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Die Betrachtung der modernen Langeweile

durch ein Fernrohr und unter einer Lupe

Inhaltsanalyse und Interpretation in


Triëdere und Das Fliegenpapier von Robert Musil

Verfasserin: QIU Chenchen

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung ............................................................................................................. 1

2. Theoretische Ansätze zur modernen Langeweile nach Goodstein und Kracauer 2

2.1 Langeweile als Strategie des Umgangs mit Defiziten der Welt .....................................2

2.2 Langeweile als Gewähr des Daseins...............................................................................4

3. Inhaltsanalyse und Interpretation der Satiren Das Fliegenpapier und Triëdere von
Musil............................................................................................................................. 5

4. Fazit ...................................................................................................................... 8

Literaturverzeichnis ...................................................................................................... 9

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1. Einleitung

Komplex und paradox erscheint Langeweile als ein diskursiv artikuliertes Phänomen.

Zwischen dem Langeweile-Diskurs, wo sich neue Perspektiven dank den

Auseinandersetzungen von Philosophen, Literaten, Soziologen sowie Psychologen

reproduzierend eröffnen, und dem historischen Wandel bestehen innere

Zusammenhänge. Durch die technologischen und wirtschaftlichen Entwicklungen im

19. Jahrhundert wurden die Zeitrhythmen des Alltags verändert, was zu einer neuen

historischen Deutung der menschlichen Zeitlichkeit führte. So präsentiert sich der

Diskurs seitdem wegen der Modernisierung in Verknüpfung der subjektiven Erfahrung

mit der scheinbar sinnlosen Zeit (vgl. Goodstein 2003: 125).

Während manche Langeweile zu verscheuchen versuchen, wird sie von dem

Existentialismus als eine entscheidende Grunderfahrung des Selbst, ein nötiger

Schritt zum Gelangen des Ich und „eine leibliche sowie geistige Anpassung an das

Leben in einer Welt ohne Beständigkeit“ (Goodstein 2003: 124) betrachtet. Den

theoretischen Ansätzen von Elizabeth S. Goodstein und Siegfried Kracauer

verfolgend beschäftigt sich die vorliegende Arbeit mit zwei Satiren von Robert Musil,

nämlich das Fliegenpapier und Triëdere. Während Letztere der Leserschaft einen

Blickwinkel aus einem Fernrohr anbietet, wird ein „Tangle-foot“ Fliegenpapier mithilfe

eines Vergrößerungsglases in der Ersteren bezeichnet.

Zunächst wird die theoretischen Ansätze von Goodstein und Kracauer vorgestellt. Im

Anschluss daran wird es versucht, die Satiren mit Fokus auf „der modernen

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Langeweile“ zu interpretieren und analysieren. Auch aufgezeigt wird es, inwiefern die

ausgewählten Texten von Musil relevant für die Ansatzpunkte von Goodstein und

Kracauer sind.

2. Theoretische Ansätze zur modernen Langeweile nach Goodstein und

Kracauer

2.1 Langeweile als Strategie des Umgangs mit Defiziten der Welt

In ihrem 2003 erschienenen Aufsatz Langeweile und die Demokratisierung der

Skepsis in der Moderne setzt Elizabeth S. Goodstein (vgl. 2003: 126) mit der Frage

auseinander, inwiefern die Ausbreitung des Langeweile-Diskurses eine Funktion

jenes Prozesses ist, den sie als die „Demokratisierung der Skepsis in der

Moderne“ benennt.

Nach einer begrifflichen Darlegung der Langeweile und der Skepsis wendet sie sich

drei entscheidenden Zeugen des Diskurses zu (vgl. Goodstein 2003: 123-127),

nämlich Charles Baudelaire, Georg Simmel und Robert Musil. Während Charles

Baudelaires den Zusammenhang betont, der zwischen der Fähigkeit zur Langeweile

und dem kulturellen Kontext besteht (vgl. Goodstein 2003: 127), schenkt Georg

Simmel in seiner Analyse der modernen Kultur Aufmerksamkeit auf den Wandel der

Zeitlichkeit und die dadurch ausgelöste „blasierte Lebensform“. Der dritte Zeuge,

Robert Musil, macht die Verbindungen zwischen den philosophischen und

historischen Aspekten des Diskurses sichtbar (vgl. Goodstein 2003: 134).

