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Ein Kommentar
zum Compendium
des Nikolaus von Kues
von Brigitte Haselbach,
Zollikon
Zum Werk 9
Die Grundzüge der Schrift im Blick auf die Interpretationshinsichten.......................................... 10
1. Philosophische Anthropologie................................................................................................... 10
2. Zur Erkenntnislehre ................................................................................................................... 11
3. Zur Sprachtheorie und zur Zeichenlehre ................................................................................... 12
4. Zur Ursprungsthematik.............................................................................................................. 13
Nikolaus von Kues: COMPENDIUM ............................................................................................... 14
Schluss und Epilog: Gott als Einheit und Ziel aller Erkenntnis 79
Inhaltsangabe ................................................................................................................................ 79
Kommentar.................................................................................................................................... 80
n.44: Der erste Ursprung und sein Erscheinen in der Welt........................................................... 80
n.45: Die Einheit des Gegenstandes .............................................................................................. 80
n.46: Die Einheit als höchste geeinte Kraft ................................................................................... 81
n.47: Das Seiende als Verweis auf das Können selbst................................................................... 82
Literaturverzeichnis 83
Zitierte Cusanus-Ausgaben:........................................................................................................... 83
Literatur: ........................................................................................................................................ 83
Anmerkungen 85
Nikolaus von Kues setzt den menschlichen Geist und dessen schöpferische
Tätigkeit ins Zentrum. Am Beispiel des Kosmographen, der eine Karte aufgrund
der ihm zugetragenen Sinnesdaten aufzeichnet, zeigt er, wie der Mensch die
Welt nach seinem Mass erkennt.2 Die mens ist mensura der Welt. Mittels der
Begründung der Welt durch den Geist wird eine Wende zur denkend-
messenden Subjektivität und zu einer perspektivischen Weltsicht vollzogen.3
In diesem Zusammenhang ist auf Dietrich von Freiberg (ca. 1250 - 1320) und
seine Theorie vom tätigen Intellekt (intellectus agens) zu verweisen. Der tätige
Intellekt ist nach Dietrich ein Urbild alles Seienden (exemplar totius entis). Er
erkennt sich durch sich selbst und dadurch alles andere. Er ist wesentlicher
Grund (causa essentialis) der Erkenntnisinhalte.4
Ein unmittelbarer Zugang zur Philosophie des Cusaners wird über die
Erkenntnislehre eröffnet. Nikolaus von Kues untersucht das menschliche
Erkenntnisvermögen und setzt eine Differenz zwischen dem Erkenntnissubjekt
und dem Erkenntnisobjekt. Der Mensch kann das Seiende in seinem An-sich-
Sein nicht erkennen, da es von Natur aus früher ist, als es erkennbar ist (prius
natura res sit quam sit cognoscibilis) 5 Die Erkenntnislehre ist jedoch
eingebunden in die Ontologie, da das Ganze des Seienden vorn Einen her und
auf dieses hin betrachtet wird. In dieser Hinsicht kann auch von einer
Metaphysik der Einheit (Henologie) gesprochen werden.6 Sie versteht das Sein
vom Intellekt her als intelligere und damit als Einheit. Es handelt sich also um
einen Übergang von der mittelalterlich-metaphysischen Ontologie zur
neuzeitlich- metaphysischen Intellektlehre.7
Die Vielfalt des endlichen Seienden führt Nikolaus von Kues auf Gott und das
absolut Unendliche zurück, in welchem alles Sein eingefaltet ist und in dem alle
Gegensätze zusammenfallen (coincidentia oppositorum). Dem absolut
Unendlichen (infinitas infinita) steht die Endlichkeit der Welt entgegen. Gott ist
unendlich anders als die Welt: infiniti ad finitum proportionem non esse.11 Mit
der Unendlichkeitsspekulation und dem Standpunktwechsel zum Subjekt hin
begründet Nikolaus von Kues das neuzeitlichen Weltbild. So wird in der
Kosmologie das geozentrische durch das heliozentrische Weltbild abgelöst, -
der entscheidende Schritt zu einer dynamischen Weltsicht.
Der Geist ist messendes Vermögen für die Erkenntnis der Welt. Von diesem
Erkenntnisverständnis geht auch die zeichentheoretische Fragestellung aus. Da
die menschliche Erkenntnisweise die Dinge nicht erreichen kann, verbleibt der
zeichenmässige Zugang. Das wird wiederum einsichtig am Beispiel des
Kosmographen, der die Welt in einer Weltkarte so aufzeichnet, wie sie ihm von
seinen Sinnen zugetragen wird. Er erkennt die Welt im Mass seiner
Aufzeichnung. Inwiefern der Geist Mass und Messendes ist, wird im Dialog "De
mente" (1450), dem mittleren der drei Idiota-Dialoge, erörtert. Der Laie leitet
mens (Geist) etymologisch von mensurare (messen) ab und präzisiert, dass aus
dem Geist das Mass aller Dinge stammt. Wie später auch im "Compendium"
wird das Begrenztsein der Wortgebung thematisiert: Die Worte werden durch
eine Verstandesbewegung eingesetzt (vocabula motu rationis imposita)14, aber
sie treffen die Wesenheit der Dinge nicht. Das führt zu einem sprach–
theoretischen Perspektivismus 15. In diese Fragestellung bringt nun die
Zeichenlehre im "Compendium" eine ausführliche Theorie zum Verhältnis von
Sache und Zeichen ein. Der Grundgedanke ist allerdings schon in "De docta
ignorantia" angesprochen in der Möglichkeit des Überstiegs der Zeichen. auf
die Wahrheit selbst, eben im transumptive intelligere.
1
St. Otto, Renaissance und frühe Neuzeit, Reclam, Stuttgart 1984
2
Compendium, Kapitel 8, Meiner-Ausgabe, Hamburg 1982
3
St.Meier - Oeser, Nikolaus von Kues, in: Klassiker der Sprachphilosophie, München 1966
4
Kurt Flasch, Mittelalter, Reclam, Stuttgart 1985
5
Compendium, Kapitel 1, n.1.
6
P. Schulthess und R. Imbach, Die Philosophie im lateinischen Mittelalter, Artemis 1996
7
H.-B. Gerl, Einführung in die Philosophie der Renaissance, Darmstadt 1989
8
H.-B. Gerl, ebd.
9
St. Otto, ebd.
10
De beryllo, n. 4, 6-10, Meiner Ausgabe, Hamburg 1977
11
De docta ignorantia, Buch I, Kapitel 3. Meiner Ausgabe, Hamburg 1970
12
J. Hennigfeld, Nikolaus von Kues, in: Geschichte der Sprachphilosophie, Antike und
Mittelalter, Berlin 1993
13
De docta ignorantia, Buch I, Kap. 10, n.29
Die Metaphysik sowie die Erkenntnislehre, wie Nikolaus von Kues sie im
Compendium darlegt, ist ausgerichtet auf den Menschen als Vernunftwesen.
Ihm wird in der Wahl und in der Handhabung seiner Erkenntnismöglichkeiten
ein Freiraum zugesprochen. Obwohl die Erkenntnisweisen der Dinge das ihnen
vorangehende Sein nur bezeichnen können, soll der Blick in einer geistigen
Schau auf das gerichtet werden, was vor aller Erkenntnis liegt. Eine bedeutende
Rolle spielt die Sprache und mit ihr die Begrifflichkeit. So wird vom Posse her,
als dem Ursprung, der Bereich des endlichen Seins erschlossen. Der Ursprung-
ist als dynamisches Können bestimmt, das in eine substantielle Gleichheit mit
sich selbst mündet. In der Folge kann die Gleichheit als aktuierendes,
seinsgebendes Prinzip abgeleitet werden. Was auf der Ebene des Endlichen
geschaffen wird, ist nun nicht die Gleichheit, sondern eine Ähnlichkeit der
Gleichheit. So wird die Gleichheit, die sich in ihrer Ähnlichkeit offenbart, zum
Gegenstand für das menschliche Erkenntnisvermögen. Für den Menschen
ergibt sich die Möglichkeit zum Erkennen aus der Vielfalt der Erscheinungen
des Ursprungs und in der Bestimmung des Menschen als Zeichen der
Gleichheit. Die menschliche Erkenntnis ist folglich nur im Zusammenhang mit
dem Seinsgrund zu sehen.
Für die Verwirklichung des Könnens als Ursache ist die Schöpfung notwendig.,
denn das Können will gesehen werden: "Quia igitur ipsum posse, quo nihil
potentius, vult posse videri, hinc ob hoc omnia" (n.47).
1
Vgl. Einleitung zum Compendium der Meiner-Ausgabe.
1. Philosophische Anthropologie
Im Compendium ist der Mensch als Vernunftwesen angesprochen. Er soll
seinen Geist gebrauchen, um Fortschritte zu machen. Der Vernunft hilft ihm,
Mängel in der Sinneswahrnehmung auszugleichen. Dank seiner Geisteskraft
und Kunstfertigkeit vermag der Mensch sich Hilfsmittel für seine Bedürfnisse zu
schaffen, etwa durch die Kochkunst "das Rohe des Naturgegebenen" dem
menschlichen Geschmack anzupassen.3 Auch das Wohlbefinden spielt eine
Rolle und es hängt vom Kenntnisstand der einzelnen Lebewesen ab. Dem
Menschen wird zudem die Möglichkeit einer freien Wahl der Erkenntnisbilder
für das persönliche Wohlbefinden zugestanden. Aus dem Naturgegebenen
schöpft der Mensch Erkenntnisbilder, die seiner vernunfthaften Natur
entsprechen. Indem er diese Erkenntnisbilder zu seiner geistigen Nahrung
2
Vgl. Einleitung zur Meiner-Ausgabe
3
n. 18
Dank seiner Schöpfungskraft und seiner Vernunft kann sich der Mensch in der
Kunst einen Spielraum zwischen dem Naturgegebenen und dem Menschen
Zuträglichen schaffen. Das findet seinen Ausdruck im Bild des Kosmographen,
der kraft seines Geistes eine ihm gemässe Welt aufzeichnet. So wird dem
individuellen Lebensvollzug einen Vorrang gegenüber einer festen
Seinsordnung eingeräumt.
2. Zur Erkenntnislehre
Die Erkenntnislehre im Compendium ist durch eine dynamische Auffassung der
Erkenntnisweise gekennzeichnet. Die Erkenntnistätigkeit ist als zeichenhafte
bestimmt, aber sie enthält einen Zug auf das Ganze des Seins. Es gilt, die
Zeichen in ihrem funktionalen Zusammenhang zu sehen und von den Zeichen
zu deren Bedeutung vorzudringen. Die Frage nach dem Ursprung, der
Reichweite und der Art des Erkennens ist aufgehoben in einer Bewegung auf
den letzten Grund hin. Dafür steht im Compendium auch der im Mittelalter
geläufige Ausdruck der dulcedo, der die Aufwärtsbewegung im Erkenen und in
der Gottesbetrachtung meint. In der Reflexion auf die zeichenhafte
Erkenntnisweise kann der Mensch zum Ursprung und zum Ziel von allem
stossen (n.23).
Ein besonderes Augenmerk ist in allem Erkennen und Handeln auf die
Vollkommenheit zu richten. Alles Endliche enthält im Keim Vollkommenheit
und ist auf die Vollkommenheit an sich zu verwirklichen. Das kann heissen,
durch die Kunst vollenden, was in der Natur unvollendet bleibt. So steht auch
im Erkennen die Vollkommenheit als leitende Idee, gehört doch, wie im
Compendium ausgeführt, zum vollkommenen Sein eines Seienden, dass es zu
erkennen vermag.
4
St. Otto, Klassiker der Philosophie
5
St. Otto, Klassiker der Philosophie
Der Mensch steht in der Zeichenlehre im Mittelpunkt. Nur der Mensch vermag
kraft seines Geistes die Zeichen zu nutzen und zu deuten. Der menschliche
Geist soll eben den Zusammenhang mit dem Ganzen des Seins suchen. Zudem
wird das Zeichensystem, das die Menschen geschaffen haben, ergänzt durch
das Zeichensystem, das Gott der geschaffenen Welt für den Menschen
verliehen hat. Die Zeichenwerte dieser sogenannten 'zweiten Sprache' sind mit
Hilfe der von den Menschen geschaffenen Sprache bekannt gemacht und in der
Regel durch Aussagen der Hl. Schrift erkennbar.6 Im Compendium nun wird
diese Thematik auf die Erkenntnistätigkeit und Sprachfähigkeit des Menschen
bezogen. Die Schrift will hinführen zur Gotteserkenntnis. Der Metaphysik wird
deshalb eine Zeichenlehre vorausgeschickt, die den Menschen auf diesen Weg
bringen soll, - ganz im Sinne auch des Renaissancedenkens, das dem Menschen
und seiner schöpferischen Tätigkeit eine bedeutende Rolle zumisst.
4. Zur Ursprungsthematik
Der Ursprung ist als dynamisches Können bestimmt. Er wird als erstes wirksam
in der Gleichheit des Könnens und in beider Einigung. In der Gleichheit erreicht
er das Höchstmass an Kraft und in ihr verwirklicht er sich, ohne endlich zu
werden. Die drei Begriffe "Können, "Gleiches" und "Eines" sind spekulativ-
theologische Bezeichnungen für die drei göttlichen Personen. Sie bilden eine
Variante zu der gebräuchlichen Dreiheit 'Einheit', 'Gleichheit' und deren
'Verbindung'. Das Können steht für den Vater in der Trinität, und auf ihn ist
alles Erkennen ausgerichtet. Das Compendium stellt das göttliche Wort an den
Anfang, und die Schöpfung ist vom Wort her als Zeichen des unerschaffenen
Wortes zu verstehen. Mit der Rückbindung der menschlichen Erkenntnis-
möglichkeit an das verbum Dei erhält die Trinitätsspekulation eine
"sprachphilosophische Wende"7
6
H. Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik
7
J. Hennigfeld, Geschichte der Sprachphilosophie
Der erste Abschnitt (n.1) setzt als Ausgangspunkt den Grundsatz, dass das
Einzelne nicht mehrzahlig und das Eine nicht vieles ist. Aufgrund seines
Abgesetztseins vom Vielen wird vom Einen her entwickelt, dass es nicht in
seinem Einzelsein im Vielen ist, sondern nur in der Weise des im Vielen
Aussagbaren.
