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24 DER \VEG N A C H KABUL 1977

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PETER WEIBEL

Zur Aktionskunst von Günter Brus


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Es gibt selten Beispiele von Kunst,'’wie die Aktionen von Argumentation, mit der Brus anerkanntes zeitgenôssisches
Günter Brus, welche den tief verborgenen Pol der Kunst Kunstdenken und -wollen zu Ende dachte, vor dessen Kon-
aufspüren, in einer revolutionâren Pulsation fast entkernen sequenzen nur die Umwelt zurückschreckte. Brus hat
und dennoch der Idee der Kunst bei gleichzeitiger Vernich- damais einen Ausweg und eine Lôsung gefunden, deren
tung ihres Pois der Mâchtigkeit eine neuartige Position und Geschichtsmâchtigkeit erst viel spâter entdeckt wurde. Er
einen Sinn, tiefer und stârker als zuvor, verleiken. Brus bat hat als erster und am deutlichsten die Verselbstândigung des
mit seinen Aktionen das paradoxe Kunststück zuwege Kôrpers als Konsequenz der vom Informel eingeleiteten
gebracht, den Kern der Kunst fast zu liquidieren und dabei Kette von Verselbstândigungen der malerischen Elemente
mit einer unvorstellbaren Strenge und Kraft, der Logik der erkannt.
Kunst selbst folgend, der Kunst einen kompakteren Kern zu Als Brus 1964 erstmals eine Selbstbemalung durchführte,
geben. Indem er mit seinem Leib der Kunst zu Leibe rückte, war die klassische Ontologie der Kunst, wo Skulptur für
hat er sie fast ausgelôscht und gerade erst dadurch in der ver- Sein und Malerei für Schein stand und Kunst insgesamt
ânderten historiscben Situation der Kunst selbst wiederum Schein war, verglichen mit dem Sein der Wirklichkeit,
eine neue zwingende Legitimitât ermôglicht. Das Künstleri- durch das Werk einiger Künstler bereits aufgebrochen. Die
sche bei diesem Vernichtungswerk der Kunst ist darin zu klassischen Grenzen, Differenzen und Identitâten des
begreifen, dafi er dabei aus einem grofien Feld gerade der Kunstwerkes und der Kunstgattungen waren durch eine
wichtigsten und kostbarsten bistorischen und zeitgenôssi- Reihe von Widersprüchen, Verwjschungen und Uberschrei-
scben Traditionen schôpfte, die seine Aktionen nicht zu tungen zu Beginn der sechziger Jahre verunsichert, wenn
Beispielen von Anti-Kunst machen, sondem im Gegenteil nicht gar aufgehoben.
zu den reinsten und zentralsten Formen der Kunst selbst, Jasper Johns und Frank Stella hatten die Grenzen zwischen
wie ein Exkurs in die zeitgenôssische Astbetik zeigen wird. Malerei und Plastik verunsichert, indem sie zwischen Bild
Indem er die Kunst fast erdrückte mit dem Gewicht seines und Objekt Antinomien und Ambivalenzen errichteten.
Leibes und der RadikaHtât seiner Aktionen, hat er sie erst Johns sagte zu seinen Flaggen- und Schieflscheiben-Bildern:
zum Uberleben befâhigt. Indem er die Kunst radikal in «Wenn das Gemâlde ein Objekt ist, dann kann das Objekt
Frage stellte, hat er sie erst instand gesetzt, auf Fragen wie- ein Gemâlde sein«. Eine Fahne (Objekt) kann zu einem Bild
der antworten zu kônnen. Indem er mit der Axt sicb selbst (der Fahne) werden und das Abbild wiederum zum Ding.
zu Leibe rückte, ist er mit der Axt an die Wurzeln von Dieser Identitâtskonflikt zwischen objektualer und maleri-
Kunst und Kultur gegangen, an die morschen Wurzeln einer scher Existenz konnte einerseits reduziert werden durch
ausgelaugten, sozial bis ins Lâcberliche und Uberflüssige shaped canvases, w o eine Identitât von Bildbegrenzung und
finalisierten Kunst allerdings. So hat er, indem er zeichen- bildimmanenter Struktur angestrebt wurde, konnte aber
kritisch Hand an unsere bestehende Kultur legte, der Kunst andrerseits auch ausgedehnt werden auf einen Identitâtskon­
den Schauplatz ihrer Souverânitât erst gelegt. Der nackte flikt zwischen malerischer und realer Existenz. Die Aufhe-
Kôrper als Medium der bildenden Kunst war Schauplatz bung der Grenze zwischen Malerei und Skulptur, Schein
und Schauzeit dieser neuen Souverânitât. In den scheinbar und Sein, bedeutete auch, die Grenze zwischen Kunst und
so einfachen kôrperlichen Verrichtungen, die gelegenthch Wirklichkeit aufzugeben.
die Elemente der Brusschen Aktionen bildeten, übrigens Die Identitàtskonflikte zu Beginn der sechziger Jahre, die
stets als Ergebnis langer Phasen der Reflexion und des Zwie- mit Action Painting begonnen hatten, bedeuteten eine Ôff-
und Selbstgesprâchs, gilt es aber, die Komplexitât zu bewun- nung zur Wirklichkeit. Im Action Painting wurde nâmlich
dern, mit der es Brus verstand, die verstreut herumliegenden erstmals deutlich das Problem der auflermalerischen und
Ansâtze neuer bildnerischer Aktivitâten, wie sie von Action auSerkünstlerischen Wirklichkeit akut, indem der Maler
Painting bis Happening vorgegeben waren, überzeugend in sich selbst, wenn auch nur in Spuren, in den Mittelpunkt
einer einzigen Aktion zu verknüpfen. Das sogenannte des Bildes setzte. Indem der Maler sich in der Malaktion mit
Zwanghafte seiner Aktionen, von Publikum und Presse so dem Werk verbindet (»Wenn ich in meinem Bilde bin, bin
gerne moniert, war nichts anderes als zwingende visuelle ich mir nicht bewufit, was ich tue«: Jackson Pollock), finden

