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Aristoteles - Nikomachische Ethik (Buch 1) PDF
Aristoteles - Nikomachische Ethik (Buch 1) PDF
sein aber der eigenen Unwissenheit bestaunen die Leute jene,<lie etwas
vortragen, was bedeutsam klingt u n d über ihre Fassungskraft hinaus-
geht.
Einige 1 aber dachten, es gebe neben den vielen greifbaren Gütern
noch ein Gut, von selbständiger Existenz, das zugleich f ü r all die ge-
nannten Güter die Ursache d a f ü r sei, d a ß sie Güter sind. Alle vorge-
tragenen Ansichten zu prüfen ist wohl nicht sehr sinnvoll. Wir be-
schränken uns daher auf solche, die besonders weit verbreitet sind
oder immerhin wissenscliaftlichen Charakter haben.
Wir dürfen dabei nicht den Unterschied übersehen zwischen einer
Darstellung, die von Grundgegebenheiten 2 ausgeht u n d einer anderen,
die an sie h e r a n f ü h r t . So pflegte ζ. B. auch P i a t o n 3 sehr richtig die
Frage zu stellen u n d zu forschen, ob der Weg von den Grundgegeben-
1095 b heiten her oder zu ihnen hin verlaufe - wie im Stadion von den Preis-
richtern zur Wendemarke oder von dieser zurück. Man m u ß nämlich
anfangen bei dem Bekannten. Dieses aber ist zweifach: bekannt f ü r
uns u n d b e k a n n t schlechthin. W i r müssen wohl ausgehen von dem
was u n s b e k a n n t ist. Daher m u ß bereits über eine edle Grundgewöh-
n u n g 4 verfügen, wer mit Nutzen eine Vorlesung über das Edle, das
Gerechte, kurzum über die Wissenschaft vom Staate hören will. Aus-
gangspunkt ist nämlich das D a ß , und wenn dieses in genügender Klar-
heit herauekommt, wird das W a r u m gar nicht mehr nötig sein. Ein
Mensch mit sittlicher Grundhaltung kennt entweder schon Grund-
gegebenheiten oder er k a n n sie sich leicht geistig aneignen. Wer sie
aber weder h a t noch erfassen kann, der höre die Verse des Hesiod
(Erga 2 9 3 . 2 9 5 - 7 ) :
„Der vor allem ist gut, der selber alles bedenket,
Edel nenn ich auch jenen, der gutem Zuspruch gehorsam.
Aber wer selber nicht denkt u n d auch dem Wissen des andern
T a u b sein Herz verschließt, der Mann ist nichtig und u n n ü t z . "
(Nach v. Scheffer)
ben im Dienste des Staates (b), drittens das Leben als Hingabe an
die Philosophie (c).
(a) Die Vielen also bekunden ganz und gar ihren knechtischen 1 Sinn,
da sie sich ein animalisches Dasein aussuchen. Und doch bekommen
sie einen Schein von Recht, weil es unter den Hochgestellten so man-
chen gibt, der ähnliche Passionen h a t wie Sardanapal.
(b) Edle und aktive Naturen entscheiden sich f ü r die Ehre. Denn das
ist im ganzen gesehen das Ziel eines Lebens für den Staat. Doch ist
dieses Ziel wohl etwas äußerlich und k a n n nicht als das gelten, was
wir suchen. Hier liegt nämlich der Schwerpunkt mehr in dem der die
Ehre spendet als in dem der sie empfängt. Den obersten Wert aber
erahnen wir als etwas was uns zu innerst zugeordnet und nicht leicht
ablösbar ist. Außerdem ist anzunehmen, daß man nach E h r e strebt
um sich des eigenen Wertes zu vergewissern. Deshalb sucht m a n von
Urteilsfähigen geehrt zu werden, von Menschen, die uns kennen, und
zwar auf Grund der Tüchtigkeit. Jedenfalls ergibt sich aus diesem Ver-
halten ganz klar, daß die Tüchtigkeit der höhere Wert ist, und m a n
darf d a n n vielleicht eher in ihr das Ziel des Lebens für den Staat er-
kennen. Und doch ist auch sie noch nicht ganz Ziel im vollen Sinn.
