2 | Ausgabe 04 | 2019 | 3. Jg.
hinterfragen
Spotlight
Josef Oberneder
A
ngesichts bevorstehender
Entwicklungen, beispiels-
weise im Bereich der Di-
gitalisierung, darf es nicht ver-
wundern, dass manchmal Skepsis
und Sorge den Schulalltag durch-
dringen. Fest steht aber: Wir sind
nicht die Produkte unserer Medi-
en (analog oder digital), sondern
vielmehr schaffen wir uns mit
unseren Medien Lebensräume
und Lernräume. Medienkompe-
tenz und die Schulung dafür steht
und fällt daher mit der Fähigkeit
zu beobachten und zu reflektie-
ren, was Medien mit uns machen.
Also Lernräume zu gestalten, die
eine analytische Tiefe der Beo-
bachtung ermöglichen.
Aufgabe von Pädagoginnen und
Pädagogen wird es deshalb sein,
den Schülerinnen und Schü-
lern im Zeitalter der „Schule 4.0“
Lern-, Erlebnis- und Reflexions-
räume zu ermöglichen, die der
Medienvielfalt (analog und digi-
tal) einer modernen Gesellschaft
entsprechen. Schulen haben des-
halb eine ganz zentrale Aufgabe
übernommen: Sie bieten selbstge-
steuertes und angeleitetes Lernen
als Grundlage zum Erlernen von
Entscheidungsfähigkeiten bei un-
seren Schülerinnen und Schülern.
Im Lichte dieser Befunde spielen
Fortbildung und Weiterbildung
eine zentrale Rolle im Berufsleben
der Pädagogik. Längst ist es zur
Selbstverständlichkeit geworden,
dass sich Pädagoginnen und Pä-
dagogen in ihrer beruflichen und
persönlichen Weiterentwicklung
der Fort- und Weiterbildungsan-
gebote der Pädagogischen Hoch-
schulen bedienen.
Unser aktuelles Magazin gibt einen
Überblick über die Angebote und
Themenstellungen. Dabei fokussie-
ren wir nicht nur den Wandel vom
„analogen zum digitalen“ Zeitalter.
Coaching und Schulentwicklungs-
beratung, digitale Grundbildung
und Klimawandel, sprachliche Bil-
dung und Lehrer/innengesundheit
sind nur einige Themenbereiche,
die wir beispielhaft in unserem
Magazin vorstellen.
Die Pädagogische Hochschule
Oberösterreich als tertiäre Bil-
dungsstätte unterstützt Sie, sehr
geehrte Pädagoginnen und Päd-
agogen, bei der Bewältigung der
Herausforderungen Ihres berufli-
chen Alltags. Wir freuen uns über
Ihre Teilnahme an unseren Ange-
boten.
Josef Oberneder, MAS MBA MSc
ist Vizerektor der Pädagogischen
Hochschule Oberösterreich.
Ein Plädoyer für Persönlichkeitsbildung als
fundamentales Leitprinzip
JJ Gerade weil die Schule unausweichlich Menschen bildet, ist das
bestehende Schul- und Bildungssystem grundsätzlich zu hinterfragen
„Schafft die Schule ab“, fordert Oli-
ver Hauschke auf dem Cover seines
neuen Buches vehement und schiebt
im Untertitel als Begründung nach,
dass die Schule „unsere Kinder nicht
bildet“ und deshalb „radikal geändert
werden muss“. Ich möchte dem wi-
dersprechen und die These vertreten,
dass zwar die Schule sehr wohl radikal
geändert werden muss (resp. müsste),
aber gerade weil sie unsere Kinder bil-
det – bzw. eben verbildet. Zur Begrün-
dung dieser These setze ich bei einem
bekannten Zitat Paul Watzlawicks
an: „Man kann nicht nicht kommu-
nizieren.“ Und adaptiere dieses Zitat
sinngemäß für die Schule: „Man kann
nicht nicht erziehen“ – oder etwas vor-
sichtiger formuliert: „Man kann nicht
nicht in Beziehung treten“. Lehrperso-
nen, die für sich in Anspruch nehmen,
ausschließlich für die Vermittlung von
Fachwissen zuständig zu sein, während
Erziehung einzig und allein Sache
der Eltern / des familiären Umfelds
sei, täuschen sich dementsprechend.
