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Max Scheler.

Max Ferdinand Scheler (* 22. August 1874 in München; † 19. Mai 1928 in
Frankfurt am Main) war ein deutscher Philosoph, Anthropologe und
Soziologe.
Leben
Jugend
Scheler war der Sohn eines Domänenverwalters und einer orthodox-jüdischen
Mutter. Er studierte 1899 in München und Berlin Medizin, Philosophie und
Psychologie, in Berlin außerdem (unter anderem bei Wilhelm Dilthey, Carl
Stumpf und Georg Simmel) Soziologie. In Jena lernte er den
Neukantianismus, der dort von Otto Liebmann vertreten wurde, vor allem in
den Bereichen Ethik und Erkenntnistheorie kennen und promovierte 1897 bei
Rudolf Eucken mit dem Thema Beiträge zur Feststellung der Beziehungen
zwischen den logischen und ethischen Prinzipien. 1899 habilitierte er sich in
Jena mit dem Thema Die transzendentale und die psychologische Methode.
Im selben Jahr heiratete Scheler Amelie Ottilie, geb. Wollmann gesch. von
Dewitz-Krebs (1868–1924).[1]

Schaffenszeit
Erste Momente der Neuorientierung erfuhr Scheler durch die Lektüre von
Husserls Logischen Untersuchungen in den Jahren 1900 bis 1901. Bis 1905
lehrte er an der Universität Jena als Privatdozent. Aufgrund eines Skandals um
seine Affäre mit Helene Voigt-Diederichs, der Ehefrau von Eugen
Diederichs,[2] musste er seine Position in Jena aufgeben.

Während seiner Umhabilitation bei Theodor Lipps an der Universität von


München machte er 1906 die Bekanntschaft der dort ansässigen
Phänomenologen (Alexander Pfänder, Moritz Geiger, Johannes Daubert,
Dietrich von Hildebrand[1]). Neben Husserl beeinflussten ihn in dieser Zeit
Immanuel Kant, Henri Bergson und Friedrich Nietzsche. 1909 wurde er durch
seine Ehefrau in einen weiteren Skandal, den Prozess „über die Würde eines
Hochschullehrers“,[1] verwickelt, so dass er 1910 auch in München seine
Position als Dozent aufgeben musste. Er ging nach Göttingen und Berlin und
nahm bis zum Ausbruch des Weltkrieges regelmäßig in der Philosophischen
Gesellschaft Göttingen[1] eine freie Lehrtätigkeit auf. Ab 1911 begann seine
fruchtbare Schaffensperiode mit zahlreichen Publikationen, beginnend mit
seinem Hauptwerk über einen ethischen Personalismus.

Nach seiner Scheidung im Februar 1912 heiratete er im Dezember desselben


Jahres Märit Furtwängler (1891–1971[1]), die Tochter des Archäologen Adolf
Furtwängler und Schwester Wilhelm Furtwänglers.

Aus gesundheitlichen Gründen musste er am Ersten Weltkrieg nicht als Soldat


teilnehmen. Dies hinderte ihn aber keineswegs aktiv zu schwärmen für den
Kriegsanfang (u. a. in Kaffeehäusern), wie so viele Intellektuelle in dieser
Zeit.[3] So äußerte er 1915 in seiner Schrift Der Genius des Krieges und der
Deutsche Krieg,[1] dass der Weltkrieg ein Aufruf zur geistigen Wiedergeburt
des Menschen und eine Zerfallserscheinung des Kapitalismus sei. Zu diesen
Schriften zählt auch Der Krieg als Gesamterlebnis.

Von 1916 bis 1922 arbeitete er regelmäßig an der katholischen Zeitschrift


Hochland mit. Laut Henckmann (1998) war sein wichtigster Beitrag dort der
Artikel Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen
Katholiken nach dem Kriege, der 1916 herauskam.[1][1] Zu Ostern 1916
wurde er im Kloster Beuron feierlich in die katholische Kirche
aufgenommen.[1] Er kam zu der Auffassung, dass für das Nachkriegseuropa
ein christlicher Sozialismus oder Solidarismus geeignet sei, um einen Weg
zwischen dem kapitalistischen Westen und dem kommunistischen Osten zu
finden. Durch die Beschäftigung mit der platonisch-augustinischen Liebe im
Katholizismus entwickelte er weltoffene Glaubensvorstellungen.

1917/18 betreute er im Dienste des Auswärtigen Amtes in der Schweiz und in


den Niederlanden deutsche Kriegsgefangene.[4]

Mit der 1921 erschienenen Publikation Vom Ewigen im Menschen initiierte er


in der Weimarer Republik eine geistig-religiöse Erneuerungsbewegung in der
katholischen Tradition, an der er selbst jedoch nicht teilnahm.

Nach seiner Berufung zum Professor für Philosophie und Soziologie an die
Universität zu Köln 1921/1922, die vom Kölner Oberbürgermeister Konrad
Adenauer unterstützt worden war[5], distanzierte er sich öffentlich vom
Katholizismus. So hielt er auf einer Gedenkfeier zum 250. Todestag Spinozas
Anfang 1922 eine Rede, die zeigte, dass er sich inzwischen dem
Neuspinozismus der Goethezeit und den Ideen Nietzsches zugewandt hatte.
Zu seinen Doktoranden gehörte der spätere Psychiater Kurt Schneider.[6] Als
Direktor des Instituts für Sozialwissenschaften trug Scheler zum Aufbau einer
neuen Soziologie bei. In seiner Lehre verknüpfte er zwei historische Momente
der Gesellschafts- und Wissenschaftsentwicklung in Europa: die neue Physik
im 17. Jahrhundert und die Herausbildung der kapitalistischen Wirtschaft.
Als er 1924 nach erneuter Scheidung eine Ehe mit Maria Scheu (1892–
1969[4]) einging, beurteilten konservative Katholiken ihn als einen Menschen
mit labilem Charakter, der zwischen Triebhaftigkeit und Geistigem schwanke.

