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Gesammelte Werke 19
Schriften zur Literatur
und Kunst 2
Band 19
Suhrkamp Verlag
Herausgegeben vom Suhrkamp Verlag
in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann
Formalist ist,
wer sich an Formen klammert, alte oder neue. "Wer sich an Formen klam-
mert, ist Formalist, ob er Dichtungen schreibt oder Dichtungen kritisiert.
Richtlinien für die Literaturbriefe
der Zeitschrift »Das Wort«
Selbstkritik
Im vierten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft hat der
Minister für Propaganda in Deutschland jede Art von Kunst-
kritik schlicht verboten. Vielen schien das als eine zu weit ge-
triebene Nervosität gegen Kritik. Aber das Verbot ist nur
logisch. Erstens braucht man keine Kunstkritik mehr, wenn
man keine Kunst mehr hat. Das Verbot der Kritik entspricht
288 Zur Literatur und Kunst
Die Expressionismusdebatte
Es wird im Augenblick wieder über den Expressionismus ge-
sprochen. Da haben wir die gepflegte marxistische Analyse,
welche Kunstrichtungen mit einer erschreckenden Ordnungs-
liebe in gewisse Schubkästen legt, wo schon politische Par-
teien liegen, den Expressionismus zum Beispiel der USP. Da
ist etwas Langbärtiges, Unmenschliches am "Werk. Da wird
eine Ordnung geschaffen nicht durch Produktion, sondern
durch Eliminierung. Da wird etwas »auf die einfachste For-
mel gebracht«. Da war etwas, was lebte, falsch. Ich erinnere
mich immer mit einer Mischung von Vergnügen und Grauen
(die es nicht geben sollte, wie?) an den Witzblattwitz, in dem
ein Aviatiker auf eine Taube deutet und sagt: Tauben zum
Beispiel fliegen falsch.
Da gingen einige Jahrgänge von Künstlern durch eine expres-
sionistische Periode. Diese Kunstrichtung war etwas Wider-
spruchsvolles, Ungleichmäßiges, Verworrenes (sie machte
derlei sogar zum Prinzip), und sie war voll von Protest (haupt-
sächlich dem der Ohnmacht). Der Protest richtete sich gegen
die Art der Darstellung durch die Kunst, zu einem Zeitpunkt,
wo auch das Dargestellte zum Protest herausforderte. Der Pro-
test war laut und unklar. Die Künstler entwickelten sich weiter,
in verschiedenen Richtungen. Der Kunstrichter sagt nun von
den einen: Sie wurden etwas trotz des Expressionismus, und von
den andern: Sie wurden nichts wegen des Expressionismus.
Was ärgert mich an diesem Kunstrichter? Das: ich bekomme
das Gefühl nicht los, daß er meint: Man muß die Kirche beim
Dorf lassen. Er will sagen: Diese Expressionisten haben die
Kirche nur woanders hingesetzt, statt sie zu entfernen. Aber
er sagt: Man muß sie beim Dorf lassen. Ich selbst war nie ein
Über den Realismus 291
werden dann nicht so sehr darauf aus sein, die Zahl und Art
dieser Methoden einzuschränken, als vielmehr darauf, sie zu
erweitern. Wir werden so die Erfindung ermuntern, statt sie
zu entmutigen. Wir werden auf die Wahrheit einen Preis set-
zen und jede Ellenbogenfreiheit gewähren, dazu zu gelangen.
Kurz, wir werden als Realisten handeln.
Die marxistischen Klassiker haben dem Satz des alten Hegel,
daß die Wahrheit konkret ist, viel Beachtung geschenkt und
Beachtung verschafft. Er hat eine ganz außerordentliche
Sprengkraft bewiesen und wird sie immer wieder beweisen.
Kein Realist sollte ihn in der Bedeutung, die er bei den mar-
xistischen Klassikern erhalten hat, außer acht lassen. Man
sollte den Realismus, mit dem die Literatur der Antifaschisten
steht und fällt, nicht zu einer Formsache degradieren. Man
sollte auch als Kritiker Realist sein (nicht nur »für Realismus
sein«). Man sollte sagen: Die und die Szene in dem und dem
Roman entspricht nicht der Wirklichkeit, denn , oder: Das
Verhalten des Arbeiters X in der Situation Y entspricht nicht
dem wirklichen Verhalten eines Arbeiters mit den angegebe-
nen Zügen, denn . . . , oder: Die Behandlung der Tuberkulose
in diesem Roman erweckt eine ganz falsche Vorstellung, denn
in Wirklichkeit... Es ist ganz richtig, daß einer Sache bei
der Beschreibung zu wenige Seiten gegeben werden können,
so daß sie keinen realen Eindruck mehr macht. Das kann man
ganz konkret nachweisen, am Einzelfall. Andrerseits sind
Werke, die der Wirklichkeit keine neuen Seiten abgewinnen,
kaum große realistische Werke: Kein Realist begnügt sich
damit, immerfort zu wiederholen, was man schon weiß; das
zeigt keine lebendige Beziehung zur Wirklichkeit. Auch das
kann man konkret aufzeigen, am Einzelfall. Ein Realist
schreibt so, daß er verstanden werden kann, denn er will auf
wirkliche Menschen wirklich einwirken. Was verstehbar ist
und was nicht, kann man konkret aufzeigen, am Einzelfall.
(Es ist zum Beispiel nicht nur das verständlich, was schon ver-
standen ist.) Ein Realist, der sich mit Kunst befaßt (zum
296 Zur Literatur und Kunst
nicht, weil sie ganz kurz sind. Auf das Ganze paßt es über-
haupt nicht. Ich halte es für ein realistisches Stück. Aus den
Tafeln des Bauern-Breughel habe ich mehr herausgeholt da-
für als aus den Abhandlungen über Realismus. Über den zwei-
ten Roman, an dem ich schon lange arbeite, wage ich kaum zu
sprechen, so kompliziert sind da die Probleme und so primitiv
ist da das Vokabular, das mir die Ästhetik des Realismus, wie
sie jetzt ist, liefert. Die formalen Schwierigkeiten sind außer-
ordentlich, ich habe ständig Modelle zu bauen; wer mich bei
dieser Arbeit sähe, würde mich für nur an Formfragen in-
teressiert halten. Ich mache diese Modelle, weil ich die Wirk-
lichkeit darstellen möchte. Was Lyrik betrifft, so gibt es eben-
falls in ihr einen realistischen Standpunkt. Ich fühle aber,
daß man ganz außerordentlich vorsichtig vorgehen müßte,
wenn man darüber schreiben wollte. Andrerseits gewönne man
viel Aufschluß über Realismus in Roman und Dramatik.
Form nach, hat er recht. Oder: Formell ist die Aufgabe gelöst
will sagen, sie ist nicht eigentlich gelöst. Oder: Ich habe das ge-
tan, um die Form zu wahren. Das will sagen, es bedeutet nicht
viel, was ich getan habe, ich mache, was ich will, aber ich wahre
die Form, da kann ich am besten machen, was ich will.
Wenn ich lese, daß die Autarkie des Dritten Reichs auf dem Pa-
pier perfekt ist, weiß ich, daß es sich um politischen Formalis-
mus handelt. Der Nationalsozialismus ist ein Sozialismus der
Form nach, das heißt ein politischer Formalismus. Es han-
delt sich da nicht um wuchernden Formensinn.
Faßt man den Begriff so (und er wird verständlich so und
wichtig so), dann sind wir imstande, zurückkehrend zur Li-
teratur (ohne diesmal das gewöhnliche Leben völlig verlas-
send), auch Werke als formalistisch [zu] bezeichnen und [zu]
entlarven, die nicht die literarische Form über den sozialen
Inhalt stellen und doch der Realität nicht entsprechen. Wir
können auch solche Werke entlarven, die der Form nach reali-
stisch sind. Es gibt da viele.
Hier gibt es ein Nur der Form nach, das beachtet werden
muß, eine Verfälschung der Wirklichkeit. Es handelt sich nicht
nur um ein formales Problem (das mit einem Zurück zu Tol-
stoi zu lösen wäre). Rein formal hatten wir einen inneren
Monolog, den gerade wir sehr schätzten, ich denke an Tu-
cholskys Stücke.
Ich habe keinen Grund, auf Gedeih und Verderb die Dos
Passos'sche Montagetechnik zu propagandieren; als ich einen
Roman schrieb, habe ich selber so etwas wie »kämpfvolle und
verschlungene Wechselbeziehungen« zu gestalten versucht. (Was
ich von der Montagetechnik benutzte, benutzte ich in diesem
Roman anderweits.) Aber ich möchte eine Verurteilung dieser
Technik lediglich zugunsten der Schaffung bleibender Gestalten
doch nicht zulassen. Erstens hat gerade Dos Passos »kampf-
volle1 und verschlungene Wechselbeziehungen von Menschen«
ausgezeichnet dargestellt, wenn auch seine Kämpfe nicht die
der Tolstoischen Gestalten und seine Verschlingungen nicht
die der Balzacschen Fabeln waren. Zweitens steht und fällt
der Roman durchaus nicht mit der »Gestalt« und besonders
nicht mit der Gestalt der Art, wie sie im vorigen Jahrhun-
dert existierte. Man sollte nicht die Vorstellung nähren von
einer Art Walhalla der bleibenden Gestalten der Literatur,
einer Art von Madame Tussaudschen Panoptikums, in dem
von der Antigone bis zur Nana und von Äneas bis Nechlju-
dow (wer ist das übrigens?) lauter bleibende Gestalten stehen.
In einem Lachen über eine solche Vorstellung sehe ich nichts
Despektierliches. Wir wissen einiges darüber, auf welchen
Grundlagen der Kult des Individuums, wie er in der Klas-
sengesellschaft getrieben wurde, beruht: Es sind historische
Grundlagen. Wir sind weit davon entfernt, das Individuum
abschaffen zu wollen. Aber wir sehen immerhin mit einiger
Nachdenklichkeit, wie dieser (historische, besondere, vorüber-
kann man [...] die Welt schief darstellen und auch richtig,
da ist kein Zweifel. Bei den reinen Formfragen soll man nicht
allzu unbedenklich im Namen des Marxismus sprechen. Das
ist nicht marxistisch.
geschändet im Namen der Ehre, auf der Flucht vor den Hor-
den, die uns auf dem Fuße dorthin folgen werden. Der Form
nach sind wir keine Deutschen mehr. Es ist klar, daß wir die-
ses Regime nicht nur der Form nach bekämpfen, das von die-
sem Regime unterdrückte Volk nicht nur der Form nach in
seinem Kampf unterstützen dürfen. Es genügt nicht, zu pro-
testieren und im übrigen seiner Beschäftigung nachzugehen.
Das wäre ein schlimmer Formalismus. Und wir müssen wis-
sen, daß die literarische Tätigkeit viele Verführungen zum For-
malismus bietet. Zwischen der vertriebenen deutschen Litera-
tur und dem unterdrückten deutschen Volk ist ein Anschluß
erfolgt, der gemeinsame Feind hat ihn bewerkstelligt. Er hat
eine Schicksalsgemeinschaft geschaffen. Im Punkt der gemein-
samen Leiden ist der Anschluß nicht nur einer der Form
nach. Aber unsere Arbeiten zeigen diesen Anschluß oft nicht
tief genug, wir wissen das oder sollten es wissen. Auch unser
Volksbegriff ist nicht immer real genug. Immer noch sehen
viele von uns ungenau, was das Volk ist, und jeder von uns
ist imstande, sich darüber zu täuschen und darüber Tauschung
zu erzeugen. Manche meinen, es handle sich nur darum, ein-
fach zu sprechen, und dann gehen sie nur den Kompliziert-
heiten aus dem Weg. Andere sprechen kompliziert und gehen
den großen einfachen Grundwahrheiten aus dem Weg. »Das
Volk versteht nicht komplizierte Ausdrucks weise« — und die
Arbeiter, die Marx verstanden haben? »Rilke ist zu kompli-
ziert für die Massen« - und die Arbeiter, die mir sagten, er
ist zu primitiv?
[Über Realismus]
Ich habe nicht den Eindruck, daß wir unsere Sache besonders
gut geführt hätten, die Sache des Realismus in der Literatur.
Die Schwächen der hauptsächlichen expressionistischen Werke
sind nicht durch Realisten nachgewiesen worden; der Realis-
wittsbegriff ist sehr eingeengt aufgetreten, beinahe hatte man
den Eindruck, es handle sich um eine literarische Mode mit
Regeln, die einigen willkürlich ausgewählten Werken ausge-
zogen wurden. Man zerstampfe soundsoviel expressionistische
Werke in einem Messingfaß und genieße den gewonnenen
Saft mit dem Ausdruck des Mißbehagens, und man zer-
stampfe und so weiter. Es wird dann ständig nur mit den
Über den Realismus 321
den vielleicht nicht finden, daß sie den Schlüssel zu den Er-
eignissen ausgeliefert bekommen, wenn sie, durch viele Künste
verführt, sich lediglich an den seelischen Emotionen der Hel-
den unserer Bücher beteiligen. Ohne gründliche Prüfung die
Formen der Balzac und Tolstoi übernehmend, würden wir
vielleicht unsere Leser, das Volk, ebenso ermüden, wie es diese
Schriftsteller oft tun. Realismus ist keine bloße Frage der Form.
Wir würden, die Schreibweise dieser Realisten kopierend, nicht
mehr Realisten sein.
Denn die Zeiten fließen, und flössen sie nicht, stünde es
schlimm für die, die nicht an den goldenen Tischen sitzen. Die
Methoden verbrauchen sich, die Reize versagen. Neue Pro-
bleme tauchen auf und erfordern neue Mittel. Es verändert
sich die Wirklichkeit; um sie darzustellen, muß die Darstel-
lungsart sich ändern. Aus nichts wird nichts, das Neue kommt
aus dem Alten, aber es ist deswegen doch neu.
