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Norbert Wokart

Anthropofugales Denken und Negative Anthropologie

Seit der Mensch über sich und den Sinn seiner Existenz nachdachte, hat er sich
nicht nur als groß und aller Bewunderung wert empfunden, sondern war sich
auch stets der Mängel seiner Existenz und seiner vielfachen Unzulänglichkeiten
bewußt. Diese skeptischen Einsichten widerfuhren ihm trotz unterschiedlich­
ster kultureller Bedingungen, und so entspricht dem jüdischen Verdacht, daß
alles eitel und ein Haschen nach Wind sei, die Vorstellung der Griechen, es sei für
den Menschen das Beste, gar nicht erst geboren zu werden, das Zweitbeste aber
sei, möglichst früh wieder zu sterben.
Dieser Gedanke von der Nichtigkeit des menschlichen Lebens ist also alt und
gehört zum selbstverständlichen Repertoire aller anthropologischen Überle­
gungen. Jüngeren Datums ist aber die Steigerung dieser pessimistischen Ein­
schätzung, daß nicht nur die Existenz des einzelnen Menschen, sondern sein
Dasein als Gattungswesen nichtig sei. Eine der Ursachen dieser Idee ist die
Erkenntnis der neuzeitlichen Naturwissenschaft, daß die Erde nicht das Zen­
trum der Welt sei und daß unser Weltsystem unweigerlich seinem Ende
zustrebe, wodurch auch der Mensch, gleichsam als Nebeneffekt, mit zugrun­
degehen werde. Für den großen Naturforscher Newton war diese Vorstellung
noch so erschreckend, daß er annahm, Gott müsse unser Weltsystem, wenn es
denn zu seinem Ende gekommen sein werde, unverzüglich wieder herstellen.
Dagegen argumentierte Immanuel Kant in großartiger Nüchternheit: »Wenn es
ein nothwendiger Ausgang der Natur ist, wie Newton vermeint, daß ein Welt­
system, wie dasjenige von unserer Sonne, endlich zum völligen Stillstand und
allgemeinen Ruhe gelange, so würde ich nicht mit ihm hinzusetzen: daß es
nöthig sei, daß Gott es durch ein Wunder wieder herstelle.«1
Dieses Ereignis schien ihm noch nicht einmal »ein bedauernswürdiger Verlust«
zu sein, wobei er allerdings immer noch voraussetzte, daß die Natur durch ihre

1 I. Kant, Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes, Werke.
Berlin 1968. Bd. II, S. 110 (Anm.)
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»große Fruchtbarkeit diesen Abgang des Universums anderwärts reichlich zu


