Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Ingo Goritzki
Wenn Werke vergangener Epochen nur in von diese Einzelheiten dem umfassenden Artikel
Kopistenhand stammenden Abschriften erhalten entnehmen, den Paumgartner im Jahrgang 1950 des
sind, ist es das häufige Schicksal späterer Heraus- Mozart-Jahrbuches veröffentlich hat.
geber, sich mit Unachtsamkeiten und Fehlern Gründlich betriebene Textkritik und die histori-
herumplagen zu müssen, die den Kopisten bei ihrer schen Zusammenhänge ließen also die Oboenver-
zugegebenermaßen beschwerlichen Arbeit unter- sion als die Urfassung erscheinen, worauf sich
laufen sind. Paumgartner zur Erstausgabe entschloß.
So auch beim Flötenkonzert D-dur, KV 314, von Erst einundfünfzig Jahre später wurde das bisher
W. A. Mozart, dessen mühevolle Einrichtung E. nur von Indizien hergeleitete „Erstgeburtsrecht"
Rudorff in seinem Revisionsbericht beklagte. Für des Oboenkonzerts durch das Auftauchen eines
eine bestimmte Stelle im letzten Satz (Takte 160 ff.) Mozart-Autographs bestätigt. Das neuntaktige
ließ sich überhaupt keine befriedigende Lösung Fragment – das einzige, was wir von Mozarts
finden, und selbst Johannes Brahms, der sich mit eigener Hand zum gesamten KV-314-Material
dieser Stelle beschäftigt hat, konnte – wie sich besitzen – beinhaltet ein charakteristisches Motiv
später durch einen Zufall erweisen sollte – ihre unseres Konzerts in der Tonart C-dur. Im Kontext
ursprüngliche Form nicht finden. mit der Salzburger Partitur Paumgartners ist es der
Dieser Zufall ereignete sich im Jahre 1920, als direkte Beweis dafür, daß das Oboenkonzert vor
Bernhard Paumgartner in Salzburg einen Satz alter dem Flötenkonzert entstanden ist. Nachstehend
Stimmen fand, die mit dem oben genannten die Übertragung des Fragments durch Dr. Wolf-
Flötenkonzert identisch waren – bis auf die Tonart gang Plath:
und das Soloinstrument: Die neue Fassung stand in
C-dur und benannte als Soloinstrument die Oboe.
Hier nun war die bewußte Stelle in sich schlüssig
dargestellt, was diesem Fund sofort eine beson-
dere Bedeutung zukommen ließ. Denn natürlich ^'
_ZM^: ^^^::^^..^^
..^^.^Y^:'-^....
__ p^^^^^
.:
-
erhob sich sofort die Frage, welche der beiden
Versionen die ursprüngliche sei, und da war die
einwandfreie Darstellung dieser Stelle ein erstes Das Fragment beginnt in Übereinstimmung mit
wichtiges Indiz, welches für die neue C-dur- der Salzburger Oboenstimme, weicht dann aber
Fassung sprach. Weitere kamen hinzu, wobei es stark von ihr ab. Da es außérdem aus einem
sich zumeist um unlogische Stimmenkreuzungen größeren Zusammenhang herausgeschnitten wur-
in der D-dur-Partitur handelte, die in den C- de, was an den Schriftresten am oberen und unteren
dur-Stimmen aufgrund der Tonart nicht notwen- Rand zu erkennen ist, muß man vermuten, daß
dig waren. Der am Detail interessierte Leser möge auch das Oboenkonzert schon einen Vorläufer
302
gehabt hat – wahrscheinlich ein Violinkonzert. Die len, daß nur die Flötenstimme ,mit ihr im Einklang
Ausführung dieses Gedankens würde hier zu weit streht–.Die Oboenstimme dagegen „paßt" nicht zu
führen. Deshalb sei mir erlaubt, in diesem Zusam- ihren Begleitstimmen.