Die Unterdrücker arbeiten nicht zu allen Zeiten auf die gleiche
Art. Sie können nicht zu allen Zeiten in der gleichen Weise
dingfest gemacht werden. Es gibt so viele Methoden, sich der
Vernehmung zu entziehen. Ihre Heerstraßen taufen sie Auto-
straßen. Ihre Tanks sind bemalt, daß sie wie die Büsche des
Macduff aussehen. Ihre Agenten zeigen Schwielen an den
Händen vor, als seien sie Arbeiter. Nein, den Jäger in das
Wild zu verwandeln, das braucht Erfindung. Was gestern
volkstümlich war, ist es nicht heute, denn wie das Volk gestern
war, so ist es nicht heute.
Jeder, der nicht in formalen Vorurteilen befangen ist, weiß,
daß die Wahrheit auf viele Arten verschwiegen werden kann
und auf viele Arten gesagt werden muß. Daß man Empörung
über unmenschliche Zustände auf vielerlei Arten erwecken
kann, durch die direkte Schilderung in pathetischer und in
sachlicher Weise, durch die Erzählung von Fabeln und Gleich-
nissen, in Witzen, mit Über- und Untertreibung. Auf dem
Theater kann die Wirklichkeit dargestellt werden in sach-
licher und in phantastischer Form. Die Schauspieler können
328 Zur Literatur und Kunst
Für den Humanismus! noch nicht ergänzt ist durch die Parole
Gegen die bürgerlichen Besitzverhältnisse!, ist die Wendung der
Literatur zum Volk noch nicht erfolgt.
2 Der Zeitpunkt
Und schließlich muß man, um ein bestimmtes Beginnen dem
Urteil auszuliefern, doch auch berichten, wann es stattgefun-
den hat. Das Anbringen gewisser Gemälde an den inneren Wän-
den von Schiffen kann sehr töricht sein, wenn es stattfindet zu
einem Zeitpunkt, wo der Untergang schon eingesetzt hat, was
mit dem Ausbruch eines Seekriegs der Fall sein kann. Tat-
sächlich finden wir, um dies Bild weiterzuführen, noch im
Augenblick des eigentlichen Sinkens Künstler mit dem Aus-
denken und Ausführen von Gemälden beschäftigt.
Volkstümliche Literatur
Ob ein literarisches Werk volkstümlich ist oder nicht, das ist
keine formale Frage. Es ist keineswegs so, als ob man, um vom
Volk verstanden zu werden, ungewohnte Ausdrucksweise ver-
meiden, nur gewohnte Standpunkte einnehmen müßte. Es ist
nicht im Interesse des Volkes, seinen Gewohnheiten (hier
334 Zur Literatur und Kunst
Hanns Eisler
[Notizen für einen] Beitrag zum Thema Volkstümlichkeit
Überschlag wird uns zeigen, daß es ganz unmöglich ist, nur das
als groß zu bezeichnen, was volkstümlich ist, das heißt, den
Satz für alle Zeiten gültig zu sprechen. Es sind ganz bestimmte
gesellschaftliche Zustände nötig, damit zum Kriterium der
Größe die Volkstümlichkeit genommen werden kann.
Dem Volk aufs Maul schauen ist etwas ganz anderes als dem
Volk nach dem Mund reden.
Für das bürgerliche Publikum hatten viele künstlerische Dar-
bietungen, die vom Standpunkt des Proletariats aus erfolgten
(ob sie nun von proletarischen Künstlern stammten oder nur
für Proletariat veranstaltet wurden), etwas »Lehrhaftes«, Dog-
matisches, Bevormundendes. Zunächst lehnten die bürgerlichen
Kritiker einfach alles Lehrhafte ab. Darauf aufmerksam ge-
macht, daß die bürgerliche Klassik außerordentlich lehrhaft ge-
wesen war und daß die bürgerliche Kritik noch Dramatiker wie
Ibsen und Shaw begrüßt hatte ihrer Lehrhaftigkeit wegen, be-
quemten sie sich zu dem Eingeständnis, nicht die Lehrhaftigkeit,
sondern die Lehre passe ihnen nicht. Sie fanden die Lehre naiv.
Natürlich fanden sie auch die Herrschaftsansprüche des Prole-
tariats naiv.
Die gewissen Vereinfachungen, die in der neueren Dramatik bei
der Darstellung des Seelenlebens der Individuen vorgenommen
wurden, zogen dieser Dramatik den Vorwurf der Primitivität
zu. Die bürgerliche Kritik verlor ihr Interesse, wenn in die-
sem Punkt Vereinfachungen vorgenommen wurden, da ihr auf
diesen Punkt alles ankam. Die Geschicke der Personen schienen
ihr einzig aus ihren seelischen Regungen zu resultieren, zumin-
dest einzig daraus abzulesen. Die neuere Dramatik fand gerade
diesen Standpunkt primitiv.* Sie wies ständig auf die Vereinfa-
chungen hin, welche von der älteren Dramatik bei der Dar-
stellung gesellschaftlicher Prozesse vorgenommen wurden.
Für die unterdrückte Klasse hatten die neuen Kunstwerke nichts
eigentlich Lehrhaftes; sie dienten nur der Selbstverständigung.
Diese Selbstverständigung war ein genußvoller Prozeß. Die
Gefühle der Meisterung der Materie waren genußvolle. Im
336 Zur Literatur und Kunst
Kleine Berichtigung
In der Expressionismusdebatte des »Worts« ist in der Hitze
des Gefechts etwas passiert, was einer kleinen Berichtigung be-
darf.
Mit meinem Freund Eisler, der wenigen als blasser Ästhet vor-
kommen wird, hat Lukacs gleichsam den Ofen geputzt, weil
er bei der Testamentvollstreckung angesichts des Erbes nicht
die vorgeschriebene pietätvolle Rührung gezeigt haben soll. Er
kramte sozusagen darin herum und weigerte sich, alles in Be-
sitz zu nehmen. Nun, vielleicht ist er als Exilierter nicht in der
Lage, soviel mit sich herumzuschleppen.
33 8 Zur Literatur und Kunst
1 Ich benutzte die Ballade als Vorbild für mein Gedicht »Freiheit und
Democracy«.
Über den Realismus 341
n
I met Murder on the way -
He had a mask like Castlereagh -
Very smooth he looked, yet grim;
Seven blood-hounds followed him.
in
Alle waren fett; und sie mußten
In großartiger Verfassung sein
Denn jedem von ihnen warf er
Ein, zwei Menschenherzen zum Kauen vor
Die er aus seinem weiten Mantel zog.
IV
Next came Fraud, and he had on,
Like Eldon3, and ermined gown;
His big tears, for he wept well,
Turned to mill-stones as they feil.
IV
Als nächster kam der BETRUG. Er trug
Wie Lord Eldon ein Gewand mit Hermelin;
Seine dicken Tränen, denn er weinte gut
Verwandelten sich beim Fallen in Mühlsteine.
v
And the little children, who
Round his feet played to and fro,
1 Wörtliche Übersetzung.
2 Englischer Staatsmann (1769-1822).
3 Englischer Staatsmann (1757-1844).
342 Zur Literatur und Kunst
v
Und den kleinen Kindern, die
Um seine Füße spielten
Und jede Träne für einen Edelstein hielten
Schlugen sie die Schädel ein.
VI
Clothed with the Bible, as with light,
And the shadows of the night,
Like Sidmouth, next, Hypocrisy
On a crocodile rode by.
VI
Angetan mit der Bibel wie mit Licht
Und mit den Schatten der Nacht
Wie Sidmouthi, ritt als nächste
Auf einem Krokodil die HEUCHELEI vorbei.
VII
And many more Destructions played
In this ghastly masquerade,
All disguised, even to the eyes,
Like bishops, lawyers, peers or spies.
VII
Und noch viel mehr VERHEERUNGEN traten auf
In diesem entsetzlichen Maskenzug
Alle verkleidet bis zu den Augen
Als Bischöfe, Anwälte, Peers und Spitzel.
VIII
Last came Anarchy: he rode
On a white horse, splashed with blood;
He was pale even to the lips,
Like Death in the Apocalypse.
VIII
Zuletzt kam die ANARCHIE: sie ritt
Auf einem weißen Pferd, mit Blut bespritzt;
IX
Und sie trug eine königliche Krone
Und umklammerte ein glänzendes Szepter;
Auf ihrer Stirn aber sah ich ein Zeichen -
ICH BIN GOTT UND KÖNIG UND GESETZ.
X
With a pace stately and fast
Over Engli§h land he passed.
Trampling to a mire of blood
The adoring multitude.
x
Mit erhabenem und schnellem Schritt
Bewegte sie sich über englisches Land
Niedertrampelnd zu einem blutigen Brei
Die anbetende Menge.
XI
And a mighty troop around,
With their trampling shook the ground,
Waving each a bloody sword,
For the service of their Lord.
XI
Um sich ein mächtiger Haufe -
Von seinem Getrampel erzitterte der Grund -
Und jeder schwang ein blutiges Schwert
Im Dienste seiner Herrin.
XII
And with glorious triumph, they
Rode through England proud and gay,
Drunk as with intoxication
Of the wine of desolation.
344 Zur Literatur und Kunst
XII
Und in Gloria und Triumph
Ritten sie durdi England, stolz und heiter
Blau vor Trunkenheit
Von dem Weine der Verwüstung.
XIII
O'er field and towns, from sea to sea,
Passed the Pageant swift and free,
Tearing up, and trampling down;
Till they came to London town.
XIII
Über Felder und Städte, von Meer zu Meer
Bewegte sich der AUFZUG schnell und ungestört
Alles aufreißend, alles niedertrampelnd
Bis sie zu der Stadt London kamen.
XIV
And each dweller, panic-stricken,
Feit his heart with terror sicken
Hearing the tempestuous cry
Of the triumph of Anarchy.
XIV
Und jeder Anwohner, ergriffen von Panik
Fühlte sein Herz stillstehen
Wenn er den stürmischen
Triumphschrei der ANARCHIE hörte.
xv
For with pomp to meet him came,
Clothed in arms like blood an flame,
The hired murderers, who did sing
»Ihou art God, and Law, and King.
xv
Denn es kamen mit Pomp ihr entgegen
Angetan mit Waffen wie Blut und Flamme
Die gemieteten Mörder, und sie sangen:
»Du bist Gott und Gesetz und König.
Über den Realismus 345
XVI
We have waited, weak and lone
For thy Coming, Mighty One!
Our purses are empty, our swords are cold,
Give us glory, and blood, and gold.«
XVI
Wir haben gewartet, schwach und verlassen
Auf dein Kommen, o Mächtige!
Unsere Beutel sind leer, unsere Schwerter sind kalt
Gib uns Ruhm und Blut und Gold.«
XVII
Lawyers and priests, a motley crowd,
To the earth their pale brows bowed;
Like a bad prayer not over loud,
Whispering — »Thou art Law and God.« —
XVII
Anwälte und Priester, ein buntgescheckter Haufe
Beugten ihre fahlen Stirnen bis zur Erde
Wie ein übles Gebet, nicht überlaut
Flüsternd: »Du bist das Gesetz und Gott.«
XVIII
Then all cried with one accord,
»Thou art King, and God, and Lord;
Anarchy, to thee we bow,
Be thy name made holy now!«
XVIII
Da schrie alles auf wie in einem einzigen Akkord:
»Du bist König und Gott und Herr!
ANARCHIE, vor dir beugen wir uns
Dein Name wird jetzt geheiligt.«
XIX
And Anarchy, the Skeleton,
Bowed and grinned to every one,
As well as if his education
Had cost ten millions to the nation.
346 Zur Literatur und Kunst
XIX
Und die ANARCHIE, das Gerippe
Verbeugte sich und grinste jedem zu
So artig, als ob ihre Erziehung
Der Nation zehn Millionen gekostet hätte.
xx
For he knew the Palaces
Of our Kings were rightly his;
His the sceptre, crown, and globe,
And the gold-inwoven robe.
XXXVIII
»Rise like Lions after slumber
In unvanquishable number,
Shake your chains to earth like dew
Which in sleep had fallen on you -
Ye are many - they are few.
XXXVIII
»Steht auf wie Löwen nach dem Schlummer
In unbesiegbarer Anzahl!
Schüttelt eure Ketten ab wie Tau
Über den Realismus 347
xxxix
What is Freedom? - ye can teil
That which slavery is, too well -
For its very name has grown
To on echo of your own.
xxxix
Was ist Freiheit? Ihr könnt sagen
Was Sklaverei ist - nur zu gut -
Denn ihr Name selber ist geworden
Zu einem Echo eures Namens.
XL
Tis to work and have such pay
As just keeps life from day to day
In your limbs, as in a cell
For the tyrants' use to dwell,
XLI
So, daß ihr für sie gemacht seid -
Webstuhl, Pflug und Schwert und Spaten!
Mit Willen oder ohne Willen gezwungen
Sie zu verteidigen und sie zu ernähren.
XLII
Tis to see your children weak
With their mothers pine and peak,
348 Zur Literatur und Kunst
XLII
Es ist: eure Kinder hinfällig sehen
Und ihre Mütter in Verzweiflung, weil sie hinsiechen
Wenn die Winterwinde den großen Frost bringen -
Sie liegen im Sterben, während ich dies sage.
XLIII
Tis to hunger for such diet
As the rieh man in his riot
Casts to the fat dogs that lie
Surfeiting beneath his eye.«
XLIII
Es ist: nach der Speise verlangen
Die der Reiche in seiner Völlerei
Den fetten Hunden vorwirft
Die überfressen zu seinen Füßen liegen.«
Bei Balzac ist viel zu lernen, vorausgesetzt, man hat schon viel
gelernt. Aber Dichtern wie Shelley muß sogar ein noch sichtba-
rerer Platz in der großen Schule der Realisten angewiesen wer-
den 2L\S Balzac, da er die Abstraktion besser ermöglicht als jener
und nicht ein Feind der unteren Klassen ist, sondern ein Freund.
