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Staatsverständnisse
Herausgegeben von
Rüdiger Voigt
Band 57
http://dx.doi.org/10.5771/9783845247717-2
Generiert durch Universität Passau, am 07.12.2016, 11:53:46.
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Rüdiger Voigt (Hrsg.)
Ausnahmezustand
Nomos
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© Titelbild: Bild Nr, RTR 3D1ZZ, in Lizenz der Bildagentur Thomson Reuters.
Die Bildunterschrift lautet: "Ein Demonstrant hat sich in Kairo Gewehrhülsen
auf die Finger gesteckt. Er sagt, sie seien von der Polizei".
ISBN 978-3-8487-0465-1
1. Auflage 2013
© Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2013. Printed in Germany. Alle Rechte,
auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der
Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
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Editorial
Das Staatsverständnis hat sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder grundlegend
gewandelt. Wir sind Zeugen einer Entwicklung, an deren Ende die Auflösung der uns
bekannten Form des territorial definierten Nationalstaates zu stehen scheint. Denn die
Globalisierung führt nicht nur zu ökonomischen und technischen Veränderungen, son-
dern sie hat vor allem auch Auswirkungen auf die Staatlichkeit. Ob die „Entgrenzung
der Staatenwelt“ jemals zu einem Weltstaat führen wird, ist allerdings zweifelhaft. Um-
so interessanter sind die Theorien der Staatsdenker, deren Modelle und Theorien, aber
auch Utopien, uns Einblick in den Prozess der Entstehung und des Wandels von Staats-
verständnissen geben, einen Wandel, der nicht mit der Globalisierung begonnen hat und
nicht mit ihr enden wird.
Auf die Staatsideen von Platon und Aristoteles, auf denen alle Überlegungen über den
Staat basieren, wird unter dem Leitthema „Wiederaneignung der Klassiker“ immer wie-
der zurück zu kommen sein. Der Schwerpunkt der in der Reihe Staatsverständnisse
veröffentlichten Arbeiten liegt allerdings auf den neuzeitlichen Ideen vom Staat. Dieses
Spektrum reicht von dem Altmeister Niccolò Machiavelli, der wie kein Anderer den
engen Zusammenhang zwischen Staatstheorie und Staatspraxis verkörpert, über Thomas
Hobbes, den Vater des Leviathan, bis hin zu Karl Marx, den sicher einflussreichsten
Staatsdenker der Neuzeit, und schließlich zu den Weimarer Staatstheoretikern Carl
Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller und weiter zu den zeitgenössischen Theore-
tikern.
Nicht nur die Verfälschung der Marxschen Ideen zu einer marxistischen Ideologie, die
einen repressiven Staatsapparat rechtfertigen sollte, macht deutlich, dass Theorie und
Praxis des Staates nicht auf Dauer von einander zu trennen sind. Auch die Verstrickun-
gen Carl Schmitts in die nationalsozialistischen Machenschaften, die heute sein Bild als
führender Staatsdenker seiner Epoche trüben, weisen in diese Richtung. Auf eine Ana-
lyse moderner Staatspraxis kann daher in diesem Zusammenhang nicht verzichtet wer-
den.
Was ergibt sich daraus für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer mo-
dernen Staatswissenschaft? Die Reihe Staatsverständnisse richtet sich mit dieser Frage-
stellung nicht nur an (politische) Philosophen, sondern vor allem auch an Studierende
der Geistes- und Sozialwissenschaften. In den Beiträgen wird daher zum einen der An-
schluss an den allgemeinen Diskurs hergestellt, zum anderen werden die wissenschaftli-
chen Erkenntnisse in klarer und aussagekräftiger Sprache – mit dem Mut zur Pointie-
rung – vorgetragen. So wird auch der / die Studierende unmittelbar in die Problematik
des Staatsdenkens eingeführt.
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Mit dem Forum Staatsverständnisse wird Interessierten zudem ein Diskussionsforum
auf der Website www.staatswissenschaft.de eröffnet, um sich mit eigenen Beiträgen an
der Staatsdiskussion zu beteiligen. Hier können z.B. Fragen zu der Reihe Staatsver-
ständnisse oder zu einzelnen Bänden der Reihe gestellt werden. Als Reihenherausgeber
werde ich mich um die Beantwortung jeder Frage bemühen. Soweit sich dies anbietet,
werde ich von Fall zu Fall bestimmte Fragen aber auch an die HerausgeberInnen der
Einzelbände weiterleiten.
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Inhalt
Rüdiger Voigt
Ausnahmezustand. Wird die Statue der Freiheit nur kurzzeitig verhüllt,
oder wird sie auf Dauer zerstört? 9
Stefano Saracino
Machiavellis dittatori und Carl Schmitts Diktatur 19
Norbert Campagna
Der absolute Staat und die Ausnahme bei Jean Bodin 45
Oliver Hidalgo
Der Leviathan zwischen „demokratischer“ Zähmung und „totaler“ Entgrenzung.
Schmitt, Hobbes und der Ausnahmezustand als staatstheoretische Herausforderung 58
Rüdiger Voigt
Ausnahmezustand. Carls Schmitts Lehre von der kommissarischen Diktatur 85
Dirk Blasius
Preußische Bindungen. Carl Schmitts „Ausnahmezustand“ in
verfassungsgeschichtlicher Perspektive 115
Reinhard Mehring
Das Leben als Ausnahmezustand. Carl Schmitts Repräsentation 144
7
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Teil 3: Globale und regionale Ausnahmezustände
Christian Kreuder-Sonnen
Die Entgrenzung des Ausnahmezustands: global und permanent? 163
Matthias Lemke
Am Rande der Republik. Ausnahmezustände und Dekolonisierungskonflikte
in der V. Französischen Republik 185
Jochen Kleinschmidt
Ausnahmezustand, organisierte Kriminalität und sozialer Wandel.
Beobachtungen zum Drogenkrieg in Mexiko 209
Autoren 263
8
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Ausnahmezustand
Rüdiger Voigt
Der Ausnahmezustand ist das letzte Mittel eines Staates, um seine Rechtsordnung, seine
Sicherheit und letztlich seinen Bestand gegen massive Angriffe zu verteidigen.3 Er ist
nahe verwandt mit dem Belagerungszustand und dem Kriegszustand (im Grundgesetz:
Verteidigungsfall). Allerdings handelt es sich als ultima ratio um eine Maßnahme auf
Zeit, um in einem Staatsnotstand die Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung zu ge-
währleisten. Es liegt auf der Hand, dass die jahrzehntelange Geltung des Ausnahmezu-
stands, wie dies in manchen Ländern bis in die jüngste Zeit der Fall war, keinesfalls ge-
rechtfertigt ist. Vielmehr ist die Verhängung des Ausnahmezustands nur als vorüberge-
hende Maßnahme zur Bewältigung einer extremen, zeitlich begrenzten Gefahrenlage
akzeptabel. Ägypten ist zu den Zeiten von Präsident Hosni Mubarak nur ein Beispiel un-
ter Vielen, es ist aber typisch für den Einsatz dieser schärfsten Waffe der Regierung ge-
gen Unruhen, Aufstände und Bürgerkrieg. Der „permanente Ausnahmezustand“ wird
hier – wie auch in anderen Staaten – als „normale“ Technik des Regierens verwendet.4
In Ägypten war nach der Ermordung des damaligen Präsidenten Anwar al-Sadat im Jah-
re 1981 der Ausnahmezustand verhängt, im Februar 2011 nach dem Sturz Mubaraks
noch einmal ausgeweitet und am 31. Mai 2012, nach mehr als drei Jahrzehnten, endlich
aufgehoben worden. Nach der Absetzung Mohammed Mursi als Präsident hat das Mili-
tär im Sommer 2013 zwar offiziell die Macht an einen Übergangspräsidenten übertra-
gen, tatsächlich herrscht aber zumindest ein inoffizieller Ausnahmezustand, mit dem die
Führung der Muslimbruderschaft endgültig entmachtet werden soll,
Für Carl Schmitt ist der Ausnahmezustand ein Thema, das ihn seit 1915 Zeit seines Le-
bens nicht mehr losgelassen hat. Im Ersten Weltkrieg arbeitet er nach seinem Assessor-
examen als Kriegsfreiwilliger in der Abteilung P 6 im Generalkommando in München
unter dem späteren bayerischen Justizminister Hauptmann Dr. Christian Roth. Schmitt
wird die Aufgabe übertragen, einen Bericht über das Belagerungszustands-Gesetz anzu-
fertigen und dabei zu begründen, dass der Belagerungszustand auch in die Nachkriegs-
zeit hinein verlängert werden müsse. Der Beauftragte kommentiert das selbstironisch
mit den Worten: „Ausgerechnet ich! Wofür mich die Vorsehung noch bestimmt hat“.5
Schmitt wünscht zwar eine Ausweitung der Diktaturgewalt nicht, vor dem Militarismus
gebe es aber keine Rettung und keine Hilfe. In seiner Probevorlesung an der Universität
Straßburg Die Einwirkungen des Kriegszustandes auf das ordentliche strafprozessuale
Verfahren aus dem Jahre 19166 konstatiert er folgerichtig, dass Deutschland während
des Weltkrieges kein liberaler Verfassungsstaat, sondern ein „exekutiver Verwaltungs-
staat“ sei.7
Auf dem Höhepunkt der Krise erscheint die Verhängung des Ausnahmezustands – zeit-
lich streng limitiert – zwar zur Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung der Ordnung
als gerechtfertigt. Dieser Zustand wird jedoch oft genug auch dann noch weiter auf-
rechterhalten, wenn sich die Lage wieder beruhigt hat. Die herrschenden Eliten haben in
diesem Fall die (verlockende) Möglichkeit, ihre Position auf Dauer zu stellen und ihre
Abwahl zu verhindern. Konsequenterweise bezeichnet daher Giorgio Agamben den
Damit ist die grundsätzliche Frage verbunden, ob der Ausnahmezustand in der Verfas-
sung geregelt werden soll oder nicht. Einerseits ist die zugrunde liegende extreme Notsi-
tuation kaum abschließend für alle möglichen Fälle juristisch zu erfassen. Andererseits
muss Alles vermieden werden, was dazu führt, dass in einer solchen Situation unter der
Fahne des „übergesetzlichen Notstandes“ weit reichende Einschränkungen der bürgerli-
chen Freiheit vorgenommen und womöglich auf Dauer gestellt werden. Eine „Verdrän-
gung“ (Böckenförde) des Ausnahmezustands kann also, so bequem sie auch auf den ers-
ten Blick erscheint, böse Folgen haben. Dagegen wiegen die Bedenken derjenigen weni-
ger schwer, die – meist unter Hinweis auf Art. 48 der Weimarer Reichsverfassung – da-
vor warnen, dass bereits die Normierung des Ausnahmezustands die Gefahr seiner
missbräuchlichen Verwendung heraufbeschwöre. Das erklärt vielleicht, warum das
Grundgesetz so einen „weiten Bogen“ um den Ausnahmezustand macht.
Neben dem in die Vergangenheit gerichteten Blick bilden vor allem zwei Phänomene
8 Agamben 2004, S. 9.
9 Siehe den Beitrag von Matthias Lemke in diesem Band.
11
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den Hintergrund der heutigen Überlegungen zum Ausnahmezustand. Es ist dies zum ei-
nen die Krise des globalen Finanzsystems, mit der die Europäische (Währungs-) Union,
ihre Mitgliedstaaten, aber auch andere Staaten seit einigen Jahren konfrontiert sind. Die-
se Krise hat – auch ohne offiziell erklärten Ausnahmezustand – in wenigen Jahren das
politische System westlicher Demokratien grundlegend verändert. Der Einfluss der Par-
lamente ist besonders in den Staaten der Eurozone signifikant geschrumpft. Ständig
werden die Parlamentarier zu Eilentscheidungen zur „Rettung des Euro“ genötigt, deren
Umfang und Folgen sie nicht übersehen können. Wichtige Informationen werden den
Abgeordneten vorenthalten. Stattdessen werden sie mit üppigen Diäten und endlosen
Debatten um weniger wichtige Probleme „bei Laune“ gehalten. Hier zeigen sich deutli-
che Tendenzen einer exekutivischen Politik, bei der die wichtigsten Entscheidungen auf
einer „höheren“ politischen Ebene (z.B. im Europäischen Rat oder in bilateralen Ge-
sprächen) getroffen und dann als „alternativlos“ durch die Parlamente „gepeitscht“ wer-
den.10
Das zweite Phänomen ist der globale Terrorismus, der die Freiheit in den westlichen
Demokratien auf zweifache Weise bedroht. Zum einen richten terroristische Anschläge
– wie der auf das World Trade Center – z.T. großen materiellen Schaden an, überdies
bedrohen, verletzen und töten sie meist unbeteiligte Menschen. Zum anderen ist damit
auch ein emotionaler Schaden verbunden, der sich besonders in der Terrorangst der
Menschen niederschlägt und gravierende Folgen hat. Niemand kann sich noch auf der
Straße, auf dem Marktplatz oder auf dem Bahnhof so ungezwungen bewegen, wie vor
den Anschlägen des 11. Septembers 2001. Vielerlei staatliche Schutzmaßnahmen, wie
etwa die Videoüberwachung öffentlicher Plätze, scheinen unumgänglich zu sein.
Gleichzeitig nutzen bestimmte Kräfte in den in- und ausländischen Regierungen aber
auch die „Gunst der Stunde“, um freiheitsbeschränkende Maßnahmen, wie z.B. mit gi-
gantischen Datenverarbeitungssystemen (Stichwort: prism) Handy-Gespräche, Emails
sowie alle Daten auf privaten, geschäftlichen und staatlichen PCs abzugreifen zu recht-
fertigen. Diese Maßnahmen werden – unter Vorspiegelung falscher Tatsachen – mit der
Terrorismusabwehr begründet, dienen tatsächlich jedoch der Ausspähung von Gesell-
schaft, Politik und der Wirtschaft. Die Reaktion der Bundesregierung auf das Bekannt-
werden der Spionagetätigkeit lässt kaum einen anderen Schluss zu als den der Kompli-
zenschaft mit US-Geheimdiensten. In der Konsequenz verschieben diese Machenschaf-
ten – von der Öffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommen – nachhaltig das Gleichge-
wicht zwischen bürgerlichen Freiheiten und staatlicher (All-) Macht zu Gunsten der
Letzteren.11
10 Voigt 2013.
11 Voigt (Hrsg.) 2012.
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2.2 Permanenter Ausnahmezustand?
Befinden wir uns damit bereits in einem „permanenten Ausnahmezustand“,12 der zwar
nicht offiziell ausgerufen, aber längst in Kraft gesetzt worden ist, wie Giorgio Agamben
meint?13 Denn Eines scheint festzustehen: die endlose Krise lässt sich von den Herr-
schenden durchaus zur Erhaltung ihrer Macht instrumentalisieren:
„Heute ist die Krise zum Herrschaftsinstrument geworden. Sie dient dazu, politische und
ökonomische Entscheidungen zu legitimieren, die faktisch die Bürger enteignen und ihnen
jede Entscheidungsmöglichkeit nehmen“.14
Tatsächlich ist nicht nur die repräsentative Demokratie in Gefahr, sondern angesichts
immer neuer Maßnahmen zur „Aufrechterhaltung der Sicherheit“ sind auch die Bürger-
rechte, das Fundament westlicher Demokratievorstellungen, grundsätzlich von einer
schleichenden Aushöhlung bedroht. Hier liegt ein Schwerpunkt des vorliegenden Ban-
des. Darüber hinaus spielen die folgenden sieben Fragenkomplexe eine zentrale Rolle:
1. Zeitpunkt: Wann ist ein solcher Ausnahmezustand erreicht, und wann wird aus der
(potenziellen) Gefährdung eine akute Gefahr?
2. Machtfrage: Welche Institution stellt verbindlich fest, ob ein solcher Gefahrenzu-
stand eingetreten ist bzw. (später wieder) überwunden ist?
3. Instrumente: Welche Mittel zur Abwehr bzw. Bekämpfung der Gefahr sollen und
dürfen – für welchen Zeitraum und von wem – eingesetzt werden?
4. Vorsorge: Sind in der Verfassung Vorkehrungen getroffen worden, und reichen die-
se zur Gefahrenabwehr aus?
5. Maßstab: Ist es grundsätzlich zulässig, die verfassungsmäßige Ordnung oder Teile
davon (etwa bestimmte Grundrechte, wie z.B. Meinungs-, Presse-, Versammlungs-
freiheit oder das Parteienrecht) zeitweise außer Kraft zu setzen, um die Ordnung als
Ganze zu retten?
6. Permanenz: Gibt es einen „permanenten Ausnahmezustand“ (Agamben), in dem in
der Verfassung gewährleistete (Grund-) Rechte wegen einer latenten Gefahrensitua-
tion womöglich – heimlich aber dauerhaft – außer Kraft gesetzt sind?
7. Missbrauch: Sind angesichts des weltweiten Kampfes gegen den Terrorismus An-
zeichen dafür zu erkennen, dass Regierungen demokratischer Staaten Antiterror-
maßnahmen (auch) zur „Stabilisierung“ ihrer Herrschaft nutzen?
Literatur
15
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Teil 1:
Ideengeschichtliche Verortung
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Machiavellis dittatori und Carl Schmitts Diktatur
Stefano Saracino
Die Krise der Parteiendemokratie, die Europa derzeit durchläuft, und das Szenario einer
postelektoralen Demokratie, in der plebiszitäre und direktdemokratische Partizipations-
formen ebenso wie der Protest auf der Straße und dessen Kanalisierung durch moderne
Volkstribunen an Bedeutung gewinnen, schlägt sich mittlerweile auch auf die Interpre-
tation politiktheoretischer Klassiker nieder. So interpretiert John P. McCormick in sei-
nem Buch Machiavellian Democracy (2011) Niccolò Machiavelli als Befürworter eines
radikal demokratischen, ja eines plebiszitär-volkstribunizischen Republikanismus, wes-
halb der Florentiner angesichts der besagten Entwicklung der gegenwärtigen Demokra-
tie ein brandaktueller Autor sei.1 Mit dem Szenario einer postelektoralen Demokratie
scheint aber auch das Gespenst der Diktatur zurückzukehren und damit die Auseinan-
dersetzung mit Carl Schmitt – der von Rudolf Augstein als „Machiavelli im Sauerland“
bezeichnet wurde2 – an Dringlichkeit zu gewinnen.
Die Berührungen mit Machiavelli sind nicht von so grundlegender Bedeutung für
Schmitts politisches Denken, wie die Berührungen mit Bodin und Hobbes.3 Allerdings
wird der Florentiner gerade in der ideen- und begriffsgeschichtlichen Auseinanderset-
zung Schmitts mit der Diktatur ausführlich behandelt und zitiert. Grund dafür ist Ma-
chiavellis eigene eingehende Beschäftigung mit dem altrömischen Notstandsorgan der
Diktatur in den Discorsi. Der vorliegende Beitrag verfolgt zwei Erkenntnisinteressen:
Einerseits soll einleitend Schmitts Analyse von Machiavellis Begriff der Diktatur in
Schmitts Die Diktatur (1921) rekonstruiert und in den größeren Kontext seiner Machia-
vellirezeption sowie seines diskursgeschichtlichen Umfeldes der Weimarer Zeit gestellt
werden. Dies soll andererseits aber nur der Ausgangspunkt sein, um darüber hinaus die
Frage zu behandeln, inwieweit sich Machiavelli aufgrund seiner Konzeption des Aus-
nahmezustandes und der Gründung politischer Ordnung – neben Bodin und Hobbes –
als Referenzpunkt für das Schmittsche Denken anbietet, auch unbeachtet von konkret
fassbaren Einflüssen. So soll auf die Konzeption republikanischer Ordnungsgründer
Die Forschungen für diesen Aufsatz erfolgten im Rahmen des Internationalen Graduiertenkollegs
„Politische Kommunikation von der Antike bis in das 20. Jahrhundert“ der Johann-Wolfgang-
Goethe Universität Frankfurt am Main.
1 McCormick 2011. McCormick hat sich auch mit Carl Schmitt auseinandergesetzt, s. McCormick
1997. Zu Schmitts Interpretation von Machiavelli McCormick 1997, S. 129-133.
2 Der Spiegel, Nr. 45, 1993, S. 75.
3 Galli 2013. Zu Bodin bei Schmitt vgl. den Beitrag von Norbert Campagna in diesem Band; zu Hob-
bes bei Schmitt vgl. den Beitrag von Oliver Hidalgo in diesem Band.
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(ordinatori, fondatori, datori di leggi) eingegangen werden, die Machiavelli in den Dis-
corsi anhand der „historischen“ Gründer Lykurg, Romulus, Kyros und Moses entwirft.
Dies bildet ein Theoriesegment im Werk Machiavellis, das für das Nachdenken über die
souveräne Diktatur Relevanz besitzt, dessen Relevanz allerdings von Schmitt nicht er-
kannt wurde.4 Es ergibt sich deshalb auch die Frage, wieso Schmitt Machiavelli nicht
als einen bedeutenden Referenzpunkt vom Range Bodins oder Hobbes ansieht: Neben
dem Einfluss Machiavellis auf Schmitt ist deshalb nach der intentionalen Verwendung
Machiavellis durch Schmitt zu fragen.
Im Gegensatz zum heute gängigen Sprachgebrauch sieht Schmitt die Diktatur nicht als
Antipode der Demokratie, sondern als mit ihr vereinbar an. Vielmehr sieht er Demokra-
tie und Liberalismus als Antithesen an. Diktaturen kämen auch in der Staatsform der
Demokratie vor, als uneingeschränkte Form des Regierens, die sich zwar über die kon-
stitutionellen und deliberativen Entscheidungsverfahren demokratischer Systeme hin-
wegsetze, nichts desto trotz aber auf die Zustimmung des Volkes angewiesen sei und in
dessen Auftrag einen Not- oder Missstand (etwa die Erneuerung der Verfassung oder
die Wiederherstellung staatlicher Ordnung) zu bewältigen habe; sie beruhe häufig auf
„einer, gleichgültig wie, herbeigeführten oder unterstellten Zustimmung des Volkes, al-
so auf demokratischer Grundlage“.5 Begriffs- und realgeschichtlich betrachtet, ist für
Schmitt die moderne („souveräne“) Diktatur ein Kind des Revolutionszeitalters und mit
dem Aufkommen des Prinzips der Volkssouveränität eng verknüpft. Die souveräne Dik-
tatur unterscheidet sich wesentlich vom alten Rechtsinstitut der kommissarischen Dikta-
tur, das laut Schmitt in der europäischen Vormoderne vor allem den Fürstenstaat, aber
auch das republikanische Denken prägte.6
Die postulierte Vereinbarkeit der Diktatur mit der Demokratie ist mit Schmitts antilibe-
raler Ablehnung des Parlamentarismus und mit seiner Sympathie für eine plebiszitäre
Demokratie zu verbinden, in der sich ein möglichst homogenes Volkskollektiv und au-
toritäre Regierungsinstitutionen und -personen gegenüberstehen. Schmitt kann mit his-
torisch triftigen Gründen darauf verweisen, dass der Schutz des Individuums und indi-
vidueller Freiheitsrechte in der vormodernen Demokratie keine hervorragende Rolle
4 „Und wo Schmitt diese Seite wesentlicher Illegitimität moderner Politik im Begriff der »Tatkraft«
oder der verfassungsgebenden Gewalt erfasst, da leitet er seine begrifflichen Koordinaten von Sieyès
und Rousseau her und nicht von Machiavelli“ (Galli 2013, S. 140).
5 Schmitt 2006, S. xiii, vgl. zum Verhältnis von Demokratie und Diktatur Schmitt 2006, S. xvi.
6 Schmitt akzentuiert die Bedeutung des Beispiels des französischen Nationalkonvents für die Entste-
hung der souveränen Diktatur, s. Schmitt 2006, S. 144f., 197. Aus Schmitts Abhandlung zur Diktatur
geht hervor, dass die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts als Sattelzeit des Begriffs der souveränen
Diktatur angesehen wird, s. v.a. Kap. III-V.
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spielte, vielmehr ein Anliegen darstellt, das erst durch den Liberalismus im 19. Jahr-
hundert mit der Demokratie verbunden wurde.7 In rousseaustischem Sinne ist laut
Schmitt zur Ermittlung des (qualitativ nicht quantitativ verstandenen) Volkswillens das
Wahlergebnis nicht das beste Mittel. Vielmehr kann der Volkswille unterstellt werden.8
Dieses Demokratieverständnis lässt sich nicht nur mit Max Webers „plebiszitärer Füh-
rerdemokratie“ (die freilich auch starke Unterschiede zu Schmitts aufweist), sondern –
wie gezeigt werden soll – auch mit Machiavellis Konzeption einer republica bene
ordinata in Verbindung bringen. Die Organisation politischer Herrschaft mit dem Ziel
einer möglichst großen Handlungsfähigkeit der Republik und die Rolle entscheidungs-
fähiger und handlungsmächtiger politischer Führungspersonen hierbei, die im politi-
schen Denken Machiavellis tonangebend sind, lassen sich zudem nicht bloß mit Webers
„Verantwortungsethik“, sondern auch mit Carl Schmitts dezisionistischem Konstrukt
der Diktatur verbinden.9
Schmitts Beschäftigung mit der Diktatur lässt sich mit einem systematischen Gesichts-
punkt und auch aus dem politischen und geistigen Klima der frühen Weimarer Zeit er-
schließen. Der systematische Anknüpfungspunkt liegt in Schmitts Unterscheidung zwi-
schen der Substanz staatlicher Souveränität (etwa ausformuliert in einem Katalog von
Hoheitsrechten) und andererseits der Fähigkeit der souveränen Gewalt, diese tatsächlich
auszuüben. Diese Einsicht, bei der Sieyès Unterscheidung zwischen dem pouvoir
constitué und dem pouvoir constituant Pate gestanden hat, macht den Kern von
Schmitts Realismus aus; ein Realismus, der sich speist aus der historischen Diagnose
eines Niedergangs des Staates und einer Evasion des Politischen in der Moderne, die
dem staatlichen Anspruch auf dessen Monopolisierung zuwiderlaufe. Testfall für die
Fähigkeit der souveränen Gewalt, ihre substantiellen Kompetenzen auszuüben, und zu-
gleich Definitionsmoment der Souveränität ist für Schmitt bekanntlich die Handhabung
des Ausnahmezustandes.10 Andererseits lassen sich die Schriften Carl Schmitts aus den
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Weimarer Jahren der inflationären Entwicklung dezisionistischen Staatsdenkens im
Diskurs der Zeit zuordnen, die mit Namen wie Hermann Heller, Friedrich Meinecke und
Ernst Jünger verbunden ist und in der sich sowohl die Handlungsschwächen als auch die
Anerkennungsschwierigkeiten des Weimarer Systems niederschlagen.11 Schmitts Unter-
suchung zur Diktatur aus dem Jahre 1921, der in der 2. Auflage von 1928 eine Erörte-
rung des Artikels 48 der Weimarer Verfassung zu den Ausnahmebefugnissen des
Reichspräsidenten angehängt wurde, steht im Zusammenhang mit den Erfahrungen aus
seiner Münchner Zeit und den Wirren der Münchner Räterepublik.
Das Erkenntnisinteresse des vorliegenden Beitrages liegt jedoch nicht in der Herausstel-
lung des Zusammenhangs zum politischen und intellektuellen Klima, aus dem Schmitts
Lehre von der Diktatur hervorgeht.12 Vielmehr liegt das Augenmerk auf der Bedeutung
frühneuzeitlicher Klassiker für die Genese von Schmitts theoretischen Positionen zur
Diktatur. Dass Machiavelli bei Schmitt nicht an die Bedeutung von Bodin und Hobbes
heranragt, ist bekannt. Hobbes ist zentraler Referenzdenker von Schmitt, wobei er den
englischen Philosophen, vor allem in den Weimarer Jahren, auf seinen Dezisionismus
reduziert; auf den Autor der rechtstheoretischen Position, die Hobbes in polemischer
Auseinandersetzung mit dem Politikverständnis des Langen Parlaments und des nach
der Abschaffung der Monarchie 1649 in England an Konturen gewinnenden Republika-
nismus entwickelt und die sich im Ausspruch kondensieren lässt: „auctoritas, non
veritas facit legem“ (Leviathan, 26).13 Die Hingabe zu Hobbes reicht so weit, dass sich
Schmitt in seinem Hobbes-Buch von 1938, nachdem er bei den Nationalsozialisten in
Ungnade gefallen war, und erneut nach dem Krieg mit dem englischen Philosophen, der
an seinem Lebensabend heftig angefeindet wurde, identifiziert und eine Parallele zwi-
lem der Souveränität ergibt. „Nur eine Literatur, die jeden Sinn für das juristische Grundproblem der
Staatslehre, den Gegensatz von Recht und Rechtsverwirklichung, verloren hat, kann hier in der Un-
terscheidung von Substanz und Ausübung der Souveränität eine unbeachtliche scholastische Spitz-
findigkeit entdecken. Ist Souveränität wirklich staatliche Allgewalt, und das ist sie für jede, eine Tei-
lung, d. h. Abgrenzung der Gewalten nicht restlos durchführende Verfassung, so ergreift die rechtli-
che Regelung immer nur den berechenbaren Inhalt der Ausübung, niemals die substantielle Fülle der
Gewalt selbst. Die Frage, wer über sie, d. h. den rechtlich nicht geregelten Fall entscheidet, wird die
Frage nach der Souveränität“ (Schmitt 2006, S. 191). Zu Sieyès Schmitt 2006, S. 139 und Pasquino
1988. Die Formel, dass souverän sei, wer über den Ausnahmezustand entscheide, findet sich in
Schmitts Politischer Theologie, s. Schmitt 1991 (1922), S. 13. Zu Schmitts Souveränitätsbegriff
Quaritsch 1996.
11 Krockow 1995.
12 Siehe hierzu Mehring 2009.
13 So in der Politischen Theologie, s. Schmitt 1991, S. 56 und auch in Die Diktatur, s. Schmitt 2006, S.
22. Ein umfassenderer Blick auf die politische Philosophie von Hobbes in Schmitts metaphoro-
logisch-mythologischer Studie von 1938 zum Sinnbild des Leviathans, die nicht mit antisemitischen
Spitzen spart (s. Schmitt 1995a). In einer Spätschrift deutet Schmitt Hobbes, aufgrund seiner für den
Staat verhängnisvollen Unterscheidung von privater Überzeugung und öffentlichem Bekenntnis, als
„Vollender der Reformation“ (s. Schmitt 1965). Zu Schmitts Hobbes-Interpretation siehe die Beiträ-
ge in Voigt 2009 und Oliver Hidalgo in diesem Band.
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schen seiner und Hobbes’ Biographie erstellt.14 Eine solche Verbundenheit auf persön-
lich-biographischer Ebene bestand allerdings auch zu Machiavelli, wenn man bedenkt,
dass Schmitt sein Haus und Rückzugsort in Plettenberg mit San Casciano titulierte, also
dem Namen des Landsitzes, auf dem Machiavelli ab 1513 sein Exil antreten musste.15
Auch für die theoretische und begriffsgeschichtliche Analyse der Diktatur ist Hobbes
fester Bezugspunkt, da er den Daseinszweck des Staates als permanente Kriegs- und
Rebellionsverhinderungsinstanz erfasst habe.16
Schmitts systematische Unterscheidung zwischen der kommissarischen und der souve-
ränen Diktatur fußt wiederum unmittelbar auf Bodins Interpretation der altrömischen
Verfassungsinstitution der Diktatur, die zur Bewältigung innen- oder außenpolitischer
Krisen und zur Wiederherstellung einer gestörten Ordnung mit Ausnahmebefugnissen
bevollmächtigt wurde. Bleibt Bodins Verständnis der Diktatur auch auf ihre alte (kom-
missarische) Ausbildung beschränkt, so setzt mit seinem Werk die Kontroverse darüber
ein, ob die Diktatur souverän sei, und es werde hierdurch der Pfad zur souveränen Dik-
tatur eingeschlagen.17 In seiner Politischen Theologie (1922) bescheinigt Schmitt Bo-
din, einen entscheidenden Beitrag zur Souveränitätslehre geleistet zu haben.18
Blickt man nun auf die Aussagen, die Schmitt in Die Diktatur (1921) zu Machiavelli
fällt, so scheint sich ein ambivalentes Urteil zu ergeben. Beim ersten Hinsehen scheint
14 Schmitt bezeichnet Hobbes als „Lehrer einer großen politischen Erfahrung; einsam, wie jeder Weg-
bereiter; verkannt, wie jeder, dessen politischer Gedanke sich nicht im eigenen Volk verwirklicht;
ungelohnt, wie der, der ein Tor öffnet, durch das andere weitermarschieren; und doch in der unsterb-
lichen Gemeinschaft der großen Wissenden der Zeiten, ›a sole retriever of an ancient prudence‹.
Über die Jahrhunderte hinweg rufen wir ihm zu: Non jam frustra doces, Thomas Hobbes!“ (Schmitt
1995a, S. 132).
15 Schmitt gibt nach 1945 in seinen Korrespondenzen „Plettenberg-San Casciano“ gelegentlich als Ab-
sender an.
16 „Darum ist der Staat bei Hobbes seiner Konstitution nach in dem Sinne eine Diktatur, als er, aus dem
bellum omnium contra omnes entstehend, den Zweck hat, diesen Krieg, der sofort wieder ausbre-
chen würde, wenn der Druck des Staates von den Menschen genommen wird, beständig zu verhin-
dern“ (Schmitt 2006, S. 22).
17 So lautet Bodins Urteil zur Frage, ob die römischen Diktatoren souverän gewesen seien: „Hieraus
folgt, daß der Diktator entgegen der Meinung vieler Autoren weder Fürst noch souveräner Magistrat
gewesen ist und in Wirklichkeit lediglich den Auftrag hatte, etwa einen Krieg zu führen, einen Auf-
stand niederzuschlagen oder eine Staatsreform durchzuführen oder neue Beamten zu bestellen. Der
Souveränität hingegen ist jede Begrenzung hinsichtlich der Machtbefugnis, der Aufgabenstellung
oder ihrer Dauer fremd“ (Bodin 1981, S. 206 = Six livres de la république I/8). Auch das Dezemvirat
ist für Bodin keine „souveräne Diktatur“ (ebd.). Wo Bodin die Wesensähnlichkeit zwischen Diktatur
und Dezemvirat hervorhebt, liegt für Machiavelli, wie noch eigens gezeigt wird, ein wesentlicher
Unterschied zwischen den dictatores und dem Notstandsregiment der decemviri. Schmitt stellt eben-
falls Bodins Leistung heraus, den außerordentlichen Charakter des Diktators (der auf der Basis der
Ordonanz seines souveränen Dienstherren, aber nicht auf der Basis des Gesetzes handelt) und jedes
weiteren außerordentlichen kommissarischen Staatsamtes herausgestellt und dessen Gegensatz zum
ordentlichen Magistraten/Beamten entdeckt zu haben, der sich auf dem Boden des Rechts bewege, s.
Schmitt 2006, S. 33-39.
18 Schmitt 1991, S. 15; zu Bodins Schmitt-Interpretation Campagna 2004, S. 69f. und Norbert Cam-
pagna in diesem Band.
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die Einordnung Machiavellis in die Masse der traditionellen (republikanischen) Ausei-
nandersetzungen mit dem alten Rechtsinstitut der Diktatur festzustehen, deren staats-
theoretische Relevanz für Schmitt gering ist:
„Die Diktatur erschien Machiavelli und der folgenden Zeit zu sehr als ein der freien römi-
schen Republik wesentliches Institut, als daß sie die beiden verschiedenen Arten der Dikta-
tur, die kommissarische und die souveräne, unterschieden hätten. Daher ist auch der absolu-
te Fürst für sie niemals Diktator. Der Principe, dessen Bild Machiavelli entworfen hat, ist
von späteren Schriftstellern gelegentlich ein Diktator genannt worden. Das widerspricht je-
doch der Auffassung Machiavellis. Der Diktator ist immer ein zwar außerordentliches, aber
doch verfassungsmäßiges republikanisches Staatsorgan.“19
Dass Machiavelli dem traditionellen Denken über die Diktatur zugehörig sei und seine
Reflexionen zur Diktatur zudem nicht sonderlich originell seien, betont Schmitt mehr-
mals. So sage man mit Recht von Machiavelli, „daß er niemals eine Staatstheorie aufge-
stellt habe“ (S. 5). Hiermit konform geht Schmitts Kritik an Meinecke, der Machiavelli
als Begründer der Staatsräson gedeutet habe.20 Machiavellis Bild der altrömischen Dik-
tatur sei zudem von Livius und damit von den „alten Diktatoren“ (nicht von der „revo-
lutionären Diktatur“ Sullas oder Cäsars) geprägt.21 Machiavellis Interesse gelte der Dik-
tatur als Substitut, das die strukturellen Vorteile der monarchischen Regierungsform
auch in der Republik gewährleiste (etwa die Schnelligkeit, Geheimhaltung und Einmü-
tigkeit politischen Handelns) (S. 6). Darin dass die Magistrate und Verfassungsorgane
der Republik auch unter der außerordentlichen Regierung eines Diktators bestehen blie-
ben, habe Machiavelli eine Garantie gegen Missbrauch erkannt; gewissermaßen als Re-
flex der typischen Abneigung des altrepublikanischen Denkens gegenüber der monokra-
tischen Verengung von Herrschaft. Machiavelli denke daher in Kategorien der „kom-
missarischen Reformationsdiktatur“, nicht der „souveränen Revolutionsdiktatur“ (S.
114).
Dieser eindeutige Befund hindert Schmitt jedoch nicht daran, Machiavelli auch durch-
aus eine prometheische Rolle für das Staatsdenken der Neuzeit allgemein und für das
Denken über die Diktatur im Besonderen zuzuschreiben. So bemerkt Schmitt in seiner
sorgfältigen Rekonstruktion von Machiavellis politisch-theoretischer Semantik und
Terminologie in der auf Livius gegründeten Auseinandersetzung mit der Diktatur eine
dezisionistische Pointe. So habe die Ermächtigung eines Diktators die Aufhebung des
gewaltenteilenden und aufgabenverteilenden Prinzips der Mischverfassung zur Folge
gehabt: Denn die Diktatoren vermochten völlig alleine zu entscheiden („deliberare per
19 Schmitt 1991, S. 7.
20 Diese Kritik findet sich in Schmitts Rezension von Meineckes Die Idee der Staatsräson (Schmitt
1940).
21 Hiergegen ist einzuwenden, dass Machiavelli explizit den Begriff der Diktatur im Kontext der
Selbstbevollmächtigungen Sullas und Cäsars behandelt, s. unten.
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se stesso“) (S. 6).22 Zudem stellt Schmitt die rezeptionsgeschichtliche Bedeutung des
Principe – und Schmitts Lektüre von Machiavellis Werk ist allgemein eher Principe-
lastig – für die neuzeitliche Staatstheorie heraus (S. 7, 12f.).23 Seinen wichtigsten Bei-
trag zur Genese der modernen Sichtweise auf die Diktatur habe Machiavelli allerdings
mit seinem technischen Politikverständnis, mit der Beschreibung einer Technik der
Machterhaltung geleistet. Hierin kündige sich die technisch-sachliche Aufgabe des Dik-
tators als (Rechts-)Verwirklicher an, für den der Erfolg und die Effizienz des Handelns
bestimmend seien (S. 8-11).24 Die Verbindung Machiavellis zum Rationalismus der Re-
naissancehumanisten scheint von Schmitt als bedeutende Prämisse seiner Technik der
Macht und seines technizistischen Denkens angesehen zu werden:
„Diese technische Auffassung [Machiavellis, S.S.] ist für die Entstehung des modernen
Staates wie für das Problem der Diktatur von unmittelbarer Bedeutung. Aus dem Rationa-
lismus dieser Technizität ergibt sich zunächst, daß der konstruierende Staatskünstler [sic.]
die staatlich zu organisierende Menschenmenge als ein zu gestaltendes Objekt, als Material
ansieht. Es entspricht den humanistischen Anschauungen, im Volk, der ungebildeten Masse
[…] etwas Irrationales zu sehen, das durch die ratio beherrscht und geführt werden muß. Ist
das Volk aber das Irrationale, so kann man nicht mit ihm verhandeln und Verträge schlie-
ßen, sondern muß es durch List oder Gewalt meistern. Der Verstand kann sich hier nicht
verständigen, er räsoniert nicht, sondern diktiert.“25
Schmitts Akzentuierung der rationalen, kühl abwägenden Technik der Macht als be-
deutsame Facette von Machiavellis politischem Denken steht im Kontrast zur „dämo-
nologischen“ Deutung Machiavellis in Deutschland in der ersten Hälfte des 20. Jahr-
hunderts. Die „dämonologische“ Interpretation Machiavellis wird, von Weber ausge-
hend26, über Friedrich Meinecke und Gerhard Ritter27 zu einem dominierenden Deu-
22 Machiavelli betont, dass die Diktatoren, im Gegensatz zu anderen Regierungsträgern, sich mit nie-
mandem beraten mussten (consultare) und nicht von anderen Entscheidungsträgern (deliberare) ab-
hängig waren, vielmehr ohne jedes Hindernis ihre Entscheidungen ausführen konnten (esequire)
(Machiavelli 1996, S. 132).
23 In seiner kurzen Schrift zu Machiavelli anlässlich seines 400. Todestages schreibt Schmitt: „Jedes-
mal, wenn eine neue politische Idee dem staatlichen Leben neue Kräfte gab und die unzerstörbare
Kraft des Politischen sich von neuem zeigte, erschien auch das Bild dieses Florentiners“ (Schmitt
1995b, S. 102).
24 Zu Schmitts Beurteilung von Machiavellis Reflexion der Technizität der Macht McCormick 1997, S.
129ff. McCormick stellt ebenfalls Schmitts negative Perzeption von Technik und Technizität als ge-
genüber dem Politischen neutralisierende Kräfte heraus. Das technizistische Verständnis des Staates
gilt Schmitt als Kennzeichen der Staatslehre der Renaissance: „Die Staatslehre der Renaissance
übertrug die antiken Begriffe in ein neuzeitlich-technizistisches Verständnis der Staatsorganisation.
«Rationalismus, Technizität und Exekutive» kennzeichneten ihre «Richtung zur Diktatur»“ (Meh-
ring 2009, S. 120f.).
25 Schmitt 2006, S. 10. In Schmitts Rede vom „konstruierenden Staatskünstler“ scheint der Einfluss Ja-
cob Burckhardts greifbar zu sein. Laut Burckhardt komme in der Renaissance erstmals „der moderne
europäische Staatsgeist“ auf; mit ihm trete „ein neues Lebendiges in die Geschichte: der Staat als be-
rechnete, bewusste Schöpfung, als Kunstwerk“ (Burckhardt 1988, S. 4).
26 „Er [der Politiker, S.S.] lässt sich, ich wiederhole es, mit den diabolischen Mächten ein, die in jeder
Gewaltsamkeit lauern. […] Wer das Heil seiner Seele und die Rettung anderer Seelen sucht, der
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tungsmuster der Machiavellirezeption. Dieses Muster wandelt sich in der Kriegs- und
Nachkriegszeit (bei Gerhard Ritter und Dolf Sternberger) zur Chiffre für die Kritik am
Nationalsozialismus.28 Die Stellungnahmen zu Machiavelli in Der Begriff des Politi-
schen und in seiner kurzen Schrift zu Machiavelli von 1927, die er anlässlich des 400.
Todestages des Florentiners verfasst, lassen vermuten, dass Schmitt mittlerweile von
der Reduktion Machiavellis auf den Techniker der Macht abgerückt ist, vielmehr mit
Verweis auf dessen negative Anthropologie seinen Beitrag zur Ergründung des Politi-
schen unterstreicht.29
Schmitt kontrastiert in Die Diktatur Machiavellis technische Handlungslehre für den
principe nuovo (der den souveränen Diktator ankündige, aber eben noch nicht so be-
zeichne) mit dem antiquarischen Begriff der Diktatur aus Machiavellis Discorsi. Was
Schmitt allerdings verkennt, ist die Existenz eines dritten – für seine Lehre von der Dik-
tatur überaus relevanten – Theoriesegments, neben dem dittatore und dem principe
nuovo. So soll im Folgenden argumentiert werden, dass die (republikanische) Figur des
Ordnungsgründers bei Machiavelli der dezisionistischen Souveränitätslehre Schmitts
ebenso wie dem aus seinem Souveränitätsbegriff entspringenden Begriff der Diktatur
zupass kommt.
Schmitts Unterscheidung zwischen kommissarischer und souveräner Diktatur fußt auf
dem Verhältnis der Diktatur zur bestehenden Ordnung. Die kommissarische Diktatur
wird so konzipiert, dass sie außerhalb der Verfassung steht und die Verfassung außer
Kraft zu setzen vermag, aber dennoch durch ihren Zweck fest an sie gebunden bleibt:
„Die Diktatur ist wie die Notwehrhandlung immer nicht nur Aktion, sondern auch Gegen-
aktion. Sie setzt demnach voraus, daß der Gegner sich nicht an die Rechtsnormen hält, die
der Diktator als Rechtsgrund für maßgebend anerkennt. Als Rechtsgrund, aber natürlich
nicht als sachtechnisches Mittel seiner Aktion. Der Gegensatz von Rechtsnorm und Rechts-
verwirklichungsnorm, der das ganze Recht durchzieht, wird hier zu einem Gegensatz von
sucht das nicht auf dem Wege der Politik, die ganz andere Aufgaben hat: solche, die nur mit Gewalt
zu lösen sind. Der Genius oder Dämon der Politik lebt mit dem Gott der Liebe, auch mit dem Chris-
tengott in seiner kirchlichen Ausprägung, in einer inneren Spannung, die jederzeit in unaustragbarem
Konflikt ausbrechen kann. […] Und mit Bezug auf solche Situationen läßt Macchiavelli [sic.] an ei-
ner schönen Stelle, irre ich nicht: der Florentiner Geschichten, einen seiner Helden jene Bürger prei-
sen, denen die Größe der Vaterstadt höher stand als das Heil ihrer Seele“ (Weber 2006, S. 608). Ein
Verweis auf Webers Machiavelli-Deutung findet sich bei Schmitt in der kurzen Schrift zu Machia-
velli anlässlich seines 400. Todestages, s. Schmitt 1995b, S. 104.
27 Ritter (1947, S. 43, 224) kritisiert die technizistische Deutung Machiavellis in Schmitts Die Diktatur
explizit.
28 In diesem Rezeptionsstrang gilt Machiavelli als Entdecker des „dämonischen“ Wesens der Macht,
ihrer Abgründigkeit und ihres mit der (christlichen) Religion und Moral inkompatiblen Wesens. Zur
dämonologischen Leseweise Machiavellis bei Meinecke, Ritter und Sternberger und der Verarbei-
tung des Zeitgeschehens sowie der Reflexion des ambivalenten Wesens der Moderne in diesem Re-
zeptionsmuster Ottmann 2006, S. 53 und Lüddecke 2010. Webers Beitrag zu diesem Rezeptionsmus-
ter wird bei Ottmann und Lüddecke nicht thematisiert.
29 Schmitt 2002, S. 31, Anm. 7. Vgl. Schmitt 1995b, S. 104f.
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Rechtsnorm und sachtechnischer Aktionsregel. Die kommissarische Diktatur hebt die Ver-
fassung in concreto auf, um dieselbe Verfassung in ihrem konkreten Bestand zu schüt-
zen.“30
„Die souveräne Diktatur sieht nun in der gesamten bestehenden Ordnung den Zustand, den
sie durch ihre Aktion beseitigen will. Sie suspendiert nicht eine bestehende Verfassung
kraft eines in dieser begründeten, also verfassungsmäßigen Rechts, sondern sucht einen Zu-
stand zu schaffen, um eine Verfassung zu ermöglichen, die sie als wahre Verfassung an-
sieht. Sie beruft sich also nicht auf eine bestehende, sondern auf eine herbeizuführende Ver-
fassung.“31
Auch der souveränen Diktatur liegt eine „Kommission“ zugrunde, wobei der Auftrag-
geber das Volk ist (hierin liegt auch die Antwort auf die Frage nach der
Unterscheidbarkeit von souveräner Diktatur und Souveränität). Ihr Zweck wird meist
durch eine geschichtsteleologsiche Perspektive bestimmt (etwa dem Fortschrittsglauben
als säkularisierte Form apokalyptischer Geschichtsauffassung in der Aufklärung).32
Folgt man dieser grundsätzlich unterschiedlichen Beziehung zur gegebenen politischen
Ordnung – einer ordnungswahrenden im Falle der kommissarischen, einer ordnungs-
verändernden und neu ordnenden, aber niemals konstituierten im Falle der souveränen
Diktatur –, so lässt sich Machiavellis ordinatore, also die im Kontext seines republika-
nischen Denkens entwickelte Figur des Gründers, der souveränen Diktatur zuordnen.
Um diese These zu erhärten, erscheint es erforderlich, zunächst auf Machiavellis Begriff
der Diktatur einzugehen.
27
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2. Machiavellis „dittatore“ und die Reflexionen zum
republikanischen Notstandsinstitut in den Discorsi
Machiavellis Republikanismus ist gekennzeichnet durch die Fokussierung auf den casus
necessitatis und auf die Frage nach dessen Bewältigung und Überwindung. In Machia-
vellis Lebzeiten fallen nicht weniger als drei – gescheiterte – Verschwörungen (1478,
1513, 1522), die gegen die Herrscherfamilie der Medici gerichtet waren, sowie zwei er-
folgreiche Verfassungsumstürze (1494, 1527), die zur (vorübergehenden) Restitution
der republikanischen Ordnung geführt hatten, auf die allerdings im Jahre 1512 und end-
gültig 1530 die Restauration der Mediciherrschaft folgte. Machiavellis Fokus auf den
Not- und Ausnahmezustand ist aus historischer Sicht naheliegend.33 Im Unterschied zu
Schmitt ist die Bindung von Machiavellis politischem Denken an den Ausnahmezustand
frei von jedem apokalyptisch-heilsgeschichtlichem Pathos. Aus dem Horizont der anti-
ken zyklischen Geschichtsauffassung formuliert, fällt Machiavellis Gegenwartsdiagnose
im Vergleich zu den antiken und auch zu den ihm zeitgenössischen zyklischen Ge-
schichtstheorien deutlich reformoptimistischer aus. Dies ist eine logische Konsequenz
seiner Einschätzung, sein eigenes Zeitalter sei ein absoluter Tiefpunkt.34 Im Unterschied
zum Staatsräsondiskurs, der ab dem späten 16. Jahrhundert und damit fast ein halbes
Jahrhundert nach Machiavellis Tod von Italien und von Giovanni Boteros Schrift Della
Ragion di Stato (1589) ausgehend ganz Europa erfasst,35 aber auch im Unterschied zu
Schmitt gilt Machiavellis Interesse in der Auseinandersetzung mit dem Not- und Aus-
nahmezustand in den Discorsi nicht primär der Erhaltung des Staates (mantenere lo
stato), sondern der Erhaltung der Freiheit (mantenere la libertà).36
Machiavelli benennt für die Republik die Notwendigkeit, ein mit umfassenden exekuti-
ven Befugnissen betrautes Notstandsinstitut einzurichten. Sie ergibt sich aus seinem
Verständnis der Mischverfassung und ihrer gewaltenteilenden Eigenschaft, die aus Sicht
der Freiheit begrüßenswert sei, allerdings eine institutionelle Trägheit und Schwerfäl-
ligkeit (Machiavelli spricht von einem „tardo modo“) erzeuge, die im Not- und Aus-
nahmezustand der Republik zum Verhängnis werden könne.37 Dies zu kompensieren
33 Höchli erkennt in den Überlegungen Machiavellis zum Notstandsinstitut etwas wesentlich Neues im
Vergleich zum republikanischen Verfassungsdenken seiner Zeit, s. Höchli 2005, S. 547. Machiavel-
lis Vorstellungen zur Verfassungsordnung erachtet er ansonsten als nicht besonders originell.
34 Dazu Pocock 1975, S. 31ff. und Münkler 2004, S. 357-368.
35 Schmitt nimmt die umfangreiche italienische Staatsräsonliteratur zur Kenntnis, s. Schmitt 2006, S.
13.
36 Für das Ziel der Sicherung des Staates und der Sicherung von Herrschaft stehen die Schlagwörter
des „mantenere lo stato“ (diese Wendung begegnet im Principe häufig) oder des „ragionare dello
stato“ (diese Wendung findet sich in einem Brief an Francesco Vettori vom 9. April 1513, in: Ma-
chiavelli 1961, S. 239f.). Machiavelli spricht von „mantenere la libertà“ in den Istorie Fiorentine, s.
Machiavelli 1986, S. 399.
37 „Ohne eine ähnliche Einrichtung übersteht ein Staatswesen [città] nur schwer außergewöhnliche Er-
eignisse [accidenti istraordinari]. Der gewöhnliche Gang der Geschäfte ist in den Freistaaten
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war Zweck der altrömischen Diktatur. Diese Grunderkenntnis geht aus einer Kapitelse-
quenz der Discorsi (I/34-38, 40) hervor, die sich gegen den Vorwurf richtet, die Institu-
tion der Diktatur habe in Rom das Aufkommen der Tyrannis begünstigt.38 Um diesen
Vorwurf zu widerlegen, vergleicht Machiavelli in der besagten Textsequenz die Dikta-
tur mit dem Dezemvirat, und aus der eigenen Gegenwart mit dem Notstandsorgan der
Republik Venedig, dem Rat der Zehn.
Ein republikanisches Notstandsorgan ist aus Sicht Machiavellis (der in diesem, wie in
anderen Punkten Rousseaus Beschäftigung mit der Diktatur vorwegnimmt) auch not-
wendig aufgrund der Kontingenz und Unberechenbarkeit, die der Politik eigen sind. Es
soll für die Republik Lösungen zur Verfügung stellen, wenn schlicht unvorhersehbare
Eventualitäten und Ereignisse (accidenti) eintreffen.39 Die Diktatur gilt der Konfrontati-
on des Unvorhersehbaren. Das Notstandsorgan muss mit gesetzlicher Legitimation auch
ungesetzliche Mittel anwenden, zur Sicherung von leggi und libertà für die Republik
eben diese Normen vorübergehend suspendieren können, zur Vermeidung einer frem-
den oder hausgemachten tyrannischen Monokratie, das Amt des Diktators mit nahezu
monarchischer Gewalt ausfüllen.40 An der fundamentalen Aufgabe der Kontingenzbe-
wältigung arbeiten in der Republik aber nicht bloß die Diktatoren, sondern auch andere,
durch ihre Handlungsmächtigkeit und Fähigkeiten hervorragenden Einzelfiguren und
Führungsgestalten wie Heeresführer, Volkstribunen, Verschwörer und Ordnungsstifter,
auf deren Intervention die Republik nicht verzichten kann. Das Interesse Machiavellis
an der Rolle solcher Einzelfiguren für den Erhalt der Republik, man könnte sie auch als
„funktionale Monarchen“ bezeichnen, und ihres spannungsvollen Verhältnisses zum
Bürgerkollektiv (das sich in Ablehnung oder in Zustimmung äußert) wird bereits in der
Textarchitektur der Discorsi widergespiegelt.41
[republiche] langsam [modo tardo]; denn kein Rat, keine Behörde kann allein alles erledigen, in vie-
len Dingen brauchen sie sich gegenseitig. Durch den notwendigen Ausgleich der verschiedenen Wil-
lensrichtungen vergeht die Zeit, und so entsteht die größte Gefahr [pericolosissimi], wenn man einer
Sache abhelfen soll, die keinen Zeitverlust erlaubt. Die Freistaaten müssen daher in ihren Verfassun-
gen eine der Diktatur ähnliche Einrichtung haben“ (Machiavelli 1977, S. 96 = Discorsi I/34, vgl.
ebd., S. 105 = I/38).
38 Zur Verwendung des Begriffs der Tyrannis in dieser Kapitelsequenz Saracino 2012, S. 245-252.
39 Dass die Diktatur der Konfrontation des Unvorhersehbaren gilt, belegt Machiavellis Verwendung
des Begriffs accidenti im Kapitel, das die Diktatur behandelt, s. Machiavelli 1996, S.135f. (= Dis-
corsi I/34); vgl. Rousseau 1977, S. 135 (= Contrat Social IV/6); McCormick 1993, S. 896-898.
40 Vgl. hierzu Schmitt: „Daß jede Diktatur die Ausnahme von einer Norm enthält, besagt nicht zufälli-
ge Negation einer beliebigen Norm. Die innere Dialektik des Begriffes liegt darin, daß gerade die
Norm negiert wird, deren Herrschaft durch die Diktatur in der geschichtlich-politischen Wirklichkeit
gesichert werden soll. […] Rechtsphilosophisch liegt hier das Wesen der Diktatur, nämlich in der
allgemeinen Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der Rechtsverwirkli-
chung. Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung entspre-
chenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat, sich selbst über-
flüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus“ (Schmitt 2006, S. xvii).
41 Mit dem Gegensatz von publico consiglio und privato consiglio bzw. zwischen den Taten des popolo
Romano und von uomini particulari sowie mit der Unterscheidung von Innen- und Außenbereich
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Machiavelli möchte in den Discorsi die Verfassungsinstitution der Diktatur vor der ver-
breiteten Meinung in Schutz nehmen, sie sei Ursache der Tyrannis und Brandbeschleu-
niger im Krisenfeuer der späten römischen Republik gewesen. Der Missbrauch dieser
Institution durch Sulla und Cäsar scheint der Annahme, gegen die sich Machiavelli
wenden möchte, vordergründig recht zu geben:
„Von irgendeinem Schriftsteller werden diejenigen Römer verdammt, die in Rom die Ein-
führung der Diktatur erfunden haben, weil diese mit der Zeit die Ursache der Tyrannis
[cagione…della tirannide] in Rom geworden wäre. Er führt an, daß der erste Tyrann
[tiranno], den Rom gehabt hat, unter dem Titel eines Diktators geherrscht hat, und behaup-
tet, daß Cäsar, hätte dieser Titel nicht bestanden, nicht in der Lage gewesen wäre, seine Ty-
rannis [tirannide] mit einem rechtmäßigen Titel aufzuwerten.“42
„Denn weder der Name [nome] noch das Amt [grado] des Diktators brachte Rom in
Knechtschaft [serva], sondern die Macht [autorità], welche sich Bürger infolge der langen
Dauer des Heeresbefehls [lunghezza dello imperio] anmaßten. Hätte in Rom der Titel eines
Diktators gefehlt, so hätte man eben einen anderen genommen; denn die Macht [forze]
schafft sich leicht den entsprechenden Namen [nomi], doch nicht der Name die Macht. Man
sieht ja auch, daß der Diktator dem Staat immer Nutzen brachte, solange er verfassungsge-
mäß eingesetzt worden war und sich nicht aus eigener Machtvollkommenheit aufgeworfen
hatte. Nur Ämter, die auf ungesetzlichem Wege [per vie istraordinarie] erworben werden,
(dentro, fuori) bildet Machiavelli zwei analytische Achsen, die die Komposition des Werkes und die
thematischen Schwerpunkte der einzelnen Bücher bestimmen. Buch I untersucht nach diesem Sche-
ma die republikanische Ordnung Roms aus der Innenperspektive und der Sicht des Bürgerkollektivs;
Buch II hingegen das Handeln des republikanischen Kollektivs nach außen; Buch III thematisiert die
Bedeutung von Einzelfiguren im Innen- wie im Außenbereich des Staates, s. die zu den drei Büchern
der Discorsi einleitenden, über die Gliederung des Textes Auskunft gebenden Passagen in Machia-
velli 1977, S. 11, 163, 279.
42 Machiavelli 1977, S. 94 (= Discorsi I/34). Die kritische Ausgabe der Discorsi von Giorgio Inglese
vermutet Dionysios von Halikarnassos hinter dem im Zitat erwähnten unbekannten Autor, s. Ma-
chiavelli 1996, S. 247.
43 Machiavelli 1977, S. 109 (= Discorsi I/39).
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und Machtbefugnisse, die man sich unrechtmäßig anmaßt, bringen einem Freistaat Scha-
den, und nicht solche, die man auf gesetzlichem Weg [per vie ordinarie] erhält.“44
Diese Aussage verdeutlicht Machiavellis Haltung zur Macht von Titeln und Wörtern.
Sie werden von ihm in den dahinterstehenden politischen Machtverhältnissen aufgelöst.
Nicht der angemaßte Titel des dictator perpetuus verlieh Cäsar die Macht, die republi-
kanische Ordnung aufzulösen, sondern seine militärische Befehlsgewalt (imperium).
Sullas oder Cäsars faktischer und außerkonstitutioneller Machtstellung wurde durch den
Titel des Diktators lediglich ein Schleier der Legitimation verliehen. Diese nominalisti-
sche Haltung steht im Kontrast zur legitimationsstiftenden Bedeutung von Titeln, von
rechtmäßig erhaltenen Privilegien und Regalien, die in der Vormoderne kennzeichnend
ist, und, soweit man sie allgemein auf den Begriff der Tyrannis übertragen möchte, auch
in starkem Gegensatz zu Bartolus’ Konzeption des tyrannus ex defectu tituli. Anderer-
seits weist Machiavelli hier gewisse Ähnlichkeiten zu Hobbes und dessen nominalisti-
schem Sprachpositivismus auf, der die Sprache und die Wörter als Zeichen und Instru-
mente im Dienst der subjektiven Werturteile und Machtbegierden versteht. Der Gedan-
kengang in Discorsi I/34 bestätigt allerdings ebenfalls die Fähigkeit Machiavellis, zwi-
schen dem Herrschaftsträger und der öffentlichen Gewalt, zwischen seiner Herrschafts-
befugnis und seinem verfassungsrechtlichen Auftrag zu unterscheiden.45 Die Diktatur
stellt für den casus necessitatis eine eigene Verfassungsinstitution bereit. Ohne sie wür-
de im Notfall in der Republik dem außerkonstitutionellen Machtaufstieg der Weg ge-
bahnt (modi istraordinari) und damit die politische Ordnung – über kurz oder lang – zur
Disposition gestellt werden.46 Machiavellis Ausführungen versuchen nachzuweisen,
dass die erhebliche Machtfülle des Amtes des Diktators aus Sicht der Freiheit solange
nicht prekär ist, solange drei Prämissen gewährleistet sind: Dass das Amt zeitlich be-
schränkt ist, dass dem Diktator die Verfassungsorgane und Gewalten (Volkskommitien,
Senat und Konsuln) durch ihre bloße Existenz (nicht durch ihre verfassungsgemäße
Gewalt, die im casus necessitatis suspendiert wird), als kontrollierende Gegengewichte
gegenüberstehen, schließlich dass Bürgertugend vorhanden ist.47
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Unmittelbar im Anschluss an die Behandlung der Diktatur befasst sich Machiavelli mit
den Ereignissen um die Einrichtung des Dezemvirats in Rom (451 v. Chr.) und der dro-
henden Entartung dieser Institution zur Tyrannis unter der Anführerschaft des Appius
Claudius (Discorsi I/38, I/40; vgl. Livius III/33-54). Mit dem Beispiel des Dezemvirats
sollen die negativen Folgen veranschaulicht werden, die sich ergeben, falls die mit weit-
reichenden Befugnissen betraute (Notstands-)Institution nicht zeitlich und konstitutio-
nell eingehegt wird.48 In Vorwegnahme von Montesquieu formuliert Machiavelli die
Maxime, dass die unbeschränkte, unkontrollierte Gewalt einer politischen Institution die
Sitten der Bürger, v. a. der Amtsträger korrumpiert.49
Der Begriff der Tyrannis fällt im Kapitel (Discorsi I/40), das sich mit dem Dezemvirat
auseinandersetzt, was die Häufigkeit von Okkurrenzen in Bezug auf die Textlänge anbe-
langt, so häufig wie nirgends im gesamten Oeuvre des Florentiners: sage und schreibe
fünfzehn Mal.50 Die aus den Rudern geratene Auseinandersetzung zwischen Plebs und
Adel und der fehlende Wille zur gesetzlichen Beilegung politischer Konflikte tritt als
Hintergrund der Geschehnisse deutlich zutage. – die Notwendigkeit des Ausgleichs
zwischen dem Volk (popolo) und der Herrschaftselite (grandi) ist wohlgemerkt ein
zentraler ordnungsphilosophischer Gedanke im Werk Machiavellis 51 Der Erfolg des
Staatswesen [republica non corrotta] nie haben kann: er muß sehr reich sein [ricchissimo], muß sehr
viele Anhänger und Parteigänger [aderenti e partigiani] haben, die er unmöglich haben kann, wenn
die Gesetze beachtet werden. […] Zudem wurde der Diktator nur für eine bestimmte Zeit und nicht
für dauernd [a tempo e non perpetuo] gewählt, und nur zu dem Zweck, um die Ursache, derentwegen
er gewählt worden war, zu beseitigen. […] Doch er konnte nichts tun, was dem Staat hätte schaden
können [che fosse di diminuzione dello stato]; er konnte zum Beispiel nicht dem Senat oder dem
Volk seine Machtbefugnisse nehmen, er konnte die alten Einrichtungen des Staats [gli ordini vecchi
della città] nicht abschaffen und neue einführen“ (ebd., S. 95, Hervh. S.S.). Genau dies, die Ab-
schaffung der alten Ordnung und die Schaffung einer neuen, ist Aufgabe von Schmitts souveränem
Diktator.