Der Zusammenhang zwischen der Langeweile und der Erfahrung des Selbst und der

Welt lässt sich deutlich erkennen (vgl. Goodstein 2003: 125f.). Die Langeweile ist ein
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„Gewirr“ von alltäglicher Sinnkrise, verlorener Welt und „Erfahrung ohne

Eigenschaften“, jedoch ist dieser Zusammenbruch des Selbst und der Welt eine

„Offenbarung“, weil sie das Subjekt der Begierde „vereinsamt und vereinzelt“ (vgl.

Goodstein 2003: 123).

Psychoanalytiker verstehen unter Langeweile eine affektive „Abwehr gegen das

Gefühl“, und sie sollte einem als Schutz für das Selbst und als Stabilisierung der

subjektiven Existenz dienen (ebd.). In den 1840er Jahren lässt sich die Tendenz

beobachten, „von der Langeweile als einer Massenkrankheit moderner Subjekte zu

sprechen“ (Goodstein 2003: 124), so reicht das psychoanalytische Deutungsmodell

nicht aus. Die Ansteckungsgefahr der Langeweile geht auf die Charakteristika der

Moderne zurück. Nach Goodstein (ebd.) ist „die Sucht nach Neuheit und Erneuerung,

Geschwindigkeit und Fortschritt“ zur Basis eines „sich fortwährend beschleunigenden

Verwandlungsprozesses“ geworden, deswegen hat die Langeweile die westliche

Welt hart getroffen. Sie ist Ursache, Wirkung und Symptom dieses Prozesses

zugleich, wo die Welt durch Unbeständigkeit und „fragmentierte

Zeitlichkeit“ gekennzeichnet ist.

Aus Sicht von Goodstein (2003: 125) ist die Langeweile ist nicht nur eine Reaktion

auf die Welt, sondern auch „eine historisch konstituierte Strategie mit ihren Defiziten“.

Indem sie sich auf den Worten von Sextus Empiricus über die „Skepsis“ bezieht, setzt

Goodstein (vgl. 2003: 126f.) die antike Skepsis mit der modernen Langeweile in

Verbindung. Nach Sextus ist die Skepsis eine positive Fähigkeit, die einem die

Seelenruhe durch die Neutralisierung der Begierde ermöglicht. Die moderne

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Langeweile, die die erste Forderung der Skepsis, „die Zurückhaltung des Urteils“,

erfüllt, teilt mit der Skepsis Gemeinsamkeiten und ist Goodstein (vgl. 2003: 127)

zufolge eine „reflexive Strategie“, die einem helfen kann, mit den unerfüllbaren

Begierden umzugehen.

2.2 Langeweile als Gewähr des Daseins

Wie bereits dargestellt wurde, kann unter Langeweile eine Anpassung an das

tumultartige Leben und an die Zeit ohne Beständigkeit verstanden werden. Die

Erörterungen Goodsteins stehen mit denen von Kracauer in wesentlichen Punkten

überein. In dem Essay Langeweile, der von das Ornament der Masse herausgezogen

wird, weist Kracauer (vgl. 1927: 321f.) darauf hin, dass die Gegenwart des Selbst die

Langeweile in der „betriebsamen“ Welt benötigt. Diese Welt, die „selber viel zu

interessiert“ ist, kümmert sich darum, dass man nicht zu sich gelangt (vgl. 1927: 322).

Indem er den Schwerpunkt auf die Beziehung zwischen Muße, Arbeit und Langeweile

sowie die Problematik der modernen Technik legt, übt der Soziologe und

Geschichtsphilosoph Kritik an die Welt und Zeit, die voller Unbeständigkeit ist und der

privaten Existenz sowie der persönlichen Langeweile droht (vgl. Kracauer 1927:

321ff.).

Als konkrete Beispiele werden Reklame, Kino und Radio angeführt. Während ein

fremder „Geist“ durch Reklame unendlich „aus der Nacht in die Nacht streift“, geht

das Selbst während des Gaffens im Kino verloren. Das Radio setzt einen mit

„Weltgeräuschen“ in einen „Zustand dauernder Empfängnis, dadurch ist man sich

nicht mehr klar, wer der Jäger und wer das Wild ist (vgl. Kracauer 1927: 322f.).

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Was seine Auseinandersetzung mit Muße, Arbeit und Langeweile angeht, wird im

folgenden Kapitel in Verknüpfung mit der Satire Triëdere dargelegt.

