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I.
Als in der Nacht des 20. Juli 1944 die wichtigsten Verschwörer des an die-
sem Tag durchgeführten und gescheiterten Staatsstreichs im Hof des Ber-
liner Bendlerblocks vor das Erschießungskommando geführt wurden, da
schied der Hauptverschwörer und Hitler-Attentäter Claus Graf von Stauf-
fenberg mit einem Ausruf aus dem Leben, dessen Inhalt und Deutung bis
heute umstritten ist. Nach der ersten großen, schon 1952 erschienenen Dar-
stellung des Widerstandes von Eberhard Zeller, der aus dem Freundeskreis
der drei Brüder Stauffenberg kam, lauteten diese letzten Worte: „Es lebe
unser heiliges Deutschland“. 1 Diese Überlieferung hat sich bis in die
Gegenwart fortgesetzt, doch in neuerer Zeit haben sich die Zweifel an der
Korrektheit dieses Berichts verstärkt.
Was also mag Stauffenberg in der letzten Sekunde seines Lebens geru-
fen haben? Beschwor er das „geheiligte Deutschland“, wie sein wichtigster
Biograph Peter Hoffmann bis heute meint 2, gebrauchte er die Formu-
lierung „heimliches“ oder gar „geheimes Deutschland“, wie es bereits frü-
her und neuerdings wieder so gewichtige Autoren wie Edgar Salin 3, Jo-
* Die nachfolgenden Ausführungen enthalten den Text meiner am 28. Mai 2009 an der
ebenfalls noch in der neuesten 6. Aufl. Berlin 2004, 399; siehe auch ders., Oberst Claus
Graf Stauffenberg. Ein Lebensbild. Paderborn 2008, 282; vgl. ebenfalls Christian Müller,
Oberst i. G. Stauffenberg. Eine Biographie. (Bonner Schriften zur Politik und Zeitge-
schichte, 3.) Düsseldorf o. J. [1970], 508.
2 Vgl. Peter Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg und seine Brüder. 2. Aufl.
achim Fest 4 oder Thomas Karlauf 5 behauptet haben? Diese schwierige Fra-
ge wird endgültig wohl niemals hinreichend beantwortet werden können,
zumal alle diejenigen, die darüber einigermaßen verläßlich hätten Aus-
kunft geben können – eben weil sie Augen- und Ohrenzeugen waren und
weil sie Stauffenberg als Persönlichkeit kannten, daher auch wissen
konnten, wovon er sprach –, diesen Tag ebensowenig überlebt haben wie
der Attentäter und Anführer des Staatsstreiches selbst. 6
Wie also der berühmte letzte Ausruf Stauffenbergs auch lautete – wir
wissen es nicht und wir werden es wohl niemals genau erfahren, doch es
können und dürfen begründete Vermutungen darüber angestellt werden,
und hierzu zählt auch die Annahme, daß es tatsächlich das „heimliche“
oder sogar das „geheime Deutschland“ gewesen ist, das Stauffenberg
unmittelbar vor seinem gewaltsamen Tod beschworen hat. Denn der Ge-
danke an dieses in einem ganz bestimmten Sinne verstandene „geheime
Deutschland“ hat ihn, wie wir heute wissen, seit frühester Jugend intensiv
bewegt und für sein ganzes weiteres Leben tief geprägt. War es also die
Idee des „geheimen Deutschland“, die den Hitler-Attentäter wesentlich zu
seiner Tat motiviert hat? Und wenn ja: Wie ist diese Idee zu verstehen, die
zu einer Tat beitrug, die wiederum – wäre sie gelungen – wohl den Lauf der
Weltgeschichte geändert hätte? Woher stammt diese Idee, wie ist sie im ein-
zelnen zu bestimmen, welche Wandlungen hat sie durchgemacht – und auf
welche Weise konnte sie endlich zum zentralen, motivierenden Moment
für eine wesentliche politische Tat der jüngeren deutschen Geschichte wer-
den? Auf alle diese Fragen soll im folgenden eine Antwort zu geben ver-
sucht werden, freilich eine – wie bei diesem Thema wohl nicht anders mög-
lich – unvollständige und rudimentäre, vielleicht nur vorläufige Antwort.
II.
Die Frage nach der Entstehung, Bedeutung, Wandlung und Wirkung von
Ideen in der Geschichte zählt bis heute zu den am meisten umstrittenen
Themen der historischen Wissenschaften, und zwar deshalb, weil sie an das
Grundverständnis dessen reicht, was jeweils als Wirklichkeit aufgefaßt
4 Vgl. Joachim Fest, Staatsstreich. Der lange Weg zum 20. Juli. Berlin 1994, 280.
5 Vgl. Thomas Karlauf, Stefan George. Die Entdeckung des Charisma. München 2007,
638.
6 Zu den verschiedenen Überlieferungsversionen der letzten Worte Stauffenbergs vgl.
auch die Hinweise bei Joachim Kramarz, Claus Graf Stauffenberg. 15. November 1907
– 20. Juli 1944. Das Leben eines Offiziers. Frankfurt am Main 1965, 220 Anm. 49.
wird. Nicht wenige deutsche Denker und Historiker in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts haben unter dem Eindruck der Klassik, der Romantik und
des deutschen Idealismus wie selbstverständlich angenommen, daß es, um
hier mit Wilhelm von Humboldt zu sprechen, „Ideen“ sind, „die ihrer Natur
nach, ausser dem Kreise der Endlichkeit liegen, aber die Weltgeschichte in
allen ihren Theilen durchwalten und beherrschen“, ja daß sogar „jede
menschliche Individualität“ im letzten Sinne als „eine in der Erscheinung
wurzelnde Idee“ 7 aufgefaßt werden kann. Die Epoche der von Humboldt
und Ranke geprägten Historiographie 8, die beide jeweils noch davon aus-
gingen, in den Ideen seien „die großen herrschenden Tendenzen der Jahr-
hunderte“ zu finden, und die den historischen Prozeß gewissermaßen als
„Komplex dieser Tendenzen“ 9 verstehen und deuten zu können meinte, ist
längst vergangen. Aber auch jene diametral entgegengesetzte Auffassung,
die in den Ideen wiederum nichts anderes sah und sieht als bloße Derivate
bestimmter sozialer und ökonomischer Entwicklungsstufen der Geschichte
– und daher als von der historischen Betrachtung eher zu vernachlässigen-
de Phänomene – vermag heute im allgemeinen nicht mehr zu überzeugen.
Am ehesten wird man die Ideen noch als Gedankenkonstrukte defi-
nieren können, gewissermaßen als geistige Akte der Verdichtung von in be-
stimmter Weise wahrgenommener und gedeuteter Wirklichkeit mit dem
Hauptzweck der Orientierung und damit auch der Sinngebung. Nach
welchen Regeln und Gesetzen eine solche Konstruktion vor sich geht und
im einzelnen verfährt, darf wohl als noch immer ungeklärt angesehen wer-
den. Kaum zu bestreiten dürfte allerdings die anthropologische Tatsache
sein, daß Ideen aus einem bestimmten Bedürfnis der Menschen heraus ent-
standen sind, das sich wiederum, so Helmuth Plessner, aus der „Gegen-
überstellung des Menschen gegen seine … Lebenssituation“ ergibt: Es han-
delt sich dabei letztlich um die Grundfrage menschlicher Existenz, also um
7 Die Zitate: Wilhelm von Humboldt, Über die Aufgabe des Geschichtschreibers, in:
ders., Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Andreas Flitner/Klaus Giel. Bd. 1: Schriften zur An-
thropologie und Geschichte. 3. Aufl. Darmstadt 1980, 601, 603.
8 Als Gesamtüberblick ist (trotz zeitbedingter Patina) immer noch sehr instruktiv: Hein-
rich Ritter von Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegen-
wart. Bde. 1–2. 2. Aufl. München/Salzburg 1964, hier Bd. 1, 167–192, 239–292, 414–
416, 419–423.
9 Beide Zitate: Johann Goldfriedrich, Die historische Ideenlehre in Deutschland. Ein
„jede Frage, die der Mensch sich tausendmal im Lauf seines Lebens vor-
zulegen hat: was soll ich tun, wie soll ich leben, wie komme ich mit dieser
Existenz zu Rande“ – und eben diese Frage ist es, die nach Plessner den
„wesenstypischen Ausdruck der Gebrochenheit“ der Menschen auf den
Begriff bringt, eine Frage also, „der keine noch so naive, naturnahe,
ungebrochene, daseinsfrohe und traditionsgebundene Epoche der Mensch-
heit sich entwinden konnte“. 10
Hinter den Ideen der Menschen stehen also ihre spezifischen Sinnge-
bungsbedürfnisse, und schon deshalb sind sie aus der Geschichte nicht
wegzudenken, ja sie stellen in gewisser Weise sogar einen integralen Be-
standteil historischen Geschehens dar. Aus diesem Grunde hat auch die
neuere historische Forschung die Frage nach der Bedeutung von Ideen in
der Geschichte erneut gestellt und dabei durchaus den Blick auf deren
Funktion als „gesellschaftliche Gestaltungskraft“ 11 im neuzeitlichen Euro-
pa gerichtet. Wenn auch, wie zu Recht betont worden ist, das Kernproblem,
nämlich die Aufhellung der „Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft
und Ideen“ 12, derzeit noch nicht ausreichend bewältigt worden ist, so wird
doch auch von der neueren Geschichtsschreibung „die Überzeugung von
der wirklichkeitskonstituierenden Kraft von Ideen und Symbolen“ 13 letzt-
lich nicht mehr ernsthaft bestritten, und auch eine vermeintlich „neue“ Gei-
stes- und Ideengeschichte, die sich den sozialen, biographischen und poli-
tischen Kontexten im weitesten Sinne zu öffnen bestrebt ist, wird die
Eigenmächtigkeit und Eigenwirksamkeit von Ideen in der Geschichte
(auch wenn eine solche oft nur begrenzt sein mag) nicht mehr wirklich in
Frage stellen können.