Denn m a n k a n n sich die Möglichkeit vorstellen, daß jemand die Tüch-
tigkeit zwar h a t , aber dabei schläft 2 oder ein Leben lang untätig, ja
darüber hinaus mit größtem Leid und Unglück beladen ist. Wer aber ΐ09β»
ein solches Leben f ü h r t , den wird niemand als glücklich bezeichnen,
außer er möchte eine paradoxe Behauptung unter allen Umständen
retten. Doch genug hiervon: auch in den Schriften f ü r weitere Kreise 3
ist das ausreichend behandelt.
(c) Die dritte Lebensform ist die Hingabe an die Philosophie. Dar-
über wird die Untersuchung s p ä t e r 4 zu führen sein.
Das Leben des Geldmenschen h a t etwae Forciertes 5 an sich u n d der
Reichtum ist gewiß nicht das gesuchte oberste Gut. E r ist n u r ein
N u t z w e r t : Mittel f ü r andere Zwecke. Daher k a n n m a n eher die vorher
genannten Dinge (Lust u n d Ehre) als Endziele auffassen, denn sie
werden um ihrer selbst willen geschätzt. U n d doch sieht es so a.us, als
seien auch dies keine echten Ziele, obgleich viele Argumente zu ihren
Gunsten Gemeingut geworden sind. Diese Gedankengänge wollen wir
n u n verlassen.
4. Es wird vielmehr zweckdienlich sein, das oberste Gut, sofern es als
allgemeine Wesenheit gedacht wird, zu betrachten u n d zu zergliedern,
wie das gemeint sei. Freilich wird dies eine peinliche Aufgabe, weil
erstrebenswerter ist als alle anderen Güter zusammen, also nicht auf
eine Linie m i t den anderen gereiht. Denn es ist klar : bei einer solchen
E i n r e i h u n g 1 würde sich sein Wert f ü r uns durch das Hinzutreten auch
n u r des geringsten Gutes aus dieser Reihe erhöhen. Denn dieses Hin-
zutreten bedeutet ein Plus an W e r t u n d das größere G u t ist jeweils er-
strebenswerter. So erweist sich denn das Glück als etwas Vollendetes,
f ü r sich allein Genügendes : es ist das Endziel des uns möglichen Han-
delns.
6. Vielleicht ist aber die Gleichsetzung von Glück u n d oberstem Gut
n u r ein Gemeinplatz u n d es wird eine noch deutlichere Antwort auf
die Frage nach seinem Wesen gewünscht. Dem k a n n entsprochen
werden, indem m a n zu erfassen sucht, welches die dem Menschen eigen-
tümliche Leistung 2 ist. Wie nämlich f ü r den Flötenkünstler u n d den
Bildhauer u n d f ü r jeden Handwerker oder Künstler, kurz überall da,
wo Leistung u n d Tätigkeit gegeben ist, eben in der Leistung, wie m a n
annehmen darf, der Wert u n d das Wohlgelungene beschlossen liegt,
so ist das auch beim Menschen anzunehmen, wenn es ü b e r h a u p t eine
ihm eigentümliche Leistung gibt. Sollte es n u n bestimmte Leistungen
u n d Tätigkeiten f ü r den Zimmermann oder Schuster geben, f ü r den
Menschen als Menschen aber keine, sondern sollte dieser zu stumpfer
Trägheit geboren sein? Sollte nicht vielmehr so wie Auge, H a n d , F u ß ,
kurz jeder Teil des Körpers seine besondere F u n k t i o n h a t , auch f ü r
den Menschen über all diese Teilfunktionen hinaus eine bestimmte
Leistung anzusetzen sein? Welche n u n könnte das sein? Die bloße
F u n k t i o n des Lebens ist es nicht, denn die ist auch den Pflanzen eigen.
1098» Gesucht wird aber, was n u r dem Menschen eigentümlich ist. Auszu-
scheiden h a t also das Leben, soweit es E r n ä h r u n g u n d W a c h s t u m ist.
Als nächstes k ä m e dann das Leben als Sinnesempfmdung. Doch teilen
wir auch dieses gemeinsam mit Pferd, Rind und jeglichem Lebewesen.
So bleibt schließlich n u r das Leben als Wirken des rationalen Seelen-
teils 3 . - D i e s e r aber ist anzusehen teils als Gehorsam übend gegenüber
dem Rationalen, teils als das rationale Element besitzend und gei-
stige Akte vollziehend. - Da aber auch dieses (auf dem rationalen
Seelenteil beruhende) Leben in doppeltem Sinn zu verstehen ist, so
müssen wir uns d a f ü r entscheiden, d a ß das Leben als eigenständiges
Tätig-sein gemeint ist, denn dies trifft offenbar den Sinn des Begriffes
„ L e b e n " schärfer.
