»: Die Erfindung des «traditionellen» Afrika in der Kolonialzeit
Um ihre riesigen Gebiete zu kontrollieren, stützten sich die Kolonialmächte auf lokale Eliten. Vor al- lem die Briten verwendeten das Prinzip des indirect rule (indirekte Herrschaft): Angeblich traditio- nelle Herrscher sollten Verwaltungsaufgaben für die Kolonialmacht übernehmen. Oft wurden diese «Traditionen» dabei allerdings erst erfunden - mit schwer wiegenden Folgen bis in die Gegenwart. Das Modell des indirect rule (indirekte Herrschaft) hatten die Briten in Indien erprobt. Die Idee: Durch die Abgabe von Verwaltungsaufgaben an soge- nannt «traditionelle» Herrscher (Fürs- ten, Emire, Stammesoberhäupter [chiefs]) sollten einheimische politische Systeme mit ihren Herrschern kom- plett in die koloniale Verwaltung inte- griert werden. Dies v.a. aus prakti- schen Gründen: Die direkte Verwal- tung des gesamten, riesigen Kolonial- gebiets durch Beamte aus Europa hät- te riesige Kosten verursacht und wäre als komplette Fremdherrschaft wohl auch schwierig durchzusetzen gewe- sen. Man fürchtete, dass bei einer rein Sir Donald Cameron, Gouverneur von Tanganyika (heute europäischen Verwaltung der Kolonien Teil von Tansania) mit lokalen Würdeträgern bald das Verlangen aufkäme, diese (Bild: nationalarchives.gov.uk) selbst zu übernehmen, und wollte sich so vor Unabhängigkeitsbewegungen in den Kolonien schützen. Zudem wurde argumementiert, die Afrikaner*innen müssten in ihrer traditionellen Lebensweise vor einer «Verwestlichung» geschützt werden. Zusammenspiel von Machtinteressen und klischierten Afrikabildern Bei der nun folgenden Erfindung von Tradition wirkten machtpolitische Interessen und kli- schierte, vom europäischen Überlegenheitsdenken geprägte Afrikabilder im Zusammenspiel. Gemäss europäischer Vorstellung gehörte jeder Afrikaner und jede Afrikanerin zu einem Stamm, genauso wie jeder Europäer und jede Europäerin zu einer Nation gehörte. Stämme wurden als kulturelle Einheiten gesehen, mit einer gemeinsamen Sprache und einem einheit- lichen Gesellschaftssystem. Die Kolonialherren glaubten, dass für die Afrikaner*innen der «Stamm» die zentrale soziale Gruppe sei, zu der sie sich zugehörig fühlten. Doch die Realität des vorkolonialen Afrikas war viel komplexer. Neben der Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe (dem «Stamm») gab es viele andere Kategorien, die oft mindestens ebenso wichtig wa- ren: Familie, Clans, Alters-, Geschlechts- oder Berufsgruppen. Auch war es gar nicht immer so klar, wer nun zu welcher ethnischen Gruppe gehörte. Geschweige denn waren die Territorien der ethnischen Gruppen klar definiert. Zudem gab es Regionen mit klaren Herrschern und staatlichen Strukturen, aber auch Gebiete, in denen die Gemeinschaften ohne Staat und ohne formelle Hierarchie zusammenlebten. Verwirrende «Safaris» Nun standen die Kolonialbeamten vor dem Problem herauszufinden, wie denn diese «traditio- nellen» Systeme der Afrikaner*innen überhaupt funktionierten. Dazu begaben sie sich auf «Safari»: Sie zogen durchs Land, um Informationen über die politische und soziale Organisati- on der lokalen Bevölkerung zu sammeln. Die daraus entstandenen Berichte bildeten einen wichtigen Bestandteil der neuen wissenschaftlichen Disziplin «Ethnologie». Wichtig war der Kolonialverwaltung v.a. zu klären, wer in welchem Gebiet rechtmässigen Anspruch auf tradi- tionelle Herrschaft hatte. So wollten sie so bald als möglich eine stabile Herrschaft, basierend auf indirect rule, etablieren. Unter diesem Zeitdruck verkamen die Untersuchungen der Kolo- nialbeamten oft zu einem simplen «Find the chief»-Spiel. Bei diesem «Spiel» kam der Kolonialbeamte zu einem Dorf und versammelte eine ausgewählte Gruppe von einheimischen Autoritäten und stellte Fragen. Natürlich waren das dann keine freien, wissenschaftlichen Interviews, sondern Gespräche mit einem Kolonialherrn – Situa- tionen mit einem grossen Machtungleichgewicht zwischen dem Frager und den Befragten. Und so waren Missverständnisse und Unklarheiten vorprogrammiert. Die afrikanischen Au- toritäten