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Besprechungen - Comptes rendus 347

PIERRE R. L:EON, Phonetisme et prononciations du franc;ais, avec des travaux pratiques


d'application et leurs corriges, Paris (Nathan) 1992, 192 p. (fac. linguistique)
Pierre Leon ist einer der bedeutendsten lebenden Phonetiker und v.a. der führende Into­
nologe im Bereich des Französischen - davon zeugen u. a. seine inzwischen in 4. Auflage
vorliegende Prononciation du fran,;ais standard, seine Essais de phonostylistique, seine
Prolegomenes a l'etude des structures intonatives (zusammen mit Philippe Martin) sowie
eine Reihe von Sammelbänden, Einzelaufsätzen usw.1; überdies ist er Herausgeber der
hervorragenden Reihe Studia phonetica. - Die hier vorliegende Publikation war ursprüng­
lich als eine Art Summa seines Lebenswerkes geplant, die seine Essais wieder aufnehmen
und an die über zwanzigjährige Entwicklung der Forschung anpassen sollte; überdies sollte
auch der Soziolinguistik und der Diskursanalyse verstärkt Rechnung getragen werden.
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Das Manuskript dieses Traite de phonostylistique nahm jedoch einen derartigen Umfang
an, daß der Verf. sich entschloß, die einleitenden Teile separat als eine Einführung für
Studenten und interessierte Laien zu publizieren. So sind wir gewissermaßen durch Zufall
zu einem ausgezeichneten Hand- und Studienbuch gekommen, das durch eine geschickte
Auswahl und Präsentation einer Reihe von (linguistischen, phonetischen und intonologi­
schen) Grundbegriffen dem Leser «le fonctionnement phonetique du frarn;:ais, dans son
rapport avec la variation» näherbringen will (3). Diese Betonung des Variationsaspekts ist
vollkommen neu in einem Werk dieser Art und zeigt - auch wenn es sich weniger um einen
soziolinguistischen, als vielmehr um einen deskriptiven Variationsbegriff handelt - sehr
deutlich, in welche Richtung sich die Linguistik in den letzten Jahrzehnten entwickelt hat.
Trotz dieser variationslinguistischen Orientierung, der wiederholt zum Ausdruck gebrach­
ten Überzeugung, daß die Sprache ein heterogenes, in dialektaler, soziolektaler und prag­
matischer Hinsicht differenziertes Phänomen ist, bekennt sich Leon aber auch gleichzeitig
zu einer reduktionistischen Darstellung der akustischen und physiologischen Daten, denn
nur auf diese Weise können sie eine gewisse explikative Potenz gewinnen (3s.). Korrigiert
soll dieses Vorgehen dann durch die phonostilistische Komponente werden, die die syste­
matische Vereinfachung wieder auflöst, um den (gewollten oder ungewollten) «aspects
stylistiques de l'expressivite orale» zu ihrem Recht zu verhelfen, ganz gleichgültig, ob sie
nun eine dialektale, soziolektale, pragmatische, emotive oder attitudinale Grundlage
haben. Leon nimmt hier ausdrücklich die stilistischen Ansätze von Bally und Riffaterre
wieder auf, transportiert sie aber vom lexikalischen und morphosyntaktischen auf den
phonetischen bzw. phonologisch/intonologischen Bereich (4).
Zur vollen Entfaltung wird dieser Ansatz erst im für 1994 angekündigten Traite de
phonostylistique kommen2 , was allerdings nicht hindert, daß sich auch in der vorliegenden
Einführung schon deutlich abzeichnet, was von dieser Darstellung zu erwarten ist. Eine
kurze Einleitung (3s.), zwölf Hauptkapitel und eine kondensierte Schlußbetrachtung
(163-65) geben hierzu ausreichend Gelegenheit. Dabei ist Kap. 1 den allgemeinen (lingui­
stischen) Grundlagen und Grundbegriffen gewidmet, die Kapitel 2-7 befassen sich mit der
segmentalen Phonetik, die Kapitel 8-10 mit dem suprasegmentalen Bereich, die Kapitel 11
und 12 schließlich mit gewissen segmentalen Abhängigkeiten von suprasegmentalen Phä­
nomenen. Jedes dieser Kapitel wird durch einen Katalog von Übungsaufgaben und eine

