JUNIUS
Die Publikation des vorliegenden Werkes wurde gefördert vom Ministère
français de la Culture et de la Francophonie.
Dosse, François :
Geschichte des Strukturalismus / François Dosse
[Aus dem Franz. von Stefan Barmann]. - Hamburg : Junius.
Einheitssacht.: Histoire du structuralisme <dt.>
ISBN 3-88506-268-2
Bd. 1. Das Feld des Zeichens : 1945 - 1966. - 1. Aufl. - 1996
ISBN 3-88506-266-6
Für Florence, Antoine, Chloé und Aurélien
»Der Strukturalismus ist keine Methode, er ist das erwachte und
unruhige Bewußtsein des modernen Wissens. «
Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge
Inhalt
Einführung 9
Dank 563
Anmerkungen 567
Personenregister 609
Einführung
hin zur sozialen Welt. Schon in der Schule engagiert er sich im so-
zialistischen Kampf. Frühzeitig eignet er sich Kenntnisse des
Werks von Karl Marx an, dank des jungen belgischen Sozialisten
Arthur Wanters, der eines Sommers in das Haus der Familie ein-
geladen wird und ihn dort mit siebzehn veranlaßt, Marx zu lesen :
»Marx hat mich auf der Stelle fasziniert. [...] Ich habe mich sehr
bald darangemacht, das Kapital zu lesen.« 1 Eine solide Grund-
lage gibt Lévi-Strauss seinem Engagement jedoch vor allem unter
dem Einfluß von Georges Lefranc, in der Gruppe für sozialisti-
sche Studien während seiner Khagne-Xeit. Er meldet sich mit so
vielen Diskussionsbeiträgen und Referaten zu Wort, daß er
bereits im Jahre 1928, als er zum Generalsekretär der Fédération
des étudiants socialistes [Vereinigung sozialistischer Studenten,
A. d. Ü.] gewählt wird, wichtige Aufgaben wahrnimmt. Gleich-
zeitig ist er Ende der zwanziger Jahre Sekretär eines sozialisti-
schen Abgeordneten, Georges Monnets, muß jedoch 1930 diese
anstrengenden Verpflichtungen aufgeben, um das Staatsexamen
in Philosophie vorzubereiten. Von Begeisterung kann keine Rede
sein. Seine Lehrer, Léon Brunschvicg, Albert Rivaud, Jean La-
porte und Louis Bréhier, lassen ihn gründlich unzufrieden: »Im
Grunde bin ich wie ein Zombie durch das Gelände gestreunt.« 2
Dessen ungeachtet besteht er 1931 die agrégation in Philosophie
als Drittbester.
Mit seinem sozialistischen Engagement ist es bald darauf vor-
bei: Ein leichter Autounfall und ein vergeblich erwarteter Brief
lassen ihn anderen Sinnes werden. Dem politischen Engagement
des Pazifisten, der er war, bricht das Trauma von 1940, der »selt-
same Krieg« und die »merkwürdige Niederlage«, wie Marc Bloch
sie nennt, die Spitze. Er zieht daraus die Lehre, daß es gefährlich
ist, »politische Realitäten im Rahmen formaler Ideen zu fassen«3.
Er wird diesen Fehlschlag nie verwinden und keinerlei politisches
Engagement mehr zeigen, auch wenn sein Ethnologenstand-
punkt jenseits seiner eigenen Bekundungen politische Dimensio-
nen besitzt. Aber diese Wende ist wichtig. Anstatt auf die zu-
34 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
ändert. »Man konnte ja wirklich nicht sagen, daß Leute, die zu uns
in die Sorbonne kamen, >nicht-zivilisiert< waren.« 7 Sein Lehrstuhl
erhält daraufhin den Namen »Religionen schriftloser Völker«.
mus speisen. Und man kann mit Boudon sagen, daß »auf Seiten
der Anthropologen der Holismus gewissermaßen mit der Mut-
termilch eingesogen worden ist« 10 .
Für Durkheim wie für Comte bildet die Gesellschaft ein nicht
auf die Summe seiner Teile reduzierbares Ganzes. Auf dieser
Grundlage wird sich die soziologische Disziplin konstituieren.
Der zunehmende Erfolg des System- und danach des Strukturbe-
griffs knüpft an die wissenschaftlichen Umgestaltungen insge-
samt an, wie sie um die Jahrhundertwende in den verschiedenen
Disziplinen vonstatten gehen, und insbesondere an deren Fähig-
keit, die wechselseitige Abhängigkeit zwischen den konstitutiven
Elementen ihres je eigenen Gegenstandes zu erklären. Diese Um-
gestaltung betrifft die Soziologie genausogut wie die Sprachwis-
senschaft, die Ökonomie oder die Biologie. Lévi-Strauss kann
also nicht umhin, sich in der Nachfolge Durkheims anzusiedeln.
Greift er nicht übrigens 1949 ausdrücklich F. Simiands Heraus-
forderung der Historiker aus dem Jahre 1903 wieder auf? Aller-
dings verfährt Lévi-Strauss in umgekehrter Reihenfolge wie
Durkheim. Zu dem Zeitpunkt, als er Die Methode der Soziologie
(1895) schreibt, beschließt Durkheim, schriftliche Quellen zu be-
vorzugen und den vom Ethnographen zusammengetragenen
Auskünften zu mißtrauen. Es ist die Ära des historischen Positi-
vismus. Erst nachträglich, um 1912, stellt Durkheim beide Me-
thoden, die historische und die ethnographische, einander gleich,
wobei dieses Einlenken durch die Gründung von L'Année socio-
logique beschleunigt wird. Für Lévi-Strauss hingegen, der seine
minuziösen Feldforschungen in Brasilien begonnen hat, geht die
Beobachtung vor, geht sie jeder logischen Konstruktion, jeder
Konzeptualisierung voran. Ethnologie ist für ihn zuvörderst Eth-
nographie: »Die Anthropologie ist vor allem eine empirische
Wissenschaft. [...] Die empirische Untersuchung bedingt den
Zugang zur Struktur.« n Die Beobachtung ist gewiß kein Selbst-
zweck — Lévi-Strauss wird auch gegen den Empirismus strei-
ten —, aber eine unverzichtbare erste Stufe.
38 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche
das Lycée von Lille berufen worden, nachdem ich 1948 meine
agrégation in Philosophie abgelegt hatte, und dieses Buch war für
mich eine fundamentale Erleuchtung. Ich sah damals in den Ele-
mentaren Strukturen der Verwandtschaft eine Bestätigung von
Marx.« 3 Der Impuls reicht also über den kleinen Kreis der An-
thropologen hinaus und zeitigt zugleich nachhaltige Wirkung.
Fast zehn Jahre nach ihrer Veröffentlichung entdeckt ein ange-
hender Student der École normale supérieure 1957 mit heller Be-
geisterung Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft: Em-
manuel Terray. Angetreten als Philosoph, liebäugelt er bereits mit
der Anthropologie, hegt den Wunsch, Frankreich zu verlassen,
das sich mitten im Kolonialkrieg befindet, den er verurteilt und
gegen den er sich engagiert. Da bekommt er, da das Buch schwer
zu beschaffen war, Die elementaren Strukturen der Verwandt-
schaft von seinem Freund Alain Badiou geliehen: »Alain hat mir
dieses Buch geliehen, und ich habe hundert Seiten daraus abge-
schrieben, die ich noch immer besitze. Und als ich mit dem Ab-
schreiben der hundert Seiten fertig war, konnte Alain in Anbe-
tracht der Mühe, die das bedeutete, nicht umhin, mir sein Buch
zu schenken. Deshalb besitze ich die Erstausgabe. Für mich war
es damals — und dazu stehe ich noch heute — ein in seinem Be-
reich vergleichbarer Vorstoß wie das Kapital von Marx oder Die
Traumdeutung von Freud.« 4 Es ist Lévi-Strauss' Fähigkeit, Ord-
nung in ein scheinbar der völligen Inkohärenz, dem Empirischen
anheimfallendes Gebiet zu bringen, was den jungen Philosophen
verführt, und diese Begeisterung stärkt ihn in der Wahl seiner
Laufbahn : der Anthropologie.
Auf der Suche nach Invarianten, mit denen sich in den sozialen
Praktiken Universalien aufweisen lassen, stößt Lévi-Strauss auf
das Inzestverbot als ein jenseits der Vielgestaltigkeit menschli-
An der Nahtstelle von Natur und Kultur: der Inzest 45
sprachen, einem Schema, von dem nicht alle Termini oder alle
Ansichten gegenwärtig sein müssen, damit es operational funk-
tioniert.« 9 Lévi-Strauss leistet mit dieser beispielhaften Untersu-
chung die Befreiung der Anthropologie von den Naturwissen-
schaften und weist sie von vornherein dem Bereich der Kultur zu.
Das Unbewußte
nome Realität; die Symbole sind realer als das, was sie symboli-
sieren; der Signifikant geht dem Signifikat voraus und bestimmt
es.«14 Hier bahnt sich das übergreifende Projekt für sämtliche
Wissenschaften vom Menschen an, zusammengerufen zur Ver-
wirklichung eines breitgefächerten semiologischen Programms
und angetrieben von der Anthropologie, die allein in der Lage ist,
eine Synthese ihrer aller Arbeit zu leisten. Außer dem interdiszi-
plinären Horizont, den Lévi-Strauss hier bestimmt, spricht er
auch eine kanonische These des Strukturalismus aus, wenn er be-
hauptet, daß der Code der Mitteilung vorangehe, daß jener von
dieser unabhängig und das Subjekt dem Gesetz des Signifikanten
unterworfen sei. Auf dieser Ebene findet man den strukturalen
Kernpunkt des Verfahrens: »Die Definition eines Codes ist es, in
einen anderen Code übersetzbar zu sein : diese ihn definierende
Eigenschaft nennt man >Struktur<.«15
Die Dreifunktionalität
Lehren.«8 Wohl wird ihn die Struktur wider Willen bis über den
Tod hinaus verfolgen, aber der Sinn eines Werks gibt ja nicht un-
bedingt die Absicht seines Verfassers wieder. Georges Dumézil
war unbestreitbar ein Wegbereiter, ein Herold des strukturalisti-
schen Epos.
Die phänomenologische Brücke
ist erst der Anfang, denn einer ihrer verlorenen Söhne wird dem
phänomenologischen Projekt und den Ansprüchen einer über
das Getümmel der empirischen Wissenschaften erhabenen Philo-
sophie den Gnadenstoß versetzen : Michel Foucault. Seine Kritik
formuliert er erst später, im Lauf der sechziger Jahre, aber sie
nimmt ihren Ausgang vor allem in der Unzufriedenheit mit
dem phänomenologischen Programm, das, als er Wahnsinn und
Gesellschaft schrieb (1955-1960), das philosophische Feld be-
herrschte. Er wirft den Vertretern dieses Programms vor, sich auf
den streng akademischen Bereich zu beschränken und sich um
die Kantsche Frage zu drücken, was unsere Derzeitigkeit sei. Mi-
chel Foucault wird der Befragung neue Gegenstände erschließen
und von der phänomenologischen Perspektive, also der verinner-
lichten Beschreibung der gelebten Erfahrung, abrücken, indem
er die sozialen Praktiken und Institutionen untersucht und pro-
blematisiert : »Alles, was sich um die sechziger Jahre herum er-
eignete, kam ja aus der Unzufriedenheit über die phänomeno-
logische Theorie des Subjekts.« 17 Die Weiche, die Foucault stellt,
steht übrigens ebensosehr gegen die phänomenologische Proble-
matik wie gegen den Marxismus. Dennoch hat die Phänomeno-
logie eine maßgebliche Öffnung der philosophischen Fragestel-
lung bewirkt, indem sie betonte, daß der Mensch nicht derjenige
ist, der erkannt wird, sondern derjenige, der erkennt. Damit wies
sie auf die Unmöglichkeit für die erkennende Instanz hin, zur
Selbsterkenntnis zu gelangen, wenn nicht über den Blick in den
Spiegel, der die unsichtbare Spanne zwischen dem Gesicht und
seiner Repräsentation manifest macht.
Dieser Perspektive wird Jacques Lacan sich vor dem Krieg mit
dem »Spiegelstadium« weitgehend annehmen. Er sucht zu die-
sem Zeitpunkt bei den Phänomenologen das Mittel, den biologi-
schen Reduktionismus zu umgehen. Foucault selber beginnt Die
Ordnung der Dinge mit einer Interpretation von Velasquez' be-
rühmten Gemälde der Hoffräulein und zeigt einen König, der
nur dank des Spiegels ins Bild tritt. Aber die Phänomenologie hat
76 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
çoise Gadet, die dem nachgegangen ist 2 , weist auf das schwache
Echo des Werks bei seinem Erscheinen hin und hält dem die Zeit-
spanne der sechziger Jahre bis heute entgegen. Der Rhythmus
der Übersetzungen und Neuausgaben hat sich beschleunigt und
ist damit der ansteigenden Welle des Strukturalismus allgemein
gefolgt: Es gab fünf Übersetzungen von 1916 bis 1960 und zwölf
im vergleichsweise kurzen Zeitraum von 1960 bis 1980. Zwei Vor-
gänge werden für den wachsenden Erfolg der GaS, die zum
»kleinen roten Buch« des Basisstrukturalisten avancieren, eine
entscheidende Rolle spielen: Der erste Faktor resultiert daraus,
daß nach dem Ersten Weltkrieg die Russen und die Schweizer die
Vorherrschaft der Deutschen im sprachwissenschaftlichen Fach
abgelöst haben, die im wesentlichen für eine historisch-verglei-
chende Philologie eingetreten waren. So wird auf dem ersten in-
ternationalen Linguistenkongreß 1928 in Den Haag ein zukunfts-
trächtiges Bündnis geschlossen: »Den von den Russen Jakobson,
Karcevski und Trubetzkoy einerseits und von den Genfern Bally
und Séchehaye andererseits dargelegten Vorschlägen ist gemein-
sam, daß sie die Bezugnahme auf Saussure betonen, um die Spra-
che als System zu beschreiben.« 3 Die Grundlegung für die Defi-
nition eines strukturalistischen Programms geht also von Genf
und Moskau aus. Bei dieser Gelegenheit wird übrigens auch erst-
mals der Begriff »Strukturalismus« gebraucht — von Jakobson.
Saussure hat nur den Ausdruck System verwendet, den er etliche
Male in Anspruch nimmt, man findet ihn einhundertachtund-
dreißig Mal auf den knapp dreihundert Seiten der GaS.
Das zweite Ereignis, das die Zukunft der GaS mitbedingt und
sich diesmal in Frankreich zuträgt, bildet — neben anderen Arti-
keln — der 1956 in Le Français moderne(Heft 3,1956) erschienene
Aufsatz »L'actualité du saussurisme« von Algirdas Julien Grei-
mas. »In diesem Beitrag habe ich gezeigt, daß man sich überall auf
die Linguistik berief: Merleau-Ponty in der Philosophie, Lévi-
Strauss in der Anthropologie, Barthes in der Literatur, Lacan in
der Psychoanalyse, während in der eigentlichen Linguistik nichts
80 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche
tersuchen« 13 . Ihm zufolge wird erst durch den Prager Kreis und
die Phonologie das wirklich grundlegende Programm des Struk-
turalismus definiert: »Ich bin Saussurianer, aber — und ich sage
dies mit der größten Bewunderung für Saussure — er ist nicht der
Begründer des Strukturalismus.« 14
Zwei Saussures?
Mit Hilfe dieser zweiten Erbschaft wird die Wiederkehr des Sub-
jekts möglich werden. Dabei hat die von Saussure in den GaS ge-
troffene wesentliche Unterscheidung zwischen langueunaparole
das Subjekt gerade ausdrücklich zur Bedeutungslosigkeit herab-
gestuft, ja ins Schweigen verbannt. Denn die Opposition von
Sprache und Sprechen umfaßt die Unterscheidung von sozial und
individuell, abstrakt und konkret, notwendig und kontingent,
weshalb die linguistische Wissenschaft ihren Gegenstand auf die
langue zu beschränken hat, da nur sie einer wissenschaftlichen
Rationalisierung zugänglich ist. Die Folge ist die Eliminierung
des sprechenden Subjekts, des redenden Menschen: »Die Spra-
che ist nicht eine Funktion der sprechenden Person, sie ist das
Produkt, welches das Individuum in passiver Weise einregistriert
[...]. Die Sprache, vom Sprechen unterschieden, ist ein Objekt,
das man gesondert erforschen kann.« 25 In den Stand der Wissen-
schaftlichkeit tritt die Linguistik durch Saussure nur unter der
Voraussetzung, ihren spezifischen Gegenstand genau einzugren-
zen : auf die langue, weswegen sie die Schlacken der parole, des
Subjekts, der Psychologie loswerden muß. Der einzelne ist aus
Saussures wissenschaftlichem Blickfeld vertrieben, er ist das O p -
fer einer formalistischen Reduktion, in der er nicht mehr vor-
kommt.
Diese Negierung des Menschen, die schon den toten Winkel
des Saussureschen Blickfelds bildet, wird jenseits des linguisti-
schen Feldes auch ein Grundbaustein des Strukturalistischen Pa-
Der Saussuresche Schnitt 89
Jahre 1938 anhalten sollte und von einem so dichten und ergiebi-
gen Gedankenaustausch bestimmt war, daß Jakobson äußerte,
gar nicht mehr recht zu wissen, was ihm und was seinem Freund
zukomme: »Es war eine erstaunliche Zusammenarbeit, wir
brauchten einander.« 7 Jakobson liest die Logischen Untersuchun-
gen von Husserl, »der vielleicht den größten Einfluß auf meine
theoretischen Arbeiten genommen hat« 8 . Anfang 1917 wirkt er
in Sankt Petersburg an der Gründung der Gesellschaft zur Erfor-
schung der poetischen Sprache, auf russisch abgekürzt Opojas,
mit. Hier entwickelt er in der Runde der Dichter Eichenbaum,
Polivanov, Jakubinskij und Schklowskij die Beziehungen zwi-
schen Theorie, Poetik und Praxis weiter: »Der linguistische
Aspekt der Poesie wurde in all diesen Unternehmungen bewußt
herausgehoben.« 9
Jakobson verficht damals die Idee der immanenten Untersu-
chung des literarischen Textes und seines inneren Zusammen-
hangs, der ihn über die Summe seiner Teile hinaus zum Ganzen
macht. Auf diese Weise will er die Verbindung zwischen Schöp-
fung und Wissenschaft mittels der Linguistik herstellen, die er in
den Rang einer nomothetischen Wissenschaft zu erheben hofft.
Die poetische Sprache liefert ihm dafür eine gute Ausgangsbasis,
weil sie einen grundsätzlich autotelischen Charakter hat im Un-
terschied zur Alltagssprache, die durch ihrer Eigenlogik äußerli-
che Elemente bestimmt wird und sich somit als zu stark heterote-
lisch geprägt erweist. Dieses formalistische Vorgehen verträgt
sich indes schlecht mit der bleiernen Zeit des Stalinismus, die sich
in den zwanziger und dreißiger Jahren auf Rußland senkt.
nach Prag geht. »Es ist also ein Zufall der Geschichte, daß der
Strukturalismus sich im Westen entwickelt hat.« 10 Tatsächlich
hätte er sich in der Sowjetunion entwickeln können, so daß die
Sowjets der Avantgarde der linguistischen Forschungen angehört
hätten. Gewiß, Sprachwissenschaftler wie E. Polivanov blieben,
doch wurden sie mitsamt ihren Werken von den sowjetischen
Machthabern bald liquidiert. Diese Repression zeigt im übrigen
a contrario die Grenzen der formalistischen Thesen auf: Sie führt
den politischen Einsatz des Schreibens vor Augen und wider-
spricht faktisch dem formalistischen Postulat, demzufolge die Li-
teratur keinen anderen Zweck hat als sich selbst und jenseits jedes
historischen Kontextes steht. Jakobson wird Kulturattache an der
sowjetischen Botschaft in Prag dank des Botschafters Antonov,
der unter der Führung Trotzkis an der Einnahme des Winter-
palasts im Oktober 1917 beteiligt war, ein hinlänglich großes
Verbrechen, um wenig später ebenfalls liquidiert zu werden:
»Antonov wird zurückbeordert, zusammen mit allen Botschaftsan-
gehörigen, die, bis hin zu den Büroboten und der Aufwartefrau,
samt und sonders erschossen worden sind.« n
Jakobson langweilt sich in Prag. Deshalb sucht er den Umgang
mit tschechischen Dichtern, und bei ihren Zusammenkünften
übersetzt er ihnen die russischen Dichter ins Tschechische, da die
russische Kultur seinerzeit noch nicht die eines Bruderlandes war.
Bei dieser Lesung der Texte von Gorki, Majakowskij und anderen
auf tschechisch, im Zuge dieser Übersetzungen aus dem Stegreif,
die in leidenschaftliche Diskussionen münden, entdeckt Jakob-
son »plötzlich den Unterschied der Musikalität zwischen den
beiden Sprachen, den Unterschied der Lautung zwischen dem
Russischen und dem Tschechischen, zwei Sprachen, die von ihren
lexikalischen Wurzeln und Grundbestandteilen her einander sehr
nahestehen, aber eine ganz verschiedene phonologische Wahl
aufweisen, die aber wiederum verwandt genug ist, um klarzuma-
chen, daß es nur sehr wenig bedarf, damit die distinktiven Merk-
male wechseln« n.
Inspirator und Wegbereiter: Roman Jakobson 95
spricht bereits recht genau dem, was das Gebäude 1968 zum Ein-
sturz bringen wird: die Zentralität. In diesem Bereich scheint die
Autorität von Antoine Meillet unangefochten gewesen zu sein.
Von einigen Ausnahmen abgesehen, bestimmten damals klassi-
sche Maßgaben die Ausbildungsgänge und damit auch die Aus-
richtungen. Die Sprachwissenschaftler waren damals vornehm-
lich agrégés in Grammatik, also Vertreter einer traditionellen
Sprachwissenschaft. Es gibt allerdings untypische Fälle wie Guil-
laume, der in der Enklave der Modernität, die die École des
hautes études bildet, zahlreiche Schüler um sich scharen wird:
»Guillaume ist ein interessanter Fall. Er war eigentlich Bankange-
stellter und kam ganz von sich aus auf sprachwissenschaftliche
Probleme. Meillet verschaffte ihm von 1919 bis 1920 einen Lehr-
auftrag an der École des hautes études.« 1 Auch Georges Gougen-
heims 1939 erschienene Arbeit Système grammatical de la langue
française beschritt ganz neue Wege. Wer jedoch in dieser Zeit das
klassische Curriculum der agrégation durchläuft, hat alle Aus-
sichten, das in der Sprachwissenschaft aufkeimende strukturale
Phänomen zu verpassen.