nahmen anfangs meist eine vorsichtige Haltung ein und sagten zuerst mal «Ja» zu dem, was sie als die Erwartungen der Europäer ansahen. Wenn sie dann eine Gelegenheit sa- hen, etwas für sich selber herauszuholen, widersprachen sie oft dem vorher Gesagten und er- zählten eine «Stammesgeschichte», die ihren eigenen Interessen besser diente. Was war nun richtig? Für die Beamten war es zum Verzweifeln. Eine weitere Verfälschung ergab sich da- durch, dass die Beamten ihrerseits klischierten Vorstellungen davon hatten, was ein «Stamm» und was ein «Stammesoberhaupt» sei. Sie versuchten dann die erhaltenen Informationen in diese Schemata einzuordnen, die meist nicht der Realität entsprachen. Die Erfindung von chiefs, Grenzen, Stämmen In Tansania fanden diese Gespräche in Swahili statt, der überregionalen Verkehrssprache in Ostafrika. Wer nur die lokale Sprache sprach, war ausgeschlossen. Das führte dazu, dass oft ehemalige Köche, Diener oder Angestellte von Europäern in den Genuss kamen, «offizielle», von den Briten anerkannte Stammesoberhäupter zu werden, während tatsächlich traditionell legitimierte Führer (unter ihnen v.a. auch Frauen) leer ausgingen. Auch in Gebieten, wo es in vorkolonialer Zeit gar keine Oberhäupter gegeben hatte, weil die Gesellschaften keine offiziel- len Hierarchien kannten, versuchte man, solche einzusetzen. In den einen Fällen gelang dies. In anderen Fällen, zum Beispiel bei den ostnigerianischen Igbo, wurden die erfundenen Füh- rer von der Bevölkerung nicht akzeptiert. Widerstand und Aufstände waren die Folge. Als erster Amtsakt wurden die frisch anerkannten chiefs aufgefordert, die Grenzen ihres «Stammesgebietes» festzulegen. Klare territoriale Einheiten schienen der Kolonialverwaltung unabdingbar für eine effiziente Verwaltung der Kolonie. Dass es vorher meist gar keine klar voneinander abtrennbare «Stammesgebiete» gegeben hatte, war den Kolonialbeamten dabei nicht bewusst – oder es war ihnen egal. So erfanden sie im Verbund mit kooperationsbereiten Afrikanern nicht nur Stammesführer, sondern auch Stammesterritorien. Die Erfindung von Tradition ging so weit, dass sogar ganze Stämme erfunden wurden, wenn es die Herrschaftslogik erforderte. So die Nyakyusa im heutigen Tansania. Die zahlreichen Gemeinschaften nördlich des Malawisees hatten zwar die gleiche Sprache und ähnliche Sit- ten, waren aber alle durch ihre eigenen «Ältes- ten» regiert. Zur Vereinfachung der Verwaltung setzten die Briten 1933 einen Ältestenrat ein, und bezeichneten die Gemeinschaften als «Nyakyusa»-Stamm, ein Name, der vorher nur für einge Anwohner*innen des Malawisees galt. 1942 formten die Gemeinschaften dann die Nyakyusa Union, «um die guten Sitten und Ge- bräuche des Stammes zu bewahren». Heutzutage wird oft beklagt, dass in Afrika die angeblich «ursprünglichen» Stammesidentitäten stärker seien als die Identifikation mit dem National- staat. Deshalb komme es zu Bürgerkriegen, Massakern etc. In Wirklichkeit sind diese Iden- titäten oft erst durch Kolonialmächte geschaffen Malawi- oder klar definiert worden. Spielräume für afrikanische Eliten Die afrikanischen Eliten waren in diesem Pro- zess, obwohl klar die Untergegebenen, nicht nur passive Opfer, sondern gestalteten die koloniale Karte der damaligen britischen Kolonie Tanga- nyika, heute Teil von Tansania Realität aktiv mit. Die Beamten waren bei ihren (http://www.brokiesway.co.za) Erkundungen auf ihre Erzählungen angewiesen (vgl. die kolonialen «Safaris»). Wer geschickt war, nutzte dies aus, um die Realität gemäss den eigenen Interessen zurechtzubiegen. Die Beamten wollten z.B. wissen, wie denn das Gewohnheitsrecht in den Gemeinschaften ausge- sehen hätte. Dieses war in vorkolonialer Zeit nicht in Form von Gesetzen niedergeschrieben. Jeder Fall wurde als Einzelfall umfassend und unter Berücksichtigung der Tradition beur- teilt. Die Kolonialbeamten wollten jedoch diese Traditionen in schriftlichen Regeln fixieren. So konnten afrikanische Eliten den Europäern ein «Gewohnheitsrecht» verkaufen, dass v.a. ihrer eigenen Machtposition diente und