3. Inhaltsanalyse und Interpretation der Satiren Triëdere und Das

Fliegenpapier von Musil

Robert Musil (1880-1942) zählt zu den wichtigsten Vertretern der modernen Literatur,

die nicht nur als Widerspiegelung von sozial- und kulturgeschichtlichen

Entwicklungen und Diskursen, sondern auch als kritischer Zeuge gilt (vgl. Willems

2015: 14f.).

Das im Jahr 1936 herausgegebene Sammelband Nachlaß zu Lebzeiten wird in der

Vorbemerkung von Musil (vgl. Musil 1957: 292f.) selbst als

„Zwischenveröffentlichung“ bezeichnet, die „an den zusammenziehenden Kräften [...]

am wenigsten fehlen dürfte“, „die Zeit ihrer Entstehung sichtbar an sich“ trägt und

„zum Teil gewesenen Zuständen“ gilt. Dichterisch nennt Musil (vgl. 1957: 291) diese

Zustände eine donnernde und ächzende Welt.

Das Fliegenpapier und Triëdere gehört jeweils zu dem Kapitel Bilder und

Unfreundliche Betrachtungen. In den beiden Texten wird fast alles, entweder von

Nahem oder Weitem, bis in die kleinsten Details geschildert.

Triëdere beschreibt einen Versuch, etwas durch ein Fernrohr zu betrachten, das man

sonst nicht durch ein Fernrohr ansieht. Hauptaugenmerk der Satire wird im Hinblick

auf die Fragestellung der erste Gegenstand des Spähers, „ein bekanntes staatliches

Institut“, dessen Anschlag am Tor „eines schönen alten Hauses“ aushängt. Mithilfe

des Triëders liest der Späher ab, dass das Institut von 9 bis 16 Uhr Amtsstunden hat.
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Zu seinem Erstaunen ist kein Beamter „in dem kleinen Kreis seines Instruments“ zu

sehen. Nach einer langen Weile des Suchens erblickt der Beobachter „hinter einem

entlegenen Fenster“ endlich zwei winzige, dicht nebeneinanderstehende Herren, die

mit den Fingern an die Scheiben trommeln und auf die Straße hinabsehen. Nachdem

der Späher die Beamten entdeckt hat, die in diesem Zeitpunkt am Fenster fast das

Gleiche wie er tun, versteht er sie herzlich und bemerkt mit Stolz, „wie wichtig die

Triëderen für Beamte noch werden können, und überhaupt für Männer, die eine

geheiligte Zahl von Bürostunden abzusitzen haben“ (Musil 1957: 337).

Lassen wir an dieser Stelle kurz auf den Ansatz Kracauers (vgl. 1927: 321)

zurückblicken: Arbeitsethik wird erfunden, um dem „leidigen Zwang“ der Arbeit eine

moralische Bedeutung zu verleihen, damit man einen gewissen Stolz besitzen und

die Langeweile vertreiben kann. Es wird festgestellt, dass „die vulgäre Langeweile“ oft

nicht betrachtet wird, wenn man eine „angenehmere Arbeit“ hat, unter der eine

„moralisch sanktionierte“ Tätigkeit verstanden wird (vgl. ebd.). Als Beamter in einem

bekannten staatlichen Institut tätig zu sein, gehört deutlich dazu. Was der Beobachter

durch das Fernrohr gesehen hat, ist kein Zufall, sondern ein Teil des Alltags. Dass er

durch das Fernrohr zu sehen versucht, macht er nicht aus irgendeiner spontanen Idee,

sondern aus reiner Gewohnheit oder Leidenschaft. Unklar ist es aber, ob die Beamte

überhaupt langweiliger als der Beobachter sind, der sie sofort herzlich versteht. Die

Langeweile, die durch das Fernrohr von dem Späher wahrgenommen wird, trägt die

Unauffindbarkeit an sich. Ein Triëder verrät heimlich, was nicht gezeigt wird.

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Für Musil (1957: 292) ist Das Fliegenpapier in Wahrheit „ein Vorausblick [...], getan in

ein Fliegenpapier“, das man ohne Vergrößerungsglas nicht bezeichnen kann. Aus der

Perspektive unter einer Lupe wird der verzweifelte Überlebensversuch der Fliegen

auf dem Fliegenpapier Tange-foot dargestellt. Nicht aus besonderer Gier, sondern

mehr aus Konvention kleben Fliegen daran.