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Spuren der Wirklichkeit Eingang ins Tafelbild. Der Aus-
stieg aus dem Bild in die Realitât geschah also ursprünglich
durch die Einbeziehung des Malers ins Tafelbild durch den
malerischen A kt selbst. Robert Rauscbenberg konnte daher
formulieren: »Ein Bild ist erst wirklich, wenn es aus Teilen
der wirklichen Welt gemacht ist.« Dadurch blieb die âstheti-
sche Grenze nicht mehr mit der Grenze des statiscben Bil-
des identisch. Die Sucht nach Riesenformaten bei den
Abstrakten Expressionisten entspringt dieser Tendenz, die
deren Apologet, Harold Rosenberg, schon so kennzeich-
nete: »Diese neue Malerei hat endgültig jenen Unterschied
zwischen Kunst und Leben aufgegeben.« Diese Grenz-
überschreitung von der Malerei in die Wirklichkeit hat
denn auch Rauschenberg als den Ort der Kunst bezeichnet:
»Die Malerei bezieht sich auf beides, auf die Kunst und das
Leben. Ich versuche, in dieser Kluft zwischen beiden zu
handeln.«
Deswegen hat er 1960 im Combine Painting »Pilgrim« einen
zum Teil gelb bemalten Stuhl vor ein Gemâlde gestellt, so
dafi sich die Frage erhebt, ob der bemalte Stuhl ein Teil des
Gemâldes oder das Gemâlde ein Teil des Stuhls ist. Jeden-
falls bedeutet die Erweiterung des Tafelbildes auf den Stuhl
nicht nur die schon bekannte Grenzüberschreitung von der
Malerei in den Objektbereich, sondera Reales und Gemaltes
verwischen ihre Grenzen, vertauschen ihre Identitâten.
Dieses Spiel von Grenzüberschreitungen und Identitâtskon-
flikten hat also eine Offnung der Kunst 2mm Leben bedeu­
Jasper Johns: Two flags 1959 tet, deren Ziel es sein wird, Kunst und Leben identisch wer-
den zu lassen im realen Raum und in der realen Zeit, das
heifit in der realen Aktion, deren Medium der Kôrper des
Künstlers ist. Eine der grofien kunsthistorisch relevanten
Leistungen von Brus ist es, anfangs der sechziger Jahre klar
erkannt zu haben, wohin durch Informel, Tachismus und
Action Painting die Weichen gestellt worden sind, und
nicht in die falsche Richtung zu fahren, nâmlich in den
Objektbereich wie die Pop Art, sondera erkannt zu haben,
was das eigentliche Ziel ist, nâmlich, dafi der menschliche
Kôrper selbst den konsequenten Ausstieg aus dem Bild bil-
det: »Mein Kôrper ist die Absicht. Mein Kôrper ist das
Ereignis. Mein Kôrper ist das Ergebnis.« (1966) Wenn wir
die ersten Selbstbemalungen (1964/65) von Gunter Brus,
w o er weifi bernait vor einer weifien Leinwand sitzt und
einen schwarzen Strich von der Leinwand ausgehend über
seinen Kôrper zieht, mit »Pilgrim« von Rauschenberg ver-
gleichen, was gerechtfertigt erscheint, weil es sich in beiden
Fâllen um verwandte Erweiterungen des Tafelbildes und des
Kunstanspruchs handelt, aber um zwei verschiedene, auf
hôchstem künstlerischem Niveau ausgefiihrte Lôsungen
Frank Stella: Sidney Gubermann 1953 eines von der Kunstgeschichte gestellten zentralen Pro-

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!
blems, dann sehen -wir, dafi Brus die vom Pollock-Zitat ver-
anschaulichte âsthetische Doktrin des Action Painting hell-
sichtiger und konsequenter weitergeführt hat. Deswegen
kam ja auch die amerikanische Kunst erst nach einem fast
zehnjâhrigen Um weg über die Pop Art zur Body Art.
Die von den amerikanischen Künstlem des Abstrakten
Expressionismus und des Action Paiilting aufgeworfene
Identitâtskrise der Malerei, die von den europâischen Künst­
lem des Informel und des Tachismus gleichzeitig und auf
andere Weise behandelt wurde, bestimmte den malerischen
Diskurs bis 1960. Es ist wahrscheinlich der Einflufi der
Arbeiten von Georges Mathieu, Wols, Yves Klein, Lucio
Fontana, Piero Manzoni, der die Wiener Aktionisten zur
subjektorientierten statt objektorientierten Erweiterung der
Malerei gebracht hat.
Jean-Paul Sartres Essay über Wols zeigt schon im Titel »Fin-
ger und Nicht-Finger« den Identitàtskonflikt an, der ent-
stand, indem Wols »alle figurativen Zeichen« (Mathieu
1960) zerstôrt hat. 1959 hatte Wols eine Ausstellung in
Wien, und Mathieu kam zu einem ôffentlichen Schaumalen,
bei welcher Gelegenheit der Wiener informelle Künstler
Markus Prachensky ein Beispiel seiner Peinture liquide gab,
indem er über drei riesige Leinwânde von oben herab rote
Farbe gofi. Diesen Aspekt des Schüttens und Rinnens von
Farbe, wie er auch bei Sam Francis vorkam, finden wir in
der Anfangsphase aller Aktionisten (Nitsch, Muehl, Brus)
wieder. Der Aspekt des Schaumalens, des Malens vor Publi-
kum, der Aktion vor der Leinwand, w ie ihn Mathieu vorge- Robert Rauschenberg: Pilgrim 1960
fiihrt hatte, wurde zu einer wesentlichen Voraussetzung der
Aktion. D ie erste ôffenthche aktionistische Manifestation
war das »Fest des psycho-physischen Naturalismus« von
Hermann Nitsch und Otto Muehl, 1963, das als »Schauma-
len auf der Fahrbahn der Perinetgasse« angekündigt worden als Ergebnis ein Geschehen, dessen Ablauf die Kamera fest-
war. Nitsch schrieb im Manifest: »Ich gebe meinen Leib der hâlt und der Zuschauer miterleben kann« (Brus 1965).
ôffentlichen Beschüttung preis« und liefi sich in der Tat Die Selbstbemalung war es also, welche die Aporien der
wâhrend der Aktion mit Blut überschütten. Abstraktion und des Action Painting lôste. Die Selbstbema­
Zahlreich sind die Zeugnisse der Aktionisten über die Her- lung, als identifikatorischer Prozefi von Maler und Gemal-
kunft der Aktion aus der Malerei. »Mein aktionstheater hat tem, hat den Kôrper ins Spiel gebracht und ist daher als
sich aus der informellen aktionsmalerei, aus dem tachismus, eigentlicher Moment des Paradigmenwechsels zu betrach-
entwickelt. Das malen selbst, die produktion, wird ein ten. D ie Identifikation des Malers mit dem Gemâlde, nicht
anschaubarer prozefi, daher führte das action painting zum die Identitât von Gemâlde und Objekt, lôste die Identitâts­
schaumalen. Die malerei beansprucht einen zeitablauf, wird krise des Tafelbildes auf. Die Selbstbemalung war die gleich-
zum theaterereignis« (Nitsch 1965). »Materialaktion ist dar- sam genialische Lôsung, mit der die Tendenzen des europâi­
gestellte malerei« (Muehl 1965). »Selbstbemalung ist eine schen und amerikanischen Informel auf eindrucksvolle
Weiterentwicklung der Malerei. Die Bildflâche hat ihre Weise vollendet wurden. In der Selbstbemalung ist erstmals
Funktion als alleiniger Ausdruckstrager verloren. Sie wurde der Kôrper (des Künstlers) in die Kunst eingeführt und die
zu ihrem Ursprung, zur Wand, zum Objekt, zum Lebewe- Kunst auf dem Kôrper begründet worden. Da Nitsch mehr
sen, zum menschlichen Kôrper zurückgeführt. Durch die mit Tierkadavern und Muehl (wie spâter auch Schwarz-
Einbeziehung meines Kôrpers als Ausdruckstrager entsteht kogler) mehr mit den Kôrpern der Modelle arbeiteten, ist