Denn „vermitteln“ ist ein relationaler
Begriff, der auch im schulischen Kon-
text auf eine soziale Beziehung zwi-
schen Menschen rekurriert. Auch die
„reinen Wissensvermittler/innen“ ver-
mitteln demnach Werte, und seien es
die „Werte“ der sozialen Distanz und
Gleichgültigkeit.
Wenn aber Schule nicht nicht erzie-
hen – oder sagen wir besser: bilden
– kann, wenn Menschenbildung in
der Schule unweigerlich stattfindet,
dann stellt sich unmittelbar die Fra-
ge, von welchem Menschenbild man
dabei ausgeht bzw. worauf schulische
Erziehung/Bildung abzielen, was ihr
pädagogisches „telos“ sein sollte. Zur
Beantwortung dieser Frage beziehe ich
mich – exemplarisch! – auf den aktu-
ellen NMS-Lehrplan. Hier heißt es
u. a. (es wären zahllose weitere Stellen
zitierbar):
„Der Unterricht hat aktiv zu einer
den Menschenrechten verpflichteten
Demokratie beizutragen. Urteils- und
Kritikfähigkeit sowie Entscheidungs-
und Handlungskompetenzen sind
zu fördern, sie sind für die Stabilität
pluralistischer und demokratischer
Gesellschaften entscheidend. Den
Schülerinnen und Schülern ist in einer
zunehmend internationalen Gesell-
schaft jene Weltoffenheit zu vermit-
Verbildet Bildung?
teln, die vom Verständnis für die exis-
tenziellen Probleme der Menschheit
und von Mitverantwortung getragen
ist. Dabei sind Humanität, Solidari-
tät, Toleranz, Frieden, Gerechtigkeit,
Gleichberechtigung und Umweltbe-
wusstsein handlungsleitende Werte.“
(BGBl. II Nr. 230/2018, S. 4)
Wie sieht demgegenüber die Realität
„Lehrpersonen, die
für sich in Anspruch
nehmen, ausschließlich
für die Vermittlung von
Fachwissen zuständig
zu sein, während
Erziehung einzig
und allein Sache der
Eltern / des familiären
Umfelds sei, täuschen
sich dementsprechend."
der Schule aus? Bestätigt diese nicht
eher die harsche Schul- und System-
kritik spätestens seit Leo Tolstoi über
Ellen Key, Janusz Korczak, Virginia
Woolf und Ivan Illich bis zu heutigen
Autoren wie Richard D. Precht, Ulrich
Klemm, Ulrike Kegler, Ken Robinson,
Bertrand Stern, Oliver Hauschke und
den diversen Freilerner-communities,
die unisono geltend machen, dass
Schule ihrem ureigensten Auftrag
aus systemischen Gründen gar nicht
gerecht werden kann? Behandelt die
„Regelschule“ nicht nach wie vor („in
aller Regel“) Kinder faktisch gerade
nicht entsprechend ihren individuellen
Bedürfnissen, sondern eher wie „Stoff-
Stopfgänse“, die ungefragt Zwangs-
Stoff in sich hineinstopfen müssen, um
ihn gegen den Tauschwert „Note“ bei
der nächsten Schularbeit wieder raus-
zuwürgen, um ihn dann getrost wieder
vergessen zu können? Und bloß keine
Fehler machen, weil Fehler der Maß-
stab der Beurteilung sind, der Maß-
stab dafür, ob man ein „guter Schüler /
eine gute Schülerin“ ist oder ein Loser.
Provokant gefragt: Was genau versäu-
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men die F4F-kids bei ihren Freitags-
demonstrationen? Ist es nicht bloß
der Stoff, den sie nach der nächsten
Schularbeit sowieso wieder vergessen
hätten?
Das alles hat nichts mit undifferen-
ziertem Lehrer/innen-bashing zu tun!
Denn Lehrer/innen sind ihrerseits seit
jeher innerhalb dieser systemischen
Vorgaben vor die unmögliche Aufga-
be gestellt, „eine Wandergruppe mit
Spitzensportlern und Behinderten bei
Nebel durch unwegsames Gelände
in nordsüdlicher Richtung zu führen,
und zwar so, dass alle bei bester Lau-
ne und möglichst gleichzeitig an drei
verschiedenen Zielorten ankommen.“
Das ist nicht leistbar!
