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SPRACHERWERBSTHEORIEN

Aktuelle Diskussionen über Kommunikationsstörungen, Medienkonsum oder Mehrsprachigkeit beziehen


sich oft auf Spracherwerbstheorien. Aber wie entstand die Spracherwerbsforschung? Mit welchen Fragen
beschäftigt sie sich? Welche Spracherwerbstheorien gibt es?

Dieser Blogartikel beschreibt die Entstehung und Grundfragen der Spracherwerbsforschung sowie die
wichtigsten Theorien: Behaviorismus, Nativismus, Kognitivismus, Interaktionismus, Funktionalismus und
gebrauchsbasierte Spracherwerbstheorien (usage-based approaches). Weitere Blogartikel, Link- und
Literaturlisten zum Thema folgen demnächst. Literaturangaben zu diesem Artikel und weitere Link- und
Leselisten finden sich am Ende des Textes.
Die Entstehung der Spracherwerbsforschung
Als eigenständige Wissenschaft gibt es die Spracherwerbsforschung seit Ende des 19. Jahrhunderts. Zu
dieser Zeit entstand auch die Psycholinguistik als Verbindung von Psychologie und Linguistik, d.h.
Sprachwissenschaft. Dies wird in Willem Levelts ausführlicher Geschichte der Psycholinguistik
beschrieben. [1] Damals begann man, Sprache als eigenständiges System zu untersuchen, nicht nur als
Ausdruck des Denkens. So beschrieb z.B. Jacob Grimm, einer der Gebrüder Grimm, 1864 die
Sprachwissenschaft als eigenständige Wissenschaft mit dem Ziel, “selbständige Entdeckungen zu machen
und in die Natur der Sprachen um der Sprache selbst willen vorzudringen”. [2] Außerdem wollte man nicht
mehr nur Grammatiken für den “richtigen” Sprachgebrauch schreiben. Man untersuchte auch
Sprachformen, die vom Standard abweichen, wie z.B. Dialekte oder die Kindersprache.
Zugleich entwickelte man viele wissenschaftliche Modelle von Entwicklungsprozessen, z.B. Charles
Darwins Evolutionstheorie und die geschichtswissenschaftliche Theorie von Karl Marx. Die
Sprachwissenschaft befasste sich vermehrt mit Sprachentstehung und Sprachwandel sowie mit dem
Spracherwerb. Zugleich untersuchte man in der Psychologie die geistige Entwicklung des Kindes. So
entstanden mehrere wissenschaftliche Tagebücher, in denen Eltern die Entwicklung ihrer Kinder
beschrieben. Auch Charles Darwin führte ein solches Tagebuch. Das einflussreichste
Spracherwerbsprojekt aus dieser Zeit war aber die Tagebuchstudie von Clara und William Stern. Die
beiden wollten zeigen, dass die Kindersprache keine verstümmelte Variante der Erwachsenensprache sei,
sondern
“… ein in sich geschlossenes Sprachganzes bildet, welches trotz der großen Unterschiede zwischen den
einzelnen Kindern und verschiedenen Entwicklungsphasen seine typischen Eigenregeln hat, kurz, dass es
eine wirkliche Kindersprache gibt.” (Stern/Stern 1928:2). [3]
Frühe Debatten um die Rolle von Anlagen und Umwelt
Seit Beginn der modernen Spracherwerbsforschung gibt es Debatten um die Rolle von Anlagen und
Umwelt. Daher untersucht man die genetischen Voraussetzungen für den Spracherwerb und den “Input”,
den Kinder von ihren Eltern bekommen. Vertreter des Voluntarismus, wie z.B. der Psychologe Wilhelm
Wundt, erklärten um 1900 den Spracherwerb vor allem durch Umweltfaktoren. [4]
Intellektualisten, wie z.B. der Physiologe William Preyer, betonten hingegen die Bedeutung angeborener
geistiger Fähigkeiten. [5] Einen Kompromiss suchte das bereits erwähnte tagebuchführende Ehepaar
Stern. Für sie beruhte der Spracherwerb auf der “Konvergenz”, dem ständigen Zusammenwirken von
Anlagen und Umwelteinflüssen.
Skinners behavioristische Spracherwerbstheorie
Dem Voluntarismus folgte in den 1920er bis 1950er Jahren die behavioristische Lerntheorie. Burrhus F.
