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Hans Urs D ie k irch lich e L an d sch aft h a t sich in d en le tz te n J a h r ­


von Balthasar z e h n te n so s ta rk v e rä n d e rt, d aß m a n sich an g esich ts von
a lte n S ch lag w o rten - w ie zum B eispiel dem B egriffspaar
Integralismus In teg ralism u s - M odernism us - e rst e in m al g rü n d lich b e ­
heute sin n en m uß. Was h e iß t n ac h P a p s t J o h a n n e s ’ X X III. A uf­
ru f zum ag g io rn am en to (zur W a h rn eh m u n g d e r re a le n
Was h eiß t h e u te W elt v o n h eu te, d e r die ch ristlich e L eh re sin n g em äß v e r­
M odernismus? k ü n d e t w e rd e n soll) h e u te M odernism us? U nd w as ist bei
d en so g en a n n te n In te g ra liste n ü b e rh a u p t in teg ral, das
h e iß t doch „lü ck en lo s v o llstän d ig “ ?
E rh e b e n w ir u n s e in en A ugenblick ü b e r das K am pfge­
w ü h l zw ischen d en S ch lag w o rten , so so llten w ir ein seh e n
k ö n n en , d aß n ich ts „ m o d e rn e r“ , n ich ts b esse re M edizin
fü r die K ra n k h e ite n u n se re r Z eit ist als das u n v e rk ü rz te
E vangelium , das n u r als „ in te g ra le s“ , n ic h t zu rech tfri­
siertes seine h eilen d e u n d au fb au en d e W irkung a u sü b e n
k an n . E in B lick a u f die O stlän d er d ü rfte diese B e h a u p ­
tu n g b estätig en . A u f d ieser h ö h e re n W arte fallen die v e r­
fe in d eten P a ro le n angesichts d e r n ü c h te rn e n E rk e n n tn is
zusam m en, d aß w irk lich in teg ra l ü b e rh a u p t n u r das sein
k an n , w as G ott ist u n d vo n ih m als das ste ts A k tu ellste
au sg eh t, im G egensatz zum frag m en tarisch e n C h a ra k te r
alles W eltlichen, das - h e u te sch n e lle r als je - v o n einem
M odernen (oder P ost-M odernen) zu ein em V erg an g en en
(oder V or-V ergangenen) w ird.
A m G öttlich-V ollständigen des u n k a s trie rte n E v an g eli­
u m s des S o h n es G o ttes w e rd en w ir d esh alb am b este n das
M aß fü r das n eh m en , w as sich im ird isch en B ereich eine
pseudo-göttliche In te g ra litä t a n m a ß t u n d g erad e d am it
seine A bw eichung anzeigt.
I. M odernism us - W erfen w ir zu B eginn ein en B lick a u f die K am pfzeit des
Integralism us u m die au sg e h en d en le tz te n J a h rh u n d e rts , wo die O pposition
Jah rh u n d ertw en d e zw eier F ro n te n in d er K irch e sich w ohl zum e rste n M al in
ih re r G eschichte so d eu tlich abzeich n ete. A u f die b e d e u t­
sam e V orgeschichte - re in e R e sta u ra tio n eines v o rre v o lu ­
tio n ä re n Z u stan d s oder F ru c h tb a rm a c h u n g b ere c h tig te r
sozialer F o rd e ru n g e n - ist h ie r n ic h t einzugehen; v iru le n t
w u rd e die L age e rs t m it d en e x tre m e n religiösen T hesen
des so g en a n n te n M odernism us, d e r das k irch lich e D ogm a
a n d er R eligiosität des S u b je k ts zu m essen u n te rn a h m .
Blondels K ritik . . . M aurice B londei, selb st zu U n re ch t des M odernism us v e r­
dächtigt, w a r d er erste, d er das d ro h e n d e Z erw ürfnis d ia­
g n o stizierte u n d 1910 in sein er 250seitigen S tu d ie ü b e r
d en „M onophorism us“ sein er B esorgnis A u sd ru c k gab.