Wir nehmen n u n an, daß die dem Menschen eigentümliche Leistung
i s t : ein Tätigsein der Seele gemäß dem rationalen Element oder jeden-
fails nicht ohne dieses, und nehmen ferner an, daß die Leistung einei
bestimmten Wesenheit und die einer bestimmten hervorragenden Wesen-
heit der G a t t u n g nach dieselbe ist, ζ. B. die eines Kitharaspielers
u n d die eines h e r v o r r a g e n d e n Kitharaspielers u n d so schlechthin in
allen Fällen - es wird hierbei einfach das Plus, das in der Vorzüglich-
keit der Leistung liegt, zu der L e i s t u n g h i n z u g e f ü g t : Leistung des
Kitharaspielers ist das Spielen des I n s t r u m e n t e s , Leistung des hervor-
r a g e n d e n K ü n s t l e r s das vortreffliche Spielen. I s t das n u n richtig u n d
setzen wir als A u f g a b e u n d Leistung des Menschen eine b e s t i m m t e
L e b e n s f o r m u n d als deren I n h a l t ein Tätigsein u n d W i r k e n der Seele,
g e s t ü t z t auf ein rationales E l e m e n t , als L e i s t u n g des h e r v o r r a g e n d e n
Menschen dasselbe, a b e r in vollkommener u n d b e d e u t e n d e r Weise,
u n d n e h m e n wir an, d a ß alles seine vollkommene F o r m gewinnt,
w e n n es sich i m Sinne seines eigentümlichen Wesensvorzugs e n t f a l t e t ,
so gewinnen wir schließlich als E r g e b n i s : das oberste d e m Menschen
erreichbare G u t stellt sich d a r als ein Tätigsein der Seele i m S i n n e 1
der ihr w e s e n h a f t e n T ü c h t i g k e i t . Gibt es a b e r m e h r e r e F o r m e n we-
s e n h a f t e r T ü c h t i g k e i t , d a n n i m Sinne der vorzüglichsten u n d voll-
endetsten.
Beizufügen ist noch : „ i n einem vollen M e n s c h e n l e b e n " 2 . D e n n eine
Schwalbe m a c h t noch keinen F r ü h l i n g u n d a u c h n i c h t ein T a g . So
m a c h t auch nicht ein T a g oder eine kleine Zeitspanne den Menschen
glücklich u n d selig. Dies also sei eine erste Skizze 3 des obersten G u t e s .
7. Man m u ß j a doch wohl zuerst die R o h f o r m h e r a u s a r b e i t e n u n d
d a n n k o m m e n die feineren Linienzüge. D a b e i k a n n wohl j e d e r leicht
das v o r a n b r i n g e n u n d schärfer gliedern, was in der G r u n d f o r m richtig
d a s t e h t . Auch ist die Zeit bei solchem W e r k eine treffliche Erfinderin
u n d Helferin - a u c h bei K u n s t u n d H a n d w e r k sind auf diese Weise
F o r t s c h r i t t e z u s t a n d e g e k o m m e n - d e n n das k a n n j e d e r : h i n z u f ü g e n
was noch fehlt.
