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Ausland

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CHARLES PLATIAU / REUTERS


ORBAN THIERRY / ABACA

Präsident Sarkozy, Proteste in Paris vergangene Woche: Volksaufstand gegen eine abgehalfterte Regierung

I. Ja, es wird in Frankreich derzeit gegen eine fehlerhafte, un-


gerechte, schlecht gemachte Rentenreform protestiert, und es

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uf Abenteuerfahrt über Ozeane und durch ferne Länder geht dabei keineswegs nur um die lächerlich kleinen Verände-
wundert sich Obelix, der treue Freund des Asterix, häu- rungen, wie sie gerade überall kolportiert werden. Gleichzeitig
fig über lokale Sitten und Gebräuche. Der dicke Gallier aber bietet der Widerstand gegen dieses konkrete Reformpro-
in der blau-weiß gestreiften Hose macht dann sein überraschtes jekt einer sehr breiten, nur lose verknüpften Protestbewegung
Gesicht, tippt sich an den rothaarigen Kopf und murmelt, wahl- den willkommenen Anlass, eine länger schon angestaute Wut
weise: „Die spinnen, die Briten“ oder „Die spinnen, die Römer“ auf die Verhältnisse im Großen und Ganzen endlich loszuwer-
oder wen immer er gerade vor sich haben mag. Dieser Tage, den. Zu bezeugen ist in Frankreich in diesen Tagen ein veri-
in denen links des Rheins das Volk wieder auf die Barrikaden tabler Volksaufstand gegen eine von Skandalen geschüttelte,
geht, gegen eine offenkundig notwendige Rentenreform, wie nach halber Amtszeit abgehalfterte Regierung. Und der eigent-
es scheint, stellt sich die Frage anders: Spinnen vielleicht die liche Adressat des Unmuts ist Nicolas Sarkozy, der unbelieb-
Gallier? Sind die Franzosen verrückt geworden? teste französische Präsident der letzten 30 Jahre.
In Marseille streikte vorige Woche die Müllabfuhr, durch Nan-
terre zogen johlend die Schüler. Busse und Bahnen blieben in II.
ihren Depots in Calais und Dijon, in Toulouse und Nizza, wo

