzac zu lehren, durcheinanderbringen mit
den Bemühungen, Bauvorschriften für neue, zeitgemäße Ro-
mane aufzustellen. Für das erstere ist es nötig, die Romane
des Balzac als Ganzes zu nehmen; wir müssen uns in seine
Zeit einfühlen können, wir müssen sie als ein Abgeschlossenes,
Rundes, Eigenes betrachten und dürfen nicht im einzelnen
Kritik üben, Details beurteilen und so weiter. Um Bauvor-
schriften aus diesen Romanen auszuziehen, müssen wir eben-
falls eine Einfühlung in diese Zeit bewerkstelligen, aber doch
auch technische Gesichtspunkte gelten lassen. Wir verwandeln
uns in Kritiker, wir lesen als Konstrukteure.
Über den Realismus 317

Ein eigentümlicher Hang zum Idyllischen zeigt sich in der


Betrübnis Lukäcs' über die Sprengung der klassischen bür-
gerlichen Erzählung des Balzac durch Schriftsteller wie Dos
Passos. Er sieht nicht und will nicht sehen, daß der moderne
Schriftsteller eine Erzählungsart nicht brauchen kann, welche
wie die Balzac'sche der Romantisierung der Konkurrenz-
kämpfe des nachnapoleonischen Frankreich diente (wie be-
kannt, verweist Balzac nachdrücklich auf die Anregungen, die
er aus den Indianergeschichten Coopers geschöpft hat!).

Es bedeutet eine für einen Klassenkämpfer wie Lukacs er-


staunliche Verniedlichung der Geschichte, wenn er aus der Li-
teraturgeschichte den Kampf der Klassen beinahe völlig ent-
fernt und in dem Abstieg der bürgerlichen Literatur und dem
Aufstieg der proletarischen zwei völlig getrennte Phänomene
sieht. In Wirklichkeit zeigt sich der Abstieg des Bürgertums
in der elenden Aushöhlung seiner formal immer noch realisti-
schen Literatur und zeigen Werke wie die Dos Passos'schen,
trotz ihrer Zertrümmerung der realistischen Formen und in
ihr, den Durchbruch eines neuen Realismus, möglich durch
den Aufstieg des Proletariats. Hier wickeln sich Kämpfe ab,
nicht bloße Ablösungen. Die Übernahme des »Erbes« ist kein
kampfloser Vorgang. Da werden nicht einfach Formen geerbt,
nach dem Tode des Erblassers, der infolge von Altersschwäche,
einer natürlichen Dekadenz seiner Kräfte, eintrat.

Mitunter sehen wir, eine literarische Epoche betrachtend,


mehrere Gruppen von Literaten bei sehr verschiedener Tä-
tigkeit. Während eine Gruppe die sozialen Spannungen ge-
flissentlich außer acht läßt und ihre Abbilder der Schicksale
von Personen so konstruiert, als gäbe es diese Spannungen
318 Zur Literatur und Kunst

nicht, weist eine andere Gruppe geflissentlich nach, daß es


die Spannungen nicht gibt. Eine dritte nimmt sie als gegeben
und natürlich (unvermeidlich, unbeseitigbar). Eine vierte
Gruppe arbeitet sie heraus, ergreift Partei, macht Vorschläge
mehr oder weniger radikaler Art zu ihrer Beseitigung. Eine
fünfte Gruppe berauscht sich an der Anrüchigkeit der Ver-
tuschung. Es gibt natürlich noch andere Gruppen, sie arbeiten
gleichzeitig, unter den verschiedensten Parolen, die ihre Be-
ziehungen zueinander nicht sehr deutlich oder gar nicht er-
weisen, und mitunter gibt es Literaten, die allen diesen Grup-
pen oder einigen zugleich angehören, das heißt in ihren
Arbeiten bald diesen, bald jenen Standpunkt einnehmen.

Der Faschismus ist der große Formalist. Er macht Planwirt-


schaft, aber seine Planung beseitigt nicht die anarchische Pro-
duktionsweise, sondern stabilisiert sie. Er produziert fieber-
haft, aber Zerstörungsmittel, er beseitigt den Klassenkampf,
nicht indem er die Klassen (Stände) beseitigt, sondern die
Standesvorurteile. Und so weiter und so weiter. Er bekämpft
die Arbeitslosigkeit, welche die Massen zum Hunger ver-
dammt. Er schafft Arbeit, und sie verdammt die Massen zum
Hunger. Er rehabilitiert die Ehre des deutschen Volkes: indem
er dieses Volk in zwei Gruppen verwandelt, die Schänder
und die Geschändeten. Er verspricht, sie zu Herren der Welt
zu machen, und macht sie zu Sklaven einer kleinen Clique.
In riesigen Plebisziten unterwirft er sich der Stimme des Vol-
kes (das er unterworfen hat). Das Regime legt den allergröß-
ten Wert auf seine Volkstümlichkeit. Es spricht unaufhörlich
und immer zum Volk und vom Volk. Es zählt alles zum Volk,
außer dem, was es nicht dazu zählt, das, wenn man es zählt,
sich als das Volk herausstellt. Wir tun also gut, den Begriff des
Volkstümlichen mit der allerschärfsten Kritik anzuwenden.
Denn wir repräsentieren ja das Volk, das hier der Form nach
repräsentiert wird, in Wirklichkeit. Wir sind vertrieben wor-
den, weil wir es vertraten. Wir betraten die Nachbarländer,
Über den Realismus 319

geschändet im Namen der Ehre, auf der Flucht vor den Hor-
den, die uns auf dem Fuße dorthin folgen werden. Der Form
nach sind wir keine Deutschen mehr. Es ist klar, daß wir die-
ses Regime nicht nur der Form nach bekämpfen, das von die-
sem Regime unterdrückte Volk nicht nur der Form nach in
seinem Kampf unterstützen dürfen. Es genügt nicht, zu pro-
testieren und im übrigen seiner Beschäftigung nachzugehen.
Das wäre ein schlimmer Formalismus. Und wir müssen wis-
sen, daß die literarische Tätigkeit viele Verführungen zum For-
malismus bietet. Zwischen der vertriebenen deutschen Litera-
tur und dem unterdrückten deutschen Volk ist ein Anschluß
erfolgt, der gemeinsame Feind hat ihn bewerkstelligt. Er hat
eine Schicksalsgemeinschaft geschaffen. Im Punkt der gemein-
samen Leiden ist der Anschluß nicht nur einer der Form
nach. Aber unsere Arbeiten zeigen diesen Anschluß oft nicht
tief genug, wir wissen das oder sollten es wissen. Auch unser
Volksbegriff ist nicht immer real genug. Immer noch sehen
viele von uns ungenau, was das Volk ist, und jeder von uns
ist imstande, sich darüber zu täuschen und darüber Tauschung
zu erzeugen. Manche meinen, es handle sich nur darum, ein-
fach zu sprechen, und dann gehen sie nur den Kompliziert-
heiten aus dem Weg. Andere sprechen kompliziert und gehen
den großen einfachen Grundwahrheiten aus dem Weg. »Das
Volk versteht nicht komplizierte Ausdrucks weise« — und die
Arbeiter, die Marx verstanden haben? »Rilke ist zu kompli-
ziert für die Massen« - und die Arbeiter, die mir sagten, er
ist zu primitiv?

Aus: Der Geist der Versuche


Auf der Umschau nach Vorbildern für die junge proletarische
Literatur hat eine große Gruppe innerhalb der marxistischen
Literaturtheorie in letzter Zeit die Parole Zurück zum frühbür-
gerlichen Roman! aufgestellt und zugleich den entschiedenen
320 Zur Literatur und Kunst
Kampf mit gewissen technischen Elementen aufgenommen,
die der spätbürgerliche Roman entwickelt hat und die von
bekannten Schriftstellern revolutionärer, antifaschistischer Ge-
sinnung übernommen und weitergebildet worden sind.
Die Gruppe wurde geführt von Georg Lukacs, und ihre
Argumente waren zum Teil einleuchtend. Die neuen techni-
schen Elemente waren, ihr zufolge, einfache Zersetzungs-
erscheinungen. Sie konnten angesichts des Zustands der bür-
gerlichen Welt keinen Marxisten überraschen. In all dem, dieser
Montage, diesem inneren Monolog, dieser kritischen Stellung
der nichtaristotelischen Dramatik zur Einfühlung, löste sich
die große harmonische bürgerliche Erzählung und das Drama
auf, die Kunstformen mischten sich. In das Theater brach der
Film, in den Roman die Reportage ein. Dem Leser und Zu-
schauer wurde nicht mehr jener bequeme Platz inmitten der
Ereignisse angewiesen, jenes Individuum, mit dem er sich
einfühlend identifizieren konnte. Die Verwirrung war groß,
und sie entsprach, wie gesagt, allzusehr der sozialen Verwir-
rung der bürgerlichen Welt, jenem unproduktiven Wirrwarr,
als daß man sie nicht hätte mit diesem verwerfen sollen.

[Über Realismus]
Ich habe nicht den Eindruck, daß wir unsere Sache besonders
gut geführt hätten, die Sache des Realismus in der Literatur.
Die Schwächen der hauptsächlichen expressionistischen Werke
sind nicht durch Realisten nachgewiesen worden; der Realis-
wittsbegriff ist sehr eingeengt aufgetreten, beinahe hatte man
den Eindruck, es handle sich um eine literarische Mode mit
Regeln, die einigen willkürlich ausgewählten Werken ausge-
zogen wurden. Man zerstampfe soundsoviel expressionistische
Werke in einem Messingfaß und genieße den gewonnenen
Saft mit dem Ausdruck des Mißbehagens, und man zer-
stampfe und so weiter. Es wird dann ständig nur mit den
Über den Realismus 321

Säften operiert. So vorgehen heißt nicht sehr realistisch vor-


gehen. Was da Realismus heißt, macht durch die Ungeschick-
lichkeit seiner Interpreten einen sehr willkürlichen Eindruck,
die Maßstäbe sind zweifelhaftester Natur, aus dem Leben ge-
griffen, mit allen Schattierungen, breit und so weiter und so
weiter, und man fragt sich immer, ob nicht nur so wie Tolstoi
oder akkurat wie Balzac oder auch nur einfach schlicht be-
rühmt gemeint ist. Der Realismus wird dem Formalismus
gegenübergestellt, als wäre er treu und bieder ein Inhaltismus.
Sie wissen schon. Man führt, wie gesagt, ein paar berühmte
Romane aus dem vorigen Jahrhundert an, lobt sie mit durch-
aus verdientem Lob und zieht aus ihnen den Realismus aus.
Einen solchen Realismus verlangen von lebenden Schriftstel-
lern heißt von einem Mann Schulterbreite 75 verlangen, einen
Meter Bart und leuchtende Augen und ihm nicht sagen, wo
er das kaufen kann. Ich denke, so können wir in einer so
wichtigen Sache nicht vorgehen. Wir sind doch imstande, einen
viel weitherzigeren, produktiveren, intelligenteren Begriff des
Realismus aufzustellen.

Ergebnisse der Realismusdebatte in der Literatur


Die große Realismusdebatte in der Literatur, die, ausgehend
von der Sowjetunion, eine internationale Bewegung ausgelöst
hat, scheint mir zumindest folgende Punkte herausgearbeitet
zu haben:
1. Die Romanschriftsteller, welche die Beschreibung des Men-
schen durch eine Beschreibung seiner seelischen Reaktionen er-
setzen und so den Menschen in einen bloßen Komplex see-
lischer Reaktionen auflösen, werden der Realität nicht gerecht.
Weder die Welt noch der Mensch können sichtbar gemacht
werden (ist erkennbar und behandelbar beschrieben), wenn
nur die Spiegelung der Welt in der menschlichen Psyche oder
nur die menschliche Psyche, wenn sie die Welt spiegelt,
322 Zur Literatur und Kunst

beschrieben wird. Der Mensch muß in seinen Reaktionen und


in seinen Aktionen beschrieben werden.
2. Die Romanschriftsteller, welche nur die Entmenschlichung,
die der Kapitalismus durchführt, also den Menschen nur als
seelisch verödet beschreiben, werden der Realität nicht ge-
recht. Der Kapitalismus entmenscht nicht nur, er schafft
auch Menschlichkeit, nämlich im aktiven Kampf gegen die
Entmenschung. Der Mensch ist auch heute keine Maschine, er
funktioniert nicht nur als Teil einer Maschinerie. Er ist auch
vom sozialen Standpunkt aus nicht zureichend beschrieben,
wenn er nur als politischer Faktor beschrieben ist.

Volkstümlichkeit und Realismus


Wenn man Parolen für die zeitgenössische deutsche Literatur
aufstellen will, muß man berücksichtigen, daß, was Anspruch
erheben will, Literatur genannt zu werden, ausschließlich im
Ausland gedruckt und fast ausschließlich nur im Ausland ge-
lesen werden kann. Die Parole Volkstümlichkeit für die Lite-
ratur erhält dadurch eine eigentümliche Note. Der Schrift-
steller soll da für ein Volk schreiben, mit dem er nicht lebt.
Jedoch ist bei näherer Betrachtung die Distanz des Schrift-
stellers zum Volk doch nicht so sehr gewachsen, wie man den-
ken könnte. Sie ist jetzt nicht ganz so groß, wie es scheint,
und sie war ehedem nicht ganz so klein, wie es schien. Die
herrschende Ästhetik, der Buchpreis und die Polizei haben
immer eine beträchtliche Distanz zwischen Schriftsteller und
Volk gelegt. Trotzdem wäre es unrichtig, nämlich unrealistisch,
die Vergrößerung der Distanz als eine nur »äußerliche« zu
betrachten. Es sind zweifellos besondere Bemühungen nötig,
um heute volkstümlich schreiben zu können. Andererseits ist
es leichter geworden, leichter und dringender. Das Volk hat
sich deutlicher getrennt von seiner Oberschicht, seine Unter-
drücker und Ausbeuter sind aus ihm herausgetreten und
Über den Realismus 323

haben sich in einen nicht mehr übersehbaren, blutigen Kampf


mit ihm verwickelt. Es ist leichter geworden, Partei zu
ergreifen. Unter dem »Publikum« ist sozusagen eine offene
Schlacht ausgebrochen.
Auch die Forderung nach einer realistischen Schreibweise kann
heute nicht mehr so leicht überhört werden. Sie hat etwas
Selbstverständliches bekommen. Die herrschenden Schichten
bedienen sich offener der Lüge als ehedem und dickerer Lüge.
Die Wahrheit zu sagen erscheint als immer dringendere Auf-
gabe. Die Leiden haben sich vergrößert, und die Masse der
Leidenden hat sich vergrößert. Angesichts der großen Leiden
der Massen wird die Behandlung von kleinen Schwierigkeiten
und von Schwierigkeiten kleiner Gruppen als lächerlich, ja
verächtlich empfunden.
Gegen die zunehmende Barbarei gibt es nur einen Bundes-
genossen: das Volk, das so sehr darunter leidet. Nur von ihm
kann etwas erwartet werden. Also ist es naheliegend, sich an
das Volk zu wenden, und nötiger denn je, seine Sprache zu
sprechen.
So gesellen sich die Parolen Volkstümlichkeit und Realismus
in natürlicher Weise. Es liegt im Interesse des Volkes, der brei-
ten, arbeitenden Massen, von der Literatur wirklichkeitsge-
treue Abbildungen des Lebens zu bekommen, und wirklich-
keitsgetreue Abbildungen des Lebens dienen tatsächlich nur
dem Volk, den breiten, arbeitenden Massen, müssen also unbe-
dingt für diese verständlich und ergiebig, also volkstümlich
sein. Trotzdem müssen diese Begriffe vor dem Aufstellen von
Sätzen, in denen sie verwendet und verschmolzen werden, erst
gründlich gereinigt werden. Es wäre ein Irrtum, diese Be-
griffe für ganz geklärt, geschichtslos, unkompromittiert, ein-
deutig zu halten (»Wir wissen ja alle, was gemeint ist damit,
seien wir keine Haarspalter«). Der Begriff volkstümlich selber
ist nicht allzu volkstümlich. Es ist nicht realistisch, dies zu
glauben. Eine ganze Reihe von »Tümlichkeiten« müssen mit
Vorsicht betrachtet werden. Man denke nur an Brauchtum,
324 Zur Literatur und Kunst

Königstum, Heiligtum, und man weiß, daß auch Volkstum


einen ganz besonderen, sakralen, feierlichen und verdächtigen
Klang an sich hat, den wir keineswegs überhören dürfen. Wir
dürfen diesen verdächtigen Klang nicht überhören, weil wir
den Begriff volkstümlich unbedingt brauchen.
Es sind gerade die sogenannten poetischen Fassungen, in denen
»das Volk« besonders abergläubisch oder besser Aberglauben
erweckend vorgestellt wird. Da hat das Volk seine un-
veränderlichen Eigenschaften, seine geheiligten Traditionen,
Kunstformen, Sitten und Gebräuche, seine Religiosität, seine
Erbfeinde, seine unversiegbare Kraft und so weiter und so
weiter. Da tritt eine merkwürdige Einheit auf von Peiniger
und Gepeinigtem, von Ausnutzer und Ausgenutztem, von
Lügner und Belogenem, und es handelt sich keineswegs ein-
fach um die »kleinen«, vielen, arbeitenden Leute im Gegen-
satz zu den Oberen.
Die Geschichte der vielen Fälschungen, die mit diesem Begriff
Volkstum vorgenommen wurde, ist eine lange, verwickelte
Geschichte und eine Geschichte der Klassenkämpfe. Wir wol-
len hier nicht darauf eingehen, wir wollen nur die Tatsache
der Verfälschung im Auge behalten, wenn wir davon sprechen,
daß wir volkstümliche Kunst brauchen und damit Kunst für
die breiten Volksmassen meinen, für die vielen, die von den
wenigen unterdrückt werden, »die Völker selber«, die Masse
der Produzierenden, die so lange das Objekt der Politik war
und die das Subjekt der Politik werden muß. Wir wollen uns
erinnern, daß dieses Volk lange durch mächtige Institutionen
von der vollen Entwicklung zurückgehalten, künstlich und
gewalttätig durch Konventionen geknebelt wurde und daß
der Begriff volkstümlich zu einem geschichtslosen, statischen,
entwicklungslosen gestempelt wurde. Und mit dem Begriff
in dieser Ausgabe haben wir nichts zu tun, besser gesagt, ihn
haben wir zu bekämpfen.
Unser Begriff volkstümlich bezieht sich auf das Volk, das an
der Entwicklung nicht nur voll teilnimmt, sondern sie gera-
Über den Realismus 325

dezu usurpiert, forciert, bestimmt. Wir haben ein Volk vor


Augen, das Geschichte macht, das die Welt und sich selbst
verändert. Wir haben ein kämpfendes Volk vor Augen und
also einen kämpferischen Begriff volkstümlich.
Volkstümlich heißt: den breiten Massen verständlich, ihre
Ausdrucksform aufnehmend und bereichernd / ihren Stand-
punkt einnehmend, befestigend und korrigierend / den fort-
schrittlichsten Teil des Volkes so vertretend, daß er die Führung
übernehmen kann, also auch den andern Teilen des Volkes
verständlich / anknüpfend an die Traditionen, sie weiter-
führend / dem zur Führung strebenden Teil des Volkes Er-
rungenschaften des jetzt führenden Teils übermittelnd.
Und jetzt kommen wir zu dem Begriff Realismus. Und auch
diesen Begriff werden wir als einen alten, viel und von vielen
und zu vielen Zwecken gebrauchten Begriff vor der Verwen-
dung erst reinigen müssen. Das ist nötig, weil die Übernahme
von Erbgut durch das Volk in einem Expropriationsakt vor
sich gehen muß. Literarische Werke können nicht wie Fabriken
übernommen werden, literarische Ausdrucksformen nicht wie
Fabrikationsrezepte. Auch die realistische Schreibweise, für
die die Literatur viele voneinander sehr verschiedene Bei-
spiele stellt, ist geprägt von der Art, wie, wann und für
welche Klasse sie eingesetzt wurde, geprägt bis in die klein-
sten Details hinein. Das kämpfende, die Wirklichkeit än-
dernde Volk vor Augen, dürfen wir uns nicht an »erprobte«
Regeln des Erzählens, ehrwürdige Vorbilder der Literatur,
ewige ästhetische Gesetze klammern. Wir dürfen nicht be-
stimmten vorhandenen Werken den Realismus abziehen,
sondern wir werden alle Mittel verwenden, alte und neue,
erprobte und unerprobte, aus der Kunst stammende und
anderswoher stammende, um die Realität den Menschen mei-
sterbar in die Hand zu geben. Wir werden uns hüten, etwa
nur eine bestimmte, historische Romanform einer bestimmten
Epoche als realistisch zu bezeichnen, sagen wir die der Balzac
oder der Tolstoi, so für den Realismus nur formale, nur
326 Zur Literatur und Kunst

literarische Kriterien aufstellend. Wir werden nicht nur dann


von realistischer Schreibweise sprechen, wenn man zum Bei-
spiel »alles« riechen, schmecken, fühlen kann, wenn »Atmo-
sphäre« da ist und wenn Fabeln so geführt sind, daß seelische
Expositionen der Personen zustande kommen. Unser Realis-
musbegrifi muß breit und politisch sein, souverän gegenüber
den Konventionen.
Realistisch1 heißt: den gesellschaftlichen Kausalkomplex auf-
deckend / die herrschenden Gesichtspunkte als die Gesichts-
punkte der Herrschenden entlarvend / vom Standpunkt der
Klasse aus schreibend, welche für die dringendsten Schwierig-
keiten, in denen die menschliche Gesellschaft steckt, die
breitesten Lösungen bereit hält / das Moment der Ent-
wicklung betonend / konkret und das Abstrahieren ermög-
lichend.
Das sind riesige Anweisungen, und sie können noch ergänzt
werden. Und wir werden dem Künstler erlauben, seine Phan-
tasie, seine Originalität, seinen Humor, seine Erfindungskraft
dabei einzusetzen. An allzu detaillierten literarischen Vor-
bildern werden wir nicht kleben, auf allzu bestimmte Spiel-
arten des Erzählens werden wir den Künstler nicht ver-
pflichten.
Wir werden feststellen, daß die sogenannte sensualistische
Schreibweise (bei der man alles riechen, schmecken, fühlen
kann) nicht ohne weiteres mit der realistischen Schreibweise zu
identifizieren ist, sondern wir werden anerkennen, daß es
sensualistisch geschriebene Werke gibt, die nicht realistisch, und
realistische Werke, die nicht sensualistisch geschrieben sind.
Wir werden sorgfältig untersuchen müssen, ob wir die Fabel
wirklich am besten führen, wenn wir als Endeffekt die see-
lische Exposition der Personen anstreben. Unsere Leser wer-

1 »Das Wort« verdankt besonders G. Lukäcs einige sehr bemerkens-


werte Aufsätze, die den RealismusbegrifT erhellen, auch wenn sie, meines
Eraditens, ihn etwas zu eng definieren.
Über den Realismus 327

den vielleicht nicht finden, daß sie den Schlüssel zu den Er-
eignissen ausgeliefert bekommen, wenn sie, durch viele Künste
verführt, sich lediglich an den seelischen Emotionen der Hel-
den unserer Bücher beteiligen. Ohne gründliche Prüfung die
Formen der Balzac und Tolstoi übernehmend, würden wir
vielleicht unsere Leser, das Volk, ebenso ermüden, wie es diese
Schriftsteller oft tun. Realismus ist keine bloße Frage der Form.
Wir würden, die Schreibweise dieser Realisten kopierend, nicht
mehr Realisten sein.
Denn die Zeiten fließen, und flössen sie nicht, stünde es
schlimm für die, die nicht an den goldenen Tischen sitzen. Die
Methoden verbrauchen sich, die Reize versagen. Neue Pro-
bleme tauchen auf und erfordern neue Mittel. Es verändert
sich die Wirklichkeit; um sie darzustellen, muß die Darstel-
lungsart sich ändern. Aus nichts wird nichts, das Neue kommt
aus dem Alten, aber es ist deswegen doch neu.
Die Unterdrücker arbeiten nicht zu allen Zeiten auf die gleiche
Art. Sie können nicht zu allen Zeiten in der gleichen Weise
dingfest gemacht werden. Es gibt so viele Methoden, sich der
Vernehmung zu entziehen. Ihre Heerstraßen taufen sie Auto-
straßen. Ihre Tanks sind bemalt, daß sie wie die Büsche des
Macduff aussehen. Ihre Agenten zeigen Schwielen an den
Händen vor, als seien sie Arbeiter. Nein, den Jäger in das
Wild zu verwandeln, das braucht Erfindung. Was gestern
volkstümlich war, ist es nicht heute, denn wie das Volk gestern
war, so ist es nicht heute.
Jeder, der nicht in formalen Vorurteilen befangen ist, weiß,
daß die Wahrheit auf viele Arten verschwiegen werden kann
und auf viele Arten gesagt werden muß. Daß man Empörung
über unmenschliche Zustände auf vielerlei Arten erwecken
kann, durch die direkte Schilderung in pathetischer und in
sachlicher Weise, durch die Erzählung von Fabeln und Gleich-
nissen, in Witzen, mit Über- und Untertreibung. Auf dem
Theater kann die Wirklichkeit dargestellt werden in sach-
licher und in phantastischer Form. Die Schauspieler können
328 Zur Literatur und Kunst

sich nicht (oder kaum) schminken und sich »ganz natürlich«


geben, und alles kann Schwindel sein, und sie können Masken
grotesker Art tragen und die Wahrheit darstellen. Darüber
ist doch kaum zu streiten: Die Mittel müssen nach dem Zweck
gefragt werden. Das Volk versteht das, die Mittel nach dem
Zweck zu fragen. Die großen Theaterexperimente Piscators
(und meine eigenen), bei denen fortgesetzt konventionelle
Formen zerschlagen wurden, fanden ihre große Stütze in den
fortgeschrittensten Kadern der Arbeiterklasse. Die Arbeiter
beurteilten alles nach dem Wahrheitsgehalt, sie begrüßten jede
Neuerung, die der Darstellung der Wahrheit, des wirklichen
sozialen Getriebes, förderlich war, sie lehnten alles ab, was
spielerisch schien, Maschinerie, die um ihrer selbst willen ar-
beitete, das heißt ihren Zweck noch nicht oder nicht mehr
erfüllte. Die Argumente der Arbeiter waren niemals litera-
rische oder theaterästhetische. Man kann nicht Theater mit
Film mischen, das hörte man niemals hier. War der Film nicht
richtig eingesetzt, hieß es höchstens: Der Film da ist über-
flüssig, der lenkt ab. Arbeiterchöre sprachen kompliziert
rhythmisierte Verspartien (»Wenn's Reime wären, dann
ging's runter wie Wasser, und nichts bliebe hängen«) und san-
gen schwierige (ungewohnte) Eislersche Kompositionen (»Da
ist Kraft drin«). Aber wir mußten bestimmte Verszeilen um-
ändern, deren Sinn nicht einleuchtete oder falsch war. Wenn
in Marschliedern, die gereimt waren, damit man sie schneller
lernen konnte, und die einfacher rhythmisiert waren, damit
sie besser »durchgingen«, gewisse Feinheiten (Unregelmäßigkei-
ten, Kompliziertheiten) waren, sagten sie: »Da ist ein kleiner
Dreh drinnen, das ist lustig.« Das Ausgelaufene, Triviale,
das so Gewöhnliche, daß man sich nichts mehr dabei denkt,
liebten sie gar nicht (»Da kommt nichts bei raus«). Wenn man
eine Ästhetik brauchte, konnte man sie hier haben. Ich ver-
gesse nie, wie mich ein Arbeiter anschaute, dem ich auf seine
Anregung, in einen Chor über die Sowjetunion noch etwas
einzubauen (»Da muß noch das rein — sonst wozu?«), erwi-
Über den Realismus 329

derte, das würde die künstlerische Form sprengen: mit dem


Kopf auf die Seite gelegt, lächelnd. Ein ganzer Trakt der
Ästhetik stürzte durch dieses höfliche Lächeln zusammen. Die
Arbeiter hatten keine Angst, uns zu lehren, und sie hatten
keine Angst, selber zu lernen.
Ich spreche aus Erfahrung, wenn ich sage: Man braucht nie
Angst zu haben, mit kühnen, ungewohnten Dingen vor das
Proletariat zu treten, wenn sie nur mit seiner Wirklichkeit zu
tun haben. Es wird immer Leute mit Bildung, Kunstkenner,
geben, die sich dazwischendrängen mit einem »Das versteht
das Volk nicht«. Aber das Volk schiebt ungeduldig diese Leute
beiseite und verständigt sich direkt mit den Künstlern. Es gibt
hochgezüchtetes Zeug,, für Klüngel gemacht, um Klüngel zu
bilden, die zweitausendste Umformung des alten Filzhutes,
die Paprizierung des alten, in Verwesung übergegangenen
Stücks Fleisch: Das Proletariat weist das zurück (»Sorgen
haben die«) mit einem ungläubigen, eigentlich nachsichtigen
Schütteln des Kopfes. Es ist nicht der Paprika, der da zurück-
gewiesen wird, sondern das verfaulte Fleisch; nicht die zwei-
tausendste Form, sondern der alte Filz. Wo sie selber dich-
teten und Theater machten, waren sie hinreißend originell.
Die sogenannte Agitpropkunst, über die nicht die besten Na-
sen gerümpft werden, war eine Fundgrube neuartiger künst-
lerischer Mittel und Ausdrucksarten. In ihr tauchten längst
vergessene großartige Elemente echt volkstümlicher Kunst-
epochen auf, den neuen gesellschaftlichen Zwecken kühn zu-
geschnitten. Waghalsige Abkürzungen und Komprimierungen,
schöne Vereinfachungen; da gab es oft eine erstaunliche Eleganz
und Prägnanz und einen unerschrockenen Blick für das
Komplexe. Manches mochte primitiv sein, aber die Primitivi-
tät war doch nie von der Art Primitivität, an der die
scheinbar so differenzierten Seelengemälde der bourgeoisen
Kunst litten. Man tut nicht gut, wegen einiger verunglückter
Stilisierungen einen Darstellungsstil zu verwerfen, der sich
bemüht (und so oft mit Erfolg bemüht), das Wesentliche
330 Zur Literatur und Kunst

herauszuarbeiten und die Abstraktion zu ermöglichen. Das


scharfe Auge der Arbeiter durchdrang die Oberfläche der na-
turalistischen Wirklichkeitsabbildungen. Wenn die Arbeiter im
»Fuhrmann Henschel« über die Seelenzergliederungen sag-
ten: »So genau wollen wir das gar nicht wissen«, steckte da-
hinter der Wunsch, die unter der Oberfläche des ohne weiteres
Sichtbaren wirkenden eigentlichen sozialen Triebkräfte genauer
dargestellt zubekommen. Um eigene Erfahrungen anzuführen:
Sie stießen sich nicht an den phantastischen Einkleidungen,
dem scheinbar unrealen Milieu der »Dreigroschenoper«. Sie
waren nicht eng, sie haßten das Enge (ihre Wohnungen
waren eng). Sie waren großzügig, die Unternehmer waren
knickrig. Sie fanden einiges überflüssig, von dem die Künst-
ler behaupteten, es sei für sie notwendig, aber da waren sie
generös, sie waren nicht gegen den Überfluß, im Gegenteil, sie
waren gegen den Überflüssigen. Dem Ochsen, der da drischet,
verbanden sie nicht das Maul, allerdings sahen sie nach, ob er
drosch. »Die« Methode, an so was glaubten sie nicht. Sie wuß-
ten, sie hatten viele Methoden nötig, ihr Ziel zu erreichen.
Die Kriterien für Volkstümlichkeit und Realismus müssen also
sowohl weitherzig als sehr sorgfältig gewählt werden und dür-
fen nicht nur bestehenden realistischen Werken und bestehenden
volkstümlichen Werken abgezogen werden, wie es häufig ge-
schieht. So vorgehend, bekäme man formalistische Kriterien und
eine Volkstümlichkeit und einen Realismus nur der Form nach.
Ob ein Werk realistisch ist oder nicht, das kann man nicht fest-
stellen, indem man nur nachsieht, ob es bestehenden, realistisch
genannten, für ihre Zeit realistisch zu nennenden Werken gleicht
oder nicht. Man muß in jedem einzelnen Fall die Schilderung
des Lebens (statt nur mit einer anderen Schilderung) mit dem
geschilderten Leben selber vergleichen. Und auch was Volks-
tümlichkeit anlangt, gibt es ein ganz formalistisches Vorgehen,
vor dem man sich hüten muß. Die Verständlichkeit eines lite-
rarischen Werkes ist nicht nur gegeben, wenn es genauso ge-
schrieben ist wie andere Werke, die verstanden wurden. Auch
Über den Realismus 3 31

diese anderen Werke, die verstanden wurden, wurden nicht im-


mer so geschrieben wie die Werke vor ihnen. Für ihre Verständ-
lichkeit war etwas getan worden. So müssen auch wir etwas
für die Verständlichkeit der neuen Werke tun. Es gibt nicht nur
das Volkstümlichsein, sondern auch das Volkstümlichwerden.
Wenn wir eine lebendige kämpferische, von der Wirklichkeit
voll erfaßte und die Wirklichkeit voll erfassende, wahrhaft
volkstümliche Literatur haben wollen, müssen wir Schritt hal-
ten mit der reißenden Entwicklung der Wirklichkeit. Die großen
arbeitenden Volksmassen sind bereits im Aufbruch begriffen.
Die Geschäftigkeit und die Brutalität ihrer Feinde beweist es.
1938

[Zu:] Volkstümlichkeit und Realismus

1 Die Wendung zum Volk


Ein Teil der emigrierten (geflohenen, verjagten, diskriminier-
ten) Literatur wendet sich immer noch an die bürgerliche
Klasse. Sie denunziert die Ausrottung humanistischer Ideale,
sie spricht von Barbarei für Barbarei. Sie deutet gelegentlich
an, daß die unhumanen Maßnahmen mit gewissen Profiten, ja
sogar Kasteninteressen verknüpft sind. Aber sie stellt nicht fest,
daß die Liquidierung der humanistischen Ideale der Aufrecht-
erhaltung der bürgerlichen Besitzverhältnisse dient. Ganz naiv
sucht die das Bürgertum zu überzeugen, diese Besitzverhält-
nisse könnten auch ohne diese Maßnahmen unhumaner Art
aufrechterhalten werden, mit mehr Güte, Freiheit, Menschlich-
keit. Das Volk würde wohl derlei Naivitäten, kämen sie hinein,
ein wenig komisch finden. Es würde glauben, einer Unterhal-
tung darüber beizuwohnen, wieviel Unterdrückung nötig sei,
um die Ausbeutung aufrechtzuerhalten. Ob das ohne Krieg geht
oder nur mit dem Krieg. Ob mit humanem Krieg oder mit un-
humanem Krieg. Und so weiter und so weiter. Wo die Parole
332 Zur Literatur und Kunst

Für den Humanismus! noch nicht ergänzt ist durch die Parole
Gegen die bürgerlichen Besitzverhältnisse!, ist die Wendung der
Literatur zum Volk noch nicht erfolgt.

2 Der Zeitpunkt
Und schließlich muß man, um ein bestimmtes Beginnen dem
Urteil auszuliefern, doch auch berichten, wann es stattgefun-
den hat. Das Anbringen gewisser Gemälde an den inneren Wän-
den von Schiffen kann sehr töricht sein, wenn es stattfindet zu
einem Zeitpunkt, wo der Untergang schon eingesetzt hat, was
mit dem Ausbruch eines Seekriegs der Fall sein kann. Tat-
sächlich finden wir, um dies Bild weiterzuführen, noch im
Augenblick des eigentlichen Sinkens Künstler mit dem Aus-
denken und Ausführen von Gemälden beschäftigt.

3 Sich an alle wenden


Man braucht nicht die Forderung aufzustellen, daß künstleri-
sche Werke sogleich allen, die sie zu sehen kriegen, verständlich
sein sollen, wenn man eine Literatur für das Volk haben will.
Das Volk kann sich literarischer Werke auf vielerlei Art be-
mächtigen, in Gruppen, selbst kleinen Gruppen, die schnell ver-
stehen und das Verständnis verbreiten, oder indem es sich an
einiges in den betreffenden Werken hält, das es sogleich versteht
und von dem aus es durch Rückschlüsse im Zusammenhang das
anfänglich Unverständliche sich klärt. Schreiben für kleine
Gruppen ist nicht gleichbedeutend mit Verachten des Volks. Es
kommt darauf an, ob diese Gruppen ihrerseits die Interessen
des Volks bedienen oder ihnen entgegenarbeiten. Ein solches den
Interessen des Volks Entgegenarbeiten liegt allerdings schon
vor, wenn solche Zirkel ihre Belieferung zur Aufrechterhaltung
ihrer selbst benutzen können und Monopole angestrebt (und
vom Schreibenden ermöglicht) werden. Der Strom muß die
Sammelstellen sozusagen überfluten.
Über den Realismus 333

4 Volkstümlich von oben herab

Zweifellos haftet dem Begriff etwas Hochmütiges an. Das Wort


wird sozusagen von oben nach unten gesprochen. Es scheint eine
Forderung nach größtmöglicher Vereinfachung zu enthalten.
Man soll etwas fürs Volk machen, weg mit dem Kaviar! Et-
was, was das Volk versteht, das ja etwas begriffsstutzig ist. Das
Volk, das ist etwas Zurückgebliebenes. Es muß die Dinge ge-
reicht bekommen, wie es das gewöhnt ist. Es lernt schwer, es ist
Neuem nicht zugänglich. Der dänische proletarische Dichter
Henry Jul Andersen hat ein Gedicht geschrieben über die Ge-
wohnheiten, welche Sklavenketten sind. Wir haben nichts zu
tun mit diesem Begriff volkstümlich, von oben herab gespro-
chen. Volkstümliches Schreiben, das ist kein formales Problem.

5 Die Dichter, Sprechwerkzeuge des Volkes


Das Volk, das die Dichter, einige davon, als seine Sprechwerk-
zeuge benutzt, verlangt, daß ihm aufs Maul geschaut wird, aber
nicht, daß ihm nach dem Maul gesprochen wird. Es verlangt,
daß seine Interessen bedient werden, der ganze riesige Komplex
seiner Interessen, von den nacktesten, existentiellen bis zu den
sublimsten. Es ist an der Romanform so wenig interessiert und
so sehr interessiert wie an der Staatsform. Um Konservierung
handelt es sich nicht. Die Fortführung der Tradition ist ihm
nichts Heiliges, sie erfolgt auf mitunter unheilige Weise.

Volkstümliche Literatur
Ob ein literarisches Werk volkstümlich ist oder nicht, das ist
keine formale Frage. Es ist keineswegs so, als ob man, um vom
Volk verstanden zu werden, ungewohnte Ausdrucksweise ver-
meiden, nur gewohnte Standpunkte einnehmen müßte. Es ist
nicht im Interesse des Volkes, seinen Gewohnheiten (hier
334 Zur Literatur und Kunst

Lesegewohnheiten) diktatorische Macht zuzusprechen. Das Volk


versteht kühne Ausdrucksweise, billigt neue Standpunkte, über-
windet formale Schwierigkeiten, wenn seine Interessen spre-
chen. Es versteht Marx besser als Hegel, es versteht Hegel, wenn
es marxistisch geschult ist. Rilke ist nicht volkstümlich; um das
zu sehen, braucht man nicht seine komplizierten, formal über-
spitzten Gedichte zu lesen; auch jene seiner Gedichte, die im
Volksliedton geschrieben sind, sind nicht volkstümlich. Lukacs
zieht da eine sehr illustrative Strophe ans Tageslicht (»Und
wenn ihn Trauer überkam«); sie ist formal verständlich,
weit verständlicher als Majakowskis Strophen. Aber es ist nicht
das drinnen, was das Volk Verstand nennen würde. Sie ist for-
malistisch, indem in mitleidigem Tonfall von Bestialitäten ge-
sprochen wird und das Mitleid auf den Verbrecher gelenkt ist.
Da ist eine Trauer so ausgedrückt, als ob jeder sie teilen
könnte, was nicht der Fall ist. Es wird, auf dem Papier, formal,
durch einfache Formwahl, durch einen ästhetischen Kniff, der
Eindruck erzeugt, solches könne das Volk singen, das heißt mei-
nen und fühlen. Fühlte und meinte das Volk so, so würde es
seine Interessen verraten. Beiden »komplizierteren«, »sublime-
ren« Gedichten desselben Menschen wird man die gleiche Geg-
nerschaft zum Volk feststellen können, in anderer Form. Da ist
die Flucht aus der Banalität in den Snobismus. Da wird aus
nichts etwas gemacht. Dem Gehalt nach ist es nichts, der Form
nach ist es etwas. Dem Gehalt nach ist es alt, der Form nach
ist es neu. Diese Gedichte »sagen dem Volk nichts«, teils auf
verständliche, teils auf unverständliche Art.

Hanns Eisler
[Notizen für einen] Beitrag zum Thema Volkstümlichkeit

Wir müssen uns hüten, uns zu solchen Sätzen zu versteigen wie


»Alle großen Kunstwerke waren volkstümlich«. Ein kurzer
Über den Realismus 335

Überschlag wird uns zeigen, daß es ganz unmöglich ist, nur das
als groß zu bezeichnen, was volkstümlich ist, das heißt, den
Satz für alle Zeiten gültig zu sprechen. Es sind ganz bestimmte
gesellschaftliche Zustände nötig, damit zum Kriterium der
Größe die Volkstümlichkeit genommen werden kann.
Dem Volk aufs Maul schauen ist etwas ganz anderes als dem
Volk nach dem Mund reden.
Für das bürgerliche Publikum hatten viele künstlerische Dar-
bietungen, die vom Standpunkt des Proletariats aus erfolgten
(ob sie nun von proletarischen Künstlern stammten oder nur
für Proletariat veranstaltet wurden), etwas »Lehrhaftes«, Dog-
matisches, Bevormundendes. Zunächst lehnten die bürgerlichen
Kritiker einfach alles Lehrhafte ab. Darauf aufmerksam ge-
macht, daß die bürgerliche Klassik außerordentlich lehrhaft ge-
wesen war und daß die bürgerliche Kritik noch Dramatiker wie
Ibsen und Shaw begrüßt hatte ihrer Lehrhaftigkeit wegen, be-
quemten sie sich zu dem Eingeständnis, nicht die Lehrhaftigkeit,
sondern die Lehre passe ihnen nicht. Sie fanden die Lehre naiv.
Natürlich fanden sie auch die Herrschaftsansprüche des Prole-
tariats naiv.
Die gewissen Vereinfachungen, die in der neueren Dramatik bei
der Darstellung des Seelenlebens der Individuen vorgenommen
wurden, zogen dieser Dramatik den Vorwurf der Primitivität
zu. Die bürgerliche Kritik verlor ihr Interesse, wenn in die-
sem Punkt Vereinfachungen vorgenommen wurden, da ihr auf
diesen Punkt alles ankam. Die Geschicke der Personen schienen
ihr einzig aus ihren seelischen Regungen zu resultieren, zumin-
dest einzig daraus abzulesen. Die neuere Dramatik fand gerade
diesen Standpunkt primitiv.* Sie wies ständig auf die Vereinfa-
chungen hin, welche von der älteren Dramatik bei der Dar-
stellung gesellschaftlicher Prozesse vorgenommen wurden.
Für die unterdrückte Klasse hatten die neuen Kunstwerke nichts
eigentlich Lehrhaftes; sie dienten nur der Selbstverständigung.
Diese Selbstverständigung war ein genußvoller Prozeß. Die
Gefühle der Meisterung der Materie waren genußvolle. Im
336 Zur Literatur und Kunst

Fortschreiten lag Genuß. Die Künstler hatten nicht den Ein-


druck, daß sie die Massen belehrten, nicht einmal, wenn sie sie
informierten. [...]
Von den fünf Künstlern, welche, die Partei des im Weltkrieg
mißbrauchten und in der Republik nicht entschädigten Volkes
nehmend, am bekanntesten geworden sind, scheint mir der Mu-
siker unter ihnen das glücklichste Beispiel für Volkstümlichkeit.
Der Dichter unter ihnen hatte erst im letzten Drittel der
14 republikanischen Jahre seine widerstrebende Kunst so weit,
daß sie auf den Kampfplatz einrücken konnte. Der Zeichner
brachte seine Darstellungen des Gesichts der herrschenden
Klassen ebenso wie der Photograph seine Montagen ankla-
gender Dokumente nur schwer unter die Menge, und der
Theaterleiter hatte es oft nicht leicht, über die Mauer der seine
teuren Darbietungen bezahlenden wohlhabenden Zuschauer
hinweg zu dem Publikum der billigen Plätze zu gelangen.
Auch hatte er einen Umbau der Theaterkunst von solchem
Umfang vorzunehmen, daß er nur große Torsos zustande
brachte, mit denen er selber nicht zufrieden war, wenn ihn die
Mietszinsspekulation, die über sein Metier entschied, zwang,
sie, wie weit immer sie gediehen sein mochten, zu zeigen. Aber
der Musiker unter ihnen fand keinen ganz so großen Wider-
stand in seiner Kunst und hatte Volksmassen als Ausübende.
Die Zeit war die Zeit des Übergangs, und die Werke der Künst-
ler bedeuteten sowohl einen Abstieg und ein Ende, als auch
einen Aufstieg und einen Anfang. Sie trugen die Kennzeichen
der Zersetzung und zersetzten Bestehendes, und sie trugen die
Kennzeichen des Aufbaus und halfen aufbauen. Die Kunst der
herrschenden Klassen war fertig, in der doppelten Bedeutung
des Wortes, der guten und der schlechten, und die der Unter-
drückten war unfertig, ebenfalls in der guten und in der schlech-
ten Bedeutung des Wortes.
Die fünf, die ich im Auge habe, und dazu noch einige, die, weil
sie entweder schwächer waren, oder auch nur, weil sie weniger
Glück hatten, nicht so bekannt wurden, waren alle im Besitz
Über den Realismus 337

einer hochentwickelten Technik, und die Entwicklungslinie der


Künste lief ununterbrochen zu ihren Werken, selbst derjenige
unter ihnen, dessen Kunst die jüngste war, der Plakatist, führte
die Tradition auf seinem Gebiet fort. Und doch wirken ihre
Arbeiten wie Beweise des Aufatmens und des sich kriegerisch
Regens des gequälten und für einige Zeit von einigen der vielen
Fesseln befreiten Volkes.
Der Musiker, Hanns Eisler, war der Schüler eines Meisters,
der die Musik so mathematisiert hatte, daß seine Arbeiten nur
noch wenigen Fachleuten zugänglich waren. Aber der Schüler
wandte sich an die großen Massen. Nur ein paar Virtuosen ver-
mochten die Stücke des Schönberg zu spielen, Millionen repro-
duzierten diejenigen des Eisler. Der Lehrer arbeitete in einem
Zimmerchen, das einem Geheimlaboratorium glich, und trau-
erte ehrlich der gestürzten Monarchie nach. Der Schüler arbei-
tete mit vielen in Versammlungshäusern, auf Sportplätzen und
in großen Theatern und bekämpfte schon die Republik. Aus den
"werken des Lehrers war alles Politische entfernt, selbst An-
deutungen, die Vorzüge der Monarchie betreffend, fehlten, in
denen des Schülers fehlte kein einziger seiner politischen Gedan-
ken.

Kleine Berichtigung
In der Expressionismusdebatte des »Worts« ist in der Hitze
des Gefechts etwas passiert, was einer kleinen Berichtigung be-
darf.
Mit meinem Freund Eisler, der wenigen als blasser Ästhet vor-
kommen wird, hat Lukacs gleichsam den Ofen geputzt, weil
er bei der Testamentvollstreckung angesichts des Erbes nicht
die vorgeschriebene pietätvolle Rührung gezeigt haben soll. Er
kramte sozusagen darin herum und weigerte sich, alles in Be-
sitz zu nehmen. Nun, vielleicht ist er als Exilierter nicht in der
Lage, soviel mit sich herumzuschleppen.
33 8 Zur Literatur und Kunst

Aber über das Formelle der Angelegenheit gestatte man mir


einige Zeilen. Es wurde da von »den Eislers« gesprochen, die
irgend etwas sollten oder nicht sollten. Meiner Meinung nach
sollten die Luka.cs' es unbedingt unterlassen, solch eine Mehr-
zahl anzuwenden, solange es unter unsern Musikern tatsächlich
nur einen Eisler gibt. Die Millionen von Arbeitern weißer,
gelber und schwarzer Rasse, die die Massenlieder Eislers geerbt
haben, werden da sicher meiner Meinung sein. Aber auch aller-
hand Fachleute für Musik, die Eislers Arbeiten, in denen er, wie
man mir sagt, das Erbe der deutschen Musik in großartiger
Weise weiterbildet, würde man verwirren, wenn die deutsche
Emigration im Gegensatz zu den sieben griechischen Städten,
die sich darum stritten, einen Homer hervorgebracht zu haben,
sich zu der Prahlerei hinreißen ließe, sieben Eislers zu haben.
Über den Realismus 339

Über realistische Schreibweise

[Bemerkung zu meinem Aufsatz]


Ich habe den kleinen Aufsatz geschrieben, weil ich den Eindruck
habe, daß wir die realistische Schreibweise, die wir im Kampf
gegen Hitler brauchen, allzu formal bestimmen, so daß die Ge-
fahr entsteht, daß wir uns vor der feindlichen Front in ein For-
mengezänk verwickeln. Ich kann im Grund nicht glauben, daß
Lukacs tatsächlich für realistische Schreibweise nur ein einziges
Muster, das des bürgerlichen realistischen Romans des vorigen
Jahrhunderts, aufstellen will, ein Muster, mit dem nicht nur ich
unter den antifaschistischen, kommunistischen Kämpfern in der
Literatur nicht auskommen kann. Es ist unbedingt nötig, daß
wir (und ohne öffentlichen, verbitternden, zeitraubenden Streit)
den Realismusbegriff weiter, großzügiger und eben realistischer
auffassen und das Problem des die Wahrheit über den Faschis-
mus Schreibens nicht zu einem formalen Problem herabsinken
lassen. Die einzelnen Werke müssen danach beurteilt werden,
wieweit sie die Wirklichkeit im konkreten Fall erfassen, nicht
danach, wieweit sie einem vorgestellten Muster historischer Art
formal entsprechen. Ich schlage also vor, die Frage der Erwei-
terung des Realismusbegriffs für unsere Zeitschrift der breiten
Antihitlerfront nicht zum Gegenstand einer neuen Debatte zu
machen. Eine solche Debatte müßte die Gegensätze, soweit sie
vorhanden sind, unerträglich verschärfen; was wir doch ver-
meiden müssen. Ich habe deshalb eine positive Form meiner
Ausführungen gewählt und so geschrieben, daß die Sache (die
im letzten Heft der »Internationalen Literatur« schon eine
recht bösartige Form angenommen hat, indem Lukäcs dort »ge-
wisse Dramen Brechts« ohne weitere Beweisführung als forma-
listisch denunziert) damit ihr Bewenden haben kann.
340 Zur Literatur und Kunst

Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise


In der letzten Zeit sind, wohl durch einige Essays, die auf eine
bestimmte realistische Schreibweise, die des bürgerlichen Ro-
mans, besonders eingingen, bei Lesern des »Worts« Besorgnisse
laut geworden, diese Zeitschrift wolle dem Realismus in der
Literatur einen zu engen Raum anweisen. Es mag sein, daß für
realistische Schreibweise in ein paar Ausführungen allzu for-
male Kennzeichen angegeben wurden, mancher Leser kam
dadurch auf den Gedanken, es sei gemeint, ein Buch sei dann re-
alistisch geschrieben, wenn es »so geschrieben ist wie die bürger-
lichen realistischen Romane des vorigen Jahrhunderts«. Natür-
lich ist das nicht gemeint. Realistisches Schreiben kann von
nicht realistischem nur dadurch unterschieden werden, daß man
es mit der Realität selber konfrontiert, die es behandelt. Es gibt
da keine speziellen Formalitäten, die zu beachten wären. Es
wird vielleicht gut sein, dem Leser hier einen Schriftsteller der
Vergangenheit vorzustellen, der anders schrieb als die bürger-
lichen Romanciers und doch ein großer Realist genannt werden
muß: den großen revolutionären englischen Dichter P. B.
Shelley. Sollte seine große Ballade »Der Maskenzug der Anar-
chie«1, geschrieben unmittelbar nach den von der Bourgeoisie
blutig unterdrückten Unruhen in Manchester (1819), nicht den
gewöhnlichen Beschreibungen einer realistischen Schreibweise
entsprechen, so hätten wir dafür zu sorgen, daß die Beschrei-
bung realistischer Schreibweise eben geändert, erweitert, ver-
vollständigt wird.
Shelley beschreibt, wie sich ein schrecklicher Zug von Man-
chester nach London bewegt:

1 Ich benutzte die Ballade als Vorbild für mein Gedicht »Freiheit und
Democracy«.
Über den Realismus 341

n
I met Murder on the way -
He had a mask like Castlereagh -
Very smooth he looked, yet grim;
Seven blood-hounds followed him.

Ich traf den MORD unterwegs -


Er ging maskiert wie Castlereagh2 -
Sehr glatt sah er aus, aber finster;
Sieben Bluthunde folgten ihm.
in
All were fat; and well they might
Be in admirable plight,
For one by one, and two by two,
He tossed them human hearts to chew
Which from his wide cloak he drew.

in
Alle waren fett; und sie mußten
In großartiger Verfassung sein
Denn jedem von ihnen warf er
Ein, zwei Menschenherzen zum Kauen vor
Die er aus seinem weiten Mantel zog.
IV
Next came Fraud, and he had on,
Like Eldon3, and ermined gown;
His big tears, for he wept well,
Turned to mill-stones as they feil.

IV
Als nächster kam der BETRUG. Er trug
Wie Lord Eldon ein Gewand mit Hermelin;
Seine dicken Tränen, denn er weinte gut
Verwandelten sich beim Fallen in Mühlsteine.
v
And the little children, who
Round his feet played to and fro,

1 Wörtliche Übersetzung.
2 Englischer Staatsmann (1769-1822).
3 Englischer Staatsmann (1757-1844).
342 Zur Literatur und Kunst

Thinking every tear a gern,


Had their brains knocked out by them.

v
Und den kleinen Kindern, die
Um seine Füße spielten
Und jede Träne für einen Edelstein hielten
Schlugen sie die Schädel ein.
VI
Clothed with the Bible, as with light,
And the shadows of the night,
Like Sidmouth, next, Hypocrisy
On a crocodile rode by.

VI
Angetan mit der Bibel wie mit Licht
Und mit den Schatten der Nacht
Wie Sidmouthi, ritt als nächste
Auf einem Krokodil die HEUCHELEI vorbei.
VII
And many more Destructions played
In this ghastly masquerade,
All disguised, even to the eyes,
Like bishops, lawyers, peers or spies.

VII
Und noch viel mehr VERHEERUNGEN traten auf
In diesem entsetzlichen Maskenzug
Alle verkleidet bis zu den Augen
Als Bischöfe, Anwälte, Peers und Spitzel.
VIII
Last came Anarchy: he rode
On a white horse, splashed with blood;
He was pale even to the lips,
Like Death in the Apocalypse.

VIII
Zuletzt kam die ANARCHIE: sie ritt
Auf einem weißen Pferd, mit Blut bespritzt;

i Englischer Staatsmann (1751-1838).


Über den Realismus 343

Sie war blaß bis zu den Lippen


"Wie der Tod in der Apokalypse.
IX
And he wore a kingly crown;
And in his grasp a sceptre shone;
On his brow this mark I saw —
»I AM GOD, AND KING, AND LAW.'«

IX
Und sie trug eine königliche Krone
Und umklammerte ein glänzendes Szepter;
Auf ihrer Stirn aber sah ich ein Zeichen -
ICH BIN GOTT UND KÖNIG UND GESETZ.

X
With a pace stately and fast
Over Engli§h land he passed.
Trampling to a mire of blood
The adoring multitude.
x
Mit erhabenem und schnellem Schritt
Bewegte sie sich über englisches Land
Niedertrampelnd zu einem blutigen Brei
Die anbetende Menge.
XI
And a mighty troop around,
With their trampling shook the ground,
Waving each a bloody sword,
For the service of their Lord.

XI
Um sich ein mächtiger Haufe -
Von seinem Getrampel erzitterte der Grund -
Und jeder schwang ein blutiges Schwert
Im Dienste seiner Herrin.
XII
And with glorious triumph, they
Rode through England proud and gay,
Drunk as with intoxication
Of the wine of desolation.
344 Zur Literatur und Kunst

XII
Und in Gloria und Triumph
Ritten sie durdi England, stolz und heiter
Blau vor Trunkenheit
Von dem Weine der Verwüstung.

XIII
O'er field and towns, from sea to sea,
Passed the Pageant swift and free,
Tearing up, and trampling down;
Till they came to London town.

XIII
Über Felder und Städte, von Meer zu Meer
Bewegte sich der AUFZUG schnell und ungestört
Alles aufreißend, alles niedertrampelnd
Bis sie zu der Stadt London kamen.

XIV
And each dweller, panic-stricken,
Feit his heart with terror sicken
Hearing the tempestuous cry
Of the triumph of Anarchy.

XIV
Und jeder Anwohner, ergriffen von Panik
Fühlte sein Herz stillstehen
Wenn er den stürmischen
Triumphschrei der ANARCHIE hörte.
xv
For with pomp to meet him came,
Clothed in arms like blood an flame,
The hired murderers, who did sing
»Ihou art God, and Law, and King.

xv
Denn es kamen mit Pomp ihr entgegen
Angetan mit Waffen wie Blut und Flamme
Die gemieteten Mörder, und sie sangen:
»Du bist Gott und Gesetz und König.
Über den Realismus 345

XVI
We have waited, weak and lone
For thy Coming, Mighty One!
Our purses are empty, our swords are cold,
Give us glory, and blood, and gold.«

XVI
Wir haben gewartet, schwach und verlassen
Auf dein Kommen, o Mächtige!
Unsere Beutel sind leer, unsere Schwerter sind kalt
Gib uns Ruhm und Blut und Gold.«

XVII
Lawyers and priests, a motley crowd,
To the earth their pale brows bowed;
Like a bad prayer not over loud,
Whispering — »Thou art Law and God.« —

XVII
Anwälte und Priester, ein buntgescheckter Haufe
Beugten ihre fahlen Stirnen bis zur Erde
Wie ein übles Gebet, nicht überlaut
Flüsternd: »Du bist das Gesetz und Gott.«

XVIII
Then all cried with one accord,
»Thou art King, and God, and Lord;
Anarchy, to thee we bow,
Be thy name made holy now!«

XVIII
Da schrie alles auf wie in einem einzigen Akkord:
»Du bist König und Gott und Herr!
ANARCHIE, vor dir beugen wir uns
Dein Name wird jetzt geheiligt.«
XIX
And Anarchy, the Skeleton,
Bowed and grinned to every one,
As well as if his education
Had cost ten millions to the nation.
346 Zur Literatur und Kunst

XIX
Und die ANARCHIE, das Gerippe
Verbeugte sich und grinste jedem zu
So artig, als ob ihre Erziehung
Der Nation zehn Millionen gekostet hätte.

xx
For he knew the Palaces
Of our Kings were rightly his;
His the sceptre, crown, and globe,
And the gold-inwoven robe.

Denn sie wußte, die Paläste


Unserer Könige waren rechtmäßig die ihrigen
Ihrer das Szepter, die Krone und der Apfel
Und die golddurchwobene Robe.

So verfolgen wir den Zug der Anarchie auf London zu und


sehen große symbolische Bilder und wissen bei jeder Zeile, daß
hier die Wirklichkeit zu "Wort kam. Hier wurde nicht nur der
Mord bei seinem richtigen Namen genannt, sondern, was sich
Ruhe und Ordnung nannte, wurde als Anarchie und Verbrechen
entlarvt. Und diese »symbolistische« Schreibweise hinderte
Shelley keineswegs, sehr konkret zu werden. Sein Flug erhob
sich nicht zu hoch über den Erdboden. Seine Ballade spricht
dann von der Freiheit, und das geschieht in folgender Weise:

XXXVIII
»Rise like Lions after slumber
In unvanquishable number,
Shake your chains to earth like dew
Which in sleep had fallen on you -
Ye are many - they are few.

XXXVIII
»Steht auf wie Löwen nach dem Schlummer
In unbesiegbarer Anzahl!
Schüttelt eure Ketten ab wie Tau
Über den Realismus 347

Der im Schlaf auf euch gefallen war:


Ihr seid viele - sie sind wenige.

xxxix
What is Freedom? - ye can teil
That which slavery is, too well -
For its very name has grown
To on echo of your own.

xxxix
Was ist Freiheit? Ihr könnt sagen
Was Sklaverei ist - nur zu gut -
Denn ihr Name selber ist geworden
Zu einem Echo eures Namens.
XL
Tis to work and have such pay
As just keeps life from day to day
In your limbs, as in a cell
For the tyrants' use to dwell,

Es ist: arbeiten für solchen Lohn


Daß er von Tag zu Tag eben noch das Leben in Gang hält
In euren Knochen, wo es wie in einer Zelle haust
Zum Gebrauch der Tyrannen.
XLI
So that ye for them are made
Loom, and plough, and sword, and spade,
With or without your own will bent
To their defence and nourishment.

XLI
So, daß ihr für sie gemacht seid -
Webstuhl, Pflug und Schwert und Spaten!
Mit Willen oder ohne Willen gezwungen
Sie zu verteidigen und sie zu ernähren.

XLII
Tis to see your children weak
With their mothers pine and peak,
348 Zur Literatur und Kunst

When the winter winds are bleak, -


They are dying whilst I speak.

XLII
Es ist: eure Kinder hinfällig sehen
Und ihre Mütter in Verzweiflung, weil sie hinsiechen
Wenn die Winterwinde den großen Frost bringen -
Sie liegen im Sterben, während ich dies sage.