Doch wollen wir uns auch der f r ü h e r 4 ausgesprochenen W a r n u n g
erinnern u n d Genauigkeit n i c h t in gleicher Weise bei allen Gegenstän-
d e n erstreben, sondern in j e d e m Fall n u r so, wie der gegebene Stoff es
g e s t a t t e t u n d bis a n die Grenze hin, die d e m G a n g der wissenschaft-
lichen U n t e r s u c h u n g g e m ä ß ist. E i n Z i m m e r m a n n ζ. B. u n d ein Mathe-
m a t i k e r b e s c h ä f t i g e n sich m i t d e m r e c h t e n Winkel in verschiedenem
Sinn. Der eine, soweit er i h m zur A r b e i t nützlich ist, der a n d e r e da-
gegen u n t e r s u c h t sein Wesen oder die Wesenseigenschaften, d e n n der
ist hingegeben a n die S c h a u 5 der W a h r h e i t . G e n a u so m u ß a u c h auf
den anderen Gebieten verfahren werden, auf daß nicht das Beiwerk
umfangreicher werde als das Werk,
loes b Auch die Frage nach der Ursache darf nicht überall in gleicher Weise
gestellt werden, sondern es genügt auf manchen Gebieten, wenn das
Daß richtig aufgezeigt wird, ζ. B. bei den Grundgegebenheiten - das
Daß aber ist ein Erstes oder eine Grundgegebenheit. Von den Grund-
gegebenheiten werden die einen durch Induktion erkannt, die anderen
durch Intuition, die dritten durch eine Art von Gewöhnung 1 und an-
dere wiederum auf andere Weise. An die einzelnen Grundgegeben-
heiten aber muß man heranzukommen 2 suchen auf dem Weg, der ihrer
Natur entspricht, und muß sich bemühen, sie richtig in ihrer Besonder-
heit zu bestimmen. Denn sie haben großes Gewicht für alles Weitere,
meint man doch, der Anfang sei mehr als die Hälfte 3 des Ganzen und
es falle von ihm her viel Licht auf die behandelten Fragen.
8. Die Untersuchung über unsere Grundgegebenheit (das Glück) muß
man indes nicht nur vom Formalen her führen, auf Grund unserer
Schlußfolgerung und unserer Prämissen 4 , sondern auch auf Grund
der traditionellen Meinungen, die darüber existieren. Denn mit der
Wahrheit sind alle Tatsachen im Einklang, zwischen Irrtum und
Wahrheit dagegen gibt es alsbald Mißklang.
Nun gibt es, wie bekannt, eine Dreiteilung 5 der Güter: man spricht
von äußeren, von seelischen und von leiblichen, wobei wir die seeli-
schen als Güter im strengsten und höchsten Sinne bezeichnen. Und
zwar ist es seelisches Handeln und Tätig-sein, das wir dem Bereich der
Seele zuweisen®. Also ist unsere Definition des obersten Gutes richtig,
zum mindesten sofern sie mit der genannten Tradition übereinstimmt,
die sich durch ihr Alter empfiehlt und auch von den Philosophen ge-
teilt wird.
Richtig ist sie auch deshalb, weil sie (gerade) ein bestimmtes Han-
deln und Tätig-sein als Endziel aufstellt. Denn auf diese Weise er-
scheint das Endziel unter den seelischen Werten und nicht etwa unter
den äußeren Gütern.
Ferner ist mit unserer Definition im Einklang der bekannte Satz, daß
der Glückliche gut lebe und gut handle, denn praktisch hatten wir j a d a s
Glück dem Sinne nach als gutes Leben und Wohlverhalten bezeichnet.
9. Aber auch die üblicherweise geforderten Elemente des Glücks schei-
nen alle miteinander in unserer Definition vorzukommen. Denn für die
einen ist Glück so viel wie sittliche Vortrefflichkeit, für andere ist es
die Einsicht und für die dritten etwa die Weisheit des Philosophen.
sches Handeln und in gewisser Weise durch Lernen und Üben zuteil
wird, so gehört es doch zu den göttlichsten Gütern. Denn als Kampf-
preis und Ziel der ethischen Trefflichkeit ist es ein höchster Wert,
göttlich und selig.
Das Glück ist aber gewiß auch ein Gemeingut für viele, denn allen
steht die Möglichkeit dazu offen, wenn sie nur in bestimmter Weise
lernen und sich sorgfältig bemühen - mit Ausnahme allerdings derer,
die für sittliche Vollkommenheit gleichsam verstümmelt sind. Wenn
es aber wertvoller ist auf diese Weise als durch baren Zufall glücklich
zu sein, so darf man annehmen, daß es sich tatsächlich so verhält,
liegt es doch im Wesen der Dinge, die an das Wirken der Natur ge-
bunden sind, möglichst vollkommen zu sein. Das gilt auch für das, was
menschliche Absicht und jede Ursächlichkeit bewußt schafft und ganz
besonders für das, was an das Wirken der höchsten Ursächlichkeit 1
gebunden ist. Gerade das Erhabenste und Herrlichste dem Zufall an-
heimzustellen wäre ein arger Mißgriff.