Skinner wendete diese 1957 auf die Sprache an. Er führte alle Verhaltensänderungen auf beobachtbare
Umweltreize zurück. [6] Zugleich beschrieb er Lernen als passive Konditionierung. Skinner zufolge
beschreiben Eltern immer wieder Situationen und benennen Dinge. Dieser “Stimulus” erzeugt dann bei
Kindern eine sprachliche Reaktion (response). Insbesondere imitieren Kinder systematisch den Stimulus,
d.h. die Sätze der Eltern. Zugleich stellen sie assoziative Verknüpfungen her, z.B. Verknüpfungen zwischen
Wörtern und Dingen, aber auch Verknüpfungen zwischen Wörtern innerhalb von Sätzen. Eltern können
ihre Kinder durch Lob positiv bestätigen. Dadurch werden dem Behaviorismus zufolge Assoziationen
verstärkt und Gewohnheiten aufgebaut. Korrekturen der Eltern liefern hingegen negatives Feedback, d.h.
Informationen über die “Fehlerhaftigkeit” der Äußerung. Das könnte Kindern helfen, ihre Fehler zu
überwinden.
Studien zur sprachlichen Produktivität von Kindern
Gegen behavioristische Theorien sprechen Sprachstudien in Familien. Die bekannteste Studie dieser Art
ist wohl Roger Browns 1973 veröffentlichte Langzeitstudie mit drei Kindern. [7] In solchen Studien imitierten
Kinder nicht einfach nur und ließen dabei gelegentlich Dinge aus. Sie schienen vielmehr Regularitäten zu
erkennen und produktiv anzuwenden. So lernen deutsche Kinder, dass man Vergangenheitsformen mit –
te bildet, z.B. sag-te-st als Vergangenheit von sag-st. Dabei kommt es gelegentlich zu
“Übergeneralisierungen”, z.B. zur Verwendung von sing-te statt sang. Hier werden neu erkannte Muster auf
Wörter angewendet, die in der Zielsprache eine Ausnahme darstellen. Solche “Fehler” sind eigentlich ein
gutes Zeichen. Sie zeigen nämlich, dass das Kind Regularitäten erwirbt. Es muss nur noch Ausnahmen
wie singen-sang lernen. In der Forschung spricht man daher meist nicht von “Fehlern” oder “falschen” und
“inkorrekten” Sätzen. Stattdessen unterscheidet man zielsprachliche von nicht-zielsprachlichen Sätzen.
Die Produktivität und Kreativität von Kindern bestätigte Jean Berko 1958 in einem einflussreichen
Experiment. [8] Hier lernten englischsprechenden Kindern Kunstwörter für erfundene Dinge oder Tiere. So
konnte Berko untersuchen, wie Kinder Wörter behandeln, die sie noch nie gehört hatten – und daher nicht
imitiert haben konnten. Berko gab den Kindern z.B. ein Bild eines vogelähnlichen Fantasietiers. Dann
benutzte sie ein Kunstwort für dieses Tier und bat die Kinder, einen Satz zu vervollständigen: This is a
wug. Now there is another one. There are two of them. There are two … “Das ist ein Wug… Jetzt ist da
noch einer. Da sind zwei von ihnen. Da sind zwei …”. Daraufhin bildeten Kinder meistens die
zielsprachliche englische Mehrzahlform wugs. . Dies spricht für die Fähigkeit, eigenständig und
regelgeleitet neue Formen zu bilden. Solche Experimente wurden mit vielen Sprachen wiederholt – mit
ähnlichen Ergebnissen.
Die “Armut des Stimulus”
Die sprachliche Kreativität von Kindern ist erstaunlich. Sie hören schließlich nur eine begrenzte “Kostprobe”
ihrer Muttersprache. Diese besteht auch nur aus einzelnen Sätzen und nicht aus Regeln. Außerdem enthält
der sprachliche “Stimulus” von Kindern natürlich auch Versprecher oder unvollständige Sätze. Man muss
also erklären, wie Kinder trotz dieser “Armut des Stimulus” das sprachliche Regelsystem erwerben. Dies
versucht z.B. der amerikanische Sprachwissenschaftler Noam Chomsky seit den 1960er
Jahren. [9] [10] Für Chomsky ist der Spracherwerb keine passive Imitation, sondern ein kreativer Prozess.
Dabei machen Kinder Chomsky zufolge unbewusst Annahmen über die Zielsprache. Diese überprüfen sie
dann anhand ihres Inputs. So hören Kinder z.B. viele Vergangenheitsformen mit –te (machte, zeigte etc.).