Hat also die Neuerung es schwer, sich vor dem Krieg durchzu-
setzen, wie steht es dann in den fünfziger Jahren ? Frankreichs
Rückständigkeit nimmt zu, und zwischen der Sorbonne und den
wenigen Stellen, an denen die linguistische Forschung vorange-
trieben wird, tut sich nach wie vor eine unüberbrückbare Kluft
auf. André Martinet, der Bewegung in die Landschaft hätte brin-
gen können, befindet sich bis 1955 in den Vereinigten Staaten.
Überdies gerät Frankreich unter anderem durch das Ableben von
Antoine Meillet im Jahre 1936 und den Tod von Edouard Pichon
1940 gegenüber dem übrigen Europa und den Vereinigten Staaten
noch mehr ins Hintertreffen. Wenn auch der Einzug von R. L.
Wagner an der Sorbonne Hoffnung auf Erneuerung schafft, so
sind diesem enge Grenzen gesetzt, da er einen Lehrstuhl für Alt-
französisch innehat. R. L. Wagner klagt: »Es ist natürlich anor-
mal, daß Frankreich das Land in Europa ist, in dem das Studium
102 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
Die Druckwelle des Neuen kommt, da sich in Paris nichts tut, aus
der Provinz, und schrittweise umschließt der Feldzug vom Lande
die Sorbonne, den Schlußstein des französischen Universitätsge-
bäudes. Übrigens hat bei dieser Eroberung die Administration
eine treibende Rolle gespielt, denn der Direktor des Hochschul-
wesens selbst, Gaston Berger, schuf 1955 bis 1956 die ersten
sprachwissenschaftlichen Forschungsinstitute innerhalb der Uni-
versität.
In Straßburg gründete Gaston Berger das Zentrum für roma-
nische Philologie, wo Imbs und später Georges Straka zahlreiche
internationale Kolloquien veranstalteten, so daß die französi-
schen Linguisten sich über die modernsten Forschungen infor-
mieren und mit der Veröffentlichung der Kolloquiumsbeiträge
den letzten Forschungsstand bekanntgeben konnten. So findet
sich seit 1956 in Straßburg mit den Forschern des Zentrums eine
104 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
chen Wurzeln lösen mußte. In New York empfängt ihn der Exu-
lant Roman Jakobson. Martinet übernimmt sodann eine beson-
ders wichtige Aufgabe, die Herausgabe der größten sprachwis-
senschaftlichen Zeitschrift der Vereinigten Staaten: Word, die
Zeitschrift des New Yorker Linguistenkreises. Durch Zufall war
Martinet an eine Nahtstelle im Zentrum Europas gekommen, als
dieses die Avantgarde bildete. Jetzt kann er an der Seite Jakobsons
die Brücke zur angelsächsischen Linguistik schlagen, denn er un-
terrichtet von 1947 bis 1955 am sprachwissenschaftlichen Seminar
der New Yorker Columbia University, dessen Direktor er ist.
Als er 1955 nach Frankreich zurückkehrte, war er daher in Lin-
guistenkreisen weltbekannt. Der Empfang, den man ihm dort be-
reitete, zeigt, welch marginale Bedeutung man der Linguistik sei-
nerzeit zumaß. »Bei seiner Ankunft in Frankreich war er in einer
schwierigen Lage. Ich erinnere mich noch sehr gut — ich war da-
mals Assistent an der Sorbonne —, daß er den Literaturwissen-
schaftlern und Historikern dort als mißliebiger und skandalöser
Erneuerer erschien, als ein Anti-Humanist, den es herauszudrän-
gen galt.« n Trotz seines Ansehens muß Martinet in Wut geraten
sein und mit der Niederlegung seines Amtes gedroht haben, falls
er nicht zum ordentlichen Professor an der Sorbonne ernannt
würde. Im Ankunftsjahr gibt er auch sein Hauptwerk, Économie
des changements phonétiques, heraus. Darin tritt er für einen lin-
guistischen Ansatz ein, der dynamischer erscheint als Saussures
Auffassung und vom Prager Kreis die Betonung der Kommuni-
kationsfunktion der Sprache übernimmt: »Das kommt aus Prag.
Der große Gedanke ist der der Pertinenz. Jede Wissenschaft
gründet sich auf eine Pertinenz. Eine Wissenschaft kann sich nur
dann unabhängig von einer Metaphysik entwickeln, wenn man
sich auf einen Aspekt der Realität allein konzentriert. [...] Da die
Linguistik nun einmal der Kommunikation dient, sind wir im-
stande zu wissen, wonach der Linguist suchen muß. [...] Es hat
keinen Sinn, in der Linguistik Strukturalismus zu betreiben,
wenn dies nicht funktional geschieht.« 13
108 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche
1953 findet ein Buch einhellige Aufnahme und wird bald Sym-
ptom eines neuen literarischen Anspruchs, Akt des Bruchs mit
der Tradition und Ausdruck eines tiefen, aus Camus' Fremdem
genährten Gefühls der Ausweglosigkeit: Am Nullpunkt der Lite-
ratur von Roland Barthes. Dieser ist nach seiner Begegnung mit
Greimas in Alexandria nicht mehr der Sartrianer, der er in der un-
mittelbaren Nachkriegszeit war, allerdings auch noch nicht der
Linguist, der er Ende der fünfziger Jahre sein wird. Man kann be-
reits erkennen, was ihm die große Anhängerschaft eintragen wird
— seine Beweglichkeit, seine Geschmeidigkeit im Umgang mit
Theorien: So flink er sie sich zu eigen macht, so schnell löst er
sich auch wieder von ihnen.
Roland Barthes stellt als mythische Figur des Strukturalismus
dessen biegsame und feinsinnige, mehr zur Anwandlung als zur
Strenge neigende Verkörperung dar. Er ist gewissermaßen sein
bestes Barometer, gleichermaßen fähig, gegenwärtige atmosphä-
rische Schwankungen zu registrieren wie künftige vorauszuah-
nen. Diese äußerste Sensibilität findet ihr Ausdrucksmittel im
Rahmen von Strukturen; doch handelt es sich dabei um eine
schillernde Struktur, eher eine Kosmogonie, in der sich die Welt
der innigen Beziehung zum Bild der Mutter verkörpert, als eine
binär gegliederte Struktur, die wie eine unerbittliche Mechanik
funktioniert. Barthes bildet so etwas wie einen feinfühligen Seis-
mographen des Strukturalismus. Alle Stimmen und Stränge des
Paradigmas werden bei ihm über eine subtile, intertextuell ver-
wobene Schreibweise hineinspielen. Die bloße Durchsicht der
Bezugnahmen in seinen Texten führt diese Schnittstellenposition
118 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche
Der Nullpunkt
Mit dem Nullpunkt der Literatur schwimmt Barthes mit der for-
malistischen Strömung, indem er sich für die Ethik einer von allen
Zwängen befreiten Schreibweise ausspricht: »Meine Absicht ist
hier, diese Verbindung zu skizzieren, zu zeigen, daß es eine for-
male Wirklichkeit gibt, die unabhängig von Sprache und Stil ist.« 1
Barthes greift Sartres Thema der durch den Akt des Schreibens
erlangten Freiheit auf, stellt es jedoch in ein neues Licht, indem er
das Engagement, das das Schreiben bedeutet, nicht im Inhalt des
Geschriebenen, sondern in seiner Form ansetzt. Vom Stand des
Mittels geht die Sprache in den des Zwecks über, in dem die wie-
dererlangte Freiheit erkannt wird. Nun steht aber die Literatur an
einem zurückzuerobernden Nullpunkt zwischen zwei Formen
von Vereinnahmung, nämlich durch die Auflösung in der Alltags-
sprache, die aus Gewohnheiten und Vorschriften besteht, und
durch die Stilistik, die auf eine autarke Daseinsweise verweist und
damit auf eine Ideologie, die den Autor für von der Gesellschaft
abgeschnitten und zu einer Splendid isolation verurteilt ausgibt.
Bei Barthes trifft man wieder auf das Thema, das der moder-
nen Linguistik ebenso eignet wie der strukturalen Anthropolo-
gie, das vom Vorrang des Tausches, der Urbeziehung, die von ei-
Die »Mutter« des Strukturalismus: Roland Barthes 119
Wegmarken
Zwei Jahre lang, von 1954 bis 1956, schickt Barthes Maurice Na-
deau monatlich einen Artikel für Les Lettres nouvelles. Darin geht
er regelmäßig der Abtragung zeitgenössischer Mythen nach, ei-
ner Ideologiekritik der Massenkultur, die sich in Frankreich im
Zuge des Wiederaufbaus und der trente glorieuses auszubreiten
beginnt. Barthes wendet sich sarkastisch gegen das, was er als
kleinbürgerliche Ideologie bezeichnet, die sich in den von den
immer gewichtigeren Medien transportierten Geschmäckern und
Werten äußert. Diese kleinbürgerliche Ideologie, mit der Barthes
ins Gericht geht, birgt nach seiner Auffassung eine im wesentli-
chen ethische Bedeutung und ist im Sinne Flauberts ein zugleich
sozialer, ethischer und ästhetischer Begriff: Sie ist »alles, was in
mir den Ekel vor dem Durchschnitt, dem Halbwegs, der Vulgari-
tät, dem Mittelmaß und besonders der Welt der Stereotypen her-
vorruft« n.
Barthes unternimmt somit gegen die vermeintliche Natürlich-
Die »Mutter« des Strukturalismus: Roland Barthes 123
Bei dieser Gelegenheit trifft er sich 1962 mit Barthes. Die beiden
kennen sich bereits von ihren gemeinsamen Aktivitäten in der
Gruppe des Théâtre antique an der Sorbonne. Barthes, damals
Studiendirektor an der École des hautes études, bittet André
Green, im Rahmen seines Seminars ein Referat über Lacan zu hal-
ten: »Was ich auch tat, denn es war meine Lacan-Phase. Danach
gingen wir im Café an der Ecke einen trinken. Barthes beugt sich
zu mir herüber und sagt: >Sehen Sie die beiden da? Sie kommen
zu allen meinen Seminaren, sie verfolgen mich, sie kommen mir
aufs mißlichste mit Widerreden, sie wollen mich in Stücke rei-
ßen^ Es waren Jacques-Alain Miller und Jean-Claude Milner.« 17
Diese Perspektive ist einer Epoche zu eigen, die den Sinn in den
Tiefen zugrundeliegender Strukturen sucht, denn wenn die Kri-
tik als notwendige Stufe betrachtet wird, so fällt ihr lediglich die
Vorarbeit für die Aufdeckung der Struktur zu, in der die letzte
Wahrheit des Werkes enthalten ist. Gueroult begegnet damit der
Herausforderung der Humanwissenschaften und den Geboten
der Modernität, sofern diese vergangene philosophische Sy-
steme, die auf überholte wissenschaftliche Postulate gegründet
worden sind, zum alten Eisen wirft. Er weigert sich also anzu-
nehmen, daß die Philosophie ihren Dienst getan habe. Der philo-
sophische Strukturalismus, die Verteidigung der autonomen
Wirklichkeit philosophischer Systeme dient ihm als Damm gegen
die Auflösung der Philosophie in den Humanwissenschaften.
Von dieser Methode inspiriert, doch unerschrockener, werden
andere, anstatt sich hinter der philosophischen Legitimierung zu
verschanzen, die Beete bewässern, auf denen sich die zarten
Sprößlinge namens Sozialwissenschaften zeigen. Vor allem in
dieser Hinsicht hatte Gueroult wenig unmittelbare Nachfolger,
der durchschlagende Erfolg des Strukturalismus hat seine poten-
tiellen Schüler an andere Horizonte gelockt. Gueroults Vorhaben
ist streng philosophisch, es knüpft an Kant und Fichte an, »um
mit Hilfe dieses methodologischen Strukturalismus die koperni-
kanische Revolution zu verwirklichen, die sie nicht haben voll-
bringen können« 13 . Er bemängelt bei diesen beiden Philosophen,
daß sie den Realitäten und ihrer Darstellung verhaftet geblieben
seien. Gegen sie setzt er die Selbstgenügsamkeit der philosophi-
schen Systeme — ein Ansatz, in dem man den Formalismus seiner
Zeit wiederfindet : »Das philosophische Ziel, angewandt auf die
Gegenstände der Philosophiegeschichte [...], besteht darin, den
Stoff dieser Geschichte, das heißt die Systeme, als Gegenstände
anzusehen, die einen Wert, eine Realität in sich selbst haben, die
nur ihnen gehört und durch sie allein sich erklärt.« 14 Der In-sich-
132 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche
Unter diesem Impuls erweitert sich die dem Begriff der Epistemo-
logie beigemessene Bedeutung, die nun die enggefaßte Ebene der
Reflexion der wissenschaftlichen Verfahrensweisen überschreitet,
um sich dem Sozialen zu öffnen und in dialektischer Auseinander-
setzung dem Ideologischen gegenüberzutreten. Die strukturalisti-
sche Periode ist zugleich die des Erfolgs der epistemologischen
Reflexion. Die Disziplinen befragen sich über ihren Gegenstand,
die Gültigkeit ihrer Begriffe, ihre wissenschaftliche Zielvorstel-
Die epistemische Herausforderung 133
hing. Die Gelehrten verlegen sich, nach dem Muster von Lévi-
Strauss, von der Philosophie auf die Humanwissenschaften.
So auch einer der großen Epistemologen dieser Zeit, Jean Pia-
get: »Die Einheit der Wissenschaft, die unser gemeinsames Ziel
ist [...], kann nur zu Lasten der Philosophie erreicht werden. [...]
Alle Wissenschaften haben sich von der Philosophie abgespalten,
von der Mathematik zu Zeiten der Griechen bis zur experimen-
tellen Psychologie gegen Ende des 19. Jahrhunderts.« 16 Sich aus
der philosophischen Vormundschaft zu befreien, scheint für
manche der gangbare Weg zu sein, um die Humanwissenschaften
in den exakten Wissenschaften gleichgestellte »harte« Wissen-
schaften zu verwandeln. Daher schlägt Jean Piaget vor, die Hu-
manwissenschaften aller Fragen zu entbinden, die außerhalb ih-
res eigentlichen Untersuchungsgegenstandes liegen, denn diese
fielen dem Bereich der Metaphysik zu. Es komme einzig auf das
Wissen an, wie die Kenntnisse auf einem bestimmten Gebiet zu
vermehren seien. Dennoch unterscheidet sich Piaget vom all-
gemeinen Paradigma durch sein Interesse an der historischen
Gewordenheit der verwendeten Begriffe, und sein Strukturalis-
mus kann als entwicklungsgeschichtlich bezeichnet werden. 17
Dieser Genetismus findet sich in Piagets Theorie der Wahrneh-
mungsentwicklung beim Kind wieder, die sich in mehreren, als
Transformationssysteme beschriebenen Angleichungsschritten
vollzieht und dadurch die Assimilation neuer Schemata, neuer
Wahrnehmungs strukturen erlaubt.
Die epistemologische Reflexion in den Humanwissenschaften
zollt den Umstellungen in den »harten« Wissenschaften Tribut,
und beide lassen den gleichen formalistischen Einschlag erken-
nen. Treffendstes Beispiel ist die Entwicklung, die die Mathema-
tik mit der Bourbaki-Gruppe genommen hat, die in den fünfzi-
ger und sechziger Jahren die berühmte moderne Mathematik
hervorbrachte. Die Mathematik behandelt nun Mengen unspezi-
fischer Elemente, die von axiomatischen Grundstrukturen herge-
leitet werden. Prototyp ist die algebraische Struktur, neben ihr
134 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche
xionsfeld tut sich damit der Epistemologie auf, die sich von den
Einbringungen des menschlichen Subjekts, von der Erlebniswelt,
der Erfahrung absondern muß. Die Abgeschlossenheit wird hier
als epistemologischer Bruch vorgestellt, der unverzichtbar ist,
um den Prozeduren des strengen Denkens selbst Platz zu ma-
chen.
Bachelard kritisiert den Evolutionismus und setzt ihm einen
Relativismus entgegen, der es erlaubt, den Lauf der Wissenschaft
als einen langen Gang der Erfindungen, aber auch der Irrtümer
und Irrungen neu zu verorten. In einer hauptsächlich vom Exi-
stentialismus geprägten Nachkriegszeit bleibt Bachelard ziemlich
isoliert, findet aber später nachhaltigen Anklang mit seiner Auf-
fassung vom epistemologischen Bruch, die Louis Althusser in
seiner Marx-Lektüre oder Foucault mit seiner diskontinuisti-
schen Geschichtskonzeption aufgreifen und zuspitzen werden.
Was Canguilhem g e s ä t . . .
Wissen und der fiktionalen Welt, die sich beide in der Zugehörig-
keit zum beherrschenden Epochenparadigma vereint finden.
Folglich gesellt sich die Mythologie zur Wissenschaft, so wie sich
bei Canguilhem Pathologie mit Normalität überschnitt: »Die
Mythen sind voller Wissen, und das Wissen ist voll von Träumen
und Illusionen« 34 , weshalb hier auch der Irrtum der Wahrheit
wesensgleich ist.
Michel Serres war zweifellos der erste Philosoph, der — bereits
1961 — ein ausdrücklich strukturalistisches Gesamtprogramm im
Feld der Philosophie definiert hat. 35 Im kritischen Gebrauch des
von der Mathematik übernommenen Begriffs der Struktur er-
kennt er den Vollzug einer zweiten Revolution des 20. Jahrhun-
derts. In Gaston Bachelard sieht er hingegen die Vollendung eines
symbolistischen 19. Jahrhunderts, das die Heldenarchetypen
durch die Elementararchetypen Erde, Wasser und Feuer ersetzt
hat. Der Strukturalismus läutet ein neues Zeitalter ein, dessen
Methode Michel Serres als »Loganalyse« 36 bezeichnet.
Die neue Methode zielt darauf, die Struktur von jedem seman-
tischen Inhalt zu bereinigen, sie um jeden semantischen Inhalt zu
beschneiden: »Eine Struktur ist eine Operationale Menge mit Un-
definierter Bedeutung [...], die beliebig viele, inhaltlich nicht spe-
zifizierte Elemente und eine endliche Zahl von Relationen zusam-
menfaßt, deren Natur nicht weiter spezifiziert ist, für die jedoch
die Funktion und gewisse Auswirkungen auf die Elemente defi-
niert sind.« 37 Die Strukturanalyse stehe über dem Sinn, im Ge-
gensatz zur Symbolanalyse, die von diesem erdrückt werde. Mi-
chel Serres folgt insofern einer kantischen Strukturkonzeption,
als er, Kants Unterscheidung zwischen Noumenon und Phäno-
menon äquivalent, zwischen Struktur und Modell trennt. Dieser
Text von 1961 birgt das Versprechen auf Verwirklichung eines
sehr ehrgeizigen philosophischen Programms, denn wenn diese
Methode aus einem Wissensgebiet, der modernen Mathematik,
stammt, muß sie sich laut Serres auch auf alle anderen Problem-
felder übertragen lassen. Das heißt, es besteht die Möglichkeit,
144 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche
alle Felder des Wissens, von den Mythen bis zur Mathematik,
aufgrund eines gemeinsamen Paradigmas zu umspannen, das Mi-
chel Serres als Loganalyse bezeichnet, welche aus der Anhäufung
und kulturellen Zersplitterung heraus Ordnung setzt. Dieser
konzeptuelle Vorstoß bietet in Michel Serres' Augen auch die
Möglichkeit, an die Abstraktion des Klassizismus anzuknüpfen
und dank des Wegfalls der scholastischen Trennung von Natur-
wissenschaften und Geisteswissenschaften, dank der histori-
schen Universalität und Transversalität des Projekts »im selben
Zuge das griechische Wunder der Mathematik und die phantasti-
sche Blüte der griechischen Mythologie begreifen zu können«38.
Im gleichen Zeitraum, als Merleau-Ponty — 1960 — sein phä-
nomenologisches Programm definierte, brachte Michel Serres —
ab 1961 — das strukturalistische Programm in Umlauf. Eben letz-
teres nahm in den sechziger Jahren seinen Aufschwung.
Der Rebell Jacques Lacan
Stellt sich dieser Moment 1936 noch als Stufe, als Stadium im
Wallonschen, genetischen Sinn des Wortes dar, so greift Lacan
das Referat für den Internationalen Kongreß für Psychoanalyse
1949 in Zürich noch einmal auf, doch diesmal mit einer eher
strukturalistischen als genetischen Lesart. Denn er behält in sei-
nem Vortrag zwar die Bezeichnung Stadium bei {Le Stade du
miroir comme formateur de la fonction du Je [Das Spiegelsta-
dium als Bildner der Ich-Funktion] ), doch wird dieses nicht mehr
als ein Moment innerhalb eines genetischen Prozesses betrachtet,
sondern als Gründungsmatrix für die Identifizierung, für das
vom Subjekt errichtete Verhältnis zwischen Äußerlichkeit und
Innerlichkeit, aus dem eine »unüberschreitbare Konfiguration« 10
hervorgeht. Die Bezeichnung Stadium entspricht somit nicht
mehr dem, was Lacan beschreibt. Aufgrund dieser imaginären
Identifizierung findet sich das Kind also bereits in seinem Werden
strukturiert, befangen in den Trugbildern dessen, was es für seine
Identität hält, wodurch fürderhin jeglicher Versuch, Zugang zu
sich selbst zu finden, für das Subjekt unmöglich und illusorisch
wird, denn das Bild seines Ich (moi) verweist es auf einen ande-
ren, der nicht es selber ist.
Lacan akzentuiert also seit der Nachkriegszeit den Schnitt
zwischen Bewußtheit und Unbewußtheit, indem er von zwei
Ordnungsgrößen ausgeht, die sich zueinander im Verhältnis der
Äußerlichkeit befinden: Das Sein-seiner-Selbst entzieht sich un-
weigerlich dem Seienden, der Welt, dem Bewußtsein. Damit wird
das Spiegelstadium zum Schlüssel, der beim Individuum die Fest-
setzung der Trennlinie zwischen dem Imaginären und dem Sym-
bolischen gestattet, erstes Merkzeichen einer Entäußerung des
Ich (moi) : »Man kann mit J. Lacan im Spiegelstadium einen re-
gelrechten strukturalen Schnittpunkt erkennen.« n Aus dieser
neuen Auffassung vom Spiegelstadium ist ein zweifacher Einfluß
herauszulesen: die strukturale Linguistik Saussures, die Lacan
gleich nach dem Krieg durch Lévi-Strauss entdeckt, und die Hei-
deggerschen Themen, die an die Stelle der Hegeischen Dialektik
150 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche
treten. Der Essenz des Seins, jeden Tag ein wenig mehr verloren
in der Seinsvergessenheit, dem unausbleiblichen Untergang im
Seienden korrespondiert die künftige, nach dem Spiegelstadium
sich vollziehende Konstruktion des Ich (moi), das dem Ich (Je),
dem auf ewig seiner selbst dezentrierten Subjekt immer weiter
entgleiten wird : »Die fortschreitende Entzweiung, die zwischen
dem Ich (moi) und dem Sein eintritt, wird sich durch die ganze
seelische Geschichte hindurch verschärfen.« n
In diesem Sinne gehörte Lacan bereits 1949 dem strukturalisti-
schen Paradigma an, ehe er sich 1953 ausdrücklich auf Saussure
bezieht, denn das Spiegelstadium entgeht der Geschichtlichkeit,
es ist gegeben als primäre, unumkehrbare Struktur, die nur mehr
durch ihre eigenen Gesetze zu funktionieren vermag. Es gibt
demnach keine Möglichkeit des Übergangs von einer Struktur zu
einer anderen, sondern lediglich eine von dieser zu jener Verwal-
tung der besagten Struktur. Von diesem Augenblick an entschlägt
sich Lacan gänzlich der in seiner thèse angesprochenen Hegel-
schen Idee der Möglichkeit einer vollendeten, sich selbst durch-
schaubaren Persönlichkeit. Keine dialektische Überschreitung
der Ausgangsstruktur ist mehr möglich. Das Unbewußte ent-
gleitet fortan der Geschichtlichkeit, ebenso wie es das Cogito,
das Selbstbewußtsein, den Täuschungen der Imago anheimstellt.