1925 hielt er zum ersten Mal Vorlesungen über die Grundzüge der
philosophischen Anthropologie,[4] in der er gemäß dem Zeugnis Heideggers
das Besondere des Menschen als „Miterwirker Gottes“ jenseits eines
einfachen Theismus oder eines verschwommenen Pantheismus
herauszuarbeiten suchte.[7]

Seine Auseinandersetzung mit den Krisen des 20. Jahrhunderts führte ihn zu
neuen Auffassungen. Er hielt im Januar 1927 vor Generälen der Reichswehr
im Reichswehrministerium Berlin sowie im Februar 1927 an der Deutschen
Hochschule für Politik den Vortrag Die Idee des Friedens und des Pazifismus,
der 1931 aus dem Nachlass als Buch herausgegeben wurde. Darin wirft er vier
Fragen auf: Ob ewiger Frieden[8] menschenmöglich sei, ob es eine „kulturelle
Evolutionstendenz“ zur Verwirklichung des Ideals des ewigen Friedens gebe,
ob ewiger Frieden in der Gegenwart absehbar sei, z. B. anhand der
pazifistischen Strömungen und ob es Institutionen gebe, die das Ideal
realisieren könnten. Er beantwortet diese Fragen wie folgt: Kampf sei eine
anthropologische Konstante, Krieg nicht. Es gebe zwar Anzeichen für einen
kulturellen Wandel vom „Recht der Macht“ zur „Macht des Rechts“. Die
pazifistischen Strömungen, vor allem der seinerzeitige (1931) „liberal-
freihändlerische Pazifismus“, seien nicht geeignet, das Ziel zu erreichen;
durch freien Handel erlöschten die Motive für Kriege nicht. Auch hinter dem
Völkerbund stehe der westeuropäische „Großkapitalismus“, also nicht die
„Menschheit“.[9] So sei auch die Friedenskonferenz in Washington 1921 nur
als Vorspiel weiterer Weltkriege zu werten. Auch marxistischen
Bestrebungen, den Frieden auf der Basis von Revolutionen zu erreichen,
erteilte er eine Absage. Die Befriedung der Welt durch eine einzige
Großmacht sah er als ausgeschlossen an.

Max Scheler – Familiengrab auf dem Kölner Südfriedhof


An der Deutschen Hochschule für Politik in Berlin hielt er am 5. November
1927 einen Vortrag zum Thema Der Mensch im Zeitalter des Ausgleichs. Mit
diesem Ausgleich wollte er den „uralten tragischen deutschen Gegensatz von
Macht und Geist überwinden“ und die Parlamentarische Demokratie der
Weimarer Republik gegen Angriffe von rechts und links verteidigen.
Einen Ausgleich wollte er auch gegenüber den „Panromantikern“ wie Ludwig
Klages suchen, eine Brücke zwischen dem Männlichen und Weiblichen, der
westlichen und östlichen Welt, den apollinischen und dionysischen Tendenzen
im Geiste der Idee Nietzsches schlagen. Er vertrat die Ansicht, dass es ohne
diese geistige Brückenbildung des Ausgleichs zu einer verhängnisvollen
Entwicklung kommen müsse.

Kurz vor seinem Tod veröffentlichte er Anfang 1928 Die Stellung des
Menschen im Kosmos, ein Spätwerk, welches auf einen Vortrag im April
1927 zurückging, den er auf der Tagung Mensch und Erde in Darmstadt an der
Schule der Weisheit des Grafen Hermann Keyserling gehalten hatte. An dieser
Veranstaltung waren außerdem der Ethnologe Leo Frobenius, der Sinologe
Richard Wilhelm und der Psychologe Carl Gustav Jung beteiligt.

Scheler ist der Vater des Fotografen Max Scheler. Seine Grabstätte befindet
sich auf dem Kölner Südfriedhof (Flur 18).

Philosophie
Materiale Wertethik
Scheler entwickelte seine Wertethik in Verbindung mit phänomenologischen
Überzeugungen seiner Zeit. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
hatten einige Philosophen begonnen – mit Edmund Husserl als Ideengeber –
sich wieder mit dem ‚Objektiven‘ und ‚Wesen‘ zu beschäftigen. Darin
unterschieden sie sich deutlich von positivistischen, skeptischen und
wissenschaftsorientierten Philosophen des 19. Jahrhunderts – wie z. B.
Ludwig Feuerbach, Karl Marx und Ernst Mach. Diese hielten ‚Objektivität‘
und ‚Wesen‘ – in der Metaphysik als ‚Substanz‘ und ‚Sein’ thematisiert – für
philosophische Fragen, die nicht, oder nur anders als üblich, zu beantworten
seien. Husserl und andere Phänomenologen gingen davon aus, dass es möglich
und nötig sei, überzeugende Antworten im Rahmen philosophischer
Traditionen zu geben.

Ihre Idee ist‚ die ,Sache selbst‘ in ihrem ‚Wesensgehalt aufscheinen‘ zu lassen
und zwar durch ‚einfühlendes Schauen und Aufdecken‘. Diese Möglichkeit
wird von anderen Philosophen verneint.[10] Der phänomenologische
Grundgedanke der ‚Wesensanschauung‘, der unter dem Schlagwort „Zurück
zu den Sachen“ bekannt wurde, zieht sich durch Schelers Materiale
Wertethik.[11]
1913 erschien Schelers Arbeit Der Formalismus in der Ethik und die materiale
Wertethik. In dieser Arbeit beschreitet er neue Wege auch über Husserl hinaus
mit ontologischen (Substanz und Sein betreffend) und/oder realistischen
Tendenzen. Die Erfahrung von Werten – auch als 'sittliche Erfahrung'
bezeichnet – spielt dabei eine zentrale Rolle.[12]

„Werte sind … als Wertphänomene … echte Gegenstände, die von allen


Gefühlszuständen verschieden sind; ...[13]“

Alles Gute, so die Tendenz der Wertethik Schelers, beruht auf der Erkenntnis
des Guten, auf der Einkehr in sich selbst.[14] In dieser Einkehr und Erkenntnis
sieht Sokrates, laut Platon, das sittliche Heil, bzw. die wünschenswerte
Tugend oder Tüchtigkeit des Menschen. Die Erkenntnis des Guten ist das
zentrale Anliegen von Platons Ideenlehre. Durch Teilhabe an den Ideen
erwirbt der Mensch Kenntnisse für gutes Handeln. Für Scheler haben die
intuitiv erfahrbaren Wertphänomene einen ähnlichen Charakter und eine
ähnliche Funktion. Sie sind erfahrbare geistige Gegenstände, sie sind objektiv
und sie wirken auf das Handeln.[15]