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B ereits 1904 sch rieb e r seinem F reu n d , d em P hilosophen
A u g u ste V alensin SJ: „M an k a n n sich d e r T atsach e nicht
v ersch ließ en , d aß täg lich die S p a n n u n g sch ä rfer wird
zw ischen zw ei R ich tu n g en , die in allen B elangen, sozia­
len, politischen u n d philosophischen, die K a th o lik en ge­
g en e in a n d erstellen . M an k ö n n te h e u te g erad ez u von zwei
gänzlich u n v e re in b a re n k ath o lisch en D en k w eisen spre­
chen; u n d das ist ein offenkundig ab n o rm a le r Zustand,
d e n n es k a n n n ich t zw eierlei K atholizism us geben. Ich
w ill n ich t ablassen, diese b eiden H a ltu n g en zu kennzeich­
n e n u n d zu zeigen, w ie die d iv ersen T en d e n zen in jedem
d ieser geg en sätzlich en S ystem e in n erlich Zusam m en­
h ä n g e n .“
. . . a n den A n d er B asis d e r D ifferenz sieh t e r zw ei v ersch ied en e E r­
In te g ra liste n k en n tn isth eo rien : bei d en zeitaufgeschlossenen C hristen
das B ew u ß tsein d e r V e rflo ch ten h eit alles geschichtlich
W irklichen, die F o rd eru n g , d u rc h w ag en d es solidarisches
H a n d eln d a rin einzusteigen, u m es in sein er in n e re n Be­
w e g th e it zu erfah re n . B ei d en In te g ra liste n dag eg en die
A nsicht, die W irklichkeit k ö n n e in a b stra k te n , fixen und
u n ab ä n d erlich e n B egriffen ausgeschöpft w erd en , so daß
es genüge, im B lick a u f die re c h te n B egriffe zu handeln,
u m die W elt au ch re c h t zu bew egen. B ei d en e rste n folgt
au s ih rem A nsatz, d aß au c h im V e rh ältn is v o n N a tu r und
O ffenbarung d ieselbe V erflo ch ten h eit h e rrsc h t; es gibt
W ege d er G ottesg n ad e au c h v o n u n te n n a c h oben, Wege,
die d en M enschen g u te n W illens au ch a u ß e rh a lb d er K ir­
che d u rc h re c h te E n tsch eid u n g e n in d en B ere ic h d e r Got­
teslieb e ein fü h ren . B ei d en zw eiten ist die O ffenbarung
p rim ä r ein S y stem v o n L ehrbegriffen, die sich definitions­
g em äß in d er M enschenw elt n irg en d s v o rfin d en können,
d a h e r n u r von e in e r re in ab steig e n d en k irch lich e n A uto­
ritä t dem L aienvolk zu r passiv en A n n a h m e vorgestellt
w e rd e n k an n . A us d iesem rationalistisch-extrinsezisti-
sch e n A nsatz folgt fü r B londel die R ü ck b ild u n g der
ch ristlich en B otschaft zu einem „G esetz d e r F u rc h t und
des Z w anges“ , s ta tt seelen b efreien d es G esetz d er Liebe
zu se in 1. M an ü b t im N am en des H e rrn eine H ä rte aus, die
e r selb er nie g e ü b t h ä tte , ja, „ u n te r d em V orw and, ihm
das W ort zu lassen u n d seine F einde zu treffen, verletzt
m a n ih n v ielleich t se lb e r“2. D er von d e n U n te rta n e n ge­
fo rd erte b linde K onform ism us ist „die d e n k b a r radikalste
P e rv e rsio n des E v an g e liu m s“3, die sich gegen d en M oder­
Die A k tu a litä t d er nism us als n ich t m in d e r „ m ö rd e risch er V eterism u s“
d am alig en A nalyse ste llt4. „D ie Logik des In teg ralism u s ist u n e rb ittlic h “ : Die