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der öffentliche Nahverkehr ganze Tage lang fast zum Erliegen ie Parade der kleinen und großen Fehltritte und Affären
kam. In Rennes und Caen, in Montpellier und Grenoble, in ins- des zurückliegenden Sommers gibt eine Idee davon, wo-
gesamt 24 Universitätsstädten verließen Studenten ihre Hörsäle her die große Wut im Lande rühren könnte und wie
und machten fröhlich Straßen und Innenstädte unsicher. In Poi- sich Politikverdrossenheit auf Französisch heute buchstabiert:
tiers gab es keine Post, in Paris keine Zeitungen. Weil Raffinerien Während der Fußball-WM in Südafrika kritisierte etwa die schö-
und Treibstoffdepots blockiert waren, ging an mehr als 3000 ne, vorlaute Sport-Staatssekretärin Rama Yade den Fußballver-
Tankstellen im Land der Sprit aus. Der Betrieb der Flughäfen band für die allzu luxuriöse Unterkunft der Nationalmannschaft,
in Paris und andernorts war nachhaltig gestört, es fielen reihen- ehe öffentlich wurde, dass sie selbst für ihren Besuch am Kap
weise Fernzüge aus im ganzen Land, Lastwagenfahrer provo- eines der teuersten Luxushotels gebucht hatte. Bald darauf wur-
zierten Staus auf Autobahnen – und die dazugehörigen Bilder, de ruchbar, dass Christian Blanc, ein für den Großraum Paris
auch solche von kleinen Bränden, gingen um die Welt. zuständiger Staatssekretär, binnen zehn Monaten 12 000 Euro
Wer die Ereignisse nur flüchtig verfolgt, wer sich auf die seines Budgets für kubanische Zigarren ausgegeben hatte, und
hektischen Kurzmeldungen verlässt, muss zu dem Schluss kom- Blanc verstand noch nicht einmal, warum es darüber einen öf-
men, dass die Franzosen in diesen Tagen wider alle Vernunft fentlichen Aufschrei gab. Andere Regierungsmitglieder, darunter
dafür kämpfen, weiterhin mit 60 in Rente zu gehen – und nicht Industrieminister Christian Estrosi, überließen die ihnen vom
erst mit 62, wie es die Regierung durchsetzen will. Wäre dies Staat bezahlten „Funktionswohnungen“ in Paris ihren studie-
die Wahrheit, müsste man die Franzosen tatsächlich für ver- renden Töchtern und diversen Familienmitgliedern. Schuldge-
rückt halten, und Frankreich wäre als ernstzunehmender Part- fühle? Keine. Entschuldigungen? Aber wofür denn.
ner in Europa bis auf weiteres abzuschreiben. Aber die Wahr- Dass Arbeitsminister Eric Woerth, zuständig für die aktuell
heit sieht, zum Glück, ein wenig anders aus. umkämpfte Rentenreform, überhaupt noch auf seinem Posten
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und nicht längst in Untersuchungshaft sitzt, grenzt an ein Wun- sowieso kein Staat zu machen. Wir ziehen das allein unsere
der. Woerth konnte, zu Zeiten, als er noch Haushaltsminister Pläne durch nichts und niemanden verwässern. Und dahinter
war, keinen Interessenkonflikt darin erkennen, dass seine Frau stand gewiss auch die Hoffnung, die Linke möge sich neuerlich
in der Vermögensverwaltung der steinreichen L’Oréal-Erbin radikalisieren, um dann in kommenden Wahlkämpfen schlech-
Liliane Bettencourt arbeitete, und bis heute konnte er noch ter auszusehen.
nicht einmal den Verdacht glaubhaft entkräften, seine Frau ge- Das Ergebnis ist nun einseitig, schief und krumm. Die Ar-
zielt auf diesen Posten bugsiert zu haben. Dass sich Woerth in beitnehmer – und besonders die Beamten – tragen praktisch
seiner Funktion als Schatzmeister der Regierungspartei UMP alle Lasten der Reform, die Arbeitgeber kommen weitgehend
illegale Parteispenden bei ebenjener Madame Bettencourt ab- ungeschoren davon. Arbeiter mit extrem langen Beitragszeiten
geholt haben könnte, in bar und im Umschlag, steht als Vorwurf werden dafür noch bestraft, Frauen werden benachteiligt, Här-
weiterhin im Raum, Woerth bestreitet alles. tefälle nicht vernünftig berücksichtigt. Es ist, kurz gesagt, eine
Das Schlimme ist: In solchen Angelegenheiten besteht im unsoziale Reform. Die Art und Weise, wie sie (nicht) verhandelt
heutigen Frankreich wenig Hoffnung auf Klärung oder gar Be- wurde, ist in politischer Hinsicht vielleicht der größte Skandal
strafung. In der Ära Sarkozy überlegen sich Richter und Staats- und der Aufruhr dieser Tage eine logische Konsequenz.
anwälte mittlerweile ganz genau, welche Verfahren sie an sich Es war François Mitterrand, der einst zu Protokoll gab, dass
ziehen, und auch das Parlament ist eine stumpfe Waffe gewor- die Ausübung des Präsidentenamts in Frankreich einem „per-
den. Es gilt, unter Sarkozy, allerorten einen Verfall der einst manenten Staatsstreich“ gleichkomme. Sarkozy nimmt seinen
so stolzen Republik und ihrer Werte anzuzeigen. Undenkbar Vorgänger beim Wort. Beharrlich erweitert er seine Macht.
in den Jahren vor dem Omnipräsidenten, dass ein französischer Die Riege der Minister ist lange schon nur noch ein Zuliefer-
Staatschef eine Brandrede auf die nationale „Unsicherheit“ ge- betrieb des Elysée-Palasts, Sarkozys Mehrheitsfraktion im Par-
halten hätte, wie es Sarkozy im Sommer tat. Undenkbar auch, lament ist zu einem Club der präsidialen Jasager verkommen.
dass eine Vorgängerregierung eine vergleichbare Vertreibungs- Mediapart-Chef Edwy Plenel nennt Sarkozy mittlerweile nur
politik wie die Sarkozys gegen die Roma ins Werk gesetzt noch einen „cäsaristischen Hyperpräsidenten“, der seinen Wil-
hätte. len durchsetzt, „um jeden Preis, so schnell wie möglich, und
Die Mängelliste der Regierung Sarkozy ist lang. Ihre politi- sei es mit Gewalt“.
schen Folgen werden mit jeder neuen Meinungsumfrage greif-
barer. In einer seriösen neuen Erhebung der vergangenen Wo- IV.
che bescheinigten ihm nur noch 6 Prozent der Befragten, dass

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er seine Sache „sehr gut“ mache; 69 Prozent der Franzosen ie aktuelle Streik- und Protestbewegung hat am 7. Sep-
hielten Sarkozy dagegen für einen „schlechten“ oder „sehr tember begonnen, seither waren Millionen auf den Stra-
schlechten“ Präsidenten. Zweidrittelmehrheiten finden sich ßen, an sechs, sieben nationalen Aktionstagen, und
auch zusammen, wenn es darum geht, die Streiks und Protest- längst nicht alle Demonstranten wurden dirigiert von Gewerk-
aktionen gegen die Rentenreform gutzuheißen. Aber sogar schaften, Oppositionsparteien und sonstigen Verbänden. Es
daran ist dieser Präsident am Ende selbst schuld. ziehen jetzt Menschen mit, die man vorher bei Demonstratio-
nen nicht gesehen hat, frisch Politisierte, Unorganisierte, die
III. sich vor dem Umbau der französischen Demokratie in die fal-
sche Richtung fürchten und vor dem vermeintlich gesunden