10 Alle Zitate aus: Hellmuth Plessner, Die Stufen des Organischen und der Mensch.
Einleitung in die philosophische Anthropologie. 3. Aufl. Berlin/New York 1975, 309.
11 Vgl. hierzu den instruktiven Sammelband von Lutz Raphael/Heinz-Elmar Tenorth
(Hrsg.), Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit. Beiträge für
eine erneuerte Geistesgeschichte. München 2006. – In diesem Zusammenhang ist eben-
falls die seit 2007 erscheinende „Zeitschrift für Ideengeschichte“ zu nennen.
12 Lutz Raphael, „Ideen als gesellschaftliche Gestaltungskraft im Europa der Neuzeit“:
14 Hierzu neuerdings grundlegend: Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 206ff. u. pas-
sim; Rainer Kolk, Literarische Gruppenbildung. Am Beispiel des George-Kreises 1890–
1945. (Communicatio. Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte, 17.)
Tübingen 1998; sodann (in der Deutung zuweilen anfechtbar) Robert E. Norton, Secret
Germany. Stefan George and his Circle. Ithaca/London 2002; wichtiges Material enthält:
Bernhard Zeller (Hrsg.), Stefan George 1868 · 1968. Der Dichter und sein Kreis. (Son-
derausstellungen des Schiller-Nationalmuseums, Katalog 19.) München 1968; aus der äl-
teren (z. T. von Angehörigen des Kreises verfaßten) Literatur bleiben – trotz subjektiver
Perspektive und zuweilen problematisch-einseitiger Interpretation – wegen ihres Infor-
mationsgehalts wichtig: Friedrich Wolters, Stefan George und die Blätter für die Kunst.
Deutsche Geistesgeschichte seit 1890. Berlin 1930 (die aus der Perspektive und unter
Mitwirkung des Dichters geschriebene, gewissermaßen offizielle Darstellung des Krei-
ses), sodann Robert Boehringer, Mein Bild von Stefan George. München/Düsseldorf
1951, 2. Aufl. 1967 (im folgenden nach der 1. Aufl. zitiert); Kurt Hildebrandt, Erinne-
rungen an Stefan George und seinen Kreis. Bonn 1965; eine an Max Weber orientierte
sozialpsychologische (und gegenüber dem Denken des Kreises sehr kritisch eingestellte)
Interpretation liefert Stefan Breuer, Ästhetischer Fundamentalismus. Stefan George und
der deutsche Antimodernismus. Darmstadt 1995. Neuerdings aus ganz anderer Perspek-
tive auch: Manfred Riedel, Geheimes Deutschland. Stefan George und die Brüder Stauf-
fenberg. Köln/Weimar/Wien 2006.
15 Vgl. dazu u. a. Ernst Eugen Starke, Das Plato-Bild des George-Kreises. Phil. Diss.
Köln 1959. Aus dem Kreis heraus oder in seinem Umfeld sind u. a. entstanden: Heinrich
Friedemann, Platon. Seine Gestalt. Berlin 1914, Kurt Singer, Platon, der Gründer. Mün-
chen 1927; Kurt Hildebrandt, Platon. Der Kampf des Geistes um die Macht. Berlin 1933.
land“ findet sich tatsächlich, wie man heute weiß, in der jüngeren deutschen
Geistesgeschichte in den verschiedensten Ausprägungen und Zusammen-
hängen – und vor allem immer dann, wenn der Zustand des im äußerlichen
Sinne „realen“, des wirklichen Deutschlands Anlaß zur Klage und Kritik
gab. Bei Schiller, Hölderlin sowie bei Wilhelm und Caroline von Humboldt
ist der Gedanke wenigstens nachweisbar; später haben ihm Heine und
Hebbel ebenso Ausdruck verliehen wie die nachmals berühmten, in ihrer
politischen Grundtendenz freilich nicht unproblematischen kulturkriti-
schen Autoren des frühen deutschen Kaiserreichs, Paul de Lagarde und Ju-
lius Langbehn. 16
III.
Die Möglichkeit zur Anknüpfung an diese ältere Tradition war also
gegeben, als sich der Kreis um Stefan George daranmachte, die Idee des
Geheimen Deutschland als Selbstdeutung zu übernehmen. Tatsächlich war
der im Jahr 1868 geborene, aus dem Rheinland stammende George nach
einer Formulierung von Gottfried Benn „das großartigste Durchkreuzungs-
und Ausstrahlungsphänomen, das die deutsche Geistesgeschichte je ge-
sehen hat“. 17 Denn die ungemein weitreichende Wirkung dieses einfluß-
reichen, sich aber im Verborgenen inszenierenden Mannes, sein zwingen-
der Eindruck, die offenkundige Faszination, die von dem Dichter aus-
16 Statt an dieser Stelle Einzelnachweise zu geben sei nur verwiesen auf die zusammen-
fassenden Darstellungen bei Eckhart Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George.
Beiträge zur Biographie des Historikers bis zum Jahre 1938 und zu seinem Jugendwerk
„Kaiser Friedrich der Zweite“. (Frankfurter Historische Abhandlungen, 25.) Wiesbaden
1982, 74–80; Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 2), 64f.; Ulrich
Raulff, „In unterirdischer Verborgenheit“. Das geheime Deutschland – Mythogenese und
Myzel. Skizzen zu einer Ideen- und Bildergeschichte, in: Barbara Schlieben/Olaf Schnei-
der/Kerstin Schulmeyer (Hrsg.), Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege zur Wissen-
schaft. Göttingen 2004, 93–115.
17 Diese in der Sache überaus treffende Feststellung wird – allerdings ohne Nachweis –
zitiert bei Riedel, Geheimes Deutschland (wie Anm. 14), 2, der sich in diesem Fall auf
sein Gedächtnis verlassen haben mag; in Gottfried Benns (nicht gehaltener) „Rede auf
Stefan George“ von 1934 heißt es: „Mir scheint seit je dieser Einbruch Georges in die
deutsche Wissenschaft eines der rätselhaftesten Phänomene der europäischen Geistesge-
schichte zu sein, wohl nicht allein erklärbar aus dem Werk Georges, sondern auch da-
durch, daß man sich der Verfassung der Wissenschaften um 1900 erinnert, ihres völlig
substantiellen und moralischen Kernschwunds, ihrer weltanschaulichen Zerrüttung und
methodischen Verwirrung durch die Naturwissenschaften …“ Gottfried Benn, Gesam-
melte Werke in acht Bänden. Hrsg. v. Dieter Wellershoff. Wiesbaden 1968, 1028–1041,
hier 1033.
ging 18, erstreckte sich weit über das literarische Leben im engeren Sinne
hinaus; bekanntlich haben einige der bedeutendsten Persönlichkeiten des
deutschen Geisteslebens und der deutschen Wissenschaft in der ersten
Hälfte des 20. Jahrhunderts diesen Dichter nicht nur als Künstler, sondern
im eigentlichen Sinne als Künder und Seher einer neuen Zeit geradezu kul-
tisch verehrt.
Dem Umfeld Stefan Georges angehören, ihm, dem „Meister“, per-
sönlich nahesein zu dürfen, galt als höchste Ehre und Auszeichnung, und
der Kreis derjenigen, die dem Dichter für längere oder manchmal auch kür-
zere Zeit nahegestanden haben, kann sich in der Tat sehen lassen, denn es
befanden sich viele klangvolle Namen darunter: Dichter und Privatgelehrte
wie Ludwig Klages, Karl Wolfskehl und Berthold Vallentin, Literaturwis-
senschaftler wie Friedrich Gundolf, Ernst Bertram, Norbert von Hel-
lingrath, Max Kommerell und Rudolf Fahrner, Historiker wie Kurt Brey-
sig, Friedrich Wolters und Ernst Kantorowicz, Philosophen, Nationalöko-
nomen, Juristen und Mediziner wie etwa Georg Simmel, Kurt Hildebrandt,
Edgar Salin, Ernst Morwitz, aber auch bildende Künstler wie Melchior
Lechter, Ludwig Thormaehlen und Frank Mehnert. Sie alle standen dem
Dichter nahe, die meisten von ihnen verehrten ihn zeitweilig oder lebens-
lang als Meister, als begnadeten Deuter und Seher der Zeit und im Grunde
auch als Sinngeber der eigenen Existenz. 19
Dieses erstaunliche, in der neueren deutschen Geistesgeschichte wahr-
haft einzigartige Phänomen ist wohl hauptsächlich zurückzuführen auf das
heute nur schwer nachzuempfindende außerordentliche Charisma, das von
dem Menschen George ausgegangen ist. Es verwundert nicht, daß Max
Weber sein berühmtes Konzept der „charismatischen Herrschaft“ nach
Begegnungen mit dem Dichter, mit dem er vor dem Ersten Weltkrieg mehr-
fach im kleinen Kreis in Heidelberg zusammengetroffen war, entwickelt
18 Neuerdings in brillanter Weise dargestellt und gedeutet durch Karlauf, Stefan George
(wie Anm. 5), passim.
