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BUCH I

1. J e d e s 1 praktische K ö n n e n 2 und jede wissenschaftliche Unter- 1094«


suchung, ebenso alles Handeln u n d Wählen strebt nach einem Gut,
wie allgemein angenommen wird. Daher die richtige Bestimmung von
„ G u t " als „das Ziel, zu dem alles s t r e b t " 3 . Dabei zeigt sich aber ein
Unterschied zwischen Ziel und Ziel : das einemal ist es das reine Tätig-
sein, das anderemal darüber hinaus das Ergebnis des Tätig-seins : das
Werk. Wo es Ziele über das Tätig-sein hinaus gibt, da ist das Ergebnis
n a t u r g e m ä ß wertvoller als das bloße Tätig-sein. Da es aber viele For-
men des Handelns, des praktischen Könnens und des Wissens gibt,
ergibt sich auch eine Vielzahl von Zielen: Ziel der Heilkunst ist die
Gesundheit, der Schiffsbaukunst das Schiff, das Ziel der Kriegskunst :
Sieg, der W i r t s c h a f t s f ü h r u n g : Wohlstand. Überall nun, wo solche
„ K ü n s t e " einem bestimmten Bereich untergeordnet sind - so ist ζ. B.
der Reitkunst untergeordnet das Sattlerhandwerk 4 und andere H a n d -
werke, die Reitzeug herstellen, während die Reitkunst ihrerseits, wie
das gesamte Kriegswesen, unter der Feldherrnkunst steht, und was
dergleichen Unterordnungen 5 mehr sind - , da ist durchweg das
Ziel der übergeordneten K u n s t höheren Ranges als das der unter-
geordneten: um des ersteren willen wird j a das letztere verfolgt.
Hierbei ist es gleichgültig, ob das Tätig-sein selber Ziel des Han-
delns ist oder etwas darüber hinaus wie bei den eben aufgezählten
Künsten.
Wenn es n u n wirklich f ü r die verschiedenen Formen des Handelns
ein Endziel gibt, das wir u m seiner selbst willen® erstreben, während
das übrige n u r in Richtung auf dieses Endziel gewollt wird, und wir
nicht jede W a h l im Hinblick auf ein weiteres Ziel treffen - das gibt
nämlich ein Schreiten ins Endlose 7 , somit ein leeres u n d sinnloses
Streben - , daqn ist offenbar dieses Endziel „das G u t " und zwar das
oberste Gut.
H a t n u n nicht auch für die Lebensführung die Erkenntnis dieses
Gutes ein entscheidendes Gewicht u n d können wir d a n n nicht wie
Bogenschützen 8 , die ihr Ziel haben, leichter das Richtige 9 treffen?
Wenn j a , so müssen wir versuchen, wenigstens u m r i ß h a f t das Wesen

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6 Buch I

des obersten Gutes zu fassen und (zwar zunächst) in welchem Bereich


der Wissenschaften oder der praktischen K ü n s t e es zu finden ist.
Man wird zugeben : es gehört in den Bereich der K u n s t , welche dies
im eigentlichsten u n d souveränsten Sinne ist. Als solche aber erweist
sich die S t a a t s k u n s t 1 . Sie nämlich setzt fest, welche Formen prak-
tischen Könnens in den einzelnen Gemeinwesen unbedingt vertreten
1004 b sein sollen, ferner, mit welchen u n d bis zu welchem Grad der einzelne
Bürger sich zu beschäftigen h a t . Wir sehen es j a , wie ihr selbst die
angesehensten „ K ü n s t e " untergeordnet sind, ζ. B. Kriegs-, Haushalts-
u n d Redekunst. Da sie es also ist, die sich der übrigen praktischen
K ü n s t e als Mittel bedient und dazu noch gesetzgeberisch bestimmt,
was zu t u n u n d was zu lassen sei, so u m f a ß t ihr Endziel die Ziele aller
anderen u n d dieses ihr Ziel ist daher f ü r den Menschen das oberste
Gut.
Wenn auch somit das Ziel für den einzelnen u n d f ü r das Gemein-
wesen identisch ist, so t r i t t es doch am Gemeinwesen bedeutender und
vollständiger in Erscheinung: im Moment des Erreichens sowohl wie
bei seiner Sicherung. Es ist gewiß nicht wenig, wenn der einzelne f ü r
sich es erreicht ; schöner noch und erhabener ist es, wenn Völkerschaf-
ten oder Polis-Gemeinden so weit kommen.
Das also ist der Gegenstand unserer wissenschaftlichen Unter-
suchung. Wir sind damit, wenn m a n so will, in dem Bereich der Wis-
senschaft vom Staate.
Die Darlegung wird d a n n befriedigen, wenn sie jenen Klarheitsgrad
erreicht, den der gegebene Stoff gestattet. Der E x a k t h e i t s a n s p r u c h 2
darf nämlich nicht bei allen wissenschaftlichen Problemen in gleicher
Weise erhoben werden, genau so wenig wie bei handwerklich-künstleri-
scher Produktion. Bei den Erscheinungsformen des Edlen u n d Ge-
rechten, die den Gegenstand der Staatswissenschaft bilden, gibt es
so viele Unterschiede u n d Schwankungen, daß die Ansicht a u f k o m m e n
konnte, sie beruhten n u r auf Konvention 3 , nicht aber auf natürlicher
Notwendigkeit. Ähnliches Schwanken herrscht aber auch bei den Le-
bensgütern, weil schon so manchem Schaden daraus erwachsen i s t :
es ist schon vorgekommen, daß der eine durch Reichtum, der andere
durch Tapferkeit zugrunde ging.
Man m u ß sich also damit bescheiden, bei einem solchen T h e m a u n d
bei solchen Prämissen die W a h r h e i t n u r grob u n d u m r i ß h a f t anzudeu-
ten, sowie bei Gegenständen und Prämissen, die n u r im großen u n d
ganzen feststehen, in der Diskussion eben auch n u r zu entsprechenden

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Kapitel 1-2 7

Schlüssen zu kommen. I m selben Sinne n u n muß auch der Hörer


die Einzelheiten der Darstellung entgegennehmen: der logisch ge-
schulte Hörer wird n u r insoweit Genauigkeit auf dem einzelnen
Gebiet verlangen, als es die N a t u r des Gegenstandes zuläßt. Es ist
nämlich genau so ungereimt, vom Mathematiker Wahrscheinlich-
keiten entgegenzunehmen wie vom Rhetor denknotwendige Beweise
zu fordern.
Jeder beurteilt das zutreffend, wovon er ein Wissen hat, und ist
hierin ein guter Richter. Auf einem begrenzten Gebiet urteilt also der iofl5«
darin Geschulte richtig, umfassend aber der allseitig Ausgebildete. F ü r
Vorträge über Staatswissenschaft ist daher als Hörer nicht geeignet
der Jüngling. E r h a t ja noch keine E r f a h r u n g im wirklichen Leben.
Gerade von diesem aber gehen die Vorträge aus und dieses haben sie
zum Gegenstand. Da der junge Mann ferner noch ganz zu Gefühl und
Leidenschaften neigt, k a n n er n u r zweck- und nutzlos zuhören, denn
das Ziel ist hier nicht Erkenntnis 1 , sondern Handeln. Dabei ist es
ganz gleichgültig, ob er an J a h r e n jung oder dem Charakter nach un-
fertig ist. Denn nicht an der Zahl der J a h r e hängt das Ungenügen,
sondern daran, daß die jungen Leute u n t e r dem Einfluß der Leiden-
schaft leben und unter diesem Einfluß ihre jeweiligen Ziele verfolgen.
Solchen bleibt, wie den haltlosen Menschen, die Erkenntnis ohne
F r u c h t . Wer aber sein Streben und Handeln nach klarem Plan ein-
richtet, dem bringt das Wissen von diesen Gegenständen hohen
Nutzen.
Soviel als Einleitung über Hörer, Art der Entgegennahme (des Vor-
getragenen) u n d Thema.
2. Nachdem also jede Erkenntnis und jeder Entschluß nach einem be-
stimmten Gut zielt, wollen wir wieder einsetzen mit der Frage : „ W a s
ist das Ziel der Staatskunst u n d welches das höchste 2 von allen Gü-
tern, die m a n durch Handeln erreichen k a n n ? "
I n seiner Benennung stimmen fast alle überein. „Das G l ü c k " 3 - so
sagen die Leute und so sagen die feineren Geister, wobei gutes Leben 4
u n d gutes Handeln in eins gesetzt werden mit Glücklichsein. Aber was
das Wesen des Glückes sei, darüber ist m a n unsicher und die Antwort
der Menge 5 lautet anders als die des Denkers. Die Menge stellt sich
etwas Handgreifliches und Augenfälliges darunter vor, ζ. B. Lust,
Wohlstand, E h r e : jeder etwas anderes. Bisweilen wechselt 6 sogar ein
und derselbe Mensch seine Meinung: wird er krank, so sieht er das
Glück in der Gesundheit, ist er arm, dann im Reichtum. I m Bewußt-