ersetzen« wüßte. In neuester Zeit hat man auch diesen letzten Anflug von
Optimismus, der sich vielleicht doch nur auf Kleinmut gründet, durch die
Überzeugung eliminiert, daß alle Werte, die unser Leben normieren, daß jeder
Sinn, den wir dem Leben geben, und alle Zwecke, die wir uns setzen, ja selbst die
Wahrheit nichts als Fiktionen seien, so daß das Leben nicht nur nichtig, sondern
sinnlos sei. Dieser Weg von der Einsicht in die Nichtigkeit menschlicher Exi­
stenz zur Vorstellung ihrer Sinnlosigkeit ist die geschichtliche Entwicklung des
Pessimismus zum Nihilismus. Angesichts dieser Sinnlosigkeit kann man die
heroische, aber auch ein wenig lächerliche Haltung einnehmen, die Albert Ca­
mus mit der Figur des Sisyphos illustrierte. Doch diese Haltung setzt dieselbe
Sicherheit in der Annahme der Sinnlosigkeit des Lebens voraus, die den Haupt­
mangel bei der Behauptung seiner Sinnhaftigkeit ausmacht. Üblicher ist ohne­
hin der andere Weg, seine Angst vor der Sinnlosigkeit zu betäuben, indem man
sich in immer neue Ablenkungen flüchtet, etwa in die Arbeit oder den Konsum
oder in wechselnde Vergnügungen. Nietzsche nannte diese Haltung den »pas­
siven« Nihilismus, bei dem alles, »was erquickt, heilt beruhigt, betäubt, in den
Vordergrund tritt«2.
Doch Menschen mit feineren Instinkten, die sich selber nicht betrügen wollen,
ist dieser Ausweg versperrt, ihnen bleibt nur die Verzweiflung. Und so schrieb
schon Heinrich von Kleist - zutiefst verstört durch Kants Philosophie, die alles
auflöste, was bisher als sicher galt -, der Gedanke, daß wir von der Wahrheit gar
nichts wissen, daß wir also nichts Sicheres haben, was uns ins Grab folgen
konnte, »dieser Gedanke hat mich in dem Heiligtum meiner Seele erschüttert«.
Durch diese Erschütterung kann der passive Nihilismus schließlich zum aktiven
werden oder zum »Nihilismus der That«, wie ihn Nietzsche auch nennt3; denn
dieser begnügt sich nicht mit der Vorstellung, daß alles umsonst und wert sei,
zugrunde zu gehen, sondern er hilft aktiv bei der Vernichtung mit und richtet
sogar sich selbst zugrunde, weshalb Nietzsche zukunftsträchtig schreibt: »Der
Ver-Nichtung durch das Urtheil sekundiert die Ver-Nichtung durch die Hand«
(6°).

Dieser Gedanke, daß das Leben nicht nur zugrundegehen werde, sondern be­
wußt vernichtet werden müsse, ist mitsamt der ihm korrespondierenden Tat des
Selbstmordes als individueller Problemlösung zwar schon immer bekannt ge­
wesen, wurde aber erst in unserer Zeit auf die Spitze getrieben, indem er erstens
auf die ganze Menschheit ausgedehnt und zur Idee des globalen Holozids, der

2 Fr. Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1885-1887. Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli


und M. Monünari, Bd. 12, München 1988, S. 351
3 Nachgelassene Fragmente 1887-1889, a.a.O., Bd. 13, S. 221
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bewußten und gewollten Selbstzerstörung der Menschheit, erweitert wurde,


und indem er zweitens aller affektiven Implikate, die gewöhnlich mit einem
Selbstmord verbunden sind, entkleidet wurde und sich nun als kühle Einsicht in
die Fakten darbietet. Ein Denken, das diesen Holozid ganz nüchtern betrachtet
und propagiert, nennt man mit einem schlecht gebildeten Kunstwort »anthro-
pofugales«, also »menschenflüchtiges« Denken.
Die anthropofugalen Theorien sind durchaus neu und haben noch keine Tra­
dition und Vorläufer nur, wenn man die Bezeichnung »anthropofugal« sehr
großzügig und uneigentlich versteht. Einer der Pioniere, auf die sich die heu­
tigen anthropofugalen Propagandisten berufen, soll Paul Dietrich Baron von
Holbach mit seinem 1770 erschienenen Werk System der Natur4 sein, wiewohl
in diesem Buch wenig mehr zu lesen ist, als daß der Mensch nicht die Endursache
der Schöpfung und diese nicht für ihn gemacht sei. Solche Thesen, vor allem aber
ihre praktischen Konsequenzen, erregten zu ihrer Zeit Anstoß, klingen heute
aber nicht mehr revolutionär. Fündiger wird man da schon bei Arthur Scho­
penhauer, der deshalb auch als der eigentliche Kronzeuge anthropofugalen
Denkens gilt, führte ihn doch die Einsicht in die Negativität des Lebens zu
dessen radikaler Ablehnung. Betrachte man nämlich die unendlichen Leiden der
Kreatur in der Welt, dann müsse man zu der Überzeugung gelangen, daß das
Dasein nur eine Verirrung und seine Negation Erlösung sei, weshalb als Zweck
unseres Daseines nichts anderes angegeben werden könne als die Erkenntnis,
»daß wir besser nicht da wären. Dies aber ist die wichtigste aller Wahrheiten«5.
Diese Vorstellung, daß es besser wäre, nicht zu sein, impliziert bei Schopenhauer
aber noch nicht die Idee, daß sich deswegen die Menschheit aktiv und bewußt
selbst zu vernichten habe.
Diesem Gedanken hat sicher erst der heute weitgehend unbekannte Philipp
Batz, der unter dem Pseudonym Philipp Mainländer eine Philosophie der Er­
lösung schrieb, angenähert. Mainländer geht von der theologischen Prämisse
aus, daß allein Gott Garant der Erlösung sei, doch diese bekannte Vorstellung
interpretiert er auf eine überraschende, wenn auch nicht sehr stichhaltige Weise,
indem er moniert, daß die Theologen Gott zwar immer die Allmächtigkeit
zugesprochen, dabei aber nie an die Möglichkeit gedacht hätten, »daß Gott auch
wollen könne, selbst zu Nichts zu werden«6. Dieser Entschluß Gottes sei frei­
lich weder zu erklären noch zu begreifen, wohl aber aus seinen Folgen zu
schließen; denn Gott habe sich nicht einfach selbst vernichten können, weil er,