1
Cf. P. R. LEON, Prononciation dufranc;ais standard, Paris 41988; rn., Essais de phonostylisti­
que, Montreal/Paris/Bruxelles 1971; rn ./PH. MARTIN, Prolegomenes a l'etude des structures into­
natives, Montreal/Paris/Bruxelles 1969.
2
Er soll ebenfalls bei Nathan in Paris erscheinen; im Moment der Redaktion dieser
Besprechung (August 1993) liegt er jedoch noch nicht vor.

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themenbezogene Bibliographie ergänzt3. Abgeschlossen wird der Band von einem Schlüs­
sel zu den Aufgaben (167-75), einer Bibliographie generale (allgemeine Werke zum
Thema, die nicht in die Kapitelbibliographien eingehen; 177s.), sowie einem Namens- und
einem Begriffsindex (179s. bzw. 181-85).
In dem den (linguistischen) Grundlagen gewidmeten 1. Kapitel (5-16) diskutiert Leon
zuerst (im Anschluß an Hjelmslev) die Begriffe contenu und expression. Es schließen dann
an: forme und substance, phonematique und phonologie, expression prosodique, accentua­
tion4 und pause. Es folgen dann Ausführungen zur Kombinatorik, zur Variation, zu Kode
und Zeichen, der Natur des Zeichens, seiner Motiviertheit bzw. Arbitrarietät und Kon­
ventionalität. All dies ist zweifellos von hohem Niveau, und trotzdem scheinen mir gerade
in diesem Kapitel eine Reihe von Vorbehalten angebracht zu sein:
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- Bei der Diskussion der Begriffe forme und substance (5s.) scheint Leon die Substanz mit
den Inhalten bzw. der Semantik gleichzusetzen, die Form dagegen mit der Syntax. Dies
ist - zumindest wenn man sich für die vorangehende Diskussion von contenu!expression
auf Hjelmslev beruft - nicht statthaft: als in die Form eingehende Substanzen haben
vielmehr rangniedrigere Einheiten (aus der Perspektive der ranghöheren) oder im
Endeffekt der außersprachliche im Hinblick auf den sprachlich geformten Bereich zu
gelten5 • Oder mit anderen Worten: Die Form ist die systematische Organisation (valeur)
von Außersprachlichem. D.h. aber: Der Gegensatz Form/Substanz gilt für alle sprachli­
chen Hierarchie-Ebenen, die phonologische, die semantische, die morphologische, die
lexikalische, die syntaktische, die intonologische, usw 6 •
- P. 6 wird die Unterscheidung der Laute in Vokale, Konsonanten und Halbvokale (semi­
consonnes) als eine Kategorisierung im Bereich der ausdrucksseitigen Substanz bezeich­
net. Dies scheint mir zumindest zweifelhaft zu sein: Wenn man die Vokale als den
Silbenkern bildend, die Konsonanten als marginale Elemente der Silbe und die Halbvo­
kale als marginalisierte Silbenkerne7 betrachtet, dann kommt ihnen durchaus funktiona­
ler Charakter und damit der Status von Formen zu.
- Die Phone (ich ziehe im Anschluß an Pottier den Ausdruck Phonien vor), d.h. die
konkreten Lauteinheiten, würden nach Leon in der europäischen Tradition «elements
phonematiques» genannt (6). Bei dem allgemeinen terminologischen Chaos kommt dies
in der Tat vor; die normale europäische Bezeichnung ist aber elements phonetiques8 •
- Die Ausführungen auf p. 10 müssen eigentlich so interpretiert werden, daß Leon (im
Gefolge von Martinet) zwischen den einzelnen Phonemen eine marge de securite an­
nimmt; in Wirklichkeit überlappen die Realisierungsbereiche der Phoneme, so daß sie