Werte sind klare fühlbare Phänomene. Ob ein Wert richtig ist, entscheidet die
innerlich gefühlte Wertevidenz. Heißt so viel wie: Werte stehen für sich
selbst, sie sind nicht auf anderes zurückzuführen. So ähnlich wie die Farbe
Gelb nicht auf andere Farben zurückgeführt werden kann.[16]

„Es genügt unter Umständen eine einzige Handlung oder ein einziger Mensch,
damit wir in ihm das Wesen dieser Werte erfassen können.[17]“

Durch die einfühlende, bzw. intuitive Erfahrung erhalten Werte ihre


existentielle Bedeutung. Diese intuitive Erfahrung ist vielschichtig, bzw.
komplex. Scheler beschreibt sie wortreich und vielfältig. Er setzt dabei
Unterschiede, mit denen er seine Vorstellung der intuitiven Erfahrung von
anderen Sichten abgrenzt. So verneint er beispielsweise den Zusammenhang
der intuitiven Erfahrung mit dem Lusterleben. Auch zur induktiven Erfahrung,
der Abstraktion durch Erfahrung, sieht er keine Verbindung. Dagegen könne
es hilfreich sein, das Ethos anderer Zeiten und Völker zu erforschen. So ließe
sich der objektive Wertebereich erweitern und es könnten unsere kulturell
begrenzten Strukturen von Werteerlebnissen reflektiert werden.[18]

Das Sittliche ergibt sich aus dem Werteerleben, bzw. in der ‚persönlichen
Sphäre des Geistigen’. Dieses führt zu einer deutlich gefühlten
Wertbestimmung, aus der heraus sich spontan gutes Handeln ergibt: Es ist ein
absichtsloses Handeln. Gut zu handeln, entspricht dem Wesen der geistig-
fühlenden Person und geschieht autonom. In Kants Ethik bestimme dagegen
der vernünftige Wille moralische Entscheidungen auf heteronome Weise.
Diese Fremdbestimmung schließt Schelers Annahme des Wertfühlens, bzw.
des Handelns aus 'sittlicher Erfahrung' aus. Damit nahm er wichtige Momente
der Zeit auf und führte die phänomenologische Philosophie weiter.[19] Ob die
Kritik Schelers der Kantischen Ethik gerecht wird, wird in der Forschung in
Frage gestellt.[20]

Die intuitive Erfahrung der Werte zeigt außerdem ein hierarchisches System
von weiteren Werten. Es sortiert für den Menschen die Werte nach
grundlegenden Eigenschaften. Diese Eigenschaften strukturieren auch die
Autonomie des sittlichen Handelns.

Es gibt Eigenschaften, die ihren Wert in sich selbst haben, die er


‚Selbstwertmodalitäten’ nennt. Er ordnet sie unter Termini wie

‚angenehm – unangenehm’ als sinnliche Werte


‚edel – gemein’ als Lebenswerte
‚recht – unrecht, schön – hässlich, wahr – falsch’ als Eigenschaften geistiger
Werte bzw. als Funktionen des geistigen Fühlens.
'heilig – profan' als Werte für absolute Gegenstände.
Diesen ‚Selbstwertmodalitäten’ entsprechen ‚Folgewerte’ (Konsekutivwerte).
Deren Eigenschaften zeigen sich in Reaktionen auf andere Menschen, Kunst,
Wissenschaft, Gesetzgebung als

‚gefallen-missfallen’,
‚billigen – missbilligen’,
‚achten – missachten’,
‚nützlich-schädlich’‚
'vergelten’ und
'Sympathie'.
Diese Werte sind ebenfalls hierarchisch geordnet. Alle Eigenschaften sorgen
für Sicherheit und Gewissheit beim Handeln.[21]

Schelers ‚materiale Werteethik’, so wird in der Forschung behauptet, „stellt


ohne Zweifel die Hauptleistung der Ethik des 20. Jahrhunderts dar…“ und sei
vergleichbar mit Sichtweisen, die in asiatischen Kulturen leitend
funktionieren. Das Wertfühlen, die intuitiven Wertphänomene, die Scheler als
Grundlage des individuellen Handelns bezeichnet, könne analog zu
asiatischen Sichten auf dieses Thema so beschrieben werden. „… wir
erkennen, dass die Phänomene nichts anderes sind, als Anblicke der eigenen
geistigen Beschäftigung, …“ Diese Phänomene seien auch im buddhistischen
Selbstverständnis die Grundlage der Verantwortung für das eigene
Handeln.[22] Den Austausch zwischen östlichen und westlichen Philosophien
und Erlösungstheorien hatte sich Scheler bereits 1925 gewünscht.[23]

Bildung, Menschenbild und die Formen des Wissens


Im Kontext von Bildung und Wissen thematisiert Scheler seine Ideen zur
‚Philosophischen Anthropologie’. In seiner Vorrede zu seiner Schrift Die
Stellung des Menschen im Kosmos spricht er von einer gegenwärtigen,
gemeinsamen Aufgabe, an der sich zu seiner Zeit – außer den Philosophen –
Biologen, Mediziner, Psychologen und Soziologen bereits beteiligen. Man sei
nun auch bereit, sich Gedanken darüber zu machen, worin im Zusammenhang
mit dem Wissen einzelner Wissenschaften das Wesen des Menschen bestehe.

Die Frage nach dem ‚Wesen des Menschen’ thematisiert philosophisch die
unveränderliche Konstante in jedem Menschen. Dabei werden individuelle
Unterschiede vernachlässigt und menschliches Handeln an objektiven
Kriterien gemessen.[24]

Scheler stellt seine Antwort in die Reihe traditioneller Antworten und


verbindet sie mit den neuesten Ergebnissen anderer Wissenschaften seiner
Zeit. Diese Arbeitsweise entspricht der phänomenologischen Idee der
Erforschung der „Lebenswelt“.