4 P.H.D. Baron von Holbach, System der Natur, Frankfurt/M. 1978


5 A. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 2, Sämtliche Werke, Bd. 3, Wiesbaden
1966, S. 695
6 Ph. Mainländer, Die Philosophie der Erlösung, Bd. 1, Frankfurt/M. 1894, S. 323
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nach Mailänders sophistischer Argumentation, zwar allmächtig, nicht aber


allmächtig seiner eigenen Macht gegenüber sei, weshalb er zu seiner Vernichtung
einen Umweg wählen mußte: »Gott erkannte, daß er nur durch das Werden einer
realen Welt der Vielheit, nur über das immanente Gebiet, die Welt, aus dem
Übersein in das Nichtsein treten könne« (325). Deshalb habe er sich in eine Welt
zerteilt, »deren Einzelwesen alle das Streben nach dem Nichtsein haben« (327),
und in diesem Streben kämpften und hinderten sie sich gegenseitig, schwächten
»auf diese Weise ihre Kraft« und beförderten so Gottes Wille zum Nichtsein.
Diesem Ziel der Schwächung und Auslöschung dienten nun alle Veranstaltun­
gen der Welt, insbesondere die Versuche des Menschen, die Welt wohnlicher
und gerechter zu machen; denn wenn alles Elend beseitigt, Gerechtigkeit her­
gestellt und der Mensch wirklich frei und glücklich sei, wenn also alles erreicht
sein werde, was der Mensch zur Entwicklung einer besseren Welt beitragen
könne, dann bleibe als einzig möglicher Fortschritt nur noch »die Bewegung
nach der völligen Vernichtung» die Bewegung aus dem Sein in das Nichtsein«
(215) übrig. Und diesen letzten Schritt werde die Menschheit dann »in unwi­
derstehlicher Sehnsucht nach der Rühe des absoluten Todes« vollbringen.
Geradezu hymnisch schreibt Mainländer etwas spater: »Jetzt erfüllt das Herz
nur noch die eine Sehnsucht: ausgestrichen zu sein für immer aus dem großen
Buche des Lebens. Und der Wille erreicht sein Ziel: den absoluten Tod« (311). So
hätte Gott über den Umweg von Welt und Menschheit seine Absicht endlich
erreicht, nicht mehr zu sein. Wenn aber der Sinn der Schöpfung allein darin
liegen soll, Gott als Mittel zu dienen, sich selbst vernichten zu können, dann
scheint es nur recht und vernünftig zu sein, wenn ihn die Schöpfung daran nicht
hindert, sondern nach Kräften unterstützt.
Zur Zeit Mailänders gab es freilich noch keine Möglichkeit, dieses Ziel der
menschlichen Selbstvernichtung wirksam und gleichsam mit einem einzigen
großen Schlag zu erreichen, weshalb er auf ein höchst unsicheres Verfahren
zurückgreifen mußte, das schon Schopenhauer empfohlen hatte, nämlich die
sexuelle Enthaltsamkeit. Es gäbe, stellt er fast bedauernd fest, »nur eine voll­
kommen sichere Verneinung des Willens zum Leben; es ist die durch Virgini-
tät« (219). Diese Empfehlung der sexuellen Enthaltsamkeit hat freilich nur
dann Sinn, wenn der Einsicht auch die Taten, und das heißt hier die Unterlas­
sungen, folgen. Welch geringer Effekt aber gerade in diesem Bereich zu erwar­
ten ist, ist auch Mainländer bekannt, und so wird das Ziel des absoluten Todes
durch den Drang zur Begattung immer wieder verhindert. Deshalb muß