3
Eine kurze Durchsicht dieser Fragen hat ergeben, daß sie im allgemein-linguistischen Teil
eher zu einfach, im phonologischen und intonologischen Teil dagegen oft zu schwierig für ein
einführendes Handbuch sind. Leons souveräne Beherrschung dieser Materie hat wohl verschie­
dentlich zu einer Unterschätzung der Schwierigkeiten geführt, die sie einem Anfänger bereiten
kann.
4
Leon zieht accentuation dem Terminus accent vor, da dieser auch für den lautlichen Reali­
sierungshabitus gewisser Sprachgemeinschaften, Gruppen usw. verwendet wird.
5
Cf. hierfür L. HJELMSLEV, Prolegomenes ii une theorie du langage, Paris 1968:73ss.; P.
WuNDERLI, Ferdinand de Saussure und die Anagramme, Linguistik und Literatur, Tübingen
1972:92ss.
6
Eigenartigerweise werden dann bei LfoN, p.120 die beiden Begriffe im Hinblick auf die
Intonation vollkommen korrekt angewendet.
7
Zu ergänzen wären noch die Sonanten, die als in der Silbenstruktur zentralisierte Randele­
mente zu gelten haben.
8
Cf. auch p. 22 etc.

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nur im Kontrast zum phonologischen Kontext mit Sicherheit interpretiert werden


können9 •
- Ebenfalls p. 10 werden die Phoneme als Zeichen bezeichnet:
La langue peut etre envisagee comme un code, c'est-a-dire un systeme de signes; en
l'occurrence phonemes, monemes, regles de composition morphologique et synta­
xique.
Eine solche Gleichschaltung von Phonemen einerseits, Monemen und Syntaxemen
andererseits ist nicht statthaft, denn wir haben es im ersten Fall mit bedeutungsdifferen­
zierenden, im zweiten mit bedeutungstragenden Einheiten zu tun. Hjelmslev
(1968:63ss.) unterscheidet deshalb konsequent zwischen figures und signes.
- Nach Leon sind die Schrift, das Morsealphabet oder die Braille-Schrift Substitute des
lautlichen Signifikanten. In Wirklichkeit handelt es sich aber um sekundäre oder tertiäre
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semiologische Systeme, die dazu dienen, den lautlichen (phonologischen) Code mit
anderen Mitteln wiederzugeben; dabei «reinterpretiert» die Schrift den phonologischen
Code direkt, das Morse- und das Braille-Alphabet dagegen mittelbar, d.h. über die
dazwischengeschaltete Ebene der Schrift 10 .
- P. 13 werden «lautliche» und «relative» Motivation in einem Atemzug genannt, obwohl
es sich hierbei um zwei grundsätzlich verschiedene Dinge handelt: im ersten Fall haben
wir eine Beziehung zwischen einem Signifikanten und dem außersprachlichen Bereich,
im zweiten dagegen eine Beziehung zwischen einem komplexeren und mindestens zwei
weniger komplexen Zeichen.
In den folgenden 11 Kapiteln sind die Vorbehalte bedeutend seltener. Die Behandlung der
segmentalen Phänomene (17ss.) beginnt mit Kap 2, «Du son a la graphie: la transcription
phonetique». Leon betont (gegen Derrida und seine Schüler), daß der orale Code primä­
rer, die Schrift nur sekundärer (und überdies fakultativer) Natur sei. Er geht auf die
Entwicklung der Schrift ein, zeigt, daß sie oft die Sprachentwicklung bremst, diskutiert
den phonologischen Grundcharakter der Alphabetschrift, präsentiert verschiedene
«exakte» Transkriptionssysteme, um dann ausführlicher auf das API und seine Verfeine­
rungsmöglichkeiten einzugehen. Es folgt dann noch ein Überblick über die französischen
Vokale und Konsonanten sowie eine Diskussion der Begriffe mot phonique, groupe ryth­
mique und groupe le souffle. - Kap. 3, «La nature physique des sons de la parole» (29ss.),
differenziert zuerst zwischen artikulatorischen, akustischen und auditiven (perzeptiven)
Aspekten und ihren Parametern (Dauer, Intensität, Tonhöhe, Timbre). Es folgen dann
Ausführungen zur akustischen Analyse der Laute, zur Formantenstruktur usw. Kap 4, «La
perception des sons de la parole» (41ss.), liefert hierzu die perzeptiven Entsprechungen,
und in Kap. 5, «La production des sons de la parole» (46ss.), wird ausführlich auf die
artikulatorischen Aspekte eingegangen: die Artikulationsorgane werden detailliert vorge­
stellt und im Zusammenhang mit ihren Funktionen Phänomene wie Flüstern, (Ent-)Sono­
risierung, Silbenbildung usw. diskutiert. Nach der Behandlung der Artikulationstypen und
-orte wird dann noch ausführlich auf die wichtigsten Analysemethoden, die Palatogramme
und die Röntgenfilme, eingegangen, die jedoch beide den Mangel haben, nur zweidimen­
sionaler Natur zu sein; die Zukunft dürfte deshalb der holographischen Darstellung gehö­
ren, die im Moment von A. Marchal entwickelt wird, und die gute Chancen hat, die
scheinbare Unstabilität gewisser Artikulationen über kompensatorische Phänomene in der
dritten Dimension erklären zu können. - Kap. 6 und 7 widmen sich dann der Klassifikation
der Konsonanten (65ss.) und Vokale (79ss.). Hier wird nun deutlich, warum der artikula­
torische Bereich vom Verf. bevorzugt behandelt worden ist: Die artikulatorische Klassifi-