48 War die Diktatur durch konstitutionelle Mechanismen eingehegt, trat das mit einer Rechtsreform be-
auftragte Dezemvirat an die Stelle der Verfassungsorgane. Konsulat und Volkstribunat wurden abge-
schafft, der Senat in seiner Arbeit gehemmt. Ferner überschritt die Einsetzung des Dezemvirats zu
einem zweiten Amtsjahr die von Machiavelli geforderte Annuität für außerordentliche, mit umfas-
senden Vollmachten ausgestattete Verfassungsämter (Machiavelli 1977, S. 97-99 = Discorsi I/35
und ebd., S. 110 = I/40).
49 „Dies lässt sich leicht beweisen, wenn man bedenkt, aus welchen Ursachen die Diktatoren pflichtge-
treu blieben und aus welchen die Dezemvirn pflichtvergessen wurden, und wenn man beachtet, wie
es gut organisierte Freistaaten [republiche … bene ordinate] hinsichtlich der Übertragung der Macht
auf lange Zeit gehalten haben, wie die Spartaner hinsichtlich der Übertragung auf ihre Könige und
die Venezianer auf ihre Dogen. Man wird dann sehen, daß für beide Ämter Wächter [guardie] be-
stellt waren, die dafür sorgten, daß diese ihre Macht nicht missbrauchen konnten. Ohne diese Vor-
schrift hilft es auch nichts, wenn der Volkskörper noch nicht verdorben ist; denn eine unumschränkte
Gewalt verdirbt die guten Sitten eines Volkes in kürzester Zeit und schafft sich Freunde und Anhän-
ger [amici e partigiani]“ (ebd., S. 98f. = I/35; vgl. ebd., S. 116f. = I/42).
50 Vgl. Saracino 2012, S. 251f.
51 Die Errichtung des Dezemvirats folgte auf „molte disputazioni e contenzioni seguite intra il Popolo e
la Nobilità […]“ (Machiavelli 1996, S. 147 = Discorsi I/40, 4). Für Machiavelli stehen sich in allen
politischen Gemeinwesen, in Republik und Fürstentum gleichermaßen, die naturbedingten Grund-
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Claudius Appius, der sich als Anwalt der Plebs an die Spitze des Gemeinwesens und
des Dezemvirats stellt, wird mit der gefährlichen Neigung des popolo verbunden, zur
Zügelung der grandi sich in die Arme eines tiranno zu flüchten.52 Im vorliegenden Ka-
pitel bringt Machiavelli das Beziehungsgefüge zwischen dem Freiheitsbegriff, der Ty-
rannis und seiner Theorie des Ausgleichs zwischen den Ständegruppen von popolo und
grandi auf den Punkt; der Abschnitt besitzt Definitionscharakter:
„Zu diesem Vorfall ist zu bemerken, daß in Rom das Übel der Tyrannenherrschaft
[tirannide] auf denselben Ursachen beruht, auf welchen die meisten Gewaltherrschaften in
Freistaaten [la maggior parte delle tirannidi nelle città] zurückzuführen sind; sie liegen in
dem übermäßigen Verlangen [desiderio] des Volks nach Freiheit [libertà] und in dem
übermäßigen Verlangen des Adels nach Herrschaft [comandare]. Wenn man sich nun über
ein Gesetz zu Gunsten der Freiheit nicht einigen kann, aber eine der beiden Parteien darauf
verfällt, eine Persönlichkeit herauszustellen, dann ist sofort die Gewaltherrschaft [tirannide]
da.“53
Machiavellis Untersuchung der Diktatur und des Dezemvirats möchte (mithilfe eines
regen Gebrauchs des Tyrannisbegriffs) klarstellen, dass ein Verfassungsorgan, vor al-
lem falls es mit besonderen Vollmachten versehen ist, konstitutionell einzuhegen ist.
Die Bürgertugend der Amtsträger ist ebenso unverzichtbares Desiderat. Der Gedanken-
gang verweist über die Frage des Notstandes und seiner Bewältigung durch ein Not-
standsinstitut hinaus auf Machiavellis rudimentäre Lehre von der Gewaltenteilung.
Im Folgenden soll es darum gehen, an der Figur des republikanischen Gründers und
Ordnungsstifters aus Machiavellis Discorsi einige Aspekte zu beleuchten, die auf die
souveräne Diktatur verweisen. Leo Strauss hat darauf hingewiesen, dass in diesem
Werk die „perspective of founders“ einen wichtigen Platz einnimmt.54 Im Besonderen
neigungen und Anliegen des Volkes und der Herrschaftselite spannungsvoll gegenüber. Nicht in der
Aufhebung dieser Spannung, die für die Erhaltung der Freiheit notwendig sei, sondern im Ausgleich
zwischen popolo und grandi formuliert Machiavelli ein zentrales Desiderat der politischen Ordnung:
„Untersucht man das Streben des Adels und des Volks, so zeigt sich ohne Zweifel beim Adel ein
starkes Verlangen zu herrschen [desiderio grande di dominare], beim Volk aber nur das Verlangen,
nicht beherrscht zu werden [desiderio di non essere dominati], und folglich ein stärkerer Wille, in
Freiheit zu leben, da es weniger hoffen kann, die Freiheit zu mißbrauchen, als der Adel“ (Machiavel-
li 1977, S. 21 = Discorsi I/5); „Denn in jeder Stadt [città] finden sich diese zwei unterschiedlichen
Gesinnungen [dua umori diversi], was daher rührt, daß sich das Volk von den Großen weder beherr-
schen noch unterdrücken lassen will, die Großen aber das Volk beherrschen und unterdrücken wol-
len; aus diesen beiden verschiedenen Bedürfnissen [appetiti] entstehen in den Städten jeweils eine
von drei möglichen Wirkungen: entweder die Fürstenherrschaft, oder die Freiheit oder die Anarchie
[licenzia]“ (Machiavelli 1999, S. 75 = Principe IX). Die Anlehnung an das Mischverfassungstheo-
rem in Machiavelli 1977, S. 15 = Discorsi I/2.
52 Machiavelli 1996, S. 150f. = I/40, 31 ff.
53 Machiavelli 1977, S. 113 = Discorsi I/40.
54 Strauss 1958, S. 288.
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sollen folgende Aspekte dargelegt werden: 1. Die Feindseligkeit des ordinatore gegen-
über der alten, überkommenen Ordnung; 2. dessen konstruktiver Auftrag, eine neue
Ordnung zu stiften, der auf der Voraussetzung beruht, dass die politische Macht und
Entscheidungskompetenz in seiner Person gebündelt wird; 3. das nahezu dialektische
Verhältnis zwischen dem Ordnungsstifter und dem Volk (popolo), das sowohl beauftra-
gende Instanz ist als auch das zu formende Objekt der Ordnungsstiftung darstellt. Es er-
scheint unumgänglich, dass im Laufe der Darstellung dieser drei Gesichtspunkte Ma-
chiavellis Begriff der Ordnung kurz erläutert werden muss.
1. Im Werk des Florentiners finden sich unterschiedliche Bezeichnungen für den Grün-
der politischer Ordnung, wobei sein Sprachgebrauch und der jeweilige thematische
Kontext bereits auf die republikanische Konnotation dieser Figur, auf das Vorbild anti-
ker Verfassungsgeber und Städtegründer hinweist. Am charakteristischsten erscheint die
Bezeichnung „ordinatore“.55 Dass der Auftrag des ordinatore darin besteht, die alte
Ordnung abzuschaffen und zu zerstören, wird im Übergang zwischen Discorsi I/25 und
I/26 überdeutlich ausgesprochen. Machiavelli unterscheidet hier zwischen einem Modus
der Erneuerung, der sich an der alten Ordnung orientiert und – zumindest dem Schein
nach – das Alte im Verlauf des Erneuerungsprozesses bewahrt,56 von einer wirklichen
Erneuerung, die alles Bestehende von Grund auf ändert und neuordnet (rinnovare ogni
cosa). Machiavelli räumt ein, dass letzterer Modus tyrannischen Wesens sei, erachtet
eine solche Vorgehensweise jedoch für unverzichtbar, falls es sich um eine fundamenta-
le Erneuerung der politischen Ordnung handeln soll; und eine solche ist für den Floren-
tiner in Zeiten höchster corruzione im Staat unumgänglich. Diese Unumgänglichkeit
wird untermauert durch die Berufung auf das Beispiel des biblischen Königs David so-
wie durch ein Zitat aus dem Lukasevangelium:
„Wer ab er ein Regiment der Willkür ausüben will, das die Schriftsteller Tyrannis
[tirannide] nennen, muß alles Bestehende von Grund auf umstürzen [rinnovare ogni cosa],
wie im nächsten Kapitel gezeigt werden soll. […] Für jeden, der die Macht in einer Stadt
oder in einem Staat erobert hat [diventa principe, o d’una città o d’uno stato], ist – beson-
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ders wenn sein Regiment noch auf schwachen Füßen steht und er sich noch nicht für die
bürgerliche Ordnung in der Form einer Alleinherrschaft oder eines Freistaats entschieden
hat [e non si volga o per via di regno o di republica a una vita civile] – das beste Mittel, sich
an der Macht zu halten, wenn er gleich von Anfang an alles im Staat von Grund auf neu ge-
staltet. Er muß eine neue Regierung mit neuen Titeln, mit neuen Machtbefugnissen und
neuen Personen bilden, er muß die Armen reich machen, wie es David getan hat, als er Kö-
nig wurde; ‚qui esurientes implevit bonis et divites dimisit inanes’ [Lukas 1, 53]. Er muß
neue Städte bauen, die alten zerstören, die Einwohner von einem Ort an den anderen ver-
setzen, kurz, er darf nichts im Lande unangetastet lassen, damit es keinen Rang, kein Amt,
keinen Stand und keinen Reichtum gibt, den der Besitzer nicht ihm zu verdanken hat.“57
Um die Reichweite der hier thematisierten Problematik zu erfassen, die der Gründung
einer politischen Ordnung inhärent ist, ist Machiavellis Verständnis von Ordnung in
seiner ganzen Komplexität im Blick zu halten. Den Begriff „ordine“ (Machiavelli
spricht meist im Plural von ordini) beim Florentiner auf den sicherheitspolitischen As-
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pekt des Law and Order zu reduzieren, ist hierfür alles andere als hilfreich. Die Kom-
plexität des Ordnungsdenkens Machiavellis zeigt sich bereits an den metaphysischen
oder besser kosmologischen Prämissen der Erschaffung und Erhaltung von Ordnung,
die in der Sekundärliteratur oft vernachlässigt werden. So ist politische Ordnung zwar
die Frucht menschlicher Tüchtigkeit und Handlungsmacht (beides wird im Begriff virtù
impliziert), wird allerdings im Widerstreit zu kosmologischen Daseinsmächten erzeugt.
Als solche Mächte behandelt Machiavelli Fortuna, dann die von Machiavelli astrolo-
gisch konnotierten Einflüsse des Himmels („cieli“), schließlich die gleichermaßen von
den cieli und von der natura determinierten menschlichen Grundneigungen und Leiden-
schaften („umori“) der Menschen.61 Auch wäre es verfehlt, den Begriff „ordine“ auf
seine institutionelle und rechtliche Seite zu verkürzen. Das Gesetz, das Machiavelli vor
allem als strafandrohende und hiermit menschliches Verhalten disziplinierende Instanz
reflektiert, gewissermaßen als Äquivalent zur Furcht (timore) vor dem Fürsten im
monokratischen Regierungssystem, spielt natürlich eine für die Erhaltung der ordini es-
sentielle, jedoch eher unterstützende Rolle. Auch darf die Bedeutung einer Verfassungs-
institution wie der Mischverfassung und ihrer Eigenschaft, die ordnungszersetzenden
Gegensätze zwischen popolo und grandi auszugleichen, nicht darüber hinwegtäuschen,
dass Machiavelli die ordini in erster Linie personalistisch versteht; eher im Sinne einer
gelungenen politischen Lebensform der Einzelpersonen, als sittliche Konstitution des
Bürgers, mit Rousseau gesprochen als Normen, die ihren Sitz im Herzen und in der
Brust des Bürgers besitzen.62 Beispielsweise die Bereitschaft des Bürgers, in der Miliz
für das Gemeinwesen Dienst zu leisten, ist ein ordine, der die personalistische Note des
Begriffs verdeutlicht.63 Gleichermaßen zeigt sich dies in dem für Machiavellis Ord-
nungsdenken charakteristischen Begriffspaar von „materia“ und „forma“, das in seinen
Schriften häufig anzutreffen ist und der aristotelisch-scholastischen Philosophie ent-
stammt. Die gute Form des Gemeinwesens und der bürgerlichen Sitten wird durch die
ordini gestiftet und, angesichts ihrer naturnotwendigen Korruptionsanfälligkeit stabil
erhalten. Dieses Begriffspaar ist insgesamt typisch für die Dialektik von Ordnung/Blüte
und Unordnung/Verfall im Gemeinwesen, von anerzogener Tugend und natürlicher
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Korruption, die das Denken des Florentiners prägen.64 Machiavelli folgt somit dem ty-
pisch republikanischen Paradoxon, dass zur Schaffung guter Gesetze gute Sitten, zur
Erhaltung guter Sitten gute Gesetze erforderlich sind. Dass die ordini mit den leggi und
costituzioni nicht deckungsgleich sind, lässt sich in den Discorsi gut fassen.65 Diese Un-
terscheidung zwischen ordini und leggi ist Schmitts Unterscheidung zwischen der Sub-
stanz der Verfassung (die auf den politischen Grundentscheidungen eines Volkes fußt)
und der sich aus ihr ableitenden Verfassung als System kodifizierter Rechtsnormen ähn-
lich.66 Man beachte jedoch, dass Machiavelli bei der Entwicklung von Schmitts Verfas-
sungsverständnis keine Rolle spielt. Bestenfalls rückt er aufgrund des von ihm formu-
lierten Primats der Ordnung in den Blick.
Kehren wir zurück zur Figur des ordinatore: Machiavelli begreift den Akt der Grün-
dung von buoni ordini im Gemeinwesen als Leistung einer einzigen, in ihren Fähigkei-
ten überragenden Einzelfigur, in deren Händen für die Dauer des Gründungsaktes sämt-
liche politische Macht und Entscheidungsbefugnis gebündelt wird. Machiavelli grenzt
sich insofern scharf von jenen, für die Tradition politischen Denkens typischen Vorstel-
lungen vom Gründungsmoment im Gemeinwesen ab, die einerseits die religiös-
göttliche Inspiration und Legitimation der Ordnung akzentuieren oder aber die Grün-
64 Bezogen auf den sittlichen Zustand des Gemeinwesens macht Machiavelli vom Begriffspaar
„materia/forma“ bzw. vom Gedanken der Formgebung („imprimere la forma“) häufig Gebrauch:
„Prüft man weiter ihre [des Moses, Cyrus, Romulus, Theseus, S.S.] Taten und ihr Leben, so sieht
man, daß sie vom Glück [fortuna] nichts anderes erhalten hatten als die Gelegenheit [occasione];
diese bot ihnen den Stoff [materia], in den sie die Form [introdurvi…forma] prägen konnten, die ih-
nen vorschwebte“ (Machiavelli 1999, S. 43 = Principe VI); „Wenn sich also Rom in seiner Sitten-
verderbnis [corruzione] hätte frei erhalten wollen, so hätte es in gleicher Weise, wie es sich im Laufe
seiner Geschichte neue Gesetze [nuove leggi] gegeben hat, auch neue Staatseinrichtungen [nuovi
ordini] schaffen sollen; denn einem kranken Körper [suggetto cattivo] muß man andere Verhaltungs-
maßregeln und eine andere Lebensweise [altri ordini e modi di vivere] vorschreiben als einem ge-
sunden, und nicht jede Form [forma] taugt für jeden gleichwie gearteten Stoff [materia]“ (Machia-
velli 1977, S. 66 = Discorsi I/18); vgl. ebd., S. 313 = III/8.
65 „Wie nämlich zur Erhaltung guter Sitten [costumi] Gesetze [leggi] nötig sind, so sind auch zur Be-
achtung der Gesetze gute Sitten erforderlich. Zudem sind Einrichtungen [ordini] und Gesetze [leggi],
die bei der Gründung eines Staatswesens, als die Menschen noch gut waren, geschaffen wurden, spä-
ter, wenn die Menschen schlecht geworden sind, nicht mehr passend. Und wenn sich auch die Geset-
ze [leggi] je nach den Ereignissen in einem Staat ändern, so wandeln sich doch seine Einrichtungen
[ordini] nie oder nur selten. Deshalb genügen neue Gesetze [leggi] nicht, weil sie durch die Staats-
einrichtungen [ordini], die sich nicht ändern, ihre Wirkung verlieren“ (ebd., S. 64 = I/18); vgl. oben
das Zitat aus den Discorsi in Anm. 64.
66 Norbert Campagna definiert Schmitts Verfassungsverständnis folgendermaßen: „Die Verfassung ist
hier kein System von rechtlichen Normen, mittels derer man eine schon existierende Macht be-
schränken will. Sie ist vielmehr als das zu verstehen, was ein kollektives Subjekt als solches konsti-
tuiert. Sie ist also Form- und nicht Beschränkungsprinzip. Sie existiert im Modus des konkreten
Seins und nicht in demjenigen des abstrakten Sollens“ (Campagna 2004, S. 291). Ordnung als exis-
tentielle Grundlage der Verfassung(sordnung) werde verstanden als „Homogenität, als Überein-
stimmung aller bezüglich der fundamentalen Entscheidung hinsichtlich des politischen Seins der
Gemeinschaft“ (ebd.).
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dung als Werk eines Bürgerkollektivs oder gar als Leistung mehrerer Menschenge-
schlechter ansehen (etwa in Cicero, De republica, Buch II):
„Man muß es wohl als eine allgemeine Regel [regola generale] annehmen, daß niemals oder
nur selten ein Freistaat [republica] oder ein Königreich [regno] von Anfang an eine gute
Verfassung [ordinato bene] oder eine ganz neue [al tutto nuova], von den bestehenden Ein-
richtungen abweichende Form [fuora degli ordini vecchi] erhält, außer es geschieht durch
einen einzelnen Mann [ordinato da uno]. Dieser muß allein die Macht ausüben, und sein
Geist muß alle Einrichtungen des Staates bestimmen. Deshalb muß ein weiser Gesetzgeber
[prudente ordinatore], der die Absicht [animo] hat, nicht sich, sondern dem Allgemeinwohl
[bene comune], nicht seiner Nachkommenschaft, sondern dem gemeinsamen Vaterland
[patria] zu dienen, danach streben, die uneingeschränkte Macht [avere l’autorità, solo] zu
bekommen. Nie wird ein kluger Kopf einen Mann wegen einer außergewöhnlichen Hand-
lung [azione straordinaria] tadeln, die er begangen hat um ein Reich zu gründen oder einen
Freistaat zu konstituieren. Spricht auch die Tat [fatto] gegen ihn, so entschuldigt ihn doch
der Erfolg [effetto]. Und wenn dieser gut ist wie bei Romulus, so wird er ihn immer ent-
schuldigen. Denn nur wer Gewalt braucht um zu zerstören und nicht, wer sie braucht um
aufzubauen, verdient Tadel.“67
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dernis uneingeschränkter Macht des Ordnungsstifters und seiner negativen Anthropolo-
gie. Dass eine Herrschaftsperson moralisch und rechtlich verwerfliche Mittel für unei-
gennützige und gemeinwohlförderliche Zwecke wie die Schaffung von buoni ordini
einsetzt, erscheint Machiavelli unwahrscheinlich.70
3. Der ordinatore wird an der Qualität seines Werkes gemessen, daran, ob sich die von
ihm geschaffene Ordnung im Fluss der Zeit und angesichts der Korruptionsanfälligkeit
des Gemeinwesens und seiner Bürger widerständig zeigen wird. Für die Legitimität des
ordinatore ebenfalls essentiell ist, dass er nach Vollendung seines Werks und spätestens
mit seinem Ableben seine Herrschaftsposition aufgibt und auf eine dynastische Nach-
folge verzichtet.71 Machiavelli mag hier von Plutarchs Biographie des Lykurg beein-
flusst sein, der berichtet, dass der spartanische Verfassungsgeber nach Vollendung sei-
nes Werkes zu sterben beschloss und bis zu seinem Tod jegliche Nahrung verweigerte.
In dieser Forderung, die von Machiavellis Zeitgenossen und Discorsi-Kommentator
Francesco Guicciardini als restlos utopisch gebrandmarkt wurde, mag man bereits die
Unterscheidung von pouvoir constitué und pouvoir constitutive angelegt sehen, die auch
für Schmitts Begriff der Diktatur eine zentrale Bedeutung besitzt. Die Angewiesenheit
des ordinatore auf die Zustimmung des Volkes, die an die (implizite) demokratische
Zustimmungsbedürftigkeit des souveränen Diktators bei Schmitt erinnert, tritt am deut-
lichsten in Discorsi I/10 hervor: Machiavelli stellt den Herrscher in diesem Kapitel vor
die Wahl. Erweist er sich als Gründer und förderlicher Gestalter des Staates, egal ob es
sich um eine republica oder einen regno handelt, warten Akzeptanz und Stabilität in der
Gegenwart sowie ewiger posthumer Ruhm auf ihn. Tritt er hingegen als bloßer Gewalt-
herrscher und Verschlechterer der politischen Ordnung in Erscheinung, winken Unsi-
cherheit und Lebensgefahr im Hier und Jetzt sowie ewige Schande.72
Mit seinem Verständnis von Ordnung und ihrer Begründung durch die virtù, aber auch
durch die politische Macht eines Ordnungsstifters, dessen Werk sich am popolo orien-
tiert und der Beurteilung des popolo unterliegt, scheint Machiavelli für die Entstehung
70 „Da nun einerseits die Reorganisation der Verfassung [riordinare una città al vivere politico] einen
ausgezeichneten Mann [uomo buono] voraussetzt und andererseits die gewaltsame Eroberung [per
violenza] der Macht in einem Gemeinwesen einen schlechten Charakter [uomo cattivo] erfordert, so
wird äußerst selten der Fall eintreten, daß ein rechtschaffener Mann mit schlechten Mitteln [uno
buono per vie cattive] die Macht erobert, um einen guten Zweck damit zu verfolgen, oder daß ein
schlechter Mensch [uno reo], wenn er zur unumschränkten Macht im Staat gekommen ist, zum all-
gemeinen Besten handelt und die Absicht hat, die Macht gut anzuwenden, die er mit verwerflichen
Mitteln erobert hat“ (Machiavelli 1977, S. 67 = Discorsi I/18).
71 Machiavelli 1977, S. 36 = Discorsi I/9. Ist die Stiftung von Ordnung die Sache einer Einzelfigur, so
betrachtet Machiavelli andererseits die Erhaltung der neugegründeten Ordnung als Aufgabe eines
Bürgerkollektivs, s. ebd., S. 152 = Discorsi I/58. Auch Rousseaus législateur – in den Ausführungen
Rousseaus zum législateur ist die Lektüre Machiavellis beim Genfer Philosophen besonders deutlich
fassbar – findet keinen Eingang in die von ihm gestiftete Verfassungsordnung, s. Rousseau 1977, S.
44, Contrat Social II/7 und Kersting 2004.
72 Machiavelli 1977, S. 39-43.
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der souveränen Diktatur eine ähnliche Bedeutung zu besitzen wie Rousseau, die Schmitt
Machiavelli jedoch nicht zuspricht. Wie Schmitt bemerkt, ist Rousseaus Beitrag nicht so
sehr in seinem Kapitel zur Diktatur aus dem Contrat Social (IV/6) zu suchen, dort finde
man vor allem traditionalistische republikanische Rekapitulationen zur alten Diktatur,
sondern in einigen systematischen Innovationen seiner Staatstheorie: Etwa in der Auf-
fassung, dass die Souveränität des Staates ihren Sitz in der volonté générale habe oder
etwa mit der Annahme einer diktatorischen Gewalt, die die tugendhaften/aufgeklärten
Volkssubjekte über die unaufgeklärten Elemente im Volk ausüben („Zwang zur Frei-
heit“).73 Auch Schmitts Ausführungen zum législateur sind überaus aufschlussreich.
Der ohne jegliche Macht und Entscheidungsbefugnis und allein mit den Mitteln der re-
ligiösen Persuasion agierende Gesetzgeber Rousseaus bilde zwar in einer Hinsicht die
Antithese zum Diktator – wir haben gesehen, dass sich dies bei Machiavellis Ordnungs-
stiftern anders verhält, die in ihren Händen sämtliche Macht- und Entscheidungsbefug-
nisse bündeln. Obwohl Rousseaus machtloser Gesetzgeber sich antithetisch zur Diktatur
verhalte, verweise er aber dennoch auf die souveräne Diktatur als „pouvoir constituant“
und besitze eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Begriffs der Diktatur.74 Den in
diesem Zusammenhang erhellenden Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen
Machiavellis ordinatore und Rousseaus législateur ist Schmitt nicht nachgegangen.
Schlussbetrachtung
Es wäre verfehlt, Machiavellis Einfluss auf die Schmittsche Lehre von der Diktatur
ebenso wie Schmitts Verwendung Machiavellis bei der Entwicklung seiner souveräni-
täts- und staatstheoretischen Positionen eine allzu große Bedeutung beizumessen.
Schmitts Begegnungen mit Machiavelli sind flüchtig.75 Die Machiavelli-Lektüre
Schmitts ist zudem Principe-lastig, auch wenn er die Discorsi relativ gut kannte, wie
bereits seine Rekonstruktion von Machiavellis Verwendung des Begriffs „Diktatur“
73 Schmitt 2006, S. 114-123. „Stellt sich heraus, daß die Mehrheit der Korruption verfallen ist, so kann
die tugendhafte Minorität alle Gewaltmittel anwenden, um der vertu zum Siege zu verhelfen“ (ebd.,
S. 121).
74 „Der Legislator ist für Rousseau kein Kommissar. Nach dem Inhalt seiner Aufgabe ist er dasselbe
wie der für das 18. Jahrhundert typische Gesetzgeber, ein weiser und erhabener Mensch, dessen
„génie“ die Maschine des Staates montiert und in Gang bringt […] Der Inhalt der Tätigkeit des
Legislators ist Recht, aber ohne rechtliche Macht, machtloses Recht; die Diktatur ist Allmacht ohne
Gesetz, rechtlose Macht. Daß Rousseau sich dieser Antithese nicht bewußt war, macht sie nicht we-
niger bedeutungsvoll. […] Der Legislator ist nichts als noch nicht konstituiertes Recht, der Diktator
nichts als konstituierte Macht. Sobald sich eine Verbindung einstellt, die es ermöglicht, dem
Legislator die Macht des Diktators zu geben, einen diktatorischen Legislator und einen verfassung-
gebenden Diktator zu konstruieren, ist aus der kommissarischen die souveräne Diktatur geworden“
(ebd., S.126f.).
75 So betont auch Campagna, dass sich Schmitt nie wirklich systematisch mit Machiavelli befasst habe,
Campagna 2004, S. 12, vgl. Galli 2013.
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beweist. Eher als um eine systematische Auseinandersetzung, handelt es sich bei den
ausführlicheren Äußerungen Schmitts zu Machiavelli um eine Spiegelung Schmitts in
Machiavelli, die einer selbstrechtfertigenden Absicht dient. Die Beschäftigung mit dem
Florentiner in Die Diktatur ist allerdings hiervon auszunehmen. Schmitt möchte sich als
der missverstandene Machiavelli der Gegenwart verstanden wissen. Auch dort, wo
Schmitt insistiert, dass Machiavelli kein Machiavellist war, sondern ein Realist, der –
wie Schmitt selbst – auf der Grundlage einer negativen Einschätzung der menschlichen
Natur das Wesen des Politischen erkannte, so möchte er damit auch den Vorwurf des
„Machiavellismus“ abwehren, der im Ersten Weltkrieg seitens der westlichen Alliierten
Deutschland gemacht wurde.76 Diese propagandistische Semantik aus dem Krieg hallt
allerdings auf ähnliche Weise auch in Gerhard Ritters Kontrastierung von Morus und
Machiavelli, von insularem (englischem) Wohlfahrtsstaat und kontinentalem/machia-
vellistischen (deutschem) Machtstaat nach. Im Vergleich dazu spielen viele Äußerungen
Schmitts zu Hobbes zwar auch eine ähnliche selbstapologetische Rolle, allerdings ist
der englische Philosoph darüber hinaus der wichtigste systematische Referenzdenker
der Frühen Neuzeit für Schmitt. Es können drei Dimensionen der Machiavelli-Deutung
Schmitts unterschieden werden: 1. Die Deutung Machiavellis als Techniker der Macht
(v.a. in Die Diktatur von 1921), 2. die Deutung Machiavellis als Denker des Politischen,
dem vor allem in rezeptionsgeschichtlicher Hinsicht – nicht so sehr durch sein Werk –
Bedeutung zukomme, 3. das Bild vom menschlichen-missverstandenen Machiavel-
li=Schmitt (v.a. in Schmitts kurzer Schrift zu Machiavelli von 1927 und in späteren
Stellungnahmen zum Florentiner).77
Es lässt sich fragen, welcher Nutzen aus der Erkenntnis einer verpassten Chance für ei-
ne Begegnung Schmitts mit Machiavellis Verständnis von Ordnung und des Anfangs-
moments staatlicher Ordnungsbegründung zu ziehen ist. Schmitt erkennt zu Recht, dass
Machiavelli nie Verfassungstheoretiker und vielleicht nicht einmal Staatsdenker im en-
geren Sinne war.78 Machiavellis Bedeutung für das moderne Verfassungsdenken auf
unangemessene und anachronistische Weise zu übertreiben, ist zwar nicht zweckdien-
lich. Aus den vorangegangenen Überlegungen ergibt sich aber dennoch der Befund,
dass Schmitts Machiavellirezeption in dieser Hinsicht selektiv und reduktionistisch ist.
Schmitt hätte angesichts seiner Fragestellungen aus seinem Material, aus den Werken
Machiavellis, mehr machen können. Freilich ist Selektion und Reduktion in Rezepti-
76 „Wir erinnern uns der Weltpropaganda gegen den Macchiavellismus der Deutschen. Wer nach sol-
chen Erfahrungen heute den Principe liest, hat den Eindruck, einen ruhigen und verständigen Men-
schen zu hören, und fühlt, daß sich das Politische, das nun einmal ein unausrottbarer Teil der
menschlichen Natur ist, bei Macchiavelli von selbst versteht und noch nicht zum Diener anonymer
und unsichtbarer Mächte geworden ist“ (Schmitt 1995b, S. 104f.). Schmitt sieht sich selbst als Ver-
teidiger des Politischen gegenüber den entpolitisierenden Kräften der Moderne (den im vorliegenden
Zitat angesprochenen „anonymen und unsichtbaren Mächten“).
77 Diese Trias beruht auf Galli 2013, S. 134.
78 Vgl. die Beiträge in Knoll/Saracino 2010.
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onsvorgängen stets im Spiel. Schmitt betont den Techniker der Macht, den Realisten
und die tragische rezeptionsgeschichtliche Gestalt in Machiavelli. Seinen Republika-
nismus nimmt er – wenn auch am Rande – zur Kenntnis. Dies ist insofern von Belang,
als die Schmitt-Forschung neuerdings über die Möglichkeiten nachdenkt, Schmitt (und
vor allem einen Text wie Der Begriff des Politischen) dem Republikanismus zuzuord-
nen.79 Um nur zwei Beispiele zu nennen: Die Bestimmung des Politischen über die Po-
larität von Freund und Feind und als „äußersten Intensitätsgrad“ eines Gegensatzes zwi-
schen politischen Einheiten lässt sich mit dem neorepublikanischen Pathos der politi-
schen Identität des Bürgers verbinden. Die Identifikation des Bürgers mit dem Ge-
meinwesen und seine Aufopferungsbereitschaft werden der atomisierenden Auswirkung
der individualistischen Perspektive liberalen Denkens entgegengesetzt.80 Auch Schmitts
Kritik an der liberalen Neutralisierung des Politischen in der Polarität von Ethik und
Ökonomie (den „zwei heterogenen Sphären, […] von Ethik und Wirtschaft, Geist und
Geschäft, Bildung und Besitz“81) und seine Prognosen hinsichtlich einer Vereinnah-
mung des Politischen durch wirtschaftliche Interessen klingen aus der heutigen Perspek-
tive auf die Politik überaus aktuell und reizvoll. Man sollte allerdings nicht übersehen,
dass Schmitt diese Missstände aus der Perspektive seines autoritären, antiliberalen und
existenzialistischen Staats- und Ordnungsdenkens anprangert, wohingegen Machiavellis
Ordnungsdenken unter den Primat der republikanischen Freiheit gestellt wird. Machia-
velli und nicht Schmitt kommt deshalb als Referenzpunkt neorepublikanischen Denkens
inBetracht, das dem liberalen, individualistischen Freiheitsverständnis korrektiv zur Sei-
te gestellt werden kann und nicht dessen Stelle einnehmen oder gar das Primat der Frei-
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Der absolute Staat und die Ausnahme bei Jean Bodin
Norbert Campagna
Einleitung
Mit seinem zuerst 1576 erschienenen Werk Les six livres de la république hat Jean Bo-
din einen grundlegenden Beitrag zur Herausbildung des modernen Souveränitätsbegriffs
geliefert.1 Auch wenn Bodin noch nicht den Rahmen eines die göttlichen und natürli-
chen Gesetze als verbindliche Grenze der politischen Macht anerkennenden Staates ver-
lässt,2 so entbindet er doch größtenteils den Staat vom Respekt der allein durch mensch-
liches Recht begründeten Freiheiten, Privilegien oder Rechte, gleichgültig ob es sich
dabei um positive Gesetze oder um Gewohnheitsrecht handelt. Wie Carl Schmitt es,
Bodin kommentierend, in seiner Verfassungslehre formuliert:
„Der Souverän kann, wenn Zeit, Ort und individuelle Besonderheiten es erfordern, Gesetze
ändern und durchbrechen. Darin äußert sich eben seine Souveränität. Immer sind es Vor-
stellungen wie: Annullierung, Kassierung, Durchbrechung, Dispense und Aufhebung be-
stehender Gesetze und Rechte, von denen Bodinus in dem Kapitel über die Souveränität
(Kap. 8, Buch I) spricht“.3
Wir finden hier den Gedanken eines primär für das Allgemeinwohl zuständigen Staates,
der jede bestehende menschliche Norm – auch die von ihm selbst gesetzte – und jedes
bestehende Privileg vor dem Hintergrund dieser Zuständigkeit beurteilen muss. Dieser
Staat muss nicht unbedingt leugnen, dass bestimmte Städte oder Stände Privilegien ha-
ben, aber die bloße Existenz dieser Privilegien oder ihr Alter reichen noch nicht aus, um
ihnen Legitimität und damit auch Unantastbarkeit zu verleihen. Sobald die Ausübung
eines Vorrechts dem Allgemeinwohl im Wege steht, darf diese Ausübung eingeschränkt
werden, und wenn es erforderlich ist, darf auch das Vorrecht als solches abgeschafft
werden, wie altehrwürdig auch seine Abstammung sein mag und wie sehr seine unmit-
telbaren Nutznießer an ihm hängen. Hier gilt das aus dem Römischen Recht stammende
Gesetz: Salus populi suprema lex esto. Alle bestehenden menschlichen Institutionen –
und hierzu zählen auch positive Gesetze – sollten prinzipiell einzig und allein einem
Zweck dienen, nämlich der Förderung des Allgemeinwohls, wobei dieser Dienst direk-
ter oder indirekter Natur sein kann. Eine indirekte Förderung liegt etwa dann vor, wenn
eine bestehende Institution als Hindernis für die Ausübung einer potentiell gemeinwohl-
schädlichen Macht angesehen werden kann. Indem die Institution die Macht bremst,
trägt sie indirekt zum Schutz des Allgemeinwohls bei.
1 Erinnert sei an die Religionskriege die den historischen Kontext des Werkes bilden.
2 Zu diesen vormodernen Elementen im Denken Bodins, siehe Goyard-Fabre 1997, S. 97ff.
3 Schmitt 1993, S. 49.
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Im 18. Jahrhundert wird Montesquieu behaupten, dass die politische Freiheit nur dann
auf Dauer gewährleistet werden kann, wenn die Macht die Macht hindert oder bremst.4
Eine freie Verfassung wird dementsprechend das institutionelle Gefüge des Staates so
gestalten, dass es keiner Instanz innerhalb dieses Gefüges möglich ist zu handeln, ohne
die Zustimmung einer anderen Instanz erhalten zu haben. Wie Montesquieu es selbst
erwähnt, könnte man geneigt zu glauben, dass in einem solchen System alles stillsteht,
da die unterschiedlichen Instanzen sich gegenseitig lähmen. Der Autor meint dann al-
lerdings weiter: „Aber weil sie, wegen des notwendigen Laufs der Dinge, dazu gezwun-
gen sind sich zu bewegen, werden sie gezwungen sein zusammen in dieselbe Richtung
zu gehen“.5
Wir können uns hier nicht mit der Frage befassen, was die Natur dieses Zwanges ist.
Auf jeden Fall kann er nicht im Sinne eines naturgesetzlichen Zwanges verstanden wer-
den, da Montesquieu selbst zugibt, dass die Menschen einen freien Willen haben und
dass sie somit nicht immer den Gesetzen folgen, die ihrer Natur entsprechen.6 Und ein
bloßer Blick auf die politische Geschichte vieler Staaten lehrt uns, dass überall dort, wo
eine Zusammenarbeit verschiedener Stände oder ihre Zustimmung verlangt war, es
mehr als einmal zu einer unüberwindlichen Konfrontation kam. In vielen Fällen handel-
te es sich um finanzielle Fragen: Die Stände oder Städte waren nicht bereit, dem König
jene Summen zu gewähren die er verlangte, und von denen er behauptete – zu Recht
oder Unrecht, sei einmal dahin gestellt –, sie seien notwendig für die Förderung des
Allgemeinwohls. In einer solchen Situation gab es für den König zwei Möglichkeiten.
Entweder er gab nach, oder er setzte sich über die anderen Instanzen hinweg. Wo er
letztere Entscheidung traf, entbrach neben dem oft militärischen auch ein rhetorischer
Konflikt: Dem König wurde vorgeworfen, das Allgemeinwohl mit Füßen zu treten und
sich in einen Tyrannen zu verwandeln, und der König warf seinerseits seinen Gegnern
vor, das Allgemeinwohl auf dem Altar ihrer Privilegien, also ihres Partikularwohls, zu
opfern.
Im 16. Jahrhundert bildet sich der Gedanke eines sozusagen nationalen Gemeinwohls
heraus, das über dem Partikularwohl der Stände und Städte steht und in dessen Namen
Letztere gegebenenfalls missachtet werden können.7 Mit dieser Herausbildung findet
auch eine Entwicklung auf dem Gebiet der Ausnahme statt. Ein den Gedanken des All-
gemeinwohls behauptender Staat kann keine ungerechten Ausnahmen zulassen, da diese
dem Allgemeinwohl widersprechen oder es sogar gefährden können. Wie lassen sich
Im Vorwort seines Hauptwerkes weist Bodin auf den pädagogischen Zweck des Buches
hin, was u.a. auch erklärt, wieso das Buch auf Französisch verfasst wurde. Die im Staate
entstehende Unordnung ist laut Bodin nicht so sehr auf die Bosheit als auf die Unwis-
senheit der Menschen zurückzuführen. Dementsprechend gilt es, diese unwissenden
Menschen aufzuklären,10 wobei zwischen zwei Kategorien von Unwissenden zu unter-
scheiden ist.
8 Wo bisher galt, dass das vom König erlassene und – zumindest theoretisch – auf das Allgemeinwohl
zielende Gesetz kein Privileg außer Kraft setzen durfte, wird fortan gelten, dass die Privilegien vor
den auf das Allgemeinwohl zielenden Gesetzen weichen müssen. Wo der König dringend Geld
braucht, soll etwa das Steuerprivileg einer Ortschaft oder eines Standes keinen Bestand mehr haben.
9 Wobei allerdings auch gesagt werden muss, dass es im 16. Jahrhundert noch nicht um Individual-
rechte geht, sondern um Kollektivrechte, also von Rechten die einer bestimmten sozialen Gruppe –
einem Stand oder einer Staat – zukommen.
10 Sehr häufig wird gesagt, dass der absolute Staat der Frühen Neuzeit nur die Angst der Untertanen
vor ihm als Gehorsamsmotiv kennt. Dabei wird übersehen, dass Bodin, wie später auch Hobbes,
großen Wert auf die Erziehung der Menschen legt.
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Auf der einen Seite gibt es diejenigen, die glauben, dem Fürsten sei schlichtweg alles
erlaubt. Für sie besteht die Staatskunst oder -wissenschaft darin, dem Fürsten die
Schlauheit des Fuchses beizubringen. Bodin erwähnt in diesem Zusammenhang Ma-
chiavelli, dem er allerdings nicht bloß Unwissenheit, sondern Unglauben und Ungerech-
tigkeit vorwirft. Es scheint so zu sein, als ob Bodin zwar bereit ist, Machiavelli als einen
bösen Menschen zu betrachten, nicht aber diejenigen, die sich von Machiavellis Lehre –
oder was man dafür hielt – überzeugen lassen. Wenn man diesen Menschen zeigt, dass
Machiavelli Unrecht hat, dann werden sie sich von seinen Lehren entfernen und die
Prinzipien der wahren Staatswissenschaft, jener Fürstin aller Wissenschaften, akzeptie-
ren.
Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die glauben, dem Volk sei schlichtweg alles
erlaubt. Für sie besitzt das Volk eine absolute Freiheit in dem Sinne, dass es keiner ihm
übergeordneten politischen Macht unterworfen ist. Wo es einen König hat, der es re-
giert, darf dieser keine Entscheidungen ohne die Zustimmung des Volkes oder seiner
Vertreter treffen. In den Augen Bodins sind die Verteidiger dieser zweiten Position
noch gefährlicher als die der ersten, denn sie sind bereit, das Gemeinwesen in das Chaos
zu stürzen.
Bei diesen beiden entgegengesetzten Positionen geht es jedesmal um eine Ausnahme
bzw. um ein Ausnehmen. Für die Verteidiger der ersten Position soll der Fürst insofern
eine Ausnahme unter den Menschen bilden, als er im Gegensatz zu allen anderen Men-
schen vom Einhalten der natürlichen und göttlichen Gesetze ausgenommen ist. Gerade
darin sehen sie das Kennzeichen der eigentlichen Politik. So hat etwa Machiavelli in
den Discorsi behauptet, dass die für die Freiheit des Gemeinwesens kämpfenden Men-
schen keine Rücksicht auf irgendwelche normativen Vorgaben nehmen sollten, mögen
diese ihren Ursprung in der Religion, in der Moral oder in einer bestimmten Auffassung
des anständigen Lebens haben.11 Der für politische Zwecke kämpfende Mensch darf
sich aller zum Erfolg führenden Mittel bedienen, mag er auch dabei sein ewiges Seelen-
heil, seine moralische Integrität oder seinen guten Ruf opfern. Und im Weltbild Ma-
chiavellis finden wir keine notwendige Übereinstimmung zwischen den moralisch-
religiös zulässigen und den wirksamen Mitteln, denn bei Machiavelli wird das Weltge-
schehen nicht durch einen wohlwollenden und gerechten Gott gelenkt, sondern durch
die launische Göttin Fortuna.
Bodin zu Folge sind die Theoretiker der absolut ungebundenen Macht noch gefährlicher
als der absolute Fürst selbst, denn „sie zeigen dem Löwen seine Krallen und bewaffnen
11 „Wo man über das Heil der Heimat berät, darf Platz sein weder für das Gerechte noch das Ungerech-
te, noch für Mitleid, noch für das Grausame, noch für das Lobenswerte, noch für das Schändliche;
sondern, nachdem man alle anderen Gesichtspunkte hintangestellt hat, sollte man jenen Weg gehen,
der ihr das Leben rettet und sie in Freiheit bewahrt“ (Machiavelli 1992, S. 249).
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die Fürsten mit dem Schleier der Gerechtigkeit“.12 Sie geben, so könnte man sagen, dem
Fürsten ein gutes Gewissen, indem sie seine gegen das göttliche und natürliche Recht
verstoßenden Handlungen als Pflichten des Souveräns gegenüber dem Vaterland dar-
stellen.
Auch die Verteidiger der zweiten Position können als Menschen betrachtet werden, die
sich als Ausnahmen betrachten.13 In seiner Diskussion eines Volksstaates, d.h. eines
Staates, in dem das Volk die Souveränität besitzt, schreibt Bodin:
„[D]ie eigentliche Natur des Volkes besteht darin, volle Freiheit zu besitzen, ohne Bremse
und ohne Halt: und dass alle gleich seien, sowohl was die Güter, die Ehren, die Strafen, die
Belohnungen […]“.14
Wenn man, wie Bodin und die meisten Denker seiner Zeit, von einer hierarchisch orga-
nisierten Weltordnung ausgeht, die als normativ bindend für die Menschen angesehen
wird, dann kann die von den Anhängern der radikalen Demokratie verlangte Freiheit
und Gleichheit nur als Ausnahme –, als ein sich Ausnehmen – von dieser Weltordnung
betrachtet werden.15
Die Souveränitätslehre ist sicherlich das Kernstück von Bodins Six livres de la
république. Unter diesem Begriff der Republik versteht der Autor einen, um das franzö-
sische Original zu zitieren, „droit gouvernement de plusieurs mesnages, et de ce qui leur
est commun, avec puissance souveraine“.16 Eine Republik, also ein politisches Ge-
meinwesen, kann es zunächst einmal nur dort geben, wo sich mehrere Haushalte zu ei-
ner größeren Einheit zusammengeschlossen haben. Bodin zu Folge müssen sich zumin-
dest drei Haushalte zusammenschließen, damit man überhaupt von einem politischen
Gemeinwesen sprechen kann.17 Bei jedem dieser Haushalte lassen sich einerseits Inte-
18 Im französischen Original heißt es: „la puissance absoluë et perpetuelle d’une Republique“ (Bodin
1986, I, S. 179).
19 Bodin 1986, I, S. 183. Zur Diktaturfrage, siehe auch Schmitt 1994.
20 Bodin spricht von einem „lieutenant“, also wortwörtlich: jemand der den Ort besetzt, und zwar an
Stelle desjenigen, der ihn eigentlich besitzt.
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zen.21 Entscheidet ein solcher Stellvertreter ultra vires, dann haben seine Entscheidun-
gen keine bindende Kraft, solange sie nicht durch die Familienväter22 ratifiziert wurden.
Verdeutlichen wir diesen Unterschied an einem ganz konkreten Fall, der zugleich auch
das Problem der Ausnahme berührt. Prinzipiell, so Bodin, sollte der Fürst das Privatei-
gentum seiner Untertanen respektieren, da dieses Privateigentum in die Privatsphäre
fällt und die Regierungsmacht sich laut Definition bloß über das erstreckt, was den
Haushalten gemeinsam ist. Nun kann aber der Fall eintreten, dass das Gemeinwesen nur
dadurch bewahrt werden kann, dass der Fürst in das Privateigentum seiner Untertanen
eingreift, indem er etwa ein Gesetz erlässt, dass sie alle ihre metallenen Gegenstände
abgeben müssen, damit Kanonen geschmiedet werden können, ohne die der Feind das
Gemeinwesen erobern wird.23 In einem solchen Fall müsste ein bloß stellvertretender
Fürst zunächst die Erlaubnis der delegierenden Instanz bekommen. Im Gegensatz dazu
kann ein absoluter Fürst ohne eine solche Erlaubnis handeln. Dies sollte er allerdings
nur dann tun, wenn eine absolute Notwendigkeit besteht.
Für Bodin ist es wichtig darauf hinzuweisen, dass der absolute Fürst, wie er ihn konzi-
piert, zwar keinem anderen Menschen Untertan ist, dass er aber trotz seiner Machtfülle
immer noch ein Untertan Gottes bleibt. Die menschliche Souveränität ist somit in eine
sie radikal transzendierende Ordnung eingebettet, und auch wenn der Souverän sich
nicht vor seinen Untertanen zu verantworten hat, muss er sein Handeln vor Gott recht-
fertigen können. Wie Bodin ausdrücklich betont, erstreckt sich die Souveränität des
Monarchen nicht auf die göttlichen und natürlichen Gesetze. Wie jeder andere Mensch
auch, ist der Monarch den göttlichen und natürlichen Gesetzen unterworfen. Und nicht
nur diesen Gesetzen, wie Bodin es an einer Stelle kurz andeutet:
„[W]enn wir behaupten, dass derjenige die souveräne Macht besitzt, der gar keinem Gesetz
unterworfen ist, dann wird man niemanden auf Erden finden, der souverän ist: insofern alle
Fürsten der Erde den göttlichen und natürlichen Gesetzen unterworfen sind, und mehreren
menschlichen Gesetzen, die allen Völkern gemeinsam sind“24.
Als Jurist wird Bodin beim Erwähnen dieser menschlichen Gesetze wahrscheinlich an
das klassische ius gentium gedacht haben.25 Dieses ius gentium, wie wir es etwa bei den
26 Allerdings sind sich nicht alle Juristen einig. Während nämlich Tryphonius, Florentinus und Ulpian
einen Unterschied zwischen dem ius gentium und dem ius naturale machen, identifiziert Gaius sie.
Dazu Carlyle und Carlyle 1950, S. 37ff.
27 Zum Völkerrecht im modernen Sinn des Wortes wird das ius gentium erst im 17. Jahrhundert, auch
wenn man schon bei Vitoria erste Elemente einer solchen Auffassung finden kann. Zu Vitoria, siehe
etwa Campagna 2010.
28 Dazu etwa Spitz 1998, S. 80.
29 Bodin 1986, I, S. 215.
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Den eigentlichen Kern der Bodinschen Souveränitätslehre fasst folgende Behauptung
zusammen: „[D]er wichtigste Aspekt der souveränen Majestät und der absoluten Macht
liegt hauptsächlich darin, den Untertanen im allgemeinen Gesetze zu geben, ohne ihre
Zustimmung“30. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass der Fürst die Stände anhört,31 son-
dern nur, dass er auf ihre Zustimmung angewiesen ist, um bindende Gesetze zu erlas-
sen. Der absolute Fürst kann gültiges Recht auch ohne die Zustimmung der Stände
schaffen, und er kann sogar gültiges Recht schaffen, das gegen die Privilegien der Stän-
de oder sonstiger Körperschaften verstößt.
Welche Unterscheidungen den modernen Nationalstaat auch sonst noch von seinen
Vorgängern unterscheiden mögen, so besteht doch ein wichtiges Unterscheidungs-
merkmal darin, dass es im modernen Nationalstaat keine unabänderlichen Privilegien
gibt. Man spricht in ihm zwar noch manchmal von erworbenen Rechten, aber prinzipiell
stehen auch diese Rechte dem Gesetzgeber zur Disposition, wie alt und ehrwürdig sie
auch immer sein mögen.32
Zur Zeit Bodins war der Monarch mit zahlreichen Privilegien konfrontiert, die seinem
eigenmächtigen Handeln mehr oder weniger enge Grenzen setzten. Der Ursprung vieler
dieser Privilegien waren meist Entscheidungen seiner Vorgänger. Die Nutznießer der
Privilegien waren Provinzen, Städte, Stände oder gegebenenfalls sogar Familien, die es
irgendwann in der Vergangenheit geschafft hatten, einem Fürsten diese Privilegien ab-
zuringen. Ein Beispiel wäre hier die Magna Charta, durch die dem englischen Adel be-
stimmte Garantien gewährt wurden, etwa in Sachen Besteuerung.
In vielen Fällen wurden diese Privilegien durch einen Erlass zugestanden, der sich
selbst als „edict perpetuel et irrevocable“, also als ewig und unwiderruflich, bezeichne-
te, womit ganz klar zum Ausdruck gebracht werden sollte, dass es keiner Macht auf Er-
den gegeben war, den betreffenden Erlass und die in ihm enthaltenen Garantien abzu-
schaffen.33 Auch wenn Bodin sich nicht prinzipiell gegen die Präsenz der eben ange-
führten Formel in den Erlassen ausspricht, so spricht er ihr doch nur eine eher symboli-
sche Funktion zu. Durch diese Formel wird dem Erlass eine größere Autorität verliehen,
aber von einer wirklichen Unwiderruflichkeit kann keine Rede sein. Es kann in einem
„zerstören die souveräne Majestät, die doch heilig sein soll, und setzen sie herab, sie ver-
wandeln sie in eine Aristokratie oder in eine Demokratie: so kommt es denn auch vor, dass
der souveräne Monarch, wenn er sieht, dass man ihm das abnimmt, was ihm zukommt, und
dass man ihn den Gesetzen unterwerfen will, sich selbst am Ende nicht nur von den bürger-
lichen Gesetzen dispensiert, sondern auch von den göttlichen und natürlichen Gesetzen, da
er alle auf dieselbe Ebene stellt“.35
Prinzipiell gilt, dass der Fürst nicht durch die Erlasse seiner Vorgänger gebunden ist
und dass ihm auch kein Versprechen abverlangt werden kann, sich an diese Erlasse zu
halten. Ein solches Versprechen, wenn die Stände es dem Fürsten trotzdem abringen
würden, besäße keine bindende Kraft, denn seine Einhaltung könnte den Fürsten daran
hindern, eine Handlung auszuführen, die für die Bewahrung des Gemeinwohls wichtig
ist. Und die Bewahrung des Gemeinwohls ist die höchste Pflicht des Fürsten. Und wenn
er sich auch der Bewahrung oder Förderung des Partikularwohls annimmt, dann tut er
dies nur insofern, als das Partikularwohl zum Allgemeinwohl beiträgt. Wie Bodin be-
merkt, „die souveränen Fürsten im eigentlichen Sinne des Wortes versprechen nie, die
Gesetze ihrer Vorgänger einzuhalten, oder sie sind nicht souverän“36.
Um dem sich in diesem Kontext stellenden Problem zu entgehen, weist Bodin darauf
hin, dass ein Fürst eigentlich keine ewigen und unwiderruflichen Privilegien vergeben
sollte.37 Durch das Zugestehen unwiderruflicher Privilegien grenzt der Fürst nämlich die
Macht seiner Nachfolger ein, wozu er aber kein Recht hat. Insofern darf der Nachfolger
den Erlass widerrufen. Allerdings muss man hier zwischen zwei Ebenen unterscheiden,
und zwar einerseits der Ebene dessen, was dem Fürsten erlaubt ist, und andererseits der
Ebene dessen, was ratsam ist. Im Prinzip sollte der Fürst den status quo bewahren, es
sei denn, er hätte einen vernünftigen Grund, eine Ausnahme zu machen bzw. die beste-
hende Situation abzuschaffen und durch eine neue zu ersetzen. Bodin plädiert keines-
Wir hatten im zweiten Teil dieses Beitrags darauf hingewiesen, dass für Bodin mehrere
Normen des ius gentium dem Souverän nicht zur Disposition stehen. Um diesen Begriff
des ius gentium zu veranschaulichen und ihn vom Begriff des ius naturale abzugrenzen,
hatten wir die Institution der Sklaverei als Beispiel genommen.
Bodin selbst behandelt diese Institution im ersten Buch der Six livres, wobei er sie ver-
urteilt.38 Er verwirft alle Argumente, die gewöhnlich ins Feld geführt werden, um sie zu
legitimieren. In einem späteren Kapitel des ersten Buches kommt er noch einmal auf sie
zurück und schreibt dort:
„[W] enn das Recht der Völker unbillig ist, kann der Fürst in seinem eigenen Königreich
und durch seine Erlasse von ihm abweichen und seinen Untertanen verbieten, davon Ge-
brauch zu machen: so wie man es in diesem Königreich bezüglich des Sklavenrechts ge-
macht hat, und dies obwohl es allen Völkern gemein war, und er darf es auch in ähnlichen
Sachen tun, vorausgesetzt, er handelt dem göttlichen Recht nicht zuwider“.39
Die Tatsache, dass ein Gesetz mehreren, ja sogar allen Völkern gemeinsam ist, schließt
somit noch nicht das Recht des Fürsten aus, dieses Gesetz außer Kraft zu setzen, zu-
mindest was sein eigenes Königreich betrifft. Der französische König darf somit einen
Erlass verfassen, in dem er seinen Untertanen verbietet, Sklaven zu besitzen, und dies
obwohl, so wollen wir einmal voraussetzen, die Untertanen aller anderen Staaten das
Recht haben, Sklaven zu besitzen. Er darf sie also von einem Recht ausnehmen, das alle
anderen Menschen besitzen und das auch ein anerkannter Teil des ius gentium ist. Was
allen anderen Völkern erlaubt ist, muss deshalb nicht auch dem französischen Volk er-
laubt sein, denn über dem ius gentium steht das göttliche und das natürliche Recht, und
im Lichte dieser beiden Rechte ist die Sklaverei ungerecht.
Hier wird man vielleicht darauf hinweisen, dass Bodin kurz zuvor behauptet hatte, dass
trotz der absoluten Macht des Fürsten, „jedem der Besitz und das Eigentum seiner Güter
zukommt“,40 so dass also das Privateigentum dem Fürsten nicht zur Verfügung steht.41
Indem er die Sklaverei verbietet, enteignet der Fürst aber seine Untertanen, zumindest
diejenigen unter ihnen, die Sklaven hatten. Hierzu wäre zunächst zu sagen, dass nur ein
rechtmäßiger Besitz schützenswert ist, so dass der Fürst kein Unrecht begeht, wenn er
Schluss
Das politische Denken des Mittelalters kann, zumindest idealtypisch, als ein Denken des
status quo bezeichnet werden, und der Fürst wird dabei als Bewahrer dieses status quo
gesehen. Auf keinen Fall darf er eigenmächtig in die gegebene Rechtsordnung eingrei-
fen, auch nicht in Ausnahmefällen.
Der absolute Staat, wie er sich im 16. Jahrhundert herausbildet, behauptet für sich das
Recht, Ausnahmen zu machen und den gegebenen status quo auch ohne die Zustim-
mung der Stände oder Städte zu durchbrechen. Er versteht sich als eine Instanz, die das
Wohl der Allgemeinheit vertritt, und dieses Wohl steht über dem Partikularwohl der
Stände oder Städte. In diesem Beitrag habe ich versucht zu zeigen, wie Bodin versucht,
dem neuen absoluten Staat ein theoretisches Gerüst zu liefern. Dieses Gerüst muss zwei
Aufgaben gleichzeitig erfüllen, und zwar muss es einerseits die Ausnahmen von den
menschlichen Gesetzen rechtfertigen, und andererseits muss es zeigen, dass die göttli-
42 Bodin 1986, I, S. 201. Bodin sagt: „à son plaisir“. Von dieser Formel bzw. von der Variante „car tel
est notre bon plaisir“ hatte Bodin zuvor schon gesagt, dass der Fürst durch sie zu verstehen gibt, dass
die Gesetze ihre bindende Kraft für das Volk nicht schon dadurch erhalten, dass man gute Gerech-
tigkeitsgründe für sie anführen kann, sondern erst dadurch, dass der Fürst ihnen durch seinen Willen
eine bindende Kraft verleiht (Bodin 1986, I, S. 192).
43 Bodin 1986, I, S. 198.
44 Bodin 1986, I, S. 201.
56
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chen und natürlichen Gesetze ausnahmslos gelten. Wer Bodins Schriften sorgsam liest,
wird feststellen, dass das von ihm entwickelte theoretische Gerüst nicht frei von Wider-
sprüchen oder Inkohärenzen ist.45 Aber diesbezüglich ist er keine Ausnahme unter den
großen politischen Denkern, die vor der Aufgabe standen, einen epochalen Wechsel
theoretisch zu erfassen.46 Für diese Denker müssen die Notwendigkeiten der Gegenwart
mit den Garantien der Vergangenheit in Einklang gebracht werden. Und je drängender
die Notwendigkeiten sind, umso bereiter ist man, weitreichendere Ausnahmen bei der
Missachtung der Garantien der Vergangenheit zuzulassen.
Literatur
45 Viele Kommentatoren haben darauf hingewiesen, wie etwa Franklin 1973, Mansfield 1993,
Chevallier 1993 oder noch Mayer-Tasch 2000.
46 Zu dieser Position Bodins zwischen zwei Epochen, siehe Goyard-Fabre 1999, S. 24f.
57
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Der Leviathan zwischen „demokratischer“ Zähmung
und „totaler“ Entgrenzung.
Oliver Hidalgo
Noch vor wenigen Jahren zählte es zu den Moden der wissenschaftlichen Publizistik,
die Idee des souveränen Staates als Auslaufmodell abzustempeln. Angesichts der „post-
nationalen Konstellation“ (Habermas) des Politischen nach dem Zusammenbruch des
Warschauer Paktes sowie der augenscheinlichen Unmöglichkeit, mit den herkömmli-
chen staatlichen Institutionen angemessen auf die ökonomischen, ökologischen und po-
litischen Herausforderungen der Gegenwart zu reagieren, schien der „Abschied vom
Nationalstaat“1 nur mehr eine Frage der Zeit zu sein. Das „Regieren jenseits des Natio-
nalstaates“ wurde dabei nicht nur als (ambivalent bleibende) Notwendigkeit,2 sondern
mindestens ebenso als „Chance“3 begriffen, nicht zuletzt im Hinblick auf die sich ent-
wickelnden Formen von Global Governance oder gar einer Cosmopolitan Democracy.4
Als einer der Ersten, der die „Epoche der Staatlichkeit“ an ihrem „Ende“ wähnte (BP:
10),5 kann zweifelsohne Carl Schmitt gelten.6 Im Vorwort der Neuausgabe von Der Be-
griff des Politischen aus dem Jahr 1963 hatte Schmitt wie gewohnt pointiert formuliert:
„Der Staat als Modell der politischen Einheit, der Staat als der Träger des erstaunlichsten
aller Monopole, nämlich des Monopols der politischen Entscheidung, dieses Glanzstück eu-
ropäischer Form und occidentalen Rationalismus, wird entthront.“ (BP: 10)
Mit anderen Worten, das internationale System, in dem „nach innen geschlossen befrie-
dete“ politische Einheiten „nach außen geschlossen als Souverän gegenüber Souverä-
7 In dieser Hinsicht bereits der Band von Czempiel 1969, in dem aus eben jenem veränderten Verhält-
nis von Innen- und Außenpolitik der „Anachronismus“ des Souveränitätsgedankens abgeleitet wird.