„Ich habe es darum unternommen, auf breitester Grundlage einen neuen


Versuch einer Philosophischen Anthropologie zu geben. [25]“

Zu dieser ‚breitesten Grundlage’ gehört der Wert ‚Bildung’. 1925 arbeitete


Scheler ihn in Die Formen des Wissens und die Bildung aus. Er ist an sein
Menschenbild geknüpft. Wenn man den Menschen nur funktionalistisch
betrachtet, erscheine er als Fehlentwicklung der Natur; zumindest sei er, was
den Aufwand für seine Selbsterhaltung betrifft, äußerst ineffizient. Scheler
wendet sich gegen dieses naturwissenschaftliche Menschenbild als der
einzigen Leitidee für Bildung. Der Mensch hat geistige Bedürfnisse, er hat
„Geist“ und „Vernunft“, die naturwissenschaftlich nicht fassbar sind. Wer
„Geist“ und „Vernunft“ nur als ‚kompliziertes Nebenergebnis des
Lebensdranges’ sieht, werde seine Idee und den Wert von ‚Bildung’ nicht
nachvollziehen können. Das Wort ‚Bildung’ „will einen Selbstwert setzen“
formuliert Scheler.

Er erläutert seine Idee vom Menschen, indem er sich auf die neu erkannten
Fähigkeiten von Tieren bezieht. Wie z. B. technische Intelligenz, die
Fähigkeit, sinnvoll zu wählen, Werkzeuggebrauch, Werkzeugherstellung,
altruistische Handlungen u. a.:

„Es ist der große, auch philosophische Wert, den die junge so rüstig
fortschreitende Tierpsychologie besitzt, dass sie uns gezeigt hat, wie sehr man
früher geneigt war, die psychischen Fähigkeiten der Tiere zu
unterschätzen.[26]“

Letzteres hatte man zuvor nur dem Menschen zugesprochen. Dies


charakterisiert Scheler als grundlegende Fehleinschätzung der philosophischen
Forschung zur Anthropologie.[27]

Andererseits hält es Scheler für zutreffend, dass der Mensch mehr ist als seine
Fertigkeiten und Fähigkeiten. Er habe im Unterschied zum Tier Bereiche,
bzw. ‚Sphären’ mit einer eigenen bedeutungsvollen Binnenstruktur. In diesen
‚Sphären’ könne der Mensch „Akte von einer autonomen Gesetzlichkeit“
vollziehen, die sich nicht mit den dazu grundlegenden Gesetzen der
Physiologie verstehen lässt. Zu den „Akten der autonomen Gesetzlichkeit“
rechnet Scheler z. B. folgendes: Der Mensch ist durch Nachdenken in der
Lage, die Erhaltung und Verwirklichung eines geistigen Wertes (Ehre, Würde,
Heil, Überzeugung) sogar dem höchsten Lebenswert, der Erhaltung des
eigenen Daseins, vorzuziehen. Ein Tier hat nicht die Fähigkeit, sich zwischen
Werten zu entscheiden, bzw. einen Wert dem anderen vorzuziehen.

Der menschliche Geist zeichne sich im Wesentlichen durch folgende


Merkmale aus, die ihn vom Tier unterscheiden: Menschen werden durch
kulturelle Werte gelenkt. Sie sind zur begierdefreien Liebe fähig und sind
unabhängig von ihren Trieben. Menschen können Einsichten über das Wesen
der Dinge gewinnen und allgemein-gültige Werte finden. Tiere ‚leben
ausschließlich in ihrer Umwelt’, doch der Mensch reicht „über alles mögliche
Milieu des Lebens“ hinaus.[28]

Um dieses Hinausreichen, Transzendieren zu verwirklichen, ist der Mensch


auf Bildung angewiesen. Durch Bildung kann der Einzelne über sich hinaus
wachsen. So verwirklicht er sein ihm eigenes Wesen, bzw. seine göttliche
Natur. Menschwerdung und das Werden der Gottheit sind untrennbar
verbunden. Diese Verbindung gestaltet den Weltprozess. In seinem Konzept
der Kosmologie ist der Mensch ein „Mikrokosmos“, der den „Makrokosmos“
(das Universum) in sich abbildet. Durch Bildung erhält er Kenntnisse über die
Gottheit und Einsichten in das Wesen des Zusammenwirkens mit ihr. Im
Gegenzug vermag die Gottheit „sich selbst zu wissen und zu erfassen, zu
verstehen und sich zu erlösen“. So erhält die Menschwerdung durch den ‚Wert
Bildung’ eine alles Individuelle übersteigende, kosmologische Dimension, sie
ist „der Sinn der Erde, ja der Welt selbst“.[29]

„… alle Ausbildung »zu etwas« ist für die aller äußersten »Zwecke«
ermangelnde Bildung da – für den wohlgeformten Menschen selbst.[30]“

Trotz allem vertritt Scheler keinen „Dandyismus“, wie er es ausdrückt: Der


Mensch soll kein Kunstwerk werden. Bildung ist nicht „Sich-zum-Kunstwerk-
machen-Wollen“, vielmehr von jeglichem Wollen frei zu halten. In der
Bildung soll der Mensch sich „verlieren“, um sich selbst zu gewinnen. Dies
gelingt, indem man sich von einem Vorbild erfassen lässt. Die so wirksam
werdenden Vorbilder können unterschiedlicher Art sein. Denn es gibt nicht
die einzige Humanität, die für alle Menschen gilt.

In diesem Sinn beschreibt Scheler drei leitende Arten von Wissensformen:

das Leistungs- und Herrschaftswissen der positiven Wissenschaften zur


Erlangung praktischer Ziele
das Bildungswissen der Philosophie zur Ausformung der Persönlichkeit
das Erlösungs- und Heilswissen der Religionen als liebende Teilhabe am
Prozess des Seins selbst.[31]
Jede dieser Wissensformen zeichnet sich durch spezifische Motivation,
Erkenntnisziele, Erkenntnisakte, vorbildhafte Persönlichkeitstypen, soziale
Gruppen des Wissenserwerbs und der Wissensverbreitung, sowie historischer
Bewegungsformen aus. Diesen entsprechen die Wertmodalitäten 1) Vitalwerte
2) Geisteswerte 3) Heiligkeitswerte. Alle drei Werte hält Scheler für
notwendig. Die einseitige Ausrichtung der abendländischen Kultur auf das
Leistungswissen gefährdet diese Werte. Die asiatischen Kulturen verfügen
dagegen über einen gewaltigen Vorsprung in den Bereichen des
philosophischen Bildungs- und Erlösungswissens.[32] Um die Einseitigkeiten
zu beheben, plädiert Scheler für einen Kulturaustausch. Der höchste Wert in
diesem Austausch komme dabei dem Erlösungswissen zu. Das
Erlösungswissen allein sei zweckfrei und diene so der Menschwerdung.
Leistungs- und gesellschaftlich relevantes Wissen stehen letzten Endes in
dessen Dienst. Deshalb könne das humanistische Bildungswissen nicht das
letzte Ziel sein.