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5 AKTION SELBSTVERSTUMMELUNG 1965
die Kôrperaktion, was heute als wesentlichstes Moment des
Wiener Aktionismus betrachtet wird, die eigentliche
Domâne von Brus. Günter Brus ist der eigentliche Begrün-
der der Kôrperkunst und Body Art, weil er bei seinen
Selbstbemalungen schon als erster den eigenen Kôrper
direkt ins Zentrum der Aktion gestellt hat. Wenn es also
einer Inkunabel fur den Paradigmenwechsel in den sechzi-
ger Jahren von der Malerei zur Aktion, vom Tafelbild zum
Kôrper, von der Illusion zur Wirklichkeit bedarf, dann ist
es die Selbstbemalung von Günter Brus.
Abgesehen von seiner ersten Aktion »Ana« hat Brus aus-
schliefilich mit seinem eigenen Kôrper gearbeitet. Die
Bedeutsamkeit dieses Moments wird meist in einem undiffe-
renzierten Aktionsbegriff übersehen. Dabei ist es eben
gerade jener Unterschied, dafi es sich nicht um ein bemaltes
Objekt wie bei Johns oder Rauschenberg, sondem um den
bemalten menschlichen Kôrper handelt, welcher die Identi-
tâtskrise und Überwindung des Tafelbildes in eine neue
historische Dimension führte. Die amerikanischen
Happenings haben ja nicht über den Kôrper operiert, son­
dera parallel zur Pop Art ebenfalls hauptsâchlich mit
Objekten. A il diese Identitâtskonflikte zwischen Formvor-
stellung und Fomrwahmehmung, zwischen Malerei und !
Skulptur, zwischen visuellem und physikalischem Verhal-
ten, zwischen Objekt und Materialverhalten, zwischen
George Segal: Man at Table 1961
Materialverhalten und Aktion, wie sie in Werken von Fran­
cis, Pollock, Jasper Johns, Donald Judd, Frank Stella,
Robert Morris, George Segal und Joseph Beuys, Fontana,
Klein, Mathieu, Manzoni ausgesprochen wurden, haben in
der Selbstbemalung von Brus ihre Aufhebung gefunden.
Indem er sich selbst real in das Bild hineingenommen hat,
hat er seine eigene Identitât verunsichert. War er ein
Gemâlde, eine Skulptur oder ein Mensch?
Bei George Segal, der als Maler zur fîgurativen Richtung des
N ew Yorker Expressionismus der fünfziger Jahre gehôrt
hat und an der Entwicklung des Happenings beteiligt war,
kônnen wir ein Zwischenglied der Entwicklung feststellen,
deren Pôle Rauschenberg und Brus bildeten: »Man sitting at
table« (1961). Segal hat, wenn auch als Objekt, die weifie
Figur als Rest des expressionistischen Malaktes in den Raum
der erweiterten Malerei, in den Raum der Realitât gestellt.
Auch Segal hat die menschliche Figur bei der Überwindung
Yves Klein, Anthropométrie 1961
des Tafelbildes in seinen raumlichen Konstellationen des
Alltags verwendet: »Wenn man einen Gegenstand sieht,
kann man nicht umhin, ihm die eigene Menschlichkeit auf-
zuprâgen« (Segal). Wie Brus ist auch er von der Farbe Weifi
fasziniert: »Das Weifi fesselt mich wegen seiner besonderen
Implikationen von entkôrperlichtem Geist, untrennbar von
den fleischigen, kôrperlichen Details der Figur« (Segal). Die

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26 AKTION WIENER SPAZIERGANG 1965
rauhe Aufienseite der Gipsform bewahrt noch etwas von der Linie bei Wols und Mathieu, die Brus zu einem Haupt-
der Spontaneitàt der expressionistischen Malerei. moment seiner Arbeit macht) und drittens die Lôsung
Dieser statischen objektualen Lôsung der Funktion des selbst.
menschlichen Kôrpers bei der Erweiterung der Malerei ent- Brus hat die Malerei mit seinem Blut aufgesogen und daher
spricht in Europa die dynamische und prozessuale von Yves auch als einziger legitim sein Blut als Farbe über die Lein­
Klein, der nach seiner monochromen Phase damit begann, wand seines Kôrpers rinnen lassen (1970). Eben aufgrund
mit Hilfe nackter Modelle »die Farbe direkt durch den Kôr- seiner immensen malerischen Begabung konnte er die male-
per auf die Unterlage zu übertragen« (Klein). D ie Modelle rischen Problème nicht in der Malerei selbst lôsen, sondern
haben »mit ihrem Kôrper meine monochromen Bilder nur aufierhalb von ihr. In den Aktionen hat er das Drama
gemalt . . . Sie waren zu lebenden Pinseln geworden!« der Malerei und die Psychopathie des Ausdrucks inszeniert,
(Klein) Mit seinen blauen Anthropometrien hat also bereits als Maler, Monomane und Mârtyrer.
Yves Klein den menschlichen nackten Kôrper mit ins Bild Brus hat als Maler begonnen. »Ich habe mit dem Informel
hineingenommen, das Modell mit dem Pinsel identifiziert begonnen. Mit dem Ausagieren vor der Leinwand. Ein Ver-
(! eine neue Identitât) und dadurch den Pinsel exkludiert such, aus der Leinwand auszubrechen. Es war die Idee, das
(»Schon früher hatte ich den Pinsel abgelehnt«, Klein). Es Bild hâtte kein Ende. Der ganze Raum war eben die Lein­
galt also, ntm auch das Modell zu exkludieren und sich wand. Das Bild war eine Abschnürung für mich. Man
selbst als Leinwand zu inkludieren. Die Monochromie mufite unbedingt zu einer Art Befreiung, zu befreienden
wurde zur Monomanie. Der Maler wurde zum Pinsel und Mitteln greifen. Ich habe die Bilder nur mehr zerschlitzt
zum Gemâlde. Indem er sich selbst als Modell nahm, hat und ausgepeitscht. Die Krise in der bildenden Kunst insge-
Brus mit seinem Kôrper monochrome Bilder gemalt. samt, im Tafelbild und im Wandbild, das Ungenügen, mit
Die hinter allen Identitâtskonflikten stehende Frage nach herkômmhchen Mitteln weiterzugehen«. (Brus 1981) 1961
der Wirklichkeit (»Die entwicklung der kunst tendierte stellte er seine Aktionsmalerei aus, welche die Grenzen des
dahin, die •wirklichkeit als direktes gestaltungsmittel zu Bildes nicht akzeptieren wolltefDaher malte'Brus in Riesen-
benutzen«, Nitsch 1964) erfâhrt durch den Maler als Ort der formaten und nicht dem Zentrum zu, sondern immer mehr
Identitât von Gemâlde und Kôrper, von Objekt und Sub- am Rand des Bildes selbst. Er malte spürbar auf die Wand
jekt eine neue »Zerreifiprobe« (so dèr Titel von Brus’ letzter hin. Er wollte dem Bild kein Zentrum, keinen Schwer-
Aktion, 1970). In der Selbstbemalung ist die âsthetische punkt, keine Begrenzung geben, denn er wollte in den
Grenze eindeutig nicht mehr mit der Grenze des statischen Raum der Wirklichkeit vordringen. Er onanierte vor dem
Bildes ident, und dadurch wird die Kunst mit der ehemals Bild, schüttete Samen und Urin in das Bild. Brus fragte, wo
aufierkünstlerischen Wirklichkeit identisch, aber nicht um endet das Bild und wo beginnt die Wirklichkeit? Wo aufhô-
den Preis einer lügnerischen Versôhnung und eines ren? U m nicht mehr aufhôren zu kônnen, gingen die Rie-
gedâmpften Bewufitseins, sondern es wird die Differenz senformate schliefilich über in Wandinstallationen. Damit
umso schmerzlicher bewufit. »Alles wird weifi gestrichen, ailes zur Leinwand werde, klebte er den ganzen Raum seines
ailes wird zur Bildflâche« (Brus 1965) heifit ja nicht, dafi aile Keller-Ateliers mit Papierleinwânden zu. Er arbeitete im
Unterschiede eingeebnet werden, sondern in der Vereinnah- malerischen Raum, aber ohne Publikum. Die Aktion auf
mung, die eine blofie Geste ist, wird die Negativitât der der Leinwand (Action Painting) hatte sich aber schon in
Erfahrung evoziert. Daher verendet die Selbstbemalung eine Aktion mit der Leinwand und vor der Leinwand ver-
auch nicht in der Ornamentik eines Body Painting, sondern wandelt, indem er sich beim Malen die Hânde band oder
Brus verkehrt sie zur »bewâltigten Selbstverstümmelung« mit dem Pinsel an die Leinwand ging, diese aber nicht
und »unendlich ausgekosteten Selbstentleibung«. Brus berührte. Dieses Schauspiel kann aber nachtrâglich nicht
errichtet also eine neue hôhere Antinomie, nachdem er die gesehen werden, also mufite Brus an die Offentlichkeit, vor
Widersprüche auf den einfacheren Ebenen gelôscht hat. Die Publikum gehen. Dieses Agieren vor der Leinwand war eine
augenscheinlichste Antinomie besteht darin, die Einführung andere Art der Schaumalerei. So kam es zur Aktion ohne
des Leibes in die Malerei gleichzeitig als Entleibung zu Leinwand, zur Aktion mit dem Kôrper des Malers selbst.
beschreiben. Denn nachdem schon der ganze Raum weifi bernait war,
Drei Stufen gibt es also bei den Brusschen Aktionen, diesen blieb nur mehr der Maler selbst, der noch nicht weifi bernait
einzigartigen ôsterreichischen Beitrâgen zur Weltkunst, zu war, als unbemalter Teil des Raumes zurück. Dem künstle-
bewundern. Erstens die Problemstellung, zweitens die As- rischen Ziel entsprechend mufite schliefilich auch der Maler
thetik der Lôsung (z. B. die beginnende Verselbstândigung selbst weifi bernait werden. Durch die physische Aufhebung

