Sie sind auf Seite 1von 14

1

MANUSKRIPT
SENDUNG: 27.11.2019
9.30 UHR

TITEL: Starke Bindung


Der Anfang von Beziehung

AUTOR: Prisca Straub


REDAKTION: Nicole Ruchlak
PRODUKTION:

TECHNIKER: Andrea Eberhardt

SPRECHER: Sabine Kastius


Florian Schwarz
Jeanne Turczynsky

Im O-Ton
 Prof. Dr. Anna Katharina Braun, Institut für Zoologie und Entwicklungsbiologie,
Universität Magdeburg
 Prof. Dr. Bernhard Strauss, Institut für Psychosoziale Medizin und
Psychotherapie, Universität Jena
 Dr. Fabienne Becker-Stoll, Psychologin, Bindungsforscherin, Leiterin des
Staatsinstituts für Frühpädagogik, München
 Dr. Karin und Prof. Klaus Grossmann, Bindungsforsche
2


3

MUSIK (Intro)

SPRECHER
Manchen Menschen fällt das Leben leicht.

SPRECHERIN
Sie leben in stabilen Partnerschaften und haben einen verlässlichen Freundeskreis. Sie
kommen selbst nach schweren Schicksalsschlägen wieder auf die Beine und vertrauen
darauf, dass das Leben es grundsätzlich gut mit ihnen meint.

SPRECHER
Anderen Menschen hingegen geht das Leben schwerer von der Hand.

SPRECHERIN
Sie suchen immer wieder nach einem passenden Partner, haben Sehnsucht nach
Nähe, gleichzeitig aber auch große Angst davor. Sie fühlen sich schnell
zurückgewiesen und haben manchmal das diffuse Gefühl, dem Leben nicht gewachsen
zu sein.

SPRECHER
Worüber die einen offenbar verfügen und die anderen nicht, ist psychische Sicherheit.
Und wie wir sie erlangen, das haben sogenannte Bindungsforscher in den letzten
Jahrzehnten systematisch untersucht.

AKZENT

SPRECHER
Starke Bindung
4

SPRECHERIN
Der Anfang der Beziehung

AUTORIN
Seit den 1960er Jahren erforschen Wissenschaftler die emotionalen Beziehungen
zwischen Kindern und ihren engsten Bezugspersonen. Auf der Grundlage von
Langzeitbeobachtungen weiß man heute: Es gibt einen Zusammenhang zwischen
elterlicher Zuwendung auf der einen Seite und späterer Zufriedenheit und Lebensglück
auf der anderen.

1 ZUSPIELUNG Braun11
Das ist mittlerweile eine ganz etablierte wissenschaftliche Meinung, weil sich doch
immer wieder zeigt, dass so eine Art emotionaler Grammatik, die man durch die erste
Bindung erlernt - dass man zum ersten Mal Liebe empfängt und auch Liebe gibt - dass
da so eine Art Grammatik im Gehirn fixiert wird. Und diese Grammatik wird dann ein
Leben lang dazu benutzt, um Bindung aufzubauen zu anderen Menschen.

AUTORIN
Professor Anna Katharina Braun ist Verhaltensbiologin an der Universität Magdeburg.
Gemeinsam mit Kollegen anderer Disziplinen - Hirnforschern, Psychologen,
Sozialpädagogen - beschäftigt auch sie sich mit der Frage: Was sind das für
Ressourcen, mit denen manche Menschen scheinbar schadlos selbst durch schlimme
Krisen manövrieren. Was zeichnet die Lebenstüchtigen aus - die "Stehaufmännchen"
sozusagen, die immer Licht am Ende des Tunnels sehen. Das Forscherpaar Karin und
Klaus Grossmann hat in mehr als vier Jahrzehnten Pionierarbeit über hundert
Lebensläufe dokumentiert. Ihre beeindruckenden Langzeitbeobachtungen zählen
hierzulande zu den wichtigsten Studien auf dem Gebiet der Bindungsforschung.

2 ZUSPIELUNG 1 O-TON Grossmann 4 48s.


ER: Wir haben im ersten Jahr in den Familien zehn Stunden pro Familie die Kinder mit
drei, sechs, neun Monaten beobachtet. Kontrollierte Beobachtungen mit einem Jahr, 18
Monaten, zwei Jahren. Meine Frau hat jeweils acht Stunden jedes Kind beobachtet und
dann immer wieder. Mit drei, sechs Jahren, bis daraus 22 Jahre junge Erwachsene
5

geworden waren. SIE: Und das Wichtigste für uns war, dass man die Kinder zu Hause
beobachtet. Ihre normale Lebensumwelt mit Mutter, Vater, Geschwistern - das Kind in
seiner Familie.