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s hat sich auch in Frankreich herumgesprochen, dass die Menschenverstand, auf den sich die französische Regierung
solidarischen Rentensysteme nur funktionsfähig bleiben heute lieber beruft als auf die Verfassung.
können, wenn sie demografischen und finanziellen Not- Zur großen Mehrheit dieser friedlichen Opposition gesellen
wendigkeiten angepasst werden. Die aktuelle Lage ist, grob sich nun regelmäßig die Abgesandten einer desorientierten
gesprochen, in etwa vergleichbar mit jener in Deutschland Vorstadtjugend, die vom Innenminister Sarkozy einst als Ab-
vor den Umbauten der vergangenen Jahre. Das gesetzliche schaum betitelt wurde und vom Präsidenten nun als solche
Rentenalter liegt bei 65 Jahren (und soll nun auf 67 steigen), behandelt wird. Alles, was er ihr versprach, einen „Marshall-
die Beitragszeit bei 40,5 Jahren (sie soll auf 41,5 steigen). Dass Plan für die Vorstädte“, man stelle sich vor, hat sich in Luft
in der Berichterstattung ständig die Zahlen 60 und 62 auf- und Lügen aufgelöst. Nun sucht sie, es ist nicht weiter überra-
tauchen, resultiert aus verwirrenden Begrifflichkeiten, kultu- schend, den Tumult der Straße, um Autos in Brand zu stecken,
rellen Unterschieden und auch aus dem Versuch, die Positio- Läden zu plündern, Scheiben einzuschlagen. Und es wäre nicht
nen der Gewerkschaften und der Sozialisten ins Lächerliche überraschend, wenn sich in nächster Zeit Szenen wiederholten,
zu ziehen. wie sie sich im Ausnahmezustand von 2005 schon einmal ab-
Tatsächlich markieren die 60 Jahre nur das frühestmögliche spielten.
Renteneintrittsalter für Arbeitnehmer, die bis dahin schon 40 Die ungemütliche Wahrheit in Frankreich ist heutzutage die,
Jahre und länger in die Versicherung eingezahlt haben. Wer in dass man eigentlich dauernd auf neue Eruptionen wartet; und
Frankreich mit 60 in Rente geht, ohne die volle Beitragszeit dass Sarkozy nie, wirklich nie ein versöhnliches Wort findet,
hinter sich zu haben, muss hohe Abschläge hinnehmen. Das dass er nie auch nur den Versuch macht, die Lage zu beruhigen,
Problem ist nur: Sarkozy hatte offenkundig nie Interesse daran, sondern sich immer aufschwingt, sie noch weiter anzustacheln.
eine gesellschaftlich akzeptierte, gewerkschaftlich abgesegnete Anschließend wird jeder Anflug von Gewalt genutzt, um das
Reform ins Werk zu setzen, diskutiert wurde die praktisch oppositionelle Volk zu beschimpfen.
nicht. Im Grunde wurde das Ergebnis schon vor dem Beginn Innenminister Brice Hortefeux, der seit Beginn der Roma-
jedweder Debatte verkündet, das Zukunftswerk am 13. Juli – Verfolgung wirkt, als durchlebe er die schönsten Wochen seines
mitten in den großen Sommerferien – auf einer Kabinetts- Lebens, kommentierte Ausschreitungen in Lyon vergangene
sitzung beschlossen und in seinen Kernpunkten als nicht mehr Woche mit den Worten: „Frankreich gehört nicht den Randa-
verhandelbar hingestellt. lierern, Plünderern und Steinewerfern“, wobei offenblieb, ob
Anders gesagt: Die Regierung – und Sarkozy allein ist letzt- damit nicht eigentlich auch die friedlichen Demonstranten ge-
lich Frankreichs Regierung in diesen Monaten – hat die Mög- meint sein könnten. Und Premierminister François Fillon sagte
lichkeit einer tragfähigen, allgemein akzeptierten Lösung nie über die fortgesetzten Streiks: „Niemand hat das Recht, ein
gesucht. Sie hat die Rentenreform vielmehr als Kampfansage Land in Geiselhaft zu nehmen.“ Das mag so sein. Die Frage
an Gewerkschaften, Sozialisten und sonstige Oppositionelle lautet nur, im Frankreich dieser Tage, wer eigentlich gerade
benutzt. Die Botschaft sollte von Beginn an sein: Mit euch ist die Geisel ist; und wer der Geiselnehmer. �
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