Philosophische Anthropologie
Anthropologie beschäftigte Scheler mehr als jedes andere philosophische
Thema. 1928 veröffentlichte er für seine ‚Philosophische Anthropologie’ eine
Gliederung der Bereiche, die er darin berücksichtigen wollte:

eine Typologie des menschlichen Selbstbewusstsein,


Wesensontologie des Menschen,
vergleichende Darstellung von Mensch und Tier,
eine Lehre vom zeitlichen Ablauf des menschlichen Lebens,
eine Lehre vom Ursprung des Menschen,
eine Philosophie des Menschen unter sozialer und historischer Sicht,
die Zukunft des Menschen,
ein Vergleich zwischen verschiedenen Anthropologien auf der Grundlage der
Wesensontologie
und das Verhältnis des Menschen zum Weltgrund.
Er hatte bereits früher angekündigt, eine grundlegende und umfassende
‚Philosophische Anthropologie’ zu veröffentlichen. Nach seinem Tod wurde
festgestellt, dass er nicht angefangen hatte, sie zu schreiben. Er hinterließ
Vorträge und Äußerungen zu Themen seiner Anthropologie in anderen
Veröffentlichungen. Der umfangreichste Vortrag war ‚Die Stellung des
Menschen im Kosmos’,[33] der als Buch vorliegt. In diesem Buch gibt er eine
‚kurze, sehr gedrängte Zusammenfassung einiger Hauptpunkte seiner
‚Philosophischen Anthropologie’.[34]

Zu diesen Hauptpunkten gehört ‚das Wesen des Menschen’. Für den


Phänomenologen und Metaphysiker Scheler ergibt sich dieses Wesen aus der
Entwicklung des organischen Lebens und den Tätigkeiten des Geistes. Diese
Zusammenschau führte schließlich zu Schelers Lehre, dass der Mensch
sowohl als biopsychisches Lebewesen und als ‚Träger des Geistes’ anzusehen
sei. Zeitgenossen wie der Phänomenologe Helmuth Plessner definierten den
Menschen ausschließlich vom Organischen und vom Historischen her.[35]
Den Menschen sieht Scheler außerdem in einem ‚Weltengrund’ verwurzelt.
Das ist das Thema der metaphysischen Seite seiner Anthropologie. Die
empirischen Wissenschaften haben ihren eigenen Zugang zur Anthropologie.
Die Metaphysik müsse die empirischen Ergebnisse berücksichtigen.[36]
Das Wesen des Lebens
Scheler bestimmt die menschliche Lebensform zuerst dadurch, dass er den
Menschen mit dem Tier vergleicht. Er erläutert in einem organischen
Stufenmodell sein Bild vom Lebewesen. Hier nennt er vier organische Stufen
der Entwicklung biologischer und psychischer Lebensformen. Jeder
biologischen Stufe ordnet er eine psychische zu, die er ‚Stufen von der
Innenseite des Lebens’ nennt. Alle Entwicklungsstufen, die Scheler im
Anschluss an den Metaphysiker Nicolai Hartmann auch als ‚Schichten’
bezeichnete, bauen hierarchisch aufeinander auf. Die Kategorien einer
niederen Schicht werden in der höheren verwandelt. Sie werden dabei um
etwas Neues bereichert.[37] Jede Schicht charakterisiert Scheler durch ein
bestimmtes Prinzip.

1. Die Schicht des Gefühlsdranges: Scheler gibt ihm die Eigenschaften


‚dunkel’, ‚undifferenziert’ sowie ‚ekstatisch’ und benennt ihn als Antrieb für
alles, was Tiere und Menschen empfinden, wahrnehmen und sich vorstellen.
Er vergleicht die Arbeitsweise des Gefühlsdrangs beim Menschen mit dem
autonomen Funktionieren des vegetativen Nervensystems. Schon bei Pflanzen
dürfe man von Gefühlsdrang sprechen, der sich im Wachsen zeige. Bei Tier
und Mensch sei das Triebleben Ausdruck des Gefühlsdrangs. Den
Gefühlsdrang beim Menschen versteht Scheler psychisch umfassend als
„Machtpotential der Subjektivität“.[38]

2. Schicht des Instinkts: Diese Schicht ist eine erste Differenzierung des
Gefühlsdrangs und seiner Eigenschaften. Scheler definiert ‚Instinkt’ durch
verschiedene Verhaltensweisen. So vermeidet er, sich auf eine
allgemeinverbindliche Bedeutung festlegen zu müssen. Genauso verfährt er
bei den weiteren Schichten. Er folgert aus den verschiedenen
Verhaltensweisen: Bestimmte Reize (Geburt eines Küken) lösen einen
unveränderlich gleichen Ablauf aus (Brutverhalten). Das instinktive Verhalten
sei determiniert und also eine primitive Form des Seins. Beim Menschen seien
Instinktreste wie das „Kindchenschema“ zu beobachten.

3. Schicht des assoziativen Gedächtnisses: Wie der Instinkt den ‚dunklen


Gefühlsdrang’ erweitert, so erweitert die Schicht des assoziativen
Gedächtnisses die des Instinkts. Das ‚assoziative Gedächtnis’ versteht Scheler
als 'Wiederholungstrieb', der sich als 'nachahmen' und 'kopieren' im Verhalten
zeige. Dieser Wiederholungstrieb, bzw. das ‚assoziative Prinzip’ sei ein
‚konservatives Prinzip’. Es stelle dem Individuum ausschließlich die
Handlungsmöglichkeiten der Tradition seiner Art zur Verfügung. Lebewesen
dieser Stufe verfügen assoziativ über das, was sie wahrnehmen und woran sie
sich erinnern. Wahrnehmen und Erinnern an eigenes und fremdes Verhalten
sind für Scheler die psychischen Bedingungen des traditionellen Handelns; sie
sind die ‚Innenseite des Lebens’ dieser Entwicklungsstufe. Das organische
Individuum löse sich nach und nach aus der Artgebundenheit, aus der Starrheit
des Instinktes sowie aus den Trieben, Gefühlen und Affekten. Es könne sich
nun an nicht-arttypische Situationen anpassen, z. B. beim Sexualverhalten. Es
lasse sich feststellen, dass der Sexualimpuls ausschließlich der Fortpflanzung
diene, solange er in Brunstzeiten eingebettet ist. „Herausgelöst aus der
‚instinktiven Rhythmik’, wird er mehr und mehr selbständige Quelle der Lust“
– und kann „schon bei höheren Tieren … den biologischen Sinn seines
Daseins weit überwuchern (z. B. Onanie bei Affen, Hunden)“.