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8 Buch I

sein aber der eigenen Unwissenheit bestaunen die Leute jene,<lie etwas
vortragen, was bedeutsam klingt u n d über ihre Fassungskraft hinaus-
geht.
Einige 1 aber dachten, es gebe neben den vielen greifbaren Gütern
noch ein Gut, von selbständiger Existenz, das zugleich f ü r all die ge-
nannten Güter die Ursache d a f ü r sei, d a ß sie Güter sind. Alle vorge-
tragenen Ansichten zu prüfen ist wohl nicht sehr sinnvoll. Wir be-
schränken uns daher auf solche, die besonders weit verbreitet sind
oder immerhin wissenscliaftlichen Charakter haben.
Wir dürfen dabei nicht den Unterschied übersehen zwischen einer
Darstellung, die von Grundgegebenheiten 2 ausgeht u n d einer anderen,
die an sie h e r a n f ü h r t . So pflegte ζ. B. auch P i a t o n 3 sehr richtig die
Frage zu stellen u n d zu forschen, ob der Weg von den Grundgegeben-
1095 b heiten her oder zu ihnen hin verlaufe - wie im Stadion von den Preis-
richtern zur Wendemarke oder von dieser zurück. Man m u ß nämlich
anfangen bei dem Bekannten. Dieses aber ist zweifach: bekannt f ü r
uns u n d b e k a n n t schlechthin. W i r müssen wohl ausgehen von dem
was u n s b e k a n n t ist. Daher m u ß bereits über eine edle Grundgewöh-
n u n g 4 verfügen, wer mit Nutzen eine Vorlesung über das Edle, das
Gerechte, kurzum über die Wissenschaft vom Staate hören will. Aus-
gangspunkt ist nämlich das D a ß , und wenn dieses in genügender Klar-
heit herauekommt, wird das W a r u m gar nicht mehr nötig sein. Ein
Mensch mit sittlicher Grundhaltung kennt entweder schon Grund-
gegebenheiten oder er k a n n sie sich leicht geistig aneignen. Wer sie
aber weder h a t noch erfassen kann, der höre die Verse des Hesiod
(Erga 2 9 3 . 2 9 5 - 7 ) :
„Der vor allem ist gut, der selber alles bedenket,
Edel nenn ich auch jenen, der gutem Zuspruch gehorsam.
Aber wer selber nicht denkt u n d auch dem Wissen des andern
T a u b sein Herz verschließt, der Mann ist nichtig und u n n ü t z . "
(Nach v. Scheffer)

3. Doch n u n zurück zu der Stelle, wo wir die Gedankenführung unter-


brochen 5 haben. Eine Meinung darüber, was oberster Wert u n d was
Glück sei, gewinnt man wohl nicht ohne Grund aus den b e k a n n t e n
Lebensformen 6 . I n der Mehrzahl entscheiden sich die Leute, d. h. die
besondere grobschlächtigen Naturen, f ü r den Genuß und finden des-
halb ihr Genügen an dem Leben des Genusses (a). Es gibt nämlich
drei H a u p t f o r m e n : erstens die soeben erwähnte (a), zweitens das Le-

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Kapitel 2 - 4 9

ben im Dienste des Staates (b), drittens das Leben als Hingabe an
die Philosophie (c).
(a) Die Vielen also bekunden ganz und gar ihren knechtischen 1 Sinn,
da sie sich ein animalisches Dasein aussuchen. Und doch bekommen
sie einen Schein von Recht, weil es unter den Hochgestellten so man-
chen gibt, der ähnliche Passionen h a t wie Sardanapal.
(b) Edle und aktive Naturen entscheiden sich f ü r die Ehre. Denn das
ist im ganzen gesehen das Ziel eines Lebens für den Staat. Doch ist
dieses Ziel wohl etwas äußerlich und k a n n nicht als das gelten, was
wir suchen. Hier liegt nämlich der Schwerpunkt mehr in dem der die
Ehre spendet als in dem der sie empfängt. Den obersten Wert aber
erahnen wir als etwas was uns zu innerst zugeordnet und nicht leicht
ablösbar ist. Außerdem ist anzunehmen, daß man nach E h r e strebt
um sich des eigenen Wertes zu vergewissern. Deshalb sucht m a n von
Urteilsfähigen geehrt zu werden, von Menschen, die uns kennen, und
zwar auf Grund der Tüchtigkeit. Jedenfalls ergibt sich aus diesem Ver-
halten ganz klar, daß die Tüchtigkeit der höhere Wert ist, und m a n
darf d a n n vielleicht eher in ihr das Ziel des Lebens für den Staat er-
kennen. Und doch ist auch sie noch nicht ganz Ziel im vollen Sinn.
Denn m a n k a n n sich die Möglichkeit vorstellen, daß jemand die Tüch-
tigkeit zwar h a t , aber dabei schläft 2 oder ein Leben lang untätig, ja
darüber hinaus mit größtem Leid und Unglück beladen ist. Wer aber ΐ09β»
ein solches Leben f ü h r t , den wird niemand als glücklich bezeichnen,
außer er möchte eine paradoxe Behauptung unter allen Umständen
retten. Doch genug hiervon: auch in den Schriften f ü r weitere Kreise 3
ist das ausreichend behandelt.
(c) Die dritte Lebensform ist die Hingabe an die Philosophie. Dar-
über wird die Untersuchung s p ä t e r 4 zu führen sein.
Das Leben des Geldmenschen h a t etwae Forciertes 5 an sich u n d der
Reichtum ist gewiß nicht das gesuchte oberste Gut. E r ist n u r ein
N u t z w e r t : Mittel f ü r andere Zwecke. Daher k a n n m a n eher die vorher
genannten Dinge (Lust u n d Ehre) als Endziele auffassen, denn sie
werden um ihrer selbst willen geschätzt. U n d doch sieht es so a.us, als
seien auch dies keine echten Ziele, obgleich viele Argumente zu ihren
Gunsten Gemeingut geworden sind. Diese Gedankengänge wollen wir
n u n verlassen.
4. Es wird vielmehr zweckdienlich sein, das oberste Gut, sofern es als
allgemeine Wesenheit gedacht wird, zu betrachten u n d zu zergliedern,
wie das gemeint sei. Freilich wird dies eine peinliche Aufgabe, weil

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10 Buch I

es F r e u n d e 1 von uns waren, welche die „ I d e e n " 2 eingeführt haben.


Und doch ist es zweifellos besser, j a notwendig, zur R e t t u n g der Wahr-
heit sogar das zu beseitigen, was uns ans Herz gewachsen ist, zudem
wir Philosophen sind. Beides ist uns lieb - und doch ist es heilige
Pflicht, der Wahrheit den Vorzug zu geben.
(1) Die Begründer dieser Lehre haben keine gemeinsamen „ I d e e n "
solcher Dinge aufgestellt, bei denen sie von „ f r ü h e r " u n d „ s p ä t e r "
sprachen, weshalb sie auch keine die Zahlen umfassende Idee ange-
setzt haben. N u n wird jedoch „ g u t " ausgesagt in der Kategorie der
Substanz, der Qualität und deç Relation, das An-sich aber, die Sub-
stanz, ist von N a t u r früher als die Relation. Diese gleicht j a einem
Seitensproß u n d Akzidens des Seienden. Folglich kann es über den
genannten Erscheinungsformen von „ g u t " keine gemeinsame „ I d e e "
geben.
(2) Ferner: Nachdem „ g u t " in ebensoviel Bedeutungen ausgesagt
wird wie „ i s t " - es wird in der Kategorie der Substanz ausgesagt, ζ. B.
von Gott u n d der Vernunft, in der Kategorie der Qualität, ζ. B. von
ethischen Vorzügen, in der Kategorie der Q u a n t i t ä t , ζ. B. vom rich-
tigen Maß, in der Relation, ζ. B. vom Nützlichen, in der Zeit, ζ. B.
vom richtigen Augenblick, in der Kategorie des Ortes, ζ. B. vom ge-
sunden Aufenthalt usw. - k a n n „ g u t " unmöglich etwas Ubergreifend-
allgemeines, und n u r Eines sein. Denn sonst könnte es nicht in allen
Kategorien ausgesagt werden, sondern n u r in einer.
(3) Ferner: Nachdem es von den Dingen, die u n t e r einer einzigen
Idee begriffen werden, auch n u r eine einzige Wissenschaft gibt, könnte
es auch f ü r alle Erscheinungsformen von „ g u t " n u r eine einzige Wis-
senschaft geben. N u n gibt es aber in Wirklichkeit eine Vielzahl von
Wissenschaften, sogar in dem Falle, wo die Aussage „ g u t " unter eine
einzige Kategorie fällt. So ist beispielsweise die Wissenschaft des rech-
t e n Augenblickes : im Kriege die Feldherrnkunst, in der Krankheit die
Heilkunst. Oder die des richtigen Maßes: bei der Diät die Heilkunst,
beim Sport die Gymnastik.
(4) Man k a n n sich auch fragen, was sie denn n u r damit meinen,
wenn sie dem einzelnen Begriff den Zusatz „ a n sich" beifügen, wo
ιοοβ b doch ζ. B. bei dem Begriff „Mensch an sich" u n d „Mensch" ein und
dieselbe Wesensbezeichnung wiederkehrt, nämlich „Mensch". Sofern
sie Menschen sind, k a n n ja keinerlei Unterschied zwischen beiden be-
stehen. Das gilt d a n n aber auch f ü r „ g u t an sich" und „ g u t " .
(5) Und erst recht nicht ist „gut an sich" in höherem Grade „ g u t " ,