Dies lässt sie annehmen, dass man die Vergangenheit stets durch –te markiert. So kommt es zu
Übergeneralisierungen wie sing-te statt sang.
Das “logische Problem” des Spracherwerbs
Chomsky erkennt auch ein “logisches Problem” bei der Erklärung des Spracherwerbs: Kinder stellen
manchmal Regeln auf, die zu generell sind. Dies zeigen Übergeneralisierungen wie sing-te. Man muss also
erklären, wie Kinder solche “Fehler” wieder “verlernen”. Dazu müssen sie Regeln auf den richtigen Bereich
einschränken. Eltern können auf zwei Arten helfen: Erstens können sie korrekte Sätze verwenden. So
zeigen sie ihren Kindern, wie man es macht. Das liefert “positive Evidenz” dafür, was in der Sprache alles
möglich ist. Zweitens können Eltern – wie von Skinner angenommen – korrigieren. So zeigen sie, was
NICHT möglich ist. Das ist “negative Evidenz”.
In Aufnahmen von Familien fand man zwar Korrekturen wie “So sagt man das aber nicht”. Ein
Literaturüberblick von Gary Marcus aus dem Jahre 1993 zeigt aber, dass Korrekturen recht selten
sind. [11] Außerdem reicht “So sagt man das nicht!” noch nicht aus. Kinder müssten nämlich noch
herausfinden, ob das Gesagte ungrammatisch, falsch ausgesprochen oder aber unhöflich war. Zudem sind
die “Fehler” von Kindern nicht willkürlich, sondern sehr systematisch. Manche Fehler treten überhaupt nicht
auf. So nennen Kinder z.B. eine ehemaligen Lehrerin nicht eine Lehrerin-te: D.h., bei Hauptwörtern
verwenden sie keine Markierung für Tätigkeitswörter. Ex-Lehrerin wäre allerdings möglich. Ex ist nämlich
eine Markierung für Hauptwörter.
Man muss also erstens erklären, wie Kinder ohne systematische explizite Korrekturen zielsprachliche
Regeln lernen. Zweitens muss man sagen, warum sie viele mögliche Generalisierungen gar nicht erst
vornehmen.

Noam Chomskys Nativismus und die generative Spracherwerbstheorie


Chomsky nimmt angesichts des logischen Problems einen angeborenen Spracherwerbsmechanismus
an. [12] Dieser Mechanismus beschränkt seiner Auffassung nach Generalisierungen von Kindern: Kinder
nehmen nur Generalisierungen vor, die sie im “Notfall” auch ohne systematische Korrekturen, d.h. explizite
negative Evidenz, wieder “verlernen” könnten. Dass es genetische Anlagen zum Spracherwerb gibt, wird
heute allgemein angenommen. Allerdings diskutiert man immer noch, worin genau die Anlagen bestehen.
Außerdem bleibt noch zu klären, wie der Erwerbsmechanismus denn genau funktioniert.
Chomsky erkennt an, dass für den Spracherwerb generelle kognitive Fähigkeiten zur Mustererkennen und
Erinnerung notwendig sind. Außerdem brauchen wir soziale Fähigkeiten, um Ziele und Wünsche anderer
zu verstehen. Für Chomsky reichen diese allgemeinen kognitiven und sozialen Fähigkeiten aber nicht als
Erklärung aus. Vielmehr nimmt er zusätzlich auch domänenspezifische Anlagen für den Spracherwerb
haben. Dies sind Anlagen, die ganz spezifisch auf den Erwerb sprachlicher Fähigkeiten ausgerichtet sind.
Eine ähnliche Auffassung vertritt auch Steven Pinker, der von einem “Sprachinstinkt” spricht. [13]
Der domänenspezifische Erwerbsmechanismus ist für Chomsky auch humanspezifisch, d.h. etwas, das nur
Menschen haben. Tiere können zwar miteinander kommunizieren und auch einzelne Wörter oder
bedeutungsvolle Gebärden lernen. Tiersprachen zeigen Chomsky zufolge aber nicht die komplexen
Grammatiken menschlicher Sprachen.

Aufgrund der angeborenen Anlagen wird Chomskys Spracherwerbstheorie als “nativistisch” bezeichnet.