menhang auf den Artikel hinzuweisen, den ich Die folgenden Textvergleiche ergeben meiner
1975 im Claves-Verlag, Thun/Schweiz, als Beilage Ansicht nach darüber hinaus, daß die abweichen-
zu meiner Schallplattenaufnahme dieses Werkes den Passagen in den Oboenstimmen keinesfalls
veröffentlicht habe. Dort ist diese These ausführ- einfacher, sondern im Gegenteil „vereinfacht"
lich behandelt. sind. Da diese Vereinfachungen das Gesamtbild des
Damit zurück zum Oboenkonzert. In seinem Werkes erheblich beeinträchtigen, bin ich zu der
verständlichen Bemühen, die Priorität seiner Überzeugung gekommen, daß sie nicht von
neugefundenen Partitur zu beweisen, tat Paum- Mozart, sondern nachträglich -von rëmd`ér -länd
gartner in einem Punkt allerdings des Guten zu angebracht worden sind.
viel, und zwar bei der Wertung der Solostimmen Die in der Flötenfassung (Bsp. 2) aufgezeigte
beider Fassungen. Dies ist denn auch das eigentli- Stimmenführung – Gegenbewegung der beiden
che Thema dieser Arbeit. Außenstimmen – ist nicht nur die weitaus schöne-
Die Flöten- und die Oboenstimme weichen re, sondern die vom satztechnischen Standpunkt
nämlich an mehreren Stellen erheblich voneinander
ab, und zwar so, daß die Oboenstimme die
vergleichsweise einfacheren Wendungen aufweist.
Paumgartner schloß daraus, daß diese die
ursprüngliche, weil oboengemäße Stimme sei, die
Mozart dann bei der späteren Transkription zum
Ob. solo
Flötenkonzert mit „flötengemäßeren" Figuratio- :.=..wiY
..NINI:::..T.— -- 1^w^^f
— —^^--
^`^ ■wMIIMY.4
^^C fll-- ^^^ Ga^l^^
nen versehen habe. Dieser Folgerung liegt, wie .■■■,..E
Paumgartners Bericht zeigt, der Vergleich nur der
beiden Solostimmen zugrunde. Zieht man diesen
Vergleich jedoch im Kontext mit der dazu gehö-
renden Orchesterpartitur, so ergibt sich ein ganz Bsp. 2: Vergleich 1. Satz, Takt 44-45
anderes Bild.
Zunächst stellt sich heraus, daß die Orchester- her einzig mögliche (Oktavparallelen in der
partituren beider Fassungen strukturell identisch Oboenfassung!). Der Verzicht auf die Überblas-
sind. Das führt weiter zu der Frage, ob Mozart technik in der Oboenfassung zielt auf spieltechni-
wirklich zu ein und derselben Partitur zwei sche Erleichterung. Dafür geht das plastische
unterschiedliche Solostimmen geschrieben hat. Hervortreten der aus Spitzentönen der Sechzehn-
(Setzt man nun – wie etwa bei einem Puzzlespiel – telfiguren sich ergebenden melodischen Linie
Flöten- und Oboenstimme nacheinander in die durch deren Verlagerung in die untere Oktave
gemeinsame Partitur ein, kann man leicht feststel- weitgehend verloren.
. . ^^._^
• _.. .., ^.. . Z.
^^ _ ..:_ ^^^,.^.,^1.. ^_^-
_^._.
^^^-- —^ ^._ =^^-- — ^_ —■ — =.
:—_,
-: .—
e- -
violini
= 303
Fl. solo • • •
^ ^•—
—
•. ^• If. • ♦ ^ ^ ^ • — L = ^ S +L ti
4.1.1111.11100. ■Nli".F-711
Im weiteren Vergleich (Bsp. 3 a) bringt die parallel verlaufenden Violinstimme. Auch die
Flötenfassung das Terzenmotiv in natürlichem harmonische Struktur wird nur durch das Zusam-
Wechselspiel zwischen Solostimme und Violinen. ' menfügen dieser beiden Stimmen verständlich
In der Oboenfassung dagegen erscheinen die (Bsp. 4 b).
beiden ersten Sechzehntelgruppen der Solostimme
als musikalisch unlogische Begradigungen des
ursprünglichen Terzenmotivs, wodurch das ein-
heitliche Gesamtbild der Episode beeinträchtigt
wird.