9
Cf. P. WuNDERLI, Französische Intonationsforschung, Tübingen 1978:128 et passim.
10
Cf. P. WUNDERLI, Saussure-Studien, Tübingen 1981:25ss.

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kation ist für ihn nachwievor die einzig überzeugende (67). Neben der Klassifikation wird
auf kombinatorische Phänomene11, komplementäre Distributionen, individuelle, dialek­
tale, soziale und phonostilistische Varianten eingegangen; ebenso wird versucht, den spe­
zifischen Charakter des Französischen im konsonantischen und vokalischen Bereich her­
auszuarbeiten. Auffallen muß, daß Leon immer nur mit (durchaus korrekten) Matrixdar­
stellungen arbeitet. Hier wäre für die Zukunft zu überprüfen, ob Arboreszenzen nicht zum
Teil erheblich aussagekräftiger sind. Würde man z.B. die frz. Nasalvokale nicht nur nach
den Kriterien anterieur!posterieur und ecarte/arrondi in eine Matrix einbinden, sondern
eine hierarchisierte Baumdarstellung des folgenden Typs wählen:

--------------
[Nasalvokal]
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palatal velar
!EI /ÄO/


gespreizt gerundet gespreizt gerundet
m !&! /eil /3/

dann könnte so nicht nur der (De-)Kodierungsvorgang simuliert werden, sondern - über
das Einbringen der Archiphoneme - auch deutlich gemacht werden, was bei der Neutrali­
sierung von Oppositionen wie m vs. /&/ oder /eil vs. /3/ passiert: nämlich eine Tilgung der
untersten Merkmalstufe und ein Rückgriff auf die Ebene der Archiphoneme.
Die drei den Suprasegmentalia gewidmeten Kapitel (95ss.) beginnen in Kap. 8 mit
Ausführungen zur rhythmischen Grundstruktur (Silben und Silbengruppen), wobei die
Silbe als pulsionelle Größe mit im Frz. ausschließlich vokalischem Kern gesehen wird.
Nach dem Silbenschnitt (interne Junktur) wird dann die frz. Silbenstruktur dargestellt, die
durch eine Tendenz zur offenen Silbe gekennzeichnet ist und dem Frz. seinen spezifisch
sonoren Charakter sichert. Es folgen weiter: Artikulationsdauer der Phonien, Silben­
dauer, dialektale und phonostilistische Varianten, Silbengruppen (mot [groupe] phonique,
groupe de souffle, groupe rythmique), die Pause und ihre phonostilistischen Aspekte,
Realisierungart und Tempo. Überraschen muß in diesem Teil, daß nach Leon bei Paaren
wie bete/bette, pate!patte usw. der Quantitätsunterschied im Verschwinden begriffen sein
soll (99). Nach meinen eigenen Daten ist dies keineswegs so; vielmehr besteht eine deutli­
che Tendenz, Qualitätsunterschiede wie /a/ vs. /a/, /,;,/ vs. lad usw. zu nivellieren, und
diesen Abbau durch einen Quantitätsunterschied aufzufangen: Wir hätten also viel eher
eine Rephonologisierung der Quantität. - Kap. 9 (107ss.) ist der accentuation und dem
rythme gewidmet. Es werden nacheinander diskutiert: Natur, Ort und Funktion des Nor­
malakzents, der Insistenzakzent, der groupe rythmique, dialektale, diskursive und emotive
Varianten, die pragmatische Funktion des Rhythmus, die Universalienfrage, die rhythmi­
schen Typen und die Tendenz zur Isochronie, und schließlich Form und Substanz des
Akzents. - In Kap. 10 kommt Leon zum eigentlichen Kern seiner Darstellung, der Melo­
die und der Intonation (119ss.). Nach einer sorgfältigen Einführung der Begriffe Fre­
quenz, Tonhöhe, Melodie und Intonation geht er auf den Zusammenhang zwischen Akzent
und Intonation ein und diskutiert das Intonem (signe intonatif), das teils als motiviert, teils

11
Bei den Vokalen zeigt Leon, daß es in beschränktem Umfang auch so etwas wie eine
Vokalharmonie gibt (85), was sicher nicht als allgemein bekannt gelten darf.