Dies geht auf das lateinische Wort “nativus” für “angeboren” oder “natürlich” zurück. Daneben findet sich
die Bezeichnung “generativ”. Chomsky will nämlich erklären, wie wir bei begrenztem Input und einem
begrenzten Vokabular dennoch unendliche Mengen von Äußerungen generieren, d.h. erzeugen, können.

Chomskys “Universalgrammatik” und ihre “Parameter”


Für Chomsky ist der angeborene Spracherwerbsmechanismus eine “Universalgrammatik”. Diese bestimmt,
welche Eigenschaften menschliche Sprachen haben können. So reihen Menschen z.B. nicht einfach
Wörter in beliebiger Reihenfolge aneinander. Vielmehr gruppieren sie Wörter zu Phrasen. Diese können
unterschiedlich komplex sein. Man kann z.B. einfach Hühner sagen, aber auch die Hühner meiner
Oma oder die Hühner meiner Oma, die immer so viele Eier legen. Jede dieser Phrasen hat einen “Kopf”
oder Kern. Dieser Kopf wird die anderen Bestandteile der Phrase weiter beschrieben. In unserem Beispiel
ist der Kopf immer Hühner. Zugleich bestimmt der Kopf den Phrasentyp. Die gerade aufgelisteten Beispiele
haben z.B. alle das Nomen (Hauptwort) Hühner als Kopf. Daher sind es Nominalphrasen. Phrasen können
auch Tätigkeiten oder Zustände beschreiben, z.B. Hühner züchten oder eifrig krähen. Dann ist der Kopf ein
Verb (Tätigkeitswort) wie züchten oder krähen. Man spricht hier von Verbalphrasen.
Somit verlangt die Universalgrammatik die Organisation von Sprache in Phrasen. Sie erlaubt aber Variation
bei der Stellung des Kopfes. So steht im Deutschen das Verb stets am Ende der Verbalphrase, z.B. bei das
Huhn füttern. Im Englischen kommt das Verb gleich am Anfang, wie bei feed the chicken. Kinder müssen
also herausfinden, welche Option ihre Zielsprache gewählt hat. Chomsky spricht von “Parametern”, die
Kinder auf ihre zielsprachlichen Werte festlegen müssen. Die Werte wären z.B. Verb-End für deutsche
Verbphrasen (das Huhn füttern) und Verb-Anfang für englische Verbphrasen (feed the chicken).
Piaget und die kognitivistische Spracherwerbstheorie
Chomskys Kritik an Skinner und die Diskussion um die Produktivität von Kindern und das “logische
Problem” führten zu einer Umorientierung in der Spracherwerbsforschung. Insbesondere untersuchte man
systematisch die Rolle von Anlagen und Produktivität. Nicht alle akzeptieren aber Chomskys domänen-
und humanspezifischen Erwerbsmechanismus. So war z.B. für den Psychologen Jean Piaget aus der
Schweiz der Spracherwerb nur ein Teil der allgemeinen geistigen Entwicklung. Daher ging Piaget davon
aus, dass generelle kognitive Mechanismen für den Spracherwerb genügen. Diese Auffassung vertrat er
auch in einer Debatte mit Chomsky, die in einem Buch dokumentiert wurde. [14]
Zugleich argumentierte Piaget dafür, dass der Verlauf der sprachlichen Entwicklung durch die kognitive
Entwicklung bestimmt wird. So können Kinder z.B. noch keine Präpositionen
wie hinter oder mit verwenden, wenn sie nur Konzepte für einzelne Dinge besitzen. Dazu müssen Kinder
erst Konzepte für Verhältnisse zwischen Dinge entwickeln. Die kognitive Entwicklung erfordert für Piaget,
dass das Kind sich aktiv mit der Umwelt auseiandersetzt. Dabei sind zwei Prozesse wichtig: Erstens muss
das Kind neues Wissen in vorhandenes Wissen einordnen. Dabei beeinflusst das Wissen des Kindes die
Umweltwahrnehmung. Das Kind eignet sich die Gegebenheiten der Umwelt also nach seinen eigenen
Maßgaben an (Assimilation/Angleichung). Zweitens muss das Kind seine eigene Sicht der Welt durch neue
Erfahrungen erweitern. Hierbei passt es sich den Gegebenheiten der Umwelt an
(Akkommodation/Anpassung). Daraus einsteht ein Gleichgewicht (Äquilibration). [15]
Der Interaktionismus von Bruner und das “Mütterische”
Für den amerikanischen Psychologen Jerome Bruner reicht ein angeborenes Spracherwerbssystem nicht
aus. Er nimmt zusätzlich ein biologisch und kulturell fundiertes “Hilfssystem” für den Spracherwerb
an. [16] Eltern handeln und spielen nämlich gemeinsam mit ihren Kindern. Dabei erlauben es die klare
Struktur und die Wiederholungen dieser Interaktionen Kindern, immer mehr selbst aktiv zu werden. Die
strukturierten Wiederholungen sorgen Bruner zufolge auch für einen gut verständlichen und relativ leicht zu
verarbeitenden Sprachinput für Kinder. Diese Auffassung teilt man im sogenannten
“Motherese”/”Mütterisch”-Ansatz. Hier hält man Chomskys Annahme eines domänenspezifischen
Erwerbsmechanismus sogar für überflüssig. Für Catherine E. Snow, Charles A. Ferguson und viele andere
ist der Input von Kindern nämlich nicht “verarmt”. [17] [18] Vielmehr sei das “Mütterische” mit seiner
eingängigen Sprachmelodie und seiner einfachen Struktur ein idealer Input.