XLIII
Tis to hunger for such diet
As the rieh man in his riot
Casts to the fat dogs that lie
Surfeiting beneath his eye.«

XLIII
Es ist: nach der Speise verlangen
Die der Reiche in seiner Völlerei
Den fetten Hunden vorwirft
Die überfressen zu seinen Füßen liegen.«

Bei Balzac ist viel zu lernen, vorausgesetzt, man hat schon viel
gelernt. Aber Dichtern wie Shelley muß sogar ein noch sichtba-
rerer Platz in der großen Schule der Realisten angewiesen wer-
den 2L\S Balzac, da er die Abstraktion besser ermöglicht als jener
und nicht ein Feind der unteren Klassen ist, sondern ein Freund.
Man kann bei Shelley sehen, daß die realistische Schreibweise
keinen Verzicht auf Phantasie, noch auf echte Artistik bedeutet.
Nichts hindert auch die Realisten Cervantes und Swifl, Ritter
mit Windmühlen kämpfen und Pferde Staaten gründen zu se-
hen. Nicht der Begriff der Enge, sondernder der Weite paßt zum
Realismus. Die Wirklichkeit selber ist weit, vielfältig, wider-
spruchsvoll; die Geschichte schafft und verwirft Vorbilder. Der
Ästhet mag zum Beispiel die Moral der Geschichte in die Vor-
gänge einsperren wollen und dem Dichter das Aussprechen von
Urteilen verbieten. Aber der Grimmeishausen läßt sich das
Moralisieren und Abstrahieren nicht verbieten, noch Dickens^
noch Balzac. Tolstoi mag die Einfühlung des Lesers erleichtern;
Über den Realismus 349

Voltaire erschwert sie. Balzac baut mit Spannung, konflikt-


reich; Hasek baut ohne Spannung und mit sehr kleinen Kon-
flikten. Es sind nicht die äußeren Formen, welche den Realisten
ausmachen. Und es gibt auch keine unfehlbare Prophylaxis:
Frische Artistik geht über in stinkenden Ästhetizismus, blü-
hende Phantasie in öde Nebelreiterei, oft bei ein und demselben
Dichter; wir können nicht vor Artistik und Phantasie warnen
deswegen. So sinkt der Realismus ab zum mechanischen Natu-
ralismus, immer wieder, bei den bedeutendsten Realisten. Ein
Rat »Schreibt wie Shelley!« wäre absurd; so wäre ein Rat
»Schreibt wie Balzac!« Die so Beratenen möchten sich da in
Bildern ausdrücken, die aus dem Leben toter Leute gegriffen
sind, dort auf psychische Reaktionen spekulieren, die nicht
mehr einlaufen. Aber wenn wir sehen, auf wie mancherlei Weise
die Wirklichkeit beschrieben werden kann, sehen wir, daß Re-
alismus keine Formsache ist. Nichts ist so schlimm, als beim
Aufstellen von formalen Vorbildern zuwenig Vorbilder aufzu-
stellen. Es ist gefährlich, den großen Begriff »Realismus« an
ein paar Namen zu knüpfen, so berühmt sie auch sein mögen,
und ein paar Formen zur alleinseligmachenden schöpferischen
Methode zusammenzufassen, auch wenn es nützliche Formen
sein mögen. Über literarische Formen muß man die Realität
befragen, nicht die Ästhetik, auch nicht die des Realismus. Die
Wahrheit kann auf viele Arten verschwiegen und auf viele Ar-
ten gesagt werden. Wir leiten unsere Ästhetik, wie unsere Sitt-
lichkeit, von den Bedürfnissen unseres Kampfes ab.
1938

Notizen über realistische Schreibweise

1 Realismus und Technik


Im Vergleich zu der literarischen stehen andere Künste, wie
die Musik und die bildenden Künste, freier und natürlicher
350 Zur Literatur und Kunst

ihrer Technik gegenüber. Musiker und Maler diskutieren gern


ihre Technik, entwickeln Fachausdrücke, verlangen Spezialstu-
dium und so weiter. Die Schriftsteller sind darin viel gehemm-
ter und geheimnisvoller; selbst wenn sie schon vielem gegen-
über recht realistisch geworden sind, lieben sie es immer noch
nicht, ihre eigene Technik zu diskutieren. Obwohl die Schrift-
steller gemeinhin etwas recht Bestimmtes, ja allzu Bestimmtes
und Begrenztes unter »Kunst« verstehen (»Das ist noch nicht
Kunst«, »In der Kunst ist das alles ganz anders« und so wei-
ter), so ist dieses Gebiet, so fremd es sich andern Gebieten ge-
genüber gibt, sosehr es sich von ihnen angeblich unterscheidet,
doch selber ziemlich dunkel und unbestimmt.
Es wäre viel nützlicher, den Begriff »Kunst« nicht zu eng zu
fassen. Man sollte zu seiner Definierung ruhig solche Künste
wie die Kunst des Operierens, des Dozierens, des Maschinen-
baus und des Fliegens heranziehen. Auf diese Weise geriete man
weniger in Gefahr, von etwas, genannt »Bezirk der Kunst«, zu
faseln, von etwas sehr eng Umgrenztem, von etwas, was sehr
strenge, wenn auch sehr dunkle Doktrinen erlaubt. Das und das
gehört nach solchen Doktrinen zum Bezirk der Kunst, und das
und das nicht. Sie hat ihren eigenen Bereich. Sie wird mit so
manchem verknüpft, ohne was sie angeblich nicht Kunst ist.
Kunst ist dann ein Schreiben, das zum Beispiel alle seine Leser
mit ein und derselben Emotion ansteckt; wenn dem Werk ge-
genüber nicht alle Leser (unbeschadet ihrer Klassenzugehörig-
keit) gleich, nämlich in gleicher Weise und gleich stark, reagie-
ren, dann ist es eben nicht Kunst. Wo die Wissenschaft Zutritt
hat, hat die Kunst keinen Zutritt. Der Wissenschaft gegenüber
muß sie sich nicht verantworten. Nur auf bestimmte Gebiete
angewandt, ist Können »Kunst«, und, was immer sich sonst in
der Welt ändern mag, diese Gebiete ändern sich niemals. Die
»Kunst« ist geradezu daran gebunden, nur Dinge zu behan-
deln, die unveränderlich »ewig« sind. Die veränderlichen
Triebe der Menschen sind nicht würdig, von der Kunst behan-
delt zu werden. Im Theater ist es die Kunst des Schauspielers,
Ü b e r den Realismus 351

den Zuschauer dazu zu bringen, sich einzufühlen; beabsichtigt


der Schauspieler etwas anderes, so mag, was er macht, noch so
viel Können zeigen, es ist doch nicht »Kunst« und so weiter
und so weiter.
Nicht als ob die Schriftsteller in ihrer Kunst nicht auch bewußt
Technik verwendeten, aber es ist eine von andern Techniken
eigentümlich isolierte, nicht kommunizierende Technik, und sie
hat völlig privaten Charakter, ist angeblich oder auch wirklich
unübertragbar, ist persönlicher Stil, so daß die Übernahme einer
neuen Darstellungsweise durch einen andern Schriftsteller so-
gleich als Unoriginalität gebrandmarkt wird. Vom Bau eines
Romans oder Stückes in so technischer Weise zu sprechen wie
von einem Brückenbau, ist danach so absurd, wie wenn man
von einem Pferdebau spräche (was übrigens die Wissenschaft
unter Umständen zu tun bereit wäre). Kurz, es liegt etwas
Geheimnisvolles auf der Beziehung der Literaturkünstler zur
Technik.

Der Aberglauben der Künstler ist ein interessantes Rudiment


in unserem wissenschaftlichen Zeitalter. Nun ist die Wissen-
schaft selber bei weitem nicht so frei von Aberglauben, wie sie
vorgibt. Wo ihr Wissen nicht ausreicht, da produziert sich ihr
Glaube, und das ist immer ein Aberglaube. Auch sie ist zu eng
gebunden an eine Klasse, die nur auf ganz bestimmten Ge-
bieten durch Wissen profitiert, auf vielen andern aber durch
Unwissen. Trotzdem, die Kunst hat sich in einem Maße ein
Recht auf Aberglauben gesichert und sich mit einem so dicken
Wall von abergläubischem Dunst umgeben, daß es erstaunlich
bleibt. Die Wissenschaft auf jenen Gebieten, wo sie den Aber-
glauben bekämpfen darf und muß, hat der Kunst gegenüber
auf deren dringendes Ansuchen hin resigniert und betrachtet
(ohne ihre Instrumente und Methoden) die Kunst als Zufluchts-
stätte der Illusionen, deren Notwendigkeit ihr angesichts unserer
352 Zur Literatur und Kunst

Gesellschaftsordnung dunkel einleuchtet. Die Wissenschaft


aber, die sich auf dem Gebiet der Kunst selbst etabliert hat,
hat sich auf einem Gebiet etabliert, wo die sie aushaltende
Klasse durch Aberglauben, nicht durch Wissen profitiert. Die
Künstler selber haben, wie gesagt, einen Horror vor der
Wissenschaft, der sich mitunter auch als eine »scheue« Ver-
ehrung gibt. Das alte Bild zu Sais, jenes Kunstwerk, das im
Mythos die Pfaffen dem Blick der »Sterblichen« verwehren,
muß zweifellos ein realistisches Kunstwerk gewesen sein. Ge-
meinhin hat der Künstler Angst, durch die Berührung mit
der Wissenschaft seine Ursprünglichkeit zu verlieren. Würde
er diese seine Ursprünglichkeit nachprüfen, dann würde er
erkennen, daß sie eine recht irdische Sache ist, und der Ort,
wo das Etwas entsprungen ist, würde ihm, wenn er ihn zu
Gesicht bekäme, nicht sehr gefallen. Die Ewigkeit seiner
Empfindungen ist wenige Jahrzehnte alt, und viele seiner
»jahrtausendalten Triebe« hat ihm sein Schullehrer mit dem
Stock eingebleut. Aus ihm spricht nicht so sehr die Stimme
seines Gottes als die einiger Ausbeuter, also vielleicht doch
die seines Gottes. Die »fromme Scheu«, mit der der Schrift-
steller sich weigert, den Ursprung seiner Ideen und Gefühle
zu betrachten, wird begreiflich, wenn man diesen aufdeckt,
und die Besorgnis, er möchte nicht mehr dichten können,
wenn er »zuviel weiß«, ist nicht ganz unberechtigt, denn es ist
weit schwieriger, Lügen glaubhaft zu machen, die man selbst
nicht mehr glaubt. Die These (in jeder Zeitung zu lesen) ist, daß
der Künstler am besten aus dem Unbewußten schöpfe. Nun
mag es sein, daß der Künstler unserer Zeit, wenn er seinen
Verstand ausschaltet oder ihn auf das rein Handwerksmäßige
beschränkt, mitunter einiges Wahre ausplappern mag, das wirft
ein helles Licht auf seinen Verstand. Und es ist kein besonders
gutes Zeichen für eine Gesellschaftsordnung, wo nur die Un-
mündigen und Betrunkenen die Wahrheit sagen oder wenigstens
zu sagen bereit sind. Das Schlimme ist nur, daß der Künstler
aus seinem Unbewußten meist auch nur Irrtümer und Lügen
Über den Realismus 353

schöpft. Er schöpft nämlich heraus nur, was ihm hineingelegt


wurde, und ist das Herausschöpfen unbewußt, so war das Hin-
einlegen meist sehr bewußt. Die Verfechter der Theorie des Un-
bewußten weisen triumphierend darauf hin, daß Kunst nicht
»ausgerechnet werden«, nicht am Konstruktionstisch mecha-
nisch hergestellt werden kann. Das ist eine Binsenwahrheit:
Jedes natürliche Denken enthält das Moment des Spielerischen
und ist ein vielfach verknüpftes, gleitendes, emotionelles,
schnelles. Es werden hier viele unbewußte Operationen tat-
sächlich vorgenommen. Aber unsere »Zurück-zum-Unbewuß-
ten «-Theoretiker meinen nicht das. Sie raten plump ab, den
Verstand zu benutzen, und verweisen auf den reichen Schatz
des unbewußten Wissens, der unbedingt reicher sein muß als
das kümmerliche Häufchen des bewußten Wissens, das sie
organisiert haben. Es ist die alte pfäffische These, an die schlecht
Genährten (die aber die Ernährer der Pfaffen sind) gerichtet,
der Vater nähre sie doch, auch wenn oder gerade wenn sie nicht
denken. Die Wissenschaft selber hat übrigens die »fromme
Scheu« zu bestimmten Zeiten ebenfalls empfunden zu einer
Zeit, als sie, nach ihrer jetzigen Auffassung, noch keine Wissen-
schaft war. Man kann nachlesen, wie groß diese Scheu bei den
ersten Anatomen war; lange noch, nachdem sie Gott nicht mehr
scheuten, hatten sie noch die Polizei zu scheuen. Nun kann kaum
ein Zweifel darüber bestehen, daß es so etwas wie Produktions-
krisen gibt, die in irgendeinem Zusammenhang mit wissenschaft-
lichen Bemühungen bei Künstlern stehen. Einige Lyriker haben,
zu unserer Zeit, das Singen verlernt, als sie »Das Kapital« lasen.
Und schon Schiller und Goethe hatten ihre wissenschaftlichen
Epochen, wo der künstlerische Strom »dünner floß«. Nur war es
da nur insofern die Berührung mit der Wissenschaft, die Krisen
hervorrief, als durch diese eine Berührung mit der Wirklichkeit
erfolgte. Unsere Lyriker verloren ihre Stimme nicht so sehr
angesichts des Buches »Kapital« als angesichts des Kapitals sel-
ber. Und die Krise beweist nicht, wie unabhängig die Kunst von
der Wirklichkeit, sondern wie abhängig sie von ihr ist. Unsere
354 Zur Literatur und Kunst

Künstler hören auf, in ihrer Klasse das zu sehen, was sie nicht
ist (und es zu zeigen), und sie hören auf, irgend etwas zu sehen
(und zu zeigen). Ihre Augen sind nicht Mikroskope, unter de-
nen man alles sieht, worüber man sie stellt, sondern nur Be-
stimmtes oder nichts. Diese Seher werden leicht von Panik er-
faßt, von Furcht, ihr Objekt habe auf dem Boden des Mikro-
skopes gelegen, nicht unter ihm. Die vermutete und oft realisierte
Gefahr liegt im Sprung von der einen Klasse zur andern. Der
Schreibende, der von einer Klasse zur anderen überwechselt,
kommt nicht aus dem Nichts in ein Etwas, sondern aus einem
Etwas in ein Etwas. Er kommt, ausgebildet, ja perfekt [ionjiert
in den Ausdrucksmitteln einer Klasse, zu deren Feinden er nun-
mehr zählen möchte. Er hat ihre Künste, auch ihre üblen ge-
lernt, er ist ein Meister in der Befriedigung ihrer Laster. Es
ist ihm ein leichtes zu beweisen, daß zwei mal zwei fünf ist;
nun ist er dessen überdrüssig, aber wie beweist man, daß zwei
mal zwei vier ist? Und er hat sogar eigentlich, wie Lenin sagt,
immer zu beweisen gehabt, daß zwei mal zwei Schuhbürste ist!
Nicht nur in seinen Gedanken, auch in seinen Gefühlen entsteht
ein riesiger Wirrwarr. Er weiß, daß er die Unnatur vertreten
hat, aber das war ihm natürlich. Nunmehr ist ihm das natürlich
unnatürlich. Fühlt er Zorn, so muß er nachprüfen, ob der Zorn
da am Platze ist, sein Mitgefühl, seine Vorstellung von Gerech-
tigkeit, Freiheit, Solidarität muß er mit Mißtrauen betrachten,
mit Verdacht alle seine Regungen. Seine Lage wird eher dadurch
erschwert als erleichtert, daß die neue Welt nicht völlig anders
ist als die alte. In gewissem Sinn ist es ein und dieselbe Welt,
in der beide Klassen leben. Bestimmte Empfindungen und Ge-
danken sind nur falsch in der alten Welt, nicht etwa einfach
nicht vorhanden. Für diese Leute ist der Moment, wo das Auge
sich entschleiert, vielleicht (auch das keineswegs immer) der
Moment des besten Sehens, aber kaum der des besten Zeigens.
Kehren wir zurück zu den Künstlern, denen noch unbekannte
Mächte die Feder oder den Pinsel führen. Wir wissen, daß un-
sere besten Maler etwa nicht nur nicht unzufrieden sind, wenn
Über den Realismus 355
ihre Bilder der abgebildeten Wirklichkeit nicht gleichen, son-
dern sogar so lange unzufrieden sind, als sie es tun. Sie haben
das Gefühl, sie müßten mehr liefern als bloße Abbilder. Das
Ding vor ihnen zerfällt ihnen in zwei Dinge, ein vorhandenes
und ein zu schaffendes, ein sichtbares und ein sichtbar zu ma-
chendes; da ist etwas, und etwas steckt dahinter. Hier spuken
noch die Urbilder, die Ideen des Plato, die Bacon in seinen
Idolas säkularisierte. Die neuzeitliche Wissenschaft entwickelte
sich in der Kritik der Ideen, die von ihr als von Menschen an-
gefertigte Abbilder behandelt wurden. Von der Kunst kann
man annehmen, daß jedem neuen optischen Gebrauch, der von
einem Ding gemacht wurde, ein allgemein gesellschaftlicher Ge-
brauch entsprach, der von ihm gemacht wurde. Hinter den Din-
gen steckte tatsächlich allerhand. Nicht nur Prozesse wie die
elektrischen oder mikrobiologischen, deren Gesetzlichkeiten
erkannt werden mußten, bevor man die Dinge handhaben
konnte, sondern auch gesellschaftliche Prozesse, nicht weniger
entscheidend über die Beeinflußbarkeit der Dinge. Die Unruhe
der Künstler war verständlich. Jedoch wird das Bewußtsein
der Künstler noch vielfach von viel früheren, primitiveren Vor-
stellungen bestimmt. Da sind Schöpfungsvorstellungen, welche
an diejenigen erinnern, die Levy Brühl bei den Primitiven fest-
stellt; da werden Welten geschaffen in der »Imagination«, »des
Künstlers Welten«, und da wird in ihnen »gelebt«. Feinde sol-
len getötet werden, indem man ihre Abbilder beschießt. Diese
Vorstellungen treten natürlich beinahe unzertrennbar verfilzt
mit späteren auf. Die ersten Bildwerke müssen alle Merkmale
des Revolutionären gehabt haben. Nicht nur triumphierte hier
die durch die Arbeit gewonnene Sicherheit der Hand, in gewis-
ser Weise bilden sie Dokumente des primitiven Atheismus
(trotz aller Versicherungen unserer Ausgraber), inmitten von
»Geschaffenem« begann der Mensch zu schaffen, die Götter
wurden doch etwas entbehrlicher, und ist nicht erkannt, was
hergestellt werden kann? (Spätestens mit dem ersten Priester
tritt bereits der erste Atheist auf: einer, der sich Gott dienstbar
35 6 Zur Literatur und Kunst

macht.) Wir sind ins Bereich der Primitiven und Pfaffen


gelangt, aber das müssen wir, wenn wir den Vorstellungen
unserer Künstler nachgehen, der Priester der Kunst (unter de-
nen ziemlich atheistische sind). Der gewöhnliche Einwand ge-
gen die Befassung mit der Wissenschaft oder besser gegen die
Forderung, die Künstler sollten in ihrer Weise ebenso nütz-
liche Abbildungen der Wirklichkeit geben wie die Wissenschaft-
ler, ist der, »daß die Welt dann so kahl werde«. Sie wird in
Wirklichkeit nicht kahler, als sie in Wirklichkeit ist. Aber sie
ist eben kahl. Hier schaut die Fratze derer, die sie ausräubern,
am besten durch. Damit der Mensch in einer »kahlen« (ausge-
räuberten) Welt leben kann, muß er umgebildet werden. Die
Kunst soll ihn einpassen in die Welt, welche nicht umgebildet
werden soll. Hier ist die Welt, dort ist der Mensch, er ist nicht
eigentlich in ihr, sie ist schon erworben, man kann sich nur
einmieten, auf Widerruf. Was man braucht, sind Abbilder des
Menschen, und zwar des weltlosen Menschen, Abbilder der
Welt, die ihre Handhabe ermöglichen, braucht man nicht.
Die Produktionskrise der Künstler, die sich an der Änderung
der Welt zu beteiligen beginnen, ist eine Begleiterscheinung des
Expropriationsakts, der hier in riesigem Maße stattfindet, die
Zerstörungen sind unvermeidbar, und sie lohnen sich. Der
furchtlose Blick einer neuen Kunst fällt auch auf das Zerstörte.

3 Realismus und Technik (Fortsetzung)


Wir können zu einer freien Aussprache über Technik, zu einer
natürlichen Haltung zur Technik nur kommen, wenn wir die
neue gesellschaftliche Funktion uns klarmachen, die der Schrift-
steller hat, wenn er realistisch, das heißt von der Realität be-
wußt beeinflußt und die Realität bewußt beeinflussend, schrei-
ben will. Betrachten wir die landläufige Technik, besonders
die pseudorealistische, so sehen wir sie als die außerordent-
lich zurückgebliebene, verkümmerte Technik, welche der alten
Funktion entspricht. Die wenigsten unserer »Realisten« haben
Über den Realismus 357
zum Beispiel Kenntnis genommen von der Entwicklung der
Auffassungen über die menschliche Psyche in der zeitgenössi-
schen Wissenschaft und Praxis. Sie halten immer noch bei einer
Psychologie introspektiver Art, einer Psychologie ohne Ex-
perimente, einer Psychologie ohne Historie und so weiter.
Nicht, daß ihre Menschenbeschreibungen für den Psychologen
ohne Interesse sind, aber um daraus Nutzen (Menschenkennt-
nis) zu schöpfen, muß man eben ein Psychologe sein. Der Satz
»Ein Winkel, gesehen durch ein Temperament« bedeutet eigent-
lich »Ein Temperament, gesehen durch einen Winkel«. Diese
Leute beschreiben sich selber und nichts als sich selber. Um zu
ihren Aussagen über die Menschen zu kommen, unterwerfen
sie sich selber, jeder sein eigenes Versuchstier, imaginären
Experimenten. Da sie alles zu tun bereit sind, um die Ein-
fühlung des Lesers in ihre Figuren zu erzwingen, vom Gelingen
welcher Operation ihnen der ganze Kunstwert ihrer Arbeiten
abzuhängen scheint, engen sie die jeweils zu beschreibende Figur
so ein, daß eine Einfühlung »jedes« Lesers möglich sein muß.
Nicht nur durch die Klassen, auch durch die Jahrhunderte glei-
chen sich ihre Menschen, so daß sie keinerlei Schichtungen in
sich haben noch echte Widersprüche, und das ist weit schlimmer,
als daß der »Bellum Gallicum« auch auf der Schreibmaschine
geschrieben sein könnte, wenn bloß diese vorhanden gewesen
wäre. Diese Technik der Menschenbetrachtung und Darstellung
ist völlig primitiv, und die Menschenkenntnis der Schriftsteller
ist denn auch jedem erkennbar infantil: Man könnte mit ihr
noch kein Auto verkaufen. Die Primitivität ihrer Figuren,
ihre Armut an Reaktionen, Schablonenhaftigkeit, Entwick-
lungslosigkeit zwänge sie allein schon zu Einschränkungen bei
all und jedem. Sämtliche Prozesse verlaufen dürftig und sche-
matisch. Überall ersetzen Nuancen und Abnormitäten wirkli-
chen Reichtum. Diese Feststellung macht man übrigens nicht
ohne weiteres beim Lesen dieser Romane, da die in sich ge-
schlossen erscheinen, mit der Konstruktion einer eigenen Welt
aufwarten, die in sich einige Logik natürlich zu haben pflegt:
358 Zur Literatur und Kunst

Bei allseitiger Verkürzung und Verkrüppelung, bei konsequent


durchgeführter Primitivität entsteht wieder der Eindruck von
Logik. (Formt man für einen Kriminalroman beispielsweise
einen primitiven Detektiv, dann muß nur auch der Verbrecher
primitiv sein und so weiter.) Nimmt man aber einzelne Züge,
Teile, Figuren, Handlungen von Figuren heraus und konfron-
tiert sie mit der wirklichen Welt, dann sieht man sofort die
Unzulänglichkeit und Armut dieser Konstruktionen. Freilich
wird einem solches Beginnen von der betreffenden Ästhetik
als barbarisch und banausenhaft verwiesen; man habe das Ding
als Ganzes zu betrachten, sich auf den Standpunkt des Künst-
lers zu stellen und so weiter. Dieser Befehl soll uns natürlich
nur hindern, unsern gesunden Menschenverstand, unsere eige-
ne Lebenserfahrung anzuwenden, die bei manchen Problemen
versagen mögen, für solche aber durchaus ausreichen.
Man soll auch nicht meinen, daß gewisse anspruchsvolle Ro-
mane mit Schilderungen komplizierter Psychen diese erstaun-
liche Primitivität nicht aufweisen. Wir bekommen bei diesen
Autoren sehr verwickelte seelische Konstellationen vorgesetzt.,
nur ist weit und breit keine Kausalität zu entdecken, es sind von
der Umwelt abgetrennte Psychen. Wir begegnen auch kompli-
zierteren Verläufen, nur schnurren auch sie ohne Ursachen ab.
Hier ist hochentwickelte, aber unfruchtbare Technik. Wie
wäre also eine Technik aufzubauen? Keineswegs, indem man,
was man als Technik antrifft, völlig negiert, nur weil sie primi-
tiv oder steril ist. Die Primitivität und Sterilität ist hier etwas
Gewordenes. Die alte Technik (die man in der Schablone an-
trifft) war einmal imstande, gewisse gesellschaftliche Funktio-
nen zu erfüllen; sie ist es nicht mehr, neue Funktionen zu er-
füllen; jedoch sind die neuen Funktionen gemischt mit den
alten, und wir benötigen das Studium der veralteten Technik
dringend. Die neuere, sterile, isolierte Technik wiederum, die in
keinem gesunden Austausch mit der Umwelt steht, ergibt, stu-
diert man zugleich mit ihr die neuen Funktionen, eine bedeuten-
de Ausbeute. Wir nähern uns dem Problem des Kulturerbes.
Über den Realismus 359

Wenn man literarische Vorbilder vorschlägt, muß man sich die


Mühe machen, sehr konkret zu werden. Man muß dann zu
Technikern sprechen, und das muß man als Techniker tun. Es
ist sehr schwierig, die Technik (das Formulieren, »Sehen«,
Komponieren und so weiter) vom jeweiligen »Inhalt« abzu-
lösen: Das jeweilige Vorbild sieht ja eine andere Welt, außer
dem, daß es sie anders sieht. Es genügt natürlich nicht, wenn
man nur nachweist, daß eine bestimmte historische Epoche in
dem vorbildlichen Kunstwerk gut abgespiegelt wurde. Mit
dem gleichen Spiegel kann man in der Literatur nicht andere
Epochen spiegeln, so wie man mit ein und demselben Spiegel
verschiedene Köpfe und dann noch Tische und Wolken spiegeln
kann. Es genügt auch nicht, wenn man zeigt, wie die Mittel
der Darstellung dem technischen Standard der betreffenden
Epoche entsprachen. Das sagt über eine zu gewinnende litera-
rische Technik nur aus, daß sie eben dem technischen Standard
unserer Epoche entsprechen müssen, was ein frommer Wunsch
bleibt. Ein frommer Wunsch bleibt es auch, zu verlangen, daß
unsere Werke den gesellschaftlichen Bedürfnissen der Klasse,
die wir vertreten, »ebenso gut« dienen sollen, wie die Werke
unserer Vorbilder der ihrigen gedient haben. Nach solchen für
die Literaturgeschichte unendlich wertvollen Winken sind wir
höchstens so weit gebracht, daß wir zweifeln, ob wir irgend
etwas von der Technik unserer Vorbilder verwerten können,
wenn sie doch so fest mit anderer Epochen Inhalten, Techniken
und gesellschaftlichen Zwecken verknüpft sind. Balzac schrieb
dann in einer Welt, die von der unsrigen außerordentlich ver-
schieden war, mit Mitteln der Wahrnehmung und Darstellung,
die keineswegs unserem technischen Standard entsprachen (in
der Fabrikation, Biologie, Ökonomie und so weiter) und für
eine Klasse, die eben den Code Napoleon auszunutzen im
Begriffe war. Natürlich, um auf die Technik zu kommen, ist
unsere Technik geschichtlich geworden, eine Ansammlung von
360 Zur Literatur und Kunst

Kenntnissen und Praktiken vieler Jahrhunderte, das heißt,


vieles an früherer Technik ist noch lebendig in der unsrigen, sie
ist eine Fortführung, wenn auch keine geradlinige, wenn auch
keine bloße Addition. Es gibt also im Balzac, auch im Balzac,
technische Elemente, die wir gebrauchen können. Durch eine
Konfrontierung seiner Welt, Klasse, des Standards der Tech-
nik seiner Zeit mit unserer Welt, unserer Klasse und dem Stan-
dard unserer Technik gewinnen wir wertvolle Kriterien, aber
es muß unbedingt das Wie seiner Arbeitsweise aufgezeigt wer-
den, also wie er sah und beschrieb, welch andere Methoden
er anwandte als andere (bei der Charakteristik seiner Perso-
nen, der Beischaffung seines Materials, der Ausstellung seiner
Erkenntnisse, der Komposition seiner Fabel und so weiter und
so weiter). Am gefährlichsten allerdings ist es, nur von einem
Vorbild allein zu sprechen. Abgesehen davon, daß ein solches
Vorbild, allein propagiert, überhaupt gar nicht wirklich pla-
stisch wird, genügt ein Vorbild allein auf keinen Fall. Geht
man davon aus, daß man Technisches von Inhaltlichem ablösen
kann (und das tut man, sobald man Vorbilder aus anderen
Epochen empfiehlt), dann muß diese Ablösungsoperation auch
bei zeitgenössischen Werken gelingen. Und dann ist tatsächlich
nicht einzusehen, wieso wir zeitgenössische Technik des Schrei-
bens, insofern sie mit dem technischen Standard unseres Zeit-
alters überhaupt verknüpft ist, nicht mit mindest demsel-
ben Gewinn studieren sollten als die Technik vergangener
Epochen. Natürlich ist bei ihnen die Anwendung der oben-
genannten Kriterien ebenfalls unbedingt nötig. Es ist ohne
weiteres zu erwarten, daß Dampfmaschine, Mikroskop, Dy-
namo und so weiter, öltrust, Rockefeller-Institut, Paramount-
film und so weiter in der literarischen Technik Entsprechungen
haben, die sowenig wie alle diese neuen Erscheinungen selber
einfach mit dem kapitalistischen System zu beerdigen sind.
Schon für die Beschreibung der Prozesse, in denen ein Mensch
des Spätkapitalismus steht, sind die Formen des Rousseau-
schen Erziehungsromans oder die Techniken, mittels derer die
Über den Realismus 361

Stendhal und Balzac die Karriere eines jungen Bourgeois be-


schreiben, außerordentlich überholt. Die Techniken der Joyce
und Döblin sind nicht lediglich Verfallsprodukte; schaltet man
ihren Einfluß aus, statt ihn zu modifizieren, bekommt man
lediglich den Einfluß der Epigonen, nämlich der Hemingways.
Die Arbeiten der Joyce und Döblin weisen, und das in großer
Weise, den welthistorischen Widerspruch auf, in den die Pro-
duktionskräfte mit den Produktionsverhältnissen geraten sind.
In diesen Arbeiten sind in gewissem Umfang auch Produktiv-
kräfte repräsentiert. Gerade die sozialistischen Schriftsteller
können in diesen Dokumenten der Ausweglosigkeit wertvolle
hochentwickelte technische Elemente1 kennenlernen: Sie sehen
den Ausweg. Nötig sind viele Vorbilder; am lehrreichsten ist
der Vergleich.

5
Was wir von einer technisch interessierten Kritik erfahren
könnten, wäre zum Beispiel der Unterschied zwischen der Dar-
stellungstechnik des Balzac und des Dickens. Nehmen wir die
Darstellung von Gerichtsverfahren bei den beiden Autoren.
Auf den ersten Blick erscheint es doch, daß Balzac eine andere
Klasse vertritt als Dickens oder dieselbe Klasse in einer andern
Situation. (Die Entscheidung, dieser spreche für das Klein-, je-
ner für das Großbürgertum, wäre natürlich nicht ausreichend.)
Es ist ein außerordentlich interessanter Punkt, daß gerade die
moralisierende, mit dem Objekt der Rechtspflege sympathisie-
rende Schreibweise des Dickens den Eindruck eines weniger tie-
fen Spatenstichs in die Realität macht als die des Balzac. Die
technische Seite zeigen beide, aber beim Dickens in seiner wenn-
gleich großartigen Darstellung des juristischen Formalismus,

1 Innerer Monolog (Joyce), Stilwechsel (Joyce), Dissoziation der Ele-


mente (Döblin, Dos Passos), assoziierende Schreibweise (Joyce, Döblin),
Aktualitätenmontage (Dos Passos), Verfremdung (Kafka).
362 Zur Literatur und Kunst

etwa in »Bleak House«, sieht man bei weitem nicht so gut den
realen Sinn der bürgerlichen Rechtspflege, ihre zeitweise revo-
lutionäre Rolle wie beim Balzac. Man muß richtig verstehen,
hier soll nicht die sozialreformerische Tendenz denunziert wer-
den, das wäre absurd. Wenn Balzac dem Gesellschaftsforscher
mehr gibt, und ich denke, er tut dies, so wird es deshalb sein,
weil er später verallgemeinert als Dickens, nach einer genauen
und die Widersprüche aufzeigenden Analyse erst das Urteil zu-
läßt; er hat darin etwas im besten Sinne Wissenschaftliches.
Die moralische Haltung des Balzac kann niemals die unsrige
sein, aber diejenige des Dickens befriedigt uns auch nicht. Balzac
vermittelt uns eine tiefere Kenntnis der menschlichen Natur, er
macht sie handhabbarer. Dies wäre im einzelnen zu zeigen in
einer wissenschaftlichen Analyse historisch-materialistischer
Art, aber im Hinblick auf das Technische, nämlich die Darstel-
lungsmittel. (Wie wird ein Richter gezeichnet, der Verlauf
eines Prozesses und so weiter bei Balzac, bei Dickens?)

6 Über die verschiedenen gesellschaftlichen Funktionen des


Realismus und seiner Abarten
Für die Praxis der realistischen Schriftsteller ist es wichtig, daß
die literarische Theorie den Realismus in bezug auf seine ver-
schiedenen gesellschaftlichen Funktionen, das heißt in seiner
Entwicklung begreift.
Die bürgerlich revolutionäre realistische Dramatik der John
Gay, Beaumarchais und Lenz zeigt folgende Charakteristika:
Auf der den Problemen oder Selbstbespiegelungen der Feudalen
überlassenen Bühne werden die Probleme und Selbstbespiege-
lungen der aufsteigenden bürgerlichen Klasse eingeführt. Re-
volutionär wirkt schon die Übernahme des bisher monopoli-
sierten Bühnenapparats selber, bei John Gay in seiner »Bettler-
oper« die Tatsache, daß die »Unterwelt« ihre Oper etabliert
und nichtadelige Personen singen. Die Wirklichkeit betritt die
Bühne, das heißt, die Klasse betritt sie, die anfängt, die Wirk-
Über den Realismus 363

lichkeit zu bestimmen. Dabei tritt ein eigentümlicher Wider-


spruch auf. Einerseits wird die vornehme Bühne mit einem
gewissen Behagen entweiht durch die ordinäre Redeweise der
Plebs, aber zugleich erhält doch auch diese Plebs ihre Weihe,
indem sie sich der bisher monopolisierten gehobenen Formen be-
dient. Sie entwickelt, das Zeremoniell der herrschenden Klasse
verhöhnend, sofort ihr eigenes Pathos. Neben ihrer gehobenen
Sprache erscheint die Sprache der Herrschenden als geschraubt.
Die Hauptsache ist, daß der Blickpunkt nunmehr der Bürger
ist, bei Beaumarchais im »Figaro« und bei Lenz im »Hofmei-
ster« der emanzipierte Lakai. Das ist echter Realismus, denn
der Bürger war eben wirklich das treibende Zentrum der öko-
nomischen Entwicklung geworden, und jetzt schickte er sich an,
auch das politische Zentrum zu werden. Der Friseur Figaro
allein kann noch die verwickelten kulinarischen Probleme der
Hofgesellschaft einigermaßen ordnen, besser als der Adel ver-
steht er die adeligen Verhältnisse. Der Kuppler tritt auf als der
große Produktive, die konsumierende Schicht ist als Schmarot-
zertum entlarvt, das zum Schmarotzen schon unfähig ist. Nach
der Aufführung des »Figaro« konnte man ruhig sagen: Hier
hat ein Realist gesprochen.
Der Realismus des Lenz zeigt andere Züge. Sie werden den
Geschichtsforscher nicht befremden. Sein Hofmeister ist eigent-
lich ein Hauslehrer. Daß er noch als Hofmeister behandelt wird
und als solcher sich behandeln läßt, während er schon ein Haus-
lehrer ist, das ist seine Tragödie. Denn dieses deutsche Stan-
dardwerk des bürgerlichen Realismus ist eine Tragödie im Ge-
gensatz zum französischen. Man hört geradezu das Gelächter
des Franzosen über den deutschen Hauslehrer, der durch die
Anknüpfung geschlechtlicher Beziehungen zu seiner adeligen
Schülerin nicht etwa Karriere macht, sondern gezwungen wird,
sich zu entmannen, um seinen Dienst ausüben zu können. Die-
ses Gelächter des Franzosen und dieser wilde Protest des Deut-
schen sind beides Ergebnisse revolutionärer realistischer Hal-
tung.
364 Zur Literatur und Kunst

Die deutschen Realisten der Bühne, Lenz, der junge Schiller,


Büchner, der Kleist des »Kohlhaas« (dieses Werk kann aus ver-
schiedenen Gründen der dramatischen Literatur zugezählt wer-
den), der junge Hauptmann, der Wedekind von »Frühlings Er-
wachen«, sind auch darin Realisten, daß ihre Werke Trauer-
spiele sind. Das Trauerspiel des Bürgertums weicht dem Trauer-
spiel des Proletariats (»Die Weber«). Die nicht vollzogene
bürgerliche Revolution wirft ihren Schatten. »Die Weber«, das
erste große Werk, das die Emanzipation des Proletariats her-
vorbringt, ist ein Standardwerk des Realismus. Der Proletarier
betritt die Bühne, und er betritt sie als Masse. Alles wirkt hier
als revolutionär. Die Sprache, schlesischer Volksdialekt, das
Milieu in seinen minutiösen Details, die Vorstellung des Ver-
kaufs der Ware Arbeitskraft als eines großen Gegenstandes der
Kunst. Und doch ist hier eine monumentale Schwäche zu spü-
ren, etwas ganz und gar Unrealistisches in der Haltung des
Stückschreibers. Es ist dies der Appell an das Mitleid des Bür-
gertums, ein ganz und gar vergeblicher Appell, das heißt dann
vergeblich, wenn er nicht nur ein Vorschlag ist, zur besseren
Ausbeutung der Massen gewisse Reformen oberflächlicher Art
zu genehmigen.
Der Schiller der »Räuber« und der Kleist des »Kohlhaas« hat-
ten einen Zustand der Welt geschildert, in dem das »Recht«, um
sich durchzusetzen, alle juristischen Formen zerbrechen muß.
Auch in den »Webern« und im »Biberpelz« findet Gesetz und
Ordnung keine sympathisierende Zeichnung. Die realistischen
Dichter tragen der Realität Rechnung. Sie sind die Anwälte der
Wirklichkeit,'die sich herausgebildet hat, und sie sprechen gegen
überkommene und überholte menschliche Vorstellungen und
Verhaltungsweisen.
Ihre Bemühungen sind ein Teil der Bemühungen bestimmter
Klassen, die selber Realitäten, bewegende Kräfte der Realität
sind. Die gesellschaftliche Funktion ihres Realismus wechselt,
ist geschichtlich, relativ, ihr Realismus zeigt verschiedene For-
men und verschiedene Stärke.
Über den Realismus 365

Selbst in Dichtwerken ein und derselben Klasse und in ihrer


aufsteigenden Phase ist der praktikable Wirklichkeitsgehalt
sehr verschieden, je nachdem, welche der Tendenzen der be-
treffenden Klasse der Dichter vertritt.
Es besteht kein Zweifel, daß Goethes Figuren ungleich wahrer
sind als Schillers. Er war in seinem Leben und in seiner Kunst
ein größerer Realist. Er vertrat jene Kräfte seiner Klasse, die
sich den Naturwissenschaften widmeten, stark revolutionieren-
de Kräfte.1 Die Geschichtsschreiber - Schiller war Geschichts-
schreiber — waren schon fertig, als die Naturbeschreiber und
Techniker noch lange nicht fertig waren. Und Schillers Figu-
ren werden desto einseitiger, starrer, ideemäßiger und un-
wahrer, desto fertiger die Geschichte war, desto mehr die sozi-
alen revolutionierenden Kräfte des Bürgertums erschöpft wa-
ren.
Im Auftrag der erschöpften, von den Produktivkräften bedroh-
ten Klassen, die nicht mehr imstande sind, die auftauchenden
Schwierigkeiten produktiv zu lösen, kann der Künstler nicht
realistisch arbeiten. Hauptmann hatte in seinen ersten Werken
realistisch gearbeitet, er hatte in den »Webern«, wie wir sagen,
ein Standardwerk des Realismus hervorgebracht, jedoch zeigte
schon dieses Werk, wenn man nach seinem Auftraggeber, nach

1 Vgl. aber die Stelle in der »Kampagne in Frankreich«, die Goethe,


als Kriegsberichterstatter an der preußischen Intervention gegen die re-
volutionäre Republik teilnehmend, schrieb: »Kaum verließen sie (ein
Pikett Jäger) die Stätte, als ich auf der Mauer, an der sie geruht, ein
sehr auffallendes geologisches Phänomen zu bemerken glaubte: Ich sah
auf dem von Kalkstein errichteten Mäuerchen ein Gesims von hellgrü-.
nen Steinen völlig von der Farbe des Jaspis und ward höchlich betroffen,
wie mitten in diesen Kalkflözen eine so merkwürdige Steinart in solcher
Menge sich sollte gefunden haben. Auf die eigenste Weise ward ich jedoch
entzaubert, als ich, auf das Gespenst losgehend, sogleich bemerkte, daß
es das Innere von verschimmeltem Brot sei, das, den Jägern ungenießbar,
mit gutem Humor ausgeschnitten und zu Verzierung der Mauer ausge-
breitet worden.« Diese Stelle verrät in unschuldigster Weise viel über sei-
nen Realismus.
366 Zur Literatur und Kunst
der Klasse, die es provozierte, fragt, einen interessanten Wider-
spruch. Es ist durchaus möglich, als Auftraggeber auch die bür-
gerliche Klasse, genauer gesagt, gewisse Teile der bürgerlichen
Klasse, zu entdecken, zumindest in einer vorübergehenden Alli-
anz mit Teilen der proletarischen Klasse; es hatte zwei Auf-
traggeber, die zueinander im Widerspruch standen. Das Werk
war ein naturalistisches Werk. Der Klassenkampf war darge-
stellt, das war realistisch, aber er hatte einen eigentümlichen
Naturcharakter im bürgerlichen Sinn, das heißt, die Natur war
metaphysisch aufgefaßt, die einander bekämpfenden Kräfte
hatten sich entwickelt und hatten insofern eine Geschichte, aber
nur insofern, sie entwickelten sich nicht weiter und hatten vor
sich keine Geschichte mehr. Es war natürlich, daß die Proleta-
rier kämpften, aber es war auch natürlich, daß sie besiegt wer-
den. Der Einfluß der Umgebung auf die Menschen wurde zu-
gegeben, aber nicht, um auf diese den revolutionären Geist zu
lenken; die Umgebung trat als Schicksal auf, wurde nicht als
von Menschen aufgebaut und von Menschen veränderbar dar-
gestellt. In seiner weiteren »Entwicklung« wandte sich Haupt-
mann vom Realismus ab. Die Weimarer Republik sah ihn nicht
mehr als Realisten, auch nicht mehr als Naturalisten, jedoch
war es ihr vorbehalten, sein faschistischstes Werk, den »Florian
Geyer«, das vor dem Krieg (und der nationalistischen Phase
der Sozialdemokratie) keinen Erfolg gehabt hatte, nunmehr
zum Repertoirestück zu machen. Dann fühlte sich die bürger-
liche Klasse ernstlich bedroht und griff zu ernstlichen Gegen-
maßnahmen. Sie sah keine Möglichkeit mehr, Ruhe zu haben
durch eine Hebung des Lebensstandards ihres Proletariats, sie
sah diese Hebung als unter ihrer Führung nicht mehr als mög-
lich an, sie benötigte keine weitere Ausbildung ihrer Arbeiter-
schaft mehr für ihre Produktion und so weiter, und Hauptmann
wurde Faschist, aber als Privatmann, er dichtete unsres Wissens
nichts mehr in dieser Eigenschaft. Immerhin stellt sich die bür-
gerliche Klasse in Deutschland auch jetzt noch reale Aufgaben
großen Maßstabs in abgegrenztem Bezirk. Entgegen den
Über den Realismus 367

Erwartungen vieler, die eine ganz und gar unnaturalistische


Darstellung des Krieges von ihnen vermutet hätten, zeigen die
faschistischen Dichter den Krieg mit Vorliebe naturalistisch,
das heißt mit allen Schrecken. Naturalistisch, nicht realistisch,
der Naturalismus hat sich ganz und gar metaphysiert, er ist
schon pure Mystik geworden. Der Krieg ist dargestellt als eine
ganz mechanische Materialschlacht, er hat keinerlei gesellschaft-
lichen Gehalt und keine Entwicklung.1 Immerhin entwickeln
sich in der Kunst Formen, die dazu dienen sollen, den Krieg,
den die herrschende Klasse als einzigen Ausweg sieht, als eine
Wirklichkeit beherrschbar zu machen.
Großer allseitiger, auf dem ganzen Gebiet der Gesellschaft
schöpferischer Realismus kann in der Kunst nur entwickelt wer-
den in Zusammenarbeit mit aufsteigenden Klassen, die in das
Ganze der gesellschaftlichen Institutionen, die gesamte gesell-
schaftliche Realität, eingreifen müssen, um sich zu entwickeln.
Damit realistische Tendenzen, teilweiser Realismus, Naturalis-
mus, das heißt mechanistischer, mystischer, heroischer Realis-
mus, möglich ist, muß eine herrschende Klasse noch genügend
lösbare Aufgaben von Ausmaß angeben können. Damit echter
Realismus möglich wird, muß eine Möglichkeit der Lösung aller
gesellschaftlicher Probleme (einer Beherrschung der Wirklich-
keit) gegeben sein: Eine neue Klasse muß da sein, welche die
Weiterentwicklung der Produktivkräfte übernehmen kann.

7 Der Realist in der Kunst — ein Realist auch außer der Kunst
Der Realismus in der Kunst wird zu oft als reine Kunstangele-
genheit behandelt. Dann hat die Kunst ihren eigenen Realis-
mus, das heißt, die Künstler verstehen unter Realismus eben et-
was Künstlerisches, und da sie über Kunst eine sehr festgelegte

1 Man vergleidie diese Darstellung mit der des Grimmeishausen im


»Simplizius Simplizissimus«, wo der Krieg als soziale Ersdieinung, als
Bürgerkrieg aufgezeigt ist.
368 Zur Literatur und Kunst

Ansicht haben, die sehr oft schon fest war, bevor sie gerade re-
alistische Kunst propagierten, wird auch der Begriff des Re-
alismus sehr eingeengt und festgelegt. Der Künstler kann auch
seiner eigenen Kunst gegenüber sowohl eine unrealistische als
auch eine realistische Haltung einnehmen. Es ist vorteilhaft,
wenn er den Realismus so nimmt, wie er in anderen Künsten als
der seinen angewendet wird, und darüber hinaus auch in nicht
künstlerischen Materien, in der Politik, in der Philosophie, in
den Wissenschaften und im täglichen Leben. Gute Devisen für
Realisten sind schon Francis Bacons Sätze: »Natura non nisi
parendo vincitur« (Die Natur beherrscht nur, der ihr gehorcht)
und »Ignoratio causae destituit effectum« (Wenn die Ursache
nicht bekannt ist, kann die Wirkung nicht hervorgebracht wer-
den). Eine realistische Betrachtungsweise ist eine solche, welche
die treibenden Kräfte studiert, eine realistische Handlungsweise
eine solche, welche die treibenden Kräfte in Bewegung setzt.
Und die Sätze des Bacon gelten natürlich auch für die mensch-
liche Natur. Es kommt darauf an, daß man, einen Roman oder
ein Stück schreibend, realistisch handelt. Der Beweggrund des
Handelns einer Roman- oder Stückfigur ist dann realistisch an-
gegeben, wenn ein anderer Beweggrund ein anderes Handeln
ergeben hätte und kein anderer dasselbe. Es ist realistisch, die
Ursachen von Prozessen in die Reichweite der (Beeinflußbar-
keit durch die) Gesellschaft zu stoßen. »Die Brüder Karama-
sow« sind nicht das Werk eines Realisten, obgleich sie realisti-
sche Details enthalten, weil Dostojewski kein Interesse hat, die
Ursachen der Prozesse, die er schildert, in die praktische Reich-
weite der Gesellschaft zu stoßen, er beabsichtigt deutlich, sie dar-
aus zuentfernen. Turgenjews »Tagebuch eines Jägers« ist ein
weit realistischeres Werk mit seiner Schilderung der Bedrückung
der Bauern durch die Gutsbesitzer, obgleich es die betreffende
Realität keineswegs völlig beherrschbar macht, da es den libe-
ralen Illusionen Tür und Tor öffnet. Wir tun gut, realistische
Werke als kämpferische Werke zu definieren. In ihnen wird der
Realität das Wort erteilt, das wir sonst nicht zu hören bekom-
Über den Realismus 369

men. Sie melden einen Widerspuch an (und machen sich zu sei-


nem Wortführer), in den neue bewegende Kräfte sich zu beste-
henden Auffassungen und Handlungsweisen zu treten ange-
schickt haben. Die Realisten bekämpfen jene, die reale Kräfte
leugnen. Die Realisten bekämpfen jede Art von Schematismus,
da er die Realität nicht beherrschbar macht. Die Behauptung,
daß die deutschen Arbeiter arbeiten um des Lohnes willen, mag
realistisch sein gegenüber der Behauptung, daß sie es aus Freude
an der Produktion schlechthin tun. Dieselbe Behauptung in be-
zug auf die spanischen Munitionsarbeiter, die dem Auf stand die-
nen, ist ganz und gar unrealistisch. In dem deutschen Fall wird,
angenommen, der Lohn wird gestrichen oder übermäßig ver-
mindert, nicht weitergearbeitet werden, es sei denn, es würde
Gewalt angewendet; im Fall der spanischen Arbeiter würde in
diesem Fall weitergearbeitet, es sei denn, es würde Gewalt
angewendet. Eine Schilderung, die den deutschen Arbeitern
zeigte, daß es sich für sie lohnt, besondere Anstrengungen für die
Produktion zu unternehmen, wäre nicht realistisch; solche Arbei-
ter, die eine Verbesserung ihrer Lage (als Arbeiter) von Opfern
für die Produktion erwarten, sind keine Realisten — was eine
realistische Schilderung sogleich ergeben würde. Ein Realist, der
Romane oder Stücke schreibt, wird auch seine Schreibtätigkeit
realistisch auffassen. Er wird nicht sagen, daß »sich in seinem
Kopf ein Roman formt«; er wird sich nicht auf seine »Intui-
tion« verlassen, nachdem er sie auch nur wenigen Prüfungen
unterworfen hat. Er wird die Naturgesetze mit allen Mitteln
zu studieren versuchen, welche die Menschheit in lang währen-
der Produktion geschaffen hat. Der Realist in der Kunst ist auch
ein Realist außer der Kunst.

8 Relativität der Kennzeichen des Realismus


Einige bekannte Kennzeichen des Realismus sind das realisti-
sche Detail, ein gewisses sinnenfreudiges Moment, Anwesen-
heit »unbearbeiteten« Rohstoffs und so weiter. Das realistische
370 Zur Literatur und Kunst

Detail gibt das Besondere, das, was ein bestimmter Mensch


hat, was für die große Handlung mehr oder minder ent-
behrlich zu wissen ist, zum Beispiel die Glatze des Cäsar,
oder es gibt das, was in einer Situation Besonderes gemacht
wird, etwas vielleicht allgemein Menschliches, das aber in be-
sonderer Weise in einem großen allgemeinen Zusammenhang
erscheint, ein solches realistisches Detail ist es, wenn der ster-
bende Lear bittet, ihm an seinem Rock einen Knopf zu öff-
nen. In einer gelehrten Abhandlung über die Grundlagen der
Philosophie des Descartes steht plötzlich: »Indessen, wenn
uns auch die Sinne zuweilen über kleine und ferner liegende
Gegenstände täuschen, so ist doch vielleicht das meiste andere
derart, daß ein Zweifel ganz unmöglich ist, wiewohl es auch
aus den Sinnen herrührt, so zum Beispiel die Wahrnehmung,
daß ich hier bin, am Ofen sitze, meinen Winterrock anhabe,
dies Papier hier mit den Händen berühre und dergleichen.«
Wir empfinden diese Stelle ziemlich sicher als eine dichteri-
sche. Descartes braucht hier ein besonders realistisches Mit-
denken des Lesers. »Unbearbeiteter« Rohstoff meint einen ge-
wissen Überfluß im Stofflichen, das der geraden Linie Wider-
stand entgegensetzt, eine Zeichnung der Charaktere, die nicht
nur gibt, was die Fabel in Gang hält (der Mensch mit seinem
Widerspruch), das Hereinnehmen des bloß Faktischen, das im
Rahmen der Handlung nicht auszuterminieren ist, das Ver-
zeichnen dessen, was man nicht erwartet hätte, den Zufall,
die Ausnahme, die Rechnung, die nicht aufgeht, kurz dessen,
was, wie man gemeinhin sagt, den Unterschied des wirklichen
Lebens und des am grünen Tisch Berechneten ausmacht. Zwei-
fellos ist ja bei dem organisierten Chaos unseres Zeitalters
die Rechnung oft eine Milchmädchenrechnung; eine Rechnung,
die nicht eine Milchmädchenrechnung ist (den Posten für Da-
zukommendes nicht enthält), ist eben eine realistischere. All
dies ist ganz praktisch zu nehmen. Wenn der brave Soldat
Schwejk in Haseks klassischer Erzählung, bevor er irgendwo
hingeht, wo die Fabel ihn haben muß, erst noch »etwas« in
Über den Realismus 371

der unteren Stadt zu besorgen hat, so zeigt Hasek dem


Schwejk gegenüber die gleiche realistische Menschenkenntnis
(abgesehen von der souveränen Stellung zur eigentlichen Fa-
bel, die eben nur etwas Besonderes in einem Allgemeinen, ein
Abenteuer im Alltag ist), die er den Schwejk selber haben
läßt, [...] das helle Auge des Unterdrückten dem Unterdrük-
ker gegenüber, mit dem er leben muß, jenes feinfühligste Ab-
tastungsvermögen seiner Schwächen und Laster, die profunde
Kenntnis seiner (des Gegners) realen Bedürfnisse und Ver-
legenheiten, die ständige, wache Einkalkulierung des Unbe-
rechenbaren, Imponderablen und so weiter. (Schwejks Ver-
hältnis zum Feldkuraten.) Das sinnenfreudige Moment des
Realismus, seine Diesseitigkeit ist sein bekanntestes Kenn-
zeichen; es ist jedoch nicht untrüglich. Die körperlichen Bedürf-
nisse spielen für den Realisten eine riesige Rolle. Es ist geradezu
entscheidend, wieweit er sich von den Ideologien, den Moral-
paukereien losmachen kann, welche die körperlichen Bedürf-
nisse als »niedrig« brandmarken, mit durchsichtiger Tendenz.
Die Sinnesfreudigkeit tritt freilich in unserer Zeit der Aus-
beutung des Menschen durch den Menschen als Beschäftigung
mit dem Hunger, der schlechten Wohnung, der sozial indi-
zierten Krankheit, der Perversion der Sexualverhältnisse auf.
Eine Beschäftigung mit diesen Prozessen ist jedoch nur reali-
stisch, wenn sie als gesellschaftliche Prozesse erkannt werden.
Der Sensualismus an und für sich ist noch kein Kennzeichen
des Realismus. Die Einfühlbarkeit ist bis zu einem hohen Grad
entbehrlich, wenigstens zuzeiten. Es ist durchaus möglich, daß
der Schriftsteller, ohne daß er die Sensorien der Leser reizt,
besser dazu gelangt, das Abstrahierungsvermögen der Leser
anzuregen, das so wichtig ist für die Durchdringung gesell-
schaftlicher Prozesse. Realismus ist auch nicht etwa gleichbe-
deutend mit Ausschaltung der Phantasie und der Erfindung. Der
»Don Quichote« des Cervantes ist ein realistisches Werk, da
er die Überholtheit des Rittertums und des ritterlichen Gei-
stes zeigt, und doch haben niemals Ritter gegen Windmühlen
Iji Zur Literatur und Kunst

gekämpft. Die phantastische Einkleidung verdirbt keines-


wegs den in vielem realistischen Charakter der »Insel der
Pinguine« von Anatole France. Man darf dem Schriftsteller
alle Mittel zugestehen, die er braucht, um die Wirklichkeit
beherrschbar zu machen. Selbst der Wegfall der meisten hier
von uns angeführten Kennzeichen braucht noch nichts zu be-
sagen. Jeder realistische Dichter könnte froh sein, die kleine
Parabel Lenins »Über das Besteigen hoher Berge« geschrieben
zu haben, und dieses Stück, ein klassisches kleines Werk des
Realismus, würde zum Beispiel durch realistische Details,
überfülle des Stoffs und so weiter nur verdorben werden.

9 Allseitigkeit des Realismus


Der schreibende Realist verhält sich realistisch in jeder Bezie-
hung: seinen Lesern gegenüber, seiner Schreibweise (sich sel-
ber) gegenüber, seinem Stoff gegenüber. Er berücksichtigt die
gesellschaftliche Lage seiner Leser, ihre Klassenzugehörigkeit,
ihre Stellung der Kunst gegenüber, ihre aktuellen Ziele; er
prüft seine eigene Klassenzugehörigkeit; er besorgt sich um-
sichtig sein Material und kritisiert es sorgfältig. Er entführt
nicht seine Leser aus ihrer Wirklichkeit in die seine, er macht
sich nicht selber zum Maß aller Dinge, er besorgt sich nicht
lediglich einige effektvolle Hintergründe, etwas Kolorit, ein
paar einleuchtende Motive und schöpft seine Kenntnis der
Wirklichkeit nicht lediglich aus sensuellen Impressionen, son-
dern er listet der Natur ihre Listen ab mit Hilfe aller Hilfs-
mittel der Praxis und des Wissens und stellt ihre Gesetzlich-
keiten dar in einer Weise, die in das Leben selber, das Leben des
Klassenkampfs, der Produktion, der besonderen geistigen und
körperlichen Bedürfnisse unserer Zeit eingreifen können, er
begreift die Wirklichkeit, im ständigen Kampf gegen die Sche-
matik, die Ideologie, das Vorurteil, in ihrer Vielfältigkeit,
Abgestuftheit, Bewegung, Widersprüchlichkeit. Er begreift und
handhabt die Kunst als menschliche Praxis, mit spezifischen
Über den Realismus 373

Eigenarten, eigener Geschichte, aber doch Praxis unter anderer


und verknüpft mit anderer Praxis.
1940

Thesen für proletarische Literatur

Kämpfe, indem du schreibst! Zeige, daß du kämpfst! Kräftiger


Realismus! Die Realität ist auf deiner Seite, sei du auf ihrer!
Laß das Leben sprechen! Vergewaltige es nicht! Wisse, daß es die
Bürgerlichen nicht sprechen lassen! Du aber darfst es. Du mußt
es. Such dir die Punkte aus, wo die Realität weggelogen, wegge-
schoben, weggeschminkt wird. Kratze die Schminke an! Wider-
sprich, statt zu monologisieren! Erwecke Widerspruch! Deine
Argumente sind der lebendige praktische und praktizierte
Mensch und sein Leben, wie es ist. Sei unerschrocken, es gilt die
Wahrheit! Wenn du recht hast mit deinen Folgerungen und Vor-
schlägen, dann, dann mußt du den Widerspruch der Realität
vertragen können, die Schwierigkeiten in ihrer furchtbaren Ge-
samtheit erforschen, sie in aller Öffentlichkeit behandeln. Tue
alles, um die Sache deiner Klasse vorwärtszubringen, die die
Sache der ganzen Menschheit ist, aber laß nichts aus, weil es zu
deinen Folgerungen, Vorschlägen und — Hoffnungen nicht paßt,
verzichte lieber auf eine solche Folgerung in einem speziellen
Fall als auf eine Wahrheit; aber auch in diesem Fall bestehe
darauf, daß die Schwierigkeit, die du in ihrer ganzen Furcht-
barkeit zeigst, überwunden wird. Nicht du allein kämpfst, auch
dein Leser kämpft mit dir, wenn du ihn zum Kampf begeisterst.
Nicht du allein findest Lösungen, auch er findet solche.
374 Zur Literatur und Kunst

Nimm den Kampf auf mit deiner eigenen Armut! Als Schrift-
steller, am Schreibtisch, mußt du dich emanzipieren von der
Misere deiner proletarischen Existenz! Du mußt den Erlebnis-
sen gegenüber souverän sein.

Thesen über die Organisation der Parole


»Kämpferischer Realismus«

Im Interesse der Werktätigen aller Länder, aller Ausgebeute-


ten und Unterdrückten, muß an die Schriftsteller die Auffor-
derung zu einem kämpferischen Realismus gerichtet werden.
Nur ein unerbittlicher Realismus, der gegen alle Verschleierun-
gen der Wahrheit, nämlich der Ausbeutung und Unterdrük-
kung, ankämpft, kann die Ausbeutung und Unterdrückung
des Kapitalismus denunzieren und diffamieren.

Damit kämpferisch realistisch geschrieben werden kann, ist


aber Wissen nötig, und zwar ein ganz bestimmtes Wissen,
Wissen ökonomischer, historischer Art. Dieses Wissen muß den
Schriftstellern, an die die Aufforderung gerichtet wird, ver-
mittelt werden. Es ist Pflicht derjenigen, die diese Aufforde-
rung an die Schriftsteller richten, dieses Wissen zur Verfügung
zu stellen. Sonst ist die Aufforderung eine unernste Geste.