19 Nach außen hin war man indessen bemüht, die Eigenart des nach dem Ersten Weltkrieg
hat 20; Weber war und blieb zwar stark beeindruckt von der Persönlichkeit
Georges, ohne ihr jedoch, wie so viele andere, zu verfallen. George selbst
hat den von ihm absolut beherrschten und im Inneren streng kontrollierten
Kreis um seine Persönlichkeit, der durchaus mehr darstellte und sein wollte
als nur eine „Dichterschule“ 21, gerne als „staat“ bezeichnet, damit gewis-
sermaßen als sein eigenes kleines Herrscherreich, in dem er sich als der ver-
borgene Regent eines im eigentlichen, wahren Sinne geistigen Deutsch-
lands fühlen und verstehen konnte. 22 In diesem Sinne begriff George, wie
es einer seiner engsten Vertrauten, Ernst Morwitz, Jahrzehnte nach dem
Tod des „Meisters“ einmal formuliert hat, unter dem Begriff „Staat“ durch-
aus „nicht äußere Staatenbildung, sondern das Verhalten von Mensch zu
Mensch, eine neue Gemeinschaftsbildung, zu der wenige von Geburt aus,
wie er glaubt, befähigt sind, eine grössere Zahl aber durch Erziehung
geeignet gemacht werden kann“. 23
Genau diese Art der Gemeinschaftsbildung strebte der Dichter an, dem
es seit Beginn seiner Kunstausübung, also seit den 1880er Jahren – durch-
aus anknüpfend an das Werk der französischen Symbolisten um Mallarmé
– darum zu tun war, vor allem demjenigen entgegenzuwirken, das man im
Anschluß an Weber und andere Theoretiker der Moderne die „Entzaube-
rung der Welt“ 24 genannt hat. Tatsächlich stellt eine an Radikalität nur
schwer zu überbietende Gegenwartskritik die eigentliche geistige Trieb-
20 Vgl. hierzu neben Marianne Weber, Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen 1926,
464ff., Wolters, Stefan George (wie Anm. 14), 471ff., und Joachim Radkau, Max Weber.
Die Leidenschaft des Denkens. München/Wien 2005, 468ff., neuerdings besonders Kar-
lauf, Stefan George (wie Anm. 5), 410ff., und ebenfalls die wichtigen Bemerkungen bei
Riedel, Geheimes Deutschland (wie Anm. 14), 80ff.
21 Vgl. Karlhans Kluncker, Der George-Kreis als Dichterschule, in: ders., Das Geheime
Deutschland. Über Stefan George und seinen Kreis. Bonn 1985, 11–23.
22 Hierzu jetzt grundlegend Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 362ff., 385ff., 405,
410ff. u. a., sowie Wolfgang Graf Vitzthum, Stefan George und der Staat, in: Festschrift
für Martin Heckel zum siebzigsten Geburtstag. Hrsg. v. Karl-Hermann Kästner/Knut
Wolfgang Nörr/Klaus Schlaich. Tübingen 1999, 915–939, bes. 925; erhellend ebenfalls
Ulrich Raulff, Der Dichter als Führer: Stefan George, in: ders. (Hrsg.), Vom Künstler-
staat. Ästhetische und politische Utopien. München/Wien 2006, 127–143. – Die Bezeich-
nung „staat“ stammt aus der Zeit um 1910 und geht vermutlich auf Wolters zurück; vgl.
Hildebrandt, Erinnerungen an Stefan George (wie Anm. 14), 46.
23 Ernst Morwitz, Kommentar zu dem Werk Stefan Georges. 2. Aufl. Düsseldorf/Mün-
chen 1969, 351; zu Morwitz und zu dessen Stellung innerhalb des „Kreises“ vgl. Boeh-
ringer, Mein Bild von Stefan George (wie Anm. 14), 143, 173ff. u. a.; Karlauf, Stefan
George (wie Anm. 5), 377ff. u. passim.
24 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie. Bd.1. 9. Aufl. Tübingen
1988, 94.
kraft von Georges dichterischem Werk dar. Die – von ihm so erfahrene –
vollkommen sinnentleerte Moderne, gipfelnd in letztlich zweckloser „Ar-
beits- und Kulturbetriebsamkeit“ 25, im Fortschreiten einer immer unge-
hemmter sich vollziehenden, zerstörerischen Kapitalisierung und Indu-
strialisierung der zeitgenössischen Lebenswelt, die im Grunde lediglich
noch die von Nietzsche vorausgesehenen „letzten Menschen“ hervorbrin-
ge 26 – mit den berühmten Worten Max Webers im „stahlharte[n] Gehäuse“
der modernen Arbeitswelt also nurmehr „Fachmenschen ohne Geist, Ge-
nußmenschen ohne Herz“ 27 –, dieser Moderne also opponierte George so-
wohl mit dem Beispiel seiner Persönlichkeit als auch mit aller Wucht des
ihm zur Verfügung stehenden dichterischen Ingeniums.
Max Weber hat das durchaus erkannt, indem er (nach einer sehr
treffenden Formulierung Manfred Riedels) akzeptierte, „dass der wert-
vollste Teil von Georges lyrischem Werk menschenmögliches Standhalten
gegenüber dem städtisch-zivilisatorischen Lebenstaumel am Grunde der
Moderne gestaltete; einsame, erschütterte Menschen, die nicht gleich jenen
über dem Erdboden schwebenden Figuren zeitgenössischer Jugendstil-
kunst zu Schemen in zauberhaft schönen Naturenklaven erstarren, sondern
in bewusst gewählter Vereinsamung sich der gesellschaftlich verhängten
‚Erniedrigung des Herzens‘ zu erwehren suchen“. 28 Weniger mochte er
freilich mit der ästhetischen Utopie anfangen können, die der Dichter
dagegenzustellen bestrebt war: dem an das vermeintliche „Sehertum“ sei-
ner beiden von ihm so aufgefaßten, einsamen und verkannten, endlich im
Wahnsinn sterbenden Vorläufer Hölderlin und Nietzsche anknüpfenden
Ideal des „schönen Lebens“, einer im vollen Sinne wahrhaft menschlichen,
kunst- und gemeinschaftserfüllten Existenz fern von den Verirrungen der
modernen, säkularisierten Lebenswelt. 29 George folgte darin einer bereits
bei Hölderlin anklingenden Vision einer allgemeinen geistig-seelischen
Erneuerung – durch die Vermählung des wahrhaft Hellenischen mit dem
wahrhaft Deutschen zu einer höheren geistigen Synthese. 30
25 Riedel, Geheimes Deutschland (wie Anm. 14), 90; vgl. zum Zusammenhang auch ebd.
69–102.
26 Vgl. Friedrich Nietzsche, Werke. Hrsg. v. Karl Schlechta. Bde. 1–3. München 1969,
tümlich „hesperisches“ Geschichtsbild ist neuerdings umfassend und in der Sache sehr
Diese ästhetische Utopie des „schönen Lebens“ wurde seit der im Ge-
dichtband von 1899, „Der Teppich des Lebens“, gestalteten Vision vom
Engel als Boten, der dem empfänglichen Leser den Weg zu eben dieser
neuen Lebensform weist 31, zur verbindenden Idee des engsten Kreises der
Anhänger und Verehrer, die sich um den Dichter gesammelt hatten. 32 In
einem zentralen frühen Text zum Selbstverständnis des Kreises, Friedrich
Wolters kleiner Schrift „Herrschaft und Dienst“ von 1909, findet sich das
Ideal in die für jene Zeit charakteristische Formulierung gefaßt, „dass um
und über uns schönheit und grösse ihre unantastbaren zepter führen“. 33 Die
von George ausgehende kreisbildende Kraft manifestierte sich nicht zuletzt
in der von ihm veranstalteten und allein verantworteten Herausgabe des
Periodikums „Blätter für die Kunst“, das in zwölf Folgen zwischen 1892
und 1919 erschienen ist und ausschließlich dem Dichter und den von ihm
als würdig erachteten Angehörigen seines Kreises zur Publikation ihrer
Dichtungen zur Verfügung stand. 34 Zwischen 1910 und 1912 erschien dazu
kurzzeitig ein weiteres Organ des Kreises, das vornehmlich der kritischen
Auseinandersetzung mit den Gegnern sowie grundsätzlichen theoretischen
Verlautbarungen des Kreises gewidmet sein sollte: das „Jahrbuch für die
geistige Bewegung“, herausgegeben von den damals wohl engsten Vertrau-
ten Georges, Friedrich Gundolf und Friedrich Wolters. 35
Vorspiel. (Gesamt-Ausgabe, 5.) Berlin 1932, 9–35; siehe dazu auch Karlauf, Stefan
George (wie Anm. 5), 257f.