Die Begriffe “Motherese” oder “Mütterisch” aus den 1970er Jahren verwendet man heute eher nicht mehr.
Man beschränkt sich bei Erwerbsstudien auch nicht mehr auf die Sprache von Müttern. Stattdessen
berücksichtigt man alle, die regelmäßig mit den untersuchten Kindern sprechen. Dazu gehören natürlich
insbesondere die Eltern. Daher spricht man oft auch von “Parentese” (“Elterisch”). Die Forschung zur
kindgerichteten Sprache wurde unter der neuen Bezeichnung weiterentwickelt. Sie führte zu vielen
Vergleichen zwischen kindgerichteter Sprache und der Sprache, die Erwachsene untereinander
verwenden. [19] Daraus entstand eine reiche Forschungsliteratur zum Thema.
Studien zur kindgerichteten Sprache
Wie wir mit Kindern sprechen, wird von der jeweiligen Kultur und Familie beeinflusst. So stammt der Input
bei Kleinfamilien überwiegend von Erwachsenen, bei Großfamilien hingegen meistens von anderen
Kindern. Dann hören Kinder auch oft deren “Fehler”. Anderseits verwenden ältere Kinder eine einfachere
Sprache als Erwachsene. Dadurch liefern sie sehr gut verständlichen Input.
Trotz aller kulturellen und individuellen Unterschiede sind manche Eigenschaften von kindgerichteter
Sprache wohl universell: [20] [21] Erstens hat sie im Vergleich zur Sprache zwischen Erwachsenen eine
höhere Tonlage und eine übertriebene Satzmelodie. Dies weckt und erhält besonders gut die
Aufmerksamkeit. Zweitens gibt es in kindgerichteter Sprache längere Pausen zwischen Phrasen. Drittens
werden wichtige Wörter betont. Dies erleichtert das Erkennen einzelner Wörter. Viertens verwendet man
gegenüber Kindern kürzere und einfachere Sätze als gegenüber Erwachsenen. Dadurch verspricht man
sich auch weniger leicht. Fünftens produziert man Wiederholungen mit kleinen Variationen. Ein Beispiel
hierfür wäre: Lass doch mal das Huhn in Ruhe! Kannst Du das Huhn bitte mal in Ruhe lassen! Lass es in
Ruhe!
Die beobachtete eingängige Sprachmelodie, die Vereinfachungen und die variantenreichen
Wiederholungen können das Verstehen erleichtern. Sie könnten auch dabei helfen, immer wiederkehrende
grammatische Strukturen zu erkennen. Ob spezielle Babywörter wie Heia oder Wauwau für Hund hilfreich
sind oder nicht, ist allerdings umstritten.
Slobins “Operating Principles”-Theorie
Die Spracherwerbstheorien von Piaget und Bruner zeigten zwar Zusammenhänge zwischen Spracherwerb
und geistigen bzw. sozialen Fähigkeiten auf. Sie boten jedoch keine detaillierten Erwerbsmodelle. Die
psychologisch orientierten Forschenden widmeten sich auch weniger den formalen Aspekten der Sprache.
Daher gab kaum Studien zu Lautsystem, Wortschatz und Grammatik. Erst in den 1980ern und 1990ern
entwickelte man ausgearbeitete Alternativmodele zu nativistischen Spracherwerbstheorien.