Desgleichen nimmt Lacan hier Abstand von der Hegeischen Dia-
lektik der Begierde (désir) als Begierde auf Anerkennung, die für
ihn ins Reich des Imaginären, also des Verlangens (demande)
fällt, und nicht in das des Wunsches (désir), der seinen eigenen
Ort nur im Unbewußten findet. Lacans von Freud stammende
und von ihm zugespitzte Idee der Teilung des Subjekts impliziert
eine Kritik des Hegelianismus und dessen Idee des absoluten
Wissens, die als Fata Morgana verabschiedet wird: »Ich würde
sogar sagen, daß Lacan durch und durch eine Kritik des Hegelia-
nismus formuliert, und zwar die triftigste, die es gibt.« 13
1956 wendet sich Lacan gegen seinen Lehrmeister Jean Hyp-
polite, den Statthalter des Hegelianismus, indem er die Psycho-
Der Rebell Jacques Lacan 151
Die Skandierung
niemanden, sie haben nie jemandem geholfen und sind kein Ver-
brechen« 21.
Das Ergebnis ist auf alle Fälle beeindruckend, denn Lacan hat
eine ganze Analytikergeneration stark geprägt, nicht nur mit sei-
nen Seminaren, sondern tiefreichender noch durch seine Analy-
sen. Um eine solche Ausstrahlung zu gewinnen, um eine Intensi-
vierung der Übertragungsbeziehung zu erreichen, war der Weg
über die Kurzsitzung unumgänglich. Jean Clavreul beginnt 1947
in großer seelischer Bedrängnis eine Analyse bei Lacan: »Er war
der einzige, der mich adäquat verstanden hat. Er war jemand, der
die Probleme metaphorisch umsetzte.« 22 Serge Leclaire lernt
Françoise Dolto kennen, die ihn zu Lacan schickt, begibt sich
von 1949 bis 1953 bei ihm in Analyse und wird der »erste Lacania-
ner der Geschichte« 23 . Einige treten durch die Übertragungsbe-
ziehung in ein Verhältnis zu Lacan, und andere finden auf seine
Couch, nachdem sie ihn in seinen Seminaren kennengelernt ha-
ben. So Claude Conté, der, in der Ausbildung zum Psychiater,
aber ebenso unzufrieden mit der Psychiatrie wie mit den gängi-
gen Freud-Kommentaren, 1957 Lacan entdeckt und seine Semi-
nare besucht. Von da an liest er Freud wieder und vollzieht, wie
eine ganze Generation, die von Lacan propagierte Rückkehr zu
Freud — und befindet sich für zehn Jahre, von 1959 bis 1969, bei
Lacan in Behandlung. Es gehört zu Lacans größten Verdiensten,
daß er in einer Zeit — den fünfziger Jahren —, als »es Mode war,
Freud als einen ehrwürdigen Altvorderen zu betrachten, den man
aber nicht mehr las« 24 , eine Lektüre bzw. Neulektüre Freuds be-
wirkt und dem Freudianismus neues Ansehen verliehen, ihn wie-
derbelebt hat.
Die Rückkehr zu Freud vollzog sich also auf Vermittlung La-
cans, der davon profitierte, indem er die Position des gesetzge-
Der Rebell Jacques Lacan 155
Wie der Appell vom 18. Juni 1940 den Militär de Gaulle zum Poli-
tiker macht, so erhalten die Psychoanalytiker durch Lacans Rom-
Rede im September 1953 die höheren Weihen. Doch man darf
nicht vergessen, daß Lacan zunächst einmal Psychiater war, und
mit Rücksicht darauf müssen seine Positionsbestimmungen wie-
der in den epistemologischen Kontext dieser Disziplin gerückt
werden. Denn in den dreißiger Jahren ist die Psychiatrie Schau-
platz einer großen Auseinandersetzung um die Aphasie, die hin-
sichtlich der Hirntopologie zwischen Lokationisten und Globali-
sten geführt wird. 1 Einige Forscher halten die Störungen für in
den verschiedenen Hirnteilen verortbar. Dagegen verwirft unter
Berufung auf die Thesen der Gestalttheorie Kurt Goldstein diese
reduktionistische Sichtweise, die der Störung eine lokalisierte
Wirkungsweise zumißt. Er spricht sich für einen strukturalen
Ansatz aus, dem zufolge die neuronale Veränderung die Hirn-
funktion insgesamt betrifft. Eine Fortsetzung außerhalb des
psychiatrischen Umfelds findet diese Debatte übrigens 1942 mit
der Veröffentlichung der Struktur des Verhaltens von Maurice
Merleau-Ponty, der für Goldsteins globalistische Position ein-
tritt. Der Strukturgedanke, der allerdings nicht gleichzusetzen ist
mit dem Strukturbegriff, der in der strukturalistischen Periode
zum Zuge kommt, ist somit in dem Umfeld, in dem sich der
junge Psychiater Lacan bewegt, bereits ein zentraler Reflexions-
gegenstand.
Die Psychiatrie bleibt für Lacan ein maßgeblicher Horizont,
nicht nur wegen seiner ursprünglichen Ausbildung, sondern
auch, weil sie fortlebt in einer tiefen Freundschaft mit Henri Ey,
Der Appell von Rom (1953): zurück zu Freud 157
Der Bruch
Schiebung wurde durch die Praxis der Therapie nötig. Doch dieses
Sprechen stellt deshalb noch nicht die Äußerung eines bewußten
Subjekts dar, das Herr seines Sagens ist, ganz im Gegenteil: »Ich
identifiziere mich in der Sprache, aber nur indem ich mich dabei
in ihr wie ein Objekt verliere.« 20 Dieses Sprechen ist auf immer
von jedem Zugang zum Realen abgeschnitten, es befördert ledig-
lich Signifikanten, die wechselseitig aufeinander verweisen. Der
Mensch existiert allein durch seine symbolische Funktion, und
durch sie muß er begriffen werden. Lacan präsentiert also eine
radikale Umkehrung der Idee vom Subjekt, nun gedacht als
Produkt der Sprache, als ihr Effekt, wie es die berühmte Formel
»das Unbewußte ist strukturiert wie eine Sprache« impliziert. Es
ist also an keiner anderen Stelle nach der menschlichen Essenz zu
forschen als in der Sprache. Das will Lacan sagen, wenn er be-
hauptet: »Die Sprache (langue) ist ein Organ«, und: »Der
Mensch zeichnet sich dadurch aus, daß seine Organe außerhalb
seiner sind.« Diese symbolische Funktion, die die Identität des
Menschen fundiert, stellt Lacan in seiner Rede von Rom dem Si-
gnalsystem der Bienen entgegen, die nur in der Starre der eta-
blierten Beziehung mit der Realität, die sie bedeutet, gilt. Lacan
findet also im Saussureschen Zeichen, das vom Referenten abge-
schnitten ist, den quasi-ontologischen Kern der conditio hu-
mana: »Möchte man diese Sprachdoktrin charakterisieren, muß
man letzten Endes sagen, daß sie unverhohlen kreationistisch ist.
Die Sprache ist schöpferisch.« 21 Die menschliche Existenz hat für
Lacan keinen anderen Ort als diesen symbolischen, und so trifft
er sich in der Vorrangstellung, die er der Sprache, der Kultur, dem
Tausch und der Beziehung zum anderen einräumt, naturgemäß
mit Saussure und Lévi-Strauss.
In Rom ermächtigt und bemächtigt Lacan sich also der Wis-
senschaftlichkeit der Linguistik: »Er war sehr froh, sich auf etwas
stützen zu können, was eine wissenschaftliche Tragfähigkeit
hatte. Das war Teil eines Plans, nämlich, in wissenschaftlicher
Tonart von der Psychoanalyse Rechenschaft zu geben.« 22 Damit
Der Appell von Rom (1953) : zurück zu Freud 165
Sl
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170 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
Der Unterschied zur Metapher besteht nun darin, daß der ausge-
schaltete Signifikant nicht unter den Bedeutungsbalken wandert,
wogegen das Signifikat s2 (Vorstellung von Couch) ausgestoßen
wird: »Die Begriffe Metapher und Metonymie bilden in der La-
canschen Perspektive zwei Hauptbausteine bei der strukturalen
Konzipierung des unbewußten Prozesses.« 32
Diese beiden Tropen untermauern ob ihrer Homologie mit
den Phänomenen der Verdichtung und der Verschiebung Lacans
Hypothese, daß das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert
sei. Daher legt Lacan dem Analytiker nahe, den Patienten wört-
lich zu nehmen und dessen Sagen nicht hermeneutisch zu deuten.
Darin folgt er Freuds Vorschriften zur gleichschwebenden Auf-
merksamkeit des Analytikers. Die Buchstäblichkeit des Spre-
chens liefert in sich selbst die signifikante Kette, die das Gewebe
des Unbewußten ist. Es leuchtet ein, daß der formalistische Ge-
sichtspunkt des Strukturalismus seine Wirksamkeit in der Praxis
der Therapie findet. Lacan empfiehlt den Analytikern, sich in die
Linguistik einzuarbeiten: »Wenn Sie mehr darüber erfahren wol-
len, lesen Sie Saussure, und da ein Kirchturm die Sonne zu ver-
decken vermag, präzisiere ich, daß es sich nicht um die Signatur
handelt, der man in der Psychoanalyse begegnet, sondern um
Ferdinand, den man als den Begründer der modernen Linguistik
bezeichnen darf.« 33 Es ist also die sprachliche Struktur selbst, die
den Status des Unbewußten bei Lacan bestimmt und damit die
Möglichkeit schafft, es zu objektivieren, seine Funktionsweise
zugänglich zu machen. Schon Freud hatte gesagt, daß der Traum
ein Rebus, ein Bilderrätsel sei: Lacan nimmt hier Freud beim
Wort. Aber die Suche nach der letzten Bedeutung des Rebus wird
stets zurückverwiesen durch die signifikante Kette, die fortwäh-
rend die Wahrheit verschleiert anhand von Begegnungen, die man
in den Beziehungen von Signifikanten und Signifikaten zwar or-
ten mag, die aber die inkommensurable Dimension des Realen,
das dem Unmöglichen zugewiesen ist, radikal verfehlen.
Ferner entlehnt Lacan sein Vokabular bei dem Linguisten und
Der Appell von Rom (1953): zurück zu Freud 171
ten, welches »immer leer ist; genauer gesagt, es ist den Bildern
ebenso fremd wie der Magen den Nahrungsmitteln, die durch
ihn hindurchgehen. Als Organ einer spezifischen Funktion be-
schränkt es sich darauf, [...] Strukturgesetze aufzuerlegen [..·].«9
Lévi-Strauss' Unbewußtes ist also den Affekten, dem Inhalt, der
Geschichtlichkeit des Individuums fremd. Es ist jener leere Ort,
an dem sich die symbolische Funktion vollzieht. Wieder trifft
man auf den dem strukturalen Paradigma eigenen Vorrang der In-
variante vor den Variationen, der Form vor dem Inhalt, des Signi-
fikanten vor dem Signifikat. Wir werden noch sehen, daß Lacan
diese Auffassung vom Unbewußten übernimmt, da sie ihm er-
laubt, »die Grundlagen zu einer Algebra der Signifikation«10 in
der Psychoanalyse zu legen, genauso wie dies Lévi-Strauss in der
Anthropologie bewerkstelligt hat. Lévi-Strauss präzisiert in sei-
ner Einleitung in das Werk von Marcel Mauss, daß er seine Defini-
tion des Unbewußten im wesentlichen von Mauss entlehnt. Das
Unbewußte ist durch seine Tauschfunktion definiert, es ist das
Bindeglied zwischen dem Selbst und dem Anderen und nicht der
geheime Hort des Subjekts. In diesem zentralen Text zeichnet
Lévi-Strauss einen Weg vor, den Lacan einschlagen wird — den
Weg zur Autonomie des Symbolischen : »Die Symbole sind realer
als das, was sie symbolisieren; der Signifikant geht dem Signifikat
voraus und bestimmt es.« n
hörn, von dem die Rede war, bot die Gelegenheit, den Signifikan-
ten voranzustellen : »Die Psychoanalyse erweist sich also als eine
Praxis des Buchstabens.« 12 In Umkehrung des herkömmlichen
Verfahrens der Suche nach einem im Ungesagten verborgenen
Sinn ist Serge Leclaire der Auffassung, daß »gerade die buchstäb-
liche Formel die Vorstellung mit ihrem einzigartigen Wert affi-
ziert« 13 . Durch seinen Traum vom Einhorn veranschaulicht er La-
cans Theorie, daß das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert
sei. Der einzige Punkt, in dem er vom Lehrmeister abwich und
von dem er sich eine Diskussion versprach — die allerdings nicht
zustande kam —, betrifft seine Auffassung von der Urverdrän-
gung: »In Bonneval wurde die Diskussion über diesen Punkt mit
Stein geführt, nicht aber mit Lacan. Und doch habe ich einen von
Lacan abweichenden Standpunkt vorgebracht, was aber nicht
gleich wahrgenommen wurde.« u
Jean Laplanche nimmt, wenngleich er zu Lacans Gefolge ge-
hört, bei dieser Gelegenheit Abstand von Lacans Kernformel,
daß das Unbewußte wie eine Sprache strukturiert sei. Vielleicht
ist es kein Zufall, daß man auf kritische Stellungnahmen gegen-
über dieser Strukturalistischen Ausrichtung bei einem ehemaligen
Aktivisten der Gruppe »Socialisme ou barbarie« wie Jean La-
planche stößt. Seine Kritik trifft sich, auf anderem Gebiet, mit
derjenigen, die Claude Lefort Anfang der fünfziger Jahre gegen
Lévi-Strauss ins Feld geführt hat. Laplanche war gemeinsam mit
Cornelius Castoriadis und Claude Lefort nach dem Krieg an der
Gründung der Gruppe »Socialisme ou barbarie« beteiligt gewe-
sen. Er beginnt sich 1946 in den Vereinigten Staaten für die
Psychoanalyse zu interessieren und begegnet in New York Loe-
wenstein, der ihm rät, die in Harvard abgehaltenen Lehrveran-
staltungen zur Psychoanalyse zu besuchen. Zurück in Frank-
reich, sucht Jean Laplanche seinen früheren Khagne-Lehrer
Ferdinand Alquié auf, der ihm einen Psychoanalytiker zur Auf-
nahme einer Therapie nennen soll, und dieser informiert ihn da-
von, daß ein gewisser Lacan regelmäßig hochspannende Vorle-
192 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
wie man es sagt, wenn man sie auf eine binäre Struktur reduziert,
und darüber hinaus, daß das Unbewußte sich nicht aus Wor-
ten konstituiere, sondern aus Spuren von Dingen, und daß seine
Funktionsweise der der Struktur genau entgegengesetzt sei:
»Abwesenheit von Verneinung, Koexistenz der Gegensätze, Ab-
wesenheit von Urteil, keine Verhaltung oder Festigung der
Besetzungen.« 20 Er schlägt vor, die Lacansche Formel durch fol-
gende zu ersetzen: »Das Unbewußte ist ein Wie-eine-Sprache,
aber ein nicht strukturiertes« 21 .
In der Tat weist Lacan die Verbindung, die Laplanche zwi-
schen Denken und Sprache zieht, zugunsten des Schnitts im
Saussureschen Algorithmus zurück, den er als radikal betrachtet.
Für Lacan ist es zweifellos auch strategisch wichtig, die Psycho-
analyse mit den Erkenntnissen der modernen Linguistik zu ver-
klammern und anzunehmen, daß »das Menschliche Sprache
ist« 22 . Lacan mit seinem epistemologischen Anspruch sieht in
dieser Konzeption die einzige Möglichkeit, die psychoanalyti-
sche Disziplin an dem globalen semiologischen Abenteuer zu be-
teiligen, das seit Anfang der fünfziger Jahre seinen Aufschwung
nimmt. Doch wird er den Text von Laplanche nicht auf dem Kol-
loquium von Bonneval diskutieren, wo aus taktischen Gründen
unter seinem Banner die Einheit Vorrang haben soll. Vielmehr
entwickelt er die Idee, daß das Unbewußte ein Effekt der Spra-
che, eines zwischen Wahrheit und Wissen gespaltenen cogito sei.
Erst 1969 äußert er in dem Vorwort, das er für die ihm gewidmete
thèse von Anika Lemaire verfaßt, daß er mit seinem Schüler nicht
einverstanden ist. 23
1960 hält Lacan in Bonneval eine Rede, die er später gründlich
umarbeitet, um sie 1966 unter dem Titel: »Stellung des Unbe-
wußten« in seine Schriften aufzunehmen. Darin denunziert er die
Täuschungen des Cartesischen cogito und eben dadurch die klas-
sische Philosophie, die sich, nach dem Muster Hegels, auf ein ab-
solutes Wissen bezieht. Das Bewußtsein ist durch seinen spekulä-
ren Widerschein ganz in die Verhaftung des Ich (moi) genommen
194 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
und somit der »Funktion des Verkennens, die es von daher be-
gleitet« 24, zugewiesen. Das Cartesische cogito ist also für Lacan
ein erstes Moment, ein Vorausgesetztes des Unbewußten. Lacan
bekräftigt die Priorität des Signifikanten über das Subjekt, dessen
Register sich daraus einrichtet, daß ein Signifikant ein Subjekt für
einen weiteren Signifikanten repräsentiert. Das zweite Moment,
das er unterscheidet, ist das der Abtrennung oder »Wiederabspal-
tung« (refente) des Subjekts: Dieses Moment veranschaulicht er
durch die Geburt des Neugeborenen, das nicht, wie es häufig
heißt, von seiner Mutter getrennt wird, sondern von einem Teil
seiner selbst ; wenn seine Nabelschnur durchschnitten wird, ver-
liert es seine anatomische Ergänzung : »Wenn das Ei bricht, ent-
steht der Mensch, französisch l'Homme, aber auch die Homme-
lette.«25 Dieser anfängliche Schnitt wird im späteren Leben
unaufhörlich reaktiviert und erfordert Grenzen, damit die
»Hommelette« sich nicht überall ausbreitet und alles zerstört,
was auf ihrem Wege liegt. Dieser Schnitt macht das Reale unzu-
gänglich und gibt dem Trieb, der auf sie verweist, eine todbrin-
gende Dimension — der dementsprechend ein Todestrieb ist.
Das Unbewußte für sein Teil verweist auf das Symbolische, es
besteht aus Phonemen bzw. Phonemgruppen und findet somit
seine Fundamente in der Sprache. Deshalb sagt Lacan 1966 : »Die
Wissenschaft, der das Unbewußte obliegt, ist mit Sicherheit die
Linguistik.« 26 Auf das Sein (l'Être) folgt der Buchstabe (la Let-
tre) : Damit schlägt die Siegesstunde des strukturalistischen Para-
digmas in der Psychoanalyse.
Der Ruf der Tropen
Zwischen der Konferenz von Neu-Delhi (1949) und der von Ban-
dung (1955) äußert sich mit wachsender Wucht eine neue Forde-
rung, die die üblichen Spaltungen zwischen Osten und Westen
durchbricht; ein dritter Weg setzt sich durch. Er kommt aus dem
Süden und erstrebt die Anerkennung der gleichen Würde für die
westliche Zivilisation wie für die farbigen Völker. In diesem Zu-
sammenhang der Entkolonisierung erhält Claude Lévi-Strauss
von der U N E S C O den Auftrag, einen Beitrag in einer Reihe über
die Frage der Rassen im Licht der modernen Wissenschaft zu
schreiben, woraus der 1952 veröffentlichte Text Rasse und Ge-
schichte hervorgeht.
In diesem Text, der einen maßgeblichen Beitrag zur Theoreti-
sierung der laufenden Emanzipationsprozesse darstellt, nimmt
sich Claude Lévi-Strauss die Rassenvorurteile vor. Sein Eingrei-
fen erlaubt es, die Anthropologie — wie Paul Rivet dies bereits
vor dem Krieg getan hatte — für die sozialen Kernfragen zu enga-
gieren und die bereits skizzierte Verlagerung von der somati-
schen zur sozialen Anthropologie deutlich zu machen. Lévi-
Strauss kritisiert die auf der Reproduktion des Gleichen fußende
Geschichtsteleologie und setzt ihr die Idee der Verschiedenartig-
keit der Kulturen und ihrer unhintergehbaren Differenz entge-
gen. Er leistet also eine essentielle Revolution der Denkweisen,
indem er die Fundamente eines Eurozentrismus angreift, den die
Völker der dritten Welt in einer trikontinentalen Aufbruchbewe-
gung zur Abschüttelung des kolonialen Jochs erschüttert haben.
Diese Sicht läßt es nicht mehr zu, in Begriffen der Vorherigkeit
oder der Unterlegenheit zu denken. Sie zerbricht die hierarchi-
196 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
der Differenz ist nicht nur Ausdruck der Irreduzibilität des Ande-
ren, sie enthält auch ein ideologisches Konzept, das als solches
analysierbar ist. So unterminiert das sich entfaltende strukturali-
stische Paradigma die Grundfesten der Philosophien der westli-
chen Totalität von Vico, Comte, Condorcet und Hegel bis Marx.