32 Wobei freilich anzumerken ist: Hildebrandt, Erinnerungen an Stefan George (wie
Anm. 14), 61 Anm. 21: „Wer zum Kreise gehörte, das wußte allerdings in jedem
Augenblick allein George“.
33 Friedrich Wolters, Herrschaft und Dienst. 2. Aufl. Berlin 1920, 57; über Wolters vgl.
neben der frühen Würdigung durch einen Angehörigen des Kreises: Kurt Hildebrandt,
Friedrich Wolters’ Vermächtnis, in: Zs. für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft
25, 1931, 352–359, auch dessen Korrespondenz mit George: Michael Philipp (Hrsg.),
Stefan George – Friedrich Wolters. Briefwechsel 1904–1930. Amsterdam 1998, darin
bes. die Einleitung von Michael Philipp, 5–61; Salin, Um Stefan George (wie Anm. 3),
125–162; Michael Philipp, Wandel und Glaube. Friedrich Wolters – Der Paulus des
George-Kreises, in: Wolfgang Braungart/Ute Oelmann/Bernhard Böschenstein (Hrsg.),
Stefan George: Werk und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘. Tübingen 2001, 283–299;
Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 431ff., 525ff. u. a.
34 Vgl. Karlhans Kluncker, Blätter für die Kunst. Zeitschrift der Dichterschule Stefan
Georges. (Studien zur Philosophie und Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, 24.)
Frankfurt am Main 1974; siehe ebenfalls Norton, Secret Germany (wie Anm. 14), 129ff.
u. passim; Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 105ff. u. passim.
35 Vgl. dazu neben den rückblickenden Bemerkungen des Miteditors Wolters, Stefan
George (wie Anm. 14), 383ff., auch Kolk, Literarische Gruppenbildung (wie Anm. 14),
312ff., 362ff.; Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 444ff., 451ff.
36 Karl Wolfskehl, Die Blätter für die Kunst und die neueste Literatur, in: Jb. für die gei-
dass es vernehmlicher denn seit langem aus seiner berg- und höhlenentrückung herauf
will ans licht, das gibt uns die tiefe zuversicht für eine zukunft, die gewiss ernst, schwer
und düster, gewiss voll der unerhörtesten erschütterungen sein wird, in der aber auch zum
lezten male vielleicht die tiefen sich offenbaren wollen“.
39 Ebd. 18.
40 Nämlich die von allem vordergründig Politischen sich abhebende, ästhetisch grundier-
Hellingrath. Hameln 1949, 33–50; Bruno Pieger, Karl Wolfskehl und Norbert von
Hellingrath. Die Spur einer Freundschaft, in: Castrum Peregrini 239/240, 1999, 115–133;
Salin, Um Stefan George (wie Anm. 3), 93ff.; Zeller (Hrsg.), Stefan George 1868 · 1968
(wie Anm. 14), 368ff.; jetzt auch Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 406ff.
44 Norbert von Hellingrath, Hölderlin und die Deutschen (1915), in: ders., Hölderlins
Vermächtnis. Hrsg. v. Ludwig Pigenot. 2. Aufl. München 1944, 119–150, hier 120f.
man vermuten kann, nicht zuletzt die extreme Distanz der Hölderlin-Welt
zur Gegenwart des schrecklichen Krieges zum Ausdruck zu bringen ver-
suchte.
IV.
Auch Stefan George wurde in seiner Weltsicht – wenngleich freilich nicht
in seinem Selbstbewußtsein – durch den Krieg aufs Schwerste erschüttert.
Er nahm zwar nicht daran teil, doch eine Reihe seiner Freunde, auch Mit-
glieder des Kreises, blieben auf dem Feld oder trugen schwere körperliche
und seelische Verwundungen davon. 45 In seinem berühmten, zuerst 1917
gedruckten Gedicht mit dem lapidaren Titel „Der Krieg“ 46 formuliert der
Dichter eine schneidende Absage an den gedankenlosen Nationalismus der
Zeit: „Am streit wie ihr ihn fühlt nehm ich nicht teil“. Und ebenfalls heißt
es dort: „Zu jubeln ziemt nicht: kein triumf wird sein. / Nur viele unter-
gänge ohne würde.. / … Der alte Gott der schlachten ist nicht mehr. /
Erkrankte welten fiebern sich zu ende / In dem getob.“ Ein ausgesprochen
katastrophisch-düsteres Gegenwartsgemälde entwarf George hier; die
einstige, von ihm verkündete Vision des „schönen Lebens“ schien im und
durch den Krieg vernichtet.
In einem weiteren, kurz nach dem Krieg entstandenen Gedicht mit dem
Titel „Dichter in Zeiten der Wirren“ hat George auf das deutsche Nach-
kriegschaos, wie er es empfand, reagiert und seine Schlußfolgerungen ge-
zogen 47: Während der Dichter „im stillern gang der Zeit“ den Menschen
die „schönheit“ brachte, muß er sich in Zeiten des Krieges und der Kata-
strophen wandeln: und zwar zum dichterischen Seher, zum Propheten des
Kommenden: „Und wenn im schlimmsten jammer lezte hoffnung / Zu lö-
45 Zusammenfassend hierzu: Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 458f., 464ff., sowie
Jürgen Egyptien, Die Haltung Georges und des George-Kreises zum 1. Weltkrieg, in:
Braungart/Oelmann/Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk und Wirkung seit dem
‚Siebenten Ring‘ (wie Anm. 33), 197–212.
46 Im folgenden zitiert nach dem späteren Wiederabdruck in: Stefan George, Das Neue
Reich. (Gesamt-Ausgabe, 9.) Berlin 1928, 27–34; vgl. zu dieser zentralen Dichtung
Georges auch Morwitz, Kommentar (wie Anm. 23), 417–426; Karlauf, Stefan George
(wie Anm. 5), 496ff.; neuerdings auch Riedel, Geheimes Deutschland (wie Anm. 14),
100ff., der die ungemein komplexe Dichtung freilich allzu sehr nur als „Anti-‚Krieg‘-
Gedicht“ (ebd. 100) interpretiert, sowie Egyptien, Die Haltung Georges (wie Anm. 45),
206ff.; vgl. zur Deutungsproblematik auch die (trotz aller Einseitigkeit) immer noch er-
hellenden Beobachtungen bei Gundolf, George (wie Anm. 19), 276f.
47 Im folgenden zitiert nach dem späteren Wiederabdruck in: George, Das Neue Reich
(wie Anm. 46), 35–39; dazu auch Morwitz, Kommentar (wie Anm. 23), 426–431.
schen droht: so sichtet schon sein aug / Die lichtere zukunft“. George rich-
tete seine Hoffnung hier ganz bewußt auf die neue Generation: „Ein jung
geschlecht das wieder mensch und ding / Mit echten maassen misst, das
schön und ernst / … Sich gleich entfernt von klippen dreisten dünkels / Wie
seichtem sumpf erlogner brüderei“. Der „einzige der hilft“, der hier eben-
falls beschworene Mann der Zukunft, soll aus diesen Menschen erwachsen,
Ordnung und Zucht wiederherstellen und endlich „das Neue Reich“ pflan-
zen.
Dieses Gedicht – das oft als positiv gemeinte Vorausdeutung auf Hitler
mißverstanden worden ist 48 – darf gleichwohl, wie bereits vorher die
„Krieg“-Dichtung, als Ausdruck von Georges Hinwendung zum Politi-
schen angesehen werden. Der zum „Seher“ gewordene Dichter hat die
ehemals zentrale Vision der „Schönheit“ zwar nicht aus dem Auge verlo-
ren, doch vorerst beiseite gelassen, um sich seiner neuen Aufgabe zu
widmen: Orientierung und Sinngebung in „Zeiten der Wirren“ zu vermit-
teln. Diese Wendung vom vorrangig Ästhetischen zum genuin Politischen
hat denn auch die Vision des Geheimen Deutschland nicht unberührt gelas-
sen: Das „geistige Reich“ kann sich angesichts der Nöte und Wirrsale der
Zeit nach dem von Deutschland verlorenen Weltkrieg nicht mehr auf die –
freilich noble, nun aber in mehr als einer Hinsicht unzeitgemäß gewordene
– Idee des „schönen Lebens“ beschränken, sondern muß seinen Einfluß
fortan auch in anderen Lebensbereichen geltend machen.
George selbst hat sich allerdings niemals mehr so weit vorgewagt wie in
den wahrhaft martialischen Schlußversen des „Dichter[s] in Zeiten der
Wirren“. In dem ebenfalls kurz nach dem Krieg entstandenen und ebenso
berühmten Gedicht, das nun tatsächlich den Titel „Geheimes Deutschland“
trug, veröffentlicht allerdings erstmals 1928 in seinem letzten Gedichtband
„Das Neue Reich“ 49, verwies George alle politischen Spekulationen, die
48 Das bezog sich vor allem auf die – jenen angekündigten „Mann“ feiernden – Schluß-
zeilen des Gedichts: „…er heftet / Das wahre sinnbild auf das völkische banner / Er führt
durch sturm und grausige signale / Des frührots seiner treuen schar zum werk / Des wa-
chen tags und pflanzt das Neue Reich“. – Siehe dazu auch die kontroversen Bemerkungen
bei Morwitz, Kommentar (wie Anm. 23), 430f. (der jede politisch-aktualisierende Deu-
tung ablehnt), sowie neuerdings bei Norton, Secret Germany (wie Anm. 14), 680ff., und
Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 578ff.