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als konventionell gesehen wird. Nach Verf. ist zwischen drei verschiedenen linguistischen
Intonationsfunktionen zu unterscheiden, die als /'\., / und '\. symbolisiert werden
können und denen die Werte 'Aussage', 'Entscheidungsfrage' und 'Injunktion' zugewiesen
werden (121) 12• Hier würde ich wieder einmal einige Vorbehalte anmelden. Leon arbeitet
in dieser Darstellung nur mit drei Mustern, was eine Halbierung der Zahl gegenüber
seinen früheren Arbeiten (und gegenüber Delattre, Wunderli 13 usw.) bedeutet. V.a. wird
auch nicht klar, in welchem Zusammenhang diese Einheiten mit den später eingeführten
Konturen der Parenthese, Kontinuation, Ergänzungsfrage und Implikation (122, 131 et
passim) stehen und welcher Status dieser zweiten Gruppe zukommt. Überdies scheint es
mir nicht statthaft, von einer role phonologique zu sprechen, handelt es sich doch ganz
offensichtlich um Zeichen, denen - im Gegensatz zu den phonologischen Einheiten - eine
Inhaltsseite zukommt. Faßt man Leons Ausführungen zusammen, so kommt man nach­
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wievor auf einen Grundstock von sechs Konturen, die man in seiner Notation folgender­
maßen symbolisieren kann 14: / (continuation), //(Entscheidungsfrage),'\. (Finalität),
'\.'\. (Injunktion und Ergänzungsfrage), ---+ (Parenthese) und//'\. (Implikation). Es
folgen weiter die phonetische Beschreibung der Intonationsverläufe mithilfe von 5
Niveaus, die Diskussion der Rolle der nicht-melodischen Parameter (Intensität und
Dauer), die Zusammenhänge zwischen Intonation und Syntax 15, die komponentielle Ana­
lyse, phonostilistische, identifikatorische und impressive Funktionen sowie die prioritäre
Rolle der Intonation beim primären Spracherwerb.
Den Abschluß der Darstellung machen die beiden Kapitel über die Rückwirkungen des
suprasegmentalen auf den segmentalen Bereich, in denen die Probleme des g-muet(141ss.)
und von liaison und enchainement (151ss.) diskutiert werden. Die Darstellung zum [g] ist
etwas verwirrend, da Leon ihm einerseits phonologischen Status abspricht, ihm anderer­
seits aber doch wieder phonologische Funktionen zugesteht, da es mit 0 kommutieren
kann, da [g/0] mit anderen Vokalphonemen eine Opposition konstituieren können (z.B.
porte/porta/portait), und es minimale Paare vom Typus l'eau!le haut gibt (142). Die weite­
ren Ausführungen(143) scheinen mir aber eine ganz andere Lösung nahezulegen: Im Falle
von le haut ist das Graphem h als Wiedergabe des Glottisstops (/?/) zu interpretieren, der