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Kapitel 4 11

weil es immerwährend ist. Es ist ja auch das Langwährende nicht


intensiver weiß als das, was nur einen Tag besteht.
Ansprechender ist vielleicht die Lehre der Pythagoreer über das
„ G u t " , da sie in ihre Güterliste die Eins aufnehmen. Gerade dieser
Lehre scheint sich auch Speusippos angeschlossen zu haben.
Doch dies soll Gegenstand eines anderen 1 Vortrags sein. (6) Gegen
unsere bisherige Kritik aber könnte sich ein Bedenken einstellen: die
bekämpfte Theorie beziehe sich nämlich nicht auf jede Erscheinungs-
form von „ g u t " , sondern im Sinne einer „ I d e e " fasse sie nur die Güter
auf, die man um ihrer selbst willen erstrebt und schätzt, während
Güter, welche die soeben genannten hervorbringen oder irgendwie
deren Dauer gewährleisten oder Gegensätzliches verhindern, nur als
Mittel zu diesen und in einem abgeleiteten Sinne so benannt werden.
Von Gütern ist dann offenbar in einem doppelten Sinn zu sprechen:
Gut an sich und Gut als Mittel 2 zu diesem. Indem wir nunmehr die
Güter an sich von dem bloß Zweckdienlichen trennen, wollen wir
untersuchen, ob die ersteren im Sinne einer einzigen „Idee" zusam-
mengefaßt werden können. Welche Güter können wir aber als Güter
an sich ansetzen? Sind das solche, die man auch dann erstrebt, wenn
sie von anderen isoliert sind, ζ. B. das Erkennen, das Sehen, gewisse
Arten von Lust und Ehre? Wenn wir diese gelegentlich auch um an-
derer Zwecke willen erstreben, so wird man sie ja doch zu den Gütern
an sich rechnen. Oder ist es so, daß es doch nur ein Gut an sich gibt,
nämlich die Idee „ G u t " ? In diesem Fall wäre sie aber eine Form ohne
Inhalt. Gehören aber auch die anderen genannten Dinge zu den Gü-
tern an sich, so haben wix zu erwarten, daß der Begriff „ G u t " bei ihnen
allen als ein und derselbe in Erscheinung tritt, wie ζ. B. beim Schnee
und beim Bleiweiß der Begriff des Weiß-seins. Nun ist aber bei der
Ehre, der Erkenntnis, der Lust, gerade sofern sie Güter sind, dieser
Begriff jedesmal ein anderer und verschiedenartiger. „Das Gut" als
etwas Gemeinsames im Sinne einer einzigen „ I d e e " gibt es also
nicht.
Aber in welchem Sinne sagt man nun schließlich „das G u t " ? Der
Ausdruck hat doch nichts zu tun mit den Dingen, die aus barem Zu-
fall den gleichen Namen haben. Geschieht es vielleicht darum, weil
sie von einem einzigen Gut stammen oder alle zu einem einzigen Gut
beisteuern, oder müssen wir es vielmehr im Sinne der Analogie 3 ver-
stehen? Also etwa so: wie die Funktion des Auges im Leibe - so die
des Geistes in der Seele und was dergleichen Analogien mehr sind.

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12 Buch I

Doch ist es vielleicht zweckmäßiger, diese Probleme für jetzt zu ver-


lassen. Sie genauer zu fassen gehört vielmehr in einen inderen Be-
reich 1 der Philosophie.
Das gilt auch für das Thema „Ideenlehre". Denn, selbst wenn es
„das Gut" gäbe, das eines ist und in übergreifender Weise ausgesagt
wird oder das getrennt und an sich existierte, so ist doch klar, daß ein
solches „ G u t " durch menschliches Handeln nicht verwirklicht und
auch nicht erreicht werden könnte. Nun ist es aber gerade ein solches
Gut, das wir suchen 2 . Vielleicht jedoch meint jemand, es sei zweckmäßig,
1087 a jenes fragliche absolute Gut zu kennen im Hinblick auf die Güter,
die sich tatsächlich erwerben und verwirklichen lassen. Wir besäßen
es dann gleichsam als Muster und könnten leichter die Güter erkennen,
die „Güter für uns" sind, und hätten wir sie nur erst erkannt, so wür-
den wir sie auch erreichen. Dieses Argument hat nun allerdings etwas
für sich, aber es steht doch wohl in Widerspruch zu dem Verfahren bei
den praktischen Künsten: sie alle streben nach ihrem „ G u t " und
suchen dabei zu-verbessern, was an diesem Gut noch mangelhaft ist -
die Erkenntnis jenes absoluten Gutes spielt da keine Rolle. Es ist aber
wenig plausibel, daß die Vertreter der praktischen Künste alle mit-
einander ein so bedeutendes Hilfsmittel ignorierten und sich gar nicht
darum bemühten. Bedenklich stimmt auch folgende Überlegung : wel-
chen Nutzen soll ein Weber oder Zimmermann für sein Gewerbe haben,
wenn er jenes absolute Gut kennt? Oder: wie soll jemand ein besserer
Arzt oder Feldherr sein, wenn er sich in die Schau der fraglichen „ I d e e "
versenkt hat? Hat doch offenbar auch der Arzt nicht die ,, Gesundheit -
an-sich" im Auge, sondern die des Menschen, vielmehr die seines Pa-
tienten. Denn seine Kunst gilt dem einzelnen. Soviel über diese Pro-
bleme.
5. Wenden wir uns nun wieder zurück 3 zu dem Gut, dem unser Fragen
gilt, und suchen sein Wesen zu bestimmen. Sicherlich ist es jeweils
ein anderes bei jeder Handlung und bei jedem praktischen Können:
ein anderes in der Heilkunst, in der Feldherrnkunst, in den übrigen
Künsten. Welches ist nun das eigentliche Gut einer jeden? Ist es nicht
jenes, um dessentwillen alles andere unternommen wird? Bei der Heil-
kunst ist es die Gesundheit., bei der Feldherrnkunst der Sieg, bei der
Baukunst das Haus, bei anderen jeweils etwas anderes. Kurzum: bei
jeder Handlung und bei jedem Entschluß ist es das Ziel. Ihm gilt das
gesamte sonstige Handeln der Menschen. Wenn es also für alle denk-
baren Handlungen ein einziges Ziel gibt, so ist dies das Gut, das der