Mainländer zu seinem Leidwesen feststellen: »im Taumel der Wollust wird die
Erlösung verscherzt« (220) - wodurch natürlich auch Gottes Absichten ein
Schnippchen geschlagen wird. Doch daß diese Möglichkeit, die Erlösung zu
verscherzen, Mainländers ursprünglicher Behauptung widerstreitet, alle Ver­
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anstaltungen der Welt dienten der Schwächung der Kraft, das hat er gar nicht
bemerkt.
Mainländers Überlegungen dienten der Absicht, »den leidenden Menschen leid­
los [zu] machen« (218). Doch durch diesen scheinbar menschenfreundlichen
Aspekt darf man sich nicht täuschen lassen, da dieses Programm unmittelbar in
Barbarei umschlägt, was sich etwa in der Schilderung des Endzustandes der Welt
zeigt, zu dem Mainländer schreibt: »Und dann senkt sich die stille Nacht des
absoluten Todes auf Alle. Wie sie Alle, im Moment des Übergangs, selig erbeben
werden: sie sind erlöst, erlöst für immer! «(315) Doch diese »Alle«, die hier selig
erbeben sollen, wurden gar nicht gefragt, ob sie erlöst und ob sie auf diese Weise
der vollständigen Vernichtung erlöst werden wollten, und so erweist sich auch
dieses Programm zur Erlösung wie so viele andere und gerade wegen dieses
Zieles der Erlösung als totalitär, terroristisch und im Prinzip inhuman. Bemer­
kenswert ist aber Mainländers prophetische Gabe, glaubte er doch, die Mensch­
heit sei dem. Ziel ihrer Auslöschung schon sehr nahe; denn auf die Frage, wann
diese eintreten werde, antwortete er, es scheine »ein Zeitraum von nur noch
wenigen Jahrhunderten der größte zu sein, den man annehmen darf« (312). Das
ist immerhin eine treffliche Prognose, hat es doch nur ein einziges Jahrhundert
gedauert, bis die Menschheit die Fähigkeit zu ihrer eigenen Vernichtung ge­
wonnen hatte, eine Fähigkeit, die schon heute zwischen atomarer oder ökolo­
gischer Vernichtung die Wahl läßt.
Angesichts eines solchen möglichen Kollektiv-Selbstmordes der ganzen
Menschheit überlegt man sich natürlich auch, wie er zu verhindern sei und wie
die Pläne dafür noch durchkreuzt werden könnten. Dazu gibt es verschiedene
praktische und theoretische Ansätze, wobei ein Denkmodell aus der Anthro­
pologie selber stammt, nämlich die sogenannte negative Anthropologie, die
dadurch, wenn auch nicht mit Absicht, das gleichsam retardierende Moment in
der Entwicklung des anthropofugalen Denkens darstellt. Über die Vorstellung,
daß die Geschichte im Grunde eine Kritik am Menschen und der Inhalt der
Anthropologie demgemäß die »Kritik ihres Gegenstands«7 sei, entwickelt Ul­
rich Sonnemann Ideen, die die bisherige Entwicklung und ihre zukünftigen
Möglichkeiten einsichtiger machen sollen. Der entscheidende Ansatzpunkt ist
dabei, daß der Mensch als etwas Unfertiges, als ein Wesen, das sich erst ent­
wickelt, verstanden wird, wärend die traditionelle Anthropologie grundsätzlich
von einer positiven und festen Bestimmung des Menschen ausging. Sie konnte
dadurch zwar immer angeben, worin das Wesen des Menschen bestehen sollte,
sah sich aber auch stets vor der Schwierigkeit, daß ihre zumeist höchst positiven