Ich greife noch einen anderen Aspekt
auf, den der demokratischen Bildung,
verstanden als Bildung von mündi-
gen, weltoffenen, politisch kompeten-
ten Bürgerinnen und Bürgern einer
vitalen Demokratie als dringendes,
geradezu existenzielles Desiderat ei-
ner freiheitlich-demokratischen Ge-
sellschaft. Geht das mit der Stoff-
Stopfgänse-Pädagogik? Ist Schule als
strukturell un- bzw. antidemokratische
Einrichtung der geeignete Ort, demo-
kratisches Bewusstsein, demokratische
Haltung in dem Sinne auszubilden,
wie sie im Lehrplan definiert ist? An
dieser Stelle verweise ich auf Her-
bert Renz-Polsters aktuelles Buch, in
dem ein altbekannter Grundgedanke
gründlich und differenziert aufbereitet
wird: „Erziehung prägt Gesinnung“.
Welche Gesinnung wird aber in der
„Regelschule“ geprägt: die angepasster,
passiver Weisungsempfänger/innen,
lustloser Pflichterfüller/innen – und
natürlich die braver, willfähriger Kon-
sumentinnen und Konsumenten. Aber
das steht eindeutig im Widerspruch
zu einem gehaltvollen demokratisch-
kritischen Selbstverständnis.
Gemessen an den hehren allgemei-
nen Zielen des Lehrplans (resp. der
Lehrpläne!) scheitert also das System
Schule auf weiter Strecke, es steht sich
gewissermaßen selbst im Weg, leidet
an strukturellen Selbstwidersprüchen
(unter denen Lehrer/innen gleicher-
maßen zu leiden haben wie Schüler/
innen). Und genau deswegen ist dieses
System radikal zu ändern – nicht weil
es „nicht bildet“, sondern ganz im Ge-
genteil, weil es verbildet.
In einem Bildungssystem, in dem die
in den Lehrplänen definierten all-
gemeinen Bildungsziele wirklich er-
reicht werden sollten, müsste daher
(entsprechende) Persönlichkeitsbil-
dung der Aspekt, die Orientierungs-
kategorie, das fundamentale Leitprin-
zip sein – ob in den Schulen oder in
den tertiären Lehrer/innenbildungs-
einrichtungen.
Um aber dies zu verwirklichen – hier
stimme ich in den Chor der alten
und neuen Schulkritiker/innen ein
–, müsste Schule in der Tat radikal,
strukturell verändert werden – oder
eben abgeschafft.
Thomas Mohrs ist Leiter des Zentrums
für Persönlichkeitsbildung und
Begabungsförderung an der PH OÖ.
Literatur:
Hauschke, O. (2019). Schafft die
Schule ab: Warum unser Schulsys-
tem unsere Kinder nicht bildet und
radikal verändert werden muss.
München (mvg Verlag).
Renz-Polster, H. (2019). Erzie-
hung prägt Gesinnung: Wie der
weltweite Rechtsruck entstehen
konnte – und wie wir ihn aufhalten
können. Münche (Kösel).
Ein Zwigespräch, wie es tatsächlich stattgefunden
JJ Adorno unterhält sich mit einer Studierenden über die pädagogischen
Zugänge in der Lehramtsausbildung
Studentin: Herr Adorno, was ist mit
dem Titel „Draußen vor der Tür“ ge-
meint?
Adorno: Es gibt zwei Arten von Päd-
agogik: Eine vor der Tür und eine im
Gebäude hinter der Tür.
S: Was meinen Sie mit Gebäude?
A: Das Gebäude ist unsere Schule mit
ihrer unreflektierten Pädagogik und
dem entsprechenden Menschenbild –
und sie hat dicke Mauern.
S: Was meinen Sie mit unreflektierter
Pädagogik und welches Menschenbild
ist damit verbunden?
A: Ich meine den Behaviorismus. Er
geht davon aus, dass sich nur wissen-
schaftlich untersuchen lässt, was sich
beobachten und messen lässt. Es fehlt
in diesem Konzept menschliche In-
tentionalität, Autonomie, Reflexivität,
Emotionalität und Planen.
S: Das erinnert mich an meine eige-
ne Schulzeit. Mich hat nie jemand
gefragt, wie es mir geht. Gibt es denn
eine Alternative?