als eine Art «Archikonsonant» gelten kann. Dies würde es aber erlauben, [g] als eine
Variante der Archiphonems (E (mit den phonologischen Realisierungen /re/ und /r/J/ in
betonter Silbe) zu interpretieren, die nur in unbetonter offener Silbe vorkommt und
ihrerseits eine Untervariante [0] neben sich hat. - Im Schlußkapitel greift Leon dann
nochmals weiter aus und bringt die Ergebnisse seiner Darstellung mit den drei Ebenen
System, Norm (deskriptiv und präskriptiv) und Rede von Coseriu in Zusammenhang.
Überdies schließt er an den soziolinguistischen Ansatz von Labov an, von dem er v.a. die
Theorie vom lnferioritätskomplex der unteren Schichten (besser: der unteren Mittel­
schicht) und den daraus resultierenden Hyperkorrekturen übernimmt.
Es ist in der vorhergehenden Darstellung deutlich geworden, daß ich im Detail mit
Leon manchmal nicht gleicher Meinung bin. Dies ist aber in einem derart komplexen (und
letztlich nachwievor wenig erforschten) Gebiet wie der Intonologie fast eine Selbstver­
ständlichkeit; dazu kommt noch der außerordentlich weit gesteckte Rahmen dieser Prä-

12
Cf. auch LfoN 1992:8.
13 Cf. v.a. P. WuNDERLI, «Intonationsforschung und Prosodie», LRL 511 (1990), 34ss.
14
Eine Doppelung des Verlaufssymbols bedeutet eine Verstärkung des Anstiegs bzw. Ab­
falls.
15
Dieser Teil ist besonders wichtig, weil Leon deutlich macht, daß bei eindeutiger morpho­
syntaktischer Markierung gewisser Funktionen die Intonation redundant und damit auch ver­
zichtbar bzw. durch eine «neutrale» ersetzbar wird (129ss.); dadurch wird ein wichtiges Argu­
ment von Martinet und seinen Schülern gegen die Relevanz der Intonation entkräftet.

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sentation, der ebenfalls öfters Gelegenheit zu unterschiedlichen Auffassungen liefert. Ich


zögere aber nicht im geringsten, den vorliegenden Band als eine ausgezeichnete, auf dem
letzten Stand der Forschung basierende Einführung in die Phonetik und Phonologie zu
bezeichnen, die den einmaligen Vorteil hat, daß sie dem suprasegmentalen Bereich einen
zentralen Platz einräumt, ja letztlich auf die Behandlung dieses Bereichs geradezu zuge­
schnitten ist.Am häufigsten sind die Schwächen im allgemeinen ersten Kapitel.Dann aber
unterliegt die Darstellung einem ständigen Crescendo, das in der Hausdomäne des Verfas­
sers, der Intonologie, kulminiert. Nach diesem «Vorlauf» darf man auf den angekündigten
Traite de phonostylistique zu Recht in höchstem Maße gespannt sein.