Man kann bei Shelley sehen, daß die realistische Schreibweise
keinen Verzicht auf Phantasie, noch auf echte Artistik bedeutet.
Nichts hindert auch die Realisten Cervantes und Swifl, Ritter
mit Windmühlen kämpfen und Pferde Staaten gründen zu se-
hen. Nicht der Begriff der Enge, sondernder der Weite paßt zum
Realismus. Die Wirklichkeit selber ist weit, vielfältig, wider-
spruchsvoll; die Geschichte schafft und verwirft Vorbilder. Der
Ästhet mag zum Beispiel die Moral der Geschichte in die Vor-
gänge einsperren wollen und dem Dichter das Aussprechen von
Urteilen verbieten. Aber der Grimmeishausen läßt sich das
Moralisieren und Abstrahieren nicht verbieten, noch Dickens^
noch Balzac. Tolstoi mag die Einfühlung des Lesers erleichtern;
Über den Realismus 349
Künstler hören auf, in ihrer Klasse das zu sehen, was sie nicht
ist (und es zu zeigen), und sie hören auf, irgend etwas zu sehen
(und zu zeigen). Ihre Augen sind nicht Mikroskope, unter de-
nen man alles sieht, worüber man sie stellt, sondern nur Be-
stimmtes oder nichts. Diese Seher werden leicht von Panik er-
faßt, von Furcht, ihr Objekt habe auf dem Boden des Mikro-
skopes gelegen, nicht unter ihm. Die vermutete und oft realisierte
Gefahr liegt im Sprung von der einen Klasse zur andern. Der
Schreibende, der von einer Klasse zur anderen überwechselt,
kommt nicht aus dem Nichts in ein Etwas, sondern aus einem
Etwas in ein Etwas. Er kommt, ausgebildet, ja perfekt [ionjiert
in den Ausdrucksmitteln einer Klasse, zu deren Feinden er nun-
mehr zählen möchte. Er hat ihre Künste, auch ihre üblen ge-
lernt, er ist ein Meister in der Befriedigung ihrer Laster. Es
ist ihm ein leichtes zu beweisen, daß zwei mal zwei fünf ist;
nun ist er dessen überdrüssig, aber wie beweist man, daß zwei
mal zwei vier ist? Und er hat sogar eigentlich, wie Lenin sagt,
immer zu beweisen gehabt, daß zwei mal zwei Schuhbürste ist!
Nicht nur in seinen Gedanken, auch in seinen Gefühlen entsteht
ein riesiger Wirrwarr. Er weiß, daß er die Unnatur vertreten
hat, aber das war ihm natürlich. Nunmehr ist ihm das natürlich
unnatürlich. Fühlt er Zorn, so muß er nachprüfen, ob der Zorn
da am Platze ist, sein Mitgefühl, seine Vorstellung von Gerech-
tigkeit, Freiheit, Solidarität muß er mit Mißtrauen betrachten,
mit Verdacht alle seine Regungen. Seine Lage wird eher dadurch
erschwert als erleichtert, daß die neue Welt nicht völlig anders
ist als die alte. In gewissem Sinn ist es ein und dieselbe Welt,
in der beide Klassen leben. Bestimmte Empfindungen und Ge-
danken sind nur falsch in der alten Welt, nicht etwa einfach
nicht vorhanden. Für diese Leute ist der Moment, wo das Auge
sich entschleiert, vielleicht (auch das keineswegs immer) der
Moment des besten Sehens, aber kaum der des besten Zeigens.
Kehren wir zurück zu den Künstlern, denen noch unbekannte
Mächte die Feder oder den Pinsel führen. Wir wissen, daß un-
sere besten Maler etwa nicht nur nicht unzufrieden sind, wenn
Über den Realismus 355
ihre Bilder der abgebildeten Wirklichkeit nicht gleichen, son-
dern sogar so lange unzufrieden sind, als sie es tun. Sie haben
das Gefühl, sie müßten mehr liefern als bloße Abbilder. Das
Ding vor ihnen zerfällt ihnen in zwei Dinge, ein vorhandenes
und ein zu schaffendes, ein sichtbares und ein sichtbar zu ma-
chendes; da ist etwas, und etwas steckt dahinter. Hier spuken
noch die Urbilder, die Ideen des Plato, die Bacon in seinen
Idolas säkularisierte. Die neuzeitliche Wissenschaft entwickelte
sich in der Kritik der Ideen, die von ihr als von Menschen an-
gefertigte Abbilder behandelt wurden. Von der Kunst kann
man annehmen, daß jedem neuen optischen Gebrauch, der von
einem Ding gemacht wurde, ein allgemein gesellschaftlicher Ge-
brauch entsprach, der von ihm gemacht wurde. Hinter den Din-
gen steckte tatsächlich allerhand. Nicht nur Prozesse wie die
elektrischen oder mikrobiologischen, deren Gesetzlichkeiten
erkannt werden mußten, bevor man die Dinge handhaben
konnte, sondern auch gesellschaftliche Prozesse, nicht weniger
entscheidend über die Beeinflußbarkeit der Dinge. Die Unruhe
der Künstler war verständlich. Jedoch wird das Bewußtsein
der Künstler noch vielfach von viel früheren, primitiveren Vor-
stellungen bestimmt. Da sind Schöpfungsvorstellungen, welche
an diejenigen erinnern, die Levy Brühl bei den Primitiven fest-
stellt; da werden Welten geschaffen in der »Imagination«, »des
Künstlers Welten«, und da wird in ihnen »gelebt«. Feinde sol-
len getötet werden, indem man ihre Abbilder beschießt. Diese
Vorstellungen treten natürlich beinahe unzertrennbar verfilzt
mit späteren auf. Die ersten Bildwerke müssen alle Merkmale
des Revolutionären gehabt haben. Nicht nur triumphierte hier
die durch die Arbeit gewonnene Sicherheit der Hand, in gewis-
ser Weise bilden sie Dokumente des primitiven Atheismus
(trotz aller Versicherungen unserer Ausgraber), inmitten von
»Geschaffenem« begann der Mensch zu schaffen, die Götter
wurden doch etwas entbehrlicher, und ist nicht erkannt, was
hergestellt werden kann? (Spätestens mit dem ersten Priester
tritt bereits der erste Atheist auf: einer, der sich Gott dienstbar
35 6 Zur Literatur und Kunst
5
Was wir von einer technisch interessierten Kritik erfahren
könnten, wäre zum Beispiel der Unterschied zwischen der Dar-
stellungstechnik des Balzac und des Dickens. Nehmen wir die
Darstellung von Gerichtsverfahren bei den beiden Autoren.
Auf den ersten Blick erscheint es doch, daß Balzac eine andere
Klasse vertritt als Dickens oder dieselbe Klasse in einer andern
Situation. (Die Entscheidung, dieser spreche für das Klein-, je-
ner für das Großbürgertum, wäre natürlich nicht ausreichend.)
Es ist ein außerordentlich interessanter Punkt, daß gerade die
moralisierende, mit dem Objekt der Rechtspflege sympathisie-
rende Schreibweise des Dickens den Eindruck eines weniger tie-
fen Spatenstichs in die Realität macht als die des Balzac. Die
technische Seite zeigen beide, aber beim Dickens in seiner wenn-
gleich großartigen Darstellung des juristischen Formalismus,
etwa in »Bleak House«, sieht man bei weitem nicht so gut den
realen Sinn der bürgerlichen Rechtspflege, ihre zeitweise revo-
lutionäre Rolle wie beim Balzac. Man muß richtig verstehen,
hier soll nicht die sozialreformerische Tendenz denunziert wer-
den, das wäre absurd. Wenn Balzac dem Gesellschaftsforscher
mehr gibt, und ich denke, er tut dies, so wird es deshalb sein,
weil er später verallgemeinert als Dickens, nach einer genauen
und die Widersprüche aufzeigenden Analyse erst das Urteil zu-
läßt; er hat darin etwas im besten Sinne Wissenschaftliches.
Die moralische Haltung des Balzac kann niemals die unsrige
sein, aber diejenige des Dickens befriedigt uns auch nicht. Balzac
vermittelt uns eine tiefere Kenntnis der menschlichen Natur, er
macht sie handhabbarer. Dies wäre im einzelnen zu zeigen in
einer wissenschaftlichen Analyse historisch-materialistischer
Art, aber im Hinblick auf das Technische, nämlich die Darstel-
lungsmittel. (Wie wird ein Richter gezeichnet, der Verlauf
eines Prozesses und so weiter bei Balzac, bei Dickens?)
7 Der Realist in der Kunst — ein Realist auch außer der Kunst
Der Realismus in der Kunst wird zu oft als reine Kunstangele-
genheit behandelt. Dann hat die Kunst ihren eigenen Realis-
mus, das heißt, die Künstler verstehen unter Realismus eben et-
was Künstlerisches, und da sie über Kunst eine sehr festgelegte
Ansicht haben, die sehr oft schon fest war, bevor sie gerade re-
alistische Kunst propagierten, wird auch der Begriff des Re-
alismus sehr eingeengt und festgelegt. Der Künstler kann auch
seiner eigenen Kunst gegenüber sowohl eine unrealistische als
auch eine realistische Haltung einnehmen. Es ist vorteilhaft,
wenn er den Realismus so nimmt, wie er in anderen Künsten als
der seinen angewendet wird, und darüber hinaus auch in nicht
künstlerischen Materien, in der Politik, in der Philosophie, in
den Wissenschaften und im täglichen Leben. Gute Devisen für
Realisten sind schon Francis Bacons Sätze: »Natura non nisi
parendo vincitur« (Die Natur beherrscht nur, der ihr gehorcht)
und »Ignoratio causae destituit effectum« (Wenn die Ursache
nicht bekannt ist, kann die Wirkung nicht hervorgebracht wer-
den). Eine realistische Betrachtungsweise ist eine solche, welche
die treibenden Kräfte studiert, eine realistische Handlungsweise
eine solche, welche die treibenden Kräfte in Bewegung setzt.
Und die Sätze des Bacon gelten natürlich auch für die mensch-
liche Natur. Es kommt darauf an, daß man, einen Roman oder
ein Stück schreibend, realistisch handelt. Der Beweggrund des
Handelns einer Roman- oder Stückfigur ist dann realistisch an-
gegeben, wenn ein anderer Beweggrund ein anderes Handeln
ergeben hätte und kein anderer dasselbe. Es ist realistisch, die
Ursachen von Prozessen in die Reichweite der (Beeinflußbar-
keit durch die) Gesellschaft zu stoßen. »Die Brüder Karama-
sow« sind nicht das Werk eines Realisten, obgleich sie realisti-
sche Details enthalten, weil Dostojewski kein Interesse hat, die
Ursachen der Prozesse, die er schildert, in die praktische Reich-
weite der Gesellschaft zu stoßen, er beabsichtigt deutlich, sie dar-
aus zuentfernen. Turgenjews »Tagebuch eines Jägers« ist ein
weit realistischeres Werk mit seiner Schilderung der Bedrückung
der Bauern durch die Gutsbesitzer, obgleich es die betreffende
Realität keineswegs völlig beherrschbar macht, da es den libe-
ralen Illusionen Tür und Tor öffnet. Wir tun gut, realistische
Werke als kämpferische Werke zu definieren. In ihnen wird der
Realität das Wort erteilt, das wir sonst nicht zu hören bekom-
Über den Realismus 369
Nimm den Kampf auf mit deiner eigenen Armut! Als Schrift-
steller, am Schreibtisch, mußt du dich emanzipieren von der
Misere deiner proletarischen Existenz! Du mußt den Erlebnis-
sen gegenüber souverän sein.
5
Eine gewisse Neigung auch bürgerlicher Schriftsteller zu lehr-
haften, aktuellen Werken ist heute feststellbar. Der Versuch,
zum Beispiel eine Art neuer Enzyklopädie halbwissenschaft-
licher Art, einer Enzyklopädie, von Schriftstellern geschrieben,
zu schaffen, würde heute Aussicht auf große Beteiligung ha-
ben. Eine solche Enzyklopädie könnte natürlich nicht end-
gültig wissenschaftlich und politisch definitiven Charakter ha-
ben, sie würde die Herausgabe einer dringend nötigen kom-
munistischen Enzyklopädie nicht ersparen, aber sie könnte zur
Klärung und Selbstverständigung der antifaschistischen Schrift-
steller entscheidend beitragen.
Ij6 Zur Literatur und Kunst
Über Realismus
Es ist sehr schwierig, für Realisten zu schreiben; das muß man
sich immerzu sagen, wenn man für Proletarier schreibt. Es
genügt absolut nicht, Naturalismus zu produzieren.
Naturalismus gleicht dem Realismus wie die Sophistik der
Dialektik oder besser: wie der vulgäre mechanische Materia-
lismus dem dialektischen.
Die Dialektik
*
Flach, leer, platt werden Gedichte, wenn sie ihrem Stoff seine
Widersprüche nehmen, wenn die Dinge, von denen sie handeln,
nicht in ihrer lebendigen, das heißt allseitigen, nicht zu Ende
gekommenen und nicht zu Ende zu formulierenden Form auf-
traten. Geht es um Politik, so entsteht dann die schlechte Ten-
denzdichtung. Man bekommt »tendenziöse Darstellungen«,
das heißt Darstellungen, welche allerhand auslassen, die Rea-
lität vergewaltigen, Illusionen erzeugen sollen. Man bekommt
mechanische Parolen, Phrasen, unpraktikable Anweisungen.
Jeder von uns weiß, wie der tausendste Aufguß des großarti-
gen Refrains der »Internationale« aussieht!
Die Strophe:
Völker, hört die Signale
Auf zum letzten Gefecht!