8 Die Eskalationslogik des Partisanenkampfes entfaltet Schmitt zuvor am Anfang seiner Schrift. Da-
nach befinde sich der moderne Partisan grundsätzlich außerhalb der „Hegung“ des Krieges, insofern
er als irregulärer Akteur „vom Feind weder Recht noch Gnade“ erwarte. „Er hat sich von der kon-
ventionellen Feindschaft des gezähmten und gehegten Krieges abgewandt und in den Bereich einer
anderen, der wirklichen Feindschaft begeben, die sich durch Terror und Gegen-Terror bis zur Ver-
nichtung steigert.“ (TP: 17) Jener „Teufelskreis von Terror und Gegenterror“ resultiere aus dem Um-
stand, dass der Partisanenkampf schließlich auch die attackierten, staatlich-regulären Truppen infilt-
riere, insofern man „mit Partisanen … als Partisan kämpfen“ müsse (TP: 20). Am Ende der Ge-
waltspirale stehe der Wandel „vom wirklichen zum absoluten Feind“ (TP: 91ff.). Zur Unterschei-
dung zwischen konventionellem, wirklichem und absolutem Feind siehe auch BP: 17-19.
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„Solche Kriege (die sich als jeweils endgültig letzte Kriege der Menschheit ausgeben) sind notwen-
digerweise besonders intensive und unmenschliche Kriege, weil sie, über das Politische hinausge-
hend, den Feind gleichzeitig in moralischen und anderen Kategorien herabsetzen und zum un-
menschlichen Scheusal machen müssen, das nicht nur abgewehrt, sondern definitiv vernichtet wer-
den muss, also nicht mehr nur ein in seine Grenzen zurückzuweisender Feind ist. An der Möglichkeit
solcher Kriege zeigt sich aber besonders deutlich, dass der Krieg als reale Möglichkeit heute noch
vorhanden ist, worauf es für die Unterscheidung von Freund und Feind und für die Erkenntnis des
Politischen allein ankommt.“ (TP: 94, Anm. 52)9
Die Entgrenzung des Rechts und des Staates, welche die Intensität des Politischen in ei-
ne neue Dimension hinein steigert, evoziert demnach nach Schmitt gerade keine friedli-
che Weltordnung, sondern vielmehr eine Art weltweiten Bürgerkrieg (TP: 17).10 Im Ge-
genzug gerät auch wieder eine Kategorie ins Blickfeld, über deren „Entscheidung“ der
souveräne Staat sich ursprünglich definierte: der Ausnahmezustand.11 Hatte Schmitt
schon während der Weimarer Republik die „Tendenzen der modernen rechtsstaatlichen
Entwicklung“, sprich: des Liberalismus à la Kelsen oder Krabbe moniert, „den Souve-
rän in diesem Sinne zu beseitigen“ (PT: 14), scheint es jetzt nur umso folgerichtiger zu
sein, wenn – nach der endgültigen Verabschiedung des Ius Publicum Europaeum (NE:
Kap. IV) – auch die einstmalige „Überwindung des Bürgerkrieges durch den Krieg in
staatlicher Form“ (NE: 112-115) obsolet geworden ist. Nachdem der Staat – übrigens
ganz im Sinne der aktuellen Theorie des Liberalismus in den IB12 – von den pluralisti-
schen Gesellschaftsstrukturen vollständig durchdrungen ist und somit sein politisches
Entscheidungs- und Gewaltmonopol eingebüßt hat, ist die (festgestellte) Entfesselung
des Ausnahmezustandes in anderem Gewand nur eine allzu logische Konsequenz des
Schmittschen Denkens. Zu erinnern ist hier daran, dass Schmitt das Phänomen des tota-
len Krieges im Äußeren mit dem Bürgerkrieg im Inneren historisch aufs Engste verwo-
ben ansah (NE: 113).13 Nun, am Ende der staatlichen Epoche, das vom Sieg des Libera-
lismus/des liberalen Völkerrechts flankiert wird, ist nach Schmitt (wie schon im Begriff
des Politischen angemerkt) keineswegs die Überwindung von Krieg und politischen
Gegensätzen erreicht. Daran ändert es auch nichts, wenn das liberale Vokabular der
9 Im Original BP: 37. Siehe dort auch den „Hinweis“, dass dezidiert zwischen dem Feindbegriff, der
auf „Vernichtung“ und demjenigen, der auf „Abwehr“, Kräftemessen und „Gewinnung einer ge-
meinsamen Grenze“ aus ist, differenziert werden muss (BP: 119). Thematisch verbunden ist damit
ebenso die Studie über die Wendung zum diskriminierenden Kriegsbegriff (1938), die Suche nach ei-
nem neuen Nomos der Erde (1950) sowie die drei Corollarien, die der Neuausgabe von Der Begriff
des Politischen 1963 hinzugefügt wurden (BP: 97-115).
10 Der Partisan erweist sich in diesem Zusammenhang sowohl als alternativer Protagonist wie auch als
Antipode zu den universalistischen Bestrebungen, die Schmitt bereits in der Zeit der Weimarer Re-
publik mit dem völkerrechtlich abgestützten „Imperialismus“ der USA assoziierte (vgl. PB: 162-
180) – je nachdem, ob der Partisan als (offensiver) Akteur der (antiamerikanischen) Weltrevolution
oder aber als (defensiver) Widerstandskämpfer gegenüber der Interventionspolitik der USA bzw. der
Vereinten Nationen auftritt.
11 Hierzu selbstverständlich das berüchtigte Zitat aus der Politischen Theologie von 1922: „Souverän
ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ (PT: 13)
12 Siehe Moravcsik 1997.
13 Gemeint sind in erster Linie die Religionskriege der prä-westfälischen Ära.
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„Exekutionen, Sanktionen, Strafexpeditionen, Pazifizierungen“, der „internationalen
Polizei“ und „Maßnahmen zur Sicherung des Friedens“ sowie der Verpönung von Krieg
und Gewalt eben dies glaubend machen will (BP: 77).14 Stattdessen sei ein Rückfall in
die Logik des „Kreuzzuges“ zu verzeichnen, um auf Widerstände gegen die „mit Hilfe
ökonomischer Überlegenheit errungene imperiale politische Position“ zu reagieren
(BP: 77).
Es kann an dieser Stelle nicht unterbleiben, den skizzierten Diagnosen Schmitts15 ein
gehöriges Maß an Hellsichtigkeit zu attestieren. Seitdem die Rede von den Failing oder
Failed States angesichts der gescheiterten Staatenbildungsprozesse in der postkolonia-
listischen Ära in aller Munde ist und die „fragile Staatlichkeit“ abseits eines funktionie-
renden Gewaltmonopols offensichtlich das Gedeihen des transnational operierenden
Terrorismus begünstigt,16 scheint Schmitts Auffassung des globalen Staatenzerfalls die
politische Realität zu Beginn des 21. Jahrhunderts keinesfalls schlechter wiederzugeben
als die hoffnungsfrohe Erwartung der Global Democracy. Wenn man so will, hat
Schmitts Perspektive nicht nur die These von den „neuen“, asymmetrischen Kriegen im
Zeitalter der Globalisierung17 (die den Kriegen der Prämoderne auf vielfältige Weise
ähneln18) antizipiert, sondern auch die sich moralisch und rechtlich entgrenzenden Re-
aktionen der „liberalen“ Staaten im Spiegel seines Politikbegriffs erschreckend präzise
vorhergesagt. Begriffe wie der „Kreuzzug“ der Bush-Administration gegen den transna-
tionalen Terrorismus sowie die Herabsetzung des Feindes im Lager von Guantánamo
bzw. im Gefängnis von Abu Ghraib sind durchaus dazu angetan, Schmitts Thesen zu
unterfüttern.19 Das Gleiche gilt für die Kosmopolitismuskritik von Chantal Mouffe. Und
selbst Jürgen Habermas, dessen Weiterführung der Gedanken Kants zu einem liberalen
und interventionistischen Völkerrecht sich im Grunde rigoros vom Begriff des Politi-
schen abgrenzen will,20 räumt in seinen Argumentationsschritten21 explizit einen „wah-
ren Kern“ von Schmitts Einsichten ein. Implizit gibt er damit zu, dass Schmitts Gegen-
14 1932 ging Schmitt allerdings noch davon aus, dass das „Schicksal“ der Politik unausweichlich bleibt,
das heißt die oberflächlich bleibenden Entpolitisierungen durch die „liberale Ideologie“ den Staat als
solches nicht „ausrotten“ werden (BP: 76f.).
15 Im Jahr 1963 handelte sich im Zweifelsfall natürlich noch eher um eine Prognose (vgl.
Llanque/Münkler 2003, S. 19).
16 Vgl. Schneckener 2004.
17 Siehe v. a. Kaldor 2000 und Münkler 2002.
18 Dazu Beyrau/Hochgeschwender/Langewiesche 2007, insb. S. 14f.
19 Siehe dafür z. B. Norris 2005, Scheuerman 2006 und Hidalgo 2008.
20 Vgl. Habermas 1999a, S. 226ff.
21 Als da wären erstens der empirisch zu fundierende Zweifel an den Verdiensten des Jus Publicum
Europaeum für die Begrenzung des Krieges und die daraus resultierende Verteidigung des morali-
schen Universalismus sowie zweitens die (versuchte) Entlarvung des „Irrtums“, dass gegen die zuzu-
gebende „unheilvolle Wirkung“ einer „unvermittelten Moralisierung von Recht und Politik“ nur
die Säuberung der internationalen „Politik vom Recht“ und des „Rechts von der Moral“ etwas aus-
richten könne (Habermas 1999a, S. 227, 231, 233).
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position zur globalen Demokratie für deren Befürworter heute die eigentliche intellektu-
elle Herausforderung darstellt.22
Die Relevanz, die Schmitts Positionen im Hinblick auf die Internationalen Beziehungen
bzw. die globale Ordnung in den letzten Jahrzehnten erwachsen ist,23 führt – wie oben
angedeutet – vice versa dazu, dass auch die innenpolitischen Implikationen seiner
Schriften heute unvoreingenommener zu diskutieren sind, als dies in der Ära nach 1945
der Fall war.
Als Autor, der auf die Verwobenheit der inneren und äußeren Dimension von Schmitts
Politikbegriff konsequent rekurriert, ist vor allem Giorgio Agamben zu nennen. Dies
zeigt sich insbesondere daran, dass Agamben seine These vom Ausnahmezustand, der
sich „immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens“ erweise und sich „in
dieser Hinsicht als eine Schwelle der Unbestimmtheit zwischen Demokratie und Abso-
lutismus“ präsentiert, direkt von Schmitts konstatiertem „weltweiten Bürgerkrieg“ ab-
leitet.24 Es wird also unterstellt, dass die außenpolitischen Herausforderungen der Ge-
genwart ebenso die innenpolitischen Koordinaten massiv prägen oder verändern. Die
gleiche Perspektive – die außenpolitischen Determinanten provozieren radikale innen-
politische Konsequenzen – zeichnet bereits den Begriff des Politischen aus. Hier ist es
das „Pluriversum“ der Staatenwelt bzw. der politischen Einheiten (BP: 54-58), das von
der Staats- bzw. Politikgewalt „Fähigkeit“ und „Willen“ verlangt, „Freund und Feind zu
unterscheiden und nötigenfalls Krieg zu führen“ (BP: 38). Zugleich erfordert es, den
„inneren Feind“ zu bestimmen, weil die politische Kraft von Volksgruppen (die bis hin
zu Klassenkämpfen reicht) die kriegsfähige und -gewillte politische Einheit zu zerstören
22 Habermas 1999a, S. 233, 211, 220f. Dieser Gedanke ließe sich zur These erweitern, dass der Theo-
rienstreit in den IB in Zukunft zunehmend vom Gegensatz zwischen dem weltpolitischen Optimis-
mus Kants und dem Pessimismus bzw. politischen Existentialismus Schmitts geprägt sein wird. Da-
zu bereits Hidalgo 2012, S. 180, Anm. 33. Angesichts des realistischen Szenarios bevorstehender
Klimakriege (Welzer 2008) könnte das Ergebnis dieses Antagonismus dabei eher konträr zu den Re-
putationen Kants und Schmitts verlaufen. Wichtig wäre zudem die Einsicht, dass die aktuellen In-
strumentalisierungen Kants in Richtung eines liberalen Interventionismus (vgl. Téson 1992, Orend
2001) unfreiwillig eher der Schmittschen Logik Folge leisten, als Kants Gedankengebäude authen-
tisch wiederzugeben. Habermas selbst hypostasiert es richtigerweise als das eigentliche Merkmal des
Ewigen Friedens, sich Schmitts „Pointe des Weltbürgerrechts“ gerade zu verweigern, nämlich dass
letzteres „über die Köpfe der kollektiven Völkerrechtssubjekte hinweg auf die Stellung der individu-
ellen Rechtssubjekte durchgreift“ (Habermas 1999a, S. 210). Über Kant hinaus besteht Habermas
deshalb auf einer aktiven Politik des Menschenrechtsschutzes bis hin zu humanitären Interventionen,
wobei er die von Schmitt amalgamierten Begriffe „Bestialität“ und „Humanität“ auseinanderdividie-
ren will (siehe Habermas 1999a, S. 220 sowie BP: 55). Dazu auch Habermas 1999b. Inwieweit Ha-
bermas in seiner Einlassung auf die Schmittsche Terminologie damit allerdings wirklich den Kont-
rapunkt setzt, den er bezweckt, bleibt fraglich. Völlig unstrittig scheint hingegen, dass Schmitts
Vorwurf, auch Kant habe sich bereits eines Konzepts des liberalen Interventionismus bedient (NE:
140ff.), ins Leere geht. Zur Identifikation Kants als unmissverständlichen Gegner des bellum iustum
siehe Hidalgo 2012, S. 170-182.
23 Für einen Überblick siehe Odysseos/Petito 2007.
24 Agamben 2004, S. 9.
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vermag (BP: 46, 38). Eine politische Einheit, die „souverän“ über den „maßgebenden
Fall, auch wenn es der Ausnahmefall ist“, entscheidet (BP: 39), existiert wiederum le-
diglich aufgrund der Voraussetzung, dass es „die reale Möglichkeit des Feindes und
damit eine andere koexistierende, politische Einheit gibt“ (BP: 54). Ohne die Bedro-
hung durch den Feind – so könnte man sagen – haben Gruppen gar nicht die Kraft, sich
zu Staaten oder politischen Einheiten zusammenzuschließen. Aus dem gleichen Grund
ist ein „Volk“, das „nicht mehr die Kraft oder den Willen hat, sich in der Sphäre des Po-
litischen zu halten“, das heißt seine Feinde zu definieren und sich ihrer zu erwehren,
auch nicht imstande, das Politische zu eliminieren, sondern als politische Entität selbst
dem Untergang geweiht (BP: 54).
Jene folgenschwere Interdependenz zwischen Innen und Außen erklärt überdies, wes-
halb Schmitt so rigoros gegen die pluralistische Staatslehre des Liberalismus und deren
Aufweichung des Souveränitätsbegriffs polemisiert (BP: 40-45). Weil es der Pluralis-
mus zwischen den (äußeren) Feinden ist, der die politischen Einheiten erst schafft,
kann ein Pluralismus innerhalb der politischen Einheit für ihn nur deren Zerstörung
nach sich ziehen. Das Aufhören der „einen“ politischen „Gemeinschaft“, die Intensität
von „politischen“ Gegensätzen im Inneren raubt der politischen Einheit das Vermögen,
in der außenpolitischen Arena zu bestehen, das heißt für andere politische Entitäten
noch „Feind“ zu sein (BP: 45). Hier liegt auch der tiefere Grund dafür verborgen, wes-
halb sich die politische Einheit über die souveräne Entscheidung des Ausnahmezustan-
des konstituiert (PT: 13). In ihrem Inneren muss „vollständige Befriedung“ (BP: 46)
und Monopolisierung der politischen Gewalt herrschen, da allein diese beiden Merkma-
le den Willen und die Fähigkeit zur Definition der äußeren Feinde implizieren.
In die Radikalität von Schmitts Politik- und Staatsbegriff, der den Rechtsstaat und die
Geltung von Rechtsnormen von der vorherigen Dezision des Ausnahmezustandes ab-
hängig macht (BP: 46), ist die kompromisslose Ablehnung der liberalen Rechtstheorie25
also bereits eingelassen. Seine Haltung folgt unmissverständlich aus der Überzeugung,
dass die Idee des liberalen Pluralismus für gar nichts anderes steht als die Unterhöhlung
der Existenz von politischen „Einheiten“. Des Weiteren moniert Schmitt auf der interna-
tionalen Ebene die Tendenz, dass die liberalen Auflösungserscheinungen des Staates die
Chance auf eine Hegung oder Verrechtlichung der unvermeidlichen Möglichkeit des
Krieges verspielen und zunehmend für eine Irregularität politischer Auseinanderset-
zungen sorgen.
In diesem Zusammenhang ist es müßig, über das wahre Motiv von Schmitts Positionie-
rung zu spekulieren. Spiegeln die Bedenken gegen die destruktiven Kräfte des Libera-
lismus eine „echte“ Sorge wider oder doch nur eine kaum verhohlene „bellizistische
Die materiale Grundlage der Hobbesschen Staatstheorie ist ein Tauschgeschäft, das der
Autor des Leviathan den rationalen Vertragspartnern vorschlägt: Um sicher und behag-
lich leben zu können, sollen alle Individuen die allumfassende, bedrohliche Freiheit –
ihr ius in omnium – im anarchischen Naturzustand aufgeben (Lev. XIII: 95-97, XIV: 99)
und gegen die vom Staat gewährten Residuen der Freiheit einwechseln (Lev. XIII: 96,
XVII: 131). Obwohl Hobbes damit den autonomen Bereich der Individuen drastisch be-
schränken will, bilden die natürliche Freiheit und das Recht des Einzelnen nicht weniger
als den Ausgangspunkt seiner staatsphilosophischen Deduktionen. Im Staatszustand
bleibt das Individuum dann zumindest frei in allen Belangen, die der Souverän nicht zu
regeln beansprucht, und kann sich dort ungehindert entfalten (Lev. XXI: 165). Die be-
rühmte Formel, die Hobbes zur Illustration für diesen Sachverhalt findet, lautet, dass die
Freiheit des Bürgers im Staat im „Schweigen der Gesetze“ liegt (Lev. XXI: 170).
Selbst dieser begrenzte, vom Staat sanktionierte Freiraum steht allerdings unter dem
permanenten Vorbehalt des Souveräns, insofern dessen Autorität nicht nur die – im Sin-
ne Isaiah Berlins – negative Freiheit der Untertanen definiert, sondern letztere auch je-
derzeit zugunsten des primordialen Staatszwecks – der Bewahrung von Sicherheit und
Frieden – beschneiden oder aufheben kann. Der dahinter stehenden Paradoxie Rech-
nung tragend, könnte man demnach sagen, dass Hobbes den Bürgern ein Leben in Ruhe
und Sicherheit nur für den Fall in Aussicht stellt, dass deren neu gewonnene, reale Frei-
heit im Staat ihrerseits stets unsicher, das heißt der Willkür des Souveräns ausgesetzt
ist. Zu diesem Zugeständnis drängt der Leviathan die ihn autorisierenden Vertragspart-
ner, weil nach Hobbes das Recht und die Freiheit des Einzelnen der Sicherheit und Sta-
bilität des politischen Körpers stets untergeordnet sein müssen, damit der Staat durch
nichts und niemanden daran gehindert wird, die notwendigen Maßnahmen und Vorkeh-
rungen zum Schutz aller Untertanen zu ergreifen.
Auffällig ist, dass das von Hobbes forcierte Tauschgeschäft zwischen Freiheit und Si-
cherheit sowie der Konflikt zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft in den
Grundzügen zentrale Wesensmerkmale des sich später etablierenden demokratischen
Rechtsstaates aufweisen. Dass eine ungeregelte Freiheit des Einzelnen nicht im Interes-
se der Allgemeinheit liegt und die das Kollektiv repräsentierende Gewalt (welche bei
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Hobbes identisch mit dem Souverän ist) deswegen das Ausmaß der bürgerlichen Frei-
heit bestimmt, die mit der Sicherheit und Stabilität des Gemeinwesens kompatibel ist,
zählt zu den Chiffren, mit denen der Leviathan das heutige Staatsverständnis antizipiert
hat. Wie Hobbes es beschreibt, ist das Gesetz dabei als „künstliche Kette“ (Lev. XXI:
164) aufzufassen, die die Handlungen der Individuen lenkt und ihren Freiraum be-
schneidet sowie zugleich den freien Willen des Kollektivs repräsentiert. Das positive
Gesetz fungiert dadurch ebenso als Voraussetzung einer Freiheit, die die Freiheiten aller
Bürger aufeinander abstimmt.
Grenzen im Vergleich zum demokratischen Rechtsstaat besitzt der Leviathan hingegen
darin, dass Hobbes (für den die Idee der repräsentativen Demokratie noch nicht vor-
stellbar war, vgl. Lev. XIX: 145, 150-152) das Gesetz als Ausdruck der Autorität des
Souveräns verortete und letztere gerade von jeglicher Beteiligungs- oder Kontrollmög-
lichkeit durch das Volk abschneiden wollte. Das „Volk“ erscheint bei Hobbes nicht
einmal als handlungsfähige Entität. Stattdessen kann sich eine Menge von Individuen
nur unter der Bedingung zu einem politischen Körper zusammenschließen, wenn sie
„von einem Menschen oder einer Person vertreten wird“ (Lev. XVI: 125), weshalb die
ursprüngliche Zustimmung zum Staats- und Herrschaftsvertrag, sprich: die Herstellung
der politischen „Einheit“ mit dem Verzicht auf Selbstregierung und die Autorisierung
aller (künftigen) Handlungen des Souveräns zusammenfällt (Lev. XVII: 134). 28 Dass
unter diesen Vorzeichen das kollektive Interesse an der Sicherheit das individuelle
Recht auf Freiheit absorbiert, kann kaum noch überraschen.
Hobbes’ kontraktualistisches Argument, das er im Kapitel XVIII des Leviathan entfal-
tet, läuft zentral darauf hinaus, dass die Menge der Individuen ihren Vertreter, den Sou-
verän, freiwillig mit allumfassender Verfügungsgewalt ausstattet. Entsprechend existiert
bei Hobbes das Volk gar nicht als eine Rechtsperson, die bei Verfehlungen der Staats-
gewalt die Herrschaft in andere Hände legen könnte. Und indem die Vertragspartner de
facto alle Handlungen des Souveräns als eigene anerkennen müssen, kennt Hobbes’
Konstruktion nicht einmal ein Unrecht des souveränen Staates gegen die Untertanen
und ihre Freiheit (Lev. XVIII: 139). Der Zähmungsversuch, den John Locke ein paar
Jahrzehnte später gegenüber dem Leviathan unternimmt, ist daher primär darauf ausge-
richtet, die von Hobbes forcierte unumschränkte Autorisierung des Leviathan in ein
Vertrauensverhältnis (trust) zwischen dem Volk und seiner Regierung umzuwandeln.
Dazu wird nicht nur die Gewährleistung von Leben, Freiheit und Eigentum als oberster
Staatszweck festgelegt, um im Anschluss einen kontinuierlichen Maßstab für das Regie-
rungshandeln zu besitzen und den individuellen Verzicht auf Freiheit dauerhaft zu legi-
28 Dass die Souveränität beim Volk selbst liegen könnte, ist bei Hobbes zwar eine theoretische Option
(Lev. XIX: 146), wird danach jedoch aus politisch-praktischen Erwägungen im Hinblick auf die
mangelnde „Eignung“ der Volksgewalt zur Erreichung von Frieden und Sicherheit verworfen (Lev.
XIX: 146-154).
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timieren (ST §§ 87, 123-131), sondern ebenso die Aufteilung und gegenseitige Kontrol-
le von Legislative und Exekutive vorangetrieben (ST §§ 143-148).29 Insbesondere aber
unterscheidet Locke zwischen der Auflösung der Regierung (durch einschlägige Ver-
fehlungen bzw. den allgemeinen Vertrauensmissbrauch durch Exekutive und Legislati-
ve oder auch durch einen äußeren Umsturz, ST §§ 212-219, 221) und der Auflösung der
politischen Gesellschaft (ST § 211). Was Hobbes kongruent hält, treibt Locke auseinan-
der, um das Volk qua Widerstandsrecht als juridische Letztinstanz der politischen Aus-
gestaltung des Gemeinwesens zu installieren (ST § 220, 222-243). Schon zuvor ist der
demokratische Gehalt seiner Modifikation des Leviathan erkennbar, nämlich dann,
wenn er das Mehrheitsprinzip zur Lenkung des gegründeten politischen Körpers fordert
(ST §§ 95-99). Nicht zufällig ist dies auch die einzige Stelle, an der Locke sich explizit
auf den Hobbesschen Leviathan bezieht (ST § 98: 261). Dies macht zugleich evident,
dass Hobbes (trotz der ausführlichen Ablehnung des Staatsabsolutismus Robert Filmers
im First Treatise) die eigentliche theoretische Herausforderung der Schrift bezeichnet.
Bemerkenswerterweise folgt Locke seinem Vorgänger bis dahin, dass die Entstehung
der „politischen Gesellschaft“ als Form eines „behaglichen, sicheren und friedlichen
Miteinanderlebens“ von der Schaffung eines „einzigen“ und „mächtigen“ „politischen
Körpers“ abhängt, welcher „das Recht hat, zu handeln“ und alle Bürger
„mitzuverpflichten“ (ST § 95: 260, § 98: 261). Im Gegensatz zu Hobbes’ Plädoyer für
die Willenseinheit (Quis iudicabit?) in der Monarchie (Lev. XIX) beharrt Locke jedoch
darauf, dass Macht und Durchsetzungsstärke dieses „Leviathan“ gerade dem geschuldet
sind, dass das Mehrheitsprinzip im unvermeidlichen Aufeinanderprallen von „unter-
schiedlichen Meinungen und … gegensätzlichen Interessen“ eine Methode der Be-
schlussfassung vorgibt, die die virulenten Kräfte in die politischen Gesellschaft inte-
griert, anstatt den Willen des (repräsentierenden) Souveräns fälschlich mit der Zustim-
mung Aller gleichzusetzen (ST § 98: 261). Wovor Hobbes Angst hatte, dass die Debat-
ten in politischen Versammlungen nur Streit und Bürgerkrieg provozieren, avanciert bei
Locke also zum eigentlichen Geheimnis politischer Stabilität.
Mit jener demokratischen Zähmung des Leviathan verbunden war entsprechend die
Verlängerung der bereits vom Hobbesschen Staat sanktionierten Privatfreiheit in Rich-
tung politischer Partizipationsrechte. Im Gefolge von Locke und seinen liberalen Epi-
gonen etablierte sich somit ein Denken, das die mittelbare Beteiligung der Bürger an der
Staatsgewalt als beste Garantie dafür interpretierte, dass die erlassenen Gesetze ihren
Freiheitsraum nur in einer für sie „vertretbaren“ Weise beschneiden.
29 Von Locke und der konstitutionellen Monarchie in England lässt sich sodann die ideengeschichtliche
Weiterentwicklung zu Montesquieus Teilung der legislativen, exekutiven und judikativen Gewalt
(EL XI 6) sowie zum Ideal der checks and balances bei den Federalists verfolgen (FP XLVII: 292-
294, LI: 314).
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Andererseits sollte man nicht übersehen, wie intakt sich das ursprüngliche Hobbessche
Tauschgeschäft zwischen Sicherheit und Freiheit selbst nach der liberalen Entschärfung
durch Locke (sowie später durch Montesquieu, die Federalists oder auch Kant) präsen-
tiert: Volkssouveränität und politische Mitsprache, Gewaltenteilung und Abberufbarkeit
der Regierung richten sich grundsätzlich auch im demokratischen Rechtsstaat nicht da-
gegen, dass Autonomie und Selbstbestimmung des Einzelnen dort eine Grenze erfahren,
sobald das kollektive Sicherheitsbedürfnis berührt ist. Dabei ist es wichtig, zu betonen,
dass Hobbes seine politische Argumentation für die Autokratie (und gegen eine souve-
räne demokratische Versammlung bzw. eine Mischform der Regierung) allein deswegen
unternahm, weil ihm eine alternative Herstellung von Frieden und Sicherheit undenkbar
erschien (Lev. XVIII: 140, XIX: 146). Vor dem Hintergrund der (heute kaum noch zu
bestreitenden) Tatsache, dass der demokratische Rechtsstaat das Sicherheitsbedürfnis
seiner Bürger im Normalfall jedoch sehr wohl zu stillen vermag, wäre deswegen danach
zu fragen, woran Hobbes’ Theorie selbst unter den gegenwärtigen Bedingungen apodik-
tisch festhalten müsste. Die Antwort darauf ist zwar bis zu einem gewissen Grad speku-
lativ, drängt sich aber andererseits regelrecht auf: Was der Leviathan zuvorderst be-
zweckte, war, dem Staat unter allen Umständen den Vorbehalt einzuräumen, wirklich
alles unternehmen zu können, was er als notwendig für die Erhaltung des inneren Frie-
dens und der Sicherheit nach außen definiert. Den Bürgern umgekehrt das unter dieser
Prämisse größtmögliche Maß an Freiheit zu gestatten, müsste Hobbes’ Zielvorstellung
also nicht unbedingt widersprechen. Daran ändert es auch nichts, wenn sich historisch
im demokratischen Rechtsstaat ein weit größerer privater und politischer Autonomiebe-
reich entfalten konnte, als er Hobbes seinerzeit vorschwebte.30
Im Ergebnis lässt sich daraus folgern, dass sich aktuell nur der Geltungsbereich des Le-
viathan verschoben hat. Damit der Staat der ihm im Hobbesschen Sinne übertragenen
(und von Locke und seinen liberalen Nachfolgern bestätigten) Aufgabe, für ein „behag-
liches, sicheres und friedliches Miteinander“ zu sorgen (ST § 95: 260), trotz eines ge-
wachsenen Freiheitsraumes der Bürger unverändert nachkommen kann, wird ihm in der
europäischen Verfassungstradition entweder explizit oder implizit das Recht zugestan-
den, im Notfall bzw. im „Ausnahmezustand“ alle erforderlichen Maßnahmen dazu er-
greifen zu können.31 Davon betroffen sind u. a. massive Einschränkungen von bürgerli-
chen Grundrechten bis hin zur wenigstens temporären Aussetzung demokratischer Ent-
scheidungsprozeduren, um den jeweiligen Exekutiven qua kurzfristiger Machterweite-
rung die nötigen Handlungsspielräume zu verschaffen. Mithilfe eines Widerstands-
rechts, wie es etwa Art. 20 Abs. 4 des Grundgesetzes vorsieht, soll im Gegenzug ver-
30 Siehe dazu vor allem das Kapitel XXI des Leviathan „Von der Freiheit der Untertanen“.
31 In dieser Hinsicht wären konkrete Notstandsverordnungen und -gesetze, wie sie vor allem in Frank-
reich und Deutschland existieren, von Ländern wie Italien, der Schweiz, England oder auch den
USA zu unterscheiden, die den Umfang der im „Ausnahmezustand“ als legitim geltenden (Gegen-)
Maßnahmen „legal“ unterbestimmt lassen. Dazu Agamben 2004, S. 17.
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hindert werden, dass der Notstand am Ende der Abschaffung der Verfassung Vorschub
leistet.
Mit Hilfe der Rechts- und Denkfigur des Ausnahmezustandes bleibt eine Rückkehr zur
Logik des Leviathan folgerichtig stets im Bereich des Möglichen und sichert den im
Normalfall gewährten Freiheitsraum eigentlich erst ab. Nur weil der Staat im Notfall
seinen (Hobbesschen) Vorbehalt über das Ausmaß bzw. die Begrenzung der Freiheit zu-
rück erhält, wirkt der Zähmungsvorgang der souveränen Staatsgewalt, den Locke und
die Liberalen angestrengt haben, ebenso wünschenswert wie unbedenklich. Nur weil der
demokratische Rechtsstaat im Ausnahmezustand an die verfassungsrechtlich verbrieften
Freiheitsrechte nicht sklavisch gebunden ist, kann er diese Rechte überhaupt gewähren.
Jene Konstruktion kann sich deswegen gewiss sein, von der (mehrheitlichen) Zustim-
mung der Bürger bzw. des Volkes legitimiert zu werden. In dem Moment, in dem das
Überleben des Staates in Frage steht und etwa ein Bürgerkrieg zu verhindern ist, ge-
winnt das Argument von Hobbes gegenüber seiner regulären Entschärfung durch den
Liberalismus seine Überzeugungskraft zurück. Der Verfasser des Leviathan wäre mit
einer derartigen Fortschreibung seines Staatsentwurfs – im Normalfall gezähmt, im
Ernstfall restauriert – wahrscheinlich nicht einmal unzufrieden gewesen, hätte er die his-
torische Konsolidierung des demokratischen Rechtsstaates erlebt. Wer sich hingegen
aufs Äußerste unversöhnlich gegenüber der liberalen Fassung des Leviathan zeigte
(weil er dahinter den schleichenden Verlust der Kraft und des Willens vermutete, den
Ausnahmefall wirklich noch zu entscheiden), war ein anderer: Carl Schmitt.
Schmitts Analyse der Hobbesschen Denk- und Begründungsmuster, die er in Der Levia-
than in der Staatslehre des Thomas Hobbes anstrengt, fällt dafür, dass es offensichtlich
große Parallelen in ihren Souveränitätslehren gibt,32 erstaunlich ambivalent aus. Am
klarsten kommt dieser Zwiespalt am Ende der Schrift zum Tragen, wo es heißt:
32 Siehe dazu vor allem eine Stelle in der Politischen Theologie, bei der Hobbes’ Autoritas non veritas
facit legem (Lev. XXVI) als beispielhaft für den von Schmitt verfochtenen Dezisionismus dargestellt
wird (PT: 39) – im Übrigen im strikten Gegensatz zu Lockes The Law gives Authority (PT: 38). Sie-
he auch den Hinweis zum Hobbes-Kristall (BP: 122), bei dem Schmitt dem Hobbesschen Credo der
Gesetz schaffenden Autorität sowie der daraus deduzierten Notwendigkeit einer (die Befehlsausfüh-
rung garantierenden) potestas directa zugleich die „Offenheit“ für die transzendente Wahrheit des
Christentums zubilligt. Die nötige Interpretation der Wahrheit (Quis interpretabitur?) fungiert hier
als eine Art Scharnier zwischen den Prinzipien der Veritas im religiösen und der Autoritas im politi-
schen Bereich. Zur Identifikation des Quis iudicabit? bzw. des Quis interpretabitur? als Zentrum der
politischen Lehre von Hobbes siehe auch den Rezensionsaufsatz Die vollendete Reformation. Zu
neuen Leviathan-Interpretationen (LSTH: 137-178).
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„Die von Hobbes geschaffenen geistigen Waffen haben seiner Sache nicht gedient. Die
Waffen aber sind, wie Hegel richtig sagt, das Wesen der Kämpfer selbst. Doch bleibt Hob-
bes auch in seinen Fehlschlägen ein unvergleichlicher politischer Lehrer. Es gibt keinen
zweiten Philosophen, dessen Begriffe soviel Wirkung, wenn auch zugleich soviel auf sei-
nen eigenen Gedanken zurückschlagende Fehlwirkung gehabt haben. Darin vollendet sich
seine für uns heute erkennbare und fortwährend fruchtbare Leistung, nämlich die des gro-
ßen Lehrers im Kampf gegen alle Arten der indirekten Gewalt.“ (LSTH: 131)
Was Schmitt Hobbes als „Fehlschlag“ vorhält, erschließt sich zunächst anhand des
Symbols des Leviathan selbst: Weil die Assoziation des Staates mit dem Seeungeheuer
aus dem Buch Hiob „in England seit 1660 dem monarchischen Absolutismus und damit
den Stuarts zugeordnet war“ (LSTH: 119f.), hing dem Entwurf alsbald der Verdacht an,
einen rückwärtsgewandten Staatsgedanken, ja geradezu das Gegenteil der sich entwi-
ckelnden britischen See- und Handelsmacht zu verkörpern.33 Darüber hinaus musste
nach Schmitt das Beschwören eines Symbols der Abschreckung, wie es Hobbes tat, um
„die Einheit des politischen Gemeinwesens“ als Vereinigung von „Gott, Mensch, Tier
und Maschine“ darzustellen, fast zwangsläufig intellektuellen Widerstand gegen die als
solche empfundene „naturwidrige Abnormität“ und „Ungeheuerlichkeit“ provozieren
(LSTH: 122f.). Das mythische Bild des Leviathan „überschattete“ entsprechend die
„klare Gedankenführung“ der Hobbesschen Staatskonstruktion und ermutigte dessen
Gegner bis zu dem Punkt, an dem das Seeungetüm schließlich „erlegt und ausgeweidet“
wurde (LSTH: 123f.).
Jener ideengeschichtliche Vorgang des gefangenen, an Land gezogenen und getöteten
Wals, der nicht zuletzt das Titelbild von Schmitts Schrift ziert, lässt sich unschwer als
das interpretieren, was wir oben als „Zähmung“ des Leviathan zum liberalen und demo-
kratischen Rechtsstaat beschrieben hatten. Für Schmitt bedeutete diese Art der Zäh-
mung eine unverhältnismäßige Beraubung der Kräfte und damit letztlich den „Tod“ der
Staatsmaschinerie. Dies erhellt nunmehr auch das eingangs dieses Abschnitts zitierte
Gesamturteil, das Schmitt seinem englischen Vorgänger widerfahren lässt: Der Levia-
than bedeutete sozusagen die eigentliche historische Chance des modernen Staates.
Durch seine Souveränität war nicht nur die Verhinderung des Bürgerkrieges nach innen,
sondern zugleich die Hegung des zwischenstaatlichen Krieges nach außen möglich ge-
worden, eben weil die „Einheit von Gott, Mensch, Tier und Maschine, die der Leviathan
des Hobbes darstellt“, die „totalste aller menschlich fassbaren Totalitäten“ bezeichnete
(LSTH: 124). Als der Leviathan jedoch daran scheiterte, sich als Staatsgedanke in der
33 Gepasst habe das Bild des „Leviathan“ allenfalls kurzfristig auf die Diktatur Cromwells und die von
diesem forcierte Verbindung zwischen zentralisiertem Staat und Seemacht (LSTH: 119). Auf dem
europäischen Kontinent konnte sich der Hobbessche Staatsgedanke hingegen zwar vor allem „im
französischen und preußischen Staat“ ausprägen, doch auch hier war das Bild des Seeungeheures auf
Dauer nicht geeignet, die dort „typisch territorialen Machtgestaltungen“ zu erfassen (LSTH: 119,
122).
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Geschichte zu behaupten, konnte am Ende nur die Auflösung der staatlichen Strukturen
im Ganzen erfolgen.
Schmitts Analyse des Untergangs des Hobbesschen Staates steht ergo in enger Verbin-
dung mit dem Untergang das Ius Publicum Europaeum sowie dem zu Beginn illustrier-
ten weltpolitischen Bürgerkrieg. Anspielungen auf die „angelsächsische Weltpropagan-
da“ sowie den vom früheren amerikanischen Präsidenten Wilson inszenierten „Kreuz-
zug der Demokratie“ (LSTH: 129) weisen hierauf explizit hin. Auch werkgeschichtlich
zeigt sich jene Verwobenheit von Innen- und Außenpolitik, indem das Hobbesbuch von
1938 eingerahmt wird von der Schrift Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interven-
tionsverbot für raumfremde Mächte (1937) sowie von einem Aufsatz über den Staat als
ein konkreter, an eine geschichtliche Epoche gebundener Begriff (1941).34
Für Schmitt hatte Hobbes seinen liberalen Häschern und (angeblichen) Missdeutern
freilich selbst die Einfallstore angeboten, die schließlich zur Zerstörung seines Staats-
entwurfs sowie zur Zerstörung des Staates insgesamt führten. Als prekär soll besonders
der „Angelpunkt der Staatskonstruktion des Hobbes“, nämlich die „Relation von Schutz
und Gehorsam“ entlarvt werden (LSTH: 113). Denn wo die Gehorsamspflicht gegen-
über dem Staat allgemein an das rationale Interesse der Bürger gebunden ist, dort droht
der „einheitliche Wille“ und der „einheitliche Geist“ (LSTH: 118) der staatlichen Orga-
nisation sukzessive unterhöhlt zu werden und schleicht sich das ein, was Hobbes im
Grunde eliminieren wollte: Heterogenität, Parteien, Pluralismus bis hin zu „unliberalen
Mächten“ (LSTH: 118), die den „konstitutionellen Rechts- und Verfassungsstaat“
(LSTH: 104), den Hobbes begründete und den seine liberalen Interpreten zum „positi-
vistischen Gesetzesstaat“ (LSTH: 118) weiterführten, für eigene Zwecke instrumentali-
sieren.35
Schmitts Lesart, die an die These von Leo Strauss erinnert, Hobbes sei der eigentliche
„Begründer“ des Liberalismus gewesen,36 bewertet die individuelle Rationalität der
Vertragspartner sowie die natürliche Freiheit des Einzelnen, auf denen der Leviathan
aufbaut, offensichtlich als dessen autoimmune Charakteristik. Hobbes’ „Unterscheidung
von Staat und individueller Freiheit“ (LSTH: 118) habe nicht nur einen gefährlichen
„Dualismus von Staat und staatsfreier Gesellschaft“ sowie einen „sozialen Pluralismus“
(LSTH: 117) hervorgebracht, sondern ermutigte andere Staatesdenker erst dazu, den
Freiraum von Individuum und Gesellschaft ständig zu vergrößern sowie dem Staat sei-
nen Macht- und Autoritätsumfang zu rauben.
Erschwerend kam für Schmitt hinzu, dass der Leviathan, der bekanntlich aus der Erfah-
rung der konfessionellen Bürgerkriege in England heraus konzipiert wurde, dezidiert
34 Siehe Anm. 6.
35 Hier spielt Schmitt im Zweifelsfall auf den Untergang der Weimarer Republik an.
36 Vgl. Strauss 1965, S. 182.
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von der individuellen Gewissensfreiheit ausgeht und deswegen seinen Fokus auf die äu-
ßere Konformität der Bürger mit den Entscheidungen des Souveräns reduziert. Eine in-
nere Distanz zum Staat wirkte dadurch grundsätzlich akzeptabel (Lev. XXXVII: 340)
und konnte schließlich in eine generelle Überlegenheit des Privaten gegenüber dem Po-
litischen münden (LSTH: 84-97). Dies antizipierte nach Schmitt nicht nur die besagte
Zähmung des souveränen Staates,37 sondern ebenso die Degeneration des technisch-
neutralen Befehlsmechanismus38 sowie den destruktiven Pluralismus der „indirekten
Gewalten“ (LSTH: 99-118).
Anders ausgedrückt, die Ausschlachtung der liberalen Grundmomente des Leviathan
besiegelte seinen Ruin. Als Totengräber aber hat Schmitt weit weniger Locke oder
Montesquieu im Visier, als vielmehr den „liberalen Juden“ Spinoza,39 der die „große
Einbruchstelle des modernen Liberalismus“ bzw. den „Todeskeim“ im Hobbesschen
Werk „sofort“ „erkannt“ habe (LSTH: 86). Mit Spinozas Theologisch-Politischem Trak-
tat sei daraufhin der ursprünglich „hintergründige Vorbehalt“ der individuellen Gedan-
ken- und Gewissensfreiheit bei Hobbes in den „formgebenden Grundsatz“ des Staates
verkehrt worden. Im Ergebnis sieht Schmitt die „Notwendigkeiten des öffentlichen
Friedens sowie das Recht der souveränen Staatsgewalt“ ihrerseits zu „bloßen Vorbehal-
ten“ verkommen (LSTH: 88).40 Neben Spinoza hätten später auch Moses Mendelssohn
(LSTH: 92ff.) und Julius Stahl (LSTH: 106-110) jene individualistische „jüdische Deu-
tung“ des Leviathan (LSTH: 124) vorangetrieben.41
Mit Spinozas Ausgehen von der individuellen Freiheit vollzog sich freilich auch eine
Denkbewegung, die Hobbes in seiner Furcht vor Chaos und Anarchie abwürgte (wie-
wohl er sie als theoretische Option generierte) und die Schmitt nicht ausreichend wür-
digt. Gemeint ist die Einsicht, dass eine (moderne) „demokratischen Regierung“ durch-
37 „Die Unterscheidungen von privat und öffentlich, Glaube und Bekenntnis, fides und confessio …
sind damit von Hobbes, AdV in einer Weise eingeführt, dass sich daraus im Laufe des folgenden
Jahrhunderts bis zum liberalen Rechts- und Verfassungsstaat alles weitere folgerichtig ergeben hat.“
(LSTH: 85)
38 Siehe dazu LSTH: Kap. 6.
39 Tatsächlich verdeutlichen die Spinoza-Biographie von Nadler 1999 oder Jonathan Israels umfassen-
de Studie zur radikalen Aufklärung (Israel 2001), dass Spinoza eine lange unterschätzte Schlüsselfi-
gur für das neuzeitliche politische Denken in Europa gewesen ist. Insbesondere bei Locke ist davon
auszugehen, dass die in seinem holländischen Exil zu Beginn der 1680er Jahre entstandenen Two
Treatises of Government die Auseinandersetzung mit den Werken Spinozas widerspiegeln.
40 Hier sei nochmals an die Interpretation in Abschnitt 2 erinnert, wo der bloße „Vorbehalt“ der Souve-
ränitätsfülle des Leviathan als weitgehend kompatibel mit der Hobbesschen Argumentationslogik
dargestellt wurde.
41 Die offenbar antisemitische Einstellung, die in dieser Perspektive Schmitts transparent wird, erhärtet
der Brief vom 18.7.1938 an Siegfried Leffler, in dem das Hobbesbuch als Beitrag zum „Kampf ge-
gen die jüdische Verfälschung des Christentums“ bezeichnet wird (zit. nach Mehring 2009, S. 385).
In politisch-theologischer Übersetzung tut sich zugleich eine Dichotomie auf, die den Dezisionismus
christlicher Denker wie Hobbes oder Donoso Cortés rigoros vom „jüdischen“ Liberalismus und
Atheismus à la Spinoza und Kelsen abstrahiert (Mehring 2009, S. 386).
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aus die Eigenschaft besitzen kann, „Widersinnigkeiten“ und Gewalteskalationen zu
vermeiden, die „gesunde Vernunft“ herrschen zu lassen und schließlich die natürliche
Freiheit in geringst möglicher Weise einschränken zu müssen, eben weil das Individu-
um sein natürliches Recht dort auf die „gesamte Gesellschaft“ überträgt, an der es parti-
zipiert und von der es deshalb fortan „zu Rate gezogen wird“ (Trac. theol.-pol. XVI:
238-240). Demgegenüber hat Schmitt offensichtlich nur die tendenzielle Schwäche der
(liberalen) Demokratie im Auge, sich ihrer Feinde angemessen zu erwehren. Seine ei-
genen Schlussfolgerungen angesichts der Erfahrungen von Weimar zielten deswegen
auf eine alternative, schwerlich als demokratisch zu bezeichnende Staatskonzeption ab:
den „totalen“ Staat.
Jene Alternative skizziert er u.a. in einem Aufsatz von 1937, der den vielsagenden Titel
Totaler Feind, totaler Krieg, totaler Staat (PB: 235-240) trägt und die Totalität des
Staates als angemessene Reaktion auf die (welt-)politischen Herausforderungen der Ge-
genwart beschreibt. Im Hobbesbuch ein Jahr darauf kommt Schmitt gleichwohl nur
mehr am Rande auf das Konzept des „totalen Staates“ zu sprechen. Dabei wendet er
sich explizit gegen die Deutung des Leviathan als „polemisches Schreckbild eines ‚tota-
litärenʻ Staates oder des Totalismus“ sowie die Verkennung seiner „rechtsstaatlichen
Elemente“, die etwa Ferdinand Tönnies eindeutig nachgewiesen habe. Liberale wie Lo-
cke oder auch der französische Katholik Joseph Vialatoux hätten den Hobbesschen
Staat fälschlich zum „grauenhaften Moloch oder Golem aufgedröhnt“ und dabei dessen
„individualistischen Charakter“ schlichtweg ignoriert (LSTH: 111-113).42 Im Rahmen
der Auseinandersetzung mit Vialatoux’ La Cité de Hobbes: théorie de l’état totalitaire
(1935) attestiert Schmitt dem Leviathan jedoch immerhin, dass ihm die „summarische
Vieldeutigkeit“ des Begriffs „total“ zugute käme. Mit diesem sei nicht nur die „weitge-
hende Vernichtung der individuellen Freiheit“ auszudrücken (die auf Hobbes eben nicht
zuträfe), sondern „auch manche, im Grunde nur relative Änderungen der überkomme-
nen Abgrenzungen des Spielraumes bürgerlicher Freiheit, Zentralisierungen, Wandlun-
gen des überlieferten Begriffes der ,Gewaltenteilungʻ, Aufhebungen früherer Trennun-
gen und Unterscheidungen, Totalität als Ziel und Totalität als Mittel usw“ (LSTH: 112,
Anm.). Diese evidente Relativierung des Wortes „total“ mag hier umso mehr als „Kehre
mit Hobbes“43 gesehen werden, als Schmitt sich in der gleichen Anmerkung auf den
Aufsatz seines Habilitanden Georg Daskalakis Der totale Staat als Moment des Staa-
42 Lobend wird demgegenüber René Capitants Replik auf Vialatoux erwähnt, die allerdings ebenfalls
eine Assoziation zwischen dem „monströsen Fabelwesen“ des Leviathan und der Inanspruchnahme
von Hobbes als „mystischen Totalisten“ herstellt (LSTH: 112f., Anm.). Eine weitere totalitäre Deu-
tung des Leviathan aus dem christlichen Bereich – Dietrich Brauns Der sterbliche Gott oder Levia-
than gegen Behemoth (1963) – wird von Schmitt später im Rezensionsaufsatz Die vollendete Refor-
mation (siehe Anm. 32) kritisiert.
43 Zu dieser Debatte Mehring 2009, S. 380ff.
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tes44 bezieht, welcher das Momentum der Totalität auf eine „Durchgangsstufe zu einer
neuen Ordnung“ beschränkt. Der „totale Staat“ erscheint dadurch als ein „Synonym“ für
den „Ausnahmezustand“,45 den es erst zu entscheiden gilt, für den Bürgerkrieg in innen-
und zunehmend auch außenpolitischer Hinsicht, dem ein Ende zu bereiten ist, bevor
sich auf seinen Trümmern der eigentliche Staat erheben kann.
Schmitts hauptsächliches Manko läge nach dieser Lesart bloß darin, die „Möglichkei-
ten“ unterschätzt zu haben, den Begriff des „totalen Staates“ „ideologisch aufzufül-
len“.46 Hinzu kommt, dass Schmitts Begriff des totalen Staates – entgegen des sponta-
nen Eindrucks, den dieses Vokabular in der Retrospektive vermittelt – seiner Reputation
im Dritten Reich gewiss nicht dienlich war. Wie Günter Maschke in seinem Nachwort
zum Hobbesbuch überzeugend belegt, waren die Assoziationen des „totalen Staates“
mit einem allumfassenden „Machtapparat“, der Degradierung des Volkes „zum Objekt
der Herrschaft“, der Parteienfeindlichkeit sowie mit den Relikten des Rechtsstaates im
Gegenteil eher ungeeignet, mit der völkisch-rassistischen Bewegung des Nationalsozia-
lismus zu korrespondieren.47 Die Polemiken, die Alfred Rosenberg 1934 im Völkischen
Beobachter und Roland Freisler im gleichen Jahr in der Deutschen Justiz gegen
Schmitts Konzept lancierten, werden vor diesem Hintergrund verständlich.
Und doch fällt es einigermaßen schwer, Schmitt als einen Etatisten einzustufen, dem in
erster Linie an einer Begrenzung des Politischen gelegen war und der auf seine Weise
„dem diktatorischen Souverän die Vernunft des Rechtsstaates unterjubeln“ oder „den
Golem dadurch zähmen“ wollte, dass er ihm die Zauberformel unter die Zunge schob,
die seinen Bann brechen konnte.“48 Dass sich Schmitts zeitweiliges Arrangement mit
dem Nationalsozialismus nicht einfach folgerichtig aus seinen Positionen und Begriffen
aus der Weimarer Zeit ergab und er staatstheoretisch auch viel eher als Befürworter der
(klassischen) Diktatur denn als totalitärer Denker zu verstehen ist, ändert nichts daran,
dass seine eigenwillige Perspektive der Begrenzung diejenige der Entgrenzung des Poli-
tischen gleichermaßen impliziert.
Dies zeigt sich zunächst daran, dass Schmitt das Politische über die Grenzen des mo-
dernen Macht- und Rechtsstaates hinaus verortet, und zwar historisch (antike Polis, altes
Reich, siehe SGN: 133ff.) ebenso wie systematisch („Der Begriff des Staates setzt den
Begriff des Politischen voraus“, BP: 20). Zwar erkennt Schmitt im Begriff des Politi-
schen von 1932 im Staat noch immer die maßgebliche Institution, die über Feindschaft
und Krieg entscheidet. Doch sind seine Diagnosen – wie in Abschnitt 1 erörtert – schon
damals von der zunehmenden innen- und außenpolitischen Gefährdung des staatlichen
52 Auch die Warnung vor einer legalen Abschaffung der Weimarer Republik in Legalität und Legitimi-
tät (1932) ist daher kaum mit einem Plädoyer pro Weimar zu verwechseln, sondern steht für die
souveräne Dezision als solche. Entsprechend konnte Schmitt die Verteidigung der Souveränität des
Reichspräsidenten aus Der Hüter der Verfassung (1931) später relativ problemlos durch die Souve-
ränität des Führers der NSDAP ersetzen (Der Führer schützt das Recht, PB: 199-203).
53 Schon Schmitts Frühschrift Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen von 1917 formu-
liert eine radikale Absage an den intrinsischen Wert des Individuums. Nicht der Staat habe dem Ein-
zelnen zu dienen, sondern umgekehrt. Im Begriff des Politischen polemisiert Schmitt dann gegen den
liberalen Individualismus als „Negation des Politischen“ (BP: 69), die andererseits freilich selbst ei-
nen verkappten, hochpolitischen Vorgang darstellt.
54 Siehe Anm. 32.
55 Auf die bekannten Schwierigkeiten von Hobbes, den Einzelnen auf Basis seiner Prämissen zum Ein-
satz seines Lebens für den Staat zu verpflichten (vgl. Lev. XXI: 168f.), braucht hier nicht näher ein-
gegangen zu werden.
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nen.56 Weil bei Schmitt dem Gebiet des Politischen per definitionem keine Grenzen ge-
setzt sind, konnte er sich innenpolitisch in die Idee des „totalen“ Staates und außenpoli-
tisch in den imperialistischen „Großraum“57 versteigen, die dem Hobbesschen Staats-
verständnis jeweils fundamental widersprechen.58 Demzufolge scheint es höchst frag-
lich, Schmitts Eintreten für den qualitativ totalen Staat als „Reinkarnation“ des Hobbes-
schen Staates aufzufassen.59 Nicht nur, dass sich aus seinen Texten keine Anhaltspunkte
für eine solche Rückwärtsgewandtheit ergeben, hatte – wie gesehen – der Todeskeim ja
im Leviathan selbst gesteckt. Was daher weitaus besser das Schmittsche Projekt des „to-
talen“ Staates am Ende der Weimarer Republik und zu Beginn des Dritten Reiches be-
schreibt, ist, aus dem (aus seiner Sicht) verhängnisvollen Sieg des Liberalismus im 19.
und 20. Jahrhundert die richtige Lehre zu ziehen und den individualistischen Grundzug,
den Hobbes einst initiierte, zu eliminieren. Diese Art der Radikalisierung des Leviathan
zum totalen Staat bildet m. E. auch noch die grundlegende Perspektive des
Hobbesbuches von 1938, das die Kritik an den liberalen Einfallstoren der Hobbesschen
Staatslehre eher präzisiert als abschwächt.
In der weiter oben diskutierten Fußnote (LSTH: 112, Anm.), die den Begriff des totalen
Staates modifiziert und relativiert hatte, könnten indes wirklich gewisse Anzeichen für
ein Umdenken Schmitts nach 1936 verborgen sein. Die bisherige Argumentationslinie
legt dazu allerdings nahe, dass es ihm nun umso weniger um eine Rückkehr des Levia-
than ging, als vielmehr um eine Art Befreiung von dem vorgegebenen Begriffsschema.
Auch der „totale“ Staat, der aus den Fehlern und Defiziten des Leviathan mindestens
ebenso viel hätte lernen sollen wie aus seinen Vorzügen, war ja in der Zwischenzeit ge-
scheitert60 und mit ihm überhaupt das letzte Aufbäumen des Staates, wie er Schmitt vor-
schwebte. Dass letzterer im Anschluss daran das historische Epochenende der Staatlich-
keit proklamierte, wird dadurch nur plausibler. Offenbar war es Zeit für neue Sichtwei-
56 Zum Unterschied zwischen der Totalität des Politischen bei Schmitt und einem staatsbezogenem Po-
litikverständnis, wie es sich bei Max Weber, aber eben auch schon bei Hobbes findet, siehe Mehring
1990.
57 Dazu die bereits erwähnte Schrift Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für
raumfreie Mächte (1937), bei der wenigstens die Option, sie als Postulat für eine Nichtintervention
der Alliierten gegenüber der Expansionspolitik des Dritten Reiches zu verstehen, schwerlich zu be-
streiten ist.
58 Insofern sollte man sich davor hüten, Schmitts „vernünftigen Begriff von Souveränität und Einheit“
(BP: 43) als Reminiszenz an Hobbes zu verstehen. Inwieweit es eher die Hegelsche Aufhebung der
Dialektik zwischen Individuum und Gesellschaft ist, die Schmitts damaligem Konzept des „totalen
Staates“ nahe kommt, kann hier nicht erörtert werden.
59 So allerdings Maschke 2003, S. 231, der damit überdies den (angeblichen) „Rettungsversuch“ für
Weimar auf den Begriff bringen will (Maschke 2003, S. 241).
60 Nach Hasso Hofmann fasste es Schmitt so auf, dass ihm und seinem Konzept des „totalen Staates“
im Dritten Reich die gleiche Verteufelung widerfuhr wie Hobbes zuvor im Verlauf der Politischen
Ideengeschichte (vgl. Hofmann 1964, S. 209).
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sen, und diese reichten allem Anschein nach viel weiter über das Dritte Reich hinaus,
als es die Rezipienten seinerzeit wahrnahmen.
Schmitts Adaption des Leviathan im Kontext der Weimarer Republik und ihres unrühm-
lichen Endes ist heute gegen den Strich zu lesen. Dass die liberale Weiterentwicklung
des Hobbesschen Staates zum demokratischen Rechtsstaat in dessen eigener Logik be-
gründet liegt, ist – wie die Geschichte nach dem II. Weltkrieg bestätigt hat – weit weni-
ger angetan, das Ende des Staates ausrufen zu müssen, als es Schmitt damals glaubte.
Und dass sich der Staat zur Sicherung seines eigenen Überlebens sowie nicht zuletzt zur
Garantie der bürgerlichen Freiheiten zumindest im Ausnahmefall eine Souveränitätsfül-
le bewahren muss, die mit dem Leviathan zu vergleichen ist, dies ist auch aufgrund der
bitteren Erfahrung von Weimar in die Idee der wehrhaften Demokratie eingeflossen, für
die sich Schmitt so weit ich sehe niemals wirklich erwärmen konnte.
Mit seiner Interpretation liefert Schmitt daher eher eine Folie, wohin sich der demokra-
tisch gezähmte Leviathan entwickeln, entgrenzen und radikalisieren könnte – nämlich
zum totalen Staat –, wenn trotz des unbestrittenen Bedarfs an souveränen Letztinstanzen
nicht gleichzeitig akzeptiert wird, dass damit die inhärente „Schwäche“ der Demokratie,
gegen ihre Feinde nicht ebenso kompromisslos vorgehen zu können wie Nicht-
Demokratien, keineswegs geheilt ist. Was Schmitt attackierte, worin er sogar den Tod
des Leviathan erkannte, nämlich dass die Souveränität des Staates nur mehr den Vorbe-
halt darüber umfassen soll, im Notfall alle Maßnahmen ergreifen zu dürfen, die zur Si-
cherung seiner Existenz bzw. zum Schutz der Bürger erforderlich sind, hält in Wirklich-
keit die Demokratie am Leben. Demgegenüber führt Schmitts Neigung, den gesamten
Rechtsstaat von der Ausnahme des existentiellen Notstands her denken, zu einer folgen-
schweren Radikalisierung bis hin zur Verfälschung des Hobbesschen Arguments und
seiner individualistischen Prämissen. Dass die „Regel“ angeblich „nur von der Aus-
nahme“ leben soll (PT: 21), ist des Guten zuviel.
Auf der anderen Seite ist Schmitt unbedingt Recht zu geben, dass die Figur des Aus-
nahmezustandes letztlich jenseits des Rechtsstaates und der rechtsstaatlichen Normen zu
verorten und vor allem durch Notstandsverordnungen nur unzulänglich zu erfassen ist
(PT: 13f.). Unter der Bedingung eines tatsächlich existentiellen politischen Ausnahme-
zustandes ist im Zweifelsfall erst nach der unmittelbaren Gefahrenabwendung die
Rechtmäßigkeit ergriffener Schutzmaßnahmen (die sich nicht einfach aus Gesetzestex-
ten ablesen lassen) zu überprüfen.61 Das Überleben des Rechtstaates bildet eine (wenn
61 Hiervon betroffen wären insbesondere Aktionen, die zum Tod von Menschen führen, die als eigent-
lich Unbeteiligte von den Abwehrmaßnahmen des Staates tangiert werden. Als Beispiel wäre etwa
die in Deutschland kontrovers diskutierte Frage zu nennen, ob bei Terrorismusgefahr die Streitkräfte
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auch nicht die einzige) Grundlage für die Anwendung von Rechtsnormen, weshalb die
temporäre Suspendierung des Rechts – ganz im Sinne Schmitts – im Extremfall das
Recht faktisch zu schützen vermag. Juristische oder ethische Bedenken gegenüber der
souveränen Dezision können daher im Ausnahmezustand nicht automatisch greifen.