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Kapitel 4-5 13

Mensch durch sein Handeln erreichen kann. Gibt es dagegen mehrere


Ziele, so sind diese die erreichbaren Güter.
Auf anderen Wegen ist somit der Gedankengang an derselben Stelle 1
angelangt. Wir müssen nun versuchen, dies noch weiter zu klären. E s
gibt offenkundig mehrere Ziele. Manche wählen wir um weiterer Ziele
willen, z. B- Geld, Flöten 2 , überhaupt Werkzeuge. Nicht alle Ziele
also sind Endziele. Das oberste Gut aber ist zweifellos ein Endziel 3 .
Daher der Schluß: wenn es nur ein einziges wirkliches Endziel gibt,
so ist dies das gesuchte Gut, wenn aber mehrere, dann unter diesen
das vollkommenste. Als vollkommener aber bezeichnen wir ein Gut,
das rein für sich erstrebenswert ist gegenüber dem, das Mittel zu einem
anderen ist. Ferner das, was niemals im Hinblick auf ein weiteres Ziel
gewählt wird gegenüber dem, was sowohl an sich als auch zu Weiterem
gewählt wird. Und als vollkommen schlechthin bezeichnen wir das,
was stets rein für sich gewählt wird und niemals zu einem anderen
Zweck.
Als solches Gut aber gilt in hervorragendem Sinne das Glück. Denn 1097 b
das Glück erwählen wir uns stets um seiner selbst willen und niemals
zu einem darüber hinausliegenden Zweck. Die Ehre dagegen und die
Lust und die Einsicht und jegliche Tüchtigkeit wählen wir einmal um
ihrer selbst willen - denn auch ohne weiteren Vorteil würden wir jeden
dieser Werte für uns erwählen - sodann aber auch 4 um des Glückes
willen, indem wir annehmen, daß sie uns zum Glück führen. Das Glück
aber wählt kein Mensch um jener Werte - und überhaupt um keines
weiteren Zweckes willen.
Zu demselben Ergebnis 5 aber führt offenbar auch der Begriff der
Autarkie®. Denn bekanntlich genügt das oberste Gut für sich allein.
Den Begriff „für sich allein genügend" wenden wir aber nicht an auf
das von allen Bindungen gelöste Ich, auf das Ich-beschränkte Leben,
sondern auf das Leben in der Verflochtenheit mit Eltern, Kindern, der
Frau, überhaupt den Freunden und Mitbürgern; denn der Mensch
ist von Natur bestimmt für die Gemeinschaft 7 . Für diese Verflochten-
heit muß aber eine bestimmte Grenze gezogen werden. Denn wenn
man sie ausdehnt auf Vorfahren und Nachfahren und auf die Freunde
der Freunde, so kommt man ins Endlose. Doch dies ist erst später 8
zu untersuchen. Unter dem Begriff „für sich allein genügend" ver-
stehen wir das, was rein für sich genommen das Leben begehrenswert
macht und nirgends einen Mangel offen läßt. Wir glauben, daß das
Glück dieser Begriffsbestimmung entspricht und ferner, daß es

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14 Buch I

erstrebenswerter ist als alle anderen Güter zusammen, also nicht auf
eine Linie m i t den anderen gereiht. Denn es ist klar : bei einer solchen
E i n r e i h u n g 1 würde sich sein Wert f ü r uns durch das Hinzutreten auch
n u r des geringsten Gutes aus dieser Reihe erhöhen. Denn dieses Hin-
zutreten bedeutet ein Plus an W e r t u n d das größere G u t ist jeweils er-
strebenswerter. So erweist sich denn das Glück als etwas Vollendetes,
f ü r sich allein Genügendes : es ist das Endziel des uns möglichen Han-
delns.
6. Vielleicht ist aber die Gleichsetzung von Glück u n d oberstem Gut
n u r ein Gemeinplatz u n d es wird eine noch deutlichere Antwort auf
die Frage nach seinem Wesen gewünscht. Dem k a n n entsprochen
werden, indem m a n zu erfassen sucht, welches die dem Menschen eigen-
tümliche Leistung 2 ist. Wie nämlich f ü r den Flötenkünstler u n d den
Bildhauer u n d f ü r jeden Handwerker oder Künstler, kurz überall da,
wo Leistung u n d Tätigkeit gegeben ist, eben in der Leistung, wie m a n
annehmen darf, der Wert u n d das Wohlgelungene beschlossen liegt,
so ist das auch beim Menschen anzunehmen, wenn es ü b e r h a u p t eine
ihm eigentümliche Leistung gibt. Sollte es n u n bestimmte Leistungen
u n d Tätigkeiten f ü r den Zimmermann oder Schuster geben, f ü r den
Menschen als Menschen aber keine, sondern sollte dieser zu stumpfer
Trägheit geboren sein? Sollte nicht vielmehr so wie Auge, H a n d , F u ß ,
kurz jeder Teil des Körpers seine besondere F u n k t i o n h a t , auch f ü r
den Menschen über all diese Teilfunktionen hinaus eine bestimmte
Leistung anzusetzen sein? Welche n u n könnte das sein? Die bloße
F u n k t i o n des Lebens ist es nicht, denn die ist auch den Pflanzen eigen.
1098» Gesucht wird aber, was n u r dem Menschen eigentümlich ist. Auszu-
scheiden h a t also das Leben, soweit es E r n ä h r u n g u n d W a c h s t u m ist.
Als nächstes k ä m e dann das Leben als Sinnesempfmdung. Doch teilen
wir auch dieses gemeinsam mit Pferd, Rind und jeglichem Lebewesen.
So bleibt schließlich n u r das Leben als Wirken des rationalen Seelen-
teils 3 . - D i e s e r aber ist anzusehen teils als Gehorsam übend gegenüber
dem Rationalen, teils als das rationale Element besitzend und gei-
stige Akte vollziehend. - Da aber auch dieses (auf dem rationalen
Seelenteil beruhende) Leben in doppeltem Sinn zu verstehen ist, so
müssen wir uns d a f ü r entscheiden, d a ß das Leben als eigenständiges
Tätig-sein gemeint ist, denn dies trifft offenbar den Sinn des Begriffes
„ L e b e n " schärfer.
Wir nehmen n u n an, daß die dem Menschen eigentümliche Leistung
i s t : ein Tätigsein der Seele gemäß dem rationalen Element oder jeden-

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Kapitel 5-7 15

fails nicht ohne dieses, und nehmen ferner an, daß die Leistung einei
bestimmten Wesenheit und die einer bestimmten hervorragenden Wesen-
heit der G a t t u n g nach dieselbe ist, ζ. B. die eines Kitharaspielers
u n d die eines h e r v o r r a g e n d e n Kitharaspielers u n d so schlechthin in
allen Fällen - es wird hierbei einfach das Plus, das in der Vorzüglich-
keit der Leistung liegt, zu der L e i s t u n g h i n z u g e f ü g t : Leistung des
Kitharaspielers ist das Spielen des I n s t r u m e n t e s , Leistung des hervor-
r a g e n d e n K ü n s t l e r s das vortreffliche Spielen. I s t das n u n richtig u n d
setzen wir als A u f g a b e u n d Leistung des Menschen eine b e s t i m m t e
L e b e n s f o r m u n d als deren I n h a l t ein Tätigsein u n d W i r k e n der Seele,
g e s t ü t z t auf ein rationales E l e m e n t , als L e i s t u n g des h e r v o r r a g e n d e n
Menschen dasselbe, a b e r in vollkommener u n d b e d e u t e n d e r Weise,
u n d n e h m e n wir an, d a ß alles seine vollkommene F o r m gewinnt,
w e n n es sich i m Sinne seines eigentümlichen Wesensvorzugs e n t f a l t e t ,
so gewinnen wir schließlich als E r g e b n i s : das oberste d e m Menschen
erreichbare G u t stellt sich d a r als ein Tätigsein der Seele i m S i n n e 1
der ihr w e s e n h a f t e n T ü c h t i g k e i t . Gibt es a b e r m e h r e r e F o r m e n we-
s e n h a f t e r T ü c h t i g k e i t , d a n n i m Sinne der vorzüglichsten u n d voll-
endetsten.
Beizufügen ist noch : „ i n einem vollen M e n s c h e n l e b e n " 2 . D e n n eine
Schwalbe m a c h t noch keinen F r ü h l i n g u n d a u c h n i c h t ein T a g . So
m a c h t auch nicht ein T a g oder eine kleine Zeitspanne den Menschen
glücklich u n d selig. Dies also sei eine erste Skizze 3 des obersten G u t e s .
7. Man m u ß j a doch wohl zuerst die R o h f o r m h e r a u s a r b e i t e n u n d
d a n n k o m m e n die feineren Linienzüge. D a b e i k a n n wohl j e d e r leicht
das v o r a n b r i n g e n u n d schärfer gliedern, was in der G r u n d f o r m richtig
d a s t e h t . Auch ist die Zeit bei solchem W e r k eine treffliche Erfinderin
u n d Helferin - a u c h bei K u n s t u n d H a n d w e r k sind auf diese Weise
F o r t s c h r i t t e z u s t a n d e g e k o m m e n - d e n n das k a n n j e d e r : h i n z u f ü g e n
was noch fehlt.
Doch wollen wir uns auch der f r ü h e r 4 ausgesprochenen W a r n u n g
erinnern u n d Genauigkeit n i c h t in gleicher Weise bei allen Gegenstän-
d e n erstreben, sondern in j e d e m Fall n u r so, wie der gegebene Stoff es
g e s t a t t e t u n d bis a n die Grenze hin, die d e m G a n g der wissenschaft-
lichen U n t e r s u c h u n g g e m ä ß ist. E i n Z i m m e r m a n n ζ. B. u n d ein Mathe-
m a t i k e r b e s c h ä f t i g e n sich m i t d e m r e c h t e n Winkel in verschiedenem
Sinn. Der eine, soweit er i h m zur A r b e i t nützlich ist, der a n d e r e da-
gegen u n t e r s u c h t sein Wesen oder die Wesenseigenschaften, d e n n der
ist hingegeben a n die S c h a u 5 der W a h r h e i t . G e n a u so m u ß a u c h auf