A: Ja, in Institutionen die nach hu-
manistisch/konstruktivistischen Men-
schenbildern organisiert sind. In die-
Draußen vor der Tür
haben könnte
sen stehen Selbstbestimmtheit und
die Fähigkeit zur Selbstreflexion im
Zentrum. Der Mensch wird hier als
handelndes Subjekt gesehen mit den
Merkmalen der Intentionalität, Re-
flexivität und sprachlicher Kommu-
nikationsfähigkeit. Diese sind nicht
durch Bildungsstandards erzeugbar,
aber durch entsprechende Erziehung
kann ihre Entwicklung ermöglicht
werden.
S: Uff. Die Art der Reflexionsberichte
über unsere Schulpraxis scheint dafür
aber nicht geeignet.
A: Ihr Unbehagen verstehe ich. Das
in der Selbstreflexion notwendige
Zulassen von Unsicherheit steht im
Widerspruch zu den exekutierten, be-
havioristisch typischen, Be- und Ver-
urteilungen.
S: Ich weiß nicht so recht, so ganz ohne
Beurteilung? Andererseits weiß ich
von meinen Freundinnen, die schon
Lehrerinnen sind, dass abgeprüfte In-
halte des Studiums kaum gebraucht
werden und eigentliches Know-how
erst in der Schule gelernt wird.
A: Ich spreche von einem reflektier-
ten und persönlichen Entwicklungs-,
Lern- bzw. Erziehungsphänomen.
Erstens muss in einer pluralistischen
Gesellschaft unter vielen Möglich-
keiten ausgewählt werden können. Es
geht also vielmehr um die Entschei-
dungsprozesse zwischen Handlungs-
alternativen und das Konstruieren von
Sinn und Absichten.
Zweitens geht es um das Bewusstsein
der Notwendigkeit davon.
Drittens braucht eine Person beim
Erwerb derartiger Kompetenzen auch
adäquate Lernarrangements.
Viertens existieren gerade in der Pä-
dagogik Unmengen von Theorien, die
wissenschaftlichen Kriterien nicht ein-
mal annähernd genügen. Eine derarti-
ge Vielfalt erfordert Kompetenzen in
der Selektion.
S: Gibt es solche Lernsettings, in de-
nen ich mich selbst reflektieren lerne,
überhaupt?
A: Ja, z. B.: „Draußen vor der Tür“. Bei
Aufgabenstellungen in der Outdoor-
Pädagogik werden in moderierten Ge-
sprächsrunden Differenzen zwischen
den verschiedenen Wahrnehmungen
verschiedener Personen sichtbar ge-
macht. Diese interpersonellen Diffe-
renzen sind der Ausgangspunkt für
Lernprozesse. Interpersonale Diffe-
renzen bilden also den Ursprung für
Veränderungen im intrapersonalen
Sein. Wertschätzung und respektvoller
Umgang mit Neuem sind die Voraus-
setzung, um den unreflektierten Mus-
tern im eigenen Denken auf die Spur
zu kommen.
S: Ich könnte mir vorstellen, dass ich
Angst vor solchen Situationen bekäme.
A: Neue Wege im Denken einzu-
schlagen ist immer verbunden mit vo-
rübergehender Destabilisierung und
der darauffolgenden Neuorientierung.
Es sind daher Zweifel angebracht, ob
Lernarrangements ohne Selbstreflexi-
on im komplexen pädagogischen Feld
überhaupt als solche bezeichnet wer-
den können.
S: Sie haben eingangs von dicken
Mauern gesprochen. Was haben Sie
damit gemeint?
A: Damit meine ich die mangelnde
Reflexion im System. Dazu ein aktuel-
les Beispiel: Der ehemalige Bildungs-
minister Heinz Faßmann hat in einem
Interview zur Notengebung gesagt:
„Es ist eine politische Entscheidung,
wie vieles, was ich entscheiden muss.
Nicht hinter jeder politischen Ent-
scheidung gibt es auch eine wissen-
schaftliche Fundierung.“ (zit. n. Der
Standard, 11.10.2018)
S: Ich glaube, ich verstehe jetzt auch
Ihren Satz aus „Erziehung nach
Auschwitz“ (Adorno 1967, S. 112):
„Erziehung wäre sinnvoll überhaupt
nur als eine zu kritischer Selbstreflexi-
on“. Es ergibt sich ein dringlicher Auf-
trag an die Lehramtsausbildung.
Johannes Pögl (hannes.poegl@gmx.at)
Stephan Stumpner (stephan.stump-
ner@ph-ooe.at)