49 George, Das Neue Reich (wie Anm. 46), 59–65; vgl. Morwitz, Kommentar (wie
Anm. 23), 440–446; Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 555f.; zum Zusammenhang
vgl. auch Nina Gutschinskaja, Sprache als Prophetie: zu Stefan Georges Gedichtband
‚Das Neue Reich‘, in: Braungart/Oelmann/Böschenstein (Hrsg.), Stefan George: Werk
und Wirkung seit dem ‚Siebenten Ring‘ (wie Anm. 33), 114–124.
tiert bei Raulff, Der Dichter als Führer (wie Anm. 22), 133ff., und Karlauf, Stefan George
(wie Anm. 5), 547ff.
53 Vgl. über Kommerell statt vieler Walter Busch/Gerhart Pickerodt (Hrsg.), Max Kom-
merell. Leben – Werk – Aktualität. Göttingen 2003, bes. auch 391–402 (Literatur über
Kommerell).
tungsvollem Vorausblick auf George, ebd. 451f.: „Die Stunde des geistig-öffentlichen
Deutschland schlug nicht ihm … die von ihr gebotene Tat schien ihm ein Versäumen.
Allein – so löst sich der Widersinn einer nur ihm geltenden Stunde – seine Stunde war
Vorbereitung“.
57 Ebd. 483.
58 Vgl. Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George (wie Anm. 16); Alain Bou-
die bereits früher ohne Beleg von Morwitz, Kommentar (wie Anm. 23), 440, aufgestellt
und anschließend von Grünewald, Ernst Kantorowicz und Stefan George (wie Anm. 16),
Auch der Schluß des Buches konnte nicht nur bei den Eingeweihten
Aufsehen erregen, denn der Rätselspruch der Sibylle nach des Kaisers Tod
im Jahr 1250, der dessen mythisches Weiterleben andeutete: „ER LEBT
UND LEBT NICHT“ wurde vom Autor unbesehen auf das deutsche Volk
angewendet, das ebenso wie der größte seiner mittelalterlichen Kaiser zu-
gleich lebe und nicht lebe, d. h. als Sichtbares ebenso wie als Unsichtbares
– also verborgenes, geheimes Deutschland – anwesend sei. 63 Wenn George
selbst nur im Ansatz die Wende hin zur historisch-politischen Welt vollzo-
gen hatte, so war diese jetzt bei Kommerell und in noch deutlich stärkerem
Maße bei Kantorowicz durchgeführt: denn ein Geheimes Deutschland, das
sich nicht mehr nur zu seinen Dichtern, Sehern und Denkern wie Hölderlin
und Nietzsche bekennt, sondern (nach der Formulierung Kommerells) sei-
ne Waffen ausgräbt und sich ausdrücklich auf seine „Kaiser und Helden“
beruft, hat die innere Wandlung bereits vollzogen.
Und das bedeutete auch: das Geheime Deutschland war eben nicht mehr
so „geheim“, wie es einstmals, vor dem Krieg, gewesen war. Es trat nun
ganz bewußt nach außen, es bekannte sich zu seiner Bedeutung und seiner
Aufgabe. Friedrich Wolters hat es nur wenige Jahre nach Kantorowicz in
seiner offiziellen Geschichte des George-Kreises – zweifellos ebenfalls mit
ausdrücklicher Zustimmung Georges – mit sehr klaren Worten formuliert:
„Der Dichter (George; H.-C. K.) rettet unsere alten und neuen Träume in
sein Reich, das außer der Zeit und dem Volke steht, weil es ihr Verderben
nicht teilt, das dennoch mitten in ihnen steht, weil es die einzige Form des
gestaltenden Lebens ist, aus dem eine neue Gemeinschaft von deutschen
Menschen erwachsen ist“. George habe sich „Schritt um Schritt zum Herrn
der Gegenwart gemacht, und ‚das heimliche Kaisertum‘ seines vierzigjäh-
rigen Wirkens unter den Deutschen ist jetzt sichtbar geworden. … Wie eine
offene und dennoch unbetretbare Insel liegt sein verborgenes Deutschland
mitten im öffentlichen Deutschland, mitten in einer Menschheit, deren
Gefüge in allen Fugen zittert, deren Führer noch, wo sie zu lenken glauben
75, wiederholt worden ist, kann als widerlegt gelten, da sich Wolters in der besagten Zeit
in Deutschland aufhielt; vgl. dazu neuerdings Riedel, Geheimes Deutschland (wie
Anm. 14), 176, und vor allem Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 557: „Wer von ihnen
(d. h. den damals in Palermo persönlich anwesenden Angehörigen des „Kreises“; H.-C.
K.) den Kranz niederlegte, mit dem die Sage vom Geheimen Deutschland letztlich be-
gründet wurde, ist nicht mit Sicherheit auszumachen, am ehesten wohl Erika Wolters. Sie
war es auch, die nach dem Besuch Palermos in einem Brief an George den entschei-
denden Satz prägte: ‚Ich suchte Friedrich II. und fand den Meister‘.“
63 Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite (wie Anm. 59), Bd. 1, 632.
von den entfesselten Zeitgewalten getrieben werden und nur wissen, daß
ihnen keine Wahl bleibt als ödester Friede oder wildester Kampf.“ 64
Auch diese, von Wolters jetzt so deutlich konstatierte Wandlung Stefan
Georges vom verborgenen Dichter-Seher zum „heimlichen Kaiser“ der
Deutschen 65 drückt die Wendung ins Historisch-Politische deutlich genug
aus. Nur ein einziges Mal ist ein Angehöriger des Kreises indessen noch
deutlicher geworden – und dies war wiederum Ernst Kantorowicz. Bevor
er, obwohl hochdekorierter Frontsoldat des Weltkrieges und anschließend
sogar Freikorpskämpfer 66, von den Nationalsozialisten infolge seiner jüdi-
schen Abstammung endgültig von seinem historischen Lehrstuhl an der
Universität Frankfurt am Main vertrieben wurde, hielt Kantorowicz dort
am 14. November 1933 jene später so berühmt gewordene Vorlesung, die
den lapidaren Titel „Das Geheime Deutschland“ trug und die vollständig
erst im Jahr 1997 – also mehr als dreißig Jahre nach Kantorowicz’ Tod –
veröffentlicht worden ist. 67
Was der Historiker in seiner Friedrich-Biographie mehr angedeutet als
ausgesagt hatte, fand in dieser – durchaus als urpersönliches und zugleich
entschieden politisches Bekenntnis aufzufassenden – Vorlesung allerdeut-
lichste Formulierung: Kantorowicz berief sich nun offen auf die von
George und Wolfskehl inaugurierte Tradition dieser Idee, griff sogar
ausdrücklich auf Lagarde und Langbehn zurück 68, ging aber gleichwohl
weit über sie alle hinaus, indem er gleich zu Anfang feststellte, daß „mit
deraufnahme der Lehrtätigkeit am 14. November 1933. Edition von Eckhart Grünewald,
in: Benson/Fried (Hrsg.), Ernst Kantorowicz (wie Anm. 58), 77–93. – Zur Deutung und
Interpretation dieses hermetischen Textes siehe vor allem Eckhart Grünewald, „Übt an
uns mord und reicher blüht was blüht!“ Ernst Kantorowicz spricht am 14. November
1933 über das „Geheime Deutschland“, in: Benson/Fried (Hrsg.), Ernst Kantorowicz
(wie Anm. 58), 57–76, und Ulrich Raulff, Apollo unter den Deutschen. Ernst Kantoro-
wicz und das ‚geheime Deutschland‘, in: Gert Mattenklott/Michael Philipp/Julius H.
Schoeps (Hrsg.), „Verkannte Brüder“? Stefan George und das deutsch-jüdische Bürger-
tum zwischen Jahrhundertwende und Emigration. (Haskala. Wissenschaftliche Abhand-
lungen, 22.) Hildesheim/Zürich/New York 2001, 179–197.
68 Vgl. Kantorowicz, Das Geheime Deutschland (wie Anm. 67), 78f.
69 Ebd. 80.
70 Gerade dieser Aspekt wird von einigen Interpreten dieses ebenso bemerkenswerten
wie enigmatischen und hermetischen Textes fast ausgeblendet, indem sie besonders stark
den aktuellen, hier freilich verdeckt und stark verfremdet formulierten Gegensatz des Hi-
storikers zum nationalsozialistischen Regime herausstreichen; vgl. etwa Raulff, Apollo
unter den Deutschen (wie Anm. 67), 180: „Radikal unterscheidet Kantorowicz zwischen
der Wirklichkeit des ‚Dritten Reiches‘ und den Denkbildern des ‚Geheimen Deutschland‘
– und denkt gar nicht daran, dieser zu entraten, weil jene sie mißbrauchten. Er will den
Mythos des ‚Geheimen Deutschland‘ vor unsauberen Händen retten und entrichtet dafür
den Preis der Irrealisierung“.