1 L a S e m a in e S o c ia le d e B o r d e a u x e t le M o n o p h o rism e (1910), 67.
2 E b d . 69.
3 E b d . 71.
4 E b d . 75.

L 222
r

k la r begriffliche T re n n u n g eines gesch lo ssen en R eiches


d er N a tu r u n d e in er ebenso g eschlossenen Ü b e rn a tu r, die
v o n oben h e ra b h e rrsc h t, fo rd ert v o n d en V e rtre te rn d er
le tz te re n , „sich selb st m it d er O ffen b aru n g sw ah rh e it zu
identifizieren, o d er v ielm eh r die O ffen b aru n g sw ah rh e it
m it sich, u m schließlich zu e in er re in m en sch g estaltig en
T h eo k ratie zu g elangen, die m an zw ar d a u e rn d ab leu g ­
n et, a b e r doch im m erfo rt p ra k tiz ie rt“ 5. D a d er w eltliche
A rm fü r diese H e rrsch a ft n ich t m e h r v e rfü g b a r ist, m u ß
m a n ih n n o tg ed ru n g e n d u rc h eine in n erk irc h lic h e M acht­
an w en d u n g ersetzen ; die K irche im g an zen liegt im „B e­
lag eru n g sz u sta n d “®, u n d da d er ideale U n te rta n d er blind
g eh o rch en d e ist, w ird die T endenz d ah in g ehen, alle n ich t
restlo s G efügigen au s d er K irche h erau szu tre ib e n : „in E r­
m an g elu n g des com pelle in tra re w ird m an das com pelle
ex ire p ra k tiz ie ren ; [. . .] d er H e rr ließ d am als die 99 ge­
tre u e n S chafe a u f ih re r Weide, u m d em ein en v e rlo re n e n
nach zu eilen , m an ch e m ö ch ten h e u te bei dem einzigen ge­
tre u e n v e rh a rre n , u m es noch b esse r an z u b in d e n .“ 7 D as
L eitbild ist je tz t d e r „K reu zzu g “ fü r die von d e r w eltli­
chen G ew alt v e rk a n n te n R echte d e r k irch lich e n M acht,
ist „die kleine, v o llk o m m en d u rc h g esch u lte S tu rm sc h a r
d er F a c h le u te fü r die konfessionellen F rag en , die gefügige
E lite d e r S ak rista n -S o ld a te n “®, w ä h re n d „die M enschheit
zu r S edia g estato ria d er g eistlich en V ollm acht w ird, die
alles zu g eben u n d n ich ts zu e rh a lte n h a t u n d d esh alb ih r
G esch en k als ih r g elten d zu m ach en d es R ech t auferlegt:
zw angsw eise“9. B londels grim m ige A n aly sen setzen die
sch arfen an tim o d ern istisch en M aß n a h m e n voraus, d e re n
e x tre m ste A u släu fer ihm selb st w ohl n ich t ein m al b e­
k a n n t w aren.
Das w ied e rh erg estellte P iu s X. h a tte d en M odernism us 1907 v e ru rte ilt (P asc en ­
Inquisitionssystem di), v o n 1908-1913 folgen zahlreiche In d izieru n g en ; Z eit­
sch rifte n d e r m o d ern e n K a th o lik en stre ic h e n die Segel,
eine dav o n e rk lä rt, sie h ab e k ein e D ase in sb erec h tig u n g
m e h r „ u n te r dem in d e r K irche w ie d e rh e rg e ste llte n
In q u isitio n ssy stem “ . W ährend d ieser J a h r e g elan g t das,
w as V alensin g erad ez u als „die en tg eg e n g esetz te H ä re ­
sie“ b ezeich n et h at, zum Zuge, im K e rn ste h t eine G e­
heim gesellschaft o d er v ielm eh r eine V e rb in d u n g v e r­
sch ied e n er G eh eim gesellschaften m it Z e n tru m in R om
bei M sgr. U m b erto B enigni, d er seit 1906 beim S ta a tsse ­
k re ta ria t a rb e ite te (wo ih n sp ä te r P acelli ablöste), u n te r
d e r P ro te k tio n des K ard in als M erry del Val, u n d d e r mo-
5 Ebd. 99.
6 Ebd. 101.
7 Ebd. 103.
» E bd. 107.
9 Ebd. 115.
r n atlich 1000 F ra n k e n vom P a p st bezog; e r h a tte eine allge­
m eine In fo rm atio n sa g en tu r u n d eine ü b e r viele L änder
sich e rstre c k e n d e O rganisation „z u r V erteid ig u n g der
p äp stlich en L e h rstü c k e “ g eg rü n d et, die von ü b e ra ll E r­
k u n d ig u n g en ü b e r die O rthodoxie v o n P e rso n e n und
G ru p p e n einzog u n d en tsp re c h e n d e D ire k tiv e n aussand­
te. Die M itglieder zerfielen in drei G ru p p en : die g anz Ge­
heim en, die einfach G eh eim en u n d die Ö ffentlichen, hin­
te r d en e n die e rs te re n sich v erb arg e n . P iu s X. h a t die Ein­
ric h tu n g g u tg eh eiß e n , ab e r ih r in n e re s F un k tio n ieren
keinesw egs g e k a n n t. D as A rchiv des („ S a p in ie re “ ge­
n a n n te n ) H a u p tq u a rtie rs d er In te g ra liste n fiel w ährend
des E rste n W eltkrieges in die H än d e d e r deutschen
A rm ee.