Die Internationale
Erkämpft das Menschenrecht.
ist heute lebendig wie am ersten Tag. Da hat jedes Wort sei-
nen Sinn, und er kann in reichster Weise kommentiert werden.
Da sind die Völker, die in der Internationale aufgelöst wer-
den, damit das Menschenrecht erkämpft werde; da sind die
Signale, die sie hören müssen; da ist das letzte Gefecht. Da
sind die Völker, die gegeneinander gefochten haben und fech-
ten und die sich vereinigen sollen und wieder zum Gefecht;
da sind die Völker, die das Menschenrecht noch nicht haben!
Da ist das Gefühl von der Schwierigkeit des Kampfes, und
da ist die Siegesgewißheit!
Das ist so groß wie klug gefühlt.
Wir neigen dazu, solche Schöpfungen für einen Glücksfall zu
halten. Wir sprechen von mehr oder weniger gut. Das weni-
ger Gute ist dann auch gut, nur eben weniger. In Wirklichkeit
ist es aber oft einfach schlecht. Den großen, lebendigen Paro-
len wird eine armselige, unpraktikable, spießige Bedeutung
Zur literarischen Arbeit 395
verliehen; sie bekommen etwas Formales, Oberflächliches,
Abgestandenes. Die großartige Furchtlosigkeit der Revolutio-
näre, die aus gewaltigem Verantwortungsgefühl der Mensch-
heit gegenüber kommt, macht der Ängstlichkeit derer Platz,
die sich nicht »verhauen« wollen. Und die beste Methode, sich
nicht zu »verhauen«, scheint ihnen, überhaupt nicht zu hauen,
sondern möglichst das Alte zu sagen, und zwar in der alten
Weise. Aber es ist natürlich so nicht mehr das Alte. Seht nicht
auf die Dinge, sondern auf das, was über sie gesagt wurde,
sprecht nicht mehr, wie euch der Schnabel gewachsen ist, son-
dern wie er andern gewachsen war, und ihr bekommt tote,
falsche, leere Papierliteratur, formalistisches Zeug, Politik und
Literatur der Form nach!
schrieb ich:
Oper, Lehrstück und Kantate schrieb. Hier gab ich den Jambus
völlig auf und verwendete feste, aber unregelmäßige Rhyth-
men. Sie eigneten sich, wie mir Komponisten verschiedenster
Richtungen versicherten und wie ich selber feststellen konnte,
vorzüglich für die Musik.
In der Folge schrieb ich außer Balladen und Massenliedern mit
Reim und regelmäßigem (oder doch nahezu regelmäßigem)
Rhythmus mehr und mehr Gedichte ohne Reim und mit un-
regelmäßigem Rhythmus. Man muß dabei im Auge behalten,
daß ich meine Hauptarbeit auf dem Theater verrichtete; ich
dachte immer an das Sprechen. Und ich hatte mir für das Spre-
chen (sei es der Prosa oder des Verses) eine ganz bestimmte
Technik erarbeitet. Ich nannte sie gestisch.
Das bedeutete: Die Sprache sollte ganz dem Gestus der spre-
chenden Person folgen. Ich will ein Beispiel geben. Der Satz
der Bibel »Reiße das Auge aus, das dich ärgert« hat einen Ge-
stus unterlegt, den des Befehls, aber er ist doch nicht rein
gestisch ausgedrückt, da »das dich ärgert« eigentlich noch einen
anderen Gestus hat, der nicht zum Ausdruck kommt, nämlich
den einer Begründung. Rein gestisch ausgedrückt, heißt der Satz
(und Luther, der »dem Volk aufs Maul sah«, formt ihn auch so):
»Wenn dich dein Auge ärgert: reiß es aus!« Man sieht wohl auf
den ersten Blick, daß diese Formulierung gestisch viel reicher
und reiner ist. Der erste Satz enthält eine Annahme, und das
Eigentümliche, Besondere in ihr kann im Tonfall voll ausge-
drückt werden. Dann kommt eine kleine Pause der Ratlosig-
keit und erst dann der verblüffende Rat. Die gestische Formu-
lierung kann natürlich durchaus innerhalb eines regulären
Rhythmus vorgehen (wie ja auch im gereimten Gedicht). Ein
Beispiel für die Unterschiede:
und:
Daß aus nichts nichts wird, selbst nicht durch den Willen der Götter.
Denn so enge beschränket die Furcht die Sterblichen alle;
Da sie so viel der Erscheinungen sehn, am Himmel, auf Erden,
Deren wirkenden Grund sie nicht zu erfassen vermögen,
Daß sie glauben, durch göttliche Macht sey dies alles entstanden.
Haben wir aber erkannt,, daß aus nichts nichts könne hervorgehn,
Werden wir richtiger sehn, wonach wir forschen; woraus denn
Und wie alles entsteh, auch ohne die Hilfe der Götter.
(Lucretius: »Von der Natur der Dinge«)
ge hört wird
| j
no li rau chen
— V-/ *w/
der Sa-
rot ti mohr
Diese Erfahrungen gingen in den Ausbau unregelmäßiger
Rhythmen ein. Wie nun sehen diese unregelmäßigen Rhyth-
men aus? Ich wähle ein Beispiel aus den »Deutschen Satiren«,
die beiden Endstrophen von »Die Jugend und das Dritte
Reich«:
Ja, wenn die Kinder Kinder blieben, dann
Könnte man ihnen immer Märchen erzählen
Da sie aber älter werden
Kann man es nicht.
Ja, wenn die Kin der Kin der blie ben, dann
Man beachte den Titel »Fleurs du Mal«, das ist mit »Blumen
des Bösen« nicht ganz zutreffend übersetzt. Es heißt ebensogut
»Blumen des Schlechten«. Aber bei der letzteren Übertragung
würde ein Moment des Aktiven, Produktiven, Erfinderischen
wegfallen, ein heroisches Moment. Darin liegt aber doch eine
Verbeugung vor der Moral.
Unter dem dritten Napoleon ist die Armee »nicht mehr die
Blüte der Bauern jugend, sie ist die Sumpf blume des bäuerlichen
Lumpenproletariats. Sie besteht großenteils aus Rempla-
cants . . ., wie der zweite Bonaparte selbst nurRemplac^nt, der
Ersatzmann für Napoleon ist«. (Marx)
Die mit den Söhnen verarmter Bauern besetzten Blechkapel-
len, die ihre Weisen für die arme Stadtbevölkerung tönen las-
sen. (Benjamin)
Hier trifft man die »Stimmung«, die eine Trance ist. Und auf
die die Desillusion folgt, wie auf den Rausch der Katzenjam-
mer. (Es gibt andere Stimmung.)
Wenn es erlaubt sein sollte, für einen Augenblick und mit allen
Reservaten, den dritten Napoleon mit Cäsar zu vergleichen,
so wäre Baudelaire die hier fällige katilinarische Existenz,
welche »Armut, Schande und Prozesse so weit gebracht
haben«.
Die Laster, die bei ihm vorkommen und die er anpreist, hat er
kaum ausgeübt, er war wohl auch dazu zu impotent. Er war
weniger ein Opfer als ein Verkäufer von Rauschgiften. Übri-
gens, die Nekromantie stört den Kommerz nicht sonderlich,
sie ist ein verzeihliches Laster.
1 Über Plagiate
Ein wenig borgen bei einem oder einigen andern zeigt Beschei-
denheit; welch eine Ungeselligkeit, sich ganz allein vorwärts
bewegen zu wollen! Für einen Mann der Literatur schickt es
sich, seinen Freunden und Lesern Bekanntschaften nicht nur aus
dem Leben, sondern auch aus der Literatur vorzustellen: Diese
vermischen sich überhaupt für ihn. Jemand, der den Wert eines
guten Ausdrucks kennt, wird ihn lieber übernehmen, als das-
selbe noch einmal anders auszudrücken (wenn es wirklich das-
selbe ist) und dadurch einen neuen Ausdruck zu schaffen, der
entweder hinter dem alten zurückbleibt oder ihn beschämt.
Außerdem ist es für Stile nicht weniger gut, sich zu mischen,
wie für Menschen verschiedener Rasse. Und sollte das Plagiie-
ren ungünstig beurteilt werden, so steht es größeren Werken
nur gut an, einige Flecken zu haben, denke ich.
4 Zustimmung
Als ich von der bürgerlichen Klasse, wo ich keine Zustimmung
erhalten hatte, zur proletarischen überging, erhoffte ich mir
auch dort nicht diese Zustimmung. (Ich hatte die bürgerliche ja
nicht wegen des Fehlens der Zustimmung verlassen.) Ich er-
hoffte mir jedoch und erlangte auch einen aussichtsreichen
Streit, das heißt, dort hatte es sowohl Sinn, zu lehren, als auch
Sinn, zu lernen.
5 Formalismus
Gewisse Ideologen der proletarischen Klasse hatten gewisse
hochkultivierte Formen nur in Verbindung mit idealistischen,
für das Proletariat zweifellos schädlichen Werken beobachtet;
sie lehnten solche Formen deshalb ab. Sie beschimpften mich als
formalistisch und waren selber die Formalisten. Meiner Mei-
nung nach sollten sie ihrem Geschmack ein wenig mißtrauen
und nur solche Formen bekämpfen, deren Schädlichkeit in ge-
sellschaftlicher Hinsicht sie darlegen konnten. Ansprüche soll-
ten sie hauptsächlich hinsichtlich der gesellschaftlichen Funktion
der Kunstwerke stellen. Lange Zeit hielten sie eigentlich nur
Zur literarischen Arbeit 413
6 Das Naive
Die Naivität ist sowohl eine Eigenschaft der Greise wie auch der
Kinder. Und der Mann ist, der das Kind und den Greis in sich
enthält. Man trifft die Naivität in der Verfallszeit einer Kul-
tur, und das ist auch oft die Entstehungszeit der sie ersetzen-
den Kultur. Diese ist dann auch naiv. Die Verfallenden kennen
die Schönheit der Naivität, die Aufsteigenden haben sie.
7 Über Fortschritte
Es befriedigt mich, die Fortschritte, die ich erzielt zu haben
glaube, als auf dem Rückzug erfochten mir vorzustellen. Vor-
ausgegangen waren dem Rückzug immer, oder fast immer,
Vorstöße. Ich begann zum Beispiel mit den einfachsten, ge-
wöhnlichsten Arten der Lyrik, dem Bänkelsang und der Bal-
lade, Formen, welche von den besseren Dichtern schon längst
nicht mehr gepflegt wurden. Ich zog mich zurück auf den freien
Vers, als der Reim nicht mehr ausreichte für das, was zu sagen
war. Im Drama fing ich an mit einem fünfaktigen Stück mit
einer Mittelpunktsfigur, einem plot ältester Art (dem Enoch-
Arden-Motiv) und einem aktuellen Milieu. Nach einiger Zeit
war ich so weit, daß ich sogar die Einfühlung aufgab, an die
selbst die weitest Fortgeschrittenen noch fest glaubten. Ich gab
das Alte, bei aller Liebe zum Neuen, nicht ohne zähes Daran-
festhalten bis zum Scheitern auf. Als ich für das Theater mit der
Einfühlung mit dem besten Willen nichts mehr anfangen
konnte, baute ich für die Einfühlung noch das Lehrstück. Es
414 Zur Literatur und Kunst
schien mir zu genügen, wenn die Leute sich nicht nur geistig
einfühlten, damit aus der alten Einfühlung noch etwas recht
Ersprießliches herausgeholt werden konnte. Übrigens habe ich
nie etwas von Revolutionären gehalten, die nicht Revolution
machten, weil ihnen der Boden unter den Füßen brannte.
8 Ein Fehler?
Ich habe immer nur Widerspruch ertragen.
10 Gläubigkeit
Die Gläubigkeit der proletarischen Klasse an ihren Endsieg
gefällt mir sehr. Ihre damit eng verbundene Gläubigkeit an
so manches andere, was man ihnen sagt, beunruhigt mich
allerdings.
Zur literarisdien Arbeit 415
11 Decadence
Wenn man mich nach einem dekadenten gräflichen Offizier des
vorigen Jahrhunderts fragte, würde ich wohl Tolstoi nennen.
»Krieg und Frieden« würde ich allerdings kaum anführen,
wenn man mich nach einem typischen Werk »der« Decadence
fragte. Die Geschichte tut unseren literarischen Schubfachver-
waltern nicht den Gefallen, den Abstieg und den Aufstieg sorg-
fältig voneinander zu trennen, den zweiten pünktlich nach
dem ersten anzusetzen und in der Literatur für den Aufstieg
einen neuen Vertreter zu ernennen. Sie verfährt entsetzlich
schlampig und bringt alles durcheinander. Um in die Schub-
fächer zu gehen, müssen die literarischen Werke tüchtig be-
schnitten werden. Ich sah einmal im Film Chaplin einen Kof-
fer packen. Was am Schluß drüber hinaushing, Hosenbeine
und Hemdzipfel, schnitt er einfach mit einer Schere ab.