Die Schriftsteller lernen am besten, indem sie gleichzeitig leh-


ren. Sie erarbeiten am besten Wissen, wenn sie es gleichzeitig
Über den Realismus 375

andern erarbeiten. Es ist nötig, sie in eine große schriftstelle-


rische Arbeit zu verwickeln, damit sie lernen.

Es gibt viele Schriftsteller, die beim Abfassen ihrer Werke Ge-


wicht darauf legen, daß sie aus ihrem Unterbewußtsein schöp-
fen können. Sie sind nicht imstande und nicht willens, beim
Abfassen ihrer Werke einen allzu hohen Grad von Bewußtheit
einzuschalten. Diese Schriftsteller muß man dazu zu bewegen
suchen, neben ihren bewußtlosen Werken noch andere Arbei-
ten in Angriff zu nehmen, solche, deren Abfassung Bewußt-
heit verträgt, das heißt ausgesprochen lehrende Werke. Man
kann sich vorstellen, daß auf diese Weise das »Unterbewußt-
sein« dieser Schriftsteller geformt werden kann: Auch ihre
»eigentlichen« bewußtlosen Werke profitieren dann aus ihrer
»Nebenarbeit«.

5
Eine gewisse Neigung auch bürgerlicher Schriftsteller zu lehr-
haften, aktuellen Werken ist heute feststellbar. Der Versuch,
zum Beispiel eine Art neuer Enzyklopädie halbwissenschaft-
licher Art, einer Enzyklopädie, von Schriftstellern geschrieben,
zu schaffen, würde heute Aussicht auf große Beteiligung ha-
ben. Eine solche Enzyklopädie könnte natürlich nicht end-
gültig wissenschaftlich und politisch definitiven Charakter ha-
ben, sie würde die Herausgabe einer dringend nötigen kom-
munistischen Enzyklopädie nicht ersparen, aber sie könnte zur
Klärung und Selbstverständigung der antifaschistischen Schrift-
steller entscheidend beitragen.
Ij6 Zur Literatur und Kunst

Übergang vom bürgerlichen zum


sozialistischen Realismus
Der bürgerliche realistische Roman, dessen Studium gegen-
wärtig den sozialistischen Schriftstellern empfohlen wird, ent-
hält viel, was gelernt werden muß. Wir rinden in ihm eine
Technik, welche die Darstellung komplizierter gesellschaft-
licher Prozesse gestattet. Die differenzierte (»reiche«) Psyche
des bürgerlichen Menschen kann vermittels dieser Technik be-
wältigt werden. Der Verzicht dieser Schriftsteller auf allzuviel
Meinung zugunsten einer möglichst breiten Ausstellung gro-
ßer Stoffmassen vermittelt dem Leser ziemlich reiche Bilder
einer Epoche. Es ist ein Verzicht auf bürgerliche Meinung.
Natürlich sind die Bilder keineswegs komplett, und natürlich
bleibt der bürgerliche Gesichtspunkt im allgemeinen gewahrt.
Man kann das so ausdrücken: Die Darstellung gestattet auch
kaum die Bildung einer unbürgerlichen, das heißt antibürger-
lichen Meinung. Hier liegt einer der Gründe, warum es für
die sozialistischen Schriftsteller so schwierig ist, Technisches
von den bürgerlichen Realisten zu übernehmen. Technik ist ja
nichts »Äußerliches«, von der Tendenz weg zu Transportie-
rendes. Der sozialistische Schriftsteller ist nicht ohne weiteres
geneigt, seinem Leser die Stoffmassen als Rohstoff für Ab-
straktionen beliebiger Art zu überlassen. Dem sozialistischen
Schriftsteller mag der Sozialismus noch so sehr »in Fleisch und
Blut übergegangen sein«, die Grenzen, welche die bürgerliche
Produktionsweise (nicht nur die literarische) dem bürgerlichen
Schriftsteller setzt, mögen für ihn »wegfallen«, sein politisches
Bewußtsein bleibt dennoch viel wacher, die Welt bleibt ihm
viel mehr in stürmischer Entwicklung begriffen, er plant viel
mehr, da ja mit dem Sozialismus eben die Planung in die
Produktionsweise gekommen ist. Eine sorgfältige Kritik des
bürgerlichen Realismus ergibt, daß diese Schreibweise in ent-
scheidenden Punkten für den sozialistischen Schriftsteller ver-
sagt. Die ganze Einfühlungstechnik des bürgerlichen Romans
Über den Realismus 377

kommt in eine tödliche Krise. Das Individuum, in das die


Einfühlung zustande gebracht wird, hat sich verändert. Je
klarer es verstanden wird, daß das Schicksal des Menschen
der Mensch ist, und je klarer der Klassenkampf als den Kau-
salnexus beherrschend erkannt ist, desto gründlicher versagt
die alte bürgerliche Einfühlungstechnik. Sie zeigt sich immer
mehr als eine historisch bedingte Technik, so laut sie auch
schreien mag, ohne sie sei Kunst und Kunsterlebnis überhaupt
unmöglich. Wir behalten natürlich die Aufgabe der Darstel-
lung komplizierter gesellschaftlicher Prozesse; die Einfüh-
lung in ein Mittelpunktsindividuum ist ja eben dadurch in
die Krise geraten, daß sie diese Darstellung lähmte. Es han-
delt sich nicht nur mehr darum, daß man genug reale Motive
für die seelischen Bewegungen der Menschen im Roman ge-
liefert bekommt, die Welt erscheint uns schon unzulänglich re-
produziert, wenn sie nur im Spiegel der Gemütsempfindun-
gen und Reflexionen von Helden erscheint. Der gesamte so-
ziale Kausalkomplex läßt sich nicht mehr als bloßer Anreger
seelischer Erlebnisse benutzen. Damit ist der Darstellung psy-
chischer Prozesse, überhaupt der Darstellung von Individuen
keineswegs der Wert abgesprochen, und seelische Erlebnisse der
Leser bleiben natürlich bestehen. Es geht hier wieder so: Die
alte Technik ist eben dadurch in die Krise geraten, daß sie
eine befriedigende Gestaltung der Individuen im Klassen-
kampf nicht gestattete, und dadurch, daß die seelischen Er-
lebnisse den Leser nicht in den Klassenkampf stellen, sondern
aus ihm herausführen. Der Übergang vom bürgerlichen rea-
listischen Roman zum sozialistischen realistischen Roman ist
keine rein technische und keine formale Frage, obgleich er die
Technik ganz außerordentlich verwandeln muß. Es kann nicht
einfach eine Darstellungsweise in toto unberührt bleiben (als
»die« realistische) und nur etwa der bürgerliche mit dem so-
zialistischen (das heißt proletarischen) Standpunkt ausgetauscht
werden. Es genügt nicht, die Einfühlung in den Proletarier zu
veranstalten, statt in den Bürger: Die gesamte Einfüh-
378 Zur Literatur und Kunst

lungstechnik ist fragwürdig geworden (prinzipiell ist ein bür-


gerlicher Roman mit Einfühlung in einen Proletarier durchaus
denkbar). Das Studium des bürgerlichen realistischen Romans
ist sehr wertvoll — wenn die erwähnten schwierigen Unter-
suchungen angestellt werden.

[Über sozialistischen Realismus]


Die Parole Sozialistischer Realismus ist dann sinnvoll, prak-
tisch, produktiv, wenn sie nach Zeit und Ort spezifiziert wird.
Sie bedeutet, daß der Schriftsteller da, wo der Sozialismus auf-
gebaut wird, diesen Aufbau unterstützt und zu diesem Zweck
die Wirklichkeit erforscht und darstellt, da, nach Bacon, man
die Natur beherrscht, indem man sich ihr unterwirft. Die Pa-
role bedeutet, daß der Schriftsteller da, wo für den Aufbau des
Sozialismus gekämpft wird, diesen Kampf unterstützt und zu
diesem Zweck die Wirklichkeit erforscht und darstellt. Die
Parole ermöglicht ausgezeichnete Kriterien, Kriterien, die nicht
auf ästhetischem, formalem Gebiet liegen. (Unterstützt der
Schriftsteller den Aufbau des Sozialismus, die Aufbauer des
Sozialismus, den Kampf um den Sozialismus und erfaßt er
die Wirklichkeit, oder erzeugt er etwa nur Illusionen, versim-
pelt er nur die Aufgaben und so weiter?) Handelt es sich schon
um den Aufbau des Sozialismus — der natürlich selber einen
ständigen Kampf gegen seine Feinde bedeutet -, so müssen
zweifellos noch andere Kriterien dazutreten, Kriterien ästhe-
tischer, formaler Art; denn zum Aufbau des Sozialismus ge-
hört unzweifelhaft der Ausbau der Künste, die Entfaltung der
künstlerischen Produktion auf breitester Skala. Hier taucht
die Frage des Erbes auf; es kommt zur Auseinandersetzung
mit überkommenen Kulturzeugnissen, Zeugnissen einer von
einer andern, feindlichen Klasse beherrschten Kultur, in der
aber doch eben alles steckt, was überhaupt erzeugt wurde; man
hat hier vor sich die letzte Etappe, die unter der bürgerlichen
Über den Realismus 379

Herrschaft und Kontrolle erreicht wurde, aber doch auch die


letzte Etappe darstellt, die die Menschheit überhaupt erreicht
hat. Es ist klar, daß hier nach einem Sieg, in einer Lage, wo
die noch verbleibenden Kämpfe von einer überlegenen Position
aus gekämpft werden können, wo der ganze ökonomische und
politische Unterbau der Kultur sich in stürmischer Umformung
in der Richtung auf den Sozialismus hin befindet, die Ausein-
andersetzung mit den Zeugnissen bürgerlicher Kultur eine an-
dere ist als zur Zeit des Kampfes vor dem Sieg.

Es würde eine schreckliche Verkümmerung der großen Parole


Sozialistischer Realismus bedeuten, wenn man etwa die Stalin-
sche Parole in der Nationalitätenpolitik Sozialistischer Inhalt,
nationale Form hier mechanisch nachbildete und so etwas
wie Sozialistischer Inhalt, bürgerliche Form als Parole auf-
stellte. In der Nationalitätenpolitik ist die Parole Nationale
Form eine durch und durch revolutionäre. Sie bedeutet die Ent-
fesselung der gefesselten Nationen, die Erweckung der Pro-
duktivkräfte zurückgebliebener Nationen, sie bedeutete, daß
unterdrückte Nationen den Sozialismus in ihrer Muttersprache
reden hörten, sie entfesselte die kulturellen Kräfte. Die Parole
Bürgerliche Form wäre einfach reaktionär. Sie bedeutete nur
die Banalität: Neuen Inhalt in alte Schläuche. Stalins kluge
Einstellung zu Majakowski, einem Formenzertrümmerer er-
ster Ordnung, und sein interessantes Wort, die Dichter sollten
Ingenieure der Seele sein, müßten schon allein unsere Kriti-
ker vor solchen Verallgemeinerungen und schiefen Übertra-
gungen warnen. In der Tat erhalten die Essays mancher unse-
rer Kritiker dadurch, daß die Kriterien überall hergeholt wer-
den, nur nicht aus dem Kampf, ihren so offensichtlich zeit-
und ortlosen Charakter. Lernen bei Balzac, gut, aber wofür?
Die Frage ist berechtigt: sie erhöbe sich kaum bei Majakowski.
Wenn es Formalismus bedeutet* für immer gleichbleibenden In-
halt immer neue Formen zu suchen, so bedeutet es auch For-
malismus, für neuen Inhalt eine alte Form beizubehalten.
380 Zur Literatur und Kunst

Unsere Kritiker müssen die Bedingungen des Kampfes studie-


ren und aus ihnen ihre Ästhetik entwickeln. Sonst nützt uns
ihre Ästhetik nichts, denn wir stehen im Kampf. Ich selber
habe zum Beispiel auf allen Gebieten der Literatur und des
Theaters mit alten, konventionellen Formen begonnen. In der
Lyrik mit dem Lied und der Ballade. Im Drama mit dem
fünfaktigen Milieustück. Im Roman mit der vielfältig ge-
knüpften Fabel. Aber der Kampf ließ mich zu neuen Formen
greifen. Die alte Schreibweise hinderte mich beim Kämp-
fen. Ich habe viele Schreibweisen studiert, gerade ich, aber
ich verstehe keine Auslassung über Schreibweisen, welche die
Bedürfnisse des Kampfes nicht berücksichtigt. Und warum soll
es andern anders ergehen? Ich glaube sehr gut sehen zu kön-
nen, welche Vorteile die Schreibweise des bürgerlichen Ro-
mans des vorigen Jahrhunderts unserm Kampf bietet; so gut
es mir möglich war, habe ich hier gelernt. Aber ich sehe auch
die Nachteile, und sie sind gewaltig. Dadurch ergibt sich eine
komplizierte Stellung zu den Realisten der bürgerlichen Li-
teratur. Ich erkenne sie an, ich liebe einige ihrer Werke, ich
lerne daraus, ich bin besorgt, den Standard allgemeiner Art,
den die westliche Menschheit in ihnen erstiegen hat, zu er-
reichen. Aber es gilt auch, ihn zu überholen. Das ist nicht ein-
fach eine Frage der dichterischen Kraft. Es hängt davon ab, ob
wir den Bedingungen unseres Kampfes gerecht werden kön-
nen. Die formalen Prinzipien, die vvir den Standardwerken
des bürgerlichen Realismus, des kapitalistischen und imperia-
listischen Realismus in der Literatur, abziehen können, rei-
chen bei weitem nicht aus. Der historische, vergängliche, ein-
malige Charakter dieser Schreibweise wird jedem aufgehen,
der für den Sozialismus kämpft. Der kapitalistische und im-
perialistische Charakter dieses »Inhalts« prägt diese »Form«
aus. Unsere Kritiker müssen erkennen, daß sie so lange for-
malistische Kritik betreiben, als sie es nicht verstehen oder es
ablehnen, formale Fragen unter Berücksichtigung der Bedin-
gungen unseres Kampfes um den Sozialismus zu behandeln.
Über den Realismus 381

Über Realismus
Es ist sehr schwierig, für Realisten zu schreiben; das muß man
sich immerzu sagen, wenn man für Proletarier schreibt. Es
genügt absolut nicht, Naturalismus zu produzieren.
Naturalismus gleicht dem Realismus wie die Sophistik der
Dialektik oder besser: wie der vulgäre mechanische Materia-
lismus dem dialektischen.

Berichte sind immer schwierig abzufassen, wenn auf Grund


dieser Berichte die Leser instand gesetzt sein sollen, zu handeln.
»Impressionen« (Naturalismus hat viel damit zu tun, sein an-
derer Name heißt Impressionismus) eines Geologen sind nicht
besonders wertvoll für Pioniere, die auf Erdöl bohren wol-
len. Auch die »plastischsten« Schilderungen von rekognoszie-
renden Trupps oder Fliegern helfen der Artillerie wenig. [...]

Über die Devise »Sozialistischer Realismus«


Der revolutionäre Charakter eines realistischen Verhaltens
der Literatur in den faschisierten oder dem Faschismus ent-
gegensehenden Ländern muß jedem einleuchten. Die Abnei-
gung faschistischer Regierungen gegen realistische Literatur ist
beträchtlich. Diese Regierungen erwarten sich nichts davon,
daß irgendein Schriftsteller die Wirklichkeit zum Sprechen
bringt. Sie kritisieren die »Asphaltliteratur« unter Zuhilfe-
nahme von Konzentrationslagern. Der Mangel an blindem
Glauben an eine mystisch unfehlbare Führung, das harte Po-
chen auf Tatsachen, die zäh durchgeführte Untersuchung al-
len Elendes auf seine Vermeidlichkeit hin, die Aufdeckung der
unproduktiven Rolle der Gewalt, die Nennung der wirklich
produktiven Klasse empören diese Regierungen. Um es etwas
übertrieben auszudrücken: Das Aussprechen des Satzes »Zwei
mal zwei ist vier« weckt in solchen Ländern das Mißtrauen
382 Zur Literatur und Kunst

und das Unbehagen der Regierung. Es gibt, vom Standpunkt


der Literatur aus gesehen, keine schönere Devise eines großen
Reiches für seine Literatur als die: Schreibt die Wahrheit! Seid
Realisten! Ein Land, das auf Illusionen verzichten kann, für
jede Wahrheit eine Verwendung hat, sich an den Realismus
seiner arbeitenden Massen wendet! Auf Grund einfacher,
nützlicher Gedanken vollzieht sich der Aufbau; wer verstan-
den hat, der ist einverstanden. Der Begeisterte verliert den
Blick für die Wirklichkeit nicht, der Nüchterne nicht den
Schwung.
Anmerkungen zur literarischen Arbeit
1935 bis 1941
Lyrik und Logik
»Gut, aber was beweist ddsf«
Ein Mathematiker sagte, als er Goethes »Iphigenie« gesehen
hatte: Gut, aber was beweist das? Der Satz war nicht am
Platz, aber er ist es gegenüber Tausenden und Tausenden von
Gedichten. Aufgefordert, solche Gedichte zu kritisieren, ge-
rät man in Verlegenheit, da ist sozusagen nichts zum Kritisie-
ren da, höchstens: daß sie geschrieben und daß sie gedruckt
wurden. Man kann die Ansprüche unseres Mathematikers
nicht vollständig ablehnen, nur weil er sie an ein Werk ge-
stellt hat, das sie befriedigen kann. Man kann ihm sagen, was
die »Iphigenie« beweist, und wenn man es von irgendeinem
Werk nicht sagen kann, dann ist es kein bedeutendes Werk.
Es ist kein bedeutendes Werk, weil es nichts bedeutet.
Die einfachste Forderung ist, daß ein Gedicht den Leser mit
seiner Stimmung infizieren muß. Diese Ansteckung ist ein va-
ger und noch nicht sehr viel besagender, sozusagen formeller
Akt. Die Ansteckungsfähigkeit eines Gedichtes kann lokal,
personell, berufsmäßig, national, klassenmäßig beschränkt
sein. Die Gedichte, welche die meisten Menschen in Stimmung
versetzen, müssen nicht die besten Gedichte sein. Was das
Volk singt, das sind beileibe nicht immer Volkslieder. Es gibt
Volkslieder, die »das Volk« nicht in Stimmung versetzen.
Wir müssen uns darüber klar sein: Die Ansteckung finden wir
bei den höchsten Arten Dichtung wie bei den niedrigsten, bei
Volkslied und Sonett wie bei Operettenschlager und Geburts-
tagsgedicht.
Ein Gedicht beweist also noch nichts (ich kann dir also noch
nicht beweisen, daß du es lesen solltest), wenn es irgendwen
oder sogar dich mit seiner Stimmung anstecken kann. Die
386 Zur Literatur und Kunst

Gedichte haben es anscheinend schwieriger, etwas zu beweisen.


Angenommen, unser Mathematiker wäre vor ein Gedicht
geführt worden, das den pythagoreischen Lehrsatz bewie-
sen hätte, würde er dann behauptet haben, dieses Gedicht be-
weise was? Vielleicht, aber wir hätten ihm vielleicht widerspro-
chen, ebenso, wie wir ihm widersprachen, als er behauptete,
die »Iphigenie« beweise nichts. Wir hätten ihm dann wider-
sprochen, wenn das Gedicht als Gedicht leer, gesichtslos, alibi-
los wäre. Auch wenn der Mathematiker in Stimmung dadurch
geraten wäre, hätten wir vielleicht widersprochen.
Es wird sich herausstellen, daß wir nicht ohne den Begriff
Schönheit auskommen. Es ist keine Schande, diesen Begriff
zu benötigen, aber es macht doch verlegen. Denn es ist ein so
vager, vieldeutiger Begriff, anscheinend ganz vom »Ge-
schmack« abhängig, der »bekanntlich« individuell ist, so daß
sich darüber »nicht streiten läßt«.
Wenn wir vom Physiologischen ausgehen und den Geschmack
physisch nehmen, dann ist es allerdings schwierig, zu streiten.
Wir nehmen einen Bissen in den Mund, verziehen das Gesicht
und sagen: zu sauer. So können wir auch einen Gedichtvers
vor uns hin sagen und ein Unlustgefühl haben, wie bei etwas
Abgeschmacktem, Schalem, Reizlosem oder sogar Ekelerre-
gendem. Allerdings gibt es sogar beim physiologischen Ge-
schmack etwas wie »auf den Geschmack kommen«. Das kann
durch eine Art Lernakt geschehen oder einfach, weil wir in an-
dere Verhältnisse gekommen sind. Der Geschmack, auch der
physiologische, kann sich entwickeln.
Wir können ein Beispiel aus der Architektur nehmen. Unsere
fortgeschrittenen Architekten propagieren in den letzten Jahr-
zehnten eine sogenannte sachliche Baukunst. Sie finden, kurz
formuliert, das Praktische schön. Interessant ist nun, wie sich
die Arbeiter dazu verhalten. Im großen und ganzen lehnen
sie nämlich diese Baukunst ab. Sie finden die linear gebauten
Häuser nicht schön, nennen sie Kasernen oder Zuchthäuser und
schimpfen die neuen, zweckdienlichen Möbel fade. Die ganze
Zur literarisdien Arbeit 387

sachliche Baukunst hinterläßt in ihrem Mund einen schalen


Geschmack. Warum?
Die Architekten, von denen viele, weil sie eben fortgeschrit-
ten sind, sich gerne an die Arbeiter wenden, als die fortge-
schrittenste, wichtigste Klasse, vergessen, was eine Wohnung
für den Arbeiter bedeutet. Sie ist nämlich keineswegs nur ein
Unterschlupf für ihn, eine Maschinerie, bei der es nur darauf
ankommt, daß sie alle ihre Obliegenheiten möglichst praktisch
vollzieht.

Über die Verbindung der Lyrik mit der Architektur


Eine historische Untersuchung der Wirkungen der Kunst
würde zweifellos ergeben, daß jeweils neu auftretende Wir-
kungen zusammen mit Bewußtseinsänderungen auftreten, die
wiederum zusammen mit Änderungen im ökonomisch-politi-
schen Unterbau der menschlichen Gesellschaft vorkommen.
(Die antiken Wiedererkennungsszenen deuten auf Handels-
verkehr und Kriegszüge, ebenso der ödipus-»Komplex«.)
Lange Zeit entstehen dann Nachwirkungen. Heftige Erleb-
nisse, welche die »Erbmasse« gebildet haben, lösen noch nach
Jahrhunderten langsam verklingende Reaktionen aus. Und in
abgeschwächter, veränderter Form sind die Neuerungen auch
noch vorhanden im Zusammenleben der Menschen selber, feu-
dale Verhaltensarten beim Proletariat neben bürgerlichen und
so weiter.
Die Photographien der russischen Revolution, nicht nur der
von 17, sondern auch der von 05, zeigen eine eigentümliche
Literarisierung des Straßenbildes. Die Städte, ja die Dörfer
sind übersät von Sprüchen wie von Symbolen. Die sich die
Herrschaft erobernde Klasse schreibt mit breitem Pinsel ihre
Meinungen und Losungen auf die eroberten Gebäude. Auf die
Kirchen schreibt sie: »Religion ist Opium fürs Volk«, auf an-
deren Baulichkeiten stehen Gebrauchsanweisungen. In den
388 Zur Literatur und Kunst

Demonstrationen werden Schilder mit Beschriftung getragen,


nachts erscheinen Filme auf Häuserwänden. Die Literarisie-
rung hat sich in der Union eingebürgert. Die alljährlichen De-
monstrationen, die regelmäßigen wie die besonderen, haben
eine Tradition ausgebildet. Die Arbeitermassen entwickelten
einen einzigartigen Formensinn in ihren Emblemen. Bei der
großen Maidemonstration 35 sah ich sehr schöne Embleme
der Textilfabriken (aus weißer Wolle), schmale, leicht flat-
ternde Fahnen von neuer Form, phantastische Darstellungen
politischer Gegner und viele Sprüche auf durchsichtigen Trans-
parenten, so daß zu gleicher Zeit viele dieser Sprüche und
Bilder sichtbar waren. Die qualifizierte Lyrik der Union hat
mit dieser Entwicklung der Massenkunst nicht Schritt gehal-
ten. Die neu entstehenden Baulichkeiten zeigen keine Be-
schriftung. Die schönen Bahnhöfe der Moskauer Untergrund-
bahn haben riesige Marmorwände; sie könnten sehr wohl
Gedichte tragen, die ihre mit so viel Heroismus verknüpfte
Herstellung durch die Moskauer Bevölkerung beschreiben. So
ist es auch mit den Grabstätten großer Revolutionäre in der
Kremlmauer. Und mit den wissenschaftlichen Instituten,
Sportpalästen, Theatern. Ihre Beschriftung würde einen großen
Aufschwung der Lyrik ergeben. Es ist ihre Aufgabe, die Ta-
ten großer Generationen zu besingen und dem Gedächtnis
aufzubewahren. Die Entwicklung der Sprache erhält von hier-
her ihre edelsten Impulse. Das in den Stein getriebene Wort
muß sorgfältig gewählt sein, es wird lange gelesen werden
und immer von vielen zugleich. Wettbewerbe müßten die
Lyrik zu neuen Leistungen anspornen, und die späteren Ge-
nerationen erhielten zusammen mit den Baulichkeiten die An-
weisungen und den Schriftzug der Erbauer.
*935
Zur literarischen Arbeit 389

Logik der Lyrik


Im folgenden einige Bemerkungen zu dem Gedicht eines weit
über dem Durchschnitt begabten Lyrikers, in dem mir ein
schöner Stoff durch die Verletzung logischer Gesetze zerstört
scheint. Ich könnte das auch so ausdrücken: Die gefühlsmä-
ßige Beteiligung des Lyrikers war nicht tief und gleichmäßig
genug, daß eine zwingende und volle Logik sein Gedicht aus-
balancierte. Es handelt sich um Fritz Brügels im »Wort« (1936
in Nummer 1) abgedrucktes Gedicht »Flüsterlied«.
Das Bild von der Verbrennung ist nicht glücklich. Man hat
die Auswahl zwischen der List des Feinds, die zu unserer
Verbrennung führt, und seiner List, die in unserer Verbren-
nung liegt. Die List, die zu unserer Verbrennung führt, ist
nach einiger Prüfung nicht akzeptierbar. Von List könnte ge-
sprochen werden, wenn der Feind, trotz unserer Unsichtbar-
keit und obwohl wir keine Zeichen tragen, uns verbrennen
könnte, andernfalls sind wir listig. Sollte gemeint sein »seihst
die List«, so dürfte hier dieses »selbst« nicht ausgelassen wer-
den. In unserer Verbrennung liegt keine List, jedenfalls geht
das Gedicht nicht darauf ein.
Ein sehr empfindlicher Leser würde die schnelle Aufeinander-
folge der Zeilen »die List des Feinds verbrennt uns nicht« und
»wir leben nicht im Hellen« als störend empfinden. Aber der
wenigst Empfindliche wird »wir leben nicht im Hellen« als
Begründung für »man hört uns nicht« ablehnen. Bei so paral-
lel gebauten Verszeilen wie »die List des Feinds verbrennt uns
nicht« und »der Haß des Feinds zerstört uns nicht« muß un-
bedingt die zweite Verszeile mehr Entwicklung zeigen, als es
der Haß gegenüber der List tut. Sehr schlimm aber ist, schon
nach »man hört uns nicht«, aber vor allem nach dem noch
nachwirkenden, weil bildhaften und an gleicher Stelle in der
ersten Strophe stehenden »verbrennt uns nicht«, daß hier
plötzlich ein Akkusativ angehängt wird, nämlich »das Netz
der stummen Zellen«. Dadurch wird aus dem Akkusativ des
39© Zur Literatur und Kunst

»uns« in »zerstört uns nicht« plötzlich ein Dativ. Und die


Stummheit der Zellen ist ebenfalls nicht glücklich, da »wir le-
ben nicht im Hellen« die ganze Strophe als Begründung be-
herrscht. »Dunkle« Zellen wären richtiger, wenn auch viel-
leicht nicht besonders schön.
Das Netzspinnen der dritten Strophe enthält ebenfalls Stö-
rungsfaktoren. Daß »das Netz wird immer dichter« ein ein-
geschobener Satz ist (und in Klammern stehen müßte), wird
erst nach einiger Überlegung klar. Bei naivem Lesen wird das
Netz von Stadt zu Stadt dichter. (Wobei übrigens »von Ort
zu Ort« wegfallen könnte und also wegfallen müßte.) Eine
Feinheit: Das »immer« in der zweiten Verszeile ist hier ba-
nal, ich sage hier, weil hier der Gesamtton nicht naiv genug
ist und der Satz auch nicht in einer Umgebung steht, die
durch ihre Erlesenheit dem Satz eine besondere Einfachheits-
qualität verleiht.
»Und fühlt nur, daß wir reifen« ist die unglücklichste Vers-
zeile des ganzen Gedichts. Dieses »reifen« ist ein ganz dün-
ner, psychologischer Ausdruck, der auf das Netzspinnen sehr
banal wirkt. Die Flüsterer bekommen eine biologische Quali-
tät unbestimmtester Art, gemeint ist wohl »politisch« reifen.
Das ist im Gedicht aber gar nicht entwickelt. Und was wird
sein, wenn »wir gereift sind«? Wird der Feind uns dann se-
hen? Warum? Wie reifen Atem, Luft und Wind? Die letzte
Strophe verläßt vollends das Netzspinnbild und geht über zu
dem Bild des Grabens schmaler Wege. Das »sie haben nichts«,
das wiederholt wird, ist nicht vorbereitet, das »nichts und
alles« hat wenig zu tun mit dem Graben der schmalen Wege.
Was das Auswechseln der Bilder betrifft (Verbrennung, Netz
mit Fäden und Zellen, Atem, Luft und Wind, Reifen, Däm-
merlicht, Wegegraben), so ist es natürlich dem Lyriker gestat-
tet, jedoch muß er die einzelnen Bilder unbedingt jeweils ab-
schließen und darf sie nicht ineinander überfließen lassen. In
einem kurzen Gedicht wie dem vorliegenden darf, wenn (»wir
leben nicht im Hellen« und »im Grau des Dämmerlichts«) ein
Zur literarischen Arbeit 391

Bild fortgeführt wird, nicht ein unter diesem Bild liegendes


Bild mit einem andern ausgewechselt werden (das Fädenspin-
nen mit dem Gräbengraben). Und das »reifen« der Netz-
spinner stört das Dichterwerden des Netzes.
Allzu labiles Auswechseln von Bildern könnte man in Anleh-
nung an »Gedankenflucht« »Bilderflucht« nennen. Die betref-
fenden Bilder sind meist alleroberflächlichster Natur. Gewisse
Assoziierungen des Lyrikers gehen dabei unkontrolliert in die
Verse ein. Die »Verbrennung« in der ersten Strophe ist wohl
von den Bücherverbrennungen abgeleitet. Dem »reifen« der
vierten Strophe ist, wie gesagt, ein »politisch reifen« unter-
gelegt. In dem Ausdruck »das Netz der stummen Zellen« ist
ein optisches in ein akustisches Bild hineingequetscht (weder
Netze noch Zellen reden).
Das Gedicht liest sich dabei zunächst hübsch, nur kraftlos. Es
ist ziemlich gleichgültig, ob man sagt, es habe keine Kraft,
weil es der Logik mangelt, oder es mangle der Logik, weil es
keine Kraft habe.
Anfang 1936

Der Lyriker braucht die Vernunft nicht zu fürchten


Einige Leute, deren Gedichte ich lese, kenne ich persönlich.
Ich wundere mich oft, daß mancher von ihnen in seinen Ge-
dichten weit weniger Vernunft zeigt als in seinen sonstigen
Äußerungen. Hält er Gedichte für reine Gefühlssache? Glaubt
er, daß es überhaupt reine Gefühlssachen gibt? Wenn er so
etwas glaubt, sollte er doch wenigstens wissen, daß Gefühle
ebenso falsch sein können wie Gedanken. Das müßte ihn vor-
sichtig machen.
Einige Lyriker, besonders Anfänger, scheinen, wenn sie sich
in Stimmung fühlen, Furcht zu haben, aus dem Verstand
Kommendes könne die Stimmung verscheuchen. Dazu ist zu
sagen, daß diese Furcht unbedingt eine törichte Furcht ist.
392 Zur Literatur und Kunst

Wie man aus den Werkstättenberichten großer Lyriker weiß,


handelt es sich bei ihren Stimmungen keineswegs um so ober-
flächliche, labile, leicht verfliegende Stimmungen, daß umsich-
tiges, ja nüchternes Nachdenken stören könnte. Die gewisse
Beschwingtheit und Erregtheit ist der Nüchternheit keines-
wegs direkt entgegengesetzt. Man muß sogar annehmen, daß
die Unlust, gedankliche Kriterien heranzulassen, auf eine tie-
fere Unfruchtbarkeit der betreffenden Stimmung hindeutet.
Man sollte dann unterlassen, ein Gedicht zu schreiben.
Ist das lyrische Vorhaben ein glückliches, dann arbeiten Ge-
fühl und Verstand völlig im Einklang. Sie rufen sich fröhlich
zu: Entscheide du!

Über das Zerpflücken von Gedichten


Der Laie hat für gewöhnlich, sofern er ein Liebhaber von Ge-
dichten ist, einen lebhaften Widerwillen gegen das, was man
das Zerpflücken von Gedichten nennt, ein Heranführen kal-
ter Logik, Herausreißen von Wörtern und Bildern aus diesen
zarten blütenhaften Gebilden. Demgegenüber muß gesagt wer-
den, daß nicht einmal Blumen verwelken, wenn man in sie
hineinsticht. Gedichte sind, wenn sie überhaupt lebensfähig
sind, ganz besonders lebensfähig und können die eingreifend-
sten Operationen überstehen. Ein schlechter Vers zerstört ein
Gedicht noch keineswegs ganz und gar, so wie ein guter es
noch nicht rettet. Das Herausspüren schlechter Verse ist die
Kehrseite einer Fähigkeit, ohne die von wirklicher Genuß-
fähigkeit an Gedichten überhaupt nicht gesprochen werden
kann, nämlich der Fähigkeit, gute Verse herauszuspüren. Ein
Gedicht verschlingt manchmal sehr wenig Arbeit und verträgt
manchmal sehr viel. Der Laie vergißt, wenn er Gedichte für
unnahbar hält, daß der Lyriker zwar mit ihm jene leichten
Stimmungen, die er haben kann, teilen mag, daß aber ihre
Formulierung in einem Gedicht ein Arbeitsvorgang ist und das
Zur literarischen Arbeit 393

Gedicht eben etwas zum Verweilen gebrachtes Flüchtiges ist,


also etwas verhältnismäßig Massives, Materielles. W6r das Ge-
dicht für unnahbar hält, kommt ihm wirklich nicht nahe. In
der Anwendung von Kriterien liegt ein Hauptteil des Ge-
nusses. Zerpflücke eine Rose, und jedes Blatt ist schön.

[Die kritische Haltung]


Es ist völlig verkehrt, Kritik als etwas Totes, Unprodukti-
ves, sozusagen Langbärtiges zu betrachten. Diese Auffassung
von Kritik wünscht Herr Hitler zu verbreiten. In Wirklich-
keit ist die kritische Haltung die einzig produktive, menschen-
würdige. Sie bedeutet Mitarbeit, Weitergehen, Leben. Wah-
rer Kunstgenuß ohne kritische Haltung ist unmöglich.

Heute, wo unsere nackte Existenz längst zu einer Frage


der Politik geworden ist, könnte es überhaupt keine Lyrik
mehr geben, wenn das Produzieren und das Konsumieren
von Lyrik davon abhinge, daß aus der Vernunft kommende
Kriterien ausgeschaltet werden können. Unsere Gefühle
(Instinkte, Emotionen) sind völlig verschlammt; sie befin-
den sich in dauerndem Widerstreit mit unseren nackten
Interessen.

Die Kritik zerstört keineswegs den Genuß, es sei denn, sie


bestehe aus einem übellaunigen Mäkeln. Ohne die Fähigkeit
des kritischen Genießens kann die proletarische Klasse über-
haupt nicht das Erbe der bürgerlichen Kultur antreten. Der
historische Sinn, ohne den zu haben sie hier nicht genießen
kann, ist ein Sinn für Kritik, das muß einleuchten. Da muß
die einstige Perfektion eines Dings gefühlt werden können,
die inzwischen sich zum schlechteren verändert hat, nirgends
mehr in dieser Perfektion zu sehen ist, nunmehr ungenießbar
im tödlichen Sinn des Wortes geworden ist.
394 Zur Literatur und Kunst

Die Dialektik
*
Flach, leer, platt werden Gedichte, wenn sie ihrem Stoff seine
Widersprüche nehmen, wenn die Dinge, von denen sie handeln,
nicht in ihrer lebendigen, das heißt allseitigen, nicht zu Ende
gekommenen und nicht zu Ende zu formulierenden Form auf-
traten. Geht es um Politik, so entsteht dann die schlechte Ten-
denzdichtung. Man bekommt »tendenziöse Darstellungen«,
das heißt Darstellungen, welche allerhand auslassen, die Rea-
lität vergewaltigen, Illusionen erzeugen sollen. Man bekommt
mechanische Parolen, Phrasen, unpraktikable Anweisungen.
Jeder von uns weiß, wie der tausendste Aufguß des großarti-
gen Refrains der »Internationale« aussieht!
Die Strophe:
Völker, hört die Signale
Auf zum letzten Gefecht!
Die Internationale
Erkämpft das Menschenrecht.
ist heute lebendig wie am ersten Tag. Da hat jedes Wort sei-
nen Sinn, und er kann in reichster Weise kommentiert werden.
Da sind die Völker, die in der Internationale aufgelöst wer-
den, damit das Menschenrecht erkämpft werde; da sind die
Signale, die sie hören müssen; da ist das letzte Gefecht. Da
sind die Völker, die gegeneinander gefochten haben und fech-
ten und die sich vereinigen sollen und wieder zum Gefecht;
da sind die Völker, die das Menschenrecht noch nicht haben!
Da ist das Gefühl von der Schwierigkeit des Kampfes, und
da ist die Siegesgewißheit!
Das ist so groß wie klug gefühlt.
Wir neigen dazu, solche Schöpfungen für einen Glücksfall zu
halten. Wir sprechen von mehr oder weniger gut. Das weni-
ger Gute ist dann auch gut, nur eben weniger. In Wirklichkeit
ist es aber oft einfach schlecht. Den großen, lebendigen Paro-
len wird eine armselige, unpraktikable, spießige Bedeutung
Zur literarischen Arbeit 395
verliehen; sie bekommen etwas Formales, Oberflächliches,
Abgestandenes. Die großartige Furchtlosigkeit der Revolutio-
näre, die aus gewaltigem Verantwortungsgefühl der Mensch-
heit gegenüber kommt, macht der Ängstlichkeit derer Platz,
die sich nicht »verhauen« wollen. Und die beste Methode, sich
nicht zu »verhauen«, scheint ihnen, überhaupt nicht zu hauen,
sondern möglichst das Alte zu sagen, und zwar in der alten
Weise. Aber es ist natürlich so nicht mehr das Alte. Seht nicht
auf die Dinge, sondern auf das, was über sie gesagt wurde,
sprecht nicht mehr, wie euch der Schnabel gewachsen ist, son-
dern wie er andern gewachsen war, und ihr bekommt tote,
falsche, leere Papierliteratur, formalistisches Zeug, Politik und
Literatur der Form nach!

Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen


Mitunter wurde mir, wenn ich reimlose Lyrik veröffentlichte,
die Frage gestellt, wie ich dazu käme, so was als Lyrik aus-
zugeben; zuletzt geschah das anläßlich meiner »Deutschen Sa-
tiren«. Die Frage ist berechtigt, weil die Lyrik, wenn sie schon
auf den Reim verzichtet, doch gewohntermaßen wenigstens
einen festen Rhythmus bietet. Viele meiner letzten lyrischen
Arbeiten zeigen weder Reim noch regelmäßigen festen Rhyth-
mus. Meine Antwort, warum ich sie als lyrisch bezeichne, ist.:
weil sie zwar keinen regelmäßigen, aber doch einen (wechseln-
den, synkopierten, gestischen) Rhythmus haben.
Mein erstes Gedichtbuch enthielt fast nur Lieder und Balladen,
und die Versformen sind verhältnismäßig regelmäßig; sie soll-
ten fast alle singbar sein, und zwar auf einfachste Weise, ich
selber komponierte sie. Reimlos war nur ein einziges Gedicht,
das regelmäßig rhythmisiert war; jedoch hatten die gereimten
Gedichte beinahe alle unregelmäßige Rhythmen. In der »Bal-
lade vom toten Soldaten« gibt es in neunzehn Strophen neun
verschiedene Rhythmisierungen der zweiten Verszeile:
3 96 Zur Literatur und Kunst

1 w_ Keinen Ausblick auf Frieden bot


2 ~-~ Drum tat es dem Kaiser leid
3 „„„ Und der Soldat schlief schon
4 ^w_ Zum Gottesacker hinaus
5 ^^ >.__ Oder was von ihm noch da war
6 Die Nacht war blau und schön
14 ~_~~ Die Ratzen im Feld pfeifen wüst
15 w w „ _ Waren alle Weiber da
!8 Daß ihn keiner sah

Danach beschäftigte ich mich für ein Theaterstück (»Im Dik-


kicht der Städte«) mit der gehobenen Prosa Arthur Rimbauds
(in seinem »Sommer in der Hölle«). Für ein anderes Theater-
stück (»Leben Eduards des Zweiten von England«) mußte ich
mich mit dem Problem des Jambus befassen. Es war mir auf-
gefallen, wieviel kraftvoller der Vortrag der Schauspieler war,
wenn sie die schwer lesbaren, »holprigen« Verse der alten
Scblegel-Tieckschen Shakespeare-Übertragung anstelle der
neuen, glatten Rotbeseben sprachen. Wieviel stärker kam da
das Ringen der Gedanken in den großen Monologen zum
Ausdruck! Wieviel reicher war diese Versarchitektur! Das
Problem war einfach: Ich benötigte gehobene Sprache, aber
mir widerstand die ölige Glätte des üblichen fünffüßigen
Jambus. Ich brauchte Rhythmus, aber nicht das übliche Klap-
pern. Ich ging so vor. Statt zu schreiben:

»Seit sie da Trommeln rührten überm Sumpf


Und um mich Roß und Katapult versank,
Ist mir verrückt mein Kopf. Ob alle schon
Ertrunken sind und aus, und nur mehr Lärm hängt
Leer und verspätet zwischen Erd und Himmel? Ich
Sollt nicht so laufen.«
Zur literarischen Arbeit 397

schrieb ich:

»Seit diese Trommeln waren, der Sumpf, ersäufend


Katapult und Pferde, ist wohl verrückt
Meiner Mutter Sohn Kopf. Keuch nicht! Ob alle
Schon ertrunken sind und aus und nur mehr Lärm ist
Hängend noch zwischen Erd und Himmel? Ich will auch nicht
Mehr rennen.«

Das ergab den stockenden Atem des Rennenden, und es ent-


hüllten sich in diesen Synkopen besser die widersprüchlichen
Gefühle des Sprechers. Das Stück war eine Kopie nach einem
elisabethanischen Theaterstück, wenn man will, eine technische
Studie. Ich bemühte mich um die Darstellung gewisser Inter-
ferenzen, ungleichmäßiger Entwicklungen menschlicher Schick-
sale, des Hin und Her historischer Vorgänge, der »Zufällig-
keiten«. Die Sprache hatte dem zu entsprechen.
Man muß die Zeit bedenken, in der ich schrieb. Der Weltkrieg
war eben vorüber. Er hatte die ungeheuren sozialen Spannun-
gen, die ihn verursacht hatten, nicht gelöst.
Mein politisches Wissen war damals beschämend gering; je-
doch war ich mir großer Unstimmigkeiten im gesellschaftlichen
Leben der Menschen bewußt, und ich hielt es nicht für meine
Aufgabe, all die Disharmonien und Interferenzen, die ich stark
empfand, formal zu neutralisieren. Ich fing sie mehr oder we-
niger naiv in die Vorgänge meiner Dramen und in die Verse
meiner Gedichte ein. Und das, lange bevor ich ihren eigent-
lichen Charakter und ihre Ursachen erkannte. Es handelte
sich, wie man aus den Texten sehen kann, nicht nur um ein
»Gegen-den-Strom-Schwimmen« in formaler Hinsicht, einen
Protest gegen die Glätte und Harmonie des konventionellen
Verses, sondern immer doch schon um den Versuch, die Vor-
gänge zwischen den Menschen als widerspruchsvolle, kampf-
durchtobte, gewalttätige zu zeigen.
Noch freier konnte ich vorgehen, als ich für moderne Musiker
398 Zur Literatur und Kunst

Oper, Lehrstück und Kantate schrieb. Hier gab ich den Jambus
völlig auf und verwendete feste, aber unregelmäßige Rhyth-
men. Sie eigneten sich, wie mir Komponisten verschiedenster
Richtungen versicherten und wie ich selber feststellen konnte,
vorzüglich für die Musik.
In der Folge schrieb ich außer Balladen und Massenliedern mit
Reim und regelmäßigem (oder doch nahezu regelmäßigem)
Rhythmus mehr und mehr Gedichte ohne Reim und mit un-
regelmäßigem Rhythmus. Man muß dabei im Auge behalten,
daß ich meine Hauptarbeit auf dem Theater verrichtete; ich
dachte immer an das Sprechen. Und ich hatte mir für das Spre-
chen (sei es der Prosa oder des Verses) eine ganz bestimmte
Technik erarbeitet. Ich nannte sie gestisch.
Das bedeutete: Die Sprache sollte ganz dem Gestus der spre-
chenden Person folgen. Ich will ein Beispiel geben. Der Satz
der Bibel »Reiße das Auge aus, das dich ärgert« hat einen Ge-
stus unterlegt, den des Befehls, aber er ist doch nicht rein
gestisch ausgedrückt, da »das dich ärgert« eigentlich noch einen
anderen Gestus hat, der nicht zum Ausdruck kommt, nämlich
den einer Begründung. Rein gestisch ausgedrückt, heißt der Satz
(und Luther, der »dem Volk aufs Maul sah«, formt ihn auch so):
»Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus!« Man sieht wohl auf
den ersten Blick, daß diese Formulierung gestisch viel reicher
und reiner ist. Der erste Satz enthält eine Annahme, und das
Eigentümliche, Besondere in ihr kann im Tonfall voll ausge-
drückt werden. Dann kommt eine kleine Pause der Ratlosig-
keit und erst dann der verblüffende Rat. Die gestische Formu-
lierung kann natürlich durchaus innerhalb eines regulären
Rhythmus vorgehen (wie ja auch im gereimten Gedicht). Ein
Beispiel für die Unterschiede:

Hast du den Säugling gesehen, der, unbewußt noch der Liebe,


Die ihn wärmet und wiegt, schlafend von Arme zu Arm
Wandert, bis bei der Leidenschaft Ruf der Jüngling erwachet
Und des Bewußtseins Blitz dämmernd die Welt ihm erhellt?
(Schiller: »Der philosophische Egoist«)
Zur literarischen Arbeit 399

und:
Daß aus nichts nichts wird, selbst nicht durch den Willen der Götter.
Denn so enge beschränket die Furcht die Sterblichen alle;
Da sie so viel der Erscheinungen sehn, am Himmel, auf Erden,
Deren wirkenden Grund sie nicht zu erfassen vermögen,
Daß sie glauben, durch göttliche Macht sey dies alles entstanden.
Haben wir aber erkannt,, daß aus nichts nichts könne hervorgehn,
Werden wir richtiger sehn, wonach wir forschen; woraus denn
Und wie alles entsteh, auch ohne die Hilfe der Götter.
(Lucretius: »Von der Natur der Dinge«)

Die Armut an gestischen Elementen in Schillers und den Reich-


tum an solchen in Lukrez' Gedicht kann man leicht nachprüfen,
wenn man, die Verse sprechend, darauf achtet, wie oft sich der
eigene Gestus dabei ändert.
Ich kam auf das Problem der gestischen Formulierungen zu
sprechen, weil diese zwar innerhalb regelmäßiger Rhythmen
erfolgen kann, unregelmäßige Rhythmen mir aber zur Zeit
ohne gestische Formulierungen nicht möglich scheinen. Ich habe
die Wahrnehmung gesellschaftlicher Dissonanzen als eine Vor-
aussetzung für die neue gestische Rhythmisierung erwähnt. Je-
doch ist eine völlig rationelle Erklärung natürlich weder mög-
lich noch notwendig.
Ich erinnere mich, daß zwei Beobachtungen mich bei der Bil-
dung unregelmäßiger Rhythmen beeinflußten. Die eine betraf
jene kurzen, improvisierten Sprechchöre bei Arbeiterdemon-
strationen, von denen ich den ersten an einem Weihnachtsabend
hörte. Ein Zug von Proletariern marschierte durch die vor-
nehmen Viertel des Berliner Westens und rief den Satz »Wir
haben Hunger« aus. Er war so rhythmisiert:

Wir ha ben Hun ger

Später hörte ich noch andere solcher Chöre, in denen einfach


der Text mundgerecht gemacht und diszipliniert wurde. Einer
lautete:
400 Zur Literatur und Kunst

Helft euch sei ber wählt Thal mann

Eine zweite Erfahrung mit aus dem Volk kommender Rhyth-


mik war für mich der Ausruf eines Berliner Straßenhändlers,
der vor dem Kaufhaus des Westens Rundfunktextbücher ver-
kaufte. Er rhythmisierte folgendermaßen:

Text buch für die O per Fra tel la

wel ehe heu te a bend im Rund funk

ge hört wird

Der Mann veränderte ständig Tonfall und Lautstärke, behielt


aber den Rhythmus beharrlich bei.
Die Technik der Zeitungsverkäufer bei der Rhythmisierung
ihrer Ausrufe kann jeder studieren.
Jedoch wird unregelmäßige Rhythmisierung auch für Geschrie-
benes verwendet, wo eine gewisse Eindringlichkeit erreicht
werden soll. Zwei Beispiele für viele:

Du sollst nur Ma-

| j

no li rau chen

und (mit Reim):


\~s V-/ v /
AI len an de ren zu vor
Zur literarischen Arbeit 401

— V-/ *w/

der Sa-

rot ti mohr
Diese Erfahrungen gingen in den Ausbau unregelmäßiger
Rhythmen ein. Wie nun sehen diese unregelmäßigen Rhyth-
men aus? Ich wähle ein Beispiel aus den »Deutschen Satiren«,
die beiden Endstrophen von »Die Jugend und das Dritte
Reich«:
Ja, wenn die Kinder Kinder blieben, dann
Könnte man ihnen immer Märchen erzählen
Da sie aber älter werden
Kann man es nicht.

Wie ist das zu lesen? Wir legen zunächst einen regelmäßigen


Rhythmus unter:

Ja, wenn die Kin der Kin der blie ben, dann

Könn te man ih nen im mer Mär chen er zäh len

Da sie a ber äl ter wer den

Kann man es nicht.

Die fehlenden Versfüße müssen beim Sprechen durch Verlän-


gerung des vorhergehenden Fußes oder durch Pausen berück-
sichtigt werden. Die Einteilung in Verse hilft dabei. Das Ende
der Verszeile bedeutet immer eine Zäsur. Ich habe die Strophe
ausgewählt, weil ihr zweiter Vers, wenn man daraus zwei
machte und abteilte:
Könnte man ihnen immer
Märchen erzählen
402 Zur Literatur und Kunst

noch leichter lesbar würde, so daß man das Prinzip an einem


Grenzfall studieren kann.
Was die Einteilung für Klang und Pointierung ausmacht, sieht
man, wenn man die letzte Strophe:
"Wenn das Regime händereibend von der Jugend spricht
Gleicht es einem Mann, der
Die beschneite Halde betrachtend, sich die Hände reibt und sagt:
Wie werde ich es im Sommer kühl haben mit
So viel Schnee.
anders einteilt, etwa so:
Wenn das Regime händereibend von der Jugend spricht
Gleicht es einem Mann
Der, die beschneite Halde betrachtend, sich die Hände reibt und sagt:
Wie werde ich es im Sommer kühl haben
Mit so viel Schnee.
Im Grund ist auch diese Schreibart rhythmisch lesbar. Jedoch
springt der qualitative Unterschied ins Auge.
Diese freie Art, den Vers zu behandeln, ist, wie zugegeben wer-
den muß, eine große Verführung zur Formlosigkeit: Die Güte
der Rhythmisierung ist nicht einmal so weit garantiert wie bei
regelmäßiger Rhythmisierung (wo allerdings gut abgezählte
Versfüße auch noch keine Rhythmisierung ergeben). Der Be-
weis der Güte des Puddings liegt eben im Essen.
Es ist ferner zuzugeben, daß das Lesen unregelmäßiger Rhyth-
men zunächst einige Schwierigkeiten bereitet. Das scheint mir
aber nicht gegen sie zu sprechen. Unser Ohr ist zweifellos in
einer physiologischen Umwandlung begriffen. Die akustische
Umwelt hat sich außerordentlich verändert. Man bedenke
allein die Straßengeräusche der modernen Stadt! Ein ameri-
kanischer Unterhaltungsfilm zeigte in einer Szene, wo der Tan-
zer Astaire zu den Geräuschen einer Maschinenhalle steppte,
die verblüffende Verwandtschaft zwischen den neuen Ge-
räuschen und dem Jazz mit seinem Stepprhythmus. Der Jazz
bedeutete ein breites Einfließen volkstümlicher musikalischer
Elemente in die neuere Musik, was immer aus ihm in unserer
Zur literarisdien Arbeit 403

Warenwelt dann gemacht wurde. Seine Beziehung zu der


Emanzipation der Neger ist ganz offenkundig.
Die sehr heilsame Kampagne gegen den Formalismus hat die
produktive Weiterentwicklung der Formen in der Kunst er-
möglicht, indem sie die Weiterentwicklung des sozialen Inhalts
als eine absolut entscheidende Voraussetzung dafür nachwies.
Ohne sich dieser inhaltlichen Entwicklung zu unterwerfen,
ohne von ihr den Auftrag zu empfangen, bleibt jede formale
Neuerung vollkommen unfruchtbar.
Die »Deutschen Satiren« wurden für den deutschen Freiheits-
sender geschrieben. Es handelte sich darum, einzelne Sätze in
ferne, künstlich zerstreute Hörerschaft zu werfen. Sie mußten
auf die knappste Form gebracht sein, und Unterbrechungen
(durch die Störsender) durften nicht allzuviel ausmachen. Der
Reim schien mir nicht angebracht, da er dem Gedicht leicht
etwas In-sich-Geschlossenes, am Ohr Vorübergehendes verleiht.
Regelmäßige Rhythmen mit ihrem gleichmäßigen Fall haken
sich ebenfalls nicht genügend ein und verlangen Umschreibun-
gen, viele aktuelle Ausdrücke gehen nicht hinein: der Tonfall
der direkten, momentanen Rede war nötig. Reimlose Lyrik mit
unregelmäßigen Rhythmen schien mir geeignet.
März 1939

[Nachtrag zu: Über reimlose Lyrik mit


unregelmäßigen Rhythmen]
Sehr regelmäßige Rhythmen hatten auf mich eine mir unan-
genehme einlullende, einschläfernde Wirkung, wie sehr regel-
mäßig wiederkehrende Geräusche (Tropfen aufs Dach, Surren
von Motoren), man verfiel in eine Art Trance, von der man
sich vorstellen konnte, daß sie einmal hatte erregend wirken
können; jetzt tat sie das nicht mehr. Außerdem war die Sprech-
weise des Alltags in so glatten Rhythmen nicht unterzubringen,
es sei denn ironisch. Und der nüchterne Ausdruck schien mir
404 Zur Literatur und Kunst

keineswegs so unvereinbar mit dem Gedicht, wie oft behauptet


wurde. In der mir unangenehmen Traumstimmung, die durch
regelmäßige Rhythmen erzeugt wurde, spielte das Gedankliche
eine eigentümliche Rolle: Es bildeten sich eher Assoziationen
als eigentliche Gedanken; das Gedankliche schwamm so auf
Wogen einher, man mußte sich immer erst einer alles nivellie-
renden, verwischenden, einordnenden Stimmung entreißen,
wenn man denken wollte. Bei unregelmäßigen Rhythmen be-
kamen die Gedanken eher die ihnen entsprechenden eigenen
emotionellen Formen. Ich hatte nicht den Eindruck, daß ich
mich dabei vom Lyrischen entfernte. Die herrschende Ästhetik
mochte die Lyrik an so etwas wie Stimmungsgehalt binden;
was ich aber von zeitgenössischer Lyrik sah, imponierte mir
wenig, und es schien mir nicht wahrscheinlich, daß die zeitge-
nössische Ästhetik besser sein könnte als die zeitgenössische
Lyrik. Für einige der sozialen Funktionen, welche die Lyrik
hat, konnten da neue Wege beschritten werden.

Die Übersetzbarkeit von Gedichten


Gedichte werden bei der Übertragung in eine andere Sprache
meist dadurch am stärksten beschädigt, daß man zuviel zu
übertragen sucht. Man sollte sich vielleicht mit der Übertra-
gung der Gedanken und der Haltung des Dichters begnügen.
Was im Rhythmus des Originals ein Element der Haltung des
Schreibenden ist, sollte man zu übertragen suchen, nicht mehr
davon. Seine Haltung zur Sprache wird übertragen, auch wenn
man, etwa wenn er bestimmte Wörter durch ihre Einreihung
in Wortfolgen, wo sie sonst nicht gehört werden, neu faßt, nur
eben dieses Tun nachahmt, sich die Gelegenheit dazu aber nicht
vom Original vorschreiben läßt.
Zur literarischen Arbeit 405

Zur Frage der Übersetzung von Kampfliedern

Das Arbeiterkampflied kann eine starke politische Wirkung


ausüben in Zeiten, wo die Arbeiter unter demokratisdien Re-
gierungen ihre Ziele offen propagieren können, und in soldien
Zeiten, wo faschistische Diktaturen gesprengt werden und die
Massen in große, aber uneinheitliche Bewegung kommen. Das
Kampflied kann helfen, die Bewegung weiterzutreiben, sie zu
vertiefen und sie zu organisieren.

Man darf die Popularisierung eines guten Kampfliedes nicht


dem Zufall, seiner »zündenden Wirkung«, dem günstigen Um-
stand, daß es »der Masse aus dem Herzen spricht«, überlassen.
Man muß kleinen Einheiten von Arbeitern das als gut erkannte
Lied lehren und ihnen die Aufgabe setzen, es den Massen ein-
zustudieren. Selbst von kleinen Einheiten gesungen, kann das
Kampflied Demonstrationscharakter annehmen, zum Beispiel
in Versammlungen, plötzlich während schädlicher Reden ange-
stimmt.

Es besteht erfahrungsgemäß eine Neigung der Lyriker, vor


den unzweifelbaren Schwierigkeiten einer Übersetzung von
Kampfliedern zu kapitulieren. Die unzweifelhaften Schwierig-
keiten bestehen hauptsächlich darin, daß die verschiedenen
Proletariate unter verschiedenen Umständen kämpfen, also
verschiedene Parolen brauchen. Selbst da, wo die Umstände
die gleichen sind (Unterdrückung, Ausbeutung, Stand der Ar-
beiterbewegung), sind Einzelheiten immer noch sehr verschie-
den. (Frage der Bündnisse und so weiter.) Diese unzweifel-
406 Zur Literatur und Kunst

haften Schwierigkeiten können aber im allgemeinen überwun-


den werden. Die auf große, allgemeine Wahrheiten und Ziele
gerichteten Kampflieder können in (den sehr wichtigen) Ein-
zelheiten abgeändert werden durch den Übersetzer.

Zu den unzweifelhaften Schwierigkeiten gehört es nicht, daß


»Dichten auf Wunsch« unmöglich ist und zu steif en, unlebendi-
gen Gedichten führen muß. Daß jedes Volk sich anders aus-
drückt, andere Erfahrungen verwertet, andere Bilder anwendet,
ist für den Übersetzer keine unüberwindliche Schwierigkeit. Im
Grunde begegnet er nur der Schwierigkeit, die der Verfasser
des Originals beim Verfassen des politischen Liedes hatte: Auch
er dichtete auf Wunsch und suchte oft zu abstrakten Parolen
und Formulierungen die volkstümlichen Ausdrücke.

Originallieder können besser sein als Übersetzungen, aber wenn


diese »Erkenntnis« dazu führt, daß man keine Übersetzungen
macht, während keine Originallieder da sind, so ist das poli-
tisch nicht verantwortbar. Die revolutionären Arbeiter aller
Länder haben unendlich viel Gemeinsames und das stärkste In-
teresse, die Gemeinsamkeiten zu betonen und zu organisieren.
Das internationale Proletariat hat sich in seiner Theorie eine
gemeinsame Sprache geschaffen, die marxistisch-leninistische
Terminologie. Diese Sprache ist nicht nur den Arbeitern eines
einzigen Landes aus dem Herzen gesprochen.

[Texte für Musik]


Einer der Hauptgründe dafür, daß wenig Texte für Musik ge-
schrieben werden, ist das Fehlen eines Marktes für derlei. Für
Zur literarischen Arbeit 407

Chorwerke, Massenlieder, selbst für gute Songs wird niemals


etwas bezahlt. Die Musiker müßten also, um Texte zu bekom-
men, unter den Millionären einen Werbefeldzug unternehmen.
Sie könnten am ehesten einige Texte schreiben. Es gibt also
kein Geld. Aber es gibt auch keinen Ruhm. Ich habe meinen
Namen noch auf sehr wenig Grammophonplatten und Konzert-
programmen gefunden, und wenn er dort stand, dann sehr
klein gedruckt. Diese Haltung des Publikums wird von den
Musikern angeführt. Sie betrachten Texte als Wortfolgen, die
dazu da sind, ihnen Gelegenheit zu geben, sich auszuleben. Ein
sehr begabter jüngerer Komponist sagte mir einmal in sehr
dringlichem Ton, am besten eigneten sich Wörter wie »libellen-
flügelzart« für musikalische »Zwecke«. An einem solchen Wort
kann eine Musik lange herumturnen und eine ganze Masse zei-
gen. Da die Musik nach diesen Leuten ihren eigenen Sinn hat,
würde ein Sinn des Textes sehr leicht störend wirken.
Wenn es so etwas wie eine Bewegung für Musik gibt, so ist sie
jedenfalls bei weitem zu schwach, um da noch etwas aus dem
Boden zu stampfen. Einige Jahre lang, als die Arbeiterbewe-
gung in Deutschland stark war, verschaffte sie sich unter an-
derm auch leidig gute Texte für ihre Musik.