ü . V ersch ieb u n g So w a r es dam als, a b e r die F ro n te n h a b e n sich, wie an­
d er F ro n te n fangs gesagt, b e d e u tsa m v erschoben. A u f d e r e in en Seite
u n d Ä h n lich k eiten w ä re es töricht, die n o tw en d ig in d e r K irch e - k ra ft ihrer
in stitu tio n ellen V e rfaß th e it - b e ste h e n d e n S pannungen
(das W ort in sein em positiven, leb en sn o tw e n d ig en Sinn
genom m en) m it d en a lte n E tik e tte n d e r Ja h rh u n d e rtw e n ­
de zu bek leb en . J e d e r E insichtige m u ß ein g esteh en , daß
die A nliegen des M odernism us von d en h e u te tonange­
b en d e n T heologen so g rü n d lich w ie m öglich aufgearbei­
te t w o rd en sind; je d e r h albw egs U nvoreingenom m ene
w ird zugeben m üssen, daß, w e n n e x tre m e, m it dem
E van g eliu m n ic h t m e h r zu v e re in b a re n d e Positionen
vom L ehr- u n d H irte n a m t als solche zu kennzeichnen
sind, dieses selb e A m t sich h e u te aufs h ö ch ste bem üht,
Z w eideutiges (wie eine gew isse e x tre m e B efreiungstheo­
logie) so zu k läre n , d aß die p o sitiven A nliegen d arin als
solche d er G e sa m tk irc h e a n e rk a n n t u n d aufgenom m en
w e rd en („O ption fü r die A rm e n “), w ä h re n d voreilige An­
gleich u n g en a n frem de Ideologien o d er A n leih en bei
n ich tk ath o lisch en T heologien als solche aufzudecken
sind. W er w ollte leu g n en , d aß G re n zzie h u n g en (etw a in
F rag e n d er M oral) oft diffizil sind u n d das A ngem essene
n ic h t a u f A nhieb zu u m sch re ib e n ist, d aß a b e r rechte
ch ristlich e E th ik sich n ic h t a u f die L ax h e ite n ein er nach­
ch ristlich -p erm issiv en G esellschaft ein lassen k an n ? Ge­
d u ld m it d er sich e rn sth a ft m ü h e n d e n K irch e ist h ier und
in äh n lich en F ällen a n g e b ra c h te r als g ro b e P olem ik.
D er In teg ralism u s in M it diesen B e m e rk u n g e n soll ab e r n ic h t v e rtu sc h t w er­
d e r h e u tig e n K irche den, d aß es h e u te in d e r K irch e noch ein d eu tig e F orm en
d essen gibt, w as m a n m it dem a lte n S ch lag w o rt In teg ra­
lism us k en n z eich n en darf. L egen w ir d as o b en aufgestell­
te M aß an, d aß in teg ra l (in sein er a b so lu te n F ü lle „voll­
stä n d ig “) n u r G o tt u n d sein W ort in d e r W elt ist, w äh ren d
alles In n erw eltlich e, F ra g m e n ta risc h e sich zu d iesem em ­
p o r zu b eziehen h at, so k ö n n en w ir d re i A sp ek te ange-

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m a ß te r „ In te g ritä t“ au ch in d er h e u tig e n K irch e u n te r­
scheiden: ein en d er M acht, ein en d e r T rad itio n u n d einen
d e r ric h te n d e n V ernunft.
1. Die M acht G e m e in t ist w eltlich e M acht, die w ohl zu u n te rsc h e id e n
ist v o n den zum D ien st an d en G läubigen von C hristus
g eg eb en en „V o llm ach ten “ . B eides gleich zu setzen ist ein
billiger T rick a n tik irc h lic h e r P ro p ag a n d a. D er P rie ste r,
d e r d u rc h das W e ih esak ram en t die V ollm acht hat, im N a­
m e n C hristi u n d fü r u n d m it sein er G em ein d e die E u c h a ­
ristie zu z e le b riere n - m anche tu n es in p riesterlo se n G e­
g en d e n so n n tag s bis zu r E rschöpfung, w ie sie (früher)
stu n d e n la n g bis zu r E rsch ö p fu n g B eich ten ab n a h m e n -,
ü b t n ich t w eltlich e M acht aus, so n d ern ist d er „D iener
a lle r“ . E r ist es auch, w e n n e r im A u ftrag C hristi tro tz u n d
d a n k v ieler M itarb eiter das sich tb are E in h eitsp rin zip sei­
n e r G em einde zu b ild en hat.
M acht im g e m e in te n S in n b eg in n t e rst d o rt, wo eine
G ru p p e (m ag sie frei oder kirch lich o rg a n isiert sein) sich
zum P ro g ra m m setzt, a u f dem U m w eg ü b e r w eltliche
M achtpositionen angeblich ch ristlich e W irkungen h e r­
v o rzu b rin g en . W eltlich ein n o rm ales K a lk ü l (b e h errsc h t
es n ich t alle P o litik u n d W irtschaft?), ch ristlich a b e r ein
S chlag ins G esicht d e r S elig p reisu n g en d er B ergpredigt.