Auch aus unserer Definition des Glücks fällt übrigens einiges Licht
auf die vorliegende Frage. Wir haben es ja bezeichnet 2 als eine genau
charakterisierte „Tätigkeit der Seele im Sinne der ihr wesenhaften
Tüchtigkeit". Dazu müssen dann von den übrigen Gütern die einen
mit Notwendigkeit als Grundbedingung des Glücks vorgegeben sein,
die anderen sind ihrem Wesen nach als Hilfsmittel und Werkzeug von
Nutzen. Dies deckt sich denn auch mit dem eingangs Gesagten. Dort 3
haben wir ja das Ziel der Staatskunst als das höchste erkannt. Diese
aber trifft ganz besonders Anstalten dafür, die Bürger zu formen, d. h.
sie gut zu machen und fähig zu edlem Handeln.
Natürlich können wir nun weder Rind noch Pferd noch sonst ein
Tier als „glücklich" bezeichnen, denn keines kann Anteil bekommen nooa
an einem Tätigsein, wie wir es beschrieben haben. Aus demselben
Grund kann auch ein Kind nicht „glücklich" heißen, denn es ist noch
gar nicht fähig in solchem Sinne zu handeln, weil es zu jung ist. Und
wenn man Kinder dennoch glücklich nennt, so geschieht dies, weil
man hofft. Denn wie gesagt 4 : das Glück setzt ethische Vollkommen-
heit voraus und ein Vollmaß des Lebens. Denn mancherlei Wandel
stellt sich ein im Laufe eines Lebens und Zufall in jeder Gestalt und
es kann, wer eben noch in blühendem Glücke war, im Alter in schweres
Unheil stürzen, wie das Heldenepos über Priamos zu berichten weiß.
Wer aber solche Laune des Glücks erfahren und in Jammer geendet
hat, den wird niemand als glücklich bezeichnen.
11. Darf man auch sonst keinen Menschen glücklich nennen, solange
er lebt? 1 Muß man vielmehr nach dem Satze des Solon 2 auf das Ende
sehen? Und lassen wir den Satz einmal gelten, - wäre daraus der
Schluß zu ziehen, daß man nach dem Tode dann auch wirklich glück-
lich ist? Oder ist dies nicht völlig widersinnig, besonders für uns, die
wir das Glück doch als ein Tätigsein erklären? Wenn wir aber den
Toten nicht glücklich nennen und der Sinn des solonischen Satzes
nicht dies ist, sondern daß man erst dann einen Menschen mit Sicher-
heit glücklich preisen darf, wenn er endlich der Einwirkung von Un-
heil und Mißgeschick entzogen ist, so stellt uns auch dies noch vor
ungeklärte Fragen. Es ist nämlich eine verbreitete Ansicht, daß es
auch für den Toten noch Böses und Gutes gibt, im selben Sinne wie
für einen Lebenden, dem es nicht zum Bewußtsein kommt: ζ. B. per-
sönliche Ehre und Unehre oder Wohlergehen und Mißgeschick der
Kinder, allgemein ausgedrückt, der Nachkommen. Und auch hier ist
eine ungelöste Frage. Wer nämlich bis ins Alter hinein im Vollbesitz
des Glückes gelebt und einen Tod gefunden hat, der diesem Leben ent-
sprach, der kann noch in seinen Nachkommen von mancherlei Un-
glück getroffen werden : die einen können wohl geraten und ein Leben
finden, wie sie es verdienen, den andern kann es gerade umgekehrt
ergehen - wobei natürlich auch im Hinblick auf den Generationen-
abstand starke Verschiedenheiten in deren Schicksal auftreten kön-
nen. D i wäre es nun in der Tat eine merkwürdige Vorstellung, wenn
der Tote dieses ganze Hin und Her noch mitzumachen hätte und also
bald glücklich, bald unglücklich würde. Merkwürdig wäre es aber auch
andererseits, wenn das Geschick der Nachfahren überhaupt nicht,
auch nicht für eine gewisse Zeitspanne, auf die Vorfahren zurück-
wirken sollte.