Über die Lyrik und den Staat


Destruktive und anarchistische Lyrik spiegelt gewiß eine de-
struktive und anarchistische Gesellschaftsordnung wider, ist von
ihr »angesteckt«, zeugt von ihr — aber zugleich destruiert sie
oft diese destruktive Gesellschaftsordnung, welche ja darauf an-
gewiesen ist, sich als konstruktiv hinstellen zu lassen, und der
Ruf nach »keiner Herrschaft« mag insofern der bestehenden die-
nen, als er den Ruf nach einer besseren übertönt, jedoch ist dies
immerhin ein Bärendienst, und die Herrschenden nehmen ihn
entsprechend auf.
408 Zur Literatur und Kunst

Nicht alle menschliche Produktivität geht in die ja immer be-


schränkte aktuale Produktion ein. Die nicht unmittelbar ein-
gehenden Elemente aber fallen nicht etwa nur nebenhinaus, son-
dern sie widersprechen, sind nicht nur bedeutungslos, sondern
lästig. So kann nur ein sehr weit gespannter Plan sie berück-
sichtigen, und sehr feine Ohren für das Produktive sind nötig.
Es ist ein Kunststück, sie vor Zerstörung zu bewahren, das
heißt davor, daß sie zerstören, und davor, daß sie zerstört wer-
den.

Der Staat schädigt die fürstaatliche Literatur, wenn er die ge-


genstaatliche unterdrückt, er entmündigt, entzahnt, entsach-
licht sie.

Die Schönheit in den Gedichten des Baudelaire


[Notizen]
Baudelaire ist der Dichter des französischen Kleinbürgertums
einer Epoche, wo schon feststand, daß die Bütteldienste, die es
der Großbourgeoisie bei der blutigen Unterdrückung der Ar-
beiterklasse geleistet hatte, nicht belohnt werden würden. Das
ist das Lied des Hahnes, das aus drei Strophen besteht.
Die Armut, das ist bei ihm die des Lumpensammlers; die Ver-
zweiflung die des Parasiten, der Hohn der des Schnorrers.
Die Moderne, die eine Antike werden sollte, wurde denn auch
nur eine Antiquität, eine Kleinantike. Er drückt in keiner Weise
seine Epoche aus, nicht einmal zehn Jahre. Er wird nicht lange
verstanden werden, schon heute sind zu viele Erläuterungen
nötig. Seine Wörter sind gewendet wie abgetragene Röcke,
wieder »wie neu«. Seine Bilder sind wie eingerahmt, und alles
ist überstopft. Das, was erhaben sein soll, ist nur gespreizt. Man
nehme ein Gedicht wie das III. des Zyklus »Die kleinen alten
Frauen«, das eines seiner besten ist.
Es ist schon heute komisch, nicht im schlechten Sinn, es ist ein
Zur literarisdien Arbeit 409

gutes komisches Gedicht; aber wieviel Geschichte muß man


kennen, um das zu sehen, um da zu lachen. Es zeigt nicht etwa
die Demagogie des falschen Bonaparte, es lebt nur von ihr. Es
ist charakteristisch, daß ich, das Gedicht übersetzend, den
Marmor am Schluß, aus dem die Stirn der Alten gemacht
sein soll, nicht mehr über die Lippen brachte. Heute scheißt
schon jeder Kleinbürger auf Marmor, die Toiletten sind draus
verfertigt.
Die Nervosität seiner Gedichte wäre nicht schlecht, es wird
weiter Großstädte geben, aber es ist zu sehr die Nervosität des
schlechten Gewissens, zu einer Zeit, wo es Leute mit gar kei-
nem Gewissen gab, abgesehen von denen mit gutem. Dafür ent-
schädigt der Zynismus nicht. Und die große Verwirrung ist
nicht eigentlich Gegenstand dieser Gedichte, sondern ihr Schick-
sal.
Und wie zerfrißt der Ehrgeiz diesen Zyniker!

Man beachte den Titel »Fleurs du Mal«, das ist mit »Blumen
des Bösen« nicht ganz zutreffend übersetzt. Es heißt ebensogut
»Blumen des Schlechten«. Aber bei der letzteren Übertragung
würde ein Moment des Aktiven, Produktiven, Erfinderischen
wegfallen, ein heroisches Moment. Darin liegt aber doch eine
Verbeugung vor der Moral.

Unter dem dritten Napoleon ist die Armee »nicht mehr die
Blüte der Bauern jugend, sie ist die Sumpf blume des bäuerlichen
Lumpenproletariats. Sie besteht großenteils aus Rempla-
cants . . ., wie der zweite Bonaparte selbst nurRemplac^nt, der
Ersatzmann für Napoleon ist«. (Marx)
Die mit den Söhnen verarmter Bauern besetzten Blechkapel-
len, die ihre Weisen für die arme Stadtbevölkerung tönen las-
sen. (Benjamin)

Baudelaire, das ist der Dolchstoß in den Rücken Blanquis.


Blanquis Niederlage ist sein Pyrrhussieg.
410 Zur Literatur und Kunst

Hier trifft man die »Stimmung«, die eine Trance ist. Und auf
die die Desillusion folgt, wie auf den Rausch der Katzenjam-
mer. (Es gibt andere Stimmung.)

Wenn es erlaubt sein sollte, für einen Augenblick und mit allen
Reservaten, den dritten Napoleon mit Cäsar zu vergleichen,
so wäre Baudelaire die hier fällige katilinarische Existenz,
welche »Armut, Schande und Prozesse so weit gebracht
haben«.

Das Brüchige hat eine gewisse Schönheit, mitunter, aber es


bricht auch, und zwar immer.

Die Laster, die bei ihm vorkommen und die er anpreist, hat er
kaum ausgeübt, er war wohl auch dazu zu impotent. Er war
weniger ein Opfer als ein Verkäufer von Rauschgiften. Übri-
gens, die Nekromantie stört den Kommerz nicht sonderlich,
sie ist ein verzeihliches Laster.

Es gibt das Proletariat, und es gibt das Lumpenproletariat,


den Cäsarismus und den Lumpencäsarismus.

»Blumen des Bösen«, das klingt anders als »Sumpfblüten«.


Hier liegt das Schöpferische.

Mitunter setzt, bei gewissen Ideologen, der Typus Baudelaire


seinen Anspruch auf »moralfreie« Beurteilung durch. Aber
er ist selbst schuld, wenn bei vernünftigen Leuten (die ihre
Vernunft tätlich umsetzen) sein Fall als ein moralischer dis-
kutiert wird. Er lebt nicht nur von der Unmoral, sondern
auch von der Moral. Er verkauft eben Schocks. Er gibt nicht
nur fanatisches Moralisieren, sondern auch fanatisches Amo-
ralisieren.
Zur literarischen Arbeit 411

[Notizen zur Arbeit]

1 Über Plagiate
Ein wenig borgen bei einem oder einigen andern zeigt Beschei-
denheit; welch eine Ungeselligkeit, sich ganz allein vorwärts
bewegen zu wollen! Für einen Mann der Literatur schickt es
sich, seinen Freunden und Lesern Bekanntschaften nicht nur aus
dem Leben, sondern auch aus der Literatur vorzustellen: Diese
vermischen sich überhaupt für ihn. Jemand, der den Wert eines
guten Ausdrucks kennt, wird ihn lieber übernehmen, als das-
selbe noch einmal anders auszudrücken (wenn es wirklich das-
selbe ist) und dadurch einen neuen Ausdruck zu schaffen, der
entweder hinter dem alten zurückbleibt oder ihn beschämt.
Außerdem ist es für Stile nicht weniger gut, sich zu mischen,
wie für Menschen verschiedener Rasse. Und sollte das Plagiie-
ren ungünstig beurteilt werden, so steht es größeren Werken
nur gut an, einige Flecken zu haben, denke ich.

2 Über ästhetische Gesetze


Die Ansicht Anatole France', daß man für Romane keine Ge-
setze und Regeln anerkennen sollte, da sie zu alt dafür seien,
muß man auch für Dramen propagieren. Dennoch gibt es so
etwas wie Techniken, die man ernster nehmen muß.
Kunstwerke haben das Recht, intelligenter zu sein als die wis-
senschaftliche Psychologie ihrer Zeit, aber nicht das Recht,
dümmer zu sein.
Ein Werk, das der Realität gegenüber keine Souveränität zeigt
und dem Publikum der Realität gegenüber keine Souveränität
verleiht, ist kein Kunstwerk.
Das einzige, was die Philosophen zu schlechtem Kunstpubli-
kum macht, ist, daß ihnen häufig die Fähigkeit abgeht, sich zu
langweilen. Sie benötigen eigentlich keine Kunst.
412 Zur Literatur und Kunst

3 Über die Klassen


Wenn es für meine Klasse (die bürgerliche) noch irgendeine
Möglichkeit gegeben hätte, die auftauchenden Fragen gründlich
zu lösen - ich bin überzeugt, daß ich dann nur wenig Gedanken
an das Proletariat verloren hätte. Zu meiner Zeit konnte sie
die Fragen nicht einmal mehr gründlich stellen.
Das Mitleid hat mich nicht geführt. Ich hatte kein Mitleid mit
dem Proletariat, ich habe auch keines für das Bürgertum.
Die Dialektik bietet die Möglichkeit, ohne Aufgabe der Partei-
lichkeit die beiden Parteien völlig zu Wort kommen zu lassen.
Wie soll man ohne sie kämpfen können?

4 Zustimmung
Als ich von der bürgerlichen Klasse, wo ich keine Zustimmung
erhalten hatte, zur proletarischen überging, erhoffte ich mir
auch dort nicht diese Zustimmung. (Ich hatte die bürgerliche ja
nicht wegen des Fehlens der Zustimmung verlassen.) Ich er-
hoffte mir jedoch und erlangte auch einen aussichtsreichen
Streit, das heißt, dort hatte es sowohl Sinn, zu lehren, als auch
Sinn, zu lernen.

5 Formalismus
Gewisse Ideologen der proletarischen Klasse hatten gewisse
hochkultivierte Formen nur in Verbindung mit idealistischen,
für das Proletariat zweifellos schädlichen Werken beobachtet;
sie lehnten solche Formen deshalb ab. Sie beschimpften mich als
formalistisch und waren selber die Formalisten. Meiner Mei-
nung nach sollten sie ihrem Geschmack ein wenig mißtrauen
und nur solche Formen bekämpfen, deren Schädlichkeit in ge-
sellschaftlicher Hinsicht sie darlegen konnten. Ansprüche soll-
ten sie hauptsächlich hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktion
der Kunstwerke stellen. Lange Zeit hielten sie eigentlich nur
Zur literarischen Arbeit 413

Photographien für realistisch, wenn sie auch dann von den


Photographien allerlei verlangten, was sie nicht leisten konnten.
Ihre Forderung hätte lauten sollen: Meisterung der Realität. An
dieser Forderung hätten sie alles messen können, auch das For-
male, denn der Künstler kann die Realität nicht meistern,
wenn er formal fehlt.

6 Das Naive
Die Naivität ist sowohl eine Eigenschaft der Greise wie auch der
Kinder. Und der Mann ist, der das Kind und den Greis in sich
enthält. Man trifft die Naivität in der Verfallszeit einer Kul-
tur, und das ist auch oft die Entstehungszeit der sie ersetzen-
den Kultur. Diese ist dann auch naiv. Die Verfallenden kennen
die Schönheit der Naivität, die Aufsteigenden haben sie.

7 Über Fortschritte
Es befriedigt mich, die Fortschritte, die ich erzielt zu haben
glaube, als auf dem Rückzug erfochten mir vorzustellen. Vor-
ausgegangen waren dem Rückzug immer, oder fast immer,
Vorstöße. Ich begann zum Beispiel mit den einfachsten, ge-
wöhnlichsten Arten der Lyrik, dem Bänkelsang und der Bal-
lade, Formen, welche von den besseren Dichtern schon längst
nicht mehr gepflegt wurden. Ich zog mich zurück auf den freien
Vers, als der Reim nicht mehr ausreichte für das, was zu sagen
war. Im Drama fing ich an mit einem fünfaktigen Stück mit
einer Mittelpunktsfigur, einem plot ältester Art (dem Enoch-
Arden-Motiv) und einem aktuellen Milieu. Nach einiger Zeit
war ich so weit, daß ich sogar die Einfühlung aufgab, an die
selbst die weitest Fortgeschrittenen noch fest glaubten. Ich gab
das Alte, bei aller Liebe zum Neuen, nicht ohne zähes Daran-
festhalten bis zum Scheitern auf. Als ich für das Theater mit der
Einfühlung mit dem besten Willen nichts mehr anfangen
konnte, baute ich für die Einfühlung noch das Lehrstück. Es
414 Zur Literatur und Kunst

schien mir zu genügen, wenn die Leute sich nicht nur geistig
einfühlten, damit aus der alten Einfühlung noch etwas recht
Ersprießliches herausgeholt werden konnte. Übrigens habe ich
nie etwas von Revolutionären gehalten, die nicht Revolution
machten, weil ihnen der Boden unter den Füßen brannte.

8 Ein Fehler?
Ich habe immer nur Widerspruch ertragen.

9 Liebe zur Klarheit


Meine Liebe zur Klarheit kommt von meiner so unklaren
Denkart. Ich wurde ein wenig doktrinär, weil ich dringend
Belehrung brauchte. Meine Gedanken verwirren sich leicht,
das auszusprechen beunruhigt mich gar nicht, die Verwirrung
beunruhigt mich. Wenn ich etwas gefunden habe, widerspreche
ich sogleich heftig und stelle unter Kummer gleich wieder alles
in Frage, dabei freute ich mich eben vorher noch kindisch, daß
wenigstens etwas mir einigermaßen gesichert schien, wie ich
mir sagte, für bescheidene Ansprüche. Solche Sätze wie der,
daß der Beweis für den Pudding im Essen liege, oder der,
daß das Leben die Daseinsweise des Eiweißes sei, beruhigen
mich ungemein, bis ich von neuem in Ungelegenheiten gerate.
Auch Szenen, die zwischen Menschen vorfallen, schreibe ich
eigentlich nur auf, weil ich mir sie sonst nur so sehr undeutlich
vorstellen kann.

10 Gläubigkeit
Die Gläubigkeit der proletarischen Klasse an ihren Endsieg
gefällt mir sehr. Ihre damit eng verbundene Gläubigkeit an
so manches andere, was man ihnen sagt, beunruhigt mich
allerdings.
Zur literarisdien Arbeit 415

11 Decadence
Wenn man mich nach einem dekadenten gräflichen Offizier des
vorigen Jahrhunderts fragte, würde ich wohl Tolstoi nennen.
»Krieg und Frieden« würde ich allerdings kaum anführen,
wenn man mich nach einem typischen Werk »der« Decadence
fragte. Die Geschichte tut unseren literarischen Schubfachver-
waltern nicht den Gefallen, den Abstieg und den Aufstieg sorg-
fältig voneinander zu trennen, den zweiten pünktlich nach
dem ersten anzusetzen und in der Literatur für den Aufstieg
einen neuen Vertreter zu ernennen. Sie verfährt entsetzlich
schlampig und bringt alles durcheinander. Um in die Schub-
fächer zu gehen, müssen die literarischen Werke tüchtig be-
schnitten werden. Ich sah einmal im Film Chaplin einen Kof-
fer packen. Was am Schluß drüber hinaushing, Hosenbeine
und Hemdzipfel, schnitt er einfach mit einer Schere ab.

12 Realistische Kritik
Nach der Kritik, die mich großartig findet und zum Beweise
möglichst viele Gründe anführt, habe ich am liebsten die Kri-
tik, die mir meine Fehler nachweist und ebenfalls möglichst
viele Gründe anführt. Man sieht, ich bin der Kritik gegenüber
wählerisch. Ungern höre ich, daß ich meinen Bericht von einem
bestimmten Vorfall plastisch in den Einzelheiten, übersichtlich
im Gesamtverlauf gehalten, mit Humor schmackhaft gemacht
und mit schöner Stimme vorgetragen hätte, daß aber der
Vorfall sich anders abgespielt habe. Und ungern höre ich, daß
ich nicht realistisch geschrieben hätte, was daraus hervorgehe,
daß bekannte realistische Schriftsteller anders schrieben - und
von meinem Vorfall ist überhaupt nicht die Rede, [...] da-
von, ob ich ihn wirklichkeitsgemäß beschrieben habe oder
nicht. Die Fabel muß so und so gebaut sein, die Charakte-
ristik der Personen muß auf die und die Weise erfolgen, an
menschlichen Konflikten müssen soundso viele vorhanden
416 Zur Literatur und Kunst

sein und so weiter und so weiter. So verfahrende Kritiker


lassen mich befürchten, daß sie gar nicht möglichst realistische
Schilderungen, das heißt Schilderungen, die der Wirklichkeit
gerecht werden, haben möchten, sondern daß sie im Kopf ganz
bestimmte Erzählungs- und Beschreibungsformen haben, de-
nen sie die Wirklichkeit unterworfen sehen wollen. Sie fragen
sich nicht, ob sie in einer Beschreibung die Wirklichkeit wieder-
finden, sondern eine bestimmte Beschreibungsart. Die Beschrei-
bung der sich ständig verändernden Welt erfordert immer neue
Mittel der Darstellung. Die neuen Mittel der Darstellung
muß man nach ihrem Erfolg dem jeweiligen Objekt gegenüber
beurteilen, nicht an sich, losgelöst von ihrem Objekt, durch den
Vergleich mit alten Mitteln. Man muß die Literatur nicht von
der Literatur aus beurteilen, sondern von der Welt aus, zum
Beispiel von dem Stück Welt aus, das sie behandelt. Aus der
Literaturgeschichte soll man nicht eine Geschichte der Be-
schreibungsarten der Welt machen, einen Roman des Dos Pas-
sos soll man nicht mit einem Roman des Balzac konfrontieren,
sondern mit der Wirklichkeit der New Yorker Slums, die Dos
Passos beschreibt. Ein Kritiker, der so vorgeht, wird nicht nur
hinschreiben, daß Dos Passos etwa sich eines schriftstellerisch
abstrakt-revolutionären »Utilitarismus« schuldig gemacht
habe, sondern er wird das beweisen, realistisch, indem er seine
eigene Analyse des geschilderten Wirklichkeitsausschnittes
gibt und die Fehler des Abbildes nennt. Seine Kritik wird dann
nicht selber Wirklichkeitsfremdheit atmen und völlig entleert
von allem Realen sein. Was für einen Sinn soll alles Reden von
Realismus haben, wenn darin nichts Reales mehr auftaucht?
(Wie in gewissen Essays Lukacs\)

Etwa
Zur literarisdien Arbeit 417

Über realistisches Schreiben


Wenn es richtig ist, daß realistisch Schreiben nur eine bestimmte
Form realistischen Handelns ist, dann muß der Schreibende,
um realistisch zu schreiben, sich all dem gegenüber, was zu
seinem Schreiben gehört, realistisch betragen.
Er wird nicht nur sein Augenmerk auf diejenigen Handlungen
richten müssen, die eine Kritik der Zustände bedeuten, eine
praktische, praktizierte Kritik, Umänderung, Verbesserung der
Zustände, sondern er wird auch dem Schreiben gegenüber kri-
tisch sein müssen.
Wenn er zum Beispiel eine Stube beschreibt, wird er einerseits
etwas von der Souveränität ausüben müssen, die der tatsäch-
liche Einrichter der Stube ausgeübt hat oder die die verschie-
denen aufeinanderfolgenden Einrichter ausgeübt haben. In
seiner Schilderung muß etwas von diesem eine Stube bauen-
den, mietenden, einrichtenden Geist sein. Andererseits wird er
die gewöhnlichen Schilderungen praktisch kritisieren müssen;
dies kann durch seine Schilderung allein geschehen, indem
er eben anders schildert, mit einem Blick auf die abgenützten
Schemas.

Beobachtung
[...] Man wird merken, daß die meisten Schriftsteller, da
sie die reiche Skala der Mimik und Gestik ihrer Figuren nicht
beherrschen, alles in das gesprochene Wort stopfen. Man soll
alles aus dem gesprochenen Dialog heraushören, was man in
Wirklichkeit nur sieht. Die Gespräche werden dadurch plump
und unnatürlich. Mitteilungen an den Leser. (Unsere Mutter,
die, wie du, liebe Schwester, weißt, neulich 60 Jahre alt ge-
worden ist .. .) In Wirklichkeit folgen sich Frage und Ant-
wort nicht unmittelbar. Der Faden wird weitergesponnen,
indem er verloren wird, und so weiter. Wenn es sich nur.
418 Zur Literatur und Kunst

um den Inhalt handelt, sollte man die indirekte Rede be-


nutzen.
Die guten Charakteristiken sind diejenigen, die, was sie geben,
als Teile des Ganzen geben, so, daß man aus den Teilen auf
die anderen Teile schließen kann. Der Leser muß den Mann
dann selbständig behandeln können, ihn in andern Lagen als
den beschriebenen sich vorstellen können und so weiter. Wenn
man dazu zuwenig gibt, sollte man andeuten, daß die Figur
nicht erschöpfend beschrieben ist.

[Verantwortung für eine Übertragung]

[Brief an einen Verleger]


Sehr geehrter Herr D.!
Wir erhielten die Bemerkungen Ihres Lektors zu unserer Nexö-
Ubersetzung. Wir haben uns fest vorgenommen, uns durch
den schulmeisterlichen Ton nicht verletzen zu lassen und dar-
über hinwegzusehen, daß die Form nicht die einer Mitarbeit
ist, sondern eines kurzsichtigen Nachweises der Unmöglichkeit
unserer Übersetzung. Es sind tatsächlich nur »Beispiele heraus-
gegriffen«, leider unglückliche Beispiele. Bedauerlicherweise
haben wir, da wir gerade nach Schweden umziehen, die Ma-
nuskripte nicht zur Hand, müssen uns also ausschließlich an
die Bemerkungen Ihres Lektors halten.
Es ist schwer, damit etwas anzufangen. Nehmen wir gleich die
erste Ausstellung. Was spricht gegen einen Ausdruck wie »wo
sie sich in neuer Inkarnation etablierte«? Das von Ihrem Lek-
tor vorgeschlagene »in neuer Gestalt niederließ« ist völlig
humorlos, blaß und gibt den Nexöschen Sinn nicht wieder.
Handelt es sich einfach um einen Abscheu vor Fremdwörtern,
so kann ich nur sagen, daß ich den nicht teile. Karl Kraus hat
über dies Thema meiner Meinung nach Klassisches formuliert.
Ein anderes »Beispiel«. Anstatt:
Zur literarischen Arbeit 419
»und einige Erleichterung erlangt, was mein zu Zeiten recht be-
drückendes (nicht bedrücktes!) Verantwortungsgefühl angeht«
schlägt Ihr Lektor vor:
»Erleichterung meines zu Zeiten recht bedrückten Verantwor-
tungsgefühls erlangt.«
Das Verantwortungsgefühl kann aber nicht erleichtert werden,
dagegen kann ich, was mein Verantwortungsgefühl angeht, Er-
leichterung erlangen. Der Vorschlag Ihres Lektors ist einfach
falsch.
»Den Sack dazu zu bewegen«
scheint mir lustiger als:
»Den Sack dazu zu bringen«,
und zwar gerade, weil »dazu bewegen« geistig beeinflussen
heißt.
»Erschreckender Faulheit seitens der Arbeiter«
braucht unbedingt das »seitens«, weil hier von einem ganz
bestimmten, »objektiven« Standpunkt aus Klage geführt wird,
daß die Arbeiter, die doch schließlich alles produzieren, nicht
genügend Fleiß ins gemeinsame Geschäft bringen. Da ich den
Text, wie gesagt, nicht vor mir habe, kann ich nicht genauer
darauf eingehen, aber nie werde ich glauben, daß bei Nexö
irgendwo steht »erschreckender Faulheit der Arbeiter« ohne
das »seitens«, das aus gesinnungsmäßigen Gründen nicht
fehlen kann.
Es kann auch nicht heißen:
»wollte ich nicht mit Schreien aufhören«,
es muß heißen:
»wollte ich nicht mit dem Schreien aufhören«,
und wenn sich Ihr Lektor auf den Kopf stellt.
Ich habe keine Lust, auseinanderzusetzen, warum »von der
Zeit, wo« und »Herr zu werden, wie andere Leute zu werden«
erlaubt beziehungsweise besser ist.
Was aber die Korrekturen im Manuskript betrifft, so hat
Ihr Lektor Pech: Die beanstandeten Änderungen stammen
nicht von uns, wie er zu glauben scheint, sondern von Nexö.
420 Zur Literatur und Kunst

Was Ihrem Lektor »stärker« erscheint, war Nexö zu frei for-


muliert.
Da wir an einen Vorabdruck dachten, haben wir vor einiger
Zeit die »Erinnerungen« noch einmal überprüft. Wenn Sie Ihr
dortiges Manuskript zurückschicken, könnten wir die Ände-
rungen eintragen, so daß Korrekturen in den Fahnen erspart
blieben.
Im ganzen aber erneuern wir unseren Vorschlag, die Verant-
wortung für die Übertragung ruhig uns zu überlassen.
Es tut uns leid, daß der aggressive Ton und die sachliche
Schwäche der Bemerkungen Ihres Lektors eine Zusammen-
arbeit mit ihm unmöglich macht. Ehrlich gesagt, erscheint
sie uns auch völlig überflüssig. Wir werden bei der letzten Kor-
rektur auch die allerakademischsten Forderungen in Betracht
ziehen, was aber nicht unbedingt heißt, sie zu befriedigen.
Im übrigen bitte ich Sie, nicht ganz die Absurdität der Situa-
tion aus den Augen zu verlieren. Wenn ich bei meinen Original-
arbeiten Standpunkte wie den Ihres Lektors zu berücksich-
tigen hätte, dann würden sie ja schön aussehen.
Mit bestem Gruß!
23. Mai 1939

Der regelmäßige Jambus im Drama


Selbst in Meisterhänden vergewaltigt der regelmäßig gebaute
Jambus Sprache und Gestus. Als Beispiel Goethes »Tasso«,
11.4.
Tasso und Antonio sind in Streit geraten und stehen mit ge-
zogenen Degen, als Alfons, der Fürst, dazwischentritt.
ALFONS
In welchem Streit treff ich euch unerwartet?
Die Antwort kann nur sein: in diesem. Wie schief der Satz
(und wie unsprechbar er also) ist, ergibt sich, wenn man ihn
umbaut in: Im Streit um was treff ich euch unerwartet?
Zur literarischen Arbeit 421 —

ANTONIO
Du findest midi, o Fürst, gelassen stehn
Vor einem, den die Wut ergriffen hat.
Es muß entweder heißen: Du siehst mich gelassen stehn, oder:
Du findest mich gelassen stehend.
TASSO
Ich bete didi als eine Gottheit an,
Daß du mit einem Blick mich warnend bändigst.
Diese Replik ist beinahe nicht zu bringen, da sie nichts enthält,
woran der Schauspieler den Übergang von äußerster Wut zu
gefälligem Argumentieren vollziehen könnte. Die Bändigung
wird so sehr als vollzogen geschildert, daß der Gebändigte
nur noch eine Dankadresse an seinen Bändiger zu richten hat.
Die Glätte der Verse entspricht der Stromlosigkeit des Auf-
tritts.
ALFONS
Erzähl, Antonio, Tasso, sag mir an,
Wie hat der Zwist sich in mein Haus gedrungen?
Wie hat er euch ergriffen, von der Bahn
Der Sitten, der Gesetze kluge Männer
Im Taumel weggerissen? Ich erstaune.
Was für eine unglückliche Konstruktion! Nach »wie hat er
euch ergriffen« ergänzt man bei »von der Bahn der Sitten,
der Gesetze« natürlich »euch«, der eigentliche Akkusativ
»kluge Männer im Taumel« kommt unerwartet, der »Taumel«
geht auf den »Zwist«, in den sich der »Streit« unmotiviert
verwandelt hat. Ein paar Zeilen weiter oben hat schon die
»Wut« jemand »ergriffen«. Und das Haus des Fürsten, in das
sich der Zwist eingedrungen hat, besitzt eine Bahn, von der er
kluge Männer wegreißen kann. Wir erstaunen nicht weniger
als der Fürst.
Etwa 1941, fragmentarisch
Anmerkungen zu Gedichten

[Vorbemerkungen zu Gedichten für


ein Rezitationsprogramm]

[Zur »Legende vom toten Soldaten«]


Die »Legende vom toten Soldaten« wurde während des Krie-
ges geschrieben. Im Frühjahr 1918 durchkämmte der kaiser-
liche General Ludendorff zum letztenmal ganz Deutschland
von der Maas bis an die Memel, von der Etsch bis an den Belt
nach Menschenmaterial für seine große Offensive. Die Sieb-
zehnjährigen und die Fünfzigjährigen wurden eingekleidet
und an die Fronten getrieben. Das Wort kv, welches bedeutet
kriegsverwendungsfähig, schreckte noch einmal Millionen von
Familien. Das Volk sagte: Man gräbt schon die Toten aus für
den Kriegsdienst.

[Zu »Das Lied vom SA-Mann«]


Vierzehn Jahre später war ich gezwungen, wieder ein ähnliches
Gedicht zu schreiben, die »Ballade vom SA-Mann«. Der Fa-
schismus bewaffnete einen Teil der Hungernden gegen alle üb-
rigen Hungernden. In der SA der Nationalsozialisten mar-
schierte der Bruder gegen den Bruder. Diese Ballade wurde in
einer »Roten Revue« im Jahre 1932 in Berlin und dann an
vielen Orten von dem proletarischen Sänger Ernst Busch ge-
sungen. Sie wurde auch auf Schallplatten aufgenommen, und
solche Platten existieren, wie wir gehört haben, heute noch
in Deutschland in Proletarierwohnungen.
Zur literarisdien Arbeit 423

[Zu den »Wiegenliedern«]


Die beiden »Wiegenlieder für proletarische Mütter« wurden in
vielen Veranstaltungen gesungen, und zwar von der Darstelle-
rin der Pelagea Wlassowa in der deutschen Dramatisierung
von Gorkis »Mutter«.

[Zu »Die Teppichweber von Kujan-Bulak ehren Lenin«]


Das Gedicht über die Ehrung Lenins in Kujan-Bulak stammt
aus einem Zyklus von Episoden aus der Geschichte des Prole-
tariats. Es zeigt eine der vielen großen neuen Gesten des
durch seine Revolution befreiten russischen Proletariats.

[Zu den literarischen Sonetten]


Die vierte Lektion (literarische Sonette) ist für die wenigen
Leser bestimmt, welche niedrige Motive noch in den erlesensten
Kunstgebilden zu schätzen wissen, für Leser, welche imstande
sind, Werke der Vergangenheit nicht zu verstehen. Jedoch mag
erinnert werden daran, daß, wie das Volk sagt, mit siebzehn
auch der Teufel einmal schön war.

[Über das Kinderlied


»Das Kind, das sich nicht waschen wollte«]
Das Gedicht »Das Kind, das sich nicht waschen wollte« schil-
dert den märchenhaften Glücksfall, der einer armen Mutter
begegnet, welche ihrem Kind mit ständigen Ermahnungen lä-
stig gefallen ist: Der Kaiser persönlich kommt zu Besuch, so
daß für das Kind, das ihn gern gesehen hätte, ein wirklicher
Nachteil aus der Vernachlässigung seines Äußeren entsteht.
424 Zur Literatur und Kunst

[Anmerkungen zu den »Chinesischen Gedichten«]


Sämtliche Gedichte sind ohne Zuhilfenahme der chinesischen
Originale übertragen, die ersten sechs aus der wörtlichen eng-
lischen Nachdichtung Arthur Waleys, die beiden letzten nach
wörtlichen Übersetzungen von Wu-an und Fritz Jensen. Die
Originale sind auf chinesische Art gereimt, das heißt auf Vo-
kale. Die deutsche Übertragung benutzt die unregelmäßigen
Rhythmen der »Deutschen Kriegsfibel«. Ein Teil der dichte-
rischen Schönheit der Originale besteht im Schriftbild, der Aus-
wahl und Zusammenstellung der symbolischen Schriftcharak-
tere; er kann natürlich nicht gerettet werden.
Die vier Gedichte »Die große Decke«, »Der Blumenmarkt«,
»Der Politiker« und »Der Drache des schwarzen Pfuhls« sind
von Po Chü-i, einem der größten Meister der chinesischen
Lyrik. Er stammte aus einer armen Bauernfamilie und wurde
selbst Beamter. »Wie Konfuzius betrachtete er die Kunst als
eine Methode, Belehrung zu vermitteln« (Waley). Bei den
großen Lyrikern Li Tai-po und Tu Fu rügte er einen Mangel
an Feng (Kritik an den Herrschenden) und Ya (Moralische An-
leitung für die Massen). Von sich sagt er: »Wenn die Tyrannen
und Günstlinge meine Lieder hörten, sahen sie einan-
der an und verzogen die Gesichter.« Seine Lieder waren
»im Mund von Bauern und Pferdeknechten«, sie standen
geschrieben »auf den Wänden von Dorfschulen, Tempeln
und Schiffskabinen«. Er wurde zweimal ins Exil geschickt. In
zwei langen Denkschriften, betitelt Ȇber das Abstoppen
des Krieges«, kritisiert er einen langen Feldzug gegen einen
kleinen Tatarenstamm, und in einem Zyklus von Gedichten
satirisierte er die Räubereien der Beamten und lenkte die Auf-
merksamkeit auf die unerträglichen Leiden der Massen. Als
der Kanzler von Revolutionären getötet wurde, kritisierte er
ihn, weil er nichts getan hatte, die allgemeine Unzufriedenheit
zu lindern, und wurde verbannt. Sein zweites Exil verdankte
er seiner Kritik des Kaisers, dessen Mißregierung er für die
Zur literarischen Arbeit 425

Umstände verantwortlich machte. Seine Gedichte sind in ein-


fachen Wörtern, jedoch sehr sorgfältig geschrieben. Es geht die
Sage, Po Chü-i habe viele einem alten Bauernweib vorgelesen,
um festzustellen, wie verständlich sie waren.
Das Gedicht »Gedanken bei einem Flug über die Große
Mauer« wurde von Mao Tse-tung geschrieben, als er zu poli-
tischen Verhandlungen nach Südchina flog.
August 1938

[Das Sonett Ȇber Goethes Gedicht


>Der Gott und die Bajadere<«]
Das Sonett Ȇber Goethes Gedicht >Der Gott und die Baja-
dere^ mag als ein Beispiel gelten, wie die Dichter verschie-
dener Epochen einander beerben. Mit Zorn sieht der Dichter
einer späteren Epoche den Käufer der Liebe als Gott hin-
gestellt. Sein Wunsch, geliebt zu werden, scheint ihm verurtei-
lungswert und zum Lachen. Aber dem guten Leser wird das
frühere Gedicht durch das spätere nicht verleidet. Es ist nicht
weniger kämpferisch. Es bezeichnet die freie Vereinigung von
Liebenden als etwas Göttliches, das heißt Schönes und Natür-
liches, und wendet sich gegen die formelle, von Standes- und
Besitzinteressen bestimmte Vereinigung der Ehe. Es kämpft
gegen das Vorurteil der Kasten. Daher ist es so lebendig und
lieblich und kann mit Freude gelesen werden. Jedoch meldet
das spätere Gedicht einen Einspruch an gegen das Opfer, das
hier verlangt wird, bevor der Preis zuerteilt werden soll. So
tobt die Schlacht hin und her.
1940

Aus den Reisen in die Neuzeit


Nach den großen Kriegen waren in der Stahlkammer einer
faschistischen Staatsbibliothek mit anderer entarteter Literatur
426 Zur Literatur und Kunst

auch meine Werke entdeckt worden. Man errichtete mir ein


Reiterstandbild auf einem Kinderspielplatz. Ich beeilte mich,
es zu besichtigen.
Im großen und ganzen war ich befriedigt von der Statue.
Der Künstler hatte einen freundlichen Ausdruck gewählt, wie
ich hörte, auf Wunsch der Kommission. Ich verstand, daß dies
eine Ehrung bedeutete; man hatte meine freundliche Gesin-
nung den kommenden Geschlechtern gegenüber anerkannt.
»Warum das Pferd?« fragte ich meinen Begleiter.
»Das deutet an, daß er aus dem Altertum stammt«, war die
Antwort. »Unter uns, es hat noch einen andern Grund. Die
Pferde sind ganz ausgestorben. Man hat mit der Statue hier
zwei Fliegen auf einen Schlag treffen wollen, indem man auch
die Gestalt dieses Tieres der Erinnerung bewahrte.«
Aufsätze zur Literatur
1934 bis 1946
[Über Asphaltliteratur]

Lion Feuchtwanger zum 50. Geburtstag


Lieber Feuchtwanger, . . . warum sollen wir also nicht das
Wort »Asphaltliteratur« ruhig akzeptieren? Was spricht gegen
den Asphalt, außer diesen Unheilbaren, denen kein »Heil!«
helfen kann? Nur der Sumpf erhebt Anklage gegen seinen gro-
ßen, schwarzen Bruder, den Asphalt, den geduldigen, saube-
ren und nützlichen. Wir sind doch wirklich für die Städte, viel-
leicht nicht für ihren jetzigen Zustand, wobei unter »jetzig«
beileibe nicht etwa nur die letzten zwei Jahre gemeint sind!
Wir erwarten uns nichts, keine mindeste Unterstützung von
seiten der Scholle, und wir wissen genau, daß die großen
Weizenfelder Ohios und der Ukraine von den »Bluboleuten«
kaum als Scholle angesehen werden; ohne Verzug würden wir
sie aber vorziehen den kleinlich zerschnittenen und verwinkel-
ten Äckerchen unserer zurückgebliebenen deutschen Landwirt-
schaft, die ihren Bebauern so viel Kraft entziehen, daß sie mit
40 Jahren wie Greise aussehen. Wir müßten natürlich den
Titel »Asphaltliteratur« nur verleihen solchen Werken, die we-
nigstens ein bestimmtes Minimum jener bürgerlichen rationel-
len Vernünftigkeit enthalten, welche die Werke der Swift, Vol-
taire, Lessing, Goethe und so weiter in so hohem Maße aus-
zeichnet. Sie verstehen mich: Man würde dann eine Zeitlang
überhaupt alles, was Literatur ist, Asphaltliteratur nennen
müssen. Von allem Schrecklichen, Verkrampften, Unvernünf-
tigen, Formlosen, Unbegabten würde man sagen müssen, es
habe mit Asphaltliteratur nichts zu tun. Die gegenwärtigen
legalen Druckerzeugnisse des Dritten Reiches, dieser kümmer-
liche Zweig des internationalen Rauschgifthandels, könnte na-
türlich in keinem einzigen Exemplar zur Asphaltliteratur ge-
rechnet werden. Alles, was mit diesem »Blut« zusammenhängt,
43° Zur Literatur und Kunst

das vergossen wird und vergossen werden soll, und diesem Bo-
den, der natürlich der gute alte berüchtigte Boden der Tatsa-
chen ist, auf den sich die Kopflanger der Unterdrücker gestellt
haben, ist nie und nimmer Asphaltliteratur. Fälle von Mi-
mikry müßten schonungslos aufgedeckt und verfolgt werden,
verwenden doch gewisse Schreiber heute Form und Ausdrucks-
weise, die der Asphaltliteratur, das heißt eben der Literatur
schlechthin, der großen europäischen Literatur, wie sie sich
im Laufe der letzten Jahrhunderte geschichtlich entwickelt
hat, entnommen sind.
Juli 1934

Über Karl Kraus


Es ist keine Gedankenlosigkeit, einem Mann wie Karl Kraus
Glück zu wünschen, da er wenig Glück hat und viel braucht.
Lebend in einer Zeit, die unermüdlich fast unschilderbare
Scheußlichkeiten hervorbringt, übt er eine Kritik von höch-
stem Standpunkt aus. Die Kräfte in diesem Kampf scheinen
zunächst allzu ungleich. Aber nach einigem Nachdenken
kann man erkennen, daß Kraus in drei bis vier Jahrzehnten
viel erreicht hat: Es ist den finsteren Kräften zumindest nicht
gelungen, die großen Bilder der Reinheit zu verwischen und
die Begriffe der Sittlichkeit selber zu entfernen.

Mit besonderer Kunst wendet er die Methode des kommen-


tarlosen Zitierens an. Oft ist es nur ein Titel, über die unverän-
derte Wiedergabe einer Rede oder eines Gedichts oder einer
Zeitungsnotiz gesetzt, der alles dem fruchtbarsten Zwei fei preis-
gibt. Kein Wort hilft diesen Schreibern oder Rednern über die
wahrhaft tödliche Stille hinweg, die ihren Auslassungen folgt,
ohne Urteil werden sie abgeführt. Eine leere Stelle auf dem
Papier lyncht sie. Sie haben sich um ihren Hals geredet, und
man hat sie nicht unterbrochen. Diese Methode ist von allen
Aufsätze zur Literatur 431

Methoden dieses Schriftstellers die am wenigsten nachahmbare.


Sie setzt voraus den Aufbau eines Raumes, in dem alles zum
Gerichtsvorgang wird. Der sie anwendet, muß einzig durch
seine große Autorität instand gesetzt sein, sein Schweigen zu
einem Urteil zu machen. Damit sein Schweigen auffällt, darf
keines andern Reden erwartet werden. Und seine Einstellung
muß bekannt sein, an vielen Beispielen erwiesen und durch
kein einziges zweifelhaft.
Solche Autorität besitzt Kraus in dem Maße, daß schon das
äußere Bild einer Seite der mit unendlicher Sorgfalt gedruck-
ten »Fackel« im Leser den Eindruck der Ordnung und der
Lauterkeit hervorruft, welcher Eindruck vor dem Lesen ent-
steht, weil er so oft nach ihm entstanden ist.

Auf Grund seiner unermüdlichen Untersuchungen kommt


Kraus zu einer erschreckenden Stellung gegenüber dem »Fort-
schritt«. Was hat es für einen Sinn, sagt er, vermittels der kunst-
vollsten Flugmaschinen das Verbrechen und die Dummheit bis
an den Rand der Atmosphäre zu tragen oder in den Kohlen-
stollen die Peinigung und das Elend bis ins Erdinnere zu
treiben? Noch zu den letzten Bewohnern der Arktis versuchen
die Zeitungen ihren Unrat zu bringen, und das Radio belastet
die Wellen des Äthers mit Gemeinheiten und Täuschung.
Die ingeniösesten Köpfe versuchen die Massenschlächtereien
der Kriege auf einen niemals vordem erreichten Standard zu
bringen, und der Bau eines gewaltigen Netzes von Auto-
straßen, angeblich unternommen, der Arbeitslosigkeit abzu-
helfen, dient in Wahrheit dem Bürgerkrieg, der ihr in Wirk-
lichkeit abhelfen soll.

Die Kritik der Sprache erschöpfte sich im allgemeinen in der


Kritik derer, die sich schlecht ausdrücken. Wenn nun auch die
Sprache der Herrschenden, die Kraus untersucht, vielfach in
dem Sinne schlecht ist, daß sie das Gewollte nicht oder mangel-
haft ausdrückt, so ist es doch eine andere Seite, die Kraus noch
43 * Zur Literatur und Kunst
mehr interessiert. Vergewaltigung der Sprache mag an sich auf
gewisse moralische Schäden hindeuten, aber in großem Maß-
stab fruchtbar wird die kritische Prüfung der Sprache, wenn
sie als Werkzeug der Schädigung angewendet betrachtet
wird. [...]

Niemand wird es befremdlich finden, wenn in einer Zeit wie


der unsrigen ein großer Mann wie Karl Kraus weniger als
Erscheinung gerühmt als seiner Methoden wegen studiert wird.
Eine Betrachtung dieses außerordentlichen Mannes als Erschei-
nung wäre ohne Zweifel sehr nutzbringend, aber unsere, der
Betrachtenden, Lage in einer Zeit blutiger Verwirrung recht-
fertigt doch unsere Ungeduld, sogleich zu denjenigen seiner
Leistungen zu kommen, die für unseren Kampf verwendbar
sind. Solche Leistungen weist er sehr viele auf. Die großen
Marxisten haben untersucht, warum die Menschheit bei dem
Aufbau der modernen Produktion in einen Zustand geraten
mußte, wo jeder neue Fortschritt, beinahe jede einzige Erfin-
dung, die Menschen in immer tiefere Entmenschung hinein-
treiben muß. In einem riesigen Werk stellt Kraus, der erste
Schriftsteller unserer Zeit, die Entartung und Verworfenheit
der zivilisierten Menschheit dar. Als Prüfstein dient ihm die
Sprache, das Mittel der Verständigung zwischen Mensch und
Mensch.
Seine Entdeckungen auf diesem Gebiet und der Methoden,
die sie ermöglichen, sind Legion.
Etwa 1934

[Notizen zu Gottfried Benn]


In diesen Tagen las man in einer Zeitung, die sehr geachtet
war, weil darinnen die Interessen der Schwerindustrie ver-
treten wurden, den Aufruf eines deutschen Lyrikers an die
Aufsätze zur Literatur 433

literarischen Emigranten. Er war ebenfalls sehr geachtet, teils


weil seine Verse nur von wenigen gelesen werden konnten, was
man ihm als Reinheit anrechnete, denn man schloß aus der
Unverkäuflichkeit seiner Bücher auf eine Unverkäuflichkeit
seiner Seele, teils weil er eine schöne Sprache hatte und im
Zusammenstellen von Wortern aparter Art sehr gewandt war.
Solch eine Sprache gleicht einer jener Gräfinnen, die ab und
zu in exklusiven Blättern inserieren und vereinsamten Herren
und Damen versprechen, sie in ihren Salons »zwanglos« zu-
sammenzuführen. Durch die umsichtige und geschmackvolle
Kunst dieser Sprache werden Wörter zusammengeführt, die
sich sonst niemals kennengelernt hätten. Von Beruf Arzt, ver-
öffentlichte er einige Gedichte über die Qualen der Gebären-
den und den Weg chirurgischer Messer durch Menschenleiber.
Jetzt bekannte er sich emphatisch zum Dritten Reich.

Als das Radio erfunden worden war und dort lehrhafte Vor-
träge über Kaninchenzucht und Tiefseeforschung gut bezahlt
wurden, empfand unser Lyriker einen mächtigen Drang zu
lehren und verfaßte für das Radio einige dunkle Theorien über
die Menschheit, den Verfall der Sitten und so weiter, von der
Art, die man am besten in schöner Sprache vorträgt. Er machte
darauf aufmerksam, daß die Zeit zwischen der Erfindung des
Radios und seinem Vortrag ganz unvergleichlich kürzer sei als
etwa die zwischen der Erfindung des Steinmessers durch den
Höhlenmenschen und der Erfindung des Radios, welch letzte-
rer Erfindung er einen niedrigeren Rang verlieh.
Kraft und Schwäche der Utopie
Der französische Schriftsteller Andre Gide hat das große
Buch seiner Konfessionen um ein weiteres Kapitel bereichert.
Er hat, ein unermüdlicher Odysseus, uns den Bericht über eine
neue Irrfahrt gegeben, allerdings ohne uns verraten zu kön-
nen, an Bord welchen Schiffes dieser Bericht verfaßt ist und
wohin dieses Schiff auf der Fahrt ist.
Jeder Betrachter seiner Aufzeichnungen aus der Zeit, wo er
seinen letzten Irrtum vorbereitete, mußte mit mancherlei Be-
fürchtungen seinem Aufbruch nach dem neuen Kontinent ent-
gegensehen. Erbegrüßte ihn als Individualist, hauptsächlich als
Individualist.
Er fuhr los wie jemand, der ein neues Land sucht, müde des
alten, zweifellos begierig, seinen eigenen Glücksschrei zu hören,
aber was er wirklich suchte, war sein neues Land, nicht ein
unbekanntes, sondern ein bekanntes, nicht eines, das andere,
sondern eines, das er selber gebaut hatte, und zwar in seinem
Kopf. Er fand dieses Land nicht. Es liegt anscheinend nicht auf
diesem Planeten.
Er fuhr allzu unvorbereitet. Aber er fuhr nicht unberührt. Er
brachte nicht nur den Staub mit an seinen Schuhen. Er ist
nun enttäuscht, nicht darüber, daß es sein Land nicht gibt,
sondern darüber, daß dies nicht sein Land ist. Er nimmt es
dem Land übel. Das muß man verstehen: er war nicht in der
Lage, nach seiner Reise zu sagen: Dieses Land ist so und so,
seine Menschen tun das und das, ich verstehe es nicht ganz.
Er erwartete von sich ein Urteil, er stand selber in der Schar
derer, die auf ihn blickten. Er hatte wohl von Anfang an nicht
vor, mitzuteilen, wie dieses Land ist, sondern wie er ist, und
das konnte auch rasch geschehen, dieses Büchlein war rasch ge-
Aufsätze zur Literatur 435

schrieben. Er setzte sich hin und schrieb: (Zitat über Frei-


heit).
Der Freiheitsdrang der verschiedenen Zeitalter und der ver-
schiedenen Klassen ist jeweils ein sehr bestimmter und, wie
allgemein und ewig er sich immer geben mag, doch immer sehr
begrenzt. Der Freiheitstrieb der bürgerlichen Klasse etwa zeigt
in allen seinen Wandlungen durch mehrere Jahrhunderte immer
doch, daß er gerichtet war auf die Befreiung von feudalen
Schranken, äußerem Einspruch. Die Freiheit war die Frei-
heit der Konkurrenz, frei sollten sein die konkurrierenden
Individuen, ihre Individualität gewannen sie aus dem Kon-
kurrenzkampf. Die Forderung nach Freiheit der Meinungen
war die Forderung nach Freiheit ganz bestimmter, nämlich
bürgerlicher Meinungen. Da das Bürgertum seine Macht auf
ökonomischem Gebiet entwickelte, setzte es der Meinungsfrei-
heit lange Zeit nur ökonomische Grenzen; es war im ökono-
mischen Besitz all der Apparate, die Meinungen zu politischen
Machtfaktoren machten. Nicht umsonst wiederholen die Red-
ner des Sowjetkongresses, der über die Stalinsche Verfassung
beriet, immer wieder die Anerkennung des Anspruchs der
proletarischen Klasse auf sämtliche Druckereien, Papiervor-
räte, Versammlungsräume und Radiostationen.

Wie geht die proletarische Meinungsbildung vor sich? Wir


wissen, daß die verschiedenen Klassen sehr verschiedene Or-
ganisationsformen benutzten für ihre Meinungsbildung. Die
Art, wie, rein technisch gesehen, die Fürsten der mittelalter-
lichen Feudalreiche ihre Meinungen gegeneinander durchsetz-
ten, war sehr verschieden von der Art, wie die bürgerlichen
Parlamente Englands dies besorgen, die proletarischen So-
wjets haben ebenfalls ihre eigene Art und Weise, die proleta-
rische Meinung zu organisieren, und diese Technik mag manche
Mittel unbenutzt lassen, welche der bürgerlichen Art der
Meinungsbildung unentbehrlich waren; sie benutzt dafür an-
dere. Diese Technik wäre zu studieren, sie wird nicht geheim-
436 Zur Literatur und Kunst

gehalten, und wenn ihre Beschreibung dem bürgerlichen For-


scher fremd erschiene, so müßte er sich nicht wundern. Von
vornherein aus der Abwesenheit vertrauter Züge bürgerlicher
Meinungsbildung zu schließen, es finde überhaupt keine pro-
letarische Meinungsbildung statt, ist jedenfalls absurd. Kann
man sich vorstellen, daß das Riesenwerk eines kollektiven
Industrieaufbaus (ohne Privatinitiative) und der Kollektivi-
sierung und Mechanisierung der Landwirtschaft eines Sechstels
der Erde, die Leistung zweier Fünfjahrespläne, eine Pionier-
arbeit auf unbeschrittenen Pfaden, zustande gebracht in einem
der rückschrittlichsten Länder, von einer Bevölkerung, der
jahrhundertelang jede Bildung entzogen wurde, durch alle
ihre gefährlichen Phasen im Angesicht einer feindlichen Welt
von einigen Leuten am grünen Tisch diktatorisch und unter
Ablehnung aller Kritik verfügt werden konnte? Ist es nicht
ratbar, aus den Folgen auf die Ursachen zu schließen, wo solche
praktische Kritik, vorgenommen von Menschen an der Welt
selber, vorliegt, auch kritische Gedanken am Werk zu ver-
muten? Und sollte man nicht ihre Form einfach ermitteln?

»Das Glück aller besteht offenbar nur in der Entpersönlichung.


Das Glück aller wird nur auf Kosten des einzelnen erreicht.
Um glücklich zu sein, müßt ihr einförmig werden.«
Hier wird also die Frage nach dem Wohlbefinden der Men-
schen aufgeworfen, und es ist richtig: Niemals wohl hat es ein
Regime gegeben, das so ruhig als das Kriterium seines Wirkens
die Frage zuließ, ob die Menschen glücklich seien, und zwar
die vielen. Gide erkennt ihr Glück, er schildert es an vielen
Stellen seines Berichts, aber sogleich zweifelt er, ob das, was
hier wie Glück aussieht, Glück ist, das heißt das, was er
selber immer als Glück bezeichnete. Er hat glückliche Personen
gesehen, in großer Zahl, aber sie waren »entpersönlicht«. Sie
waren glücklich, aber sie waren einförmig. Ihnen fehlte nichts
zum Glück, aber Gide fehlte etwas. So kam er zu keiner neuen
Ansicht über das Glück, außer daß es vielleich eine Mangel-
Aufsätze zur Literatur 437
erscheinung sei. Die Wirklichkeit, die er sah, verbog ihm nicht
seinen Maßstab, den er mitgebracht hatte und mit zurück-
nahm. Er kam nicht glücklich zurück, aber als Persönlichkeit.
Auch das, was er Persönlichkeit nannte, wird er weiter Per-
sönlichkeit nennen, er hat nur ein Land gesehen, wo sie fehlte:
ein Sechstel der Erde.
Nun, er ist ein Skeptiker, wie viele große Kleriker. Seine
Skepsis ist freilich nicht sehr allgemein, nicht nach allen Seiten
gerichtet, es ist eine besondere Skepsis, nämlich die seiner
Klasse, der bürgerlichen Klasse.
Sie ist skeptisch den anderen Klassen gegenüber. Dem Begriff
der Persönlichkeit gegenüber, seinem eigenen, durch und durch
bürgerlichen Begriff der Persönlichkeit gegenüber ist er nicht
skeptisch. Hier leben Menschen unter ganz neuartigen, un-
erhörten Bedingungen, erstmalig große Massen im Besitz ihrer
Produktionsmittel, es den Individuen verwehrend, ihre Gaben
zur Ausbeutung anderer auszunutzen. Vielleicht verfallen da
jene Persönlichkeiten, die sich unter anderen Bedingungen ge-
bildet haben, und es bilden sich neue Arten von Persönlich-
keiten heraus, für andere Funktionen gesellschaftlicher Art be-
stimmt, mit anderen Differenzierungen? Solche Persönlich-
keiten würde er nicht Persönlichkeiten nennen. Dagegen be-
klagt er bei diesen neuen Personen den Verlust der Eigenheiten,
die für sie sinnlos geworden sind, in der neuen Umgebung,
mit den neuen Funktionen. Er erinnert an die Toren, von denen
Lukrez spricht: Ihre Todesfurcht kommt daher, daß sie ihr
Leben zu verlieren glauben, wenn sie sterben, und sich das so
vorstellen, als blieben sie, gestorben, eigentlich noch übrig,
aber beraubt um das Leben: Leute, die in der schrecklichen Lage
sind, ohne Leben leben zu müssen.

Aber sie haben alle ein und dieselbe Meinung. Als ich dort
war, hörte ich viele Meinungen; ich frage mich also, worüber
er mit ihnen gesprochen hat. Sollte er sie gefragt haben,
ob zwei mal zwei vier ist, und keine Nuancen vernommen
438 Zur Literatur und Kunst
haben in den Antworten? Es gibt da einiges, das dort so ali-
gemein bekannt ist wie dieser Satz, wenn es auch für Gide noch
nicht so jenseits der Nuancierung steht.

Aber die Generallinie der Partei steht jenseits der Kritik. Aber
vielleicht nur jenseits einer Kritik, die eben ihrerseits jenseits
steht? Tatsächlich wird die Generallinie der Partei nicht in Zei-
tungsartikeln kritisiert und nicht von plaudernden Gruppen
an Kaminen festgelegt oder umgeworfen. Es erscheint kein
Buch gegen sie. Allerdings kritisiert das Leben selber sie. Als
die Kolchosierung vor einigen Jahren durch ihr allzu stür-
misches Tempo das Land in große Gefahr brachte, erschienen
keine Zeitungsartikel dagegen. Aber wurde das Tempo bei-
behalten? Es wurde nicht beibehalten. Man muß annehmen,
daß Kritik stattgefunden hatte; das, was das Tempo herab-
gemindert hatte, könnte man nicht das vielleicht Kritik nen-
nen? Es wäre dann eine ungewohnte Kritik, eine neue Spezies,
aber was spricht dagegen? Wenn ich Auto fahre, selbst am
Steuer, kritisiere ich den Lauf meines Wagens, indem ich steure.
Ende 1936

Über die Unfreiheit der Schriftsteller


in der Sowjetunion
Die Parole »Gegen alle Diktaturen«
Aufgefordert, einer Londoner Ausstellung gegen die faschi-
stische Unterdrückung seine Unterstützung zu leihen, antwor-
tete der Schriftsteller Huxley, er könne dies nur, wenn die
Ausstellung auch eine Abteilung »Sowjetdiktatur« enthalte.
Von einigen Leuten, welche die Ausstellung bedingungslos ge-
fördert hatten, gefragt, ob Huxley nicht recht habe, antwor-
teten die Veranstalter: Ja, Huxley habe recht, sie wollten
Aufsätze zur Literatur 439

diese Abteilung gerne einrichten, aber die Frager müßten zu-


sammen mit Huxley erreichen, daß die englische Regierung
diese Abteilung genehmige. Und sie schilderten, wie diese Ab-
teilung, welche die Unterdrückung in der Sowjetunion dar-
stellen sollte, aussehen würde. Die Frager sehen keine
Möglichkeit, einer solchen Ausstellung die Genehmigung der
englischen Regierung zu verschaffen.

Viele Schriftsteller würden es heute sehr begrüßen, wenn es eine


Gewalt gäbe, welche die Verbrechen der Faschisten unterdrük-
ken könnte. Sie stellen sich vor, daß sie durch eine solche
Gewalt viel gewinnen und doch zugleich ihre Verurteilung aller
Gewalt, also auch dieser Gewalt, fortsetzen könnten. Man
darf nicht vergessen, daß dies auch ihre Haltung war in
den bürgerlichen Demokratien, wo die Gewalt eine wirtschaft-
liche, so unkenntlichere, stillere, unblutige war, denn der Hun-
ger tötet und vergewaltigt auch, aber es fließt kein Blut dabei.
Auch in den bürgerlichen Demokratien genossen sie die Vor-
teile der Ausbeutung des einen großen Teils der Bevölkerung
durch den kleinen andern, verurteilten aber die Ausbeutung,
wenn sie darauf zu sprechen kam'en.
Die Wahrheit ist, daß die bürgerliche Herrschaft verschiedene
Formen der Gewaltanwendung benutzt, in den Demokratien
stille und in den faschistischen Staaten laute Formen. Und die
Wahrheit ist, daß jede Gewalt nur durch eine andere Gewalt
gebrochen werden kann. Wie ist es nun, wenn man sich zu kei-
ner dieser beiden Gewalten, um die es sich hier handelt,
stellt? Dann unterstützt man jene der beiden Gewalten, die
herrscht.

Aber sollten nicht Vorschläge zur Diskussion gestellt werden


dürfen? Diese Frage ist sehr allgemein gestellt (sie tritt wirk-
lich beinahe immer nur in dieser allgemeinen Form auf), und
so allgemein kann man sie mit Ja beantworten, aber eben nur
so allgemein.
440 Zur Literatur und Kunst

Die Freiheitskämpfer, die aber nicht die Voraussetzungen der


Freiheit miterkämpfen wollen, sagen häufig: Entweder ist
eine Diskussion wichtig, dann muß sie doch stattfinden
dürfen, oder sie ist unwichtig, dann entsteht sie auch durch
Vorschläge nicht. Das ist wieder allgemein gesagt. Denn erstens
kann man in bestimmten Situationen jede Aktion kaputt-
diskutieren, und zweitens können unwichtige Fragen eben
wichtig gemacht werden. Zum Beispiel kann man auf dem
Standpunkt stehen, daß religiöse Betätigung so lange erlaubt
werden müsse, als ein Bedürfnis dafür bestehe. Wie aber, wenn
jene, die durch große Veränderungen in der wirtschaftlichen
Grundlage dieses Bedürfnis beseitigen wollen, darin gehindert
werden durch die Aktionen derer, die von diesem Bedürfnis
leben, zum Beispiel der Priester? Und wenn sie an der wirk-
lichen Beseitigung der religiösen Bedürfnisse eben gehindert
werden durch jene, welche an ihrem Bestehen interessiert sind,
weil sie eben die wirtschaftlichen Grundlagen unverändert
wünschen, zum Beispiel durch die alten Ausbeuter aller Art?
Dann müssen sie die Stillung der Bedürfnisse unter Umständen
verhindern, bevor sie ihre Entstehung verhindert haben! Dann
ist es schädlich, eine Diskussion der religiösen Betätigung
wichtig zu machen!
Aber die Schriftsteller machen für gewöhnlich gar keine Vor-
schläge, sondern sie drücken Stimmungen aus. Darin gehen
sie ohne Kontrolle vor. Die Empfindungen von Leuten, welche
mit Gewalt abgehalten werden, Morde zu begehen, schildern
sie als äußerst schmerzensreiche Empfindungen von Leuten,
welche abgehalten werden, ihren Bedürfnissen zu genügen.

Meinungsfreiheit

Herr Wells ist überzeugt, daß in seinem Land jedermann die


Freiheit besitzt, jede ihm beliebige Ansicht zu vertreten, und
Aufsätze zur Literatur 441

willens, die gleiche Freiheit den Schriftstellern anderer Länder


erkämpfen zu helfen. Was seine Überzeugung betrifft, gibt es
zwei Möglichkeiten: Er kann die Erlaubnis besitzen zu schrei-
ben, was er meint, und er kann die Meinung besitzen, die zu
schreiben erlaubt ist. Das sind natürlich zwei sehr verschiedene
Dinge.