4. Schicht der praktischen Intelligenz: Diese Schicht ‚korrigiere’ das


assoziative Prinzip. Sie sei prinzipiell noch ‚organisch gebunden’ und werde
durch weitere, ebenfalls organisch gebundene Fähigkeiten ergänzt. Lebewesen
mit praktischer Intelligenz können zwischen ,Gütern’ wählen. Dies zeige sich
z. B. als Auswahl von Sexualpartnern (Anfänge des Eros). Das Verhalten, das
als Ausdruck praktischer Intelligenz gelten könne, sei ein plötzliches Ereignis,
bei dem ein Lebewesen aus sich heraus zum ersten Mal eine Aufgabe löst, die
seine Bedürfnisse stillt. Die psychische Seite dieses Verhaltens definiert
Scheler „als Einsicht in einen Sachverhalt (seinem Dasein und zufälligen
Sosein nach) auf Grund eines Beziehungsgefüges“. Es handle sich hier um
‚produktives Denken’, das immer „die Antizipation, das Vorher-Haben eines
neuen nie erlebten Tatbestandes (pro-videntia, prudentia, Klugheit, Schlauheit,
List)…“ mit einbezieht. Zu diesem produktiven Denken rechnet Scheler auch
das technische Denken der Menschen. „Zwischen einem klugen Schimpansen
und Edison, dieser nur als Techniker genommen, besteht nur ein (wenn auch
großer) … gradueller Unterschied.“[39]

Auch Tiere erreichen diese Stufe, fügt Scheler hinzu und widerspricht damit
vielen Zeitgenossen. Die Versuche des Psychologen Wolfgang Köhler „...
erweisen nach meiner Ansicht klar, daß die Leistungen der Tiere nicht alle aus
Instinkten und dazutretenden assoziativen Vorgängen
(Gedächtniskomponenten vorhandener Vorstellungsverbindungen) abgeleitet
werden können, daß vielmehr in einigen Fällen echte Intelligenzhandlungen
vorliegen.“

Folgendes ungefähr passiere bei solchen Intelligenzhandlungen auf der


psychischen Seite des Lebens:
„Indem das Triebziel, z. B. eine Frucht, dem Tiere optisch aufleuchtet und
sich gegenüber dem optischen Umwelt-Felde scharf abhebt und
verselbständigt, bilden sich alle Gegebenheiten, die die Umwelt des Tieres
enthält, eigenartig um, … Es (das Tier) erhält ein derartiges relativ 'abstraktes'
Relief, daß (andere) Dinge … den abstrakten dynamischen Bezugscharakter
'Ding zum Fruchtholen' erhalten; … Die Triebdynamik im Tiere selbst ist es,
die sich hier zu versachlichen und in die Umgebungsbestandteile hinein zu
erweitern beginnt.[40]“

Das betreffende andere Ding (z. B. ein Stock), das das Tier benutzt, um in den
Besitz der Frucht zu kommen, erhält den vorübergehenden dynamischen
Funktionswert „… eines ‚Etwas zur Annäherung der Frucht’“
(Werkzeugvorstellung). Dieses Etwas scheint sich aus der Sicht des Tieres auf
das Ziel (die Frucht) zu richten, bzw. auf es hinzubewegen. Das Tier kann also
im Vollzug der praktischen Intelligenz in seine Triebstruktur eingreifen, um
Vorteile zu erreichen.[41] Damit ist die biopsychische Stufenfolge
abgeschlossen, so wie sie die Wissenschaft herausgestellt hat, bemerkt
Scheler. Die objektiven wesensphänomenalen Eigenschaften des Lebendigen
wie Selbstbewegung, Selbstformung, Selbstdifferenzierung, Selbstbegrenzung
sind dargestellt.[42]

Das Wesen des Geistes


Diesen biopsychischen Schichten setzt Scheler das gänzlich andere Prinzip
des Geistes entgegen. Durch den Geist ist der Mensch dem
Naturzusammenhang vollkommen ‚enthoben’. Das Prinzip des Geistes …

„...steht außerhalb alles dessen, was wir 'Leben' im weitesten Sinne nennen
können: Das, was den Menschen allein zum 'Menschen' macht, ist nicht eine
neue Stufe des Lebens …, sondern es ist ein allem und jedem Leben
überhaupt, auch dem Leben im Menschen entgegengesetztes Prinzip, eine
echte neue Wesenstatsache, die als solche überhaupt nicht auf die 'natürliche
Lebensevolution' zurückgeführt werden kann, sondern,… nur auf den obersten
einen Grund der Dinge selbst zurückfällt …, dessen eine große Manifestation
das 'Leben' ist.[43]“

Der Mensch sei deshalb, so Scheler, ‚umweltfrei’ und ‚weltoffen’ und zu


‚vollendeter Sachlichkeit’ fähig. Sein Verhältnis zur Welt und zu sich selber
sei dem des Tieres gegenüber ‚umgekehrt’. Der Mensch könne sich von der
Welt distanzieren, sich selber reflektieren und sich die Welt zum Objekt
machen, weil er ‚Träger des Geistes’ sei. Der ‚Geist’ macht die
‚Sonderstellung des Menschen’ aus, ist die zugespitzte Aussage der
philosophischen Anthropologie Schelers.