M acht als Weg, das K reu z au fzu rich ten , w a r w e ith in d er
W eg d er K o lonisatoren (oder m u ß m a n zu K a rl dem G ro­
ß e n u n d zu sein en a ltte sta m e n tlic h e n V o rb ild ern z u rü c k ­
gehen?), d e re n v e rh e e re n d e P o litik bis h e u te ih re F rü c h te
trä g t, so vieles die n a c h träg lich en M issionierungen an
G u tem g estiftet h a b e n m ögen. Es ist g u t, d aß d er V a tik an
arm ist. D en n au c h G eld k a n n ein M ach tm ittel sein, m it
dem m an sich zu e in e r Zeit, d a das W ort S im onie obsolet
g ew o rd en ist, m an ch e s e rk a u fe n k a n n , v ielleich t sogar
H eiligsprechungen. W ir leb en in e in e r Zeit, d a P ro p a g a n ­
da, R eklam e, W erb etech n ik eine G ro ß m a ch t g ew orden
sind. Es b e re ite t tiefe S orge zu sehen, w ie ch ristlich e G e­
m ein sch aften h e u te fü r sich w e rb en , oft schon bei M in­
d erjäh rig en , die sich d u rc h g eschickte L o ck m ittel e in fa n ­
g en lassen. Ic h besitze eine ganze (in tern atio n ale) S am m ­
lu n g von K lagebriefen ü b e rtö lp e lte r E ltern , d e n e n eine
k irch lich e In stitu tio n oder B ew egung die K in d er w egge­
sto h len h at. M ehr o d er w en ig er u n b e w u ß t ste h t h in te r
so lch er W erbung das B ew u ß tsein e in e r G ru p p e , die k a ­
tholische K irche in ih re r In te g ra litä t am b este n u n d w irk ­
sa m sten zu re p rä se n tie re n . H eilige O rd e n sg rü n d e r w ie
F ran z isk u s o d er Ig n atiu s h a b e n nie fü r sich gew orben,
so n d ern fü r das G ottesreich, zu dem m an d u rc h N ach ­
folge C hristi Z u tritt gew innt.
R eich tu m d er G em ein ­ M erk w ü rd ig erw eise v e rm ä h lt sich h e u te (wie im M ittel-
schaft un b ed en k lich ? a lte r u n d B arock) p ersö n lich es A rm u tsid eal m it R eich-

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r tu m d er G em einschaft. A b er das V olk ist d ieser V erm äh­
lu n g g eg e n ü b er m iß trau isch . E ine S ta tistik h a t nachge­
w iesen, d aß in F ra n k re ic h die u m re ic h e A b teien liegen­
d en L ä n d e reien die am m eisten e n tc h ristlic h te n sind. „Ihr
k ö n n t n ich t zw ei H e rre n dienen: G o tt u n d dem M am m on“
- selbst w e n n ih r n ich t M önche, so n d ern eine L aienbew e­
g u n g seid. G ew iß v e rla n g t das E v an g e liu m „S chlangen­
k lu g h e it“ n e b e n „ T a u b en ein fa lt“ , a b e r n ich t ohne sie;
u n d gew iß w ird d e r k lu g e u n d g e tre u e K n e ch t gelobt, mit
dem V erm ögen seines H e rrn g e a rb e ite t zu h ab en , aber
eb e n n ich t m it dem eig en en u n d n ic h t für sich, w ährend
das B ed en k lich e a n m an ch e n h e u tig e n florierenden
k irch lich en B ew eg u n g en d arin b este h t, d aß sie fü r sich
arb eiten , w eil sie sich „ in te g ra l“ m it d e r K irch e identifi­
zieren. D as erw eck t, w eil w ir alle im Sog d er P ropaganda
sind, bei v ielen n u r ein leichtes M alaise; es sollte aber, wo
ech te U n tersch eid u n g d er G eister g e ü b t w ü rd e, m ehr
w ecken: d ezid ierte A bkehr.
„Ich bin das L icht d er W elt“ , sag t d er H err: e r w irk t durch
A u sstrah lu n g . E r sag t nicht: „Ich bin ein M agnet der
W elt“ , d er d u rc h A nzieh u n g w irk t. A lle In te g riste n pach­
te n die O rthodoxie fü r sich. D as ist k e in hinreichendes
K riteriu m m eh r. D ie P ra x is en tsch e id et, n ic h t einfach die
soziologische, so n d ern diejenige C hristi.
2. D ie T rad itio n B ezüglich d er T ra d itio n ist je d e rm a n n sch n ell im Bild.
M an k e n n t die m äch tig en trad itio n alistisch e n B ew egun­
gen, seien sie, w ie sie m einen, im H erzen d er K irche oder
a n d eren R an d in V e rh an d lu n g en m it R om , ob ih r Begriff
von T rad itio n noch kirch lich zulässig sei oder nicht.