71 Kantorowicz, Das Geheime Deutschland (wie Anm. 67), 79.
delt und dennoch ewig ist und unsterblich“. 72 Und zugleich stellt es eine –
wenngleich nur in mythisch-andeutungsvollen Formulierungen vergegen-
wärtigte – geistige Alternative zum nationalsozialistischen Reichsver-
ständnis dar.
Und Kantorowicz nimmt im weiteren Verlauf seiner Vorlesung alle jene
älteren und neueren Auffassungen und Mythen, die das Geheime Deutsch-
land schon früher begleiteten, erneut auf und integriert sie in seine umfas-
sende Bestimmung dieser Idee: von der einmaligen deutsch-hellenischen
Wahlverwandtschaft über „Kaiser und Adel“ als die jeweils sich wandeln-
den, aber überhistorischen eigentlichen Träger dieser Idee, über das Motiv
der Erziehung zur „Schönheit“ 73 bis hin zu dem wahrhaft Georgeschen
Gedanken, „dass im ‚geheimen Deutschland‘ fast immer die höchsten
Throne gerade Jene innehaben, welche dem öffentlich sichtbaren Deutsch-
land als ‚Fremdeste‘ erschienen“. 74 So kann er zu einer sehr weiten Bestim-
mung kommen, die er in die für ihn charakteristische Formulierung faßt:
„im ‚geheimen Deutschland‘ ist der innerste wesenhafte Kern der Nation
selbst geborgen, und wer ihn einmal erschaut, ist auf ihn auch verpflichtet
wie der Soldat auf die Fahne“. 75 Eben in diesem Sinne werde das Geheime
Deutschland „die jungen Deutschen zum Kult von Adel Schönheit Grösse
erziehen …, auf dass sie in Staat und Volk wirken“ – und dies wird so lange
möglich und auch notwendig sein, bemerkt Kantorowicz am Ende dieses
überaus suggestiven Textes, „bis dereinst ‚geheimes Deutschland‘ und das
sichtbare Reich miteinander eins werden, ineinander übergehen und einan-
der nur widerspiegeln“. 76
Die mythische Verklärung dieser Idee hat mit jener Vorlesung von Ernst
Kantorowicz wohl ebenso ihren Höhepunkt erreicht wie gleichzeitig ihre –
auf die Gegenwart bezogene, aber über sie hinausweisende – entschiedene
72 Die Zitate ebd. 81; die letzte Formulierung spielt unverkennbar an auf Edmund Burkes
berühmte Bestimmung einer Nation: „…it becomes a partnership not only between those
who are living, but between those who are living, those who are dead, and those who are
to be born“; Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France and on the Pro-
ceeding in Certain Societies in London Relative to that Event. Ed. by Conor Cruise
O’Brien. Harmondsworth 1982, 194f.
73 Vgl. Kantorowicz, Das Geheime Deutschland (wie Anm. 67), 81, 92.
74 Ebd. 84. – Diese Feststellung entspricht recht genau demjenigen, was bereits Komme-
rell, Der Dichter als Führer (wie Anm. 54), 449ff. im Jahr 1928 über Hölderlin als ver-
borgener „Seher“ und geistiger Führer der Deutschen und zwei Jahre später auch Wolters,
Stefan George (wie Anm. 14), 433ff., über die wenigstens anfangs vergleichbare Rolle
Georges im wilhelminischen Kaiserreich verkündet hatten.
75 Kantorowicz, Das Geheime Deutschland (wie Anm. 67), 88.
76 Die Zitate ebd. 92f.
Politisierung. 77 Der große Anreger aller dieser Ideen, Stefan George selbst,
hat den Text des Historikers nicht mehr lesen können: Zwar schickte Kan-
torowicz sogleich ein eigenes Exemplar an den schwerkranken „Meister“,
der sich bereits seit Mitte 1933 in der Schweiz befand, doch George starb,
bevor ihn die Vorlesung seines Jüngers erreichte, am 4. Dezember 1933 in
Locarno. 78 Schon Ende Juli dieses Jahres hatte der Dichter Deutschland für
immer verlassen, doch als ausdrücklicher Akt persönlicher Ablehnung der
dortigen neuen politischen Verhältnisse ist dies – anders als manche seiner
Verehrer später behauptet haben 79 – wohl nicht aufzufassen. Zwar entzog
er sich dem Ansinnen des neuen preußischen Ministers für Wissenschaft,
Erziehung und Volksbildung, des Nationalsozialisten Bernhard Rust, vom
neuen Staat einen Ehrensold und eine angesehene Stellung in der neu zu
ordnenden Preußischen Dichterakademie anzunehmen 80, doch er ließ dem
Minister mitteilen, daß er, George, selbst „die ahnherrschaft der neuen na-
tionalen bewegung … durchaus nicht“ ablehne und auch seine „geistige
mithilfe … nicht beiseite[schiebe]“, sich jetzt aber nicht mehr in die Pflicht
nehmen lassen wolle, da er seit langem getan habe, was er „dafür tun konn-
te“, und im übrigen sei „die jugend die sich heut um mich schart … mit mir
gleicher meinung“. 81
Diese Formulierung aus einem Brief an seinen Freund, den Berliner
Kammergerichtsrat Ernst Morwitz, an den sich das Ministerium gewandt
77 Eine „Politisierung“ auch – aber eben nicht nur – als „subversiv“ verstandener „An-
schlag auf die NS-Ideologie“, wie Raulff, Apollo unter den Deutschen (wie Anm. 67),
181, meint.
78 Vgl. Grünewald, „Übt an uns mord und reicher blüht was blüht!“ (wie Anm. 67), 58,
74; siehe zum Zusammenhang ebenfalls Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 626ff.
79 Vgl. Boehringer, Mein Bild von Stefan George (wie Anm. 14), 199; vgl. in diesem Zu-
sammenhang ebenfalls den 1944 verfaßten Vortrag von Elisabeth Gundolf, Stefan
George und der Nationalsozialismus, in: dies., Stefan George. Zwei Vorträge. Amsterdam
1965, 52–76, sowie Graf Vitzthum, Stefan George und der Staat (wie Anm. 22), 929f.,
933ff.
80 Hierzu vgl. neben Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 619ff., bes. auch Karl Korn,
Stefan George, in: ders., Rheinische Profile. Stefan George, Alfons Paquet, Elisabeth
Langgässer. Pfullingen 1988, 9–110, hier 86–103. Wichtig zum Zusammenhang eben-
falls Kolk, Literarische Gruppenbildung (wie Anm. 14), 483–508.
81 Hier zit. nach Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 622, der den Text nach einem Ent-
hatte, stellt die einzige wirklich authentische Äußerung des Dichters zum
Nationalsozialismus dar; sie kann weder als eindeutiges Bekenntnis für die
neuen deutschen Machthaber noch als klare Ablehnung gedeutet werden –
viel eher als das wohl bewußte Sich-Entziehen eines alten und schwerkran-
ken Mannes, der seinen Tod nahen fühlte und jede Art von engerer politi-
scher Bindung, die er früher stets vermieden hatte, auch jetzt – und nun aus
wahrlich besseren Gründen – von sich wies. Wie George auf Kantorowicz’
neue Vergegenwärtigung des Geheimen Deutschland angesichts der schon
in ihren ersten Zügen sichtbar werdenden Verunstaltung des Landes durch
den Nationalsozialismus reagiert hätte – man weiß es nicht. Immerhin darf
man wohl annehmen, daß ihm jene von dem Historiker skizzierte Vision
einer „geheimen Gemeinschaft der Dichter und Weisen, der Helden und
Heiligen“ 82 als Gegenbild zur neuen deutschen Wirklichkeit nicht über-
raschend erschienen und in der Sache wohl auch kaum unwillkommen ge-
wesen wäre. Indessen verbieten sich weitergehende Spekulationen.
V.
Aber noch eine weitere bedeutende, tiefgreifende und vor allem folgenrei-
che Wandlung hat die Idee des Geheimen Deutschland vollzogen, wieder-
um in der Folge historischer Umbrüche von säkularem Ausmaß. Diese
Wandlung ist nun vor allem verbunden mit den drei Brüdern Berthold,
Alexander und Claus von Stauffenberg – und in einem gewissen Abstand
auch mit dem ihnen in enger Freundschaft verbundenen George-Jünger und
Germanisten Rudolf Fahrner. Bereits im Mai 1923 waren die damals noch
sehr jungen Stauffenberg-Brüder über gemeinsame Freunde und Bekannte
bei dem Dichter eingeführt worden 83, der stets Ausschau nach jungen
Talenten hielt, die seinen Kreis bereichern konnten. Alle drei Brüder dich-
teten damals, und sie erfuhren die Begegnung mit Stefan George als einen
entscheidenden Wendepunkt in ihrem Leben. Noch Jahre nach dem
Zweiten Weltkrieg hat der einzige Überlebende der Brüder, Alexander Graf
84 Zitiert nach einem ungedruckten Text Alexander von Stauffenbergs bei Hoffmann,
Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 2), 52; vgl. dazu jetzt auch Karl Christ,
Der andere Stauffenberg. Der Historiker und Dichter Alexander von Stauffenberg. Mün-
chen 2008, 27ff.