sich klar von der bisherigen Tradition unterschied. Die Äl- teren konnten gegenüber den Jüngeren und die Männer gegenüber den Frauen ihre Position stärken. Für die afrikanischen Frauen brachten die Europäer also keine Emanzipation, son- dern im Gegenteil mehr Unterdrückung. Die offiziell anerkannten chiefs hatten noch andere Gründe, mit den Briten zu kooperieren: Sie wurden mit einer Macht ausgestattet, welche traditionelle Führer nie hatten. Sie erhielten einen Lohn, den sie nutzen konnten, um sich ein Netz von abhängigen Personen aufzubauen. Und während die vorkolonialen Systeme eine Vielzahl von checks and balances hatten, welche die Macht einzelner beschränkten, waren die neuen chiefs lokale Despoten, die Exekutive, Le- gislative und Judikative in sich vereinten – der überheblichen europäischen Ansicht folgend, dass sich die afrikanischen Gesellschaften in einem «primitiven», rückständigen Entwick- lungsstatus befänden, in dem es keine Gewaltenteilung gebe. Mit den Folgen dieser Erfindung von undemokratischer Tradition schlägt sich Afrika noch heute herum, entweder weil «tradi- tionelle» Führer noch über grossen Einfluss verfügen oder weil es andere Arten von lokalen oder regionalen Despoten gibt, wie sie in der Kolonialzeit geschaffen wurden. Eine schwache und autoritäre Herrschaft Diese Spielräume für Afrikaner dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass das System der indirekten Herrschaft für die grosse Mehrheit der Bevölkerung in den Kolonien ein Mittel zur Unterdrückung war: Zwangsumsiedlungen wurden so durchgesetzt, Bauern gezwungen, ihre Herden zu verkleinern oder Kaffeebäume aus dem Boden zu reissen und dafür Nahrungsmit- tel zu produzieren – was die Kolonialverwaltung halt grad als sinnvoll erachtete. Auch sollten so (allerdings erfolglos) Wanderarbeit und Urbanisierung verhindert werden, damit sich die Afrikaner nicht von ihrer angeblich ursprünglichen Stammesidentität entfernten. Allgemein sind die europäischen Kolonialmächte in Afrika gescheitert, ihre mit dem Lineal auf der Landkarte abgetrennten Gebiete nach den Prinzipien eines modernen Staates zu ver- walten. Die tatsächliche Durchsetzung einer klaren territorialen Herrschaft, eines Gewaltmo- nopols, von Steuern und schriftlich fixierten Gesetzen gelang meist nicht. Sie schafften es kaum, die Bevölkerung flächendeckend zu erreichen und zu kontrollieren. Zu den Folgen die- ses Scheitern bis in die Gegenwart macht der Historiker Andreas Eckert eine wichtige Be- merkung: Gemäss Eckert erbten die afrikanischen Politiker nach der Unabhängigkeit der Ko- lonien ab den 1950er Jahren einen schwachen, unterentwickelten Staat, gewissermassen «ein Haus ohne Fundament». An dessen Ausbau und Befestigung scheiterten sie und scheitern oft noch immer. Die europäischen Politiker, die dieses Haus ohne Fundament gebaut hatten, zo- gen sich derweil oft auf die Position des kritsch-herablassenden Beobachters zurück, der die Bemühungen der «unterentwickelten» Afrikaner am Massstab des «fortgeschrittenen» Euro- pas misst. Nicht nur die Grenzen der afrikanischen Staaten, sondern auch die politische Rea- litäten im Innern der verschiedenen Ländern sind also meist tief durch die Kolonialzeit ge- prägt. In diesem Sinn war die europäische Kolonialherrschaft kurz, aber folgenreich. Text verfasst von Michael Schmitz aus folgenden Quellen: - Basil Davidson: Modern Africa. A Social and Political History. - Andreas Eckert: Herrschen und Verwalten. Afrikanische Bürokraten, staatliche Ordnung und Politik in Tanza- nia, 1920-1970. - John Iliffe: A Modern History of Tanganyika. - Mahmoud Mamdani: Citizen and Subject. Contemporary Africa and the legacy of late colonialism. - Peter Pels: The pidginization of Luguru politics. Administrative ethnography and the paradoxes of indirect rule. In: American Ethnologist, Vol. 23, Nr. 4 (Nov. 1996). - Frank Schubert: Das Erbe des Kolonialismus – oder: warum es in Afrika keine Nationen gibt. http://www.zeit- geschichte-online.de/thema/das-erbe-des-kolonialismus-oder-warum-es-afrika-keine-nationen-gibt.