Angenommen, es handele sich um die erste Möglichkeit. Dann


lebt Herr Wells in einem ziemlich freien Land. Er muß uns
allerdings noch über einen kleinen Punkt beruhigen, nämlich
darüber, daß nicht etwa die betreffende Meinungsfreiheit ein
Recht ist, das auszuüben nicht alle imstand sind. So verlangte
Lenin, Meinungsfreiheit für das Proletariat verlangend, nicht
nur Versammlungsfreiheit, sondern auch Zuweisung von Sälen,
und nicht nur Pressefreiheit, sondern auch Stellung von Papier
und Druckmaschinen. In einem Pfahldorf genügt es, damit
der Effekt freien Sprechens eintritt, wenn der Eigentümer der
Ansicht zu der Versammlung sprechen darf. In London genügt
es für eine Regierung, wenn sie will, daß der Effekt nicht
eintritt, wenn der Sprecher keinen Saal oder keine Zeitung
hat.

Das muß ausdrücklich gesagt sein, denn es gibt viele Leute,


die einer Regierung nicht zumuten wollen, mehr als die Erlaub-
nis geben zu wollen. Eine solche Haltung ist mit Sympathie
zu den Armen ohne weiteres zu vereinigen. So mancher
Ladeninhaber hat nichts gegen die Armen, wenn sie ordentlich
bezahlen.
Etwa 1939, fragmentarisch
442 Zur Literatur und Kunst

Gorkis Einfluß auf die Literatur

Der hohe künstlerische und politische Wert, den Gorki in der


russischen und in der Weltliteratur darstellt, ist nicht bezweifel-
bar und bedarf kaum besonderer Beweise. Seinen Einfluß auf
die Literatur selber zu untersuchen, ist bestimmt ganz beson-
ders interessant. Ich selbst habe seinen Roman »Die Mutter«
dramatisiert und bin also ein Beispiel für die Art seines Ein-
flusses. Ich denke so:
Es gibt Schriftsteller, deren Technik, zu erzählen, auf andere
Schriftsteller großen Einfluß ausübt, ganz abgesehen von dem,
was sie berichten. Ich weiß nicht, ob Gorki zu diesen Schrift-
stellern gehört, obgleich freilich seine einfache und natür-
liche Schreibweise etwas Vorbildliches an sich hat. Aber es ist
etwas anderes, ob eine bestimmte Art, zu schreiben, wünschens-
wert oder ob sie nachahmbar ist. Nicht alle Wünsche gehen in
Erfüllung. Gorkis Schreibweise ist eine von Talent (zum Bei-
spiel von der Höhe des Gorkischen) abhängige und nicht nur
von Talent, sondern auch von der Erfahrung (zum Beispiel der
Art und Reichhaltigkeit der Gorkischen). Gerade mit dieser
unvergleichlichen (und darum schwer imitierbaren) Schreib-
weise Gorkis, die ein Ausdruck seiner außerordentlichen und
eigenartigen Person ist, hängt aber seine ungeheure Wirkung
auf den Leser zusammen. Er verwandelt so selbst Schriftsteller
in Leser, eine große Leistung.
Damit ist folgendes gemeint: Man kann seine Erzählungen
ohne weiteres wie die eines alten Arbeiters anhören und weiter-
erzählen, auf welche Weise man dies immer wünscht. Man
braucht keine Sorge zu haben: Alles, was er erzählt, ist wahr:
er hat es gesehen, und er hat es auch bestimmt richtig gesehen,
und auch seine Beschreibung hat nichts verfälscht. Auch spricht
er nicht von Dingen, die nur ihn angehen, und erzählt nichts,
was nicht auch ohne seine Erzählerkunst von großer Bedeu-
Aufsätze zur Literatur 443

tung wäre. Der Weg der »Mutter« würde, auch ungeschickter


erzählt, eine große Wirkung haben müssen auf alle, die er
angeht.

Gorki natürlich erreicht mit seiner Erzählung, daß er plötz-


lich ungeheuer viele Menschen angeht.
Damit aber schaffte er der Sache der Arbeiterschaft Gehör als
der allgemeinsten, umfassendsten, als der Sache der gesam-
ten Menschheit. Und so wie er an dem Erfolg dieser Sache
beteiligt ist, ist auch an seinem Erfolg die russische Arbeiter-
schaft beteiligt.

Etwa 1936

[Über »Der stille Don«]


Der berühmte Roman eines Sowjetschriftstellers besteht aus
zwei dicken Bänden. Er beschreibt das Leben eines Dorfes. Nach
der Lektüre von über 800 Seiten weiß ich noch nicht, wie die
einzelnen Personen, deren Innenleben viele Seiten füllt, woh-
nen. Ich bin mir unklar über ihre Beschäftigung in der Land-
wirtschaft und natürlich auch über ihr eigentliches Innenleben.
Erfahren habe ich, wie sie gewissen moralischen Forderungen,
die an sie gestellt werden, genügen, und einiges erfahre ich
über die Veränderung, die das Liebesleben, die Elternliebe
und so weiter durch die neue Umgebung annimmt.
Diese Romane möchte ich, trotz ihres konventionellen Stiles,
der jeden Augenblick die Darstellung der neuen Dinge hindert,
auf keinen Fall missen. Wenn ich sage, daß sie ohne Kunst ge-
schrieben sind, so meine ich ehrlich, daß ich auf die Kunst gern
verzichten würde, wenn sie das Zustandekommen dieser Doku-
mente verhindern würde. Aber das glaube ich allerdings nicht.
444 Zur Literatur und Kunst

[Über das Programm der Sowjetschriftsteller]


Es ist eine der besten Seiten soldier Auslassungen über lite-
rarische Vorsätze, wie idi sie von Fadejew gelesen habe, daß sie
sich an den Mut des Lesers wenden. Der Leser wird gebeten,
sich dazu zu äußern, aber es wird ihm schon durch den Ton zu
verstehen gegeben, daß dazu unter Umständen Mut gehören
wird. Die Fragen, die an ihn gerichtet werden, sind vom Typus:
Ist nicht mein Buch das vollendetste der Welt? Sogenannte
Suggestivfragen. Indem einige russische Kollegen ihre Aus-
lassungen als den Ausdruck des sozialistischen Aufbaus be-
zeichnen, muß man befürchten, den letzteren herunterzuma-
chen, wenn man seinen Ausdruck kritisiert. Leider muß ich
sagen, daß die Leistung des russischen Proletariats mir so
klassisch erscheint, daß ich auch für den Fall, daß ihr ein
adäquater Ausdruck fehlen würde, sie unbedingt bejahen
würde.

Das Programm zeigt das Bestreben, anstelle einer ungedul-


digen Bevormundung eine geduldigere Belehrung zu setzen.
Die Sowjetwelt scheint nunmehr so hinreichend verändert,
daß man nicht mehr befürchten muß, die freiere Initiative
des einzelnen könnte dem Ganzen noch allzu schädlich werden;
man darf sich nunmehr der Vorteile solcher Initiative ver-
sichern.
Es würde in diesem Sinne der Anregung der Produktivität,
der Aufmunterung zur Übernahme größerer Verantwortung
von Seiten des einzelnen aber noch dienlicher sein, weniger
ein Idealbild des Erwarteten an die Wand zu malen, sondern
einfach den sozial wünschenswerten Zweck des erwarteten
Kunstwerks genauest zu nennen, besser die Zwecke, noch bes-
ser Zwecke. Man müßte das Wie frei lassen, um mit um so
zäherer Energie das Wozu zu lehren.
Die Wörter Realismus, Romantik, noch dazu in Idealkon-
kurrenz, sind ungemein unbestimmt, wie denn überhaupt hier
Aufsätze zur Literatur 445

ein gewisser schwärmerischer, fast mystischer Zug auffällt. Das


zugezogene Hegelzitat ist sehr unglücklich. Wenn man etwas
geschaffen hat, woran man sich ergötzt, woraus man »Glau-
ben«, »Gefühle«, »Vorstellung« schöpfen kann und wodurch
man mit den »Dingen« einig wird, hat man vielleicht ein
Kunstwerk geschaffen (sofern noch einiges andere da ist),
aber was für eines? Und wie ergötzt man? Und wen? Und
wozu diesen? Und was dient dem »Glauben« als Unterlage
(realistischer Art) und so weiter?
Das Wort Synthese ist ebenfalls ungemein vieldeutig. Es
wird eindeutig nur, wenn es den Gegensatz zu Analyse dar-
stellen soll. Soll es das? Wenn es in dialektischem Sinne gebraucht
sein sollte, müßte es mit Geduld und Ernst erläutert werden,
damit es nicht das Stigma des beruhigten Endstadiums auf-
gedrückt erhält.
Die Forderung nach Realismus ist dabei eine beinahe selbst-
verständliche Forderung des Revolutionärs. Man muß das
Wort in dem ursprünglichen kämpferischen Sinne nehmen, um
es gut zu verstehen. Sätze, die beginnen mit: »Der und der
Realismus ist ...« sind unglücklich. Es ist besser zu sagen:
Der Schriftsteller soll ein Realist sein, und zwar in dem be-
wußten kämpferischen Sinn. Man muß sich nur erinnern an
die Diskussionen oder zu Entscheidungen drängenden Situa-
tionen an Straßenecken, in Zellen, in Laboratorien, wo unter
anderen plötzlich der Realist spricht, anders als jene, eben
realistisch, nämlich der Realität recht gebend, sie geltend
machend, sie ins Treffen führend. Er tritt für gewöhnlich
kämpfend auf. Die Intellektuellen begegnen ihm, wenn sie
dem Arbeiter begegnen, er ist der große Realist. Man muß
sich klar sein, daß er als Realist auch zum Opportunismus neigt,
daß er auch als Opportunist Realist ist, dann kann man ihn
im Grund nur dadurch bekehren, daß man als noch besserer
Realist auftritt, noch mehr Realität vertritt, Methoden und
Maßnahmen zeigt, die die Realität noch besser beherrschen,
indem sie sie noch besser kennen.
44^ Zur Literatur und Kunst
Das kritische Element im Realismus darf nicht unterschlagen
werden. Es ist entscheidend. Eine bloße Widerspiegelung der
Realität läge, falls sie möglich wäre, nicht in unserem Sinne.
Die Realität muß kritisiert werden, indem sie gestaltet wird,
sie muß realistisch kritisiert werden. Im Moment des Kritischen
liegt das Entscheidende für den Dialektiker, liegt die Ten-
denz. Und hier kann die Wissenschaft, und zwar die marxi-
stische Wissenschaft, der Literatur beispringen. Hier gibt es
Erlernbares. Hier kann als lebendes Vorbild die Partei vor-
gestellt werden.

Man sieht, daß die russischen Genossen gezwungen sind, ihre


Schlachten immer nach mindestens zwei Seiten hin zu schlagen.
Sie haben den dürren, abstrakten Doktrinarismus zu be-
kämpfen, und sie müssen sich wenden gegen den mechanischen
unverbindlichen Naturalismus. Sie brauchen die Doktrin und
die Natur. Sie brauchen die Plastik der Gestaltung, eine
Schreibweise, die sich an die Sinne wendet, und sie brauchen
gestaltet eine Wirklichkeit, die ihre Gesetzlichkeit zeigt.
[Über die moderne tschechoslowakische Literatur]
Ich selbst ziehe als Ganzes die moderne tschechoslowakische
Literatur allen andern bürgerlichen Literaturen vor. Dabei
denke ich an die Namen Hasek, Kafka und Bezruc. Einiges
davon ist leicht lesbar, sofort eingängig, anderes bedarf des
Studiums, Kafka vor allem. Bei ihm findet sich in merkwür-
digen Verkleidungen vieles Vorgeahnte, was zur Zeit des Er-
scheinens der Bücher nur wenigen zugänglich war. Die faschi-
stische Diktatur steckte den bürgerlichen Demokratien sozu-
sagen in den Knochen, und Kafka schilderte mit großartiger
Phantasie die kommenden Konzentrationslager, die kom-
mende Rechtsunsicherheit, die kommende Verabsolutierung des
Staatsapparats, das dumpfe, von unzugänglichen Kräften ge-
lenkte Leben der vielen einzelnen. Alles erschien wie in einem
Alpdruck und mit der Wirrheit und Unzulänglichkeit des Alp-
drucks. Und zu gleicher Zeit, wo der Intellekt sich verwirrte
(mich erinnert Kafka immer an die Aufschrift am Tor der
Danteschen Hölle: »Wir sind jetzt angekommen vor dem Tor
des Lands / wo alles wehrlos ist, was leidet / das hat ver-
spielt das Erbgut des Verstands«), klärte sich die Sprache.
Deutsche Schriftsteller werden unbedingt diese Werke lesen
müssen, so schwer das ist, da die Stimmung der Ausweglosig-
keit sehr stark ist und man zu allem Schlüssel braucht wie
bei Geheimschriften. Ich sehe, ich habe viele Mängel auf-
gezählt in diesen kurzen Sätzen, mit denen ich eine Ehrung
beabsichtige, und tatsächlich bin ich weit davon entfernt, hier
ein Vorbild vorzuschlagen. Aber ich möchte diesen Schriftsteller
nicht auf den Index gesetzt sehen bei allen seinen Mängeln.
Oft dienen die Schriftsteller uns auch mit dumpfen, dunklen
und schwer zugänglichen Werken, die man mit großer Kunst
44 8 Zur Literatur und Kunst

und Sachkenntnis lesen muß, als wären sie illegale Zuschrif-


ten, dunkel aus Furcht vor der Polizei. Und man kann auch
mit Nutzen Werke voll von Irrtümern lesen, wenn sie auch
anderes enthalten. Mißtrauen vernichtet nicht das Lesen, son-
dern Mangel an Mißtrauen.

Der »Realismus« der jüngeren


amerikanischen Literatur
Die große ökonomische Krise hat in Amerika merkwürdige
literarische Strömungen erzeugt, die sehr realistisch anmuten.
In gewissen, sehr erfolgreichen Büchern wird nicht nur kein
Blatt vor den Geschlechtsteil genommen, sondern es werden
auch die »Underdogs« geschildert. Es scheint, daß diese
»hartgekochten« Schriftsteller dem Leben ins Weiße im Auge
sehen wollen. Stilistisch stammt das meiste von Hamsun ab,
besonders von dessen »Hunger«. Man findet seinen Vitalis-
mus, seinen Zynismus, seine Romantik und seinen Verismus
wieder.
Die Haltung der Schriftsteller ist betont amoralisch. Wie sie zu
dieser Haltung kommen, ist in einer sozialkritischen Analyse
leicht anzugeben. Man kann sich denken, was diese Eier so
hartgekocht hat. In vier Romanen (»The Postman«, »Of Mice
and Men«, »Serenade«, »No Pockets«) finde ich nichts, was
nicht von einem Gangster unterschrieben werden könnte.
Der Gangster verletzt die geschriebene Moral der oberen
Klassen und folgt ihrer tatsächlichen Unmoral.
Einige, die den Realismus dieser Literatur gern für uns aus-
nützen möchten, machen sich nicht viele Sorgen wegen seiner
Standpunktlosigkeit (welche nur der politischen Lage gewisser
{kleiner?) Schichten entspricht, die keinen Standpunkt haben,
um auch ihrerseits sich »ihr Stück Fleisch« (wo?) herauszu-
schneiden). Man argumentiert: Diese Schriftsteller geben rea-
listische Berichte ohne Absichten, Vorschläge, ohne Wissen und
Aufsätze zur Literatur 449

Plan, und ohne mit großen, sozial bedeutenden Schichten


(Klassen) verbunden zu sein, kann man natürlich keine rea-
listischen Berichte geben.
Nur hoffnungslose Romantiker können die Menschen, welche
an den amerikanischen Tankstationen oder in den Land-
arbeitercamps beschäftigt sind, hauptsächlich von den Mo-
tiven (und Trieben) bewegt glauben, die von den Cains ange-
geben werden. Es besteht ein gewisser Unterschied zwischen
Materie und hot stufF. In Wirklichkeit haben wir die Stand-
punktlosigkeit von Lumpenbourgeoisie und Lumpenklein-
bürgertum, deren Relativismus, Anarchismus, Bluboismus.
»Hunger und Liebe regieren das Getriebe.« Der Literat greift
nonchalant nach dem Krassen. Man lebt sich aus, man lebt sich
einen herunter. »Furchtbare Enthüllungen über die Zustände
in unseren Gartenlauben.« Wild gewordenes Hollywood.
Die verlumpte Eleganz ist charakteristisch. Realismus? Nicht
einmal der »Realismus« des new deal! Eher die neue Sach-
lichkeit des Edsimir Kasschmid von 1924. Kurz, neue Sachlich-
keit ohne Sache.
Kurz, ist es möglich, diesen hektischen Verismus als Realismus
zu betrachten? Was wir zu tun haben ist: durch marxistische
Analyse der Lage der amerikanischen Mittelschichten zu un-
tersuchen, wieso sich das Leben für diese Literaten gerade so
und nicht anders spiegelt.
1938
Über die Popularität des Kriminalromans
Ohne Zweifel trägt der Kriminalroman alle Merkmale eines
blühenden Literaturzweiges zur Sdiau. In den periodisdien
Umfragen nadi den »Bestsellers« wird er zwar kaum je ge-
nannt, und das braudit keineswegs daher zu kommen, daß
er überhaupt nicht zur »Literatur« gerechnet wird. Es ist viel
wahrscheinlicher, daß die breite Masse wirklich immer noch
den psychologischen Roman bevorzugt und der Kriminal-
roman nur von einer, wenn auch zahlenmäßig kräftigen, aber
eben doch nicht überwältigenden Gemeinde von Kennern auf
den Schild gehoben wird. Bei diesen jedoch hat das Kriminal-
romanlesen den Charakter und die Stärke einer Gewohnheit
angenommen. Es ist eine intellektuelle Gewohnheit.
Man kann das Lesen psychologischer (oder sollen wir sagen:
literarischer) Romane nicht mit derselben Sicherheit eine in-
tellektuelle Beschäftigung nennen, denn der psychologische
(literarische) Roman erschließt sich dem Leser durch im wesent-
lichen andere Operationen als durch logisches Denken. Der
Kriminalroman handelt vom logischen Denken und verlangt
vom Leser logisches Denken. Er steht dem Kreuzworträtsel
nahe, was das betrifft.
Dementsprechend hat er ein Schema und zeigt seine Kraft in
der Variation. Kein Kriminalromanschreiber wird die leisesten
Skrupel fühlen, wenn er seinen Mord im Bibliothekszimmer
eines lordlichen Landsitzes vorgehen läßt, obwohl das höchst
unoriginell ist. Die Charaktere werden selten gewechselt, und
Motive für den Mord gibt es nur ganz wenige. Weder in die
Kreierung neuer Charaktere noch in die Aufstöberung neuer
Motive für die Tat investiert der gute Kriminalromanschreiber
viel Talent oder Nachdenken. Es kommt nicht darauf an.
Aufsätze zur Literatur 451

Wer, zur Kenntnis nehmend, daß ein Zehntel aller Morde in


einem Pfarrhof passieren, ausruft: »Immer dasselbe!«, der hat
den Kriminalroman nicht verstanden. Er könnte ebensogut
im Theater schon beim Aufgehen des Vorhangs ausrufen:
»Immer dasselbe!« Die Originalität liegt in anderem. Die
Tatsache, daß ein Charakteristikum des Kriminalromans in
der Variation mehr oder weniger festgelegter Elemente liegt,
verleiht dem ganzen Genre sogar das ästhetische Niveau. Es
ist eines der Merkmale eines kultivierten Literaturzweigs.
Übrigens beruht das »Immer dasselbe« des Nichtkenners auf
dem gleichen Irrtum wie das Urteil des weißen Mannes, daß
alle Neger gleich aussehen. Es gibt eine Menge von Schemata
für den Kriminalroman, wichtig ist nur, daß es Schemata
sind.
Wie die Welt selber wird auch der Kriminalroman von den
Engländern beherrscht. Der Kodex des englischen Kriminalro-
mans ist der reichste und der geschlossenste. Er erfreut sich der
strengsten Regeln, und sie sind in guten essayistischen Ar-
beiten niedergelegt. Die Amerikaner haben weit schwächere
Schemata und machen sich, vom englischen Standpunkt aus,
der Originalitätshascherei schuldig. Ihre Morde geschehen am
laufenden Band und haben Epidemiecharakter. Gelegentlich
sinken ihre Romane zum Thriller herunter, das heißt, der Thrill
ist kein spiritueller mehr, sondern nur noch ein rein nerven-
mäßiger.
Der gute englische Kriminalroman ist vor allem fair. Er zeigt
moralische Stärke. To play the game ist Ehrensache. Der Leser
wird nicht getäuscht, alles Material wird ihm unterbreitet, be-
vor der Detektiv das Rätsel löst. Er wird instand gesetzt, die
Lösung selber in Angriff zu nehmen.
Es ist erstaunlich, wie sehr das Grundschema des guten Kri-
minalromans an die Arbeitsweise unserer Physiker erinnert.
Zuerst werden gewisse Fakten notiert. Da ist ein Leichnam.
Die Uhr ist zerbrochen und zeigt auf 2 Uhr. Die Haushäl-
terin hat eine gesunde Tante. Der Himmel war in dieser Nacht
45* Zur Literatur und Kunst

bewölkt. Und so weiter und so weiter. Dann werden Arbeits-


hypothesen aufgestellt, welche die Fakten decken können.
Durch den Hinzutritt neuer Fakten oder die Entwertung be-
reits notierter Fakten entsteht der Zwang, eine neue Arbeits-
hypothese zu suchen. Am Ende kommt der Test der Arbeits-
hypothese: das Experiment. Wenn die These richtig ist, dann
muß der Mörder auf Grund einer bestimmten Maßnahme
dann und dann da und da erscheinen. Entscheidend ist, daß
nicht die Handlungen aus den Charakteren, sondern die Cha-
raktere aus den Handlungen entwickelt werden. Man sieht
die Leute agieren, in Bruchstücken. Ihre Motive sind im dun-
keln und müssen logisch erschlossen werden. Als ausschlag-
gebend für ihre Handlungen werden ihre Interessen ange-
nommen, und zwar beinahe ausschließlich ihre materiellen In-
teressen. Nach ihnen wird gesucht.
Man sieht die Annäherung an den wissenschaftlichen Stand-
punkt und den enormen Abstand zum introspektiv psycho-
logischen Roman.
Demgegenüber ist es weit weniger wichtig, daß im Kriminal-
roman wissenschaftliche Methoden geschildert werden und Me-
dizin, Chemie und Mechanik eine große Rolle spielen: Die
ganze Konzeptionsweise der Kriminalromanschreiber ist von
der Wissenschaft beeinflußt.
Wir können hier erwähnen, daß auch im modernen literari-
schen Roman, bei Joyce, Döblin und Dos Passos, ein deut-
liches Schisma zu konstatieren ist zwischen subjektiver und
objektiver Psychologie, und selbst im neuesten amerikanischen
Verismus tauchen solche Tendenzen auf, obgleich es sich hier
wieder um Rückbildungen handeln dürfte. Natürlich muß
man sich von ästhetischen Wertungen frei halten, um die Ver-
bindung zwischen diesen höchst komplizierten Werken der
Joyce, Döblin und Dos Passos mit dem Kriminalroman der
Sayers, Freeman und Rhode zu sehen. Sieht man jedoch
die Verbindung, dann erkennt man, daß der Kriminalroman
bei all seiner Primitivität (nicht nur ästhetischer Art) den
Aufsätze zur Literatur 453

Bedürfnissen der Menschen eines wissenschaftlichen Zeitalters


sogar noch mehr entgegenkommt, als die Werke der Avant-
garde es tun.
Wir müssen freilich, wenn wir die Popularität des Kriminal-
romans besprechen, dem Hunger des Lesers nach abenteuer-
lichen Geschehnissen, einfacher Spannung und so weiter, den
er befriedigt, einen breiten Raum gewähren. Es bereitet schon
Genuß, Menschen handelnd zu sehen, Handlungen mit
faktischen, ohne weiteres feststellbaren Folgen mitzuerleben.
Die Menschen des Kriminalromans hinterlassen nicht nur
Spuren in den Seelen ihrer Mitmenschen, sondern auch in
ihren Körpern und auch in der Gartenerde vor dem Biblio-
thekszimmer. Der literarische Roman und das wirkliche Le-
ben stehen hier auf der einen Seite, der Kriminalroman, ein
besonderer Ausschnitt des wirklichen Lebens, auf der an-
dern. Der Mensch im wirklichen Leben findet selten, daß er
Spuren hinterläßt, zumindest solange er nicht kriminell wird
und die Polizei diese Spuren aufstöbert, Das Leben der ato-
misierten Masse und des kollektivisierten Individuums unse-
rer Zeit verläuft spurenlos. Hier bietet der Kriminalroman
gewisse Surrogate.
Ein Abenteuerroman könnte kaum anders geschrieben wer-
den als als Kriminalroman: Abenteuer in unserer Gesellschaft
sind kriminell.
Aber der intellektuelle Genuß kommt zustande bei der
Denkaufgabe, die der Kriminalroman dem Detektiv und dem
Leser stellt.
Zunächst bekommt die Beobachtungsgabe ein Feld, auf dem
sie spielen kann. Aus den Deformierungen der Szenerie wird
der Vorgang aufgebaut, der sich abgespielt hat; aus dem
Schlachtfeld wird die Schlacht rekonstruiert. Das Unerwar-
tete spielt eine Rolle. Wir haben Unstimmigkeiten zu entdek-
ken. Der Chirurg hat schwielige Hände, der Fußboden ist
trocken, obwohl das Fenster offensteht und es geregnet hat;
der Butler war wach, aber er hat den Schuß nicht geholt.
454 Zur Literatur und Kunst

Dann werden die Zeugenaussagen kritisch gemustert: dies ist


Lüge, das Irrtum. Im letzteren Fall beobachten wir sozusa-
gen durch Instrumente, die ungenau registrieren, und haben
die Grade der Abweichungen zu konstatieren. Dieses Beob-
achtungen-Anstellen, daraus Schlüsse-Ziehen und damit zu
Entschlüssen-Kommen gewährt uns allerhand Befriedigung
schon deshalb, weil der Alltag uns einen so effektiven Ver-
lauf des Denkprozesses selten gestattet und sich für gewöhn-
lich viele Hindernisse zwischen Beobachtung und Schlußfol-
gerung sowie zwischen Schlußfolgerung und Entschluß ein-
schalten. In den meisten Fällen sind wir überhaupt nicht in
der Lage, unsere Beobachtungen zu verwerten, es gewinnt
keinen Einfluß auf den Verlauf unserer Beziehungen, ob wir
sie machen oder nicht. Wir sind weder Herr unserer Schlüsse
noch Herr unserer Entschlüsse.
Wir bekommen im Kriminalroman jeweils ausgezirkelte Le-
bensabschnitte vorgesetzt, isolierte, abgesteckte kleine Kom-
plexe von Geschehnissen, in denen die Kausalität befriedi-
gend funktioniert. Das ergibt genußvolles Denken. Nehmen
wir ein einfaches Beispiel, diesmal aus der Kriminalgeschichte,
nicht aus dem Roman. Der Mord ist vermittels Leuchtgas voll-
führt worden. Es kommen zwei Leute als Tater in Betracht.
Der eine hat ein Alibi für Mitternacht, der andere für mor-
gens. Die Lösung wird aus dem Fakt gezogen, daß ein paar
tote Fliegen am Fenstersims gefunden werden. Der Mord ist
also gegen Morgen erfolgt: die Fliegen befanden sich am er-
hellten Fenster — auf solche Weise können Fragen in bezug auf
unser so verwickeltes Leben wirklich entschieden werden.
Die Identifizierung eines unbekannten Ermordeten geschieht
ebenfalls durch genußvolle Schlußfolgerungen auf abgegrenz-
tem Untersuchungsfeld. Es wird vermittels exakter Beobach-
tungen sein sozialer Standort ermittelt, außerdem sein geo-
graphischer. Die kleinen Dinge, die man an ihm findet,
bekommen langsam ihre Biographie. Seine Zahnbrücke ist
bei dem und dem Zahnarzt gebaut worden. Aber schon,
Aufsätze zur Literatur 455
bevor man das feststellt, weiß man, daß er, zumindest zur
Zeit, wo er diese Brücke setzen ließ, sich in guten finanziel-
len Verhältnissen befunden haben muß: es ist eine teure
Brücke.
Auch der Kreis der Verdächtigen ist klein. Ihr Verhalten kann
exakt beobachtet, kleinen Tests unterworfen werden. Der
Untersuchende (Detektiv und Leser) hält sich in einer merk-
würdig konventionsfreien Atmosphäre auf. Sowohl der schur-
kische Baronet als auch der lebenslängliche treue Diener oder
die siebzigjährige Tante kann der Täter sein. Kein Kabinetts-
minister ist frei von Verdacht. Von einem Feld her, wo nur
Motiv und Gelegenheit funktionieren, wird entschieden, ob er
einen Mitmenschen getötet hat.
Wir ziehen Vergnügen aus der Art, wie der Kriminalroman-
schreiber uns zu vernünftigen Urteilen bringt, indem er uns
zwingt, unsere Vorurteile aufzugeben. Er muß dazu die Kunst
der Verführung beherrschen. Er muß die in den Mord ver-
wickelten Personen ebenso mit unsympathischen als mit at-
traktiven Zügen ausrüsten. Er muß unsere Vorurteile provo-
zieren. Der menschenfreundliche alte Botaniker kann nicht
der Mörder sein, läßt er uns ausrufen. Einem zweimal wegen
Wilderns vorbestraften Gärtner ist alles zuzutrauen, läßt er
uns seufzen. Er führt uns irre durch seine Charakterschilde-
rungen.
Tausendmal gewarnt (nämlich durch die Lektüre von tau-
send Kriminalromanen), vergessen wir wieder, daß nur Mo-
tiv und Gelegenheit entscheiden. Es sind lediglich die gesell-
schaftlichen Umstände, die das Verbrechen ermöglichen oder
nötig machen: Sie vergewaltigen den Charakter, sowie sie ihn
gebildet haben. Natürlich ist der Mörder ein böser Mensch,
aber das zu finden, müssen wir ihm eben den Mord anhängen
können. Einen direkteren Weg zur Ausfindung seiner Moral
zeigt der Kriminalroman nicht.
So bleibt es bei der Aufspürung des Kausalnexus.
Die Kausalität menschlicher Handlungen zu fixieren ist die
4$6 Zur Literatur und Kunst
hauptsächlichste intellektuelle Vergnügung, die uns der Kri-
minalroman bietet.
Die Schwierigkeiten unserer Physiker auf dem Gebiet der
Kausalität treffen wir zweifellos in unserem Alltagsleben al-
lenthalben an, aber nicht im Kriminalroman. Wir sind im
Alltagsleben, soweit es sich um gesellschaftliche Situationen
handelt, ganz wie die Physiker auf bestimmten Gebieten, auf
eine statistische Kausalität angewiesen. In allen Existenzfra-
gen, vielleicht ausgenommen nur die allerprimitivsten, müs-
sen wir uns mit Wahrscheinlichkeitsberechnungen begnügen.
Ob wir mit den und den Kenntnissen die und die Stellung
bekommen werden, das kann höchstens wahrscheinlich sein.
Nicht einmal für unsere eigenen Entscheidungen vermögen
wir eindeutige Motive anzugeben, geschweige denn für die
anderer. Die Gelegenheiten, die wir vorfinden, sind höchst
undeutlich, verhüllt, verwischt. Das Kausalitätsgesetz funk-
tioniert höchstens halbwegs.
Im Kriminalroman funktioniert es wieder. Einige Kunst-
griffe beseitigen die Störungsquellen. Das Gesichtsfeld ist ge-
schickt eingeengt. Und die Schlußfolgerungen werden im nach-
hinein, von der Katastrophe aus, vorgenommen. Dadurch
kommen wir in eine der Spekulation natürlich sehr günstige
Position.
Zugleich können wir hier ein Denken benützen, das unser
Leben in uns ausgebildet hat.
Wir kommen zu einem wesentlichen Punkt unserer kleinen
Untersuchung, warum die intellektuellen Operationen, die
uns der Kriminalroman ermöglicht, in unserer Zeit so über-
aus populär sind.
Wir machen unsere Erfahrungen im Leben in katastrophaler
Form, Aus Katastrophen haben wir die Art und Weise, wie
unser gesellschaftliches Zusammensein funktioniert, zu er-
schließen. Zu den Krisen, Depressionen, Revolutionen und
Kriegen müssen wir, denkend, die »inside story« erschließen.
Wir fühlen schon beim Lesen der Zeitungen (aber auch der
Aufsätze zur Literatur 457

Rechnungen, Entlassungsbriefe, Gestellungsbefehle und so


weiter), daß irgendwer irgendwas gemacht haben muß, da-
mit die offenbare Katastrophe eintrat. Was also hat wer ge-
macht? Hinter den Ereignissen, die uns gemeldet werden,
vermuten wir andere Geschehnisse, die uns nicht gemeldet
werden. Es sind dies die eigentlichen Geschehnisse. Nur wenn
wir sie wüßten, verstünden wir.
Nur die Geschichte kann uns belehren über diese eigentlichen
Geschehnisse - soweit es den Akteuren nicht gelungen ist, sie
vollständig geheimzuhalten. Die Geschichte wird nach den
Katastrophen geschrieben.
Diese Grundsituation, in der die Intellektuellen sich befinden,
daß sie Objekte und nicht Subjekte der Geschichte sind, bildet
das Denken aus, das sie im Kriminalroman genußvoll betäti-
gen können. Die Existenz hängt von unbekannten Faktoren
ab. »Es muß irgendwas geschehen sein«, »es zieht sich was
zusammen«, »es ist eine Situation entstanden« - das fühlen
sie, und der Geist geht auf Patrouille. Wenn überhaupt, dann
kommt Klarheit aber erst nach der Katastrophe. Der Mord
ist geschehen. Was hat sich da zuvor zusammengezogen? Was
war geschehen? Was für eine Situation war entstanden? Nun,
man kann es vielleicht erschließen.
Dieser Punkt mag nicht der entscheidende sein, er ist mög-
licherweise nur ein Punkt unter anderen. Die Popularität des
Kriminalromans hat viele Ursachen. Jedoch scheint mir diese
Ursache immerhin eine der interessantesten.

Über den Kriminalroman


Aber die handelnden Typen sind sehr grob gezeichnet, die
Motive des Handelns sind massiv, die Vorkommnisse plump,
alles, besonders die Verkettung, ist so unwahrscheinlich, es
gibt-viel zuviel Zufall darinnen; es herrscht ein niederer
Geist. Es hat keinen Sinn, zu bestreiten, daß die Zeichnung
458 Zur Literatur und Kunst

der handelnden Typen meist nur oberflächlich erfolgt. Es wird


über sie meist nur eben so viel ausgesagt, wie der Leser zum
Verständnis ihres Handelns braucht; der Aufbau der Charak-
tere vor dem Leser geschieht im allgemeinen zugweise; es
besteht eine ständige Verknüpfung mit den Handlungsweisen.
Der und der Mensch ist rachsüchtig, darum schreibt er den
Brief, oder der und der Brief ist von einem Rachsüchtigen
geschrieben: wer ist der Rachsüchtige? Am Aufbau des Cha-
rakters nimmt der Leser als an einer Tätigkeit teil; es ist eine
Enthüllung, die gemacht sein will. Und da der Verfolgte, der
Mensch, von dem die Charakterzeichnung angefertigt werden
soll, davon meist Nachteile zu erwarten hat, gibt er seine
Charakterzüge nur sehr ungern preis. Er drückt sich nicht
nur aus, sondern er produziert Züge, er fälscht: er stört das
Experiment bewußt. Man denkt wieder an die moderne Phy-
sik: Das beobachtete Objekt wird durch die Beobachtung
verändert. Solche Gipfelleistungen der literarischen Psycholo-
gie (Gipfelleistungen, weil vom Standpunkt der modernen
wissenschaftlichen Psychologie die Menschenschilderung des
Romans völlig veraltet ist) ergeben sich im Kriminalroman
sofort daraus, daß hier das bürgerliche Leben als Erwerbs-
leben aufgefaßt und beschrieben wird. Mitunter finden sich
selbst Gestaltungen höherer Art. Der Schachdenker Poes, Co-
nan Doyles Sherlock Holmes und der Pater Brown Chester-
tons.

Komisches
1

In den »Wolken« gibt ein Bauer seinen Sohn zu einem Tui in


die Lehre. Er erfährt am eigenen Leibe, daß er für teuren
Preis eine schlechte Ware verkauft bekommen hat, und ver-
prügelt den Tui.
Aufsätze zur Literatur 459

In den »Verliesen des Vatikans« reist ein Provinzler nach Rom


und streift um den Vatikan herum, um die vermuteten Ge-
heimnisse des Papstes aufzuspüren. Da ich den Inhalt verges-
sen habe, weiß ich nicht mehr, ob es in dem Buche so ist,
daß die Verbrechen des Klerus ganz offenkundig, aber dem
Provinzler nicht als solche erkennbar sind, wogegen die Ver-
liese nicht existieren, so daß er beruhigt oder doch ohne Be-
weise wieder nach Hause zurückfährt.

3
Im »Michael Kohlhaas« gäbe es einen Fall, für den ein Tui
fehlt. So entsteht nur Chaos aus dem Gerechtigkeitssinn des
Viehhändlers, sonst wäre es beim einfachen Unrecht geblieben.

In der »Odyssee« bereist ein Mann die ganze Welt auf der
Heimfahrt. Seine Schlauheit hilft ihm aus jeder Lage, aber
nicht in die Heimat.
Kolumbus sucht den Seeweg nach Westindien, findet ihn
nicht, jedoch findet er Amerika. Er hat also Erfolg gehabt.

5
Im »Inferno« zeigt der Dichter Vergil dem Dichter Dante
dessen Feinde in der Hölle.

»Joseph in Ägypten« kauft als Ratgeber des Pharao das Ge-


treide auf, verursacht so eine Hungersnot und beseitigt sie
wieder, indem er das Getreide zu hohen Preisen verkauft.
Er wird als Wohltäter der Menschheit gefeiert.
460 Zur Literatur und Kunst

7
Im »Don Quichote« liest ein Mann zu viele Ritterromane
und beschließt, große Taten zu verrichten. Er findet keine
Gelegenheiten. In seiner verdorbenen Phantasie hält er Müh-
len und Hammelherden für seine Feinde.

Im »Candide« lernt ein Jüngling, alles, was sei, müsse so sein,


und erfährt, daß diese Lehre nicht für alle gleich gut ist.

Die Schildbürger zertrampeln ein Saatfeld, damit nicht ein


einziger es zertrampelt. Die große Zerstörung zur Vermei-
dung der kleinen Zerstörung. Die Aktion zur Vermeidung
der Aktion.

10

Kolumbus ertrinkt in einer Waschschüssel, nachdem er das


Weltmeer gemeistert hat. Es genügte: er kann nicht schwim-
men. (Was zum Meistern des Weltmeeres nicht nötig ist.) Die
Widerlegung.

11

»Der brave Soldat Schwejk« marschiert begeistert in den


Krieg, kommt aber nie dort an. Die Klugheit seiner Oberen
scheitert an seiner »Dummheit«. Die großen Pläne werden
zunichte über dem kleinen Plan des Kleinen, zu überleben.
Aufsätze zur Literatur 461

12

Die österreichischen Eisenbahner setzen ihre Forderungen bei


der Regierung nicht durch einen Streik durch, sondern indem
sie alle Betriebsbestimmungen gewissenhaft ausführen (was
sonst nie geschieht), so daß kein Zug mehr ankommt noch
abfährt.

Im »Ulysses« werden die Alltagserlebnisse eines Kleinbürgers


als komplizierte und gefährliche Abenteuer (minutiös) dar-
gestellt.

Die Eroberungen des französischen Imperialismus begeistern


auch den Provinzler Tartarin von Tarascon zu allerlei Helden-
taten.

15

Ein gewerbsmäßiger Beutelschneider wird von den sich die


Taschen füllenden Beamten als Revisor betrachtet, und die
Beute wird mit ihm geteilt.

16
Der Hauptmann von Köpenick benutzt Tonfall und Hal-
tung (und Uniform) eines preußischen Hauptmanns, um eine
Kasse zu plündern. Er ist Schuster und ungebildet, was un-
entdeckt bleibt, das heißt, was die Illusion vervollständigt.

17
Eulenspiegel macht seine Mitbürger durch Schaden klug.
462 Zur Literatur und Kunst

18

Es bedarf großer Wunder, damit die Pucelle in der franzö-


sischen Armee eine Jungfrau bleibt.

19
Im »Zerbrochenen Krug« muß ein Richter ein Verbrechen ent-
decken, das er selbst begangen hat.

20
Nur mit Hilfe des Teufels gelingt es dem gelehrten Faust, ein
deutsches Mädchen zu verführen.

21
In einer genauen Rechnung zeigt Swift, daß man den Hunger
des Volkes nur beseitigen kann, indem man seine Kinder zu
Pökelfleisch verarbeitet.

Tschuang-tsi zeigt in den »Leiden der Brauchbarkeit«, daß


die Unnützesten die Glücklichsten sind.

23
Dickens zeigt in »Bleak House«, wie die Prozesse um die
Vermögen die Vermögen verschlingen.

24
Lenz im »Hofmeister«, daß die Lehrer nur Stellen bekommen
können, wenn sie sich selber kastrieren.
Aufsätze zur Literatur 463

Lysistrata organisiert gegen den Krieg den Ehestreik. Die


Männer folgen eher als der Stimme der Vernunft der Stimme
des Schwanzes.

16
Der Fischer und seine Frau erfahren, daß man, mehr wün-
schend, als Kaiser zu sein, wieder ins Elend kommt.

27
Ein Gangster in »Little Giants« kommt in die feine Gesell-
schaft und wird bis aufs Hemd ausgeplündert. Nur seine alten
Methoden verschaffen ihm alles zurück.

28
In »Turandot« (meine Version) verspricht der Kaiser jedem die
Hand seiner Tochter, der das Rätsel lösen kann, was an dem
Elend des Landes schuld ist. Wer es nicht kann, es aber ver-
sucht, wird enthauptet. Der Kaiser selbst ist schuldig, was
die Lösung der Aufgabe schwierig macht.

Die Witwe von Ephesus, deren Mann ermordet wurde, zieht


ins Schauhaus, um ihre Treue zu zeigen. Dort wird sie von
dem Henker verführt. Da während des Beischlafs der Ge-
henkte vom Galgen gestohlen wird, für den der Henker ver-
antwortlich ist, muß sie den Leichnam ihres Mannes an den
Galgen hängen.
464 Zur Literatur und Kunst

Durch besondere Kasteiung wird der Heilige Antonius von


besonders wollüstigen (und sündigen) Träumen heimgesucht.

Chaplin erscheint im »Goldrausch« sein bester Freund in


einem Fieber, das von Hunger verursacht ist, als großes Huhn,
das er schlachten möchte.

32
Der Herzbruder im »Simplizissimus« zeigt im Frieden die
Tapferkeit und Schläue, die ihn im Krieg zu einem großen
Soldaten gemacht haben, und wird als schlechter Kerl hinge-
richtet.

Kulturerbe
Es ist eine traurige einfache Aufgabe, sich in unserer Zeit
über den hemmungslosen und schauerlichen Verfall der Kultur
klarzuwerden. Wir müssen nur in unser Gedächtnis rufen,
was Kultur ist, um sogleich zu erblicken, daß wir nur mehr
wenig davon haben, eben fast nur mehr die Vorstellung davon.
Außer einer Aufstellung dessen, was eine Kultur ausmacht,
braucht es keines Beweises mehr. Nur wenn wir unter Kultur
nichts verstehen als das, was uns umgibt, können wir meinen,
von Kultur umgeben zu sein.
Gemeinhin messen wir den Stand einer Kultur an den Schrif-
ten und schönen Gegenständen, die ein Volk hinterläßt. Ihr
Zustandekommen und ihr Gebrauch läßt auf Kultur schlie-
ßen. Sie dienen als Beweis dafür, daß das Volk, das sie her-
vorbrachte und gebrauchte, sein Leben zu meistern wußte.
Aufsätze zur Literatur 465

Darauf deutet ein hoher Stand der Wissenschaften hin, das


zeigt eine Fortgeschrittenheit der Technik an. Gegenstände
täglichen Gebrauchs verlieren in solchen Völkern die Eindeu-
tigkeit der Zwecke; sie bedienen mehr als einen Wunsch. Die
Maße der Dinge und Räume sind nicht mehr länger einzig
aus dem, was zufällig zur Verfügung stand, und dem, was
unmittelbar benötigt wurde, zu erklären.

[Das Werk der kleineren Genien]


Man versteht nichts von der Literatur, wenn man nur die
ganz Großen gelten läßt. Ein Himmel nur mit Sternen erster
Größe ist kein Himmel. Man mag bei Lenz nicht finden,
was man bei Goethe findet, aber man findet auch bei Goethe
nicht, was bei Lenz. Und es ist überhaupt nicht so, daß einem
Werk der kleineren Genien notwendig etwas abgeht. Sie kön-
nen in sich und in allem perfekt sein. Einige der Unbekann-
teren hatten lediglich nicht die Zeit, mehr zu schreiben oder
sich reicher zu entwickeln, oder nicht das Geld oder nicht die
Beziehungen oder nicht die Nerven. Einige versagten in der
Kunst des Speichelleckens, welche von einigen der Größten
meisterhaft beherrscht wurde. Andrerseits ist die Unsitte, die
deutsche Literatur auf Goethe, Schiller und Heine zu redu-
zieren, nicht einfach mit Zeitmangel zu entschuldigen. Wer
nicht mehr über sie weiß, weiß nichts über sie — 'meinet-
wegen aus Zeitmangel.
Notizen zu Heinrich Manns »Mut«
Das Außerordentliche an den Aufsätzen, die Heinrich Mann
im Exil veröffentlichte, scheint mir der Geist des Angriffs,
von dem sie erfüllt sind. Er geht aus von der Kultur, aber
die Kultiviertheit bekommt einen kriegerischen Charakter.
Es ist klar, daß es sich um die bürgerliche Kultur handelt, die
Kultur des Bürgertums in einem ganz bestimmten Abschnitt
seiner Geschichte, dem heutigen Abschnitt. Das bedeutet keine
Einschränkung, denn wenn die Kultur auch vom Bürgertum
entwickelt wurde und kontrolliert wird, so ist sie eben doch
das, was wir an Kultur haben, die Summe der Erfahrungen,
Impulse, Tendenzen widersprechender Art, das heißt, sie ist
immerhin so weit entwickelt, verallgemeinert und entwick-
lungsfähig, daß die Schranken, die ihr durch das Bürgertum
gesetzt werden, nicht absolut, unübersteigbar, zerstörerisch
sind. Der ist der höchste Stand unserer Kultur, von dem aus
das Bürgerliche als Schranke, Fessel und Bedrohung er-
scheint.
Das mag ein wenig dunkel klingen, aber der Scheffel, unter
den einer heute sein Licht zu stellen hat, ist nicht von ihm
gemacht.
Man kann die Kultur, das, was wir an Kultur haben, ledig-
lich verteidigen, man kann vom Humanismus sprechen und
dem Faschismus barbarisches Benehmen vorwerfen, die De-
mokratie loben und dem Faschismus die Demagogie ankrei-
den, die Weimarer Republik verherrlichen und die Potsdamer
Republik verreißen. Man kann sagen: Da ist Kultur gewesen
und da ist jetzt keine mehr. Man kommt dann nur nicht von
der Kultur zur Unkultur; man hat dann nur eben eine Kul-
tur, welche die Unkultur, wenn nicht erzeugt, so doch ermög-
Aufsätze zur Literatur 467
licht hat (schließlich kann die ihr nicht nur einfach gefolgt
sein).
Aus Heinrich Mann spricht aber nicht nur die Weimarer Re-
publik. Kultur entsteht, wird produziert in seinen Aufsätzen,
indem er den Faschismus angreift. Er greift den Faschismus
nicht nur an als eine vorübergehende Erscheinung, die ledig-
lich zu denunzieren ist, worauf man abwarten kann, bis sie
abklingt, so daß wieder der »normale« Zustand eintritt.
Heinrich Mann sieht deutlich, daß mit dieser Erscheinung
vieles vorübergeht. Sie ist keine Episode, sie ist die letzte
Phase. Sie ist nicht der vierte Akt des großen Schauspiels
»Aufstieg und Herrschaft des Bürgertums«, sondern der
fünfte. Und er wird kein Happy-End haben.
Es ist gerade die Verlumptheit, Schrecklichkeit und persönliche
Unzulänglichkeit des Regimes, welche viele von uns daran
hindert, das Unglück in seiner ganzen Tiefe und umwerfenden
Bedeutung zu erkennen. Die Machtübernahme ist als etwas
ganz Plötzliches, als ein Schock gekommen, als etwas, was
nicht vorauszusehen war. Merkwürdigerweise machen wir
nicht unserm Vermögen, vorauszusehen, den Prozeß, sondern
schreiben dem furchtbaren Ereignis etwas sozusagen Unge-
schichtliches, Äußeres, Fremdkörperhaftes, Momentanes, das
nicht eigentlich in die »normale Linie« gehört, zu, so uns eine
Linie vorstellend, die nur eine mehr oder weniger unbere-
chenbare Ausbuchtung enthält und dann wieder »normal«
weiterverlaufen wird. Den Faschisten wird der bürgerliche
Charakter abgesprochen, sie werden sozusagen aus dem Bür-
gertum ausgebürgert; erregt wird auf all das hingewiesen,
was der Faschismus »auch« mit dem Bürgertum treibt. Sind
nicht »auch« Generäle erschossen worden? Hat man nicht
auch Bankpräsidenten abgesetzt? Werden etwa die Denk-
schriften besorgter Wirtschaftsführer beachtet? Verschont man
Goethe? So argumentierend, sieht man nicht verlumptes,
schrecklich gewordenes, als Klasse unzulänglich gewordenes
Bürgertum, und so versteht man nicht. Nur mitunter blitzt
468 Zur Literatur und Kunst

einem bei dem oder jenem Ereignis auf, wie da etwas von
einer schrecklichen, verlumpten, unzulänglichen Logik wirk-
sam ist, beunruhigt wendet man sich von diesem Einfall ab,
bevor er zum Gedanken geworden ist, und wendet sich wie-
der dem Nachweis der Absurdität, Abnormalität, Unzuläng-
lichkeit zu.
In Wirklichkeit hat man den Übergang von unblutiger Unter-
drückung und Aussaugung zu einer blutigen Unterdrückung
und Aussaugung vor sich. Die Summe der Lebensjahre, die
dem ausgequetschten, niedergetrampelten Volk in der norma-
len Zeit entzogen wurden, ist größer als die Summe jener
Lebensjahre, die ihm jetzt entzogen wird, und sogar größer
als die, die ihm in den kommenden Kriegen wird entzogen
werden können. Die Deformierung (Anomalisierung) seines
Lebens war gewaltig. Sie reicht jetzt der herrschenden Klasse
nicht mehr aus. Auch die Geschäfte, die jetzt »mit anderen
Mitteln« fortgeführt werden sollen, wie eine ausgezeichnete
bürgerliche Formulierung des Krieges lautet, waren schon
tödlich. Viele Verurteilungen des Faschismus sind bloße Aus-
setzungen an einem »Zuviel«, als handle es sich nur um ein
Über-den-Strang-Schlagen. Was die Logik betrifft, sind die
Faschisten bei Auseinandersetzungen mit solchen Gegnern im
Grund bessergestellt. Argumentiert man auf der Grundlage,
daß dies oder jenes Brutale für die kapitalistische Wirtschaft
»nicht nötig« sei, so wird man mit sehr guten und unangreif-
lichen Argumenten belehrt, wie nötig es ist: Die Faschisten
wissen da tatsächlich besser, was für dieses System alles nötig
ist. Die Entrüstung über die Unersättlichkeit der faschistischen
Forderungen etwa ist abzuweisen mit dem Hinweis, daß dem
mit dem letzten Rest seiner zerstörten Lunge atmenden
Kranken moralische Vorstellungen über seine Unersättlichkeit
an Sauerstoff nichts helfen. So wie der Kapitalismus seine
zyklischen Krisen braucht zur Einstampfung seiner Über-
produktion, die er eben auf keine andere (schönere, nütz-
lichere, menschlichere) Weise wegbringen kann, als indem er
Aufsätze zur Literatur 469

sie einstampft, so braucht er seine Kriege: Er ist durch und


durch eine krisenhafte und kriegshafte Wirtschaftsordnung.
Man kann sagen, daß der Kapitalismus erst in dieser seiner
bisher letzten Phase, der faschistischen, ganz unerträglich ge-
worden sei, aber dann ist er es eben doch auch als Kapitalis-
mus geworden. Die berühmte Dynamik, die man dem Faschis-
mus in Pacht gibt, ist die alte, oft abgehandelte Dynamik der
kapitalistischen Kapitalsakkumulation. Was jetzt in einigen
Ländern dynamischer (und unerträglicher) geworden ist, ist
der Kapitalismus.
Nicht ohne weiteres, nicht unmittelbar, nicht sofort erkennen
die Humanisten die furchtbaren kulturellen Entartungs-
erscheinungen, die sie erkennen, als Symptome und Folge-
erscheinungen einer furchtbaren Produktionsweise, nämlich
der bürgerlichen. Vor den Augen der deutschen Mittelschich-
ten verwandelt sich die Produktion der Lebensgüter in eine
Produktion der Mordgüter. Nur die Arbeit hält uns am Le-
ben: schreit das Regime. Und es ist eine Arbeit, welche das
Leben bedroht, und nicht nur das der andern. Das Regime
will den Krieg, sagen die Erschrockenen. Falsch, sagt das Re-
gime, wir scheuen ihn nur nicht. Das wird genügen, stöhnen
die Erschrockenen. Den Frieden wollen wir, brüllt das Re-
gime, man kann ihn haben, wenn unsere Forderungen erfüllt
werden! »Gerecht hin, gerecht her, jedenfalls dürfen sie nicht
euch erfüllt werden!« Und plötzlich kommt eine andere
Stimme: Gerecht hin, gerecht her, sie sind nicht zu erfüllen.
Es hat keinen Sinn, den kapitalistischen Staaten Beschwö-
rungsformeln entgegenzurufen. Beutet aus, aber nicht zu
stark! Führt Kriege, aber nicht gegen die Zivilbevölkerung!
Mit Kanonen, aber nicht mit Gas! Ich höre, der amerikanische
Kongreß »beschränkte die Rüstungsgewinne auf 10%«. Er
könnte ebensogut die Mannschaftsverluste im Krieg »auf
10 % beschränken«.
Den Kapitalismus zur Vernunft rufen, heißt ihn auffor-
dern, seine Kontobücher durchzulesen. Der Faschismus ist der
47© Zur Literatur und Kunst
Kapitalismus der Habenichtsstaaten, er ist als Kapitalismus
ebenso vernünftig wie der Kapitalismus der Habewasse. Nur
wenn man unter Vernunft die Summe aller Fähigkeiten ver-
steht, welche die gesamte Menschheit zur Verteidigung ihrer
Interessen aufzuwenden in der Lage ist, kann man sagen, daß
der Kapitalismus (der in bestimmten Lagen und Phasen in
den Faschismus übergeht) gegen die Vernunft ist.
Was wir in der bürgerlichen Produktionsweise haben, ist eine
blutige, kriegerische Produktionsweise, so blutig und kriege-
risch, als sie eben sein muß (und sein kann), damit die Pro-
duktivkräfte sich unter der Geißel des Profits halbwegs aus-
laufen können.

Man hat Heinrich Mann mit Victor Hugo verglichen. Man


tut Victor Hugo, dessen Haltung gegen den dritten Napoleon
exemplarisch war, nicht unrecht, wenn man den Vergleich schief
findet, weil man mit ihm Mann unrecht täte. Die Zeit ist
nicht stillgestanden seitdem. Es gibt sehr frappante Berüh-
rungspunkte zwischen den beiden Epochen, man wird ihrer
gewahr, wenn man Marxens klassische Analyse liest. Aber die
Mussolinis und Hitlers wirken in einer ganz anderen Phase,
einer weit vorgeschrittenen Phase, und so tut es Mann.
Heinrich Manns »Untertan«, meines Wissens der erste große
satirische politische Roman der deutschen Literatur, war die
brillante Beschreibung des deutschen Wirtschaftsführers der
Vorkriegsepoche. Die Literatur formulierte hier noch einmal
die deutsche Misere. Das Bürgertum hat immer noch nicht
seine politische Revolution vollzogen. Selbst schon völlig
schmarotzerhaft geworden, kann es immer noch nicht, oder
besser: schon nicht mehr, die feudale Klasse von der politi-
schen Leitung verdrängen. Nach unten tritt es mit dem Stie-
fel, von oben muß es sich auf die Schulter klopfen lassen. Im
Staat ist Untertan, der im Betrieb der Tyrann ist, sein großes
Vorbild ist der Anachronismus auf dem Thron.
Aufsätze zur Literatur 471

Was ist seitdem passiert? Zunächst gab es einen seltsamen Wi-


derspruch. Es gab ein Volk, das den Krieg verlor, und es gab
zugleich Kriegsgewinnler. Es gab überall Kriegsgewinnler,
und es gab nirgends ein Volk, das den Krieg gewann. Jeden-
falls ist der Krieg, wie man in tausend Artikeln lesen konnte,
»bloß« vom Volk verloren worden. Der Untertan fand mit-
unter auch, »bloß« vom Militär. Das Militär bestand aus
Offizieren, den Ideologen des Militarismus. Der Untertan
war »bloß« Reserveoffizier, »bloß« Reservemilitarist.
Wir wissen, daß der Untertan heute gelegentlich untertänigst
besorgte Denkschriften einreicht. Görings Kampf gegen den
Verderb wendet sich unter anderm auch gegen solche Papier-
verschwendung.
Zu Beginn, ein Beginn muß ja dasein, hat er dem Untertan
in einer Aussprache, die ein Baron und ein Offizier vermittelt
hatten, auseinandergesetzt, was der Untertan eigentlich
brauchte, wenn er es auch nicht wußte. Der Untertan hat es
endlich verstanden. Er hat den Mann engagiert.
Bei der Sache war kein Betrug. Er mochte damals denken
oder auf jeden Fall sagen, es sei ein Betrug, er habe betrogen.
Aber er täuschte sich (oder die andern). Es war keiner.
In gewisser Weise trat der Untertan in den Schatten, aber es
war ein profitabler Schatten. Das Geld im Tresor liegt auch
im Schatten.
Der Untertan blieb der Untertan, aber das war das beste
für ihn. Seine Denkschriften landen im Papierkorb, aber nur,
weil sie ganz falsch sind, nämlich wirklich falsch, für den
Untertan grundfalsch. Es ist ja alles in bester Unordnung,
welche für ihn die beste Ordnung ist. Der Untertan ist der
einzige Typ im Staat, für den der Führer wirklich sorgt, des-
sen »Opfer« wirklich zu seinem Besten dienen.
»Die Rede« ist ein erstaunliches Werk. In ihr redet der neue
Herr. Für den Untertan kommt er nicht von oben, wie der
letzte, sondern von unten. »Aus dem Volk« (Mann äußert sich
dazu). Der alte Herr ist kopiert in jedem Schritt, selbst in der
47 2 Zur Literatur und Kunst

Lautgebung (»Wolfsgeheul«, sagte Karl Kraus); auch das Ar-


rangement ist dasselbe, nur alles sehr vergrößert und noch
viel leerer. Der Untertan hatte den alten Herrn ebenfalls
kopiert. Nun sieht er die neue Kopie bei seinem neuen Herrn
(welcher Ausdruck bekanntlich auch vorkommt in gewissen
Geschäftsbriefen, wo es heißt: »Und wird unser Herr X dem-
nächst bei Ihnen vorsprechen«). Eine interessante Begeg-
nung!
Für den großen Schriftsteller eröffnete sich nach dem Herauf-
kommen des Faschismus ein neuer Weg.
Hinter dem Wirtschaftsführer (dessen Porträt im »Untertan«
und dessen Milieu in den bedeutenden Werken »Zwischen den
Rassen« und »Im Schlaraffenland« erschien) hatten die rie-
sigen Mittelschichten gestanden. Der Gegensatz zwischen
Klein- und Großbürgertum schien verwischt. Die Mittelschich-
ten verdienten noch. In den Jahren nach dem Krieg übten sie
eine Art Scheinherrschaft aus. Die Inflation bereitete ihre Pro-
letarisierung vor, die Arbeitslosigkeit griff in ihre Reihen
über. Aber die ungeheure wirtschaftliche Ausrüstung der ra-
tionalisierenden Industrie ging hinter dem Rücken der Poli-
tik, hinter dem Rücken der Mittelschichten vor sich. Die Her-
ren vom Militär schienen der einzige Feind, dort dominierten
Großbürgertum und Feudalität, aber nur wenigen kam es
zum Bewußtsein, daß hier die Kommandohöhen lagen, die
den Umschlag der industriellen Aufrüstung in die militäri-
sche »garantierten«. Dann benützten Großbürgertum und
Feudalität gerade den ökonomischen Niedergang der Mittel-
schichten, ihre zunehmende Proletarisierung als den Hebel
zum politischen Sturz der Mittelschichten. Der aus dem Pro-
duktionsprozeß geworfene, verlumpte Teil der Mittelschich-
ten, die konkurrenzunfähigen Handwerker und kleinen
Geschäftsleute, die zwischen feudalem Grundbesitz und groß-
bürgerlicher Industrie zerriebenen Bauern lieferten sich noch
einmal in der Stunde, wo der ganze deutsche Produktions-
apparat in die Weltkrise eintauchte, der Großindustrie und
Aufsätze zur Literatur 473
dem Großgrundbesitz aus, die Mittelschichten bekamen eine
»Mission«.
Die Finsternis verfinsterte sich, aber Mann sah klar, was
passiert war. Die Konzeption des Untertan war abstrakt ge-
wesen, in einem tiefen Sinn negativ. Die Schwäche, Unkonse-
quenz, Jämmerlichkeit und Unselbständigkeit des Bürger-
tums war herausgebracht worden. Jetzt trat der jämmerliche
und Jammer erzeugende Charakter des konsequenten Bür-
gertums hervor. Das, was dem Großbürger, dem Untertan
zum großen Bürger gefehlt hatte, war nur noch mehr Ver-
lumptheit; seine Schranken durchbrechend, gewann er erst
seine volle Unmenschlichkeit. Nicht weil er ein schlechter
Bürger war, war er schlecht, sondern weil er ein Bürger
war. (Denn die Zeit war fortgeschritten, das ist die »Dyna-
mik«.)
Die Mittelschichten fielen unter den großen Enteigner, und es
war nicht der Kommunismus, es war der Kapitalismus. Er
enteignete den Bauern, den kleinen Sparer, den Handwerker.
Er macht die Zerstörung zu seiner Produktion. Er gebraucht
das Leben, um es wegzunehmen.
Diese Sicht war nur zu gewinnen außerhalb der bürgerlichen
Sphäre, und da es keinen Standpunkt außerhalb der kon-
kreten Sphären gibt, da außer dem Konkreten nichts ist, war
er nur zu gewinnen beim Proletariat.
Das Großbürgertum spricht dem Schriftsteller Heinrich Mann
das Bürgerrecht ab, es macht seine Sache zur Sache des Prole-
tariats, die Sache des Proletariats zur seinen.
Mann geht den Mittelschichten sicherlich weit voraus, aber es
ist ebenso sicher, daß sie seinen Weg gehen. Sie werden getrie-
ben ins Proletariat.
Mann geht voraus, indem er angreift. Er gibt die unhaltbaren,
untergrabenen Positionen des Bürgertums preis, welche nicht
die der Freiheit sind, denn es gibt keine Freiheit irgendwel-
cher Schichten auf dem Rücken anderer Schichten. Die Positio-
nen des Freiheitsanspruchs werden größer, weiter, mächtiger,
474 Zur Literatur und Kunst
indem die Freiheit für alle proletarischen Schichten, für alle
vom Faschismus hinuntergetrampelten, ausgequetschten Schich-
ten, für alle Enteigneten gefordert wird.
So wird die kühne und intuitive Konzeption des Untertan
zu einer konkreten, positiven Konzeption, sie wird aktiv.