7 U. Sonnemann, Negative Anthropologie: Vorstudien zur Sabotage des Schidesais, Reinbeck 1969,
S. 227
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Bestimmungen des Menschen nicht mit der stets erschreckenden Realität über­
einstimmen wollten, so daß sie auch keine wirksamen Mittel gegen den schein­
bar schicksalhaften Gang der Geschichte entwickeln konnte. Die negative
Anthropologie setzt sich hingegen von vornherein, wie Sonnemann schreibt, die
»Erschließung des Humanen aus seiner Verleugnung und Abwesenheit« (249)
zum Ziel, weshalb Sonnemann seine Untersuchungen auch als »Vorstudien zur
Sabotage des Schicksals« versteht.
Früher noch und eindeutiger als Sonnemann hat Günther Anders die Unfer­
tigkeit des Menschen, seine Unbestimmtheit und Unfestgelegtheit, zum zen­
tralen Gedanken der negativen Anthropologie erhoben. Er hat aber auch die
tiefe und unaufhebbare Ambivalenz in dieser Struktur erkannt; denn gerade
dadurch, daß der Mensch auf keine Bestimmung festgelegt ist, kann er alles
mögliche werden und sein, und das impliziert eben auch die Fähigkeit, sich
selbst vernichten zu können. Ist diese Fähigkeit einmal gegeben, schwebt sie für
immer als_ Damoklesschwert über dem Menschen. Sie ist ein ausgezeichneter
Beleg für die These von Anders, daß der Mensch »das grundsätzlich nicht
gesund sein könnende und nicht gesund sein wollende«8 Wesen sei. Dieser
prinzipiellen Labilität der menschlichen Existenz wegen können durch die Ein­
sichten der negativen Anthropologie zwar Hilfsmittel für die menschliche
Selbsterkenntnis, aber doch keine Heilmittel gegen den drohenden Holozid
sein. Nichts macht das deutlicher als die Tatsache, daß heute, nach den Über­
legungen der negativen Anthropologie, einige Theoretiker den Holozid nicht
nur denken, sondern als einzig vernünftige Lösung propagieren und, im Rah­
men ihrer literarischen Möglichkeiten, ungeniert betreiben.
Der Hauptvertreter dieses heutigen anthropofugalen Denkens ist Ulrich Horst­
mann, dessen oberstes anthropologisches Dogma lautet: »der >Sinn< unserer
Existenz ist der Untergang«9. Aus dieser mit aller Gewißheit vorgetragenen
Behauptung schließt er ganz konsequent: »Der wahre Garten Eden - das ist die
Ode. Das Ziel der Geschichte - das ist das verwitternde Ruinenfeld. Der Sinn -
das ist der durch die Augenhöhlen unter das Schädeldach geblasene, rieselnde
Sand« (8). Diese Sätze belegen, daß sich das anthropofugale Denken noch ganz
im Rahmen traditioneller Anthropologie bewegt; denn es übernimmt deren
Vorstellungen, daß das Leben einen Sinn und ein Ziel habe und beide erkannt
werden können. Es unterscheidet sich von herkömmlichen Überlegungen nur