AUTORIN
Das Verhalten der Kinder wurde entweder gefilmt oder durch geschulte Beobachter
protokolliert. Die Schlussfolgerungen von Karin und Klaus Grossmann lassen sich so
zusammenfassen: Kindliche Entwicklung wird stark davon beeinflusst, ob auf die
Bedürfnisse und Emotionen des Säuglings angemessen reagiert wird. Sprich: Wie
sensibel und kooperativ sich die engsten Bezugspersonen verhalten. Karin Grossmann:

3 ZUSPIELUNG 4 2 O-TON Karin Grossmann 5


Das Bild vom Kleinstkind, vom Baby aus der Bindungstheorie, ist dasjenige, dass es
weiß, was es braucht, und dass es das auch mitteilen kann. Es kann die Ärmchen
ausstrecken, wenn es auf den Arm will, es kann weinen, wenn ihm etwas fehlt. Es kann
die Mutter für sich gewinnen, indem es einerseits lieb aussieht, aber auch zufrieden ist,
wenn sie es richtig macht.

AUTORIN
Es „richtig machen“. Existiert also ein Patentrezept, wie aus einem Kleinkind ein
glücklicher Erwachsener wird? Natürlich nicht. „Richtig“ im Sinne des Forscherpaars
Grossmann ist aber ein Verhalten, das die Äußerungen des Kindes ernst nimmt. Und
dafür ist es notwendig, seine Signale angemessen zu deuten. Das ist für alle Eltern eine
kontinuierliche Herausforderung - und auch ein wechselseitiger Lernprozess. Er verläuft
optimal, wenn es den Bezugspersonen gelingt, sich sozusagen in die spezielle Sprache
ihres Kindes einzufühlen. Klaus Grossmann:

4 ZUSPIELUNG 5 2 O-TON Klaus Grossmann 6


Das Konzept, das dahinter steckt, nennt man elterliche Feinfühligkeit. Das heißt, Eltern
lernen ihr jeweils individuelles und besonderes Kind zu interpretieren und darauf
angemessen und prompt zu reagieren. Und daraus ergibt sich die besondere Art des
Miteinanders, die für jedes Kind etwas anders aussieht, weil eben auch Kinder sehr
unterschiedlich sind.
6

AUTORIN
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Weichen für spätere Zufriedenheit und
Lebensglück werden sehr früh gestellt: schon in den ersten drei Jahren eines Kindes.
Was in dieser ersten Lebensspanne schief läuft, hat Auswirkungen auf das gesamte
spätere Leben.

AKZENT

SPRECHER
Gute Startbedingungen

SPRECHERIN
Das Gehirn als offene Baustelle

5 ZUSPIELUNG 1 Becker-Stoll 5
Das, was uns Menschen prägt, sind die Bindungserfahrungen zunächst einmal in den
ersten Lebenswochen, -monaten und -jahren. Die sind aber nicht starr, sondern flexibel.
Das Neugeborene vom Menschen ist ausgestattet mit einer enormen Offenheit in der
Anlage, die es ihm ermöglicht, sich an fast jede Umwelt anzupassen.

AUTORIN
Sagt Dr. Fabienne Becker-Stoll, Psychologin, Bindungsforscherin und Leiterin des
Staatsinstituts für Frühpädagogik in München. Ganz offensichtlich sorgt ein genetisches
Programm dafür, dass Neugeborene enge zwischenmenschliche Beziehungen suchen -
und zwar innerhalb eines sehr frühen Zeitfensters.

6 ZUSPIELUNG 3 Becker-Stoll7
Das Kind entwickelt die Bindung, das ist das Entscheidende. Und das Kind bindet sich
an die Personen, die sich am meisten um dieses Kind kümmert. Das ist jemand, der
erfahrener und stärker ist und das Überleben des Neugeborenen sichern kann. Das
sind die beiden einzigen Kriterien. Ob die Person mit dem Kind verwandt ist oder nicht.
Ob sie weiblich oder männlich ist, das spielt keine Rolle. Auch nicht, ob sie sehr viel
älter oder nur etwas älter ist. Ein älteres Geschwister könnte auch Bindungsperson
werden.
7

AUTORIN
Gelingt eine dauerhafte, verlässliche, sprich „sichere Bindung“, dann hinterlassen diese
positiven Erfahrungen ihre Spuren im frühkindlichen Gehirn. Spuren, die man sehen
und messen kann. Fabienne Becker-Stoll:

7 ZUSPIELUNG 7 Becker Stoll 15


Und das ist, wo die Erkenntnisse der Neurobiologie und der Gehirnphysiologie der
Bindungsforschung einen großen Dienst erwiesen haben. Nämlich zu zeigen, dass die
Erfahrung von Feinfühligkeit in den ersten Lebenswochen -monaten und -jahren, dass
die dieses noch sehr offene Gehirn des Kindes tatsächlich formen und zwar in den
bleibenden Strukturen.