Zur (demokratischen) Zähmung des Leviathan gehört es indes hinzu, was sowohl Hob-
bes wie auch Schmitt ihm ersparen wollten: den Souverän, der durch den Ausnahmezu-
stand als Grundlage allen positiven Rechts denkbar wird, an seine eigenen Entschei-
dungen zu binden, das heißt im Kontext des obigen Beispiels: die Rechtmäßigkeit sou-
veräner Ad-hoc-Entscheidungen im Ausnahmefall zumindest ex post zu überprüfen.62
Erst dadurch wird möglich, was manche Verteidiger Schmitts ihm ohnedies zubilligen
wollen: dass die Entscheidungs- und Verfügungsgewalt des Staates grundsätzlich zu
begrenzen ist, obwohl er sich im Ausnahmezustand rechtsstaatlicher Bindungen entledi-
gen kann.63
In der gegenwärtigen (weltpolitischen) Situation, welche vermuten lässt, dass ein mög-
licher Ausnahmezustand in demokratischen Rechtsstaaten weniger durch innere Revolu-
tionen oder Bürgerkriege als durch terroristische Attentate hervorgerufen wird, besitzt
Schmitts Position gleichwohl eine besondere Relevanz. Implizit lehnt sie ab, selbst das
noch zum Recht zu deklarieren, was die Grenzen des Rechtsstaates längst überschrei-
tet.64 Auch wenn es Schmitt nicht gerade darum ging, vor den Gefahren einer Constitu-
tional Dictatorship zu warnen, die die Grenzen des demokratischen Rechtstaates ständig
gesetzlich zum Abschuss entführter Passagierflugzeuge ermächtigt werden können. Das Bundesver-
fassungsgericht (1 BvR 357/05) erkannte in dem entsprechenden Gesetzesvorhaben der Bundesre-
gierung eine Kollision mit Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie
des Art. 1 Abs. 1 GG und erteilte damit der rechtsstaatlichen Verankerung eines solchen Ausnahme-
falles eine klare Absage. Wie jedoch im Fall eines tatsächlichen Flugzeugabschusses, der als ultima
ratio etwa gegen eine terroristische Attacke auf ein Atomkraftwerk o. ä. unternommen wird, die
„Schuld“ und „Verantwortung“ der politischen Entscheidungsträger bzw. der ausführenden Piloten
rechtsstaatlich zu bewerten wären, steht auf einem anderen Blatt.
62 Für Schmitts Politische Theologie wäre ein solcher Zusammenhang geradezu widersinnig, vergleicht
er doch den Ausnahmezustand mit dem Wunder in der Religion, das heißt mit der Gewissheit, dass
der Souverän wie Gott seine eigenen (Natur-)Gesetze stets überschreiten kann (PT: 43).
63 Man könnte auch sagen: Der Souverän steht – anders als Schmitt dies in der Politische Theologie
darstellt – weder prinzipiell „außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung“, noch „gehört er zu
ihr“, weil er „zuständig für die Entscheidung“ ist, „ob die Verfassung in toto suspendiert werden
kann“ (PT: 14). Vielmehr scheint zuzutreffen, was Schmitt in seiner Schrift über die Diktatur als ihre
„kommissarische“ (im Gegensatz zur „souveränen“) Ausprägung bezeichnet: Dass die Norm „sus-
pendiert werden kann, ohne aufzuhören, zu gelten“ (D: 137). Dass der Souverän die Norm „im
Ausnahmefall“ angeblich „vernichtet“ (PT: 19), ist demgegenüber neuerlich ein typisches Moment
der gefährlichen Entgrenzung des Rechtsstaates, die Schmitt wie kaum ein anderer personifiziert.
64 Als Beispiel sei erneut das Lager in Guantánamo Bay genannt, das den ethisch höchst prekären Sta-
tus der Gefangenen mithilfe der Rechtskonstruktion des unlawful enemy combattant zu legalisieren
beanspruchte (vgl. Hidalgo 2008).
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neu austestet und dadurch schließlich auszuhöhlen droht,65 vertiefen seine Analysen
doch das Bewusstsein darüber, dass es politische Fälle gibt, die nicht zu normieren sind,
sondern der souveränen Entscheidung vorbehalten bleiben müssen. Jenes Gespür für
Ausnahme und Norm wird umso dringlicher, je mehr sich die Staaten räumlich
entgrenzen und dadurch die sicherheitspolitische Logik des Leviathan endgültig unter-
wandern.66
Literatur
65 Hier wäre nochmals an die beiden gegensätzlichen Rechtstraditionen des Ausnahmezustandes zu er-
innern, die Giorgio Agamben unterschied (siehe Anm. 31).
66 Zum Problem des Hobbesschen Leviathan, mit seinen Prämissen die besondere Herausforderung und
Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates durch den zunehmend transnational agierenden Terro-
rismus zu erfassen, siehe bereits Hidalgo 2009.
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Teil 2:
Carl Schmitts „Ausnahmezustand“
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Ausnahmezustand
Rüdiger Voigt
„Der Ausnahmezustand hat für die Jurisprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder
für die Theologie“.2
„Eine Art Apokalyptik, verbunden mit Warnungen vor neuen Imperialismen und neuen Fa-
schismen, beherrscht die zeitgenössischen Vorstellungen von Macht. Der Verweis auf die
unumschränkte Macht des Souveräns und den Ausnahmezustand, das heißt auf die allge-
meine Suspendierung des Rechts und das Hervortreten einer Gewalt, die über dem Gesetz
steht, dient als Erklärung für alles und jedes“.3
Jeder Staat kann in eine Notlage (Staatsnotstand) geraten, in der er – durch Verhängung
des Ausnahmezustands – das Recht für eine gewisse Zeit suspendieren muss, um mit al-
ler Macht gegen eine existentielle Bedrohung oder gar seine eigene Vernichtung anzu-
gehen. Carl Schmitt hat diesen Zustand als „kommissarische Diktatur“ bezeichnet. Eine
solche Lage tritt dann ein, wenn die von der Verfassung vorgegebene Ordnung in Ge-
fahr ist, zerstört oder zumindest grundlegend beeinträchtigt zu werden. Diese Gefahr
kann sowohl von innen als auch von außen kommen.4 Wohlgemerkt handelt es sich hier
nicht um eine bloße Krise, also um eine zugespitzte Situation, die als Höhe- und Wen-
depunkt einer gefährlichen Entwicklung empfunden wird. Eine solche Krise kann meist
mit einigem guten Willen im Rahmen des Rechts überwunden werden. 5 Vielmehr geht
es um einen gezielten, i.d.R. gewaltsamen Angriff auf die Verfassungsordnung, mit dem
diese beseitigt werden soll. Es wird also nicht nur der Herrschaftsanspruch der Regie-
rung, sondern darüber hinaus auch die Existenz des politischen Systems selbst in Frage
gestellt.6 Für das Auftreten einer solchen überaus brisanten Situation ist im 20. Jahrhun-
dert die schwierige – innen- wie außenpolitisch gefährliche – Phase zwischen den Welt-
kriegen in Europa ein Beispiel.7 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in Deutschland die
durch die Niederlage bewirkte politische Umbruchsituation durch die wirtschaftliche
Krise erheblich verschärft und entlud sich schließlich in gewaltsamen Auseinanderset-
1 Für seine Kommentare und Anregungen möchte ich Herrn Dr. Ulrich Müller, Administrativer Vor-
stand des Leibniz-Instituts für Astrophysik, Dank sagen.
2 Schmitt PTh, S. 43.
3 Hardt/Negri 2010, S. 19.
4 Folz 1962, S. 30.
5 Vgl. Voigt 2011.
6 Hans-Ernst Folz unterscheidet – unter Bezugnahme auf Johannes Heckel – von dem allgemeinen
Staatsnotstand den „Verfassungsnotstand“, bei dem lediglich ein Verfassungsorgan (z.B. das Staats-
oberhaupt) ausgefallen ist, Folz 1962, S. 73.
7 Hier soll nicht die Rede sein von Diktaturen in Afrika, Asien oder Lateinamerika.
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zungen, die bis an den Rand eines Bürgerkriegs führten. Während in anderen europäi-
schen Ländern wie Frankreich der Bürgerkrieg ebenfalls vermieden werden konnte,
brach er in Spanien offen aus. Im 21. Jahrhundert ist nach dem Zusammenbruch des
Sowjetsystems nunmehr weltweit eine permanente Krisensituation eingetreten, die ihre
vorläufigen Kulminationspunkte zum einen in dem weltweit agierenden Terrorismus,
zum anderen in der globalen Finanzkrise erreicht hat.
Im Folgenden wird die Thematik des Ausnahmezustands, den man auch als „Niemands-
land zwischen Öffentlichem Recht und politischer Faktizität, zwischen Rechtsordnung
und Leben“ bezeichnen könnte,8 in sechs Abschnitten behandelt. Auf der Grundlage der
von Carl Schmitt getroffenen Unterscheidung in kommissarische und souveräne Dikta-
tur wird im ersten Abschnitt die Dialektik der Diktatur (1.) behandelt. Als Beispiel für
die kommissarische Diktatur dient der Staatsstreich des Jahres 1958 in Frankreich mit
der sich daran anschließenden V. Republik, deren Gründer und erster Präsident Charles
de Gaulle war. Der Begriff des Ausnahmezustands (2.) ist nur scheinbar leicht zu defi-
nieren. Wie so oft liegt der Teufel im Detail: Da gerade die Nachkriegsdeutschen be-
sonders empfindlich auf diesen Terminus reagierten, der im Zentrum der Souveränitäts-
lehre Carl Schmitts steht („Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“),
versuchte man, den Begriff in der Hoffnung zu vermeiden, dass es schon nicht zum Äu-
ßersten kommen werde. Die unterschiedlichen Regelungen im Grundgesetz waren daher
– auch nach Übernahme der Verantwortung von den Alliierten im Jahre 1968 – eher
missverständlich und keinesfalls umfassend.9 Der Angriff von Terroristen auf das
World-Trade-Center am 11. September 2001 zwang letztlich die damalige Bundesregie-
rung allerdings zu einer ganzen Reihe Maßnahmen, von denen hier lediglich das Luft-
sicherheitsgesetz behandelt werden soll. Dieses Gesetz sollte die Voraussetzungen für
den Abschuss ziviler Flugzeuge durch die deutschen Streitkräfte im Katastrophenfall
regeln. In seinen zentralen Passagen wurde es jedoch vom Bundesverfassungsgericht
verworfen, weil letztlich in der Güterabwägung der Achtung vor dem Leben des Einzel-
nen ein höherer Stellenwert zugebilligt wurde als dem Notwehrrecht des Staates.
In einem weiteren Abschnitt geht es um den Zusammenhang von Staatskrise, Ausnah-
mezustand und Bürgerkrieg (3.). Am Beispiel der Staatskrise der Weimarer Republik
Anfang der 1930er Jahre, die zu einer zumindest partiellen Unregierbarkeit führte, wer-
den die Voraussetzungen und Möglichkeiten einer „kommissarischen Diktatur“ erörtert.
Im Vordergrund des 4. Abschnitts stehen die Finanzkrise und die Notkabinette einer-
seits sowie die Politik der europäischen „Rettungsschirme“ andererseits. Dabei wird ei-
ne Parallele zwischen den Präsidialkabinetten von Brüning, Papen und Schleicher in der
Endphase der Weimarer Republik und der Eurokrise gezogen, die zu den – freilich kurz-
8 Agamben 2004, S. 8.
9 Die Regelungen in einigen Landesverfassungen, auf die der Parlamentarische Rat nicht zurückge-
griffen hat, sollen hier nicht behandelt werden.
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lebigen – „Notkabinetten“ Monti (Italien) und Papadimos (Griechenland) geführt hat,
die jedoch beide gerade keine diktatorischen Vollmachten hatten und die eigentlichen
Probleme ihrer Länder nicht lösen konnten. Ein älteres – im Übrigen gut dokumentiertes
– Beispiel ist der (mögliche) Staatsnotstand in der Weimarer Republik (5.). Hier waren
die Notstandsplanungen um die Jahreswende 1932/33 bereits weit gediehen, um Hitlers
Ernennung zum Reichskanzler zu verhindern. Wäre damit die Machtübernahme der Na-
tionalsozialisten durch einen Verfassungsbruch auf Dauer zu verhindern gewesen?
Reichspräsident Paul von Hindenburg verweigerte schließlich die Auflösung des
Reichstags und die verfassungswidrige Vertagung seiner Wiedereinberufung auf unbe-
stimmte Zeit. Stattdessen wählte er die in parlamentarischen Regierungssystemen übli-
che Lösung, den Chef der stärksten Partei (Hitler) zum Reichskanzler zu ernennen und
verhinderte damit zunächst einen Bürgerkrieg. In teilweiser Anlehnung an Carl Schmitt
hat Giorgio Agamben von einem „permanenten Ausnahmezustand“ (6.) gesprochen, in
dem wir uns seiner Ansicht nach bereits seit geraumer Zeit befinden. Dabei münzt er
den Begriff der „wehrhaften Demokratie“, mit dem in Deutschland der Kampf gegen
die Feinde der Demokratie begründet wird, in den einer „geschützten Demokratie“ um,
der er die Qualität einer Demokratie rundheraus abspricht. Dieser Fragestellung ist im
Schlusskapitel vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklung in Deutschland
nachzugehen.
Bei dem Begriff „Diktatur“ denkt der neutrale Beobachter im Allgemeinen an ein
monokratisches und weitgehend monolithisches Staatsgebilde, in dem ein Herrscher
(Caudillo), eine Gruppe (Junta, Clique) oder eine Partei (Staatspartei) die absolute
Macht inne hat. Beispiele für ein solches Herrschaftsmodell finden sich auch in der Ge-
schichte des modernen Staates in großer Zahl. Diese spezielle Bedeutung von Diktatur,
die im Altertum mit dem Begriff „Tyrannis“ erfasst wurde, ist aber nicht die einzig
denkbare. Eine andere Denktradition geht letztlich auf Cicero zurück, der die Diktatur –
ganz im Sinne der römischen Republik – als zeitweilige Machtübertragung zum Zwecke
der Staatsrettung verstand. Hierauf bezieht sich Carl Schmitt bei seiner Denkfigur der
„kommissarischen Diktatur“. In seinen Schriften Die Diktatur. Von den Anfängen des
modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf10 und Politi-
sche Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität11 ging es Carl Schmitt stets
auch um den Ausnahmezustand, den er bereits im Jahre 1916 aus gegebenem Anlass
10 Schmitt Diktatur.
11 Schmitt PTh.
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behandelt hat.12 Für Schmitt liegt die „innere Dialektik“ der Diktatur gerade in der „all-
gemeinen Möglichkeit einer Trennung von Normen des Rechts und Normen der
Rechtsverwirklichung“.13 Schmitt zufolge ist die Anwendung der Norm keinesfalls in
der Norm enthalten, denn andernfalls wäre das Prozessrecht nicht erforderlich. Diese
allgemeine Erkenntnis Schmitts ist in der Rechtssoziologie ohnehin nicht wegzudenken.
Worin liegt also das Besondere?
„Das spezifische Verdienst der Schmittschen Theorie liegt genau darin, dass sie eine solche
Verbindung zwischen Ausnahmezustand und Rechtsordnung möglich macht“.14
„Nur letzteren konnte ein König – gestützt auf seine, die auf ihn vereidigte Armee – entlas-
sen bzw. gefangen setzen und so eine ‚bloß‘ kommissarische Diktatur beenden. Hitler war
souveräner, wenn nicht ‚total(itär)er‘ Diktator – cäsaristischer Provenienz“.15
Die oft chaotischen, in jedem Fall aber schwierigen Übergänge von einer Verfassung
zur nächsten lassen sich am französischen Beispiel illustrieren. Das liegt umso näher,
12 Muth 1971, S. 75-147 [76f.]; seit dem 31. Juli 1914 herrschte in Deutschland der Kriegszustand; seit
Februar 1915 dient Schmitt als Kriegsfreiwilliger bei einem Ersatzbataillon in München, vgl. Noack
1996. S. 37; Mehring 2009, S. 78.
13 Schmitt Diktatur, S, XVII.
14 Agamben 2004, S. 43.
15 Faber 1999, S, 70-90 [76].
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als die Ursprünge des Ausnahmezustands (in Gestalt des Belagerungszustands) auf den
Erlass der Konstituierenden Versammlung vom 8. Juli 1791 in Frankreich zurückge-
hen.16 Im Zuge der Französischen Revolution wurde – nach dem Scheitern der konstitu-
tionellen Monarchie – im Jahr 1792 die Erste Republik etabliert, diese endete faktisch
mit dem Staatsstreich Napoleons 1799 und einer neuen Verfassung, formell jedoch erst
1804 mit der Errichtung des Ersten Kaiserreichs. Der Zweiten Republik war nur eine
kurze Lebensdauer (1848-1852) beschieden, sie endete wiederum mit dem Übergang
zum Kaiserreich. Nach dem verlorenen Krieg gegen Deutschland wurde Kaiser Napo-
leon III. jedoch gestürzt und die Dritte Republik ausgerufen, die mit dem Waffenstill-
stand von 1940 im Krieg gegen Deutschland und der Gründung des État Français – be-
kannter unter der Bezeichnung Vichy-Regime – unter Marschall Philippe Pétain, dem
„Helden von Verdun“, endete.17 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde 1946 die Vierte
Republik durch eine neue Verfassung gegründet, der allerdings nur eine schmale Mehr-
heit (53,5% der abgegebenen Stimmen) der Franzosen zugestimmt hatte.
Diese Vierte Republik war durch den Mangel an stabilen Regierungsmehrheiten ge-
kennzeichnet. In der Krisensituation des Jahres 1958 gelang es – nicht zuletzt wegen des
Algerienkrieges (1954-1962) – einen Monat lang gar nicht, eine Regierung zu bilden.18
Der Druck des Militärs (Militärputsch in Algier am 13. Mai 1958, angedrohter Sturm
des Militärs auf Paris19) setzte dieser instabilen politischen Lage ein Ende und zwang
Staatspräsident René Coty, Charles de Gaulle durch die Nationalversammlung als Mi-
nisterpräsidenten einsetzen und ihm für sechs Monate diktatorische Sondervollmachten
zur Niederschlagung des Militärputsches in Algier erteilen zu lassen. In den Augen der
Aufständischen und auch vieler anderer Franzosen konnte nun nur noch ein Mann die
Nation retten: Charles de Gaulle, der „Retter des Vaterlandes“. De Gaulle setzte in ei-
nem Referendum eine neue Verfassung durch und wurde der erste Präsident der Fünften
Republik. General de Gaulle ist damit der Prototyp des „kommissarischen Diktators“,20
der seine Vollmachten nutzt, um eine neue Ordnung zu schaffen.
„De Gaulle hatte den Entschluss gefasst, kein Diktator zu werden, obwohl er […] die Mög-
lichkeiten hatte, eine Diktatur zu errichten. […] De Gaulle wollte weder einen Staatsstreich
begehen, um die Macht an sich zu reißen, noch eine Politik des Militarismus einführen. Er
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wollte auf demokratischen und legalem Weg an die Macht kommen und die demokrati-
schen Prinzipien und Institutionen nicht aufgeben“.21
Anne Sophie Günzel geht mit dieser überaus positiven Einschätzung de Gaulles jedoch
fehl, denn den „Staatsstreich“ hatten Andere – nämlich hohe Militärs – für ihn began-
gen, die seines Wohlwollens sicher sein konnten. 221 Dabei verfolgte er eine überaus
riskante „Schaukelpolitik“. Insgeheim unterstützte er die putschenden Generale, um so
die Politiker unter Druck zu setzen. Öffentlich sicherte er den Politikern hingegen zu,
die Militärs an die Kandare zu nehmen, wenn sie ihm die geforderten Sondervollmach-
ten zugestehen würden. Über das Schicksal Algeriens, das für die Einen zum französi-
schen Mutterland gehörte, für die Anderen aber ein selbständiger Staat werden sollte,
hüllte er sich in Schweigen.23
Die Verfassung der Französischen Republik vom 4. Oktober 1958 ist ein praktisches
Beispiel für die Ausgestaltung des interkonstitutionellen Notstandsrechts. Sie regelt das
Notstandsrecht in Art. 16 der Verfassung. Dieser Artikel gibt klare Anweisungen für
den Fall, dass höchste Gefahr für den Staat besteht. Wann dieser Fall eintritt, bleibt frei-
lich äußerst vage, so dass den Handelnden ein relativ großer Interpretationsspielraum
bleibt:
„Wenn die Institutionen der Republik, die Unabhängigkeit der Nation, die Integrität ihres
Staatsgebietes oder die Erfüllung ihrer internationalen Verpflichtungen schwer und unmit-
telbar bedroht sind und wenn gleichzeitig die ordnungsgemäße Ausübung der verfassungs-
mäßigen öffentlichen Gewalten unterbrochen ist, ergreift der Präsident der Republik nach
offizieller Beratung mit dem Premierminister, den Präsidenten der Kammern sowie dem
Verfassungsrat die unter diesen Umständen erforderlichen Maßnahmen.
Er gibt sie der Nation durch eine Erklärung bekannt.
Diese Maßnahmen müssen von dem Willen getragen sein, den verfassungsmäßigen öffent-
lichen Gewalten innerhalb kürzester Frist die Mittel zu sichern, die sie zur Erfüllung ihrer
Aufgaben benötigen“.
Als Sicherungsmaßnahme legt die Verfassung fest, dass während dieser Zeit die Natio-
nalversammlung nicht aufgelöst werden darf. Durch Verfassungsgesetz vom 23. Juli
2008 wurde allerdings ein Zusatz eingefügt, der dem Verfassungsrat – auf Ersuchen des
Präsidenten der Nationalversammlung, des Präsidenten des Senats, von sechzig Abge-
ordneten oder sechzig Senatoren – das Recht gibt, nach einer Frist von dreißig Tagen
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(und ggf. nach sechzig Tagen noch einmal und dann jederzeit) zu prüfen, ob die Bedin-
gungen für die außerordentlichen Vollmachten weiterhin erfüllt sind.
Es geht also um den Ernstfall des Politischen, der jederzeit eintreten kann. Ausnahme-
zustand ist die Bezeichnung für eine außerordentliche Krisensituation, in der „so schwe-
re Gefahren für den Bestand eines Staates, seine Sicherheit und (Rechts-) Ordnung“
wirken, „daß deren Bewältigung mit den im Normalfall zu Gebote stehenden Mitteln
nicht mehr möglich ist“.25 Bestimmten Staatsorganen – meist der Exekutive – werden
dann i.d.R. außerordentliche Vollmachten zu einem festgelegten Zweck übertragen.26
Verwandte Begriffe sind Notstand (Staats- bzw. Verfassungsnotstand), Notstandsrecht
bzw. Notstandsdiktatur, Belagerungszustand27 und Kriegsrecht.28 Ziel und Zweck der
damit begründeten außerordentlichen Vollmachten ist es, ganz allgemein Gefahren ab-
zuwenden bzw. abzuwehren, die bereits eingetreten sind oder einzutreten drohen, sowie
im Besonderen der Existenzgefährdung des Staates – in Frankreich der Republik, in
Deutschland der freiheitlichen demokratischen Grundordnung – wirksam entgegen zu
treten. Tatsächlich hat „erst das politische Denken der Neuzeit den Notstand, den politi-
schen Ausnahmefall, zum Angelpunkt politischer Theoriebildung gemacht“.29 Seine
wichtigsten legitimatorischen Begründungen verdankt der neuzeitliche Staat nicht der
Regel, sondern der Ausnahme.30 Aus der staatsrechtlichen wie aus der politikwissen-
schaftlichen Perspektive ist die Ausnahme daher ein überaus interessantes Forschungs-
objekt. Ob sie allerdings die von Carl Schmitt postulierte Bedeutung hat, also wichtiger
als der Normalfall ist, erscheint zumindest als fraglich:
„Die Ausnahme ist interessanter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Aus-
nahme beweist alles; sie bestätigt nicht nur die Regel, die Regel lebt überhaupt nur von der
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Ausnahme. In der Ausnahme durchbricht die Kraft des wirklichen Lebens die Kruste einer
in Wiederholung erstarrten Mechanik.“ 31
„Eine Demokratie, die sich gegen den Willen der Mehrheit zu behaupten, gar mit Gewalt
sich zu behaupten versucht, hat aufgehört, Demokratie zu sein. Eine Volksherrschaft kann
nicht gegen das Volk bestehen bleiben. Und soll es auch gar nicht versuchen, d.h. wer für
die Demokratie ist, darf sich nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken lassen
und zur Diktatur greifen, um die Demokratie zu retten“.33
„Wenn das Eigentümliche des Ausnahmezustands die (totale oder partielle) Suspendierung
der Rechtsordnung ist, wie kann dann eine solche Suspendierung noch in der Rechtsord-
nung enthalten sein?“34
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gelt zum Zeitpunkt ihrer Verkündung sowohl die bestehende als auch die für die Zu-
kunft erwünschte politische Ordnung wider. Ihr liegt zumeist ein an Werten orientiertes
Modell gesellschaftlichen Zusammenlebens zugrunde. Ungeachtet der Frage, ob dieses
Modell der gesellschaftlichen Realität entspricht oder jemals entsprochen hat, ändern
sich die Gesellschaft und die in ihr für wichtig gehaltenen Werte doch regelmäßig im
Laufe der Jahre. Eine kluge, vorausschauende Verfassungskonstruktion lässt es zu, zu-
mindest gravierenden Veränderungen in der Gesellschaft durch Änderungen des Verfas-
sungstextes (Grundgesetzänderungen) oder ggf. durch Ergänzungen (Amendments in
der US-Verfassung) Rechnung zu tragen. Aber auch in diesen Fällen können sich Ver-
fassungsrecht und politisch-gesellschaftliche Realität so gravierend auseinander entwi-
ckeln, dass es zum großen Eklat kommt.36 Soll dann unter allen Umständen die beste-
hende Ordnung erhalten („zementiert“) werden, und wenn ja, wie?
Bei der Anordnung des Ausnahmezustands geht es um mehr als nur um eine außeror-
dentliche Befugnis,37 da sie – wie Volker Neumann im Anschluss an Carl Schmitt for-
muliert – die gesamte bestehende Ordnung zu suspendieren vermag“.38 Auch wenn die-
se Aussage sehr krass ist, geht es bei dem Ausnahmezustand doch um sehr viel. Dazu
gehören z.B. alle polizeilichen Maßnahmen (u.U. auch durch sog. Sicherheitskräfte), die
der Bekämpfung von Aufständen, Aufruhr und Katastrophen aller Art dienen sollen.
Dies kann sowohl innerhalb der Verfassung (intrakonstitutionell) als auch außerhalb der
Verfassung (extrakonstitutionell) geregelt sein. Häufig wird auf sog. Notgesetze oder
Notverordnungen (Art. 48 WRV) zurückgegriffen. In jedem Fall wird damit jedoch
zeitweise die Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt, damit die Exekutive (Präsident bzw.
Regierung) in der akuten Bedrohungssituation möglichst effektiv handeln kann. Die
Frage ist jedoch, wie sichergestellt werden kann, dass diese besonderen Vollmachten,
mit denen zentrale Grundrechte eingeschränkt werden können, nicht zur langfristigen
Einschüchterung der Bevölkerung genutzt werden und nach dem Ende der Notsituation
die verfassungsmäßige Ordnung wieder hergestellt wird. Die Legitimität des Ausnah-
mezustandes hängt also ganz wesentlich von der Motivation der Herrschenden, von der
Dauer und der Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes sowie von der Existenz von
„Gegengewalten“ ab (checks and balances).
„Seine Majestät, der König von Preußen [es folgen die übrigen Fürsten] schließen eine ewigen Bund
zum Schutz des Bundesgebietes […]. Dieser Bund wird den Namen Deutsches Reich führen […]“.
36 Ein Beispiel für ein systembedingtes Hindernis ist der Grundsatzstreit zwischen US-Demokraten und
Republikanern um die Verschuldungsgrenze, der kaum auf der Grundlage der amerikanischen Ver-
fassung zu lösen ist.
37 Bezeichnenderweise verzichtete Bodin auf die Aufstellung von Rechtsregeln für den gerechtfertigten
Ausnahmezustand, weil dieser in seinem Begriff von Souveränität bereits enthalten war, Schilling
2005, S. 92.
38 Neumann 1980, S. 60.
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2.2 Instrumentarium zur Gefahrenbekämpfung
Der Verfassungsjurist wird eine Rechtslage vorziehen, die genau festlegt, wann, von
wem, unter welchen Voraussetzungen und mit welchem Verfahren so eingriffsintensive
Maßnahmen ergriffen werden dürfen, wie es die Herstellung des Ausnahmezustandes
darstellt. Was geschieht jedoch, wenn das in der Verfassung zur Verfügung stehende In-
strumentarium zur Gefahrenabwehr in Zeiten einer solchen (u.U. existentiellen) Bedro-
hung des Staates nicht ausreicht? Eine schnelle Änderung der Verfassung, die oft eher
für „Schönwetterzeiten“ als für Krisen konzipiert ist, kommt meist nicht in Frage. Sie
steht eher am Ende der Krise, vor allem dann, wenn sich andere als die herrschenden
Kräfte durchgesetzt haben. Vielmehr gilt hier die Erkenntnis Carl Schmitts: „In seiner
absoluten Gestalt ist der Ausnahmezustand dann eingetreten, wenn erst die Situation ge-
schaffen werden muss, in der Rechtssätze gelten können“. 39 Müssen in dieser akuten
extremen Notsituation also u.U. Maßnahmen ergriffen werden, die von der Verfassung
nicht gedeckt sind, womöglich, um deren Geltung wiederherzustellen? Wenn ja, wer
soll dazu befugt sein? Carl Schmitt ist hier mit seiner berühmten Formel „Souverän ist,
wer über den Ausnahmezustand entscheidet“,40 einen Weg gegangen, auf dem ihm nur
wenige Autoren gefolgt sind.41 Peter Schneider hat allerdings auf das darin sichtbare
„einzigartige Kunststück“ hingewiesen, „dem dürren Boden der Jurisprudenz ästheti-
schen Reiz abzugewinnen, obgleich er die Gebote der Fachlichkeit nicht übertritt“:42
„Ein solcher Satz weckt Spannung. Er schlägt ein. Er schockiert. Man wird, um der Überra-
schung Herr zu werden, willig, ja eifrig die nächstfolgenden [Sätze] lesen“.43
Diese berühmte Formel Carl Schmitts hat Hasso Hofmann in seinem Aufsatz „Souverän
ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“ in ihrer außenpolitisch-völkerrechtli-
chen Wendung auf Staat und Verfassung der Bundesrepublik Deutschland angewandt.
Hofmann hat dabei das Schmittsche Motto zugrunde gelegt: „Die Ausnahme offenbart
das Wesen der staatlichen Autorität am klarsten“44 und ist zu interessanten Ergebnissen
gelangt. Nicht nur bei der Verabschiedung des Grundgesetzes im Jahre 1949 standen die
Westdeutschen unter den besatzungsrechtlichen Vorbehalten, die sich auf alle Fragen
39 Schmitt Diktatur.
40 Schmitt PTh, S. 13.
41 Ein Plädoyer gegen Schmitts Verständnis von Souveränität gibt Schliesky 2004, S. 108ff., vgl. auch
den Sammelband Pircher (Hrsg.) 1999.
42 Schneider 1957, S. 20.
43 Schneider 1957, S. 20.
44 Schmitt PTh, S. 19.
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der inneren und äußeren Staatssicherheit erstreckten.45 Vielmehr galt das auch für die
„erste Souveränitätserklärung“ im Jahre 1955,46 weil durch Art. 5 Abs. 2 des Deutsch-
landvertrages die alliierten Notstandsbefugnisse ausdrücklich aufrecht erhalten wurden.
Diese Befugnisse erloschen für das Bundesgebiet – nicht jedoch für Berlin47 – mit der
Verabschiedung der sog. Notstandsverfassung im Jahre 1968, die gegen beträchtlichen
Widerstand der westdeutschen Öffentlichkeit durchgesetzt wurde. Nur eine Große Koa-
lition aus CDU/CSU und SPD war mit ihrer erdrückenden Mehrheit im Bundestag zu
diesen Änderungen der Verfassung in der Lage. Es bedurfte allerdings erst des Zwei-
plus-Vier-Vertrages, Deutschland als Ganzes im Jahre 1990 – also genau 45 Jahre nach
dem Ende des Zweiten Weltkrieges – von den verbliebenen alliierten Vorbehalten zu
befreien. Bis dahin bestand lediglich eine eingeschränkte deutsche Souveränität.48 Seit
1990 liegen die Entscheidungen über den Ausnahmezustand sämtlich in der Hand deut-
scher Staatsorgane.49
Der Parlamentarische Rat hat versucht, ohne eine Generalklausel für die Suspendierung
von Grundrechten im Grundgesetz auszukommen. Dabei konnte er sich zunächst auf die
Souveränitätsvorbehalte der Alliierten berufen. Allerdings wurden unter dem Stichwort
„wehrhafte Demokratie“ Bestimmungen in das Grundgesetz aufgenommen, die sich
auch im Ausnahmezustand als nützlich erweisen könnten.50 Dazu gehört das Partei- und
Vereinigungsverbot (Art. 21 Abs. 2 und 9 Abs. 2 Grundgesetz) ebenso wie die Verwir-
kung von Grundrechten (Art. 18 Grundgesetz). Als in den 1960er Jahren die Frage der
Ablösung der alliierten Notstandskompetenzen akut wurde, hatte man – freilich nur the-
oretisch – eine Aufspaltung des Gesamttatbestandes des Ausnahmezustands vorge-
nommen, die dann jedoch keinen Niederschlag im Grundgesetz fand.51 Zunächst wurde
unterschieden zwischen einem „Zustand der äußeren Gefahr“, der in den Zeiten des
„Kalten Krieges“ als permanent vorhanden angesehen wurde und einem „Zustand der
inneren Gefahr“, der nur punktuell, etwa zur Zeit des RAF-Terrors,52 bestand. Der Letz-
45 Die Militärgouverneure waren der Ansicht, dass sie selbst „letzten Endes für die Sicherheit verant-
wortlich“ seien, vgl. Klein 1992, S. 391.
46 Bereits 1951 hatten die Westalliierten formell den Kriegszustand mit Deutschland beendet, 1955
folgte die Sowjetunion.
47 Für Berlin galt von 1972 bis 1990 das Viermächte-Abkommen der Alliierten.
48 Die verbliebenen Truppen der britischen „Rheinarmee“ haben erst im Sommer 2013 – also 68 Jahre
nach dem Ende des 2. Weltkrieges – Deutschland verlassen, US-Truppen stehen hingegen nach wie
vor auf deutschem Territorium.
49 Wieweit diese Form der Souveränität tatsächlich geht, würde sich freilich erst im Falle eines echten
Staatsnotstandes erweisen.
50 Frankenberg 2010, S. 104.
51 Klein 1992, S. 392.
52 RAF = Rote Armee Fraktion.
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tere wurde durch einen „Katastrophennotstand“ ergänzt.53 Äußerlich klar erkennbar
wurde aber nur der „Verteidigungsfall“ als Zustand der äußeren Gefahr in einem eige-
nen Abschnitt des Grundgesetzes (Abschnitt Xa) geregelt.
Der Begriff des Ausnahmezustands ist vor allem aus drei Gründen schwer bestimmbar.
Zum einen muss zunächst geklärt werden, ob sich die Frage überhaupt empirisch be-
antworten lässt: Liegt eine außerordentliche Krisensituation vor, die mit den herkömm-
lichen Mitteln nicht zu bewältigen ist und daher außergewöhnliche Maßnahmen ver-
53 Beispiel hierfür ist die Hamburger Flutkatastrophe von 1962, als sich der damals noch unbekannte
Innensenator Helmut Schmidt – ohne grundgesetzliche Ermächtigung – zum Oberkommandierenden
von ca. 2000 Bundeswehrsoldaten und Angehörigen der US-Streitkräfte macht, um der Flut Herr zu
werden.
54 Frankenberg 2010, S. 105.
55 Klein 1992, S. 392.
56 Es ist allerdings fraglich, ob die Polizei nach Personalstärke, Ausrüstung und Ausbildung dazu über-
haupt in der Lage ist.
57 Böckenförde 1978, S. 1881 ff.
58 Siehe hierzu den Beitrag von Andreas Anter und Verena Frick in diesem Band.
59 Vgl. Klein 1992, S. 388f.
60 Vgl. Kraushaar (Hrsg.) 2006.
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langt? Hier werden die politischen Meinungen – je nach Interessenlage – zumeist stark
auseinander gehen. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass der Begriff „Ausnahmezu-
stand“ im Grenzbereich zwischen Recht und Politik liegt und nahe verwandt ist mit Wi-
derstand, Aufruhr und Bürgerkrieg.61 Neben der Politikwissenschaft ist hier vor allem
die Staatsrechtslehre gefragt. Wer hat die Definitionsmacht darüber, ob die Krisensitua-
tion bereits als Staatsnotstand zu bewerten und damit der Ausnahmezustand gerechtfer-
tigt ist? Und drittens schließlich geht es um die Entscheidung darüber, ob die in der
Verfassung vorgesehenen Instrumente ausreichen, oder ob extrakonstitutionelle Maß-
nahmen ergriffen werden sollen. Sicher ist jedenfalls, dass man in dieser Situation nicht
so weitermachen kann wie bisher. Der Begriff selbst deutet vielmehr bereits darauf hin,
dass der regelgemäße Zustand nicht mehr besteht, solange die außergewöhnliche Notsi-
tuation anhält. Es bedarf also geeigneter Maßnahmen, um der Ausnahmesituation an-
gemessen begegnen zu können; es müssen aber auch rechtzeitig geeignete Vorkehrun-
gen getroffen werden, um die Rückkehr von der Ausnahme zur Regel zu ermöglichen.
Ursprünglich bezog sich der Ausnahmezustand auf äußere Gefahren, in diesem Zusam-
menhang wird von Belagerungszustand oder Kriegsrecht gesprochen. Dabei greift der
Staat auf seine Streitkräfte zurück, um die Gefahr abzuwehren. Ähnliches könnte auch
für Bürgerkriege und ggf. sogar für Aufruhr und Aufstände im Inland gelten. Das Mili-
tär gilt in entwickelten Demokratien aber als ungeeignet, diese Aufgabe im Innern zu er-
füllen. Stattdessen haben die meisten westlichen Staaten hierfür eine spezielle Polizei-
truppe, die sog. riot police (in anderen Ländern: Gendarmerie oder Carabinieri), aufge-
stellt. Sie ist besonders dafür geschult, Deeskalierungsstrategien anzuwenden und ggf.
mit speziell für solche Fälle entwickelten Waffen (non-lethal weapons) schnell und ef-
fektiv Ruhe und Ordnung wieder herzustellen.62 Im Kampf gegen den Terrorismus ver-
wischen sich allerdings die Grenzen zwischen militärischem und polizeilichem Einsatz
immer mehr. Oft sind es eher polizeiliche Aufgaben, die von der UNO beauftragte Sol-
daten (gelegentlich auch Polizisten) in mehr oder weniger gescheiterten Staaten über-
nehmen. Überdies sind inzwischen innere Notlagen, wie z.B. Naturkatastrophen (Bei-
spiel: Hurrikan Katrina, 2010), hinzugekommen, die sich zumeist ohne menschliches
Zutun ereignen.
Der Einsatz der Streitkräfte im Innern war seit der Gründung der Bundeswehr stets um-
stritten. Allerdings waren die Rahmenbedingungen im Zeichen des Ost-West-Konflikts
auch ganz andere. Zunächst regelte ein eigener Artikel die Zulässigkeit des Einsatzes,
wenn auch wenig spezifisch, eher als Negativregelung und ohne den Begriff zu definie-
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ren.63 Dieser Art. 143 (alt) Grundgesetz galt bis zur Verabschiedung der Notstandsver-
fassung und fiel dann in dieser Form ganz weg.64 Er lautete:
„Die Voraussetzungen, unter denen es zulässig wird, die Streitkräfte im Falle eines inneren
Notstandes in Anspruch zu nehmen, können nur durch ein Gesetz geregelt werden, das die
Erfordernisse des Artikels 79 erfüllt“.
Von 1956 an verzichtete das Grundgesetz auch auf den Begriff „innerer Notstand“ ganz.
Lediglich der äußere Notstand war in dem Abschnitt Xa „Verteidigungsfall“ in den Ar-
tikeln 115a bis 115l Grundgesetz geregelt. Während Art. 35 Grundgesetz in erster Linie
die Katastrophenhilfe regelt, enthält Art. 91 Grundgesetz die eigentlichen Regelungen
für den inneren Notstand. Dieser Art. 91, der allerdings von den alliierten Militärgou-
verneuren bis zur Erteilung einer ausdrücklichen Genehmigung suspendiert war,65 lau-
tet:
„(1) Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokrati-
sche Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann ein Land Polizeikräfte anderer
Länder sowie Kräfte und Einrichtungen anderer Verwaltungen und des Bundesgrenzschut-
zes66 anfordern.
(2) Ist das Land, in dem die Gefahr droht, nicht selbst zur Bekämpfung der Gefahr bereit
oder in der Lage, so kann die Bundesregierung die Polizei in diesem Lande und die Polizei-
kräfte anderer Länder ihren Weisungen unterstellen und Einheiten des Bundesgrenzschut-
zes einsetzen. Die Anordnung ist nach Beseitigung der Gefahr, im übrigen jederzeit auf
Verlangen des Bundesrates aufzuheben. erstreckt sich die Gefahr auf das Gebiet mehr als
eines Landes, so kann die Bundesregierung, soweit es zur wirksamen Bekämpfung erfor-
derlich ist, den Landesregierungen Weisungen erteilen. Satz 1 und Satz 2 bleiben unbe-
rührt.“
In Ergänzung zu Art. 91 Grundgesetz regelt Art. 87a Abs. 4 Grundgesetz den möglichen
Einsatz der Bundeswehr:
„(4) Zur Abwehr einer drohenden Gefahr für den Bestand oder die freiheitliche demokrati-
sche Grundordnung des Bundes oder eines Landes kann die Bundesregierung, wenn die
Voraussetzungen des Artikels 91 Abs. 2 vorliegen und die Polizeikräfte sowie der Bundes-
grenzschutz nicht ausreichen, Streitkräfte67 zur Unterstützung der Polizei und des Bundes-
grenzschutzes beim Schutze von zivilen Objekten und bei der Bekämpfung organisierter
und militärisch bewaffneter Aufständischer einsetzen. Der Einsatz von Streitkräften ist ein-
zustellen, wenn der Bundestag oder der Bundesrat es verlangen“.
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2.7 Das umstrittene Luftsicherheitsgesetz
Die Anschläge vom 11. September 2001 auf das World Trade Center rückten auch in
Deutschland die Frage in den Vordergrund, ob die Bundeswehr, in erster Linie also die
Luftwaffe, eingesetzt werden dürfe, um Passagiermaschinen, die von Terroristen zu An-
schlägen missbraucht werden sollen, im äußersten Notfall abzuschießen. Das Luft-
sicherheitsgesetz vom 11. Januar 2005,68 mit dem Art. 35 Grundgesetz geändert werden
sollte, enthielt dazu eine entsprechende Regelung zum Einsatz der Streitkräfte:
In einer Entscheidung des Jahres 2006 hat das Bundesverfassungsgericht (Erster Senat)
jedoch die Verfassungswidrigkeit von § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz festgestellt. In
den Leitsätzen vom 15. Februar 2006 heißt es dazu:70
LS 2: „Art. 35 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 Satz 1 GG erlaubt es dem Bund nicht, die Streit-
kräfte bei der Bekämpfung von Naturkatastrophen und besonders schweren Unglücksfällen
mit spezifisch militärischen Waffen einzusetzen“.
LS 3: „Die Ermächtigung der Streitkräfte, gemäß § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes
durch unmittelbare Einwirkung mit Waffengewalt ein Luftfahrzeug abzuschießen, das ge-
gen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll, ist mit dem Recht auf Leben nach Art.
2 Abs. 2 Satz 1 GG in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie des Art. 1 Abs. 1 GG
nicht vereinbar, soweit davon tatunbeteiligte Menschen an Bord des Luftfahrzeugs betrof-
fen werden“.
68 BGBl. I, S. 78.
69 § 14 Abs. 3 des Luftsicherungsgesetzes ist verfassungswidrig und daher nichtig.
70 BVerfG, Urteil des Ersten Senats vom 15.2.2006 – 1 BvR 457/05.
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Damit galt – zunächst – der Grundsatz, dass der Einsatz der Bundeswehr in Deutschland
„mit spezifisch militärischen Waffen“ ausgeschlossen sei. In Abweichung von der
Rechtsauffassung des Ersten Senats hat das Bundesverfassungsgericht auf Antrag des
Zweiten Senats kürzlich jedoch in einer Plenarsitzung entschieden,71 dass der Einsatz
der Bundeswehr zur Gefahrenabwehr „bei Ausnahmesituationen katastrophischen Aus-
maßes, allerdings nicht bei Gefahren, die „von einer demonstrierenden Menschenmenge
drohen“, und nur als „ultima ratio“ zulässig sei.72
„Machiavellis Theorie […] geht nicht von einer gegebenen Ordnung aus, die es zu bewah-
ren und zu verteidigen gilt, sondern macht das Ordnungsdefizit, die Krise, den politischen
Notstand zum systematischen Ort seiner Überlegungen“.73
Für die Herrschenden ist es von entscheidender Bedeutung, ob die bestehenden Span-
nungen innerhalb der Gesellschaft, die nicht zuletzt aus der unterschiedlichen Vertei-
lung von Reichtum, Aufstiegschancen und Mitwirkungsmöglichkeiten resultieren, so
kanalisiert und „befriedet“ werden können, dass sie sich nicht in unkontrollierbaren
Gewaltausbrüchen Bahn brechen, sondern letztlich „beherrschbar“ bleiben. In der Fra-
ge, was unter „Beherrschbarkeit“ verstanden werden soll, liegt freilich eines der wich-
tigsten Probleme, da dies nicht nur Verfahren, Instrumente und Methoden staatlichen
Handelns, sondern auch Umfang, Ausmaß und Intensität und damit letztlich die Legiti-
mität von Gewaltanwendung umfasst. Innenpolitisch geht es dabei um ein Zusammen-
wirken von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik sowie außenpolitisch um die Rahmen-
bedingungen für den betroffenen Staat. Lassen die Anderen diesem Staat (relativ) freie
Hand bei der Krisenbewältigung, oder verschärfen interessierte Kreise die interne Krise
durch Druck von außen? Bleibt angesichts der Macht des globalen Finanzsystems über-
haupt ein Spielraum für nationale Krisenbewältigung? Kommt es umgekehrt womöglich
sogar zu Interventionen anderer Staaten, ggf. unter dem Deckmantel der „humanitären
Intervention“? Oder wird auch bei erkennbaren Menschenrechtsverletzungen – wie bei
dem Eingreifen Saudi Arabiens in die Bekämpfung der Unruhen in Bahrein – aus politi-
scher Rücksichtnahme selbst eine kritische Stellungnahme vermieden?
71 Eine Plenarentscheidung beider Senate ist immer dann erforderlich, wenn ein Senat (hier der Erste
Senat) von der Rechtsauffassung des anderen Senats abweichen will, § 16 Bundesverfassungsge-
richtsgesetz.
72 BVerfG, Beschluss des Plenums vom 3.7.2012 – 2 PBvU 1/11.
73 Münkler 1987, S. 189.
100
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3.1 Der drohende Bürgerkrieg
Nahezu jede Diskussion über den Ausnahmezustand ist von dem jederzeit – gewisser-
maßen am Horizont drohenden – „Horrorszenario“ eines Bürgerkrieges überschattet, der
unter allen Umständen vermieden werden soll. Das zeigte sich in der Staatstheorie be-
sonders deutlich im 17. Jahrhundert bei Thomas Hobbes,74 später in der ersten Hälfte
des 20. Jahrhunderts bei Carl Schmitt75 und zeigt sich heute – im Angesicht der globa-
len Finanzkrise – z.B. bei Giorgio Agamben.76 Wie kann vermieden werden, dass die
politischen Spannungen in einer Gesellschaft so eskalieren, dass daraus blutige und
womöglich bewaffnete Auseinandersetzungen werden? Diese Frage betrifft fast alle
Länder des „Arabischen Frühlings“. Und was ist zu tun, wenn der Konflikt bereits zum
Bürgerkrieg eskaliert ist? Gibt es eine allseits respektierte Instanz, also eine Person oder
eine Institution, die z.B. mit Hilfe des Ausnahmezustands die Ordnung wieder herstel-
len könnte? Reicht dafür die Autorität dieser Instanz, und reichen ihre Machtmittel hier-
für aus?
Eine weitere wichtige Frage ist die, mit welchen Konsequenzen der- oder diejenige nach
dem Ende des Ausnahmezustands zu rechnen hat, der/die die Ausnahmebefugnisse
wahrnimmt. Die Römer kamen im Laufe ihrer Geschichte oft in eine solche Situation
und waren daher mit ihr vertraut. Sie wählten dann – im Idealfall – für einen begrenzten
Zeitraum (6 Monate) einen Diktator,77 der allen anderen Magistratsbeamten (auch den
Konsuln) übergeordnet war und nicht strafrechtlich für das belangt werden konnte, was
er während seiner Amtszeit getan hatte. Die wichtigste Aufgabe des Diktators war es,
im Rahmen einer „kommissarischen Diktatur“ den Angriff eines starken äußeren Fein-
des durch Krieg abzuwehren oder einen Aufruhr im Innern niederzuschlagen, um an-
schließend die verfassungsgemäße Ordnung der Römischen Republik wieder herzustel-
len.78 Nach Ablauf seiner Wahlzeit verlor der Diktator sein Amt und damit seine Befug-
nisse.
Im Laufe der Geschichte hat es in vielen Teilen der Welt gravierende Staatskrisen und
Staatsnotstände gegeben, die nur noch durch außerordentliche Maßnahmen bekämpft
74 Hobbes 1999.
75 Schmitt Leviathan.
76 Agamben 2004.
77 Wegen der zeitlichen Begrenzung sprach Bodin diesem „Kommissar“ das Merkmal der Souveränität
ab, vgl. den Beitrag von Norbert Campagna in diesem Band.
78 Siehe hierzu: Agamben 2004, S. 52ff.
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werden konnten.79 In Deutschland bietet die Staatskrise der Weimarer Republik ein an-
schauliches Beispiel für den Verlauf einer Krise im Europa der Zwischenkriegszeit, die
– so scheint es – nur zu einer temporären oder aber zu einer dauerhaften Diktatur führen
konnte.80 Hätte sich der uns bekannte Verlauf der Geschichte durch das Ausrufen eines
zeitlich begrenzten Ausnahmezustands verhindern lassen? Die Weimarer Koalition, die
vor allem aus SPD, Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei 81 bestanden hatte
und gewissermaßen als „tragende Säule“ der Weimarer Republik fungierte, zerbrach in
der Weltwirtschaftskrise. Die ausländischen Kredite, auf die vor allem Gustav Strese-
mann seine Politik gegründet hatte, waren gestrichen worden, und die eigenen Steuer-
einkünfte gingen rapide zurück.82
Anfang der 1930er Jahre83 hatten die demokratischen Parteien ihre Mehrheit im Reichs-
tag verloren;84 auch die Präsidialkabinette Brüning (Zentrum), Papen (Zentrum85) und
Schleicher (parteilos), die mit Hilfe des präsidialen Notverordnungsrechts (Art. 48
WRV) regierten, waren gescheitert. Sie fanden im Reichstag keine Zustimmung mehr.
Reichspräsident Paul von Hindenburg stand daher vor einer schwierigen Entscheidung:
Sollte er den bereits ausgearbeiteten Staatsnotstandsplan in Kraft setzen86 und damit die
Verfassung brechen, oder sollte er Adolf Hitler als Parteichef der stärksten Fraktion im
Reichstag (NSDAP) mit der Regierungsbildung beauftragen? Hindenburg entschied
sich schließlich für die zweite Alternative, die immerhin den Gepflogenheiten des par-
lamentarischen Regierungssystems entsprach.87 Der Reichspräsident hätte das Abwei-
chen von der Verfassung nur mit dem Vorliegen eines Staatsnotstandes rechtfertigen
können.
79 So verhängte etwa der damalige italienische Ministerpräsident Silvio Berlusconi am 26. Juli 2008
einen landesweiten Notstand zur Bewältigung der starken Zunahme sog. Bootsflüchtlinge (es waren
10.611 Flüchtlinge im 1. Halbjahr 2008).
80 Siehe hierzu den Beitrag von Dirk Blasius in diesem Band.
81 Später: Deutsche Staatspartei.
82 Vgl. Neumann 1980, S. 101; insofern lassen sich gewisse Ähnlichkeiten mit der gegenwärtigen Krise
Europas konstatieren.
83 Am 27. März 1930 scheiterte die von Reichskanzler Hermann Müller (SPD) geführte Koalitionsre-
gierung aus SPD, DVP, Zentrum und DDP (Deutsche Demokratische Partei/Deutsche Staatspartei)
an der Frage einer Beitragserhöhung der Arbeitslosenversicherung um einen halben Prozentpunkt.
84 Bei der Reichstagswahl am 30. Juli 1932 ergab sich vielmehr eine (allerdings lediglich rechnerische)
Regierungsmehrheit für NSDAP und KPD.
85 Ab 1932 war Franz von Papen parteilos und von 1933-1934 Vizekanzler im Kabinett Hitler.
86 Das hätte aller Voraussicht nach allerdings den Einsatz der Reichwehr und der seit dem 20. Juli 1932
dem Reich unterstehenden preußischen Polizei und damit vermutlich den Bürgerkrieg bedeutet.
87 Berthold 1999, S. 28; die Reichsregierung des Jahres 1933 bestand aus 3 Mitgliedern der NSDAP,
darunter Hitler als Reichskanzler, sowie 2 Mitgliedern der DNVP und sechs Parteilosen, darunter
von Papen als Vizekanzler.
102
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3.3 Der Staatsnotstand als Alternative wozu?
Ob man jedoch die Zerrissenheit der (Weimarer) Gesellschaft und die – auch daraus re-
sultierende – Zerstrittenheit der politischen Parteien, die sich in den Ergebnissen der
Reichstagswahlen spiegelte, und die letztlich dazu führte, dass sich keine Mehrheit
mehr für eine Regierung der gemäßigten Kräfte fand, als „Staatsnotstand“ bezeichnen
kann, ist zumindest fraglich. Heinrich August Winkler hat die Behauptung aufgestellt,
dass gerade die Alternative des Staatsnotstandsplans – also die Auflösung des Reichs-
tags und die Vertagung seiner Wiedereinberufung auf unbestimmte Zeit 88 – einen Aus-
weg aus der Staatskrise gebracht und die Weimarer Republik am Leben erhalten hätte.89
Diese (spekulative) Behauptung spielt in der politischen Diskussion in Deutschland
immer noch eine nicht unwesentliche Rolle. Letztlich ist heute – mehr als achtzig Jahre
nach den Geschehnissen – jedoch nicht mehr eindeutig zu klären, ob sich in der Folge
ein autoritäres Militärregime auf Dauer etabliert hätte, oder ob man wirklich zeitnah zu
einer parlamentarischen Demokratie zurückgekehrt wäre.90 Die Voraussetzungen für die
zweite Alternative waren jedenfalls denkbar schlecht. Auf der anderen Seite ist es aber
auch keineswegs sicher, dass eine ähnlich bedrohliche Staatskrise mit dem heutigen In-
strumentarium des Grundgesetzes tatsächlich zu bewältigen wäre, wie die Mitglieder
des Parlamentarischen Rates 1949 aber offenbar geglaubt haben.
Wirtschafts- und Finanznotstände, die oft auch einen Staatsbankrott einschlossen, hat es
im 20. Jahrhundert häufig gegeben.91 Besonders den Deutschen ist die Hyperinflation
der Jahre 1922 bis 1933 mit ihrem „Notgeld“ noch in abschreckender Erinnerung.92 Der
permanente Finanznotstand war im Übrigen eine der Ursachen für das Scheitern der
Weimarer Republik.93 Zur endgültigen Überwindung der Inflation trugen zwei Ermäch-
tigungsgesetze des Jahres 1923 entscheidend bei.94 Man kann Finanznotstände geradezu
als die am häufigsten vorkommenden Staatsnotstände bezeichnen.95 Allerdings waren
diese Notstände bis zum Inkrafttreten der Europäischen Währungsunion auch in Europa
regelmäßig auf einzelne Staaten und deren nationale Währung begrenzt. Dementspre-
88 Art. 25 Abs. 2 WRV legte für den Fall, dass der Reichspräsident den Reichstag aufgelöst hatte, ein-
deutig fest: „Die Neuwahl findet spätestens am sechzigsten Tage nach der Auflösung statt“.
89 Winkler 1993, S. 608.
90 Berthold 1999, S. 10.
91 Vgl. Kerber 2002.
92 Im November 1923 betrug der Umrechnungskurs für einen US-Dollar 4,2 Billionen Mark.
93 Agamben sieht darin eine Bestätigung, dass „in der Moderne politisch-militärischer Notstand und
ökonomische Krise tendenziell zusammenfallen“, Agamben 2004, S. 23.
94 Ermächtigungsgesetz vom 13.10.1923 (RGBl. I, S. 943) und vom 8.12.1923 (RGBl. I, S. 1179), vgl.
Folz 1962, S. 93f.
95 Folz 1962, S. 89f.
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chend eröffnet Art. 38 Abs. 1 der Verfassung der Fünften Republik der französischen
Regierung die Möglichkeit, in solchen Fällen Notprogramme zu erlassen. Freilich benö-
tigt die Regierung nach der Verfassung dazu eine (befristete) Ermächtigung zum Erlass
gesetzesvertretender Verordnungen (ordonnances) durch die Nationalversammlung.
Dies waren allerdings Regelungen, die auf der währungspolitischen Souveränität Frank-
reichs als Nationalstaat basierten. Durch die Übertragung der geldpolitischen Zustän-
digkeiten von der französischen Notenbank auf die Europäische Zentralbank ist die La-
ge bei einem nationalen Finanznotstand für Frankreich spätestens seit 2002 allerdings
erheblich komplizierter geworden.96
Eine in der Geschichte bereits mehrfach praktizierte Möglichkeit, die bestehende Ord-
nung – zumindest für einen gewissen Zeitraum – aufrecht zu erhalten, sind „Notkabinet-
te“, die nach dem Scheitern der „normalen“ Regierungen – oft auf Druck von außen –
etabliert worden sind. Sie sollen eine dauerhafte Diktatur („Tyrannis“) verhindern, ent-
puppen sich oft aber lediglich als Vorstufe zu dieser. In der Endphase der Weimarer
Republik gab es die drei Präsidialkabinette Brüning, Papen und Schleicher. Sie scheiter-
ten und führten schließlich zu einem nationalsozialistischen Regime in Deutschland.
Dieses sog. „Dritte Reich“ könnte man – mit Giorgio Agamben – selbst als Ausnahme-
zustand betrachten, der den Beginn eines „legalen Bürgerkriegs“ markierte. 97 Denn
durch Hitlers Notverordnung „zum Schutz von Volk und Staat“ wurden am 28. Februar
1933 die individuellen Freiheitsrechte der Weimarer Reichsverfassung auf Dauer außer
Kraft gesetzt. Ob dies durch die von Carl Schmitt beschworene Einsetzung eines
„kommissarischen Diktators“ zu verhindern gewesen wäre, ist allerdings fraglich.
Noch komplizierter wird diese Fragestellung, wenn man die gegenwärtige Krisensitua-
tion als Parallele heranzieht. Im Zeichen der europäischen Finanz- und Währungskrise
wurden zeitweilig Notkabinette in Italien (Regierung Monti) und Griechenland (Regie-
rung Papadimos) installiert. Sie hatten – teils gewollt, teils ungewollt – nur eine kurze
Lebensdauer und zeichneten sich einerseits durch eine gewisse Parteienferne,98 anderer-
seits durch technokratische Expertise aus. Lassen sich die Notkabinette von Papadimos
und Monti als „kommissarische Diktaturen“ verstehen? Beide Ministerpräsidenten wa-
ren zuvor Banker bzw. Notenbankpräsidenten und verkörperten den Typus des antipoli-
tischen Technokraten. Mario Monti, der die italienische Übergangs-Regierung vom 16.
November 2011 bis zu seinem Rücktritt am 21. Dezember 2012 leitete, gehörte dem in-
96 Ähnliches gilt natürlich für Deutschland ebenso wie für die übrigen Mitgliedsstaaten der Eurozone.
97 Agamben 2004, S. 8.
98 Bei Mario Monti ist das deutlicher zu sehen als bei Antonis Samaras, der durch Wahlen in sein Amt
gelangt ist; der parteilose „Nicht-Politiker“ Monti wurde am 9. November 2011 von Staatspräsident
Giorgio Napolitano zum Senator auf Lebenszeit ernannt.
104
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ternationalen Beraterstab der Investmentbank Goldman Sachs an und war zeitweilig ita-
lienischer EU-Kommissar. Loukas Papadimos, bis 2002 Gouverneur der Bank von
Griechenland, amtierte als griechischer Ministerpräsident noch kürzer, nämlich vom 10.
November 2011 bis zum 16. Mai 2012. Beide haben zwar Reformen angestoßen, schei-
terten aber – trotz aller Unterschiede im Einzelnen – letztlich an dem Widerstand der
etablierten politischen Parteien, die auf ihre eigenen Interessen fixiert waren. Tatsäch-
lich waren weder Papadimos noch Monti „kommissarische Diktatoren“, sie hatten we-
der die Macht noch die Zeit für durchgreifende Veränderungen, sie waren aber auch
keine Regierungschefs im üblichen Sinne.
99 Das gilt zumindest für Griechenland, das sich in einer Art permanentem „Staatsnotstand“ befindet.
100 Der Internationale Währungsfonds zieht sich allerdings ab 2014 aus der Finanzierung Griechenlands
zurück. Ein Schuldenerlass zu Gunsten Griechenlands und zu Lasten der europäischen (vor allem der
deutschen) Steuerzahler dürfte spätestens dann unausweichlich sein.
105
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sondere von den damals Verantwortlichen – hingegen längst verdrängt.101 An den ei-
gentlichen Ursachen, nämlich einem eklatanten Defizit an Staatlichkeit bei der Finanz-
marktregulierung, wird ohnehin nichts geändert.
„Die Spannung zwischen der Legalordnung und der tatsächlichen Machtausübung durch
die Präsidialkabinette konnte auf zwei Wegen gelöst werden, entweder durch die Anpas-
sung der Legalordnung an die Machtverhältnisse oder durch die Umgestaltung der Macht-
verhältnisse, so daß eine sinnvolle Ausfüllung der Legalordnung hätte möglich werden
können“.102
Die Weimarer Republik hatte mit den ungeklärten Machtverhältnissen nach der durch
den Kieler Matrosenaufstand vom November 1918 ausgelösten Revolution auch innen-
politisch ein schweres Erbe übernommen. Das durch die Weimarer Reichsverfassung
manifestierte politische System stand – politisch wie wissenschaftlich – beständig auf
dem Prüfstand. Spätestens seit 1930 wurde in Deutschland sowohl auf Tagungen wie
auch in Publikationen vermehrt von der „großen Staatsreform“ gesprochen und ge-
schrieben. Um die Jahreswende 1932/1933 ging es dann ganz konkret um die Frage, ob
bereits ein Staatsnotstand vorliege, der entsprechende Maßnahmen rechtfertige, oder ob
es gar keinen „echten Staatsnotstand“ gebe. Dabei ging es zum einen um die wachsende
Unmöglichkeit, eine Mehrheit im Reichstag für Gesetzesvorlagen der Reichsregierung
zustande zu bringen, zum anderen um die zunehmenden Angriffe der Kampforganisati-
onen von KPD und NSDAP auf die bürgerliche Ordnung. In Berlin und anderen deut-
schen Großstädten lieferten sich Rotfrontkämpferbund und SA (Sturm-Abteilung) im-
mer häufiger blutige Straßenschlachten, in die oft auch die Polizei involviert war.103
Kurz vor dem Sturz Franz von Papens als Reichskanzler ließ Reichswehrminister Kurt
von Schleicher im November 1932 ein militärisches Planspiel durchführen, um zu prü-
fen, ob sich Reichswehr und preußische Polizei tatsächlich gegen einen gemeinsamen
Aufstand von NSDAP und KPD behaupten könnten. Der Leiter dieses Planspiels war
101 Sowohl der für die auf „getürkten“ Daten basierende Aufnahme Griechenlands verantwortliche da-
malige Ministerpräsident (1996-2004) Konstantinos Simitis, als auch der zwielichtige Ex-
Premierminister (zuletzt 2008-2011) Italiens Silvio Berlusconi schieben die Schuld an der wirt-
schaftlichen Misere ihrer Länder den wirtschaftstarken Staaten des Nordens, insbesondere Deutsch-
land, zu.