8 G. Anders, Die Antiquiertbeit des Menschen, Bd. 2, München 1980, S. 129. - Grundsätzlich zur
Problematik der ambivalenten Struktur des Menschen, zur Geschichte ihrer Erkenntnis und zu
den Mitteln ihrer Verdrängung N. Wokart, Antagonismus der Freiheit. Wider die Verharmlosung
eines Begriffs, Stuttgart 1992
9 U. Horstmann, Das Untier. Konturen einer Philosophie der Menschenflucht, Frankfurt/M. 1985,
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dadurch, daß dieses Ziel in der Auslöschung der Menschheit liegen solle, wobei
dieses Ereignis als unausweichlich und schicksalhaft hingestellt wird; denn nie­
mand könne es »auf Dauer verhindern«10 11, wie Horstmann zu wissen
glaubt.
Aus dieser Erkenntnis leitet der anthropofugale Denker zwei Folgerungen ab.
Erstens müßten die Menschen lernen, die Apokalypse, die sowieso nicht ab­
wendbar sei, »als sinnvolles Ende zu interpretieren« (25). Darüber hinaus
müßten sie aber zweitens einsehen, daß sie ihre Vernichtung auch noch in die
eigenen Hände nehmen und selbst befördern müßten; denn mit der Einsicht in
das unausweichliche Ende seiner Gattung sei der Mensch »autonom« geworden
und entledige sich nun seiner »in eigener Regie«11. Solche Thesen orientieren
sich, auch nach anthropofugalem Selbstverständnis, natürlich nicht mehr an
humanistischen Werten und Idealen, die anthropofugalen Denker sind vielmehr
stolz darauf, daß es ihnen erstmals gelungen sei, »der Gravitation des Huma­
nismus ... zu entkommen« (9).
Trotz dieser erschreckenden Aussichten und Ansichten behaupten die anthro­
pofugalen Denker, ihre Theorien hätten durchaus nichts Schreckliches an sich,
sondern spendeten im Gegenteil Trost; denn die Tatsache, wie Horstmann
schreibt, »daß keine Hoffnung mehr ist, vermag sie [die anthropofugale Ver­
nunft] hoffnungsfroh zu stimmen«12. In einer perversen Verkehrung von Mon-
taignes Satz, Philosophieren heiße sterben lernen, behauptet Horstmann, das
anthropofugale Denken lehre uns, »getröstet zu sterben« (29). Diese angebliche
»Trostfunktion« der anthropofugalen Philosophie wird mit vielen poetischen
Metaphern beschworen, etwa mit der Formel vom »segensreichen Fluch eines
unwiederbringlichen Verlusts« (11) oder mit der anderen von der »ewigen Se­
ligkeit des Versteinerten und der Steine« (21). Daß ein Verlust zwar ein Fluch
und doch segensreich sein und Versteinerung selig machen solle, ist freilich eine
Ansicht, die nur schwer zu vermitteln sein dürfte.
Die angestrebte globale Vernichtung der Menschheit enthält aber noch ein weit
schwerwiegenderes Problem, das schon Mainländer geflissentlich übersah und
zu dem sich erst bei Nietzsche einige Anmerkungen finden. Unter dem Stich­
wort »Wert« notierte Nietzsche nämlich: »eine nihilistische Werthschätzung
sagt: >ich bin wert, nicht zu sein«. Geht sie weiter und sagt: >dn bist werth, nicht
zu sein«.«13 Der Satz ist regelwidrig. Er schließt zwar mit einem Punkt, ist aber -
aus Gründen, die wir nicht mehr ermitteln können - grammatisch und sachlich