AUTORIN
Gedächtnisleistung, Aufmerksamkeits- und Bewusstseinssteuerung, Sinnes- und
Bewegungsentwicklung. Anhand von bildgebenden Verfahren konnte gezeigt werden,
dass ganz unterschiedliche Areale im Gehirn angesprochen werden, wenn Kinder im
Sinne der Bindungstheorie optimal umsorgt werden. Die regelmäßige Stimulation der
Nervenzellen führt zu stabilen Vernetzungen und damit zu einer „Reifung des Gehirns“.
Viele der neuronalen Schaltkreise sind bei der Geburt zwar funktionsfähig, müssen aber
je nach Bedarf noch optimiert werden. Erstaunlich sind hier Ergebnisse aus
tierexperimentellen Studien: Professor Anna Katharina Braun vom Institut für Zoologie
und Entwicklungsbiologie der Universität Magdeburg hat gezeigt, was im Gehirn von
kleinen Strauchratten passiert, wenn sie von ihren Eltern getrennt werden.

8 ZUSPIELUNG Braun1
Wir haben sozusagen die Bindung - die Interaktion zwischen Eltern und Kindern -
zweitweise unterbrochen. Täglich eine Stunde von der Familie getrennt, was für solche
kleinen Tiere natürlich Stress bedeutet. Und das über einen gewissen Zeitraum. Drei
Wochen, was für so ein Nagetier ein halbes bis ein Jahr auf den Menschen bezogen
wäre. Und wir haben uns dann die Gehirne dieser Tiere angeschaut, wenn sie in der
Pubertät waren. Und später das verglichen mit den Tieren, die immer in der Familie
verblieben sind. Und haben dann dort die Synapsen, also die Kontaktstellen zwischen
den Nervenzellen, ausgezählt und dabei festgestellt, dass in dem Experiment die Tiere,
8

die getrennt wurden, mehr von bestimmten erregenden Synapsen in bestimmten


Hirnzentren, insbesondere im präfrontalen Cortex zeigen.

AUTORIN
Also eine dauerhaft veränderte „Verdrahtung“ in einer Gehirnregion, in der emotionales
Verhalten gesteuert wird. Die Nager hatten zu viele Synapsen. Und das ist kein
Gewinn. Im Gegenteil:
9 ZUSPIELUNG Braun2
In der Tat, das würde man rein intuitiv denken, je mehr da ist, umso besser funktioniert
es im Gehirn. Das scheint aber nicht so zu sein. (…) Es scheint ein natürlicher Ausjäte-
Prozess von Synapsen zu sein im Laufe der Entwicklung, die auch beim Menschen
stattfindet. So dass man vermutet, dass überzählige Synapsen, damit das Gehirn ja
nichts “verpasst“, in Anführungszeichen, dass dann die redundanten Synapsen, also
diejenigen, die wenig benutzt werden, wieder abgebaut werden, um damit sozusagen
das "Rauschen im Gebälk" zu minimieren.

AUTORIN
Der Abbau von Synapsen ist also kein passives Absterben, sondern ein aktiver
Prozess. Der nur dann stattfindet, wenn es auch entsprechend vielfältige Umweltreize
gibt. Anna Katharina Braun:

10 ZUSPIELUNG Braun2
Und der Vorteil dieses Selektionsprozesses ist, dass dadurch unsere Gehirne ganz
optimal an unsere Umgebung anpasst sind. Und das ist ja auch ein Überlebensvorteil.
Nicht nur für die Ratte, sondern auch für uns Menschen, die wir ja in allen möglichen
Lebensräumen überlebensfähig sind.