Einer der einleuchtendsten Aufsätze des Buches »Mut« ist


einer Führerrede gewidmet. Nicht als ob die Rede selber
darin beachtet würde, sie kommt kaum vor. Sie ist ein For-
malismus, und Mann hält sich an die Form. Gleich zu Beginn
wird von der allgemeinen Erwartung gehandelt.
»Wer weiß, vielleicht erfolgt dennoch eine Überraschung. Der
Redner könnte zum Beispiel seine Rede halten, während er
kopfüber am Trapez hängt. Oder er spricht arisch.1«
Der witzige Charakter dieser Notierung muß uns nicht ab-
halten, die Erkenntnis, die sie enthält, zum Gegenstand einer
Betrachtung zu machen.
Die formale Natur des deutschen Nationalismus wird hier
sehr glücklich angedeutet. Dieser Mensch kann natürlich so
wenig arisch sprechen, als er etwa arische Dynamos bauen
oder dem Volk, das nicht nur arisch, sondern auch hungrig ist,
arisches Rindfleisch verschaffen kann.
Hier tritt nicht eine Nation (Rasse) in kapitalistischer Form
an, sondern der Kapitalismus in nationaler Form. Was diese
Nation braucht (sehr viel), ist, was diese Kapitalisten brau-
chen. Man kann den Satz nicht umdrehen. Wenn die gigan-
tischen internationalen Wirtschaftskämpfe ausgekämpft sein
werden, in nationaler Form, als Kampf zwischen Nationen,
günstigenfalls glücklich für die deutsche »Nation« (arische
Rasse, Sektion Deutschland), dann wird alles, was gebraucht
wurde und gebraucht wird, in durchaus kapitalistischer Weise
vorhanden sein, das heißt für den allergrößten Teil der

i [Hervorhebung von Bertolt Brecht.]


Aufsätze zur Literatur 475

»Nation« nicht vorhanden. Dynamo und Rindfleisch wer-


den nicht einmal mehr der Form nach national behandelt
werden.

Mann läßt Hitler im Selbstgespräch folgendes sagen:


»Mein Volk und mein Genie, sie werfen eins das andere zu-
rück und vervielfältigen sich, eine unendliche Galerie von Spie-
geln, leer glänzend. Vor lauter Großbeleuchtung sind beide
leer, mein Genie, mein Volk. Tut nichts, der Zustand kommt
nicht oft vor, ich habe nicht umsonst gelebt und denke von
mir vorteilhaft. Wie ohne weiteres auch mein Volk denkt.
Das Spiegelbild und sein Beschauer sind eins. Ohne den Ge-
spiegelten kein Bild. Wo wäre dies Volk, wenn es nicht das
Glück hätte, daß ich mich in ihm spiegele, daß es in mir sich
spiegeln darf. Wir sind unzertrennlich, kein Fetzen Papier
soll sich zwischen uns drängen, so daß wir uns nicht mehr
sähen. Auch nichts anderes darf vor meinen Spiegel treten
und mir mein Bild verdecken: besonders keine Theorien, und
schon gar nicht die Toten. Wie lästig sind Theorien, wie un-
bekömmlich sind Tote. Ihre Entschuldigung ist nur, daß es sie
nicht gibt. Die Wirklichkeit, die ganze Wirklichkeit — bin
ich.«
Ein Satz Hegels, aus der Einleitung zur »Philosophie der
Geschichte«, da, wo von den großen Männern, den »Ge-
schäftsführern des Weltgeistes« gesprochen wird: »... deshalb
folgen die anderen diesen Seelenführern, denn sie fühlen die
unwiderstehliche Gewalt ihres eigenen inneren Geistes, der
ihnen entgegentritt.« Der Führerglaube der Mittelschichten
ist nicht einfach ein Wahn. In dieser geistigen Rückständigkeit
spricht sich die Rückständigkeit der Mittelschichten in der
modernen Wirtschaft des Hochkapitalismus aus. Sie erhalten
ihre Führung also auch vom Kapitalismus. Sie sind untüchtig,
sie müssen ertüchtigt werden. Der Kapitalismus macht es
zu einer Frage der Tüchtigkeit, ob der Bauer unter den
476 Zur Literatur und Kunst

Bedingungen, die der Kapitalismus über ihn verhängt, aus


seinem Boden »genug« herauswirtsdiaften kann. Das deutsche
Volk muß tüchtig genug gemacht werden, einen Weltkrieg zu
gewinnen, um Butter aufs Brot zu bekommen. Es muß genug
zerstören, in Grund und Boden schießen, morden, vergasen,
hängen und unterjochen können, um etwas Butter aufs Brot
zu bekommen. Die Gesamtproduktion wird zu einer Produk-
tion von Zerstörungsmitteln. Der Mensch hat sich zu bewäh-
ren, indem er den Menschen ausrottet. Die Mittelklassen
brauchen also ihre Führung, ohne Führung könnten sie das
alles nicht leisten. Aber der Kapitalismus steckt nicht nur im
Sumpf, sondern er produziert Sumpf. Er investiert allen
Fleiß, alles Ingenium, alles Planen, alle Grausamkeit, alle
Tüchtigkeit in die Produktion des Sumpfes.
Man hat es also sehr ernst zu nehmen, daß die Mittelschichten
eine Führung brauchen. Es ist eine Tatsache. Es ist eine histo-
rische, politische, soziale, wirtschaftliche Tatsache.
Es ist so erwiesen, daß sie eine Führung brauchen, wie es
erwiesen ist (oder sich erweisen wird), daß sie keine faschisti-
sche Führung brauchen können. Es muß ihnen geholfen wer-
den, denn sie können sich nicht helfen.
Sie werden heute nicht von einem Führer unterdrückt, ent-
eignet, ans Messer geliefert (auch der Mörder wird übrigens
ans Messer geliefert), sondern von einer Klasse. Sie können
nur befreit werden von einer Klasse. Sie selber sind keine
Klasse, die sich selber befreien kann.
Sie haben keinen Plan, wissen keinen Ausweg aus der Wirr-
nis, sie können weder ein allgemein wirksames, neues, pro-
duktives Wirtschafts- und Gesellschaftssystem vorweisen noch
ein solches garantieren. Sie sind allein nicht imstande,' solche
tiefgreifenden Änderungen des Fundaments durchzuführen,
als nötig sind, die Freiheit aller Menschen, also auch ihrer
selbst zu erzwingen. Zu helfen vermag ihnen nur die Ar-
beiterklasse. Sie hilft ihnen, indem sie sich selber hilft.
Es ist nicht die deutsche Arbeiterklasse, der Heinrich Mann
Aufsätze zur Literatur 477

Mut! zuruft. Es sind die Mittelschichten. Sie bedürfen des


Muts. Denn sie bedürfen, um frei zu werden, einer Einsicht,
die Mut voraussetzt. Sie müssen aus ihrer Unterdrückung und
Proletarisierung dieselbe Konsequenz ziehen, welche die Ar-
beiter daraus zu ziehen haben: daß es heißt, zu kämpfen
gegen ein Gesellschafts- und Wirtschaftssystem, das zum Zwecke
der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen die Un-
terdrückung des Menschen durch den Menschen benötigt, und
zwar zunehmende Unterdrückung. Sie müssen so zum Volk
werden, welcher Begriff eigentlich nur einen Sinn hat, wenn
er »das Volk selber« bedeutet.
Mann schließt »Die Rede« damit, daß er Hitlers »Ich komme
aus dem Volk« bespricht. Der Satz erinnert sehr an den be-
rühmten ersten Satz der Weimarer Verfassung (die immerhin
so war, daß Hitler, ohne sie zu verletzen, zu dem kommen
konnte, zu dem er kam): »Die Staatsgewalt geht vom Volke
aus.« In einem Arbeiterchorlied wurde die Frage gestellt:
»Aber wo geht sie hin?« Und Mann meint: »Die deutschen
Arbeiter haben es gehört und haben überlegt, daß es durch-
aus nicht gut und rühmlich ist, aus dem Volk zu kommen,
wenn einer es dann mißbraucht im Auftrag der Feinde, die
dies Volk hat. Wir werden unsern sozialistischen Volksstaat er-
obern, haben die deutschen Arbeiter beschlossen . . . In un-
serm Volksstaat kommt niemand mehr aus dem Volk; denn
nichts wird da sein als nur das Volk.«
3. März 1939

[Schriftsteller im Exil]

[Geburtstagsbrief an Karin Michaelis]


Liebe Karin, ich denke nicht, daß Du sehr erstaunt bist, im
Exil zu sein; ich jedenfalls wäre eher erstaunt, wenn Du
nicht im Exil wärest - bei Deiner Liebe zur Wahrheit und
478 Zur Literatur und Kunst
Deinem Zorn gegen das Unrecht. Unsere Literaturgeschichte
zählt nicht so viele exilierte Schriftsteller auf wie etwa die
chinesische; wir müssen da^s damit entschuldigen, daß unsere
Literatur noch sehr jung ist und noch nicht kultiviert genug.
Die chinesischen Lyriker und Philosophen pflegten, wie ich
höre, ins Exil zu gehen wie die unsern in die Akademie. Es
war üblich. Viele flohen mehrere Male, aber es scheint Ehren-
sache gewesen zu sein, so zu schreiben, daß man wenigstens
einmal den Staub seines Geburtslandes von den Füßen schüt-
teln mußte.
Ich komme auf« die chinesischen Weisen auch deshalb, weil
ich Dich auf Thuro mit den Fischern und Studenten reden
hörte und weil ich an Deine tausend Geschichten über Land
und Leute denke, die Du leider nicht aufschreibst. Aber viel-
leicht schreibst Du sie in zwanzig oder dreißig Jahren auf,
dann werden es zweitausend sein. Sie werden mir nicht aus-
reichen.
Wir waren immer darin einig, daß die Zeit, in der wir leben,
für Kämpfer eine vortreffliche Zeit ist. In welcher anderen
Zeit hatte die Vernunft eine solche Chance? In keiner lohnte
der Kampf mehr.
In herzlicher Kameradschaft Dein Brecht
März 1942

[Einigung der deutschen Hitlergegner im Exil]

[Brief an Thomas Mann]


Sehr geehrter Herr Mann, Sie wissen, wie sehr mir Versuche
am Herzen liegen, eine Einigung der deutschen Hitlergegner
im Exil zustande zu bringen, war es doch besonders die Zwie-
tracht der großen Arbeiterparteien der Republik, die eine
Hauptschuld an der Machtergreifung Hitlers trug. Da ich
weiß, wieviel Sie zu einer Einigung beitragen können, glaube
Aufsätze zur Literatur 479

ich mich verpflichtet, Sie von dem schmerzlichsten Erstaunen


zu unterrichten, das Ihr so betonter Zweifel an einem starken
Gegensatz zwischen dem Hitlerregime und seinem Gefolge
und den demokratischen Kräften in Deutschland allen erregt
hat, die ich nach der Zusammenkunft gesprochen habe. Die
Vertreter der früheren Arbeiterparteien und, deutlich aus
einem tief religiösen Gefühl, Paul Tillich fühlen es weder als
ihr Recht noch als ihre Pflicht, sich dem deutschen Volk gegen-
über an einen Richtertisch zu setzen, ihr Platz scheint ihnen
auf der Bank der Verteidigung. Die Verbrechen Hitlerdeutsch-
lands sind offenbar, und wir Exilierten waren die ersten,
welche sie aufdeckten und eine lange Zeit ungläubige oder in
Indifferenz gehaltene Welt zur Gegenwehr aufriefen. Wir
sind es aber auch, die von den Verbrechen dieser Monster gegen
das eigene Volk wissen und vom Widerstand dieses unsres
Volkes gegen sein Regime. Die deutsche Kriegsführung zeigt
entsetzlich klar, daß der physische Terror des Regimes zu
ungeheuerlichen geistigen und moralischen Verkrüppelungen
der ihm ausgesetzten Menschen geführt hat. Jedoch opferten
auch über 300 000 Menschen in Deutschland ihr Leben in den
meistens unsichtbaren Kämpfen mit dem Regime allein bis
zum Jahre 42, und nicht weniger als 200 000 aktive Hitler-
gegner saßen zu Beginn des Krieges in Hitlers Konzentra-
tionslagern. Noch heute binden die Hitlergegner in Deutsch-
land mehr als 50 Divisionen Hitlerscher Elitetruppen, die
sogenannte SS. Das ist kein kleiner Beitrag zur Niederrin-
gung Hitlers. Diesen Kämpfern gegenüber tragen wir, die so
viel weniger beitragen können, eine schwere Verantwortung,
wie mir scheint. Ich stelle denn auch eine echte Furcht bei
allen unseren Freunden fest, daß Sie, sehr geehrter Herr
Mann, der Sie mehr als irgendein anderer von uns das Ohr
Amerikas haben, die Zweifel an der Existenz bedeutender
demokratischer Kräfte in Deutschland vermehren könnten,
denn die Zukunft nicht nur Deutschlands, sondern auch Euro-
pas hängt wohl davon ab, daß diesen Kräften zum Sieg
480 Zur Literatur und Kunst

verholfen wird. Ich schreibe diesen Brief, weil ich ehrlich über-
zeugt bin, daß es sehr wichtig wäre, wenn Sie unsere Freunde
über Ihre Stellungnahme in dieser wichtigsten aller Fragen
beruhigen könnten. Ihr Bertolt Brecht
/. Dezember 1943

Heinrich Mann
Der große Schriftsteller und Humanist Heinrich Mann be-
trachtete das Naziregime nicht, wie viele andere, als einen
»Rückfall« in die Barbarei, sondern als einen logischen und
gigantischen Vorstoß jener Barbarei, die sich, resultierend aus
der deutschen Wirtschaftsform, durch das ganze Kaiserreich
und die Weimarer Republik stürmisch zu diesem Tiefpunkt
hin weiterentwickelt hatte. Er hielt daran fest, daß das deut-
sche Volk nur das erste der Völker war, das von den Nazis
besiegt und unterworfen wurde, jedoch sah er auch die Ko-
lossalität dieses Sieges, resultierend in der Verlumpung brei-
tester Schichten. Er kannte die Auftraggeber. Was jetzt auf
den Nürnberger Anklagebänken sitzt, entstammt der Ver-
brechergaierie von Industriellen, Militärs, Beamten und poli-
tischen Abenteurern, gezeichnet in seinen großen politischen
Romanen. Er sah voraus, wie diese gewalttätigen Schichten
Deutschland verwüsten würden, als andere Schriftsteller, wie
etwa sein talentierter Bruder Thomas, diese Schichten noch
munter repräsentierten. Heinrich Mann glaubte nicht wie sein
talentierter Bruder, daß die deutsche Kultur da sei, wo er
war. Heinrich Mann sah die deutsche Kultur nicht nur da-
durch bedroht, daß die Nazis die Bibliotheken besetzten,
sondern auch dadurch, daß sie die Gewerkschaftshäuser be-
setzten. Im Exil arbeitete er praktisch mit an der Vereinigung
der großen proletarischen Parteien, in deren Macht allein die
Gewähr für eine deutsche Volksherrschaft liegt. Als er, siebzig-
jährig, die Pyrenäen erkletterte, um den deutschen und- fran-
Aufsätze zur Literatur 481

zösischen Faschisten zu entkommen, wandte er nicht dem


deutschen Volk den Rücken, sondern den Bedrückern des deut-
schen Volkes. Er fand nirgends eine zweite Heimat. Heimat,
definiert als das Land, wo am besten für die Menschheit
gekämpft werden kann.
Sein Humanismus, das heißt seine Menschenfreundlichkeit,
äußerte sich als kämpferischer Haß gegen die Unterdrücker
der Menschen. Die Uneinigkeit der Unterdrückten beküm-
merte ihn stärker als alles andere. Mehr als andere erwartet
er sich von ihrer Einigung. Gerade er, der die Verkommen-
heit unseres Vaterlandes so sehr deutlich sichtete, als sie vielen
noch nicht sichtbar war, ist besonders zuversichtlich in bezug
auf seine Zukunft, jetzt, wo sie vielen so sehr dunkel er-
scheint.
März 1946
Die Künste in der Umwälzung
1948 bis 1956
Wir sollten nicht mehr lange so schreiben, daß man zwar unsern Stand-
punkt, den sozialistischen, erkennt, aber nicht gezwungen ist, sich dafür
und dagegen zu entscheiden.
Die Künste in der Umwälzung
Der Hunger der ausgebeuteten und unterdrückten prole-
tarischen Massen nach Kunst ist außerordentlich im Augen-
blick ihrer Selbstbefreiung. Es ist der Hunger nach Lebens-
genuß, ein Teil dieses unterdrückten und gewaltigen Hungers.
In der schrecklichen und wunderbaren Zeit des Endkampfes,
des »letzten Gefechts«, und während der großen Kämpfe des
ersten Aufbaus herrscht meistens noch der nackte körperliche
Hunger, und der geistige kann schneller befriedigt werden.
Auch sehen die Massen in den Künsten Kampfmittel.
Die Bourgeoisie wirft die Kunst gemeinhin als erstes über
Bord, wenn ihr Schiff zu sinken beginnt, und nicht nur, weil
die besten Künstler schon vordem begonnen haben, an der
Senkung des Schiffes mitzuarbeiten. Das Proletariat ruft sie
zu sich, wenn es die Herrschaft übernimmt.
Wie erschütternd die Sorgfalt, welche die junge Sowjetregie-
rung, bedrängt von innen und außen, mitten im Krieg, mitten
im Hunger den Theatern erweist! Sie hilft mit Kohlen, mit
Sonderrationen, mit sofortigen Aufträgen. Dies wiederholt sich
zweiundeinhalb Jahrzehnte später, wenn im eroberten Berlin
der Sowjetkommandant schon in den allerersten Tagen anord-
net, daß die Theater geöffnet würden, die Hitler geschlossen
hatte. Der mit solcher Mühe niedergerungene Feind wurde in
die Theater eingeladen. Die ersten Maßnahmen des Siegers sind
Brotversorgung, Wasserinstallatiön und Öffnung der Theater!
Bevor es, nach der Revolution, seine Schwerindustrie aufbaut,
baut das russische Proletariat seine Filmindustrie auf. Zweiund-
einhalb Jahrzehnte später verhelfen seine siegreichen Soldaten
dem deutschen Volk, das ihm einen beträchtlichen Teil der
Schwerindustrie zerstört hat, zu einer neuen Filmindustrie!
486 Zur Literatur und Kunst

Es ist sicher: Mit der großen Umwälzung beginnt eine große


Zeit für die Künste. Wie groß werden sie sein?
1948

Salut, Teo Otto!

Vorwort zu Teo Ottos Exilswerk über den Krieg


Interessanterweise ist es nicht nur gefährlich, sondern auch
schwierig, den Krieg wahrheitsgemäß darzustellen. Genügt
es doch keineswegs, einfach aufzuzeichnen oder abzuzeich-
nen, was man von ihm sieht. Sonst könnten nicht so viele
seine Furchtbarkeiten sehen, ohne ihn selber furchtbar zu
rinden. Sie sehen eben auch seinen Heroismus, seine Kame-
radschaft, seine Erfindungsgabe und sein Glück. Was das übrige
betrifft, brauchen sie nur seinen Anpreisern zu glauben, daß
er nötig ist — auch der Chirurg vergießt ja Blut. Und ist er
etwa nicht nötig, wenn er doch, frei nach dem General Clause-
witz, nur die Fortführung der Geschäfte mit andern Mitteln
ist? So scheint es lediglich darauf anzukommen, was man über
die Geschäfte denkt...
Der Zeichner der vorliegenden Blätter hatte von Anfang an
mehr Aussicht als viele andere Zeichner, den Krieg richtig zu
sehen: er hatte ein Vorurteil dagegen. Er stammte aus der Ar-
beiterklasse und hatte es nicht vergessen. Diese Klasse, ohne
welche es unbekanntlich Geschäfte nicht gäbe, war es gewohnt,
Kriege zu bezahlen, die siegreichen wie die verlorenen. Hier,
in der Tiefe, auch hat der Friede einen kriegerischen Aspekt.
Zuinnerst der Sphäre der Produktion und allüber die Sphäre
der Produktion herrscht die Gewalt, sei es die offene des
Flusses, der die Dämme zerreißt, oder die geheime der
Dämme, die den Fluß niederhalten. Es handelt sich nicht nur
darum, ob Kanonen hergestellt werden oder Pflüge - in den
Kriegen um den Brotpreis sind die Pflüge die Kanonen. Die
Die Künste in der Umwälzung 487

Unternehmer entreißen den Arbeitern die Arbeitskraft, die


Arbeiter den Unternehmern die Löhne; und in den immer-
währenden und unerbittlichen Kämpfen der Klassen um die
Produktionsmittel sind die Zeiten verhältnismäßigen Frie-
dens nur die Zeiten der Erschöpfung. Von hier aus, von unten
aus, wird sichtbar, daß der »kriegerische Geist«, der die
Kriege entfesselt, welche kein friedlicher Geist je zu fesseln
vermöchte, der Geist der Geschäfte ist. Nicht so ist es, daß ein
zerstörerisches kriegerisches Element immer wieder (jedoch
eventuell ausschaltbar) die friedliche Produktion unterbricht,
sondern die Produktion selbst gründet sich auf das zerstöre-
rische, kriegerische Prinzip.
Unser ganzes Leben lang kämpfen wir um unsere Existenz -
gegeneinander. Die Eltern kämpfen um die Kinder, die Kin-
der um das Erbe. Der kleine Händler kämpft um seinen La-
den mit dem andern kleinen Händler und mit dem großen
Händler. Der Arbeiter kämpft um seinen Arbeitsplatz mit
dem Unternehmer und mit dem andern Arbeiter. Der Bauer
kämpft mit dem Städter. Die Schüler kämpfen mit dem Leh-
rer. Das Publikum kämpft mit den Behörden. Die Fabriken
kämpfen mit den Banken, die Konzerne kämpfen mit den
Konzernen. Und so weiter und so weiter — wie sollen da am
Ende nicht die Völker mit den Völkern kämpfen?
Solange wir nur leben können, indem wir unsern Schnitt
machen, solange es heißt »du oder ich« und nicht »du und
ich«, solange es nicht um den Fortschritt geht, sondern um
den Vorsprung - so lange wird Krieg sein. Solange es Kapita-
lismus geben wird, so lange wird es den Krieg geben.
Wieviel Elend haben die Lichter unserer Großstädte schon
erhellt, wenn sie ausgehen! Lange bevor die Heilkunst Hand-
langerin des Mordes wurde, hatte sie auf dem Markt ge-
standen und sich dem Meistbietenden verdingt. Lange bevor
die Physik ihr Wissen um das Atom verschwieg (wie weiland
ihr Erzvater Galilei sein Wissen um die Erddrehung), hatte
die Technik den großen Maulkorb akzeptiert. Die Chikagoer
488 Zur Literatur und Kunst

Weizenbörse kennt Blockaden ganzer Kontinente im »tief-


sten Frieden«; und als die Trusts gegen den Totalitarismus
zu Feld zogen, wußten sie, was das war. Viel Zerstörung ist
schon bewerkstelligt, wenn die Tanks über die Grenzen fahren,
welche die Waren nicht überschreiten können. Der Kampf für
den Frieden ist der Kampf gegen den Kapitalismus.
Salut, Teo Otto! Die zeichnerischen Dokumente, die du über
den Krieg angefertigt hast, gehören zu jenen Ausweisen, mit
denen das deutsche Volk heute versuchen muß, sich auszu-
weisen.
1949

Gruß an Feuchtwanger
Es ist für gewöhnlich schwierig, über die Produktion eines
Freundes zu schreiben, man ist da zu geduldig oder zu streng
oder beides, nämlich in einem zu geduldig und in andrem zu
streng. Dazu ist Feuchtwanger einer meiner wenigen Lehr-
meister. Durch ihn erfuhr ich, welche ästhetischen Gesetze zu
verletzen ich mich anschickte, aber so kundig er ist, so weit-
herzig ist er. Bei Disputen mit solchen, die seine Bücher nicht
mochten, geriet ich häufig in Streitigkeiten, wenn ich den
Rang, den ich seinen Büchern anwies, mit ihrer Gescheitheit
begründete und man ihre Gescheitheit zugab und gerade
darum ihren Rang bestritt: Bei den Deutschen wird bekannt-
lich ein scharfer Unterschied zwischen dem Dichten und dem
Denken gemacht. Auf diesen läppischen Unterschied lasse ich
mich natürlich nicht ein, wenn ich berichte, daß mir etwa sein
kleiner taciteischer Bericht über seine Moskaureise immer
als ein kleines Wunder erschienen ist — worunter ich eine be-
sondere Leistung verstehe. Für einen Skeptiker wie ihn ist es
schwer, zu loben; er ist geradezu gezwungen, seinen Stil zu
ändern. Und wie selten ist es, daß der Kenner alter Kulturen
eine neue zu erkennen weiß! Und es war allerhand Tapfer-
Die Künste in der Umwälzung 489

keit nötig — und nicht nur geistige —, eine Eigenschaft, die in


unserer Literatur ebenfalls recht selten ist. Das Büchlein, und
daß er sich an der Herausgabe der antifaschistischen Zeit-
schrift »Das Wort« beteiligte, brachte ihn zu Kriegsbeginn in
die französischen Lager.
Feuchtwanger hat die Verpflichtung, ein sehr hohes Alter zu
erreichen: Dichter seiner Art wissen etwas damit anzu-
fangen.
Juni 1949

Bemerkungen zu Orffs »Antigone«

Wir müssen eine richtige Einstellung zu den Experimenten


auf dem Theater gewinnen. Das Theater kann sich dem in
rapider Änderung begriffenen sozialen Milieu nicht anpassen
und noch weniger an den Umwandlungsprozessen führend
teilnehmen, wenn die Theaterleute nicht ebenso experimentie-
ren (neue Wege ausprobieren) wie die Politiker, Wirtschaftler,
Wissenschaftler.
Es ist richtig, daß auf dem Gebiet der Kunst Experimente
häufig »ausschließlich aus künstlerischen Gründen«, das
heißt ohne eigentlichen sozialen Auftrag unternommen wer-
den, und dann stellt es sich mitunter auch heraus, daß sie in
Wirklichkeit in asozialem Auftrag unternommen wurden. Die-
sen Experimenten haftet natürlich ein gewisser Ludergeruch
an, da wird »um jeden Preis anderes« geboten, auf jeden Fall
das bisher als Kunst Geltende angegriffen. Die Neuerungen in
diesen Fällen sind nur formaler Natur, in Wirklichkeit ver-
sucht da die alte und veraltete bürgerliche Welt sich krampf-
haft zu halten, indem sie sich umfassoniert, äußerlich einen
neuen Anstrich gibt. Wir betrachten solche Experimente als
formalistische Experimente, Experimente nur der Form nach*
490 Zur Literatur und Kunst

seichte, oberflächliche, auf Täuschung abzielende, veraltete,


schlechtgewordene Inhalte konservierende Experimente, und
bemühen uns - oder sollten uns bemühen -, sie zu entlarven.
Die Frage ist nun, ob wir sie überhaupt nicht stattfinden las-
sen sollten.
Ich bin nicht der Ansicht, daß wir sie nicht stattfinden lassen
sollten.

Die sakrale Haltung des alten Werks kann Orff nur als eine
exotische gestalten. Schon dadurch verliert sie alle Bedeutung,
denn sie hat ja eine unmittelbar dramaturgische Bedeutung,
das heißt, die Dinge liefen anders ohne die Stimmigkeit des
Kultischen. Dazu kommt, daß im alten Werk das menschliche
Moment für uns Heutige nur teilweise mit dem kultischen
verflochten erscheint, zum andern Teil ihm widerspricht. Die-
sen kostbaren Widerspruch bringt die Musik so nicht heraus!
Etwa 1949

Wir Neunzehn
Aus den Vereinigten Staaten kommt die fast unglaubliche
Nachricht, daß einige der besten Schriftsteller nun ins Ge-
fängnis gebracht werden sollen. Da ich mit ihnen vor zwei-
undeinhalb Jahren in Washington auf der Anklagebank saß,
kann ich darüber berichten - man sagt mir, daß einige Leute,
die meine Stücke gesehen haben, mich nicht für einen Lügner
halten. Mich selbst hat damals gerettet nicht, daß mir keine
Umtriebe gegen Amerika nachgewiesen werden konnten - die
wurden auch den jetzt ins Gefängnis Gehenden nicht nach-
gewiesen -, sondern daß ich nicht Amerikaner war. Man hatte
nämlich uns Neunzehn, Schriftsteller, Filmregisseure, Schau-
Die Künste in der Umwälzung 491
spieler, nach Washington vor ein Komitee des Kongresses zi-
tiert, um uns zu befragen, ob wir Mitglieder der Kommu-
nistischen Partei seien. Zu dieser Zeit, zwei Jahre nach Be-
endigung des Kriegs, war nämlich an die Künstler in den
großen Filmstudios Hollywoods die Weisung ergangen, Filme
gegen den Alliierten Amerikas im Kriege, die Sowjetunion,
herzustellen. Die Industrie hatte große Summen dafür bereit-
gestellt, und einige Drehbücher waren in Auftrag gegeben
worden. Aber merkwürdigerweise kamen sie nicht zustande.
Die guten Filmschriftsteller zeigten sich abgeneigt, die schlech-
ten unfähig. Nicht alle guten Filmschriftsteller waren fort-
schrittlich, aber die Bevölkerung war noch nicht bereit, die
Helden von Stalingrad, die Amerika so viele Opfer erspart
hatten, beschimpfen zu lassen. Sie mußte erst bearbeitet wer-
den. Vor allem mußte ein Exempel statuiert, jede Weigerung,
Weisungen von oben blind zu gehorchen, öffentlich bestraft
werden. Das war der Grund, warum eine Anzahl von Künst-
lern öffentlich befragt werden sollten, ob sie etwa der Kom-
munistischen Partei angehörten.
Für eine solche Mitgliedschaft war keine Gefängnisstrafe oder
Geldstrafe vorgesehen; diese Partei war nicht illegal, damals.
Jedoch gibt es in diesem Land andere Strafen, die weit harm-
loser scheinen, jedoch nicht harmloser sind. Während der
Staat dabei nicht in Erscheinung tritt, kommt es doch zur
Hinrichtung, man könnte es eine kalte Hinrichtung nennen,
in der Weise, in der man eine besondere Form des Friedens
dort einen kalten Krieg nennt. Diese kalte Hinrichtung wird
von der Industrie vollzogen; der Delinquent wird nicht des
Lebens, nur der Mittel zum Leben beraubt; er kommt nicht
in die Todesanzeigen, nur auf die schwarzen Listen. Wer die
Schrecken der Armut und der Entwürdigung gesehen hat, die
im Land des Dollars auf den Mann ohne Dollar hereinbre-
chen, wird die Bestrafung durch Entlassung keiner Bestra-
fung vorziehen, welche der Staat verhängen könnte. In unse-
rem Falle leistete der Staat übrigens der Industrie Hilfe-
492 Zur Literatur und Kunst

Stellung, er spielte die Rolle des Spitzels. Er befragte die


Verdächtigen unter Eid nach ihrer Parteizugehörigkeit. Nun
war die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika zu
einer Zeit geschrieben, wo die Göttin der Freiheit noch ö l
auf ihrer Lampe hatte und nicht in ihrem Gesicht. So verbot
die Verfassung dem neugegründeten Staat, den Spitzel für
die Mächtigen und Reichen zu spielen: Niemand durfte nach
seiner Religion, Weltanschauung und Partei gefragt werden.
Auf diese Klausel der Verfassung stützten sich die Schrift-
steller, Regisseure und Schauspieler, als der Kongreßaus-
schuß sie unter Eid befragte. Sie verweigerten die Antwort.
Und man muß noch wissen, daß keineswegs alle von ihnen
der Kommunistischen Partei angehörten; die meisten gehör-
ten ihr nicht an, hätten, wenn sie geantwortet hätten, eine
Antwort geben können, die ihnen nirgends geschadet hätte,
verweigerten sie also nur, weil sie die Verfassung respektiert
sehen wollten. Was darauf geschah, war böse für sie, bedeutete
aber Böseres für ihr Land. Ihre Achtung für die Verfassung
bezeugend, wurden sie wegen Verachtung des Kongresses zu
Gefängnis verurteilt. Ich selbst entging der Verurteilung, da
ich als Nichtamerikaner die Frage beantworten mußte: Ich
war nicht geschützt durch die Verfassung. Meine amerikani-
schen Kollegen waren geschützt durch die Verfassung, nur war
die Verfassung nicht geschützt. In der Tat war es ihnen nicht
ganz unbekannt oder unbewußt, daß sie sich einer Gefahr
aussetzten, wenn sie sich auf die Verfassung verließen. Aber sie
achteten der Gefahr nicht; es war ihnen darum zu tun, dem
Land mitzuteilen, daß es selber in Gefahr ist. Diese uner-
schrockenen Leute riefen der Justiz ihres Landes zu: Zeig
allen, wer du bist! Nimm einen Pfahl und schlage ein auf
Unschuldige, vor aller Augen! Damit du niemanden mehr
täuschen kannst! Nun, die Justiz nahm einen Pfahl und schlug
auf die Unschuldigen ein, vor aller Augen. Was wissen wir also
jetzt? Wir wissen, wie es um diese Justiz bestellt ist, aber auch,
daß es Menschen gibt, die bereit sind, sich dafür zu opfern,
Die Künste in der Umwälzung 493

daß ihre Landsleute und die ganze übrige Welt dazu die
Wahrheit erfahren. Salut, Freunde!
1950

Wandelbar und stetig

Johannes R. Becher zum 60. Geburtstag


Lieber Becher!
In dem einzigen Antiquariat einer thüringischen Stadt fand
ich kürzlich ein schmales Büchlein, schwarz gebunden, Ge-
dichte. Es hieß »Verbrüderung«, es waren Gedichte von Dir,
und das Erscheinungsjahr war 1916. Das Büchlein hatte also
die letzten beiden Jahre des Weltkriegs und die ganze Nazizeit,
einschließlich eines zweiten Weltkriegs, überlebt - einen so
zählebigen Veteranen entdeckt unsereiner immer mit einem
kleinen Triumphgefühl. Denn Bücher wie die Deinen hatten
mächtigere Feinde als die Vergeßlichkeit des Publikums und
den Zahn der Zeit. Blätternd fand ich den Vers:
Haben Mütter eudi zum Mord geboren?

und die danteske Strophe:


Ihr —: laßt uns gern vom ewigen Frieden reden!
Ja, wissend sehr, daß er Gestalt gewinnt,
Noch süßester Traum nur. Unsere Hände jäten
Das Unkraut aus, das jenen Weg bespinnt
Ertön, o Wort, das gleich zur Tat gerinnt!
Das Wort muß wirken! Also laßt uns reden!

Noch im Ohr hatte ich den schönen, erst jüngst erschienenen


Vers:
Wenn Arbeiter und Bauern
Kommen überein -
Wird es nicht lang mehr dauern.
Und es wird Friede sein.
494 Zur Literatur und Kunst

Dein Werk bis in die Gegenwart überdenkend, wurde ich von


tiefem und genußvollem Respekt erfaßt. Wie wandelbar und
stetig drückt es ein volles Leben aus, und eines, das der größ-
ten Sache dient! Dein Brecht
Mai 1951

[Arnold Zweig zum 65. Geburtstag]


Es schien mir immer, daß aus Zweigs Romanen viel zu ler-
nen sei, da er selbst viel gelernt hat. Da ist die Erfindung
oder Herausschälung einer Fabel, die langsame und bedachte
Enthüllung ihrer Bedeutung, da ist das graziöse Spiel mit
den Ängsten und Hoffnungen des Lesers, da sind die einge-
streuten Meinungen allgemeiner Art des Erzählers, bei Zweig
fast immer in heiterer Haltung geäußert. Es ist ein ganzer
Lehrgang, und ein amüsanter, bis herunter zu einigen Fin-
gerzeigen, was zuerst erzählt werden muß und was nachher,
was kurz, was ausführlich, was nebenbei, was mit Gewicht.
Natürlich kommt es darauf an, daß das Handwerk sich auf
die neuen Gebiete wagt und sich auf ihnen bewährt und qua-
lifiziert, wie es bei Zweig geschieht, wenn er etwa in »Erzie-
hung vor Verdun« den Klassenkampf im Schützengraben des
ersten Weltkriegs schildert.
10. November 1952
Offener Brief an die deutschen Künstler
und Schriftsteller
Mit Entsetzen habe ich, wie viele andere, der Rede Otto
Grotewohls, in der er eine gesamtdeutsche Beratung zur
Vorbereitung allgemeiner freier Wahlen fordert, entnommen,
wie ernst die Regierung der Deutschen Demokratischen Re-
publik die Lage in Deutschland beurteilt.
Werden wir Krieg haben? Die Antwort: Wenn wir zum
Krieg rüsten, werden wir Krieg haben. Werden Deutsche auf
Deutsche schießen? Die Antwort: Wenn sie nicht miteinarftler
sprechen, werden sie aufeinander schießen.
In einem Land, das lange Zeit seine Geschäfte einheitlich ge-
führt hat und das plötzlich gewaltsam zerrissen wird, gibt es
allerorten und allezeit viele Konflikte, die geschlichtet wer-
den müssen. Dies kann auf viele Weise geschehen. Wenn es
Heere gibt, wird es auf kriegerische Weise geschehen. Spä-
testens, wenn die Gefahr auftaucht, daß solche Heere entste-
hen, muß unter allen Umständen eine neue Anstrengung
gemacht werden, die Wiedervereinigung auf friedlichem Wege
herbeizuführen, welche, abgesehen von den ungeheuren Vor-
teilen solcher Einheit, die Konflikte beseitigt. Die Menschen
aller Berufe, alle gleich bedroht, müssen dazu beitragen, die
Spannungen zu beseitigen, die entstanden sind. Als Schrift-
steller wende ich mich an die deutschen Schriftsteller und
Künstler, ihre Volksvertretungen zu ersuchen, in einem frühen
Stadium der erhofften Verhandlungen folgende Vorschläge zu
besprechen:
1. Völlige Freiheit des Buches, mit einer Einschränkung.
2. Völlige Freiheit des Theaters, mit einer Einschränkung.
3. Völlige Freiheit der bildenden Kunst, mit einer Einschrän-
kung.
496 Zur Literatur und Kunst

4. Völlige Freiheit der Musik, mit einer Einschränkung.


5. Völlige Freiheit des Films, mit einer Einschränkung.
Die Einschränkung: Keine Freiheit für Schriften und Kunst-
werke, welche den Krieg verherrlichen oder als unvermeidbar
hinstellen, und für solche, welche den Völkerhaß fördern.
Das große Carthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig
nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war
nicht mehr auffindbar nach dem dritten.
26. September 1951

[Appell an die Vernunft]

[Antworten auf Fragen eines Schriftstellers]


1. Warum haben Sie Ihren Aufruf vom September 1951 [.. .] bis zum
Oktober 1952, also über ein Jahr lang, nidit fortgesetzt?
[Antwort:] Als Schriftsteller wandte ich mich an die deut-
schen Künstler und Schriftsteller. Die Presse der DDR ver-
öffentlichte diese Vorschläge mit Zustimmung, und führende
Staatsmänner der DDR sprachen ihre Billigung aus. Einige
wenige Zeitungen der Bundesrepublik veröffentlichten die
Vorschläge ebenfalls, da und dort mit Zustimmung; davon,
daß Schriftsteller und Künstler die Vorschläge öffentlich zu
den ihrigen machten, habe ich nichts gehört, und kein Staats-
mann billigte sie. Die Vorschläge waren nicht allein an die
DDR gerichtet, sie sind in einem Teil Deutschlands allein nicht
zu verwirklichen, so friedlich er sein mag. Krieg kann nur
abgewendet werden, wenn beide etwaigen Gegner ihn ableh-
nen. Nicht dadurch, daß »wenigstens« der eine möglichst
friedlich ist.
2. Warum haben Sie gleidi einer Posaune vor den Mauern Jeridios ge-
dröhnt, dann aber haben Sie den Mund gehalten? Warum haben Sie erst
einen Stein in den Teidi geworfen, dann aber kümmerten Sie sich nicht
mehr darum, was an den Ufern vorging? Wollten Sie pädagogisch sein?
Die Künste in der Umwälzung 497

Fielen Sie dem Hochmut anheim, nachdem Sie kollegial gewesen waren?
Argwöhnten Sie mit einem Mal, es lohnte sich nicht mehr?
[Antwort:] Ich las, sah oder hörte bisher kein Kunstwerk,
in der DDR entstanden und gedruckt, das den Krieg ver-
herrlichte und als prinzipiell unvermeidlich für das Land
hinstellte, und keines, das den Völkerhaß förderte. Dagegen
las ich von Femelisten, Zusammenkünften der von der ganzen
zivilisierten Welt als verbrecherisch verurteilten SS, von anti-
semitischen Prozessen sowie Memoirenwerken, welche die Na-
zis rühmten. Ich muß hinzufügen, daß ich von keinem Kunst-
werk mit dieser Tendenz erfuhr. Ich muß jedoch bezweifeln,
ob es, wenn entstanden, nicht veröffentlicht würde. Ich fiel
darüber nicht dem Hochmut anheim, sondern dem Entsetzen.
Ich argwöhnte nicht, daß es sich nicht mehr lohnte, an die
Vernunft zu appellieren, aber ich wußte und weiß nicht, wie
ich wenigstens die Künstler und Schriftsteller der Bundes-
republik mit meinem Entsetzen anstecken könnte oder mit
meinem Bedürfnis, an die Vernunft zu appellieren.

3. Oder schämten Sie sich? Schämten Sie sich, weil Sie im gleichen Jahr
1951, als Sie Ihren Aufruf »An alle deutschen Künstler und Schriftsteller«
verfaßten, im Aufbau-Verlag, Berlin, Ihre »Hundert Gedichte« ver-
öffentlichten, mit dem Gedicht »Resolution der Kommunarden« darin,
dessen Refrain lautet:
»In Erwägung: Ihr hört auf Kanonen -
andre Sprache könnt Ihr nicht verstehn -
müssen wir dann eben, ja, das wird sich lohnen
die Kanonen auf Euch drehn!«

4. Schämten Sie sich für Ihren Kollegen Johannes R. Becher, der ein
»Kampflied für die junge Generation« schrieb, dessen Refrain folgender-
maßen hieß:
»Seht, herrlich schon grünen die Saaten!
Es singt von der Oder zum Rhein:
wir wollen des Volkes Soldaten
und Kämpfer der Heimat sein!
Wir sind des Volkes Soldaten,
und Deutschland wird Dein sein und mein!«
498 Zur Literatur und Kunst

ein Refrain, der einem einfallen ließ, der Name Johannes R. Becher sei
ein Pseudonym für Heinrich Anacker?
[Antwort:] Ich schäme mich nicht, mein zwanzig Jahre altes
Lied »Resolution der Kommunarden« in einem Sammelband
von Gedichten veröffentlicht zu haben. Wenn Sie auch nur
noch ein paar Zeilen mehr dieses Liedes abgedruckt hätten,
wäre es ersichtlich geworden, daß es die Antwort der Kom-
mune von Paris im Jahre 71 darstellte auf die Drohung einer
verkommenen französischen Bourgeoisie, Paris an Bismarck
und den Reaktionär Thiers auszuliefern. Ich kann nichts da-
für, daß das Lied eine schauerliche Aktualität aufweist. Noch
schäme ich mich für J. R. Bechers »Kampflied für die junge
Generation«, in dem er sie singen läßt, sie wollten des Volkes
Soldaten sein, von der Oder bis zum Rhein, damit Deutsch-
land ihrer werde. Es ist nicht ihrer heute.

5. Schämten Sie sich, weil Sie in der »Berliner Zeitung« vom 18. Juli 1952,
Nr. 165, Seite 3, lasen: »Um als Künstler die Verteidigungskraft unserer
Heimat zu stärken, verpflichtet sich Hans Rodenberg, in einer noch
aufzustellenden Einheit unserer nationalen Streitkräfte mitzuhelfen, den
jungen Kämpfern aus Stadt und Land die Schätze der Kunst und Litera-
tur nahezubringen«?
[Antwort:] Ich schäme mich auch nicht der Selbstverpflich-
tung Hans Rodenbergs . . . Wenn ein Heer aufgestellt werden
müßte, weil alle Angebote friedlicher Einigung abgelehnt
werden, ist es nötig, seine Verteidigungskraft (Verteidigungs-
kraft) durch die Schätze der Kunst und Literatur zu stärken.
Sie müssen derlei als zumindest ungewöhnlich zugeben.

6. Schämten Sie sich, weil Sie erfuhren, daß der Bezirkssekretär der SED
in Schwerin, Quandt, in einer Feierstunde zum 139. Todestag des natio-
nalistischen und militaristischen Poeten Theodor Körner in Wöbbelin,
Kreis Ludwigslust, sagte: »Theodor Körner bejahte und begrüßte einen
gerechten Krieg, der den Interessen des Volkes dient. Mit der Waffe
in der Hand verteidigte er unsere Heimat, und darum ist er für unsere
Jugend das große Vorbild«?
[Antwort:] Ich schätze Theodor Körner nicht besonders, aber
Die Künste in der Umwälzung 499

daß er für seine Verteidigung der Heimat gelobt wird, kann


ich nicht schlimm finden, außer für solche, die vorhaben, an-
derer Menschen Heimat anzufallen.

7. Schämten Sie sich, weil Sie erfuhren, daß der barbarische Film
»Jud Süß« des Nazi und Antisemiten Veit Harlan von einer sowjetischen
Verleihinstitution nach dem Libanon verkauft worden war?
[Antwort:] Ich weiß nichts von einem Verkauf... Ich würde
ihn nicht billigen.

8. Schämten Sie sich, weil der ehemalige Nazi-General Vinzenz Müller


den möglichen Tod von Tausenden von jungen Männern in der Deutschen
Demokratischen Republik vorbereitet, der Kollege des früheren Nazi-
Generals und ständigen Dummkopfs Zamcke, der sich nicht schämt, wann
immer er in der Deutschen Bundesrepublik schwätzt, seine Kollegen, die
Kriegsverbrecher, durch das Wort »sogenannt« zu schützen?
[Antwort:] Ich habe nichts von Kriegsverbrechen des Gene-
rals V. Müller gehört. Er war Kollege von Kriegsverbrechern,
ich auch.

9. Oder schämten Sie sich gar nicht?


10. Wußte Ihre linke Hand nicht, was Ihre rechte Hand tat?
11. Wußten Ihre schreibenden Hände nicht, was Ihr Kopf dachte?
12. Sind Sie schizophren geworden, Bertolt Brecht?
13. Oder hielten Sie uns, die Schriftsteller in der Deutschen Bundes-
republik, zum Narren? Vermuteten Sie, auch bei uns, genauso wie bei
Ihnen, gelte die Formel: »Mann ist Mann«?
[Antwort:] Alle diese Fragen sind im Grunde eine einzige:
ob ich bestochen bin. Ich glaube, diese Frage würde auch
erhoben, wenn ich etwa vorschlüge, den Blinden das Augen-
licht und den Tauben das Gehör wiederzugeben. Ich habe
meine Meinungen nicht, weil ich hier bin, sondern ich bin
hier, weil ich meine Meinungen habe.

Viel wichtiger ist die Vermeidung des Krieges, den eine dau-
ernde Spaltung Deutschlands in so fürchterliche Nähe rücken
würde. Was werden die Schriftsteller der Bundesrepublik für
500 Zur Literatur und Kunst

die Aufnahme von Verhandlungen tun? Wenn man ihnen


schon nicht befiehlt, gegen den Krieg zu arbeiten - wie könnte
man sie dazu bestechen? Die Zeit rinnt ab. Wird Deutschland
überfallen werden, dann wird es verteidigt werden — gegen
seine Schriftsteller und Künstler oder für sie.
November 1952

[Vorschlag für ein Deutsches Gespräch


im Rundfunk]

Für das Ingangkommen des Deutschen Gesprächs wird der


Rundfunk immer wichtiger.

Brecht, Busch und Eisler sind gewillt, bei einer zu organisie-


renden wöchentlichen Rundfunksendung für ganz Deutsch-
land mitzuwirken.

Die Sendungen müßten den Charakter persönlicher Initiative


von Schriftstellern, Künstlern und Wissenschaftlern haben.

Zur Sprache kommen müßten, in künstlerischer und anderer


Form, die neuen, fortschrittlichen Ideen, Methoden und Im-
pulse, die in der DDR gefördert werden und auch für die
fortschrittlichen Menschen ganz Deutschlands attraktiv sein
müssen.
Die Künste in der Umwälzung 501

Wenn die wichtigen Vorgänge in der DDR natürlich auch zum


Ausdruck gelangen werden, so sollte doch die Themenwahl im
allgemeinen so selbständig wie möglich erscheinen.

Die Fortschritte der DDR auf kulturellem, politischem und


ökonomischem Gebiet sollen so faktenreich wie möglich pro-
pagiert werden.

Die Redaktion für die Sendungen soll aus etwa sieben Mit-
gliedern bestehen; darunter sollten die Herren Wendt und
Scheer sein.

Für die Materialbeschaffung (Gedichte, Lieder, Sieben-Minu-


ten-Vorträge, Beantwortungen von Fragen und so weiter)
sollte die Mitarbeit einer Zeitschrift organisiert werden. Man
könnte zum Beispiel die »Weltbühne« unter Budzislawski
umorganisieren (da dieser auch Rundfunkerfahrung besitzt).
[Freunde und Feinde]

Die armen Leute und die Künstler sind für die Russen, denn
die Russen sind gegen die Armut und für die Kunst, die
Amerikaner aber gegen die Kunst und für den Profit.

Die Fehler der Russen sind Fehler von Freunden, die Fehler
der Amerikaner sind Fehler von Feinden.

[Kongreß der Sowjetschriftsteller]


Ich werde mit größtem Interesse den Kongreß der Sowjet-
schriflsteller verfolgen, die der Welt das Bild einer völlig neuen
Gesellschaft vermittelt haben, einer Gesellschaft, an der sie
selber mitbauen. Besonders wichtig für alle zeitgenössischen
Literaturen erscheinen mir Hinweise auf die wunderbaren
Möglichkeiten, welche die Anwendung der materialistisch-
dialektischen Methoden der Darstellung der Wirklichkeit er-
öffnet.

[Wo ich gelernt habe]

Den Künstlern wird jetzt, an der Schwelle einer neuen Zeit,


ein großes Lernen vorgeschlagen, und das nicht nur den jun-
gen, die ihre Kunst erst neu zu erlernen haben, nachdem sie,
mehr oder minder fern von den Künsten gehalten, aufge-
Die Künste in der Umwälzung 503

wachsen sind, sondern auch den Meistern. Als lehrreich wer-


den genannt: die Volkskunst und die Kunst der nationalen
Klassiker sowie die Kunst der am meisten fortgeschrittenen
Gesellschaftsordnung unserer Zeit, der Sowjetunion.

Natürlich ist nicht gemeint, daß nirgendwo sonst zu lernen


wäre. Den Klassikern des fortschrittlichen Bürgertums, auf die
zunächst verwiesen wird, kann man bei uns Deutschen sogleich
noch Klassiker wie Grimmeishausen in der Erzählung und
Luther in der Lyrik und im Pamphlet hinzufügen, und dazu
kommen Klassiker anderer Völker, die allerdings, schon aus
sprachlichen, aber auch aus anderen Gründen, besser verstan-
den werden können, wenn man die deutschen studiert hat.

Im folgenden werde ich aufzählen, wo ich selber gelernt habe,


wenigstens soweit ich mich erinnere. Und ich werde es auf-
schreiben nicht nur, damit andere davon etwas haben, son-
dern auch, damit ich selber zu einem Überblick komme.
Man lernt noch einmal, wenn man ausrindet, was man ge-
lernt hat.

Volkslieder habe ich verhältnismäßig spät kennengelernt,


wenn ich von einigen Goethe- und Heine-Liedern absehe, die
da und dort gesungen wurden, von denen ich aber nicht recht
weiß, ob man sie zu den Volksliedern rechnen soll, da die Be-
völkerung an ihnen auch nicht durch die kleinste Veränderung
mitdichtete. Es ist beinahe, als hätten die großen Dichter
und Musiker des fortschrittlichen Bürgertums, indem sie
das edelste Volksgut in neuen Prägungen aufnahmen, die
504 Zur Literatur und Kunst

Bevölkerung selbst der Sprache beraubt. Was ich in meiner


Kindheit singen hörte, waren lange Lieder von edlen Räubern
und billige Schlager. Hierbei freilich klang noch, verwischt und
depraviert, Altes mit, und es wurde auch noch mitgedichtet.
Die Arbeiterinnen der nahen Papierfabrik erinnerten sich
nicht immer aller Verse eines Liedes und improvisierten Über-
gänge, wovon viel zu lernen war. Ihre Haltung gegenüber
den Liedern war ebenfalls lehrreich. Sie gaben sich ihnen
keineswegs naiv hin. Sie sangen ganze Lieder oder einzelne
Verse mit einiger Ironie und versahen manches Kitschige,
Übertriebene, Unreale sozusagen mit Krähenfüßen. Allzu-
weit waren sie nicht von jenen hochgebildeten Kompilatoren
der Homerischen Ep?n entfernt, die von Naivität angetan
waren, ohne selber naiv zu sein.

In meiner Kindheit hörte ich oft »Das Seemannslos«. Es ist


ein unbedeutender Schlager, aber er enthält einen Vierzeiler
von großer Schönheit. Nach einer Strophe, die den Unter-
gang des Schiffes im Sturm schildert, heißt es:
Als nun die stürmische Nacht vorbei
ruht, ach so tief, das Schiff.
Nur die Delphine und gierige Hai'
sind um das einsame Riff.
Das Stillewerden der Naturgewalten kann kaum besser ge-
staltet werden. Hier stößt man unvermittelt auf einen wun-
derbaren Vierzeiler des alten Volkslieds »Die Königskinder«.
Nach der Beschreibung der wilden Nacht, in der die Wasser
den Königssohn verschlungen haben, heißt es:
Es war an einem Sonntagmorgen.
Die Leute waren alle so froh.
Nicht so des Königs Tochter
Die Augen fielen ihr zu.
Dies ist viel edlerer Stoff, man vergleiche die beiden letzten
Verse der Vierzeiler, die billige Romantik des ersteren und
die ergreifende Nüchternheit in der Beschreibung der durch-
Die Künste in der Umwälzung 505

wachten Nacht des letzteren. Aber da ist doch auch der große
Kunstgriff der Abblendung und des Frischanfangens, der den
beiden ersten Versen gemeinsam ist. Wiederaufnahme und
Verschlechterung kann man auch an einem minderen Gedicht
studieren, dem »Trompeter an der Katzbach«, der in keinem
Lesebuch meiner Jugend fehlte:
Von Wunden ganz bedecket
Der Trompeter sterbend ruht
An der Katzbach hingestrecket
Aus der Wunde fließt das Blut.
Der erste Vers erinnert durch Rhythmus und Inhalt an Paul
Gerhardts »O Haupt voll Blut und Wunden«, und er nimmt
von diesem Anklang glücklich den Ausrufcharakter, glücklich,
denn ohne diesen wäre er eine Partizipkonstruktion, und
der zweite Vers könnte kaum wie ein Anfang lauten und ver-
löre an Monumentalität. Und doch gewinnt der zweite Vers
für das Partizip »sterbend« noch von dem Partizip »be-
decket« den Fortgang. Der Akzent liegt so um so schwerer
auf dem »ruht«, auf das es ankommt, weil der Verwundete
nachher diese Ruhe aufgibt, um in die Siegesfanfaren einzu-
stimmen. Das »hingestrecket« des dritten Verses dient eben-
falls der Etablierung des Ruhezustands; es ist ziemlich kühn,
denn wenn [man] es so liest wie das Partizip des ersten Ver-
ses, als »er ruht hingestrecket« und nicht »er wurde hin-
gestrecket«, wird der Trompeter so lang wie ein ganzes
Dorf.

Es ist schwierig, vom Volkslied zu lernen. Die modernen Lie-


der »im Volkston« sind oft abschreckende Beispiele, schon ihrer
künstlichen Einfachheit wegen. Wo das Volkslied etwas Kom-
pliziertes einfach sagt, sagen die modernen Nachahmer etwas
Einfaches (oder Einfältiges) einfach. Außerdem wünscht das
Volk nicht tümlich zu sein. Und es ist da wie mit den Trachten,
506 Zur Literatur und Kunst

in denen einstmals gearbeitet oder in die Kirche gegangen


wurde, jetzt aber nur paradiert wird. Die deutsche Roman-
tik, die das Verdienst hat, Volkslieder gesammelt zu haben, hat
auch viel verdorben, indem etwas falsch Inniges, leer Sehn-
süchtiges hineingebracht und Hervorragendes geglättet wurde.
Ich möchte meinen, daß ich selber für Gedichte wie »Die Le-
gende vom toten Soldaten« und »Und was bekam des Sol-
daten Weib?« gut vom Volkslied gelernt habe.

Was die Zeitgenossen angeht, gibt es bei Becher gut aus dem
Volkslied Geschöpftes, ferner bei Lorca, und von Simonow habe
ich ein Lied, in dem ein Mädchen einem fern kämpfenden
Rotarmisten verspricht, auf ihn zu warten, für eine Szene
im »Kaukasischen Kreidekreis« umgeformt, in der nur die
Elemente eines Volksliedes möglich waren.1

Aus mindestens zwei Gründen, die miteinander verbunden


sind, lohnt es sich, die zwei großen Lehrgedichte der Römer
zu studieren, die »Georgica« des Vergil und »Von der Natur
der Dinge« des Lukrez. Einmal sind es Vorbilder dafür, wie
man die Bearbeitung der Natur und eine Weltauffassung in
Versen beschreiben kann, und des andern haben wir in den
schönen Übersetzungen vonVoß und Knebel Arbeiten vor uns,
die wunderbare Aufschlüsse über unsere Sprache geben. Der
Hexameter ist ein Versmaß, das die deutsche Sprache zu den
fruchtbarsten Anstrengungen zwingt. Sie erscheint deutlich

i Viele der Becherschen »Neuen Volkslieder« sind übrigens, meiner An-


sidit nadi, nidit so sehr von altem Volksgut beeinflußt. Sie stellen einen
Versudi dar, zu neuen und neuartigen Liedern zu kommen, die von der
Bevölkerung gesungen werden können.
Die Künste in der Umwälzung 507

»gehandhabt«, was das Lernen sehr erleichtert.1 Wie Vergil


hat auch der Übersetzer den Versbau zusammen mit dem Land-
bau zu lehren und der »geschmackvolle und kunstreiche Ge-
brauch, den der alte Dichter von dem ganzen poetischen Ap-
parat zu machen weiß«, kurz, der große Kunst verstand der
Alten entwickelt sich an großen Inhalten.

Die bürgerlichen Klassiker gewannen viel aus der Beschäfti-


gung mit den Alten, nicht nur neue Werke, die wie »Hermann
und Dorothea«, »Reineke Fuchs« und die »Achilleis« als Ko-
pien entstanden, sondern auch ihr Wissen von den Gattungen
der Dichtung. (Was ist die Form für diesen oder jenen poetischen
Gedanken, Ballade, Epos, Lied und so weiter?) Dieses Wissen
von den Gattungen ist heute so gut wie verfallen, und nicht
einmal, was ein poetischer Gedanke ist und was noch keiner,
wird halbwegs gewußt. Unsere Gedichte sind vielfach mehr
oder minder mühsame Versifizierungen von Artikeln oder
Feuilletons oder eine Verkopplung halber Empfindungen, die
noch zu keinem Gedanken geworden sind.