102 Neumann 1980, S. 116.
103 Auch die übrigen Parteien hatten Kampfbünde, wie z.B. „Stahlhelm“ (Deutsch Nationale Volkspar-
tei) oder „Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold“ (SPD).
106
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Schleichers Vertrauter Oberstleutnant Eugen Ott, Leiter der Wehrmachtsabteilung im
Reichswehrministerium. Das Ergebnis war niederschmetternd:
„[…] habe sich bei sorgfältiger Abwägung gezeigt, daß die Ordnungskräfte des Reiches
und der Länder in keiner Weise ausreichten, die verfassungsmäßige Ordnung gegen einen
gemeinsamen Aufstand von Nationalsozialisten und Kommunisten aufrechtzuerhalten und
zugleich im Osten die Grenzen gegen einen dann zu erwartenden Aufstand der Polen zu
schützen. Es sei daher die Pflicht des Reichswehrministers, die Zuflucht der Regierung zum
militärischen Ausnahmezustand zu verhindern“.104
Am 3. Dezember 1932 wurde Papen als Reichskanzler gestürzt, und Schleicher trat an
seine Stelle. Sechs Tage später beschloss der Reichstag, Art. 51 WRV dahingehend zu
ändern, dass nicht mehr der Reichskanzler, sondern der Reichstagspräsident Stellvertre-
ter des Reichspräsidenten sein solle.105 Damit war Schleichers Ambitionen verfassungs-
rechtlich ein Riegel vorgeschoben worden.106 Gegen das am 31. Januar 1933 erwartete
Misstrauensvotum des Reichstags sollte der Reichstag nach dem Willen Schleichers
aufgelöst und die Neuwahlen – gegen den Wortlaut der Verfassung (Art. 25 WRV) –
ausgesetzt werden.107 Carl Schmitt war wegen seiner engen Kontakte zur Wehrmachts-
abteilung der Reichswehr offenbar unmittelbar in die Notstandsplanungen der Reichs-
leitung eingeschaltet.108 Ob allerdings Volker Neumanns Sicht der Dinge aus dem Jahre
1980, Carl Schmitt habe von 1929 an den „schleichenden Übergang zur Diktatur auf der
staatsrechtlichen Ebene“ vorbereitet,109 zutrifft, ist angesichts neuerer Forschungen frag-
lich. Tatsächlich fungierte Schmitt als einer der staatsrechtlichen Berater der Reichs-
wehr. Am 13. September 1932 hatte Oberstleutnant Ott eine Aussprache mit den drei
Staatsrechtslehrern Carl Schmitt, Karl Bilfinger und Erwin Jacobi. Auf die Frage, ob ei-
ne Verschiebung der Neuwahlen staatsrechtlich zu decken sei, bejahten alle Drei die
Frage:
„Wenn Verschiebung der Neuwahl begründet wird auf Verfassungseid (Schaden vom Vol-
ke abzuwenden) und begründet wird mit der schweren gegenwärtigen Notlage des deut-
schen Volkes, das unbedingt Ruhe braucht, so entsteht echtes Staatsnotrecht“.110
104 Huber 1964, Dok. Nr. 498, S. 619ff.; auf die Loyalität der Reichswehr konnte sich die Reichsregie-
rung ohnehin nicht verlassen.
105 Gesetz über Änderung der Reichsverfassung, in Kraft getreten am 17.12.1932 (RGBl. I, S. 547).
106 Vgl. Neumann 1980, S. 125.
107 Art. 25 WRV lautet: „Der Reichspräsident kann den Reichstag auflösen. […] Die Neuwahl findet
spätestens am sechzigsten Tage nach der Auflösung statt“.
108 Vgl. Huber 1988, S. 33ff.; Muth 1991, S. 75-147.
109 Neumann 1980, S. 107.
110 Zitiert nach Berthold 1999, S. 33.
107
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5.2 Der Reichspräsident in Beugehaft?
„Wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden
Pflichten nicht erfüllt, kann der Reichspräsident es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht
anhalten.
Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ord-
nung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Si-
cherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der be-
waffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die in den Arti-
keln 114, 115, 117, 118, 123, 124 und 153 festgesetzten Grundrechte ganz oder zum Teil
außer Kraft setzen.
Von allen gemäß Abs. 1 oder Abs. 2 dieses Artikels getroffenen Maßnahmen hat der
Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf
Verlangen des Reichstages außer Kraft zu setzen.
Bei Gefahr im Verzuge kann die Landesregierung für ihr Gebiet einstweilige Maßnahmen
der in Abs. 2 bezeichneten Art treffen. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichsprä-
sidenten oder des Reichstages außer Kraft zu setzen.
Das Nähere bestimmt ein Reichsgesetz.“
Von der „Diktaturgewalt“ dieses Notstandsartikels113 hatten bereits in den 1920er Jah-
ren beide Reichspräsidenten, Ebert und Hindenburg, ausgiebig Gebrauch gemacht.
Auch diese „äußerste Legalitätsreserve“ der Weimarer Verfassung114 half in der Krise
der Jahreswende 1932/33 jedoch nicht weiter. Sie enthielt nach herrschender Meinung
auch gar kein „Staatsnotrecht“ des Reichspräsidenten.115 Carl Schmitt hatte vielmehr
111 Auch Schmitt änderte seine Meinung im Herbst 1932 und stand dem Notstandsplan nun mit großer
Skepsis gegenüber, Berthold 1999, S. 34, 40f.
112 Es erwies sich nun, dass Schleicher – ebenso wenig wie sein Vorgänger Papen – über keinen Rück-
halt im Reichstag verfügte, vgl. Berthold 1999, S. 42.
113 Grau 1922; Schmitt 1924; Nawiasky 1925, S. 1ff.
114 Berthold 1999, S. 55.
115 Anschütz 1919, S. 279,
108
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stets ausdrücklich darauf verwiesen, dass ein Staatsnotrecht nicht innerhalb, sondern
außerhalb der Verfassung zu suchen sei:
Letztlich geht es bei der Frage nach dem Ausnahmezustand um einen Grundwider-
spruch des modernen Staates, nämlich den zwischen Ordnung und Freiheit. Peter
Schneider hat im Rahmen seiner Untersuchungen zu Ausnahmezustand und Norm die
Frage aufgeworfen: Ist Souveränität – gleich welcher Art – im demokratischen Rechts-
staat überhaupt denkbar? Dabei gehe es um die Antinomie zwischen Freiheit und Staat,
die eine eindeutige Entscheidung verlange:
„Entweder ist die Freiheit oder dann ist der Staat das Höchste. […] Die Souveränität der
Freiheit ist also im Normalzustand, die Souveränität des Staates im Ausnahmezustand aktu-
ell“.117
Carl Schmitt hatte bereits 1922 konstatiert, dass eine Jurisprudenz, „die sich an den Fra-
gen des täglichen Lebens und der laufenden Geschäfte“ orientiere, „kein Interesse an
dem Begriff der Souveränität“ habe.118 Dieses Desinteresse an Souveränitätsfragen lässt
sich in der Tat bis in unsere Tage bei vielen Staatsrechtslehrern feststellen.
109
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cherheit zu gewährleisten. Auch Bundeskanzler Willy Brandt genehmigte Waffenliefe-
rungen an Israel, was von den Beteiligten seinerzeit als „Rechtsbruch“ verstanden und
mit einem „übergesetzlichen Notstand“ gerechtfertigt wurde.119 Eigentlich unterliegen
Waffenlieferungen in Krisengebiete besonderen Restriktionen, für Israel wird jedoch ei-
ne Ausnahme gemacht. Als im Juni 2012 bekannt wurde, dass Deutschland U-Boote an
Israel liefert,120 die mit atomaren Marschflugkörpern ausgestattet werden können, wurde
öffentliche Kritik laut,121 die freilich keine erkennbare Änderung der Politik der Bun-
desregierung bewirkt hat.
Die Krisen des globalen Finanzsystems haben dazu geführt, dass der Handlungs- und
Entscheidungsspielraum der Staaten, aber auch der supra- und internationalen Instituti-
onen, signifikant geschrumpft ist. Unter Aufbietung enormer Geldmittel – aber mit nur
mäßigem Erfolg – wird in der Europäischen Währungsunion (Eurozone) mit Hilfe sog.
Rettungsschirme versucht, das Finanzsystem zu stabilisieren. Mit der Gefahr für die
Stabilität des Euro wird von den Regierenden eine Art „finanzpolitischer Ausnahmezu-
stand“ heraufbeschworen. Grundlegende Prinzipien der parlamentarischen Demokratie
bleiben dabei jedoch auf der Strecke, wenn Parlamente zu bloßen Akklamationsinstan-
zen für an anderer Stelle bereits entschiedene milliardenschwere „Rettungspakte“ de-
gradiert werden. Zudem haben die angewandten Strategien allenfalls eine mittlere
Reichweite, die in erster Linie die Eurozone umfasst. Auf die Aktionen anderer staatli-
cher Mitspieler (USA, Japan, China), fremder Notenbanken oder gar privater Investoren
haben Europäische Zentralbank oder vom Europäischen Rat veranlasste „Rettungs-
schirme“ zumindest keinen direkten Einfluss. Das globale Finanzsystem entzieht sich
weitestgehend den Einflussmöglichkeiten von Einzelstaaten und multi- oder internatio-
nalen Institutionen. Das ist aber keinesfalls zufällig oder eine Art „Unfall“, sondern
vielmehr von neoliberalen Kräften in den Regierungen westlicher Staaten – allen voran
die USA und Großbritannien – durchaus gewollt (gewesen).
In jüngster Zeit hat sich besonders Giorgio Agamben – in Anlehnung an Carl Schmitt
sowie an Walter Benjamin,122 der von dem „Ausnahmezustand als Normalfall“ spricht,
– mit dem Ausnahmezustand befasst und konstatiert, dass sich die westlichen Demokra-
tien in einem „permanenten Ausnahmezustand“ befinden. In seinen Schriften Homo
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sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben123 und Ausnahmezustand: Homo
sacer II.1124 geht es ihm um das „Paradox der Souveränität“, nämlich dass der Souverän
zugleich innerhalb und außerhalb der Rechtsordnung steht. Hier ist unschwer der Bezug
zu Carl Schmitts Diktaturkonzept zu erkennen, der ja auch davon ausgeht, dass der
Ausnahmezustand letztlich außerhalb der Rechtsordnung angesiedelt ist und das Volk
als Souverän außerhalb der geltenden Rechtsordnung steht („souveräne Diktatur“),
wenn es sich eine neue Verfassung gibt. Agamben verortet den Ausnahmezustand zwi-
schen Demokratie und Absolutismus und konstatiert, dass dieser Zustand heute immer
mehr von der Ausnahme zur Regel125 und damit zu einer „selbstverständlichen“ Tech-
nik des Regierens geworden ist.126 Aus der Endphase der Weimarer Republik zieht
Agamben den Schluss,
„daß eine ‚geschützte Demokratie‘ keine Demokratie ist und daß das Paradigma der Ver-
fassungsdiktatur eher als Phase eines Übergangs funktioniert, der in fataler Weise zur Ein-
setzung eines totalitären Regimes führt“.
Die Frage, ob man Agambens Interpretation des Schmittschen Denkens – und die Ver-
knüpfung mit der Foucaultschen Biopolitik – zu folgen bereit ist, ist offen. Allerdings
sind Agambens Einwände durchaus ernst zu nehmen. Er knüpft damit nämlich an Kel-
sens berühmtes Diktum an: Wer die Demokratie will, darf nicht zur Diktatur greifen,
um die Demokratie zu retten. Denn es wird ihm nicht gelingen, die Demokratie zu ret-
ten, vielmehr wird er am Ende mit nichts Anderem als einer Spielart des breiten Spekt-
rums totalitärer Systeme konfrontiert sein. Wer die Demokratie aufs Spiel setzt, wird sie
verlieren, sie zurückzuholen ist hingegen kaum möglich. Die Konsequenzen aus dieser
Erkenntnis finden sich in der Debatte um die „Postdemokratie“. Als Hülle existiert die
Demokratie auch im „permanenten Ausnahmezustand“, es finden Wahlen statt, manch-
mal werden auch Regierungen abgewählt, aber es ändert sich nichts Grundlegendes.127
Chantal Mouffe weist unter Bezugnahme auf den Altmeister Niccolò Machiavelli ein-
dringlich auf die Gefahren des „Postpolitischen“ hin:
„Die postpolitische Perspektive ist durch die Behauptung definiert, wir seien in eine Ära
eingetreten, in der dieser potentielle Antagonismus [nämlich der zwischen den Herrschen-
den und den Beherrschten] verschwunden ist. Damit aber läuft sie Gefahr, die Zukunft de-
mokratischer Politik aufs Spiel zu setzen“.128
Ist das die Erklärung für die Merkwürdigkeiten unserer Zeit, dass wir uns in einer
„postpolitischen“ Phase befinden? Es wäre aber auch durchaus denkbar, dass der Ge-
111
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genstand dieses – zugegebenermaßen sehr anspruchsvollen – Versuchs einer Beschrei-
bung lediglich die Spitze des Eisbergs ist. Wir können nur beschreiben, was wir sehen.
Für den Versuch des globalen Finanzsystems, die Weltherrschaft zu übernehmen,
scheinen wir aber keine Augen zu haben. Er entzieht sich offenbar der Wahrnehmung
durch unsere fünf Sinne. Das erlaubt es uns dann auch – im Lehnstuhl gemütlich vor
dem Kamin sitzend –, ernsthaft über die Frage zu lamentieren, ob die Beschaffung be-
waffneter Drohnen für die Bundeswehr die (von Deutschland ausgehende?) Kriegsge-
fahr erhöht, oder ob die Regelung des Ausnahmezustands im Grundgesetz den Einsatz
demokratievernichtender Instrumente durch die Herrschenden wahrscheinlicher macht.
Für eine Analyse der Gefahren für die Demokratie in der Gegenwart fehlt dann meist
der nötige Elan.
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Preußische Bindungen
Dirk Blasius
Bei Carl Schmitt ist zwischen Einsichten und Absichten zu unterscheiden. Das gilt be-
sonders für eine seiner wirkungsmächtigsten Definitionen, die kategoriale Erfassung des
„Ausnahmezustandes“. 1922 veröffentlichte Schmitt unter dem Titel Politische Theolo-
gie „Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität“. Das erste Kapitel „Definition der
Souveränität“ leitete er mit dem Satz ein: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezu-
stand entscheidet.“1 Der ideengeschichtliche und rechtstheoretische Zuschnitt seiner
Überlegungen hat deren Rezeption stark beeinflusst. Giorgio Agamben greift auf
Schmitt zurück, wenn er einen dem Ausnahmezustand anhaftenden Widerspruch zu be-
nennen versucht. Wie könne durch eine Suspendierung der gültigen Ordnung deren Be-
stehen gesichert werden? Der Ausnahmezustand bleibt bezogen auf die geltende
Rechtsordnung, und es sei die Frage, ob er diese zum Einsturz bringe oder für den Fall
äußerster Not und der Gefährdung der Existenz des Staates nur eine Rechtslücke schlie-
ße.
„Wenn das Eigentümliche des Ausnahmezustands die (totale oder partielle) Suspendierung
der Rechtsordnung ist, wie kann dann eine solche Suspendierung noch in der Rechtsord-
nung enthalten sein? Wie kann eine Anomie in die Rechtsordnung eingeschrieben sein?“2
„daß die Erhaltung der Integrität der rechtsstaatlichen Ordnung nicht durch eine vermehrte
Gesetzgebung (Problem der sog. Antiterrorgesetze) und schon gar nicht durch die Einfüh-
rung des ‚übergesetzlichen Notstandes’ im Verfassungsrecht erreicht werden kann, sondern
1 Schmitt 1922, S. 9.
2 Agamben 2004, S. 32.
3 Böckenförde 2011, S. 372.
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an die Anerkennung der Möglichkeit des Ausnahmezustandes und dessen verfassungsrecht-
liche Verankerung gebunden ist.“4
Schmitts Grundgedanke von 1922, den Ausnahmezustand „im eminenten Sinne“ für die
juristische Definition der Souveränität auszuweisen, gewann am Ende der Weimarer
Republik eine eminente politische Bedeutung. Die „Frage nach der Souveränität“ warf
die „Frage nach dem Subjekt der Souveränität“ auf. Wer sollte zuständig sein für die
Entscheidung, ob in einem „extremen Notfall“ des Staates – und dieser war Anfang der
1930er Jahre eingetreten – „die Verfassung in toto suspendiert werden kann.“7 Carl
Schmitt stellte mit seinen „Lehren“ den Entscheidungsträgern der Weimarer Politik ein
gedankliches Gerüst zur Verfügung.
Ob Schmitt „in der Agonie der Weimarer Republik“ auf den Ausnahmezustand setzte,
um zur Normallage der Verfassungsordnung zurückzukehren, ist historisch umstritten.9
Seine Tagebücher der Jahre 1930 – 1934 relativieren seine Rolle als Rechtsberater der
drei Präsidialregierungen Brüning, Papen und Schleicher.
„Nach der Veröffentlichung der Tagebücher […] lässt sich seine juristische Ausdeutung des
Präsidialsystems schwerlich weiter als Verteidigung der liberalen Substanz Weimars lesen.
Man muss zwischen dem juristischen und dem politischen Denken unterscheiden. Politisch
In der auf das Ende der Weimarer Republik eingegrenzten politischen Diskussion des
Ausnahmezustandes gerät aus dem Blick, dass Carl Schmitts Begriffe weit in den Raum
der preußisch-deutschen Verfassungsgeschichte hineinreichen. Sein Werk spiegelt deren
Wendungen, Zuspitzungen und Fehlentwicklungen.
Carl Schmitts Begriff des Ausnahmezustandes fußt auf einem Sockel historischer Erfah-
rungen, die ihm der Erste Weltkrieg vermittelte. Im August 1916 entließ der Kaiser den
umstrittenen Chef der Heeresleitung Falkenhayn und verfügte die Ernennung
Hindenburgs zum Chef des Generalstabs und Ludendorffs zum Ersten Generalquartier-
meister. Mit der Bildung der dritten Obersten Heeresleitung verschoben sich in einer
kritischen Phase des Krieges die Gewichte im Verhältnis von politischer und militäri-
scher Führung. Es drohte ein „System militärischer Suprematie“, für das sich in der po-
litischen Öffentlichkeit der Name „Militärdiktatur“ einbürgerte. 11 Carl Schmitt, Privat-
dozent an der Universität Straßburg, griff in einem Artikel, der 1917 in der Zeitschrift
für die gesamte Strafrechtswissenschaft erschien, die Diskussion auf. Aus der Sicht der
Staatsrechtslehre handelte er das Thema „Diktatur und Belagerungszustand“ ab. 12 Man
kann diesen Beitrag als das erste Betreten eines politischen Problemfeldes werten, auf
dem er noch viele Schritte tun sollte. Schmitt arbeitete in historischer Perspektive „den
begrifflichen Gegensatz von Belagerungszustand und Diktatur“ heraus und verwies in
der historischen Einkleidung seiner Argumente auf die Grenzen militärischen Machtan-
spruchs gegenüber den Trägern der Zivilgewalt. Schmitt entwickelte seine These, dass
es „historisch ganz unberechtigt“ sei, „den Belagerungszustand als Rechtsinstitution mit
der Diktatur zu identifizieren“, hauptsächlich an der Gesetzgebung Frankreichs, die ei-
nen erheblichen Einfluss auf die „heute im Deutschen Reich geltenden Gesetze“ gehabt
habe.13 Die Revolution des Jahres 1848 ist in Schmitts Augen der Anlass gewesen, sich
der rechtlichen Behandlung des Staatsnotstandsproblems anzunehmen. Die französische
„loi sur l’état de siège“ vom 9. August 1849 wurde zum „Vorbild“ auch der deutschen
Gesetzgebungen.14 Besonders geht Schmitt auf „das preußische Gesetz vom 4. Juni
1851“ ein, „das durch Art. 68 der Reichsverfassung zum Reichsgesetz geworden ist.“15
So sehr sich Schmitt auch in den historischen Stoff vergräbt, dessen Relevanz für das
Problem des Ausnahmezustandes in der Gegenwart verliert er nicht aus dem Auge. Das
preußische Gesetz von 1851, schreibt Schmitt, dachte, „entsprechend den historischen
Verhältnissen seiner Entstehungszeit, mehr an eine Revolution als an einen Krieg“. Die
„Die in der Mitte des 19. Jahrhunderts entstandenen Belagerungs- oder Kriegszustandsge-
setze beabsichtigen nicht eine Vereinigung von Legislative und Exekutive. Der Militärbe-
fehlshaber bekommt intensive Exekutivbefugnisse, die vollziehende Gewalt konzentriert
sich ganz in seiner Hand, gesetzliche Schranken fallen fort. Aber seine Tätigkeit und Kom-
petenz bleibt innerhalb der Exekutive. […] Hier ist der maßgebende rechtliche Unterschied
zwischen dem Belagerungs- (oder Kriegs-) Zustand und der Diktatur zu sehen: beim Bela-
gerungszustand tritt unter Aufrechterhaltung der Trennung von Gesetzgebung und Vollzug
eine Konzentration innerhalb der Exekutive ein; bei der Diktatur bleibt der Unterschied von
Gesetzgebung und Vollzug zwar bestehen, aber die Trennung wird beseitigt, indem die
Carl Schmitt argumentiert an dieser Stelle ganz in der preußischen Tradition einer
rechtsstaatlichen Einhegung des Belagerungszustandes. Dessen „Unterarten“, den mili-
tärischen und sicherheitspolizeilichen Belagerungszustand, stellte er scharf der „Dikta-
tur“ gegenüber.22 Hier knüpft er an einen Rechtsgelehrten des 19. Jahrhunderts an, der
den eigenen wissenschaftlichen Weg immer wieder begleitet hat. Lorenz von Stein
(1815-1890) war für Schmitt eine Art Referenzfigur.23 Als Jurist und politischer Publi-
zist war er einer der produktivsten Köpfe seiner Zeit. In der mehrbändigen Verwaltungs-
lehre, an der Stein ab Mitte der 1860er Jahre arbeitete, behandelte er die zentralen Legi-
timationsprobleme der bürgerlichen Ordnung, die der Entwicklungsgang der bürgerli-
chen Gesellschaft aufwarf.24 Carl Schmitt wertete Steins Verwaltungslehre als einen
großartigen Versuch „konkreten Ordnungsdenkens“.
„Der liberalen Gewaltenteilungslehre, der Grundlage des liberalen Rechtsstaates und des
ihm zugeordneten normativistischen Positivismus, wird – bei Stein weit größer als bei
Gneist – deutsches Ordnungsdenken entgegengesetzt“, schrieb Schmitt 1934.25
Doch für Stein gehörten trotz seines am monarchischen Staat festhaltenden und dessen
Handlungsmöglichkeiten anmahnenden Denkens rechtsstaatliche Errungenschaften zur
Signatur seines Jahrhunderts. In den Teil seiner Verwaltungslehre, der das Polizeirecht
enthält, fügte er ein eigenes Kapitel über „Das Recht des Belagerungszustandes“ ein. Er
untergliederte dieses Recht in „Kriegszustand und bürgerlicher Belagerungszustand“.26
Für Stein bestand „kein Zweifel, daß derjenige Zustand, den wir den Belagerungszustand
[…] nennen, die äußerste sicherheitspolizeiliche Maßregel ist, deren Verhängung in der
Gewalt der Verwaltung liegt. Daß aber auch selbst für diesen Zustand ein objektiv gültiges
Recht zur Anerkennung gelangt ist, muß als einer der wesentlichsten Fortschritte der
staatsbürgerlichen Freiheit anerkannt werden.“27
Modellcharakter hatte für Stein das preußische Gesetz über den Belagerungszustand
vom 4. Juni 1851. Sein Urteil: „Das ausführlichste unter allen existirenden Gesetzen,
hart, aber klar.“ Der militärische werde hier vom „bürgerlichen Belagerungszustand“
geschieden, die „spezielle Suspension der einzelnen bürgerlichen verfassungsmäßigen
Rechte ist nothwendig.“28
„wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder
gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen
[zu] treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht ein- [zu]schreiten. Zu die-
sem Zwecke darf er vorübergehend die […] Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft
setzen.“31
Dieser Satz, so Schmitt, enthalte „die Regelung einer typischen Diktatur, zu deren We-
sen es gehört, daß a) der Diktator zu Maßnahmen ermächtigt wird, die von der Lage der
Sache bestimmt und weder Akte der Gesetzgebung noch der Justiz sind noch irgendei-
nes endgültig geregelten Verfahrens fähig sein können; daß ferner b) der Inhalt der Er-
mächtigung nicht tatbestandsmäßig im voraus beschrieben, sondern von dem Ermessen
des Ermächtigten abhängig ist.“32 Die Diktatur des Reichspräsidenten legt Schmitt als
„kommissarische Diktatur“ aus, die dem Zweck diene, „die öffentliche Sicherheit und
Ordnung, d.h. die bestehende Verfassung, zu schützen und zu verteidigen. Schutz der
Verfassung und Schutz jeder einzelnen verfassungsgesetzlichen Bestimmung ist eben-
sowenig dasselbe, wie Unantastbarkeit der Verfassung und Unantastbarkeit jeder ein-
zelnen verfassungsgesetzlichen Bestimmung.“33
Die Reichsregierung unter von Papen hatte, gestützt auf Art. 48 Abs. 1 und 2 der Wei-
marer Verfassung, die Regierung Preußens unter dem sozialdemokratischen Minister-
präsidenten Otto Braun am 20. Juli 1932 ihres Amtes enthoben. (Abs. 1) Carl Schmitt
verteidigte im Prozess „Preußen kontra Reich“ vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig im
Oktober 1932 das Vorgehen des Reiches.34 Die beiden Diktaturverordnungen des
Reichspräsidenten von Hindenburg, die „die Wiederherstellung der öffentlichen Sicher-
heit und Ordnung im Gebiet des Landes Preußen“ zum Ziel hatten, bewegten sich im
Rahmen der verfassungsmäßigen Vorgaben. Die Absetzungsverordnung wurde am 30.
Juni 1933 durch eine Folgeverordnung aufgehoben. Besonders die zweite Verordnung
des Reichspräsidenten vom 20. Juli 1932 „betreffend die Wiederherstellung der öffent-
lichen Sicherheit und Ordnung in Groß-Berlin und Provinz Brandenburg“ spiegelt die
Orientierung an den Normierungen des militärisch-polizeilichen Kriegs- und Belage-
rungszustands des 19. Jahrhunderts. Die „vollziehende Gewalt“ ging „auf den Reichs-
wehrminister über, der sie auf Militärbefehlshaber übertragen kann.“ Die „gesamte
Schutzpolizei des bezeichneten Gebiets“ wurde dem „Inhaber der vollziehenden Gewalt
[…] unmittelbar unterstellt.“ Die Grundrechtsartikel der Verfassung werden, heißt es in
§ 1, „bis auf weiteres außer Kraft gesetzt.“ Diese Verordnung wurde durch eine weitere
am 26. Juli 1932 aufgehoben.35
Carl Schmitt konnte die Gesamtaktion, unabhängig von den auf der Hand liegenden po-
litischen Implikationen, im Einklang mit dem „Sinn und Zweck des Ausnahmezustan-
des“ sehen, wie er ihn in seiner Verfassungslehre beschrieben hatte.36 Nach 1933 verfiel
Preußens Staats- und Rechtstradition zum Zitat in der Feier der nationalsozialistischen
Machterlangung. In einem „Rückblick“ auf den 20. Juli 1932, veröffentlicht am 23. Juli
1933 im Westdeutschen Beobachter, stehen zwei Sätze, die die Bruchstelle in Schmitts
historisch-politischem Denken genau benennen:
„Die militärisch-verwaltungsmäßige Technik des Preußenschlags vom 20. Juli 1932 war
meisterhaft. Aber ohne den Hintergrund der mächtigen nationalsozialistischen Bewegung
Was war vom „deutschen Staat“ im NS-Staat übrig geblieben? In einer Nachbemerkung
zu einer 1931 erschienenen Publikation über Die staatsrechtliche Bedeutung der Not-
verordnung, insbesondere ihre Rechtsgültigkeit schrieb Schmitt 1958:
„Keine Verfassung kommt ohne Ausnahmezustand aus, mag dieser als kommissarische
Diktatur, politischer Belagerungszustand, Notstand, Regime außerordentlicher Vollmachten
oder wie immer benannt werden. Aber die spezifische Methode, mit der sich ein Regime
gegenüber dieser Lage verhält, ist enthüllend für seine konstitutionelle Organisation. Ein
absoluter Fürst bedarf keines Art. 48; der Machthaber eines totalitären Systems noch viel
weniger.“38
1933 hatte Carl Schmitt den Weg, den er von dem Aufsatz Diktatur und Belagerungs-
zustand zur Verfassungslehre gegangen war, verlassen. Die „Verfassung“ des Dritten
Reiches kam ohne die Typvarianten des Ausnahmezustandes aus. Wie das nationalsozi-
alistische Regime sich in einer schon früh eintretenden Lage des Ausnahmezustandes
verhielt, war enthüllend für seine totalitäre Organisation.
Carl Schmitt hat immer sein Wort in die Waagschale der Zeit werfen wollen, doch in
der ersten Hälfte des Jahres 1934 war dies besonders heikel. Eine Regimekrise braute
sich um das ungeklärte Verhältnis von SA und Reichswehr zusammen. Die Reichswehr
hatte sich früh zu Hitler bekannt, ihre Rolle wurde freilich durch den Rollenanspruch
der SA infrage gestellt. Der Stabschef der SA, Ernst Röhm, der seit Dezember 1933 als
Reichsminister ohne Geschäftsbereich dem Kabinett Hitler angehörte, warf die Rich-
tungsfrage der Politik auf und stellte sich damit gegen die Richtlinienkompetenz des
Reichskanzlers. Durch das rasante Anwachsen der Mitgliederzahl von siebzigtausend
im Jahr 1930 auf viereinhalb Millionen im Sommer 1934 war die SA unter der Führung
Röhms zu einem eigenständigen Machtfaktor geworden. Der von Hitler angestrebte
Gleichklang von Partei- und Staatsorganisation schien gefährdet. Besonders die
Reichswehr sah sich durch die Pläne Röhms, die SA zum Kern eines Milizheeres zu
machen, herausgefordert. Röhm bestand auf dem „Primat des weltanschaulichen Solda-
ten“. Der SA-Chef plante sicherlich keinen Putsch, doch mit seinen Sondervorstellun-
gen über den Fortgang der nationalsozialistischen Revolution und mit der gewaltigen
Macht im Rücken, „verkörperte er für den misstrauischen Hitler eine ständige potentiel-
le Putschdrohung.“39 In einer Rede vor dem Diplomatischen Korps und der Auslands-
presse brachte Röhm am 18. April 1934 seine Kritik und seine Forderungen unverblümt
vor:
Die nationalsozialistische Revolution, das war in den Augen Röhms nicht die Verbin-
dung von preußischen Staats- und Rechtstraditionen mit der nationalsozialistischen Be-
wegung, nein, so beschloss er seine Ausführungen: „Die SA – das ist die nationalsozia-
listische Revolution!“
Röhms Konzept einer Permanenz-Revolution wurde von Hitler am 30. Juni 1934 ein
blutiges Ende bereitet. Carl Schmitt sah sich 1934 mit einer politischen Krise konfron-
tiert, die ihn nötigte, auf dem Boden eines „Neubaus des Staats- und Verwaltungs-
rechts“ zu agieren, für den er sich auf dem Leipziger Juristentag vom Oktober 1933 ve-
hement ausgesprochen hatte.41 Carl Schmitt war auf dem Deutschen Juristentag, der
vom 30. September bis 3. Oktober 1933 über 12.000 Richter, Staatsanwälte, Rechtsan-
wälte und Verwaltungsbeamte in den Leipziger Messehallen versammelte, kein beliebi-
ger Referent. Er besaß einen Ruf als Wissenschaftler und war in Spitzenämter des
„Bundes Nationalsozialistischer Deutscher Juristen“ aufgestiegen.42 Schmitt sprach am
3. Oktober, morgens 10 Uhr zum Thema „Der Neubau des Staats- und Verwaltungs-
rechts“. An diesem Tag notierte er in sein Tagebuch: „Leipzig 11 Uhr, großer Erfolg.“43
Den Erfolg bemaß Schmitt an der Aufnahme eines Vortrags, der die These von der Ex-
stirpation der Weimarer Verfassung untermauerte. Der Neubau des gesamten Staats-
rechts habe sich aus der neu eingetretenen historischen Situation ergeben. Die Macht-
übertragung an Hitler wird als Zäsur markiert. „Das gesamte öffentliche Recht des heu-
tigen Staates steht auf eigenem Boden. Die Weimarer Verfassung gilt nicht mehr.“44
Schmitts Ausführungen sind um ein rhetorisches Zentrum organisiert: die adversative
Charakterisierung von „früherer Rechtslage“ und der „rechtlichen Verfassungsgrundla-
ge des heutigen nationalsozialistischen Staates“. Die neue Gesamtstruktur der politi-
schen Einheit „Deutsches Reich“ sieht Schmitt durch ihre „Dreigliedrigkeit“ gekenn-
zeichnet:
„Der heutige deutsche Staat und sein Verfassungsrecht besteht in drei Elementen: Staat,
Bewegung, Volk. Diese drei Begriffe im richtigen Verhältnis zu sehen, ist die Vorausset-
zung jedes nationalsozialistischen Staats- und Verwaltungsrechts.“45
Schmitt stellte seinen staatsrechtlichen Neubauplan mit dem Gestus eines überlegen ar-
gumentierenden Wissenschaftlers vor, dessen Schlussfolgerungen Evidenz beanspru-
chen konnten.
Zum Abschluss des Deutschen Juristentages traf auch Hitler in Leipzig ein und richtete
einen „Appell an die deutsche Justiz.“47 Der Führer, so berichtete der Völkische Be-
obachter, erläuterte
„die weltanschaulichen Grundlagen des Rechts und zeigte den Wandel auf, dem in der
Entwicklung der Völker auch die Rechtsauffassungen unterworfen sind. Er sprach insbe-
sondere über die rassische Bedingtheit des Rechtsbegriffes, die zu Erkenntnissen führe, die
für die Zukunft von entscheidender Bedeutung auch im internationalen Rechtsleben werden
würden. […] Aus der Einheit zwischen Volk und Staat ergebe sich klar und eindeutig die
Aufgabe der Staatsführung: Volkserhaltung, Rassenschutz und Rassenpflege. […] Die
Rechtsauffassung des liberalen Staates ende im Verfall eines Volkes, das am Staat und sei-
ner Justiz allmählich irre werde. Der totale Staat werde keinen Unterschied dulden zwi-
schen Recht und Moral. Nur im Rahmen seiner gegebenen Weltanschauung könne und
müsse eine Justiz unabhängig sein.“
Schmitt folgte am frühen Abend des 3. Oktober 1933 gebannt den Ausführungen des
Führers in der Leipziger Messehalle. In sein Tagebuch schrieb er: „Wunderbare Rede
Adolf Hitlers über den totalen Staat. Sehr getröstet.“48
Es ist diese Rede Hitlers, mit der Schmitt seinen berüchtigten Aufsatz in der Deutschen
Juristen-Zeitung vom 1. August 1934 Der Führer schützt das Recht. Zur Reichstagsrede
Adolf Hitlers vom 13. Juli 1934 eingeleitet hat.49 Die Herausgeberschaft der DJZ hatte
Schmitt erst im Mai 1934 übernommen. Die langatmigen Ausführungen Hitlers vor dem
Reichstag las er in der Berliner Ausgabe des Völkischen Beobachters vom 14. Juli 1934
nach.50 Die Frage nach dem „rechtspolitischen Sinn“ vom Schmitts Artikel, der die von
Hitler veranlassten politischen Morde rechtfertigte, könne, so Reinhard Mehring, nicht
dahingehend beantwortet werden, dass Schmitt „den Nationalsozialismus als Ausnah-
mezustand“ habe demaskieren und eine „Rückkehr zum Normalzustand“ fordern wol-
„Für den äußersten Notfall werden ihm vielleicht unter der Hand apokryphe Notausgänge
zugebilligt, die von einigen liberalen Rechtslehrern nach Lage der Sache anerkannt, von
anderen im Namen des Rechtsstaates verneint und als juristisch nicht vorhanden angesehen
werden. Mit dieser Art von Jurisprudenz ist das Wort des Führers, daß er als des Volkes
oberster Gerichtsherr gehandelt habe allerdings nicht zu begreifen. Sie kann die richterli-
che Tat des Führers nur in eine nachträglich zu legalisierende und indemnitätsbedürftige
Maßnahme des Belagerungszustandes umdeuten. Ein fundamentaler Satz unseres gegen-
wärtigen Verfassungsrechts, der Grundsatz des Vorranges der politischen Führung, wird
dadurch in eine juristisch belanglose Formel und der Dank, den der Reichstag im Namen
des deutschen Volkes dem Führer ausgesprochen hat, in eine Indemnität oder gar einen
Freispruch verdreht.“53
Konnte Schmitt noch 1933 davon sprechen, dass der „deutsche Staat“ sich am 20. Juli
1932 nur mit Hilfe der nationalsozialistischen Bewegung habe „halten“ können, war für
ihn 1934 diese „staattragende Bewegung“ von allen juristischen Hemmnissen historisch
freigestellt. „Der Führer aber macht Ernst mit den Lehren der deutschen Geschichte.“54
Die politische Ausnahmesituation, zu der die Röhm-Krise eskaliert war, entzog sich ih-
rer Erfassung durch die juristische Kategorie des Ausnahmezustands. Diese war ein
Grundbestandteil der preußisch-deutschen Verfassungsgeschichte. Ihr Erbe wertete
Schmitt 1933 als Erblast. In diesem Jahr, in dem die Weimarer Verfassung nicht mehr
galt, stufte er den Ausnahmezustand zu einer juristisch belanglosen Floskel herab.
Getilgt war freilich der Ausnahmezustand aus dem Leben des Rechtsgelehrten Carl
Schmitt nicht. Nach 1945 fand dieses Rechtsinstitut eine neue Würdigung. Juristisch
könne man, schrieb er 1958, auf dem Weg einer verfassungsgestützten Institutionalisie-
Literatur
127
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Der verdrängte Carl Schmitt
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Art. 48 WRV nicht beirren lassen; der Notstandsartikel sei gegen die nationalsozialisti-
sche Bedrohung nur nicht scharf genug angewandt worden.5
Auch Ernst-Wolfgang Böckenförde wandte in seiner Freiburger Antrittsvorlesung den
Blick zurück in die Geschichte. Er blickte dabei jedoch weniger auf den umstrittenen
Weimarer Notstandsartikel, sondern auf dessen wichtigsten Interpreten, Carl Schmitt,6
den damals wie heute prominentesten Theoretiker des Ausnahmezustandes. Böckenför-
de plädierte mit Schmitt dafür, die Eventualität des Ausnahmezustandes nicht zu ver-
drängen. Stattdessen forderte er, aktiv die hierzu notwendigen verfassungsrechtlichen
Instrumente zu schaffen.7 Dabei verfolgte er eine doppelte Strategie: einerseits ging es
ihm um die Rehabilitierung der Positionen seines Lehrers Carl Schmitt und um deren
konstruktive Wendung; gleichzeitig führte Böckenförde mit der Thematisierung des
Ausnahmezustandes seine eigene rechtspolitische und rechtstheoretische Linie fort. Wie
aber sollten die Instrumente des Ausnahmezustandes beschaffen sein? Und inwieweit
waren und sind solche Instrumente tatsächlich verfassungsrechtlich geboten?
I.
Die Antrittsvorlesung Böckenfördes hatte über ihren aktuellen Anlass hinaus einen
deutlich programmatischen Charakter. Sie behandelt ein genuines Carl-Schmitt-Thema;
sie ist Schmitt zum 90. Geburtstag gewidmet; und sie demonstriert eine intime Ver-
trautheit mit dem Werk des betagten Jubilars. Schon der erste Satz ist eine Variation ei-
ner berühmten Schmitt-Sentenz.8 Dieser Eindruck bestätigt sich umso mehr, als es Bö-
ckenförde nach eigenem Bekunden darum ging, die Kategorien Carl Schmitts auf ge-
genwärtige Verfassungsfragen anzuwenden.9 Die Abhandlung ist existentiell grundiert,
denn sie zielt auf ein Kernproblem der Legitimität des demokratischen Rechtsstaates:
Wie kann der Staat auf außergewöhnliche Lagen, speziell auf Ausnahmezustände, rea-
gieren, ohne seine Rechtsstaatlichkeit einzubüßen?
Böckenförde denkt, ähnlich wie Schmitt, stets von der „Lage“ her. Diese Lage war von
der Herausforderung des Rechtsstaates durch den Terrorismus der RAF geprägt. Radi-
kalenerlass, Lauschwanzen, Kontaktsperre und die Entführung des Arbeitgeberpräsiden-
ten Hanns Martin Schleyer bestimmten die Diskussion. Im „Deutschen Herbst“ richtete
5 Eschenburg 1977.
6 Vgl. Schmitt 1924.
7 Böckenförde 1978a, S. 1882.
8 „Die Erhaltung des Rechts der Normallage setzt die Anerkennung des Ausnahmezustands voraus.“
(Böckenförde 1978a, S. 1882) Die berühmte Formel Schmitts lautet: „Der Begriff des Staates setzt
den Begriff des Politischen voraus.“ (Schmitt 1963, S. 20). Unzutreffend ist daher die Annahme
Günter Frankenbergs, der in diesem ersten Satz von Böckenfördes Abhandlung eine deutliche Dis-
tanzierung von Carl Schmitt erkennen will. Vgl. Frankenberg 2010, S. 149ff.
9 Vgl. Gosewinkel/Böckenförde 2011, S. 372.
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sich das Interesse der bundesdeutschen Staatsrechtslehre auf die Fragen der rechtsstaat-
lichen Bewältigung der terroristischen Bedrohung: die Frage des „übergesetzlichen Not-
standes“, das generelle Problem der Aufrechterhaltung rechtsstaatlicher Ordnung mithil-
fe sogenannter Antiterrorgesetzgebung, das Problem der Legitimität und Legalität der
getroffenen polizeilich-justiziellen Maßnahmen. Die Dialektik von „Legalität und Legi-
timität“ verweist indes auf ein von Carl Schmitt intensiv beackertes Feld,10 mit dem
auch Böckenförde bestens vertraut war – spätestens seitdem Schmitt dem damals
Zweiundzwanzigjährigen nach ihrem ersten persönlichen Zusammentreffen im Frühjahr
1953 ein Exemplar seiner gleichlautenden Schrift zum Geschenk machte.11
Der Stein des Anstoßes für Böckenfördes Beschäftigung mit dem Ausnahmezustand
waren Fälle staatlichen Handelns, in denen Eingriffe in bestehende Rechte allein mit
dem „übergesetzlichen Notstand“ (§ 34 StGB) gerechtfertigt wurden und dieses Han-
deln schließlich auch der richterlichen Überprüfung standhielt. So hatte der Bundesge-
richtshof nach der Schleyer-Entführung auf Antrag des Generalbundesanwalts im Sep-
tember 1977 nicht nur die Unterbindung des Kontakts zwischen den inhaftierten Terro-
risten und anderen Häftlingen und Besuchern gebilligt, sondern auch die Sperre des – in
§ 148 StPO garantierten – Kontakts zwischen den inhaftierten Terroristen und ihren
Verteidigern für rechtens erklärt. Der Bundesgerichtshof stütze sich in seinem Urteil
vom 23. September 1977 auf den „allgemeinen Rechtsgedanken, dass die Verletzung
eines Rechts in Kauf genommen werden muß, wenn es nur so möglich erscheint, ein
höheres Rechtsgut zu retten“.12
Böckenförde bezweifelte, dass der Grundsatz des übergesetzlichen Notstands „als
Rechtsordnung der Ausnahmelage Anwendung finden“ könne.13 Sein Argument lautete:
„Bei einer Anwendung im Verfassungsrecht gerät der ‚übergesetzliche Notstand’ zum
‚überverfassungsmäßigen Notstand’“, wodurch sich die Möglichkeit der umfassenden
„Durchbrechung oder partiellen Außerkraftsetzung“ der Verfassung bieten würde. Der
„übergesetzliche Notstand“ werde dann zum „Funktionsmodus der Bürokratie“. 14 Diese
Formel vom „Funktionsmodus der Bürokratie“ leuchtet in diesem Zusammenhang je-
doch nicht unmittelbar ein. Wie kann Notstand zum „Funktionsmodus“ werden? Der
Sinn der Formel erschließt sich erst, wenn man ihre Quelle aufsucht, und man findet sie
im Werk Carl Schmitts. Ohne das Zitat auszuweisen, greift Böckenförde an dieser Stelle
auf Schmitts Formulierung von 1938 zurück, wonach die „Legalität“ der „positivisti-
sche Funktionsmodus der Bürokratie“ sei.15
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Hinter dieser von Schmitt geliebten Formel verbirgt sich ein Aspekt seiner Kritik am
Parlamentarismus der Massendemokratie des 20. Jahrhunderts. Schmitt misst den Zu-
stand des Parlamentarismus an dem von ihm zugrunde gelegten Idealbild des Gesetzge-
bungsstaates der konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts und sieht die Ent-
wicklung als Verfallsgeschichte, als „Zusammenbruch des parlamentarischen Gesetzge-
bungsstaates“.16 Zur Zeit der konstitutionellen Monarchie sei das Parlament Repräsen-
tant des einheitlichen Volkswillens gewesen und habe mit seinen Beschlüssen diese ma-
terielle Einheit zum Ausdruck gebracht. Damit seien Legitimität und Legalität in eins
gefallen: das Parlamentsgesetz habe von vornherein einen materiellen Gehalt, mithin ei-
nen Bezug zur Gerechtigkeit besessen.17 Anders in der Weimarer Republik: Aufgrund
der pluralistischen Aufspaltung des Parlaments repräsentierten seine Beschlüsse nicht
länger die Einheit des Volkes. Das Ergebnis sei ein Legalitätssystem, „das in einem ge-
genstands- und beziehungslosen Formalismus endet“.18 Legalität bezeichne nur noch
maschinenhaft eine „bestimmte Methode des Arbeitens und Funktionierens von Behör-
den“19 und die „Reduktion auf Berechenbarkeit des Funktionierens“.20
Den in dieser Argumentation enthaltenen Grundgedanken – freilich ohne dessen anti-
demokratische und antipluralistische Stoßrichtung – nimmt Böckenförde auf. Damit
wird vollends klar, was er mit der adaptierten Formel zum Ausdruck bringen möchte:
die Gefahr, dass mit Hilfe des „übergesetzlichen Notstands“ Legalität und Legitimität
der Verfassungsordnung auseinandertreten. Denn mit der Anerkennung des „überge-
setzlichen Notstands“ entstehe „eine perfekte, in sich offene Generalermächtigung zur
Bewältigung von Notständen/Notlagen, der gegenüber jede verfassungsrechtliche oder
gesetzliche Ausformung und Begrenzung von Befugnissen vorläufig wird.“21 Wer mit
dem Vorwurf der „Ermächtigung“ hantiert, greift jedoch zu einer scharfen Klinge. Denn
mit diesem Begriff verbindet sich unwillkürlich der Akt der nationalsozialistischen
Gleichschaltung, der endgültige Abschied vom Rechtsstaat: das Ermächtigungsgesetz
vom 24. März 1933. Der Schein der Legalität blieb zwar mit dem Ermächtigungsgesetz
vordergründig gewahrt, dennoch konnte dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass das
Recht jegliche Legitimität verloren hatte.
tät ist der positivistische Funktionsmodus der Bürokratie.“ (Ebd.) – Erst drei Jahrzehnte später, in ei-
nem Rundfunkgespräch, versah Schmitt die Formel mit einem geistigen Eigentumsstempel und er-
läuterte seine Urheberschaft: „Einer der Sätze, die ich oft wiederholt habe ... lautet: Die Legalität ...
ist ein Funktionsmodus der Bürokratie“ (Schmitt/Schickel 1969, S. 25).
16 Schmitt 1998, S. 7.
17 Schmitt 1932b, S. 276f.
18 Schmitt 1998, S. 14.
19 Schmitt 1950, S. 444.
20 Schmitt 1978, S. 322.
21 Böckenförde 1978a, S. 1883.
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Die mögliche Instrumentalisierung des § 34 StGB berührt einen Kerngedanken von
Böckenfördes Rechtsverständnis. Für ihn ist das Recht wesentlich ein Schrankeninstru-
mentarium, das eine verlässliche Ordnung des Zusammenlebens errichtet und Freiheits-
sphären der Individuen untereinander verbindlich abgrenzt: „Freiheit als beständige, ge-
sicherte Freiheit gibt es erst durch Recht und im Recht, das Grenzen zieht.“22 Der Maß-
stab der Grenzfestlegungen des Rechts und damit gleichzeitig der Rechtsschöpfung
müsse stets die Freiheit sein. Um tatsächliche Rechtssicherheit zu gewährleisten, ziele
das Recht jedoch nicht nur auf normative, sondern auch auf soziale Geltung und so ge-
höre zum Recht „auch der Vollzug, die Durchsetzung, ein Sanktionsapparat“, 23 – kurz:
der Staat. Böckenförde betrachtet den Staat als „eminente politische Kulturleistung“ und
ordnende Instanz, „die stark genug ist, die Begrenzung und Regulierung der Sphären
individueller und gruppenmäßiger Ungebundenheit vorzunehmen und deren Befolgung
zu garantieren“.24 Die Verfassung stelle dem Staat gegenüber wiederum eine Schranke
dar und besitze als „umfassende und daher abschließende Regelung der Handlungsbe-
fugnisse staatlicher Organe ... eine verbindliche begrenzende Wirkung und Funktion“.25
Eine offene Generalermächtigung, wie Böckenförde § 34 StGB interpretiert, ist mit die-
sem Rechtsverständnis unvereinbar. Das telos des Rechts, die Freiheitsgewährleistung
durch Begrenzung, käme dem Recht abhanden, Legalität und Legitimität wären ge-
trennt.
Von diesem Standpunkt her erschließt sich, warum für Böckenförde die Rechtfertigung
von Ausnahmebefugnissen mit § 34 StGB eine „Preisgabe des Prinzips des Verfas-
sungsstaates“26 bedeutet. Seine Forderung lautete daher: Das Problem des Ausnahmezu-
standes müsse in der Verfassung selbst verankert werden. Sie dürfe dieses Problem je-
denfalls nicht verdrängen, sondern müsse sich der Frage der „Verfassungstheorie des
Ausnahmezustandes“ stellen.27 Andernfalls drohe ein staatliches Handeln „unter
Beiseitelassung der aufgestellten rechtlichen Grenzen“, was „den Übergang in einen
von Rechtsbindung freien Raum“ bedeute.28 Auch im Ausnahmezustand soll der Primat
des Rechts, und damit die Freiheitsorientierung der staatlichen Ordnung insgesamt,
nicht preisgegeben werden. Es geht also um „Legitimitätsverteidigung in der und durch
die Legalordnung“.29
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II.
Wer das Augenmerk auf den Akt der „Verdrängung“ richtet und vor den negativen Fol-
gen der Verdrängung warnt, der greift auf einen Topos zurück, der weniger im Verfas-
sungsrecht als vielmehr in der Psychoanalyse beheimatet ist. Folgt man der Theorie
Sigmund Freuds, dann handelt es sich bei dem Akt der Verdrängung um einen alltägli-
chen Abwehrreflex, der einer Person dazu dient, eine als bedrohlich oder fremd emp-
fundene Wahrnehmung aus dem Bewusstsein zu entfernen. Freud betrachtete die Ver-
drängung als einen zwar alltäglichen, aber gleichwohl vergeblichen, wenn nicht gefähr-
lichen Vorgang. Denn sie führe nicht zum Vergessen des als bedrohlich Empfundenen,
sondern nur zur späteren Wiederkehr des Verdrängten, allerdings nunmehr in pathologi-
scher Form.30
Psychologische Theorien wie diese lassen sich gewiss nicht umstandslos auf verfas-
sungspolitische Prozesse übertragen; zumal Böckenfördes Abhandlung keine Anzeichen
einer Rezeption der Schriften Freuds erkennen lässt.31 Dennoch weist seine Argumenta-
tion eine bemerkenswerte Parallele zu Freuds Theorie auf. Sie tritt besonders deutlich
an jenen Stellen hervor, an denen Böckenförde vor einer Verdrängung des Ausnahme-
zustandsproblems in der bundesdeutschen Verfassungspolitik warnt und die rhetorische
Frage stellt: „Rächt sich hier eine verdrängte Wirklichkeit?“32 Böckenförde bejaht kon-
sequenterweise diese Frage. Damit argumentiert er ganz auf der Linie der psychoanaly-
tischen Theorie Freuds, vor allem im Blick auf die negativen Folgen des Verdrängungs-
akts. Worin die Pathologie besteht, hat er deutlich benannt.
Wenn Böckenförde hier mit einer „verdrängten Wirklichkeit“ argumentiert, taucht zu-
dem ein Grundproblem auf, das schon in der Weimarer Staatsrechtslehre intensiv disku-
tiert worden war: das Verhältnis von Rechtsnorm und Wirklichkeit. Der Ausnahmezu-
stand erscheint als realer Prüfstein dieses rechtstheoretischen Problems, denn „ange-
sichts einer unvorhergesehenen ernsten Gefahr, die den Staat fundamental, in seinem
Charakter als Friedenseinheit und Garant der Rechtsordnung betrifft“, entstehe eine
„grundsätzliche Diskrepanz zwischen den vorhergesehenen Befugnissen/Modalitäten
und einer erfolgreichen Wahrnehmung der Aufgabe in ihrem Kern“.33 Die Vorgänge
„des Lebens“,34 wie es Böckenförde an anderer Stelle beschrieb, holen in der Krise ge-
30 Freud 1915.
31 Jahrzehnte später, in seiner Dankesrede bei der Entgegennahme des Sigmund-Freud-Preises der
Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung im Oktober 2012 in Darmstadt, bekannte er, noch
nie etwas von Freud gelesen zu haben. Seine Dankesrede bezog sich gleichwohl auf Freuds Abhand-
lung über Das Unbehagen in der Kultur.
32 Böckenförde 1978a, S. 1884.
33 Böckenförde 1978a, S. 1885.
34 Böckenförde 1986, S. 183.
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wissermaßen das Recht ein. Wie aber soll das Recht, das stets auf die Normallage aus-
gerichtet ist, darauf reagieren?
Die Antwort der „Reinen Rechtslehre“ Hans Kelsens fand bei Böckenförde keine Zu-
stimmung. Das Verhältnis von Rechtsnorm und sozialer Wirklichkeit sei von dieser
überhaupt nicht als genuines Rechtsproblem reflektiert worden. Entsprechend sei es für
sie lediglich eine Frage der normativen Kraft einer Verfassung, ob sich die staatlichen
Organe auch in schwierigen Zeiten an sie hielten.35 Von Standpunkt der „Reinen
Rechtslehre“ aus ist für das Problem der Rechtsgeltung vielmehr allein entscheidend,
dass das Recht im „Erzeugungszusammenhang einer gültigen Ordnung“ steht, was
nichts anderes bedeutet, als dass sich die Geltung „durch den Rekurs zu der die Geltung
aller Normen begründenden ersten Verfassung“ ableitet36 – für Böckenförde ein
„selbstbezogener Normativismus“.37 Exemplarisch scheint dafür Kelsens resignative
Haltung angesichts des drohenden Endes der Weimarer Demokratie zu stehen: „wer für
die Demokratie ist, darf sich nicht in den verhängnisvollen Widerspruch verstricken las-
sen und zur Diktatur greifen, um die Demokratie zu retten. Man muß seiner Fahne treu
bleiben, auch wenn das Schiff sinkt; und kann in die Tiefe nur die Hoffnung mitneh-
men, daß das Ideal der Freiheit unzerstörbar ist und daß es, je tiefer es gesunken, um so
leidenschaftlicher wieder aufleben wird.“38
Wenn Hans Kelsen dafür kritisiert wurde, die Wirklichkeit systematisch auszublenden
und die Normgeltung unabhängig von ihrer realen Befolgung zu denken, so gilt Umge-
kehrtes für Carl Schmitt, der sich als Theoretiker des Ausnahmezustandes den Vorwurf
gefallen lassen musste, die Normativität in einen falschen Gegensatz zur Existentialität
zu bringen.39 Böckenförde folgte weder Kelsen noch Schmitt. Er nahm stattdessen eine
vermittelnde Position ein, indem er – Hermann Heller paraphrasierend – von einer
wechselseitigen Bedingtheit von Rechtsnorm und Wirklichkeit im Sinne einer „korrela-
tiven Zuordnung“ sprach, um die Notwendigkeit einer Regelung des Ausnahmezustan-
des zu begründen.40
Schon bei seiner Bestimmung des Staates als „Handlungs- und Wirkungseinheit“ hatte
Böckenförde wiederholt auf Hermann Heller zurückgegriffen.41 Von Heller übernahm
er nun auch die Erkenntnis, dass die Dialektik der „normativen Kraft des faktisch Nor-
malen“ und der „normalisierenden Kraft des Normativen“ die Stabilität der Staatsver-
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fassung garantiere.42 Das Recht müsse demnach die Wirklichkeit in Gestalt außerrecht-
lich geformter Verhaltensweisen in sich aufnehmen, um schließlich gestaltend und steu-
ernd auf eben diese Wirklichkeit einwirken zu können und damit wiederum die Norma-
lität der Lage zu befestigen. Normen könnten also nicht unabhängig von der Wirklich-
keit gelten, die sie zu ordnen beabsichtigten. Das heißt aber auch: „Entfällt die voraus-
gesetzte Normallage, entfällt der Bezugspunkt für die intendierte Regulierungskraft der
Norm.“43
Mit seinen Schlussfolgerungen lag Böckenförde nun wieder ganz auf der Linie seines
Lehrers Carl Schmitt. Wolle das Recht nicht vor der veränderten Wirklichkeit kapitulie-
ren, bedürfe es rechtlicher Befugnisse, die auf diese Lage bezogen seien. Denn die „blo-
ße Verweigerung oder Verdrängung der Ausnahmelage bleibt eine Deklamation des rei-
nen Wollens, dem die Wirklichkeit entgleitet“.44 In rechtspolitischer Absicht entwickel-
te Böckenförde daher in seiner Antrittsvorlesung die Grundzüge eines Regelungsmo-
dells des Ausnahmezustandes unter dem Grundgesetz. Dabei orientierte er sich eng an
Schmitts Konzeption der kommissarischen Diktatur. Deren Grundidee hatte Schmitt
1921 in seiner Abhandlung über Die Diktatur beschrieben: „Gerade für die Republik
soll die Diktatur eine Lebensfrage sein. Denn der Diktator ist kein Tyrann und die Dik-
tatur nicht etwa eine Form der absoluten Herrschaft, sondern ein der republikanischen
Verfassung eigentümliches Mittel, die Freiheit zu wahren.“45 Der kommissarische Dik-
tator werde eingesetzt, um eine gegebene Verfassung vor Angriffen zu schützen, die auf
ihre Vernichtung zielten. Um dafür alle notwendigen Maßnahmen treffen zu können,
müsse er die geltende Verfassung suspendieren.46
Aus Schmitts Annahmen leitete Böckenförde die verfassungstheoretische Struktur des
Ausnahmezustandes ab. Zum Charakter der Ausnahme gehöre „das Unvorhersehbare,
die nicht vorab berechenbare Situation“, daher könne eine Bewältigung des Ausnahme-
problems nicht in einer antizipierten „Vergesetzlichung bestimmter außergewöhnlicher
Situationen“ im Sinne einer abschließenden Normierung konkreter Ausnahmetatbestän-
de bestehen.47 Folglich erschöpfe sich eine mögliche Regelung in einer relativen Gene-
ralklausel. Demgegenüber seien jedoch die Voraussetzungen und der Eintritt des Aus-
nahmezustandes sowie die Zuständigkeit zur Wahrnehmung der Ausnahmebefugnisse
einer Regelung fähig und bedürftig.48 Darüber hinaus müssten sich die getroffenen
Maßnahmen an ihrem Zweck messen und begrenzen lassen: „In der Orientierung auf die
Wiederherstellung des Normalzustands liegt die eigentliche Legitimation des Ausnah-
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mezustandes und seiner besonderen Maßnahmen und damit auch seine Begrenzung.“49
Der Ausnahmezustand habe lediglich „transitorischen Charakter“50 und das Ziel, sich
selbst überflüssig zu machen.
Im Zentrum von Böckenfördes Modellstruktur steht der Begriff der Maßnahme; er bil-
det das rechtsinhaltliche Unterscheidungskriterium von Ausnahmezustand und Normal-
lage. In seiner Interpretation des Art. 48 WRV hatte Carl Schmitt die Unterscheidung
von Norm und Maßnahme geprägt, um die unterschiedliche Rechtskraft der jeweils ge-
troffenen Entscheidungen deutlich zu machen.51 Böckenförde definierte in Anlehnung
an Carl Schmitt die Maßnahme als Ausdruck „sach- und zweckgerichteter Aktion, prak-
tisch-technischen Vollzugs und im Interesse eines konkreten Ziels“.52 Das Gesetz sei
dagegen eine an einem „Rechtsprinzip orientierte Rechtsregel“,53 die „einem Rechtsge-
danken dient und ihn vollziehbar macht“.54 Um die Integrität des Normalzustands zu er-
halten, müssten die Maßregeln des Ausnahmezustandes „von dem Recht der Normalla-
ge wesentlich und strukturell unterschieden bleiben“.55 Die Maßnahme habe Befehls-
charakter und nicht die Geltungskraft des Gesetzes. Daher überlagere und suspendiere
sie lediglich die Rechtsordnung, die weiter fortgelte und nur außer Anwendung sei.