AUTORIN
Dass das Gehirn in seiner frühen Entwicklungsphase so enorm formbar ist, ist also ein
entscheidender Vorteil. Gleichzeitig ist diese Plastizität aber auch ein Risiko: Die große
Anpassungsfähigkeit macht das Gehirn nämlich auch sehr anfällig - für negative und
auch für fehlende Umwelteinflüsse. Natürlich sind Tierexperimente nur eine Sache. Die
Übertragbarkeit der Ergebnisse auf den Menschen eine ganz andere. Allein schon
9

deshalb, weil das Tiergehirn sehr viel einfacher gebaut ist. Professor Anna Katharina
Braun:

11 ZUSPIELUNG Braun6
Dennoch hat es schon die Hauptbestandteile, die uns interessieren - also den
präfrontalen Cortex und die limbischen Zentren. Das heißt, man kann das so sehen,
dass das Rattengehirn der Volkswagen Käfer ist oder der Trabbi, und das menschliche
Gehirn ist dann der Formel 1 Rennwagen. Das heißt, es ist nichts Neues erfunden im
menschlichen Gehirn. Das ist alles eine Weiterentwicklung und Optimierung, und
insofern kann man auf der zellulären Ebene sicherlich einige Dinge übertragen.
AKZENT

SPRECHER
Emotionale Sprachlosigkeit

SPECHERIN
Wenn das richtige Rüstzeug fehlt

AUTORIN
Was ein Mangel oder das völlige Fehlen von emotionaler Zuwendung beim Menschen
bewirken können, das weiß man vor allem durch Beobachtungen an Heimkindern.
Besonders aufsehenerregend waren die erschreckenden Befunde in rumänischen
Waisenhäusern nach dem Ende der Ceauşescu -Diktatur: Vernachlässigung,
Misshandlung und Verwahrlosung hatten die Heimkinder zu Schatten ihrer selbst
gemacht. Bilder von sich apathisch hin und her wiegenden, hohläugigen Kindern, die
teilnahmslos die weiße Wand anstarrten, gingen um die Welt. Fabienne Becker-Stoll
vom Münchner Staatsinstitut für Frühpädagogik:

12 ZUSPIELUNG 8 Becker Stoll 14


Wir sehen das bei Kindern, die tatsächlich keine Bindung aufbauen können, unter
extremen Bedingungen. Kinder, die in den 1990er Jahren in den rumänischen
Waisenhäusern aufgefunden wurden, die keine Möglichkeit hatten, sich zu binden.
Oder auch Kinder, die eine Karriere haben in Pflegefamilien und Heimen und schon in
den ersten Monaten und Wochen einen so häufigen Wechsel von Bezugspersonen
10

erleben, dass sie nicht die Möglichkeit haben, zu einer beständigen Person eine
Bindung aufzubauen. Und das sind „Hardware“-Probleme, strukturelle Probleme, die zu
einer Einschränkung der Leistungsfähigkeit des Gehirns insgesamt führen.

AUTORIN
Durchaus vergleichbar mit einem untrainierten Muskel, bleibt das Gehirn hinter seinen
eigentlichen Möglichkeiten zurück. Eine britische Adoptionsstudie, die den weiteren
Lebensweg von mehr als 100 rumänischen Waisenhauskindern dokumentiert, konnte
dann auch nachweisen: Während die traumatisierten Kinder im kognitiv-intellektuellen
Bereich schnell aufholten, gelang es ihnen nur selten, eine emotionale Nähe zu ihren
neuen Eltern zu entwickeln. Die Defizite im emotionalen Bereich blieben nahezu
unverändert. Mit bildgebenden Verfahren konnte eine chronische Unteraktivität in den
entsprechenden Hirnregionen gemessen werden. Anna Katharina Braun:

13 ZUSPIELUNG Braun6
Die Zellen sind alle da, aber es sieht so aus, als ob das auf "stand-by" geschaltet ist
und bei emotionalen Situationen nicht hochgefahren werden kann. Die Vermutung ist,
wenn diese Grammatik nicht in der frühen Kindheit angelegt wird, dass sozusagen dann
eine Art emotionaler Sprachlosigkeit bei diesen Menschen herrscht. Die wissen nicht,
was eine emotionale Bindung eigentlich bedeutet. Und zwar sowohl auf der
Wahrnehmungsseite her - das Empathie-Vermögen ist wahrscheinlich vermindert - als
auch bei der gebenden Seite, weil die das nie gelernt haben. Und das scheint nur sehr
schwer korrigierbar zu sein.