Als doppelt inkonsequent erweist sich die Bsp. 4 (c): Violinkonzert D-dur, KV 218,
Oboenfassung bei der Parallelstelle in der Reprise 3. Satz, Takt 114
(Bsp. 3 b), indem jetzt sämtliche Terzenfiguren der
Oboenstimme in Skalenmotive umgewandelt sind, Der ins Auge fallenden Ähnlichkeit wegen sei in
während die Flötenfassung wieder das gleiche diesem Zusammenhang eine Passage aus dem 1775,
ausgewogene Bild bietet. also zwei Jahre früher, entstandenen Violinkonzert
D-dur, KV 218, zitiert (Bsp. 4 c). Hier finden wir
bestätigt, daß Mozart Figuren dieser Art stets mit
einer höchst individuellen Begleitung versehen hat.
Die beiden Stimmen bedingen einander, so daß ein
bloßes Auswechseln der Solostimme unter Bei-
behaltung der Orchesterbegleitung – oder um-
Fl. solo , t, / ' `
304
gekehrt – auch in diesem Falle undenkbar wäre. 258 (Bsp. b). Diesmal beenden die Violinen den
6
Die liebliche Triolenfigur im 2. Satz, Takt 81 der Vordersatz mit einem gebundenen Terzenmotiv,
Flötenstimme (Bsp. 5), der sich nach geltender das ein elegantes Verklingen der ersten Themen-
Tradition das punktierte Sechzehntel der Violinen hälfte und dadurch einen wirkungsvolleren Einsatz
anzugleichen hatte, erscheint in der Oboenfassung des Orchestertutti ermöglicht. Während die Solo-
verzerrt, indem sie selbst auf wenig anspruchsvolle oboe diese wichtige Terzenfigur ignoriert und
Weise dem Violinrhythmus angepaßt wurde. dadurch einmal mehr in Widerspruch zur Partitur
f Ob. solo r.
V I l V TJ
Li
Bsp. 6 (a): Vergleich 3. Satz, Takt 4 f. Bsp. 6 (b): Vergleich 3. Satz, Takt 258 f.
Im 3. Satz wird das Rondothema zu Beginn und gerät, bringt die Soloflöte an dieser Stelle die
bei jeder Wiederkehr vom Soloinstrument vorge- Terzwendung in Übereinstimmung mit den Violi-
tragen (Bsp. 6 a). Zu der kleinen Sechzehntelfigur, nen und wahrt so ein einheitliches Bild und den
die den Vordersatz der zwölftaktigen Periode Anspruch auf den Mozartschen Ur-Einfall.
beschließt, erklingt in den Streichern jeweils ein In den nächsten Beispielen kommt der Terzenfi-
Akkord im Wert einer Viertelnote. Darin stimmen guration wieder vorrangige Bedeutung zu. In der
beide Fassungen überein. Flötenstimme bilden die Anfangstöne der Terzen-
Ein einziges Mal erscheint das Thema aufgeteilt paare eine in Beispiel 7 a aufsteigende, in Beispiel 8 a
in Solo und Tutti, nämlich in der Kadenz in Takt abwärts strebende melodische Linie, die in der
IIMMI'Çr..`
^^ ^
^
Ob. solo
^ - ^^ .... ^......^^^.,.^^.^.. -. .- ..-^--....^-- ^
^r
^
-
^
-^^ C:^ ^O:
^^ ^^ ■
^^^ ^^^^ ^
^_=
=
-== '__=—
T
-.,•100■-11•11111 ^..
^^.^^^-^^^.^ --
Bsp. 7 (b)
305
+ __
Ç L
Yafioi n Vidi„i
V
^— ^so—
• lIM
L
^^ ww^ ^^sow•.w.^
G ^^^^^ ^
1
^i^: ^
M^^^ ^^..^M
a a^!
C Cf'^^^^C ^! ^ ^^'
^^^
Viol,
^wmiMin
^^ ^^^^^^°^^m
.. ■MIIMmIM..MIM Mmi ^
V'cdb
Ob. so lo t a t r+^t
_ ^`a,SaS
•• •
_^ • ^íTiMwaM Aw^^ii^^i=_a^ ^M ^.auw ^^^
_ __
sy Violin;
t^_ _ _ ^^
__
. ^^^^i^so^a.^^^^w^^
NM _
^ ■ w.w
Viola t.