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16 Buch I

den anderen Gebieten verfahren werden, auf daß nicht das Beiwerk
umfangreicher werde als das Werk,
loes b Auch die Frage nach der Ursache darf nicht überall in gleicher Weise
gestellt werden, sondern es genügt auf manchen Gebieten, wenn das
Daß richtig aufgezeigt wird, ζ. B. bei den Grundgegebenheiten - das
Daß aber ist ein Erstes oder eine Grundgegebenheit. Von den Grund-
gegebenheiten werden die einen durch Induktion erkannt, die anderen
durch Intuition, die dritten durch eine Art von Gewöhnung 1 und an-
dere wiederum auf andere Weise. An die einzelnen Grundgegeben-
heiten aber muß man heranzukommen 2 suchen auf dem Weg, der ihrer
Natur entspricht, und muß sich bemühen, sie richtig in ihrer Besonder-
heit zu bestimmen. Denn sie haben großes Gewicht für alles Weitere,
meint man doch, der Anfang sei mehr als die Hälfte 3 des Ganzen und
es falle von ihm her viel Licht auf die behandelten Fragen.
8. Die Untersuchung über unsere Grundgegebenheit (das Glück) muß
man indes nicht nur vom Formalen her führen, auf Grund unserer
Schlußfolgerung und unserer Prämissen 4 , sondern auch auf Grund
der traditionellen Meinungen, die darüber existieren. Denn mit der
Wahrheit sind alle Tatsachen im Einklang, zwischen Irrtum und
Wahrheit dagegen gibt es alsbald Mißklang.
Nun gibt es, wie bekannt, eine Dreiteilung 5 der Güter: man spricht
von äußeren, von seelischen und von leiblichen, wobei wir die seeli-
schen als Güter im strengsten und höchsten Sinne bezeichnen. Und
zwar ist es seelisches Handeln und Tätig-sein, das wir dem Bereich der
Seele zuweisen®. Also ist unsere Definition des obersten Gutes richtig,
zum mindesten sofern sie mit der genannten Tradition übereinstimmt,
die sich durch ihr Alter empfiehlt und auch von den Philosophen ge-
teilt wird.
Richtig ist sie auch deshalb, weil sie (gerade) ein bestimmtes Han-
deln und Tätig-sein als Endziel aufstellt. Denn auf diese Weise er-
scheint das Endziel unter den seelischen Werten und nicht etwa unter
den äußeren Gütern.
Ferner ist mit unserer Definition im Einklang der bekannte Satz, daß
der Glückliche gut lebe und gut handle, denn praktisch hatten wir j a d a s
Glück dem Sinne nach als gutes Leben und Wohlverhalten bezeichnet.
9. Aber auch die üblicherweise geforderten Elemente des Glücks schei-
nen alle miteinander in unserer Definition vorzukommen. Denn für die
einen ist Glück so viel wie sittliche Vortrefflichkeit, für andere ist es
die Einsicht und für die dritten etwa die Weisheit des Philosophen.

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Kapitel 7 - 9 17

Wieder andere fügen den genannten Elementen oder einzelnen davon


das Moment bei : „in Verbindung mit der Lust" oder machen die Lust
zur unerläßlichen Bedingung 1 . Und endlich nehmen manche noch das
äußere Gedeihen mit hinzu. Von diesen Ansichten ist ein Teil vielfach
verbreitet und stammt aus alter Tradition, teils sind ihre Vertreter
gering an Zahl, aber von ausgezeichnetem Rufe. In beiden Fällen ist
es unwahrscheinlich, daß die Meinungen ganz und gar verfehlt sind,
vielmehr werden sie wenigstens in einer, unter Umständen sogar in
sehr vielen Beziehungen das Richtige treffen.
Mit denen nun, die das Glück als sittliche Vortrefflichkeit oder
irgendeinen der sittlichen Vorzüge bezeichnen, stimmt unsere De-
finition überein, denn zu sittlicher Trefflichkeit gehört das Tätigsein
in ihrem Sinn. Der Unterschied ist gewiß nicht klein: ob man das
oberste Gut im Besitzen oder Benützen, in einem Zustand oder in
aktiver Verwirklichung erkennt. Denn ein Zustand kann vorhanden 1099 a
sein, ohne daß etwas Wertvolles dabei herauskommt, ζ. B . bei einem
Menschen, der schläft 2 oder sonstwie in völliger Dumpfheit vegetiert.
Beim aktiven Verwirklichen dagegen kann das nicht vorkommen, denn
dies heißt : mit Notwendigkeit handeln, wertvoll handeln. Wie bei den
Festspielen von Olympia nicht die den Siegeskranz erringen, die am
schönsten und stärksten aussehen, sondern die Kämpfer - denn aus
ihren Reihen treten die Sieger - , so gelangen auch zu den Siegespreisen
des Lebens nur die Menschen, die richtig handeln.
Deren Leben ist auch in sich selbst voll Freude. Die Freude gehört
nämlich zu den seelischen Zuständen. Gegenstand der Freude aber
ist für jeden das wovon er „Liebhaber" ist. Zum Beispiel ein Pferd
für den Pferdeliebhaber, ein Schaustück für den Liebhaber solcher
Darbietungen. Genau so gerechtes Handeln für den Freund der Ge-
rechtigkeit, generell gesagt: sittliches Handeln für den Freund sitt-
licher Trefflichkeit. Für die gewöhnlichen Leute liegen die einzelnen
Freuden miteinander im Streite, weil sie nicht von Natur Freuden
sind. Der Freund des Edlen dagegen hat seine Freude nur an Dingen,
denen der Charakter des Freudebringenden von Natur zukommt. Das
ist der Fall bei den sittlich wertvollen Handlungen: sie sind daher
freudevoll sowohl für die Freunde des Edlen als auch in sich. Deren
Leben bedarf somit in keiner Weise der Freude wie eines Schmuck-
stücks zum Umhängen, sondern es hat die Befriedigung in sich selbst.
Dem Gesagten ist nämlich noch beizufügen, daß von „sittlich wert-
voll" überhaupt nicht die Rede sein kann, wenn jemand keine Freude

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18 Buch I

an edlem Handeln h a t : niemand k a n n als gerecht bezeichnet werden,


wenn er nicht Freude h a t an gerechtem T u n , u n d niemand als groß-
zügig ohne Freude an großzügigem Handeln. Und so ist es auch in den
übrigen Fällen. I s t dies aber richtig, so sind sittliche Handlungen in
sich freudevoll. Aber nicht n u r dies, sondern auch wertvoll u n d schön
u n d zwar beides im höchsten Grade, wenn anders der vollendete Re-
p r ä s e n t a n t 1 edlen Lebens zutreffend hierüber urteilt. E r t u t es aber
tatsächlich im eben ausgesprochenen Sinn. So ist also das Glück höch-
stes und schönstes und freudevollstes Gut und diese drei Begriffe lassen
sich gar nicht trennen, wie es die b e k a n n t e I n s c h r i f t 2 auf Delos möchte :
„Schönster Schmuck ist gerecht sein. Bester Besitz die Gesundheit.
Süßeste Freude ist dies : wenn m a n gewinnt, was m a n liebt."
All diese Bestimmungen nämlich sind den höchsten Formen des Tätig-
seins eigen. I n diesen Formen aber, oder falls eine von ihnen die aller-
edelste ist, in dieser einen, erkennen wir das Glück.
Indes gehören zum Glück doch auch die äußeren Güter, wie wir
gesagt 3 haben. Denn es ist unmöglich, zum mindesten nicht leicht,
durch edle T a t e n zu glänzen, wenn m a n über keine Hilfsmittel ver-
i099b f ü g t . L ä ß t sich doch vieles n u r mit Hilfe von Freunden, von Geld und
politischem Einfluß, also gleichsam durch Werkzeuge, erreichen. Fer-
ner : es gibt gewisse Güter, deren Fehlen die reine Gestalt des Glückes
t r ü b t , zum Beispiel edle Geburt 4 , prächtige Kinder, Schönheit; denn
mit dem Glück des Mannes ist es schlecht bestellt, der ein ganz ab-
stoßendes Äußeres oder eine niedrige H e r k u n f t h a t oder ganz allein
im Leben steht u n d kinderlos 5 ist. Noch weniger k a n n m a n von Glück
sprechen, wenn j e m a n d ganz schlechte Kinder oder Freunde besitzt
oder gute durch den Tod verloren h a t . Wie gesagt, gehören also zum
Glück doch auch solch freundliche Umstände, weshalb denn manche
die Gunst der äußeren Umstände auf eine Stufe stellen mit dem Glück
- während andere der sittlichen Trefflichkeit diesen Platz geben.
10. Daraus erwächst n u n auch die Frage, ob m a n glücklich werden
k a n n durch Lernen 6 oder Gewöhnen oder sonstwie durch Übung oder ob
uns das Glück zuteil wird durch eine Gabe der Gottheit oder etwa
gar durch Zufall. Wenn es n u n ü b e r h a u p t ein Geschenk der Götter
an die Menschen gibt, so k a n n folgerichtig auch das Glück eine Gabe
der Gottheit sein und zwar u m so eher, als es unter den menschlichen
Gütern das wertvollste ist. Die Antwort darauf gehört allerdings mehr
in eine andere Untersuchung. Doch ist soviel k l a r : selbst wenn uns
das Glück nicht von den Göttern gesandt wird, sondern durch ethi-