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Quelle Lucio Fontana betrachten, der ab 1958 geschlitzte
Leinwânde und Schnittbilder als »Concetti spaziale« aus-
stellte und bereits 1946 ein »Manifesto Blanco« publizien
hatte. Wenn Fontana Leinwânde geschlitzt hat und Piero
Manzoni ab 1959 die Linie verabsolutiert hat, dann ist es
nur ultime Konsequenz, dafi Brus, wenn er sich selbst als
Leinwand sieht, sich selbst mit einer Rasierklinge schlitzt
und auf seiner Leinwandhaut blutende rinnende Linien
zieht. «Flüssige Malerei«, aber auf der Ebene des Kôrpers.
Die schwarze Linie, die er 1964 vom Tafelbild ausgehend
über sich selbst zog, wird 1968 zu einer blutenden Linie im
Fleisch in einer Aktion mit dem bezeichnenden Titel »Der
Staatsbürger Günter Brus betrachtet seinen Kôrper«.
Die Tachisten zogen einzelne Farblinien über die Lein­
wand, Hundertwasser zog 1958 eine (unendliche) Linie über
die Wânde eines Raumes, Manzoni zog eine virtuell unend­
Lucio Fontana: Access 1959 liche Linie auf das Papier einer Druckwalze, Fontana
schlitzte parallèle Linien in monochrome Leinwânde. Ailes
der Differenz von Künstler und Werk versuchte Brus, »in Bekundungen der Linie als elementarer Teil der Malerei.
der Kluft zwischen Kunst und Leben zu handeln« (Rau- Als Brus sich 1965 weifi anmalte und in der Aktion »Wiener
schenberg). Diese Einführung des Kôrpers des Künstlers in Spaziergang« weifi bernait mit einem schwarzen trennenden
das System des Kunstwerks, diese Rückbezüglichkeit, ist die Strich vertikal über dem ganzen Kôrper durch Wiens Innen-
Antwort auf eine grundlegende Identitâtskrise der Kunst stadt ging, wurde er von der Polizei angehalten und wegen
schlechthin, die eingeleitet zu haben zu den epochalen Lei- Erregung ôffentlichen Ârgemisses verurteilt. Als Segal in
stungen der Kunst des 20. Jahrhunderts gehôrt. Kaum eine »Busfahrer« (1962) seine gipserne Figur auf einen realen
Génération hat so viel Verzweiflung, Grôfie, Talent und Autobus stellte, hat er den Galerie-Kontext nicht verlassen.
Leben in die Kunst als soziales Problem investiert wie die Als Brus hingegen selbst als gleichsam gipserne Plastik
der sechziger Jahre. Deswegen ist sie auch in diesen Jahren durch ein reales Environment ging, wurde mehr als nur der
vom Kunstbetrieb ausgeschlossen gewesen und den Gerich- Begriff der Bildflâche gesprengt. Ging es noch an, den Kôr­
ten, Polizisten und Journalisten anheim gefallen. Brus ist per des Malers in der Selbstbemalung an die bemalte Bildflâ­
einer der Grôfoen dieser Génération. In seiner Referenz des che zu binden beziehungsweise aus der Bildflâche als Malob-
Malers auf sich selbst als Gemâlde hat er eine kategoriale jekt herauszufallen, war dieser Versuch, die gesamte Welt
Bestimmung zeitgenôssischen Kunstschaffens, nâmlich als Malhintergrund zu sehen beziehungsweise die gesamte
selbstreferentiell zu sein — Kunst im 20. Jahrhundert ist Welt als aufierkünstlerische Wirklichkeit in das Kunstwerk
nâmlich fast stets ein selbstreferentielles System —, auf ver- miteinzubeziehen, also die sozial akzeptierten Grenzen der
blüffende Weise mit Sinn erfüllt, welche zu vielfâltigen Kunst nicht zu akzeptieren, eine Auffassung des künstleri-
neuen Erforschungen des Wesens der Kunst geführt hat. schen Raumes und des zeichenkontextuell definierten
Wâhrend die Pop A n wieder auf das Bild zurückfiel, hat Kunstbegriffes, welche nicht nur an den Pfeilern des Kunst­
Brus entschlossen das Subjekt, den Kôrper in den Mittel- begriffes, sondern in der Tat an den Grundfesten der abend-
punkt der Kunst gestellt. Anders als bei Jasper Johns hat der lândischen Wirklichkeit rüttelte. Deswegen traten Polizei
menschliche Kôrper als Identitât von Darstellung und Dar- und Psychiatrie auf den Plan, und die Kunstkritik hielt sich
gestelltem eine radikale Erweiterung des bürgerlichen zurück.
Kunstbegriffes, eine radikale Relativierung der bürgerlichen Es ist absurd, erst in dem Moment die Psychiatrie zu rufen,
Ontologie von Sein und Schein bedeutet. Das geht natürlich wo ein Künstler sich Linien in die Haut schneidet. Man
schnell über den Kunstrahmen hinaus. Hat Segal nur seine müfite gemâfi dieser Logik schon von Psychopathologie
Figuren einbalsamien, balsamiert Brus die gesamte bürger- sprechen, wenn irgend jemand die ersten Linien zu Papier
liche Gesellschaft ein. oder auf die Leinwand bringt. Brus, der so offensichtüch
Um zu verstehen, wie die Selbstbemalung zur Selbstver- abendlândische Grundformen wie Linie, Kreis und Quadrat
stümmelung wird, kann man als weitere kunsthistorische in seinen Aktionen verwendet (siehe die »Aktion in einem

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27 AK TIO N IN EINEM KREIS 1966