K en n zeich en b e id e r G ru p p e n - d e r ze n tralk irch lich en
w ie d er ra n d k irc h lic h e n - ist ih re S ta rre u n d S elbstge­
rech tig k eit. D as B ew u ß tsein ih re r in te g ra le n K atholizität
g ib t ih n en das R echt, alles v o n ih re m S ta n d p u n k t A bw ei­
ch ende so u v erän zu v e ru rte ile n . Sie h a b e n rech t, u n d nur
sie. W eshalb? Weil die „T rad itio n “ fü r sie ist. U nd w as ist
fü r sie T radition? D as, w as w ar. W as b ish er im m e r gegol­
te n h at. Z u r G e g en w art h in w ird ein abschließender
S trich gezogen. Ist m an sich k lar, d aß alle S chism en der
K irch en g esch ich te - bei aller vo rsich tig en B eurteilung,
die au ch die p o sitiven A nliegen d er „ U n te rle g e n e n “ a n e r­
k e n n t - trad itio n alistisch e n U rsp ru n g s sind? Was (irgend­
wie) bei d en V o rn izän ern galt, h a t w e ite r zu gelten, des­
h alb v erla ssen die A ria n e r die K irche. W as a u f dem K on­
zil v o n Nizäa galt, h a t in E p h esu s zu gelten: die N estoria-
n e r v erla ssen die K irche. Was in E p h esu s galt, m u ß in
C halzedon g elten: die M onophysiten a lle r F ä rb u n g isolie­
re n sich. D as O st-W est-Schism a: bis zum zw eiten Nizä-
n um , ab e r k e in e n S c h ritt w eiter. D ie R eform ation: was

226
A
(buchstäblich) in d e r S chrift ste h t, ab e r sine glossa. D ie
A ltk ath o lik en : w as b ish er n ich t als D ogm a defin iert w u r­
de, soll es au ch h e u te n ich t w erd en . Je d e s große K onzil
p ro d u z ie rt ein R esiduum . D as h eiß t jed esm al: die T ra d iti­
Nicht B u ch stab e, so n ­ on liegt im B u ch stab en . U nd m a n sieh t nicht, d aß d er
d ern leb en d ig es W ort geistlose B u ch stab e tö tet. D aß T rad itio n z u e rst etw a s L e­
bendiges, W eiter d rä n g en d es ist, ein su ch en d es Sich-hin-
ein -B eten u n d -B etra ch ten in das lebendige W ort. D er
T re n n u n g sstric h w ird d o rt gezogen, w o ich als Ju n g e e t­
w as g e le rn t h ab e, w as eb en d esh alb als D ogm a zu g elten
h a t. Es ist so b equem , sich d a ra u f a u sz u ru h e n u n d k ein e
w e ite re n A n stre n g u n g en m ach e n zu m üssen! A ltk o n se r­
v ativ e G esc h lech ter fin an zieren m it V orliebe solche tr a ­
ditionssichere (feuersichere) B lätte r. D iese G ru p p e n w is­
sen schon B escheid, sind d a h e r fü r je d e n w oh lg em ein ten
D ialog v erlo ren . W enn R om sich u m e in en solchen b e ­
m ü h t, h e iß t es: W artet n u r, ih r w e rd e t schon sehen, d aß
w ir schließlich doch a n e rk a n n t w erd en . U nd w e n n eine
solche A n e rk e n n u n g n ic h t erfolgt, d a n n h a t Rom , w ie so
oft, selb stv erstän d lich u n re c h t. W as fü r ein S k an d al, daß
d er P a p st m it A n d ersg läu b ig en („ H ä re tik e rn “ ) zu sam ­
m en betet! Was fü r ein Ä rgernis, d aß e r m it d en F ein d en
C hristi, d en J u d e n , fratern isiert. S eit w a n n re ise n P ä p ste
d a u e rn d in d e r W elt h eru m ? H a b en sie zu H ause n ich t
A rb eit genug?
U rsachen au c h in N iem and w ird leu g n en , d aß v iele „p ro g ressistisch e“ M iß­
„prog ressistisch en “ stän d e b eso n d e rs im K leru s die trad itio n alistisch e T e n ­
M ißständen denz v e rs tä rk t u n d ih r an sc h ein en d re c h t g eg eb en h ab en .
D as V olk m u ß te a n vielem , w as ihm n ach k o n ziliar v o rg e­
setzt w u rd e, b e re c h tig te n A nstoß n e h m e n - bis h eu te.