Kommentar
n.1: Das Eine und das Viele
1,1: COMPENDIUM: Das Wort wird im Mittellateinischen Wörterbuch2
unter II. (deminutio, abbreviatio) mit "Einsparung, Ersparnis, Verminderung,
Verkürzung" übersetzt, im Dictionary of Medieval Latin3 mit "summary form,
abbreviation, epitome". Auch Thomas von Aquin hat den Ausdruck im Titel für
sein Werk "Compendium Theologiae" eingesetzt.
Die Erörterungen richten sich an einen Leser, der im Vollbesitz seiner geistigen
Kräfte und gewillt ist, seinen Geist zu üben6. Damit ist ein Grundthema des
Werkes angesprochen: die philosophische Anthropologie. Im Unterschied zu
einer ähnlichen Stelle in De docta ignorantia7, die ebenfalls den gesunden Geist
und die Einsichtsfähigkeit des Menschen thematisiert, wird nun im
Compendium diese Fähigkeit mit der notwendigen Zustimmung zum
Wahrheitsgehalt des nachfolgenden Grundsatzes verknüpft.
Im Compendium nun stellt sich die Frage nach der Weise des Einesseins im
Vielen, womit eine Beziehung zwischen den beiden Bestimmungen
vorausgesetzt wird. Es ergibt sich also eine im Vielen gemeinschaftliche
Seinsweise. Anders als in der Metaphysik des Aristoteles9, in der das Seiende im
1,14-16: Nicht die Sache und deren Erkennen - res et cognitio - sind der
Gegenstand, sondern die Weise des Seins und des Erkennens. Beide Weisen
sind auf der gleichen Ebene und bestimmen sich gegenseitig. - Da die
Seinsweise anderseits der Erkenntnisweise vorgeordnet ist und deren
Folgeverhältnis begründet, ist vom Erkennen her zwar kein Wissen (scientia) als
Vergegenwärtigung des Grundes möglich. Dennoch soll von der Seinsweise
Gewissheit erreicht werden - und dies in der Form des Schauens, in der der
Gegenstand in seiner Selbstgegebenheit erfasst wird. Damit wird an dieser
Stelle die Erkenntnislehre in der Seinslehre begründet.
Während in De apice theoriae19 das Licht als Kausalprinzip für die Farbigkeit der
Dinge und das Sehen erscheint, geht es im Compendium nun um eine
zeichenhafte Beziehung von Licht und Farbe. Diese Beziehung, als Sein zu etwas
hin, impliziert ein Hingewendetsein (intentio) zwischen der Farbe und dem
Licht. Von den im ersten Abschnitt genannten drei Möglichkeiten der
Bezugnahme auf das Seiende wird nun der Begriff des Zeichens eingesetzt. Da
diese Zeichen unmittelbar auf ihren Gegenstand bezogen sind, können sie als
indizierende bestimmt werden, insbesondere die Farben als Zeichen des Lichts.
Auch bei Aristoteles20 werden die Farben im Zusammenhang mit dem Licht und
dem Durchsichtigen (diaphanem) genannt und auf die
Wahrnehmungsmöglichkeit bezogen: "die Farben sind ohne Helligkeit nicht
wahrnehmbar". Im Compendium erfolgt nun eine Präzisierung auf das Subjekt
und seine Erkenntnisweise sowie auf den Gegenstand hin, in dem die Farben
erkannt werden.
2,10-15: Der erste Teil des Gleichnisses mit der Sonne als Vater des
sinnenfälligen Lichtes22 ist im Endlichen angesetzt, während im zweiten Teil mit
Gott als Vater der Dinge und aller Erkenntnis unzugängliches Licht eine
transzendente Bestimmung Eingang findet, - transzendent als das
Überschreiten aller endlichen Grenzen. Gott als Vater der Dinge ist das höchste
Seiende, das die Vielfalt der Dinge erschafft und zugleich transzendenter Grund
bleibt, der jedem Erkennen unzugänglich ist. Dieser Gott ist anders als die
Dinge dieser Welt. Da anderseits die Dinge als Abglanz jenes unzugänglichen
Lichtes gesehen werden, sind sie immer schon auf ihren Ursprung hin geordnet
und werden im Hinblick auf jenen bestimmt. Damit ist eine Bewegung, ein
Uebergang vom endlichen Seienden zum Unendlichen impliziert. Anselm von
Canterbury spricht von einem unzugänglichen Licht (lux inaccessibile), das
selbst Ursprung, Mitte und Ziel ist, alles direkte Hinsehen blendet, aber als
Möglichkeitsgrund alles Sehen erst ermöglicht23
Die Beziehung von Zeichen und Gegenstand (res) wird schliesslich von der
Weise des Bezeichnetwerdens eines Gegenstandes her thematisiert (n.5).
Kommentar
n.3: Die Rolle der Zeichen
3,1-9: Der Gegenstand wird in Zeichenform ergriffen und in diesem
Gegenwärtigwerden in das Zeichenfeld eingeordnet und in dieser Weise
erkannt. Die Erkenntnisweisen sind also Weisen, wie der Gegenstand erfasst
wird.24 Diese Form des Erkennens ist kein passives Aufnehmen des sinnlich
Gegebenen, sondern das Gegebene wird durch die Zeichen in seiner
Bedeutsamkeit bestimmt. Da durch die Zeichen keine vollständige
Übereinstimmung mit der Seinsweise einer Sache erreicht werden kann, ist im
Blick auf die Vervollkommnung des Erkennens von den Zeichen ein möglichst
vielfältiger Gebrauch zu machen. Der Grad des Erkennens ist proportional zur
Zeichenvielfalt gedacht, sodass im Ausschöpfen der Zeichenmöglichkeiten
auch eine Verbesserung des Erkenntnismodus erzielt wird. 25
3,12-16: Der Terminus "modus" wird nicht nur für abstrakte Topoi wie die
Seins- und Erkenntnisweise einer Sache verwendet, sondern ebenso für die
Weise der Fortbewegung eines Lebewesens (modus se movendi). "Modus se
movendi" ist als Möglichkeit der Anpassung an eine gegebene Sachlage
gesehen und dient der allgemeinen Lebensbeförderung. Auch die Sinne sind im
Blick auf die Kontaktnahme mit dem Gegenstand erfasst und zum Zweck, den
Lebewesen das Auffinden der entsprechenden Nahrung zu ermöglichen. Die
Sinnlichkeit ist damit auch in ihrer Zweckmässigkeit für die Bedürfnisse der
Lebewesen gedeutet.
4,11: subsistit - : Das Verb "subsistere" ist in diesem Kontext für die spezifische
Lebensweise des Menschen eingesetzt, während für die anderen Lebewesen an
den entsprechenden Stellen das Verb "vivere" steht. Das Menschsein
begründet sich also gerade in der Ausübung der erwähnten Künste und
Tugenden selbst.
4,11-15: Anders als Aristoteles, der dem Menschen einen Wissensdrang von
Natur zuspricht, ist hier die dem Menschen innewohnende Fähigkeit, sich zu
einem vollkommenen Lebewesen zu entwickeln, als Grund für den
Wissenserwerb gesehen. Der Unbelehrte soll vom Belehrten unterrichtet
werden, da nur letzterer die Regeln und Gesetze der zu vermittelnden Doktrin
kennt. 'Doktrin' bezeichnet eine eingegrenzte Lehre beziehungsweise eine
einzelne Wissenschaft, deren Weitergabe einem bestimmten ausgewählten
Personenkreis zusteht. Dass für die Weitergabe nun zu den Zeichen
"hinuntergestiegen" (descendere) werden soll, kann auf eine 'inferiore'
Stellung der Zeichen selbst hinweisen, da jene nicht die Sache selbst sind,
sondern nur deren Zeichen. Auch Augustinus setzt in De magistro31 die
Erkenntnis der Sachen über die Zeichen der Sache mit der Präzisierung, dass die
Erkenntnis der Sachen, wenn auch nicht besser als die Erkenntnis der Zeichen,
so doch besser als die Zeichen als solche ist32
Die Einteilung der Zeichen in natürliche und gegebene ergibt sich bei
Augustinus in seiner Doctrina christiana33 aus deren Bekanntsein entweder
durch sich selbst oder infolge Bekanntgabe durch die Lebewesen. Im
Compendium liegt das Unterscheidungsmerkmal in der Art und Weise, wie die
Zeichen die Dinge bezeichnen, ob von Natur oder aufgrund menschlicher
Setzung. Erst in einem zweiten Schritt wird deren Bekanntsein, sei es auf
natürliche Weise oder durch Belehrung, angegeben. Während bei Augustin die
Zeichen als die Sache selbst bestimmt sind ("signum est enim res")34, sind sie
bei Nikolaus von Kues an dieser Stelle in ihrer Bezeichnungsfunktion (signum
designans) gesehen35+36
5,10-16: Da die natürlichen Zeichen von sich her deutbar sind, müssen sie nicht
eigens gelehrt werden. Es fragt sich hier, ob ein natürliches Zeichen wie das
Lachen, das Freude anzeigt, nicht eine seinsmässige Verbindung zu seinem
Gegenstand beinhaltet. Das Lachen ist ein adäquater Ausdruck von Freude, und
umgekehrt entsteht die Freude mit dem Lachen. Es findet hier also, anders als
bei den gesetzten Zeichen, kein qualitativer Sprung statt. Das natürliche
Zeichen ist der Ort, wo die Sache und ihr Erkennen übereinstimmen. Bei den
gesetzten Zeichen ist die Übereinstimmung von Sache und Erkennen nicht
gegeben. Sie sind ad placitum, ohne unmittelbaren Bezug zur Sache gesetzt.
Aus diesem Grund kommt der ersten Doktrin, durch die die Kenntnis der
Zeichen weitergegeben wird, eine besondere Bedeutung zu. Die Doktrin
beinhaltet also das Aussprechen und Weitergeben dessen, was gesetzt ist. Vom
Lehrenden her gesehen ist sie das Immer-schon-Verstandene, das durch die
Weitergabe der menschlichen Gemeinschaft erhalten bleiben soll.
Da alle Sprachen von der Ursprache des Stammvaters Adam abgeleitet werden,
kann es keine Sprache geben, die der Mensch nicht kennen würde. Das wird
zusätzlich in der Überlieferung begründet, dass Adam, der Mensch, selbst die
Namen gegeben habe. Die Folgerung ist, dass kein Wort irgendeiner Sprache
ursprünglich von einem anderen gesetzt wurde.
Den Stammeltern wird neben der Kunst des Sprechens auch die Kunst, Worte
zu schreiben oder zu bezeichnen, zuerkannt mit der Begründung, dass sie dem
Menschengeschlecht Vorteile bringt (n.7). Der Vernunft wird schliesslich, als
Schöpferin der Künste und in dieser Eigenschaft, die Fähigkeit zugesprochen,
die Kunst des Sprechens und des Schreibens zu schaffen.
Auch die Vollkommenheit ist durch Dynamik gekennzeichnet, wird sie doch erst
in ständiger Weiterentwicklung des von Natur Gegebenen erreicht. Über die
Generationen hinweg kann so die Kenntnis und Weitergabe des Wissens
gesichert werden. Auch der junge Mensch ist durch seine Fähigkeit zur Kunst
des Sprechens eingebunden in die Welt der Sprache mit ihrem gemeinsamen
Verstehenshorizont. Das Sprechenkönnen ist als wesentliche Bestimmung des
8. März 2008 Seite 23 - 91
Menschseins und ebenso als Notwendigkeit für das Wohlbefinden gedeutet.
Das wiederum beinhaltet eine Erweiterung der klassischen Seinsbestimmung
des Menschen. Der Mensch ist nicht nur als das Seiende gesehen, das sich zum
Ganzen des Seienden denkend und sprechend verhält, sondern ebenso als
Wesen, das der Kunst des Sprechens bedarf, um zu einer ihm entsprechenden
Vollkommenheit zu gelangen.
6,18-20: Die Sprache wird als Kunst des Sprechens der menschlichen Natur
zugeordnet und im Vollkommenheitsanspruch des Menschen begründet. Die
Kunst des Sprechens macht das Wesen des Menschen aus. Sie ist ihm
naturgemäss, aber sie muss als Kunst doch erlernt werden. Deshalb beherrscht
sie nicht jeder Mensch, sondern nur der vollkommene. Bei dieser Auffassung
des Menschseins ist die Kunst des Sprechens immer auch Aufgaben für den
seine Geisteskräfte übenden Menschen.40
In De venatione sapientiae41 ist im Kapitel über die Bedeutung und Kraft der
Worte (vis vocabuli) der Ansatz bei der Ratio des Menschen, die nicht die Ratio
des Wesens der Dinge ist und von den Menschen nicht erkannt werden kann.