Anfangs ist es „noch nichts als ein weicher, warmer, unübersichtlicher Widerstand“,

auf den die Fliegen so reagieren, „wie Tabiker, die sich nichts anmerken lassen wollen

oder wie klapprige alte Militärs“ (vgl. Musil 1957: 294). Nach Überlegung wird eine

Entscheidung getroffen, sich abzuheben, bis die Fliegen von dem Versuch erschöpft

sind. Jedoch werden die Intervalle zwischen einer Atempause und einem erneuerten

Versuch immer länger (vgl. Musil 1957: 295). Im diesem Zusammenhang lohnt es

sich zu erwähnen, dass das Wort „Langeweile“ ursprünglich von der Wortgruppe

„lange Weile“ zusammengerückt wurde, was seit dem 12. Jahrhundert belegbar ist.

Wegen seines Verwendungszwecks genießt ein Fliegenpapier normalerweise kein

enthusiastisches Publikum, allerdings nimmt Musil eins unter die Lupe, damit es im

Laufe der sich dehnenden langen Weilen detailliert beobachtet werden kann.

Da die Flucht viel Energie verlangt, befinden sich die armen Wesen auf einem

Engpass:

Wenn sie die seelische Erschöpfung überwunden haben und nach einer kleinen Weile den

Kampf um ihr Leben wieder aufnehmen, sind sie bereits in einer ungünstigen Lage fixiert, und ihre

Bewegungen werden unnatürlich. [...] Ein Nichts, ein Es zieht sie hinein. So langsam, daß man

dem kaum zu folgen vermag, und meist mit einer jähen Beschleunigung am Ende, wenn der letzte

innere Zusammenbruch über sie kommt. (Hervorhebung QIU Chenchen)

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(Musil 1957: 295)

Mit den durch Fettdruck hervorgehobenen Wörtern lässt sich die Langeweile nicht

schwer assoziieren, die von Gustave Flaubert beschrieben wird:

jene moderne Langeweile, welche die Eigenweide eines Menschen zerfrißt und aus einem

geistigen Wesen einen wandelnden Schatten, ein denkendes Phantom macht (cet ennui moderne,

qui ronge l’homme dans les entrailles et, d’un être intelligent, fait une ombre qui marche, un

fantôme qui pense)

(Flaubert 1844 208f., zit. n. Goodstein 2003: 124)

Während sich Goodstein (vgl. 2003: 124) von der Ansicht Flauberts distanziert,

betrachtet Musil das Fliegenpapier eher negativ. Wird es versucht, unter diesem als

eine Metapher für die Langeweile zu verstehen, dann ist es festzustellen, dass man

der Langeweile nicht entfliehen und ihr nur unterliegen kann.

4. Fazit

Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass sich die ausgewählten

Satiren von Robert Musil das Fliegenpapier und Triëdere in Verkörperung mit den

theoretischen Ansätzen von Siegfried Kracauer und Elizabeth S. Goodstein

interpretieren und analysieren lassen. Diesbezüglich konnte in dieser Arbeit nur

begrenzte Theorien am Beispiel zwei relativ kurzer Texte von Musil in Betracht

kommen. Interessant und aufschlussreich wäre eine umfassendere

Auseinandersetzung mit dem Langeweile-Diskurs in der Moderne und

repräsentativeren Werken von Vertretern mit unterschiedlichen Schwerpunkten.

Aus der Sicht von Kracauer und Goodstein soll die Langeweile nicht verscheucht

werden, denn sie ermöglicht die private Existenz auf der Welt, wo das Selbst schnell

8
verloren gehen kann. Die zwei Satiren von Musil, die aus dieser Welt und Zeit

gestammt haben, tragen gewisse Relevanz für den Langeweile-Diskurs über die

Moderne, und können nach etwa 80 Jahren immer noch die Gegenwart wegweisend

beeinflussen.

Literaturverzeichnis

Goodstein, Elizabeth (2003): Langeweile und die Demokratisierung der Skepsis in

der Moderne. In: Hüppauf, Bernd/Vieweg, Klaus (Hg.): Skepsis und

literarische Imagination. München: Wilhelm Fink Verlag.

Kracauer, Siegfried (1927): Das Ornament der Masse. Essays. Frankfurt am Main:

Suhrkamp Verlag.

Musil, Robert (1957): Frühe Prosa und aus dem Nachlass zu Lebzeiten. Hamburg:

Rowohlt Verlag.

Willem, Gottfried (2015): Geschichte der deutschen Literatur. Band 5. Moderne.

Wien/Köln/Weimar: Böhlau Verlag GmbH & Cie.

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