Doch nun zurück zu unserer Ausgangsfrage 3 . Vielleicht bringt deren
Lösung auch Klarheit für unser gegenwärtiges 4 Bedenken. Man muß
also „auf das Ende sehen" und darf dann von niemandem sagen „er
ist glücklich", sondern „-er war glücklich". Dabei ist aber folgendes
unbegreiflich : während ein Mensch sich tatsächlich im Glück befindet,
iioob soll die Aussage „er ist glücklich" nicht gestattet sein, nur weil man
sich scheut einen Lebenden glücklich zu nennen mit Rücksicht auf
mögliche Veränderung und weil es als Grundsatz gilt, daß echtes
Glück etwas Dauerhaftes und nur schwer ins Wanken Geratendes ist,
während Zufallsglück sich um den einzelnen oft in förmlichem Kreis-
lauf dreht. Denn soviel ist klar: wenn wir dieses Wechselspiel des
noia scheuen und minderwertig ist. Wir denken, d a ß der wirklich tüchtige
u n d besonnene Mann jedwede Wendung des Lebens in vornehmer
H a l t u n g t r ä g t und aus dem jeweils Gegebenen das denkbar Beste ge-
staltet. E r handelt wie etwa der große Feldherr: dieser holt aus dem
Heer, das ihm zur Verfügung steht, das Beste heraus für die Entschei-
dung des Krieges, der tüchtige Schuster fertigt aus dem Leder, das
er zur H a n d h a t , das schönste Schuhwerk, und so machen es die Hand-
werker alle. Ist das richtig, so k a n n der Glückliche allerdings niemals
ins Elend kommen, freilich aber auch nicht zur Vollform des Glückes,
wenn ihn nämlich ein Los trifft wie König Priamos.
Sein Wesen ist aber auch nicht fahrig und anfällig für Veränderung.
Aus dem festen Zustand des Glücks wird ihn so leicht nichts verdrän-
gen, und wenn, dann nicht ein gewöhnlicher Schlag des Schicksals,
sondern n u r ein harter und wiederholter. Andererseits k a n n er aus
solchem Unglück auch nicht in kürzester Frist wieder zurückfinden zum
Glück, sondern wenn ü b e r h a u p t , d a n n nur nach vielen u n d erfüllten
J a h r e n , wenn ihm in ihrem Verlauf Erfolg u n d Ehre zuteil geworden
ist.
Was hindert also zu sagen : Glücklich ist, wer im Sinne vollendeter
Trefflichkeit t ä t i g u n d dazu hinreichend mit äußeren Gütern ausge-
s t a t t e t ist — u n d zwar nicht in einer zufälligen Zeitspanne, sondern
so lange, daß das Leben seinen Vollsinn erreicht? Oder m u ß der Zu-
satz l a u t e n : „ U n d wer diese Lebensform beibehalten u n d einen ent-
sprechenden Tod haben wird", da uns j a die Z u k u n f t verschleiert ist
u n d wir das Glück als Endziel setzen, als etwas in jedem Betracht,
durch u n d durch Voll-endetes? Steht dies fest, so werden wir als glück-
liche Menschen jene Lebenden bezeichnen dürfen, bei denen die ge-
n a n n t e n Elemente vorhanden sind u n d vorhanden sein werden - wir
sagten „glückliche Menschen": der Nachdruck liegt allerdings auf
„Menschen".
Soviel über diese Probleme. D a ß jedoch die Schicksale der Nach-
kommen u n d der ganzen Schar unserer Freunde auch nicht das ge-
ringste f ü r das Glück ausmachen sollen, das zeugt von wenig Gemüt
u n d widerspricht der üblichen Anschauung. N u n sind aber die Dinge,
die dem Menschen zustoßen können, zahlreich und zeigen alle mög-
lichen Unterschiede. Die einen kommen näher an uns heran, die an-
deren weniger. So ist eine Diskussion der Sonderfälle langwierig u n d
möchte sich im Uferlosen verlieren. Es genügt wohl im allgemeinen
Umriß davon zu sprechen. Wenn nun von den persönlichen Schick-
salsschlägen die einen mit drückender Wucht auf dem Leben lasten,
die anderen dagegen verhältnismäßig erträglich scheinen, es genau so
unterschiedlich auch bei Unglück im gesamten Freundeskreise ist,
und wenn da ein Unterschied besteht, ob eine schmerzliche Erfahrung
jeweils einen Lebenden oder einen Toten trifft - ein Unterschied, viel
stärker als ζ. B. der, ob bei Tragödienaufführungen ungesetzliche und
grauenvolle Geschehnisse der eigentlichen Handlung vorausliegen oder
wirklich auf die Bühne kommen - , so muß auch ein derartiger Unter-
schied entsprechend gewürdigt werden oder eher vielleicht noch die
Tatsache, daß Zweifel darüber möglich sind, ob die Abgeschiedenen
an irgendeinem Gut oder irgendeinem Übel Anteil haben können, noib
Denn das Ergebnis dieser Überlegungen scheint zu sein: selbst wenn
etwas bis zu den Toten dringt, Gutes oder das Gegenteil, so kann es,
absolut genommen oder in der Beziehung auf die Toten, nur Schwa-
ches und Geringfügiges sein. Ist es dies aber nicht, so kann es nach
Menge und Art nur so sein, daß es weder Unglück in Glück verwandeln
noch einen bestehenden Glückszustand wegnehmen kann. Also : irgend-
einen Einfluß auf die Abgeschiedenen scheint das Wohlergehen der
Freunde, desgleichen auch deren Mißgeschick, zu haben. Art und Grad
dieses Einflusses ist aber so, daß weder der Glückliche unglücklich
gemacht noch irgendeine andere derartige Änderung bewirkt wird.