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O
Kreis« von 1966), betreibt damit nichts anderes, als den sche Aktivitât in wirklicher Zeit und realem Raum vor
abendlândischen Kalkül der Malerei zu durchforschen. Er Publikum stattfinden, weil das Publikum eine Kontrollin-
treibt ihn voran, er geht ihm auf den Grand. D ort versucht stanz für den Wirklichkeitsgehalt einer Aktion bildete. Für
er jenes Vakuum auszufüllen, das die Kluft zwischen Kunst den Fotografen konnte ich eine Wunde noch simulieren,
und Leben in unserer Gesellschaft darstellt. Wenn Bras vor Publikum nicht.
weifibemalt durch die Stadt geht und von der Polizei Die âsthetischen Mittel wurden also Realien. Der Schmerz
gestoppt wird, warum stoppt dann die Polizei nicht den darüber, dafi in der Abbildung erst die Kluft zwischen Sein
erstbesten Maler, wenn er eine Linie zieht? Ab wann erregt und Schein geôffnet wird, die Differenz zwischen Bild und
eine Linie nicht ein ôffentliches Argernis? N ur dann nicht, Objekt, sollte ausgelôscht werden, indem eben Bild und
wenn sie im geschlossenen Raum der Kunstwelt stattfindet? Objekt identisch wurden, dafi es eben keine Abbildung
Der »Spaziergang« erscheint verrückt. Warum erscheint mehr gâbe, sondera nur mehr Sein. Der Kôrper als Abbil-
nicht jede Zeichnung verrückt? In diesem ungeklârten dungsmedium war dafür das ideale Medium. Wurde der
Vakuum, das Bras mit seinem Spaziergang durchquert, lie- Kôrper der Ort der Abbildung, verlôschte zwangslâufig die
gen die Grenzen unserer Kultur, wartet aber auch die Tür Kluft zwischen Sein und Schein, denn jede künstlerische
der Transition. Wenn die Brusschen Aktionen die Psycho­ Linie wurde automatisch auch eine reale Linie. Uber sich
pathologie und Polizei auf den Plan gerafen haben, dann ist selbst gebeugt, selbstreferentiell, konnte gehofft werden,
es seiner Kunst gelungen, zu zeigen, was im Wesen der dafi sich der Abgrand, der sich aus der Abbildung ergibt,
Kunst verborgen ist, der Unfriede mit der Realitât. Jede wieder schliefit. Die Selbstreferentialitât, die als Identitât
Aufierung der Kunst ist an und für sich geeignet, die Instan- von Bildstraktur und Bildformat bei Stella und anderen
zen des Staates zu erregen. Nur blieb es der Brusschen noch ein relativ ephemeres Problem war, nimmt bei der
Aktionskunst vorbehalten, dies auch zu provozieren, den Brusschen Selbstbemalung und Selbstverstümmelung eine
Staat aus den Hôhlen der Macht zu locken. Es darf uns ja tiefere und bedeutendere Dimension an, gerade indem er
jene Parallelitât nicht entgehen, dafi die Linie bei Brus umso den Grandlinien der Kunst folgt.
realer und schmerzlicher wird, je ôffentlicher seine Person Der abendlândische Schmerz über die Differenz der Abbil­
wird. Es ist schliefilich erst der »Staatsbürger« Brus, der sich dung hat Brus zur Auswahl der Werkzeuge geführt, mit
eine blutende Linie ins Fleisch schneidet. Die vorangehen- denen er seine Aktionen durchführt: Rasierklingen, Sche-
den Selbstverstümmelungen waren ja vorerst noch Simula- ren, Nâgel, Mauerklammem, Axte, Messer, Gabeln usw.
tionen. Je mehr Bras von der blofi gemalten Selbstverstüm- Keine individuell bedingte Psychopathie ist es, sondem das
melung, denn aus der Malerei selbst stammt ja die Idee der Ausdifferenzieren des kulturellen Erbes, welches Bras zum
Selbstverstümmelung, zur realen Selbstverstümmelung Mârtyrer des Materials macht. In den Selbstverstümmelun­
überging, umso mehr ging es ihm offensichtlich daram, das gen kommt die europâische Malerei zu ihrem ureigensten
formulierte Problem der Identitât von Darstellung und Dar- Mythos. Dafi in den Selbstverstümmelungen zunâchst ein­
gestelltem im einmal gewâhlten Medium zu beweisen — an mal bildnerische Absichten am Werk sind und keine maso-
sich selbst, durch seinen Kôrper. Da gab es kein Entrinnen chistischen Befriedigungen, wie ebenso gerne wie verstând-
mehr. nislos unterstellt wird, ist allein schon daraus zu erkennen,
Was sollte nun aber dargestellt werden? Was war es, dessen dafi das schmerzverzerrte Gesicht anfangs ja nur Simulation
Darstellung, einmal übertragen und identifiziert, so ist. Als dann die reale Marter auftritt, gibt es übrigens auch
schmerzlich werden konnte? Es war der Schmerz der Abbil- keine schmerzverzerrte Mimikry mehr. Das schmerzver­
dung selbst, die Differenz von Sein und Schein, welche als zerrte Gesicht ist bildnerische Illusion. So wie ja auch die
Grundkonstante die abendlândische Kultur durchzieht. Die Werkzeuge der Marter nur arrangiert sind, noch nicht in
abendlândische Zivilisation ist durch eine duale Ontologie Funktion. Brus entwirft anfânglich nur Tableaus der Tor-
von Sein und Schein, von Wahrheit und Lüge, von Wirk- tur, reale Simulationen des Schmerzes. Erst 1967 verliefi er
lichkeit und Traum gekennzeichnet, wobei die Kunst stets den kontextuellen Hintergrund der Malerei und damit die
dem Strang des Scheins, der Lüge und des Traums zugeord- Elemente der Illusion.
net ist. Künstler aber nun, die, wie aus den Zitaten ersicht- 1968 noch, anlâfilich des Prozesses zu der legendâren
lich, mit ihrer Kunst in die Wirklichkeit vordringen woll- Aktion »Kunst und Revolution« an der Wiener Universitât
ten, konnten diese Trennung und Unterbrechung nicht (zusammen mit Muehl, Weibel, Wiener, Kaltenbâck) kom-
mehr akzeptieren. Schein sollte sich in Sein, Traum in men die Gerichtspsychiater Dr. Grofi und Dr. Quatember
Wirklichkeit verwandeln. Daher mufite auch jede künstleri- zur Auffassung: »Es handelt sich bei Herm Brus um das Per-

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28 A K TION M IT D1A.NA 1967 -