In der vis vocabuli ist dem Menschen die Möglichkeit gegeben, die Dinge
7,5-7: - quae aure percipiuntur ….. quae oculis obiciuntur - : Im Hören und im
Sehen wird das Seiende - als Passivum - zum Gegenstand für das Bezeichnen. Es
gehört damit zur Welt der Tatsachen, dem Gemachten (factum). In diesem
Zusammenhang wird im Text nicht mehr von der Kunst (ars) gesprochen,
sondern von der Wissenschaft (scientia), die ihr Sachgebiet als
Gegenstandsbereich. fasst und eingrenzt auf das zu Erforschende und zu
Wissende.42
7,8-16: Die Natur ist Bezugspunkt für die Verhältnisbestimmung des Sprechens
und der Kunst des Schreibens. Sie selbst wird aber nicht thematisiert. Allein der
vernunftmässige Anteil in diesen Künsten ist gefragt. Die Kunst ist der Natur
nicht entgegengesetzt, aber sie wird hinsichtlich ihres Ursprungs, der in der
menschlichen Vernunft angelegt ist, von ihr unterschieden. Die Vernunft
Die Äusserung von Lauten infolge einer Affektion wird als natürlicher Vorgang
bezeichnet, während anderseits die Vernunft in der Kunst des Sprechens, zu
der auch die Laute gezählt werden, am Werk ist. Es findet also eine Umsetzung
des Naturgegebenen in das Vernunftmässige zum Zweck der Kundgabe statt.
Die Vernunft und die Kunst schaffen ein Eigenständiges, indem sie durch
Formgebung und Variation aus dem ungeordneten (confusum) Klarheit
schaffen. Vernunft und Kunst sind nicht 'Überbau', sondern Ordnungsprinzip
des natürlich Gegebenen, wobei sie demselben Zweck dienen. Die Vernunft ist
nicht Gegenspielerin der Natur, sondern sie hilft ihr und führt das von Natur
Gegebene zur Vollendung.
7,16-20: Auch Augustinus weist auf das Verklingen der Worte nach dem
Aussprechen hin45 "Sed quia verberato aëre statim transeunt nec diutius
manent quam sonant, instituta sunt per litteras signa verborum. Ita voces
oculis ostenduntur, non per se ipsas, sed per signa quaedam sua". Im
Compendium wird an der vorliegenden Stelle zusätzlich das Entschwinden aus
dem Gedächtnis erwähnt. Gemeint ist hier nicht das geistige, sondern das
sinnliche Gedächtnis als Vermögen, Wahrnehmungen als Eindrücke
festzuhalten. Diesem 'Mangel' soll die Vernunft durch die Kunst des Schreibens
abhelfen. Die Vernunft übt durch diese Kunst zugleich eine Vermittlung
zwischen dem Hörsinn und dem Sehsinn aus, und diese Vermittlung erfolgt
über die Zeichen. Augustinus setzt in dieser Frage bei den Zeichen selbst an als
Möglichkeit und Mittel, das Gesprochene für den menschlichen Sehsinn
sichtbar werden zu lassen. Im Compendium ist der Schwerpunkt wiederum in
die menschliche Vernunfttätigkeit verlegt, die die Zeichen für den Gesichtssinn
zugänglich machen soll.
Der Ort, wo die Dinge als bezeichnete festgehalten bleiben, ist die innere
Vorstellungskraft (n.9). Da der Weg vom sinnenfälligen Gegenstand zum
Erkenntnisvermögen allein über die Zeichen führt, sind die Zeichen der Dinge in
der Vorstellungskraft Zeichen der Zeichen in den Sinnen. Es ergibt sich, dass
sich in der Vorstellungskraft nichts befindet, was nicht vorher in der
Sinneswahrnehmung war. Die Frage des Anteils von Materie in den Zeichen
wird dahin gehend gelöst, dass die sinnenfälligen Zeichen als von der Materie
losgelöste, aber doch nicht ganz frei von Materie zu sehen sind. Das wird am
Beispiel der Farbvorstellung begründet, die einerseits frei von jeder
Farbqualität ist, anderseits doch eine Konnotation der Sinneserfahrung enthält
(n.10). Das Ziel des Erkenntnisprozesses ist jedoch in jenen Zeichen angesetzt,
die rein formhaft sind.
Kommentar
n.8: Die Uebermittlung der Zeichen
8,2-11: Da die sinnenfälligen Zeichen von einem Gegenstand (obiectum)
ausgesandt sind, wird das Seiende allein in Zeichenform zum Seienden für das
menschliche Sinnesvermögen. Das Subjekt, zu dessen Sinnesvermögen die
Zeichen der Gegenstände gelangen, ist hier nicht als ein vorstellendes Ich
aufgefasst, das sich in seinen Akten auf einen Gegenstand richtet. Als
Ausgangspunkt des Erkennens wird eben der Gegenstand selbst gesetzt, von
dem Zeichen ausgesandt werden.
8,13-20: Das Wohlergehen der Lebewesen - ein Thema in der Renaissance - ist
in einer Vorsehung der Natur, der natura beneficians, begründet. Jedoch wird,
das Wohlergehen sowohl der Lebewesen als auch alles Geschaffenen nicht um
seiner selbst willen thematisch, sondern im Hinblick auf den Erwerb von Wissen
und Erkenntnis.
Vom Seienden (res) aus, stellt sich die Frage nach der Weise seiner
Übermittlung und des Eingehens in das Erkenntnissubjekt. Die Übermittlung
des sinnlich Gegebenen ist in Zeichenform und notwendig über ein Medium zu
denken. Die Zeichen sind nicht als eine Zutat des Verstandes gesehen, sondern
als vom Gegenstand ausgesandte. Deren Kenntnis ist folglich vom gegen-
wärtigen Gegenstand abhängig, ausser es sei eine Möglichkeit ihres Festhaltens
gegeben. Die Ablösung vom Gegenstand setzt hier bei den vom Gegenstand
ausgesandten Zeichen selbst an. Das Medium wird in seiner Funktion als
Uebermittlungsinstanz für die Zeichen relevant, während es in De Anima als
eine Art Trägersubstanz gesetzt ist.
Vom Blinden wird ausgesagt, dass er sich die Farbe nicht vorstellen kann, da er
keine Wahrnehmungsinhalte in Form von Phantasmata besitze. Das heisst, dass
das vom Verstand in der Form etwa der species intelligibilis Erkannte erst in
einem der sinnlichen Wahrnehmung nachfolgenden Schritt gewonnen wird.
Der Verstand ist, so gesehen, in Bezug auf die sinnlich wahrnehmbaren
Gegenstände abhängig von den Phantasmata. Thomas von Aquin spricht in
diesem Zusammenhang von einer "stetigen Verbindung des Verstandes zur
Vorstellungskraft"52.
9,8-11: Bei der Sinneserkenntnis stellt sich die Frage, inwieweit eine materiale
Komponente des Gegenstandes in ihr enthalten ist. Das wird sowohl von der
Zeichenseite als auch vom Wahrnehmungsvermögen her bejaht. Die
Vorstellung der Farbe hingegen ist eine reine, ohne jede Farbkomponente.
Anders Thomas von Aquin, der dieses Problem von der Substanz- und
Seinsfrage her angeht. In seinem Kommentar zur entsprechenden Stelle bei
Aristoteles unterscheidet er zwei Seinsweisen der Farbe, eine natürliche in der
Sache (unum naturale in re) und eine geistige in den Sinnen (alius spirituale in
sensu).
10,8-11: Anders als bei Thomas von Aquin, der dem wirkenden Verstand
(intellectus agens) die Abstraktionsleistung zuweist54, ist es hier die
Phantasiekraft, die den Schritt von den Zeichen der Sinne zu den
Vorstellungszeichen ermöglicht. Die Kenntnis der Dinge in der Vorstellungskraft
wird durch diese zweite Zeichengeneration gebildet. Dass die
Weiterentwicklung der Zeichen dem vollkommenen Sinnenwesen
zugeschrieben wird, bedeutet, dass dieses Lebewesen selbst ein Vermögen zur
Vervollkommnung besitzt. Die Abstraktionsleistung ist im Rahmen der dem
Menschen nützlichen Kunstfertigkeit angesetzt, die eine Vervollkommnung des
Menschen bezweckt. Während die Vorstellungskraft auf den Gegenstand
bezogen ist, ohne Stoffliches von jenem zu enthalten, ist die Phantasiekraft ein
Vermögen, das die sinnlich wahrgenommenen Eindrücke als Zeichen des
Gegenstandes für die dem Menschen dienlichen Ziele und Zwecke weiter
verarbeitet55
10,11-15: Die Bestimmung der Zeichen ist mit der Sonderstellung des
Menschen verknüpft, der eben seinen Geist gebrauchen soll, um zu reinen
Formen zu gelangen. Der Mensch zeichnet sich durch diesen seinen suchenden
Geist aus, durch den er sich vom materiell Gegebenen und Sinnenhaften zu
lösen vermag. Das Gesuchte ist die Darstellung der einen seinsgebenden Form.
Die seinsgebende Form unterscheidet sich ihrerseits von der dem Seienden
Das Zeichen wird hinsichtlich seines Abstandes zu den sinnenfälligen und den
geistigen Dingen bewertet, also in Bezug auf das endliche Seiende. Wenn nun
das gesuchte, gänzlich formhafte Zeichen zugleich als das den geistig
erkennbaren Dingen nächststehende bestimmt ist und jenes die seinsgebende
Form darstellen soll, wird damit der Orientierungspunkt für die Zeichensetzung
im Endlichen gegeben. Die Zeichensetzung als Tätigkeit des Intellekts erscheint
so in einem formalen Bezugssystem.
Kommentar
n.11: Die Eigenart der sinnenfälligen Zeichen
11,1-11: Die Bestimmungen "confusum" und "genericum", auf die Zeichen
angewandt, sind in ihrer Funktion als Zuordnung zu verstehen. Wie am Beispiel
vom Hören eines Tones deutlich wird, kann diese Zuordnung ohne aktives
Zutun des Wahrnehmungssubjekts erfolgen. Aus diesem Grund wird im Text
die Umwandlung vom Zeichen eines undeutlichen zum Zeichen eines
artikulierten Lautes mit dem blossen Werden (fit) angegeben. Da Voll-
kommenheit nun auch für die Zeichen sowie deren Einzelbestimmtheit geltend
gemacht wird, sind sie in ihrem Bezug zum Ganzen des Seins gesetzt.
Das, wodurch das Einzelseiende dieses ist, ist das Sich-Gleich-Sein. Dieses Sich-
Gleich-Sein ist der Grund, weshalb ihm kein Zeichen zugeordnet werden kann.
Die Frage geht nicht nach einem Individuationsprinzip, das die Diesheit des
Einzelseienden konstituiert, sondern sie wird in Bezug auf die Erkennt-
nismöglichkeiten des Menschen gestellt. Das Akzidens wird in der Folge nicht
als Bezeichnung für die Individuation des Einzelseienden in Anspruch
genommen. Es ist jedoch als Voraussetzung für die Erkennbarkeit des Einzel-
seienden in Zeichen zu denken.
Die Frage der Erkennbarkeit durch das Akzidens wird auf das Seiende als
solches (res) bezogen und nicht auf die Substanz wie bei Aristoteles und bei
Thomas von Aquin60 Die Erkenntnisinhalte von Grösse und Vielheit sind als
Erkenntnisleistungen des Erkenntnissubjekts zu verstehen.
Durch ein Allgemeines in der Form des Zeichens der allgemeinen Quantität
wird bezeichnet und erkannt, was die einzelne Quantität ist. Das bedeutet, dass
das Allgemeine keine individuelle Realität besitzt und umgekehrt, dass es nicht
aus den Einzeldingen gewonnen werden kann. Das Allgemeine wird hier,
insofern es im Erkennen, der Spezies und im Zeichen ist - in cognitione seu
specie et signo -, im Hinblick auf das reale Einzelding und die Singularität seiner
kategorialen Bestimmungen ausgesagt. Es ist also ein universale directum,
jedoch nicht real in den Dingen, sondern allein im Erkenntnissubjekt.
14, 9-20: Die Zahlen stellen einen Sonderfall dar, da sie letzte Bestimmtheiten
und eigentlich diese sind. Ihr Gemeinsames, das der unbestimmten Vielheit, ist
ein Gedankending, durch welches die einzelne Zahl erkannt wird. Dieses
Gemeinsame wird jedoch nicht in direktem Hinblick auf das Objekt gewonnen.
Es kann - mit Thomas von Aquin - als universale reflexivum bezeichnet werden,
da es sich auf eine Vielzahl von Einzeldingen bezieht, aber die bestimmte
Individuation ausschliesst. Am Beispiel der harmonierenden Stimmen, die
durch die Erkenntnisbilder der Harmonie und der Stimme erkannt werden, wird
deutlich, dass 'Harmonie' als Begriff im Geist den Erkenntnisprozess leitet.
15 ,6-13: Form und Stellung der Buchstaben begründen in ihrer Eigenschaft als
'Akzidentien' die Individualität des Gegenstandes, das heisst hier der Worte.
Insofern die Worte ihrerseits Bezeichnungen der Dinge sind, haben jene für ein
Erkenntnissubjekt Gültigkeit. Die beiden 'Akzidentien' ermöglichen also den
erkenntnismässigen Zugang mittels der Zeichen auf das Einzelseiende.
Die Reflexion setzt beim Maulwurf an, einem Lebewesen, das auch in örtlicher
Hinsicht an unterer Stelle zu finden ist. Die vorhandenen Möglichkeiten zur
Bedürfnisbefriedigung sind ausschlaggebend für die Notwendigkeit eines
bestimmten Sinnes. Die treibende Kraft ist jedoch in einem desiderium
naturale zu sehen, das auf das individuelle Wohlbefinden (bene esse)
ausgerichtet ist. Durch diese Kraft vermag das einzelne Lebewesen und das
einzelne Seiende das seiner Natur und seinen Bedürfnissen Entsprechende aus
dem Naturgegebenen zu schöpfen.