12 Realistische Kritik
Nach der Kritik, die mich großartig findet und zum Beweise
möglichst viele Gründe anführt, habe ich am liebsten die Kri-
tik, die mir meine Fehler nachweist und ebenfalls möglichst
viele Gründe anführt. Man sieht, ich bin der Kritik gegenüber
wählerisch. Ungern höre ich, daß ich meinen Bericht von einem
bestimmten Vorfall plastisch in den Einzelheiten, übersichtlich
im Gesamtverlauf gehalten, mit Humor schmackhaft gemacht
und mit schöner Stimme vorgetragen hätte, daß aber der
Vorfall sich anders abgespielt habe. Und ungern höre ich, daß
ich nicht realistisch geschrieben hätte, was daraus hervorgehe,
daß bekannte realistische Schriftsteller anders schrieben - und
von meinem Vorfall ist überhaupt nicht die Rede, [...] da-
von, ob ich ihn wirklichkeitsgemäß beschrieben habe oder
nicht. Die Fabel muß so und so gebaut sein, die Charakte-
ristik der Personen muß auf die und die Weise erfolgen, an
menschlichen Konflikten müssen soundso viele vorhanden
416 Zur Literatur und Kunst
Etwa
Zur literarisdien Arbeit 417
Beobachtung
[...] Man wird merken, daß die meisten Schriftsteller, da
sie die reiche Skala der Mimik und Gestik ihrer Figuren nicht
beherrschen, alles in das gesprochene Wort stopfen. Man soll
alles aus dem gesprochenen Dialog heraushören, was man in
Wirklichkeit nur sieht. Die Gespräche werden dadurch plump
und unnatürlich. Mitteilungen an den Leser. (Unsere Mutter,
die, wie du, liebe Schwester, weißt, neulich 60 Jahre alt ge-
worden ist .. .) In Wirklichkeit folgen sich Frage und Ant-
wort nicht unmittelbar. Der Faden wird weitergesponnen,
indem er verloren wird, und so weiter. Wenn es sich nur.
418 Zur Literatur und Kunst
ANTONIO
Du findest midi, o Fürst, gelassen stehn
Vor einem, den die Wut ergriffen hat.
Es muß entweder heißen: Du siehst mich gelassen stehn, oder:
Du findest mich gelassen stehend.
TASSO
Ich bete didi als eine Gottheit an,
Daß du mit einem Blick mich warnend bändigst.
Diese Replik ist beinahe nicht zu bringen, da sie nichts enthält,
woran der Schauspieler den Übergang von äußerster Wut zu
gefälligem Argumentieren vollziehen könnte. Die Bändigung
wird so sehr als vollzogen geschildert, daß der Gebändigte
nur noch eine Dankadresse an seinen Bändiger zu richten hat.
Die Glätte der Verse entspricht der Stromlosigkeit des Auf-
tritts.
ALFONS
Erzähl, Antonio, Tasso, sag mir an,
Wie hat der Zwist sich in mein Haus gedrungen?
Wie hat er euch ergriffen, von der Bahn
Der Sitten, der Gesetze kluge Männer
Im Taumel weggerissen? Ich erstaune.
Was für eine unglückliche Konstruktion! Nach »wie hat er
euch ergriffen« ergänzt man bei »von der Bahn der Sitten,
der Gesetze« natürlich »euch«, der eigentliche Akkusativ
»kluge Männer im Taumel« kommt unerwartet, der »Taumel«
geht auf den »Zwist«, in den sich der »Streit« unmotiviert
verwandelt hat. Ein paar Zeilen weiter oben hat schon die
»Wut« jemand »ergriffen«. Und das Haus des Fürsten, in das
sich der Zwist eingedrungen hat, besitzt eine Bahn, von der er
kluge Männer wegreißen kann. Wir erstaunen nicht weniger
als der Fürst.
Etwa 1941, fragmentarisch
Anmerkungen zu Gedichten
das vergossen wird und vergossen werden soll, und diesem Bo-
den, der natürlich der gute alte berüchtigte Boden der Tatsa-
chen ist, auf den sich die Kopflanger der Unterdrücker gestellt
haben, ist nie und nimmer Asphaltliteratur. Fälle von Mi-
mikry müßten schonungslos aufgedeckt und verfolgt werden,
verwenden doch gewisse Schreiber heute Form und Ausdrucks-
weise, die der Asphaltliteratur, das heißt eben der Literatur
schlechthin, der großen europäischen Literatur, wie sie sich
im Laufe der letzten Jahrhunderte geschichtlich entwickelt
hat, entnommen sind.
Juli 1934
Als das Radio erfunden worden war und dort lehrhafte Vor-
träge über Kaninchenzucht und Tiefseeforschung gut bezahlt
wurden, empfand unser Lyriker einen mächtigen Drang zu
lehren und verfaßte für das Radio einige dunkle Theorien über
die Menschheit, den Verfall der Sitten und so weiter, von der
Art, die man am besten in schöner Sprache vorträgt. Er machte
darauf aufmerksam, daß die Zeit zwischen der Erfindung des
Radios und seinem Vortrag ganz unvergleichlich kürzer sei als
etwa die zwischen der Erfindung des Steinmessers durch den
Höhlenmenschen und der Erfindung des Radios, welch letzte-
rer Erfindung er einen niedrigeren Rang verlieh.
Kraft und Schwäche der Utopie
Der französische Schriftsteller Andre Gide hat das große
Buch seiner Konfessionen um ein weiteres Kapitel bereichert.
Er hat, ein unermüdlicher Odysseus, uns den Bericht über eine
neue Irrfahrt gegeben, allerdings ohne uns verraten zu kön-
nen, an Bord welchen Schiffes dieser Bericht verfaßt ist und
wohin dieses Schiff auf der Fahrt ist.
Jeder Betrachter seiner Aufzeichnungen aus der Zeit, wo er
seinen letzten Irrtum vorbereitete, mußte mit mancherlei Be-
fürchtungen seinem Aufbruch nach dem neuen Kontinent ent-
gegensehen. Erbegrüßte ihn als Individualist, hauptsächlich als
Individualist.
Er fuhr los wie jemand, der ein neues Land sucht, müde des
alten, zweifellos begierig, seinen eigenen Glücksschrei zu hören,
aber was er wirklich suchte, war sein neues Land, nicht ein
unbekanntes, sondern ein bekanntes, nicht eines, das andere,
sondern eines, das er selber gebaut hatte, und zwar in seinem
Kopf. Er fand dieses Land nicht. Es liegt anscheinend nicht auf
diesem Planeten.
Er fuhr allzu unvorbereitet. Aber er fuhr nicht unberührt. Er
brachte nicht nur den Staub mit an seinen Schuhen. Er ist
nun enttäuscht, nicht darüber, daß es sein Land nicht gibt,
sondern darüber, daß dies nicht sein Land ist. Er nimmt es
dem Land übel. Das muß man verstehen: er war nicht in der
Lage, nach seiner Reise zu sagen: Dieses Land ist so und so,
seine Menschen tun das und das, ich verstehe es nicht ganz.
Er erwartete von sich ein Urteil, er stand selber in der Schar
derer, die auf ihn blickten. Er hatte wohl von Anfang an nicht
vor, mitzuteilen, wie dieses Land ist, sondern wie er ist, und
das konnte auch rasch geschehen, dieses Büchlein war rasch ge-
Aufsätze zur Literatur 435
Aber sie haben alle ein und dieselbe Meinung. Als ich dort
war, hörte ich viele Meinungen; ich frage mich also, worüber
er mit ihnen gesprochen hat. Sollte er sie gefragt haben,
ob zwei mal zwei vier ist, und keine Nuancen vernommen
438 Zur Literatur und Kunst
haben in den Antworten? Es gibt da einiges, das dort so ali-
gemein bekannt ist wie dieser Satz, wenn es auch für Gide noch
nicht so jenseits der Nuancierung steht.
Aber die Generallinie der Partei steht jenseits der Kritik. Aber
vielleicht nur jenseits einer Kritik, die eben ihrerseits jenseits
steht? Tatsächlich wird die Generallinie der Partei nicht in Zei-
tungsartikeln kritisiert und nicht von plaudernden Gruppen
an Kaminen festgelegt oder umgeworfen. Es erscheint kein
Buch gegen sie. Allerdings kritisiert das Leben selber sie. Als
die Kolchosierung vor einigen Jahren durch ihr allzu stür-
misches Tempo das Land in große Gefahr brachte, erschienen
keine Zeitungsartikel dagegen. Aber wurde das Tempo bei-
behalten? Es wurde nicht beibehalten. Man muß annehmen,
daß Kritik stattgefunden hatte; das, was das Tempo herab-
gemindert hatte, könnte man nicht das vielleicht Kritik nen-
nen? Es wäre dann eine ungewohnte Kritik, eine neue Spezies,
aber was spricht dagegen? Wenn ich Auto fahre, selbst am
Steuer, kritisiere ich den Lauf meines Wagens, indem ich steure.
Ende 1936
Meinungsfreiheit
Etwa 1936
Komisches
1
3
Im »Michael Kohlhaas« gäbe es einen Fall, für den ein Tui
fehlt. So entsteht nur Chaos aus dem Gerechtigkeitssinn des
Viehhändlers, sonst wäre es beim einfachen Unrecht geblieben.
In der »Odyssee« bereist ein Mann die ganze Welt auf der
Heimfahrt. Seine Schlauheit hilft ihm aus jeder Lage, aber
nicht in die Heimat.
Kolumbus sucht den Seeweg nach Westindien, findet ihn
nicht, jedoch findet er Amerika. Er hat also Erfolg gehabt.
5
Im »Inferno« zeigt der Dichter Vergil dem Dichter Dante
dessen Feinde in der Hölle.
7
Im »Don Quichote« liest ein Mann zu viele Ritterromane
und beschließt, große Taten zu verrichten. Er findet keine
Gelegenheiten. In seiner verdorbenen Phantasie hält er Müh-
len und Hammelherden für seine Feinde.
10
11
12
15
16
Der Hauptmann von Köpenick benutzt Tonfall und Hal-
tung (und Uniform) eines preußischen Hauptmanns, um eine
Kasse zu plündern. Er ist Schuster und ungebildet, was un-
entdeckt bleibt, das heißt, was die Illusion vervollständigt.
17
Eulenspiegel macht seine Mitbürger durch Schaden klug.
462 Zur Literatur und Kunst
18
19
Im »Zerbrochenen Krug« muß ein Richter ein Verbrechen ent-
decken, das er selbst begangen hat.
20
Nur mit Hilfe des Teufels gelingt es dem gelehrten Faust, ein
deutsches Mädchen zu verführen.
21
In einer genauen Rechnung zeigt Swift, daß man den Hunger
des Volkes nur beseitigen kann, indem man seine Kinder zu
Pökelfleisch verarbeitet.
23
Dickens zeigt in »Bleak House«, wie die Prozesse um die
Vermögen die Vermögen verschlingen.
24
Lenz im »Hofmeister«, daß die Lehrer nur Stellen bekommen
können, wenn sie sich selber kastrieren.
Aufsätze zur Literatur 463
16
Der Fischer und seine Frau erfahren, daß man, mehr wün-
schend, als Kaiser zu sein, wieder ins Elend kommt.
27
Ein Gangster in »Little Giants« kommt in die feine Gesell-
schaft und wird bis aufs Hemd ausgeplündert. Nur seine alten
Methoden verschaffen ihm alles zurück.
28
In »Turandot« (meine Version) verspricht der Kaiser jedem die
Hand seiner Tochter, der das Rätsel lösen kann, was an dem
Elend des Landes schuld ist. Wer es nicht kann, es aber ver-
sucht, wird enthauptet. Der Kaiser selbst ist schuldig, was
die Lösung der Aufgabe schwierig macht.
32
Der Herzbruder im »Simplizissimus« zeigt im Frieden die
Tapferkeit und Schläue, die ihn im Krieg zu einem großen
Soldaten gemacht haben, und wird als schlechter Kerl hinge-
richtet.
Kulturerbe
Es ist eine traurige einfache Aufgabe, sich in unserer Zeit
über den hemmungslosen und schauerlichen Verfall der Kultur
klarzuwerden. Wir müssen nur in unser Gedächtnis rufen,
was Kultur ist, um sogleich zu erblicken, daß wir nur mehr
wenig davon haben, eben fast nur mehr die Vorstellung davon.
Außer einer Aufstellung dessen, was eine Kultur ausmacht,
braucht es keines Beweises mehr. Nur wenn wir unter Kultur
nichts verstehen als das, was uns umgibt, können wir meinen,
von Kultur umgeben zu sein.
Gemeinhin messen wir den Stand einer Kultur an den Schrif-
ten und schönen Gegenständen, die ein Volk hinterläßt. Ihr
Zustandekommen und ihr Gebrauch läßt auf Kultur schlie-
ßen. Sie dienen als Beweis dafür, daß das Volk, das sie her-
vorbrachte und gebrauchte, sein Leben zu meistern wußte.
Aufsätze zur Literatur 465
einem bei dem oder jenem Ereignis auf, wie da etwas von
einer schrecklichen, verlumpten, unzulänglichen Logik wirk-
sam ist, beunruhigt wendet man sich von diesem Einfall ab,
bevor er zum Gedanken geworden ist, und wendet sich wie-
der dem Nachweis der Absurdität, Abnormalität, Unzuläng-
lichkeit zu.