Der Mensch verwirklicht und überschreitet die Schichten der organischen und
psychischen Lebensprinzipien und wird schließlich Vertreter der ‚Sphäre’ des
Geistes. Diese Sphäre manifestiere sich in der ‚Person im Menschen’. Sie ist
das ihm gemäße ‚ontische (seinsgemäße) Zentrum’, seine raumzeitliche
Einheit und sein Individuum’. Dieses Zentrum aber, so Scheler weiter, kann
der Mensch nicht zum ‚Gegenstand seiner Erkenntnis’ machen. Die Person sei
nur, indem sie denkt: ihr Sein bestehe ausschließlich im ‚freien Vollzug ihrer
(Denk-)Akte’.

„Zum Sein unserer Person können wir uns nur sammeln, zu ihm hin uns
konzentrieren – nicht aber es objektivieren.[44]“

Sie ist und bleibt eine unbekannte Größe des Menschen, sie ist 'sein X'.
Scheler behauptet, dass diese unbekannte Größe, sich 'im obersten
Seinsgrunde selbst' befindet. Diesen Seinsgrund nimmt er zwingend an, weil
es einen ‚unverbrüchlichen Wesenszusammenhang von Akt und Idee’
gäbe.[45]

Zusammen mit den Akten jenes ‚geistigen Seinsgrundes’ wirken Menschen


mit ihren Denk-Akten an einer geistigen Wesensordnung mit, die objektiv und
zielgerichtet ist. Dieses geistige, bzw. denkende Mitwirken ist eingebettet in
das Zusammenwirken von biophysischem Leben und Geist. Der Geist
durchdringt das Leben mit Ideen, die dem Leben erst seine Bedeutung geben.
Das Leben ermöglicht dagegen erst den Geist und gibt ihm eine Tätigkeit, um
sie im Leben zu verwirklichen.

„So wesensverschieden auch 'Leben' und 'Geist' sind, so sind doch beide
Prinzipien im Menschen aufeinander angewiesen: der Geist ideiert das Leben
– den Geist aber von seiner einfachsten Aktregung an bis zur Leistung eines
Werkes, dem wir geistigen Sinngehalt zuschreiben, in Tätigkeit zu setzen und
zu verwirklichen, vermag das Leben allein.[46]“

Mit ideieren bezeichnet Scheler das Erfassen von essentiellen


Beschaffenheiten und Aufbauformen der Welt. Das entspricht seiner
Interpretation der ‚phänomenologischen Wesensschau’ Husserls. Die
Wesensschau und die Tätigkeit der Einheit Physis (Körper) und Psyche
(Seele) ergänzen sich. Die Dreiteilung des Menschen und des Kosmos in
Körper, Seele und Geist ist eine fast zweitausendjahrealte neuplatonische bzw.
christlich-metaphysische Einteilung von Plotin und Augustinus. Die Trennung
von Körper und Geist wird in dem neuzeitlichen Dualismus von Körper und
Geist-Seele z. B. bei Descartes fortgesetzt. Beide Arten der Trennung verwirft
Scheler. Die neue Trennung, bzw. der neue Dualismus, den er anzutreffen
glaubt, ist der zwischen Geist und Leben.

Scheler distanziert sich auch von anthropologischen Ideen, die, aus seiner
Sicht, das Wesen des Lebens in seiner Eigenart und Eigengesetzlichkeit
übersehen. Dazu gehören für ihn sensualistische, positivistische,
naturwissenschaftliche Philosophen von der Antike bis zur Gegenwart, wie
Epikur, Lukrez, La Mettrie, Hume, Mach. Er lehnt außerdem vitalistische
Konzepte ab. Das ‚Prinzip Leben’ für die Gesamtauffassung des Menschen
werde von Vitalisten ‚weit überschätzt’, meint er. Zu ihren Vertretern rechnet
er beispielsweise: Charles Sanders Peirce, William James, John Dewey,
Friedrich Nietzsche.[47]

Kritiken zur Philosophischen Anthropologie


Die Veröffentlichungen von Schelers „Die Stellung des Menschen im
Kosmos“ und Plessners „Die Stufen des Organischen“ gelten als Durchbruch
zu dem, was seither unter ‚Philosophischer Anthropologie’ bekannt geworden
ist.[48]

Ernst Cassirer und Martin Heidegger stellen fest, dass Scheler kein neuer
Entwurf philosophischer Anthropologie gelungen sei. Laut Cassirer bleibe
Scheler beim Dualismus von Descartes. Er erbe damit auch die für den
Cartesianismus charakteristischen Probleme. Heidegger behauptet, Scheler
wiederhole eigentlich nur das traditionelle Additionsmodell vom Menschen
als einem ‚vernünftigen Lebewesen’. Er setze ontologisch unreflektiert den
Menschen mit ‚Lebewesen plus Vernunft’ gleich.[49]

Aus theologischer Sicht bleibt Schelers Versuch wichtig, seine neue


Anthropologie mit metaphysischen Ausblicken auf den Weltgrund zu
verbinden. „Dieser Grund sei bipolar; er verbinde die Selbstbehauptung des
Lebensdranges mit der Ausrichtung des Geistes auf Wesenheiten. So lassen
sich z. B. die technischen Leistungen des Menschen von seinem Weltauftrag
her bestimmen und eingrenzen.“[50]

Von metaphysischer Seite wird von einigen vorgebracht, dass die Einheit, die
Scheler mit seiner Anthropologie vorschwebte, heute nicht mehr zu
verwirklichen sei. Der Tübinger Philosoph Walter Schulz geht davon aus, dass
die Frage nach dem Wesen des Menschen kein philosophisches Projekt mehr
ist. Heute hätten die (Natur-)Wissenschaften das Wort. Auch Scheler
beschrieb diese Auseinanderdriften von Metaphysik und Empirie: „Der
Mensch ist ein so breites, buntes, mannigfaltiges Ding, dass die Definitionen
alle ein wenig zu kurz geraten. Er hat zu viele Enden.“[51]

Ehrungen
In Dortmund-Scharnhorst wurde der Schelerweg nach Max Scheler benannt.
In Köln wurde er ebenfalls mit der Benennung einer Straße im Stadtbezirk
Lindenthal geehrt.[52]