16, 11,16 und 17: - suae naturae conveniens - : ‚Natur‘ bezeichnet in dieser
Wendung die individuelle Verfasstheit. Sie kann vom Lebewesen, aber auch
vom einzelnen Seienden als die eigene wahrgenommen werden und zwar in
Bezug auf das dem Lebensvollzug je Zuträgliche. - Die Natur untersteht der
16,12: - vis phantastica - : Anders als etwa bei Thomas von Aquin, der von quasi
objektiven Phantasmata spricht, wird in der vis phantastica eine Kraft genannt,
die selbst die einzelnen Vorstellungen (imaginationes) hervorbringt und die als
individuelle Kraft des einzelnen Lebewesens gesehen ist. In der Schrift De
coniecturis ist die vis phantastica dem höchsten sinnlichen Teil des Menschen
zugeordnet. Sie kann Abbilder der Sinnendinge (similitudines aut imagines
sensibilium) schaffen,67 bleibt aber auf die Sinnenwelt bezogen. Demgegenüber
ist im Compendium der Vorstellungskraft ein breiteres Aktionsfeld
zugesprochen. Sie kann sich auch auf Vorstellungen beziehen, die nicht
ausschliesslich dem sinnlichen Bereich angehören und - wie die Beurteilung von
Freundschaft und Feindschaft - bereits zur reinen Gedankenwelt gehören. Wie
auch bei Albertus Magnus68 ist sie als ein auf das Praktische gerichtetes
Vermögen gesehen. Sie arbeitet jedoch nicht allein in Extension einer höheren
Kraft, sondern sie ist ein selbsttätiges Vermögen.
16,15-23: Die Betonung der rationalen Natur des Menschen ist wieder im Sinne
der Erkenntnisauffassung im Compendium zu verstehen, die eben dem
Menschen, der seinen Geist gebraucht, eine höhere Stellung in der Schöpfung
zumisst. Wenn der Mensch seiner rationalen Natur entsprechende Zeichen aus
den Sinnendingen schöpft, arbeitet er damit auf die Verwirklichung seines
Wesens hin. Indem er die Erkenntnisbilder nicht nur zur leiblichen, sondern
auch zur geistigen Nahrung benützt, hebt er sich von den übrigen Lebewesen
ab, die allein auf ihr leibliches Wohl bedacht sind.69
Für den menschlichen Lebensvollzug gilt die Einheit von Leben und Erkennen,
die jedoch nur gewährleistet ist bei Menschen mit wachem Verstand (ratione
vigenti). Das lateinische "vigere" bedeutet 'sich regen', 'lebenskräftig sein', 'in
Blüte stehen', 'fleissig üben'. In diesem Tätigkeitsbereich soll sich der
menschliche Verstand bewegen. In dieser Eigenschaft repräsentiert er auch die
Dynamik in der Auffassung der menschlichen Erkenntnisweise, wie sie im
Compendium vertreten wird.70
Die zehn Kategorien und die Universalien sind in der Schrift De ludo globi der
Logik zugeordnet.71 Im Compendium nun sollen sie vom wachen Verstand des
18,10-16: Wie sich das Verhalten zur Welt beim gebildeten und beim
ungebildeten Menschen manifestieren kann, wird gezeigt am Beispiel des
Umgangs mit dem Alphabet. Der Ungebildete nimmt jenes wahr, aber infolge
seines Mangels an Kunstwissen weiss er es nicht zu gestalten. Der Gebildete
hingegen gebraucht seine Vernunft und stellt aus dem vielfältig Gegebenen
geordnete Sinneinheiten wie Silben und aus Silben Wörter zusammen. Die
Weise des Zusammenstellens, als Kombination ausgelegt, erfordert den Blick
auf das Ganze des Woraufhin, wobei die Ausrichtung durch die Beherrschung
der Künste gewährleistet ist. Werden die Künste nun im Zusammenhang mit
den Artes liberales gesehen, geht mit deren Beherrschung ein Erfassen der
Seinsordnung ineins, da jene die Gesetzmässigkeiten des Seins abbilden.
18, 16-20: Der Mensch, der sich mit seiner Geisteskraft aus den natürlichen
Erkenntnisbildern die geistigen schafft, transformiert das Naturgegebene in das
Formhafte und Geistige. Er wird dadurch zum Schöpfer reiner Formen. Diese
Formen sind zu unterscheiden von den natürlichen und von selbst
entstandenen Dingen, aber sie sind dennoch aus jenen (ex illis) durch den Geist
geschaffen. Es handelt sich also um einen Vorgang der Abstraktion als Ablösen
des formalen Anteils aus dem sinnlich Gegebenen. Die so gewonnene Form
dient dem Menschen für seinen Umgang mit dem Gegebenen im Schaffen und
im Erkennen.76
Der Mensch wird zum Menschen im eigentlichen Sinne durch sein Wissen,
seine technischen Fähigkeiten und sein sittliches Verhalten. Gerade darin ist
auch ein Unterschied vom belehrten zum unbelehrten Menschen zu sehen, ein
Unterschied, der auf die gleiche Stufe gestellt wird wie der Unterschied, von
Mensch und Tier. Belehrt und Gebildetsein heisst, dem in der Welt sich
Zeigenden und Begegnenden seinen Sinn und Ort zumessen und sein Sein in
der Welt gestalten können.
Das Verbum ist als Ursprung des Seienden gesetzt, das sich selbst und alles
andere sinnenfällig machen muss. Es wird also auf das Sinnenfällige hin gedacht
und nicht von jenem her. Durch seine seinsgebende Kraft erstreckt sich das
Wort auf alle Seinsbereiche und deckt alles Wissbare ab. Dabei stellt sich die
Frage nach dem Ansatz in der Welt des Geschaffenen. Er wird beim sinnlich
Erkennbaren, beim stimmlichen Wort gemacht, das als Paradigma für das
sinnenfällig Gewordene steht. Es kann demjenigen, der sich ein Bild machen
will, den Weg des Entstehens von Seiendem aufzeigen.
Ausgehend von der Feststellung, dass der sinnenfällige Ton nicht ohne Luft
entstehen kann (n.20), wird die Frage nach dem natürlichen Verbundensein
von Luft und Ton und allgemein von Hyle und Form gestellt. Dieses
Verbundensein wird verneint und ebenso, dass die Hyle Prinzip der Form sei,
eine Möglichkeit also, die sich am Beispiel des Tones aus der
Sinneswahrnehmung ergeben hätte. Hingegen wird nun, da die Hyle nicht
Prinzip ist, die Form beziehungsweise der Formgeber als aktives Seinsprinzip
bestimmt.
Der Mensch, als Former des stimmlichen Wortes, formt dieses, im Unterschied
zum vernunftlosen Tier, mit seinem Geist. Das vom Menschen als Formgeber
gesprochene Wort wird schliesslich auf das ursprüngliche Wort zurückbezogen
und als dessen sinnlich wahrnehmbare Gestalt bezeichnet. Obwohl mit dem
gesprochenen Wort ein Faktum in die Welt gesetzt ist, bleibt die Rückbindung
an den Grund des Sprechenkönnens erhalten, da alles Aussprechbare dem
ursprünglichen Wort zugehörig ist.
Kommentar
n19: Zum Verhältnis von Species und Wort in Bezug auf das Seiende
19,3: - elicere-77: Das Verbum „elicere" hat die Bedeutung von 'Herauslocken',
'Herausbringen', 'Herausholen'. Was herausgeholt werden muss, fällt dem
Menschen nicht ohne Anstrengung zu. In der Wendung "speciem aliquam
eliciat ex varia combinatione" wird das Herausholen durch eine reflektierende,
schöpferische Geistestätigkeit geleistet. Der Ausdruck beinhaltet ein weiteres
Aktionsfeld als etwa das "haurire", das zwar auch im Zusammenhang mit dem
Herausholen von Erkenntnisbildern verwendet wird, dann aber das unmittel-
bare, einfache Herausbringen meint78 In De docta ignorantia II79 wird das
Verbum "elicere" eingesetzt für das Ableiten und Gewinnen von Erkenntnissen
aus einem Prinzip oder einer Grunderkenntnis: "Ex quo principio possent de
ipso tot negativae veritates elici, quot scribi aut legi possent" und "Sit igitur
nostra speculatio, quam ex isto, quod infinita curvitas est infinita rectitudo,
elicimus, transumptive in maximo de simplicissima et infinitissima eius
essentia, quomodo ipsa est omnium essentiarum simplicissima essentia;...". In
De coniecturis steht das Verb wiederum im Kontext des Erkenntnisprozesses.80
Es soll beim Erkannten angesetzt und von da her weiter gedacht werden, wobei
das Weiterdenken aus den Möglichkeiten des eigenen Geistes zu erfolgen
hat:"Quapropter has ipsas, quas hic subinfero, ad inventiones ex possibilitate
ingenioli mei non parva meditatione elicitas meas accipito coniecturas,..." Im
Compendium kann nun eine Bedeutungserweiterung im Sinne einer freieren
Einstellung gegenüber dem Gegenstand des Erkennens festgestellt werden. Das
Erkenntnisbild (species) wird nun vom Menschen durch ein 'freies' Kombinieren
gewonnen.81
19, 5-17: Durch das gleichzeitige Verstehen und Begreifen einer Vielfalt von
Gegenständen und Kunstformen durch ein Erkenntnisbild werden die einzelnen
Erkenntnisse in einen Sinnzusammenhang gestellt und in ihrer allgemeinen
Bedeutsamkeit gesehen. Wenn nun die Vielfalt der Naturdinge durch das eine
Erkenntnisbild der Bewegung erfasst werden soll, ist die Frage nach dem quo
Der Ausdruck "ars generalis" schliesst an Raimundus Lullus an, dessen Werk
"Ars generalis magna" Nikolaus von Kues gekannt hat82. In diesem Werk wird
versucht, durch eine Universalwissenschaft aus einzelnen Grundbegriffen die
Einzelwissenschaften zu entfalten und so ein Modell zu gewinnen, um vom
Allgemeingültigen zu gesicherten Einzelergebnissen zu kommen. Im
Compendium nun soll ein allumfassendes Erkenntnisbild, in aufsteigender Linie
von den einzelnen Erkenntnisbildern zu demjenigen der grösstmöglichen
Allgemeinheit, den Wesenskern der einzelnen Erkenntnisbilder treffen. Das
gesuchte Erkenntnisbild einer allgemeinen Kunst, die sich auf alles Wissbare
erstreckt, hat als oberste Ordnungseinheit gegenüber der Vielfalt des
Gegebenen eine die Erkenntnis strukturierende Bedeutung. Der höchst-
mögliche Grad des Erkennens wird also im höchststehenden Erkenntnissubjekt
verwirklicht und dieses qualifiziert sich als solches, indem es mit einem einzigen
und allumfassenden Erkenntnisbild das zu Erkennende erfasst.
19, 17-28 - Est enim verbum, "sine" quo"nihil factum est" aut fieri potest - : Im
Vergleich mit der Stelle aus dem Johannes Evangelium "sine ipso factum est
nihil quod factum est"83 fällt auf, dass im Compendium eine unmittelbare
Beziehung zwischen dem wirkenden Wort und dem Geschaffenen gesetzt ist.
Dieser Zusammenhang wird noch deutlicher in der Formulierung "creantis
creatio et quod creat verbum est": das Wirken des Wortes ist das reine
Erschaffen aus sich selbst, ohne ein vorausgesetztes Seiendes. Indem das Wort
allgemein als Bewirken des zu Bewirkenden und das Bewirkte selbst ist, ist
nicht nur der universale Geltungsbereich angesprochen, sondern als Faktum
zugleich das tatsächlich Gemachte, das als solches nicht mehr hinterfragt
werden kann.84
19, 32-36: Als erste Bedingung für das Werden-Können eines sinnlich
wahrnehmbaren Wortes steht die Luft, ein Seinsprinzip also, das selbst sinnlich
nicht wahrnehmbar ist. Wenn die Luft als farbige und damit durch ein Akzidens
gesehen wird, heisst das, dass sie mit dem Hinzutretenden verbunden ist und
Das Verb "experiri" in der Wendun: "uti experimur" wird im Compendium nur
zweimal verwendet 86 und beide Male im Zusammenhang mit der
Wahrnehmung und der Erfahrung von Licht. Mit 'Erfahrung' wird in diesem
Kontext das unmittelbare Erfassen von Naturgegebenem bezeichnet, insofern
es für den Menschen Bedeutung erlangt. Häufig eingesetzt ist das Verb in De
coniecturis. Es hat dort die Bedeutung des Erfassens von Gegebenem mit Hilfe
des Denkvermögens.87 Ein Beispiel: "Quemadmodum vero sensus in unitate
rationis suam alteritatem experitur et assertiones sensibiles ab unitate
praecisionis absolvendo coniecturas facit,..."88
Das Verb "carere" impliziert, dass das Zugrundeliegende von einem Ganzen her
zu denken ist. Das Fehlende ist die sinnenfällige oder intelligible Form. Da das
Formlose keinen Namen hat, kann es nicht innerhalb eines
Erkenntniszusammenhanges identifiziert werden. Wenn es anderseits doch als
Hyle, Materie oder Chaos benannt wird, ist diese Namensgebung auf ein
geformtes Ganzes hin gesehen. Der Formanteil ist also bei der Namensgebung
im Erkennenden selbst angesetzt.
Im Compendium wird die Tonerzeugung mit der Natur der Luft (natura aeris) in
Verbindung gebracht, während in De anima die Frage nach der Notwendigkeit
von Luft und Wasser für den Schall gestellt ist: "Für den Ton ist jedoch nicht
entscheidend die Luft oder das Wasser, sondern es muss ein Anschlagen fester
Körper gegeneinander und gegen die Luft geschehen.“89
Wenn der Kosmograph nun alles ihm durch die Sinne Zugetragene aufzeichnet,
dann in diesem ersten Schritt so, wie es ihm zugetragen wird. Die Botschaften,
in der Stadt versammelt und als Beschreibung der sinnenfälligen Welt
aufgezeichnet, sind als Bilder ihrer selbst zu denken, die mit den Mitteln des
Kosmographen festgehalten werden.