Es läßt sich in ihm das Wiederaufleben eines Denkens sehen, das
aus der Entdeckung der Neuen Welt im 16. Jahrhundert geboren
wurde: »Zu dieser Zeit bekommt die westliche Vernunft einen
Riß. Montaigne erkennt, daß etwas total Heterogenes ihre Funda-
mente zertrümmert. Seit den Griechen ist es eine Konstante des
Westens gewesen, nie Macht auszuüben, ohne sie im Universellen
zu fundieren.« 5 Tatsächlich sagte schon Montaigne, daß wir die
Zerrüttung der Nationen der Neuen Welt vorangetrieben hätten,
und beklagte, daß die sogenannten Zivilisatoren es nicht verstan-
den hätten, zwischen den Indianern und sich eine brüderliche und
verständige Gesellschaft aufzubauen. Indem er diese Trauer wie-
derbelebt, wird Lévi-Strauss' großangelegter Essay Rasse und Ge-
schichte rasch zum Brevier antirassistischen Denkens.
1955 wirkt die Konferenz von Bandung weltweit wie »ein Don-
nerschlag« — so einer der Anführer der damaligen afroasiatischen
Bewegung, Leopold Sédar Senghor. Zum gleichen Zeitpunkt ma-
chen die Fortschritte der zivilen Luftfahrt westlichen Touristen
die entlegensten Zivilisationen erreichbar. Ein regelrechter Exo-
Der Ruf der Tropen 201
Ein Knüller
Das Echo, das Lévi-Strauss fand, blieb nicht auf die Medien
beschränkt; es hat das intellektuelle Feld in seiner Gesamtheit er-
schüttert, ja, tiefgreifender noch, die Tropen zum Bestimmungs-
ort zahlreicher Philosophen, Historiker und Ökonomen ge-
macht, die sich von ihrer ursprünglichen Disziplin abkehrten, um
dem Ruf der Weite zu folgen. Das Anliegen, die eigene Sensibili-
tät mit einer rationalen Arbeit über eine lebende Gesellschaft in
einem interaktiven Verhältnis miteinander zu versöhnen, wird die
junge Generation um so mehr begeistern, als im Westen das En-
gagement von einst nicht mehr gefragt scheint. Die Traurigen
Tropen wirken wie das Symptom einer neuen Geistesverfassung,
eines Willens, neue Wege zu gehen — ohne Absage an die Forde-
rungen der Vernunft, aber auf andere Gegenstände bezogen.
Die Zahl der Konversionen ist groß, und Lévi-Strauss bildet
ihren Anziehungspunkt. Der Ethnologe Luc de Heusch arbeitete
bereits in Belgisch-Kongo, dem heutigen Zaire. Student von Mar-
cel Griaule an der Sorbonne, war er enttäuscht, von den großen
symbolischen Konstruktionen seines Lehrers nichts wiederzu-
finden. 1955 kehrt er nach Frankreich zurück und entdeckt hell-
auf begeistert die Traurigen Tropen. Während er vor seinem
Aufbruch nach Afrika die Elementaren Strukturen der Verwandt-
schaft nur flüchtig gelesen hatte, tritt er nun in die Fußstapfen
von Lévi-Strauss und überträgt die auf die indianischen Gesell-
schaften angewendeten Methoden auf die zentralafrikanische
Bantu-Gesellschaft, um anhand der Gegenüberstellung aller Va-
rianten der mythologischen Erzählungen das afrikanische sym-
bolische Denken zu begreifen.
210 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
lung untersuchen, das sich mit dem geplanten Bau eines Stau-
damms an einem Zufluß der Volta ergeben hat. Es gilt herauszu-
finden, warum die Gegend, in die man die Bevölkerung schicken
will, so wenig besiedelt geblieben ist: »Es war klug, Ethnologen
und Geographen mit der Untersuchung dieser Frage zu beauftra-
gen, denn es war eines der ersten Male, daß man vorsah, Umsied-
lungen nicht autoritär anzuordnen, sondern daß man versuchte,
die Beweggründe der Menschen zu verstehen.« 51
Das Jahr 1955 ist zentral für den Aufschwung der Anthropologie.
Louis Dumont kehrt aus Oxford zurück und tritt seine Lehrver-
pflichtung an der EPHE an. Gleichzeitig beginnen Fernand
Braudel und Clemens Heller an der Sechsten Sektion der EPHE
das Programm der Area Studies (Studium von Kultur gebieten),
das nach amerikanischem Muster den Zusammenschluß mehre-
rer Disziplinen, darunter auch der Anthropologie, zur Erfor-
schung gemeinsamer Untersuchungsgegenstände fördern soll.
Louis Dumonts Rückkehr läßt Olivier Herrenschmidt, der sich
an der Sorbonne auf Religionsgeschichte spezialisiert hatte, einen
ganz neuen Studiengang einschlagen. Er beginnt nicht nur eine
Ausbildung zum Ethnologen und Linguisten, sondern speziali-
siert sich zudem auf die Indologie. Er besucht gleichzeitig die
Kurse des frisch aus den Vereinigten Staaten gekommenen Marti-
net an der Sorbonne, die von Lévi-Strauss an der Fünften Sektion
der EPHE und die von Louis Dumont an der Sechsten Sektion
der EPHE. Diese Verbindung aus Sanskrit, Linguistik und struk-
turaler Anthropologie bringt frischen Wind und neue Perspekti-
ven in die indologischen Studien, die nun über die bislang gelei-
stete monographische Gebietserfassung hinausgehen. Um Louis
Dumont bildet sich eine ganze Gruppe, bestehend aus der Philo-
sophin und Brahmanismus-Spezialistin Madeleine Biardeau, die
214 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
Strauss, der den Akzent auf die Sprache legt, und von Leroi-
Gourhan, der die Praxis höher bewertet.
Unbeschadet dieser unterschiedlichen Ausrichtungen haben
die verschiedenen Pole eine Dynamisierung der anthropologi-
schen Forschung bewirkt: Die Dispositive, die sie aufstellt, blei-
ben dreißig Jahre erfolgreich. Der strukturalistische Ehrgeiz
scheint diese Forschergemeinde über die Eigenheiten von Fach-
gebieten und verschiedenen Persönlichkeiten hinaus zusammen-
gehalten zu haben. Den Kontext bildet ein Dritte-Welt-Pathos
vor dem Hintergrund des beginnenden Algerienkriegs, des aus-
gehenden Indochinakriegs und der Konferenz von Bandung.
Frankreich, das die koloniale Frage lange Zeit ignoriert hat, ent-
deckt plötzlich eine dramatische Realität, die ins Bewußtsein der
Menschen dringt und ihr schlechtes Gewissen weckt. Für eine
junge Generation, die sich in ihrer Herkunftsgesellschaft unwohl
fühlt, bedeutet dies mehr als eine Aufforderung zur Reise, ein
Ruf der Tropen. Ein ehrgeiziges und strenges Programm bietet
sich ihr an. Das strukturalistische Programm scheint die Versöh-
nung einer entzauberten Sensibilität mit der Vernunft zu verspre-
chen.
Die Vernunft verrückt :
das Werk von Michel Foucault
Als man sich in der Anthropologie nach dem Anderen des We-
stens fragt und die primitiven Gesellschaften der langwährenden
Ignoranz des eurozentrischen Denkens entrissen hat, wirft der
Philosoph Michel Foucault das Problem der Kehrseite der westli-
chen Vernunft auf und schreibt eine Geschichte des Wahnsinns.
Hinter der siegreichen Vernunft spürt er den verdrängten Mani-
festationen des Irreseins nach. Indem der Philosoph das Sezier-
messer bei den Ideen ansetzt, begibt er sich von vornherein an die
Grenzen des westlichen Denkens, an die Grenzen seiner eigenen
Geschichte.
Abermals verblüffen die zeitlichen Überschneidungen. Michel
Foucault beginnt mit der Niederschrift von Wahnsinn und Ge-
sellschaft 1956, bald nach Erscheinen der Traurigen Tropen und
der Konferenz von Bandung, und publiziert das Werk 1961, kurz
vor den Übereinkommen von Evian und der algerischen Unab-
hängigkeit. A priori ist das Zusammentreffen dieser politischen
und kulturellen Ereignisse rein zufällig, zumal Michel Foucault
seinerzeit nichts von einem Dritte-Welt-Aktivisten an sich hat.
Und doch wird Wahnsinn und Gesellschaft sofort zum Symptom
des Bruchs mit einer Geschichte des abendländischen Subjekts,
dem der Autor das Bild seines vergessenen und verdrängten, aus
der Ausschließung hervorgeholten Doppels entgegenhält: den
Wahn. So fügt es sich, daß auch das den Rahmen der französi-
schen Politik verlassende algerische Volk an einer Geschichte des
Ausschlusses trägt.
Pierre Nora, der gerade Les Français d'Algérie1 veröffentlicht
hat, erkennt sofort den Zusammenhang zwischen der Abrech-
218 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
tion des Autors, wie sie der strukturalistischen Kritik eignet, aber
auch an dem literarischen Erneuerungsunterfangen von Georges
Bataille, Maurice Blanchot bis Pierre Klossowski. Der Name des
Vaters war also eine Last; und Michel Foucault überwarf sich
bald mit ihm: »ein Bruch, der in diesem Milieu schwer auszuhal-
ten ist. Er sagte mir oft, wenn man schon nicht Arzt werde, müsse
man wenigstens Professor an der Sorbonne sein.«6
Auch wenn Michel Foucault nicht die medizinische Laufbahn
einschlägt, ist er geprägt vom Modell der Medizin als einem
Prisma, durch das die Humanwissenschaften in ihren sichtbaren
Spuren, ihren verschiedenen Positivitäten zu erfassen sind — je-
doch von der Kehrseite, von der negativen Seite her, so wie ein
Arzt versucht, mit Hilfe der Pathologie durch Heilung der
Krankheit die Gesundheit wiederherzustellen. Foucault schuf ein
»medizinisches Paradigma des humanwissenschaftlichen Vorge-
hens« 7. Nach einer problemlosen Schulzeit am Lycée Henri IV
bis zur Tertia bringen ihn seine Eltern in einer religiösen Einrich-
tung, dem Collège Saint-Stanislas unter, um seinen immer kriti-
scheren, ja kaustischen Geist zu bändigen. Dort absolviert er die
Oberstufe : »Er hat uns schwer beeindruckt, in seiner ätzenden
Art zog er sämtliche Lehrsätze in Zweifel.«8
Dieses Moment bildet einen weiteren biographischen Schlüs-
sel für das Verständnis des Werks von Michel Foucault, das von
der dramatischen Erfahrung des Krieges entscheidend geprägt
ist. Sehr verschlossen, hat Foucault nie öffentlich über sich ge-
sprochen; später äußerte er sich über diese Epoche in einer das
Schweigen predigenden kanadischen Indianerzeitschrift, die in
ungefähr zehn Exemplaren vertrieben wurde. Diesen Indianern
bekannte er, daß er sich an die Zeit des Heranwachsens als vom
Krieg und folglich vom Tod geprägte erinnert : »Was mir auffällt,
wenn ich an meine Kindheitseindrücke zurückzudenken versu-
che, ist, daß beinahe alle meine Gefühlserinnerungen mit der po-
litischen Situation zusammenhängen. [...] Ich meine, daß die
Kindheit der Jungen und Mädchen meiner Generation von diesen
222 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
Die Geisteskrankheit
Michel Foucault tritt als vierter seines Jahrgangs 1946 durch das
große Tor in der Rue d'Ulm. Indes verhilft ihm dieser Erfolg
nicht dazu, psychisch ins Lot zu kommen: 1948 unternimmt er
einen Selbstmordversuch. Seine Homosexualität auf glückliche
Weise zu leben, ist damals nicht leicht, und Foucault kommt mit
224 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
Besonders prägend an der École wird für Michel Foucault die Per-
sönlichkeit Louis Althussers, der seit 1948 caïman [im Studenten-
jargon Tutor, der die Studenten auf die agrégation vorbereitet,
A.d.Ü.] ist. Der große gedankliche Apparat zu Anfang der fünfzi-
ger Jahre war der Marxismus, und Althusser weiht seine Hörer,
darunter Michel Foucault, in das Denken von Marx ein. Er führt
ihn sogar in die Reihen der KPF : »Ob Liebäugelei oder Beitritt
und danach Rückzug, das weiß ich nicht mehr genau«, sagt sein
Parteigenosse Maurice Agulhon, doch sein Kollege in Lille, Oli-
vier Revault d Allonnes, erinnert sich, daß er Michel Foucault wei-
nen sah, als dieser 1953 vom Tode des »Väterchens der Völker«,
Stalin, erfuhr.16 Es war die Zeit, in der die ENS in zwei Gruppen
zerfiel, die »talas« (diejenigen, die zur Messe gingen) und die
Kommunisten und linken Christen, die in die KPF eintraten.
Obwohl die gesamte École 1950 auf Michel Foucaults trium-
phalen Erfolg bei der agrégation gefaßt war, fällt er nach Ablegen
der schriftlichen Prüfung und erfolgter Zulassung zum mündli-
chen Examen durch. So braucht er ein weiteres Jahr Vorbereitung
zur Wettbewerbsprüfung. Bei diesem zweiten Durchgang ge-
mahnt ihn ein entscheidendes Wegzeichen gleichsam an sich
selbst und seine Bestimmung: Bei der Auslosung der mündlichen
Themen zieht er ein ungewöhnliches Thema, für dessen Durch-
setzung Jean Hyppolite, der Mitglied des Prüfungsausschusses
war, sich schwer hatte ins Zeug legen müssen: »Sexualität«. Der
Zufall des Loses gibt also bereits Michel Foucaults künftig größ-
tes Arbeitsgebiet zu erkennen.
Dem frischgebackenen agrégé bleibt der Leidensweg am Lycée
erspart, da er nach einem Jahr in der Fondation Thiers zum Assi-
stenten an der Universität Lille berufen wird. Er bleibt indes in
Paris und unterrichtet zur gleichen Zeit in der Rue d'Ulm, wo er
auf Antrag von Louis Althusser caïman in Psychologie wird. Da-
mals schließt er Freundschaft mit einer ganzen Gruppe kommu-
226 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
Das Exil
Das Denken des Außerhalb, die Suche nach den Grenzen führt
Foucault 1955 ins Ausland. Er wählt das Exil und geht im August
1955 nach Uppsala, und zwar auf Vermittlung von Georges Dumé-
zil, den er noch nicht kennt, der aber seinen schwedischen Freun-
den einen geeigneten Mann für den Posten des Französisch-Lek-
tors empfehlen sollte, den er selber in den dreißiger Jahren
innegehabt hatte. Da Georges Dumézil den Kontakt zur ENS ver-
loren hat, bittet er Raoul Curien um Rat, der ihm mit den Worten :
»Das ist der intelligenteste Mensch, den ich kenne« 21 von Michel
Foucault erzählt. Daraufhin bietet Georges Dumézil die Stelle
Foucault an, und der willigt ein. Drei Jahre wird er in Schweden
verbringen, und aus der nachträglichen Begegnung der beiden
Männer wird eine intellektuelle und persönliche Freundschaft er-
wachsen, »die sich bis zu seinem Tod uneingeschränkt gehalten
hat« 22 .
Für Michel Foucaults Teilnahme am strukturalistischen Aben-
teuer hat gewiß Georges Dumézil als Auslöser gewirkt. Bislang
ist sich Foucault noch nicht im klaren, welche eigenständige Spur
er auf seiner Suche, bei seiner unablässigen Bewältigungsarbeit
der existentiellen Angst verfolgen soll, noch steht er unschlüssig
an der Wegekreuzung von Philosophie, Psychologie und Litera-
tur. Zwar hatte es bereits den Schock von 1953 gegeben, Stalins
Tod, und die Entdeckung eines Ersatzmanns: Nietzsche. Die Be-
228 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche
Die thèse
Fortan kauft er alle Bücher von Michel Foucault noch am Tage ih-
res Erscheinens: »Etwas Unerhörtes ist dort geschehen: Die
Mitglieder des Prüfungsausschusses waren überwältigt.« 26 Und
doch sind die Ausschußmitglieder gestandene Akademiker. Den
Vorsitz führt Henri Gouhier, der bekannte Philosophiehistori-
ker, Professor an der Sorbonne seit 1948. Ihm sitzen Georges
Canguilhem sowie Daniel Lagache, Jean Hyppolite und Maurice
de Gandillac bei. »Um über den Wahnsinn sprechen zu können,
bedürfte es des Talents eines Dichters«, schließt Michel Foucault.
»Aber Sie haben es«, antwortet ihm Canguilhem. 27
Michel Foucault problematisiert in seiner thèse den Wahrheits-
anspruch eines besonderen wissenschaftlichen Diskurses: des
psychiatrischen Wissens, und untersucht seine Gültigkeits- und
Möglichkeitsbedingungen. Bewußt pflanzt er sein Periskop ins
Herz der abendländischen Geschichte, um die siegreiche Ver-
nunft zu befragen: »Könnten wir nicht im Fall einer so >unge-
wissen< Wissenschaft wie der Psychiatrie auf >sicherere< Weise
das Gewirr der Wissens- und Machtwirkungen aufdecken?« 28
Um die herkömmlichen Grenzlinien verschieben zu können,
geht Foucault von einem tabuisierten Gegenstand aus, vom Ver-
drängten der abendländischen Vernunft schlechthin, vom Bild
ihres Anderen, und beschreibt so Orte und Arten der Geltend-
machung eines noch wenig gesicherten psychiatrischen Wissens.
Im Zuge dieses Verfahrens setzt er seinen Gegenstand in eine hi-
storische Perspektive. Die historische Analyse spiele eine »instru-
mentelle Rolle« 29 , sei ein Werkzeug innerhalb des politischen
Feldes, ein Mittel, der Sakralisierung der Wissenschaft zu entge-
hen. Der aufs Historische gewandte Diskurs muß sich fragen,
welches die Kraft einer Wissenschaft ist, muß erfassen, was in ihr
nicht-wissenschaftlich ist, und herausfinden, »wie in unserer
Gesellschaft die Wahrheitswirkungen einer Wissenschaft gleich-
zeitig Machtwirkungen sind« 30 .
Der Gegenstand der Untersuchung, der Wahnsinn also, muß
von der Vielzahl der Diskurse befreit werden, die ihn gefangen-
230 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
Armut einführt. Während der Arme bis dahin als mögliches Erlö-
sungsobjekt und zugleich Bedingung des Reichtums in eine gei-
stige Positivität aufgenommen war, wird er nun als Quell der Un-
ordnung und Zeichen der Strafe Gottes in die Negativität
verwiesen. Von der Gesellschaft geächtet, muß der Arme so un-
sichtbar gemacht werden wie der Verrückte.
Michel Foucault bewegt sich an den Grenzen des Gesellschaft-
lichen, ohne sich je auf eine Sozialgeschichte einzulassen, die ei-
nen globalen Zusammenhang der abendländischen Gesellschaft
wiederherzustellen unternähme. In dieser Hinsicht siedelt er sich
bereits beim Strukturalismus an, der der Sphäre des Diskursiven
größtmögliche Eigenständigkeit gegenüber den sozialen Kontin-
genzen einräumt. Foucault weigert sich, das von ihm erkannte
Umschlagen des Diskurses in ein globales Erklärungsschema ein-
zufügen, das eine Beziehung zwischen dem beschriebenen Ver-
drängungsphänomen und der historischen Mutation einer Ge-
sellschaft hätte herstellen können, die von einer Vorherrschaft
des Religiösen zu einer Vorherrschaft des Ethisch-Ökonomi-
schen übergeht, welche in den mentalen Strukturen und den in-
stitutionellen Praktiken des modernen Zeitalters Fuß faßt.
Die Wahnsinnigen unterstehen im klassischen Zeitalter der
Zuständigkeit der Justiz und noch nicht der Medizin. Der Inter-
nierungsbeschluß ist kein ärztlicher, sondern ein juristischer Akt.
Der Irre wird »an [dem] Treffpunkt zwischen sozialem Dekret
der Internierung und juristischer Erkenntnis eingeordnet [...], die
die Fähigkeit der juristischen Personen unterscheidet« 36 . Gewiß,
der Irre ist kein Gefangener wie die anderen, er unterscheidet sich
vom Bettler, aber seine eigentümlichen Äußerungen werden als
Symptome tiefer Animalität aufgefaßt, die beim Vernunftmen-
schen als Untergrenze des Menschseins zurückgedrängt ist. So
ketten die Kerkermeister die als gefährlich eingestuften Irren in
den Verschlagen von Bicêtre an.
Im 18. Jahrhundert kommt es in der Beziehung zum Wahnsinn
insofern zu einem erneuten Bruch, als nunmehr streng den Ver-
Die Vernunft verrückt: das Werk von Michel Foucault 233
Das Jahr 1956 wird für einen Großteil der französischen Intelli-
genzija das Jahr der Brüche, es bildet die Hefe für die Kinder von
1966 — und es ist die Geburtsstunde des Strukturalismus als des
intellektuellen Phänomens, das den Marxismus ablöst. Anstelle
des Optimismus der Libération, der sich in der existentialisti-
schen Philosophie geäußert hat, tritt eine ernüchterte Beziehung
zur Geschichte. Mit der Enthüllung von Stalins Verbrechen durch
den neuen Generalsekretär Nikita Chruschtschow auf dem XX.
Parteitag der KPdSU ist seit Anfang 1956 eine neue Periode ein-
geläutet — sie endet mit der Niederschlagung der ungarischen
Revolution durch sowjetische Panzer.
Der Schock ist so gewaltig, daß er in der Linken den kritischen
Blick auf das sowjetische Modell hoffähig macht. Die kommuni-
stische Ideologie ist über die historische Realität gestrauchelt,
und was sich einmal als Hoffnung auf eine glückliche Zukunft
darstellte, läßt den Schrecken der Folterlogik einer totalitären
Macht erkennen. Noch haben die Wellen des Erdbebens Billan-
court nicht erreicht, und die KPF bleibt einstweilen mächtigster
politischer Apparat, aber die Intellektuellen, deren Arbeit sich
aus der Wahrheitssuche, aus der Kritik des falschen Scheins be-
gründet, kommen nicht umhin, ihre bisherigen Analysemuster in
Frage zu stellen. Trauer um die verlorenen Hoffnungen prägt die
gesamte Periode der Jahre 1956 bis 1968. Man wendet sich nun
dem zu, was der Veränderung standhält und gegen politischen
Voluntarismus gefeit ist. In der kollektiven Sensibilität treten die
Invarianten, die Unverrückbarkeiten in den Vordergrund.
Demgegenüber erlebt Europa in diesen Jahren jedoch die
240 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
Als die Hohepriester mit dem »Väterchen der Völker« ins Ge-
richt gingen, brach das Glaubensgebäude zusammen. Insofern
bot sich vielen angesichts der Agonie des institutionellen Marxis-
mus der Strukturalismus als Rettungsanker an: »Es war eine Art
zeremonielles Massaker. [...] Dadurch wurde einmal gründlich
saubergemacht, mit eisernem Besen ausgekehrt, gut durchgelüf-
tet : ein Akt der Hygiene. Man kann sich die Duftnote des Deo-
dorants oder des Putzmittels nicht immer aussuchen; oft riecht
es zum Kotzen, aber es reinigt.« 4 Für Intellektuelle, die keine
Schattenspiele mehr treiben können, beginnt eine Ära der Brü-
che.