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sônlichkeitsbild einer Psychopathie.» Ebenso erschreckend Beckett hat sich denn auch Brus sehr gerieben. Wie das
das Niveau der Boulevardpresse, welche die direkte Kunst Absurde Theater haben die Brusschen Aktionen die Kunst
des Günter Brus aïs blofie »Schweinerei« bezeichnete, als und den Menschen auf ihre Ursprünge zurückgeworfen.
»widerwârtige exhibitionistische Darbietungen, die den Beide haben die konventionellen Gleichungen der Zivilisa-
Abscheu der gesamten ôsterreichischen Bevôlkerung erregt tion zurückgewiesen. Das Theater wurde aber noch eher
hatten«. akzeptiert, da es ein Spiel der Zeichen blieb. Indem Brus
Man versucht bis heute, die Aktionen von Brus aufierhalb aber den menschlichen Kôrper als künstlerische Konstante
der Kunst zu stellen, und verweigert die Einsicht, dafi ins Kunstsystem eingeführt hat, weil dadurch die Identitâts-
gerade sie hochkünstlerische Leistungen sind, die aus der krise des Tafelbildes am besten überwunden werden
Kenntnis und der Tiefe der Kunst selbst stammen. Man ver- konnte, hat er die aufierkünstlerische Realitât in einem der-
weigert also nichts anderes als Einsicht in den Prozefi der artigen Mafie berührt, denn ailes, was sich im und durch den
Kunst, indem man Brus den Prozefi machte. D ie Einbettung Kôrper abbildet, ist mehr als ein Bild, nâmlich stets auch
in die Kunstproblematik um 1960 beweist ja geradezu schla- Wirklichkeit, dafi seine künstlerischen Ergebnisse in einen
gend, wie sehr die Aktionen von Brus durch kunstimma- anderen zivilisatorischen Zeichenprozefi vorgedrungen
nente Problème und nicht durch persônlichkeitsimmanente sind, w o die Zivilisation selbst, an ihrer Grenze angelangt,
entstanden sind. Gerade durch seine Aktionen und ihre vor dem Nichts, vor dem Vakuum steht, über das sie in
fotografischen Dokumente hat Brus die Malerei in eine unentwegter Arbeit und panischer Rastlosigkeit eine
Hôhe der zeichentheoretischen Abstraktion gebracht, wie Brücke schlagt, um nicht vom eigenen Abgrund aufgesaugt
es in Europa kaum der Fall war, vergleichbar nur jener chi- zu werden, welcher Abgrund nur mehr in den Trâumen der
nesischen Legende, wo ein Maler jahrelang sein Selbstpor- Vôlker, ihren Mythen, und in den Seancen der Psychoana­
trât malt, bis es perfekt ist, er in das Gemàlde eintritt und lyse zur Sprache kommt. Brus hat sich über diesen Abgrund
darin verschwindet. Diese Asthetik des Verschwindens gebeugt wie kaum jemand sonst. Seine Aktionen sind die
kommt ja auch schon in der paradoxen Définition der Kunst aus der Tiefe dieses zivilisatorischen Abgrunds. Dar-
Selbstbemalung als Selbstentleibung zum Ausdruck. Die aus versteht sich auch, dafi Brus sich wieder weit zurückge-
Aktionen zeigen die Malerei als Akt der Kruzifikation, wie bogen hat, bevor er in den Abgrund für immer stürzte, in
bei Nitsch. D ie Aktionen sind Malerei auf der Ebene des den er so oft getaucht war. Was im Theater als fiktives Spiel
Mythos. In diesem Lichte kônnen wir auch erkennen, dafi noch akzeptiert wurde, die totale Reduktion, wurde in der
van Gogh sich nicht in einem Akt der Sinnesverwirrung das Wirklichkeit des Kôrpers total verworfen. D ie Kultur
Ohr abschnitt, sondera dafi auch er auf dem Grand der nabelte sich gerade von dem ab, der ihr den Nabel, den
Malerei angelangt war und in der Selbstentleibung gleich- Geburtsort zeigen wollte. Die Zivilisation kehrte gerade
sam das Mysterium der Malerei geschaut hat. Van Gogh hat dem den Rücken, der ihr die Rückseite des Spiegels zeigte.
den Zusammenhang zwischen Christus-Mythos und Erschrocken über das, was sie durch das Fenster der Brus­
Malerei-Mythos erkannt, ihren gemeinsamen Ursprung in schen Kunst von ihrem eigenen Abgrund sah, auf dem sie
der Differenz. Es war also ein zutiefst malerischer Akt, als gebaut ist, schlofi sie das Fenster und schlofi Brus aus. So hat
er sich sein Ohr abschnitt. Warum malt der Mensch, warum sie sich allerdings von sich selbst abgenabelt. Die Brusschen
gibt der Mensch Zeichen? Dieses menschliche Drama wird Aktionen sind das wahre »Endspiel« bürgerlicher Kunst und
aufgerissen, wenn van Gogh sein Ohr abschneidet und Brus vielleicht ein anderes noch dazu.
seine Haut aufschlitzt. Nach seinen monochromen und monosomatischen Aktio­
Allein eine kunstmethodologische Vorgangsweise, das heifit nen in den Jahren 1964—1966 (Selbstbemalung, Selbstver-
eine nach der Logik der Kunst, die sowohl der Kunst wie stümmelung, Silber, Wiener Spaziergang, Starrkrampf,
der Logik verpflichtet ist, hat Brus dazu gebracht, sich blu- Transfusion), die zum Teil Film- und Fotoaktionen in
tende Linien in den Leib zu ritzen, sich zu strangulieren, sei- Muehls Kelleratelier in der Perinetgasse, also nicht ôffent­
nen Urin zu trinken, sich die Scheifie über den eigenen Leib lich waren, begann Brus mehr und mehr den malerischen
zu schmieren, fremde Scheifie mit dem eigenen Mund aufzu- Hintergrund zu verlassen und bewegte sich zum Teil auf
fangen, ôffentlich zu urinieren und zu defâkieren. Diese theatralische Aktionen zu, insbesondere in den Arbeiten,
absolute Reduzierung auf den Kôrper, auf die kôrperlichen die er gemeinsam mit Otto Muehl ôffentlich vorführte: 1.
Funktionen war eine Entleerung und Ablehnung unserer und 2. Totalaktion, Vietnam-Party, Atem-Ubungen und
Kultur, wie sie in der bildenden Kunst noch nicht vorge- Ten Rounds (in London beim Destruction In Art Sympo­
kommen war, sondera hôchstens im Absurden Theater. An sion) im Jahre 1966 und das Direct Art Festival im Wiener