AUTORIN
Und zwar je schwerer, desto früher Vernachlässigung und Traumatisierung
stattgefunden und desto länger sie angedauert haben. Trotzdem warnen die Experten
vor Pauschalurteilen. Fabienne Becker-Stoll:

14 ZUSPIELUNG Becker Stoll 15 (2)


Da muss man vorsichtig sein. Zu sagen, das Kind, das eine unsichere Bindung hat zu
einer seiner Bezugspersonen, das hat ein weniger leistungsstarkes Gehirn, das wäre
fatal. Wir wissen sehr wenig darüber, wie unterschiedliche Bindungsqualitäten zu
unterschiedlichen Personen sich gegenseitig beeinflussen. Und dann müssen wir
berücksichtigen, dass Bindungsbeziehungen sehr dynamisch sind.
11

AKZENT

SPRECHER
Verstrickte Beziehungen

SPRECHERIN
Der lange Schatten der Kindheit

15 ZUSPIELUNG Strauss1
Es gibt eine ganze Fülle von Studien inzwischen, die untersuchen, dass
Bindungserfahrungen in der Kindheit und dann auch später die Wahl und den Umgang
mit Partnern in der Beziehung sehr stark prägen. Und man kann global sagen, dass
jemand, der eine sichere Bindung erworben hat, der hat ein ganz gutes Rüstzeug für
die positive Gestaltung einer Partnerbeziehung. Das heißt, Vertrauen in den Partner
besser entwickeln kann als jemand, der unsicher ist.

AUTORIN
Professor Bernhard Strauss vom Institut für psychosoziale Medizin und Psychotherapie
der Universität Jena untersucht die Zusammenhänge zwischen frühkindlichen
Bindungserfahrungen und späteren Partnerbeziehungen. Menschen, die sich als Kinder
auf wenigstens eine Person uneingeschränkt verlassen konnten, haben als
Erwachsene mit hoher Wahrscheinlichkeit die stabileren, glücklicheren und intensiveren
Beziehungen.

16 ZUSPIELUNG Strauss3
Die sicher Gebundenen haben die günstigeren Voraussetzungen mit Nähe und Distanz
besser umgehen zu können. Unsicher Vermeidende, wie der Name schon sagt, sind
eben auch emotional meistens eher distanzierter von ihren Partnern. Sie lassen sich
nicht so intensiv ein, weil sie eben die Erfahrung gemacht haben, dass andere
möglicherweise nicht so zuverlässig sind. Und die amibivalent verstrickt gebundenen
Erwachsenen, die sind sehr anklammernd, das heißt, bei denen ist das Bedürfnis nach
Nähe übermäßig ausgeprägt. Und dadurch ist in der Beziehung eine distanzierte
Auseinandersetzung schwer möglich.
12

AUTORIN
Starke Menschen hingegen sind emotional ausgeglichener. Sie sind konfliktfähiger, weil
sie ein besseres Selbstbewusstsein haben und sich vom Partner nicht so schnell
infrage gestellt fühlen. In einer Partnerschaft verzetteln sie sich seltener in
zermürbenden Auseinandersetzungen. Für Menschen mit unsicheren
Bindungserfahrungen hingegen gilt: Ausgerechnet in einer engen Partnerschaft
kommen plötzlich die alten, unguten Gefühle wieder hoch: Dann ist beispielsweise die
Einsamkeit des Säuglings wieder da - in Form von Trennungsangst vom Partner. Und
das, obwohl inzwischen Jahrzehnte vergangen sind. Bernhard Strauss:

17 ZUSPIELUNG Strauss7
Man kann auf der Ebene der Partnerbeziehung sagen, dass ängstlich gebundene
Menschen oder solche, die unstete Beziehungen haben, grundsätzlich dieses Thema
"Nähe herzustellen und aufrechtzuerhalten" sehr viel höher bewerten und in ihren
Beziehungen einfach anklammernder sind. Das heißt, es schwerer aushalten können,
wenn der andere mal weg ist. Schwerer aushalten können, wenn der andere sich mit
anderen Dingen beschäftigt. Und entsprechende Konflikte entstehen können, wenn
beispielsweise ein Partner eher mal seine Eigenständigkeit beweisen will.

AUTORIN
Das ist die eine Variante.

18 ZUSPIELUNG Strauss7
Die andere Variante von Unsicherheit sind ja Menschen, die die Erfahrung gemacht
haben, dass andere eben nicht zuverlässig sind und die dann als Strategie wählen,
dass sie eher selbstgenügsam sind, sicher eher um sich selbst kümmern. Und das
werden natürlich auch in Partnerschaften eher Menschen sein, die alles mit sich selbst
abmachen, die eher eigenbrötlerisch sind, die auch weniger Gemeinsamkeitsgefühl
innerhalb der Beziehung aufkommen lassen. Und das sind Grundmuster die sich über
die Zeit hinweg aufrechterhalten. Immer unter der Voraussetzung, dass Menschen nicht
grundlegend andere Erfahrungen machen. Dann sind diese Muster natürlich auch
veränderbar.