Im Ausgang von der Welt des Sinnenfälligen, so wie sie aufgezeichnet ist, soll
nun der Übertrag auf eine Karte erfolgen (n.23). Dieser Übertrag erfordert eine
aktive Geistestätigkeit im Ordnen der Daten und deren proportionalem
Zuschneiden auf das Mass der Karte. Der menschliche Geist kann den formalen
Vom Kosmographen wird schliesslich berichtet, dass er die Eingangstore für die
Sinneseindrücke schliesst und sich dieser anderen, vom Geist geformten Welt
zuwendet. Die Welt, wie sie dem Kosmographen durch die Sinne zugetragen
wird, bleibt also erhalten, aber in der auf das Mass der Karte zugeschnittenen
Form.
Das an sich Unfassbare wird schliesslich als Form des Seins bezeichnet (n.24).
Die Form ist eine sich durchhaltende, die aber vom einzelnen Seienden aus
nicht erkannt werden kann. Hingegen wird dem betrachtenden Menschen in
der Reflexion auf seine Erkenntnisweise das Vermögen zugesprochen, zum
Ursprung und Ziel von allem vorzustossen.
Kommentar
22, 10-19: Der Kosmograph, der da sitzt und alles ihm Zugetragene aufschreibt,
empfängt die Sinnesdaten passiv. Er filtriert nicht, sondern er zeichnet nur auf.
Dadurch wir die Aufzeichnung der gesamten sinnenfälligen Welt möglich.97
Diese ist, wenn der Kosmograph sie festgehalten hat, ein naturgetreues Abbild
der sinnlich fassbaren Aussenwelt. So gesehen, gibt es zwischen den
Sinnesdaten und deren Aufzeichnung keinen qualitativen Sprung. Hingegen ist
die Vollständigkeit der Aufzeichnung der Welt selbst abhängig von den
zugänglichen Sinnesdaten.98 Die Sinnesdaten werden von aussen zugetragen.
Wenn er infolge eines Ausfalls eines der Boten der Kosmograph keine
Aufzeichnung vom Sinnenfälligen machen kann, ist damit impliziert, dass er
auch keine entsprechenden Vorbilder in sich trägt, auf die er mangels aktueller
Übermittlung zurückgreifen könnte. Es kann hier, in Bezug auf das durch die
Sinne vermittelte Wissen, von einem tabula-rasa-Modell gesprochen werden.99
22, 20-22: Der Grad von Wahrheit in der Aufzeichnung der Sinnesdaten steht in
Korrelation zu einem kontinuierlichen und immer wieder Neues bringenden
Nachrichtenfluss. Seiendes ist nicht thematisch in der Weise, wie es sich an sich
selbst verhält, sondern wie es zugetragen wird. Form und Umfang des
23, 5-12: Der Schöpfer ist ausdrücklich hinsichtlich der Welt und den Menschen
gedacht. 'Schöpfersein' bedeutet das Wollen des Entstehens von Seiendem.
Der Mensch, als dieses Gewollte, wendet sich nun in einem intentionalen Akt
auf den Schöpfer zurück. Dem vom Schöpfer insgesamt Gewollten läuft also ein
individueller Akt des Wollens entgegen.
Vom Ursprung her gesehen, dessen Wirken Erschaffen ist und der das Ganze
des Seins bewirkt, tritt mit der Doppelbestimmung "Werkmeister und Ursache"
(artifex et causa) das endliche Seiende in den Blick. Der Werkmeister kann als
causa efficiens principalis gesehen werden. Er bezieht sich auf etwas, das schon
Sein hat und gestaltet werden kann. Die causa hingegen ist die schlechthinige
Erstursache alles Seienden. In der Bestimmung. des Werkmeisters und
Ursacheseins von allem wird das Grundsein des Schöpfers in doppelter Hinsicht
eingeholt, einmal vom Standpunkt des ursprünglichen, persönlichen
Erschaffers aus, der die Welt lenkt und im Sein hält, und dann als Ursache eines
Verursachten, die notwendig dem Seienden vorangehend zu denken ist und die
jenes hervorbringt.
23, 7-12: In einer sich mehrfach spiegelnden Proportion wird das Verhältnis von
Schöpfer und Welt sowie von Kosmograph und Karte zum Ausdruck gebracht
und in seinem Wahrheitsgehalt bestimmt. Das Sich-Verhalten des Schöpfers zur
Welt ist vorgängig und eine Bestimmung innerhalb der Proportion selbst. Das
Eine andere Perspektive ergibt sich beim Kosmographen, der zwar im selben
Verhältnis zu seinem Werk steht, aber seine Betrachtung von dieser seiner
Welt aus anstellt. Seine Welt ist von ihm und nach seinem Massstab
geschaffen, aber sie soll doch die wirkliche Welt wiedergeben. Da seine Welt
durch Boten übermittelt ist, ergibt sich eine Differenz zur wahren Welt, die vom
Kosmographen jedoch eingesehen wird. Dieser Sachverhalt ist nun auf das
Verhältnis des Kosmographen zum Schöpfer der wahren Welt zu übertragen.
Der Sammelpunkt der Spekulation über die Welt liegt im Kosmographen selbst.
Indem er sich durch sein Sprechenkönnen vom Weltenschöpfer als
Kosmograph sieht, gewinnt er die Erkenntnis seiner Spiegeltätigkeit. Im
Unterschied zur instrumentell-dynamischen Zeichenauffassung "per signa ad
signata", wie sie von Bonaventura vertreten wird100, zeigt die Formulierung "in
signo signatum" hier den Status des Zeichenseins an.
23, 12-14: Im reflexiven Verhalten zur Welt ist für den Kosmographen die
Möglichkeit zur Unterscheidung des Menschseins gegenüber dem "rohen
Lebewesen" (brutum animal) gegeben. Jenes ist mit ähnlichen Sinnesgaben
ausgestattet, aber es kann der Sinnenwelt gegenüber nicht Abstand nehmen.
Nur der Mensch kann in freier Hinwendung zum Gegebenen eine auf das Mass
der Karte gebrachte Aufzeichnung machen.
23, 14-20: Das Auffinden des Zeichens in sich selbst erfordert die aktive
Betätigung des Geistes und ist eine Erkenntnistätigkeit.101 Die Bestimmung des
Zeichenseins in Bezug auf den Schöpfer bedeutet sodann, dass der Schöpfer an
die erste Stelle und das Nachfolgende zu ihm in Beziehung zu setzen ist. Indem
das geistige Zeichen als vollkommenstes im Spektrum von den geistigen zu den
sinnenfälligen Zeichen bestimmt wird, ist das Streben zum geistigen Zeichen als
Zielpunkt schon mitgedacht, da auch im Begriff der Vollkommenheit diese
Zielvorstellung eingeschlossen ist. Das bedeutet für den Kosmographen, der
sich selbst als Zeichen betrachtet, dass er sich zu jenen geistigen Zeichen hin
bewegen soll. Wenn die geistigen Zeichen schliesslich als einfache und
24, 6: - (esse) essendi formam - : Der Ausdruck kann als Form des Seins und
Formprinzip des Seienden (Genitivus subjektives) oder als Form in Bezug auf
das Seiende (Genitivus objectivus) ausgelegt werden. Wird das "manens"
hinzugesehen, ist die Form als solche betrachtet, die sich im Seienden
durchhält, aber unfassbar bleibt. Als Form in Bezug auf das Seiende verstanden,
kann sie mit dem Geschaffenen zusammen gedacht werden und ist dann Grund
für das Seiende, aber als solche nicht einheitlich mit dem Seienden.
Das Sich-Durchhaltende (in se manens una) zeigt sich als Ganzes und als Einheit
in der Vielfalt der Erscheinungen. Es stellt also eine Entwicklung vom
Einheitsein zum Vielfaltsein dar. Diese Entwicklung wird fassbar in den Künsten,
die aus der in sich gleichbleibenden Vernunft hervorgehen. Durch die
24, 17-18: - dulcissime pergit - : Im Mittelalter steht das Süsse (dulcedo) für die
Aufwärtsbewegung im Erkennen und in der Gottesbetrachtung103. Im "pergere"
ist anderseits das Fortsetzen von etwas enthalten, das schon begonnen hat, das
unterwegs ist, sowie auch der Beginn einer vorwärtsstrebenden Handlung als
'sich aufmachen', 'aufbrechen'. Für den Betrachter ist der Anstoss der
Bewegung durch die Spekulation selbst gegeben. Im Durchlaufen der
Spekulation wird für ihn der Sinn seiner Betrachtungen erfüllt, soll sie ihn doch
zum Ursprung und zum Ziel führen. Mit dieser Schlüsselstelle wird also die
Weise und der Sinn des Vordringens zum Ursprung aufgezeigt.
Die geistige Tätigkeit des Menschen, der sich seine Welt als Wissen von den
Dingen aufbaut, wird der Schöpfertätigkeit Gottes gleichgesetzt (n.26). In den
Künsten wird dem Menschen die Möglichkeit zugestanden, Kraft und Schönheit
auszudrücken. Obwohl die Bereiche von Natur und Kunst als getrennte
betrachtet werden, soll die Natur als Grundlage und Richtpunkt für das
menschliche Kunstschaffen wirksam werden. Das Beispiel, das die Beziehung
von Natur und Kunst deutlich machen soll, geht von einem in der Natur
aufgefundenen Element, dem Ton aus, dem die Kunst beigefügt wird. Durch die
Kunst wird es möglich, das in der Natur Aufgefundene in einer dem Ton
entsprechenden Form festzuhalten.
Es stellt sich nun die Frage, wie die in der Natur aufgefundenen
Gesetzmässigkeiten kunstmässig nachgeahmt werden können (n.27). Der
Kommentar
n.25: Betrachtungen über die Rede
25, 3: - Quod si subtiliora indagare proponis - : 'Indagare' heisst "aufspüren",
insbesondere "das Wild aufspüren", dann auch "ausforschen", "erforschen“. Es
geht also darum, Feineres aufzuspüren, das sich verborgen hält. Das Aufspüren
hat, wer weiterkommen will, selbst in Gang zu setzen. Dieses Wollen bahnt
einen vertiefenden Erkenntnisprozess an. Anders als das Naturstreben, das sich
immer schon auf sein Ziel hin bewegt, liegt der Ursprung der Zielsetzung beim
denkenden und wollenden Menschen in einem bewussten Entscheid. Das Ziel
beziehungsweise die Beute muss in gewisser Weise schon bekannt sein, sodass
sie auch bewusst aufgesucht werden kann. Diese Erkenntnisauffassung steht in
der Nähe des scholastischen "nihil volitum nisi praecogitum".
Während bei Thomas von Aquin die allgemeine Form des "dicantur" für die
Benennung der Buchstaben und Lautelemente steht. "..secundum quod sunt in
scriptura, dicantur litterae, secundum autem quod sunt in prolatione, dicantur
elementa vocis“104 wird an der vorliegenden Stelle mit dem "respice" an den
individuellen, denkenden Leser appelliert.
25, 8-10: Mit der Rede als Ziel des Kombinierens ist eine Sinngebung impliziert.
Parallel dazu ist in der Natur selbst eine Sinngebung zu sehen, liegt doch im
Seienden, das von Natur aus ist, eine Zielbestimmtheit in der Form eines
Naturstrebens, das von den Elementen zu dem von der Natur Beabsichtigten
fortschreitet. 'Procedere' hat die Bedeutung von "Fortschritte machen",
"gelingen". So kann das Fortschreiten der Naturdinge auch im Rahmen einer
übergeordneten Entwicklung der Dinge, der Zeichen und des Menschen auf
den genannten glücklichen Abschluss hin interpretiert werden.
Was die Rede selbst betrifft, so ist sie als Werk des denkenden Menschen zu
betrachten und seiner ihm eigensten schöpferischen Fähigkeit, Naturge-
gebenes zu Sinneinheiten zu verbinden und sich damit seine Welt zu schaffen.
Das von Natur Seiende ist nun als das Unvollkommene verstanden, die Rede als
das Vollkommene. Das heisst, dass auch durch den Menschen und seine Kunst
des Kombinierens ein Grad von Vollkommenheit schon im Endlichen erreicht
werden kann. Die Sprache hat, so gesehen, keine 'Verbergungstendenz',
sondern sie ist eine Möglichkeit, die Dinge in der für den Menschen geeigneten
Form zu erfassen, um das zu vollenden, was in der Natur unvollendet bleibt.
'Schöne Kombinationen' sind nicht nur solche, die von Menschen getätigt
werden; sie können auch in der Natur aufgefunden werden. Diese
Kombinationen sind in sich vollkommen und benötigen keine weiteren
Bearbeitungen durch die menschliche Kunst. Im Seienden selbst ist also etwas
für den Menschen Erstrebenswertes angelegt, das ihm als Vorbild dienen kann.
Die in der Natur gefundenen Kombinationen sind für den Menschen erreichbar
und erstrebenswert, und das heisst, dass im Seienden selbst Werthaltiges
gefunden werden kann.
25, 12: - quaedam contrario se habent modo in utraque - : Dass sich in den
genannten Künsten einiges konträr verhält, steht als Beispiel für die vom
Menschen geschaffenen Kombinationen, vermag doch der Mensch auch
Konträres zu erfassen und zu gestalten. Vom Gedanken der Vollkommenheit
her kann das Gegenständliche zum Ausdruck bringen, dass im Endlichen das
Schöne auch sein Gegenteil enthält und so dem endlichen Vollkommenen auch
Unvollkommenes beigemischt ist'.107
26, 5-10: Die im Text genannten Künste gehören noch zu den Artes liberales.