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Kapitel 9-10 19

sches Handeln und in gewisser Weise durch Lernen und Üben zuteil
wird, so gehört es doch zu den göttlichsten Gütern. Denn als Kampf-
preis und Ziel der ethischen Trefflichkeit ist es ein höchster Wert,
göttlich und selig.
Das Glück ist aber gewiß auch ein Gemeingut für viele, denn allen
steht die Möglichkeit dazu offen, wenn sie nur in bestimmter Weise
lernen und sich sorgfältig bemühen - mit Ausnahme allerdings derer,
die für sittliche Vollkommenheit gleichsam verstümmelt sind. Wenn
es aber wertvoller ist auf diese Weise als durch baren Zufall glücklich
zu sein, so darf man annehmen, daß es sich tatsächlich so verhält,
liegt es doch im Wesen der Dinge, die an das Wirken der Natur ge-
bunden sind, möglichst vollkommen zu sein. Das gilt auch für das, was
menschliche Absicht und jede Ursächlichkeit bewußt schafft und ganz
besonders für das, was an das Wirken der höchsten Ursächlichkeit 1
gebunden ist. Gerade das Erhabenste und Herrlichste dem Zufall an-
heimzustellen wäre ein arger Mißgriff.
Auch aus unserer Definition des Glücks fällt übrigens einiges Licht
auf die vorliegende Frage. Wir haben es ja bezeichnet 2 als eine genau
charakterisierte „Tätigkeit der Seele im Sinne der ihr wesenhaften
Tüchtigkeit". Dazu müssen dann von den übrigen Gütern die einen
mit Notwendigkeit als Grundbedingung des Glücks vorgegeben sein,
die anderen sind ihrem Wesen nach als Hilfsmittel und Werkzeug von
Nutzen. Dies deckt sich denn auch mit dem eingangs Gesagten. Dort 3
haben wir ja das Ziel der Staatskunst als das höchste erkannt. Diese
aber trifft ganz besonders Anstalten dafür, die Bürger zu formen, d. h.
sie gut zu machen und fähig zu edlem Handeln.
Natürlich können wir nun weder Rind noch Pferd noch sonst ein
Tier als „glücklich" bezeichnen, denn keines kann Anteil bekommen nooa
an einem Tätigsein, wie wir es beschrieben haben. Aus demselben
Grund kann auch ein Kind nicht „glücklich" heißen, denn es ist noch
gar nicht fähig in solchem Sinne zu handeln, weil es zu jung ist. Und
wenn man Kinder dennoch glücklich nennt, so geschieht dies, weil
man hofft. Denn wie gesagt 4 : das Glück setzt ethische Vollkommen-
heit voraus und ein Vollmaß des Lebens. Denn mancherlei Wandel
stellt sich ein im Laufe eines Lebens und Zufall in jeder Gestalt und
es kann, wer eben noch in blühendem Glücke war, im Alter in schweres
Unheil stürzen, wie das Heldenepos über Priamos zu berichten weiß.
Wer aber solche Laune des Glücks erfahren und in Jammer geendet
hat, den wird niemand als glücklich bezeichnen.

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20 Buch I

11. Darf man auch sonst keinen Menschen glücklich nennen, solange
er lebt? 1 Muß man vielmehr nach dem Satze des Solon 2 auf das Ende
sehen? Und lassen wir den Satz einmal gelten, - wäre daraus der
Schluß zu ziehen, daß man nach dem Tode dann auch wirklich glück-
lich ist? Oder ist dies nicht völlig widersinnig, besonders für uns, die
wir das Glück doch als ein Tätigsein erklären? Wenn wir aber den
Toten nicht glücklich nennen und der Sinn des solonischen Satzes
nicht dies ist, sondern daß man erst dann einen Menschen mit Sicher-
heit glücklich preisen darf, wenn er endlich der Einwirkung von Un-
heil und Mißgeschick entzogen ist, so stellt uns auch dies noch vor
ungeklärte Fragen. Es ist nämlich eine verbreitete Ansicht, daß es
auch für den Toten noch Böses und Gutes gibt, im selben Sinne wie
für einen Lebenden, dem es nicht zum Bewußtsein kommt: ζ. B. per-
sönliche Ehre und Unehre oder Wohlergehen und Mißgeschick der
Kinder, allgemein ausgedrückt, der Nachkommen. Und auch hier ist
eine ungelöste Frage. Wer nämlich bis ins Alter hinein im Vollbesitz
des Glückes gelebt und einen Tod gefunden hat, der diesem Leben ent-
sprach, der kann noch in seinen Nachkommen von mancherlei Un-
glück getroffen werden : die einen können wohl geraten und ein Leben
finden, wie sie es verdienen, den andern kann es gerade umgekehrt
ergehen - wobei natürlich auch im Hinblick auf den Generationen-
abstand starke Verschiedenheiten in deren Schicksal auftreten kön-
nen. D i wäre es nun in der Tat eine merkwürdige Vorstellung, wenn
der Tote dieses ganze Hin und Her noch mitzumachen hätte und also
bald glücklich, bald unglücklich würde. Merkwürdig wäre es aber auch
andererseits, wenn das Geschick der Nachfahren überhaupt nicht,
auch nicht für eine gewisse Zeitspanne, auf die Vorfahren zurück-
wirken sollte.
Doch nun zurück zu unserer Ausgangsfrage 3 . Vielleicht bringt deren
Lösung auch Klarheit für unser gegenwärtiges 4 Bedenken. Man muß
also „auf das Ende sehen" und darf dann von niemandem sagen „er
ist glücklich", sondern „-er war glücklich". Dabei ist aber folgendes
unbegreiflich : während ein Mensch sich tatsächlich im Glück befindet,
iioob soll die Aussage „er ist glücklich" nicht gestattet sein, nur weil man
sich scheut einen Lebenden glücklich zu nennen mit Rücksicht auf
mögliche Veränderung und weil es als Grundsatz gilt, daß echtes
Glück etwas Dauerhaftes und nur schwer ins Wanken Geratendes ist,
während Zufallsglück sich um den einzelnen oft in förmlichem Kreis-
lauf dreht. Denn soviel ist klar: wenn wir dieses Wechselspiel des

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Kapitel 11 21

Glücks mitmachten, so h ä t t e n wir häufig ein u n d denselben Menschen


bald als glücklich bald als unglücklich anzusprechen und wir machten
den Glücklichen zu einer Art von Chamäleon und zu einer Figur, die
auf brüchiger Basis steht. Oder ist es ü b e r h a u p t schief, sich an das
Wechselspiel des Glücks zu kehren? Denn nicht darauf beruht das
Wohl oder Wehe: das Leben des Menschen bedarf dessen zwar zu-
sätzlich, wie wir gesagt 1 haben, aber entscheidend für das echte Glück
ist die Verwirklichung sittlicher Vollkommenheit, während das Ge-
genteil zum Unglück f ü h r t .
Unsere Definition des Glücks wird nun bestätigt durch die Lösung
der eben behandelten Frage. Denn bei keiner menschlichen Leistung
ist soviel ruhige Beständigkeit gewährleistet wie bei den Betätigungen
sittlicher Trefflichkeit - diese gelten sogar noch als dauerhafter denn
die Wissenschaften - und von den erwähnten Betätigungen haben die
höchsten 2 Formen die unbeschränkteste Dauer, denn in ihnen erfüllt der
Glückselige ganz besonders tief u n d unablässig den Sinn seines Le-
bens. Dies ist wohl auch der Grund dafür, daß es hier kein Absinken
in das Vergessen gibt. Der Glückliche wird also in der T a t die gesuchte
Beständigkeit des Glücks besitzen und wird so wie er ist sein ganzes
Leben bleiben. Denn wenn nicht immer, so doch meistens, wird er in
T a t oder geistiger Schau die sittlichen Werte verwirklichen. Und die
Wechselfälle des Lebens wird er am edelsten tragen, gemessenen Sin-
nes in jedem Betracht, durch und d u r c h : ein w a h r h a f t wertvoller
Mann steht er da, „vierkantig 3 , ohne Tadel".
Vieles bringt der Zufall, unterschiedlich, Großes und Kleines. Das
Kleine, sei es ein Glücksfall, sei es das Gegenteil, greift das Gleich-
gewicht des Lebens gewiß nicht an. Dagegen k a n n Großes und häufig
Auftretendes, sofern es sich zum Guten entwickelt, das Leben noch
glücklicher machen - es ist ja nicht nur als solches dazu geschaffen,
das Leben verschönern zu helfen, sondern es k a n n auch der Gebrauch,
den m a n davon macht, Edles u n d Wertvolles zeitigen - schlägt es aber
zum Gegenteil aus, so drückt und t r ü b t es die Glücksempfindung;
denn es bringt K u m m e r und h e m m t so manchen Ansatz zur T a t . Und
dennoch b r i c h t auch darin der Glanz edlur H a l t u n g durch, wenn der
Mensch zahlreiche schwere Schläge des Schicksals gelassen t r ä g t , nicht
aus s t u m p f e m Sinn, sondern weil er edlen Blutes ist u n d großgesinnt.
Wenn aber das Tätigsein dem Leben seinen Charakter gibt, wie wir
gesagt haben, so k a n n ein glücklicher Mensch nicht ins Elend kommen,
denn niemals, so dürfen wir erwarten, t u t er etwas, was zu verab-