In Wirklichkeit hat man den Übergang von unblutiger Unter-
drückung und Aussaugung zu einer blutigen Unterdrückung
und Aussaugung vor sich. Die Summe der Lebensjahre, die
dem ausgequetschten, niedergetrampelten Volk in der norma-
len Zeit entzogen wurden, ist größer als die Summe jener
Lebensjahre, die ihm jetzt entzogen wird, und sogar größer
als die, die ihm in den kommenden Kriegen wird entzogen
werden können. Die Deformierung (Anomalisierung) seines
Lebens war gewaltig. Sie reicht jetzt der herrschenden Klasse
nicht mehr aus. Auch die Geschäfte, die jetzt »mit anderen
Mitteln« fortgeführt werden sollen, wie eine ausgezeichnete
bürgerliche Formulierung des Krieges lautet, waren schon
tödlich. Viele Verurteilungen des Faschismus sind bloße Aus-
setzungen an einem »Zuviel«, als handle es sich nur um ein
Über-den-Strang-Schlagen. Was die Logik betrifft, sind die
Faschisten bei Auseinandersetzungen mit solchen Gegnern im
Grund bessergestellt. Argumentiert man auf der Grundlage,
daß dies oder jenes Brutale für die kapitalistische Wirtschaft
»nicht nötig« sei, so wird man mit sehr guten und unangreif-
lichen Argumenten belehrt, wie nötig es ist: Die Faschisten
wissen da tatsächlich besser, was für dieses System alles nötig
ist. Die Entrüstung über die Unersättlichkeit der faschistischen
Forderungen etwa ist abzuweisen mit dem Hinweis, daß dem
mit dem letzten Rest seiner zerstörten Lunge atmenden
Kranken moralische Vorstellungen über seine Unersättlichkeit
an Sauerstoff nichts helfen. So wie der Kapitalismus seine
zyklischen Krisen braucht zur Einstampfung seiner Über-
produktion, die er eben auf keine andere (schönere, nütz-
lichere, menschlichere) Weise wegbringen kann, als indem er
Aufsätze zur Literatur 469
[Schriftsteller im Exil]
verholfen wird. Ich schreibe diesen Brief, weil ich ehrlich über-
zeugt bin, daß es sehr wichtig wäre, wenn Sie unsere Freunde
über Ihre Stellungnahme in dieser wichtigsten aller Fragen
beruhigen könnten. Ihr Bertolt Brecht
/. Dezember 1943
Heinrich Mann
Der große Schriftsteller und Humanist Heinrich Mann be-
trachtete das Naziregime nicht, wie viele andere, als einen
»Rückfall« in die Barbarei, sondern als einen logischen und
gigantischen Vorstoß jener Barbarei, die sich, resultierend aus
der deutschen Wirtschaftsform, durch das ganze Kaiserreich
und die Weimarer Republik stürmisch zu diesem Tiefpunkt
hin weiterentwickelt hatte. Er hielt daran fest, daß das deut-
sche Volk nur das erste der Völker war, das von den Nazis
besiegt und unterworfen wurde, jedoch sah er auch die Ko-
lossalität dieses Sieges, resultierend in der Verlumpung brei-
tester Schichten. Er kannte die Auftraggeber. Was jetzt auf
den Nürnberger Anklagebänken sitzt, entstammt der Ver-
brechergaierie von Industriellen, Militärs, Beamten und poli-
tischen Abenteurern, gezeichnet in seinen großen politischen
Romanen. Er sah voraus, wie diese gewalttätigen Schichten
Deutschland verwüsten würden, als andere Schriftsteller, wie
etwa sein talentierter Bruder Thomas, diese Schichten noch
munter repräsentierten. Heinrich Mann glaubte nicht wie sein
talentierter Bruder, daß die deutsche Kultur da sei, wo er
war. Heinrich Mann sah die deutsche Kultur nicht nur da-
durch bedroht, daß die Nazis die Bibliotheken besetzten,
sondern auch dadurch, daß sie die Gewerkschaftshäuser be-
setzten. Im Exil arbeitete er praktisch mit an der Vereinigung
der großen proletarischen Parteien, in deren Macht allein die
Gewähr für eine deutsche Volksherrschaft liegt. Als er, siebzig-
jährig, die Pyrenäen erkletterte, um den deutschen und- fran-
Aufsätze zur Literatur 481
Gruß an Feuchtwanger
Es ist für gewöhnlich schwierig, über die Produktion eines
Freundes zu schreiben, man ist da zu geduldig oder zu streng
oder beides, nämlich in einem zu geduldig und in andrem zu
streng. Dazu ist Feuchtwanger einer meiner wenigen Lehr-
meister. Durch ihn erfuhr ich, welche ästhetischen Gesetze zu
verletzen ich mich anschickte, aber so kundig er ist, so weit-
herzig ist er. Bei Disputen mit solchen, die seine Bücher nicht
mochten, geriet ich häufig in Streitigkeiten, wenn ich den
Rang, den ich seinen Büchern anwies, mit ihrer Gescheitheit
begründete und man ihre Gescheitheit zugab und gerade
darum ihren Rang bestritt: Bei den Deutschen wird bekannt-
lich ein scharfer Unterschied zwischen dem Dichten und dem
Denken gemacht. Auf diesen läppischen Unterschied lasse ich
mich natürlich nicht ein, wenn ich berichte, daß mir etwa sein
kleiner taciteischer Bericht über seine Moskaureise immer
als ein kleines Wunder erschienen ist — worunter ich eine be-
sondere Leistung verstehe. Für einen Skeptiker wie ihn ist es
schwer, zu loben; er ist geradezu gezwungen, seinen Stil zu
ändern. Und wie selten ist es, daß der Kenner alter Kulturen
eine neue zu erkennen weiß! Und es war allerhand Tapfer-
Die Künste in der Umwälzung 489
Die sakrale Haltung des alten Werks kann Orff nur als eine
exotische gestalten. Schon dadurch verliert sie alle Bedeutung,
denn sie hat ja eine unmittelbar dramaturgische Bedeutung,
das heißt, die Dinge liefen anders ohne die Stimmigkeit des
Kultischen. Dazu kommt, daß im alten Werk das menschliche
Moment für uns Heutige nur teilweise mit dem kultischen
verflochten erscheint, zum andern Teil ihm widerspricht. Die-
sen kostbaren Widerspruch bringt die Musik so nicht heraus!
Etwa 1949
Wir Neunzehn
Aus den Vereinigten Staaten kommt die fast unglaubliche
Nachricht, daß einige der besten Schriftsteller nun ins Ge-
fängnis gebracht werden sollen. Da ich mit ihnen vor zwei-
undeinhalb Jahren in Washington auf der Anklagebank saß,
kann ich darüber berichten - man sagt mir, daß einige Leute,
die meine Stücke gesehen haben, mich nicht für einen Lügner
halten. Mich selbst hat damals gerettet nicht, daß mir keine
Umtriebe gegen Amerika nachgewiesen werden konnten - die
wurden auch den jetzt ins Gefängnis Gehenden nicht nach-
gewiesen -, sondern daß ich nicht Amerikaner war. Man hatte
nämlich uns Neunzehn, Schriftsteller, Filmregisseure, Schau-
Die Künste in der Umwälzung 491
spieler, nach Washington vor ein Komitee des Kongresses zi-
tiert, um uns zu befragen, ob wir Mitglieder der Kommu-
nistischen Partei seien. Zu dieser Zeit, zwei Jahre nach Be-
endigung des Kriegs, war nämlich an die Künstler in den
großen Filmstudios Hollywoods die Weisung ergangen, Filme
gegen den Alliierten Amerikas im Kriege, die Sowjetunion,
herzustellen. Die Industrie hatte große Summen dafür bereit-
gestellt, und einige Drehbücher waren in Auftrag gegeben
worden. Aber merkwürdigerweise kamen sie nicht zustande.
Die guten Filmschriftsteller zeigten sich abgeneigt, die schlech-
ten unfähig. Nicht alle guten Filmschriftsteller waren fort-
schrittlich, aber die Bevölkerung war noch nicht bereit, die
Helden von Stalingrad, die Amerika so viele Opfer erspart
hatten, beschimpfen zu lassen. Sie mußte erst bearbeitet wer-
den. Vor allem mußte ein Exempel statuiert, jede Weigerung,
Weisungen von oben blind zu gehorchen, öffentlich bestraft
werden. Das war der Grund, warum eine Anzahl von Künst-
lern öffentlich befragt werden sollten, ob sie etwa der Kom-
munistischen Partei angehörten.
Für eine solche Mitgliedschaft war keine Gefängnisstrafe oder
Geldstrafe vorgesehen; diese Partei war nicht illegal, damals.
Jedoch gibt es in diesem Land andere Strafen, die weit harm-
loser scheinen, jedoch nicht harmloser sind. Während der
Staat dabei nicht in Erscheinung tritt, kommt es doch zur
Hinrichtung, man könnte es eine kalte Hinrichtung nennen,
in der Weise, in der man eine besondere Form des Friedens
dort einen kalten Krieg nennt. Diese kalte Hinrichtung wird
von der Industrie vollzogen; der Delinquent wird nicht des
Lebens, nur der Mittel zum Leben beraubt; er kommt nicht
in die Todesanzeigen, nur auf die schwarzen Listen. Wer die
Schrecken der Armut und der Entwürdigung gesehen hat, die
im Land des Dollars auf den Mann ohne Dollar hereinbre-
chen, wird die Bestrafung durch Entlassung keiner Bestra-
fung vorziehen, welche der Staat verhängen könnte. In unse-
rem Falle leistete der Staat übrigens der Industrie Hilfe-
492 Zur Literatur und Kunst
daß ihre Landsleute und die ganze übrige Welt dazu die
Wahrheit erfahren. Salut, Freunde!
1950
Fielen Sie dem Hochmut anheim, nachdem Sie kollegial gewesen waren?
Argwöhnten Sie mit einem Mal, es lohnte sich nicht mehr?
[Antwort:] Ich las, sah oder hörte bisher kein Kunstwerk,
in der DDR entstanden und gedruckt, das den Krieg ver-
herrlichte und als prinzipiell unvermeidlich für das Land
hinstellte, und keines, das den Völkerhaß förderte. Dagegen
las ich von Femelisten, Zusammenkünften der von der ganzen
zivilisierten Welt als verbrecherisch verurteilten SS, von anti-
semitischen Prozessen sowie Memoirenwerken, welche die Na-
zis rühmten. Ich muß hinzufügen, daß ich von keinem Kunst-
werk mit dieser Tendenz erfuhr. Ich muß jedoch bezweifeln,
ob es, wenn entstanden, nicht veröffentlicht würde. Ich fiel
darüber nicht dem Hochmut anheim, sondern dem Entsetzen.
Ich argwöhnte nicht, daß es sich nicht mehr lohnte, an die
Vernunft zu appellieren, aber ich wußte und weiß nicht, wie
ich wenigstens die Künstler und Schriftsteller der Bundes-
republik mit meinem Entsetzen anstecken könnte oder mit
meinem Bedürfnis, an die Vernunft zu appellieren.
3. Oder schämten Sie sich? Schämten Sie sich, weil Sie im gleichen Jahr
1951, als Sie Ihren Aufruf »An alle deutschen Künstler und Schriftsteller«
verfaßten, im Aufbau-Verlag, Berlin, Ihre »Hundert Gedichte« ver-
öffentlichten, mit dem Gedicht »Resolution der Kommunarden« darin,
dessen Refrain lautet:
»In Erwägung: Ihr hört auf Kanonen -
andre Sprache könnt Ihr nicht verstehn -
müssen wir dann eben, ja, das wird sich lohnen
die Kanonen auf Euch drehn!«
4. Schämten Sie sich für Ihren Kollegen Johannes R. Becher, der ein
»Kampflied für die junge Generation« schrieb, dessen Refrain folgender-
maßen hieß:
»Seht, herrlich schon grünen die Saaten!
Es singt von der Oder zum Rhein:
wir wollen des Volkes Soldaten
und Kämpfer der Heimat sein!
Wir sind des Volkes Soldaten,
und Deutschland wird Dein sein und mein!«
498 Zur Literatur und Kunst
ein Refrain, der einem einfallen ließ, der Name Johannes R. Becher sei
ein Pseudonym für Heinrich Anacker?
[Antwort:] Ich schäme mich nicht, mein zwanzig Jahre altes
Lied »Resolution der Kommunarden« in einem Sammelband
von Gedichten veröffentlicht zu haben. Wenn Sie auch nur
noch ein paar Zeilen mehr dieses Liedes abgedruckt hätten,
wäre es ersichtlich geworden, daß es die Antwort der Kom-
mune von Paris im Jahre 71 darstellte auf die Drohung einer
verkommenen französischen Bourgeoisie, Paris an Bismarck
und den Reaktionär Thiers auszuliefern. Ich kann nichts da-
für, daß das Lied eine schauerliche Aktualität aufweist. Noch
schäme ich mich für J. R. Bechers »Kampflied für die junge
Generation«, in dem er sie singen läßt, sie wollten des Volkes
Soldaten sein, von der Oder bis zum Rhein, damit Deutsch-
land ihrer werde. Es ist nicht ihrer heute.
5. Schämten Sie sich, weil Sie in der »Berliner Zeitung« vom 18. Juli 1952,
Nr. 165, Seite 3, lasen: »Um als Künstler die Verteidigungskraft unserer
Heimat zu stärken, verpflichtet sich Hans Rodenberg, in einer noch
aufzustellenden Einheit unserer nationalen Streitkräfte mitzuhelfen, den
jungen Kämpfern aus Stadt und Land die Schätze der Kunst und Litera-
tur nahezubringen«?
[Antwort:] Ich schäme mich auch nicht der Selbstverpflich-
tung Hans Rodenbergs . . . Wenn ein Heer aufgestellt werden
müßte, weil alle Angebote friedlicher Einigung abgelehnt
werden, ist es nötig, seine Verteidigungskraft (Verteidigungs-
kraft) durch die Schätze der Kunst und Literatur zu stärken.
Sie müssen derlei als zumindest ungewöhnlich zugeben.
6. Schämten Sie sich, weil Sie erfuhren, daß der Bezirkssekretär der SED
in Schwerin, Quandt, in einer Feierstunde zum 139. Todestag des natio-
nalistischen und militaristischen Poeten Theodor Körner in Wöbbelin,
Kreis Ludwigslust, sagte: »Theodor Körner bejahte und begrüßte einen
gerechten Krieg, der den Interessen des Volkes dient. Mit der Waffe
in der Hand verteidigte er unsere Heimat, und darum ist er für unsere
Jugend das große Vorbild«?
[Antwort:] Ich schätze Theodor Körner nicht besonders, aber
Die Künste in der Umwälzung 499
7. Schämten Sie sich, weil Sie erfuhren, daß der barbarische Film
»Jud Süß« des Nazi und Antisemiten Veit Harlan von einer sowjetischen
Verleihinstitution nach dem Libanon verkauft worden war?
[Antwort:] Ich weiß nichts von einem Verkauf... Ich würde
ihn nicht billigen.
Viel wichtiger ist die Vermeidung des Krieges, den eine dau-
ernde Spaltung Deutschlands in so fürchterliche Nähe rücken
würde. Was werden die Schriftsteller der Bundesrepublik für
500 Zur Literatur und Kunst
Die Redaktion für die Sendungen soll aus etwa sieben Mit-
gliedern bestehen; darunter sollten die Herren Wendt und
Scheer sein.