Sie sind aber nicht mehr in die Schöpfungsordnung eingebunden, sondern sie
stehen nur noch als Zeichen der Natur. Sie erscheinen nun in loser Form und
27, 1-8: Für die Erkenntnisauffassung, wie sie im Compendium vertreten wird,
ist der Ansatz gerade bei rationalen Überlegungen von Bedeutung in Bezug auf
den Umgang mit dem Naturgegebenen. Nicht die Ähnlichkeit der Seele, wie
noch bei Boethius109, 'sondern die Gleichheit der Ratio bildet den Übergang und
das Verbindungsstück zwischen der Natur und der Kunst.
Die Erfahrung wird nicht auf den klingenden Ton (sono) bezogen, sondern auf
ein rationales Kennzeichen (nota). Der Ausgangspunkt ist nicht die
Hörerfahrung von Klängen, sondern das mathematisch bestimmbare
Verhältnis. Diese rationalen Verhältnisse bilden die Grundlage für die künstlich
erzeugten Klänge. Der Mensch ist also in der Lage, mit seinen Mitteln das
Gleiche hervorzubringen, das er in der Natur vorfindet. Am Beispiel der Musik
27, 8-11: Das Wesen der Kunst wird nun im Verhältnis zum Ganzen der Natur
bestimmt. Die Natur ist das Vorbild.111 An ihr wird die Kunst gemessen, auch in
Bezug auf die übergreifende Bewegung, die auf Wohlgefallen und Freude zielt.
Da diese Bewegung das Ganze des Seienden umfasst, ist auch das in der Kunst
zum Ausdruck gebrachte individuelle Schöne im Ganzen begründet, - jedoch
nicht als Abbild eines ewigen, statischen Transzendentalen, sondern innerhalb
einer Bewegung auf das Ganze hin. Im menschlichen Wohlbefinden ist
schliesslich ein Verbindungsstück zwischen dem Zielstreben der Natur und
demjenigen des Menschen genannt. Während die Natur in ihrer lebendigen
Bewegung immer schon auf Wohlklang und Wohlgefallen ausgerichtet ist,
besteht die Aufgabe der Kunst nun darin, auf eine Steigerung des menschlichen
Wohlbefindens hin zu wirken.
27, 11-15: Anders als die Natur, die sich durch das ihr innewohnende Streben
auf ihr Ziel hin bewegt, ist dem Menschen in der Kunst ein Spielraum in seiner
schöpferischen Tätigkeit gegeben. Dieser Spielraum wird im Verb "dilatare"
zum Ausdruck gebracht. 'Dilatare' heisst "ausbreiten", "ausdehnen" und
bezieht sich im Text auf das in der Natur Aufgefundene, das durch die
menschliche Kunsttätigkeit erweitert wird.
Die Frage nach der Ursprungserkenntnis wird vom Ursprung her aufgeworfen:
im Vergleich zum Ursprung gibt es nichts Früheres oder Mächtigeres (n. 29).
Eine zweite Bestimmung nimmt den Begriff des Mächtigseins auf und leitet aus
dem Vermögen des Ursprungs, die genaue Gleichheit seiner selbst zu zeugen,
dessen absolutes Mächtigsein ab. Die Begründung ist, dass diese Macht alles in
sich einigt. In der Folge werden die vier Grundbegriffe des Ursprungseins
Aus der Bestimmung des Könnens wird der Begriff des Gleichen gewonnen
(n.30). In der Gleichheit des Könnens und in dessen Vermögen, aus sich selbst
die Gleichheit seiner selbst zu zeugen, ist die überragende Wirkmächtigkeit des
Könnens zu sehen. Das Können soll jedoch auch in Bezug auf Endliches,
Gegensätzliches verstanden werden. Obwohl das Können und seine Gleichheit
für sich betrachtet werden können, sind sie substantiell nicht getrennt. Hieraus
wird beider in höchstem Masse mächtige Einigung entwickelt. Das Ergebnis ist,
dass das Können alles gleichermassen eint und auch das Endliche einschliesst.
Damit ist die Möglichkeit gewonnen, von der Schöpfung zu sprechen.
Die Frage ist, wie der Vorgang der Erschaffung der Welt vom Können her zu
entwickeln ist (n.31). Die Reflexion setzt beim zu Schaffenden an. Als
Schöpfungskraft steht das Können, das durch die Gleichheit schafft, erschafft
und sich offenbart. Die Begründung ist, dass das Können nicht früher als es
selbst ist und durch die Gleichheit nicht das Unähnliche macht, - zwei Gründe
also, die zum Schaffen des Könnens durch die Gleichheit in Widerspruch stehen
würden. Was das Können durch die Gleichheit macht, wird von der Formfrage
her gewonnen, insofern die Gleichheit nicht ebenso Form der Unähnlichkeit
und des Ungleichen sein kann. Hieraus ergibt sich auf der Seinsebene, dass das,
was das Können macht, Ähnliches ist. Was also ist, kann nun vom Seinsprinzip
her unterschieden werden.
Der Grund für die Erkenntnismöglichkeit des Guten, Gerechten und Richtigen
ist in deren abbildmässigen Beziehung zur Gleichheit angesetzt (n.34). Dieser
Sachverhalt soll einsichtig werden am Beispiel des Sehens, indem das sinnliche
Sehen zum sinnenfälligen Licht, gleich wie das geistige Sehen zum geistigen
Licht, in ein Verhältnis gesetzt werden.
Kommentar
n.28: Der Geist und das Wort
28, 3-9: Die Worte und ihre Bedeutung sollen vom wortschaffenden Geist her
erklärt werden. Damit steht das Denken als vorsprachlicher Grund vor dem
Sprechen. Nicht die Sprache und ihr Zeichen sind es, die die Welt erschaffen,
sondern es ist das Denken, das vorangeht. Das Sprechen weist, so gesehen, auf
den Grund des Sprechenkönnens zurück. Diese Auffassung findet sich auch bei
Augustinus, etwa in der Formulierung, dass "die Laute in unserer Rede selbst
Zeichen der Dinge sind, die wir denken“.113
Insofern die menschliche Kunst im Kern alles zu Entwickelnde enthält, kann sie
als Abbild des einfaltenden Grundes gesehen werden. Das Problem der
Angemessenheit des Wortes an die Gedanken wird auf den Punkt einer
möglichst hohen Genauigkeit gebracht. Das dem Geist Zugesprochene ist das
im Geist Konzipierte, weshalb die Definition als Ausfaltung aus dem im Geist
schon Bekannten bestimmt werden kann.114
29, 2-8: Die Frage nach dem Ursprung und Prinzip von allem stellt sich
innerhalb einer zeitlich-logischen und kräftemässigen Ordnung, die von diesem
Prinzip begründet wird. Die ursprüngliche Kraft soll als erstes wirkendes Prinzip
betrachtet werden, das ein gleiches seiner selbst bewirken kann.117 Weil diese
Kraft ein Vermögen für alles zu Schöpfende in sich enthält, kann sie nicht
grösser als auf diese Weise gedacht werden.
Das Können, das Gleiche und das Eine sind mit der Frage nach dem Prinzip
zusammen gedacht, während der Begriff des Ähnlichen eine Hinzufügung ist.
Mit dem Begriff des Gleichen ist ein Prinzip des arteigenen Wirkens
eingebracht, so dass das Eine als aus diesem Prinzip Hervorgehendes in
substantieller Einheit gewonnen ist. Das Können ist als Dynamis aufgelöst und
im Einen begrifflich fassbar geworden. Das Ähnliche steht in Differenz zum
Ursprung, ist ihm aber verbunden, indem es als dessen Ähnlichkeit, von jenem
her gesehen, seine Bestimmung hat.
29, 6-13: Die Formulierung "quo nihil potentius" erinnert an Anselm von
Canterbury und sein "quo nihil maior cogitari potest". An der vorliegenden
Das Können ist dem Sein und dem Nicht-Sein als zeitlich- räumlich Früheres
vorgeordnet. Alles, was ist und was nicht ist, wird deshalb vom Können
abhängig. Das Sein und das, was ist und sein kann, ist - in Bezug auf das
Vorhergehende und begründende Können - sich gleich gestellt. Das Sein und
das Seiende hängen beide vom Können ab und können ohne jenes nicht sein.
Das Können ist also Seinsgrund und zugleich überseiend.
29, 13-19: Auch die welthaften Seinsweisen des Machens und Werdens sind
vom Können abhängig, insofern das Können eben vorgeordnet und
seinsbegründend ist. Das Können ist vor- seiend und überseiend, was vom
Seienden aus heisst, dass es nur insofern sein kann, als es vom Können die
Seinsform empfängt. Damit ist aber nicht gesagt, dass das Können selbst im
Sein oder im Seienden ist, da es in diesem Fall auch Grund seines Nichtseins
sein könnte. Anderseits wird alles, was sein und erkannt werden kann, als im
Können eingefaltet gedacht, sodass das Sein und das Seiende im Können selbst
aufgehoben sind.
Die Dynamis des Könnens wird als erstes wirksam in der Gleichheit des
Könnens und dann in beider Einigung. In ihr erreicht sie das Höchstmass an
Kraft und in ihr verwirklicht sie sich, ohne endlich zu werden. 'Procedere' heisst
"vorwärts gehen", aber auch "Fortschritte machen". Wenn vom Können und
seiner Gleichheit ausgesagt wird, dass es Fortschritte machen kann, so ist in der
ursprünglichen Kraft des Könnens das Vermögen angezeigt, weiter zu gehen
und sich zu entwickeln. Das bedeutet für das Können selbst, dass es seine Kraft
zu offenbaren vermag. Da dem menschlichen Geist schliesslich die Möglichkeit
zugesprochen wird, das Können in seiner vollen Wirkmächtigkeit zu erfassen,
fällt umgekehrt auch der menschliche Geist in seinen Wirkbereich. Das Können
schliesst also Endlichkeit in der Form des Gesehen-werden-Könnens ein.
Wenn die Gleichheit als Form des Ungleichen stehen könnte, wäre diese Form
als Seinsprinzip des (endlichen) Seienden zu sehen. Dann müsste sie auch die
Möglichkeit der Form des Ungleichen enthalten. Das würde aber der Gleichheit
als solcher widersprechen, die nicht sowohl Gleichheit als auch Form der
Ungleichheit sein kann. Es ist also nur die eine Form anzunehmen, die die
Gleichheit ist. Wenn das Können durch die Gleichheit als Form und Seinsprinzip
etwas erschaffen kann, dann nicht das Unähnliche, sondern eben nur das
Ähnliche.
31,10: - non enim est singularitas aliud quam aequalitas - : Die Singularität ist
als Gegensatz zur Pluralität, einer Bestimmung des (endlichen) Seienden,
gedacht. Die Singularität ist vollkommene Einheit, im Unterschied zur Pluralität,
die auf eine Vielzahl von Seienden sowie von auseinander nicht ableitbaren
Seinsbestimmtheiten geht. Die Singularität hat nur die eine Seinsform. Sie ist,
in der Eigenschaft des Einesseins, die Gleichheit. Jedoch ist die Singularität eine
Bestimmung, die ihr Gegenteil in der Pluralität und damit im Endlichen hat. Mit
dem Begriff der Singularität ist eine Oeffnung zum Endlichen hin gewonnen
und zugleich ein Weg des Verstehens vom Endlichen her.
32, 6-13: Wenn die Gleichheit das menschliche Erkenntnisvermögen durch ihre
Ähnlichkeit in die Wirklichkeit überführt, sind auch im menschlichen
Die Gleichheit als der eine, unteilbare Gegenstand ist für das menschliche
Erkenntnisvermögen, insofern er vom Intellekt erfasst wird, sub specie
intelligibilis, und insofern er der Sinnlichkeit zum Gegenstand wird, sub specie
sensibili.
33, 7-17: Insofern die Gleichheit als die Seins- und Erkenntnisform von allem
bestimmt ist, kann sie als substantielle Form betrachtet werde. Sie gibt das Sein
und ist zugleich der Wesensgrund des Seienden. Wird die Gleichheit jedoch als
in verschiedener Ähnlichkeit auf verschiedene Weise erscheinend bestimmt, ist
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sie mit dem sinnlich Wahrnehmbaren und damit mit den akzidentellen Formen
verbunden. Diese letzteren verleihen einem bestimmten Einzelseienden ein
Hinzukommendes.
34, 4-5: Das geistige Leben soll in Bewegung gehalten werden, und zu diesem
Zweck muss dem Geist Nahrung zugeführt werden. Auf die geistige Nahrung ist
der Mensch, wie das Tier auf seine leibliche, immer schon eingestellt und
hingewandt. Diese Nahrung ist unerlässlich für das Fortleben. Freude und
Labsal sind notwendiger Bestandteil der geistigen Speise, die so ihren Ort hat
innerhalb einer Bewegung der Natur, die auf die Freude hin zielt.
Die Sinneserfahrung, dass bei Wegfall des Lichts nichts mehr gesehen werden
kann, ist der Ausgangspunkt für die Erkenntnis, dass das sinnlich
Wahrgenommene kontingent und nicht in sich selbst begründet ist und auf das
Licht als Seinsprinzip zurückweist. Auf das geistige Sehen übertragen bedeutet
die Einsicht in das Bedingtsein allen Sehens und Erkennens durch das Licht,
dass dieses Licht Grund ist für das Sein und Erkennen. Diese Einsicht ist
ontologisch begründet und kann als Wahrheitsgeschehen beurteilt werden. Die
Wahrheit selbst ist in der Weise des Geschaffenseins der Welt begründet. Das
Geschaffene seinerseits enthält die Möglichkeit, im Ausgang von der
menschlichen Sinneserfahrung durch den menschlichen Geist in seinem
Wahrheitsgehalt erkannt und beurteilt zu werden.
Ohne das Licht kann das Seiende weder im Sein gehalten werden, im Sinne der
creatio continua, noch besteht eine Seins- und Erkenntnismöglichkeit. Was ist,
ist also nur, insofern es durch das Licht beziehungsweise die Gleichheit ist. Vom
Endlichen aus ist die Erkenntnismöglichkeit nur durch das Licht und vom Licht
her gegeben. Das Seiende ist also in seinem Sein und Erkennen immer schon
auf sein Seinsprinzip hin zu sehen.