Roger Vailland geht auf Abstand und hängt das Stalinporträt
in seinem Büro ab. Claude Roy wird aus der KPF ausgestoßen,
weil er »das Spiel der Reaktion, der Feinde der Arbeiterklasse
und des Volkes betrieben« 5 habe. Selbst Jean-Paul Sartre, der seit
den fünfziger Jahren untadeliger Weggefährte der KPF gewesen
ist, veröffentlicht im Express vom 9. November 1956 einen
Brandartikel über Ungarn, der die unwiderrufliche Scheidung
auslöst. Die vielen Kritiken machen deutlich, daß man gegen die
Partei recht haben kann, auch wenn dies dem Übeltäter ständige
Schmähungen und Verleumdungen einträgt. Doch stoßen diese
242 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche
Für andere beginnt mit dem Rekurs auf Lévi-Strauss der Über-
tritt zur Anthropologie, zum Beispiel bei den ausgescherten
kommunistischen Philosophen, die man den Viererklub nennen
könnte : Alfred Adler, Michel Cartry, Pierre Clastres und Lucien
Sebag. Alle vier treten 1956 aus der KPF aus und verlegen sich
von der Philosophie auf die Anthropologie, wobei diese Wahl
244 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche
Tauwetter
Frosteinbruch?
ter, als man Moskau gegen Peking, Hanoi oder Havanna auszu-
tauschen beginnt. Nach den Entbehrungen der stalinistischen
Phase war das Bedürfnis nach Verwissenschaftlichung der H u -
manwissenschaften ebenso verständlich wie das Bedürfnis, sich
an neue Sicherheiten zu klammern. Die Aufwertung der Struktu-
ren erlaubte nun zum einen, sich die anhaltende Kluft zwischen
Freiheit und Determination zu erklären, zwischen der histori-
schen Aufgabe der Veränderung und dem Unvermögen, die
Menschen von deren Notwendigkeit zu überzeugen: »Durch
den Begriff der unbewußten Struktur konnten wir dank Saussure
und Jakobson Entwicklungen ergründen, die sich nicht gemäß
den Transformationen von Klassen oder sozialen Verhältnissen
vollzogen, sondern außerhalb des bewußten Willens.« 24 Zum an-
deren ermöglichten Anthropologie und strukturale Linguistik,
auf andere Weltanschauungen, andere Repräsentationssysteme
einzugehen: »Dies hat uns zu einer Auffrischung der dialekti-
schen Sichtweise verholfen, die wir bis dahin als eine Form der
Überwindung von Gegensätzen zu betrachten neigten, während
der Gedanke der Vervielfältigung immer feinerer Vermittlungen
sie uns zu erneuern schien.« 25
Der wahre Nutznießer der Krise von 1956 ist also der Struktu-
ralismus, dessen Programm, wie wir sahen, schon weitaus früher
abgesteckt war, reichen doch seine Wurzeln bereits auf den An-
fang des Jahrhunderts zurück. Durch dieses Paradigma konnte
man auf einem spezifischen Gebiet des Wissens ein bestimmtes
Niveau von Wissenschaftlichkeit und Operationalität für sich
geltend machen und gleichzeitig den Horizont der Universalität,
der dem Engagement von einst zugrunde lag, bewahren, ohne ihn
jedoch auf irgendeinen Voluntarismus der Weltveränderung zu
beziehen, sondern in Beschränkung auf den Versuch, ihn besser
zu verstehen, sowie unter Einbeziehung der Figuren der Alterität
und des Unbewußten.
Der strukturale Weg der
französischen Ökonomieschule
tion, die den Eingriff des Staates weitgehend begrenzte, ist der
Fall Frankreichs besonders gelagert: Bei der Befreiung greift der
aus dem Conseil national de la Résistance hervorgegangene Staat
in die makroökonomischen Modelle ein, um die Mechanismen
der französischen Wirtschaft durch Planungen, Bodenpolitik,
Verstaatlichungen usw. von Grund auf umzugestalten.
Es geht darum, auf die Strukturen der Nationalökonomie ein-
zuwirken, um deren globale Fließbewegungen, die Nachfrage
und damit das Produktionsniveau zu modifizieren. Der Staat gilt
zu diesem Zeitpunkt als Initiator des Wiederaufbaus und der
Modernisierung der Wirtschaft. Als solcher nimmt er sich der
großen Strukturumwandlungen an. Diese Ausgangslage sorgt für
einen dem allgemeinen Zusammenrücken förderlichen Aufbruch
und ermöglicht die Konstituierung »einer eigenständigen franzö-
sischen Ökonomieschule« 4 . Begünstigt durch die unausweich-
liche Verzahnung der ökonomischen und sozialen Probleme,
kommt damals eine Bündelung der Energien auf einem Feld zu-
stande, das sonst eher zur Vereinzelung der Forschungen neigt.
Einer der Hauptpole dieses Zusammenschlusses ist La Revue
économique mit François Perroux, Jean Weiller, Jean Lhomme
und den Brüdern Marchai. Auch Fernand Braudel gehört dem
Herausgeberkomitee an — ein Symbol für den Dialog, den die
Historiker der Annales und die Ökonomen aufgenommen ha-
ben. Der Nachkriegsstaat setzt eine ganze Reihe neuer Verwal-
tungsorgane ein, um die Strukturreformen durchzuführen und
die öffentlichen Behörden kurz- und mittelfristig zu instruieren.
Die Konjunkturabteilung im INSEE [Institut national de la sta-
tistique et des études économiques, A.d.U.] wird eingerichtet,
dann, im Jahre 1952, die Programmabteilung des Fiskus (Service
des études économiques et financières: SEEF), die sich später in
der Direction de la prévision et du plan mit ihren beiden Organen
C R E D O C [Centre de Recherche et de Documentation sur la
Consommation, A.d.U.] und CEPREMAP [Centre d'Études
Prospectives d'Économie Mathématique Appliquées à la Planifi-
252 Die fünfziger Jahre : die epische Epoche
Der Mann, bei dem sich die Ströme kreuzen: François Perroux
tung des strukturalen Modells bei den Ökonomen bei. Den Libe-
ralen und ihrem Kult eines freien Marktes mit freier Preisgestal-
tung hält Perroux die Operationalität des Strukturbegriffs entge-
gen: »Die Struktur einer ökonomischen Gesamtheit bestimmt
sich aus dem Netz der Beziehungen, welche die einfachen und
komplexen Einheiten untereinander verbinden, und aus der
Reihe der Proportionen zwischen dem Fließen und den Bestän-
den der elementaren Einheiten sowie den objektiv relevanten
Kombinationen dieser Einheiten.« 7
In den dreißiger Jahren haben die Europäer, als Reaktion auf
die Krise von 1929, in der politischen Ökonomie massiv das
strukturale Paradigma eingesetzt. Doch man kann noch vor die-
ser Ausbreitung des Strukturalismus in der politischen Ökono-
mie mit Henri Bartoli davon sprechen, daß »der soziologische
Strukturalismus und der ökonomische Strukturalismus zeitgleich
mit der Geburt der Soziologie und der politischen Ökonomie
auftreten« 8 . Diese Strukturidee entsteht bereits im 17. Jahrhun-
dert, als eine Wechselbeziehung zwischen den verschiedenen
ökonomischen Gegebenheiten hergestellt wird, die als Bausteine
eines das Wirtschaftsleben lenkenden globalen Zusammenhangs
begriffen werden.
Schon Auguste Comte hatte die Physiokraten unter die Weg-
bereiter der »gesellschaftlichen Physik« eingereiht. Später hat
Marx sich bemüht, die Funktionsgesetze des Kapitals über struk-
turelle Begriffe wie Produktionsweisen, Gesellschaftsformatio-
nen und gesellschaftliche Produktionsverhältnisse zu bestimmen.
Er hat versucht, die bloße Beschreibung des Beobachtbaren zu
überwinden, um die innere Organisation der kapitalistischen
Produktionsweise zu erfassen. Wenn Marx den Strukturbegriff
als theoretisches, rein konzeptuelles Modell einsetzt, vergißt er
darüber aber nicht dessen Kehrseite, die Verknüpfung des Mo-
dells mit der ökonomischen Realität des Entwicklungsstands der
Produktivkräfte in einem gegebenen gesellschaftlichen System.
Umgekehrt stammt die Struktur, von der nach 1945 in der fran-
254 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche
Die Ökonometrie
Hesiod Zeitlichkeit voll zum Tragen komme, aber eben eine an-
dere als die lineare und unumkehrbare unseres Zeitalters.
riante, der die Funktion zukommt, die Struktur des Mythos jen-
seits der Verschiedenartigkeit seiner Äußerungsweise zutage zu
fördern. Auch hier unterscheiden sich Geschichtsschreibung und
Ethnologie hinsichtlich ihrer Modellbildungsmöglichkeiten. Die
strukturale Ethnologie kann eine mechanische Modellbildung
beanspruchen: »Die Ethnologie arbeitet mit einer >mechani-
schen<, das heißt umkehrbaren und nicht-kumulativen Zeit« 18 ;
während die Geschichte sich auf eine einmalige, kontingente Zeit
zurückbeugen muß, die der Statistik bedarf: »Dagegen ist die
Zeit der Geschichte >statistisch<«19.
Kalte Gesellschaften sind mechanischen Maschinen verwandt,
die die zu Anfang erzeugte Energie endlos nutzen, wie zum Bei-
spiel die Pendeluhr; heiße Gesellschaften ähneln thermodynami-
schen Apparaturen wie der Dampfmaschine, die mit Temperatur-
unterschieden arbeiten. Sie erzeugen mehr Leistung, verbrauchen
dafür aber mehr Energie, die sie nach und nach zerstören. Die
heiße Gesellschaft strebt nach immer breiteren und zahlreicheren
differentiellen Unterschieden, um voranzukommen und frische
Energiequellen aufzutun. Hingegen soll die Zeitfolge in kalten
Gesellschaften deren Institutionen möglichst wenig beeinflussen.
Eine so radikale und verunsichernde Herausforderung wie durch
Lévi-Strauss haben die Historiker noch nicht erfahren, stützt die
strukturale Anthropologie sich doch auf die sich am modernsten
und leistungsfähigsten darstellenden Entwicklungen der Hu-
manwissenschaften. Nachdem er die Anthropologie entschlos-
sen auf den Boden der Kultur gestellt hat, genießt Lévi-Strauss
gegenüber den Historikern den Vorteil, einen theoretischen H o -
rizont geltend zu machen, der eines Tages die Entzifferung der
hirninternen Strukturen ermöglichen soll. Es gibt bei ihm eine
Art strukturalistischen Materialismus : Je nachdem legt er einmal
den Akzent auf die Struktur als Analyseraster, während er sie in
anderen Momenten als direkt der Materie zugehörig betrachtet :
»Claude Lévi-Strauss ist ein Materialist. Er sagt es immer wie-
der.« 20
266 Die fünfziger Jahre: die epische Epoche
Platz verwies und das Fernrohr des Historikers vielmehr auf die
unbewegten Strecken, die Beständigkeiten des geohistorischen
Rahmens der mediterranen Welt lenkte.
In der Nachfolge François Simiands, also der Durkheimschen
Schule, hatte seinerseits Ernest Labrousse in seiner thèse de lettres
im Jahre 1943, La Crise de l'économie française à la fin de L'Ancien
Régime, die revolutionäre Krisis von 1789 in eine dreifache Zeit-
lichkeit zurückgestellt, das heißt in jahreszeitliche Abweichun-
gen, verschränkt mit zyklischen Schwankungen, die wiederum in
Langzeitbewegungen {mouvements de longue durée) eingefügt
sind. Aufgrund dessen konnte er der ökonomischen Konjunktur-
theorie François Simiands eine strukturelle Konjunkturtheorie
zur Seite stellen: »Der Wirtschaftshistoriker ist über die Häufig-
keit der Wiederholungen verblüfft.«32 Dennoch gerät bei einem
solchen Verfahren das Ereignis nicht aus dem Blick. Vielmehr
wird es als Ankunftspunkt deutlich, den die statistischen Kurven
erklären sollen: »Unsere Geschichtsschreibung ist zugleich so-
ziologisch und traditionell.« 33 Ernest Labrousse leitet in den
fünfziger Jahren die Sorbonne und betreut eine Vielzahl histori-
scher Arbeiten im Sinne einer um die Strukturphänomene be-
mühten Wirtschafts- und Sozialgeschichte.
In diese Perspektive einer dialektisch gewendeten Auffassung
von Konjunktur- und Strukturelementen schreibt Pierre Vilar
seine eigenen Forschungen über Katalonien ein. 1952 Schüler der
ENS, veröffentlicht er 1962 seine thèse1* und leitet im Sinne von
Labrousse an der Sorbonne ein Seminar zum Strukturbegriff:
»Das ganze Geschichtsproblem besteht darin, das Strukturelle
und das Konjunkturelle zu kombinieren. Ich habe also viel über
Strukturen nachgedacht. Claude Lévi-Strauss hat mich interes-
siert, als er zeigte, daß er strukturell logische Verhältnisse beob-
achtete.« 35 Entlehnt also der Historiker von der Anthropologie
eine logische und abstrakte Dimension, so verbleibt er nichtsde-
stoweniger innerhalb eines konkreten, beobachtbaren Inhalts
und betont auf seinem Untersuchungsfeld die Krisenphänomene
Wie schön ist die Struktur! 271
der sich des Erscheinens der thèse von Jean Dubois, Le Vocabu-
laire politique et social en France de 1849 à 1879 (Paris 1962), als ei-
nes besonders wichtigen Moments erinnert. Diese thèse hat eine
ganze Generation dazu angespornt, nach einer Parallele, nach ei-
ner wechselseitigen Entsprechung der Diskursstrukturen jenseits
der Klassenstrukturen und der Strukturen des Vokabulars zu for-
schen. Durch diese Dynamik überwandt Besançon die Abschot-
tung und bündelte so weit verstreute Fachleute wie Jean-Claude
Chevalier in Lille, Jean Dubois erst in Rouen, dann in Paris, Grei-
mas in Poitiers usw., bevor diese Kräfte weithin ausstrahlten.
Natürlich weichen die einzelnen Forschungsaspekte deutlich
voneinander ab. Barthes, die Bezugsgröße der Epoche, interes-
sierte sich eher für die Codes, die in einem Werk wirken, wäh-
rend Greimas hinter dem Text die Systematik wiederzufinden
hoffte, die die Funktionsweise des menschlichen Geistes be-
stimmt. Doch gab es jenseits der Unterschiede die »Situation des
Kritikers als Erforscher der Immanenz« 27 , wie es ein Schüler
Hjelmslevs, der Kopenhagener Professor Knud Togeby, aus-
drückte: Er hatte 1965 Les structures immanentes de L· langue
française veröffentlicht, und so ist der Begriff der Immanenz bald
zur Losung für die junge Generation der nouvelle critique gewor-
den.
Der Osten Frankreichs segelt also entschieden voraus, und der
Wind bläst kräftig, denn auch Nancy entwickelt sich seit 1960 zu
einem dynamischen Forschungszentrum im Zuge der Einrich-
tung der Société de traduction automatique durch Bernard
Pottier, die bereits 1961, anläßlich eines Kolloquiums zu diesem
Thema, Naturwissenschaftler und Linguisten anlockt. Dieser
Zweig der Sprachanalyse überzeugt berufsmäßige Wissenschaft-
ler von der Linguistik. So auch den Ingenieur Maurice Gross vom
Rechenzentrum des Laboratoire central de l'armement: »Ich
hatte nicht die geringste Vorstellung, was ein Linguist war. Ich
wußte nicht einmal, daß es so etwas gab.« 28 Über die Beschäfti-
gung mit maschineller Übersetzung wird Maurice Gross zum
292 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
ins Auge gefaßt hatten. Wir hatten vor, eine Verbindung zwi-
schen Anthropologie, Semantik und Psychoanalyse herzustellen.
Er hat sich das Leben genommen, und ich habe das Lacan nicht
verziehen.« 2
Greimas' Strukturale Semantik, die 1966, im Jahr aller struktu-
ralistischen Erfolge, erscheint, ist im Grunde aus dem Seminar
hervorgegangen, das er 1963/64 am Institut Poincaré abgehalten
hat. Der Nachdruck, mit dem Greimas für eine allgemeine Se-
miotik eintritt, die alle Bedeutungssysteme umgreifen soll, führt
zur Öffnung der linguistischen Arbeit für alle anderen Felder.
Auch die Tatsache, daß die beiden Lehrmeister der Linguistik in
Frankreich, Martinet und Greimas, aneinander vorbeireden, läßt
eine andere Ausrichtung deutlich erkennen : »Wenn ich Greimas
lese, finde ich mich nicht mehr zurecht. Die Sémiologie driftet ja
in alle Richtungen ab.« 3 Martinet setzt ganz auf die Beschreibung
der Funktionsweise der Sprache (langue) und setzt damit der lin-
guistischen Arbeit enge Grenzen. Dem entgegnet Greimas:
»Martinet ist ein dicker Bauer, der sich gut auf seinem Acker aus-
kennt. Wenn jemand sich mit Musik oder Malerei befassen
wollte, schickte ich ihn zu Martinet, der ihm dann sagte: b e -
schäftigen Sie sich mit Phonetik, und kommen Sie in einem Jahr
wieder.< Nicht gerade berückende Aussichten!« 4
Der Roland Barthes der Elemente der Sémiologie nimmt sehr
deutlich Greimas' Perspektive einer allgemeinen Semiotik ein,
auch wenn er mit der Stelle an der Sechsten Sektion der EPHE
seinem Lehrmeister aus Alexandria in institutioneller Hinsicht
zuvorgekommen ist und 1965 mit Hilfe von Lévi-Strauss dafür
sorgt, daß Greimas dort eine Berufung erhält. Sobald dieser Stu-
diendirektor geworden und die Strukturale Semantik erschienen
ist, schafft sich die Semiotik in Frankreich institutionelle Grund-
lagen, abermals dank der Unterstützung von Lévi-Strauss, der
mit der Erarbeitung eines strukturalistischen Programms vorne
liegt und bereits fester etabliert ist.
Im Jahre 1966 formiert sich eine Forschungsgruppe um Grei-
310 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
die dritte Übersetzung ist jene, »die es erlaubt, von der ikoni-
schen zur gesprochenen Struktur, von der Darstellung der Klei-
dung zu ihrer Beschreibung überzugehen« 29 .
Die formalistischen Vorgaben einer Normierung der funktio-
nellen Sprachgebräuche haben Barthes dazu veranlaßt, der »ge-
schriebenen« Kleidung den Vorrang zu geben, weil nur sie eine
immanente Untersuchung zuläßt, die keine Rücksicht auf parasi-
täre praktische Funktionen zu nehmen braucht: »Aus diesen
Gründen haben wir hier die gesprochene Struktur für die Unter-
suchung gewählt.« 30 Anschließend definiert er seinen Corpus,
der in Modejournalen des Jahrgangs 1958/59 besteht, wobei er
die Zeitschriften Ε lie und Le Jardin des modes vollständig auswer-
tet. Barthes schreibt seine Studie in eine strikte Saussuresche Or-
thodoxie ein, indem er die Unterscheidung langue/parole wieder-
gibt durch die Opposition zwischen der abgebildeten Kleidung,
die er der parole zuordnet und die daher für den wissenschaftli-
chen Blick ungeeignet ist, und der »geschriebenen« Kleidung, die
der langue zugehört und somit ein mögliches Objekt der Wissen-
schaft darstellt.
Barthes' Analyse fußt auf der von Hjelmslev aufgestellten O p -
position: »Das Problem, das sich mit der Überlagerung zweier
semantischer Systeme in einer einzigen Aussage stellt, ist haupt-
sächlich von Hjelmslev behandelt worden.« 31 Er übernimmt also
die Trennung zwischen Ausdrucksebene (A) und Inhaltsebene
(I), die durch eine Relation (R) verbunden werden. Daraus ergibt
sich an zwei Gelenkstellen eine Zerlegung des Systems, entweder
in Denotations- und Konnotationsebene oder in die Ebene der
Objektsprache und die der Metasprache. Die Mode wird einem
Formalisierungsverfahren, also einer Aushöhlung der Substanz
unterzogen, und über diese Bewegung erfaßt Barthes ihr Wesen.
Sie erscheint als Signifikantensystem, als eine vom Signifikat ab-
geschnittene klassifikatorische Tätigkeit. »Der Mode [gelingt]
gewissermaßen eine unmittelbare Heiligung des Zeichens: das
Signifikat ist vom Signifikanten getrennt [...].«32 Sie funktioniert
Das Goldene Zeitalter des formalen Denkens 319
gemäß einer doppelten Setzung : Einerseits läßt sie sich, da sie ein
»naturalistisches« System ist, als logisches System darstellen: Die
populäre Presse praktiziert eine naturalisierte Mode, sie über-
nimmt Bruchstücke der Welt und verwandelt sie in Träume von
der Stange. Auf der anderen Seite praktiziert eine »vornehmere«
Presse eher die reine, ideologischer Substrate entledigte Mode.
Wenn Barthes am Ende dieser langen Studie einsichtig macht,
daß das volle Signifikat den Signifikanten der Entfremdung dar-
stellt, findet er zu Schlüssen soziologischer Ordnung zurück,
ohne in die Fallstricke des Soziologismus zu geraten. Sein »Sy-
stem der Mode« ist der Ertrag einer taxonomischen Sémiologie.
Das Neue daran ist das Aufbieten dieser großen klassifikatori-
schen Leistung, um das Subjekt in der Sprache aufzulösen.
Ironische Aufnahme findet das Werk bei Jean-François Revel,
der seine These mit folgendem Syllogismus veranschaulicht: Die
Ratte knabbert am Käse ; Ratte ist ein Silbengebilde ; also knab-
bert das Silbengebilde am Käse. »Gewiß, der strukturalistischen
Ratte ist nichts unmöglich. Aber kann die >geschriebene< Ratte
noch Käse fressen? Das mögen uns die Soziologen sagen.« 33
Aber die Resonanz ist überwiegend sehr freundlich. Raymond
Bellour führt ein Gespräch mit Barthes in den Lettres françaises^',
und Julia Kristeva sieht einen neuen Schritt getan zur Entmystifi-
zierung der Sémiologie von innen heraus, durch sich selbst:
»Barthes' Arbeit unterläuft die Strömung, die die moderne Wis-
senschaft beherrscht: das Zeichendenken.« 35
Kristeva begrüßt an Barthes' Buch ein radikales Ins-Gericht-
Gehen mit der Metaphysik der Tiefe und dem zwischen Signifi-
kant und Signifikat gesetzten Einschnitt zugunsten der Bezie-
hungen der Signifikanten untereinander — in Übereinstimmung
übrigens mit Lacans Saussure-Lesart und seiner Signifikanten-
kette. Barthes' Sprache der Modellen eine ganze Generation glau-
ben, daß dasselbe Vorgehen auch auf andere Felder angewandt
werden könnte; denn wenn Barthes aus der »geschriebenen«
bzw. beschriebenen Mode Vesteme hatte isolieren können,
320 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
die nicht vom Realen, sondern von der Illusion des Referenten
ausgeht, diese ganze Ästhetik der Barthesschen Schreibweise be-
reitet schon seit 1967 eine radikale Wende vor, die nach 1968 zur
Entfaltung kommen wird.