Der Amerikaner Dan I. Slobin nahm keine universellen Beschränkungen für Grammatiken an. Stattdessen
argumentierte er für einen angeborenen “Sprachschaffungsmechanismus” (“language making
capacity”). [22] [23] Dieser beruht auf universellen informationsverarbeitende Prinzipien (“operating
principles”). Eines davon sorgt Slobin zufolge dafür, dass wir mehr auf die Enden von Wörtern achten als
auf die Mitte von Wörtern. Dieses Prinzip soll z.B. erklären, warum grammatische Markierungen wie
Pluralmarkierungen oder Vergangenheitsmarkierungen in den Sprachen der Welt bevorzugt am Ende von
Wörtern auftreten.
Das Wettbewerbsmodell von MacWhinney und Bates
Ein anderes Alternativmodell zu Chomskys Universalgrammatik entwickelten Brian MacWhinney und Liz
Bates – ebenfalls in den USA. In ihrem “Wettbewerbsmodell” (“Competition Model“) berücksichtigen
Menschen bei der Sprachverarbeitung verschiedene Hinweise, um herauszufinden, wer wem was
tut. [24] [25]
Welche Hinweise relevant sind, ist dabei abhängig von der jeweiligen Sprache: Im Deutschen ist die
Wortstellung recht frei. Daher muss man auf die Endungen und Formen von Wörtern schauen, um den
“Täter” zu finden. So muss man z.B. bei den folgenden Sätzen darauf achten, ob es der oder den heißt
und jag-en oder jag-t: Der Hund jagt die Hühner. vs. Die
Hühner jagt der Hund. vs. Die Hühner jagen den Hund. MacWhinney und Bates zufolge müssen Kinder
lernen, welche Hinweise in ihrer Sprache vorhanden sind – und wie eindeutig und aufschlussreich sie sind.
Dazu müssen Kinder viele Formen hören und deren Funktion aus dem Kontext erschließen.
Die Modelle von Slobin, MacWhinney und Bates werden als funktionalistisch bezeichnet. Im Gegensatz zu
form-orientierten nativistischen Spracherwerbstheorien befassen sie sich nämlich auch intensiv mit der
Funktion von Sprache. Zugleich diskutieren funktionalistische Spracherwerbstheorien, wie Kinder den Input
verarbeiten, den sie von Erwachsenen und anderen Kindern erhalten. Mittlerweile findet man den Begriff
“Funktionalismus” in der Literatur für verschiedene Ansätze, die weder nativistisch noch behavioristisch
sind und der Sprachfunktion eine wichtige Rolle zuweisen. Dazu gehören insbesondere Piagets
Kognitivismus und Bruners Interaktionismus.

Gebrauchsbasierte Spracherwerbstheorien
Ältere kognitivistische, interaktionistische und funktionalistische Spracherwerbstheorien inspirierten die
aktuellen “gebrauchsbasierten” Spracherwerbstheorien (usage-based approaches). Die Basis für
Generalisierungen ist in diesen Spracherwerbstheorien vor allem der Gebrauch von Sprache, den
Menschen im Umfeld von Kindern machen. Daher stammt die Bezeichnung “gebrauchsbasiert”.
Gebrauchsbasierte Spracherwerbstheorien vertreten z.B. von Mike Tomasello, Elena Lieven, Ben
Ambridge, Julian Pine und Caroline Rowland and Heike Behrens. [26] [27]
Gebrauchsbasierte Spracherwerbstheorien verzichten auf domänenspezifische Erwerbsmechanismen.
Man nimmt aber angeborene Anlagen für kognitive und soziale Fähigkeiten an. Dazu gehören u.a.
Fähigkeiten zum kulturellem Lernen, zur Symbolverwendung, zur Erkennung von Mustern und Schemata
sowie zur Bildung von Analogien und Generalisierungen. Insbesondere argumentiert Michael Tomasello,
dass Kinder grammatische Kategorien entwickeln, wenn sie Wörter mit ähnlicher Funktion immer wieder
denselben Positionen und Formen sehen. So folgen objektbezeichnende Wörter wie Hahn oder Henne im
Deutschen besonders häufig Artikeln wie der/die und ein(e). Tätigkeitsbezeichnende Wörter
wie singen oder füttern finden sich hingegen in anderen Positionen und enden manchmal auf –st (singst,
fütterst). Hahn oder Henne zeigen diese Endung hingegen nie. Eine solche “funktionsbasierte
Distributionsanalyse” kann helfen, eine Kategorie “Nomen” zu erwerben und objektbezeichnende Wörter
dieser Kategorie zuzuordnen. Kinder lernen dabei zugleich die kommunikative Funktion der einzelnen
sprachlichen Elemente und ihre Verteilung (Distribution) im Gespräch.