Als Bedingung für die Möglichkeit des Empfindens steht einerseits die
sinnenhafte Seele und anderseits das Erkenntnisbild des Gegenstandes (n.36).
Für die Unterscheidung der sinnenhaften Seele von der Vernunft ergibt sich,
dass diese nicht Vernunft sein kann, da sie ohne die Ähnlichkeit des
Gegenstandes nichts empfindet. Die Vernunft hingegen kann das Intelligible
durch sich selbst erkennen. Hingegen ist festzuhalten, dass die Vernunft das
Sinnenfällige nicht einsehen kann, da es eben sinnenfällig und nicht intelligibel
ist. Das Sinnenfällige muss erst intelligibel werden, bevor es eingesehen
werden kann, genau so wie nichts empfunden werden kann, wenn es nicht
sinnenfällig wird.
Wenn die zweifache Form im Sehenden, zum einen vom Objekt her als
einformende, zum anderen vom Geist her als formende stammt, kann sie selbst
als formales Verbindungsstück zwischen dem Objekt und dem Subjekt
verstanden werden.131 Beide Formen sind auf den Geist und nicht auf die
Materie bezogen. Da sie im Sehenden selbst lokalisiert sind, die einformende
Form aber vom Objekt her stammt, kann die sinnenhafte Seele in diesem
Zusammenhang als Trägersubstanz gesehen werden, auf die das Objekt
einwirkt.
35, 6-9: Das vom Intellekt geleistete Formen und das vom Objekt her
stammende Einformen sind auf ihre bewirkende Tätigkeit im Endlichen hin
bestimmt. Vom Geschaffenen her wird ein Bild hervorgebracht, während im
Intellekt ein bewirkendes Prinzip angesetzt ist. Im Intellekt, als Prinzip aller
Tätigkeiten, ist ein Eigenwirken des menschlichen Geistes als Schöpferkraft
impliziert. Die Welt, so wie sie für den Menschen ist, wird von seinem Geist her
konstituiert. Der Mensch ist also nicht nur ein einzelnes Geschaffenes neben
anderen, sondern er steht durch seinen Geist immer schon in einem Verhältnis
zur Natur und zum Seienden im Ganzen.
35, 9-18: Im Sehenden sind zwei Formen zu unterscheiden, die als Ähnlichkeit
des Gegenstandes und der Vernunftkraft das Sehen konstituieren. Das Sehen
ist also von einem geistigen Prinzip bestimmt.132 Auch das sinnlich
Als Werkzeug der Ähnlichkeit der Vernunftkraft ist die Ähnlichkeit des Objekts
die Form, durch welche der Geist das Objekt erkennt. Die Ähnlichkeit des
Objekts bildet also den Ansatzpunkt des Erkenntnisprozesses, während die
Vernunfttätigkeit zugleich mit den Sinnesdaten einsetzt.
Die aus sich selbst schaffende Vernunft ist ein Vermögen unmittelbarer Einsicht
und, im Unterschied zum sinnlichen Wahrnehmungsvermögen, nicht von einer
Affektion durch den Gegenstand abhängig. Als Ursprung ihrer eigenen
Tätigkeiten ist die Vernunft immer schon auf einen übergreifenden
Sinnzusammenhang ausgerichtet. Sie hat durch ihr Vermögen, das Einzelne zu
bestimmen, ein a priorisches Seinsverständnis.
Die Gleichheit als Ursache und Grund wird im Weiteren auch für die Zahlen
ausgewiesen (n.38). Die Begründung ist, dass keine Zahl der Gleichheit
entbehren kann, da in den Zahlen nur ein Fortschreiten aus der Einheit
gefunden wird. Es ergibt sich die Frage, ob sich in menschlichen Bereichen wie
dem der Gesundheit oder des Lebens nicht ebenso die Gleichheit findet. Bei
Aufhebung der Gleichheit, so die Folgerung, würde weder das sinnliche noch
das geistige Erkenntnisvermögen zurückbleiben. Gleichermassen würde es
weder Tugenden wie die Liebe und die Gerechtigkeit noch einen Fortbestand
des endlichen Seienden geben.
37, 6-16: Für die Betrachtung der Gleichheit ist das Sich- verhalten in Gleichheit
des endlichen Seienden massgebend. Diese rational einsehbare Bestimmung
soll nun mit einer sinnlichen Wahrnehmung verknüpft werden. Für das
38, 5-9: Wenn Gleichheit auch als das Bestimmende für Lebensbezüge in
Anspruch genommen wird, steht damit das Vergängliche und Endliche im Blick.
Gleichheit konstituiert auch das Vergängliche, aber sie selbst ist unvergänglich,
denn nur die Gleichheit als zeitlose kann zeitlose Wahrheiten wie die Zahlen
oder die Gerechtigkeit konstitutieren. Diese Zeitlosigkeit bedeutet aber noch
nicht Ewigkeit im eigentlichen Sinne, da jene eben dem ersten Ursprung
vorbehalten ist. Gleichheit ist demnach in Bezug auf das Zeitliche zu denken.
Dass neben die Geistes- und Sinneskräfte auch die Proportionen gestellt
werden, bedeutet, dass jene, obwohl zeitlos, als endliche gedacht sind. Das
kann in Bezug auf das im Mittelalter ausgeprägte Ordo-Denken dahin gehend
gedeutet werden, dass auch die Weltordnung nicht mehr als ewige und
unveränderliche gedacht ist. So sind denn die Eintracht und die Liebe nicht als
ewige und unendliche verstanden, sondern als vergängliche, in der Zeit zu
verwirklichende. Hier kann auch ein Bezug zur Vollkommenheitsfrage gesehen
werden, insofern alles Endliche Vollkommenheit im Ansatz enthält und auf die
Vollkommenheit hin zu verwirklichen ist. Auch die Dynamis, die in den
Begriffen von Liebe, Eintracht, Gerechtigkeit und Frieden steckt, deutet auf ein
zu Vervollkommnendes hin.
Dass das Erkenntnisbild selbst nicht-körperlicher Natur sein kann, wird vom
wirkenden und formenden Prinzip her erklärt (n.40). Dieses Prinzip ist als
Einwirkung des Erkenntnisbildes auf den Körper und - in Bezug auf den Körper -
als formender Geist bezeichnet. Was anderseits den Körper betrifft, auf den
das Erkenntnisbild einwirkt, wird festgestellt, dass er, als reiner Körper, nichts
vom Erkenntnisbild selbst hat. Es bleibt also, die den Körper belebende Seele
als Wahrnehmungsträgerin zu bestimmen.
Von der Sinnenseele, als dem belebenden Prinzip des Durchsichtigen, wird
schliesslich ein besonderes Geistigsein ausgesagt (n.41). Das heisst in Bezug auf
das Erkennen, dass es durch einen Glanz zustande kommt, den die Seele auf
der Oberfläche ihres durchsichtigen Körpers wahrnimmt.
Kommentar
n.39: Die Seele im Wahrnehmungsprozess
39, 2-11: Durch die Verknüpfung der Ursprungsbetrachtung mit den
Folgerungen über die Seele wird die Seele selbst in einen Zusammenhang mit
der Schöpfungsordnung gestellt. Im metaphysischen Denken erscheint die
Seele als ausgezeichnetes, den Körper belebendes Seiendes. Vom Ursprung her
gesehen kommt ihr so eine ähnliche Funktion zu wie der Gleichheit, da sie als
formgebende Kraft wirkt.
Da die Luft selbst nichts Sinnenfälliges enthält, muss das sie belebende Prinzip
von aussen hinzu kommen. Dieses Prinzip ist in der Seele angesetzt. Sie soll die
sinnenhafte Wahrnehmung ermöglichen, indem sie der Luft sinnenfälliges
Leben verleiht. Die Seele und die Luft bilden eine funktionale Einheit, in der die
Seele seiender Wesenteil ist, der die ihr verbundene Luft belebt. Die Luft kann
in diesem Zusammenhang auch als 'tote' Materie gesehen werden, die von der
Seele für den Lebensvollzug im Wahrnehmen und Erkennen geformt wird.
Schon die erste Abstufung von der durchsichtigen, feinen Luft für die
Übermittlung des Sichtbaren zur gewöhnlichen Luft für die Erkenntnisbilder des
Tones lässt auf eine korrespondierende Auffassung des Wahrnehmungsinhaltes
schliessen. Das Sichtbare wird als feiner als das Hörbare und beides wiederum
feiner als das durch die anderen Sinne Wahrgenommene verstanden. Das
Erkenntnisbild des Sichtbaren ist, da es gerade nicht in einer veränderten und
verdickten Luft wahrgenommen wird, nicht nur das Feinere, sondern ebenso
das ursprünglichere. Ferner ist es auch das Reinere, da es in der unveränderten
Luft erfasst wird. Die Luft als Medium für das Erkenntnisbild passt sich also dem
aufnehmenden Sinn an, und anderseits wird die Reinheit und Feinheit der
Wahrnehmungsweise durch jenen bestimmt.
39, 11-15: Anders als die Grundelemente ist die sinnenhafte Seele nicht als in
sich bestehender Grundkörper und Einzelnes gesehen, sondern in ihrer
Funktion als belebendes Prinzip in einem Zusammengesetzten. Die Sinnenseele
ist dem Bereich des Werdens zugeordnet und als belebendes und formendes
39, 16-19: Die Luft erreicht das sinnlich fassbare Dasein durch ihr Körpersein für
das belebende Wirken der Sinnenseele beziehungsweise des belebenden
Geistes. Anderseits kann der menschliche Leib, nur wenn er durch die
Sinnenseele belebt wird, die Gegenstände wahrnehmen. Was Gegenstand wird
für den sinnenhaften Geist, ermöglicht zugleich dessen Eigentlichwerden in der
sinnlichen Wahrnehmung. Dass der sinnenhafte Geist nicht von der Natur eines
sinnenfälligen Gegenstandes, sondern von einfacherer und höherer Kraft sei,
kann im Blick auf die mit Geist begabte Seele interpretiert werden. Sie setzt im
Erkenntnisprozess beim sinnlich Gegebenen an, steigt dann auf in das 'höhere'
Reich des Nichtsinnlichen, wo sie schliesslich, vom Sinnlichen losgelöst, die
Wesenheiten schaut. Anderseits kann die genannte einfachere und höhere
Kraft mit dem Gedanken der Ursprungsmächtigkeit in Zusammenhang gebracht
werden. Die Nähe zum Ursprung ist dann als das Einfachere und
Wirkmächtigere zu sehen.
Das Erleiden schliesslich betrifft den Körper des Wahrnehmenden, auf den die
Wahrnehmungsinhalte des Gegenstandes beziehungsweise die
Erkenntnisbilder einwirken. Anders sieht dies in diesem Zusammenhang
Thomas von Aquin, der die Erkenntnisbilder mit der Verstandestätigkeit in
Verbindung bringt und die intelligiblen Gehalte vom sinnlich Wahrge-
nommenen trennt.
40, 14-17: Das Hingewendetsein (intentio) und Geistsein versteht sich in Bezug
auf die ursprüngliche Farbe. Für die in der Luft erscheinende, nicht-körperhafte
Farbe heisst das, dass sie für den Betrachter nicht das Körperhafte, sondern
dessen Form ist. Diese Form ist nur für den Betrachter und in Bezug auf den
Körper Form. Wenn nun auf der nächsten Stufe noch ein geistigeres
Erkenntnisbild in einer zweiten Spiegelung im Sehsinn selbst wahrgenommen
wird, ist hier eine Verbindung zum Körperlichen des Wahrnehmenden gegeben.
Dieses letzte Bild, als das Durchsichtige des lebendigen Auges bezeichnet,
erscheint nun im Sehsinn.
41, 7-10: Hinsichtlich des Sehens sind das Bezogensein (intentio) der Farbe und
die Hinwendung (attentio) des Sehenden von gleicher Bedeutung. Allein durch
das Zusammenspiel der beiden Komponenten kommt das Sehen zustande. Der
Vorgang des Sehens ist also nicht nur naturhaftes Streben des Gegenstandes in
seinem Bezogensein, sondern er beruht ebenso auf der vom Subjekt
ausgehenden freien Hinwendung zum Gegenstand sowie der vom Sehenden zu
erbringenden Aufmerksamkeit. Er führt damit zu einem Zusammenwirken
zwischen natürlichem und geistigem Streben.
Neben der Sinnenseele wird nun erstmals auch die mit Verstand begabte
Geistseele thematisch. Sie hebt sich von der Sinnenseele gerade durch den in
ihr angesetzten Geist der Unterscheidung ab. Anders als etwa bei Aristoteles
bricht dieser Geist nicht von aussen in die Sinnenseele ein,139 sondern er ist in
ihr selbst enthalten. Wenn der Mensch sich nun durch den der Seele
innewohnenden Geist in seiner Sinneswahrnehmung von den übrigen
Lebewesen unterscheidet, bedeutet das anderseits, dass die menschliche
Sinneswahrnehmung erst durch den geistesmässigen Anteil ihre volle Geltung
erlangt. Bei Thomas von Aquin enthält die Geistseele in ihrer Kraft die sinnliche
und die vegetative Seele.140 Im Compendium ist die Sinnenseele selbständig und
von der Geistseele unterschieden. Gerade durch die dem Menschen
innewohnende Geistseele aber ist der Mensch aufgerufen, seine
Sinneswahrnehmungen mit dem Geist zu einer höheren Erkenntnis zu
verbinden. So hebt er sich auch von den übrigen Sinnenwesen ab.
Das Verb "experiri", im Compendium nur einmal eingesetzt, meint hier die
Fähigkeit des Menschen, die Unterscheidungskraft des Lichtes zu erkennen. In
dieser Form der Erfahrung wird das unmittelbar Gegebene einsichtig in seinem
Sachverhalt.