12. Nach der Behandlung dieser Probleme wenden wir uns zu einer
neuen Frage 1 . Gehört das Glück zu den Werten, die wir nur lobend
anerkennen oder vielmehr zu denen, die höchsten Preises würdig sind ?
Zu den bloßen Möglichkeiten gehört es j a ohnehin nicht. Nun ist doch
offenbar alles lobend Anerkannte kraft einer bestimmten Beschaffen-
heit oder Bezogenheit anerkannt. Denn wir loben den Gerechten 2 , den
Tapferen, kurz den ethisch wertvollen Menschen und die ethische Hoch-
wertigkeit auf Grund der Handlungen und Leistungen, den Athleten
hinwiederum und den Wettläufer und so weiter, weil er von Natur eine
bestimmte Beschaffenheit hat und in bestimmter Beziehung zu Wert
und Leistung steht. Dies wird klar auch aus den Lobreden auf die
Götter. Macht es doch einen komischen Eindruck, daß die Götter in
Beziehung zu uns gesetzt werden. Gerade das tritt aber ein, weil Lob
durch ein In-Beziehung-setzen zustande kommt, wie wir gesagt haben.
Bezieht sich nun das Lob in der Tat auf Dinge wie wir sie genannt
haben, so ist klar, daß es bei obersten Werten kein Loben geben kann,
sondern nur etwas Höheres und Besseres. Und dies lehrt auch die Er-
fahrung. Denn es sind ja eben die Götter, die wir selig und glücklich
preisen, und selig preisen wir auch, jene Menschen, bei denen das Gött-
liche ganz besonders in Erscheinung tritt. Ähnlich halten wir es bei den
obersten Werten. Denn niemandem fällt es ein, das Glück zu loben so
wie man etwa die Gerechtigkeit lobt, sondern man zollt ihm höchsten
Preis, weil es in besonderem Sinne göttlich und wertvoll ist.
Auch Eudoxos 1 gilt als ein trefflicher Anwalt für den Anspruch, den
die Lust auf den Siegespreis erhebt. Daß sie nämlich, obgleich zu den
Gütern gehörig, nicht gelobt werde, sah er als Hinweis darauf an, daß
sie über die Dinge erhaben sei, denen man Lob spendet, und von sol-
cher Art sei die Gottheit und der oberste Wert, denn in Beziehung auf
diese (die Gottheit und den obersten Wert) werde auch alles andere
gewertet.
Das Lob gilt nämlich der sittlichen Trefflichkeit (nicht dem Glück),
denn von ihr her wird man befähigt sittlich zu handeln, und das En-
komion gilt den Leistungen des Leibes wie des Geistes. Doch sind hier
für genauere Unterscheidungen eher die Spezialisten der Enkomien 2 -
t i02a Technik zuständig - uns ist aus dem Gesagten klar geworden, daß das
Glück zu dem gehört, was höchsten Preises würdig und vollkommen
ist. Dies ist auch deshalb richtig, weil das Glück eine Grundgegeben-
heit darstellt, denn auf das Glück richten wir alle all unser sonstiges
Tun. Was aber Grundgegebenheit ist und Ursache der Güter, dem er-
kennen wir höchsten Preis und göttlichen Rang zu.