Gebrauchsbasierten Spracherwerbstheorien zufolge überwinden Kinder nicht-zielsprachliche
Generalisierungen wie sing-te, da sie diese Form nie im Input finden. Stattdessen hören sie oft
die singen und sang – sowie analoge Wortpaare wie klingen-klang, ringen-rang etc. Dies führt dazu, dass
sich diese Formen ins Gedächtnis “eingraben” (“entrenchment”) und die analogiebasierte Neubildung von
Formen überflüssig machen. Außerdem kommt die häufige Form immer dann vor, wenn das Kind die
analogiebasierte Form (z.B. gesingt) verwenden würde. So kommt die irreguläre Form der nicht-
zielsprachlichen Form zuvor (“preemption”). Wichtig sind somit Häufigkeit, Ähnlichkeit und die Blockierung
von Generalisierungen durch existierende irreguläre Formen wie sang.
Studien zu Anlagen und Input
Nativistische und gebrauchsbasierte Ansätze unterscheiden sich v.a. in ihren Annahmen zur Natur des
Erwerbsmechanismus: In nativistischen Ansätzen gibt es einen angeborenen domänenspezifischen
Spracherwerbsmechanismus. Gebrauchsbasierten Ansätzen zufolge genügen hingegen generelle
kognitive und soziale Fähigkeiten und der “reiche” Input alleine zur Erklärung des Spracherwerbs. Die
Debatte über die jeweilige Rolle von Anlagen und Umwelt ist somit noch keineswegs
abgeschlossen. [28] [29] Dieser Unterschied inspirierte Studien zur Rolle des Inputs und zur Natur des
Erwerbsmechanismus.
In Studien zu genetischen Anlagen untersucht man Kinder, deren sprachliche und/oder kognitive
Entwicklung von der Norm abweicht. So will man herausfinden, welche Gene Spracherwerb und kognitive
Entwicklung steuern. Dabei hat man zwar einige Gene identifiziert, die in Familien mit einer Häufung von
Sprachstörungen defekt sind (z.B. das FoxP2-Gen). [30] Die Forschung zur genetischen Basis des
Spracherwerbs ist aber noch keineswegs abgeschlossen.
In Studien zum Input erforscht man mit großen Datensets, welche Rolle Muster, Häufigkeiten und
Ähnlichkeiten im Input für die kindliche Sprachentwicklung haben. Außerdem untersucht man die
sprachliche Produktivität von Kindern, die keinen “reichen” Input erhalten. Dies gilt z.B. für eine Gruppe von
gehörlosen Kindern in Niceragua. Diese erhielten von ihren nicht-gehörlosen Eltern keinen sprachlichen
Input. In einer Schule für Gehörlose entwickelten sie dann miteinander eine neue Gebärdensprache mit
komplexer Grammatik. Hier werden derzeit Studien durchgeführt. [31]
Mein persönlicher Sprachspinat-Tipp
Die Spracherwerbsforschung entwickelt sich ständig weiter. Mehr Informationen über solche Entwicklungen
bietet der Sprachspinat-Artikel über zehn aktuelle Entwicklungen in der Spracherwerbsforschung.
Einführungen in Spracherwerbstheorien und Methoden der Spracherwerbsforschung finden sich auf
der Sprachspinat-Literaturliste zu diesem Thema. Auf dem Sprachspinatblog findet man auch regelmäßig
neue Artikel, Linklisten und Lesetipps zur Spracherwebsforschung  – mit dem Tag
“Spracherwerbsforschung“. Einen guten Einstieg  bieten Beiträge mit dem Tag “Spracherwerbsforschung-
Einführung“.
Der Childdirectedspeech-Blog bietet eine thematisch sortierte Liste mit hunderten von deutschsprachigen
und englischsprachigen Studien zu Kindersprache, kindgerechter Sprache und Spracherwerbstheorien. Auf
dem Sonja Eisenbeiß YouTube-Kanal gibt es Playlisten mit englischen und deutschen Videos zu
Spracherwerb, Mehrsprachigkeit und Sprachstörungen.

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