Deutsche Rezitationsstunde
Die deutschen Rezitationsstunden könnten eine Ergänzung des
Deutschunterrichts in den Schulen bilden. Die Auswahl der
einzelnen Gedichte könnte zusammen mit den Deutschlehrern
erfolgen. Es kämen drei Möglichkeiten in Betracht:
1. Rezitation von klassischer deutscher Lyrik, besonders von
Balladen. (Claudius, Freiligrath, Goethe, Schiller, Bürger,

1 »Gehandhabt« erscheint die Sprache auch in den Versifizierungen, die


Goethe von den Prosaentwürfen der »Iphigenie« und Schiller vom »Don
Carlos« machten.
508 Zur Literatur und Kunst

Platen, Chamisso, Uhland, Seume, C. F. Meyer, Hölderlin,


Heine, Hebbel, Fontane. »Des Knaben Wunderhorn.« Her-
ders »Stimmen der Völker in Liedern«.)
2. Im Anschluß an die Rezitation das Einüben einiger Ge-
dichte mit den Schülern. Es ist nämlich anzunehmen, daß
wirklicher Genuß von Lyrik bis zu einem gewissen Grade da-
von abhängt, ob man imstande ist, Klang, Rhythmik und
Tonfall selber zu beherrschen. Außerdem ist die Fähigkeit,
eine Sprache in gehobener Form zu sprechen, auch für die Be-
herrschung der Alltagssprache nützlich.
3. Die Lektüre eines klassischen deutschen Dramas (etwa des
»Faust« oder des »Zerbrochenen Krugs«) mit verteilten Rol-
len. Am besten wäre es, wenn das betreffende Stück vorher
im Deutschunterricht analysiert worden wäre.

In Frage kämen natürlich auch einfache Rezitationsabende vor


mehreren Klassen.

Das Sprechen der Klopstockschen Verse


Sehr reguläre Verse wie die Klopstockschen erlauben eine große
Vielfalt der Rhythmisierungen und Tonfälle, deren Reiz eben
darin liegt, daß sie von dem mitgedachten regulären Maß sich
widersprechend abheben. Diese antikische Form, richtig be-
handelt, ergibt eine so gute Übung im gewöhnlichen Jambus
als irgendeine. Diese Versart der englischen und deutschen Klas-
siker wird gemeinhin in halbe Prosa aufgelöst oder geleiert
(es gibt sehr feierliche Formen des Leierns). Sie benötigt aber
für ihren Takt den Gegendruck, Vorgang und Stimmung müs-
sen sich innerhalb des gegebenen Gefüges und gegen das-
selbe durchsetzen. Im Falle des Klopstockgedichts ergab die
zarte atemlose Leidenschaft des Mädchens, das stockend und
beschwingt rezitierte, bezaubernde Synkopen.
1951
Die Künste in der Umwälzung 509

Wie man Gedichte lesen muß


Liebe Pioniere,
ihr beschäftigt euch mit meinen Gedichten. Da ich nun ab und
zu über Gedichte ausgefragt werde und da ich aus meiner
Jugend weiß, wie wenig Spaß uns Kindern die meisten Ge-
dichte in unseren Lesebüchern machten, will ich ein paar Zei-
len darüber schreiben, wie man nach meiner Ansicht Gedichte
lesen muß, damit man Vergnügen daran haben kann.
Es ist nämlich mit Gedichten nicht immer so wie mit dem
Gezwitscher eines Kanarienvogels, das hübsch klingt und da-
mit fertig. Mit Gedichten muß man sich ein bißchen aufhalten
und manchmal erst herausfinden, was schön daran ist.
Als Beispiel nehme ich eine Strophe aus J. R. Bechers Lied
»Deutschland«, das einige von euch wohl in der Vertonung
durch Hanns Eisler schon gesungen haben.
Heimat, meine Trauer,
Land im Dämmersdiein,
Himmel, du mein blauer,
du, mein Fröhlidisein.
Was ist daran schön?
Dieser Dichter besingt seine Heimat als ein »Land im Däm-
merschein«. Dämmerung ist die Tageszeit zwischen Tag und
Nacht oder zwischen Nacht und Tag, wenn die Helle dem Dun-
kel oder das Dunkel der Helle weicht. Es ist die graue Zeit
des Tages, die Zeit, welche die Franzosen entre chien et loup
nennen, auf deutsch »zwischen Hund und Wolf«, die Zeit, wo
man das Gute und das Böse nicht recht unterscheiden kann.
Der Dichter hat solche Dämmerungen über seinem Land er-
lebt, da war eine, als es dem Faschismus anheimfiel, der
Unmenschlichkeit, und eine, als nach der Zerschmetterung
des Faschismus der Morgen des Sozialismus begann. Deshalb
ist für ihn das Land sowohl »Heimat, meine Trauer« als auch
»Du, mein Fröhlichsein«. Und immer blieb in seinem Gedächt-
nis, den er im dritten Vers besingt, »Himmel, du mein blauer«,
510 Zur Literatur und Kunst

nämlich die Schönheit seines Lands, die unberührbar ist, auch


wenn die Wölfe herrschen.
Das ist das Inhaltliche, und es ist schön, weil die Empfindun-
gen des Dichters tief und von edler Art sind, weil er seine
Heimat liebt mit Trauer, wenn das Böse in ihr herrscht, und
mit Fröhlichkeit, wenn das Gute zur Macht kommt.
Aber dann ist da auch noch Schönes in der Art, wie er spricht.
»Heimat, meine Trauer«, das kann man nicht schöner sagen,
noch »du, mein Fröhlichsein«. Es ist, wie wenn einer in Trauer
geht, schwarz gekleidet, unter andern, die in gewöhnlichen
Kleidern gehen, und, gefragt, warum er trauert, antwortet:
Mein Land ist unter die Mörder gefallen. Und wie wenn einer
lustig ist und singt, und, gefragt warum, antwortet: Mein
Land wird friedlich aufgebaut. Das ist ein Mensch, dessen
ganzes Glück vom Glück anderer Menschen abhängt! (Das
Wort »Fröhlichsein« ist von ganz besonderer Schönheit, es hat
etwas Neues, als wäre es noch nie gesagt worden und doch alt-
bekannt.) »Himmel, du mein blauer« ist schön, weil es so zärt-
lich klingt; der Dichter braucht nur das eine Wort »blau«, und
schon strahlt dieser Himmel.
Und sehr schön ist der Rhythmus des Gedichts. Es ist eine große
Ruhe darin. Wenn ihr es vor euch hin sagt, werdet ihr merken,
was ich meine, und besonders leicht, wenn ihr es singt in der
schönen Vertonung von Eisler.
Ich glaube nicht, daß es dem Gedicht schadet, daß ich es ein
wenig auseinandergeklaubt habe. Eine Rose ist schön im gan-
zen, aber auch jedes ihrer Blätter ist schön. Und glaubt mir,
ein Gedicht macht nur wirkliche Freude, wenn man es genau
liest. Allerdings muß es auch so geschrieben sein, daß man das
tun kann.
Dezember 1952
Notizen zur Barlach-Ausstellung
Die Barlach-Ausstellung und die Diskussionen darüber müs-
sen als Zeichen für die Bedeutung gewertet werden, welche der
Kunst in der DDR beigelegt wird. Die Diskussion mag noch
nicht die Gründlichkeit und Allseitigkeit haben, die anzu-
streben ist, und mir mißfällt auch der ungeduldige und eifernde
Ton einiger Äußerungen, aber Barlachs Werk ist noch nie für
ein so großes Forum diskutiert worden.

Ich halte Barlach für einen der größten Bildhauer, die wir
Deutschen gehabt haben. Der Wurf, die Bedeutung der Aus-
sage, das handwerkliche Ingenium, Schönheit ohne Beschöni-
gung, Größe ohne Gerecktheit, Harmonie ohne Glätte, Lebens-
kraft ohne Brutalität machen Barlachs Plastiken zu Meister-
werken. Gleichwohl gefällt mir nicht alles, was er geschaffen
hat, und wenn von ihm viel zu lernen ist, so ist doch auch
die Frage erlaubt: Was? Wann? Durch wen?

Die religiösen Plastiken Barlachs sagen mir nicht viel, über-


haupt alle, die etwas Mystisches haben. Und ich kann mich
nicht recht entscheiden, ob er nicht auch mitunter seine Bettler
und abgestumpften Mütter nur der religiösen Empfindung
überantwortete, die ja ökonomische und geistige Armut fromm
ergeben hinnimmt. Aber in seinen für mich schönsten Plastiken
läßt er die menschliche Substanz, das gesellschaftliche Poten-
tial, herrlich über Entrechtung und Erniedrigung triumphie-
ren, und das zeigt seine Größe.

Da ist die Bettlerin mit Schale, in Bronze, von 1906. Eine


mächtige Person mit hartem Selbstbewußtsein, von der kein
512 Zur Literatur und Kunst

Dank für milde Gaben zu erwarten ist. Sie scheint gefeit gegen
die heuchlerische Überredung durch eine korrupte Gesellschaft,
daß man mit Fleiß und Sichnützlichmachen etwas erreichen
könne. Sie schiebt ihr kalt die Schuld zu dafür, daß ihre Kraft
lahmliegt. Es gab um 1906 schon Frauen, die dieser Ge-
sellschaft den Kampf ansagten; diese gehört nicht dazu. Es gab
auch schon Künstler, die solche Kämpferinnen gestalteten
(Gorki schuf eben seine Wlassowa); Barlach gehört nicht
zu diesen Künstlern. Das ist vielleicht schade, aber ich bin
bereit, mich an seinen Beitrag zu halten und ihm dafür zu
danken.

Da ist dann der Melonenschneider, eine Bronze von 1907.


Wir finden in der deutschen plastischen Kunst der letzten Jahr-
hunderte kaum ein Werk, das mit solcher sinnlichen Kraft einen
Esser aus dem Volk gestaltete. (Habe ich unrecht? Ich bin dank-
bar für Belehrung.) Er hat sich genau so hingesetzt, wie es
für eben diese Tätigkeit am besten ist, und er verliert sich nicht
in seiner Arbeit. Mit ihm könnte man sehr wohl über die
Arbeitsbedingungen reden und über einiges andere dazu. Er
mag noch nicht genug wissen, aber als eines Ahnen zumindest
braucht sich seine Klasse nicht zu schämen, denke ich.

Drei singende Frauen, ein Holzschnitzwerk von 1911, feiste


Weiber, sich aneinander anlehnend und nach allen Richtungen
schallend singend, gefallen mir, weil die Verbindung von Kraft
und Singen mir angenehm ist.

Der singende Mann, eine Bronze von 1928, singt anders als
die drei Frauen von 1911, kühn, in freier Haltung, deutlich
arbeitend an seinem Gesang. Er singt allein, hat aber anschei-
nend Zuhörer. Barlachs Humor will es., daß er ein wenig
eitel ist, aber nicht mehr, als sich mit der Ausübung von Kunst
verträgt.
Die Künste in der Umwälzung 513

Daß der Engel des Güstrower Ehrenmals (Bronze 1927) mich


überwältigt, ist nicht verwunderlich. Er hat das Gesicht der
unvergeßlichen Käthe Kollwitz. Solche Engel gefallen mir.
Und obwohl man weder einen Engel noch einen Mann je hat
fliegen sehen, so ist doch das Fliegen glorios dargestellt.

Der Blinde und der Lahme, Stukko von 1919, ein Blinder,
der einen Lahmen schleppt. Das Bildwerk ist nicht so ausge-
führt, wie Gleichnisse es für gewöhnlich sind, nämlich mehr
oder weniger abstrakt, mit unindividuellen Figuren. Es ist
realistisch ausgeführt, und der wirkliche, individuelle Vor-
gang bekommt Gleichnis-Charakter. (Es ist etwas anderes, ob
ich bei den Worten »Ein reicher Mann hatte einen Weinberg«
mir die begüterte Klasse vorstelle, oder beim Anblick eines
Blinden, der einen Lahmen schleppt, und zwar bergaufwärts,
an die Gewerkschaften denke, die 1919 die sozialdemokrati-
sche Partei schleppten. Ich bin keineswegs sicher, daß Barlach
derlei dachte.) Die Gruppe hat einen wunderbaren inneren
Schwung durch die wirklichkeitsgetreue Zeichnung der Glie-
der bei dem schwerbelasteten Gang.

Tanzende Alte, Gips getönt, von 1920. Ein Bildwerk von


einem Humor, wie er in der deutschen Plastik äußerst selten
ist. Welche Grandezza, mit der die Alte den Rock hebt, noch
ein Tanzlein zu wagen! Der Blick ist nach oben gerichtet: Sie
gräbt in ihrem Gedächtnis nach den richtigen Schritten!

Die Kußgruppen I und II, Bronzen von 1921, sind von gro-
ßem Interesse, weil der Bildhauer hier sein Thema entwik-
kelte und durch Aufrauhung des Materials, also eigentlich
durch Vergröberung, eine größere Innigkeit erzielte. Das
Werk ist eine wohltuende Abkehr von den niedlichen ge-
schlechtslosen Amor-und-Psyche-Gruppen in den guten Stu-
ben der Kleinbürger.
514 Zur Literatur und Kunst

Von nun an, bei den Plastiken aus den Jahren nach 33, muß
man sich die Entstehungsjahre ansehen. Da ist der Buchleser,
die Bronze von 1936. Ein sitzender Mann, vorgebeugt, in
schweren Händen ein Buch haltend. Er liest neugierig, zuver-
sichtlich, kritisch. Er sucht deutlich Lösungen dringender Pro-
bleme im Buch. Goebbels hätte ihn wohl eine »Intelligenz-
bestie« genannt. Der Buchleser gefällt mir besser als Rodins
berühmter »Denker«, der nur die Schwierigkeit des Denkens
zeigt. Barlachs Plastik ist realistischer, konkreter, unsymbo-
lisch.

Bei der Frierenden Alten (Teakholz, von 1937), einer kauern-


den Magd oder Kleinbäuerin, so sichtbar körperlich und gei-
stig von der Gesellschaft im Stich gelassen, fallen die großen,
zerarbeiteten Hände auf: Sie konnte sie vor der Kälte nicht
schützen! Sie besorgt das Frieren wie eine Arbeit, und sie
zeigt keinen Zorn. Aber der Bildhauer zeigt Zorn, weit mehr
Zorn als Mitleid; er sei bedankt dafür.

Sitzende Alte, Bronzeplastik von 1933. Wieder wird der


Blick auf Gesicht und Hände gelenkt, aber diese Frau besitzt
Geist; Gesicht und Hände zeigen das, was man Adel nennen
könnte, wäre dieses Wort nicht verknüpft mit den Hinden-
burgs und Hohenzollern. (Wieder ist übrigens meisterhaft die
Kleidung gestaltet. Sie läßt den Körper nicht nur ahnen, son-
dern macht ihn vollkommen überblickbar wie ein glücklicher
Reim einen Gedanken. Ein winziges Detail macht sie ganz
und gar realistisch: das wollene Halstuch.) Der Körper ist von
großer Schönheit, er zeigt Zartheit und Kraft in edlen Maßen.
Die Alte hält sich aufrecht, sie denkt. Ihr Lächeln deutet auf
Erfahrungen, die sie gesammelt hat wie Ähren am Wegrain,
eine nach der andern. Vor dieser Plastik, entstanden im ver-
hängnisvollen Jahr 1933, steigen wieder Erinnerungen und
Vergleiche auf. Ein Jahr vorher stellte in Berlin die Weigel
die Wlassowa auf der Bühne dar. Statt der Passivität die
Die Künste in der Umwälzung 515
Aktivität, statt des Opfers der Unmenschlichkeit die Mensch-
lichkeit. Ich kann mir einen Arbeiter vorstellen, der die Alte
Barlachs mit dem Ellbogen anstößt: Herrsche! Du hast alles,
was dazu gehört.

Ich kann nicht viel anfangen mit Symbolik, aber Barlachs


Das schlimme Jahr 1937 (in Gips) möchte ich gelten lassen. Es
ist eine aufrecht stehende, abgemagerte junge Frau, in einen
Schal gehüllt. Es könnte die »Sitzende Alte« jung sein. Sie
blickt sorgenvoll in die Zukunft, aber ihre Sorge bezeugt den
Optimismus des Bildhauers. Das Bildwerk bedeutet eine lei-
denschaftliche Ablehnung des Naziregimes, des Goebbels-Op-
timismus. Diese junge Frau kann ich mir gut als Aktivistin
von 1951 vorstellen.

Aus demselben schlimmen Jahr 1937 stammt die Lachende


Alte (in Holz). Ihre Heiterkeit ist unwiderstehlich. Ihr La-
chen ist wie ein Singen, es hat den ganzen Körper gelöst, er
sieht beinahe jung aus. Auch die hätten die Goebbels und
Rosenberg mit wenig Freude lachen sehn, denke ich. Es heißt,
Barlach habe seine »Lachende Alte« gemacht, als er hörte,
daß viele seiner aus den Museen als »entartet« entfernten
Plastiken in die Schweiz verkauft wurden, Devisen für die
Herstellung von Kanonen zu angeln. Es ist interessant, wie
die historische Sicht den Genuß an solchen Werken vertieft.

Alle diese Plastiken scheinen mir das Merkmal des Realismus


zu haben: Sie haben viel Wesentliches und nichts Überflüssiges.
Idee, wirkliche Vorbilder und Material bestimmen die beglük-
kende Form. Auch die Liebe zum Menschen, der Humanis-
mus Barlachs sind unbestreitbar. Freilich gibt er dem Men-
schen wenig Hoffnung: Auch einige seiner schönsten Werke
erwecken den traurigen Gedanken an die deutsche Misere, die
unsere Künste so geschädigt hat. Der »Idiotismus des Land-
lebens«, der Barlachs Figuren den grausamen Stempel
516 Zur Literatur und Kunst

aufdrückt, ist nicht Ziel seines Angriffs; mitunter gewinnt er


sogar den Anschein des »Erdgebundenen«, »Ewigen«, »Gott-
gewollten«. Wenn ein Traktorist von heute diese herrlichen
Darstellungen armer Menschen dennoch mit Gewinn zu be-
trachten vermag, so deshalb, weil der Künstler seiner so lange
unterdrückten Klasse in einer vertierten Welt geradezu das
Monopol der Menschlichkeit verlieh. — Barlach schreibt: »Es
ist wohl so, daß der Künstler mehr weiß, als er sagen kann.«
Aber vielleicht ist es doch wohl so, daß Barlach mehr sagen
kann, als er weiß.

Ich notiere hier nichts über die Werke, die mir weniger gefal-
len (wie: Der Rächer, Der Zweifler, Die Verlassenen und so
weiter), da bei ihnen die Formung, wie mir scheint, eine De-
formierung der Wirklichkeit bedeutet. Auch ich bin der Mei-
nung, daß unser künstlerischer Nachwuchs nicht aufgefordert
werden sollte, von solchen Werken zu lernen. Jedoch geht es
nicht an, diese Werke mit den anderen in einen Topf zu wer-
fen, besonders dann, wenn weder die einen noch die andern
konkret behandelt werden. Eine abstrakte Kritik führt nicht
zu einer realistischen Kunst.
Januar 1952

Notiz über eine neue Architektur


Unsere modernen Architekten begegnen bei den neuen gro-
ßen Aufträgen dem kräftigen Widerstand des Proletariats,
also der Klasse, welche die neuen großen Aufträge vergibt,
wenn die Baupläne eingesehen werden. Dies ist besonders für
diejenigen Architekten schwer verständlich, die politisch auf
der Seite des Proletariats stehen. Sie hatten seinerzeit aller-
hand Widerstand vom Bürgertum erfahren und gehofft, nun
beim Proletariat volles Verständnis zu finden.
Die Künste in der Umwälzung 517

Wovon unsere Architekten Kenntnis nehmen müssen

Daß die neue führende Klasse in riesigem Umfang zu bauen


bereit ist, also großartige Bauaufträge zu vergeben hat.

Daß sie aber auch bauen muß und daher den Architekten nicht
allzuviel Zeit für die Umstellung lassen kann.

Daß eine Umstellung unbedingt nötig ist, weil das letzte


Wort der bürgerlichen Architektur nicht das letzte Wort der
proletarischen sein kann.

Daß die modernen bürgerlichen Bauten — auch wenn sie Wi-


derstand bei einem Teil des Bürgertums fanden - die spät-
bürgerliche Ideologie zur Geltung brachten.

5
Daß die neue führende Klasse von den Architekten schönes
Bauen verlangt (und es ihnen erlaubt!).

Daß sie den Satz »Zweckdienlich ist immer schön« nicht an-
erkennt.
518 Zur Literatur und Kunst

Daß sie in den Nützlichkeitsbauten der modernen bürgerli-


chen Architektur allzuviel entdeckt, was nur für die bürger-
lichen Bauherrn nützlich war. (Unter den Zwecken der Bau-
ten befand sich, und nicht an letzter Stelle, auch die »Renta-
bilität«, das heißt der Profit.)

Daß die neue führende Klasse ihr Bauen nicht mit dem Bau
von drei Millionen Einfamilienhäusern oder etwas komfor-
tableren Mietskasernen beginnt, sondern mit dem Bau von
Wohnpalästen. (So beginnt sie auch nicht mit dem forcier-
ten Ausbau der Gebrauchsmittelindustrie, sondern dem der
Schwerindustrie als der großen Grundlage.)

Daß Wohnpaläste für viele Bewohner ein ganz neuartiger Bau-


typus sind. Der neue Bauherr, der als Klasse baut, stellt damit
unsern Architekten sehr verlockende Aufgaben, sofern neue
Aufgaben sie verlocken.

io

Daß man die neuen Bauten des sozialistischen Rußland und


des volksdemokratischen Polen nicht auf ihr spezifisch Russi-
sches oder Polnisches hin als Vorbilder betrachten muß, son-
dern auf ihr sozialistisches, beziehungsweise volksdemokra-
tisches Element hin.
Die Künste in der Umwälzung 519

11

Daß der Sozialismus dazu geführt hat, in Rußland das spe-


zifisch Russische (und das Spezifische vieler nationalen Ein-
heiten) und in Polen das Polnische herauszuarbeiten; daß der
Sozialismus dazu führen wird, in Deutschland die deutsche
Tradition der großartigsten Epochen zu benutzen.

[Arbeiter und bildende Kunst]

Die bildende Kunst hat es bei den Arbeitern auch deshalb


schwer, weil diese weder schöne Dinge hervorbringen noch
sich mit solchen umgeben können.

Die Handwerker früherer Zeiten entwickelten Geschmack und


Kunstfertigkeit in ihren Arbeiten. Die Gegenstände, von den
Gabeln bis zu den Uhren, die die Eindrücke ihrer Finger tru-
gen, wanderten durch die Familien als Erbstücke oder Aus-
steuer.

Gewisse Herstellungsprozesse in den Fabriken, auch gewisse


Stücke, welche die Arbeiter herstellen, sind nicht ohne Schön-
heit; sie ist aber unpersönlicher Art, und es gibt keine Autor-
schaft. Es ist ein Fehler des Fabrikats, wenn der Eindruck
eines menschlichen Fingers sichtbar ist. Und was für häßliches
Zeug bekommt der Arbeiter zu seiner täglichen Benutzung!
Die Wahl des Gegenstands wird durch den Preis bestimmt. Kön-
nen bei dieser Raumnot die Proportionen eines Tisches
520 Zur Literatur und Kunst

diskutiert werden? Das Holz des Tisches ist für den Zweck un-
geeignet und schlecht behandelt. Was man sieht, ist das leicht
waschbare Wachstuch. Die Bestecke, aus zu leichtem Metall
schlecht geschnitten, liegen schlecht in der Hand. Teller und
Schüsseln, alles ist häßlich und wird nicht schöner, sondern
häßlicher durch die Benutzung. Die Möbel passen nicht zu-
sammen, am wenigsten in den fertigen Einrichtungen der
Möbelfabriken, und die nicht ganz Armen müssen viel zuviel
in die Stuben stopfen, denn Raum ist das teuerste. Und so sind
die Kleider, mit Ausnahme der Arbeitskleider, aus schlech-
tem Stoff und schlecht geschnitten, und sie hindern die Bewe-
gungen, und es können die einzelnen Stücke nicht passend zu-
sammengestellt werden. Dazu kommt die Häßlichkeit der
Wohnungen, von denen auch die modernsten noch die
schlimmste aller Häßlichkeiten aufweisen, die Winzigkeit.

Und auf der andern Seite, nämlich abhängig von den Auf-
trägen der Herrschenden und Reichen, sehen wir die Künstler,
geleitet von einer jahrhundertelangen Tradition, auch wenn
sie Umstürzler sind.

Aus: Gespräch über Malerei


A: Gut, ohne einige Kenntnisse mag man nicht in der Lage
sein, aus Kunstwerken viel herauszuholen, aber auch ein Zu-
viel [stört] da. Wenn man Kenner über die moderne Malerei
sprechen hört, bekommt man den Eindruck, es handle sich da
um Genüsse, die hinter verschlossenen Türen winken und zu
denen man nur, geführt von Freunden des Hauses, vordrin-
gen kann. Da ist die Luft geschwängert mit geheimnisvollen,
freilich den Erwählten ganz geläufigen Formeln wie Maillols
plastisches Pathos, die Weltsubstanz, als deren sichtbares
Die Künste in der Umwälzung 521

Äquivalent die Farbmaterie auftritt, das unglaubliche stärkste


Blau des van Gogh und so weiter und so weiter. Mir scheint,
das ist nicht ein Verein, in den eine ganze Klasse eintreten
kann.
B: Nun, auch mir scheint es, daß einige Kenntnisse genügen
müssen und die Kunst sich damit begnügen muß. Aber zwei
Züge in dem, was du sagst, mißfallen mir. Man kann meines
Erachtens von der Kunst nicht verlangen, daß eine ganze
Klasse, das ganze Proletariat, zu jeder Zeit, in jeder Verfas-
sung durch sie befriedigt werden müßte. Es gab auch keine
Kunst, welche die ganze Bourgeoisie befriedigte. Und ein ge-
wisser Snobismus, ein hochmütiges Sektierertum, entwickelte
sich gelegentlich auf ziemlich breiter Basis. Erinnere dich an
die Jazzfanatiker der zwanziger Jahre, die ihre eigene, ex-
klusive Sprache sprachen, die der gewöhnliche Mensch, der
zu einem Tango höchstens tanzen konnte, nicht verstand, oder
an die Sammlung von Spezialkenntnissen über Auto- und
Flugzeugtypen bei unsern Jugendlichen. In einer bestimmten
Lebenslage könnten auch unsere Arbeiter erstaunliche Spezial-
kenntnisse in bestimmten Künsten entwickeln.
A: In bestimmten Lebenslagen! Du meinst, wenn sie eben
keine Arbeiter mehr sind!
B: O sie könnten noch Arbeiter sein. Es müßte nur zwischen
ihnen und den Künstlern eine Angleichung der Bedürfnisse
und der Geschmäcker stattgefunden haben.
A: Daraus folgt indirekt, daß die Arbeiter kaum je in der
Lage sein werden, ältere Kunstwerke zu genießen, die Werke
Goyas oder Picassos! Wie soll da noch eine Angleichung statt-
finden?
B: O da gibt es eine Art Gesetz! Das Verständnis der einen
Kunst führt zum Verständnis der andern. Wer einen van Gogh
wirklich genossen, das heißt begriffen hat, der mag einen Dü-
rer nicht so lieben, aber ganz fremd wird er ihm nicht gegen-
überstehen, da er die nötige Empfindlichkeit für Malerei er-
worben hat.
522 Zur Literatur und Kunst

A: Ist das nicht ganz unhistorisch gedacht? Da gibt es also


ein gewisses Etwas, das gleichbleibt über alle Zeiten?
B: Über lange Zeiten. Zum Beispiel über die Zeit Dürers hin-
weg bis in die Zeit van Goghs. Das Problem ist von Marx
und Engels gesehen worden. Sie notierten die Merkwürdigkeit
des Fakts, daß wir immer noch Werke von Aischylos genießen
können. Und Lenin lachte über die Forderungen, eine völlig
neue proletarische Kunst zu schaffen, unähnlich aller bishe-
rigen Kunst.
A: Schön, schön, schön. Für unsern Arbeiter, den von heute,
eben unsern, sehe ich jedenfalls nach deinen Ausführungen
immer noch schwarz. Kann er also Courbets »Fräulein am
Ufer der Seine« begreifen lernen?
B: Ich glaube, das ist niemals gründlich untersucht worden.
Wir hören immerzu »Unser Arbeiter wünscht das und das« und
»Das und das widersteht dem gesunden Sinn unseres Arbei-
ters«, aber beruhen solche Phrasen auf Untersuchungen? Ich
fürchte auch, unsere Arbeiterkenner würden ein Experiment,
das ergäbe, Arbeiter seien empfänglich für die Schönheiten
von Picassos Guernicakarton, sauer zurückweisen, etwa mit
dem Hinweis, diese seien nicht typische Arbeiter. Es gibt da
nämlich noch eine (mich nicht rührende) Besorgnis, der Ar-
beiter möchte Ungesundes in der Kunst in sich hineinfressen!
Nein?
A: Ich sah das kommen. Ich bemerkte, wie du das hinein-
brachtest, indem du von dem »gesunden Sinn« sprachst. Ich
will dir etwas sagen: Deine Ironie schreckt mich nicht. Wir
haben tatsächlich einen Unterschied zwischen Gesundem und
Ungesundem in der Kunst zu machen.
Fragmentarisch
Was ist Formalismus?
Die bürgerliche Freiheit ist für die Proletarier ein Formalis-
mus, etwas »auf dem Papier«, eine leere Phrase, etwas zum
Augenauswischen; denn sie sind nur »der Form nach« frei.
Der pompöse Satz der Weimarer Verfassung »Jeder kann ein
Grundstück erwerben« ist nur ein formaler Fortschritt ge-
genüber Zeiten, wo nur bestimmte Klassen Grundstücke er-
werben konnten; denn die Proletarier können sich immer noch
kein Grundstück erwerben - es ist einfach der weniger pom-
pöse Satz »wenn er das nötige Kleingeld hat« weggelassen.
Der eventuell mögliche Erwerb eines Laubengrundstücks
macht den Proletarier auch nicht zum Grundbesitzer.
Der ärgste Formalismus war der Sozialismus der Nazis, die-
ser Sozialismus schreit geradezu nach Anführungszeichen; er
hat viele angeführt. Da war die »Volksgemeinschaft« zwi-
schen den Unternehmern und den Unternommenen, den Ver-
dienern und Verdienten, da war der »wirtschaftliche Auf-
schwung«, das »Wirtschaftswunder« durch die Rüstung. Und
auf dem Papier hatte das Volk einen Volkswagen, in der
rauhen Wirklichkeit wurde es ein Tank.
Ihr seht, man kann mit der Form allerhand anfangen, allerlei
Betrug treiben und Verbesserungen vortäuschen, die dann nur
in der »äußeren Form« bestehen.
In der Kunst spielt die Form eine große Rolle. Sie ist nicht alles,
aber sie ist doch so viel, daß Vernachlässigung ein Werk zunichte
macht. Sie ist nichts Äußeres, etwas, was der Künstler dem
Inhalt verleiht, sie gehört so sehr zum Inhalt, daß sie dem
Künstler oft selbst als Inhalt vorkommt, denn beim Machen
eines Kunstwerks tauchen ihm gewisse Formelemente meist zu-
gleich mit dem Stoff und manchmal sogar vor dem Stofflichen
5 24 Zur Literatur und Kunst

auf. Er kann Lust verspüren, etwas »Leichtes« zu machen, ein


Gedicht mit 14 Zeilen, etwas »Finsteres« mit schweren Rhyth-
men, etwas Langgestrecktes, Buntes und so weiter. Er mischt
Wörter von besonderem Geschmack, verkuppelt sie arglistig,
spielt ihnen mit. Beim Konstruieren spielt er herum, probiert
dies und das, führt die Handlung so und anders. Er sucht
Abwechslung und Kontraste. Er wäscht die Wörter, sie ver-
stauben leicht; er frischt die Situationen auf, sie verfahren sich
leicht. Er weiß nicht immer, nicht jeden Augenblick, wenn er
»dichtet«, daß er immerzu an einem Abbild der Wirklichkeit
formt oder an einem »Ausdruck« dessen, was die Wirklichkeit
außer ihm in ihm bewirkt. Zum Nachteil seines Werks bleibt
er mitunter dabei stecken, aber die Gefahren des Verfahrens
machen das Verfahren noch nicht zu einem falschen, vermeid-
baren. Die »großen Formkünstler« sind oft in der Gefahr, sie
gehen mitunter unter. Übermäßiges »Glätten« ruiniert manche
Dichtung, freilich ruiniert auch »vulkanisches Herausschleu-
dern« manche Dichtung. Jedenfalls sollte man festhalten, daß
die Dichter nicht »reden, wie ihnen der Schnabel gewachsen ist«,
es sei denn, man rechnet mit recht seltsam gewachsenen Schnä-
beln. Sie formen und formulieren. Dies macht sie aber noch
nicht zu Formalisten.
Es wäre barer Unsinn, zu sagen, man müsse auf die Form und
die Entwicklung der Form in der Kunst kein Gewicht legen.
Man muß. Ohne Neuerungen formaler Art einzuführen, kann
die Dichtung die neuen Stoffe und neuen Blickpunkte nicht bei
den neuen Publikumsschichten einführen. Wir bauen unsere
Häuser anders wie die Elisabethaner, und wir bauen unsere
Stücke anders. Wollte man an der Bauweise des Shakespeare
festhalten, so müßte man etwa das Entstehen des ersten Welt-
krieges auf das Geltungsbedürfnis eines einzelnen (des Kaisers
Wilhelm, und bei ihm verursacht durch seinen zu kurzen Arm)
zurückführen. Das wäre aber absurd. In der Tat wäre das For-
malismus: Man verzichtete so auf einen neuen Blickpunkt in
eine veränderte Welt, nur um eine bestimmte Bauweise festzu-
Die Künste in der Umwälzung 525

halten. Denn es ist ebenso formalistisch, alte Formen einem


Stoff aufzuzwingen wie neue.
Die scharfe Kritik des Formalismus ist bei uns allerdings ent-
standen angesichts neuer Formen in den Künsten, welche nichts
Neues brachten als eben formal Neues. Beispielsweise: das Psy-
chische wurde weiterhin als Motor des Weltgeschehens betrach-
tet, da blieb alles beim alten, aber die Psychologie wurde
geändert, indem Psychoanalyse oder Behaviorismus eingeführt
wurde, das war das Neue. Zugrunde lag diesem Prozeß die Un-
ruhe, die in die depravierte bürgerliche Kultur gekommen war
— die erschöpfte Stute Psychologie wurde zu neuen Kapriolen
und Rennleistungen gepeitscht. In der Malerei wurden die Äp-
fel zu einem Färb- und Formproblem. Zugrunde lag eine neue
Ungeduld mit der Natur, welche andernorts, in der Biologie,
zur Schaffung neuer Obstsorten führte. Ein amerikanischer
Presbyterianer benutzte gewisse Neuerungen der Schauspiel-
technik, welche zur revolutionären Darstellung sozialer Pro-
bleme ausgearbeitet worden war, zu einer beschaulichen Apo-
theose einer neuenglischen Gemeinde. Zu gleicher Zeit führten
seine Brüder auf der Kanzel den Film und den Jazz in den
seine Zugkraft verlierenden Gottesdienst ein. Die sogenannten
Existentialisten entdeckten, daß die Existenz des bürgerlichen
Menschen etwas fragwürdig geworden ist und da eine Ent-
scheidungsschlacht geschlagen werden muß (was auch Churchill
fühlt), aber um diesem neuen und interessanten Gedanken die
Schärfe zu nehmen, sprachen sie nur von der Existenz des
»Menschen«, ohne das Adjektiv »bürgerlich« zu bemühen, und
so blieb es beim alten Trick in neuem Gewand, und man emp-
fahl den Pessimismus als neues Genußmittel. Kurz, allenthal-
ben wurde das Alte durch formale Neuerungen wieder schmack-
haft gemacht, die abgewetzte alte Hose wurde gewendet, sie
wurde dadurch nicht wärmer, sah aber hübscher (und wärmer)
aus.
Kein Wunder, daß formale Neuerungen am Ende in Mißkredit
gerieten. Man sah zu deutlich, daß es etwas gibt, was man
526 Zur Literatur und Kunst

Selbstbewegung der Form nennen konnte und was sehr gefähr-


lich ist. Es werden einige Prinzipien gefunden, sie machen von
sich reden, eine neue Gasse scheint entdeckt. Am Anfang ver-
spricht die neue Form dies und das, aber bald beginnt sie dies
und das zu fordern, unabhängig von Stoff und Funktion. Wenn
dies eintritt, kann man sicher sein, daß es eine Sackgasse war,
daß man sich jetzt nur noch häuslich in ihr einrichtet. Die neue
Richtung in der Kunst entsprach keiner neuen Richtung in der
Politik, in den öffentlichen Angelegenheiten. Die neue Form
war eine neue Ordnung, wie man sie im Nationalsozialismus
erlebt hat, eine neue, frappante, gefällige Anordnung der alten
Dinge, ein Formalismus.
Es ist klar, daß man solche Scheinneuerungen bekämpfen muß
in einem Augenblick, wo alles darauf ankommt, daß sich die
Menschheit den Sand aus den Augen reibt, der da eingestreut
wird. Es ist ebenso klar, daß man nicht zum alten zurückkehren
kann, sondern zu den wahren Neuerungen fortschreiten muß.
Was für immense Neuerungen gehen gerade jetzt um uns her
vor sich. In Territorien, so volkreich wie Frankreich und Eng-
land zusammengenommen, eroberten neue Klassen den Boden
und die Produktionsmittel, das alte China, so groß wie das
englische Weltreich zur Zeit seiner höchsten »Blüte«, tritt mit
neuen sozialen Prinzipien in die Weltgeschichte ein und so wei-
ter und so weiter — wie sollen die Künstler mit den alten
Kunstmitteln Abbilder von all dem herstellen?

Über Formalismus und neue Formen

Der Leerlauf in der Literatur der spätkapitalistischen Epoche


zeigt sich bekanntlich darin, daß ihre Dichter unablässig ver-
suchen, den alten bürgerlichen Inhalten durch verzweifeltes
Umformen neue Reize abzugewinnen. So tritt eine eigentüm-
Die Künste in der Umwälzung 527

liehe Verfallserscheinung auf, nämlich die Trennung von Form


und Inhalt beim Kunstwerk, indem die Form, welche neu, sich
vom Inhalt, welcher alt ist, absetzt. Mit andern Worten: nur
die neuen Inhalte vertragen neue Formen. Sie fordern sie so-
gar. Zwänge man nämlich die neuen Inhalte in alte Formen,
träte sofort wieder die verhängnisvolle Scheidung von Inhalt
und Form ein, indem nunmehr die Form, welche alt, sich vom
Inhalt, welcher neu wäre, absetzte. Das Leben, das sich allent-
halben bei uns, wo die Grundlagen der Gesellschaft umgewälzt
werden, in neuen Formen abspielt, kann durch eine Literatur
in der alten Form nicht gestaltet oder beeinflußt werden.

Der so notwendige Kampf gegen den Formalismus, das heißt


gegen die Entstellung der Wirklichkeit im Namen »der Form«
und gegen die Prüfung der in Kunstwerken erstrebten Impulse
auf gesellschaftliche Wünschbarkeit hin, sinkt bei Unvorsich-
tigen oft zu einem Kampf gegen Formung schlechthin herab,
ohne welche die Kunst nicht Kunst ist. In der Kunst sind Wis-
sen und Phantasie keine unvereinbaren Gegensätze. Auch gibt
es viele Wege nach Athen. Und es ist Kunst nötig, damit das
politisch Richtige zum menschlich Exemplarischen werde.

3
Die Form eines Kunstwerks ist nichts als die vollkommene Or-
ganisierung seines Inhalts, ihr Wert daher völlig abhängig von
diesem.

Notizen über die Formalismusdiskussion


Die Formalismusdiskussion wird dadurch erschwert, daß sich
auf der richtigen Seite falsche Leute einsetzen und für die
528 Zur Literatur und Kunst

richtige These falsche Argumente offeriert werden. Der Fort-


schritt gewisser Formalismusbekämpf er reduziert sich zu einem
Fortschritt der Barte; es werden, im Interesse der völligen Um-
wandlung unseres kulturellen Lebens, ewige Kunstgesetze mon-
tiert. Anstelle des politischen Vokabulars tritt das medizinische:
Anstatt nachzuweisen, bei dem und dem Kunstwerk handle es
sich um etwas gesellschaftlich Unnützes oder Schädliches, be-
hauptet man, es handle sich um eine Krankheit. Wenn der Arzt
nicht gerufen wird, gesunde Kunstwerke herzustellen, wird die
Polizei gerufen, ein Verbrechen am Volk zu ahnden. Derlei
hemmt Bemühung und Kampf um eine gesellschaftlich wert-
volle Kunst.

Für die Künstler recht unergiebig, ja Ärgernis erregend ist die


Haltung gewisser Formalismusbekämpfer, welche zwischen
dem Volk und sich selber einen deutlichen oder undeutlichen
Unterschied machen. Sie reden nie von der Wirkung eines
Kunstwerks auf sich selbst, immer von der auf das Volk. Sie
selbst scheinen zum Volk nicht zu gehören. Dafür wissen sie ge-
nau, was das Volk will, und erkennen das Volk daran, daß es
will, was sie wollen. »Das versteht das Volk nicht«, sagen sie.
»Hast du es verstanden?« fragt der Künstler. »Wenn nicht,
sag gefälligst, du hast es nicht verstanden, und ich kann dich
als Zeugen anerkennen.« In der Tat unterschätzen solche Leute
das Volk ganz unverschämt, das sie so schätzen.

Natürlich gibt es Klagen der Enttäuschten, daß das Volk haupt-


sächlich Schund sehen will und basta. Daraus wird dann, daß
die einen der »Enttäuschten« eben Kunst nicht für das Volk
oder eben Schund für das Volk machen. Was man tun muß, ist:
definieren, was das Volk ist. Und es sehen als eine höchst wider-
spruchsvolle, in Entwicklung begriffene Menge und eine Menge,
zu der man selber gehört. Dem Künstler als Publikum gegen-
übergestellt, ist das Volk nicht nur der Abnehmer oder Bestel-
ler, sondern auch der Lieferant; es liefert Ideen, es liefert Be-
Die Künste in der Umwälzung 529
wegung, es liefert den Stoff und es liefert die Form. Uneinheit-
lich, sich ständig verändernd, wie es ist.

Über kleinbürgerliche Neigungen in der Kunst

Die kleinbürgerliche Ausgabe der Leidenschaft in der Kunst


ist das Temperament. Wobei gegen das letztere nichts zu sagen
ist, wenn es nicht die erstere ersetzen soll. Was das letztere um
so leichter versuchen kann, als die erstere ohnehin schwerer
erkennbar ist.

Die Leidenschaft in der Kunst erzeugt gegenüber dem Tem-


perament oft den Eindruck einer gewissen Kühle. Die seelischen
Bewegungen, welche das leidenschaftliche Kunstwerk verur-
sacht, kommen gegen Widerstände in Gang, die es selber mo-
bilisiert. Es greift in tiefere Bewußtseinsschichten ein als das
nur vom Temperament geschaffene. Auch bestehen Spannun-
gen zwischen dem Inhaltlichen und dem Formalen, welche
ästhetische Reize ergeben, die die Wirkung zwiespältig machen
- und so zwar vertiefen, aber doch auch hemmen.
Fragmentarisch

Objektivismus
Die Realisten sind nicht für verzerrte oder unzureichende
Darstellungen der Wirklichkeit, wenn sie auch für die Her-
ausarbeitung des Typischen (geschichtlich Bedeutenden) und
für seine dichterische Überhöhung sind. Sie sind für objektive,
aber nicht für objektivistische Darstellungen. Objektivistische
530 Zur Literatur und Kunst

Darstellungen lassen das subjektive Moment, den auf die


ständige produktive Änderung der gegebenen Zustände und
Verhältnisse gerichteten Willen des Darstellenden außer acht
und geben Abbildungen, welche der Änderung und Entwick-
lung keine Impulse verleihen.

[Kosmopolitismus]

Es ist unsinnig, den Kosmopolitismus der deutschen Klassiker


leugnen zu wollen. Er hinderte sie nicht, von nationalen Stof-
fen, einem Nationaltheater und so weiter zu sprechen. Nachher
kommt es bei Heine zu einer bitternisgetränkten, aber um so
heftigeren Liebe zu Deutschland und bei Wagner zu echt natio-
nalistischen Exzessen — er zwingt den europäischen und der
amerikanischen Metropole die germanische Götterwelt auf.
Das Deutschland der imperialistischen Vorstöße und sozialen
Verbrechen kann die Künstler nicht mehr begeistern; wo sie
Krieg und Kapitalismus bekämpfen, tun sie es nicht vom spe-
ziell deutschen Standpunkt aus. Erst das Proletariat kämpft sich
zum Internationalismus und damit zu einem völlig neuartigen
Nationalgefühl durch.

Der moderne Kosmopolitismus hat mit dem der deutschen


Klassiker nichts zu tun. Er verwischt die konkreten Konturen
nationaler Kulturen und setzt dafür die odiose abstrakte
»Nützlichkeit« der Monopole.
1. Die wahrhaft internationalen Werke sind die nationalen
Werke.
2. Die wahrhaft nationalen Werke nehmen internationale Ten-
denzen und Neuerungen in sich auf.
Die Künste in der Umwälzung 531

Das Typische

Historisch bedeutsam (typisch) sind Menschen und Gescheh-


nisse, die nicht die durchschnittlich häufigsten oder am meisten
in die Augen fallenden sein mögen, die aber für die Entwick-
lungsprozesse der Gesellschaft entscheidend sind. Die Auswahl
des Typischen muß nach dem für uns Positiven (Wünschbaren)
wie nach dem Negativen (Unerwünschten) hin erfolgen.

Es scheint viele Berater zu geben, die alles, was sie gern ver-
borgen haben möchten, oder alles, was statistisch nicht häufig
ist, für nicht typisch erklären. Man macht aus dem Wort einen
Fetisch, indem typisch einfach das Gewünschte ist. Oft ist es,
als ließe sich einer porträtieren und sagt dem Maler: Aber,
nicht wahr, die Warze hier, und daß die Ohren abstehen, das ist
nicht typisch für mich. Die eigentliche Bedeutung des Worts
»typisch«, für die es von Marxisten als wichtig genannt wurde,
ist: geschichtlich bedeutsam. Dieser Begriff gestattet, auch
scheinbar winzige, seltene, übersehene Vorkommnisse sowie
unscheinbare, oft oder selten vorkommende Menschen ans Licht
der Dichtung zu ziehen, weil sie geschichtlich bedeutsam, das
heißt für den Fortschritt der Menschheit, das heißt für den
Sozialismus wichtig sind. Diese Vorkommnisse und Menschen
müssen aber dann realistisch, das heißt mit ihren Widersprü-
chen dargestellt werden, und auch der Häufigkeitsgrad ihres
Auftretens muß zu erkennen sein.
5 ii Zur Literatur und Kunst

[»Naturgewalten«]

Wenn die Pest eine Naturgewalt genannt wird, wie im »ödi-


pus« des Sophokles, kann der Athener nur eines tun: feststel-
len, daß der Tyrann ödipus schuld an der Pest ist, und ihn
austreiben. Heute halten wir mehr von sanitären Einrichtun-
gen. - Was ist, wenn wir den Tyrannen eine Naturgewalt nen-
nen? Dann können wir ihn nicht einmal austreiben!

Die Wissenschaft behandelt nun schon seit langem die »Natur-


gewalten« (wie die großen Seuchen, die meteorologischen
Schrecken, die Nacht und so weiter) als zwar naturgegeben,
aber keineswegs natürlich. Die Kunst steht vor der mensch-
lichen Natur und damit vor den gesellschaftlichen Katastrophen
individueller und allgemeiner Art (wie der Machtgier, der
Liebe, dem Krieg und so weiter) immer noch machtlos.
Sie verhält sich defaitistisch gegenüber der menschlichen
Natur.

[Nicht nur Spiegel der Wahrheit]


Denken wir immer daran, die Entpersönlidiung ist ein Zeidien
der Kraft. Wir müssen den Gegenstand in uns aufnehmen, er muß
in uns kreisen und wieder aus uns herausgehen, ohne daß man
diese wunderbare Verwandlung begreifen kann. Unser Herz darf
nur die Herzen der anderen fühlen. Wir müssen Spiegel sein, die
die Wahrheit außer uns reflektieren. (Flaubert)

Wir müssen nicht nur Spiegel sein, welche die Wahrheit außer
uns reflektieren. Wenn wir den Gegenstand in uns aufgenom-
men haben, muß etwas von uns dazukommen, bevor er wieder
Die Künste in der Umwälzung 533
aus uns herausgeht, nämlich Kritik, gute und schlechte, welche
der Gegenstand vom Standpunkt der Gesellschaft aus erfahren
muß. So daß, was aus uns herausgeht, durchaus Persönliches
enthält, freilich von der zwiespältigen Art, die dadurch ent-
steht, daß wir uns auf den Standpunkt der Gesellschaft stellten.

Thesen zur Faustus-Diskussion

Obgleich das Werk zu seiner vollen Wirkung der Musik bedarf,


ist es ein bedeutendes literarisches Werk
durch sein großes nationales Thema,
durch die Verknüpfung der Faust-Figur mit dem Bauern-
krieg,
durch seine großartige Konzeption,
durch seine Sprache,
durch seinen Ideenreichtum.

Bei all diesen Eigenschaften könnte das Werk abgelehnt wer-


den, wenn es asozial oder antinational wäre. Jedoch muß die
Untersuchung dieser Eigenschaften wegen sorgfältig sein.

Bei sorgfältiger Untersuchung wird sich ergeben, daß das Werk


weder asozial noch antinational genannt werden kann.

Es sollte nicht abgelehnt werden, daß eine große Figur der Li-
teratur neu und in einem anderen Geist behandelt wird. Ein
534 Zur Literatur und Kunst

solches Unternehmen bedeutet keineswegs den Versuch, die


Figur zu zerstören. Die antike griechische Dramatik weist
manche dichterische Unternehmungen solcher Art auf.

5
Eislers Faustus ist keineswegs eine Zerrfigur. Wie Goethes
Faust ist er eine zwieschlächtige, unruhige Erscheinung mit
glänzenden Gaben und weitgesteckten Zielen. Freilich voll-
zieht sich seine Entwicklung im Untergang wie die der shake-
spearischen Helden; im Gegensatz zu Goethes Stück ist dieses
eine Tragödie.

Ich lese den Inhalt so: Faust, eines Bauern Sohn, ist im Bauern-
krieg zu den Herren übergelaufen. Fausts Versuch, seine Per-
sönlichkeit zu entfalten, scheitert dadurch. Es ist ihm nicht
möglich, den Verrat vollständig zu vollziehen. Sein schlechtes
Gewissen zwingt ihn, seine ehrgeizigen Pläne im letzten
Augenblick immer noch so rebellisch auszuführen, daß ihm der
Erfolg bei den Herren versagt bleibt. Er hat die Wahrheit zu
seinem Nachteil erkannt. Aus heilsamem Trunk wird sie ihm
zu Gift. Als ihn die Bauernschinder endlich anerkennen, bricht
er zusammen und kommt zur Einsicht, die er in seiner Con-
fessio verkündet.

7
Der sittliche Gehalt des Werkes wird dadurch schwer sichtbar,
daß die verratenen Bauern in der schönen, aber nur flüchtig
vorkommenden Gestalt des Bauernveteranen Karl meiner An-
sicht nach keine genügende Vertretung haben. Sie dominieren
alle Gedanken und Taten des Faustus, sind aber so eben nur
psychologisch vorhanden. Wären oder würden sie als Gegen-
Die Künste in der Umwälzung 535

Spieler groß gestaltet, könnte das Werk kaum mehr als negativ
mißverstanden werden.

Wir müssen unbedingt ausgehen von der Wahrheit des Satzes:


»Eine Konzeption, der die deutsche Geschichte nichts als Mi-
sere ist, und in der das Volk als schöpferische Potenz fehlt, ist
nicht wahr.« Die schöpferischen Kräfte des Volkes fehlen aber
nicht in Eislers »Faustus«, es sind die Bauern des großen
Bauernkrieges mit ihrem Münzer. Das Schöpfertum des Fau-
stus wird zerbrochen, weil er von ihnen wegläuft. Und wer,
wie Eisler, von der deutschen Misere redet, um sie zu bekämp-
fen, der gehört selber zu den schöpferischen Kräften, zu denen,
die es unerlaubt machen, von der deutschen Geschichte als von
einer einzigen Misere zu sprechen.

Können wir auch ausgehen von der Wahrheit des Satzes, »daß
es nicht nur ein schwerer künstlerischer, sondern ein ideologi-
scher Mangel wäre, wenn Faust von vornherein als ein Verräter,
als ein Verdammter, als ein dem Untergang Geweihter auf-
träte, so daß von einer inneren Entwicklung zum Positiven oder
Negativen gar nicht mehr die Rede sein könnte«? Der Satz in
seiner Gänze ist nicht akzeptierbar, denn jede Person einer Tra-
gödie von ödipus bis Wallenstein ist von vornherein dem Unter-
gang geweiht. Aber wenn wir in Faustus einen bloßen Verräter
vor uns hätten, der sich überhaupt nicht entwickelte, so hielte
auch ich das Werk für mißglückt. Das ist aber nicht der Fall.
Tatsächlich beginnt das Stück mit einem Faustus, der lange
schwankt. Dann schließt er den Teufelspakt, und nun kommt
ein Versuch nach dem anderen, den Pakt zur Entfaltung seiner
Persönlichkeit auszunutzen. Sie mißglücken alle, da Faustus'
schlechtes Gewissen ihn hindert, die Versuche hemmungslos zu
5 3 6 Zur Literatur und Kunst

veranstalten. Das Scheitern der Versuche aber entwickelt in


Faustus mächtig eben dieses Gewissen, und es kommt zu dem
großen Geständnis, der entsetzlichen Erkenntnis, daß es für
den Volksverräter keine wahre Entwicklung gibt. Wie in jeder
echten Tragödie rettet die Erkenntnis nicht vor dem Unter-
gang: Der Volksverräter wird vom Teufel geholt.

io
Ich stimme mit Ernst Fischers Interpretation des Werkes nicht
überein. Fischer nennt die Grundidee der Eislerschen Schöp-
fung: der deutsche Humanist als Renegat. Fischer kann sich
dabei vielleicht auf den Deutschlandband der Sowjet-Enzyklo-
pädie stützen, in dem es heißt: »Aus Furcht vor der Bauern-
revolution gingen die Humanisten auf die Seite der Reaktion
über und verfolgten den Materialismus und die Naturwissen-
schaft mit nicht geringerem Haß als die katholischen Pfaffen.«
Das ist ein sehr strenges Urteil, nach meiner Meinung zu streng.
In Eislers Werk ist die Beurteilung der Humanisten keineswegs
negativ. Faustus ist nicht »nur ein Renegat«, so wenig wie ödi-
pus »nur ein Vatermörder und Mutterschänder« ist oder Othel-
lo »nur ein Gattenmörder«. In Faustus lebt die Wahrheit, ge-
wonnen in der Bauernrevolution, weiter bis zu seinem Ende,
untilgbar von ihm selber, ihn zur Strecke bringend am Ende.
Seine Selbstverwerfung macht ihn natürlich nicht zum Vorbild
- der Teufel soll ihn holen! -, aber sie lohnt die Darstellung.

In einem geschichtlichen Augenblick, wo die deutsche Bourgeoi-


sie wieder einmal die Intelligenz zum Verrat am Volk auffor-
dert, hält Eisler ihr einen Spiegel vor: Möge sich jeder in ihm
erkennen oder nicht erkennen! Solch ein Stück zu schreiben, ist
das Gegenteil von unpatriotisch.
Die Künste in der Umwälzung 537

Hat Eisler versucht, unser klassisches Faustbild völlig zu zer-


stören? Entseelt, verfälscht, vernichtet er eine wunderbare Ge-
stalt des deutschen Erbes? Nimmt er den Faust zurück? Ich
denke nicht. Eisler liest das alte Volksbuch wieder und findet
in ihm eine andere Geschichte als Goethe und eine andere Ge-
stalt, ihm bedeutsam erscheinend. Freilich bedeutsam in einer
anderen Weise als die der Goetheschen Gestaltung. So entsteht
für mein Empfinden ein dunkler Zwilling des Faust, eine fin-
stere, große Figur, die den helleren Bruder nicht ersetzen noch
überschatten kann oder soll. Von dem dunklen Bruder hebt sich
der helle vielmehr ab und wird sogar heller. So etwas zu
machen, ist nicht Vandalentum.

Ich fasse meine Punkte noch einmal zusammen. Mit den


Kritikern Eislers stimme ich darin überein, daß die deutsche
Geschichte nicht als Negativum dargestellt werden darf, sowie
darin, daß die deutsche Dichtung, zu deren schönsten Werken
Goethes »Faust« gehört, nicht preisgegeben werden darf, son-
dern nunmehr ernstlich zum Eigentum des Volkes gemacht
werden muß. Nicht überein stimme ich mit den Kritikern Eis-
lers darin, daß Eisler mit seinen Kritikern nicht übereinstimmt.
Er hat nach meiner Meinung für die hellen Kräfte, die in
Deutschland mit den dunklen rangen und ringen, Partei er-
griffen, und er hat einen positiven Beitrag zum großen Faust-
Problem geliefert, dessen sich die deutsche Literatur nicht
zu schämen braucht.
Juli 1953
538 Zur Literatur und Kunst

[Häßlichkeit in realistischer Kunst]


Der realistische Künstler meidet die Häßlichkeit nicht. Er
scheidet einen häßlichen Menschen, eine häßliche Umgebung,
einen häßlichen Vorgang nicht aus.
Aber er beläßt es auch nicht bei der Häßlichkeit, und zwar
überwindet er sie in zweifacher Hinsicht. Erstens durch die
Schönheit seiner Gestaltung (die nichts mit Schönfärberei oder
Beschönigung zu tun hat). Zweitens dadurch, daß er Häßlich-
keit als gesellschaftliches Phänomen darstellt.

Kunst und Moral


Immer wieder wird versucht, zur Definition der Kunst mo-
ralische Kriterien zuzuziehen. Das ist unpraktisch. Besser, man
spricht von moralischer und unmoralischer Kunst. Denn
sonst kommt man allzuleicht dazu, am Ende künstlerisch
schwache Werke wegen ihrer moralischen Absichten (die bei
künstlerischer Schwäche gar nicht verwirklicht werden können)
zu loben. Und die Gesellschaft ist im ganzen potent genug,
aus allem Kunstvollen irgend etwas zu machen, sie hat tau-
send Hände. Einige Jahre abgewartet, einige dringende
aktuale Bedürfnisse befriedigt, und das Unmoralische, in
zeitlichem Abstand historisch gesehen, ergibt wieder Nähr-
stoff.

[Politisches Bewußtsein und Kunstgenuß]


Die Gesellschaft muß einen sehr hohen Stand erreicht haben,
das heißt sehr viel mit wenig Mühe produzieren können,
daß Kunstwerke ausweglose Verzweiflung ausdrücken dür-
fen und damit kleinere Verstimmungen einzelner beseiti-
gen.
Die Künste in der Umwälzung 539
Wir wissen, daß große Meisterschaft schon viel Unfug ange-
stiftet hat. Es gibt aber einen sehr hohen Stand der Kunstken-
nerschaft, bei der noch unschädlicher Genuß aus Werken leicht-
sinniger oder törichter Meisterschaft gezogen werden kann. Und
selbst ein wenig schädlicher Genuß mag sich lohnen. Bei hohem
politischen Bewußtsein können sogar asoziale Kunstwerke ge-
nossen werden. Jede Epoche muß wenigstens so viel histo-
rischen Sinn aufbringen, daß sie auf weitere Entwicklung ge-
faßt ist und Werke, die rein technische Merkmale der Kunst-
fertigkeit aufweisen, aufhebt.