85 Zitiert nach Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 2), 48 (Bert-
sammenhang Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 2), 42ff.
87 Hier zitiert nach Riedel, Geheimes Deutschland (wie Anm. 14), 21 (mündliche Mit-
gehörigen des Kreises gehört, von denen sich einige bereits vor Georges
Tod und erst recht anschließend dem Nationalsozialismus zugewandt hat-
ten; Fahrner selbst war der SA beigetreten 89, wohl auch um seiner
akademischen Karriere willen, die ihn 1934 auf den angesehenen Heidel-
berger Lehrstuhl des verstorbenen Friedrich Gundolf geführt hatte. Schon
zwei Jahre später mußte er allerdings seine Stellung unter politischem
Druck wieder räumen; nach einigen Jahren als Privatgelehrter wurde er
1939 an die Universität Athen berufen. Hier verbrachte er die Kriegsjahre
bis 1944, zuerst als Hochschullehrer, anschließend unter äußerst schwieri-
gen, teilweise dramatischen Umständen als Leiter des Deutschen Wissen-
schaftlichen Instituts in der griechischen Hauptstadt. 90
Fahrner, ein Schüler von Gundolf und Wolters und ebenfalls ein be-
dingungsloser Verehrer Stefan Georges, lernte die Brüder Stauffenberg
Mitte der 1930er Jahre näher kennen. 91 Ob Claus von Stauffenberg nach
einer Bemerkung in den (erst kürzlich vollständig publizierten) Erinne-
rungen Fahrners tatsächlich schon „seit 1936 … mit dem Gedanken an eine
Erhebung befasst“ 92 gewesen ist, mag dahingestellt bleiben; diese Behaup-
tung wird durch andere Zeugnisse jedenfalls nicht gestützt. Wichtig für das
Denken und das spätere Handeln Stauffenbergs aber wurde die Tatsache,
daß der soeben von seinem Lehrstuhl entfernte Fahrner schon seit einiger
Zeit an einer geistesgeschichtlichen Studie über Ernst Moritz Arndt arbei-
tete, für die sich Stauffenberg aus einem ganz bestimmten Grund besonders
interessierte: Denn ihn selbst verbanden familiäre Überlieferung und Ab-
stammung mit der napoleonischen Zeit und der Epoche der Befreiungs-
88 Zu Max Kommerell als „Mentor“ Claus von Stauffenbergs vgl. neuerdings die Dar-
stellung von Riedel, Geheimes Deutschland (wie Anm. 14), 176ff.; zu Fahrner Hoffmann,
Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 2), 159ff.; neuerdings auch dessen erst-
mals vollständig edierte, aufschlußreiche Selbstbiographie: Rudolf Fahrner, Er-
innerungen 1903–1945, in: ders., Erinnerungen und Dokumente. Bd. 2. Hrsg. v. Stefano
Bianca/Bruno Pieger. Köln/Weimar/Wien 2008, 25–262.
89 Vgl. Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 2), 112; Riedel,
Graf von Stauffenberg (wie Anm. 2), 160f.; Fahrner, Erinnerungen 1903–1945 (wie
Anm. 88), 183ff.
92 Fahrner, Erinnerungen 1903–1945 (wie Anm. 88), 196.
u. ö.
98 Vgl. Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 35ff.
99 Berthold Vallentin, Napoleon. Berlin 1923; ders., Napoleon und die Deutschen. Berlin
1926.
100 Siehe beispielsweise die Variation des (in dieser Hinsicht immer sehr dankbaren)
„Goethe und Napoleon“-Themas bei Friedrich Gundolf, Goethe. Berlin 1922, 536–544;
vgl. auch ders., Dichter und Helden. Heidelberg 1921, 57f.
1928 erlauben können, den Korsen auch mit einigen kritischen Formu-
lierungen zu bedenken 101. Für Fahrner, der sich seit Mitte der 1930er Jahre
den entschiedenen Verächtern, ja fanatischen Gegnern Napoleons, Arndt
und Gneisenau zuwandte, um sie als historisch-politische Gestalten neu zu
deuten, war es nicht eben leicht, diesen Gegensatz auszugleichen. 102 Er
überspielte ihn indessen keineswegs, sondern thematisierte ihn gerade im
Arndt-Buch von 1937 sehr ausführlich, freilich ohne den gegen Napoleon
gerichteten, fanatischen Haß Arndts zu rechtfertigen oder gar zu über-
nehmen. Im Gegenteil: Er versuchte die Gestalt des deutschen Dichters und
Schriftstellers gerade dadurch aufzuwerten, daß er ihn an der Größe seines
ärgsten Gegners maß 103 – eine Größe, die in Frage zu stellen dem über-
zeugten Georgianer Rudolf Fahrner natürlich auch in dieser Zeit nicht in
den Sinn kommen konnte. 104 Auf das Lob der „Deutschen Erhebung“ 105
kam es ihm vor allem an, und auf eine neue Vergegenwärtigung der Lei-
stungen der preußischen Reformer, die, wie Fahrner jetzt durchaus mehr-
deutig formulierte, „in Wahrheit … heute noch in ein künftiges Deutsch-
land weisen“ 106.
Wie diese Bemerkung gemeint sein konnte, zeigt in noch stärkerem
Maße sein aus der Arndt-Monographie erwachsenes zweites Buch, die 1942
101 Vgl. Kommerell, Der Dichter als Führer (wie Anm. 54), 427f.: Der „korsische Dä-
mon“, der „durch unser klassisches Zeitalter“ geschritten sei, habe es zu einem „erst in
der Überwirklichkeit des heroischen Raumes“ geborenen „Heros“ nur durch das Wirken
der Dichter gebracht: „Trotz Goethes erschöpfenden Worten über den Ordner und Herr-
scher, über Seinen Kaiser: der Heros Bonaparte wäre als bestaunt-gefürchteter Meteor
bildlos verloschen ohne den einzigen, ihm so fremden Deuter, Hölderlin“.
102 Zur Entstehung der „Arndt“-Studie siehe vor allem die Darstellung des Autors: Fahr-
ner, Erinnerungen 1903–1945 (wie Anm. 88), 182ff. mit Betonung der Tatsache, daß der
Schriftsteller Arndt von Stefan George besonders geschätzt worden sei (ebd. 183); hierzu
neuerdings auch Gundolfs Mitteilung in einem Brief an Wolters vom 13.6.1917, in:
Christophe Fricker (Hrsg.), Friedrich Gundolf – Friedrich Wolters. Ein Briefwechsel aus
dem Kreis um Stefan George. Köln/Weimar/Wien 2009, 163f. – Siehe zu Fahrners Arndt-
Monographie ebenfalls Riedel, Geheimes Deutschland (wie Anm. 14), 203ff.
103 Vgl. Fahrner, Arndt (wie Anm. 94), bes. 141ff., 151ff. u. a.
104 Vgl. die bezeichnenden Äußerungen ebd. 67: „Die Männer der Erhebung kamen …
zwischen diesen Gegnern [gemeint sind die Vertreter der alten Mächte auf dem Wiener
Kongreß; H.-C. K.] in die seltsamste und verhängnisvollste Lage. Gegen Napoleon, dem
sie mit ihren stärksten Regungen zugeordnet waren, mußten sie um des künftigen Be-
standes von Deutschland willen den äußersten Kampf betreiben“; und ebd. 155, spricht
Fahrner wiederum von „Arndts tiefe[r] Gebundenheit an Napoleon“ und von der „Gewalt
dieser feindlichen Jüngerschaft“ usw.
105 Ebd. 77.
106 Ebd. 75.
107 Zur Entstehung vgl. die Bemerkungen bei Fahrner, Erinnerungen 1903–1945 (wie
Anm. 88), 196f.; vgl. bereits die ausführlichen Abschnitte zu Gneisenau in: Fahrner,
Arndt (wie Anm. 94), 17–23, 211–228 u. a.
108 Fahrner, Gneisenau (wie Anm. 95), 14ff. u. passim.
109 So auch die spätere, m. E. überzeugende Selbstdeutung durch Fahrner, Erinnerungen
1903–1945 (wie Anm. 88), 196: „… meine ‚Gneisenau‘-Arbeit nahm immer mehr einen
Charakter an, der das Bild der geschichtlichen Gestalt mit dem des erhofften Befreiers
ineinanderwachsen liess“; vgl. auch die ebenfalls auf Claus von Stauffenberg bezogene
Äußerung ebd. 254: „Er hatte die Wirkung, dass sich durch ihn bedeutende und aus inne-
rer Tiefe lebende Menschen zeigten und sich um ihn sammelten, so dass man die vielver-
dunkelte Substanz unseres Volkes erscheinen sah“.
110 So ausdrücklich Riedel, Geheimes Deutschland (wie Anm. 14), 211.
111 Vgl. Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 2), 465, der sogar
anmerkt: „Wenn Fahrner es auch nicht ausgesprochen hat, muß ihm die Parallele Arndt-
Gneisenau/Fahrner-Stauffenberg bewußt gewesen sein“ (ebd. 466).