AKZENT
13

SPRECHER
Der sichere Hafen

SPRECHERIN
Ein Schutzfaktor fürs ganze Leben

AUTORIN
Die Bindungstheorie kommt zu einem vorsichtigen, aber durchaus dramatischen
Schluss: Schätzungen des Münchner Staatsinstituts für Frühpädagogik gehen davon
aus, dass in Deutschland nur etwas mehr als die Hälfte aller Kinder eine sichere
Bindung mit auf den Lebensweg bekommt. Dabei ist das, was Kinder brauchen,
durchaus kein Buch mit sieben Siegeln. Immerhin: Über 50 Prozent der Eltern machen,
auch ohne sich dessen bewusst zu sein, genau das Richtige. Fabienne Becker-Stoll,
mit einem ganz alltäglichen Beispiel:

19 ZUSPIELUNG 9 Becker Stoll 13


Auf dem Spielplatz: Ein Kind, das noch nicht sicher gehen kann, fällt hin, erschrickt.
Dann sehen wir die natürliche Reaktion, dass dieses Kind loskrabbelt. Sofort in den
Schoß, an die Knie der Mutter. Und da sehen wir, wie wunderbar Bindungsverhalten
funktioniert, und wozu es dient. Es funktioniert so, dass durch den Schreck, den
Schmerz das Bindungsverhalten aktiviert wird, vorher war das Erkundungssystem
aktiviert, das Kind hat sich auf den Weg gemacht, etwas zu entdecken, und ist
gestolpert. Jetzt hört das Explorationsverhalten auf, es ist deaktiviert, das
Bindungsverhalten ist aktiviert, und es mobilisiert die Kräfte in Richtung hin zur
Bindungsperson. Und beide Verhaltenssysteme sind gleichermaßen wichtig, um zu
Überleben. Denn beide sichern mit den wichtigsten Prozess, nämlich das Lernen.

AUTORIN
Generationen von Eltern haben sich über das rechte Maß an elterlicher Zuwendung die
Köpfe zerbrochen. Was tun, wenn zum Beispiel ein Kind schreit?
Es auf den Arm nehmen? Es trösten? Füttern? Sich müde schreien lassen? Die
Bindungstheorie scheint einen uralten Erziehungsstreit für sich entschieden zu haben:
Kinder, deren Eltern zugewandt und prompt reagieren, weinen nicht nur weniger. Sie
14

sind auch insgesamt konzentrierter und in Konfliktsituationen sozial kompetenter. Denn


sie haben verinnerlicht, dass sie mit ihrem Verhalten etwas bewirken können. In diesem
Zusammenhang kritisiert die Bindungsforscherin Becker-Stoll auch eine Tendenz
unserer Gesellschaft, zu großen Wert zu legen auf die intellektuelle Frühforderung des
Kindes, seine emotionalen Bedürfnisse aber weniger wichtig zu nehmen. Im Sinne der
Bindungstheorie sollte es genau umgekehrt sein.

20 ZUSPIELUNG 10 Becker Stoll 21


In meinen Vorträgen versuche ich immer klar zu machen, dass es keinen Sinn macht,
kleine Kinder in den ersten Lebensjahren bilden zu wollen. In einem Sinne, dass man
sie zu kleinen Wissenschaftlern macht, wenn man ihre Bindungsbedürfnisse nicht
berücksichtigt. Ein Kind, dass unter Trennungsschmerz leidet, das sich fremd und
verlassen fühlt, das will nicht erkunden und entdecken. Das will nur eins: zurück zu
Mama. Und deswegen macht es keinen Sinn teure Experimente aufzubauen und
Kleinstkindern zu zeigen, und vielleicht noch das Händchen zu nehmen und auf den
Knopf zu drücken. Sondern um zu lernen, brauchen kleine Kinder nur eins: Die Liebe
von ihnen vertrauten Personen.

AUTORIN
Urvertrauen und psychische Sicherheit sind eben nicht nur ein schönes Beiwerk. Sie
sind die erste und grundlegende Voraussetzung dafür, dass Leben gelingen kann.

Das könnte Ihnen auch gefallen