Mitte der sechziger Jahre, genauer gesagt im Jahre 1965, löst auch
auf dem Feld der Psychoanalyse der Logizismus das Saussuresche
linguistische Modell ab. Lacans Text »Die Wissenschaft und die
324 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
Die Logik von Kurt Gödel mit ihrem Theorem der Unvoll-
ständigkeit [Beweis der Unvollständigkeit einer widerspruchs-
freien axiomatischen Zahlentheorie (1931): Eine mathematische
Theorie, die die Arithmetik umfaßt und die widerspruchsfrei ist,
kann nicht alle in ihr wahren Aussagen beweisen. A.d.Ü.] erlaubt
ihm, die Wahrheit als einen Begriff zu fassen, der sich der integra-
len Formalisierung entzieht : »Er folgert, daß die Erfahrung des
cartesischen Zweifels dem Sein des Subjekts eine Trennung zwi-
schen dem Wissen und der Wahrheit auferlegt.«47 Diese logische
Wende kündigt den Übergang vom Ich-Thema {moi-thème) zum
mathema an und bildet den Ausgangspunkt für Lacans vielfältige
topologische Kunstgriffe. Manche halten diese Formalisierung
für weniger auf die Psychoanalyse in ihrer Praxis gemünzt als
vielmehr auf ihre Vermittlung. Es handele sich vor allem um ein
didaktisches Bemühen um methodisch strenge Ausarbeitungen:
»Es ist deutlich, daß Lacan diese Objekte nicht als mathematische
Objekte benutzt. Ihr Status ist ein rein metaphorischer.« 48 An-
dere halten die topologische Wende für sehr viel wesentlicher; sie
erlaube es Lacan, die Struktur des Subjekts wieder in den Griff zu
bekommen: »Für ihn ist die Struktur des Subjekts topologisch,
er hat es so gesagt.« 49
Diese Struktur, die man jahrhundertelang durch die Figur
der Kugel, durch die Vollständigkeit darzustellen vermeinte,
fällt in Wirklichkeit ins Asphärische und Unvollständige. Aus
dieser Subjektauffassung erwachsen die vielfältigen topologi-
schen Kunstgriffe, die Kugel zu wenden und einzukerben, um die
wahre Struktur des Subjekts als eine in den topologischen Kno-
ten fundamental gespaltene zu erfassen.
Über ihre Differenzen hinaus stehen Claude Lévi-Strauss, Al-
girdas Julien Greimas und Jacques Lacan Mitte der sechziger
Jahre für den am ausgeprägtesten szientistischen Strukturalis-
mus, der sich am radikalsten auf die Suche nach einer verborge-
nen Tiefenstruktur begibt, seien es nun die mentalen Bereiche als
Struktur der Strukturen bei Lévi-Strauss, das semiotische Viereck
326 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
bei Greimas oder die asphärische Struktur des Subjekts bei La-
can. Sie sind die drei Galionsfiguren des im Zenit stehenden for-
malen Denkens. Es ist ihr Ziel, die Humanwissenschaften mit
gleichem Recht in der Republik der Wissenschaften ansässig zu
machen wie die Naturwissenschaften.
Die großen Zweikämpfe
Barthes/Picard
sener Kenner er nicht ist. Für Picard ist Barthes »das Werkzeug
einer Kritik aus dem Bauch« 9 , die sich mit pseudowissenschaftli-
chem Jargon schmückt, um Albernheiten und Absurditäten von
sich zu geben, und das Ganze auch noch im Namen des biologi-
schen, psychoanalytischen, philosophischen usw. Wissens. Die-
ses Verwirrspiel der Kritik bezichtigt Picard der Tendenz zur
Verallgemeinerung, der Neigung, den konkreten Einzelfall für
eine zum Universalen berufene Kategorie zu halten. In dieser mo-
dernistischen Undeutlichkeit, für Raymond Picard eine Mi-
schung aus Impressionismus und Dogmatismus, »ließe sich alles
und jedes sagen«10.
Es handelt sich also um eine regelrechte Gegenattacke Picards,
den Barthes' Racine-Studie gar nicht persönlich im Visier hatte,
der sich jedoch zum Sprachrohr einer Sorbonne macht, die sich
von solchen strukturalistischen Umtrieben behelligt fühlt und
den zum Idol gewordenen Barthes gerne an den Pranger gestellt
sähe, bevor man zur Einstampfung seiner Schriften schreitet.
Barthes ist übrigens überrascht von der Heftigkeit der Polemik,
die da gegen ihn angestrengt wird : »Ich war auf Picards Angriff
nicht gefaßt. Ich hatte die universitäre Kritik nie angegriffen, ich
hatte sie bloß gekennzeichnet, benannt.« n Er schreibt diese At-
tacke dem Umstand zu, daß für die Literaturexamina einiges auf
dem Spiel steht. In dieser Hinsicht ist die neue Kritik gefährlich,
weil sie die Absolutheit, die Unantastbarkeit der Auswahlkrite-
rien eines kanonisierten Wissens in Frage stellt, das sich in der
Gewißheit seiner Werte und Methoden etabliert hat. In der Ver-
teidigung eines kontrollierbaren, an der Elle einer unverrückba-
ren Wahrheit meßbaren Wissens sieht Barthes den Grund für die
Angriffe.
Selbstverständlich ergreift die gesamte Strukturalistengenera-
tion gegen die Sorbonne Partei : »Menschlich stehen wir noch im-
mer auf Barthes' Seite. Ich würde von heute aus nicht sagen, daß
Picard intellektuell vollkommen im Unrecht war, aber er war
vollkommen im Unrecht mit seiner Aggressivität. Da Barthes
332 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
und Greimas keine agrégés waren, konnten sie nicht an der Uni-
versität lehren. Barthes' thèse war abgelehnt worden, und den
Linguisten war keine Universitätslaufbahn möglich, was viele
bedrückte. Sie waren Opfer eines regelrechten Verbots. Die
Romanisten standen damals überwiegend rechts und waren von
akademischen Rücksichtnahmen geprägt.« 12 Picards Entgegnung
verdeutlicht die In-sich-Geschlossenheit des akademischen Dis-
kurses und beweist erneut dessen Unwillen, sich neuen Fragestel-
lungen zu öffnen.
Der Ästhetikprofessor Olivier Revault d'Allonnes zählt die
Punkte und plädiert für ein Unentschieden. Zwischen dem sozio-
logischen Standpunkt von Lucien Goldmann, dem psychoanaly-
tischen von Charles Mauron, dem biographischen von Raymond
Picard und dem strukturalistischen von Roland Barthes will er
keine Entscheidung treffen: »Sie haben alle Recht. All dies ist in
der Phädra vorhanden, und gerade daran erkennt man vielleicht
die großen Werke. Sie enthalten Schichten, um Adornos geologi-
sche Metapher aufzugreifen.« ° Einstweilen wird Picards Buch,
wie Louis-Jean Calvet zeigt, in der Presse freundlich aufgenom-
men. Jacqueline Piatier ergreift in Le Monde seine Partei und
spricht von den »erstaunlichen Interpretationen, die Roland
Barthes über die Tragödien Racines vorgelegt hat« 14 . Das Journal
de Genève labt sich an Picards Gegenangriff: »Roland Barthes:
K. o. in hundertfünfzig Seiten« 15 . Anfangs zeigt Barthes sich an-
geschlagen, denn er verträgt keine Polemik. Seinem Freund Phi-
lippe Rebeyrol vertraut er an: »Weißt Du, das, was ich schreibe,
ist etwas Spielerisches, und wenn man mich angreift, bleibt davon
nichts mehr übrig.« 16 Doch die polemische Debatte, die Picard in
die Öffentlichkeit getragen hat, kommt wie ein Bumerang zur
Sorbonne zurück.
Bald findet eine Generation enthusiastischer Studenten Gele-
genheit zur Anfechtung des akademischen Wissens, als Barthes
im Jahr 1966, auf dem Höhepunkt des strukturalistischen Para-
digmas, mit Kritik und Wahrheit auf Picard antwortet. Das Er-
Die großen Zweikämpfe 333
Lévi-Strauss/Gurvitch
Lévi-Strauss/Sartre
Ricœur/Lévi-Strauss
Auch die Debatte mit der Zeitschrift Esprit ist durch Das wilde
Denken ausgelöst worden. Als Vertreterin einer Philosophie
des Subjekts fühlt diese sich unmittelbar angesprochen und an-
gefochten. Zur Vorbereitung einer Lévi-Strauss gewidmeten
Nummer der Zeitschrift setzt der Herausgeber, Jean-Marie
Domenach, eine Gruppe von Philosophen mehrere Monate auf
das Studium von dessen Werk an. Aufsätze von Jean Cuisenier,
Nicolas Ruwet und anderen nehmen sich Das wilde Denken vor,
und das Heft schließt mit einer Debatte zwischen Lévi-Strauss
und dem Stab, der über sein Werk gearbeitet hat. Bei der schriftli-
chen Wiedergabe hat Lévi-Strauss einige Äußerungen gestrichen,
so etwa: »Meine Formel ist die von Royer-Collard: Das Gehirn
sondert Gedanken ab, wie die Leber Bilis absondert« 54 , und je-
der Wiederaufnahme der Diskussion, von zahlreichen Zeitschrif-
ten aus dem Ausland mehrfach angefragt, hat er sich widersetzt.
Dennoch rechnet ihm Jean-Marie Domenach die Teilnahme an
diesem Streitgespräch hoch an : »Ich bin ihm dankbar, daß er an
dieser Debatte teilgenommen hat, denn ich bewundere seine in-
tellektuellen Fähigkeiten.« 55
In dieser Kontroverse treffen hauptsächlich zwei divergierende
Ausrichtungen aufeinander, die Paul Ricceur in seinem Aufsatz
»Structure et herméneutique« darlegt. Die Wissenschaftlichkeit
der strukturalen Arbeit über die Codes, die in Sprachen und My-
then Verwendung finden, bestreitet Ricceur nicht, Einspruch er-
hebt er jedoch gegen die Grenzüberschreitung, die darin besteht,
begründungslos zur Stufe der Verallgemeinerung, der Systemati-
sierung überzugehen. Für Ricceur gilt es, zwei Herangehensebe-
nen deutlich voneinander zu unterscheiden: Die erste Ebene baut
auf die linguistischen Gesetze auf und bildet die unbewußte,
nichtreflexive Schicht, einen kategorialen Imperativ, der nicht
notwendig auf ein bewußtes Subjekt bezogen werden muß. Die-
se Ebene veranschaulicht sowohl die binären Oppositionen der
Die großen Zweikämpfe 347
Die Abspaltung
Der Signifikant
Der Begriff des Signifikanten bei Lacan ist also von zentralem
Interesse, gelangt aber erst seit den sechziger Jahren als wesentli-
cher Bestandteil der Strukturalistischen Woge zur vollen Bedeu-
tung. In diesem Zusammenhang erschließt sie, was Jean-David
Nasio die »Nabel«-Bedeutung eines Begriffs nennt, also seine
Entstehensbedingungen und seine Entwicklung. 8 Aus dieser si-
gnifikanten Struktur heraus wird sich, einer doppelten Logik von
Orten und Kräften folgend, eine Dialektik entwickeln. Diese
Dialektik, die den Primat des Signifikanten über das Signifikat
zugrunde legt, setzt somit die Welt als Phantasma und kenn-
zeichnet die Ordnung der Dinge als der Sprache (langage) un-
tergeordnet. In diesem Sinne gehört die signifikante Kette,
wenngleich sie aus einem sehr freizügigen Umgang mit der Saus-
sureschen Auffassung erwächst, dennoch zu einer allgemeineren,
typisch strukturalistischen Konzeption, welche die Sphäre des
Diskurses autonomisiert und die Ordnung der Dinge aus der
Ordnung der Wörter errichtet. Die Welt wird nur noch durch den
Signifikanten des Mangels zusammengehalten, durch »das
Ding«, das Lacan von Heidegger übernimmt, um die Vierteilung
in Erde, Himmel, Menschen und Götter zu benennen. »Das Ding
dingt Welt«, heißt es bei Heidegger 9 , doch wie bei ihm »trägt
[das Ding] dieses Geviert, weil es im wesentlichen durch eine
Leere konstituiert wird« 10 . Der Raster der Welt schreibt sich da-
mit aus einem zentralen Mangel ein, der die Bedingung ihrer Ein-
heit ist.
keit, die zu ihrem Heil gelangt, nachdem sie alle Auswege und
Schlupflöcher verriegelt hat, die nicht zum großen Anderen füh-
ren.
Diese christliche Lacan-Lesart könnte durchaus erklären, wes-
halb zahlreiche Jesuiten — und bei weitem nicht die geringsten —
wie Michel de Certeau oder François Roustang oder Katholiken
wie Françoise Dolto das Lacansche Abenteuer begleitet haben:
»Für mich bedeutet Lacan die Wiederbegegnung mit der katholi-
schen, theologischen, nachtridentinischen Intelligenz, im Sinne
einer erneuten Aufmerksamkeit für die Frage der Trinität« 28 , ge-
steht der Philosoph Jean-Marie Benoist zu, worin er mit Philippe
Sollers übereinstimmt. Beide glauben, daß Lacan die nachtriden-
tinische Öffnung möglich gemacht hat, die des barocken Den-
kens. Viele Christen sind Lacan gefolgt, »weil sie dachten, er
werbe für Gott, bis sie merkten, daß er nur für sich selber
warb« 29 .
Diese religiöse Dimension wurde sorgsam verhehlt, als die
Stunde des Strukturalismus kam, wo nur von Wissenschaft,
Theorie und Formalisierung die Rede war. Dennoch sind in den
Seminaren die Spezialisten für Religionsgeschichte stark vertre-
ten gewesen. Bernard Sichere ist indes nicht der Ansicht, daß La-
can versucht hätte, einer katholischen Lesart von Freud zum Er-
folg zu verhelfen, vielmehr habe er zu einer Zeit, als sich alles
darum drehte, der abendländischen Metaphysik den Garaus zu
machen, tatsächlich als einziger vertreten, daß man die religiöse
Frage nicht umgehen könne, ohne der Rückkehr des Verdrängten
in seinen fanatischsten und grauenhaftesten Formen zu verfallen:
»Das heißt nicht, daß die Psychoanalyse religiös sein muß. Es
heißt, sich zu fragen, weshalb einer von Freuds letzten Texten ge-
rade Der Mann Moses und die monotheistische Religion gewesen
ist.« 30 In dieser Hinsicht haben sowohl Freud als auch Lacan die
Religion in der Funktion eines über Jahrhunderte hinweg effi-
zienten Vermittlers zwischen dem Verbot und der sexuellen Rea-
lität gesehen und die Frage aufgeworfen, welcher Diskurs in der
Die signifikanten Ketten 361
Der Affekt
Das Modell der signifikanten Kette hatte zur Folge, daß eine für
bedeutungslos gehaltene Dimension fallengelassen wurde: die
des Affekts — ein weiterer Kernpunkt der Kritik André Greens
an Lacan. 1960 hatte Green in Bonneval den Vortrag von Jean
Laplanche und Serge Leclaire über das Unbewußte gehört, und er
teilte Laplanches Vorbehalte gegen die sprachliche Konzeption
des Unbewußten. Zum selben Zeitpunkt erklärte Lacan beim
Kolloquium von Royaumont über den Affekt: »Auf dem Freud-
schen Felde sucht das Bewußtsein, trotz der Wörter, ebenso ver-
geblich das Unbewußte auf seine Negation zu gründen (dies Un-
bewußte stammt vom heiligen Thomas), wie der Affekt unfähig
ist, die Rolle des protopathetischen Subjekts zu übernehmen
[...].«32 Jean-Bertrand Pontalis bittet daraufhin André Green, in
Les Temps Modernes eine Abhandlung über den Affekt zu schrei-
ben. Der Aufsatz wird 1961 publiziert, und weitergefaßt greift
André Green die Thematik in einem 1970 veröffentlichten
Werk 33 abermals auf: »Meines Erachtens gibt Lacan eine anti-
freudsche Version des Unbewußten.« 34
Für André Green beruht die Fruchtbarkeit der Freudschen
Theorie auf der Heterogenität des Signifikanten. Freud faßt den
Signifikanten nicht als eine Batterie austauschbarer Termini auf,
die wie in der Sprache homogen zueinander sind, sondern als eine
362 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
rade deshalb halte ich ihn für wesentlich.« 37 Freud hat in seinen
Studien über die Hysterie die Notwendigkeit betont, die trauma-
tischen Erinnerungen wiederzufinden, aber auch den Affekt, der
mit ihnen einhergegangen ist. Auf die den Psychoanalytikern so
wichtige Kristallmetapher Bezug nehmend, vertritt Serge Vider-
man die Auffassung, daß man in der Psychoanalyse der Illusion
näher sei als dem Kristall. Die Negierung des Affekts, das schräg-
gestrichene kleine (a) könnte auch auf eine Kerndimension der
analytischen Therapie zurückzuführen sein, deren Lacan sich be-
dient haben muß, gegen die er sich jedoch gleichzeitig bis zur
Verdrängung hat absichern wollen: die Übertragung.
Einerseits hat Lacan in seinem Bemühen um Formalisierung
und um Bereinigung der analytischen Situation die Übertragung
auf ein Minimum reduziert, weil sie Quell der abwegigsten, der
am schwersten rationalisierbaren Gefühle ist. Namentlich den
Terminus Gegenübertragung hat er verbannt und unter der Ru-
brik des Begehrens des Analytikers neutralisiert: »Er hat es ver-
boten, davon zu sprechen oder diesen Ausdruck zu benutzen.« 38
Derlei Ausblendung erleichterte er sich mit dem Vorwand, daß
Freud selber sich zur Gegenübertragung recht wenig geäußert
habe. O b er sich dadurch auch gegen seine persönlichen Neigun-
gen zu überschießender Affektion hat schützen wollen? Es ist
nicht auszuschließen, daß er nachträgliche theoretische Rechtfer-
tigungen ausgearbeitet hat, um seine eigenen affektiven Triebe im
Zaum zu halten. Ist die Übertragung in der Therapie zurückzu-
halten, so empfiehlt Lacan sie andererseits in der Vermittlung und
Lehre der Psychoanalyse. Das erste Jahrbuch der Ecole freu-
dienne präzisiert, daß der Unterricht der Psychoanalyse nur auf
dem Wege einer Arbeitsübertragung möglich sei. Aber sie ändert
ihren Charakter; als Vektor der Wissenschaft ist sie bar aller Ge-
fühle und verweist auf »den, der angeblich weiß«. Das Lacansche
Subjekt ist ein entkörperlichtes Subjekt. Wieder findet man die
dem Strukturalismus eigene Thematik der Negation von Indivi-
dualität und Singularität: »Die Lacansche Operation muß dop-
364 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
Während die signifikante Kette bei Lacan auf der Ebene des Un-
bewußten funktioniert, liegt sie für Lévi-Strauss in der unaufhör-
lichen Bezugnahme der Mythen untereinander und eröffnet den
Zugang zur Bedeutung der Mythologie. Die Matrix der Bedeu-
tungen läßt sich aufgrund von Transformationen sichtbar ma-
chen, die den Verdichtungs- und Verschiebungsvorgängen des
Unbewußten nahekommen. Aus einer regelrechten Syntax sol-
cher Transformationen ergibt sich nach Lévi-Strauss die Struktur
der Mythen. Die Tetralogie Mythologica, die Lévi-Strauss den
Mythen widmet, nimmt Abstand von der zu Anfang des Jahr-
hunderts vorherrschenden symbolistischen Theorie, die die my-
thische Erzählung als von ihrem Umfeld abgeschnittenes Objekt
betrachtete und die je einzelnen Termini der mythischen Erzäh-
lung auf einen verborgenen Sinn hin untersuchte. Lévi-Strauss'
Vorgehen versteht sich auch als Überwindung des Funktionalis-
mus, der mit Malinowsky darauf abzielt, der sozialen Funktion
der Mythen in ihrem besonderen Kontext Rechnung zu tragen.
Lévi-Strauss integriert die Untersuchung der Mythen in ein sym-
bolisches System, legt dabei aber die Betonung auf den Begriff
des Systems, des Gefüges, der Struktur, indem er den Mythos in
Minimaleinheiten — Mytheme — unterteilt, die er in Paradigmen
einordnet. Sein Versuch erstreckt sich also im wesentlichen auf
eine interne Dekodierung des Mythendiskurses. Die Mythen
werden aufeinander bezogen und, anders als bei den Funktionali-
sten, weitgehend unabhängig von den Kommunikationsbedin-
gungen und von ihrer Funktion untersucht. Ziel des Unterneh-
mens ist, über die Ermittlung ihrer Verschiedenheit eine allen
Das mythologische Universum 367
Mythos zutage treten, die somit einem oder mehreren Codes un-
terliegt, in denen sich die mythische Substanz der Botschaft ver-
birgt.
Das wilde Denken, erschienen 1962, ist ein Präludium der spä-
teren Tetralogie. In diesem Werk will Lévi-Strauss zeigen, daß das
mythische Denken ebenso strukturiert ist wie das wissenschaftli-
che Denken, es sei genauso fähig zu Analogien und Verallgemei-
nerungen. Er geht mit Jungs Archetypenlehre und seinem Begriff
vom kollektiven Unbewußten ins Gericht und erklärt, eine
»Theorie des Überbaus« 8 skizzieren zu wollen. Beruhen soll
diese auf der Verbindung mehrerer Erklärungssysteme sowie auf
der Wiedereinsetzung des Mythos in die signifikante Kette der
anderen Mythen, von denen er nur ein Element eines allgemeinen
Transformationsprozesses ist. In diesem Sinne sind die aus der
Phonologie übernommene binäre Opposition, die Opposition
zwischen markierten oder nichtmarkierten Termini und vor al-
lem der Umstand, daß die Bedeutung aus der Position resultiert,
allesamt mythenanalytische Anleihen aus der Linguistik, die sich
mehr denn je als heuristisches Modell aufdrängt. Die Substitution
eines Elements durch ein anderes in der signifikanten Kette erfor-
dert interne Verschiebungen im mythischen System.
Arbeitsgegenstand des Anthropologen ist also die »Einord-
nung aller bekannten Varianten eines Mythos in eine Reihe« 9 .