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Porrhaus 1967. Diese Zeit der Auflôsung seiner Mono- les Elément das Publikum. Das Publikum, die Ôffentlich-
Aktionen, 1966 und 1967, die durch eine intensive Zusam- keit bildete ein konstituierendes Elément des Kunstwerkes
menarbeit mit Otto Muehl gekennzeichnet war, kann man selbst. Im Grande kann man von einer Aktion, wenn sie
auch als eine Zeit der Verzôgerung und des Übergangs ohne Publikum stattfindet, nicht als Aktion sprechen, denn
betrachten, bis Brus auf das Ganze ging, auf den Kôrper in zu den Kategorien des Realen gehôren nicht nur Raum und
der Direttissima. Erst die Erfahrungeruder «direkten Kunst« Zeit, sondera auch das Publikum. Schaumalen ohne Publi­
lockerten ihn so weit, dafi er mit dem Kôrper und seinen kum ist kein Schaumalen, wie der Begriff schon verdeut-
Funktionen direkt, ohne malerisches Material, arbeiten licht. Das gleiche gilt für die aus dem Schaumalen hervorge-
konnte. gangene Aktion. Das wurde damais deutlich: die
Die »totalaktion (direkte kunst) ist eine synthèse der mate- Offentlichkeit als formai konstituierendes Elément bildet
rialaktion otto mühls und der selbstverstümmelung von eine Art Kontrollinstanz für den Realitâtsanspruch der
günter brus, die totalaktion ist eine weiterentwicklung des Aktion.
happenings, totalaktion ist vorurteilslose auseinanderset- Wie der Kôrper aus der Malerei des Informel abgeschâlt
zung mit allen materialen der wirklichkeit. die alten kunst- wurde, so wurde langsam die Kunst vom Kôrper abgeschâlt,
gattungen versuchen wirklichkeit zu rekonstruieren, total­ und der Kôrper blieb als eigenstândiges Kunst- und Aus-
aktion vollzieht sich in der wirklichkeit. totalaktion ist drucksmedium im sozialen Raum übrig. Der soziale Raum
direktes geschehen (direkte kunst), nicht wiedergabe von ersetzte in der Aktion den Kunstraum. Der Kôrper wurde
geschehen« (Brus/Muehl 1966). Bei diesen Aktionen, wo in ohne Umwege über die Malerei direkt verfügbar. Die pure
der Tat die künstlerischen Elemente von Brus und Muehl Leibhaftigkeit, wenn auch theatralisch inszeniert (»Den E-
zusammenflossen, befand sich weniger der Kôrper im Mit- Schock bitte, ich kann nicht mehr« oder »Ich hack dir den
telpunkt, sondera wurde der Kôrper fur theatralische Schâdel im Hausflur ab, Gabriella«, Brus 1967), hat eine
Aktionen eingesetzt, die deutlicher denn je soziale Topoi rasende Logik entwickelt, die den Kôrper als kulturellen
attackierten, wie schon der Titel »Vietnam-Party« bezeugt. und daim als sozialen Codé decouvrierte. Als der nackte
Anfânglich gab es auch in diesen Aktionen noch sehr viele Kôrper im sozialen Raum, auftauchte, explodierte der
malerische Elemente, erst in der letzten gemeinsamen Skandal.
Aktion, im Festival für direkte Kunst, überwogen die thea- Die Sucht nach Offentlichkeit konnte aber gelegentlich
traüschen Elemente. Entgegen den Behauptungen im Mani- auch dazu verführen, wie bei Muehl, sie um jeden Preis zu
fest überwog tendenziell sogar das theatralische Moment finden und sie mit allen Mitteln zu provozieren. Die Reak-
vor dem aktionistischen. D ie Totalaktion vollzog sich zwar tionen der Massenmedien und auch der Bevôlkerung kann
in der Wirklichkeit, als wirkliches direktes Geschehen, aber man in der Hilflosigkeit von einer Schlagzeile wie »Nie-
das, was es darstellte, zum Beispiel einen Krieg, war noch mand darf ein Huhn im Namen der Kunst tôten« zusam-
nicht wirklich genug, sondera nur theatralisch simuliert, menfassen. Hierin kann man erkennen, wie die kôrperliche
scheinhafte Darstellung (wenn auch natürlich viel weniger Aktion in den Kern der Gesellschaft vorgerückt ist, indem
als im konventionellen Theate’r). Die Stringenz der Selbstre- sie die Kunst an dessen Stelle setzte. Zum Kern der Gesell­
ferentialitât und totalen Idèntifikation von Darstellung und schaft gehôrt der Tod, weil der Kern unserer Gesellschaft
Dargestelltem wie in der Selbstverstümmelung und Selbst­ und Realitât die Macht ist. Hôchste Macht hat inné, wer
bemalung fehlte. nicht nur Macht über das Leben, sondera auch über den
Was aber bei diesen künstlerisch vielleicht weniger überzeu- Tod hat. In der Todeskontrolle kulminiert die soziale Kon-
genden theatralischen Aktionen von Bedeutung war, kann trolle, daher gleichen auch unsere Krankenhâuser so sehr
man als die Invasion in einen neuen Zeichenraum, in den Gefângnissen. Wenn nicht im N a m e n der Kunst, so offen-
ôffentlichen Raum und als eine Art Schâlungsprozefî sichtlich im Namen anderer dürfen Tiere getôtet werden,
bezeichnen. Solange nâmlich die grofie künstlerische Lei- wohl im Namen der Ôkonomie und des Krieges. Wenn nun
stung, entschlossen das Subjekt, den Menschen, den Kôrper Kunst beginnt, dem Staat das Tôtungsmonopol streitig zu
in den Mittelpunkt der Kunst zu stellen, sich nur im Keller machen, auch in der Selbsttôtung und der »unendlich ausge-
ereignete, blieb die Wirksamkeit auf die Verbreitung der kosteten Selbstentleibung«, dieser unendlich verzôgerten
fotografischen Dokumente beschrânkt, und auch die fand ja Selbsttôtung, dann geht es einzig und allein darum, die
nur im engsten Zirkel statt. Aufierdem mufite direkte Kunst Todesproduktion selbst zu brechen. Wenn ich anfangs von
ja per Anspruch direkt erlebt werden. D ie direkte Kunst dem Paradox sprach, dafi die Einführang des Kôrpers in das
und auch die Kôrperkunst benôtigten gleichsam als forma- Kunstwerk im Zeichen der Selbstverstümmelung und der

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gleichzeitigen Ent-Leibung geschah, kônnen wir nun die wenn es »Ich« sagt, ist es, das als Verstümmeltes und Ver-
Quelle der Antinomie erkennen. Wenn die Kunst selbst die stümmelndes durch den (eigenen = anderen) Kôrper die
Entleibung, den Tod beansprucht, also vom anderen Pol der Verstümmelung der Welt und die Verstümmelung, die dem
Mâchtigkeit beginnt, dann eben nur, um die allgemeine Ich und dem Anderen durch die Welt angetan wird, zur
Todesproduktion zu stoppen und sich gegen jene Système Sprache bringt.
von Symbolen und Werten aufzulehnen, die den Tod pro- Als Teil der Welt, die sein Kôrper, ist die an ihm verübte
duzieren, was sie kaschieren wollen im Namen irgendwel- Gewalt Gewalt an der Welt selbst. »Selbstbemalung als
cher Symbole. Erst in der Kunst taucht der Tod als Tod wie- unendlich ausgekostete Selbstentleibung« (Brus) ist also
der auf. Mit der Insistenz auf dem Leib, die verschârft wird Selbstdestruktivitât, Selbstdestruktion der Welt, aber auch
durch die Insistenz auch auf der Ent-Leibung, zielt die die Destruktion, die er durch die Welt erfâhrt. Ist der Kôr­
Kunst auf den Pol des Lebens, indem eben im Namen der per die Welt und das Andere, bedeutet aber Selbstent-
Kunst getôtet wird und nicht im Namen bisheriger Lizen- Leibung auch Selbstentblôfiung, das heifit Selbstaufhebung
zen. Erst so treten der Schrecken und das Grauen hervor, der Welt. Mit seinem Kôrper lôst Brus auch die Welt auf.
welche in den Kern-Katakomben unserer Gesellschaft Selbstentleibung heifit auch Weltentfernung, Aufhebung
nisten. Àhnlich wie das Auftreten des Tods im Kameval. der über den Kôrper erfahrenen Destruktivitât der Welt.
Die Kôrperaktionen sind also eine Flucht aus der allgemei- Mit seinen »Kôrperanalysen« (Brus), je hârter sie werden, je
nen Todesproduktion und ein Aufstand des Lebens. mehr sie auf die purste, verdrângteste und natürlichste Leib-
Gerade in der pursten Leibhaftigkeit, welche auch die ver- lichkeit zurückkehren, umso mehr versetzen und entsetzen
drangtesten Funktionen des Leibes als Ausdrucksmittel sie die Welt gleichermafien. Die Weltanalyse wird umso
benützt, wie sie die dritte Phase der Brusschen Aktions- dringlicher, je tiefer Brus in seinen Kôrper vordringt und
kunst (1968—1970) kennzeichnet, wo der Kôrper wirklich ailes andere abbaut. Es beginnt »der helle Wahnsinn« (Titel
geritzt und geschnitten und die Ausscheidungen des Kôr- einer Aktion im Februar 1968). Bei dieser Aktion hat Brus
pers selbstreferentiell wieder in den Kôrper zurückkehren, sich erstmals mit einer Rasierklinge in den Leib geschnitten,
indem Urin getrunken und Kot in den Mund genommen seinen ôffentlich gepiBten Urin getrunken und ôffentlich
wird, ist die Ontologie der Kunst redefiniert worden. Die defâkiert. In den folgenden zwei jahren hat er in den Aktio-
Dekonstruktion des Kunstwerkes durch den Leib hat zu nen und Aktionsfilmen »20. September« (schon 1967, ein
einer neuen Ontologie der Kunst geführt. D ie symbolische Film von Kurt Kren), »Kunst und Revolution«, »Der Staats-
Ordnung, die mit der Verdrângung des Kôrpers verbunden bürger Brus betrachtet seinen Kôrper«, »Kunststücke«,
ist, wurde mit den Kôrperaktionen in ihrer Totalitât aufge- «Satisfaction — G. Brus bittet um Ruhe«, »Kôrperanalyse«,
brochen. Durch die reale Verstümmelung des Kôrpers »Psychodramolett« und schliefilich »Zerreifiprobe« diese
wurde die Realitât der sozialen Codierung des Kôrpers und Elemente verschârft und auch hier wiederum Vorgaben der
die verstümmelnde Funktion der sozialen Codierung ange- Kunstgeschichte folgerichtig entfernt, wie zum Beispiel die
griffen. in Konservendosen verpackte und signierte «Künstler-
Der Kôrper ist die Insertion des Subjekts in die Welt. Mein scheifie« von Manzoni. Dieser Kôrperaktionismus, w o die
Kôrper ist es, der die Welt bewohnt, und durch den die Gewalt, die er sich antat, die Gewalt war, die ihm angetan
Welt in mir wohnt. Durch meinen Leib erfahre ich sowohl wurde, aber auch der Welt, das heifit dem Anderen, hat die
die Repression, den Zwang der Welt, wie meine Freiheit. traditionellen Kunstauffassungen so in Frage gestellt, dafi es
Der Kôrper ist der Schauplatz der Souverânitât und ihrer falsch wâre, die eigentlichen Aussagen hinter einer Flucht in
Unterdrückung. Er ist derjenige, der verneint wird, und die Kunst zu tarnen. Diese Kôrperaktionen waren hôchste
gleichzeitig der Andere, den er verneint. Kunst, weil sie das Erbe des Informel und der damit verbun-
Hier ist das Problem der Destruktivitât beziehungsweise denen Àsthetik, Ontologie und Epistémologie, diese Beun-
Selbstdestruktivitât im Brusschen Œ uvre anzusiedeln. ruhigung des zeitgenôssischen Geistes, konsequent zu Ende
Nicht in seiner Psychologie oder Person. Als Verstümmel- geführt haben. Sie waren aber auch keine Kunst, weil sie
ter ist er ja auch gleichzeitig Verstümmelnder, da er es war, gottseidank mehr waren als Kunst, weil sie transgressive, die
'der seinen eigenen Leib geritzt hat. Hat das Informel auch Kunst überschreitende Kunst waren. Brus agierte in Kreisen
l’Art Autre geheifien, die andere Kunst, so sehen wir, wie und Spiralen, in archaischen Formen des Ausdrucks und des
in der Ausdifferenzierung des Informel in der Kôrperaktion Gefühls, um den Kern der Existenz freizugeben, wo Frei­
auch der Begriff des Anderen mitausdifferenziert wird. Das heit und Widerstand, Gewalt und Uberleben angesiedelt
relativierte Ich, das auch vom Anderen gesprochen wird, sind. Wie für Beckett waren auch für Brus die Selbstzerstô-