112 Fahrner, Gneisenau (wie Anm. 95), 99.
hat, wie man heute ebenfalls weiß, in den Jahren 1943/44 den engsten Kreis
der Widerstandsbewegung „stets als Geheimes oder als Heimliches
Deutschland bezeichnet“ 113, und er nahm vielleicht gerade aus diesem
Grund eine Anregung auf, die ihm Fahrner in seiner Gneisenau-Schrift ver-
mittelt hatte. Der Autor berichtet darin (historisch wohl nicht in allen As-
pekten korrekt 114) über ein Vorhaben Gneisenaus und seiner Freunde im
Jahr 1812, als sie durch die Unterwerfung König Friedrich Wilhelms III.
unter Napoleon die Ehre Preußens gefährdet sahen: „Die um sich greifende
knechtische Gesinnung und ihre Geschichtsfälschungen scheuend legten
sie in einem geheimen Bekenntnis gemeinsam ihre Gesinnung nieder,
damit künftige Zeiten erführen, auch wenn sie selbst zugrunde gehen soll-
ten, dass damals Männer gelebt, die die ganze Schmach gesehen und emp-
funden hätten.“ 115
Zu Ende Juni 1944, als das Attentat auf Hitler unmittelbar bevorzu-
stehen schien, wurde der damals noch in Athen lebende und unter immer
schwierigeren Bedingungen arbeitende Fahrner von Stauffenberg unter
einem Vorwand nach Deutschland gerufen. 116 Der Gelehrte, der zu den
überaus wenigen Überlebenden aus dem innersten Zirkel des Widerstandes
gehörte, hat später in seinen Erinnerungen an diese Zeit darüber berichtet:
Es ging nicht nur darum, in strengster Geheimhaltung die ersten Aufrufe
des Widerstands an die deutsche Bevölkerung im Falle eines gelungenen
Attentats auf den Diktator sprachlich und inhaltlich neu zu redigieren, son-
dern es sollte ebenfalls – offensichtlich nach dem Vorbild Gneisenaus in
Fahrners Schilderung – „ein Eid … entworfen werden, der auch bei allen
Trennungen und Gefährdungen, die nach der zu erwartenden Niederlage
und Besetzung Deutschlands drohten, doch diejenigen verbinde, die eine
deutsche Zukunft mittragen könnten.“ 117
So entstand noch wenige Tage vor dem Attentat des 20. Juli jenes merk-
würdige Dokument, das als der „Schwur“ oder der „Eid“ des engeren
Stauffenberg-Kreises in die Geschichte eingegangen ist. Überlebt hat der
Text dieses Eides tatsächlich nur in einem einzigen, von Claus von Stauf-
schnitt aus einem früheren Manuskript Fahrners in: Zeller, Geist der Freiheit, 6. Aufl.
(wie Anm. 1), 363–366.
117 Fahrner, Erinnerungen 1903–1945 (wie Anm. 88), 253.
118 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 2), 396f.; vollständiger
Abdruck ebenfalls bei Zeller, Oberst Claus Graf Stauffenberg (wie Anm. 1), 237.
119 Vgl. zur Genese und Bedeutung des Eides auch den Exkurs bei Hoffmann, Claus
75; vgl. ebenfalls die Bemerkungen bei Kolk, Literarische Gruppenbildung (wie
Anm. 14), 533.
121 Im „Vorspiel“ zu: George, Der Teppich des Lebens (wie Anm. 31), 9–35, hier 12.
122 Wolters, Herrschaft und Dienst (wie Anm. 33), 57.
VI.
Hiermit schließt sich in gewisser Weise der Kreis, denn man wird, zu-
mindest in einem vordergründigen Sinne, nicht sagen dürfen, das Geheime
Deutschland habe den Zweiten Weltkrieg überlebt; jedenfalls haben die
123 Vgl. Kantorowicz, Das Geheime Deutschland (wie Anm. 67), 81, 92.
124 In der im Original verschollenen, später rekonstruierten „Regierungserklärung“ der
Verschwörergruppe des 20. Juli 1944, abgedruckt in: Peter Steinbach/Johannes Tuchel
(Hrsg.), Widerstand in Deutschland 1933–1945. München 1994, 332–344, heißt es sogar:
„Erste Aufgabe ist die Wiederherstellung der vollkommenen Majestät des Rechts“; ebd.
333. (Ob es sich dabei um den Aufruf handelt, an dessen Formulierung bzw. Redigierung
Rudolf Fahrner nach eigener Aussage beteiligt war, ist nicht bekannt). Vgl. hierzu auch
Graf Vitzthum, Kein Stauffenberg ohne Stefan George (wie Anm. 83), 1119.
125 George, Das Neue Reich (wie Anm. 46), 39.
von Stauffenberg und Fahrner im Geist ihres Meisters Stefan George for-
mulierten Maximen, die sich im „Schwur“ der Verschwörer des 20. Juli
finden, – einmal abgesehen von der Forderung nach Wiederherstellung von
Recht und Gerechtigkeit – tatsächlich keinen feststellbaren Einfluß auf die
Politik und das Denken der Deutschen in der Nachkriegszeit gewinnen
können. Natürlich war jener „Schwur“, wie treffend gesagt worden ist,
„kein Entwurf für praktische Politik, sondern die Niederschrift eines Ideals
im ursprünglichen Sinn, eines inneren Bildes. Er zeigt auch die Schatten-
seite des Nichtwissens, wie die künftige Gesellschaft funktionieren soll-
te.“ 126
Immerhin hat die Idee des Geheimen Deutschland, geboren im Umkreis
eines alle Politik verachtenden, sich als „Seher“ in der Tradition Hölderlins
und Nietzsches verstehenden charismatischen Dichters eine ungemein
bemerkenswerte Wandlung aufzuweisen: Von der sich vor 1914 unpoli-
tisch, zeit- und kulturkritisch gebenden Vision des „schönen Lebens“ als
Fernziel einer geistig-seelischen Erneuerung Europas aus hellenisch-deut-
schem Geist über die nach dem Ersten Weltkrieg unverbrämt nationalis-
tisch grundierte Beschwörung eines neuen Aufbruchs der deutschen Nation
durch Rückbesinnung auf die Ewigkeitswerte einer großen Vergangenheit
bis hin zur politisch, rechtlich und moralisch fundierten Idee des – im Not-
fall auch gewaltsam agierenden – Widerstandes gegen eine bis dahin in der
Geschichte nie gekannte Tyrannei hat der Gedanke des Geheimen Deutsch-
land tatsächlich eine in jeder Weise bemerkenswerte, ja im Grunde außer-
ordentliche Entwicklung vollzogen.
Der gewaltige Schlußpunkt, den Claus von Stauffenberg dabei gesetzt
hat, war hierfür letztlich entscheidend. Es läßt sich sogar sagen: Wäre
Stauffenberg nicht gewesen, hätte er nicht gehandelt, dann sähe man heute
vermutlich in der Idee des Geheimen Deutschland die im besten Falle in-
teressante und originelle Phantasie eines etwas abseitigen Dichter- und
Gelehrtenzirkels in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seit dem 20. Juli
1944 aber kann man dies eben nicht mehr sagen: Obwohl es fehlgeschlagen
ist, bleibt Stauffenbergs Attentat gegen Hitler die einzige, die ent-
scheidende, ja die im Grunde wirklich symbolische Tat des Geheimen
Deutschland, mit der es für alle Zeiten bewiesen hat, daß es in einem zen-
tralen Augenblick der deutschen Geschichte das bessere Deutschland re-
präsentierte.
126 Hoffmann, Claus Schenk Graf von Stauffenberg (wie Anm. 2), 471.
Zusammenfassung
Herkunft und Bedeutung der Idee eines „Geheimen Deutschland“ sind bis
heute umstritten. Man kann ebenfalls nur vermuten, daß die berühmten
letzten Worte des Hitler-Attentäters Claus Graf Stauffenberg wohl nicht
dem „heiligen“, sondern vielmehr dem „geheimen“ Deutschland gegolten
haben. Immerhin lassen sich neuerdings, auch anhand mancher erst kürz-
lich publizierter Dokumente sowie bisher vernachlässigter älterer Quellen,
die Ursprünge und die weitere Entwicklung dieser Idee rekonstruieren, die
auf den Kreis um den Dichter Stefan George zurückgeht. Der Aufsatz
nimmt außerdem erstmals die Wandlungen der Idee des „Geheimen
Deutschland“ genauer in den Blick: von der vor 1914 erstmals formulierten
ästhetischen Utopie eines genuin außerpolitisch gedachten „schönen
Lebens“, über die nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs konzipierte ge-
schichtlich-politische Vision eines angekündigten Wiederaufstiegs der
deutschen Nation im Zeichen seiner Kaiser und Helden, seiner Dichter und
Propheten, die vor allem mit dem Namen von Ernst Kantorowicz verbun-
den ist, bis hin zur vom George-Jünger Stauffenberg wesentlich mitgepräg-
ten, stark moralisch-rechtlich grundierten Widerstandsidee im Kampf ge-
gen den Nationalsozialismus.
127 Aus Georges Brief an Ernst Morwitz vom 10. Mai 1933, hier zit. nach dem Abdruck
in: Karlauf, Stefan George (wie Anm. 5), 622.
128 George, Das Neue Reich (wie Anm. 46), 65.