Die armen Leute und die Künstler sind für die Russen, denn
die Russen sind gegen die Armut und für die Kunst, die
Amerikaner aber gegen die Kunst und für den Profit.
Die Fehler der Russen sind Fehler von Freunden, die Fehler
der Amerikaner sind Fehler von Feinden.
wachten Nacht des letzteren. Aber da ist doch auch der große
Kunstgriff der Abblendung und des Frischanfangens, der den
beiden ersten Versen gemeinsam ist. Wiederaufnahme und
Verschlechterung kann man auch an einem minderen Gedicht
studieren, dem »Trompeter an der Katzbach«, der in keinem
Lesebuch meiner Jugend fehlte:
Von Wunden ganz bedecket
Der Trompeter sterbend ruht
An der Katzbach hingestrecket
Aus der Wunde fließt das Blut.
Der erste Vers erinnert durch Rhythmus und Inhalt an Paul
Gerhardts »O Haupt voll Blut und Wunden«, und er nimmt
von diesem Anklang glücklich den Ausrufcharakter, glücklich,
denn ohne diesen wäre er eine Partizipkonstruktion, und
der zweite Vers könnte kaum wie ein Anfang lauten und ver-
löre an Monumentalität. Und doch gewinnt der zweite Vers
für das Partizip »sterbend« noch von dem Partizip »be-
decket« den Fortgang. Der Akzent liegt so um so schwerer
auf dem »ruht«, auf das es ankommt, weil der Verwundete
nachher diese Ruhe aufgibt, um in die Siegesfanfaren einzu-
stimmen. Das »hingestrecket« des dritten Verses dient eben-
falls der Etablierung des Ruhezustands; es ist ziemlich kühn,
denn wenn [man] es so liest wie das Partizip des ersten Ver-
ses, als »er ruht hingestrecket« und nicht »er wurde hin-
gestrecket«, wird der Trompeter so lang wie ein ganzes
Dorf.
Was die Zeitgenossen angeht, gibt es bei Becher gut aus dem
Volkslied Geschöpftes, ferner bei Lorca, und von Simonow habe
ich ein Lied, in dem ein Mädchen einem fern kämpfenden
Rotarmisten verspricht, auf ihn zu warten, für eine Szene
im »Kaukasischen Kreidekreis« umgeformt, in der nur die
Elemente eines Volksliedes möglich waren.1
Deutsche Rezitationsstunde
Die deutschen Rezitationsstunden könnten eine Ergänzung des
Deutschunterrichts in den Schulen bilden. Die Auswahl der
einzelnen Gedichte könnte zusammen mit den Deutschlehrern
erfolgen. Es kämen drei Möglichkeiten in Betracht:
1. Rezitation von klassischer deutscher Lyrik, besonders von
Balladen. (Claudius, Freiligrath, Goethe, Schiller, Bürger,
Ich halte Barlach für einen der größten Bildhauer, die wir
Deutschen gehabt haben. Der Wurf, die Bedeutung der Aus-
sage, das handwerkliche Ingenium, Schönheit ohne Beschöni-
gung, Größe ohne Gerecktheit, Harmonie ohne Glätte, Lebens-
kraft ohne Brutalität machen Barlachs Plastiken zu Meister-
werken. Gleichwohl gefällt mir nicht alles, was er geschaffen
hat, und wenn von ihm viel zu lernen ist, so ist doch auch
die Frage erlaubt: Was? Wann? Durch wen?
Dank für milde Gaben zu erwarten ist. Sie scheint gefeit gegen
die heuchlerische Überredung durch eine korrupte Gesellschaft,
daß man mit Fleiß und Sichnützlichmachen etwas erreichen
könne. Sie schiebt ihr kalt die Schuld zu dafür, daß ihre Kraft
lahmliegt. Es gab um 1906 schon Frauen, die dieser Ge-
sellschaft den Kampf ansagten; diese gehört nicht dazu. Es gab
auch schon Künstler, die solche Kämpferinnen gestalteten
(Gorki schuf eben seine Wlassowa); Barlach gehört nicht
zu diesen Künstlern. Das ist vielleicht schade, aber ich bin
bereit, mich an seinen Beitrag zu halten und ihm dafür zu
danken.
Der singende Mann, eine Bronze von 1928, singt anders als
die drei Frauen von 1911, kühn, in freier Haltung, deutlich
arbeitend an seinem Gesang. Er singt allein, hat aber anschei-
nend Zuhörer. Barlachs Humor will es., daß er ein wenig
eitel ist, aber nicht mehr, als sich mit der Ausübung von Kunst
verträgt.
Die Künste in der Umwälzung 513
Der Blinde und der Lahme, Stukko von 1919, ein Blinder,
der einen Lahmen schleppt. Das Bildwerk ist nicht so ausge-
führt, wie Gleichnisse es für gewöhnlich sind, nämlich mehr
oder weniger abstrakt, mit unindividuellen Figuren. Es ist
realistisch ausgeführt, und der wirkliche, individuelle Vor-
gang bekommt Gleichnis-Charakter. (Es ist etwas anderes, ob
ich bei den Worten »Ein reicher Mann hatte einen Weinberg«
mir die begüterte Klasse vorstelle, oder beim Anblick eines
Blinden, der einen Lahmen schleppt, und zwar bergaufwärts,
an die Gewerkschaften denke, die 1919 die sozialdemokrati-
sche Partei schleppten. Ich bin keineswegs sicher, daß Barlach
derlei dachte.) Die Gruppe hat einen wunderbaren inneren
Schwung durch die wirklichkeitsgetreue Zeichnung der Glie-
der bei dem schwerbelasteten Gang.
Die Kußgruppen I und II, Bronzen von 1921, sind von gro-
ßem Interesse, weil der Bildhauer hier sein Thema entwik-
kelte und durch Aufrauhung des Materials, also eigentlich
durch Vergröberung, eine größere Innigkeit erzielte. Das
Werk ist eine wohltuende Abkehr von den niedlichen ge-
schlechtslosen Amor-und-Psyche-Gruppen in den guten Stu-
ben der Kleinbürger.
514 Zur Literatur und Kunst
Von nun an, bei den Plastiken aus den Jahren nach 33, muß
man sich die Entstehungsjahre ansehen. Da ist der Buchleser,
die Bronze von 1936. Ein sitzender Mann, vorgebeugt, in
schweren Händen ein Buch haltend. Er liest neugierig, zuver-
sichtlich, kritisch. Er sucht deutlich Lösungen dringender Pro-
bleme im Buch. Goebbels hätte ihn wohl eine »Intelligenz-
bestie« genannt. Der Buchleser gefällt mir besser als Rodins
berühmter »Denker«, der nur die Schwierigkeit des Denkens
zeigt. Barlachs Plastik ist realistischer, konkreter, unsymbo-
lisch.
Ich notiere hier nichts über die Werke, die mir weniger gefal-
len (wie: Der Rächer, Der Zweifler, Die Verlassenen und so
weiter), da bei ihnen die Formung, wie mir scheint, eine De-
formierung der Wirklichkeit bedeutet. Auch ich bin der Mei-
nung, daß unser künstlerischer Nachwuchs nicht aufgefordert
werden sollte, von solchen Werken zu lernen. Jedoch geht es
nicht an, diese Werke mit den anderen in einen Topf zu wer-
fen, besonders dann, wenn weder die einen noch die andern
konkret behandelt werden. Eine abstrakte Kritik führt nicht
zu einer realistischen Kunst.
Januar 1952
Daß sie aber auch bauen muß und daher den Architekten nicht
allzuviel Zeit für die Umstellung lassen kann.
5
Daß die neue führende Klasse von den Architekten schönes
Bauen verlangt (und es ihnen erlaubt!).
Daß sie den Satz »Zweckdienlich ist immer schön« nicht an-
erkennt.
518 Zur Literatur und Kunst
Daß die neue führende Klasse ihr Bauen nicht mit dem Bau
von drei Millionen Einfamilienhäusern oder etwas komfor-
tableren Mietskasernen beginnt, sondern mit dem Bau von
Wohnpalästen. (So beginnt sie auch nicht mit dem forcier-
ten Ausbau der Gebrauchsmittelindustrie, sondern dem der
Schwerindustrie als der großen Grundlage.)
io
11
diskutiert werden? Das Holz des Tisches ist für den Zweck un-
geeignet und schlecht behandelt. Was man sieht, ist das leicht
waschbare Wachstuch. Die Bestecke, aus zu leichtem Metall
schlecht geschnitten, liegen schlecht in der Hand. Teller und
Schüsseln, alles ist häßlich und wird nicht schöner, sondern
häßlicher durch die Benutzung. Die Möbel passen nicht zu-
sammen, am wenigsten in den fertigen Einrichtungen der
Möbelfabriken, und die nicht ganz Armen müssen viel zuviel
in die Stuben stopfen, denn Raum ist das teuerste. Und so sind
die Kleider, mit Ausnahme der Arbeitskleider, aus schlech-
tem Stoff und schlecht geschnitten, und sie hindern die Bewe-
gungen, und es können die einzelnen Stücke nicht passend zu-
sammengestellt werden. Dazu kommt die Häßlichkeit der
Wohnungen, von denen auch die modernsten noch die
schlimmste aller Häßlichkeiten aufweisen, die Winzigkeit.
Und auf der andern Seite, nämlich abhängig von den Auf-
trägen der Herrschenden und Reichen, sehen wir die Künstler,
geleitet von einer jahrhundertelangen Tradition, auch wenn
sie Umstürzler sind.
3
Die Form eines Kunstwerks ist nichts als die vollkommene Or-
ganisierung seines Inhalts, ihr Wert daher völlig abhängig von
diesem.
Objektivismus
Die Realisten sind nicht für verzerrte oder unzureichende
Darstellungen der Wirklichkeit, wenn sie auch für die Her-
ausarbeitung des Typischen (geschichtlich Bedeutenden) und
für seine dichterische Überhöhung sind. Sie sind für objektive,
aber nicht für objektivistische Darstellungen. Objektivistische
530 Zur Literatur und Kunst
[Kosmopolitismus]
Das Typische
Es scheint viele Berater zu geben, die alles, was sie gern ver-
borgen haben möchten, oder alles, was statistisch nicht häufig
ist, für nicht typisch erklären. Man macht aus dem Wort einen
Fetisch, indem typisch einfach das Gewünschte ist. Oft ist es,
als ließe sich einer porträtieren und sagt dem Maler: Aber,
nicht wahr, die Warze hier, und daß die Ohren abstehen, das ist
nicht typisch für mich. Die eigentliche Bedeutung des Worts
»typisch«, für die es von Marxisten als wichtig genannt wurde,
ist: geschichtlich bedeutsam. Dieser Begriff gestattet, auch
scheinbar winzige, seltene, übersehene Vorkommnisse sowie
unscheinbare, oft oder selten vorkommende Menschen ans Licht
der Dichtung zu ziehen, weil sie geschichtlich bedeutsam, das
heißt für den Fortschritt der Menschheit, das heißt für den
Sozialismus wichtig sind. Diese Vorkommnisse und Menschen
müssen aber dann realistisch, das heißt mit ihren Widersprü-
chen dargestellt werden, und auch der Häufigkeitsgrad ihres
Auftretens muß zu erkennen sein.
5 ii Zur Literatur und Kunst
[»Naturgewalten«]
Wir müssen nicht nur Spiegel sein, welche die Wahrheit außer
uns reflektieren. Wenn wir den Gegenstand in uns aufgenom-
men haben, muß etwas von uns dazukommen, bevor er wieder
Die Künste in der Umwälzung 533
aus uns herausgeht, nämlich Kritik, gute und schlechte, welche
der Gegenstand vom Standpunkt der Gesellschaft aus erfahren
muß. So daß, was aus uns herausgeht, durchaus Persönliches
enthält, freilich von der zwiespältigen Art, die dadurch ent-
steht, daß wir uns auf den Standpunkt der Gesellschaft stellten.
Es sollte nicht abgelehnt werden, daß eine große Figur der Li-
teratur neu und in einem anderen Geist behandelt wird. Ein
534 Zur Literatur und Kunst
5
Eislers Faustus ist keineswegs eine Zerrfigur. Wie Goethes
Faust ist er eine zwieschlächtige, unruhige Erscheinung mit
glänzenden Gaben und weitgesteckten Zielen. Freilich voll-
zieht sich seine Entwicklung im Untergang wie die der shake-
spearischen Helden; im Gegensatz zu Goethes Stück ist dieses
eine Tragödie.
Ich lese den Inhalt so: Faust, eines Bauern Sohn, ist im Bauern-
krieg zu den Herren übergelaufen. Fausts Versuch, seine Per-
sönlichkeit zu entfalten, scheitert dadurch. Es ist ihm nicht
möglich, den Verrat vollständig zu vollziehen. Sein schlechtes
Gewissen zwingt ihn, seine ehrgeizigen Pläne im letzten
Augenblick immer noch so rebellisch auszuführen, daß ihm der
Erfolg bei den Herren versagt bleibt. Er hat die Wahrheit zu
seinem Nachteil erkannt. Aus heilsamem Trunk wird sie ihm
zu Gift. Als ihn die Bauernschinder endlich anerkennen, bricht
er zusammen und kommt zur Einsicht, die er in seiner Con-
fessio verkündet.
7
Der sittliche Gehalt des Werkes wird dadurch schwer sichtbar,
daß die verratenen Bauern in der schönen, aber nur flüchtig
vorkommenden Gestalt des Bauernveteranen Karl meiner An-
sicht nach keine genügende Vertretung haben. Sie dominieren
alle Gedanken und Taten des Faustus, sind aber so eben nur
psychologisch vorhanden. Wären oder würden sie als Gegen-
Die Künste in der Umwälzung 535
Spieler groß gestaltet, könnte das Werk kaum mehr als negativ
mißverstanden werden.