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22 Buch I

noia scheuen und minderwertig ist. Wir denken, d a ß der wirklich tüchtige
u n d besonnene Mann jedwede Wendung des Lebens in vornehmer
H a l t u n g t r ä g t und aus dem jeweils Gegebenen das denkbar Beste ge-
staltet. E r handelt wie etwa der große Feldherr: dieser holt aus dem
Heer, das ihm zur Verfügung steht, das Beste heraus für die Entschei-
dung des Krieges, der tüchtige Schuster fertigt aus dem Leder, das
er zur H a n d h a t , das schönste Schuhwerk, und so machen es die Hand-
werker alle. Ist das richtig, so k a n n der Glückliche allerdings niemals
ins Elend kommen, freilich aber auch nicht zur Vollform des Glückes,
wenn ihn nämlich ein Los trifft wie König Priamos.
Sein Wesen ist aber auch nicht fahrig und anfällig für Veränderung.
Aus dem festen Zustand des Glücks wird ihn so leicht nichts verdrän-
gen, und wenn, dann nicht ein gewöhnlicher Schlag des Schicksals,
sondern n u r ein harter und wiederholter. Andererseits k a n n er aus
solchem Unglück auch nicht in kürzester Frist wieder zurückfinden zum
Glück, sondern wenn ü b e r h a u p t , d a n n nur nach vielen u n d erfüllten
J a h r e n , wenn ihm in ihrem Verlauf Erfolg u n d Ehre zuteil geworden
ist.
Was hindert also zu sagen : Glücklich ist, wer im Sinne vollendeter
Trefflichkeit t ä t i g u n d dazu hinreichend mit äußeren Gütern ausge-
s t a t t e t ist — u n d zwar nicht in einer zufälligen Zeitspanne, sondern
so lange, daß das Leben seinen Vollsinn erreicht? Oder m u ß der Zu-
satz l a u t e n : „ U n d wer diese Lebensform beibehalten u n d einen ent-
sprechenden Tod haben wird", da uns j a die Z u k u n f t verschleiert ist
u n d wir das Glück als Endziel setzen, als etwas in jedem Betracht,
durch u n d durch Voll-endetes? Steht dies fest, so werden wir als glück-
liche Menschen jene Lebenden bezeichnen dürfen, bei denen die ge-
n a n n t e n Elemente vorhanden sind u n d vorhanden sein werden - wir
sagten „glückliche Menschen": der Nachdruck liegt allerdings auf
„Menschen".
Soviel über diese Probleme. D a ß jedoch die Schicksale der Nach-
kommen u n d der ganzen Schar unserer Freunde auch nicht das ge-
ringste f ü r das Glück ausmachen sollen, das zeugt von wenig Gemüt
u n d widerspricht der üblichen Anschauung. N u n sind aber die Dinge,
die dem Menschen zustoßen können, zahlreich und zeigen alle mög-
lichen Unterschiede. Die einen kommen näher an uns heran, die an-
deren weniger. So ist eine Diskussion der Sonderfälle langwierig u n d
möchte sich im Uferlosen verlieren. Es genügt wohl im allgemeinen
Umriß davon zu sprechen. Wenn nun von den persönlichen Schick-

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Kapitel 11-12 23

salsschlägen die einen mit drückender Wucht auf dem Leben lasten,
die anderen dagegen verhältnismäßig erträglich scheinen, es genau so
unterschiedlich auch bei Unglück im gesamten Freundeskreise ist,
und wenn da ein Unterschied besteht, ob eine schmerzliche Erfahrung
jeweils einen Lebenden oder einen Toten trifft - ein Unterschied, viel
stärker als ζ. B. der, ob bei Tragödienaufführungen ungesetzliche und
grauenvolle Geschehnisse der eigentlichen Handlung vorausliegen oder
wirklich auf die Bühne kommen - , so muß auch ein derartiger Unter-
schied entsprechend gewürdigt werden oder eher vielleicht noch die
Tatsache, daß Zweifel darüber möglich sind, ob die Abgeschiedenen
an irgendeinem Gut oder irgendeinem Übel Anteil haben können, noib
Denn das Ergebnis dieser Überlegungen scheint zu sein: selbst wenn
etwas bis zu den Toten dringt, Gutes oder das Gegenteil, so kann es,
absolut genommen oder in der Beziehung auf die Toten, nur Schwa-
ches und Geringfügiges sein. Ist es dies aber nicht, so kann es nach
Menge und Art nur so sein, daß es weder Unglück in Glück verwandeln
noch einen bestehenden Glückszustand wegnehmen kann. Also : irgend-
einen Einfluß auf die Abgeschiedenen scheint das Wohlergehen der
Freunde, desgleichen auch deren Mißgeschick, zu haben. Art und Grad
dieses Einflusses ist aber so, daß weder der Glückliche unglücklich
gemacht noch irgendeine andere derartige Änderung bewirkt wird.
12. Nach der Behandlung dieser Probleme wenden wir uns zu einer
neuen Frage 1 . Gehört das Glück zu den Werten, die wir nur lobend
anerkennen oder vielmehr zu denen, die höchsten Preises würdig sind ?
Zu den bloßen Möglichkeiten gehört es j a ohnehin nicht. Nun ist doch
offenbar alles lobend Anerkannte kraft einer bestimmten Beschaffen-
heit oder Bezogenheit anerkannt. Denn wir loben den Gerechten 2 , den
Tapferen, kurz den ethisch wertvollen Menschen und die ethische Hoch-
wertigkeit auf Grund der Handlungen und Leistungen, den Athleten
hinwiederum und den Wettläufer und so weiter, weil er von Natur eine
bestimmte Beschaffenheit hat und in bestimmter Beziehung zu Wert
und Leistung steht. Dies wird klar auch aus den Lobreden auf die
Götter. Macht es doch einen komischen Eindruck, daß die Götter in
Beziehung zu uns gesetzt werden. Gerade das tritt aber ein, weil Lob
durch ein In-Beziehung-setzen zustande kommt, wie wir gesagt haben.
Bezieht sich nun das Lob in der Tat auf Dinge wie wir sie genannt
haben, so ist klar, daß es bei obersten Werten kein Loben geben kann,
sondern nur etwas Höheres und Besseres. Und dies lehrt auch die Er-
fahrung. Denn es sind ja eben die Götter, die wir selig und glücklich