1•11111111111111M
allMr.
i^l^^ 111M ^im
.MmwMIMs
■ so
a^ w
V'cello a —
306
I FL solo
• _
° r r
•^s^
..
l
^^am^^.s^^ ss^ss^^ ^
s.^s.Zi^ =^^^s w^w^
Fl. sob ^¡
307
'^=^^^:^.:^^ ;_:.=.^^^^
:^^ ^^..._,^..^A
.
einziges Mal vorkommt, nämlich in den Violinen wie wir sie von der Salzburger Handschrift her
zu Beginn der Reprise. An dieser Stelle und in kennen, und warum? Da der überwiegende Teil der
dieser Funktion kann es als Ausschmückung des veränderten Passagen sich nachweislich nicht in die
Hauptthemas gelten (Bsp. 12 a). Partitur einfügt, sollte man diese jedenfalls nicht
In der Flötenfassung dagegen erlangt dieses mehr Mozart anlasten. Betrachtet man sie unter
Ornament eine geradezu charakterbildende Bedeu- oboentechnischen Aspekten, so ist leicht zu sehen,
tung, da hier fast alle gesanglichen Motive und daß sie allesamt auf spieltechnische Erleichterun-
ausgehaltenen Töne der Soloflöte mit ihm beginnen gen im finger- und atemtechnischen Bereich
(Bsp. 12 b). abzielen. Man könnte deshalb vermuten, daß sie
Hochinteressant ist allerdings, daß nun auch die von einem Instrumentalisten angebracht wurden,
Orchesterstimmen entsprechend divergieren, daß nachdem Mozart die Partitur endgültig aus der
also Solostimme und Tuttiviolinen von Beginn an Hand gegeben hatte, also nach 1783. Die letzte
mit diesem Ornament versehen sind (Bsp. 12c). Spur verliert sich bei dem Esterházyschen Oboi-
Aus diesem Grunde ist anzunehmen, daß dies die sten Anton Mayr. Ihm hat Mozart, der in Wien ja
einzige Veränderung von struktureller Bedeutung die meiste Zeit unter bedrückenden wirtschaft-
ist, die Mozart selbst während der eiligen Tran- li chen Verhältnissen lebte, die Partitur im Jahre
skription vorgenommen hat. 1783 für 3 Dukaten verkauft.
Als Gesamtergebnis dieser Textvergleiche Eine Neuausgabe des Werkes erscheint also als
scheint mir festzustehen, daß die beiden Solostim- dringend notwendig, zumal der Erstdruck außer-
men keine Alternative darstellen, sondern daß die dem mit allerlei Unstimmigkeiten in Text und
Flötenstimme die originale Solostimme des Werkes Phrasierung behaftet ist. Auf den gröbsten Fehler
ist á agier dté O oenfassung nachweislich früher sei hier noch hingewiesen. Takt 72 des 1. Satzes
entstanden ist, muß sie eben diese „Flötenstimme" muß folgendermaßen lauten:
bereits besessen haben. Ich für meinen Teil spiele
deshalb die nach C-dur transponierte Solostimme
der Flötenfassung – mit Ausnahme des bewußten
Ornaments im langsamen Satz. v i,ti
Der Einwand, dies sei wegen mancherlei techni-
scher Schwierigkeiten auf der damaligen Oboe
nicht möglich gewesen, ist angesichts der virtuosen Hierin stimmen beide alten Abschriften überein.
Sektiiiáärliteratur dieser Zeit kaum stichhaltig. Die Die gedruckte Version geht wahrscheinlich auf
Virtuosität Ferlendis' mag ein übriges zu der einen Schreibfehler des Kopisten Hudez zurück.
anspruchsvollen Konzeption des ihm zugedachten Dieser hat im Jahre 1920 eine Abschrift der
Stückes beigetragen haben. Und daß Mozart den Salzburger Stimmen angefertigt, die sich heute im
reizvollen Effekt der noch jungen Uberblastechnik Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
sehr wohl kannte – seit ca. 1750 begann die befindet. Hier lesen wir ebenfalls:
Oktavklappenmechanik sich durchzusetzen – und
bewußt ausnutzte, beweist übrigens die berühmte
Stelle aus seinem Oboenquartett F-dur, KV 370
(Bsp. 13).
Wer aber hat die Solostimme dann so verändert,
308