Keine Regierung darf sich durch den Kunstwert eines Werks


einschüchtern lassen, ein Gift freizusetzen. Wehe ihr allerdings,
wenn sie Medizin für Gift hält!
Kulturpolitik und Akademie der Künste
Die Akademie der Künste hat Vorschläge veröffentlicht, wel-
che die Arbeit der Künstler in der Deutschen Demokratischen
Republik betreffen, zugleich aber auch Zustand und Wesen
kultureller Institutionen wie Film, Rundfunk und Presse. Ihr
Recht, Kritik zu üben, blieb nicht unangefochten. Die Argu-
mente liefen darauf hinaus, daß sie in der Vergangenheit ver-
säumt habe, sich einen marxistischen Standpunkt, den des
sozialistischen Realismus, zu erarbeiten und die Kulturpolitik
der Regierung tatkräftig zu unterstützen. Wie steht es mit die-
ser Behauptung?
Die Akademie der Künste ist sowohl eine neue als auch eine
alte Institution. Das Gründungsjahr ist das Jahr 1696. Das
Jahr 1950 ist das Jahr ihres Wiederaufbaues durch die Regie-
rung der Deutschen Demokratischen Republik. Als ihre neuen
Mitglieder wurden Künstler von Ruf bestimmt. Vorausset-
zung für die Berufung war ihre Fortschrittlichkeit. Ihr Wohn-
sitz war nicht entscheidend. In gewisser Weise ist es eine sehr
unvollständige Akademie, da ihr bedeutende Künstler, die in
der Bundesrepublik wohnen, nicht beitreten konnten, ohne
sich der Verfolgung durch ihre Behörden auszusetzen.
Es kennzeichnet den gefährlichen Zustand der Selbsttäuschung
einiger unserer Kulturpolitiker, daß sie an die Akademie der
Künste Anforderungen stellten, die man nur an Marxisten
stellen kann. Die Akademie, wie sie ist, darf aber nicht als
marxistisch betrachtet werden, und so zulässig es ist, ihre Lei-
stungen vom marxistischen Standpunkt aus zu kritisieren, so
falsch wäre es, mit ihr zu arbeiten, als sei sie ein marxistisches
Gremiu^n. Man kann im besten Fall sagen, daß ihre marxi-
stischen Mitglieder — manche der bedeutendsten sind Marxi-
Die Künste in der Umwälzung 541
sten - es versäumt haben, die anderen zu Marxisten zu
machen.
Ich selbst bin natürlich der Ansicht, daß ein Künstler, der nur
im allgemeinen Sinne fortschrittlich ist, das Beste aus seinem
Talent nicht herausholen kann. Es hat denn auch in der Aka-
demie kaum eine Diskussion gegeben, in der der marxistische
Standpunkt nicht kräftig eingenommen wurde. (Und die Dis-
kussionen, die zur Aufstellung der oben erwähnten Vor-
schläge führten, zeigten schon eine erfreuliche Einigkeit über
einige der hauptsächlichsten Prinzipien der Deutschen Demo-
kratischen Republik.) Dennoch ist es nicht zu leugnen, daß
viele unserer Künstler der Kulturpolitik in wesentlichen Tei-
len ablehnend und verständnislos gegenüberstanden, und ich
sehe den Grund darin, daß sie ein großes Gedankengut den
Künstlern nicht dartat, sondern wie saures Bier aufdrängte.
Es war die unglückliche Praxis der Kommissionen, ihre Dik-
tate, arm an Argumenten, ihre unmusischen administrativen
Maßnahmen, ihre vulgärmarxistische Sprache, die die Künst-
ler abstießen (auch die marxistischen) und die Akademie hin-
derten, auf dem Gebiet der Ästhetik eine vorbildliche Position
zu beziehen. Gerade die Realisten unter den Künstlern emp-
fanden gewisse Forderungen der Kommissionen und der Kri-
tik eher als Zumutungen. Kein neuer Staat kann aufgebaut
werden ohne Zuversicht; es ist der Überschuß an Kraft, der
die neue Gesellschaft baut. Aber ein oberflächlicher Optimismus
kann sie in Gefahr bringen.
Es ist nötig, die zukunftsträchtigen Züge des gesellschaftlichen
Lebens herauszuarbeiten. Aber Schönfärberei und Beschöni-
gung sind nicht nur die ärgsten Feinde der Schönheit, sondern
auch der politischen Vernunft. Das Leben der werktätigen Be-
völkerung, der Kampf der Arbeiterklasse um ein sinnvolles
und schöpferisches Leben ist ein beglückendes Thema der
Kunst. Aber das bloße Vorkommen von Arbeitern und Bau-
ern auf der Leinwand hat mit diesem Thema zu wenig zu
tun. Die Kunst muß eine breite Verständlichkeit anstreben.
542 Zur Literatur und Kunst

Aber die Gesellschaft muß durch allgemeine Erziehung das


Verständnis für Kunst heben. Die Bedürfnisse der Bevölke-
rung müssen befriedigt werden. Aber im Kampf gegen das
Bedürfnis an Kitsch. Wo Richtiges gefordert wurde, wurde
häufig Falsches gefördert.
Es mag für administrative Zwecke und mit Rücksicht auf
die Beamten, die für Administration zur Verfügung stehen,
einfacher sein, ganz bestimmte Schemata für Kunstwerke auf-
zustellen. Dann haben die Künstler »lediglich« ihre Gedan-
ken (oder die der Administration?) in die gegebene Form zu
bringen, damit alles »in Ordnung« ist.
Aber der Schrei nach Lebendigem ist dann ein Schrei nach Le-
bendigem für Särge. Die Kunst hat ihre eigenen Ordnungen.
Realismus vom Standpunkt des Sozialismus, das ist eine große
und umfassende Richtlinie, und die individuelle Sicht und der
persönliche Stil kommen ihr nicht in die Quere, sondern
zustatten. Der Kampf gegen den Formalismus darf nicht nur
als politische Aufgabe betrachtet, sondern muß auch mit po-
litischem Inhalt erfüllt werden. Er ist ein Teil des proleta-
rischen Kampfes für echte soziale Lösungen, und daher müs-
sen Scheinlösungen in der Kunst als soziale Scheinlösungen
bekämpft werden - nicht als ästhetische Irrtümer. Es mag
manchen Politiker überraschen, aber die Sprache der Politik
ist den meisten Künstlern verständlicher als ein schnell zu-
sammengestelltes ästhetisches Vokabular, das nur apodiktische
Behauptungen nebuloser Art bietet.
War, vom Standpunkt der Künste aus, unsere Kunstpolitik
der letzten Jahre realistisch?
Unsere Künstler produzieren für ein Publikum, das sich aus
verschiedenen Klassen rekrutiert. Der Bildungsgrad und auch
der Grad der Verbildung ist bei diesem Publikum sehr ver-
schieden. Ebenfalls verschieden sind die Bedürfnisse, die durch
die Kunst befriedigt werden müssen. Der Staat ist hauptsäch-
lich interessiert an der Arbeiterschaft - und so sind unsere
besten Künstler hauptsächlich an der Arbeiterschaft interessiert.
Die Künste in der Umwälzung 543
Andererseits müssen auch die Bedürfnisse und der Geschmack
anderer Klassen berücksichtigt werden. All das kann nur durch
eine hochqualifizierte, hochdifferenzierte Kunst geschehen. Die
Frage der Qualität wird für eine echte sozialistische Kunst
politisch entscheidend.
Auch hier wieder spielt die politische Qualität eine große
Rolle. Es ist Aufgabe der Kunstkritik, politische Primitivität
zurückzuweisen. Auf diesem Gebiet war unsere Kunstpolitik
nicht ohne Erfolge. Wir können nicht verlangen, daß in weni-
gen Jahren das politische Niveau der Sowjetunion erklommen
wird, jedoch helfen uns die Vorbilder. Freilich bliebe auch die
Orientierung nach diesen Vorbildern unfruchtbar, wenn es uns
nicht gelänge, sie für die spezifischen Verhältnisse bei uns zu
modifizieren. Wir haben, um es plump auszudrücken, weniger
Neues, mehr Altes. Große Teile der Bevölkerung sind noch
tief in kapitalistischen Vorstellungen befangen. Dies trifft sogar
für Teile der Arbeiterschaft zu. Bei der Zertrümmerung dieser
Vorstellungen muß auch die Kunst mithelfen. Wir haben allzu-
früh der unmittelbaren Vergangenheit den Rücken zugekehrt,
begierig, uns der Zukunft zuzuwenden. Die Zukunft wird aber
abhängen von der Erledigung der Vergangenheit. Wo sind die
Kunstwerke, die die ungeheure Niederlage der deutschen Arbei-
terschaft von 1933 schildern, von der sie sich nur langsam erholt?
Sie würden auch heroische Beispiele eines zähen Kampfes zu
zeigen haben. Und sie würden unseren jetzigen Kampf inspirie-
ren, indem sie ihn mit Kenntnissen und Vorbildern versähen.
Unser sozialistischer Realismus muß zugleich ein kritischer Re-
alismus sein.
Die kulturellen Errungenschaften unserer Republik sind bedeu-
tend. Die Vorbedingungen sind geschaffen. Wenn es uns gelingt,
nicht nur einige Produktionsziffern, sondern die allseitige
Produktivität des ganzen Volkes zu steigern, wird die Kunst
ganz neue Impulse gewinnen und verleihen. In unsere Theater,
Ausstellungen, Konzerte und Bibliotheken werden immer grö-
ßere Massen, immer besser gebildete Menschen strömen,
544 Zur Literatur und Kunst

Menschen mit neuen, begeisternden Zielen. Befreit von admi-


nistrativen Fesseln, wird die große Idee des sozialistischen
Realismus einer irdisch gesonnenen, alle menschlichen Kräfte
befreienden, zutiefst humanen Kunst von unseren besten
Künstlern als die beglückende Gabe des revolutionären Prole-
tariats begrüßt werden, die sie doch ist.
IJ. August 1953

[Neugestaltung der künstlerischen Institutionen]

Ich betrachte die Neugestaltung unserer kulturellen Institu-


tionen als einen wertvollen Beitrag der Regierung zu dem
großen Kampf um ein glücklicheres und glückbringendes
Deutschland, wie wir alle es erhoffen.

Diese Neugestaltung beweist, daß die Regierung zu ihren


Schriftstellern und Künstlern Vertrauen hat. Sie appelliert an
deren Initiative und deren Sinn für Verantwortung.

Diese Neugestaltung ist — und das ist etwas völlig Neues in


Deutschland — in enger Zusammenarbeit mit Schriftstellern
und Künstlern vom Staat vorgenommen worden. Und sie soll
erreichen, daß diese Zusammenarbeit enger und enger wird.
Die Künste in der Umwälzung 545

Was haben wir zu tun?


Wir müssen ausgehen von dem, was an Kunst fortschrittlicher
Art vorliegt. Das haben wir zu analysieren; was darin an
Brauchbarem existiert, haben wir sorgfältigst zu behandeln
und es zur Nacheiferung zu empfehlen. Was daran den Be-
dürfnissen einer sich schnell entwickelnden Gesellschaft nicht
entspricht, haben wir kameradschaftlich zu kritisieren. Eine
völlig, sogar in Stilfragen und Geschmacksfragen geführte
Kunst kann nicht selbst führen.
Die Kunst ist nicht dazu befähigt, die Kunstvorstellungen
von Büros in Kunstwerke umzusetzen. Nur Stiefel kann man
nach Maß anfertigen. Außerdem ist der Geschmack vieler poli-
tisch gut geschulter Leute verbildet und also unmaßgeblich.
Der sozialistische Realismus darf nicht als Stil behandelt wer-
den, und wer nicht ästhetisch geschult genug ist, diesen Satz
zu begreifen, bedarf, bevor er administriert, der Schulung, und
sie soll ihm zuteil werden. Besonders rückständig ist es, den
sozialistischen Realismus in Gegensatz zum kritischen Realis-
mus zu bringen und ihn damit zu einem unkritischen Realis-
mus zu stempeln. Es ist sicher, daß wir heute eine realistische
Kunst brauchen. Das ist eine Kunst, welche die Wirklichkeit
wiedergeben und sie zugleich beeinflussen, verändern, für die
breiten Massen der Bevölkerung verbessern will. Aus dem letz-
teren geht hervor, daß sie sozialistisch sein muß. Das ist
natürlich, das ist selbstverständlich. Man kann heute die
Wirklichkeit nicht ohne Kenntnis des Marxismus und soziali-
stische Haltung erkennen und auf Grund der Erkennung
verändern helfen. Aber für die Kunst ist das keine Stilfrage,
sicher nicht heute. Es ist nur insoweit eine Stilfrage, als der
Stil so einfach wie möglich, so verständlich wie möglich sein
muß, denn den Kampf für den Sozialismus kann man nicht
mit einer Handvoll hochgebildeter Kunstkenner gewinnen,
mit ein paar Leuten, die schwierige Scharaden verstehen
können. Ich hab aber gesagt: So einfach wie möglich. Gewisse
546 Zur Literatur und Kunst

komplizierte Prozesse, deren Kenntnis auch nötig ist, lassen


sich nicht ganz einfach darstellen. Es gibt auch in der politischen
Literatur Werke von verschiedener Schwierigkeit, die sehr not-
wendig sind. Diese Werke werden erst nach und nach etwas
leichter verständlich, mehr Menschen verständlich, desto ver-
ständlicher, je mehr der große Erziehungsprozeß auf der
Straße, in den Betrieben, in den Schulen, in den Büros, in der
Partei der Werktätigen voranschreitet. Überhaupt brauchen
wir gesellschaftskritische, realistische und sozialistische Kunst-
werke verschiedener Art, verschieden nach Verständlichkeit,
verschieden nach den verschiedenen Funktionen. Wir brauchen
zum Beispiel heute auch künstlerische Agitation und Propa-
ganda, unter anderem; das können Kunstwerke sein, auch wenn
sie nicht nach dem Muster der Klassiker gemacht sind. [...]
Fragmentarisch

[Für produktiven Einfluß]

[Notizen]
Es ist nicht die Aufgabe der marxistisch-leninistischen Partei,
die Produktion von Gedichten zu organisieren wie eine Ge-
flügelfarm, sonst gleichen eben die Gedichte sich wie ein Ei
dem andern.

Sie muß Impulse verleihen. (Man kann unserer Lyrik ansehen,


daß solche gefehlt haben.)
Sie muß sich nicht mit dem Weg der Lyrik, sondern dem Weg
der Menschheit befassen, wenn sie auf die Lyrik produktiven,
anstatt administrativen Einfluß gewinnen soll.

Volkstümlich und funktionärstümlich.

Die Verständlichkeit: Nicht alles, was den Massen der russi-


Die Künste in der Umwälzung 547
sehen Arbeiter und Bauern an den Äußerungen der Bolsche-
wiki nicht gleich verständlich war, war Unsinn.

[Über sozialistischen Realismus]


Was Sozialistischer Realismus ist, sollte nicht einfach vorhan-
denen Werken oder Darstellungsweisen abgelesen werden. Das
Kriterium sollte nicht sein, ob ein Werk oder eine Darstellung
andern Werken oder Darstellungen gleicht, die dem sozialisti-
schen Realismus zugezählt werden, sondern ob es sozialistisch
und realistisch ist.

Realistische Kunst ist kämpferische Kunst. Sie bekämpft falsche


Anschauungen der Realität und Impulse, welche den realen
Interessen der Menschheit widerstreiten. Sie ermöglicht rich-
tige Anschauungen und stärkt produktive Impulse.

Realistische Künstler betonen das Sinnenmäßige, »Irdische«,


im großen Sinn Typische (historisch Bedeutsame).

Realistische Künstler betonen das Moment des Werdens und


Vergehens. Sie denken in allen ihren Werken historisch.

Realistische Künstler stellen die Widersprüche in den Menschen


und ihren Verhältnissen zueinander dar und zeigen die Be-
dingungen, unter denen sie sich entwickeln.
548 Zur Literatur und Kunst

Realistische Künstler sind interessiert an den Veränderungen


in Menschen und Verhältnissen, an den stetigen und an den
sprunghaften, in welche die stetigen übergehen.

Realistische Künstler stellen die Macht der Ideen dar und die
materielle Grundlage der Ideen.

Die sozialistisch-realistischen Künstler sind human, das heißt


menschenfreundlich, und stellen die Verhältnisse zwischen den
Menschen so dar, daß die sozialistischen Impulse erstarken.
Sie erstarken durch praktikable Einsichten in das gesellschaft-
liche Getriebe und dadurch, daß sie - die Impulse - zu Ge-
nüssen werden.

Die sozialistisch-realistischen Künstler haben nicht nur eine


realistische Einstellung zu ihren Themen, sondern auch zu
ihrem Publikum.

Die sozialistisch-realistischen Künstler berücksichtigen Bil-


dungsgrad und Klassenzugehörigkeit ihres Publikums sowie
den Stand der Klassenkämpfe.
Die Künste in der Umwälzung 549

Die sozialistisch-realistischen Künstler behandeln die Realität


vom Standpunkt der werktätigen Bevölkerung und der mit ihr
verbündeten Intellektuellen, die für den Sozialismus sind.

[Zum Tode Paul Rillas]


Die Deutsche Akademie der Künste beklagt den Tod eines
großen Kritikers, des Dialektikers unter den Kritikern.
Arbeitend unter den ebenso schwierigen wie beglückenden
Bedingungen des sozialistischen Aufbaus in einem durch Krieg
zerstörten Land, maß er die Literatur und das Theater an
ihren Werten für diesen Aufbau, und mit den Resultaten seiner
Meßmethoden gab er den neuen Lesern und Zuschauern diese
Meßmethoden selbst in die Hände. Stimmgabel und
Seziermesser mit gleicher Meisterschaft hantierend, erklärte,
sichtete und lehrte er lieben die klassische und die zeitgenös-
sische Literatur.
Die Deutsche Akademie der Künste dankt ihm ganz beson-
ders für seinen unerbittlichen Kampf um Reinheit und Reich-
tum der deutschen Sprache.
5. November 1954

Wirkung alter Kunstwerke


Marx weist auf die erstaunliche Fähigkeit der Menschen hin,
auch sehr alte Kunstwerke noch auf sich wirken zu lassen. Er
zeigt sich mit Recht darüber erstaunt, denn die billige Formel
von der Ewigkeit der Kunst befriedigt ihn nicht. Seine Be-
merkung, die Menschheit erinnere sich gerne ihrer Kindheit,
scheint mir beiläufig. Eher schon kann man sich denken, daß
sie gerne die Erinnerung an ihre Kämpfe und Siege pflegt
550 Zur Literatur und Kunst

und durchschauert wird, wenn sie sich der immer neuen Be-
mühungen, Erfindungen, Entdeckungen entsinnt. Denn die
großen Kunstwerke entstehen in diesen Zeiten der Kämpfe.
Und die Fortschritte sind Schritte weg von Fortschritten. Die
Verluste, die sie die neuen Gewinne gekostet haben, gedenkt
sie nie zu verschmerzen. Wie lange wirkt etwa die Erinnerung
an die Zeit des Urkommunismus nach!
April 1955

[Ein Werk der Weltliteratur]


Wenn man mich auffordern würde, aus der schönen Literatur
unseres Jahrhunderts drei Werke auszuwählen, die meiner
Meinung nach der Weltliteratur angehören werden, wählte ich
als eines davon Haseks »Abenteuer des braven Soldaten
Schwejk«.
16. August 1955

[Literatur und Leben]


Da ist die Unverwüstlichkeit des Kommunismus im Alltag,
Schwäche und Unreife der ihn vorwärtstreibenden Klasse.
Oder werden wir, ihn nicht für verwüstlich haltend, besser
arbeiten?

Der Gerechtigkeitssinn dieser Klasse ist wach und umfassend,


in härtester Schule erlernt. Wir müssen dennoch die großen
Gerechtigkeiten, die bei uns errichtet wurden, erklären; aber
wir können das nicht, wenn wir die kleinen Ungerechtigkeiten
ebenfalls erklären - anstatt sie zu bekämpfen.

Nicht nur in der Literatur müssen wir das Mechanische be-


kämpfen, das Schema F, den Formalismus; wir müssen es in
Die Künste in der Umwälzung 551
der Literatur, auch im Leben bekämpfen, vor allem im Leben;
denn aus dem Leben kommt das. Der Satz, an die Politiker
gerichtet: »Hände weg von der Literatur!« ist lächerlich, aber
der Satz, an die Literatur gerichtet: »Hände weg von der
Politik!« ist undenkbar.

[Über Kunstgenuß]
1

In der Kunst genießen die Menschen das Leben.

Genuß bietet die Kunstfertigkeit der Abbildungen.

3
Genuß bietet eine Sinngebung der Erscheinungen.

4
Genuß bietet eine Rechtfertigung des Standpunkts.

5
Genuß bietet eine Stärkung des Lebenswillens.

Es gibt große Kunst und kleine Kunst, nützliche und schäd-


liche Kunst, niedrige und hohe Kunst - aber nicht schöne und
häßliche Kunst.
Fragmentarisch
552 Zur Literatur und Kunst

[Realismus als kämpferische Methode]


[Notizen für die Rede auf dem Schriftstellerkongreß]
Zwei Weltkriege und die Nachspiele zweier Weltkriege haben
gezeigt, wie tief der Imperialismus im deutschen Volk verwur-
zelt ist. Es verlangt eine ungeheure Anstrengung, die Folgen
eines ganzen Jahrhunderts imperialistischer Propaganda in
den Schulen, durch die Zeitungen, im Öffentlichen Leben, lei-
der auch in Kirchen und so weiter auszurotten. Die Art der
Meinungsbildung ist völlig korrupt. Nötig ist nicht nur eine
neue Denkweise, sondern auch eine neue Lebensweise.
In der DDR ist ein kräftiger Versuch gemacht worden. Durch
die Organisation einer völlig neuen Wirtschaftsform, einer so-
zialistischen, deren Hauptzüge bei uns schon sichtbar sind,
ist eine Umschulung im Gang. Die Produktionsweise mußte
dafür völlig geändert werden und so weiter. Auch auf die
bürgerliche Form der Formung von Regierungen und Beeinflus-
sung der öffentlichen Geschäfte durch die Bevölkerung mußte
verzichtet werden. Die Wahlen hatten rein bestätigenden Cha-
rakter, waren »nur« Volksbefragungen über eine neue Politik
im Interesse der arbeitenden Bevölkerung. Ich sage nur, weil
ein großer Teil der Bevölkerung der DDR diese Wahlen als
eine Einschränkung ihrer Willenskundgebung betrachtete, im-
mer noch gewohnt an die bürgerliche Form, die weit freier
erschien. Da waren »Persönlichkeiten« vorgestellt worden,
die Parteien angehörten, die etwas vage Programme hatten
und in der kapitalistischen Anarchie des Wirtschaftslebens be-
stimmte Interessengruppen vertraten.

Die Trennung Deutschlands ist eine Trennung zwischen dem


Alten und dem Neuen. Die Grenze zwischen DDR und Bun-
desrepublik scheidet den Teil, in dem das Neue, der Sozialis-
mus, die Macht ausübt, von dem Teil, in dem das Alte, der
Die Künste in der Umwälzung 553
Kapitalismus regiert. Aber die Macht wird in beiden Teilen
bekämpft, und so ist eine Trennung überall in ganz Deutsch-
land zu fühlen, überall kämpft das Neue mit dem Alten, der
Sozialismus mit dem Kapitalismus.
Wir haben das günstigere Kampfgelände, aber wir sind nicht
fertig mit dem Kampf.
Für die Literatur bedeutet die Trennung, daß die eine, alte,
Literatur nur lehrt, wie sich in einer geschlossenen, fertigen
Welt einzurichten; die andere lehrt eine veränderliche Welt,
die eingerichtet werden kann und muß.

Sie mögen den Kampf des Neuen gegen das Alte als Thema
haben, es beschreiben. Aber sie müssen es auch für Menschen
alten und neuen Schlages beschreiben und für Menschen, die
Altes und Neues in sich haben.

Wenn wir Helden erdichten wollen, und das sollen wir, dann
müssen wir erst suchen, die Helden von heute zu Gesicht zu
bekommen. Es genügt nicht, einen Karl Moor, aber mit so-
zialistischem Bewußtsein, zu schaffen, oder einen Wilhelm
Teil, aber als kommunistischer Funktionär, oder einen Zriny
als Jakobiner. Wir müssen einen großen Ballast von erhabenen
Gefühlen abwerfen, welche nur die Gefühle der Erhabenen
waren, und uns den niedrigen Beweggründen zuwenden,
welche die Beweggründe der Niedrigen waren. Die alten
Ideale reichen bei weitem nicht aus, das heißt, wir müssen mit
dem Kleinbürger in uns Schluß machen. Das können wir
beinahe nur, indem wir, wie ich sagte, den neuen Helden in
seinem Alltag sichten, in seinen mühselig schrittweisen Kämp-
fen mit dem Sumpf und dem Rückstand, in seiner historischen
Besonderheit. Wir werden ihn in all seinen Schwächen als
einen Helden neuer Art erkennen müssen, mit Tugenden alter
und neuer Art, aber besonders neuer Art. Wir werden sehen,
daß ihn Schwierigkeiten nicht entmutigen, sondern reizen.
Gerade das Unfertige steigert seine Produktivität. »Das ist
554 Zur Literatur und Kunst

schwer«, sagt er, »das wollen wir machen«. Von allen Farben
deprimiert ihn am tiefsten das Rosenrot.
Dieser neue Mensch, aktives Mitglied seiner Klasse, mag die
Erfüllung eurer Träume sein, aber er erfüllt sie gewiß in höchst
unerwarteter Weise.
Wenn wir uns die neue Welt künstlerisch praktisch aneignen
wollen, müssen wir neue Kunstmittel scharfen und die alten
umbauen. Die Kunstmittel Kleists, Goethes, Schillers müssen
heute studiert werden, sie reichen aber nicht mehr aus, wenn
wir das Neue darstellen wollen. Den unaufhörlichen Experi-
menten der revolutionären Partei, die unser Land umgestalten
und neugestalten, müssen Experimente der Kunst entsprechen,
kühn wie diese und notwendig wie diese. Experimente ab-
lehnen, heißt, sich mit dem Erreichten begnügen, das heißt
zurückbleiben.
Die Darstellung des Neuen ist nicht leicht (wie viele Briefe
zeigen). Es ist eine Frage der Begeisterung für das Neue, der
Kenntnis der Dialektik und damit neuer Kunstmittel. Die
sozialistische, realistische Gestaltungsweise bedarf ständiger
Ausbildung, Umbildung, Neubildung. Vor allem muß sie
kämpferisch sein. Und als Kämpferin braucht sie alle Waffen,
immer bessere Warfen, immer neue.

Rede auf dem IV. deutschen Schriftstellerkongreß


In dem Teil Deutschlands, in dem dieser Kongreß tagt, wird
im Interesse ganz Deutschlands der Kampf um eine neue,
bessere Lebensweise und um eine neue, bessere Denkweise
mächtig fortgeführt werden.
Wir werden ihn auf allen Gebieten mit allen Mitteln führen,
auf dem Gebiet der Künste mit allen Kunstmitteln.
Immer noch lebt der größere Teil Deutschlands im Sumpf
der bürgerlichen Barbarei, und der Sumpf steigt wieder. Ju-
belnd begrüßen in Friedland Sprecher des Großbürgertums
Die Künste in der Umwälzung 555

jene Unglücklichen, die es einst zu Wölfen erzogen hat, wäh-


rend es schon wieder Unglückliche in einem neuen Überfalls-
heer abrichtet. Unermüdlich den Frieden zu einem Schimpf-
wort machend, sucht es zu Kriegen zu kommen - seiner
barbarischen Lebensform.
Die Literatur wird da, abgesehen von einigen, freilich groß-
artigen Ausnahmen, zur Literatur der schamlosen Anpassung
oder der Verzweiflung.
Wir schreiben unter neuen Bedingungen. Die sozialistische und
realistische Schreibweise, die wir als Sozialisten und Realisten
für unsere neuen Leser, Erbauer einer neuen Welt, entwickeln,
kann, wie wir sahen, für den großen Kampf in vielfacher
Weise dichterisch ausgebaut werden, nach meiner Meinung be-
sonders durch das Studium der materialistischen Dialektik und
das Studium der Weisheit des Volkes. Bauen wir doch unseren
Staat nicht für die Statistik, sondern für die Geschichte, und
was sind Staaten ohne die Weisheit des Volkes!
Januar 1956
Anmerkungen

Über den Realismus


S. 287 Richtlinien für die Literaturbriefe der Zeitschrift »Das Wort«
und »Selbstkritik«. Die literarische Monatsschrift »Das Wort« er-
schien vom Juli 1936 bis März 1939 im Jorgaz Verlag, Moskau,
unter der Redaktion von Bertolt Brecht, Willi Bredel und Lion
Feuchtwanger. »Das Wort« förderte die deutsche Nationalliteratur
und veröffentlichte vor allem Beiträge von Schriftstellern, die emi-
grieren mußten und deren Werke in Deutschland verboten waren.
In einem Vorwort der Redaktion im August 1936 hieß es: »Schrei-
ben wir nicht nur für die, die mit uns gemeinsam den Kampf gegen
den faschistischen Todfeind bereits aufgenommen haben, rühren wir
die Herzen jener, denen der Faschismus Brot versprach und Steine
gab, denen er Freiheit predigte und Knechtschaft brachte, denken
wir an die Brüder unseres Volkes, denen der Faschismus Besserung
ihrer Lage durch Eroberung fremder Gebiete und Unterdrückung
fremder Völker vorgaukelte.« Neben zahlreichen Erstveröffentli-
chungen bedeutender literarischer Werke finden sich im »Wort« viel-
fältige Debatten über ästhetische und literaturtheoretische Probleme
und über Fragen der künstlerischen Arbeit.
S. 290 Formalismus und Realismus. In der Zeitschrift »Das Wort«
wurden 1937 im Heft 9 die Aufsätze von Klaus Mann über »Gott-
fried Benn, die Geschichte einer Verirrung« und Alfred Kurella
»Nun ist dies Erbe zu Ende . . .« (unter dem Pseudonym Bernhard
Ziegler) veröffentlicht. Die Beiträge lösten eine heftige Diskussion
über den Expressionismus aus, an der sich fünfzehn Schriftsteller,
Literaturtheoretiker und bildende Künstler beteiligten; unter ihnen
Franz Leschnitzer (»Über drei Expressionisten«, 1937, Heft 12),
Herwarth Waiden (»Vulgärexpressionimus«, 1938, Heft 2), Klaus
Berger (»Das Erbe des Expressionismus«, 1938, Heft 2), Kurt Ker-
sten (»Strömungen der expressionistischen Schule«, 1938, Heft 3),
Gustav von Wangenheim (»Klassischer Expressionismus«, 1938,
Heft 3), Bela Balazs (»Zur Kulturphilosophie des Films«, 1938,
Heft 3), Alfred Durus (»Abstrakt, abstrakter, am abstraktesten«,
1938, Heft 6), Heinrich Vogeler (»Erfahrungen eines Malers«, 1938,
Heft 6), Werner Ilberg (»Die beiden Seiten des Expressionismus«,
2 * Anmerkungen

1938, Heft 6), Rudolf Leonhard (»Eine Epoche«, 1938, Heft 6),
Ernst Bloch (»Diskussion über Expressionismus«, 1938, Heft 6),
Georg Lukacs (»Es geht um den Realismus«, 1938, Heft 6). Die
Diskussion war im Grunde angeregt durch den Artikel von Lukacs
»>Größe und Verfall< des Expressionismus«, der 1934 in Heft 1 der
»Internationalen Literatur«, Moskau, erschienen war.
5". 292 Praktisches zur Expressionismusdebatte. Im Typoskript steht
vor dem Absatz, der mit »Es gibt genügend Leute, die strikt und
konsequent gegen Realismus sind« (S. 293) beginnt, eine Passage
über Hanns Eisler: »Mit meinem Freund Eisler, der wenigen als
blasser Ästhet vorkommen wird, hat Lukacs sozusagen den Ofen
geputzt, weil er bei der Testamentsvollstreckung angesichts des
Erbes nicht die vorgeschriebene pietätvolle Rührung gezeigt haben
soll. Er kramte sozusagen darin herum und weigerte sich, alles in
Besitz zu nehmen. Nun, vielleicht ist er als Exilierter nicht in der
Lage, soviel mit sich herumzuschleppen.« Diesen Abschnitt nahm
Brecht später in die polemische Notiz »Kleine Berichtigung« (siehe
vorliegenden Band, S. 337) auf.
S. 296 Die Essays von Georg Lukacs. In der »Internationalen Lite-
ratur« erschienen von Georg Lukacs außer dem schon erwähnten
Beitrag über den Expressionismus die Aufsätze »Erzählen oder Be-
schreiben? Zur Diskussion über Naturalismus und Formalismus«
(1936, Heft 11 und 12), »Leo Tolstoi und die Entwicklung des
Realismus« (1938, Heft 10 und 11), »Ein Briefwechsel zwischen
Anna Seghers und Georg Lukacs« (1939, Heft 5), »Schriftsteller
und Kritiker« (1939, Heft 9 und 10), »Volkstribun oder Bürokrat?«
(1940, Heft 1, 2 und 3). Im »Wort« erschienen von Lukacs: »Intel-
lektuelle Physiognomie der künstlerischen Gestalten« (1936, Heft 4).
»Der faschisierte und der wirkliche Büchner« (1937, Heft 2), »Der
Niedergang des bürgerlichen Realismus« (1937, Heft 6), »Das Ideal
des harmonischen Menschen in der bürgerlichen Ästhetik« (1938,
Heft 4), »Es geht um den Realismus« (1938, Heft 6), »Die Jugend
des Königs Henri Quatre« (1938, Heft 8), »Der plebejische Huma-
nismus in der Ästhetik Tolstois« (1938, Heft 9). Die Aufsätze von
Georg Lukacs kamen, teilweise überarbeitet, 1955 im Auf bau-Ver-
lag, Berlin, in dem Sammelband »Probleme des Realismus« heraus.
Ein Teil der Arbeiten war schon 1948 im gleichen Verlag unter dem
Titel »Essays über Realismus« publiziert worden.
Anmerkungen 3 *

S. 308 Bemerkungen zu einem Aufsatz. Über einzelne Fragen der


Formalismusdiskussion, auf die sich Brecht bezieht, hatte sich
Lukacs in dem Essay »Erzählen oder Beschreiben?« 1936 geäußert.
Brechts Bemerkungen dazu sind wahrscheinlich später geschrieben.
Das von Brecht erwähnte Buch Andre Gides über die Sowjetunion
(S. 311 des vorliegenden Bandes) kam in deutscher Sprache 1937 im
Jean-Christopher-Verlag, Zürich, heraus. Siehe dazu Brechts No-
tizen »Kraft und Schwäche der Utopie« (S. 434).
S. 313 Bemerkungen zum Formalismus. Die Texte wurden vom
Herausgeber in dieser Form zusammengestellt und angeordnet.
S. 322 Volkstümlichkeit und Realismus. Der Aufsatz wurde 1958 in
Heft 4 von »Sinn und Form«, Berlin, zum erstenmal veröffentlicht.
Die hier wiedergegebene Fassung berücksichtigt einige handschrift-
liche Korrekturen Brechts, die erst jetzt zugänglich wurden.
5". 334 Hanns Eisler und (S. 337) Kleine Berichtigung. Hanns Eisler
und Ernst Bloch schrieben im Rahmen der Expressionismusdebatte
den Beitrag »Die Kunst zu erben«, in: »Die neue Weltbühne«,
1938, Heft 1. In dem Essay »Es geht um den Realismus« (1938,
Heft 6), hatte Lukacs unter anderem über Grimmeishausens »Sim-
plizius Simplizissimus« geschrieben: »Es mag den Eislers überlassen
werden, den Montagewert der zerschlagenen Stücke dieses Meister-
werks abzuschätzen - für das lebendige deutsche Schrifttum wird es
als ein lebendiges und aktuelles Ganzes in seiner Größe (und mit sei-
nen Grenzen) weiterleben.« In der zweiten verbesserten Buchausgabe
seiner Realismus-Aufsätze hatte Lukacs den Satz verändert in: »Es
mag Eisler und Bloch überlassen werden . . .« — Die beiden Notizen,
die Brecht für einen größeren Aufsatz zum Thema Volkstümlich-
keit aufschrieb, wurden vom Herausgeber zusammengestellt. -
S. 339 Bemerkung zu meinem Aufsatz und (S. 340) Weite und Viel-
falt der realistischen Schreibweise. Brecht bezieht sich in seiner Vor-
bemerkung auf Lukacs' Essay »Marx und das Problem des ideolo-
gischen Verfalls«, der 1938 in Heft 7 der »Internationalen Literatur«
erschienen war. Der Aufsatz »Weite und Vielfalt der realistischen
Schreibweise« wurde zuerst 1955 im Heft 13 der »Versuche« ge-
druckt.
S. 34p Notizen über realistische Schreibweise. Die Aufsätze können
als Versuch Brechts gelten, die Gedanken der Realismusdebatte zu-
sammenzufassen. Die einzelnen Beiträge konnten durch Numerie-
4 * Anmerkungen

rungen als zusammengehörig ausgemacht werden. Der Abschnitt 4


war bei Brecht ursprünglich überschrieben mit »Notizen über reali-
stische Schreibweise, Wahl von Vorbildern usw.«, diesen Titel hat
Brecht später gestrichen.

Anmerkungen zur literarischen Arbeit


S. 385 Lyrik und Logik. Der Text wurde in einer unvollständigen
Fassung zuerst 1964 in dem Band »Über Lyrik« gedruckt (edition
suhrkamp, Frankfurt/M. 1964).
S. 387 Über die Verbindung der Lyrik mit der Architektur sowie
(S. 391) Die Lyriker brauchen die Vernunft nicht zu fürchten, (S. 392)
Über das Zerpflücken von Gedichten, (S. 393) Die kritische Haltung,
(S. 394) Die Dialektik, (S. 404) Die Übersetzbarkeit von Gedichten,
(S. 405) Zur Frage der Übersetzung von Kampfliedern, (S. 407)
Über die Lyrik und den Staat. Alle diese Aufsätze und Notizen er-
schienen zuerst in dem Band »Über Lyrik«.
S. 389 Logik der Lyrik. Der Beitrag ist ebenfalls in dem Band Ȇber
Lyrik« 1964 zuerst gedruckt worden. Auf dem Typoskript Brechts
steht hinter der Überschrift die Ziffer 2. — Fritz Brügels Gedicht
»Flüsterlied«, siehe »Über Lyrik«, S. 21.
S. 395 Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen. Der
Essay wurde im März 1939 im Heft 3 der Monatsschrift »Das Wort«
zuerst gedruckt. Eine bearbeitete und ergänzte Fassung des Textes
nahm Brecht in die »Versuche« Heft 12 (1953) auf.
S. 403 Nachtrag zu: Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen
Rhythmen. Dieser Abschnitt ist im Typoskript mit einem Kreuz
versehen, sollte also vermutlich in den voranstehenden Essay einge-
fügt werden.
S. 408 Die Schönheit in den Gedichten des Baudelaire. Brecht schrieb
die Notizen wahrscheinlich auf Grund von Gesprächen mit Walter
Benjamin. Eine Rohübersetzung des Gedichts »Les Petites Vielles
III«, die Brecht handschriftlich korrigiert hat, wurde nicht in den
Band aufgenommen. Sie ist, wie auch die Notizen über Baudelaire,
in dem Band »Über Lyrik« abgedruckt.
S. 411 Notizen zur Arbeit. Brecht schrieb diese Bemerkungen und
Notizen fortlaufend. Sie blieben deshalb als Komplex in Brechts
Anordnung erhalten, auch wenn die Themen der Notizen mitunter
Anmerkungen 5 *

zu anderen Gebieten gehören. Der Abschnitt »Realistische Kritik«


(S. 415) wurde bereits in dem Band »Über Lyrik« veröffentlicht.
Er gehört zum Komplex der Realismusdebatte (siehe das Kapitel
»Über den Realismus«, S. 285 ff.) und gibt einen Hinweis auf die
Entstehungszeit.
S. 418 Verantwortung für eine Übertragung. Von den vier Teile
umfassenden Erinnerungen Martin Andersen Nexös übersetzten
Bertolt Brecht und Margarete Steffin die beiden ersten; sie er-
schienen unter dem Titel »Die Kindheit, Erinnerungen« 1945 im
Mundus-Verlag AG., Basel, und 1946 im Dietz-Verlag, Berlin. Ein
dem »Wort« zum Vorabdruck eingereichter Abschnitt konnte nicht
mehr veröffentlicht werden, da die Zeitschrift ihr Erscheinen ein-
stellen mußte.
S. 422 Vorbemerkungen zu Gedichten für ein Rezitationsprogramm.
Die Texte wurden unter der Überschrift »Verbindende Texte für
ein Rezitations-Programm« in dem Band »Über Lyrik« zum ersten-
mal veröffentlicht.
S. 424 Anmerkungen zu den »Chinesischen Gedichten«. Der Text
erschien, zusammen mit den Gedichten, in einer ersten Version unter
der Überschrift »Bemerkungen zu den sechs chinesischen Gedichten«
1938 in Heft 8 der Monatsschrift »Das Wort«. Eine erweiterte Fas-
sung wurde 1950 in Heft 10 der »Versuche« aufgenommen.

Aufsätze zur Literatur


S. 429 Über Asphaltliteratur. Der Glückwunsch, den Brecht zum
50. Geburtstag an Lion Feuchtwanger schrieb, erschien im Juli 1934
in Heft 11 der Zeitschrift »Die Sammlung«, Amsterdam.
S. 430 Über Karl Kraus. Unter dieser Überschrift wurden vom Her-
ausgeber einige in einer Mappe liegende Notizen zusammengestellt,
die Brecht wahrscheinlich für den 60. Geburtstag von Karl Kraus
geschrieben hat. Vergleiche dazu auch die Gedichte Ȇber die Be-
deutung des zehnzeiligen Gedichtes in der 888. Nummer der>Fackel<
(Oktober 1933)« und »Über den schnellen Fall des guten Unwissen-
den« in »Gedichte«.
S. 434 Kraß und Schwäche der Utopie. Andre Gide besuchte im
Sommer 1936 die Sowjetunion und veröffentlichte noch im gleichen
Jahr das Buch »Retour de l'U.R.S.S.« im Verlag Gallimard, Paris.
6 * Anmerkungen

Brecht schrieb seine Äußerungen zu diesem Buch wahrscheinlich im


Dezember 1936 nach dem Erscheinen einiger Rezensionen des Buches
in den deutschsprachigen Exilzeitungen, die er ausgeschnitten auf-
bewahrt hat. Es läßt sich nicht genau ausmachen, welches Zitat über
Freiheit Brecht einsetzen wollte. In den gesammelten Zeitungsaus-
schnitten sind unter anderem folgende Passagen aus dem Gide-Buch
zitiert, auf die sich möglicherweise Brechts Bemerkungen beziehen:
»Auf den ersten Blick scheint es«, schreibt Andre Gide, »daß das
einzelne Individuum sich vollkommen in der Masse auflöst und
derartig seine Individualität verliert, daß man glaubt, es wäre
richtiger, wenn man von Menschen spricht, die unpersönliche Form
zu benutzen und nicht >Menschen< zu sagen, sondern >man<.« — »In
Sowjetrußland ist ein für alle Mal festgesetzt, daß über alles und
jedes nur eine einzige Meinung bestehen darf. Diese geistige Uni-
formierung ist den Menschen auf die Dauer geradezu natürlich ge-
worden.« — Über Selbstkritik schrieb Gide, er finde, daß »diese
Kritik in der Erörterung besteht, inwieweit das eine oder das andere
mit der >Generallinie< übereinstimmt. Die Linie selbst aber kritisiert
man nicht.« Da diese Zitat-Übersetzungen offensichtlich nicht exakt
Gides Meinungen wiedergaben, brach Brecht seine Auseinanderset-
zung ab. Weitere Ausführungen Brechts, die aus Anlaß von Gides
Buch geschrieben wurden, siehe »Schriften zur Politik und Gesell-
schaft«, S.661 ff.— Eine deutsche Übersetzung des Buches (von Fer-
dinand Hardekopf) unter dem Titel »Zurück aus Sowjet-Rußland«
wie auch des kurz darauf geschriebenen Buches »Retuschen zu meinem
Rußlandbuch« erschienen 1937 im Jean-Christophe-Verlag, Zürich.
S. 442 Gorkis Einfluß auf die Literatur. Die beiden Texte, die bei
Brecht die gleiche Überschrift tragen, wurden vom Herausgeber in
dieser Reihenfolge angeordnet.
S. 443 Über »Der stille Don«. Der Text trägt bei Brecht keine
Überschrift. Es darf als sicher angenommen werden, daß Brecht an
Scholochows »Stillen Don« gedacht hat, der 1929 in zwei Bänden
beim Verlag für Literatur und Politik, Wien und Berlin, in deut-
scher Übersetzung herausgekommen war. In den Jahren 1934 bis
1936 veröffentlichte der Malik-Verlag, London, eine dreibändige
Ausgabe des Romans.
S. 458 Komisches. Die Notizen Brechts stammen aus den Material-
sammlungen für den Tui-Roman.
Anmerkungen 7 *

S. 466 Notizen zu Heinrich Manns »Mut«. Die Essaysammlung von


Heinrich Mann erschien 1939 bei »Editions du 10. Mai«, Paris.
S. 477 Schriftsteller im Exil. Am 23. März 1942 feierte die dänische
Schriftstellerin Karin Michaelis ihren 70. Geburtstag in New York.
Aus diesem Anlaß widmete ihr die deutschsprachige Zeitung »Auf-
bau«, New York, in ihrer Ausgabe vom 20. März 1942 einen
Gedenkartikel unter dem Titel »Europa in Amerika«. Darunter
wurde Brechts Geburtstagsbrief abgedruckt.
S. 478 Einigung der deutschen Hitlergegner im Exil. Der Brief wurde
veröffentlicht in »Sinn und Form«, Berlin, 1964, Heft 5. Das Heft
enthält auch die Antwort Thomas Manns vom 10. Dezember 1943.

Die Künste in der Umwälzung


S. 486 Salut, Teo Otto! Dieser Text wurde als Vorwort zu dem
Bildband von Teo Otto »Nie wieder. Tagebuch in Bildern«^ Verlag
Volk und Welt, Berlin 1949, geschrieben. In einer abweichenden
Fassung beginnt das Vorwort mit folgendem Abschnitt: »Teo Ottos
>Nie wieder< ist im Exil geschaffen, in der Schweiz. (Es war eine
Jagd nach Brot und Ausweisen, aber die Ausweise waren schwerer
zu beschaffen. Wie konnte man Bolivier werden, oder Chinese? Als
Bolivier konnte man vielleicht in Frankreich bleiben, als Chinese
Schweden verlassen. Die Ausweise waren von verschiedener Güte,
und bei den Schlupfwinkeln kam es darauf an, daß sie tauschbar
waren mit andern Schlupfwinkeln. Die Schweiz war ein guter Zu-
fluchtsort, wie ein Haus mit mehreren Türen. Sie schlössen sich dann
freilich, eine nach der anderen. Als alle Türen sich geschlossen hat-
ten, fing Teo Otto, der Zeichner, an, eine merkwürdige Sorte von
Dokumenten anzufertigen, Ausweise ganz besonderer Art, nämlich
solche, die ihn dem jeden Tag zu erwartenden Feind ans Messer
liefern mußten: Er zeichnete auf große Blätter, was er über den
Feind dachte.)«
S. 488 Gruß an Feuchtwanger. Brechts Glückwünsche zum 65.
Geburtstag von Lion Feuchtwanger erschienen zuerst in der Zeit-
schrift »Ost und West«, Berlin, Juni 1949.
S. 490 Wir Neunzehn. Brecht bezieht sich in dem Text auf das
Verhör der 19 Schriftsteller und Künstler, das 1947 vor dem
»Kongreßausschuß zur Untersuchung unamerikanischer Betätigung«
8 * Anmerkungen

in Washington stattfand. Siehe dazu auch die »Anrede an den Kon-


greß für unamerikanische Betätigung«, in der Abteilung »Zur
Politik und Gesellschaft«, S. 859.
S. 493 Wandelbar und stetig. Brechts Wünsche zum 60. Geburtstag
von Johannes R. Becher erschienen im Sammelband »Dem Dichter
des Friedens Johannes R. Becher zum 60. Geburtstag«, Aufbau-
Verlag, Berlin 1961, gleichzeitig unter dem Titel »Johannes R.
Becher zum Gruß« im »Aufbau«, Berlin, 1961, Heft 5.
S. 494 Arnold Zweig zum 65. Geburtstag. Der Text erschien zuerst in
dem Sonderdruck des Auf bau-Verlags, Berlin, »Arnold Zweig zum
65. Geburtstag« am 10. November 1952. Er wurde im gleichen Jahr
im Sonderheft Arnold Zweig von »Sinn und Form« gedruckt.
S. 49$ Offener Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller.
Der Brief wurde von Brecht an zahlreiche Schriftsteller und Künst-
ler verschickt und in vielen Zeitschriften und Zeitungen der DDR
abgedruckt.
S. 496 Appell an die Vernunft. Brecht schrieb die Antworten auf
dreizehn Fragen, die Wolf gang Weyrauch am 1. November 1952 in
der Zeitschrift »Die Literatur«, Stuttgart, veröffentlicht hatte. In
der Einleitung schrieb Weyrauch: »Ich bitte Sie, Bertolt Brecht,
folgende 13 Fragen zu lesen, darüber nachzudenken und darauf zu
antworten. Bitte, glauben Sie mir, daß diese Fragen meine eigenen
Fragen sind. Keiner hat sie mir eingeflößt, eingetrichtert und befoh-
len. Ich bekomme auch kein Geld dafür. Es sind meine freien
Fragen. Allerdings haben dieselben Zustände meine Fragen ver-
ursacht, die auch Ihren Aufruf An alle deutschen Künstler und
Schriftsteller vom September 1951 bewirkt haben, und eben dieser
Ihr Aufruf hat meine Fragen veranlaßt. Trotzdem sind meine
Fragen meine eigenen, freien Fragen. Wie könnte es auch anders
sein? Die Schriftsteller sind >die letzten Freien in der Welt der
Zwecken Das hat ein Schweizer Schriftsteller geschrieben. Ich
glaube, daß er recht hat. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Bertolt
Brecht, ich wäre glücklich, wenn Sie meine Fragen beantworteten, die
gleichzeitig das ausdrücken, was vielen durch den Kopf geht, den
Schriftstellern und den anderen. Was mich betrifft, meine ich, daß
Thomas Mann und Sie die beiden deutschen Schriftsteller sind, die
am meisten die deutsche Dichtung der Gegenwart bewegt und
befördert haben. Sie, gerade Sie, dürfen sich der Auseinander-
Anmerkungen 9 *

setzung nicht entziehen.« Die Anfrage schloß: »Ich habe Sie meine
13 Fragen gefragt, Bertolt Brecht. Ich hoffe, daß sie nicht in den
Wind geredet sind, in den Wind, in den Sturm der Gleichgültigkeit,
der Grausamkeit, und des Endes des Geistes. Falls ich Sie beleidigt
habe, bitte ich Sie, mir das zu verzeihen. Aber darf ich Sie darauf
aufmerksam machen, daß die Tatsache Ihres Aufrufs und die Tat-
sache Ihres Schweigens seit Ihrem Aufruf nicht in Ordnung sind?
Nicht in der Ordnung der Kommunikation unter den Menschen?«
Brecht sandte seine Antworten nicht ab. Die Vermutung Wolfgang
Weyrauchs, die sowjetische Verleihgesellschaft habe den Film »Jud
Süß« nach dem Libanon verkauft, wurde von der Sovexport
Moskau dementiert. Auf eine Befragung hin teilte Wolfgang Wey-
rauch dem Herausgeber mit, daß ihm die Quelle für diese Behaup-
tung nicht mehr erinnerlich sei. (In der Dokumentation der Arbeits-
gemeinschaft über Filmfragen an der Universität zu Köln »Der
Film im Dritten Reich«, herausgegeben von Hans-Peter Kochenrath,
Köln 1963, wird für die obengenannte Behauptung ein Aufsatz von
David Stewart Hüll angegeben, »Forbidden Fruits: The Harvest of
the German Cinema 1939—1945«, erschienen in »Film Quarterly«,
Vol. XIV, No. 4, Summer 1961, Berkeley. Die gleiche Quelle gibt
vor, der Nazifilm »Kolberg« werde in der DDR gezeigt, und stützt
sich auch in diesem Falle offensichtlich auf Falschmeldungen.)
S. $02 Wo ich gelernt habe. Der Text erschien zuerst 1964 in dem
Band »Über Lyrik«. Von dem Beitrag liegt noch eine andere Fas-
sung vor, deren Abschnitt 4 mit einem später gestrichenen Text
folgendermaßen beginnt: »Volkslieder habe ich in meiner Kindheit
gehört, edle und weniger edle, das von den Königskindern, das vom
Prinzen Eugen, dem edlen Ritter, und die Lieder von der Wirtin
an der Lahn. Ich habe sie glücklicherweise nicht nur gelesen, sondern
auch gehört, gesungen von der Bevölkerung mit der besonderen
Intonation und bei der richtigen Gelegenheit.«
S. 307 Deutsche Rezitationsstunde. Brecht interessierte sich gleich-
falls für die Lehrpläne des Deutschunterrichts. Zusätzlich zu den im
Lehrplan enthaltenen Texten schlug Brecht folgende Werke vor:
Rücken, »Cidher, der ewige Wanderer«; Goethe, »Der neue
Amadis«; Kraus, »Ein sterbender Soldat« (Epilog aus »Die letzten
Tage der Menschheit«); das Volkslied »Es waren zwei Königs-
kinder«; G. Hauptmann, »Gesang der Engel« (aus »Hanneles
io * Anmerkungen

Himmelfahrt«); Brecht, »Entstehung des Buches Taoteking« oder


»Der Schneider von Ulm«; das »Kommunistische Manifest«; Balzac,
»Vater Goriot«; außerdem Flaubert, Stendhal, Maupassant. Aus
der Antike: mehr Lehrstunden für Aischylos, Sophokles (»Anti-
gone«) und Euripides, Aufnahme von Texten der Dichter Homer,
Vergil (»Ackerbau«), Lukrez (»Natur der Dinge«). Außerdem
schlug Brecht die Aufnahme von Beispielen für Kitsch vor: »Im
Lehrplan fehlen die abschreckenden Beispiele. Weder politische
noch geschmackliche Urteile können gebildet werden nur an Gutem.
Weshalb nicht Tolstoischer Prosa Ganghofersche gegenüberstellen?
Wo bleibt der >Trompeter an der Katzbach< als Beispiel von Chau-
vinismus.« Brecht wünschte für den Lehrplan Beispiele von Lebens-
läufen, Meldungen und Reden, gute und schlechte Beispiele von
Losungen.
S. 508 Das Sprechen Klopstockscher Verse. Die Notiz wurde wahr-
scheinlich durch die Inszenierung des »Hofmeisters« von J. M. R.
Lenz im Berliner Ensemble 1951 angeregt. Brecht hatte in seine
Bearbeitung der Komödie Klopstocksche Verse eingefügt. Der Text
erschien zuerst in »Theaterarbeit«, Dresden 1952.
S. 509 Wie man Gedichte lesen muß. Der Brief wurde zuerst unter
dem Titel »Von der Poesie und vom Frieden. Brief an die Thäl-
mann-Pioniere« im »Aufbau«, Berlin, 1952, Heft 12, veröffentlicht.
Seitdem gibt es zahlreiche, teilweise leicht veränderte Nachdrucke.
S. 511 Notizen zur Barlach-Ausstellung. Vom Dezember 1951 bis
Februar 1952 veranstaltete die Deutsche Akademie der Künste eine
Ernst-Barlach-Ausstellung, die sehr kritisch bewertet wurde. Brechts
Notizen, in denen er sich für Barlach einsetzte, erschienen 1952 in
Heft 1 von »Sinn und Form«.
S. 532 Nicht nur Spiegel der Wahrheit. Der Text erschien zuerst in
dem Band »Über Lyrik«.
S. 533 Thesen zur Faustus-Diskussion. Im Jahre 1952 erschien im
Auf bau-Verlag, Berlin, der Operntext »Johann Faustus« von
Hanns Eisler. Zu einer Auseinandersetzung über dieses Werk gab
unter anderem der Artikel von Ernst Fischer »Doktor Faustus und
der deutsche Bauernkrieg« in »Sinn und Form«, 1952, Heft 6, An-
laß. In die Diskussion griff das Redaktionskollegium des »Neuen
Deutschland« ein, als es am 14. Mai 1953 den grundsätzlichen Bei-
trag »Das >Faust<-Problem und die deutsche Geschichte. Bemerkun-
Anmerkungen n *

gen aus Anlaß des Erscheinens des Operntextes >Johann Faustus<


von Hanns Eisler« veröffentlichte. Zum gleichen Problem nahm
Alexander Abusch am 17. Mai 1953 im »Sonntag« Stellung; sein
Aufsatz erschien unter dem Titel »Faust — Held oder Renegat in
der deutschen Nationalliteratur? Bemerkungen zu einem Textbuch
Hanns Eislers und zu einem Essay Ernst Fischers«. Brecht schrieb
seine Thesen für eine Diskussion der angeschnittenen Fragen in der
»Mittwoch-Gesellschaft« der Deutschen Akademie der Künste zu
Berlin. In den Thesen bezog er sich auf die obengenannten Diskus-
sionsbeiträge. Die »Thesen zur Faustus-Diskussion« wurden im Juli
1953 in dem Doppelheft 3/4 von »Sinn und Form«, Berlin, ver-
öffentlicht.
S. $40 Kulturpolitik und Akademie der- Künste. Im Juni und Juli
1953 wurden Vorschläge des Kulturbundes und der Deutschen Aka-
demie der Künste zu Berlin über Fragen der Kulturpolitik öffent-
lich diskutiert. Brechts Diskussionsbeitrag »Kulturpolitik und
Akademie der Künste« wurde am 12. August 1953 im »Neuen
Deutschland«, Berlin, veröffentlicht.
S. $44 Neugestaltung der künstlerischen Institutionen. Am 7. Ja-
nuar 1954 beschloß der Ministerrat der Deutschen Demokratischen
Republik die Bildung eines Ministeriums für Kultur. Das neue
Ministerium übernahm die Aufgaben der Staatlichen Kommission
für Kunstangelegenheiten, des Staatlichen Komitees für Filmwesen
und der Abteilung Erwachsenenbildung beim Ministerium für
Volksbildung. Brecht hatte sich bei verschiedenen Anlässen für diese
Neugestaltung der künstlerischen Institutionen eingesetzt.
S. $49 Zum Tode Paul Rillas. Brechts Nekrolog, den er im Auftrag
der Deutschen Akademie der Künste zu Berlin schrieb, erschien am
12. November 1954 in der »Täglichen Rundschau«, Berlin.
S. $$2 Realismus als kämpferische Methode und (S. 554) Rede auf
dem IV. Deutschen Schriflstellerkongreß. Der IV. Deutsche Schrift-
stellerkongreß fand im Januar 1956 in Berlin statt. Brecht machte
sich für seine Rede viele Notizen. Die Rede, die er auf dem Kon-
greß verlas, wurde zuerst im Protokoll des Kongresses, in der Bro-
schüre »Beiträge zur Gegenwartsliteratur«, Nr. 2, Berlin 1956,
veröffentlicht. Siehe dazu auch die Texte »Verschiedene Bauarten
von Stücken« und »Ein paar Worte zum Schluß«, in »Schriften
zum Theater«, S. 937 ff.
Inhalt

Über den Realismus 1937—1941


Es hat keinen Sinn . . . 286
Formalist ist. . . 286
Richtlinien für die Literaturbriefe der Zeitschrift
»Das Wort« 287
Selbstkritik 287

Formalismus undRealismus
Die Expressionismusdebatte 290
Praktisches zur Expressionismusdebatte 292
Die Essays von Georg Lukäcs 296
Über den formalistischen Charakter der Realismus-
theorie 298
Bemerkungen zu einem Aufsatz 308
Glossen zu einer formalistischen Realismustheorie 312
Bemerkungen zum Formalismus 313
Aus: Der Geist der Versuche 319
Über Realismus 320
Ergebnisse der Realismusdebatte in der Literatur 321
Volkstümlichkeit und Realismus 322
Zu: Volkstümlichkeit und Realismus 331
Volkstümliche Literatur 334
Hanns Eisler 334
Kleine Berichtigung 337

Über realistische Schreibweise


Bemerkung zu meinem Aufsatz 339
Weite und Vielfalt der realistischen Schreibweise 340
Notizen über realistische Schreibweise 349
Thesen für proletarische Literatur 373
Thesen über die Organisation der Parole
»Kämpferischer Realismus« 374
Inhalt 1 3 *

Übergang vom bürgerlichen zum sozialistischen


Realismus 376
Über sozialistischen Realismus 378
Über Realismus 381
Über die Devise »Sozialistischer Realismus« 381

Anmerkungen zur literarischen Arbeit 1935—1941


Lyrik und Logik 385
Über die Verbindung der Lyrik mit der Architektur 387
Logik der Lyrik 389
Der Lyriker braucht die Vernunft nicht zu fürchten 391
Über das Zerpflücken von Gedichten 392
Die kritische Haltung 393
Die Dialektik 394
Über reimlose Lyrik mit unregelmäßigen Rhythmen 395
Nachtrag zu: Über reimlose Lyrik unregelmäßiger Rhythmen
403
Die Übersetzbarkeit von Gedichten 404
Zur Frage der Übersetzung von Kampfliedern 405
Texte für Musik 406
Über die Lyrik und den Staat 407
Die Schönheit in den Gedichten des Baudelaire 408
Notizen zur Arbeit 411
Über realistisches Schreiben 417
Beobachtung 417
Verantwortung für eine Übertragung 418
Der regelmäßige Jambus im Drama 420

A n m e r k u n g e n zu G e d i c h t e n
Vorbemerkungen zu Gedichten für ein Rezitationsprogramm
422
Zu den literarischen Sonetten 423
Über das Kinderlied »Das Kind, das sich nicht waschen
wollte« 423
14 * Inhalt

Anmerkungen zu den »Chinesischen Gedichten« 424


Das Sonett Ȇber Goethes Gedicht >Der Gott und die
Bajadere<« 425
Aus den Reisen in die Neuzeit 425
Aufsätze zur Literatur 1934—1946
Über Asphaltliteratur 429
Über Karl Kraus 430
Notizen zu Gottfried Benn 432

Kraft und Schwäche der Utopie 434


Über die Unfreiheit der Schriftsteller in der Sowjetunion 438
Meinungsfreiheit 440
Gorkis Einfluß auf die Literatur 442
Über »Der stille Don« 443
Über das Programm der Sowjetschriftsteller 444

Über die moderne tschechoslowakische Literatur 447


Der »Realismus« der jüngeren amerikanischen Literatur 448

Über die Popularität des Kriminalromans 450


Über den Kriminalroman 457
Komisches 458
Kulturerbe 464
Das Werk der kleineren Genien 465
Notizen zu Heinrich Manns »Mut« 466
Schriftsteller im Exil 477
Einigung der deutschen Hitlergegner im Exil 478
Heinrich Mann 480

Die Künste in der Umwälzung 1948-1956


Wir sollten nicht mehr lange so schreiben . . . 484
Die Künste in der Umwälzung 485
Inhalt 15*

Salut, Teo Otto! 486


Gruß an Feuchtwanger 488
Bemerkungen zu Orffs »Antigone« 489
Wir Neunzehn 490
Wandelbar und stetig 493
Arnold Zweig zum 65. Geburtstag 494

Offener Brief an die deutschen Künstler und Schriftsteller 495


Appell an die Vernunft 496
Vorschlag für ein Deutsches Gespräch im Rundfunk 500

Freunde und Feinde 502


Kongreß der Sowjetschriftsteller 502
Wo ich gelernt habe 502
Deutsche Rezitationsstunde 507
Das Sprechen der Klopstockschen Verse 508
Wie man Gedichte lesen muß 509

Notizen zur Barlach-Ausstellung 511


Notiz über eine neue Architektur 516
Wovon unsere Architekten Kenntnis nehmen müssen 517
Arbeiter und bildende Kunst 519
Aus: Gespräch über Malerei 520

Was ist Formalismus ? 523


Über den Formalismus und neue Formen 526
Notizen über die Formalismusdiskussion 527
Über kleinbürgerliche Neigungen in der Kunst 529
Objektivismus 529
Kosmopolitismus 530
Das Typische 531
»Naturgewalten« 532
Nicht nur Spiegel der Wahrheit 532
Thesen zur Faustus-Diskussion 533
i6 * Inhalt

Häßlichkeit in realistischer Kunst 538


Kunst und Moral 538
Politisches Bewußtsein und Kunstgenuß 538
Kulturpolitik und Akademie der Künste 540
Neugestaltung der künstlerischen Institutionen 544
Was haben wir zu tun? 545
Für produktiven Einfluß 546
Über sozialistischen Realismus 547
Zum Tode Paul Rillas 549
Wirkung alter Kunstwerke 549
Ein Werk der Weltliteratur 550
Literatur und Leben 550
Über Kunstgenuß 551
Realismus als kämpferische Methode 552
Rede auf dem IV. deutschen Schriftstellerkongreß 554

Anmerkungen 1

Druck und Bindung: Ebner, Ulm


Printed in Germany

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