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rang, das Fressen von Dreck und Trinken von Urin letzte »rocked hand« (1970) von Dennis Oppenheim, wo die linke
Anstrengungen des Lebens, Anstrengungen des Lebens in Hand unter Steinen verschwindét, welche die rechte Hand
den letzten Bedingungen, letzte Versucbe, trotz allem in der drauflegt, mit der Aktion »Starrkrampf« (1965) von Brus,
Todeszone zu überleben. Beyond death control durch Kôr- w o die Hand, mit Schnüren an die andere gebunden, immer
perfanatismus, durch Uberlebenstraining. wieder im Sand, der Erde, im Maldreck versinkt, desglei-
Die Bronze-Flaschen von Jasper Johns,”w o man nicht weîfi, chen »Zehendeformation« und »Wound« (beide 1970) von
ist das nun eine bemalte Flasche oder ein Gemalde in Fla- Oppenheim mit den Kôrperschnitten von Brus seit 1968.
schenform, eine Plastik oder ein Gemalde, sind epistemolo- Die »Transvestiten-Aktion« (1967) von Brus hat vieles von
gisch wegen dieser Differenz von Interesse. Eine Investiga­ Lüthi bis Klauke antizipiert, seine Selbstverletzungen von
tion jedoch, wo man nicht weiS, ist das nun Scheifie oder Gina Pane bis Vito Acconci. ailes. Die »singing sculpture«
braune Farbe oder Lehm, was da gegessen wird, ist das nun von Gilbert & George grüfien ihn aus der Nâhe. Ich zahle
Blut oder rote Farbe, was da rinnt, ist das eine Wunde oder diese Beispiele nicht nur auf, um die Prioritât von Brus
eine Linie, ist das ein Kôrper oder ein Kunstwerk, geht an hervorzukehren, sondern vielmehr darum, um auch a
die Existenzialien, geht über das epistemologische Interesse posteriori die Richtigkeit des von ihm eingeschlagenen
hinaus. Indem Brus radikal und konsequent einen Weg der Weges zu beweisen. N icht nur in der Darlegung der ihm
Kunst zu Ende geführt hat, trieb er aber gleichzeitig eine vorausgegangenen Kunstbewegungen und Künstler, son­
kritische Untersuchung des zugrande liegenden Zeichen- dera auch in jener der nachfolgenden kônnen wir die
systems voran, welche die in diesem Zeichensystem imple- geschichtsmâchtige Grôfie der Aktionskunst von Gunter
mentierte Kunst und Kultur demolierte und die Frage nach Brus ermessen. Durch seine Kôrperaktionen weht der Wind
dem Menschen neu stellte. Die blofi formalistisch gemeinte anderer Welten, die den Schauplatz der menschlichen
These Heinrich Wôlfflins, der menschliche Kôrper bleibe Souverânitat verândern und neue Existenzformen mit sich
der archetypische Gegenstand von Kunst, hat durch Brus bringen. Wenn gerade die natsurlichsten Produkte des Men­
eine unerwartete, aber zukunftsweisende Interprétation schen, wie Urin, Kot, Blut, zu Kunstwerken, und die ele-
erfahren. Man vergleiche den »Wiener Spaziergang« (1965) mentarsten Organe des Menschen, wie Genitalien und
von Bras, wo der ganze Mensch bereits weifi bernait und After, zu Werkzeugen derselben erklârt werden, daim wird
mit einem schwarzen Strich überzogen war, mit den die Krise unserer Epoche am tiefsten bedacht, die eben
Gesichtbemalungen von Arnulf Rainer 1968 und dem gerade darin besteht, die beiden Pôle Natur und Kultur
schwarzen vertikalen Strich von Rainer auf einem nackten nicht verbinden und synchronisieren zu kônnen. Natur und
Madchen 1967 anlâfilich einer Ausstellung des Pintorarium Kultur durchdringen einander im menschlichen Kôrper,
(Hundertwasser, Rainer, Fuchs). Bras hat einen GroSteil welcher der Ort von beiden ist. Natur und Kultur dürfen
des Katalogs der nachfolgenden Verhaltenskunst und Per­ einander nicht ausschliefien, sondern müssen miteinander
formance bereits erarbeitet. Er war ein Solo-Virtuose des verkehren und verkehrbar sein, sollen nicht beide und wir
Kôrpers, dessen Kôrpergesang von einer spâteren Künstler- mit ihnen verschwinden. Dies lehrt uns die Kôrperkunst
generation reich orchestriert wurde. Man vergleiche von Günter Brus. . . .

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