Die Emphase, die Wiederholung nimmt einen besonderen Rang
ein; sie ist essentiell insofern, als sie die Struktur des Mythos
selbst in seiner doppelten, seiner synchronischen und diachroni-
schen Dimension manifestiert. Das mythische Denken, »eine Art
intellektuelle Bastelei«10, verwertet in einem fortwährenden Pro-
zeß Ereignisreste, weshalb sich Lévi-Strauss gegen das Suchen
nach den letzten Ursprüngen ausspricht, da es ja gerade Sache der
Analyse sei, jeden Mythos durch die Gesamtheit aller seiner Ver-
sionen zu definieren. Damit fordert er zu einer unbegrenzten,
endlosen Suche auf, denn das mythische Denken springt kraft
ständig stimulierter Fruchtbarkeit immerzu in neue Gefüge über,
370 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
Der Referenzmythos
tionalität zugrunde gelegt werden, die sich herleiten läßt aus der
Erforschung der permutierenden Ensembles, der Artikulationen
der Zeichensysteme, die in einer langen Mythenreihe zutage tre-
ten; daraus ergibt sich die Notwendigkeit dieser ausführlichen
Vergleichsforschung, die für die signifikante Reihe konstitutiv ist.
Ausgehend von empirischen, beobachtbaren Kategorien
wie »gekocht« und »roh«, »feucht« und »verbrannt«, restituiert
Lévi-Strauss hinter diesen ethnographischen Beobachtungen
konzeptuelle Werkzeuge, abstrakte Begriffe, die die Denkweise
der primitiven Gesellschaften erhellen. Er nimmt also die ethno-
graphische Beobachtung durchaus ernst, hält aber gleichwohl ei-
nen theoretischen Horizont für vorrangig. Den im mythischen
Diskurs erkennbaren sinnlichen Qualitäten wird logische Quali-
tät zuerkannt, welche die fünf Sinne um fünf Grundcodes ver-
doppelt. Wie Lacans Auffassung des Unbewußten ist auch das
mythische Denken wie eine Sprache strukturiert. »Indem das
mythische Denken sein Material der Natur entnimmt, geht es wie
die Sprache vor, welche die Phoneme unter den natürlichen Lau-
ten auswählt.« 14
Die Tetralogie
Als 1971 der vierte und letzte Band dieser Tetralogie, Der nackte
Mensch, erscheint, ist ein Ausnahmewerk vollbracht, die Mytho-
logie^ die Lévi-Strauss sieben Jahre beschäftigt haben. Die Presse
begrüßt das Ereignis seiner Bedeutung gemäß. Le Monde publi-
ziert ein Dossier; darin liest man neben einem Gespräch, das
Lévi-Strauss Raymond Bellour gewährte, Artikel von Hélène
Cixous: »Der Blick eines Schriftstellers«, von den Historikern
Marcel Détienne und Jean-Pierre Vernant : »Eurydike, die Bie-
nen-Frau«, und von dem Linguisten und Musikwissenschaftler
Nicolas Ruwet: »Wer hat geerbt?«, sowie einen Aufsatz von Ca-
therine Backès-Clément.
Das Fernsehen bietet den Zuschauern sogar einen »lehrreichen
Sonntag«, wie Le Figaro es nannte: Lévi-Strauss ist Sonntagsgast.
Er beschließt, hauptsächlich das von ihm gegründete Laboratoire
Das mythologische Universum 377
den Übergang vom Zustand der Natur zum Zustand der Gesell-
schaft.« 23
Im »Finale« vom Nackten Menschen, das nach Art eines musi-
kalischen Motivs auf die Ouvertüre des ersten Bandes antwortet,
erinnert Lévi-Strauss an die methodologische Notwendigkeit,
daß für den Zugang zur Struktur das Subjekt zurücktreten muß.
Indem er so das Subjekt aufs Korn nimmt, greift er die Polemik
wieder auf, die er gegen die Anmaßungen des philosophischen
Diskurses geführt hat. Den Kritikern, die ihm vorgehalten haben,
daß er durch seine formalen Reduzierungen der Botschaften, die
die von ihm untersuchten Gesellschaften formulieren, das
menschliche Universum einer Verarmung unterziehe, entgegnet
er: »Freilich ist es der Philosophie allzu lange gelungen, die Wis-
senschaften vom Menschen in einem Zirkel gefangenzuhalten, da
sie ihnen nicht gestattete, dem Bewußtsein einen anderen Unter-
suchungsgegenstand zuzuerkennen als es selbst. [...] Was nach
Rousseau, Marx, Durkheim, Saussure und Freud der Struk-
turalismus zu vollenden sucht, ist, dem Bewußtsein ein anderes
Objekt zu enthüllen; das heißt, es gegenüber den menschlichen
Erscheinungen in eine Position vergleichbar derjenigen zu verset-
zen, von der die Naturwissenschaften bewiesen haben, daß nur
sie der Erkenntnis ermöglichen konnte, sich zu üben.« 24 Im H o -
rizont dieser Kritik steht die Hoffnung, den Status der Naturwis-
senschaft dadurch zu erreichen, daß man u. a. unter Zuhilfenahme
des anthropologischen Wissens Zugang zu den Funktionsbedin-
gungen des menschlichen Geistes hat. Die innere Spannung zwi-
schen Natur und Kultur verdoppelt sich um die Spannung inner-
halb von Lévi-Strauss' Diskurs selbst: seinen Ehrgeiz, an die
unantastbaren Gesetze der neuronalen Natur des menschlichen
Gehirns heranzukommen, und den beharrlichen Willen des
Schöpfers, der das Forschungsterrain der Humanwissenschaften
gewählt hat, um ein Kunstwerk zu schaffen.
Diese Spannung ist in der Komposition der Mythologica selbst
erkennbar, die nach dem Muster der Tetralogie Wagners entwor-
Das mythologische Universum 379
Mythen den Geist bezeichnen, der sie mit Hilfe der Welt, von der
er selbst ein Teil ist, erarbeitet« 32 .
Folglich ist in diesen mythologischen Ketten sehr wohl ein
Kausalismus am Werk, aber er ist neuronal und impliziert per De-
finition das weitestgehende Abrücken vom semantischen Inhalt
der mythologischen Aussagen, vom sozialen Referenten, auf den
er verweist. Dieser soziale Referent kommt in den Mythologica
zwar vor, da diese alle ethnographischen Informationen Lévi-
Strauss' zusammentragen, aber seine Relevanz wird auf ein blo-
ßes Dekorum reduziert, ein reines Ausgangsmaterial, dessen man
sich bedient, ohne daß es einen entscheidenden Einfluß auf die
Denkweise nähme. Denn nur auf dem grammatikalischen Niveau
offenbart der Mythos die logischen Regeln seiner Aussage, wes-
halb es die einzige relevante Ebene seiner Notwendigkeit dar-
stellt. Allein die grammatikalische Ebene erlaubt den Zugang zu
den mentalen Bereichen und enthüllt durch das Symptom, für das
sie steht, was sie zu sagen vermeidet. Die Wahrheit des Mythos
besteht »in inhaltslosen logischen Beziehungen oder genauer sol-
chen Beziehungen, deren invariante Eigenschaften ihren opera-
torischen Wert erschöpfen« 33 . Damit kann Lévi-Strauss die Spie-
gelbeziehung zwischen sozialer Realität und Mythos umgehen.
Er entrât mit Recht den Mechanismen, die einem Widerspiege-
lungsdenken eignen, dies jedoch, um es durch eine der Mytholo-
gie interne Logik zu ersetzen, die sich jeder äußeren Regel mit
Ausnahme der neuronalen entzieht.
Die notwendige Autonomisierung des kulturellen Feldes ge-
genüber dem sozialen Feld wird bis ans Ende ihrer Logik getrie-
ben, bis es einen vom letzteren unabhängigen Horizont bildet.
Das phonologische Modell dient als theoretische Begründung
für das Extrahieren des sozialen Inhalts, der Botschaft zugun-
sten des Codes : »Die Aussage, nach der die Elemente, die den
Mythos bilden, unabhängiger Bedeutung entbehren, ist eine
Folge der Anwendung phonologischer Methoden auf die My-
then. In der Tat ist die Abwesenheit von Bedeutung ein Kenn-
380 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
Mythen den Geist bezeichnen, der sie mit Hilfe der Welt, von der
er selbst ein Teil ist, erarbeitet« 32 .
Folglich ist in diesen mythologischen Ketten sehr wohl ein
Kausalismus am Werk, aber er ist neuronal und impliziert per De-
finition das weitestgehende Abrücken vom semantischen Inhalt
der mythologischen Aussagen, vom sozialen Referenten, auf den
er verweist. Dieser soziale Referent kommt in den Mythologica
zwar vor, da diese alle ethnographischen Informationen Lévi-
Strauss' zusammentragen, aber seine Relevanz wird auf ein blo-
ßes Dekorum reduziert, ein reines Ausgangsmaterial, dessen man
sich bedient, ohne daß es einen entscheidenden Einfluß auf die
Denkweise nähme. Denn nur auf dem grammatikalischen Niveau
offenbart der Mythos die logischen Regeln seiner Aussage, wes-
halb es die einzige relevante Ebene seiner Notwendigkeit dar-
stellt. Allein die grammatikalische Ebene erlaubt den Zugang zu
den mentalen Bereichen und enthüllt durch das Symptom, für das
sie steht, was sie zu sagen vermeidet. Die Wahrheit des Mythos
besteht »in inhaltslosen logischen Beziehungen oder genauer sol-
chen Beziehungen, deren invariante Eigenschaften ihren opera-
torischen Wert erschöpfen« 33 . Damit kann Lévi-Strauss die Spie-
gelbeziehung zwischen sozialer Realität und Mythos umgehen.
Er entrât mit Recht den Mechanismen, die einem Widerspiege-
lungsdenken eignen, dies jedoch, um es durch eine der Mytholo-
gie interne Logik zu ersetzen, die sich jeder äußeren Regel mit
Ausnahme der neuronalen entzieht.
Die notwendige Autonomisierung des kulturellen Feldes ge-
genüber dem sozialen Feld wird bis ans Ende ihrer Logik getrie-
ben, bis es einen vom letzteren unabhängigen Horizont bildet.
Das phonologische Modell dient als theoretische Begründung
für das Extrahieren des sozialen Inhalts, der Botschaft zugun-
sten des Codes : »Die Aussage, nach der die Elemente, die den
Mythos bilden, unabhängiger Bedeutung entbehren, ist eine
Folge der Anwendung phonologischer Methoden auf die My-
then. In der Tat ist die Abwesenheit von Bedeutung ein Kenn-
382 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
Der zweite tote Winkel der Mytbologica ist die Geschichte, und
Lévi-Strauss perzipiert eine besondere Beziehung der Mythen
zur Zeitlichkeit. Tatsächlich sind Mythologie wie Musik »Appa-
rate zur Beseitigung der Zeit« 37 . Der Gegenstand, den Lévi-
Strauss gewählt hat, hat Beweiskraft in seiner Polemik gegen die
Philosophen, die das der Historizität zuerkannte Vorrecht, das er
für maßlos überstiegen hält, ins Wanken bringen will. Deshalb ist
die Geschichte bei ihm noch nicht abwesend, denn wir haben ja
Das mythologische Universum 383
Menschheitsdämmerung
fen. Diese Konzeption erlaubt es, Vorstellungen wie die der »of-
fenen Strategien«, die ihren Urhebern Entscheidungsspielraum
schaffen, zuzulassen und ihnen Gewicht beizumessen; so kann
sie beispielsweise über eine Vielzahl von Heiratsallianzen, die als
ebenso viele Bestandteile des politischen Dispositivs aufgefaßt
werden, die Verwandtschaft in die Machtverhältnisse einbezie-
hen.
Nach Balandier kann man daher nicht mehr, wie bislang die
Anthropologie, behaupten, das Politische beginne dort, wo die
Verwandtschaft aufhört. Sein Ansatz öffnet sich auch den histori-
schen Problemstellungen: »Eine spürbar gewordene Notwen-
digkeit hat also die dynamische Gesellschaftstheorie, die politi-
sche Anthropologie, die politische Soziologie und die Geschichte
dazu gebracht, ihre Anstrengungen zu vereinen.« n Der Dialog
mit den Historikern beginnt dann auch 1968 in einer Sendung der
Lundis de l'histoire, die das Buch von Balandier zum Thema hat
und in der er mit Jacques Le Goff und Pierre Vidal-Naquet disku-
tiert. 12 Balandiers synthetisches und diachronisches Vorgehen
nähert sich in der Tat den Forschungen der Historiker, nament-
lich der Mediävisten, bei denen bestimmte Quellen, etwa die
Heldengedichte, Sippenkriege auch in ihrer politischen Relevanz
darstellen. Balandiers Definition des Politischen umfaßt mithin
ein breites Spektrum: »Man muß die Politik differenziert be-
trachten: einmal als Mittel, die Regierung der Menschen zu ge-
währleisten, und als Mittel für Strategien, deren sich die Men-
schen bedienen. Man neigt allzusehr dazu, die beiden Ebenen zu
vermengen.« 13
Langages
Ducrot, der Medizin mit Henry Hécaen, der Literatur mit Ro-
land Barthes, der Informatik mit Maurice Gross.
Die Vorbereitung für die Lancierung der Zeitschrift vollzieht
sich also in euphorischer Stimmung. Allerdings löst schon die er-
ste Nummer einen schweren Konflikt aus, denn es machen sich
bereits mehrere Schulen die Urheberschaft der modernen
Sprachreflexion streitig. Todorov ist der verantwortliche Redak-
teur der Eröffnungsnummer, die sich mit »semantischen For-
schungen« beschäftigt. Diese geben den Thesen Chomskys viel
Raum, was Greimas erbost (Todorov »hat eine amerikanische
Nummer gemacht« 6 ), der sich zurückzieht. Der Bruch ist irrepa-
rabel. Jean Dubois wie Nicolas Ruwet beziehen immer stärker an
Chomsky orientierte Positionen; und als Greimas gegangen ist,
will Barthes vermeiden, in dem Disput Partei zu ergreifen und
»sucht infolgedessen nur eines, nämlich das Weite« 7 . Der Redak-
tionsrat der Langages tritt nicht mehr zusammen, so daß die Ver-
antwortung für die Weiterführung des Unternehmens Jean Du-
bois zufällt, der die Herausgeberposition bei Larousse innehat.
Trotz dieser Krise gelingt es ihm im Zuge der strukturalistischen
Woge, bei Larousse eine Reihe »Langages« zu starten. In ihren
besten Zeiten erzielt die Zeitschrift eine Auflage von fünftausend
Exemplaren. Dieser Erfolg ist um so beachtlicher, als der lingui-
stische Diskurs ein sehr technischer ist.
Communications
Tel Quel
1960 publiziert der Verlag Seuil die Zeitschrift Tel Quel11; sie
wird rasch zum Sprachrohr des synkretistischen Anspruchs, mit
dem der Strukturalismus auftritt. Sie vertritt die Synthesebestre-
bung der Epoche um so deutlicher, als sie aus keiner besonderen
Disziplin der Humanwissenschaften hervorgeht. Lanciert wird
sie von Schriftstellern, und ihr Zielpublikum ist die intellektuelle
Avantgarde. Von dem seit 1958 geplanten Projekt »hatte François
Wahl gesagt, es würde der Parnaß von Napoleon III. sein, jenem
neuen Napoleon III., der 1958 General de Gaulle war« 12 .
Mit ihrem Motto greift die Zeitschrift einen Ausspruch von
Nietzsche auf: »Ich will die Welt und will sie so, wie sie ist (tel
quel), und will sie wieder, will sie ewig.« D Die Eingangserklä-
rung der ersten Nummer deutet auf eine vornehmlich literarische
404 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
Absicht hin, die der Poesie »den höchsten Platz des Geistes« 14
zumißt. Die ganze Gruppe ist im wesentlichen literarisch ausge-
richtet, doch wenn auf dem Umschlag im Untertitel das Wort
»Wissenschaft« fällt, so zeigt dies, daß das Projekt sich zur Be-
förderung einer neuen Schreibweise alle avantgardistischen und
modernistischen Formen der Humanwissenschaften aneignen
will. Und in den sechziger Jahren verkörpert diese wissenschaftli-
che Modernität eben der Strukturalismus — daher der umfas-
sende Untertitel : »Literatur/Philosophie/Wissenschaft/Politik«.
Das Augenmerk bleibt indes ein literarisches : »Diese politische,
periodische und aktualisierende Tätigkeit ist stets im Namen des
literarischen Schaffens und von Schriftstellern geführt wor-
den.« 15 Ziel ist also, Einfluß auf die Literatur zu nehmen, die
Schreibweise zu verändern und mit Hilfe der strukturalistischen
Beiträge eine neue Stilistik zu begründen. Die Zeitschrift ist so-
mit von vornherein interdisziplinär ausgerichtet; sie wirkt als
Tauschplatz, dessen einziges Prinzip es ist, die Avantgarde wider-
zuspiegeln. Dabei bildet die vom Strukturalismus erneut ins Ge-
spräch gebrachte Rhetorik den Grundstein des Projekts.
Zum Gegner erklärt Tel Quel die klassische Literaturgeschichte
des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts : »Sich absetzen von der
Idee der Literatur, die im Nachkriegsfrankreich herrschte, das
heißt von einer Literatur der psychologischen Restauration« 16 . In
diesem Sinn gab es wohl ungetrübtes intellektuelles Einverneh-
men zwischen dem strukturalistischen Paradigma, das es auf die
Schemata von Bewußtsein, Subjekt und Beherrschung der Ge-
schichte abgesehen hatte, und dem Projekt Tel Quel, das auf die
Humanwissenschaften rekurrierte, um die Idee einer harmoni-
schen, positivistischen Literaturgeschichte zunichte zu machen.
Die Zeitschrift sollte also zu einem Kreuzungspunkt werden,
einem interessanten und brisanten Gemisch aus Lacanismus,
Althusserianismus und Barthesianismus, so daß Tel Quel zumeist
als das Organ einer imaginären strukturalistischen Internationale
gilt. So bekommt in den sechziger Jahren Marcelin Pleynet als Tel-
Die Zeitschriften 405
bis drei Uhr morgens dauern sollten, endeten schließlich mit ei-
ner Spaltung. Wir diskutierten dort über den epistemologischen
Bruch und den Signifikanten. Besonders lebhaft erinnere ich
mich an die große Sitzung des Zerwürfnisses, wo Robert Linhart
stundenlang mit Jean-Claude Milner über den Signifikanten und
das Insignifizierte des Signifikanten diskutierte, um herauszube-
kommen, inwieweit dies materialistisch sei. Das hatte einen ge-
wissen Schneid.« 36
Aus diesem Bruch geht die Zeitschrift der jungen althusseria-
nischen Generation, Les Cahiers pour l'analyse, hervor, die man
als althusserianisch-lacanianisch bezeichnen kann. Sie verortet
sich in der Perspektive eines Kampfstrukturalismus als Gesamt-
philosophie und beruft sich sowohl auf Althusser als auch auf La-
can, Foucault und Lévi-Strauss. Dort findet man die Zöglinge
von Althusser und Lacan, denn sämtliche Mitglieder des Redak-
tionsrats, der sich aus Alain Grosrichard, Jacques-Alain Miller,
Jean-Claude Milner und François Régnault zusammensetzt, ge-
hören der Organisation der lacanianischen Psychoanalyse, der
École freudienne de Paris an.
Von 1966 bis 1969 werden die Cahiers pour l'analyse eine epi-
stemologische Arbeit leisten und die Psychoanalyse, die Lingui-
stik und die Logik auf ihre Wissenschaftlichkeit hin befragen, um
die eine, als Diskurstheorie, als Philosophie des Begriffs konzi-
pierte Wissenschaft zu errichten. Die Zeitschriften haben ein
Zitat von Georges Canguilhem zum Motto: »Einen Begriff
erarbeiten heißt seine Extension und sein Fassungsvermögen va-
riieren lassen, ihn verallgemeinern durch Einverleibung der Aus-
nahmemerkmale, ihn aus seinem Ursprungsgebiet herausholen,
ihn als Modell nehmen oder, umgekehrt, ein Modell für ihn su-
chen, kurz, ihm schrittweise Transformationen zufügen, die von
der Funktion einer Form geregelt werden.« 37
Mit den Cahiers pour l'analyse hat man an der ENS in der Rue
d'Ulm die symptomatischste Strömung des strukturalistischen
Aufruhrs der sechziger Jahre vor sich, in seinen vermessensten
Die Zeitschriften 413
Saint-Cloud
Ulm
Der Tutor der neuen Generation an der Rue d'Ulm heißt Louis
Althusser. Agrégé in Philosophie des Jahrgangs 1948, hat er die
Aufgaben eines von der Schule abgestellten Repetitors für die
Kandidaten der agrégation übernommen, wurde also von der
ENS zum caïman in Philosophie berufen. Mehr als Desanti ist
Althusser der Ansicht, daß die Philosophie gegenüber den mo-
dernen Sozialwissenschaften eine Rolle zu spielen habe, nämlich
418 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
als Theorie der theoretischen Praxen, die imstande ist, die wis-
senschaftliche Gültigkeit der Positivitäten abzuwägen, um sie auf
ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen. Für Althusser behält die
Philosophie ihre angestammte Rolle als Königsdisziplin, auch
wenn sie ihren Diskurs erneuern und sich veränderten Problem-
stellungen öffnen muß.
Die maßgebliche Rolle, die Althusser und die Althusserianer
in den sechziger Jahren im Ausstrahlungsbereich des Struktura-
lismus gespielt haben, beruht auf der Fähigkeit, die Herausforde-
rung insbesondere der strengen Humanwissenschaften anzuneh-
men und somit im Glanz der Modernität zu erstrahlen, sie dabei
aber in die traditionelle Form eines umfassenden, wahrheitstra-
genden philosophischen Diskurses umzulenken.
Die Rue d'Ulm wird zum Epizentrum der strukturalistischen
Ideologie, zum innerfranzösischen Symptom für das Gewicht
der Humanwissenschaften im universitären Ausbildungsgang.
Die Rue d'Ulm ist in dieser Hinsicht ideal dazu geeignet, die alte
Sorbonne abzuhängen. Inbegriff des Auserlesenen, verkörpert
die École einen doppelten Vorzug, angestammte wissenschaft-
liche Legitimität und avanciertesten Modernismus: »Ich weiß
noch sehr gut, daß man der universitären Philosophie mit ihrer
Mischung aus Humanismus und Spiritualismus überdrüssig
war« 12 , berichtet der ehemalige ulmien Jacques Bouveresse. Als
dann die »echten« Humanwissenschaften aufkamen, wurde das
als regelrechte intellektuelle Befreiung erlebt. Dabei ging es frei-
lich nicht darum, sich alle Humanwissenschaften anzueignen,
denn die »echten« waren drei an der Zahl: Psychoanalyse, An-
thropologie und Linguistik bildeten das konstitutive Trio des
strukturalistischen Paradigmas, und man schaute verächtlich auf
die bereits als traditionell geltenden Humanwissenschaften, die
empirischen Klassifikationswissenschaften Psychologie und So-
ziologie.