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24 Buch I

preisen, und selig preisen wir auch, jene Menschen, bei denen das Gött-
liche ganz besonders in Erscheinung tritt. Ähnlich halten wir es bei den
obersten Werten. Denn niemandem fällt es ein, das Glück zu loben so
wie man etwa die Gerechtigkeit lobt, sondern man zollt ihm höchsten
Preis, weil es in besonderem Sinne göttlich und wertvoll ist.
Auch Eudoxos 1 gilt als ein trefflicher Anwalt für den Anspruch, den
die Lust auf den Siegespreis erhebt. Daß sie nämlich, obgleich zu den
Gütern gehörig, nicht gelobt werde, sah er als Hinweis darauf an, daß
sie über die Dinge erhaben sei, denen man Lob spendet, und von sol-
cher Art sei die Gottheit und der oberste Wert, denn in Beziehung auf
diese (die Gottheit und den obersten Wert) werde auch alles andere
gewertet.
Das Lob gilt nämlich der sittlichen Trefflichkeit (nicht dem Glück),
denn von ihr her wird man befähigt sittlich zu handeln, und das En-
komion gilt den Leistungen des Leibes wie des Geistes. Doch sind hier
für genauere Unterscheidungen eher die Spezialisten der Enkomien 2 -
t i02a Technik zuständig - uns ist aus dem Gesagten klar geworden, daß das
Glück zu dem gehört, was höchsten Preises würdig und vollkommen
ist. Dies ist auch deshalb richtig, weil das Glück eine Grundgegeben-
heit darstellt, denn auf das Glück richten wir alle all unser sonstiges
Tun. Was aber Grundgegebenheit ist und Ursache der Güter, dem er-
kennen wir höchsten Preis und göttlichen Rang zu.
13. Nachdem das Glück ein Tätigsein der Seele ist im Sinne der ihr
wesenhaften Tüchtigkeit, haben wir nunmehr die „Tüchtigkeit" zu
Setrachten. A.uf diese Weise werden wir dann wohl auch eine noch bes-
sere Einsicht in das Wesen des Glücks gewinnen. Bekanntlich widmet
auch der echte Staatsmann 3 der Tüchtigkeit seine besondere Mühe.
Denn sein Anliegen ist, die Bürger tüchtig und gehorsam gegen die
Gesetze zu machen. Als Beispiel dafür haben wir die Gesetzgeber der
Kreter und Spartaner 4 - und es mag auch noch einige andere dieser
Art gegeben haben. Wenn aber dieses Anliegen (des Staatsmanns)
zur Wissenschaft vom Staat gehört, so entwickelt sich die Unter-
suchung offenbar gemäß dem ursprünglichen Plan. Es ist aber ohne
weiteres klar, daß unter der Tüchtigkeit, von der wir zu sprechen
haben, nur die des Menschen zu verstehen ist. Denn das Gut, das wir
suchten, war ja das Gut für den Menschen und das Glück mensch-
liches Glück.
„Tüchtigkeit des Menschen" bedeutet nicht die des Leibes, sondern
die der Seele, und auch das Glück bezeichnen wir als ein Tätigsein der

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Kapitel 12-13 25

Seele. Dann muß aber selbstverständlich der Staatsmann in gewissem


Umfang vom Seelischen Kenntnis haben, genau so wie der Arzt 1 , der
die Augen heilen will, den Körper als Ganzes kennen soll, - der erstere
umso mehr, je weiter die Staatskunst an Geltung und Wert die Kunst
des Arztes überragt. In den Reihen der Ärzte bemühen sich übrigens
häufig gerade die geistig hochstehenden um theoretische Kenntnis des
Leibes. Also: auch der Staatsmann muß sich eine theoretische Vor-
stellung von der Seele schaffen, er muß es tun um des genannten Zieles
willen und bis zu einem Grade, der für unsere Probleme genügt, denn
ein genaueres Eindringen in die Einzelheiten erfordert vielleicht mehr
Arbeit, als für die gegenwärtige Aufgabe notwendig ist.
Über Seelenkunde findet man einiges auch in den exoterischen2
Schriften gesagt. Das ist ausreichend und man soll es benützen: in
erster Linie die Teilung3 der Seele in ein irrationales und ein ratio-
nales Element. Freilich, ob diese beiden von einander geschieden sind
wie die Teile des Körpers oder Teilbares überhaupt oder ob dies eine
rein definitorische Zweiheit ist, während sie von Natur untrennbar
sind, wie etwa beim Kreisbogen konvex und konkav - diese Frage ist
für den gegenwärtigen Zweck unerheblich. Ein Teil nun des Irratio-
nalen ist (allem Lebenden) gemeinsam und hat vegetative Wirksam-
keit, ich meine die Ursache von Ernährung und Wachstum, denn eine
solche Wirkkraft der Seele muß man wohl bei allen Organismen
voraussetzen, die Nahrung aufnehmen, auch bei den Embryos, und 1102b
ebendieselbe auch bei ausgebildeten Organismen - dieselbe, denn das
ist logischer als letzteren irgendeine andere K r a f t zuzuschreiben.
Die „Tüchtigkeit" dieser Wirkkraft scheint (allem Lebenden) ge-
meinsam zu sein, sie ist nicht spezifisch menschlich, denn dieser Teil,
diese K r a f t , wirkt erfahrungsgemäß vor allem im Schlaf, gerade in
diesem aber zeigt sich am wenigsten deutlich, ob ein Mensch tüchtig
oder minderwertig ist. Daher das Dictum, daß ihr halbes Leben lang
der Glückliche und der Unglückliche sich gar nicht unterscheiden las-
sen. Ganz klar: denn eine Indolenz der Seele ist der Schlaf in Hinsicht
auf die Prädikate „ g u t " oder „schlecht". Es kann höchstens vorkom-
men, daß in beschränktem Umfang irgendwelche BewegungsVorgänge
doch zur Seele durchdringen, und da sind nun freilich die Traumvor-
stellungen 4 der Guten besser als die der gewöhnlichen Leute. Doch
nun genug davon. Wir dürfen das Ernährungsvermögen auf sich be-
ruhen lassen, da es seinem Wesen nach an dem Wertcharakter des
Menschen keinen Anteil hat.

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26 Buch I

Nun gibt es aber eine zweite Naturanlage der Seele, irrational auch
sie, aber irgendwie doch teilhabend an dem rationalen Element. Wir
treffen sie an bei (lern beherrschten wie auch bei dem unbeherrschten
Menschen. Bei ihnen sprechen wir nämlich mit Anerkennung von dem
Rationalen und von dem Seelenteil, der das rationale Element besitzt :
dieses gibt nämlich richtige Antriebe und leitet zu wertvollen Zielen.
Es zeigt sich aber bei beiden noch eine weitere Kraft, die wesenhaft
wider das rationale Element gerichtet ist, die mit ihm kämpft und
sich dagegenstemmt. Ein passendes Beispiel sind die gelähmten Glie-
der eines Leibes: will man sie nach rechts bewegen, so geraten sie ent-
gegengesetzt nach links. Geradeso ist es bei der Seele: da wenden sich
die Triebe des Unbeherrschten in die dem Rationalen entgegengesetzte
Richtung. Nur daß wir beim Leibe die verkehrte Richtung wahrneh-
men, bei der Seele aber nicht. Trotzdem zwingt sich uns die Erkennt-
nis auf, daß genau so auch in der Seele etwas waltet, was wider das
rationale Element ist, ein Gegensätzliches, Widerspenstiges. In wel-
schem Sinn dies freilich etwas anderes ist, braucht uns hier nicht zu
beschäftigen. Am Rationalen scheint auch dieses teilzuhaben, wie
wir oben 1 sagten. Jedenfalls leistet es beim beherrschten Menschen
dem rationalen Elemente Gehorsam. Und noch williger ist es dazu be-
reit bei dem Besonnenen und Tapferen: hier ist volle Harmonie mit
dem rationalen Element.
So hat sich denn erwiesen, daß (gleich der ganzen Seele) auch das
Irrationale zweifacher Art ist : da ist erstens die vegetative Grundlage,
die keinerlei Anteil hat am Rationalen, und zweitens das Begehrungs-
vermögen - mit einem umfassenden Ausdruck: das Strebevermögen.
Dieses hat in bestimmter Weise Anteil am rationalen Element, inso-
fern es auf dieses hinzuhören und ihm Gehorsam zu leisten vermag. In
diesem Sinne sagen wir denn auch : „ich habe ein rationales Verhältnis
zum Rate des Vaters oder der Freunde" ( = ich gehorche ihm), meinen
das also nicht so wie: „ich habe ein rationales Verhältnis zu Gegen-
ständen der Mathematik" ( = ich beherrsche sie intellektuell). Daß
übrigens das Irrationale sich in gewissem Sinne vom Rationalen be-
stimmen läßt, darauf weist schon die Tatsache des Mahnens 2 hin so-
lios a wie jegliche Form des Zurechtweisens und Aufmunterns. Wenn man
nun also sagen muß, daß auch diese seelische Kraft (das Strebever-
mögen) ein rationales Element in sich trägt, so muß auch jener (zweite)
Teil der Seele, nämlich der rationale, einen Doppelcharakter haben:
ein Teil hat das Rationale im eigentlichen Sinn und in sich selbst

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Kapitel 13 27

während ein zweiter das Vermögen besitzt „hinzuhören" so wie ein


Kind auf den Vater hört.
Nach dieser Unterscheidung wird nun auch die sittliche Trefflichkeit
untergeteilt. Wir sprechen nämlich teils von Vorzügen des Verstandes
(dianoëtische 1 ), teils von Vorzügen des Charakters (ethische). Die
Weisheit (des Philosophen), Intelligenz und sittliche Einsicht sind Ver-
standesvorzüge, Großzügigkeit und Besonnenheit sind Charakter-
werte. Wenn wir nämlich den Charakter eines Menschen bezeichnen,
so sagen wir nicht, er ist weise oder intelligent, sondern, er ist von
vornehm-ruhigem Wesen oder besonnen. Allerdings loben 2 wir auch
den Weisen wegen seiner (geistigen) Haltung. Haltungen aber, die
uns zu Lob veranlassen, nennen wir Wesensvorzüge.

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