Denn allein rechtsinhaltlich fehle es der Maßnahme bereits an „Rang und Würde des
Gesetzes“.56
Böckenförde bediente sich hier freilich Unterscheidungskriterien, die der Formtypik des
bürgerlichen Rechtsstaatsverständnisses des 19. Jahrhunderts entstammten. Demnach
kennzeichnete die Maßnahme eine spezifische Relation von Mittel und Zweck, mithin
eine punktuelle Regelung, während das Gesetz dazu bestimmt war, einen Lebensbereich
allgemeingültig zu ordnen und daher die Vorstellung einer gerechten Ordnung beinhal-
ten sollte.57 Ob diese Unterscheidung auch im demokratischen Sozialstaat des Grundge-
setzes noch Trennschärfe und Gültigkeit besaß, war umstritten.58 Ungeachtet dieser
Diskussion hielt Böckenförde damit aber vor allem an einer Konstante seiner Beschäfti-
gung mit dem Recht des demokratischen Verfassungsstaates fest, und zwar dass die Si-
cherung der Freiheit „zu einem guten Teil in Formen und Verfahren“ liegt.59
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Ein genauerer Blick in die Fußnoten offenbart indes, dass Böckenförde weite Teile sei-
ner Argumentation neben Schmitt noch auf einen zweiten Autor stützte: Konrad Hesse,
den Freiburger Doyen der Smend-Schule. Böckenförde führte Hesse unter anderem als
einen Kritiker der Notstandsverfassung an, als einen Befürworter einer klaren Trennung
von Ausnahmezustand und Normallage sowie von weiten Ausnahme-Ermächtigun-
gen.60 Hesse war als Sachverständiger an den Beratungen zur Notstandsverfassung be-
teiligt gewesen und äußerte sich schon früh zum Problem des Ausnahmezustandes unter
dem Grundgesetz.61 Er ließ bereits 1955 Sympathie für den umstrittenen Art. 48 WRV
erkennen, den er als „staatsrechtlich gebotene und rechtsstaatlich legitime Lösung des
Problems“62 bezeichnete – ungeachtet einer späteren vorsichtigen Relativierung dieser
Positionen im Hinblick auf die organisationsrechtliche Ausgestaltung dieser General-
klausel.63 Hesses Fazit gleicht demjenigen Böckenfördes: „An der Notwendigkeit, das
GG durch Einfügung einer Notstandsklausel sozusagen wetterfest zu machen, kann heu-
te kein Zweifel mehr bestehen. Eine Verfassung, die in Notzeiten nicht gehalten werden
kann, verfehlt ihren Sinn.“64
Die Kombination dieser beiden Referenzen ist insofern interessant, als es sich um zwei
Autoren handelt, die sich in ihren verfassungsrechtlichen Positionen konträr gegenüber-
standen und sich auch sonst nicht wohlgesonnen waren.65 Wenn sie aber nun bei Bö-
ckenförde als einzige Autoren herausgestrichen und direkt aneinandergerückt werden,
wirkt seine Antrittsrede wie der Versuch, Hesse und Schmitt zu verbinden – und somit
auch eine Brücke zwischen der Smend- und der Schmitt-Schule zu schlagen.66 Das
Freiburger Publikum dürfte darin gleichwohl eine feine Spitze erkannt haben, denn
noch zehn Jahre zuvor war Böckenfördes Berufung auf einen Freiburger Lehrstuhl an
der Intervention eines Smend-Schülers gescheitert.67 Gleichzeitig machte die Paralleli-
sierung der beiden Autoren auch deutlich, dass mit dem Ausnahmezustand möglicher-
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weise noch etwas anderes verdrängt worden war, nämlich die bleibenden Einsichten
Carl Schmitts.
III.
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zungen gezwungen sehen, die offene Illegalität zu“ und sah die Rechtsordnung „gerade
dadurch am besten geschützt“.72
Zwar ließ Böckenförde den Einwand Lübbe-Wolffs nicht gelten. In seiner Replik, die
noch im selben Jahrgang in der Zeitschrift für Parlamentsfragen erschien, verteidigte er
das von ihm vorgeschlagene Modell: darin sei schließlich „die Ausnahmeermächtigung
von vornherein zeitlich eng begrenzt“, und sie werde daher nicht endlos perpetuiert, bis
sie vom Parlament widerrufen werde.73 Er warf seiner jungen Opponentin generell vor,
Weimarer Gegebenheiten als Argumente „gegen ein Regelungsmodell ins Feld zu füh-
ren, das gerade auf anderen Voraussetzungen beruht und selbst Vorkehrungen trifft,
dass Weimarer Entwicklungen sich nicht wiederholen können“.74 Böckenförde beharrte
darauf, dass eine Verweigerung rechtlicher Ausnahmebefugnisse unweigerlich ein Ein-
fallstor für den „übergesetzlichen Notstand“ ins Verfassungsrecht sei.75
Dennoch dürften jene generellen Schwierigkeiten einer Normierung des Ausnahmezu-
standes dazu geführt haben, dass Böckenfördes Vorstoß letztlich politisch nicht durch-
setzbar war. Zwar befand er sich zur damaligen Zeit in regelmäßigem Austausch mit
dem rechtspolitischen Ausschuss beim Parteivorstand der regierenden SPD und offen-
bar wurde Böckenfördes Auffassung zum Ausnahmezustand dort auch mehrheitlich ge-
billigt. Die gesellschaftspolitische Debatte über den Ausnahmezustand war jedoch zu
„heiß“, als dass die SPD mit einem ernsthaften Vorstoß für eine Grundgesetzänderung
an die Öffentlichkeit gegangen wäre.76 Böckenförde publizierte schließlich einen bereits
entsprechend ausgearbeiteten Regelungsentwurf als persönliche Ansicht in der Fest-
schrift für den SPD-Rechtspolitiker und damaligen Verfassungsrichter Martin Hirsch.77
Nichtsdestoweniger hielt Böckenförde an seiner Auffassung fest und bedauerte, dass
nicht begriffen worden sei, „daß der Ausnahmezustand im Grunde dazu dient, in der
Krise eine bestehende Ordnung soweit möglich wieder zu stabilisieren. [...] Auch er hat
eine Struktur, die dazu dient, über die Krise hinwegzukommen.“78 Dass man das Recht
der Normallage von dem der Ausnahmelage unterscheiden müsse, ist generell eine der
Grundmaximen der Schmitt-Schule. Für Ernst Forsthoff etwa war es schlicht ein „intro-
vertiertes“ Verfassungsdenken, diese Unterscheidung zu ignorieren. Für ihn war es,
ebenso wie für Carl Schmitt, ein methodisches Grundprinzip, auch in saturierteren Zei-
ten stets den Ausnahmezustand im Blick zu behalten. In den frühen sechziger Jahren
warnte Forsthoff daher die Rechtspolitik davor, angesichts der „weitgehenden Entpoliti-
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sierung unter dem Grundgesetz“ den Fehler zu begehen, nunmehr „ausschließlich in
Normallagen zu denken“.79 Er hoffte mit dieser Bemerkung seinem alten Lehrer Carl
Schmitt, wie er ihm noch vor der Veröffentlichung schrieb, „einigen Spass machen“ zu
können,80 was ihm zweifellos auch gelang.
IV.
Noch fünfzehn Jahre später empfand Ernst-Wolfgang Böckenförde ein ähnliches Ver-
gnügen. Er betrachtete das Problem nun jedoch aus einem anderen Blickwinkel. Wie
Forsthoff wehrte er sich zwar gegen ein introvertiertes Rechtsdenken, „das die eigenen
Voraussetzungen nicht reflektiert“, aber seine Pointe war eine gewissermaßen dialekti-
sche: „Wer meint, Ausnahmelagen nur dadurch begegnen zu können oder zu dürfen,
daß er sie gesetzlich normiert, schafft schließlich ein Recht der Normallage, das vom
Ausnahmezustand her bestimmt ist.“81 Darin ist eine entscheidende Änderung der
Blickrichtung gegenüber seinen ‚exzeptionellen’ Lehrern Schmitt und Forsthoff zu se-
hen. Während diese sich methodisch auf den Fixpunkt der Ausnahme kaprizierten, ging
es Böckenförde letztlich um die Verteidigung der Normallage.
Von dieser Orientierung blieb womöglich auch sein greiser Lehrer Carl Schmitt nicht
unbeeindruckt. Als der neunzigjährige Schmitt im Jahr 1978 seinen Aufsatz über „Die
legale Weltrevolution“ veröffentlichte, kam er einem Wunsch seines Schülers Ernst-
Wolfgang Böckenförde nach, das Problem von Legalität und Legitimität rückblickend
im Licht der Ereignisse von 1932/33 zu erörtern.82 Diese letzte Publikation Schmitts ist
werkbiographisch insofern von Bedeutung, als er sich hier von seiner ironisch-distan-
zierten Haltung gegenüber dem Staat der Bundesrepublik verabschiedet. Vielmehr ist
eine positive Hinwendung zu diesem Staat und seinen Problemen zu erkennen. Für die-
sen Einstellungswandel spielt sein Schüler Böckenförde womöglich eine weit größere
Rolle, als man es von einem weit jüngeren Schüler annehmen würde.
Literatur
140
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Das Leben als Ausnahmezustand
Reinhard Mehring
Juristen haben ein enges Verhältnis zum Wort und sind häufig gute Schriftsteller. Der
bekannteste deutsche Fall ist Johann Wolfgang von Goethe. Aktuell wäre beispielsweise
der Böckenförde-Schüler und Ebrach-Teilnehmer Bernhard Schlink zu nennen, der mit
seinem Vorleser einen literarischen Welterfolg landete. Carl Schmitt waren literarische
Ambitionen auch nicht ganz fremd. So erwog er 1922 eine Schlüsselnovelle über sein
Eheleben als „treuer Zigeuner“ zu schreiben. Eine ganze Reihe veritabler Universitäts-
professoren schrieben Schlüsselromane über das Leben als Wissenschaftler. Aus der
Reihe der Campus-Romane ist Perlmanns Schweigen (1995) besonders gelungen. Der
Philosoph Peter Bieri, ein gebürtiger Schweizer, verfasste den umfangreichen Roman
unter dem literarischen Pseudonym Pascal Mercier. Perlmanns Schweigen war Bieris
erster Roman. Bieri war ein angesehener Philosoph aus der analytischen Schule, Profes-
sor für Philosophie in Bielefeld (1983), Marburg (1990) und Berlin (1993). An der Frei-
en Universität Berlin wurde er der Nachfolger seines akademischen Lehrers Ernst
Tugendhat. Philosophisch entfernte er sich in Berlin aber von der analytischen Schule1
und vertrat mit seinem Buch Das Handwerk der Freiheit2 eine recht konventionelle
Verteidigung des introspektiv evidenten Teilnahmestandpunkts individueller Willens-
freiheit. Perlmanns Schweigen, nach Bieris Wechsel an die Endstationsuniversität FU-
Berlin veröffentlicht, ist ein tragikomischer Roman über die Psychologie akademischer
Reputation, Kreativität und Originalität und die Diskrepanz zwischen akademischer
Selbstwahrnehmung und Außensicht.
Der international renommierte Linguistik-Professor Philipp Perlmann hat den akademi-
schen Betrieb eigentlich satt. Dennoch übernimmt er die Leitung eines elitären Sympo-
sions in einem Nobelhotel an der ligurischen Küste. Einen eigenen Vortragstext hat er
noch nicht. In der akademischen Konkurrenz mit einem amerikanischen Kollegen be-
schließt er deshalb unter äußerstem Druck, Tablettenmissbrauch, Eskapaden und Refle-
xionsschleifen, eine drohende Blamage durch die Übersetzung eines entlegenen russi-
schen Textes abzuwenden. Doch der plagiierte russische Kollege trifft überraschend
selbst als Teilnehmer am Symposion ein; Perlmann will ihn durch einen fingierten Au-
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tounfall töten. Es kommt dann nach manchen Verwicklungen doch zu einer anderen Lö-
sung, und Perlmann steigt aus der Wissenschaft aus. Perlmanns Schweigen schildert mit
satirischer Schärfe die Innensicht der akademischen Konkurrenzen, Reputationskämpfe,
Disziplinierungs- und Ekstasetechniken, mit denen Perlmann seine professionelle Indif-
ferenz gegenüber den akademischen Formen und Anforderungen überspielt und sich
zum erwarteten Auftritt und Verhalten zwingt.
Der satirische Witz des Romans liegt nicht nur in der Diskrepanz zwischen Perlmanns
Selbstwahrnehmung und den akademischen Üblichkeiten und Ritualen, sondern auch in
der asymmetrischen Anerkennung, die Perlmann über die Mitwelt seiner Kollegen hin-
aus vom Romanleser erhält. Perlmann ist ein hochbegabter, brillanter Wissenschaftler.
Daran zweifelt niemand außer ihm selbst. Ein Plagiat hat er nicht im Mindesten nötig.
Jederzeit wäre er in der Lage, auch ohne Betrug den kollegialen Erwartungen zu ent-
sprechen und sein hohes Ansehen als Wissenschaftler zu bestätigen. Er braucht im
Rahmen eines solchen Symposions, der akademischen Camouflage einer Urlaubsreise,
eigentlich gar kein innovatives Manuskript. Seinen Rang als Wissenschaftler beweist er
dort praktisch nicht durch seinen akademischen Output, seinen originellen Vortrag,
sondern durch die Psychologie seines hohen Spiels um die akademische Reputation.
Zum Spiel gehört der konventionelle Schein, dass es um die Sache und nicht um den
sozialen Event oder persönliche Interessen und Beziehungen – freund-feindliche Kon-
kurrenzen, kultivierte Geselligkeit und Unterhaltung oder auch erotische Abenteuer –
geht. Max Weber schrieb in Wissenschaft als Beruf:
„Wer „nicht die Fähigkeit besitzt, sich einmal sozusagen Scheuklappen anzuziehen und
sich hineinzusteigern in die Vorstellung, daß das Schicksal seiner Seele davon abhängt: ob
er diese, gerade diese Konjektur an dieser Stelle dieser Handschrift richtig macht, der bleibe
der Wissenschaft nur ja fern. Niemals wird er in sich das durchmachen, was man das ‚Er-
lebnis’ der Wissenschaft nennen kann.“ (MWGA Bd. XVII, 80f)
Während Weber von der Identifikation mit Inhalten spricht, der manischen Leidenschaft
für die „Sache“, analysiert Bieri alias Mercier die Passion der Wissenschaft als obsessi-
ve Abhängigkeit von kollegialer Anerkennung. Goethe und Schiller schrieben ein Xeni-
on „Wissenschaft. Einem ist sie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern / Eine
tüchtige Kuh, die ihn mit Butter versorgt.“3 Es bedarf komplexer Mobilisierungsstrate-
gien, um den akademischen Profi, der um die Spannung zwischen den akademischen
Formen und Inhalten, der Wissenschaft als Job und Berufung, weiß, zu einem rollen-
konformen Verhalten zu zwingen. Schließlich steigt Perlmann aus.
Der Umstieg aus der Wissenschaft in die Literatur ist ein Stück Kompensation. Man
überschreitet die Diskurspflichten und Argumentationslasten und löst so die Spannun-
gen zwischen den initialen Motiven, Zielen und Mittel der Wissenschaft. Was der Wis-
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senschaft versagt bleibt, ist dem Dichter möglich. Die Problembestände, an denen die
Wissenschaft scheitert, die sie methodisch verstellt, bearbeitet die Literatur. Der Philo-
soph löst die Sinnfrage dichterisch, der Jurist findet fiktional die Gerechtigkeit, die ihm
der Rechtswegestaat versagen muss. Wenn Juristen Kriminalromane schreiben, Fälle lö-
sen, bleiben sie dem Recht auf der Suche nach Gerechtigkeit treu.
Schmitt hat die innere Berufung als Universitätslehrer bis 1945 wohl niemals verlassen.
Den „Mandarinen“ des akademischen Betriebs und der strikten Selbstbeschränkung auf
den rechtsdogmatischen Positivismus aber stand er stets distanziert gegenüber. Den Sys-
temgrenzen der Universität und Wissenschaft suchte er schon durch seine starke politi-
sche Adressierung und Funktionalisierung seiner Wissenschaft zu entkommen. Vor al-
lem aber setzte er sein Leben durch vielfältige Aufgaben und Verwicklungen in Span-
nung. Schmitt lebte geradezu literarischen Mustern von Georges Bernanos oder Louis-
Ferdinand Célines Voyage au bout de la nuit nach. Ein Referenzautor ist Johann Arnold
Kanne, dessen Autobiographie Schmitt 1917 herausgab. Die biographischen Details4
seiner repressiven Selbstmobilisierung und Stilisierung seines Lebens als produktiver
Ausnahmezustand sind hier nur knapp zu rekapitulieren: Die frühen Düsseldorfer Tage-
bücher schildern ein desparates, exaltiertes Leben als Rechtsreferendar zwischen äu-
ßersten Geldsorgen, Liebesekstasen (Cari), Abhängigkeiten von einem dämonischen
„Geheimrat“ (Hugo am Zehnhoff), kafkaesker Wahrnehmung des juristischen Ausbil-
dungsbetriebs, Hass auf das konfessionelle und familiäre Herkunftsmilieu. Die Tagebü-
cher der frühen Münchner Jahre im Militärdienst belegen dann weitere Spannungen
zwischen dienstlichen Pflichten („Hauptmann“ Roth) und dem Leben als Bohèmien in
Künstler- und Intellektuellenkreisen, Furcht vor der Front und Hass auf den „Militaris-
mus“. Dazu kommt die ungelöste Spannung zwischen philosemitischen und antisemiti-
schen Strebungen. Später lebt Schmitt im ständigen Zwist und krasser Geringschätzung
der juristischen Kollegen, der Scham und Verzweiflung über das Scheitern seiner kata-
strophalen Mesalliance mit der Hochstaplerin, Demimonde und Halbweltdame Cari,
dem resultierenden Bruch mit der Kirche und dem katholischen Milieu, dem leisen Ge-
läster und höhnischen Spott der Kollegen, den politischen Dissonanzen innerhalb der
Zunft, dem Ressentiment gegen Versailles, Genf und Weimar. Mit der Beziehung zu
Duschka Todorović und der erneuten Ehe auf Kosten kirchlicher Exkommunikation
macht Schmitt zwar den Versuch eines Neuanfangs, bald auch durch seinen Wechsel
nach Berlin, doch die lebensgefährliche Erkrankung Duschkas, unmittelbar nach der
Hochzeit massiv ausbrechend, wirft ihn vollends aus der bürgerlichen Bahn in die priva-
te Verzweiflung, der Schmitt nun mit ständigen Affären und Prostituierten begegnet. Er
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stürzt sich ins Berliner Nachtleben, rutscht auf den Straßenstrich ab und greift zur Fla-
sche. Parallel radikalisiert er sich politisch und antisemitisch. Aus der Bohème wechselt
er in die nationalistischen Kreise der Konservativen Revolution über. An die Stelle der
alten Gefährten und Freunde Georg Eisler, Franz Blei und Ludwig Feuchtwanger tritt
nun der Umgang mit Rechtsintellektuellen wie Heinrich Oberheid, Ernst Jünger, Wil-
helm Stapel und Albrecht Erich Günther. Der antisemitische Affekt triumphiert. Auch
die Genesung von Duschka und die Geburt der Tochter Anima stabilisieren sein bürger-
liches Leben am Ende der Weimarer Republik kaum. Eheliche Treue und bürgerliche
Ruhe und Ordnung findet Schmitt auch damals nicht. Mit seiner nationalsozialistischen
Entscheidung sucht er 1933 dann auch seine innere Unruhe und Unzufriedenheit zu lö-
sen. Der Außenseiter will endlich Insider sein. Doch er begeht erneut den Fehler, die fa-
tale „Dummheit“, sich in falsche Gesellschaft zu begeben und mit einer Bande von
Räubern, Mördern und Irren zu paktieren. Paradigmatisch steht hier der jahrelange Um-
gang mit Hans Frank, dem späteren Generalgouverneur von Polen, den Schmitt später,
neben seiner ersten Ehe, rückblickend die größte „Dummheit“ seines Lebens nennen
wird. Zu nennen ist aber auch die Wahl prononciert nationalsozialistischer Mitarbeiter,
SS-Männer und NS-Verbrecher wie Herbert Gutjahr und Helmut Pfeiffer, und anderes
mehr.
Biedermeierlich gesprochen fehlte Schmitt die Menschenkenntnis; laienpsychologisch
gesprochen mag er als „narzisstische“ Persönlichkeit oder gar als „Borderliner“
(Kernberg) gelten.5 Nach heutigem Quellenstand dürfte es nicht sonderlich strittig sein,
Schmitts Charakter und „Fall“ allerlei Untugenden zu attestieren: Ressentiment, über-
spannten Ehrgeiz und Eitelkeit, Larmojanz, elitären Dünkel, Undank und mangelnde
soziale Reziprozität, Geringschätzung der Mitwelt, Verzerrung, Verleugnung und Ver-
drängung einfacher Tatsachen. Solche Psychologisierungen und Pathologisierungen
sind wohlfeil und billig. Dabei mag auch auf Schmitt zutreffen, was Hannah Arendt
1949 über Heidegger an Jaspers schrieb:
„Was Sie Unreinheit nennen, würde ich Charakterlosigkeit nennen, aber in dem Sinne, daß
er buchstäblich keinen hat, bestimmt auch keinen besonders schlechten. Dabei lebt er doch
in einer Tiefe und mit einer Leidenschaftlichkeit, die man nicht leicht vergessen kann“.6
Schmitts schwankender Charakter wurde oft beschrieben: so von Moritz Bonn.7 Löwith8
sprach 1935 von Okkasionalismus und Opportunismus. Schmitt unterschied rückbli-
ckend seinen katholisch-ästhetizistischen Habitus vom protestantischen Ethizismus und
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Rigorismus.9 Er selbst beschrieb sich nicht als starken Charakter etwa im Sinne von
Kants Moralphilosophie (Tugend ist „moralische Stärke“ gegen „Widerstand“), sondern
eher als seismographisch beobachtenden Teilnehmer, der die Krise der Zeit zum Pathos
seines Lebens erhob. 1933 sagte er einmal: „Meine Arbeit erhält ihren Sinn dadurch,
dass ich nichts anderes bin als ein Organ dieses substanzhaften Rechts des konkreten
Volks“.10 1938 sprach er in seiner privaten Tischrede zum 50. Geburtstag von seiner
„Fähigkeit, sich betrügen zulassen“.11 Später sprach er von einer – biographisch teils
nachvollziehbaren – „merkwürdigen Passivität“ und meinte im Gespräch mit Spranger:
„Ich bin ein kontemplativer Mensch und neige wohl zu scharfen Formulierungen, aber nicht
zur Offensive, auch nicht zur Gegenoffensive. Mein Wesen ist langsam, geräuschlos und
nachgiebig, wie ein stiller Fluß, wie die Mosel, tacito rumore Mosella.“12
Fast jedes Wort mag man hier in Zweifel ziehen, war doch das „Gespräch“ auch eine
„Gegenoffensive“. Aber solche Fragen lassen sich kaum entscheiden. Beide Sichtwei-
sen lassen sich vertreten, weil sie nicht in eine Richtung eindeutig zu belegen oder zu
widerlegen sind. Das seismographische Wort vom „Organ“ scheint mir aber wichtig.
Schmitts Leben war eine Krisenbiographie. Der „Ausnahmezustand“ war ihm auch ein
biographisches Problem. Schmitt wollte die Krise der Zwischenkriegszeit intensiv er-
fahren und ein emphatischer Zeuge sein. In der Krise lässt sich nicht ruhig leben. Die
Politik ist das „Schicksal“. Zeitgenössisch hat damals insbesondere Eric Voegelin den
alten platonischen Gedanken von der paradigmatischen Spiegelung von Mensch, Staat
und Kosmos im Ordnungsdenken betont. Gerade Voegelins Werk stand Schmitt auch,
anders als die Sokratiker Kuhn oder Strauss, philosophisch nahe.
Damit kommen wir zu Schmitts sozialer Konstruktion seines Lebens als Ausnahmezu-
stand. Die pathogenen Motive seien hier geschenkt. Eine psychopathologische Betrach-
tung ist, wie bei allen Menschen, aufschlussreich und erhellend; sie könnte Schmitt in
seinem Umgang mit den Hypotheken und „Dummheiten“ seines Lebens – u.a. Cari und
Hans Frank – auch ein Stück weit exkulpieren. Der „außergewöhnliche Mann“ (Walter
Jellinek)13 lebt nicht leicht alltäglich. Schmitt trug schweres Gepäck, nicht nur die psy-
chobiographischen Folgen mancher „Dummheiten“, sondern auch die soziale Hypothek
seiner Hochbegabung. Seine verfassungstheoretischen Kategorien sind auch ethische
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Perzeptionen seines Handlungsfeldes. Die biographische Lesart folgt dem Maßstab der
Selbstbeschreibung und ist deshalb die mildeste Form interner Kritik. Ihr Rationalitäts-
kriterium ist die interne Kohärenz von Denken und Tun. Eine starke Diskrepanz zwi-
schen den selbst gesetzten Handlungsgrundsätzen und dem Verhalten heißt dann „irrati-
onales“ Versagen gegenüber den eigenen Ansprüchen. Abstrahiert man von starken
psychologisierenden Deutungen und auch vom rechts- und sozialwissenschaftlichen
Sachgehalt von Schmitts Kategorien und liest sie distanzierend als „soziale Konstrukti-
onen“, so ist eine biographische Lesart statthaft.
In den letzten Jahren wurde in der philosophischen Ethik viel von Lebenskunst und Le-
bensführung gesprochen.14 Man knüpfte dabei oft an die handlungsanalytische Ethik des
Aristoteles an. Aristoteles unterschied formal zwischen bloßem Überleben und gutem
Leben und formulierte das bürgerliche Maß: die goldene Mitte zwischen den Extremen
und einen Primat der Vernunft. Auch das Scheitern aber mag als „Form des Glücks“
gewählt sein.15 Die Selbstbestimmung schließt auch den extremen Lebensentwurf ein.
Wir unterscheiden zwischen kurz-, mittel- und langfristigen Zielen und geben oft mo-
mentanen Wünschen und Neigungen nach. Leben heißt Problemlösen. Handeln kämpft
mit Kontingenzen und droht im komplexen Gefüge immer zu scheitern. Schon Hegel
beschrieb die Verselbständigung der Folgen gegen die Intentionen einer Handlung.
Fichte sprach allgemein vom Streit zwischen „Ich“ und „Nicht-Ich“. Selbst bei Goethe
findet sich (im Divan) der Satz: „Lebt man denn, wenn andere leben?“16 Leben besteht
in der alltäglichen Lösung von Problemen, Aufgaben und Herausforderungen. Helmuth
Plessner, von Schmitt exponiert zitiert, sprach von der „Exzentrizität“ des menschlichen
Daseins, das sich an die Mitwelt verliert, um seine Freiheit in distanzierenden Akten zu-
rückzugewinnen. Lachen und Weinen markieren Grenzfälle exzentrischer Positionalität.
Heidegger sprach vom „Verfallen“ des eigentlichen Daseins an das „Man“, Hans Jonas
analysierte das gnostische Lebensgefühl mit Heidegger. Schon Nietzsche verwarf den
Eudämonismus des Glücks. „‚Was liegt am Glücke!’, antwortete er [Zarathustra], ‚ich
trachte lange nicht mehr nach Glücke, ich trachte nach meinem Werke.’“17
Schmitts Begriff des Ausnahmezustands muss hier nicht in allen Nuancen rekonstruiert
werden. Unstrittig hat dieser „Grenzbegriff“ heute große diagnostische Bedeutung. Die
Finanzkrise der EU, nicht nur eine Griechenlandkrise, erinnert nur zu deutlich daran.18
Weitere weltweite Krisenlagen und Erosionen der Staatlichkeit stoßen uns auf den Be-
griff. Freilich ist die Rhetorik des Ausnahmezustands auch ein rechtspolitisch intentio-
14 Aus der Masse der Literatur besonders lesenswert Rentsch 2000; vgl. auch Mehring 2001.
15 Seel 1995.
16 Goethe 1981a, S. 43.
17 Nietzsche 1966, Bd. II, S. 477.
18 Dazu vgl. Böckenförde 2011, S. 299-303.
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nales Krisenszenario. Günter Frankenberg19 hat diese Staatstechnik der Optik des Aus-
nahmezustandes für den juristischen Gegenwartsdiskurs eindrucksvoll analysiert. Gior-
gio Agamben warf das Stichwort mit Schmitt und Benjamin neu in die Debatte. Seine
Rekonstruktion eines „Gesprächs unter Abwesenden“ (H. Meier) ist allerdings ziemlich
fiktiv.20 Auch seine Implementierung der Unterscheidung von potestas und auctoritas in
die „Zone der Unbestimmtheit“ und „Anomie“ legt eine spekulative Dogmatik in
Schmitts Stichwort, die der Text kaum hergibt. Zutreffend schreibt Agamben, dass
Schmitt den Ausnahmezustand als Grenzbegriff „in einen Rechtskontext stellt“21 und
als Rechtsbegriff retten möchte. Die spekulative Auslegung, die Agamben sucht, war
Schmitt nicht ganz fremd. Der Ausnahmezustand begegnete ihm aber zunächst als mili-
tärischer Auftrag und biographische Erfahrung. Das Thema des Belagerungs- und Aus-
nahmezustands wurde ihm 1915 in München zunächst dienstlich gestellt. Schmitt war
damals wieder einmal über seine Lebensumstände ziemlich verzweifelt. Er litt unter
dem Heeresdienst, zweifelte und verzweifelte an seiner Frau, fürchtete sich vor der
Front und fühlte sich zwischen staatlicher „Autorität“ und Schwabinger „Anarchie“ hin
und her gerissen. Er wusste nicht genau, wo er stand, und empfand seine Tätigkeit in
der Heeresverwaltung als Verrat. Am 6. September 1915 notierte er in sein Tagebuch:
„Um 8 Uhr war ich bereit, Selbstmord zu begehen, in der Welt der Nacht und in der Stille
zu versinken, mit ruhiger Überlegenheit; dann dachte ich nur daran, in der Welt Karriere zu
machen. Einige Stunden später war mir alles gleichgültig und ich wollte gerne Soldat wer-
den – es ist zum Verrücktwerden, diese Zusammenhanglosigkeit; was soll ich tun? Ich wer-
de mich in einer Stunde vor Wut über meine Nichtigkeit erschießen.“ (TB II, 125)
„Nachmittags: Bericht über das Belagerungs-Gesetz machen. Begründen, dass man den Be-
lagerungszustand noch einige Jahre nach dem Krieg beibehält. Ausgerechnet ich! Wofür
mich die Vorsehung noch bestimmt hat.“ (TB II, 125)
Das Thema des Belagerungszustandes kommt ihm als Auftrag entgegen. Schmitt soll
sagen, dass der Kriegszustand eine außerordentliche Ausweitung der exekutiven
Maßnahmebefugnisse auch in die Nachkriegszeit hinein erfordert. Das wird ein zentra-
les Thema seines späteren Werkes werden. Seine ganze Verfassungstheorie plädiert da-
für, dass das liberale System der Gewaltenunterscheidung nicht mehr zu halten ist und
die Exekutive das Recht für außerordentliche Maßnahmen braucht: für die Ausweitung
exekutiver Macht auf Kosten der Legislative, des klassischen Parlamentarismus und der
Jurisdiktion. 1915 aber, mitten im Krieg, nimmt Schmitt diesen Auftrag zunächst mit
Verwunderung auf. „Ausgerechnet ich! Wofür mich die Vorsehung noch bestimmt hat!“
19 Frankenberg 2010.
20 Eine solide philologische Quelle ist dagegen Schmitts Handexemplar von Benjamins Trauerspiel-
buch. Dazu Mehring 2011, S. 239-256.
21 Agamben 2004, S. 62, vgl. S. 42ff.
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Die Bemerkung ist ironisch, denn Schmitt weiß ja, dass es sein Vorgesetzter (Haupt-
mann Roth, der spätere bayerische Justizminister) war, der ihn beauftragte. Er deutet
damals noch an, dass er nicht geneigt ist, gegen die liberale Gewaltenunterscheidung zu
argumentieren, bejaht die Abkehr von rechtstaatlichen Verhältnissen noch nicht, so we-
nig er den Krieg bejaht. Andererseits ahnt er bereits, dass dem Thema der Diktatur, der
Transformation des liberalen Rechtsstaats in den Exekutivstaat, die Zukunft gehört. Es
wird Schmitts verfassungspolitisches Lebensthema. Und es klingt in diesen ersten For-
mulierungen schon die existentielle Stabilisierung an, die für den desparaten Bohèmien
im Auftrag liegt. Endlich hat Schmitt sein Lebensthema gefunden. Damit kann er sich
eine Form geben und als „Soldat“ über die Bürger und Bohèmiens triumphieren. So ist
seine Rede von der „Vorsehung“ nicht nur ironisch gemeint. In ihr steckt auch eine
existentielle Rettung: eine Ahnung künftiger Entwicklungen, die ihm ein Ziel geben, an
das er sich halten kann. Sofort will er das Thema als „Buch“ realisieren. Er schreibt
dann einen „Bericht über das Belagerungszustands-Gesetz“ und beginnt mit seinen be-
deutenden begriffsgeschichtlichen Studien zur Diktatur. In der Diktatur arbeitet Schmitt
den Schritt aus der „kommissarischen“ in die „souveräne“ Diktatur besonders prägnant
heraus. Die Politische Theologie stellt die Souveränität dann als „Grenzbegriff“ der
Staatslehre in politisch-theologisches Licht.
Schmitt definiert die Souveränität funktional: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezu-
stand entscheidet.“ (PT 11) Er macht die Frage nach der Souveränität so zu einer „Frage
nach dem Subjekt der Souveränität“ (PT 12, 16) Auch der Staatsbegriff wird dadurch
offen: Wenn das Subjekt der Souveränität offen ist und der Souverän den Staat konstitu-
iert, ist der Staat nicht vorab durch Institutionen definiert. Schmitt spricht aber in der
Politischen Theologie weiter relativ selbstverständlich vom Staat als „Subjekt der Sou-
veränität und der Rechtsordnung“. Er definiert den „Ausnahmezustand“ als Grenzbe-
griff, von einer Normalitätserwartung her, durch die
„Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung. Ist dieser Zustand eingetreten, so ist
klar, dass der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. Weil der Ausnahmezu-
stand immer noch etwas anderes ist als eine Anarchie und ein Chaos, besteht im juristi-
schen Sinne immer noch eine Ordnung, wenn auch keine Rechtsordnung.“ (PT 18f)
Schmitt hält also noch an einer juristischen Engführung seiner Souveränitätslehre fest,
die durch die Souveränitätsformel selbst nicht ganz gedeckt ist. Die Souveränitätsformel
ist auch für eine weitere Fassung des „Ausnahmezustands“ (als anarchisches Chaos) of-
fen. In politisch-theologischer Perspektive fasst Schmitt den Ausnahmezustand auch
selbst schon innerhalb seiner Broschüre weiter. „Der Ausnahmezustand hat für die Ju-
risprudenz eine analoge Bedeutung wie das Wunder für die Theologie“, schreibt er zu
Beginn seines titelgebenden Kapitels (PT 49). Schmitt kritisiert dann Kelsens
Immanenzmetaphysik der Parallelisierung des juristischen Gesetzesdenkens mit der
„Naturgesetzlichkeit“ (PT 54): also den strikten Allgemeinheitsanspruch von Kelsens
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Rechtsbegriff. Bekanntlich spielt er den Absolutismus, Personalismus und Dezisionis-
mus von Hobbes gegen diesen „Normativismus“ aus (PT 61f). Indem er auch den
christlichen Theismus betont, hier bald von der Hobbes-Dissertation seines Schülers
Werner Becker angeregt, nimmt er Hobbes gegen die naturrechtliche Letztvorstellung
einer „konkreten Unordnung“ in Schutz (DARD 24). Erst 1934 spielt Schmitt sein
„Ordnungsdenken“ aber deutlich gegen den atheistischen Dezisionismus der Unordnung
aus. In seinem theistischen Weltbild ist die Natur im Grunde gut. Der Theismus rettet
die Güte der Welt.
Der Ausnahmezustand ist ein von einer Normalitätserwartung her konzipierter Gegen-
und Grenzbegriff. Strikte Suspension aller Regularitäten und Regeln gibt es nicht. We-
nigstens die Naturgesetze gelten in der entgötterten Welt. Das politische Handlungsfeld
entsteht, historisch betrachtet, erst mit den alten Griechen als säkularer Raum22 mit der
Entmythologisierung des Weltbildes und einer Trennung von Gott, Mensch und Welt.
Eine Geburtsurkunde ist hier Platons geschichtsphilosophischer Mythos vom „Steuer-
mann“, der das Ruder fahren lässt und die schwachen und sterblichen Menschen aus der
„Obhut der Götter“ entlässt (Politikos 272-274). In metaphysikgeschichtlicher Perspek-
tive verkehrt sich die Formel geradezu: Was ungeheuer säkular klingt, der Ausnahme-
zustand, ist näher betrachtet eigentlich eine metaphysische Fiktion. Die entgötterte Na-
tur kennt keine Suspension aller Regeln und keinen radikalen Ausnahmezustand. Nur
den Menschen erscheinen Bedrohungslagen als katastrophale Ausnahmezustände. In der
Dramatisierung von Krisen liegt eine gefährliche Übertreibung. Doch die Lebenserfah-
rung sagt auch: Hinter dem Horizont geht es weiter. Ein säkulares Weltbild sieht die
Anthropozentrik des Ausnahmezustands letztlich nüchtern und zynisch. Das metaphysi-
sche Szenario der radikalen Endlichkeit hat Nietzsche prägnant und ironisch formuliert:
Wir rechnen heute fast stündlich mit dem Ende der Zivilisation. Seit Jahrzehnten fliegen
aber Satelliten durchs Orbit und tragen noch bei erloschenen Funkkontakten gezielte In-
formationen vom menschlichen Dasein zu allen möglichen „vernünftigen Wesen“
(Kant). Die Menschheit rechnet heute wieder mit vernünftigen Wesen jenseits des Men-
schen.
Schmitts Souveränitätsformel dramatisiert die Möglichkeit eines amorphen Handlungs-
feldes jenseits aller Regeln. So ist sie selbst ein „säkularisierter theologischer Begriff“.
Die Politik sollte nicht mit gänzlich ungeregelten Zuständen rechnen, sondern von der
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gegebenen Verfassung ausgehen, die sich zeigt und gilt. Nur wer die Regeln einigerma-
ßen kennt, kann sich entsprechend verhalten. So ist der Grenzbegriff des „Ausnahmezu-
stands“ politisch zunächst einigermaßen irritierend und nebulös. Er fingiert eine amor-
phe Regellosigkeit, die im sozialen Gefüge nicht wirklich existiert. Als Handlungsrat-
geber ist er damit ziemlich entmutigend und unpraktisch. Sein Erkenntnisgehalt liegt
eher im dramatischen Appell zum Umdenken. Die Formel weist auf veränderte Hand-
lungsumstände hin, auf die Notwendigkeit, sich auf eine neue Situation einzulassen und
deren Umstände im Handeln explorativ und riskant zu erschließen. Die Pointe der For-
mel liegt in der formalen und offenen Fassung. Die Souveränität ist funktional an die
Erfüllung einer Aufgabe und Funktion gebunden. Damit bindet Schmitt das Recht an
eine politische Ordnungsleistung oder Macht. Die Souveränitätsformel ist ein Stück
„Ordnungsdenken“. Das „Subjekt der Souveränität“, der Souverän, muss keine einzelne
Person sein, sondern kann auch eine herrschende Elite oder soziale Klasse sein. Die kol-
lektive Verantwortlichkeit für die ordnungsstiftende Leistung muss aber eindeutig ge-
geben sein. Diese ordnungs- und souveränsstiftende Leistung muss nicht in einer ein-
zelnen Maßnahme oder Tat bestehen und kann auch einen nachträglich zugerechneten
Handlungsverlauf betreffen. Wenn ein Feldherr etwa einen Konflikt entscheidet, Belisar
beispielsweise bei Karthago die Vandalen unter Gelimer besiegt,24 so kann dies einem
Oberbefehlshaber oder Kaiser (hier: Justinian) zugerechnet werden. Umgekehrt muss
der Prinz von Homburg nicht für seine eigeninitiativ rettende Tat belobigt werden. Der
Souverän muss nicht einmal als Mensch anerkannt werden. Auch Gott kann der Souve-
rän sein. So verstand sich Jean d’Arc als Gefäß oder Werkzeug Gottes. Transzendente
Mächte werden immer wieder als Herren der Geschichte gesehen. Konkrete Handlun-
gen erscheinen dann transpersonal als Vollzug einer „Vernunft in der Geschichte“.
Schmitts Souveränitätsformel erzwingt nicht den starken Personalismus und Elitismus
seines politischen Denkens. Der Souverän muss nicht ein Führer in Person sein. Sie
kann deshalb im je konkreten Souveränitätsbeweis unterschiedlich formuliert werden:
Der Feldherr erweist sich als Souverän, wenn und weil er die Schlacht entscheidet. Der
Kaiser bewährt sich als Souverän, wenn ihm sein Feldherr die Standarten zu Füßen legt.
Gott gilt als Souverän, wenn er geglaubt wird und ihm die Krieger den Sieg über die
Heiden betend danken.
Die Souveränitätsformel bezeichnet den Moment der Ordnungsstiftung als Akt der An-
erkennung von Handlungsmacht. Mit Max Weber gesprochen signalisiert sie den Um-
schlag von Macht in Herrschaft, d.h. sozial anerkannte Macht. Der Souverän gewinnt
die Initiative und das „Heft“ des Handelns zurück, gleichsam das Drehbuch oder die
Regiebeschreibung, und verfügt über die semantische Hoheit und Definitionsmacht über
die Situation: die Kompetenz-Kompetenz zur näheren Gestaltung der Lage. Er tritt da-
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mit, antik gesprochen, als Nomothet oder Legislateur auf und gewinnt eine gesetzgebe-
rische Macht und Funktion. Das muss keine diktatorische Vollmacht und Herrschafts-
praxis bedeuten. Vielmehr zeigt die diktatorische Souveränitätsgeste eher Schwäche an.
Der wahre Souverän hat rhetorische Machtdemonstrationen und Selbstverherrlichungen
nicht nötig. Der demonstrative Führerkult geht leicht ins Leere. Platon vergleicht den
Staatsmann (im Protagoras) mit einem Weber oder Webekünstler. Auch Schmitt ver-
gleicht das politische Handeln später, in der Jünger-Festschrift, gegen die Auslegung
des Dezisionismus als Ideologie des permanenten Gewaltstreiches, mit dem gordischen
Knoten, der nicht zerschlagen, sondern behutsam gelöst wird.
Ordnungsstiftung ist Verfassunggebung. Die souveräne Ordnungsstiftung verwandelt
den Ausnahmezustand in einen Normalzustand. Mit der Frage nach der Verfassungsfä-
higkeit einer politischen Einheit deuten sich Differenzierungen innerhalb des „Ausnah-
mezustands“ an. Es gibt Ausnahmezustande, die noch verfassungsfähig sind und „Ent-
wicklungspfade“ oder Normalisierungschancen haben; und es gibt chaotische Zustände,
deren Normalisierungschancen unabsehbar sind und die wenig Hoffnung lassen.25
Schmitt stellte dem Nationalsozialismus die Frage nach seiner Verfassungsfähigkeit mit
Lorenz von Stein. Bis zum 30. Juni 1934 glaubte er noch an die Verfassungsfähigkeit
des Nationalsozialismus und sprach deshalb auch von einer „Dreigliederung“ der „poli-
tischen Einheit“ und von „Ordnungsdenken“. Nach dem 30. Juni 1934 kamen ihm darü-
ber starke Zweifel. Seine Formulierungen im Artikel Der Führer schützt das Recht sind
bekannt und berüchtigt:
„Der Führer schützt das Recht vor dem schlimmsten Missbrauch, wenn er im Augenblick
der Gefahr kraft seines Führertums als oberster Gerichtsherr unmittelbar Recht schafft. […]
In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. […] Das Richtertum des Füh-
rers entspringt der höchsten Rechtsquelle, der alles Recht jedes Volkes entspringt. In der
höchsten Not bewährt sich das höchste Recht und erscheint der höchste Grad richterlich rä-
chender Verwirklichung dieses Rechts. Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Vol-
kes.“ (PB 200)
Diese Sätze markieren nicht ohne doppelten Boden und „esoterische“ Auslegungsmög-
lichkeiten die Suspension der Rechtsordnung und den Gesetzesbruch des „Führers“.
Schmitts Souveränitätsformel lädt mit ihrer rhetorischen Prägnanz und Offenheit zu
applikativen Variationen ein. Sie lässt sich auch ethisch auslegen und umformulieren:
Soverän ist (als souveräner Typ gilt), wer diverse Herausforderungen im Alltag (zu-
nächst und zumeist locker) besteht. Schmitt floh aus Routinen in die Herausforderung
und unterzog seinen Alltag damit gewissermaßen einem permanenten Souveränitätstest.
Seine Stilisierung des Lebens als Herausforderung war auch eine Probe auf die Mitwelt.
So machte er in seinem mitunter ziemlich fahrlässigen und chaotischen Umgang mit
25 Differenzierung für die einzelnen Länder der „arabischen Revolution“ etwa Perthes 2011.
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Geld bisweilen die Freundschaftsprobe: Ein Freund ist, wer Geld verleiht. Schmitt for-
derte mit den Kontingenzen des Handelns sein Glück heraus. Das hat auch eine religiöse
Dimension der Prüfung des guten Gottes. Alltagssprachlich wird die Semantik der Sou-
veränität meist mit einem individuellen Habitus und einer sozialen Performanz der Per-
sönlichkeit verbunden. Ein Mensch agiert souverän. Als souveräner Typ gelingt es ihm,
in diversen Situationen seine Kontenance zu bewahren. Er zeigt stoische Selbstbeherr-
schung und verliert auch in schwierigen Situationen nicht den zivilen Rahmen seiner
Verfassung. Er beherrscht sich und meistert alltägliche und außeralltägliche Situationen.
Niemandem gelingt das immer im Spiel um die Bedingungen und Kontingenzen der
endlichen Existenz. Wer das vorgibt, wirkt leicht arrogant. Der souveräne Habitus ist
sozialgeschichtlich und situationsgebunden zu betrachten. Fürstenspiegel, Hofmannsli-
teratur, bürgerliche „Knigge“, militärische Dienstanweisungen oder Proletkultratgeber26
definieren die Handlungsmaximen im sozialen Geflecht der Personen und Situationen
sehr unterschiedlich. Handlungssouveränität ist aber in allen diesen sozialpsychologi-
schen Charakterisierungen, Normierungen und Stilisierungen vorausgesetzt.
Das Spiel um die eigene Souveränität wird in situationsinadäquatem Verhalten zur Po-
se. Wer unter allen Umständen seine Souveränität bewahren möchte, hat sie schon ver-
loren. Ihm fehlt die Empathie für den Augenblick, und sein inadäquates Rollenverhalten
erscheint als „Maske“.27 Souveränes Verhalten ist ein Spiel um Grenzen. Der bürgerli-
che Alltag sucht praktische Herausforderungen durch Routinen zu minimieren. Die
Normalisierung, Verbürgerlichung, Veralltäglichung nimmt dem Leben dabei mit der
dynamischen Spannung bisweilen seinen Reiz, Kick, seine Vitalität oder auch sein
flüchtiges, in soziale Handlungsgefüge komplex verwobenes Charisma. Schon Weber
betrachtete die „Veralltäglichung“ als einen Verlust an „Charisma“. Schmitt verab-
scheute die bürgerliche „Sekurität“ und wollte dem Leben den Ernst der Herausforde-
rung bewahren. Soziologisch betrachtet lebte er freilich ziemlich bürgerlich: Er war Be-
amter, hatte Familie und war nicht kriminell auffällig. Er erfüllte die bürgerlichen Er-
wartungen und Pflichten und hatte auch einen weiten Bekannten- und Freundeskreis.
Sein „antibürgerlicher“ Gestus war seinem Leben nicht ganz kongruent. Gerade im
Verhältnis zu Ernst Jünger kompensierte Schmitt etwas. Otto Koellreutter mokierte sich
später über Schmitts Lob des Soldaten bei mangelnder Fronterfahrung. Eine „Erstar-
rung“ des bürgerlichen Lebens ist mit einiger Phantasie und Lebenslust kaum zu fürch-
ten. Im bürgerlichen Alltag erstarren nur diejenigen, die nicht darunter leiden. Dem
menschlichen Dasein geht die Spannung so leicht nicht aus. Sind elementare Probleme
gelöst, stellen sich neue. Kultur besteht im Spielraum der Selbstbestimmung über zu lö-
sende Probleme. Schon Aristoteles hat unübertrefflich gesehen, dass die Kunst und Kul-
tur des Lebens in der Verlagerung der Herausforderungen besteht. Wenn die Grundbe-
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dürfnisse gesichert sind, wird der Mensch für andere Möglichkeiten frei. Wissenschaft
braucht Muße. Nur entwickelte Gesellschaften können sich bürgerliche Freiheit und
Muße leisten. Arnold Gehlen sprach später eindringlich von der „Entlastung“. 28 Der
Mensch muss vom permanenten Handlungs- und Bewährungsdruck entlastet werden
und bürgerliche Routinen stabilisieren, um einigermaßen kultiviert, produktiv und er-
folgreich sein Leben zu meistern. Schmitt wollte nicht die bürgerliche Sekurität und Sa-
turiertheit, aber auch nicht den Ausnahmezustand des permanenten Überlebenskampfes,
sondern die Freiheit für interessante und selbst bestimmte Herausforderungen. Ernst
Jünger gab dafür Stichworte vom „abenteuerlichen Herzen“ und „gefährlichen Leben“
aus.
Wenn hier in erster Annäherung gesagt wurde, dass Schmitt die Dynamik des Lebens in
die permanente Souveränitätsprobe setzte, so lässt sich das werkbiographisch genauer
differenzieren. Schmitts diverse semantische Angebote sind dabei eher Akzentverschie-
bungen dessen, was man insgesamt seine Repräsentation nennen könnte. Sein Werk bie-
tet eine ganze Reihe von Termini an, die diese Repräsentation umschreiben. Wichtig
sind hier etwa folgende:
1. Die Dialektik von Mittelbarkeit und Unmittelbarkeit, die Schmitt 1914 im Wert
des Staates mit Hegel einführt.
2. Die Rede von der „Sichtbarkeit“ der Kirche in ihrer Unterscheidung von der
„unsichtbaren“ und der „konkreten“ Kirche (Die Sichtbarkeit der Kirche, 1917).
3. Die Dialektik von Ausnahmezustand und Normalzustand (Politische Theologie,
1922).
4. Die Dialektik von Identität und Repräsentation (Verfassungslehre, 1928) mit der
Formel von der Repräsentation als Sichtbarmachung eines „unsichtbaren Seins“
(vgl. VL 208f) und der brieflichen Feststellung gegenüber Voegelin, dass die
Identität eigentlich „kein Formprinzip“29 sei.
5. Die Unterscheidung zwischen einem liberalen Rechtsstaat und dem „unmittelbar
gerechten Staat“ des Nationalsozialismus; sie nimmt die frühere Unterscheidung
zwischen Zeiten der Mittelbarkeit und der Unmittelbarkeit wieder auf und
spricht apologetisch-euphemistisch vom Untergang der Legalität und der apoka-
lyptischen Gegenwartslage im Nationalsozialismus. (Der Führer schützt das
Recht; Was bedeutet der Streit um den ‚Rechtsstaat’?, 1934).
6. Die religiöse Rede von „Verzögerung“ und „Beschleunigung“ in der Figur des
„Kat-echon“ (Beschleuniger wider Willen, 1942)
28 Gehlen 1956.
29 Schmitt am 30.3.1931 brieflich an Voegelin.
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7. Die Unterscheidung zwischen einem protestantisch-ethischen und einem katho-
lisch-ästhetizistischen Habitus, die die Ästhetik der Existenz vom rigorosen
Charakter ablöst (Berlin 1907, 1945)
8. Die neuerliche Betonung der Macht und Ohnmacht in der Dialektik der Souve-
ränität (Gespräch über die Macht, 1954).
9. Die Theatralisierung des Dramas der Existenz durch den „Einbruch der Zeit in
das Spiel“ und die konstitutive Anerkennung zwingender „Tabus“ (Hamlet oder
Hekuba, 1956).
10. Die habituelle Identifikation mit dem Partisanen als riskanter Figur der Selbstbe-
stimmung (Theorie des Partisanen, 1963).
11. Das Insistieren auf der religiösen Selbstauffassung des „Theologen“ (Politische
Theologie II, 1970).
Rekapituliert man diese zentralen Kategorien der Selbstbeschreibung, so konvenieren
sie relativ bruch- und zwanglos in der Auffassung vom Leben als Herausforderung,
Probe und Spiel um die eigene Existenz. Plessners Kategorie der exzentrischen
Positionalität bezeichnet dies, auch aus Schmitts Sicht, ziemlich genau. Schmitt verpön-
te zwar die Rede vom Spiel und betonte den dramatischen Ernst seines Existenzvoll-
zugs. Eine vollständige Existentialanalyse der Daseinsbedingungen strebte er nicht an.
Auch eine umfassende soziologische Beschreibung der „absoluten Verfassung“ in der
Nachfolge von Montesquieu oder Tocqueville suchte er nicht. Wichtig ist aber, dass er
auf der Formierung des Daseins und seiner rollenkonformen Repräsentation bestand.
Man spricht heute gerne von der „Ästhetik der Existenz“. Soweit damit die Formierung
oder Gestaltung einer Rolle und Lebensform gemeint ist, stimmt Schmitt ihr zu. Gegen-
über dem „Ästhetizismus“ besteht er aber – weiter in Übereinstimmung mit Plessner –
auf der Differenz des „unsichtbaren Seins“ oder „Idee“ dieser Lebensform. Ethisch ge-
lesen meint Schmitts „Idee“ die Regeln und Prinzipien des Existenzentwurfes. Spran-
ger30 unterscheidet in seinen Lebensformen sechs „ideale Grundtypen der Individuali-
tät“: den „theoretischen“, „ökonomischen“ „ästhetischen“ und „sozialen“ Menschen,
den „Machtmenschen“ und den „religiösen Menschen“. Die Literatur ist damals reich an
solchen charakterologischen Typenlehren und idealtypischen Entwürfen der „Gestalten“
und Gestaltungen der Existenz. Schmitt betonte eine Dialektik der Repräsentation:
„Repräsentieren heißt, ein unsichtbares Sein durch ein öffentlich anwesendes Sein sichtbar
zu machen. Die Dialektik des Begriffs liegt darin, daß das Unsichtbare als abwesend vo-
rausgesetzt und doch gleichzeitig anwesend gemacht wird. […] In der Repräsentation […]
kommt eine höhere Art des Seins zur konkreten Erscheinung. Die Idee der Repräsentation
beruht darauf, daß ein als politische Einheit existierendes Volk gegenüber dem natürlichen
Dasein einer irgendwie zusammenlebenden Menschengruppe eine höhere und gesteigerte,
intensivere Art Sein hat.“ (VL 209f)
30 Spranger 1921.
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Schmitt nennt hier Ideen und „Worte wie Größe, Hoheit, Majestät, Ruhm, Würde und
Ehre“ (VL 201); er denkt an die monarchische Repräsentation, aber auch an die ethische
Idealisierung des Volkes als „Nation“.
Sein Begriff des Politischen fordert die „Selbstbehauptung“ der politischen Existenz
durch die Freund-Feind-Differenzierung im Kampf. Diese kämpferische Selbstbehaup-
tung dient der Endlichkeit und kreatürlichen Kontingenz des Daseins. Wenn der
Mensch unter Einsatz seines Lebens für sein Überleben und die Selbstbehauptung seiner
Existenz, seiner kollektiven politischen „Daseinsweise“ kämpfen soll, ist die Kontin-
genz des Daseins als ein unhintergehbares und unvordenkliches Faktum vorausgesetzt.
Vor jeder existentiellen Wahl einer Lebensform, im Jenseitsmythos von Platons Staat
schon großartig ausfabuliert, liegt die religiöse Selbstwahrnehmung und Anerkennung
der eigenen „Geworfenheit“ (Heidegger) oder des endlichen „Geschicks“. Dämon und
Tyche sind Goethes erste orphische „Urworte“ (HA I, 403ff). Als Kern der religiösen
Idee möchte ich, anlehnend an Hermann Lübbe,31 die Kontingenz der menschlichen Da-
seinsbedingungen bezeichnen. Schmitt inszeniert die Kontingenz seines Daseins im
Spiel der Souveränität. Er dramatisiert und inszeniert sein Leben nicht nur als perma-
nente Herausforderung, sondern auch als ein religiöses Geschehen. Tout ce qui arrive et
adorable, meinte er immer wieder. Goethe sprach von „Ehrfurcht“ und „Ergebung“ in
Gott.32 Man könnte auch von Gelassenheit sprechen oder psychoanalytisch von „Urver-
trauen“. Der Rheinländer sagt: Es kommt, wie es kommt. Das meint keinen fatalisti-
schen Handlungsverzicht, sondern die Akzeptanz der jeweiligen Lebensbedingungen als
gegebenes Gut.
Schmitt bekannte gelegentlich seinen Glauben an einen persönlichen Gott. Am 20. März
1947 schreibt er an seine Tochter Anima aus Nürnberger Haft: Ich „wurde gestern wie-
der verhaftet und schreibe aus meiner Zelle. Du sollst aber nicht traurig sein, sondern
fleissig beten. Meinetwegen braucht niemand traurig zu sein, denn Gott beschützt
mich.“33 Ähnliches schreibt er immer wieder. Wer prüft hier wen? Gott den Menschen?
Der Mensch den Gott? Schmitt sprach sein Vertrauen auf eine glückliche Fügung seiner
Lebensumstände religiös aus. Die Diskriminierungskosten seines Glücks kamen in sei-
nem persönlichen Verhältnis zu Gott, seinem Selbstgefühl von der eigenen Erwählung
und Rettung nicht vor. Sein guter Gott war nicht sehr gerecht.
Die doppelte Optik ist eine religiöse Rückversicherung. Wo der Normalzustand erodiert
und die Verfassungsfähigkeit infrage steht, trägt die religiöse Herkunftssubstanz noch.
Es kommt, wie es kommt. Wenn es schlecht läuft, bleibt die religiöse Interpretation der
Katastrophe. Auch das Tohuwabohu macht religiösen Sinn. Es ist, recht verstanden,
31 Lübbe 1986.
32 Goethe 1981b, S. 169.
33 Maschinenschriftlicher Durchschlag: Schmitt am 20.3.1947 an Anima (13453).
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immer noch in Ordnung. Das Ende ist da, aber es kommt als Erlösung. Schmitts „Dezi-
sionismus“ wurde zwar immer wieder als naturvergessener „Nihilismus“ gelesen: schon
von Waldemar Gurian,34 Helmut Kuhn, und Karl Löwith. Schmitt selbst bestand aber
auch auf einer religiösen und christlichen Lesart. Sein Schritt vom „Dezisionismus“
zum „Ordnungsdenken“ erfolgte nicht zuletzt unter dem Eindruck von Ernst Rudolf
Hubers Kritik; Huber überzeugte ihn von den komplexen Ordnungsvoraussetzungen der
„Dezision“. Andreas Urs Sommer dichtete Schmitt in seinem Lexikon der imaginären
philosophischen Werke für die Zeit nach 1936 einen politisch-theologischen Pamphlet
Der Belagerungszustand zu.35 Es lag demnach damals in der imaginären Logik von
Schmitts Werk, in dessen objektiven Möglichkeiten, den Ausnahmezustand ethisch zu
lesen und die „Biopolitik des Individuums“, so Sommer, in der Form eines Kommentars
zu Theresa von Avila zu bedenken. Sommer liest diesen „Belagerungszustand“, diese
fürsorgliche Selbstrepression, als eine rigide religiöse Askese der Sorge um sich. Ein
Lob der Askese findet sich bei Schmitt, dem ausschweifenden Bohèmien, schon im Be-
griff des Politischen. Dort kennzeichnet Schmitt die „kommende Elite“ durch eine
„Wiedergeburt“ urchristlicher „Askese“ und „Armut“ (BP 93). Tatsächlich empfand er
sein Leben im Ausnahmezustand eher als enorme Anstrengung und Strapaze denn als
das lose Glück liberalen Amüsements und „Unterhaltung“. Glücklich im alltagssprach-
lichen Sinn eines entspannten Lebensgenusses war Schmitts Leben, folgt man seiner au-
tobiographischen Selbstbeschreibung, vor und nach 1933 kaum je. Als religiös erfüllt
und sinnvoll aber betrachtete er es stets.
Literatur
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Teil 3:
Globale und regionale
Ausnahmezustände
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Die Entgrenzung des Ausnahmezustands: global und permanent?
Christian Kreuder-Sonnen
1. Einleitung1
Das Konzept des Ausnahmezustands weist in seinem klassischen Verständnis zwei
Grundkonstanten auf. Erstens ist es der Idee der ‚Ausnahme‘ inhärent, dass die konstitu-
tionelle Ordnung lediglich zeitweise suspendiert wird, um einer besonderen Bedrohung
zu begegnen. Der Ausnahmezustand hat insofern konservativen Charakter, als dass alle
Sonderregelungen und Befugnisse konkret auf die Wiederherstellung des vor einem
Notstand bestehenden Status quo ausgerichtet sein müssen.2 Eine wahrlich kommissari-
sche Diktatur erfüllt daher in letzter Konsequenz die Kernfunktion der eigenen Über-
windung.3 Zweitens ist der Ausnahmezustand konzeptuell scheinbar unzertrennlich mit
dem Staat als maßgebliche politische Einheit verbunden. Schließlich handelt es sich um
ein verfassungsrechtliches Institut, dass das Überleben der staatlichen Ordnung im An-
gesicht existenzbedrohender Krisen sichern soll. Dies war nicht zuletzt bei dem
Etatisten Schmitt das Leitmotiv seiner politischen Theorie. Seither ist der Ausnahmezu-
stand als ‚Stunde der Exekutive‘, in der sich die Frage der Souveränität entscheidet,4
letztlich als rein staatstheoretisches Problem behandelt worden.
Die erste Grundkonstante ist spätestens durch Giorgio Agambens Überlegungen zum
‚permanenten Ausnahmezustand‘ fundamental infrage gestellt worden.5 Wenngleich die
Reinterpretation des Ausnahmezustands durch die Linse der Biopolitik und Gouverne-
mentalität als normale Regierungstechnik bei Agamben zu einer gewissen Widersprüch-
lichkeit führen muss, so ist die Gefahr der Festschreibung von Notstandskompetenzen
bzw. die Perversion der vorübergehenden zur dauerhaften Diktatur doch äußerst real
und aktuell.6 Eine solche Tendenz ist zu Recht schon der normativen Theorie Carl
Schmitts unterstellt worden, deren Telos – natürlich auch abhängig von seiner persönli-
chen Situation im historischen Kontext – immer zwischen Übergang und Transformati-
on changierte.7 Angesichts dauerhafter Risiken wie Terroranschlägen oder Zusammen-
brüchen des Finanz- und Wirtschaftssystems, die das Bild der Welt im 21. Jahrhundert
1 Dieser Aufsatz beruht in substantiellen Teilen auf meinen Ausführungen in Kreuder-Sonnen 2011;
2012.