U nd so ist es n ic h t v erw u n d erlich , daß eine M enge b ra v e r
G läu b ig er d em T rad itio n alism u s ins N etz geht, m eist a h ­
nungslos, wo die en tsch e id en d en P u n k te eig en tlich lie­
gen. D ie E x tre m e tre ib e n sich g egenseitig h e rv o r, ab e r
die „P ro g ressiste n “ sind sich d ab ei ih re r V e ra n tw o rtu n g
selten b ew u ß t. M it einem v erä c h tlic h e n B lick n ach
„ re c h ts“ ist es n ic h t getan. M it e in e r K ritik an d er R ü c k ­
stän d ig k eit R om s ebensow enig, a b e r es ist b ed eu tsam ,
d aß d er an tirö m isch e A ffekt a u f b eid en S eiten u n v e rm in ­
d e rt heftig spielt: R om ist zu p ro g ressiv - R om ist zu k o n ­
serv ativ . V ielleicht ist R om doch, aufs G anze g eseh en , in
e in er M itte, die es d en E x tre m e n o b jek tiv m öglich m a ­
ch en k ö n n te, ih r G leichgew icht w iederzufinden.
E rn e u e ru n g W as v o n d en T rad itio n alisten jeg lich er F ä rb u n g n ich t g e­
des C om m unio- seh e n w ird, ist die T atsache, d aß die K irche m it dem
G ed an k en s Z w eiten V a tik an u m ü b e r eine lange S tre c k e eines p y ra ­
d u rch d as K onzil m id alen V erstän d n isses (der P a p s t als o b erste Spitze,
d a n n d u rc h d e n K leru s d er A bstieg zu d en L aien) zu r alt-

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k irch lich e n E kklesiologie d er C om m unio zu rü ck g efu n ­
d en hat, ohne d esh alb m it d er histo risch en T radition zu
b re ch en . D as K e n n w o rt „com m unio h ie ra rc h ic a “ spricht
etw a s von d er g ew o n n en en S y n th ese aus. E ine „B ew e­
g u n g für P a p st u n d K irc h e “ m ach t sich d u rc h die R eihen­
folge d er H a u p tw o rte h e u te selber läch erlich - am m ei­
ste n beim g eg en w ärtig en H eiligen V ater. D iese T radition
m ag allenfalls bis a u f G regor VII. zu rü ck re ic h en , nicht
w eiter. U nd d er K a m p f u m die k irchliche S elbständig­
k eit, die dieser P a p st gegen ein sak rales K aisertum
d u rc h zu fe ch ten h atte, ist län g st bed eu tu n g slo s gew or­
den. U nd will vielleicht, w e r gegen die R eligionsfreiheit
o p tiert, die S ch eiterh au fen d er Inquisition w ieder einfüh­
ren?
M an m u ß sich den E w ig-G estrigen g e g e n ü b er a u f den
e c h te n S inn k ath o lisch er T raditio besinnen. N icht ein
W eiterreich en des Im m ergleichen, so w ie eine K e tte von
A rb e ite rn sich Z iegelsteine zuw irft; so n d ern etw as u n e r­
h ö rt L ebendiges, das sein en letzten U rsp ru n g in d er Ü ber­
g ab e des S ohnes d u rc h d en V a te r an die M enschen, in der
S elb stü b erg ab e C hristi an die K irche h at, in d er W eiterga­
be d e r A postel an ih re N achfolger: Im m er m it dem H erz­
b lu t des T ra d ie ren d e n zusam m en, im m e r m it d er M ah­
n u n g , k ein e S ache, k ein e fertige F orm el, so n d ern G ött­
lich-L ebendiges an v e r tr a u t zu erh alten : „Ich w eiß, bei
m ein em W eggang w e rd e n reiß en d e Wölfe bei euch ein-
d rin g e n . . ., die m it ih re n falschen R ed en die J ü n g e r auf
ih re S eite ziehen. S eid also w achsam , . . . ich v ertrau e
eu c h G ott u n d dem W ort sein er G nade an, das die K raft
h a t, a u fzu b au e n “ (Apg 20, 29-31). „D en n G ott h a t uns
n ic h t ein en G eist d er V erzag th eit gegeben, so n d ern den
G eist d er K raft, d er L iebe u n d d er B e so n n en h e it“ (2 Tim
1, 7). In teg ral ist T rad itio n n u r, w en n die K irche im Geist
des sich selbst in seinem S ohn der W elt überliefernden
V a te rs trad ie rt.