Literatur
Werke
Zur Phänomenologie und Theorie der Sympathiegefühle und von Liebe und
Hass, 1913
Der Genius des Kriegs und der Deutsche Krieg, 1915
Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, 1913–1916
Krieg und Aufbau, 1916
Die Ursachen des Deutschenhasses, 1917
Vom Umsturz der Werte, 1919
Neuer Versuch der Grundlegung eines ethischen Personalismus, 1921
Vom Ewigen im Menschen, 1921
Probleme der Religion. Zur religiösen Erneuerung, 1921
Wesen und Formen der Sympathie, 1923 (neu aufgelegt als Titel von 1913:
Zur Phänomenologie …)
Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, 3 Bände, 1923/1924
Die Wissensformen und die Gesellschaft, 1926
Der Mensch im Zeitalter des Ausgleichs, 1927
Die Stellung des Menschen im Kosmos, 1928
Erkenntnis und Arbeit. Eine Studie über Wert und Grenzen des pragmatischen
Motivs in der Erkenntnis der Welt.
Philosophische Weltanschauung, 1929
Logik I. (Fragment, Korrekturbögen). Amsterdam 1975, ISBN 90-6203-229-
X.
Ausgaben

Gesammelte Werke. 16 Bände. Bouvier, 1954–1998. Inhaltsverzeichnis auf


der Homepage der Max Scheler Gesellschaft (s. Weblinks).
Schriften zur Anthropologie. Reclam, Ditzingen 1994, ISBN 3-15-009337-6.
Die Stellung des Menschen im Kosmos. 16. Auflage. Bouvier, Bonn 2007,
ISBN 978-3-416-02592-8.
Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, hrsg. von Christian
Bermes, Hamburg 2014, ISBN 978-3-7873-2476-7.
Sekundärliteratur
Philosophiebibliographie: Max Scheler – Zusätzliche Literaturhinweise zum
Thema

Eine Sammlung der Sekundärliteratur ab dem Jahr 2000 findet sich auf der
Homepage der Max Scheler Gesellschaft (s. Weblinks).

Ralf Becker, Christian Bermes, Heinz Leonardy (Hrsg.): Die Bildung der
Gesellschaft. Schelers Sozialphilosophie im Kontext. Königshausen &
Neumann Verlag, Würzburg 2007, ISBN 978-3-8260-3551-7.
Christian Bermes, Wolfhart Henckmann, Heinz Leonardy (Hrsg.): Solidarität.
Person und soziale Welt. Königshausen & Neumann Verlag, Würzburg 2005,
ISBN 3-8260-3303-5.
Christian Bermes, Wolfhart Henckmann, Heinz Leonardy (Hrsg.): Vernunft
und Gefühl. Schelers Phänomenologie des emotionalen Lebens. Königshausen
& Neumann Verlag, Würzburg 2003, ISBN 3-8260-2486-9.
Christian Bermes, Wolfhart Henckmann, Heinz Leonardy (Hrsg.): Person und
Wert. Schelers „Formalismus“ – Perspektiven und Wirkungen.
(Philosophische Kontexte), K. Alber Verlag, Freiburg i.Br. 2000, ISBN 3-495-
47970-8.
Christian Bermes, Wolfhart Henckmann, Heinz Leonardy (Hrsg.): Denken des
Ursprungs – Ursprung des Denkens. Schelers Philosophie und ihre Anfänge in
Jena. Königshausen & Neumann Verlag, Würzburg 1998, ISBN 3-8260-1537-
1. (Kritisches Jahrbuch der Philosophie, Bd. 3)
Guido Cusinato: Person und Selbsttranszendenz: Ekstase und Epoché des Ego
als Individuationsprozesse bei Schelling und Scheler, Königshausen &
Neumann Verlag, Würzburg 2012, ISBN 978-3-8260-4945-3
Flasch, Kurt. Die geistige Mobilmachung: die deutschen Intellektuellen und
der Erste Weltkrieg; ein Versuch (Berlin, Alexander Fest Verlag, 2000)
Konrad Fuchs: SCHELER, Max Ferdinand. In: Biographisch-
Bibliographisches Kirchenlexikon (BBKL). Band 9, Bautz, Herzberg 1995,
ISBN 3-88309-058-1, Sp. 75–77.
Paul Good: Max Scheler. Eine Einführung. Parerga Verlag, Düsseldorf u. a.
1998, ISBN 3-930450-34-8.
Hans H. Groothoff: Max Scheler: Philosophische Anthropologie und
Pädagogik zwischen den Weltkriegen. Eine Studie. Verlag Dr. Kovac,
Hamburg 2003, ISBN 3-8300-0860-0. (Schriftenreihe Erziehung – Bildung –
Unterricht, Bd. 103)
Wolfhart Henckmann: Scheler, Max Ferdinand. In: Neue Deutsche Biographie
(NDB). Band 22, Duncker & Humblot, Berlin 2005, ISBN 3-428-11203-2, S.
644–646 (Digitalisat).
Wolfhart Henckmann: Max Scheler. Beck Verlag, München 1998, ISBN 3-
406-41943-7. (Beck’sche Reihe, Bd. 543; Denker)
Peter Hoeres: Der Krieg der Philosophen. Die deutsche und britische
Philosophie im Ersten Weltkrieg, 2004, ISBN 978-3-506-71731-3.
Wilhelm Mader: Max Scheler. In Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. 2.
Auflage. Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1995, ISBN 3-499-50290-9.
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Fridingen a. D. 1995, ISBN 3-9802256-4-X.
Ernst W. Orth, Gerhard Pfafferott (Hrsg.), Studien zur Philosophie von Max
Scheler. K. Alber Verlag, Freiburg i.Br. 1994, ISBN 3-495-47798-5.
(Phänomenologische Forschungen, Bd. 28/29)
Gerhard Pfafferott (Hrsg.): Vom Umsturz der Werte in der modernen
Gesellschaft. II. Internationales Kolloquium der Max Scheler Gesellschaft.
Bouvier Verlag, Bonn 1997, ISBN 3-416-02621-7.
Gérard Raulet (Hrsg.), Max Scheler. L'anthropologie philosophique en
Allemagne dans l'entre-deux-guerres – Philosophische Anthropologie in der
Zwischenkriegszeit. Éditions de la Maison des sciences de l'homme, Paris
2001, ISBN 2-7351-0937-2.
Angelika Sander: Max Scheler zur Einführung. Junius Verlag, Hamburg 2001,
ISBN 3-88506-338-7. (Zur Einführung, Bd. 238)

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