Können wir auch ausgehen von der Wahrheit des Satzes, »daß
es nicht nur ein schwerer künstlerischer, sondern ein ideologi-
scher Mangel wäre, wenn Faust von vornherein als ein Verräter,
als ein Verdammter, als ein dem Untergang Geweihter auf-
träte, so daß von einer inneren Entwicklung zum Positiven oder
Negativen gar nicht mehr die Rede sein könnte«? Der Satz in
seiner Gänze ist nicht akzeptierbar, denn jede Person einer Tra-
gödie von ödipus bis Wallenstein ist von vornherein dem Unter-
gang geweiht. Aber wenn wir in Faustus einen bloßen Verräter
vor uns hätten, der sich überhaupt nicht entwickelte, so hielte
auch ich das Werk für mißglückt. Das ist aber nicht der Fall.
Tatsächlich beginnt das Stück mit einem Faustus, der lange
schwankt. Dann schließt er den Teufelspakt, und nun kommt
ein Versuch nach dem anderen, den Pakt zur Entfaltung seiner
Persönlichkeit auszunutzen. Sie mißglücken alle, da Faustus'
schlechtes Gewissen ihn hindert, die Versuche hemmungslos zu
5 3 6 Zur Literatur und Kunst
io
Ich stimme mit Ernst Fischers Interpretation des Werkes nicht
überein. Fischer nennt die Grundidee der Eislerschen Schöp-
fung: der deutsche Humanist als Renegat. Fischer kann sich
dabei vielleicht auf den Deutschlandband der Sowjet-Enzyklo-
pädie stützen, in dem es heißt: »Aus Furcht vor der Bauern-
revolution gingen die Humanisten auf die Seite der Reaktion
über und verfolgten den Materialismus und die Naturwissen-
schaft mit nicht geringerem Haß als die katholischen Pfaffen.«
Das ist ein sehr strenges Urteil, nach meiner Meinung zu streng.
In Eislers Werk ist die Beurteilung der Humanisten keineswegs
negativ. Faustus ist nicht »nur ein Renegat«, so wenig wie ödi-
pus »nur ein Vatermörder und Mutterschänder« ist oder Othel-
lo »nur ein Gattenmörder«. In Faustus lebt die Wahrheit, ge-
wonnen in der Bauernrevolution, weiter bis zu seinem Ende,
untilgbar von ihm selber, ihn zur Strecke bringend am Ende.
Seine Selbstverwerfung macht ihn natürlich nicht zum Vorbild
- der Teufel soll ihn holen! -, aber sie lohnt die Darstellung.
[Notizen]
Es ist nicht die Aufgabe der marxistisch-leninistischen Partei,
die Produktion von Gedichten zu organisieren wie eine Ge-
flügelfarm, sonst gleichen eben die Gedichte sich wie ein Ei
dem andern.
Realistische Künstler stellen die Macht der Ideen dar und die
materielle Grundlage der Ideen.
und durchschauert wird, wenn sie sich der immer neuen Be-
mühungen, Erfindungen, Entdeckungen entsinnt. Denn die
großen Kunstwerke entstehen in diesen Zeiten der Kämpfe.
Und die Fortschritte sind Schritte weg von Fortschritten. Die
Verluste, die sie die neuen Gewinne gekostet haben, gedenkt
sie nie zu verschmerzen. Wie lange wirkt etwa die Erinnerung
an die Zeit des Urkommunismus nach!
April 1955
[Über Kunstgenuß]
1
3
Genuß bietet eine Sinngebung der Erscheinungen.
4
Genuß bietet eine Rechtfertigung des Standpunkts.
5
Genuß bietet eine Stärkung des Lebenswillens.
Sie mögen den Kampf des Neuen gegen das Alte als Thema
haben, es beschreiben. Aber sie müssen es auch für Menschen
alten und neuen Schlages beschreiben und für Menschen, die
Altes und Neues in sich haben.
Wenn wir Helden erdichten wollen, und das sollen wir, dann
müssen wir erst suchen, die Helden von heute zu Gesicht zu
bekommen. Es genügt nicht, einen Karl Moor, aber mit so-
zialistischem Bewußtsein, zu schaffen, oder einen Wilhelm
Teil, aber als kommunistischer Funktionär, oder einen Zriny
als Jakobiner. Wir müssen einen großen Ballast von erhabenen
Gefühlen abwerfen, welche nur die Gefühle der Erhabenen
waren, und uns den niedrigen Beweggründen zuwenden,
welche die Beweggründe der Niedrigen waren. Die alten
Ideale reichen bei weitem nicht aus, das heißt, wir müssen mit
dem Kleinbürger in uns Schluß machen. Das können wir
beinahe nur, indem wir, wie ich sagte, den neuen Helden in
seinem Alltag sichten, in seinen mühselig schrittweisen Kämp-
fen mit dem Sumpf und dem Rückstand, in seiner historischen
Besonderheit. Wir werden ihn in all seinen Schwächen als
einen Helden neuer Art erkennen müssen, mit Tugenden alter
und neuer Art, aber besonders neuer Art. Wir werden sehen,
daß ihn Schwierigkeiten nicht entmutigen, sondern reizen.
Gerade das Unfertige steigert seine Produktivität. »Das ist
554 Zur Literatur und Kunst
schwer«, sagt er, »das wollen wir machen«. Von allen Farben
deprimiert ihn am tiefsten das Rosenrot.
Dieser neue Mensch, aktives Mitglied seiner Klasse, mag die
Erfüllung eurer Träume sein, aber er erfüllt sie gewiß in höchst
unerwarteter Weise.
Wenn wir uns die neue Welt künstlerisch praktisch aneignen
wollen, müssen wir neue Kunstmittel scharfen und die alten
umbauen. Die Kunstmittel Kleists, Goethes, Schillers müssen
heute studiert werden, sie reichen aber nicht mehr aus, wenn
wir das Neue darstellen wollen. Den unaufhörlichen Experi-
menten der revolutionären Partei, die unser Land umgestalten
und neugestalten, müssen Experimente der Kunst entsprechen,
kühn wie diese und notwendig wie diese. Experimente ab-
lehnen, heißt, sich mit dem Erreichten begnügen, das heißt
zurückbleiben.
Die Darstellung des Neuen ist nicht leicht (wie viele Briefe
zeigen). Es ist eine Frage der Begeisterung für das Neue, der
Kenntnis der Dialektik und damit neuer Kunstmittel. Die
sozialistische, realistische Gestaltungsweise bedarf ständiger
Ausbildung, Umbildung, Neubildung. Vor allem muß sie
kämpferisch sein. Und als Kämpferin braucht sie alle Waffen,
immer bessere Warfen, immer neue.
1938, Heft 6), Rudolf Leonhard (»Eine Epoche«, 1938, Heft 6),
Ernst Bloch (»Diskussion über Expressionismus«, 1938, Heft 6),
Georg Lukacs (»Es geht um den Realismus«, 1938, Heft 6). Die
Diskussion war im Grunde angeregt durch den Artikel von Lukacs
»>Größe und Verfall< des Expressionismus«, der 1934 in Heft 1 der
»Internationalen Literatur«, Moskau, erschienen war.
5". 292 Praktisches zur Expressionismusdebatte. Im Typoskript steht
vor dem Absatz, der mit »Es gibt genügend Leute, die strikt und
konsequent gegen Realismus sind« (S. 293) beginnt, eine Passage
über Hanns Eisler: »Mit meinem Freund Eisler, der wenigen als
blasser Ästhet vorkommen wird, hat Lukacs sozusagen den Ofen
geputzt, weil er bei der Testamentsvollstreckung angesichts des
Erbes nicht die vorgeschriebene pietätvolle Rührung gezeigt haben
soll. Er kramte sozusagen darin herum und weigerte sich, alles in
Besitz zu nehmen. Nun, vielleicht ist er als Exilierter nicht in der
Lage, soviel mit sich herumzuschleppen.« Diesen Abschnitt nahm
Brecht später in die polemische Notiz »Kleine Berichtigung« (siehe
vorliegenden Band, S. 337) auf.
S. 296 Die Essays von Georg Lukacs. In der »Internationalen Lite-
ratur« erschienen von Georg Lukacs außer dem schon erwähnten
Beitrag über den Expressionismus die Aufsätze »Erzählen oder Be-
schreiben? Zur Diskussion über Naturalismus und Formalismus«
(1936, Heft 11 und 12), »Leo Tolstoi und die Entwicklung des
Realismus« (1938, Heft 10 und 11), »Ein Briefwechsel zwischen
Anna Seghers und Georg Lukacs« (1939, Heft 5), »Schriftsteller
und Kritiker« (1939, Heft 9 und 10), »Volkstribun oder Bürokrat?«
(1940, Heft 1, 2 und 3). Im »Wort« erschienen von Lukacs: »Intel-
lektuelle Physiognomie der künstlerischen Gestalten« (1936, Heft 4).
»Der faschisierte und der wirkliche Büchner« (1937, Heft 2), »Der
Niedergang des bürgerlichen Realismus« (1937, Heft 6), »Das Ideal
des harmonischen Menschen in der bürgerlichen Ästhetik« (1938,
Heft 4), »Es geht um den Realismus« (1938, Heft 6), »Die Jugend
des Königs Henri Quatre« (1938, Heft 8), »Der plebejische Huma-
nismus in der Ästhetik Tolstois« (1938, Heft 9). Die Aufsätze von
Georg Lukacs kamen, teilweise überarbeitet, 1955 im Auf bau-Ver-
lag, Berlin, in dem Sammelband »Probleme des Realismus« heraus.
Ein Teil der Arbeiten war schon 1948 im gleichen Verlag unter dem
Titel »Essays über Realismus« publiziert worden.
Anmerkungen 3 *
setzung nicht entziehen.« Die Anfrage schloß: »Ich habe Sie meine
13 Fragen gefragt, Bertolt Brecht. Ich hoffe, daß sie nicht in den
Wind geredet sind, in den Wind, in den Sturm der Gleichgültigkeit,
der Grausamkeit, und des Endes des Geistes. Falls ich Sie beleidigt
habe, bitte ich Sie, mir das zu verzeihen. Aber darf ich Sie darauf
aufmerksam machen, daß die Tatsache Ihres Aufrufs und die Tat-
sache Ihres Schweigens seit Ihrem Aufruf nicht in Ordnung sind?
Nicht in der Ordnung der Kommunikation unter den Menschen?«
Brecht sandte seine Antworten nicht ab. Die Vermutung Wolfgang
Weyrauchs, die sowjetische Verleihgesellschaft habe den Film »Jud
Süß« nach dem Libanon verkauft, wurde von der Sovexport
Moskau dementiert. Auf eine Befragung hin teilte Wolfgang Wey-
rauch dem Herausgeber mit, daß ihm die Quelle für diese Behaup-
tung nicht mehr erinnerlich sei. (In der Dokumentation der Arbeits-
gemeinschaft über Filmfragen an der Universität zu Köln »Der
Film im Dritten Reich«, herausgegeben von Hans-Peter Kochenrath,
Köln 1963, wird für die obengenannte Behauptung ein Aufsatz von
David Stewart Hüll angegeben, »Forbidden Fruits: The Harvest of
the German Cinema 1939—1945«, erschienen in »Film Quarterly«,
Vol. XIV, No. 4, Summer 1961, Berkeley. Die gleiche Quelle gibt
vor, der Nazifilm »Kolberg« werde in der DDR gezeigt, und stützt
sich auch in diesem Falle offensichtlich auf Falschmeldungen.)
S. $02 Wo ich gelernt habe. Der Text erschien zuerst 1964 in dem
Band »Über Lyrik«. Von dem Beitrag liegt noch eine andere Fas-
sung vor, deren Abschnitt 4 mit einem später gestrichenen Text
folgendermaßen beginnt: »Volkslieder habe ich in meiner Kindheit
gehört, edle und weniger edle, das von den Königskindern, das vom
Prinzen Eugen, dem edlen Ritter, und die Lieder von der Wirtin
an der Lahn. Ich habe sie glücklicherweise nicht nur gelesen, sondern
auch gehört, gesungen von der Bevölkerung mit der besonderen
Intonation und bei der richtigen Gelegenheit.«
S. 307 Deutsche Rezitationsstunde. Brecht interessierte sich gleich-
falls für die Lehrpläne des Deutschunterrichts. Zusätzlich zu den im
Lehrplan enthaltenen Texten schlug Brecht folgende Werke vor:
Rücken, »Cidher, der ewige Wanderer«; Goethe, »Der neue
Amadis«; Kraus, »Ein sterbender Soldat« (Epilog aus »Die letzten
Tage der Menschheit«); das Volkslied »Es waren zwei Königs-
kinder«; G. Hauptmann, »Gesang der Engel« (aus »Hanneles
io * Anmerkungen
Formalismus undRealismus
Die Expressionismusdebatte 290
Praktisches zur Expressionismusdebatte 292
Die Essays von Georg Lukäcs 296
Über den formalistischen Charakter der Realismus-
theorie 298
Bemerkungen zu einem Aufsatz 308
Glossen zu einer formalistischen Realismustheorie 312
Bemerkungen zum Formalismus 313
Aus: Der Geist der Versuche 319
Über Realismus 320
Ergebnisse der Realismusdebatte in der Literatur 321
Volkstümlichkeit und Realismus 322
Zu: Volkstümlichkeit und Realismus 331
Volkstümliche Literatur 334
Hanns Eisler 334
Kleine Berichtigung 337
A n m e r k u n g e n zu G e d i c h t e n
Vorbemerkungen zu Gedichten für ein Rezitationsprogramm
422
Zu den literarischen Sonetten 423
Über das Kinderlied »Das Kind, das sich nicht waschen
wollte« 423
14 * Inhalt
Anmerkungen 1