3. Die ric h te n d e E s w ä re einseitig, h iem it ab z u b rec h en u n d ein er dritten
V ern u n ft F o rm des In teg ralism u s n ich t zu g ed en k en , in d er nicht
die P osition, n ich t die T radition, so n d ern die m enschliche
V e rn u n ft das letzte W ort hat. In dieser H insicht ist wohl
H egel d er au sg ep ich teste Integrist, d er das B ew ußtsein
h a tte , k ein en m öglichen A sp ek t der W ahrheit nich t in sei­
n e S y n th e se einbezogen zu haben. M an w eiß, daß ihm das
C h riste n tu m viel galt, a b e r sein B egriff des M ysterium s
n ich ts, d en n jed es G eheim nis ist eine N uß, die von der
V e rn u n ft g ek n a ck t w e rd e n m uß. Es g e h t m ir h ier nicht
u m H egel (obschon, n ac h d en d eu tsch e n H egelkongres­
sen zu u rteilen , v o r u n d n ac h ihm keine P hilosophie m ehr
in B e tra c h t kom m t), so n d ern u m die A n m aß u n g d er Ver-

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r
n u n ft, alles en tw e d e r au sz u sch alten o der als d u rc h sc h a u ­
b a r h in zu stellen , w as das C h risten tu m als göttliches (und
d am it geheim nisvolles) G eschenk an die M enschheit „zu
g lau b en v o rste llt“ . M an b ra u c h t das T heologische n u r zu
psychologisieren o d er zu soziologisieren, u m ihm eine
m en sch lich a n n e h m b a re S eite abzugew innen, m an
b ra u c h t an die S telle des G laubens bloß die religiöse „ E r­
fa h ru n g “ zu setzen, u m die v e re k e lte Ju g e n d w ied er a n ­
zulocken. M an m ü ß te bloß die p a a r län g st fälligen K on­
zessionen in S ach en S ex u alität m achen, u m S ch aren von
A b seitssteh en d en zu rü ck zu g ew in n en , m an b rä u c h te - da
u n se re K irch en sich ob d er U n v e rstän d lic h k eit d er E u ­
ch aristiefeier zu seh en d s leeren - n u r eine zeitgem äße
F o rm religiöser A k tiv itä t zu erfin d en (A ngebote östlicher
M editation oder Ü b erlassu n g des G o ttesd ien stes d er
P h a n ta sie d er G em einde u. ä.), u m w ied er K lien ten in den
K irc h en zu haben. U nd e n tsp rä c h e es n ich t d er sim plen
V ern u n ft, die v e rtra c k te n konfessionellen D ifferenzen ad
ac ta zu legen, da w ir doch „in w e se n tlic h en P u n k te n einig
sin d “ ? W ieviel B allast w äre d am it ü b e r B ord gew orfen,
w ieviel flo tter ginge die F a h rt v o n statten . U nd w en n w ir
schon beim A b b ru c h lästig er B a rrie re n sind, w a ru m nich t
Ö k u m en e a u f e in e r h ö h eren E b en e treib en : gegen den
W eltatheism us eine W eltreligion? Ist n ich t au ch M oham ­
m ed, ist n ich t B u d d h a a u f seine W eise ein S ach w alte r
G ottes? E in t n ich t die gem einsam e W elt von B ildern, M y­
th en , A rc h ety p en alle R eligionen d er M enschheit? D as
C h risten tu m w ird in dieser in teg ra le n W eltreligion sein en
E h re n p la tz b eh a lte n , ab e r w ie k a n n ein M ensch d a h e r­
k o m m en u n d b e h a u p te n „Ich bin die W ah rh eit“? H aben
w ir n ich t alle n u r e in en G ott, zu d em w ir aufblicken, au ch
w e n n A llah ta u se n d N am en hat? Irg en d w an n w ird d er
O ne W orld auch die O ne R eligion e n tsp re c h e n m üssen.
S ch lu ß b em erk u n g : L iebe L eser, sind w ir m it diesen h o ch m o d ern en in te g ra ­
Zur A k tu a litä t len E n tw ü rfen n ich t doch u n v e rse h e n s u m h u n d e rt J a h re
der G esch ich te zu rü c k v e rse tz t in die H ochblüte des M odernism us? O der
m ein etw eg en u m n och w eitere h u n d e rt J a h re zu L essings
„E rzieh u n g des M en sch en g esch lech ts“ oder d en re iz en ­
d en N a iv itäten d e r Zauberflöte? U nd ist d an n v ielleicht
die C atholica doch so etw as w ie die „K önigin d er N a ch t“ ,
die d er a rm e n P a m in a den D olch in die H and d rü c k t zu r
E rled ig u n g des stra h le n d e n L ich treich s d e r V ernunft?
H ier ab z u b rec h en ist hohe Zeit. U nd sich zu erin n e rn , daß
e in e r gesagt hat: „Ich bin das L icht d er W elt“ , das in die
h ö h ere E in h eit k ein es an d e re n L ichtes eingeht, u n d v e r­
h eiß en hat, daß, w e r ihm nachfolgt, n ich t in d er F in ste rn is
w an d elt. D iese E in zig artig k eit C hristi zu erw eisen, g e­
h ö rt nich t m e h r zu u n serem T hem a.

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