2 Vgl. Ferejohn/Paquino 2004, S. 217.
3 Vgl. Gottfried 1990, S. 97.
4 Schmitt PTh, S. 14.
5 Agamben 2004.
6 Vgl. die Einleitung von Rüdiger Voigt zu diesem Band. Siehe auch Gross/Ní Aoláin 2006, S. 230.
7 Vgl. Gross 2000; McCormick 2004. Siehe grundsätzlich auch Quaritsch 1988.
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prägen, ist die zeitliche Entgrenzung notstandspolitischer Praktiken und Maßnahmen
eine ebenso logische wie problematische Folge.8
Die zweite Grundkonstante des Ausnahmezustands, seine Verhandlung im staatlichen
Kontext, ist hingegen bis heute zumindest unter Verfassungstheoretikern weitgehend
unbestritten. Allerdings hat Lynn Doty bereits richtigerweise darauf hingewiesen, dass
eine staatszentrische Perspektive möglicherweise zu beschränkt ist, um die aktuelle
Entwicklung von Notstandspraktiken zu verstehen und richtig einzuordnen.9 Während
ihr Augenmerk dezisionistischen Elementen ‚unterhalb‘ der staatlichen Regierungsebe-
ne gilt, ist eine Loslösung des Ausnahmezustands vom Staat aber vor allem auch in die
entgegengesetzte Richtung zu beobachten: zur Ebene internationaler Organisationen
(IOs). Die Globalisierung und die mit ihr einhergehende vermehrte transnationale Poli-
tikverflechtung und Komplexität haben nicht nur dafür gesorgt, dass grenzüberschrei-
tende Risiken und Krisen häufiger werden.10 Da in ihrem Fahrwasser auch die Problem-
lösungskompetenz internationaler Institutionen immer gefragter wurde, sind IOs vor al-
lem seit dem Ende des Ost-West-Konflikts zu autoritativen Akteuren mit großer Rege-
lungskompetenz in der internationalen Politik geworden.11 Im Angesicht globaler Be-
drohungssituationen, die nach globalen Antworten verlangen – so meine zentrale These
– können IOs daher nunmehr auch zum Lokus der Entscheidung über den Ausnahmezu-
stand werden und in einen annähernd diktatorischen Modus globalen Regierens verfal-
len.12
Diese doppelte Entgrenzung des Ausnahmezustands ist Gegenstand des vorliegenden
Beitrags. In einem ersten Schritt soll zunächst die These von der Globalisierung des
Ausnahmezustands eingehender beleuchtet werden. In Auseinandersetzung mit Ulrich
Becks Überlegungen zum ‚planetarischen Ausnahmezustand‘ der Weltrisikogesellschaft
soll gezeigt werden, wie eine Rückkehr der Schmitt`schen Ausnahmelogik in der post-
nationalen Konstellation möglich ist. In einem zweiten Schritt wird daraufhin am Bei-
spiel der Anti-Terror-Politik des UN-Sicherheitsrates (SR) gezeigt, wie internationale
Organisationen im Stile eines ‚Aktionskommissars‘ globale Notstandsmaßnahmen er-
greifen können, die nationales und internationales Recht verdrängen. Der dritte Teil soll
dann den Blick auf den Aspekt der zeitlichen Entgrenzung zurücklenken und insbeson-
dere der Frage nachgehen, inwiefern die Notstandspolitik des UN-Sicherheitsrates als
wirkliche ‚Ausnahme‘ oder doch als dauerhafte Transformation zu verstehen ist. Ab-
schließend soll ein Schlaglicht auf die Frage der Einleitung zu diesem Band geworfen
werden, ob die Statue der Freiheit nur kurzzeitig verhüllt oder auf Dauer zerstört wird.
Die Antwort, die sich aus dem vorliegenden Essay ableitet, lautet: weder noch. Eher ist
Verschiedene Aspekte der politischen Theorie und der Rechtstheorie Carl Schmitts fei-
ern seit einigen Jahren ein Comeback u.a. in den Rechts- und Politikwissenschaften.
Völkerrechtler und Wissenschaftler der Internationalen Beziehungen (IB) haben sich
dabei gleichermaßen und wenig überraschend auf diejenigen theoretischen Überlegun-
gen Schmitts konzentriert, die dieser zur internationalen Ordnung angestellt hat. Gerade
seine substanzielle Kritik am liberalen Interventionismus konnte hier auf fruchtbaren
Boden fallen.13 In der Auseinandersetzung mit dem US-geführten war on terror wurde
jedoch auch der von Schmitt verfassungstheoretisch besonders geprägte Begriff des
Ausnahmezustands wiederbelebt.14 So fanden sich einerseits bei amerikanischen
Rechtswissenschaftlern aus dem neokonservativen Lager etwa in Bezug auf Folter und
gezielte Tötungen vermehrt Rechtfertigungsmuster, die offensichtlich auf Schmitts Ar-
gumentationslinien zum Ausnahmezustand zurückgriffen.15 Andererseits diente die Be-
obachtung der tatsächlichen Umsetzung Schmitt‘scher Theoreme in der heutigen Politik
gleichermaßen als Kritikpunkt, war sein politisches Denken doch im höchsten Grade il-
liberal und anti-demokratisch.16
Hier soll nun ebenfalls die tatsächliche Manifestierung der Schmitt’schen Ausnahmelo-
gik in den Blick genommen werden – allerdings auf internationaler Ebene. Die bedenk-
liche Aktualität Carl Schmitts im war on terror beschränkt sich demnach nicht aus-
schließlich auf die Politik der Vereinigten Staaten, wie sie etwa im rechtlichen Nie-
mandsland Guantánamo sichtbar wurde,17 sondern erfasst mit den UN auch eine interna-
tionale Organisation, deren Ausrichtung und Funktionsweise dies vielleicht am wenigs-
ten hätten erwarten lassen.18
Doch wie ist es möglich, dass der Ausnahmezustand sich vom Staat löst und zur IO-
Ebene wandert? Inwiefern verändern sich die Vorzeichen vom Staats- zum globalen
Notstand und mit welchen Konsequenzen? Zur Beantwortung dieser Frage stellt Ulrich
13 Vgl. etwa die Beiträge in den Sammelbänden von Odysseos/Petito 2006, 2007. Des Weiteren sind
hervorzuheben Chandler 2008; Werner 2010; Teschke 2011; Vinx 2013.
14 Huysmans 2008.
15 Z.B. bei Yoo 2003; Posner/Vermeule 2005; Posner/Vermeule 2011.
16 Vgl. etwa Scheppele 2004.
17 Agamben 2004; Scheuermann 2006; de Benoist 2007; Otten 2008.
18 Für eine Diskussion der Einwände, die sowohl aus der Disziplin der IB als auch von Rechtstheoreti-
kern gegen eine solche Übertragung zu erwarten sind, vgl. Hanrieder/Kreuder-Sonnen 2013, S. 173-
175.
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Becks Arbeit zur ‚Weltrisikogesellschaft‘ einen geeigneten Ausgangspunkt dar.19
Grundlegend ist hier freilich das Konzept des ‚Risikos‘. Es drückt eine bestimmte Kon-
figuration von Wissen und Nicht-Wissen über eine potentielle Bedrohung aus, die ins-
besondere durch Donald Rumsfeld als „known unknowns“ bekannt geworden ist.20 Ist
das faktische Wissen über eine Bedrohung offensichtlich lückenhaft, gibt es aber Me-
thoden, um diese Unsicherheit zu reduzieren, so ist von einem Sicherheitsrisiko zu spre-
chen. In dieser Konstellation ist eine logische Begründung für den Einsatz aller Mittel
zur Verringerung des Nicht-Wissens bereits eingeschlossen: Je größer das Zerstörungs-
potential der (bekannten) Bedrohung, desto größer auch der Druck, alle erdenklichen
Maßnahmen zu ergreifen, um ihr vorzubeugen.21
In seiner Weltrisikogesellschaft erklärt Ulrich Beck dieses Phänomen mit dem Hinweis,
dass unter den Bedingungen der Risikogesellschaft die Angst zum bestimmenden Le-
bensgefühl werde und zu einem vernünftig scheinenden „Totalitarismus der Gefahren-
abwehr“ führe. In der ‚postnationalen Konstellation‘ sind diese Gefahren jedoch nicht
mehr von einem Land alleine zu bewältigen und daher keine innere Angelegenheit eines
Staates mehr. Insofern handelt es sich bei ihnen um neue globale Risiken,22 die zur Mit-
gliedschaft in einer „Weltgefahrengemeinschaft“ führen.23 Die so verstandene Globali-
tät der Risiken impliziert für Beck eine Art planetarischen Ausnahmezustand:
„Der Ausnahmezustand gilt nicht mehr innerhalb einer Nation, er gilt ‚kosmopolitisch‘ –
und stiftet dabei neue Konflikte, neue Gemeinsamkeiten und Handlungschancen für ganz
verschiedene Akteursgruppen“.24
Dieser Ausnahmezustand ist laut Beck örtlich entgrenzt, „weil er alle Nationen und
Kontinente er- und umfasst und die Systematik und Hierarchie internationaler Bezie-
hungen umschmilzt.“25 Mit diesem Befund der Denationalisierung des Ausnahmezu-
stands verbindet Beck einen Machtverlust für den Staat als Entscheidungsträger und
maßgebliche politische Einheit. Die durch globale Risiken ‚erzwungene Kosmopoliti-
sierung‘ ermögliche vielmehr vertiefte zwischenstaatliche Kooperation zur Problemlö-
sung mit globaler Reichweite. Während die Faktoren und Mechanismen der Entgren-
zung des Ausnahmezustands im Sinne veränderter Bedrohungskonstellationen von Beck
sicher treffend analysiert werden, so bleibt doch eine wichtige Frage unbeantwortet.
Im Zentrum der politischen Theorie Carl Schmitts steht die Frage nach dem Verhältnis
von Politik und Recht, von Legitimität und Legalität im Ausnahmezustand. Seine Ant-
wort ist klar und deutlich: „[D]er Staat bleibt, während das Recht zurücktritt.“32 Konkret
bedeutet das die teilweise Außerkraftsetzung der rechtlichen Ordnung in Form einer
Suspendierung von Grundrechten sowie einen Rechtsformenwandel vom parlamentari-
schen Gesetz zur exekutiven Maßnahme, der eine Auflösung der Trennung von Legisla-
tive und Exekutive zur Folge hat.33 Inwiefern kann man sagen, dass die Maßnahmen des
Sicherheitsrates zur Terrorismusbekämpfung diesem Schema folgen?
Die Institution des Sicherheitsrates nimmt in der Charta der UN (UNC) einen besonde-
ren Platz ein. Die Mitglieder der UN übertragen ihm die Hauptverantwortung bei der
Wahrung des Weltfriedens und binden sich grundsätzlich an seine Beschlüsse (Art.
24(1) und 25 UNC). Im Falle einer friedensbedrohenden Situation darf der SR gemäß
Kapitel VII UNC Zwangsmaßnahmen ergreifen, die unter normalen Umständen eine
Verletzung des Völkerrechts darstellen würden – etwa der Eingriff in die internen Ange-
legenheiten eines Staates (Art. 2(7) UNC). So gesehen ist der Rat – staatsanalog gedacht
– grundsätzlich mit Notstandsgewalten ausgestattet,34 die jedoch auch rechtlichen Be-
schränkungen unterliegen. Einerseits binden den SR z.B. fundamentale Menschen-
rechtsstandards. Andererseits gibt es Kompetenzgrenzen, die seiner Funktion als „Welt-
polizist“ entsprechen.35 Nachfolgend wird analysiert, wie der Sicherheitsrat mit seinen
Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung diese Grenzen überschritten und somit gleich-
3.1 Individualsanktionen
Mit der am 15. Oktober 1999 einstimmig verabschiedeten Resolution 1267 (1999) und
ihren Folgeresolutionen 1330 (2000) und 1390 (2002) begründete der Sicherheitsrat ein
Sanktionsregime gegen den Terrorismus, das so nie dagewesen ist: es bindet alle Staa-
ten, es ist unbegrenzt in Zeit und Raum, es beschränkt direkt die Rechte von Individuen,
und es lässt den Staaten keine Möglichkeit zur Interpretation oder Anpassung in der
Umsetzung.36 Im Kern des Regimes steht eine schwarze Liste, die die Namen von Ter-
rorverdächtigen weltweit enthält. Als Konsequenz ihrer Listung wird den Betroffenen
ein Reiseverbot auferlegt und ihnen werden alle finanziellen Mittel eingefroren. Geführt
wird die Liste von einem Sanktionsausschuss (dem Al-Qaida and Taliban Sanctions
Committee oder 1267-Committee), das als Unterorgan des Rates eingesetzt wurde und
aus Diplomaten der Mitgliedstaaten des Sicherheitsrates besteht.37 Die zu listenden Per-
sonen werden dem Ausschuss von Staaten oder Regionalorganisationen vorgeschlagen,
woraufhin das Gremium im Konsens über die Aufnahme entscheidet.38 Während Be-
gründungen für einen Vorschlag mittlerweile in rudimentärer Form gegeben werden,
werden Beweise für die Verwicklung der Person in terroristische Aktivitäten grundsätz-
lich nicht vorgelegt.39 Einspruchsmöglichkeiten für die betroffenen Individuen waren
ursprünglich überhaupt nicht vorgesehen. Erst durch die Annahme der Resolution 1452
(2002) wurde ein formaler Prozess zur Streichung einer Person von der Liste, das soge-
nannte delisting-Verfahren, eingeführt.40
Die Frage nach Einspruchsmöglichkeiten und damit nach Rechtsmitteln und Rechts-
schutz ist von besonderer Bedeutung, weil die Individualsanktionen des Rates extrem
weitreichende Folgen für die Betroffenen haben und durch ihre unmittelbaren Auswir-
kungen auf Privateigentum, Privatleben, Arbeit und Sozialstatus zu schwerwiegenden
Rechtsgutseinbußen führen, die de facto als Strafe wirken. Dieser punitive, strafrechtli-
che Charakter der eigentlich präventiv ausgerichteten Sanktionen führt dazu, dass
grundsätzlich auf sie auch die völkerrechtlichen Rechtsschutzgarantien des Strafverfah-
rensrechts Anwendung finden müssten.41 Neben dem zwingenden Völkerrecht (ius
cogens) ist der SR als Organ der Vereinten Nationen insbesondere auch an die Ziele und
Grundsätze der Charta gebunden (Art. 1 und 2 UNC), die in Verbindung mit Art. 55
„200 years of building up safeguards in criminal procedure at the national level [are] being
removed by what could only be described as an international law magic (black magic)
wand“.55
Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass der UN Sicherheitsrat mit dem hier besprochenen
Sanktionsregime auch heute noch tiefe Eingriffe in international anerkannte Menschen-
rechte vornimmt.56
Für den Aspekt der Suspendierung des Rechts ist demnach sehr deutlich die Analogie
zwischen Schmitts Theorie und der Praxis des Sicherheitsrates zu erkennen. Der
Schmitt’sche Ausnahmezustand sieht die teilweise Außerkraftsetzung von verfassungs-
mäßigen Grundrechten, insbesondere der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit vor. Ange-
sichts des globalisierten Ausnahmezustands hat der UN Sicherheitsrat nun die internati-
onale Rechtsordnung in Teilen suspendiert. Der Notstand geht einher mit der Ausnah-
me, der faktischen Entrechtung der möglichen Feinde. Die Normen des Rechts treten
gegenüber den Normen der Rechtsverwirklichung zurück.57 Das 1267-Regime stellt in-
sofern ein Paradebeispiel für diktatorische Notstandsmaßnahmen im Sinne Schmitts dar.
Persönliche Freiheit und das Recht auf Eigentum werden auf Anordnung der ‚Exekuti-
ve‘ außer Kraft gesetzt, ohne dass die Betroffenen etwas dagegen unternehmen könnten.
Menschenrechte, die sie gegenüber staatlicher Willkür sogar im Ausnahmezustand
schützen sollen, verlieren angesichts von Durchgriffen des Sicherheitsrates ihre Wir-
kung.
Nur ungefähr zwei Wochen nach 9/11 nahm der Sicherheitsrat einstimmig Resolution
1373 (2001) an. Darin wird festgehalten, dass jeglicher Akt des Terrorismus eine Be-
drohung für den Weltfrieden darstellt.58 Um dieser abstrakten Gefahr zu begegnen, wer-
den ebenso abstrakte Maßnahmen ergriffen. Im Rahmen von Kapitel VII der UNC han-
delnd, verpflichtet der Rat alle Staaten u.a. dazu, ihre nationale Gesetzgebung so anzu-
passen, dass darin jegliche Form der direkten oder indirekten finanziellen wie logisti-
schen Unterstützung für Terroristen kriminalisiert wird und dass im weitesten Sinne ter-
roristische Handlungen als schwere Straftat behandelt und dementsprechend hart be-
straft werden.59 Zur Überwachung der Umsetzung dieser Vorschriften setzte der SR ei-
nen Ausschuss ein, das Counter Terrorism Committee (CTC), welches als Unterorgan
des Rates fungiert. Alle Staaten müssen dem CTC über ihre Fortschritte bei der Umset-
zung der Resolution laufend Bericht erstatten.60
Die drei Jahre später angenommene Resolution 1540 (2004) ist strukturell ganz ähnlich,
zielt aber mit der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen an nicht-staatliche
Akteure (also vor allem Terroristen) auf einen anderen Bedrohungskomplex. Dieser
wird in der Resolution ebenfalls generell als „threat to international peace and security“
bezeichnet. Vorausgegangen war der Befassung des SR mit dieser Thematik das Aufde-
cken des Proliferationsnetzwerkes um den pakistanischen Atomphysiker A.Q. Khan,
das international die Gefahr des nuklearen Terrorismus in den Vordergrund rückte. Die
Resolution verpflichtet alle Staaten neben einer Reihe weiterer Maßnahmen,
“[to] adopt and enforce appropriate effective laws which prohibit any non-State actor to
manufacture, acquire, possess, develop, transport, transfer or use nuclear, chemical or bio-
logical weapons and their means of delivery, in particular for terrorist purposes.”61
Auch hier soll die Implementierung der Vorschriften durch einen Unterausschuss des
SR, das 1540-Committee, überwacht werden, der die Berichte der Staaten entgegen-
nimmt und Vorschläge zur besseren Umsetzung macht.62
Die Besonderheit beider Resolutionen liegt gleichermaßen darin, dass erstmals in der
Geschichte des Rates ein Phänomen per se als Bedrohung des Weltfriedens eingestuft
wurde und natürlich insbesondere, dass dagegen abstrakt-generelle Maßnahmen ergrif-
fen worden sind, die jeden Staat unterschiedslos binden und sogar – was im Völkerrecht
besonders ungewöhnlich ist – mit der Möglichkeit der Sanktionierung verbunden sind.63
64 Elberling 2005, S. 351. Für wichtige Einschränkungen dieses Prinzips vgl. Tomuschat (1993).
65 Alvarez 2003, S. 875; Bantekas 2003, S. 326; Giegerich 2005, S. 43; Macke 2010, S. 218.
66 Talmon 2005.
67 Zimmermann/Elberling 2004, S. 72.
68 Macke 2010, S. 214.
69 Fremuth/Griebel 2007, S. 357.
70 Rosand 2004, S. 567.
71 Happold 2003, S. 600; Bianchi 2006, S. 882–883.
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mentale Erweiterung des eigenen Handlungsspielraumes de jure einer Charta-Änderung
bedurft hätte, der zwei Drittel aller Mitgliedstaaten hätten zustimmen müssen.72
Auch diese Wahrnehmung ist nicht unumstritten, und Befürworter der Legislativtätig-
keit behaupten, dass der SR – ganz im Gegenteil – genau seiner Rolle entsprechend ge-
handelt hat, nämlich die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die internationale
Sicherheit zu garantieren.73 Es ging hier jedoch auch weniger darum festzustellen, ob
diese Praxis des Rates nun einen Verstoß gegen geltende Normen des Völkerrechts dar-
stellt oder nicht, sondern erstens zu zeigen, dass die Resolutionen 1373 und 1540 eine
deutliche Abweichung und Überschreitung der bislang als normal geltenden „Not-
standsmaßnahmen“ des Sicherheitsrates und somit eine „exception to the exception“
darstellen.74 Zweitens ging es darum, einen rechtlichen Formwandel zu beschreiben, der
sich in einer eigenen Diffusion der normalerweise klar getrennten Rechtsakte des all-
gemeinen Gesetzes und der individuellen Verwaltungsanordnung zeigt, die man als „ge-
setzgeberische Maßnahme“ fassen könnte. Schließlich werden durch den Sicherheitsrat
Normen mit Gesetzescharakter per Anordnung erlassen. Darüber hinaus unterliegt auch
die Einhaltung und Umsetzung der eigens dekretierten Rechtsakte der Kontrolle des
Sicherheitsrates selbst. Vor dem Hintergrund der Auflösung der ursprünglich bestehen-
den Kompetenztrennung zwischen Sicherheitsrat und Generalversammlung zeigt sich
hier in der Praxis deutlich, was Carl Schmitt für den Souverän im Ausnahmezustand
forderte, nämlich dass „die Unterscheidung von Gesetz und Gesetzesanwendung, Legis-
lative und Exekutive, weder rechtlich noch faktisch eine Hemmung“ darstellen solle.75
Ich möchte mich im Folgenden der Problematik der Permanenz widmen, beziehe mich
dafür allerdings nicht auf Agamben, sondern weiterhin auf Schmitt. Hierzu schlage ich
eine analytische Lesart seiner Diktaturtypologie vor, wie sie vor allem im amerikani-
schen Diskurs verwendet wird. Diese weicht von der textnahen Interpretation von
Schmitts ideengeschichtlicher Herleitung des Begriffs der Diktatur bzw. der Typen der
kommissarischen und souveränen Diktatur ab,76 indem sie die souveräne Diktatur vom
Gedanken der revolutionären Volkssouveränität löst und sie im Sinne der Perversion ei-
72 Fremuth/Griebel 2007, S. 353. Darüber konnte der Sicherheitsrat sich de facto jedoch problemlos
hinwegsetzen, da kein UN-Organ eine direkte Kontrolle über ihn ausübt: Der Rat ist in keiner Ver-
fahrensart als Streitpartei an die Urteile des Internationalen Gerichtshofs (IGH), gem. Art. 92 UNC
das Hauptrechtsprechungsorgan der UN, gebunden, vgl. Akande 1997.
73 Z.B. Krieger 2006, S. 42.
74 Bianchi 2006, S. 891.
75 Schmitt LL, S. 74.
76 So z.B. Nippel 2011; vgl. auch den Beitrag von Rüdiger Voigt in diesem Band.
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ner zeitlich begrenzten kommissarischen zur dauerhaften und unbegrenzten souveränen
Diktatur reinterpretiert.77
Während es sich demnach bei der kommissarischen grundsätzlich um eine „konstitutio-
nelle Diktatur“78 handelt, die in der existieren Rechtsordnung verankert und ihren Re-
geln und Verfahren grundsätzlich unterworfen bleibt, so sieht die souveräne Diktatur „in
der gesamten bestehenden Ordnung den Zustand, den sie durch ihre Aktion beseitigen
will.“79 Das Ziel der kommissarischen Diktatur muss immer darauf gerichtet bleiben,
die bestehende Rechtsordnung zu verteidigen oder wiederherzustellen. Der kommissari-
sche Diktator kann im Notfall zwar Teile der Verfassung außer Kraft setzen, diese aber
nicht modifizieren oder gar durch eine neue Rechtsordnung ersetzen.
„Die Verfassung kann suspendiert werden, ohne aufzuhören zu gelten, weil die Suspension
nur eine konkrete Ausnahme bedeutet.“80
Demnach ist hier die Ausnahme durch die Norm definiert: Die herkömmliche bestehen-
de Rechtsordnung legt fest, wann und unter welchen Umständen ein mit außergewöhn-
lichen Befugnissen ausgestatteter Diktator notwendig wird. Sie umschreibt sowohl die
genauen Verfahren zur Ernennung des Diktators als auch die Konditionen der Amtsdau-
er und Beendigung.81
Zwar richtet auch der souveräne Diktator seine Aktionen noch immer am Ziel der
Überwindung des Notstandes aus, der zu erlangende Status ist jedoch nicht länger der
Status quo ante, sondern eine neue permanente Ordnung, die der Diktator selbst er-
schafft. Er wandelt sich dadurch von einem verfassungsmäßigen pouvoir constitué zum
pouvoir constituant.82 Im Gegensatz zum konstitutionellen usurpiert der souveräne Dik-
tator letztendlich die Herrschaft über den Staat, indem er die Prärogative mit Macht an
sich reißt und die gesamte legale Ordnung suspendiert. Er hat die Kompetenz, selbst
von allen rechtlichen Bindungen frei, neues Recht zu schaffen und das Staatsgefüge
nach eigenem Gutdünken umzugestalten. „The powers of the sovereign dictator are not
confined to the power to suspend, but also encompass the power to amend, revoke, and
replace.83 Er kann, so fasst Carl Schmitt selbst zusammen, „ohne irgendeine Begren-
zung als diejenige, die [er] sich selbst auferlegt, alle nach Lage der Sache erforderlich
erscheinenden Maßnahmen treffen.“84
„general laws are being made by an executive body and constitutional change – an exercise
of constituent power – is being perpetrated by that same body insofar as it ascribes to itself
the competence and capacity to legislate for the world, thereby introducing a radically new
way of global law making“.86
Dieser Aspekt ist sicherlich ein bedeutendes Argument, das auch die Annahme von
Fremuth und Griebel unterstützt, zum Erlass abstrakt-genereller Maßnahmen durch den
Rat hätte es eigentlich einer Charta-Änderung bedurft. Es basiert jedoch auf der An-
nahme, dass der Sicherheitsrat sich aus seinen selbst geschaffenen Präzedenzfällen 1373
und 1540 nun eine grundsätzliche und umfassende völkerrechtliche Legislativkompe-
tenz ableiten würde. Zwar gibt es vereinzelt Anzeichen dafür, dass der Rat auch über
den Sonderfall der globalen Terrorismusbekämpfung hinaus gewisse Normen des Völ-
kerrechts verändert oder Staaten normalerweise freiwillige Vertragspflichten oktro-
yiert,87 es deutet jedoch insgesamt nur wenig darauf hin, dass der Rat für sich eine all-
gemeine Gesetzgebungskompetenz in Anspruch nehmen würde. Auch im Hinblick auf
die Äußerungen mehrerer Staaten in der Debatte um Resolution 1540, die deutlich den
Ausnahme-Charakter der Legislativtätigkeit betonten, scheint sich momentan eine Nor-
malisierung und Ausweitung dieser Praxis nicht abzuzeichnen.
In dieser Hinsicht ist ebenfalls auf die sektorale Begrenztheit der Diktatur des Sicher-
heitsrates zu verweisen. Diese bezieht sich auf einen vergleichsweise kleinen Teil der
5. Fazit: Neben der Statue der Freiheit entsteht die Statue der Sicherheit
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Am Rande der Republik
Matthias Lemke
„Wir wissen um den Wert von Verfassungen! In den letzten einhundertfünfzig Jahren ha-
ben wir uns siebzehn davon gegeben. Und die Natur der Dinge ist stärker als von Politikern
erlassene Verfassungstexte.“
Charles de Gaulle1
Die Natur der Dinge, die Charles de Gaulle hier als eine Art Kontingenzprinzip der po-
litischen Ordnung sowie der Planbarkeit kollektiv verbindlicher Entscheidungsfindung
entgegenstellt, ist, so lautet wohl die Schlussfolgerung aus dem Gesagten, stärker als es
das Gesetz jemals sein wird. Und dementsprechend scheint sie, historisch betrachtet und
wenig verwunderlich, der französischen Politik immer wieder in die Quere gekommen
zu sein. Hierfür mag die Vielfalt an Begriffen und Bestimmungen, über die das politi-
sche System Frankreichs zur Regulierung von Situationen jenseits der normalen Ord-
nung verfügt, als Indikator dienen: Der État d’urgence ist nur eines von mehreren funk-
tional grundsätzlich äquivalenten, in den konkreten Ausführungsbestimmungen mehr
oder weniger stark divergenten Instrumenten zur Regelung der Erweiterung der Exeku-
tivkompetenzen im Ausnahmezustand.2
Mit diesem auf Charles de Gaulle gestützten, halb historischen, halb anekdotischen Be-
fund liegt zwar noch kein Indiz für eine grundsätzliche Bejahung der These von Cindy
Skach vor, wonach semipräsidentielle Regierungssysteme, wie das der V. Republik, in
1 De Gaulle 1960, S. 246; vgl. dazu auch Léon Noël: „Das Verfassungsgericht legt diese Waffe in Ihre
Hände; es wünscht, dass Sie von ihr nur dann Gebrauch machen, wenn Sie nicht anders können.“
Léon Noël gegenüber Charles de Gaulle anlässlich der Erkennung auf Vorliegen der Voraussetzun-
gen für die Anwendung von Artikel 16 durch den Conseil constitutionnel am 23.4.1961, zit. nach
Hamon 1994, S. 12. Alle Übersetzungen vom Verfasser. In diesem Zusammenhang danke ich Chris-
tiane Cromm für ihre wertvolle Unterstützung.
2 Vgl. grundsätzlich Le Sénat 2006, S. 5: „Verkündet durch ein im Ministerrat beschlossenes Dekret
gibt er (i.e. der Ausnahmezustand, ML) den zivilen Behörden für das Gebiet, für das er verhängt
wurde, außerordentliche polizeiliche Machtbefugnisse bezüglich der Regelung der Freizügigkeit und
des Aufenthaltes von Personen, die Schließung von für die Öffentlichkeit zugänglichen Orten und
die Beschlagnahmung von Waffen. Das den Ausnahmezustand erklärende Dekret kann eine Auswei-
tung der polizeilichen Machtbefugnisse im Bereich der Durchsuchung und Kontrolle von Informati-
onsmedien vorsehen. Über den Zeitraum von zwölf Tagen hinaus kann die Verlängerung des Aus-
nahmezustandes nur durch Gesetz erfolgen.“; vgl. zur Terminologie im Zusammenhang mit den
Ausnahmezustandsbestimmungen der V. Republik Lemke 2010, S. 94ff.
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bestimmten Parteienkonstellationen vergleichsweise wenig Skrupel bei Überschreitun-
gen ihrer demokratischen Normen kennen. Wohl aber scheint das Überschreiten der
Verfassungsnorm in Frankreich deutlich mehr zu sein, als ein Randphänomen:
„My argument so far has been that the semi-presidential constitution, under certain party
conditions, may not be self-enforcing, but rather, may provide incentives for presidents
(and other actors) to transgress democratic boundaries.“3
Mit Blick auf die Einschätzung Raymond Arons, der hinsichtlich der Bestimmungen
von Artikel 16 der Verfassung der V. Republik noch deutlich alarmistischer als Cindy
Skach von einem „legal coup d’état“4 geschrieben hatte, soll im Folgenden zweigleisig
argumentiert werden: Die politische wie verfassungsrechtliche Ordnung Frankreichs hat
die Exekutive tatsächlich mit einem – im Vergleich zu anderen etablierten repräsentati-
ven Demokratien – bedeutenden Ausnahmepotenzial für die politische Praxis versehen.
Dieses Potenzial kommt indes, so die historische Einschränkung, nicht in kontingenten
Krisensituationen zum Einsatz, sondern tritt offenbar in ähnlichen, zeittranszendenten
Anwendungsszenarien gehäuft auf. Diese zeittranszendenten Anwendungsszenarien ste-
hen in der Geschichte der V. Republik ausnahmslos im Zusammenhang mit Dekoloni-
sierungsprozessen, sei es in den Kolonien oder im französischen Mutterland (la France
métropolitaine) selbst.
Ließen sich beide Argumente hinreichend belegen – das verfassungsrechtliche eines
sehr deutlich ausgeprägten Ausnahmepotenzials des französischen Semipräsidentialis-
mus und das politisch-kulturelle einer thematisch-situativen Verengung von Anwen-
dungsszenarien auf Dekolonisierungsprozesse – dann bliebe schließlich zu diskutieren,
ob das von Aron artikulierte Unbehagen an dieser pragmatischen Krisenintervention be-
rechtigt ist, eben weil die Republik als System der repräsentativ-demokratisch verfass-
ten Rechtsgeltung hier an den Rand des Nicht-Rechts beziehungsweise der exklusiven
Rechtsgeltung gedrängt wird. Oder aber ist der von de Gaulle mit Blick auf Machiavel-
lis necessità proklamierte Pragmatismus für das Überleben der Republik, ist mithin also
der Rückgriff des Rechts auf das Nicht-Recht doch unerlässlich, um möglichst langfris-
tig die Stabilität der Republik für alle Staatsbürger zu garantieren? Machiavelli hatte
hierzu bereits in den Discorsi (1531) sehr eindringlich festgehalten:
„Meine Meinung ist, daß Republiken, die in äußerster Gefahr nicht zur diktatorischen oder
einer ähnlichen Gewalt Zuflucht nehmen, bei schweren Erschütterungen zugrunde gehen
werden.“5
Das aus dieser Position ersichtliche Dilemma einer als Rechtsstaat begriffenen moder-
nen Demokratie enthält eine nachgerade klassische Aktualität: Wenn die Demokratie
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und mit ihr der Rechtsstaat als das zukunftsweisende Modell kollektiv verbindlicher
Entscheidungsfindung gelten soll, wo genau verlaufen dann die Grenzen des in der De-
mokratie zum Selbsterhalt noch Zulässigen? Oder anders formuliert: Wie weit genau
darf eine demokratisch gewählte, an das Recht gebundene Regierung gehen, um das
Herrschaftsmodell zu verteidigen, das gleichzeitig ihren Wesenskern ausmacht? Vor der
Erörterung dieser Fragen stehen jedoch der Überblick über die Rechtslage zum Aus-
nahmezustand in der V. Republik sowie eine historische Rekonstruktion der Situatio-
nen, in denen es tatsächlich zur Anwendung des Ausnahmezustandes gekommen ist.
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Notstandsfall“) zwei Einschränkungen vor, nämlich den „Kriegsfall“ und den nicht nä-
her spezifizierten „anderen öffentlichen Notstand“:
„Wird das Leben der Nation durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht,
so kann jede Hohe Vertragspartei Maßnahmen treffen, die von den in dieser Konvention
vorgesehenen Verpflichtungen abweichen, jedoch nur, soweit es die Lage unbedingt erfor-
dert und wenn die Maßnahmen nicht im Widerspruch zu den sonstigen völkerrechtlichen
Verpflichtungen der Vertragspartei stehen.“6
„Die aufgelisteten Umstände für das Inkrafttreten von Artikel 16 der Verfassung, von Arti-
kel 1 des Gesetzes vom 3. April 1978 und des Gesetzes vom 9. August 1849 für die Ausru-
fung des Belagerungszustandes, von Artikel 1 des Gesetzes Nr. 55-385 vom 3. April 1955
für die Ausrufung des Ausnahmezustandes und die die Anwendung der in diesen Texten
vorgesehenen Bestimmungen erlauben, müssen als konform mit dem Gegenstand des Arti-
kels 15 der Konvention verstanden werden.“7
6 Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, Artikel 15, Absatz 1;
zu den internationalen Bemühungen der Einhegung von Exekutivrechten und dem Schutz von Bür-
ger- und Menschenrechten im Zusammenhang mit Ausnahmesituationen, etwa in Form der Paris
Minimum Standards of Human Rights Norms in a State of Emergency, vgl. Chowdhury 1989.
7 Houillon 2005, S. 23. Zur politischen Konsequenz dieser Verzahnung heißt es dort: „Dadurch sind
die Bestimmungen, die auf Grundlage des Inkrafttretens des Ausnahmezustandes ergriffen werden
können, nicht der Gesamtheit der Verpflichtungen unterworfen, wie sie von der Europäischen Kon-
vention zum Schutz der Menschen- und Freiheitsrechte aufgezählt werden.“
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Normsuspendierung und Exekutivexpansion – zumindest der Theorie nach – einen er-
heblichen Rechtfertigungsdruck auf die Exekutive ausüben zu können. Durch diesen
Kontrolldruck erhöht sich wiederum die Chance, das Exzesse der Normsuspendierung
und damit verbundene, nachhaltige, also länger andauernde oder auf Dauer gestellte
Aushöhlungen der Grund- und Menschenrechte tendenziell eher unterbleiben.
Nimmt man die Rechtssetzungspraxis für den Ausnahmezustand in nationalstaatlichem
Maßstab in den Blick – für den die Kontrollmechanismen der politischen Öffentlichkeit
in wohl noch stärkerem Maße vorausgesetzt werden können, als dies für eine europäi-
sche Öffentlichkeit der Fall ist – dann ergibt sich folgendes Bild. Neben den Verflech-
tungen mit supranationalen Normen weist Frankreich auf nationalstaatlicher Ebene ein
komplexes Instrumentarium konstitutioneller und davon abgeleiteter gesetzlicher Be-
stimmungen zur Anwendung des Ausnahmezustandes auf. Dieses Geflecht von Be-
stimmungen liefert einerseits die verfahrenspraktische Grundlage für die Praxis der
Normsuspendierung, auf deren Komplexität und Fluidität Charles de Gaulle in der ein-
gangs zitierten Pressekonferenz bereits im Frühstadium der V. Republik hingewiesen
hatte und die für die Genese des politischen Systems Frankreichs überhaupt – also seit
1789 – so typisch ist. Mit der Existenz verfassungsrechtlich verankerter und durch das
Parlament auszugestaltender Bestimmungen für die Handhabung des Ausnahmezustan-
des deutet sich neben der politischen Öffentlichkeit mit der Legislative ein weiterer Ort
für die Entwicklung politisch relevanter Begründungen hinsichtlich der Ausweitung von
Exekutivkompetenzen jenseits der Exekutive an. Für die Anwendung des Ausnahmezu-
standes in Frankreich bedeutet das, dass neben dem Präsidenten und der Regierung, de-
nen ob des semipräsidentiellen Charakters des politischen Systems der V. Republik oh-
nedies eine herausgehobene politische Funktion zukommt, nunmehr auch die Assemblée
Nationale und damit also Parlamentsdebatten zu Orten der Begründung von Normsus-
pendierungen werden. Der Ausnahmezustand und die Verfügungsmacht über ihn hält
somit Einzug in das französische Parlament, wobei diese Diversifizierung von Mitbe-
stimmungsrechten eine missbräuchliche Verwendung der Erweiterung der Exekutiv-
kompetenzen zusätzlich einschränkt.
Neben dem Hinweis auf die Wechselhaftigkeit der französischen Verfassungsgeschichte
eröffnet de Gaulle mit seiner oben zitierten Aussage noch eine weitere, dafür aber eine
sehr grundsätzliche Perspektive auf die Bedingungen der Krisenreaktionskompetenzen
politischer Systeme überhaupt. Deren politische wie rechtliche Qualität als demokra-
tisch verfasste Republiken, wie sie hier ja zur Disposition steht, wird im Krisenfall in
doppelter Hinsicht, nämlich exogen – also durch den aufgetretenen, konkreten Notfall
selbst – wie eben auch endogen – also durch die gegen den Notfall selbstbestimmt ge-
troffenen Maßnahmen – in Frage gestellt. Das für den Normalfall Geltung beanspru-
chende Ordnungsangebot einer Verfassung korrespondiert ständig, so kann de Gaulles
Klage über die permanente Instabilität der eigentlich Stabilität suggerierenden Verfas-
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sungsordnung gedeutet werden, mit einer in ontologischer, nicht in territorialer Sicht
äußerlichen Unordnung. Sowohl die Ordnung als auch ihre Negation scheinen für de
Gaulle aufeinander bezogen zu sein, sie sind zwei Seiten einer Medaille. In diesem Be-
ziehungsverhältnis überwiegt jedoch offensichtlich der Einfluss der Nicht-Ordnung, je-
ne stärkere Natur der Dinge (de Gaulle), die im Renaissancedenken Machiavellis noch
necessità geheißen hatte und der sich die politische Ordnung anzupassen und unterzu-
ordnen habe. Denn sie stellt die jederzeit präsente Umwelt und den von dieser Umwelt
ausgehenden Druck dar, gegen den sich die Ordnung ebenso permanent zu behaupten
hat. „Die Notwendigkeit“, so schreibt François Saint-Bonnet, „verweist hier auf eine
Tatsache, die an die Norm, an das Normale aneckt.“8 Die Ordnung wäre demnach per-
manent einer latent übermächtigen Unordnung ausgeliefert, durch die sie sich perma-
nent in Frage gestellt sieht.
Wenn die Herausforderung der politischen Ordnung sich demnach permanent und latent
als stärker erweist als die politische Ordnung selbst, dann verwundert die weitreichende
Auslegung des Ausnahmezustandes, des État d’urgence in der Verfassung der V. Re-
publik vom 4.10.1958, kaum.9 Hinsichtlich des im Krisenfall „zu mobilisierenden juris-
tischen Arsenals“10 heißt es dort:
„(1) Wenn die Institutionen der Republik, die Unabhängigkeit der Nation, die Integrität ih-
res Territoriums oder die Ausübung ihres internationalen Engagements unmittelbar und
schwerwiegend bedroht sind und das reguläre Funktionieren der verfassungsmäßigen öf-
fentlichen Institutionen unterbrochen ist, ergreift der Präsident der Republik, nach erfolgter
offizieller Absprache mit dem Premierminister, den Präsidenten der Kammern des Parla-
ments und dem Verfassungsgericht, die angesichts dieser Umstände erforderlichen Maß-
nahmen. [...].
(3) Diese Maßnahmen müssen von dem Willen getragen sein, den verfassungsmäßigen öf-
fentlichen Institutionen unverzüglich die Mittel für die Erfüllung ihrer Aufgaben zu sichern.
[...].
(6) (Verfassungsgesetz Nr. 2008-724 vom 23. Juli 2008) Nach dreißig Tagen der Anwen-
dung von Ausnahmekompetenzen kann das Verfassungsgericht vom Präsidenten der Natio-
nalversammlung, dem Präsidenten des Senats, sechzig Abgeordneten oder sechzig Senato-
ren dazu aufgefordert werden zu untersuchen, ob die im ersten Absatz formulierten Bedin-
gungen weiterhin erfüllt sind. Es erklärt sich innerhalb der kürzesten möglichen Frist durch
eine öffentliche Bekanntmachung. Es unternimmt diese Untersuchung von Rechts wegen
und erklärt sich unter den gleichen Bedingungen nach Ablauf von sechzig Tagen der An-
wendung von außerordentlichen Machtbefugnissen und zu jedem Zeitpunkt nach Ablauf
dieser Frist.“11
8 Saint-Bonnet 2001, S. 1.
9 Zum Entstehungskontext und zur Schwierigkeit der Begriffsbestimmung des État d’urgence nach
Artikel 16 vgl. Voisset 1969, S. 1-4.
10 Houillon 2005, S. 12.
11 Constitution de la République Française du 4 octobre 1958, modifié en dernier lieu par la loi
constitutionnelle No2008-724, Artikel 16; ferner wird in Art. 16 bestimmt, dass die französische Na-
tion von der Verhängung des Ausnahmezustandes zu informieren und dass die Auflösung der Natio-
nalversammlung während der Dauer des Ausnahmezustandes unzulässig sei.
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Dieser Versuch einer législation d’exception (François Saint-Bonnet), deren Ähnlichkeit
mit den Regelungen von Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung mitunter betont
wird,12 erweist sich in zweierlei Hinsicht als problematisch. Auch wenn der französi-
sche Gesetzgeber hier bemüht ist, die Anwendung von Praktiken der Normsuspendie-
rung in Gesetze zu fassen, so geschieht das nach wie vor mit einem Vokabular, das hin-
sichtlich seiner Schlüsselbegriffe (Bedrohung, erforderliche Maßnahmen et cetera) ext-
rem interpretationsbedürftig bleibt. Angesichts der infrage stehenden Rechtsgüter – die
demokratisch-republikanische Staatsform sowie die jederzeitige Garantie personenbe-
zogener Grund- und Freiheitsrechte – scheint eine solche Auslieferung von Grundrech-
ten an die situative Deutungsmacht einer politischen Autorität fragwürdig.13 Wiewohl
auch die Unmöglichkeit gegeben ist, eine politisch relevante Krise in all ihren tatsächli-
chen Erscheinungsformen a priori zu definieren, was die Offenheit der Definition wie-
derum unumgänglich macht. – Allzumal dann, wenn Exekutive und Legislative sich erst
einmal ganz grundsätzlich auf die Bereitschaft zur Normsuspendierung eingelassen, sie
also als politisch notwendige Maßnahme möglichst permanenter souveräner Selbstbe-
stimmung begriffen und akzeptiert haben.
Wenn darüber hinaus der Exekutive mit jenem „mysteriösen und zweifelhaften [...] obs-
kuren und beunruhigenden“14 Instrument des État d’urgence angesichts qualitativ nicht
näher spezifizierter „Bedrohungen“ möglichst weitreichende Reaktions- und Gestal-
tungsspielräume eröffnet werden,15 so die implizite Verfahrenslogik der hier zitierten
Auszüge aus Artikel 16 der Verfassung vom 4.10.1958, dann vergrößert sich damit auch
die tatsächliche Chance der Exekutive zur erfolgreichen Aufrechterhaltung der System-
integrität nach der Überwindung des Krisenfalls. Allerdings steht eine solche Strategie
in diametralem Widerspruch zum Wesenskern republikanisch-demokratischer Herr-
schaft, wonach die Ausübung von Herrschaftsmacht zum Zweck der Vermeidung von
ungewollten, übermäßigen Machtallokationen immer zu kontrollieren und zu limitieren
ist.
Anhand dieser beiden interpretatorischen wie strategischen Probleme, die sich an die
Bestimmungen von Artikel 16 anschließen, wird deutlich, dass die Beurteilung der De-
mokratieverträglichkeit von Praktiken der Normsuspendierung16 analytisch zwei sehr
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unterschiedliche Dimensionen politischen Handelns zu berücksichtigen hat. Einerseits
die hier präsente, instrumentelle oder immanente Dimension der tatsächlichen Abarbei-
tung eines – in der frühen Verfassungslogik primär äußeren17 – Krisenfalls und darüber
hinaus diejenige teleologische oder finalitätsbezogene Dimension, die den Zweck und
damit gleichsam auch den legitimatorischen Kern der Normsuspendierungspraxis in
sich trägt, nämlich den angestrebten Erhalt von Demokratie und Republik über die Krise
hinaus. Aus dieser binären Dimensionalität politischen Handelns ließe sich – nebenbei
bemerkt – eine analytisch akzentuierte Definition des Ausnahmezustandes ableiten:
Immer dann, wenn politische Kriseninterventionen so beschaffen sind, dass sich in ih-
nen die vorgenannte immanente und die finalitätsbezogene Dimension überlagern, liegt
grundsätzlich eine Situation des Ausnahmezustandes vor.18 Als entscheidend für die
Beurteilung der demokratischen Qualität der Maßnahmen im Ausnahmefall jedenfalls
erweist sich angesichts des hier vorgestellten, massierten Arsenals verschiedenster Ver-
fahrens- und Handlungsoptionen die Finalitätsdimension. Mit anderen Worten: Die
Anwendung nicht-demokratischer Mittel im Ausnahmezustand stellt per se eine Ge-
fährdung der demokratisch-republikanischen Kultur dar. Die Möglichkeit einer reakti-
ven Eskalation in der Krisenintervention nach dem Motto viel hilft viel, die ihrerseits die
permanente Garantie der Geltung oder der Wiederherstellung der Geltung der Verfas-
sung zu ihrem zentralen Zweck erhebt, stellt dabei – auch mit Blick auf ihre grundsätz-
liche Offenheit gegenüber einer a priori nicht determinierten Varianz an Handlungsop-
tionen der Exekutive – keine genuine Innovation der V. Republik dar. Die Möglichkeit
einer reaktiven Eskalation, ungeachtet des Versuchs ihrer konstitutionellen Kodifizie-
rung, steht historisch weit über die V. Republik hinaus – etwa in den Federalist Pa-
pers19 – für die angenommene Notwendigkeit einer demokratisch verankerten „Diktatur
als heroischem Regime der Krise“.20
Die gegenwärtige Praxis dieses Heroismus und die aus der Anwendung unmittelbar fol-
gende Etablierung eines außerordentlichen Rechtsregimes in der IV. wie auch in der V.
Republik nimmt – mitsamt der bis in die zweite Hälfte der Französischen Revolution
zurückreichenden politischen Tradition der Normsuspendierung – auf zwei Gesetze Be-
zug. Einmal auf das Gesetz No55-385 vom 3.4.1955, das den Ausnahmezustand im Sin-
ne des État d’urgence als Rechtsinstitut regelt. Dieses Gesetz ist damit der juristische
Ort, an dem alle verfahrenspraktischen und rechtlich relevanten Fäden der politischen
Entwicklung des Ausnahmezustandes in Frankreich zusammenlaufen, auch die, die ih-
Carl Schmitt, the limits of law exposed by emergencies debunk not only legal theory, but also what
we might think of as the political theory of liberal democracy, since Schmitt rightly took liberal de-
mocracy to be committed to the rule of law.“
17 Vgl. Voisset 1969, 17f.
18 Vgl. hierzu auch Saint-Bonnet 2001, S. 8.
19 Vgl. Lemke 2011, S. 371f.
20 Barthélemy 1931, S. 111.
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ren Ausgangspunkt bereits in der Zeit vor der Verabschiedung des Gesetzes hatten. Da-
rüber hinaus handelt es sich um den oben bereits angesprochenen Artikel 16 der Verfas-
sung vom 4.10.1958,21 dessen Regelungen für den Semipräsidentialismus der V. Repub-
lik, nicht aber für das parlamentarische System der IV. Republik gelten. Ausgehend von
diesen beiden zentralen Punkten im Netz der französischen Ausnahmebestimmungen
können demnach – aufgrund der vielfältigen juristischen wie politischen Bezugnahmen
auf das Gesetz No55-385 sowie auf Artikel 16 – die verfassungsrechtlichen Grundlagen
in ihrer historischen Entwicklung rekonstruiert werden.
In einer historisch-genealogischen Rekonstruktion – die hier natürlich nur angerissen
werden kann – wird ein grundsätzliches politisches wie juristisches Bedürfnis deutlich,
an dem sich die Gesetzgebung über außerordentliche Exekutivmaßnahmen in Frank-
reich schon in der Zeit der III. Republik orientiert hat. Dieses Bedürfnis betrifft die Un-
terscheidung zwischen den Gesetzen und ihrer Geltung einerseits und der Schaffung
oder Garantie eines Zustandes, in dem Gesetze überhaupt erst Geltung erlangen können,
andererseits:
„Zuerst regieren und verwalten: danach das Gesetz ausführen – was bedeutet: zuerst leben,
und danach regelkonform leben, immer unter normalen Umständen, soweit wie möglich
unter unnormalen Umständen.“22
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hung einer belagerten Stadt durch eine äußere militärische Streitmacht beschreibt. 23 Ge-
gen diese Bedrohung galt es die Stadt und ihr Verfassungsgefüge militärisch und prak-
tisch zu verteidigen. Im Zuge der Französischen Revolution wurde der Begriff insofern
ausgeweitet, als er von einem rein militärischen zu einem politischen Begriff avancierte.
Der État de siège bezog sich fortan nicht mehr auf die durch Maßnahmen von außen in-
duzierte existenzielle Bedrohung, sondern auch auf Bedrohungen aus dem Inneren:
„This expansion of the notion of state of siege created the dichotomy between état de siège
réel (state of siege in its original sense) and the état de siège fictif (‘constructive’ state of
siege)”.24
Der État de siège fictif wurde somit zu einem Rechtsinstrument, das es durch seine Ver-
ankerung in der Verfassung erlaubte, ex ante Maßnahmen zu definieren, die bei tatsäch-
lichem Eintreten einer existenziellen Bedrohung der Verfassungsordnung zu ergreifen
sein würden, mit dem Ziel, die Bedrohung abzuwenden oder die Krise zu beenden und
die Geltung der Verfassungsordnung aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen. Der
État de siège fictif erscheint somit als eine erste „legal crisis institution“25 und damit als
ein die Exekutive juristisch bindender Vorläufer des État d’urgence:
„The vital point is that the state of siege is not a condition in which law is temporarily ab-
rogated, and the arbitrary fiat of a ‘commander’ takes its place. It is emphatically a legal in-
stitution, expressly authorized by the constitutions and the various bills of rights that suc-
ceeded each other in France, and organized under this authority by a specific statute.“26
In der Zusammenschau ergibt sich mit Blick auf die eingangs formulierte These, wo-
nach der Ausnahmezustand im Rahmen des französischen Semipräsidentialismus in der
V. Republik ein gesteigertes Anwendungspotenzial aufweist, ein ambivalenter Befund.
Denn einerseits verfügt Frankreich mit der Verfassung von 1958 (Artikel 16) und dem
Gesetz No55-385 vom 3.4.1955 tatsächlich über zwei explizite Regelungsmechanismen
für den Ausnahmefall auf nationalstaatlicher Ebene, die der Exekutive entsprechend ei-
ner von ihr vorzunehmenden Interpretation einer Lage als Gefahrenlage erweiterte
Handlungskompetenzen eröffnen.
Die gesteigerte Bereitschaft zur Überschreitung demokratischer Normen, von der Cindy
Skatch mit Blick auf den französischen Semipräsidentialismus – und unter der Ein-
schränkung bestimmter Parteienkonstellationen – geschrieben hatte, wäre mit Blick auf
die Gesetzeslage also potenziell gegeben. Die entscheidende sich nun stellende Frage
lautet: Welchen Gebrauch hat die Exekutive von diesen ihr zur Verfügung stehenden
Möglichkeiten tatsächlich gemacht?
23 Für die folgenden Ausführungen vgl. grundsätzlich auch Rossiter 1948, S. 79-129.
24 Aoláin/Gross 2006, S. 27.
25 Aoláin/Gross 2006.
26 Radin 1942, S. 634, 637.
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Ausnahmezustände und Dekolonisierung: Eine historische Fallanalyse
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Le Monde findet sich, in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Erklärung des État d’urgence
vom 18.11.2005 durch den Conseil des ministres, der unter Rückgriff auf jenes Gesetz
No55-385 verhängt worden war, das seinerseits erstmalig in der IV. Republik von der
Regierung Edgar Faure im Zusammenhang mit dem Algerienkrieg zur Anwendung ge-
kommen war, folgender Hinweis:
„Exhuming a 1955 law sends to the youth of the suburbs a message of astonishing brutality:
that after 50 years France intends to treat them exactly as it did their grandparents.“27
Nimmt man diese sich über recht genau fünfzig Jahre erstreckende historische Analogie
der Ereignisse in Algerien zu jenen in den Vororten der französischen Städte an, wie sie
Le Monde hier insinuiert, dann mündet diese Annahme in einen aus demokratisch-
republikanischer Perspektive beunruhigenden Befund. Wenn das politische Wunder
(Carl Schmitt) des Ausnahmezustandes der Konstruktion eines Feindbildes, eines Au-
ßen bedarf, dann wäre die politische Praxis der IV. und V. Republik hierfür insofern ein
empirischer Beleg, als mit den Kolonien beziehungsweise mit den aus den Kolonien
stammenden Migranten in der französischen Gesellschaft ein strukturelles Äußeres ge-
geben ist, das die Implementierung von Normsuspendierungen durch die Exekutive of-
fensichtlich begleitet oder gar erleichtert. Dass die Jugendlichen, die im Rahmen der
Vorortunruhen verhaften wurden, zwar mehrheitlich algerischer, marokkanischer oder
tunesischer Abstammung sind, jedoch ebenso mehrheitlich über einen französischen
Pass verfügen und also französische Staatsbürger sind, verkompliziert die Diagnose da-
hingehend, dass die hier offenkundig greifenden Mechanismen der Ausgrenzung so sub-
tiler Natur sind, dass sie offensichtliche Rechtstatbestände – wie eben das Vorliegen der
französischen Staatsbürgerschaft – zu überdecken beziehungsweise zu ignorieren ver-
mögen.28
Im Rahmen der Analyse der politischen Begründungen von Praktiken der Normsuspen-
dierung wird es angesichts dieser Ausgangslage also immer auch darum gehen müssen
zu reflektieren, inwieweit sich die französische politische Elite, wenn sie die Kompe-
tenzen der Exekutive durch das Instrument eines État d’urgence erweitern will, diese
strukturelle Desintegration zu Nutze macht.
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Algerien
Der Algerienkrieg (1954–62) hat wie kein anderes Ereignis nach 1945 die politische wie
auch die konstitutionelle Verfasstheit Frankreichs berührt, insofern er als Katalysator
den im Rahmen einer römischen Diktatur (Raymond Aron29) durch Charles de Gaulle
maßgeblich gestalteten Verfassungswechsel von der IV. zur V. Republik eklatant be-
schleunigt hat. Der Prozess der Unabhängigwerdung Algeriens – und in ähnlicher Aus-
richtung auch der vorangegangene Indochinakrieg von 1946-195430 – führt damit auf
bedrückende Art und Weise vor, wie mit der IV. Republik ein Rechtsstaat in Form einer
parlamentarischen Demokratie, der nicht zuletzt aufgrund einer manifesten Instabilität
in der Exekutive nicht mehr hinreichend zwischen Normalität und Ausnahme zu unter-
scheiden vermag, eben weil die Ausnahme eine Tendenz zur Usurpation der Normalität
entfaltet, scheitert.
Im Zeitfenster von 1954 bis 1962 überlagern sich also zwei Krisen. Zum einen die in-
nen- oder verfassungspolitische, die in der politischen Fragilität und Diskontinuität der
Exekutive wie auch der Legislative der IV. Republik gründet und die schließlich in der
von Charles de Gaulle initiierten Verfassung der V. Republik aufgeht; und zum anderen
jene außen- oder kolonialpolitische «crise extrêmement grave»31 über den Umgang mit
den Unabhängigkeitsbestrebungen Algeriens. Der Übergang von der IV. zur V. Repub-
lik – das von Raymond Aron mit Blick auf die Person Charles de Gaulle verwendete
Vokabular macht das deutlich – kann mit Recht als Verfassungserosion bezeichnet wer-
den. Für diese Ablösung einer Verfassungsordnung gilt es im Folgenden exemplarisch
aufzuzeigen, welche Begründungsmuster der Implementierung des Ausnahmezustandes,
zugrunde liegen. Der verfassungsrechtliche Übergang von der IV. in die V. Republik
tritt darüber in den Hintergrund und ist nur insofern von Belang, als die Krise in Algeri-
en die Ausformulierung der Bestimmungen über den Ausnahmezustand in der Verfas-
sung der V. Republik, Artikel 16, mit induziert hat.32
Die argumentative Plausibilisierung des Ausnahmezustandes und seiner Verhängung
durch Charles de Gaulle in der Zeit des Algerienkrieges rekurriert immer wieder auf die
29 Vgl. Aron 1959, S. 16f.: „Die von der Regierung des General de Gaulle innerhalb der sechsmonati-
gen römischen Diktatur durchgeführten Reformen sind zu zahlreich und zu komplex, um sie auf ei-
nigen wenigen Seiten zusammenfassen zu können.“ An anderer Stelle bezeichnet Aron de Gaulle in
ähnlicher, wohl an die Begrifflichkeit bei Rousseau angelehnter Diktion als „dictateur-législateur“.
Vgl. Aron 1959, S. 169.
30 Vgl. Aron 1959, S. 131f.: „In historischer Perspektive erscheinen die zwölf Jahre der IV. Republik
von diesen zwei Konflikten beherrscht, die man koloniale nennen könnte, aber die, durch ihre Trag-
weite, für Frankreich zu nationalen Konflikten geworden sind.“
31 De Gaulle 1958.
32 In diesem Zusammenhang ist grundsätzlich interessant Blanchard 2006, der außerordentliche Poli-
zeimaßnahmen in den Blick nimmt, und – mit für die Geschichte des Konflikts und seiner (schuli-
schen) Aufbereitung – Kohser-Spohn/Renken 2006.
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Herstellung einer Situation der Äußerlichkeit, die sich vor dem Hintergrund der Ausei-
nandersetzungen in Algerien relativ einfach herstellen ließ. Während die Anhänger des
Präsidenten und seiner Politik auf der einen Seite standen, bildeten die Gegner de Gaul-
les und also die Befürworter des Verbleibs Algeriens bei Frankreich die andere Seite.
Durch die solcherart über Jahre wiederholte Erzählung der kriegerischen Unruhe sowie
einer bis hin zur Spaltung entlang der Algerienfrage reichenden inneren Instabilität
Frankreichs – die im Zusammenhang mit dem sogenannten Putsch der Generäle vom
21.–26.4.1961 an einen Höhepunkt gekommen war – war eine politische Atmosphäre
geschaffen, die am 22.4.1961 in die Verhängung des Ausnahmezustandes nach Artikel
16 mündete. In seiner Rede am 23.4.1961 lieferte Charles de Gaulle eine knappe Be-
gründung der Expansion der Exekutivkompetenzen, die immer wieder auf die oben be-
schriebene Gegnerschaft Bezug nimmt:
„Denn die immense Anstrengung der Wiederaufrichtung Frankreichs, angefangen vom Bo-
den des Abgrundes, dem 18. Juni 1940, dann weitergeführt bis, trotz allem, der Sieg errun-
gen, die Unabhängigkeit gesichert, die Republik wiederhergestellt war; seit drei Jahren
wieder aufgenommen, um den Staat zu erneuern, die nationale Einheit zu erhalten, unsere
Macht und unseren Rang nach außen wieder herzustellen, unser Werk in Übersee hin zu ei-
ner notwendigen Dekolonisierung weiter zu verfolgen, all das droht sich, selbst am Vortag
des Erfolges, wegen des schändlichen und dummen Abenteuers der Aufständischen in Al-
gerien als vergeblich zu erweisen.“33
Auf der einen Seite des Konflikts steht de Gaulle als einzig legitime Verkörperung der
nationalen Integrität des freien Frankreichs, des Frankreichs nach Vichy, der Staatsrai-
son sowie der französischen Würde nach innen wie nach außen; auf der anderen Seite
stehen vier schändliche und dumme „Generäle in Rente“, die mit ihrem Beharren auf
dem kolonialen Anspruch Frankreichs an Algerien die V. Republik in ein „nationales
Desaster“34 zu führen versuchen. Und auch wenn der Putsch der Generäle letztlich er-
folglos gewesen ist – er hat doch den Algerienkrieg auf das französische Festland getra-
gen und zu einer weiteren Eskalation der von den Befürwortern wie Gegnern der algeri-
schen Unabhängigkeit vorgetragenen Maßnahmen geführt.
Eine der unmittelbaren Folgewirkungen noch im Jahr 1961 war die Zunahme von At-
tentaten durch die Front de Libération Nationale (FLN), die im Rahmen ihres Unab-
hängigkeitskampfes zunehmend französische Polizisten und Gendarmen in Frankreich
zu überfallen und zu töten begonnen hatte. Als Reaktion auf dieses Vorgehen verhängte
Maurice Papon,35 damals Präfekt der Pariser Polizei, für die Stadt Paris eine Ausgangs-
sperre für Franzosen algerischer Herkunft, die ihrerseits im Verdacht standen, mit der
FLN zu kooperieren. Mit der seit dem Putsch der Generäle gestiegenen Verunsicherung
33 De Gaulle 1961.
34 De Gaulle.
35 Papon war während des Vichy-Regimes Nazi-Kollaborateur und wurde später wegen Kriegsverbre-
chen zu 10 Jahren Gefängnis verurteilt.
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auf Seiten der sich selbst als Inkarnation der Staatsraison begreifenden Exekutive und
der allgemeinen Konfusion ging eine Aussonderung eines Teils der Pariser Bevölkerung
einher. Diese aus politischer Unsicherheit geborene Segregation kulminierte im Massa-
ker von Paris am 17.10.1961. Im Verlauf einer von der FLN organisierten Demonstrati-
on für die Unabhängigkeit Algeriens36 mit insgesamt zwischen 28.000 und 50.000 Teil-
nehmern wurden – je nach Zählung – zwischen 2 (offizielle Angabe der Pariser Polizei
am 18.10.1961) bis hin zu 384 (Schätzung Jean-Luc Einaudi37) Menschen unter ande-
rem durch die Pariser Polizei getötet. Zudem internierte die Polizei – teilweise über
mehrere Tage – circa 6.000 bis 9.000 Personen in Sportstadien oder Konzerthallen, et-
was im Palais de Sports oder im Stade Pierre de Coubertain.