*
P. W.
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NIKOLAUS ScHPAK-DoLT, Einführung in die französische Morphologie, Tübingen (Nie-


meyer) 1992, 138 p.(Romanistische Arbeitshefte 36)
Die vorliegende Publikation behandelt ein Gebiet, das zum Teil bereits Gegenstand von
früheren Romanistischen Arbeitsheften war. Diese Werke, die Generative Morphologie des
Neufranzösischen von Ferenc Kiefer und Ulrich Wandruszkas Probleme der neufranzösi­
schen Wortbildung, wurden allerdings aus der Warte der Generativisten geschrieben.
Schpak-Dolt orientiert sich demgegenüber bezüglich Terminologie und Methode am ame­
rikanischen Strukturalismus.
Was versteht man heute unter Morphologie? Laut Schpak-Dolt ist es «diejenige Teildis­
ziplin der Sprachwissenschaft, die sich mit der Struktur (dem <inneren Aufbau,) der Wör­
ter befaßt. Üblicherweise unterscheidet man innerhalb der Morphologie zwischen For­
menlehre [Flexionslehre] und Wortbildungslehre....Manchmal wird Morphologie mit
Flexionslehre gleichgesetzt, wobei dann ein Oberbegriff für Flexion und Wortbildung
fehlt» (1). Abgesehen davon, daß die Frequenzverteilung von «üblicherweise» und
«manchmal», betrachtet man neuere Arbeiten zu Flexion und Wortbildung, eher zweifel­
haft ist, stellt man fest, daß sich die Abgrenzung der Morphologie hierin zunächst
erschöpft. Nähere Ausführungen, weshalb der Verf. die Wortbildung in die Morphologie
integriert, findet man erst am Ende der Einleitung: «Die Wortbildungslehre ist die Dar­
stellung der Verfahren, nach denen aus einfachen Lexemen komplexere gebildet werden.
Die Flexionslehre stellt die Bildung verschiedener Formen eines Lexems dar. Die Teilung
in Stamm und Endung spiegelt die Unterscheidung von Wortbildung und Flexion wieder.
Konsequenter wäre es, wenn die Wortbildung <Stammbildung> hieße; noch konsequenter:
<Bildung des Radikals»> (36 ). Nicht nur kann es bedenkliche Konsequenzen haben, wenn
man die Wortbildung als Stammbildung betrachtet (s.u.), auch überrascht die Selbstver­
ständlichkeit, mit der die Wortbildung der Morphologie zugeordnet wird. Zwei aktuelle
Einführungswerke zeigen diesbezüglich wesentlich mehr Problembewußtsein, obwohl die
Wortbildung in ihren Werken - anders als bei Schpak-Dolt - keine zentrale Stellung
einnimmt.Laut W.Dietrich und H. Geckeler (Einführung in die spanische Sprachwissen­
schaft, Tübingen 1990) divergieren die Meinungen bezüglich der Stellung der Wortbildung
in der Linguistik stark.Je nachdem werde sie als ein Teil der Morphologie, der Lexik, der
Syntax oder als autonomes Gebiet betrachtet (Drnrnrctt/GEcKELER 1990:90). P. Wunderli
vertritt in seinem Band Französische Lexikologie (Tübingen 1989) die Auffassung, daß die
Zuordnung der Wortbildung - bei Wunderli Lexematik genannt - zur Morphologie heute
überholt sei.Der entscheidende Unterschied zwischen Lexematik und Flexion sei, daß
erstere neue Wörter bzw.Lexien schaffe, die Flexion dagegen nicht (WuNDERLtl989:74).
Daß es zumindest sehr heikel ist, Wortbildung und Flexion in einer Oberkategorie zu
rubrizieren, zeigt sich an folgender Aussage Schpak-Dolts: «Die Morphologie ist gekenn-

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