Insofern der Himmel mit dem Glas verglichen wird, durch welches der
Sonnenstrahl dringt, und er den ganzen Lebenskreis in sich enthält, ist er das
alles Lebendige Umfassende. Die Schöpfungskraft hingegen, dem Lichtstrahl
gleich, ist das ganz Andere. Zwischen dem Geschaffenen und der Schöpfungs-
kraft besteht also kein wesensmässiger Zusammenhang. Jedoch ist das
Geschaffene das, was Sein zu etwas hin ist, wie das Glas, wenn es durch den
Lichtstrahl erleuchtet wird.
43, 7-9: Dem Leser wird ein gewisses Miss an Freiheit im Denken zugesprochen,
da die gemachten Ausführungen als Grundlage zum Weiterdenken und zur
Erweiterung dienen sollen. 'Spekulation' - vom lateinischen speculum - meint
im Mittelalter die indirekte Erkenntnis Gottes aus seinen Werken, in denen sich
seine Allmacht und Güte gleichsam spiegeln.141 Das Spiegelbild ist jetzt auf den
Menschen und seine geistige Fähigkeit bezogen, die ein Weiterdenken
ermöglichen. Der Term "ampliare" lässt hier auch an eine Stelle bei Thomas von
Aquin denken: "So ist klar, dass die Natur des Nichterkennenden im Vergleich
mit der des Erkennenden eingeengt und begrenzt ist. Die Natur des
erkennenden Wesen dagegen hat eine grössere Weite (amplitudo) und
Erstreckung".142
Schluss und Epilog: Gott als Einheit und Ziel aller Erkenntnis
Inhaltsangabe
Als Schluss des Werkes steht der Grundgedanke, dass der erste Ursprung dem
Menschen auf vielfältige Weise erschienen ist (n.44).
Die gesamten Ausführungen sind als Anleitung im Blick auf die Gewinnung der
Einheit des Gegenstandes zu verstehen (n.45).Diese Einheit wird vorgestellt in
der Person des Vaters des Wortes und der Gleichheit. Hinsichtlich der Weisen
des Erfasstwerdens des Gegenstandes besteht ein Unterschied, insofern der
Gegenstand durch das geistige Sehen so gesehen wird, wie er in sich ist, durch
das sinnliche, wie er in den Zeichen ist. Was der Gegenstand an sich ist, wird als
Können selbst gekennzeichnet. Die geistige Schau schliesslich richtet sich allein
auf das im höchsten Masse Mächtige. Die im höchsten Masse wirksame Macht
ist gedeutet als die im höchsten Masse geeinte Kraft(n.46). Die Schau des
Geistes begreift diese Kraft als Einheit selbst. Für das geistige Sehen ergibt sich,
dass allein die Einheit in ihrer Unveränderlichkeit und nicht die Vielheit, die
durch die Zahlen dargestellt ist, zum Gegenstand werden kann. Die Folgerung
ist, dass allein das Können selbst ohne Veränderung seiner selbst alles sein
kann und auch das ist, ohne das nichts sein kann.
Zum Schluss wird nochmals der Gegenstand thematisiert, wie er sich dem
sinnlichen und dem geistigen Sehen stellt. (n.47). Für das Können resultiert,
dass es als letzter Grund allen Seins, selbst gesehen werden will. Das wird auch
als erste Ursache und als Zielursache bestimmt, von allem, was ist. Mit dieser
Letztbegründung und der Ausrichtung der Gründe des Seins und Erkennens auf
Kommentar
n.44: Der erste Ursprung und sein Erscheinen in der Welt
n.44, 4: Wenn ausgesagt wird, dass der erste Ursprung tatsächlich erschienen
ist, so in dieser Welt, im Endlichen und Geschaffenen. Die erschaffene Welt ist
der Ausdruck der Schöpfungskraft des ersten Prinzips. Das Prinzip ist der
Anfang, das Erste, das innerhalb einer zeitlich-sachlichen Ordnung ein von ihm
Begründetes bestimmt. Als primum principium steht es vor allem, was ist,
gedacht und geschaffen werden kann. Es ist deshalb dem Menschen nicht
schon von sich her bekannt, sondern erst in seiner Erscheinung. Was ist, ist als
Offenbarung in unmittelbarem Zusammenhang mit dem begründenden Prinzip
zu sehen. Jede Beschreibung bleibt im Bildhaften - wie diejenige des
Kosmographen, der die sich präsentierende Welt mit seinen Mitteln festhält.
Im Verb "depingere" ist das Abbilden eines Gegenstandes, aber auch das weiter
gefasste 'Schildern' enthalten. Zwischen dem Gegenstand und dem Wort ist
also ein Bereich von Entfaltungsmöglichkeiten gesehen. Anderseits kann das
Wort selbst eine Anregung sein, die Sache selbst zu suchen. Die Frage der
Möglichkeit des Erfassens einer Sache in Worten ist im Compendium auf den
letzten Gegenstand hin gesehen. Dieser bleibt transzendent, aber in dem von
ihm Begründeten kann er abbildhaft beschrieben werden.
45, 16-20: Die Gesamtheit des Seienden, wie sie sich dem geistigen Sehen
darbietet, weist auf ein höchstes wirkendes Prinzip zurück. Das Sehen ist nicht
auf einzelne Seiende oder eine Mehrheit von das Einzelne konstituierenden
Seinsprinzipien angelegt, sondern immer schon auf das Eine und Mächtigste.
Die Bewegung des Sehens, von Natur aus auf ihr Ziel gerichtet, erreicht ihren
Vollzug in der Anschauung des höchsten Prinzips. Die beiden Ausdrücke
"appetit" und "vivit" zeigen einerseits eine lebensnahe Auffassung des Sehens
an, doch ist als Ziel der Bewegung des Sehens das Zur-Ruhe-Kommen in der
Anschauung genannt. So kehrt die Bewegung vom Ausgefalteten zu ihrem
Ursprung zurück.
Wenn als Gegenstand des geistigen Sehens die unteilbare Einheit genannt ist,
als Einfaltung all dessen, was die Zahl ist und ausfaltet, dann zielt dieses Sehen
auf eine Ebene, die über dem rational Fassbaren liegt. Während die Zahlen für
die Vielheit von Seiendem stehen, vereint die Einheit das volle Sein. Das
geistige Sehen betrachtet also durch die Einzelbestimmung der Zahl hindurch
das Ganze des Seins. In der einzelnen Zahl wird die Seinskraft der Einheit
sichtbar, wie sie von Anfang an vollendet, unveränderlich und ganz ist. Im Sinne
der im Compendium vertretenen dynamischen Auffassung steht nicht der
46, 11-17: Das, worauf sich das geistige Sehen richtet, ist allein das Können, das
die volle Seinskraft besitzt. Die Frage, inwiefern das Seiende mit dem Können
als Seinskraft eine Einheit bildet, wird von der Möglichkeit des Seinkönnens her
gestellt, also vom Ursprung her und seiner Seinsmächtigkeit. Aus der
Möglichkeit des Seinkönnens von Endlichem, auch ohne das Können selbst,
würde sich ein Seinkönnen ohne das Können ergeben, - ein Widerspruch in
sich.
47, 5-8: Am Anfang der Schöpfung steht das Wollen des Könnens selbst, das in
freier Setzung seine Möglichkeit des Gesehenwerdens schafft. Da kein anderer
Grund geltend gemacht werden kann, ist es zugleich causa voluntaria. Es
bewegt sich aus sich selbst und in freier Wahl auf sein Ziel hin.146 Zur vollen
Verwirklichung seiner selbst als Ursache ist jedoch das Gesehen-werden-
Können und in der Folge die Schöpfung notwendig. Die Letztbegründung erfolgt
also aus der Möglichkeit des ersten Grundseins für Anderes. Das Andere wird in
der Folge rückwirkend zur Bestimmung des Grundes selbst.
47, 9-12: Dass die Anleitung durch reinere und scharfsichtigere Menschen
erweitert werden kann, ist im Sinne des ganzen Werkes zu verstehen, das der
menschlichen Schöpfertätigkeit einen Spielraum zumisst, immer jedoch mit
Blick auf den allmächtigen Grund.
Literatur:
Anselm von Canterbury, Proslogion, lat.-dtsch. v. P. Salesius Schmitt, Stuttgart-Bad Cannstatt
1962.
Aristoteles, Ueber die Seele, gr.-dtsch., hg von Horst Seidl, Hamburg 1995.
Apel, K.-0., Die Idee der Sprache bei Nicolaus von Kues, in: Archiv für Begriffsgeschichte, Bd.
1 (1955), S. 200-221. -, Das "Verstehen" (eine Problemgeschichte als
Begriffsgeschichte),in: Archiv f. Begriffsgeschichte, Bd. 1 (1955), S. 142 - 200.
Baur, L. Cusanus-Texte, III. Marginalien, 1. Nicolaus Cusanus und Ps. Dionysius im Lichte der
Zitate und Randbemerkungen des Cusanus, Heidelberg 1941.
Blumenberg, H., Die Legitimät der Neuzeit, Frankfurt am Main, 1966.
Bormann, K.: Zur Frage nach der Seinserkenntnis in dem wahrscheinlich letzten
philosophisch-theologischen Werk des Nikolaus von Kues, dem "Compendium", in:
Archiv für Geschichte der Philosophie, Bd. 50, 1968, S. 181-188.
- , Die Koordinierung der Erkenntnisstufen (descensus und ascensus) bei Nikolaus von
Kues, in: MFCG 11, 1975, 8. 62-85.
Brinkmann, H., Mittelalterliche Hermeneutik, Wiss. Buchgesellschaft, Darmstadt, 1980.
Brüntrup, A., KOENNEN UND SEIN, Der Zusammenhang der Spätschriften des Nikolaus von
Kues, München 1973.
Colomer, E., Nikolaus von Kues und Raimund Lull. Aus Handschriften der Kueser Bibliothek.
Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie 2, Berlin 1961.
Dangelmayr, S., Gotteserkenntnis und Gottesbegriff in den philosophischen Schriften des
Nikolaus von Kues, Meisenheim am Glan, 1969.
Flasch, K., Die Metaphysik des Einen bei Nikolaus von Kues. Problemgeschichtliche Stellung
und systematische Bedeutung, Leiden 1973.
-, Nikolaus von Kues, Geschichte einer Entwicklung, Fft.a.M., 1988.
Haubst, R., Nikolaus von Kues auf den Spuren des Thomas von Aquin, in MFCG 5, 1965,
S. 15-62.
Hennigfeld, J., Nikolaus von Kues, in: Geschichte der Sprachphilosophie, Antike und
Mittelalter, Berlin 1993, S. 291-316.
Haubst, R., Nikolaus von Kues auf Spuren des Thomas von Aquin, MFCG 5, 1965: "Ueber die
Selbsterkenntnis des Geistes führt also für Nikolaus der Weg von der Welterfahrung zu Gott."
(S. 62)
102
Die Spiegelgleichnisse in De filiatione Dei und De venatione sapientiae behandelt Stadler, 1.
in: Rekonstruktion einer Philosophie der Ungegenständlichkeit, München 1983. (S. 80 -82).
103
Ziegler, J., Dulcedo Dei, a.a.0.
104
Vgl. Anmerkung 1 der Meiner-Ausgabe
105
n.18,12-14.
106
Vgl. Philosophisches Wörterbuch, ebd.
107
De Vries, J., ebd.: 'perfectio mixta' (mit Unvollkommenheit gemischte Vollkommenheit). (S.
103)
108
MGG, Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1, Kassel und Basel, 1949-1951, Stichwort
'Artes liberales', S. 738 ff.
109
Boethius, ebd.
110
Vgl. Anmerkung 6 der Meiner-Ausgabe.
111
Zu dieser Thematik siehe: Flasch, K., Ars imitatur naturam, in: Parusia, Frankfurt/M. 1965, S.
265-306.
112
Hirschberger, J., Geschichte der Philosophie, Bd. 1., 1960.
113
Augustinus, De trinitate, XV, 10,19.
114
Velthoven, ebd.: "Die Definition gibt an, was wir unter bestimmten Wörtern verstehen,
jedoch nicht, was die Wirklichkeit in sich ist." (Zu Comp. X 28, 1.4). S. 241.
Schneider, G., Gott - das Nichtandere, Münster/W. 1970: "Die Bestimmung in der Definition
ist eine sprachliche Darstellung (oratio) und gleichzeitig die Begründung (ratio) des in ihr
bezeichneten Gegenstandes." (Zu Comp. X, n. 28,7 sq.). (S. 110)
115
Vgl. n. 19,26.
Ders.: Zur Frage nach der Seinserkenntnis in dem wahrscheinlich letzten philosophisch-
theologischen Werk des Nikolaus von Kues, dem "Compendium", in: Archiv für Geschichte
der Philosophie 50, Bd., 19687 Heft 1/2: "...Nikolaus lehrt eine asymptotische Annäherung,
eine Teilhabe in Andersheit an der Wahrheit. Die Möglichkeit einer solchen Annäherung an
die Wahrheit beruht einzig darauf, dass die mens humana Zeichen und erste Erscheinung der
göttlichen Vernunft ist." (S. 188).
Zu 33,11: Der in der Handschrift "Ma" eingesetzte Term 'aequalitatis' ist überzeugender als
das im vorliegenden Text verwendete "coaequalitatis", hat doch das 'co' - als Beifügung - an
dieser Stelle keine spezifische Bedeutung.
126
Zu 'adaequatio': vgl. Van Velthoven, ebd.: Mit der Assimilationstheorie des Cusanus muss die
Weise, wie er die im Mittelalter übliche Definition der Wahrheit als "adaequatio rei et
intellectus" vorbringt, in Zusammenhang gebracht werden." (S. 60).