Die Philosophen versuchten also, diese drei Wissenschaften
der Öffentlichkeit zu verkaufen : »Die betroffenen Wissenschaft-
Ulm oder Saint-Cloud: Althu oder Touki ? 419
1er haben das gebilligt, wie es oftmals der Fall ist, denn die Philo-
sophie vermag, selbst wo sie verachtet wird, eine breitere Öffent-
lichkeit zu erobern, als es die an ein arg begrenztes Publikum ge-
wöhnten Wissenschaftler erwarten dürfen.« 13 Indem sie ihre
Problemstellungen erneuerte, machte die Philosophie die Sozial-
wissenschaften gesellschaftsfähig, die den Vorzug eines lesbaren,
strengen und formalisierbaren Diskurses aufwiesen. Das Unter-
nehmen war derart erfolgreich, daß die Philosophen sich hüteten,
es im Namen der Philosophie zu führen, die man damals als erle-
digt ansah; man ersetzte ihn durch den Terminus »Theorie«, wie
in der gleichnamigen Reihe, die bei Maspero erschien und von
Louis Althusser herausgegeben wurde.
Allerdings ging es nicht darum, Anthropologe, Linguist oder
Psychoanalytiker zu werden, sondern sich der Strenge dieser
Disziplinen zu bedienen, um gleichzeitig im Namen einer diesen
theoretischen Praxen überlegenen Theorie deren Szientismus zu
demontieren — ein Werk der internen Subversion ebenso wie der
Aneignung zugunsten der Philosophen. Das erforderte verdeck-
tes Vorgehen und hatte laut Jacques Bouveresse einen hohen
Preis: »Es war eine Zeit, in der man den Eindruck eines Spiels
ohne alle Regeln hatte. Ab dem Augenblick, wo bestimmte dog-
matische Vorgaben akzeptiert sind, können Sie beliebige Be-
hauptungen ohne argumentative Verbindlichkeit aufstellen.« u
hatte ihn gebeten, in der École ein Seminar über den frühen Marx
zu veranstalten.« 16
Unter den Hörern befinden sich Pierre Macherey, Roger
Establet, Michel Pêcheux, François Régnault, Etienne Balibar,
Christian Baudelot, Régis Debray, Yves Duroux und Jacques
Rancière. Die Texte von Marx zu lesen, wie man Aristoteles oder
Piaton liest, war für die Studenten der ENS seinerzeit ein er-
staunliches Ereignis, auch wenn die Methode der Texterklärung
innerhalb der wohlbekannten Kanons blieb. Waren Althussers
Schüler von dessen »umwerfender Originalität« 17 begeistert, so
lag den jungen Studenten, die mit der Führung der KPF gebro-
chen hatten, auch der politische Sieg gegen die Garaudy-Linie
am Herzen. Für die Generation, die gegen den Algerienkrieg
kämpfte, war dies maßgeblich. Das Zusammengehörigkeitsge-
fühl wurde im übrigen durch den intensiven Umgang gestärkt,
den das Internat an der École bedingte: »Es war eine Kampfge-
meinschaft. Als Althusser seine ersten Artikel über den jungen
Marx veröffentlichte, sagten wir uns : Das ist einmal ein vorzeig-
barer, strenger Marxist.« 18 Gesteigert wurde die Intensität des
sozialen Lebens an der École durch die gemeinsame Theoriear-
beit für die Unterrichtsvorbereitung; »wir hatten beschlossen,
uns gegenseitig zu helfen, die agrégation zu bestehen« 19 .
Das Studienjahr 1962/63 widmet Althusser den Anfangsgrün-
den des strukturalistischen Denkens. Er spricht über Lévi-
Strauss, Montesquieu und Foucault. Jacques-Alain Miller behan-
delt die Archäologie des Wissens bei Descartes, Pierre Macherey
die Ursprünge der Sprache. Weitere Teilnehmer des Seminars sind
Jacques Rancière, Etienne Balibar, Jean-Claude Milner und Mi-
chel Tort. 20
1964 richtet Althusser sein Seminar auf die Lektüre von Mar-
xens Kapital aus : »Dabei dachte niemand an eine Veröffentli-
chung. Es war ein freies und unbefangenes Tun.« 21 Aber diese
Arbeit, die eigentlich auf einen vertraulichen Kreis beschränkt
bleiben sollte, wird beachtliches Aufsehen erregen, als 1965 bei
Ulm oder Saint- Cloud: A Uhu oder Touki ? 421
dium an der ENS aufnahm, »war die Generation, die die agréga-
tion durchlief, die ganze alte heideggerianische Garde« 27 ; es war
das letzte Jahr, in dem der Heidegger-Schüler Jean Beaufret
lehrte. Mit Althusser kommt es zur Öffnung für neue Wissens-
felder, zur Ausdehnung der philosophischen Kultur auf neue
Gegenstände und zum radikalen Bruch mit allem, was zur klassi-
schen Psychologie gehört: »Für meine Generation bedeutete dies
eine Art Befreiung gegenüber der universitären Kultur.« 28
Ziehen die Strukturalistischen Linguisten gegen das Schema
von Mensch und Werk zu Felde, umschiffen die Anthropologen
und Psychoanalytiker die Bewußtseinsmodelle, so werden sich
die Althusserianer den Humanismus vornehmen, der als Brim-
borium aus den abgelaufenen Zeiten der siegreichen Bourgeoisie
freudig zu Grabe getragen wird. Der Mensch muß abtreten, muß
Segel und Seele streichen, um den verschiedenen Konditionierun-
gen und ihren Logiken Platz zu machen. In diesem Sinne schließt
das Althusserianische Unternehmen in seiner Anfechtung der
Geltung des Subjekts und seiner Existenz überhaupt an die
strukturalistische Gesamtbewegung an.
wird, der ihn von 1937 bis 1939 in Lyon während der khâgne be-
gleitet. Nach dessen Auffassung ist Althusser, der zum Atheisten
und Kommunisten gewandelt aus dem Krieg wiederkehrt, seiner
Sehnsucht nach religiöser Absolutheit im Grunde treu geblieben,
die er eben auf den Marxismus verlagert habe. Das freundschaftli-
che Einverständnis der beiden Männer ist ungetrübt geblieben,
trotz ihrer divergierenden Auffassungen und der Anfechtung, die
Jean Guitton an der Sorbonne, wo er den Lehrstuhl für Philoso-
phiegeschichte innehatte, durchzustehen haben mochte : »Sie ha-
ben mich gelehrt, in Beziehung zu einem, zu zwei Begriffen zu
treten, sie zu kombinieren, sie einander gegenüberzusetzen, sie
zu vereinen, sie auseinanderzunehmen, sie umzudrehen wie
Crêpes in der Pfanne und sie zu servieren, so daß sie genießbar
sind.« 2 In den Jahren 1945 bis 1948 steht Althusser im Einflußbe-
reich sowohl der KPF als auch eines von Maurice Montuclard ge-
gründeten Grüppchens von Lyoner Katholiken mit Sitz in Paris.
Die Faszination für die Religion, für die mystische Reinheit
wird Althusser bis an sein Lebensende verfolgen, denn am Vor-
abend des Dramas von 1980 bittet er seinen Freund Jean Guitton,
zu seinen Gunsten für eine Begegnung mit Papst Johannes Paul
II. einzutreten. Er erreicht eine Unterredung mit Kardinal Gar-
rone, und bei einem Treffen mit dem Papst wird Jean Guitton be-
kundet, daß dem Begegnungswunsch stattgegeben werde. Doch
das Vorhaben scheitert an dem Mord, den Althusser wenig später
an seiner Frau Helene verübt. Althusser, der große Leser Pascals,
ist durchdrungen von der Drangsal einer tragischen Mystik, von
der Unauflöslichkeit des Widerspruchs. Nachdem er den christli-
chen Weg verlassen hat, verlagert er seine Suche nach dem Abso-
luten auf einen geläuterten Marxismus, eine kristalline Philoso-
phie, die es mit dem religiösen Glauben aufzunehmen vermag,
ein Instrument zur Überwindung der Metaphysik, und unterlegt
ihm eine totale, ausschließliche, strenge Wissenschaft: »In sei-
nem Zimmer sehe ich die Werke Lenins neben denen der Teresa
de Âvila stehen und stelle mir anhand seiner Person das Problem,
428 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque
das mich immer umgetrieben hat : das der Veränderung. Hat Althus-
ser sich in seinem geheimen und tiefen Inneren verändert?« 3
Die Ontologisierung der Struktur, die in den sechziger Jahren
im Schwange war, ermöglichte es Althusser, das in der marxisti-
schen Vulgata gebräuchliche Kausalitätssystem zu verschieben.
Bislang beschränkten sich die Erklärungsmuster auf die mono-
kausale Konzeption der Widerspiegelung. Alles mußte sich von
der Ökonomie herleiten, so daß die Superstrukturen, der Über-
bau, als bloße Übersetzungen der infrastrukturellen Substrate,
der Basis, aufgefaßt wurden. Der Bruch mit diesem mechanischen
Verfahren hatte den Vorteil, das Kausalitätssystem zu komplexifi-
zieren, indem eine einfache kausale Wirkungsbeziehung ersetzt
wurde durch eine strukturale Kausalität, in der die Struktur selbst
über die Dominanz bestimmt. [Mit »Dominanz« ist das Dominie-
ren einer der drei Instanzen Ideologie, Politik, Ökonomie je nach
der ökonomischen Basis, der Produktionsweise einer Gesell-
schaftsformation gemeint, und »Struktur« ist zu verstehen als die
Art und Weise, wie diese Instanzen untereinander verbunden
sind. Vgl. zu weiterer Erhellung V. Descombes, Das Selbe und das
Andere, a. a.O., S. 152 f., A.d.Ü.] Aber das Althussersche Analyse-
modell erlaubt auch, wie Vincent Descombes gesagt hat, das so-
wjetische Wirtschaftsmodell zu retten, das, abgekoppelt von einer
autonomisierten und anfechtbaren politischen und ideologischen
Realität, weiterhin als dem sozialistischen Modell gemäß gilt.
Althusser konnte somit einer Kritik des Stalinismus Rechnung
tragen, die über die bloße offizielle Anfechtung des Personenkults
hinausging, doch seine Kritik bewahrte, im Namen der relativen
Autonomie der Instanzen einer Produktionsweise, die sozialisti-
sche Basis des Systems. Er erkannte also die Brauchbarkeit des
Strukturalismus für einen zu erneuernden Marxismus und für
die Wahrung des Ansehens der Sowjetunion als sozialistisches
Land. »Beinahe wäre die strukturalistische Doktrin an der ENS
unter Althussers Leitung ausgearbeitet worden« 4 , insbesondere
durch seine Schüler von den Cahiers pour l'analyse.
Althussers Sprengsatz 429
folg : Von Für Marx, erschienen bei Maspero in der Reihe »Theo-
rie«, werden zweiunddreißigtausend Exemplare verkauft. Frag-
lich ist, ob die Wahl der (1959 gegründeten) Éditions Maspero
von Louis Althusser beabsichtigt war oder ob sie auf eine vorher-
gehende Ablehnung seitens der Éditions Sociales zurückgeht.
Guy Besse zufolge hat es Althusser vermeiden wollen, durch eine
Publikation bei den Éditions Sociales die Gesamtpartei auf seine
Positionen zu verpflichten, außerdem habe die Sorge um die
Wirksamkeit zur Entscheidung für den Verlag Maspero geführt,
der ein viel breiteres Publikum ansprach als das der KPF. Freilich
scheint es, als habe hinter dieser zugleich kühnen und zaghaften
Haltung eine Weigerung seitens der Parteileitung gesteckt : » 1979
hat Althusser mir versichert, daß er bei Maspero erst veröffent-
licht habe, nachdem er sich eine Abfuhr geholt hatte.« 19
Die Althusserianer kehren also zu Marx selbst zurück, abseits
der bis dahin über sein Werk verfaßten Kommentare und Exege-
sen, die einer direkten Kenntnis seiner Thesen im Wege standen.
Im Akt des Marx-Lesens findet die erste Verschiebung der
Althusserianer statt, die in diesem Punkt ganz mit dem struktu-
ralistischen Paradigma einhergehen, da sie die Sphäre des Diskur-
ses und die interne Logik eines in sich geschlossenen Systems pri-
vilegieren. Zwar leitet sich Althussers Standpunkt nicht von der
Linguistik ab, wirkt aber mit an der Autonomisierung der dis-
kursiven Sphäre anhand einer neuen Theorie des Lesens, die
von Marx selbst eingeleitet, von der Vulgata ignoriert und von
Althusser wieder aufgenommen wurde.
Mit einer direkt von der Psychoanalyse und namentlich von
Lacan entlehnten Bezeichnung wird diese neue Lektürepraxis
»symptomal« genannt. Sie legt den Schwerpunkt auf das, was
nicht sichtbar ist und was sich auf den Mangel, auf die Absenz be-
zieht. Althusser unterscheidet bei Marx zwei Lektüremodi der
Klassiker der politischen Ökonomie. Zunächst liest Marx den
Diskurs der anderen — Ricardo, Smith usw. — innerhalb seiner ei-
genen Denkkategorien, um dessen Mängel zu erfassen und Diffe-
Althussers Sprengsatz 435
Dieser Begriff des Wirkens einer Absenz, diese als von ihren
Wirkungen abwesende Ursache definierte Struktur ist, insofern
sie ihre Einzelelemente übergreift, so wie der Signifikant das Si-
gnifikat übergreift, verwandt mit jener asphärischen Struktur,
die bei Lacan das Subjekt definiert, jenes Subjekt, das vom Man-
gel, vom Verlust des ersten Signifikanten her errichtet ist. Diese
die Leere umspielende Dialektik findet sich gleichermaßen bei
Althusser und Lacan, und ihr Erklärungsprinzip, das selbstver-
ständlich nicht falsifizierbar ist, gleicht einem alltauglichen »Se-
sam, öffne dich«. Die Reinigung des Marxismus erreicht hier
den höchsten Grad einer Metaphysik, die »einem verborgenen
Gott huldigt, und das im Namen des Kampfes gegen die Theo-
logie« 37. Diese strukturalistische Philosophie, die sich mit allen
Federn der Wissenschaftlichkeit schmückt, um den Marxismus
oder den Freudianismus zu erneuern, unterfüttert sich also
dank des Begriffs der strukturalen Kausalität mit einer Ontolo-
gisierung der Strukturen. Man erklärt zur Tatsache, daß »die
Strukturen Tiefenursachen und die beobachtbaren Phänomene
bloße Oberflächenwirkungen sind; [...] so daß diese Strukturen
mehrdeutig seien« 38 . Es sind in der Tat okkulte Entitäten, nicht
fest genug, um zu wirken, da sie ja als Strukturen reine Relatio-
nen sind, andererseits jedoch zu fest, um Strukturen im Sinne
von Lévi-Strauss zu sein. So kann mit ihrer Hilfe den beobacht-
baren Phänomenen in Termini der Kausalität Rechnung getra-
gen werden.
Entlehnungen von Lacan sind bei Althusser allgegenwärtig;
die Existenz einer starken althusserianisch-lacanianischen Strö-
mung in der Rue d'Ulm ist also auf eine theoretische Matrix ge-
gründet, die beide Vorgehensweisen verschmelzen läßt : von der
symptomalen Lektüre über die von ihren Wirkungen abwesende
strukturale Kausalität bis hin zu einem weiteren fundamentalen
Begriffsinstrument des Althusserianismus, das aus der Psycho-
analyse importiert wurde: die Überdeterminierung. »Ich habe
diesen Begriff nicht geprägt. Wie schon bemerkt, habe ich ihn
Althussers Sprengsatz 443
phie auf.« 3 Nach der Publikation dieses Artikels wird Badiou von
Althussers Arbeitsgruppe gebeten, an der Philosophievorlesung
für Wissenschaftler mitzuwirken, die 1967 an der ENS abgehal-
ten wird. Vor zahllosen Zuhörern hält Badiou alsdann einen Kurs
über die Idee des Modells.
Diese Symbiose aus politischem Engagement, epistemologi-
scher Reflexion und Neubetrachtung des Marxismus bleibt übri-
gens nicht auf das Quartier latin beschränkt, sondern pflanzt sich
an den meisten Universitäten Frankreichs fort. In Aix-en-Pro-
vence liest Joëlle Proust, damals um die zwanzig und, betreut von
Gilles-Gaston Granger, an einem epistemologischen Thema sit-
zend, begeistert Für Marx und diskutiert die neuen Thesen in der
Arbeitsgruppe : »Wir waren total überzeugt. Für uns bedeutete es
die Entdeckung eines theoretischen Horizonts, der mit politi-
schen Positionen verbunden und untrennbar war vom Struktura-
lismus, der sich als Interpretationsschlüssel vieler verschiedener
Gebiete darstellte. Faszinierend war, daß das in der Linguistik
ging, also trieben wir alle ein wenig Linguistik.« 4
Diese Rückkehr zu Marxens Texten, zu ihrem inneren Aufbau,
die an die Prinzipien der Methode Martial Gueroults erinnert,
ließ eine ganze Generation von Philosophen mit einem Unter-
richt brechen, in dem tendenziell das Spezifische der philosophi-
schen Problemstellung zugunsten einer rein doxographischen
Analyse der Einflüsse aufgelöst wurde. Mochte sich Althussers
strukturaler Marxismus zunächst als Fundament einer neuen Ära
der Philosophie darstellen, so macht sich das Erdbeben von 1965
auf sämtlichen Kontinenten des Wissens bemerkbar, und von
Althussers Modell, das sich auf die strukturalistische Welle
stützte, nahmen ihrerseits Unternehmungen ihren Ausgang, die
darauf abzielten, die Sozialwissenschaften zu transformieren.
Die Erneuerung des Marxismus 449
Feld anwendbar sind. Nun impliziert jedoch die Nähe dieser den
Sozialwissenschaften eigenen Ideologie zur politischen Praxis in
ihrer Reproduktionsfunktion der sozialen Verhältnisse, daß vor-
rangig das Instrument der politischen Macht selbst, also der Dis-
kurs analysiert werden muß. Der verborgene Zusammenhang
zwischen politischer Praxis und Sozialwissenschaften ist zu klä-
ren : »Pêcheux widerspricht von Grund auf der Konzeption der
Sprache, die diese auf ein Instrument zur Mitteilung von Bedeu-
tungen reduziert, welche unabhängig von der Sprache existierten
und definiert werden könnten.« 10
Die Ausrichtung, die Pêcheux der Diskursanalyse gibt,
schreibt sich ein in die Althussersche Konzeption der Ideologie,
die zum wahren Subjekt des Diskurses erhoben wird und univer-
sales Element der historischen Existenz ist. Um den Zusammen-
hang zwischen Sprache und Ideologie deutlich zu machen, er-
richtet Pêcheux seinen Diskursbegriff. Er »hat sich plaziert
zwischen dem, was man das Subjekt der Sprache nennen kann,
und dem Subjekt der Ideologie« n und steht damit im Kern der
Problematik eines strukturalisierten Marxismus.
»Ab 1966 ging alles den Bach runter. Ein Freund hatte mir Die
Ordnung der Dinge geliehen, und ich war so unbesonnen gewe-
sen, das Buch aufzuschlagen [...]. Schlagartig gab ich Stendhal,
Mandelstam und Rimbaud auf, wie man eines schönen Tages auf-
hört, Gitanes zu rauchen, um mir die Leute anzulesen, mit denen
uns Foucault in Atem hielt, Freud, Saussure und Ricardo. Ich
hatte die Pest. Das Fieber wich nicht von mir, und ich liebte diese
Pest. Ich hütete mich davor, mich zu heilen. Auf meine Wissen-
schaft war ich stolz wie eine Laus auf dem Kopf des Papstes. Ich
diskutierte Philosophie. Ich nannte mich Strukturalist, aber ich
hängte es nicht an die große Glocke, denn ich wußte, daß mein
Wissen noch zart und bröselig war, ein leiser Wind hätte es ver-
weht. Ich verschliß meine Nächte damit, ganz alleine und heim-
lich die Anfangsgründe der Linguistik zu lernen, und ich war
hochzufrieden. [...] Ich stopfte mich mit Syntagmen und Mor-
phemen voll. [...] Wenn ich mit einem Humanisten debattierte,
machte ich ihn mit einem epistemischen Hieb platt. [...] Mit be-
wegter, fast bebender Stimme und vorzugsweise an Herbstaben-
den spreche ich die Namen Derrida oder Propp aus, wie ein ehe-
maliger Frontsoldat im Ersten Weltkrieg die Fahnen streichelt,
die er dem Feind abgenommen hat. [...] Jakobson ist mein Tro-
penland oder mein Äquator, É. Benveniste mein Guadeloupe,
und der proäretische Code mein Club Méditerranée. Ich sehe
Hjelmslev als eine Steppe. [...] Es kommt mir so vor, als sei ich
nicht der einzige, der sich auf diese Abwege verirrt hat.«*
Launig beschreibt Gilles Lapouge zwanzig Jahre danach das
saturday night fever des Jahres 1966, in dem der Strukturalismus
Das Lichtjahr 1966:1. Das strukturale Jahr 457
Das Jahr 1966 ist auch von der intensiven strukturalistischen Tä-
tigkeit seitens der Zeitschriften gekennzeichnet, zunächst durch
einige Neugründungen. Die Zeitschrift Langage bringt im März
1966 ihre erste Nummer heraus, in der sie die wissenschaftliche
Untersuchung der Sprache als wesentliche Dimension der Kultur
vorstellt. Sie begreift ihr Projekt als offene Schnittstelle für die
verschiedenen Sprachreflexion betreibenden Disziplinen. Her-
ausgegeben vom Cercle d'épistémologie der École normale supé-
rieure, erscheinen ebenfalls Anfang 1966 die Cahiers pour l'ana-
lyse, deren Editorial von Jacques-Alain Miller den Anspruch
formuliert, eine Diskurstheorie zu errichten, die von allen analy-
tischen Wissenschaften: Logik, Linguistik und Psychoanalyse,
ausgehen soll. Die erste Nummer ist dem Thema Wahrheit
gewidmet und veröffentlicht Lacans berühmten Text »Die Wis-
senschaft und die Wahrheit«, später erneut abgedruckt in den
Schriften bei Le Seuil. In der dritten Nummer der Cahiers pour
l'analyse, erschienen im Mai 1966, reiht sich Lacan in einer Ant-
462 Die sechziger Jahre. 1963-1966: die Belle Époque