13. Nachdem das Glück ein Tätigsein der Seele ist im Sinne der ihr
wesenhaften Tüchtigkeit, haben wir nunmehr die „Tüchtigkeit" zu
Setrachten. A.uf diese Weise werden wir dann wohl auch eine noch bes-
sere Einsicht in das Wesen des Glücks gewinnen. Bekanntlich widmet
auch der echte Staatsmann 3 der Tüchtigkeit seine besondere Mühe.
Denn sein Anliegen ist, die Bürger tüchtig und gehorsam gegen die
Gesetze zu machen. Als Beispiel dafür haben wir die Gesetzgeber der
Kreter und Spartaner 4 - und es mag auch noch einige andere dieser
Art gegeben haben. Wenn aber dieses Anliegen (des Staatsmanns)
zur Wissenschaft vom Staat gehört, so entwickelt sich die Unter-
suchung offenbar gemäß dem ursprünglichen Plan. Es ist aber ohne
weiteres klar, daß unter der Tüchtigkeit, von der wir zu sprechen
haben, nur die des Menschen zu verstehen ist. Denn das Gut, das wir
suchten, war ja das Gut für den Menschen und das Glück mensch-
liches Glück.
„Tüchtigkeit des Menschen" bedeutet nicht die des Leibes, sondern
die der Seele, und auch das Glück bezeichnen wir als ein Tätigsein der
Nun gibt es aber eine zweite Naturanlage der Seele, irrational auch
sie, aber irgendwie doch teilhabend an dem rationalen Element. Wir
treffen sie an bei (lern beherrschten wie auch bei dem unbeherrschten
Menschen. Bei ihnen sprechen wir nämlich mit Anerkennung von dem
Rationalen und von dem Seelenteil, der das rationale Element besitzt :
dieses gibt nämlich richtige Antriebe und leitet zu wertvollen Zielen.
Es zeigt sich aber bei beiden noch eine weitere Kraft, die wesenhaft
wider das rationale Element gerichtet ist, die mit ihm kämpft und
sich dagegenstemmt. Ein passendes Beispiel sind die gelähmten Glie-
der eines Leibes: will man sie nach rechts bewegen, so geraten sie ent-
gegengesetzt nach links. Geradeso ist es bei der Seele: da wenden sich
die Triebe des Unbeherrschten in die dem Rationalen entgegengesetzte
Richtung. Nur daß wir beim Leibe die verkehrte Richtung wahrneh-
men, bei der Seele aber nicht. Trotzdem zwingt sich uns die Erkennt-
nis auf, daß genau so auch in der Seele etwas waltet, was wider das
rationale Element ist, ein Gegensätzliches, Widerspenstiges. In wel-
schem Sinn dies freilich etwas anderes ist, braucht uns hier nicht zu
beschäftigen. Am Rationalen scheint auch dieses teilzuhaben, wie
wir oben 1 sagten. Jedenfalls leistet es beim beherrschten Menschen
dem rationalen Elemente Gehorsam. Und noch williger ist es dazu be-
reit bei dem Besonnenen und Tapferen: hier ist volle Harmonie mit
dem rationalen Element.
So hat sich denn erwiesen, daß (gleich der ganzen Seele) auch das
Irrationale zweifacher Art ist : da ist erstens die vegetative Grundlage,
die keinerlei Anteil hat am Rationalen, und zweitens das Begehrungs-
vermögen - mit einem umfassenden Ausdruck: das Strebevermögen.
Dieses hat in bestimmter Weise Anteil am rationalen Element, inso-
fern es auf dieses hinzuhören und ihm Gehorsam zu leisten vermag. In
diesem Sinne sagen wir denn auch : „ich habe ein rationales Verhältnis
zum Rate des Vaters oder der Freunde" ( = ich gehorche ihm), meinen
das also nicht so wie: „ich habe ein rationales Verhältnis zu Gegen-
ständen der Mathematik" ( = ich beherrsche sie intellektuell). Daß
übrigens das Irrationale sich in gewissem Sinne vom Rationalen be-
stimmen läßt, darauf weist schon die Tatsache des Mahnens 2 hin so-
lios a wie jegliche Form des Zurechtweisens und Aufmunterns. Wenn man
nun also sagen muß, daß auch diese seelische Kraft (das Strebever-
mögen) ein rationales Element in sich trägt, so muß auch jener (zweite)
Teil der Seele, nämlich der rationale, einen Doppelcharakter haben:
ein Teil hat das Rationale im eigentlichen Sinn und in sich selbst