10 U. Horstmann, Ansichten vom Großen Umsonst, Gütersloh 1991, S. 24


11 Das Untiert S. 59
12 Ansichten vom Großen Umsonsty S. 29
13 Nachgelassene Fragmente 1887-1889, S. 234
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unvollendet; denn er läßt die Folgerung offen. Diesen Mangel beheben die
anthropofugalen Denker auf ihre Weise und schließen ganz ungeniert: Wir, und
das heißt, wir alle, sind nicht wert zu sein! Mit einer Selbstgewißheit, die der
Zustimmung der anderen sich schon überhoben weiß, schreibt Horstmann, wir
wüßten alle, »daß wir ein Ende machen müssen mit uns und unseresgleichen, so
bald und so gründlich wie möglich - ohne Pardon, ohne Skrupel und ohne
Überlebende«14. Die ganze Menschheit soll also in den Abgrund gerissen wer­
den, ohne sie zu fragen, ob sie das überhaupt wünsche. Diese undemokratische
und im Grunde faschistoide Anmaßung, für alle Lebenden und sogar für alle
noch nicht Geborenen zu sprechen und zu entscheiden, stellt die anthropofu­
galen Propagandisten in eine Ecke, in der man ansonsten andere Radikale
ortet.
Dem Befremdlichen seiner Theorie sucht der Autor dadurch vorzubeugen, daß
er Spuren anthropofugalen Denkens in der Vergangenheit, insbesondere bei den
früher schon erwähnten Philosophen, nachzuweisen versucht, wobei er deren
Theorien allerdings vielfach verbiegen und verfälschen muß, um sie als Gesin­
nungsgenossen überhaupt brauchbar zu machen. Wieweit daran auch eine
gewisse Unfähigkeit zur genauen philosophischen Arbeit beteiligt ist, läßt sich
nur schwer beurteilen. Horstmann behauptet beispielsweise, die Stoa habe mit
ihrer Lehre von der Ataraxie, von der emotionalen Unerschütterlichkeit des
Menschen, anthropofugale Konterbande transportiert; denn in dieser Lehre
schwinge etwas mit »von der großen Gleichgültigkeit anthropofugalen Den­
kens gegenüber den inflationären Glücksansprüchen« (17). In Wahrheit sollte
aber die seelische Unerschütterlichkeit gerade die Befriedigung von Glücksan­
sprüchen innerhalb einer Welt voller Ungemach und Unwägbarkeiten gewähr­
leisten. Doch so genau nehmen es anthropofugale Denker mit der historischen
und begrifflichen Wahrheit nicht. Selbst Schopenhauer, auf den sie sich unbe­
denklich berufen, mißbrauchen sie; denn der hätte keinem Holozid das Wort
geredet, lehnte er doch schon den individuellen Selbstmord ab, weil der Selbst­
mörder das Leben bejahe und nur mit seinen konkreten Bedingungen unzu­
frieden sei. Das wahre Wesen der Verneinung des Lebens liege ja nicht darin,
»daß man die Leiden, sondern daß man die Genüsse des Lebens verabscheuet«15.
Die anthropofugale Spurensuche in der Vergangenheit ist daher höchst frag­
würdig.
Die anthropofugalen Theoretiker betonen zwar immer wieder die Nüchternheit
ihres analytischen Blicks, was sie aber nicht daran hindert, einen üppigen,
manchmal schwülstigen Stil zu pflegen. Horstmann lobt zum Beispiel an Cioran

14 Das Untier, S. 7
15 Die Welt als Wille und Vorstellung, Bd. 1, S. 471
182 Philosophische Anthropologie der Moderne

ausdrücklich, daß er in seinem Buch Lehre vom Zerfall16 seine These vom
Paradies als der Abwesenheit des Menschen »wortgewaltig«17 beschworen habe.
Alle anthropofugalen Denker sind fasziniert von der verbalen Ästhetik des
Schreckens, und diese Faszination bedingt die vielen Metaphern und Bilder vom
Permafrost, von Schädeln, Steinen, Wüsteneien und Trümmerfeldern, vom Ver­
dorren, Versteinern und Veröden. Doch diese Sprache des Schreckens und des
Todes überhöht keine abstrakten Gedanken und verklärt keine philosophischen
Ideen; denn es geht hier gar nicht um Philosophie und ernsthafte Erkenntnis,
und diese Feststellung ist keine Verleumdung, sondern korrekt wiedergegebenes
anthropofugales Selbstverständnis. Horstmann erklärt seine metaphorische
Sprache selbst damit, daß, wo die Philosophie verstumme, nur noch eines rede:
»die Poesie« (30). Allerdings ist es eine Poesie, die mit ihrer ewigen Wiederho­
lung und Beschwörung von Öde und Wüstenei den Leser bald selber anzuöden
beginnt.
Doch die Sprache anthropofugaler Denker wird noch deutlicher. Es bleibt nicht
bei der Poesie, und so entsprechen schließlich Wortwahl und sprachliche Gestalt
den Inhalten. Wenn Horstmann etwa die Auslöschung der Menschheit als
»Endlösung«18 bezeichnet, dann ist das nicht nur törichtes Gerede, wie andere
Formulierungen zeigen, wenn Horstmann nämlich weiter schreibt, daß sich
schließlich sogar die Verstocktesten »wenn nicht mit anthropofugalem Froh­
locken, so doch ohne Gegenwehr und Bestürzung - jenem sanften Transport in
die Vernichtung überantworten, die aller Not eine Ende bereitet« (112). Diese
Sprache beweist keine geistige Unabhängigkeit und Unerschrockenheit gegen­
über gesellschaftlichen Tabus, sondern offenbart eine Menschenverachtung und
einen Zynismus, die wegen der gesuchten assoziativen Anklänge nur schwer
erträglich sind. Wieder sollen diejenigen vernichtet werden, die partout nicht,
wie es Horstmann formuliert, »von der Bildfläche verschwinden wollen«19,
obgleich sie doch nur, seiner Meinung nach, »Untiere« sind und die deshalb zu
Recht vernichtet würden, so daß die Parallelität von Untieren und ihrer End-
lÖsung durch den Transport in die Vernichtung des Holozid mit den Unmen­
schen und ihrer Endlösung durch den Transport in die Vernichtung nach
Auschwitz vollkommen ist. In dieser Theorie fehlt einzig das Element des
Rassismus, der aber durch einen zur Schau getragenen allgemeinen Abscheu vor
dem Menschen reichlich ersetzt wird.
Trotz seiner eindeutigen Theorien beklagt sich Horstmann darüber, daß man

16 E.M. Cioran, Lehre vom Zerfall, Stuttgart 1979


17 Ansichten vom Großen Umsonst, S. 21
18 Das Untier, S. 55
19 Ansichten vom Großen Umsonst, S. 31
Norbert Wokart 183

ihm das »Schimpfwort« von der »Lust am Untergang* (31) angehängt habe,
während er doch nur einem »Ersatzprodukt« fröne, nämlich der »Denklust am
Katastrophalen und Apokalyptischen« (33), weswegen seine Philosophie auch
nur eine Apologie dieser Denklust am Untergang sei. Horstmann ist also nach
eigenem Verständnis nur ein Denktäter, der sich, wie alle seiner Art, von vorn­
herein von möglichen Wirkungen seiner Theorien distanziert. Um seine Un­
schuld und Harmlosigkeit zu demonstrieren, verweist er auf eine Analogie;
denn die Philosophie verfertige doch auch nur »Gedankengemälde. Und wer
wollte einem Maler verbieten, die Apokalypse auf die Leinwand zu bringen?«
(42) Doch diese Analogie erschleicht sich ihren Sinn; denn die gemalte Apoka­
lypse soll den Menschen zur Besinnung und zur Umkehr bringen, während die
Denklust am Untergang mitsamt ihrer (denkerischen) Aufforderung dazu keine
Besinnung, sondern Tod und Vernichtung predigt
Es soll nicht verschwiegen werden, daß solche anthropofugalen Theorien nicht
allen problematisch zu sein scheinen, und daß manche nichts anderes in ihnen zu
sehen vermögen als brillant geschriebene, satirische »Unartigkeiten über mei­
nesgleichen« (77), wie Horstmann selbst verharmlost. Und so erhielt der Autor
schließlich sogar 1988 den Kleist-Preis. Preisgekrönt wurde damit eine Theorie,
deren zentrale Botschaft lautet: »Frisch auf denn in den Tod!«

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