Die Ereignisse rund um das Massaker von Paris sind hier deswegen so relevant, weil sie
– ganz gleich, welche Zahlen nun näher an der Realität sind – eine Brutalität im Vorge-
hen der Polizei gegenüber einem Teil der Bevölkerung offenbaren, die durch die im
Rahmen des Algerienkrieges latent wirksame Segregationserzählung noch befördert
wurden. Mit anderen Worten: Die sich in Folge der Regierungspolitik zunehmend etab-
lierende Vorstellung der Unabhängigkeit Algeriens führt zu einem de facto Ausschluss
der algerischstämmigen Franzosen aus dem französischen Souverän. Algerier – auch
wenn sie de jure französische Staatsbürger sind – werden somit zu einem außenstehen-
den, zudem zu einem als feindlich konnotierten Akteur, der eine Behandlung durch die
Staatsorgane erfährt, die an Maßnahmen im Rahmen einer kriegerischen Auseinander-
setzung erinnern.
Neukaledonien
36 Für den Ablauf der Ereignisse vgl. die Studie von House/MacMaster 2008.
37 Vgl. Einaudi 1991.
38 Aktuelle Informationen zur politischen und wirtschaftlichen Situation Neukaledoniens liefert der
Country Report New Caledonia, der von der Economist Intelligence Unit herausgegeben wird.
39 Vgl. Faberon/Agniel 2000.
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sischen Verfassung eine Collectivité sui generis40 – steht die geteilte Souveränität als
Ausdruck für einen massiven Eingriff in das französische Selbstverständnis als einheit-
liche Nation.
Wie im vorangegangenen Algerienkrieg und wie später im Rahmen der Vorstadtunru-
hen steht auch die Anwendung des Ausnahmezustandes in Neukaledonien im Zusam-
menhang mit der Schaffung einer Situation der Äußerlichkeit, die ihrerseits auf der Bin-
nendifferenzierung des französischen Souveräns beruht. Dabei ist die für die Binnendif-
ferenzierung ursächliche Gruppe – die Front de libération nationale kanak et socialiste
(FLNKS) – ähnlich eindeutig identifizierbar, wie im Algerienkrieg die FLN. Deren
Boykott der örtlichen Wahlen bildete 1984 den ersten von zahlreichen weiteren Schrit-
ten im von der FLNKS geführten Kampf um die politische Unabhängigkeit Neukaledo-
niens. Innerhalb weniger Monate spitzte sich dieser Kampf bis zu einem drohenden
Bürgerkrieg zu, auf den die französische Regierung am 12.1.1985 mit der Verhängung
eines Ausnahmezustandes sowie einer Ausgangssperre für die Dauer von sechs Mona-
ten reagierte.
Im Hintergrund – das machen Plenardebatten in der Assemblée Nationale deutlich –
verlief bereits seit mehreren Jahren die eigentliche Konfliktlinie zwischen der Durchset-
zung der nationalen Interessen Frankreichs im Pazifikraum und dem Zugeständnis der
souveränen Selbstbestimmung an die indigenen Bevölkerungen der kolonialen Besit-
zungen – im Falle Neukaledoniens der Kanaken. Der Abgeordnete Roch Pidjot vertritt
dabei die Position des Rechts auf kanakische Selbstbestimmung:
„Die Legitimität des kanakischen Volkes, sein qua Geburt erworbenes und aktives Recht
auf Unabhängigkeit werden von dem heute in dritter Lesung vorgelegten Text verhöhnt.
Tatsächlich bleibt das kanakische Volk, als Ureinwohner, fremd in seinem eigenen Land,
denn der Kolonialherr verfügt durch dieses Statut über alle Rechte auf die Selbstbestim-
mung und Unabhängigkeit des kolonisierten Volkes.
Die einzige Sorge Frankreichs besteht darin, sich im Pazifikraum zu halten. Dazu bevorzugt
es die Interessen von Europäern und anderen Emigranten. Es verhöhnt damit seine eigenen
Ankündigungen von vor 1981, die von der sozialistischen Partei, der kommunistischen Par-
tei und der Erklärung von Nainville-les-Roches hinsichtlich des qua Geburt erworbenen
und aktiven Rechts des kanakischen Volkes auf Unabhängigkeit gemacht wurden. [...].
Darüber hinaus bleibt Frankreich bis in seine Denkstruktur hinein Kolonialmacht. Und ich
schäme mich für euch wegen dieser Verachtung, wegen dieser Herabwürdigung, die ihr
ständig unter Beweis stellt, wenn ihr von meinem Volk sprecht.“41
Die Herstellung einer Situation der Äußerlichkeit, wie sie insbesondere im letzten Satz
anklingt, erscheint hier – auch wenn sie unterschiedlich bewertet werden mag – jedoch
in der Sache in keiner Weise als kontrovers, sie ist über den Begriff der indigenen Be-
völkerung bereits etabliert. Demgegenüber vertritt der Abgeordnete Jacques Toubon als
40 Dementsprechend ist zwischen 2014 und 2019 ein Plebiszit darüber abzuhalten, ob Neukaledonien
komplett in die Unabhängigkeit entlassen werden soll.
41 Journal officiel de la République française 1984, S. 4229.
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Mitglied der Opposition (RPR) die paternalistisch eingefasste Notwenigkeit der Wah-
rung der nationalen Integrität, der Wahrung der Einheit der Republik und ihrer ‚Kinder’:
„Den Text, der von der Nationalversammlung angenommen werden wird, empfinden wir
durchweg und in vielerlei Hinsicht als beunruhigend [...], aber ich will hoffen, dass die Art
wie die Zentralregierung die Forderungen der einen wie der anderen, egal welcher Rasse
oder welcher politischen Überzeugung sie angehören, aus welcher wirtschaftlichen, sozia-
len oder kulturellen Situation innerhalb des Landes sie stammen, auf demokratische Weise
aufgenommen hat, diejenigen, die in den letzten Tagen extreme Positionen eingenommen
haben, dazu bewegen wird, wieder vernünftig zu werden und in Betracht zu ziehen [...],
dass es für Neukaledonien und für seine Bewohner außerhalb Frankreichs, außerhalb der
Französischen Republik keine Zukunft geben wird.“42
Anhand dieser beiden Debattenbeiträge wird deutlich, dass die politische Zukunft Neu-
kaledoniens noch Mitte 1984 völlig umstritten war – das Bemühen Frankreichs um die
Wahrung seiner Kontrolle des Dekolonisierungsprozesses indes war es nicht. Insofern
besteht das Spezifikum der Situation in Neukaledonien darin, dass mit der Unabhängig-
keitsbewegung der FLNKS ein Akteur die politische Bühne betreten hat, der mit seinen
politischen Aktivitäten einen zunehmenden Kontrollverlust der Zentralregierung über
Neukaledonien herbeigeführt hat. Der eigentliche Kern des Konflikts besteht damit
nicht in der Frage der Modalitäten des Unabhängigkeitsprozesses oder der Zuerkennung
von Rechten gegenüber indigenen Bevölkerungsgruppen, sondern ausschließlich in der
Infragestellung der Durchsetzung souveräner, nationaler Interessen Frankreichs. Der
äußere Feind – die FLNKS – wird, weil sie die nationale französische Durchsetzungsfä-
higkeit zu unterminieren droht, mit einer Ausweitung der Exekutivbefugnisse der Ver-
treter der Pariser Zentralregierung in dem von ihr beanspruchten Gebiet konfrontiert.
Weit ab vom französischen Festland erscheint der Ausnahmezustand hier als ein prag-
matisches Kontroll- und Machtinstrument französischer Außenpolitik, das sich – so
steht zu vermuten – auch deswegen so unbedenklich anwenden lässt, weil es gegen ei-
nen äußeren Feind um die Aufrechterhaltung souveräner nationaler Interessen geht.
Banlieue Parisienne
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Anlässlich der Ausschreitungen in den Pariser Vororten zwischen dem 8.11.2005 und
dem 4.1.2006, die sich in Folge des Todes zweier Jugendlicher am 25.10.2005 während
deren Flucht vor der Police Nationale43 entzündeten, rief die französische Regierung
den Ausnahmezustand in La France métropolitaine aus.44 Auch wenn das Instrumenta-
rium der Ausweitung der Exekutivbefugnisse explizit auch für den innenpolitischen Be-
reich gedacht war, so erscheint seine Anwendung im französischen Kernland keines-
wegs als ein wie selbstverständlich wählbares Instrumentarium im Arsenal der Exekuti-
ve. Allerdings vermag eine zunehmende Ausweitung der als akzeptabel betrachteten
Anlässe für die Verhängung von Ausnahmezuständen enthemmt wirken, der Expansion
von Exekutivkompetenzen und mit ihr die Beschneidung von habeas-corpus-Rechten
für bestimmte Zielgruppen wird hoffähig. Für eine solche Einschätzung sprechen zwei-
erlei Gründe, einmal ein wahltaktischer, und zudem ein historisch-genealogischer. Be-
trachtet man die Entscheidung zur Suspendierung von habeas-corpus-Rechten, die lokal
und damit implizit stark auf bestimmte Personengruppen (männliche Jugendliche mit
Migrationshintergrund) zugeschnitten war, aus einem wahltaktischen Kalkül heraus,
dann entsteht eine win-win-Situation. Zunächst werden die Einwohner der betroffenen
Pariser Vororte ohnehin nicht zum Wählerreservoir der Regierung zählen, die die fragli-
che Entscheidung umgesetzt hat, wenn sie denn überhaupt noch zur Wahl gehen. So
kann davon ausgegangen werden, dass der mit der Ausrufung des Ausnahmezustandes
einhergehende Imageschaden im Sinne einer Negativauslese der Politik weitgehend fol-
genlos an der Exekutive vorüberzieht. Und nicht nur, dass sie in einer Wahl keine
Stimmen verlieren wird, sie wird im Gegenteil bei ihrer eigenen Wählerklientel punk-
ten, die in der Zielgruppe der Ausnahmezustandsregelung eine Projektionsfläche für tat-
sächliche oder vermeintliche Missstände ausgemacht hat. Insofern ist aus wahltaktischer
Sicht die Entscheidung zur Suspendierung von Grundrechten angesichts der Unruhen
nur folgerichtig. Eine solche, rein immanente, situative Erklärung würde aber die politi-
sche Dimension der Ausrufung des Ausnahmezustandes verkennen. Denn sie könnte
nahelegen, dass der Ausrufung des Ausnahmezustandes eine offene, keineswegs aber
eine tendenziell zwingende Entscheidungssituation vorausgegangen ist. Tatsächlich
reiht sich der Ausnahmezustand von 2005 in eine lange Reihe ähnlich gelagerter Ent-
scheidungen in der Geschichte der V. Republik ein. In diesem Zusammenhang sei noch
einmal an das bereits vorgestellte Zitat aus Le Monde erinnert:
„Exhuming a 1955 law sends to the youth of the suburbs a message of astonishing brutality:
that after 50 years France intends to treat them exactly as it did their grandparents.“45
43 Zur Entwicklung des Instruments der Polizei im Kontext souveräner Staatlichkeit und Regierung vgl.
Foucault 2004, S. 449ff.
44 Vgl. hierzu die Dekrete No2005-1386 (Ausrufung des Notstandes) und No 2005-1387 (Definition
derjenigen Gebiete und Großstädte, in denen der Notstand gilt).
45 Le Monde, zit. nach Aoláin/Gross 2006, S. 201.
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Worauf Le Monde hier verweist, ist eine Reduktion der möglichen Differenz in politi-
schen Entscheidungsprozessen. Statt einer situativen Offenheit im Rahmen der instituti-
onellen Ordnung spielen offensichtlich historisch ererbte Muster der Zuschreibung von
Äußerlichkeit für die tagespolitische Entscheidungsfindung eine Rolle. Dies führt de
facto zu einer verminderten Rechtsgeltung für Personengruppen, deren tatsächlicher
Grad an Integration in die politische wie soziale Kultur Frankreichs als relativ unter-
durchschnittlich vermutet wird. Somit entsteht eine politische Pfadabhängigkeit zuguns-
ten einer Bereitschaft zur Exklusion von als außen stehend oder als abseitig wahrge-
nommenen de jure Staatsbürgern, die auch für künftige Situationen die potenziellen
Entscheidungsspielräume der Politik weiter verengen dürfte.
Das qualitativ Neue an der Situation des Jahres 2005 besteht also einerseits in der Ver-
mengung des Instruments des Ausnahmezustandes mit dem wahltaktischen Kalkül, wo-
durch dem Souverän jenseits der Banlieue eine Ausschließung des Souveräns in der
Banlieue angeboten wird. Dieses Angebot funktioniert, weil der Souverän – auch hierin
liegt übrigens eine Parallele zum U.S.-amerikanischen Fall Korematsu vs. United States
von 194446 – binnendifferenziert und die Teile dann gegeneinander ausgespielt werden
können. Die Adressaten der Politik des harten Durchgreifens können als Wähler ge-
wonnen werden, die Adressaten des harten Durchgreifens selbst waren nie Teil dieser
Kalkulationen. Darüber hinaus greifen klassische Reaktionsmuster, die auch in anderen
Dekolonisierungskonflikten aus Sicht der Exekutive bereits funktioniert haben. Anstatt
ein ernsthaftes Integrationsangebot zu formulieren, werden Repressionsmaßnahmen ge-
gen Gruppen von Personen durchgesetzt, die von der Exekutive offenkundig nicht als
Bürger – und dementsprechend nicht als schutzwürdige Mitglieder der politischen Ge-
meinschaft der Republik – betrachtet werden können. Sie können deswegen nicht als
solche betrachtet werden, weil die politische Kultur der V. Republik seit ihrem Beste-
hen auf der Wahrnehmung eines politischen wie rechtlichen Gefälles zwischen sich
selbst und seinen (ehemaligen) Kolonien gründet. Eine solche Asymmetrie in der
Wahrnehmung setzt sich dann auch in der Sprache der Amtsträger der Republik fort,
was sich anhand der entsprechenden Äußerungen von Nikolas Sarkozy – damals noch
französischer Innenminister – belegen lässt. Sarkozy, der spätere Amtsnachfolger von
Jacques Chirac als französischer Staatspräsident, profitierte unter anderem auch deswe-
gen so massiv von der Situation, weil er die latent bestehenden Konfliktlinien zwischen
Mutterland und ehemaligen Kolonien so zugespitzt formuliert hat. Im Rahmen eines
Besuches in La Courneuve (Département Seine Saint-Denis, nördliche Banlieue Pari-
sienne) – schon vor dem Ausbruch der eigentlichen Unruhen des Jahres 2005 – kündigte
Sarkozy am 29. Juni 2005 gegenüber Einwohnern und im Beisein mehrerer Fernseh-
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teams an, die Staatsmacht werde das Problem des zunehmenden Vandalismus und der
Gewaltkriminalität mit dem „Hochdruckreiniger“ beseitigen:
„Der Begriff ‚kärchern’ ist der Begriff, der sich hier aufdrängt, weil das gesäubert werden
muss.“47
Fortan konnte sich Sarkozy eines Images als Law-and-Order-Mann sicher sein, der eine
Politik der Tolérance Zéro betrieb. Subjekt – hier im Wortsinne – seiner Tolérance Zéro
waren jene, meist aus Nordafrika stammenden, vielfach von Armut, Arbeits- und Per-
spektivlosigkeit sowie von Ausgrenzung betroffenen jungen Männer, denen, obschon
sie französische Staatsbürger sind, nur sehr schwer ein Zugang zum Leben in Frank-
reich jenseits der Banlieue offen stehen würde. Für Sarkozy waren sie jene „racaille“,
jenes Gesindel, jener Abschaum, den er mit dem Hochdruckreiniger zu beseitigen ge-
dachte.
Noch deutlich verquerer – und in Teilen auch subtiler – wird die Begründungslage,
wenn man die Regierungserklärung von Premierminister Dominique de Villepin vom
8.11.2005 heranzieht,48 in der dieser die Verhängung des Ausnahmezustandes vor der
Assemblée Nationale gerechtfertigt hat. In seiner Argumentation verknüpft de Villepin
zwei Ebenen – einmal das Bemühen der Regierung um die Wiederherstellung der öf-
fentlichen Ordnung und zum anderen das damit einhergehende Gleichheitsgebot aller
Franzosen als Staatsbürger („l’exigence républicaine“49). Diese argumentative Strategie
ist insoweit bemerkenswert, als dass sie gezielt verschleiert, was de facto den Kern der
hegemonialen Krisenerzählung ausmacht. Während Dominique de Villepin in seinem
Teil der Regierungserklärung relativ neutral von „organisierter Kriminalität“ spricht,
von der im Rahmen eines „Kampfes“ „Unordnung“, „Gewalt“, „Tristesse“ und eine
weit verbreitete „Unsicherheit“ in „zerstörten Stadtvierteln“50 ausgeht, formuliert er –
auch hierin wenig kontrovers – das Ziel seiner Politik. Ihm geht es, weil „Sicherheit
über alles geht“51 darum, die „Ruhe und den zivilen Frieden wieder herzustellen“. 52 In-
teressant ist hier das Adjektiv zivil, das einerseits als nicht-kriegsbezogen, andererseits
aber auch im Sinne von zivilisiert verstanden werden kann.
Welche Variante der Begriffsbedeutung gemeint sein könnte, wird dann im Fortgang
der Debatte im Rahmen des Auftritts von Nicolas Sarkozy deutlich, der in seiner Funk-
tion als Innenminister im Rahmen der gleichen Sitzung der Assemblée Nationale vor
den Abgeordneten Stellung nimmt. Bei Sarkozy verliert sich – im Unterschied zu den
47 France 2, 29.6.2005.
48 Vgl. Journal officiel de la République française 2005.
49 Journal officiel de la République française 2005, S. 6483.
50 Journal officiel de la République française 2005, S. 6478, 6483.
51 Journal officiel de la République française 2005, S. 6478.
52 Journal officiel de la République française 2005, S. 6479.
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Ausführungen de Villepins – die Neutralität bei der Bezeichnung des für die Unruhen
und damit für die Verhängung des Ausnahmezustandes ursächlichen Akteurs. Anstelle
von organisierter Kriminalität spricht Sarkozy von einem vielseitigen Frankreich, von
„la France multiple“,53 was bei ihm jedoch die interessante Doppeldeutigkeit des bin-
nendifferenzierten Souveräns wieder eröffnet. Damit ist jene Ausschließung sprachlich
erneut eingeführt, die de Villepin so vehement versucht hatte auszublenden. Und ent-
sprechend drastisch fallen die Bezeichnungen Sarkozys aus, wenn es um die Benennung
der Vorstadtbewohner als Verursacher der Unruhen geht: hier handele es sich um „Ban-
den“, um „Aufständische“54 im Sinne nicht zivilisierter Horden.55
Dass eine solche Bezeichnung der Beteiligten, der vermeintlich kollektiv ursächlichen
Gruppen von Jugendlichen maghrebinischer Herkunft in ganzen Stadtteilen, den Aus-
nahmezustand von 2005 und 2006 in der Banlieue Parisienne und darüber hinaus in den
Kontext der Dekolonisierungskonflikte der V. Republik rückt, ist evident. Allzumal es
sich dabei nicht etwa um eine ex post konstruierte Bedeutungszuschreibung handelt,
sondern um eine Feststellung aus der Debatte selbst heraus. So hatte der Abgeordnete
François Asensi (PCF) in seinem Redebeitrag in Reaktion schon auf Dominique de
Villepin festgestellt:
„Ihre Regierung erneuert nach fünfzig Jahren eine der dunkelsten Seiten in der Geschichte
unseres Landes: die eines Kolonialkrieges.“56
Das von Sarkozy explizit so bezeichnete Gesindel jedenfalls wurde, in der Zeit vom
8.11.2005 bis zum 4.1.2006, derjenige, sozusagen subjektivierte Ort,57 an dem die Ex-
pansion der Exekutivmacht als nachgelagerter Kolonialisierungskonflikt vollzogen wer-
den konnte. Was bleibt, ist offizielle Statistik, doch wie so oft sind Zahlen wenig aussa-
gefähig, wenn es um politische oder soziale Phänomene geht. Was etwa bedeuten die im
Zuge der Verhängung des Ausnahmezustandes durchgeführten mehr als 2.800 vorläufi-
ge Festnahmen in den betroffenen städtischen Gebieten? Belegen sie den ‚Erfolg‘ dieser
Praxis?
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Erosion der Republik
Wohl kaum. Für Sarkozy war die Befürwortung und die damit einhergehende Enthem-
mung der Normsuspendierung im Kontext seiner Politik der Tolérance Zéro ein Bau-
stein für die bei der Präsidentschaftswahl 2007 letztlich erfolgreiche Integration des La-
gers der rechten Mitte. Doch könnte – mit Blick auf die eingangs zitierten Äußerungen
von Raymond Aron und Charles de Gaulle – dieser Erfolg teuer erkauft worden sein.
Denn die Selbstverteidigung der Republik unter Rückgriff auf den Ausnahmezustand
hat, wie besonders anhand des Beispiels der Vorstadtunruhen von 2005/06 deutlich ge-
worden ist, insofern einen immensen Schaden angerichtet, als die Integration des Sou-
veräns und somit die der Französischen Republik selbst, zumindest brüchig geworden
ist.
Mit Blick auf die Frage nach den etwaigen Grenzen des Selbsterhalts und den dafür von
einer demokratisch verfassten Republik einsetzbaren Mitteln ergibt sich unter Berück-
sichtigung der hier vorgestellten Szenarien ein ernüchternder Befund. Denn das Bemü-
hen um die ständige Aufrechterhaltung der Rechtsgeltung im Rahmen der demokrati-
schen Republik ist – zumindest seit 1958 – keineswegs mit kontingenten Krisenszenari-
en konfrontiert gewesen, wie Charles de Gaulle das mit seinem Verweis auf Machiavel-
lis necessità nahegelegt hatte. Das beachtliche Arsenal von verfassungsrechtlichen Mit-
teln zur Ausweitung von Exekutivkompetenzen ist immer wieder im Zusammenhang
mit Dekolonisierungsprozessen angewendet worden, was dem postulierten Bedarf einer
breiten Handlungskompetenz der Exekutive insoweit widerspricht, als dass die tatsäch-
lichen Anwendungen einer radikalen Ursachenverengung unterliegen.
Diese politisch gewollte Kontingenzreduktion funktioniert über den Mechanismus der
argumentativen Herstellung einer Situation der Äußerlichkeit.58 Diese Position des Au-
ßen wird dann zusätzlich als Bedrohung beschrieben, auf die die Exekutive aus Gründen
der Staatsraison zu reagieren hat. Die eigentliche demokratisch-republikanische Spreng-
kraft dieses Prozesses besteht darin, dass die als Bedrohung beschriebene Äußerlichkeit,
auf die dann in der Folge Maßnahmen des Ausnahmezustandes angewendet werden, auf
einer Binnendifferenzierung des französischen Souveräns gründen. Alle Anwendungs-
beispiele des Ausnahmezustandes am Rande der Republik unterminieren damit eine
zentralen Wert des republikanischen Denkens überhaupt – nämlich die Gleichheit aller
Bürger vor dem Gesetz.
Angesichts dieses Befundes greifen sowohl die Diagnose von Cindy Skatch als auch die
von Raymond Aron zu kurz: Zwar verfügt Frankreich in der V. Republik unbestreitbar
über ein weit ausgreifendes Instrumentarium an Ausnahmekompetenzen zugunsten der
Exekutive. Wegen seiner beständigen Anwendung in Dekolonisierungskonflikten geht
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die Wirkung dieses Arsenals qualitativ jedoch über den von Aron befürchteten legali-
sierten Staatsstreich hinaus. Die gegenwärtige Praxis des État d’urgence in Frankreich,
so ließe sich resümieren, dient nicht der Rettung der demokratisch verfassten Republik
– auf lange Sicht führt sie deren politische Kultur an den Rand ihrer Existenz und viel-
leicht auch darüber hinaus.
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Ausnahmezustand, organisierte Kriminalität und sozialer Wandel
Jochen Kleinschmidt
1. Der Krieg gegen die Drogen und der Begriff des Ausnahmezustands
Der Begriff des Ausnahmezustands in seinen von Giorgio Agamben und Carl Schmitt
geprägten Bedeutungen ist mittlerweile ein in sozialwissenschaftlichen Forschungen
recht gängiges Interpretament. Neben dem ,Krieg gegen den Terror‘ oder dem polizei-
lich-paramilitärischen Umgang mit illegaler Einwanderung wird auch der sog. ,Krieg
gegen die Drogen‘, der als Bündel innen-, außen- und sicherheitspolitischer Maßnah-
men 1971 vom amerikanischen Präsidenten Richard M. Nixon ausgerufen wurde und
trotz semantischer Modifikationen prinzipiell bis heute in verschiedenen Formen an-
dauert, häufig als Phänomen eines Ausnahmezustands gefasst.1 Typischerweise wird
dabei der Ausnahmecharakter dieser Maßnahmen so verstanden, dass der Rückgriff auf
den Kampf gegen den Handel mit illegalen Narkotika Verstöße gegen die Norm der
territorialen Integrität solcher Staaten legitimieren könne, in denen die Akteure des
transnationalen Drogenhandels bedeutende physische und soziale Infrastrukturen unter-
halten. Die Bekämpfung des Drogenhandels sei also zu betrachten als eine imperiale
Herrschaftstechnik, die eine Vielzahl von Eingriffen in die politische Autonomie von
Staaten des globalen Südens durch die des Nordens, gemeint sind hier meist die USA,
ermögliche. Eine solche imperiale Logik wird auch oft bei den aktuellen Ereignissen in
Mexiko im Kontext der historisch stark asymmetrischen Beziehungen zwischen den
USA und Mexiko unterstellt.2
These dieses Beitrags ist es, dass eine solche Verwendung des Konzepts des Ausnahme-
zustands allenfalls einen unterkomplexen Blick auf die vielschichtigen Konfliktphäno-
mene im heutigen Mexiko bietet. Ein angemessenes Verständnis für diese kann nicht
aus einer stark verallgemeinernden Imperialismuskritik, sondern nur durch einen
historisch informierten Blick auf die Kontextualisierung des Drogenhandels in den sich
wandelnden politischen und sozialen Strukturen Mexikos gewonnen werden. Damit
wird im Anschluss eine differenziertere Einschätzung der Begrifflichkeit des Aus-
11 Dies gilt sehr weitgehend für die ausländische Forschung – in Mexiko selbst sind der Drogenhandel
und die mit ihm assoziierten Gewaltphänomene Gegenstand der Arbeit einer Reihe auf ihn
spezialisierter Forscher.
12 Wenn in diesem Text der Begriff ‚Kartell’ für die mit Herstellung, Transport und Verkauf von
illegalen Narkotika befassten Organisationen verwendet wird, stellt dies natürlich nicht eine
Gleichsetzung mit Kartellen im volkswirtschaftlichen Sinne dar. Eher handelt es sich um Syndikate
im Sinne regionaler Monopole, und ihre Aktivitäten gehen weit über den ökonomischen Bereich
hinaus,, vgl. auch Cook 2007, S. 1.
13 Vgl. z.B. Schlichte 2005, S. 84f.
14 Sadler 2000, S. 162.
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tung wuchs noch beträchtlich nach der Unabhängigkeit Mexikos und der Westausdeh-
nung der USA im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, so dass etwa im Jahr 1850 zwei
Drittel der im nordöstlichen Mexiko gehandelten Waren Schmuggelgut waren – und
bereits damals operierten die Schmuggler häufig mit Rückendeckung durch die
politische Führung der nördlichen Bundesstaaten. Durch die Bürgerkriege sowohl in
den USA als auch einige Jahre später in Mexiko kam es zeitweise zu einem zusätzlichen
Aufschwung des Waffenhandels.15
Nach dem Verbot des Opiumimports in den USA im Jahr 1909 wurde der Opiumhandel
zu einem weiteren Rückgrat der Grenzlandökonomie, wobei er – zunächst von chinesi-
schen Immigranten etabliert und dominiert – bald von Bauern und Schmugglern in den
weitgehend gesetzlosen Bergregionen der Bundesstaaten Sinaloa und Durango über-
nommen wurde. Durch die im folgenden Jahr ausbrechende Mexikanische Revolution
mit ihren zehn Jahre währenden Kampfhandlungen vor allem in Nordmexiko nahm das
Geschäft häufig die Form des Tausches von Opium gegen Kriegswaffen an. Nach dem
Abflauen der Kämpfe und der politischen Restabilisierung Mexikos unter dem Einpar-
teienregime der später so benannten Partei der Institutionellen Revolution (PRI) entstan-
den durch die Prohibition in den USA neue Gelegenheiten,16 und bereits in dieser Phase
wurden die Aktivitäten der Drogenhändler von manchen lokalen politischen Autoritäten
gedeckt.17
Von besonderem Interesse dürfte hier sein, dass die Übernahme des Opiumgeschäfts
von den Chinesen im Kontext von antichinesischen Pogromen erfolgte, bei denen zahl-
reiche Angehörige der Minderheit ermordet, andere misshandelt und aus dem Norden
Mexikos vertrieben wurden. Diese Pogrome verschärften sich ab 1924 mit der Prä-
sidentschaft des mit rechtsextremen Positionen sympathisierenden Präsidenten Plutarco
Elías Calles, mehrere xenophobe Bewegungen betrieben systematische ,ethnische
Säuberungen‘, die bis in die 1930er Jahre teils offizielle Regierungspolitik wurden. Die
Assoziation der chinesischen Bevölkerung mit dem Opiumkonsum diente dabei einer-
seits als Rechtfertigung für Diskriminierung und Vertreibung, zum anderen wurde ihre
Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben von vielen Geschäftsleuten begrüßt – dies traf
auch auf das Geschäft mit illegalen Drogen zu. Die – wie in den USA – mit rassistischer
Rhetorik einhergehende Prohibition von Schlafmohn und anderen Narkotika war also
keineswegs einfach ein US-amerikanischer Oktroi, sondern auch in Mexiko eng mit
ökonomischen Interessen dortiger Akteure verknüpft.18 Die Strukturierung der illegalen
Ökonomie erfolgte im Zuge einer durch eine extralegale Politik der Ausnahme
herbeigeführten Gewaltwelle, in deren Rahmen sie in die zentralistischen Machtverhält-
nisse des Landes eingegliedert wurde.
15 Ebd., S. 163.
16 Sadler 2000, S. 164-166.
17 Astorga 2000, S. 67.
18 Osorno 2009, S. 58-62.
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Der Grundstein für die heute bestehende Drogenindustrie wurde schließlich auch mit
der inoffiziellen Förderung des Schlafmohnanbaus in Nordmexiko zur Gewinnung von
Schmerzmitteln für das Sanitätswesen der US-Streitkräfte im 2. Weltkrieg gelegt. In der
Nachkriegszeit sorgte dann der massiv ansteigende Marihuana- und Heroinkonsum in
den USA für ein rasantes Wachstum, der Anbau von Hanf und Schlafmohn breitete sich
von Sinaloa und Durango auf die umgebenden Bundesstaaten aus.19 Mit dem ökono-
mischen Wachstum gewannen auch die politischen Aspekte des Drogenhandels an
Bedeutung, und in einem rudimentären Feudalsystem wurde es üblich, dass lokale
Funktionäre ‚plazas‘ – Gebiete und Korridore für den Anbau, die Weiterverarbeitung
und den Transport illegaler Substanzen – vergaben. Immer noch wurden aber sowohl
Anbau als auch Transport zunächst von zahlreichen kleinen, meist auf Familienbasis
operierenden und nur gelegentlich gewaltsam konkurrierenden Organisationen durch-
geführt, die sich in einem Verhältnis hierarchischer Abhängigkeit von den herrschenden
Lokal- und Landespolitikern befanden. Sie dienten diesen auch gelegentlich zur
Diskreditierung von Rivalen als in illegale Geschäfte verwickelt. In dieser Zeit scheint
es zur Etablierung einer regelgeleiteten Praxis gekommen sein, der gemäß territoriale
Abgrenzungen und das Leben Unschuldiger zu respektieren sowie der Verkauf an
Konsumenten innerhalb Mexikos und gewalttätige Auseinandersetzungen in Groß-
städten untersagt waren. Dispute wurden von Stellvertretern der Gouverneure der
jeweiligen Bundesstaaten entschieden.20 Hier finden sich Anzeichen für einen
andauernden Ausnahmezustand im schmittianischen Sinn: Die politische Souveränität
bestand tatsächlich darin, die Gültigkeit bestimmter Gesetze fallweise außer Kraft zu
setzen und die sich daraus ergebenden ökonomischen Gewinnchancen in kliente-
listischen Netzwerken zur Stabilisierung der eigenen Herrschaft zu verteilen.
Ab den siebziger Jahren kam es jedoch zu einer zunehmenden Professionalisierung und
Monopolisierung des Geschäfts – ein Prozess, der eng mit der Person Miguel Angel
Félix Gallardos und dem Aufblühen des Handels mit kolumbianischem Kokain verbun-
den war. Félix Gallardo begann seine Karriere als Kriminalpolizist in Sinaloa und
wurde Ende der 1960er Jahre zum Leibwächter des dortigen Gouverneurs Leopoldo
Sánchez Celis. Er organisierte seine – später nach seiner Operationsbasis im Bundes-
staat Jalisco auch als ‚Guadalajara-Kartell‘ bezeichnete – Gruppe nach kolumbiani-
schem Vorbild gemäß betriebswirtschaftlicher Regeln und verwaltete zentral die
Kontakte zu den Lieferanten nach Kolumbien. Auch zahlreiche Anführer späterer mexi-
kanischer Kartelle stammen aus dem Umfeld Gallardos oder sind – wie im Fall der
Familie Arellano Félix, die seit Jahren die Anführer des Tijuana-Kartells stellen, –
direkt mit ihm verwandt.21 Trotz der nach wie vor bestehenden Unterordnung unter
staatliche Strukturen kam es aber ab dieser Epoche, ermöglicht durch die durch den
22 Ebd., S. 133. Übersetzungen: J.K. Zum Konzept der Parastaatlichkeit siehe von Trotha 2000.
23 Craig 1980, S. 347.
24 Ebd., S. 354f.
25 Astorga 2003a.
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handels selbst liegende Faktoren, die eine weitere, durch ausnahmeartige Maßnahmen
erreichte Reorganisation attraktiv erscheinen ließen. Mit dem erweiterten finanziellen
Handlungsspielraum der Kartelle wurde der Zugriff auf Finanzplätze und legale wirt-
schaftliche Infrastruktur notwendig, der wiederum eine geographische Ausdehnung auf
Gegenden wie eben Guadalajara und andere Großstädte bedingte. Um deren Destabili-
sierung zu verhinern, wurde eine weitere Zentralisierung der politischen Kontrolle des
Geschäfts notwendig, die unter anderem durch eine personelle Eingliederung der Füh-
rungsebene insbesondere des Guadalajara-Kartells in den Bundessicherheitsdienst DFS
erreicht wurde.26
Diese Zentralisierung ermöglichte zunächst ein ungestörtes Funktionieren der Schatten-
wirtschaft in Verbindung mit einer Minimierung des Gewaltniveaus. Die mexikanischen
Organisationen waren damit auch für die US-amerikanischen Behörden weitgehend
unauffällig, man konzentrierte sich auf die kolumbianischen Kartelle von Medellín und
Cali, deren karibische Schmuggelroute aber allmählich zugunsten des Transports über
Mexiko an Relevanz verlor. Dieser Zustand vorübergehender relativer Normalität
wurde aber schon 1985 wieder durchbrochen: Ein amerikanischer DEA-Agent hatte in
Guadalajara auf eigene Faust Ermittlungen angestellt und wurde schließlich von
Agenten des dortigen Kartells gefoltert und ermordet. Nun war es neben amerikani-
schem Druck auch die mexikanische Staatsführung, die eine derartige Selbstermächti-
gung nicht zulassen wollte – das monolithische Kartell von Guadalajara wurde
zerschlagen, wobei es in einigen Fällen ausreichte, die Anführer bei ohnehin verein-
barten Treffen mit Offizieren des DFS einfach zu verhaften.27
Die plazas wurden daraufhin neu aufgeteilt und nun an eine Vielzahl von Gruppen
verteilt, um eine riskante Machtansammlung wie zuvor im Kartell von Guadalajara zu
vermeiden. Anfang der 1990er Jahre nahm die grundlegende Organisationsform der
Kartelle in Mexiko somit allmählich die Gestalt an, die sie zu Beginn der heutigen Aus-
einandersetzungen besaß – eine Handvoll von netzwerkförmigen Organisationen, die
jeweils über regionale Schwerpunkte verfügen, in denen sie weitreichenden Einfluss auf
Behörden und Politik nehmen können und vielfach einen gewichtigen Wirtschaftsfaktor
darstellen.28 Der Unterschied zur Situation vor der Operation Condor bestand vor allem
in der nun geographisch polyzentrischen Struktur der kriminellen Landschaft, die
bedingt war durch den ökonomischen Schwerpunktwechsel von in relativ wenigen
Regionen selbst produziertem Heroin und Marihuana hin zu aus Kolumbien importier-
tem Kokain sowie später auch zu Amphetaminen. Die Positionierung außerhalb ländli-
Schließlich erlitt die enge Vernetzung von Staat und Kartellen einen endgültigen Bruch
durch das Ende der Einparteienherrschaft der PRI, welches im Jahr 2000 mit der Wahl
von Vicente Fox Quesada zum mexikanischen Präsidenten besiegelt wurde. Bereits
zuvor hatte dessen bürgerlich-konservative Partei PAN die Regierung in einigen nördli-
chen Bundesstaaten übernommen, und in eben diesen Staaten begannen die bisherigen
Gebietskonflikte zu kriegsähnlichen Auseinandersetzungen zu eskalieren. 33 Damit ein-
hergehend kam es zur zunehmenden Militarisierung der Kartellstrukturen: hatte man
zuvor die Exekution von internen Rivalen oder Abtrünnigen zahlenmäßig wenigen Auf-
34 Dieses war und ist von Aufgaben, Ausrüstung und Ausbildung her in etwa zu vergleichen mit dem
deutschen KSK oder den amerikanischen Special Forces.
35 Brands 2009, S. 8.
36 Stewart 2010.
37 Otero 2005.
38 Müller 2006, S. 508f. Bereits 1998 wurde mit der Policía Federal Preventiva (PFP) aus
verschiedenen Polizei- und früheren Armeeeinheiten eine neue Bundespolizeibehörde geschaffen,
die nach einem Professionalisierungsprozess schließlich federführend bei den Operationen gegen die
Kartelle werden sollte.
39 Zitiert bei Quinones 2009, S. 78. McCaffrey ist ehemaliger ‚Drug Czar‘ der amerikanischen
Regierung.
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Im dreiseitigen Konflikt zwischen Streitkräften und Kartellen sowie der Kartelle
untereinander hatte sich der Schwerpunkt mittlerweile auf den Kampf dieser gegen die
Staatsgewalt verlegt – etwa drei Viertel aller Kampfhandlungen sind Regierungsstatis-
tiken zufolge letzterem Typ zuzurechnen.40 Dabei war es den staatlichen Kräften zwar
gelungen, zumindest eines der großen Kartelle zu zerschlagen – namentlich das der
Gebrüder Beltrán Leyva – und drei weitere deutlich zu schwächen. Allerdings sind auch
neue Organisationen entstanden, insbesondere die sogenannte Familia Michoacana
(‚Familie von Michoacán‘), die sich meist durch eine erheblich höhere Gewaltbereit-
schaft auszeichnen und dementsprechend von Bundespolizei und Militär prioritär
bekämpft werden.41 Dies führte wiederum zu Vorwürfen, die PAN-Regierung bevor-
zuge das von Joaquín „El Chapo“ Guzmán Loera geführte Sinaloa-Kartell, um die
Gewalt durch Herstellung einer monopolartigen Situation einzudämmen.42 Derartige
Vorwürfe sind aber in vielen Fällen auch Resultat der äußerst professionellen Infor-
mationskriegsführung mancher Kartelle, die etwa im Bundesstaat Tamaulipas bezahlte
Demonstrationen gegen die Militärpräsenz organisierten.43 Der zuvor nur fallweise
gewalttätig ausartende Ausnahmezustand des Drogenhandels in den Grenzregionen
Mexikos ist nun zu einem permanent eskalierenden bewaffneten Konflikt geworden, der
sich längst nicht mehr auf die geographische Peripherie beschränkt, sondern auch in
urbanen Zentren wie Monterrey stattfindet.
Allgemein kann die organisatorische Struktur des Handels mit illegalen Rauschmitteln
drastisch unterschiedliche Formen annehmen, wobei das Spektrum von lose gekop-
pelten und fallweise kooperierenden Kleingruppen bis hin zu hierarchisch gesteuerten
und geradezu bürokratisch arbeitenden Großunternehmen reicht. Dabei sind alle auf
diesem Markt tätigen Organisationen zumindest potenzielle Gewaltakteure, und zwar
schlicht aufgrund der Tatsache, dass sie ihre Geschäfte gezwungenermaßen unter
Ausschluss des Rechtsweges tätigen und somit im Fall von Zahlungsausfällen und
Ähnlichem eine eigene Erzwingungskapazität benötigen. In mikropolitischer Hinsicht
operieren Drogenhändler gewissermaßen stets in einer Art Ausnahmezustand – sie
müssen Regeln durchsetzen, die keineswegs den politisch gesetzten Normen ent-
sprechen. Die dabei tatsächlich auftauchenden Gewaltformen sind aber primär danach
zu unterscheiden, an welchem Ort in der klandestinen Versorgungskette sie auftau-
chen.44 An der Quelle – also an den Produktionsstätten von Narkotika, die in vielen
40 Bravo/Mercado 2010.
41 Stewart 2010.
42 Burnett/Peñaloza 2010.
43 Castañeda 2009, S. 165.
44 Plausibel wäre natürlich zunächst eine Unterscheidung nach der Art der gehandelten Rauschmittel
(Marihuana, Kokain, Amphetamine, Heroin etc.). Diese wäre aber im hier untersuchten Fall nicht
219
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Fällen wie bei Marihuana, Kokain oder Heroin eine landwirtschaftliche und damit
flächenmäßig ausgedehnte Komponente aufweisen – sind dementsprechend partisanen-
artige,45 also auf quasi-territoriale Kontrolle abzielende Gewaltformen wahrscheinlich,
wie sie etwa im Rahmen der o.g. Operation Condor auftauchten oder heute in
Kolumbien, Afghanistan und umkämpften Regionen Burmas zu beobachten sind.46
Diese können sowohl zwischen Organisationen konkurrierender Produzenten als auch
zwischen diesen und staatlichen oder internationalen Polizei- und Militäreinheiten
auftreten.
Dabei fällt auf, dass der Drogenhandel in solchen Fällen oftmals lediglich eine unter
mehreren Finanzierungsquellen für die ihn beschützenden Kräfte darstellt, deren
Konfliktbereitschaft auf andere, bereits unabhängig von ihrer Finanzierung durch
Narkotika gegebene Faktoren zurückzuführen ist. In fast allen Fällen sind die an der
Quelle, also durch die Herstellung von Drogen oder lediglich ihrer Ausgangsprodukte
zu erzielenden Gewinne vergleichsweise gering (typischerweise zwischen 10 und 20
Prozent des mit dem fertigen Produkt zu erzielenden Umsatzes), 47 so dass eine rein
kommerzielle Motivation von ‚Narco-Insurgenten‘ hier meist auszuschließen ist –
schließlich könnte eine solche auch nicht die in Gebieten wie Afghanistan oder
Kolumbien zu beobachtende und durch ökonomische Kalküle nicht herbeizuführende
Durchhaltefähigkeit der jeweiligen bewaffneten Gruppen erklären.48 Vielmehr dürfte
der durch die Verteidigung von Drogenanbaugebieten bei der dadurch versorgten
Bevölkerung zu erzielende Legitimitätsgewinn eine mitentscheidende Rolle spielen. 49 In
diesen Fällen wäre demnach das Vorhandensein von gewaltsamen Konflikten und die
dadurch entstehenden staatsfreien Gebiete Ursache für das Entstehen von Drogenanbau-
gebieten bzw. von Organisationen, die um diese kämpfen, und nicht umgekehrt.
Einer entgegengesetzten Logik folgen diejenigen Gewaltformen, die am anderen Ende
der Versorgungskette auftauchen, also in den Gegenden, in denen Drogen konsumiert
werden. Diese befinden sich typischerweise in den wohlhabenderen Regionen der
OECD-Welt und verfügen dementsprechend meist über relativ gut funktionierende
Polizei- und Justizorgane, so dass gegenüber dem Drogenhandel von hohem Verfol-
gungsdruck auszugehen ist.50 Unter diesen Umständen ist die Verteilung an den End-
kunden meist in Form kleiner, wenig hierarchisch strukturierter und oft stark fluktu-
ierender Netzwerke organisiert. Diese vermeiden generell den Einsatz von massiver
Gewalt im Sinne von Terrorismus oder Insurgenz – sie wären zu einer koordinierten
weiterführend, da die mexikanischen Kartelle mit praktisch allen gängigen Narkotika handeln und in
ihrem Angebot auch relativ flexibel sind. Vgl. Miró 2003, S.5.
45 Vgl. Schneckener 2006, S. 37.
46 UNODC 2009, S. 33.
47 Decker/Chapman 2008, S. 51, 56.
48 Gutiérrez 2003, S. 21.
49 Felbab-Brown 2009, S. 17.
50 UNODC 2009, S. 17.
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Auseinandersetzung um territoriale Monopole auch kaum in der Lage und würden sich
dadurch einem übergroßen Festnahmerisiko aussetzen. Bei diesen Akteuren sind
schwere, d.h. vor allem bewaffnete Gewaltverbrechen vergleichsweise selten.51 Zur
Sicherstellung der Loyalität untergeordneter Mitglieder dienen anstelle der Gewalt-
drohung in vielen Fällen familiär oder ethnisch verankerte Normen, die häufig die
einzige Option zur langfristigen Etablierung kooperativer Beziehungen darstellen.
Gegenüber staatlichen Organisationen stellt Unauffälligkeit das Hauptziel dar. 52 Damit
entsprechen die kleinteilig vernetzten Akteure des Konsumentengeschäfts am ehesten
dem klassischen Bild der rein kommerziell orientierten und jenseits von unterwelt-
typischen Loyalitätsnormen ideologiefreien Kriminalität. Dieses konnte sich in der
frühen sozialwissenschaftlichen Forschung zu organisierter Kriminalität gewissermaßen
als Leitbild etablieren, welches aber durch die ‚privilegierte‘ Beobachtung der in bereits
relativ weit modernisierten Regionen bestehenden Strukturen – vor allem der ameri-
kanischen und italienischen Mafia – eine gewisse Befangenheit zugunsten ‚ordent-
licher‘, funktional differenzierter Strukturen aufweist.53
An den Grenzübergängen zu den USA, wo die Chance zur Erzielung von Milliarden-
umsätzen durch die Kontrolle der Umschlagplätze für illegale Narkotika besteht, sind
hingegen seit Jahren intensive Gewaltkonflikte zu beobachten.54 Eine für diese Terri-
torialkonflikte typische Gewaltform ist die gezielte Ermordung von auf der Gehaltsliste
des gegnerischen Kartells stehenden Polizei- und Sicherheitsbeamten, um diese durch
von der eigenen Seite zu beeinflussende Personen zu ersetzen und somit die Herrschaft
über die Schmuggelroute zu übernehmen. Obwohl eine Auseinandersetzung mit der
Staatsgewalt nicht intendiert wird, kommt es naturgemäß zu Reaktionen auf die Tötung
von Staatsdienern – und somit zu den bekannten Auseinandersetzungen mit ihrem
angesichts der involvierten Geldsummen und den einfach zu erwerbenden Waffen-
arsenalen inhärenten Eskalationspotenzial.55 Dieses wird zudem noch dadurch verstärkt,
dass der geographische Zugang zum US-Markt über eine relativ geringe Zahl von stark
genutzten Grenzübergängen in den amerikanisch-mexikanischen Zwillingsstädten ver-
läuft – insbesondere Tijuana/San Diego, Nogales/Nogales, Ciudad Juárez/El Paso,
Nuevo Laredo/Laredo, Reynosa/Hidalgo und Matamoros/Brownsville sind von Be-
deutung. Wichtig sind daneben auch bestimmte Hafenstädte wie Acapulco oder Lazaro
Cárdenas als Transitpunkte sowie Städte wie Culiacán in Sinaloa, die bedeutende
Mohn- und Marihuanaanbaugebiete dominieren – letztere Stadt ist außerdem
Herkunftsort vieler Kartellanführer. Im Allgemeinen bilden sich die größten und stabil-
51 Vgl. Heber 2009, S. 18. Hinzu kommt das durch die erheblichen Kosten illegaler Narkotika
verursachte Problem der – unter Umständen gewaltsamen – Beschaffungskriminalität, welches aber
nicht den im Drogenhandel aktiven Organisationen direkt zugerechnet werden kann.
52 Mörbel 1999, S. 47.
53 McMullin 2009, S. 78.
54 Dávila 2009.
55 Pacheco 2009, S. 1032.
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sten Kartelle um einen oder mehrere dieser strategischen Punkte, in denen dieser
ökonomischen Logik folgend auch die blutigsten Konflikte stattfinden, während klei-
nere Organisationen eher taktische Allianzen eingehen und Handlangerdienste ver-
richten.56 Die sowohl quantitative als auch qualitative Eskalation der Gewalt an diesen
Orten wird im ökonomischen Ansatz dann meist mit dem enormen Bedeutungszuwachs
der mexikanischen Drogenroute gegenüber der früher von den großen kolumbianischen
Organisationen genutzten karibischen Route erklärt – so wuchs der über Mexiko
laufende Anteil des in die USA geschmuggelten Kokains von 50 Prozent im Jahr 1991
auf etwa 90 Prozent im Jahr 2004.57 Hinzu kommt, dass aufgrund des demokratischen
Wandels Vereinbarungen der Kartelle mit lokalen Politikern aufgrund deren
Abwählbarkeit zu einer geringeren Haltbarkeit tendierten, und die Bundesregierung der
von 2000 bis 2006 regierenden bürgerlich-konservativen PAN eine deutlich geringere
Toleranz gegenüber jeder Form von Delinquenz zu einem zentralen Thema ihrer Politik
machte, so dass fast gleichzeitig mit dem Wachsen der Profitchancen auch ein
Ansteigen des Verfolgungsdrucks zu erwarten war.58 Die Ungewissheit über die
Verteilung zukünftiger Gewinnmöglichkeiten wird damit zur strukturellen Ursache des
Drogenkriegs erklärt.59
Die ökonomische Erklärung der überbordenden Gewalt beruht somit auf der Vor-
stellung, dass die mexikanischen Kartelle in einer Situation erheblich höherer Gewinn-
erwartungen für die ungewisse Hoffnung auf eine Monopolisierung des Drogenhandels
im Grenzgebiet zu den USA das Risiko einer direkten Konfrontation mit der Staats-
gewalt zu tragen bereit waren – eine Konfrontation, die in früheren Zeiten aus
kommerziellen Motiven stets gemieden wurde.60 Sie hat allen zur Verfügung stehenden
empirischen Indikatoren zufolge extrem negative Konsequenzen für die wirtschaftliche
Situation der involvierten Organisationen. Die Auswirkungen des verstärkten Abfan-
gens von Lieferungen in Mexiko sind schwer zu ermitteln – deutliche Steigerungen des
Straßenpreises in den USA bei gleichzeitig stagnierender Nachfrage lassen allerdings
auf eine erhebliche Angebotsverknappung schließen. Als noch wirksamer könnten sich
die Einschnitte durch das erstmalige dezidierte Vorgehen mexikanischer Behörden
gegen Geldschmuggel und -wäsche erweisen.61 Enorme personelle Verluste werden in
dem Versuch der Zetas offensichtlich, illegale Einwanderer zur Arbeit für ihre Organi-
62 Deren Verweigerung einer Mitarbeit führte zu dem bisher blutigsten Einzelereignis des Drogen -
kriegs, dem Massaker von San Fernando an 72 Migranten aus Süd- und Mittelamerika im
Bundesstaat Tamaulipas. Berichten zufolge greift die Praxis der Zwangsrekrutierung immer mehr
um sich, was auf eine deutliche Schwächung der Kartelle hinweisen würde. Vgl. Gómez 2010.
63 Ravelo 2009, S. 15, 21.
64 Cook 2007, S. 6.
65 Córdova 2010, S. 8f.
66 Ebd., S. 117.
67 Merlos 2008.
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hängige Familienmitglieder und die scheinlegale Peripherie der Kartelle – von denen
einige über enorme Imperien insbesondere im Immobilienbereich, aber auch in ver-
schiedenen Industriebranchen verfügen68 – dürfte die Zahl der indirekt Abhängigen
noch bedeutend höher liegen, wobei die Symbolik und Ästhetik der narcocultura noch
weit über diese hinausreicht und insbesondere in den letzten Jahren geradezu
popkulturelle Anziehungskraft entfaltet. Der hier gemeinte Sinn des Begriffs beschränkt
sich aber auf die lebensweltlichen Praxen und Sinndeutungen, die im spezifischen
Bereich des Drogenhandels in Mexiko zum „Erwerb soziokultureller Identität“
beiträgt.69
Grundsätzlich erfüllt die narcocultura diese identitätsbildende Funktion, indem sie eine
moralisch affirmative, ästhetisch attraktive Beschreibung des Lebensstils im Milieu der
Kartelle erbringt und dabei ein minimales Maß an Erwartungssicherheit in einer
annähernd anarchischen Umwelt generiert sowie vor allem einen positiven Selbstbezug
ermöglicht.70 Ihr typisches Narrativ findet sich in den narcocorridos („Drogen-
schlagern“) – volkstümlichen Musikstücken, die insbesondere in Nordmexiko fast
allgegenwärtig sind – und verläuft meist ungefähr folgendermaßen: Der narco als
archetypischer Vertreter dieser Symbolwelt wird zum „Antihelden“ stilisiert, der es –
aus ärmlichen Verhältnissen stammend – im Drogengeschäft durch Geschick, Glück
und Charisma, vor allem aber durch strikte Loyalität gegenüber seinen Komplizen
sowie durch rücksichtslose Gewalt gegenüber Außenstehenden zu Erfolg bringt. Er ist
gewissermaßen eine subkulturelle Verkörperung des Ausnahmezustands. Die Ver-
folgung durch Behörden, Rivalen und die US-amerikanischen Grenzbehörden erträgt er
gelassen und sieht dabei furchtlos dem (meist frühen) Tod ins Auge. Motiviert wird er
weniger durch Eigennutz, sondern durch die Liebe zu seiner Familie und seinem
Heimatdorf – beide unterstützt er finanziell großzügig – was ihn aber nicht daran
hindert, einen ausgesprochen glamourösen Lebensstil mit zahlreichen Eskapaden zu
führen.71 Die über den Tod hinausgehende Kompensation besteht für ihn in der letzten
Ruhe in einer Grabstättenarchitektur, deren Entfaltung dekadenter Pracht in der
modernen westlichen Welt ohne Beispiel sein dürfte. In dem Mausoleum eines
bedeutenden Kartellchefs, Amado Carrillo Fuentes, werden an seinem Todesdatum
jeden Monats katholische Messen gefeiert.72 Vor allem bei den Anführern der älteren
Generation wird oft von einer enormen Religiosität berichtet, sie manifestierte sich in
den sogenannten narcolimosnas – „Narco-Almosen“: so finanzierte etwa die bereits
erwähnte Familie Arellano Félix in Tijuana ein hervorragend ausgestattetes Gebäude für
ein Priesterseminar. Der Bischof des Bundesstaates Aguascalientes rechtfertigte seiner-
Neben die traditionellen Elemente der narcocultura sind in den letzten Jahren neuartige
Phänomene getreten, die im Kontext mit dem sowohl extensiven als auch intensiven
Anwachsen der Kartellgewalt zu sehen sind. Einige Analysten bezeichnen diesen Pro-
zess als eine Art „Prätorianerrevolte“ der bewaffneten Teilorganisationen der Kartelle,
die sich in mehreren Fällen gegen ihre ursprünglichen Dachorganisationen wandten und
78 Logan/Sullivan 2010.
79 Grayson 2009.
80 Grayson 2009a.
81 Jimenez 2007, S. 17.
82 Gómez 2010a.
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ziellen Gewinn verfolgte und einem basalen Ehrenkodex gehorchte, hin zum unerbitt-
lichen paramilitärischen Kämpfer gegen die Staatsgewalt, der auch terroristische
Gewaltformen nicht scheut. Geblieben ist indes das Phänomen der Inkaufnahme des
eigenen Todes bei Aktionen gegen Konkurrenten und staatliche Kräfte, die von einem
Analysten bereits mit der Todesverachtung nahöstlicher Selbstmordattentäter verglichen
wurde.83 Insofern ist die Rede von „Narco-Terrorismus“ durchaus mehr als lediglich
eine rhetorische Strategie zur Gewinnung von US-amerikanischer finanzieller Unter-
stützung im Kampf gegen die Kartelle.84 Vielmehr erfasst der Begriff durchaus einen
neuen Aspekt sowohl in der Praxis als auch in der Selbstbeschreibung dieser Organi-
sationen. Sie wird auch sichtbar an dem Wandel der Botschaften, die durch die bereits
erwähnten narcomantas verbreitet werden: enthielten diese noch vor einigen Jahren
meist Botschaften, die auf die behaupteten Verfehlungen konkurrierender Gruppen oder
einzelner Mitglieder der eigenen Organisation hinwiesen, so sind neben diese in letzter
Zeit Botschaften getreten, die regionale Herrschaftsansprüche gegenüber der Staats-
gewalt geltend machen und zum Teil explizite politische Entscheidungen einfordern. 85
In einem Text, dessen Veröffentlichung in einer Regionalzeitung durch Gewalt-
drohungen erpresst wurde, wurde ein „Pakt“ der Regierung mit der Kartellen für
notwendig erklärt.86
Mit diesem explizit gegen die Legitimität der mexikanischen Staatsgewalt gerichteten
Fokus einiger Kartelle erscheint eine Erklärung der terroristischen Gewaltformen durch
Synmorphie – also eine zweckfreie, nicht strukturell bedingte, reine Imitation von
zeitgleich etwa im Nahen Osten auftauchenden Gewaltformen – als eher zweifelhaft.87
Eher dürfte es sich um eine Reaktion auf den strukturellen Wandel der mexikanischen
Gesellschaft handeln, der die vormalige Integration der Kartelle in ökonomische und
vor allem politische Strukturen prekär werden lässt. In der „postrevolutionären“ Epoche
– also unter dem Einparteienregime der PRI – kam dem politischen System Mexikos
jenseits des Treffens kollektiv bindender Entscheidungen eine „Hyperfunktion“ der
Garantie der übergreifenden sozialen Ordnung im Sinne der Bestimmung des ökono-
mischen Status von Gruppen und Personen sowie der Entscheidung jeglicher sozialer
Konflikte zu.88 Diese Dominanz politischer Entscheidungen insbesondere gegenüber
rechtlichen Codierungen lässt sich mit Marcelo Neves als typisches Phänomen der
„peripheren Moderne“ beschreiben, in dem an die Stelle von für die „zentrale Moderne“
typische Form der funktionalen Differenzierung – und dementsprechend der rechtlich
vermittelten und dementsprechend generalisierten Erwartungen und Erwartungserwar-
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Die Humanisierung des internationalen Rechts
aus der Perspektive des Ausnahmezustands
Die Globalisierung2 des Kriegs gegen den Terror, der Wirtschaftskrisen, der Massenar-
beitslosigkeit, der Umweltschäden wird häufig als Ausnahmezustand bezeichnet. Heute
ist es zum Gemeinplatz geworden, vom wirtschaftlichen Ausnahmezustand,3 vom glo-
balen Ausnahmezustand, vom ständigen Ausnahmezustand,4 vom universellen Kriegs-
zustand,5 vom ständigen Bürgerkrieg,6 etc. zu reden. Durch die kontinuierlichen wirt-
schaftlichen, humanitären und ökologischen Krisen und die Häufigkeit der Kriege und
terroristischen Aktionen sind die Grenzen zwischen Normalität und Anormalität durch-
lässig geworden. Das Verblassen der Linien, welche die Grenzen zwischen Nomos und
Gesetzlosigkeit, zwischen Regulärem und Irregulärem, zwischen Vorhersehbarem und
Unvorhersehbarem zu ziehen fähig wären, offenbaren tiefgreifende Veränderungen in
der globalen Politik. Diesem Eindruck – dessen Beschreibung das Bild einer Welt proji-
ziert, der es an einem Minimum an Normalität, Ordnung und Stabilität fehlt – steht ein
Szenario gegenüber, das von den Ideen einer humanistischen Quelle des internationalen
Rechts entworfen wird. Ihre zentrale These besagt, dass das Auftreten neuer Akteure
und neuer Normen auf der Bühne der Weltpolitik die Bewegung der Humanisierung des
internationalen Rechts und den Prozess der Internationalisierung der Menschenrechte
angestoßen habe.
Um diese Veränderungen zu untersuchen sollen im Folgenden diese beiden Denkrich-
tungen miteinander zu konfrontieren. Deren erste wird von Autoren vertreten, deren Ar-
beiten sich Gedanken über die Ausnahme machen und diesen Begriff anwenden, um die
Dynamik des Kampfes um die Errichtung einer Ordnung in der Weltpolitik zu verste-
hen. Diese Denkrichtung nenne ich „Ausnahmetheorie”.7 Sie wird, unter anderen, von
die Einführung der moralischen Perspektive einen Konfliktkatalysator darstellt: wer als
bösartig eingeschätzt wird, ist es immer in irgendeiner Beziehung und nie nur in einigen
Augenblicken. Da es sich um einen Vereinfachungsprozess handelt, verallgemeinert die
Moral den Konflikt, da für sie die symbolisch verallgemeinerte Form des Guten und des
Bösen genügt, unabhängig von der Komplexität der zur Debatte stehenden Person.11
8 Ungeachtet der unterschiedlichen Nuancen im Denken dieser Autoren, gründen sie alle das Recht
auf universellen moralischen Werten und leugnen den unvernünftigen, agressiven und unergründli-
chen Charakter des Menschen.
9 Habermas 2011, S. 22.
10 Kant 2004, S. 65f.
11 Luhmann 2010, S. 53.
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Vom Standpunkt der Ausnahmetheoretiker aus gesehen ist das moralische Fundament,
auf dem die Theorie der Humanisierung des internationalen Rechts gründet, die „Hefe“,
die die Intensität der Konflikte übermäßig steigern und den Andern seiner menschlichen
Natur oder seines alter egos berauben kann. So gesehen, steht hinter der universalisie-
renden Denkrichtung der Menschenrechte die Unnachgiebigkeit in Bezug auf den Un-
terschied und den Ausschluss der Qualität des Menschlichen von den biologischen Le-
bewesen, deren gegensätzliche Stimmen „ein neues und wahres internationales Recht
der Menschheit“ ablehnen.12 Deshalb muss jede Art der Verleugnung wahrer universel-
ler moralischer Werte13 mit aller Schärfe kriminalisiert und überwunden werden. Je
mehr man also die Bewegung der Internationalisierung der Menschenrechte und die
Humanisierung des internationalen Rechts ausweitet, umso mehr vergrößern und ver-
schärfen sich die Gegensätze. Deshalb dreht sich die aktuelle Debatte im Bereich der
Weltpolitik um das Problem der humanitären Intervention, deren theoretische Grundla-
ge auf der Vorstellung des in einem System universeller moralischer Werte verankerten
Rechts beruht. Die militärische Intervention, die sich euphemistisch als „humanitär“
ausgibt, erfolgt in zunehmendem Masse ohne UN-Mandat, was einem Ausschluss der
Einrichtungen ihrer eigenen Charta gleichkommt. Ihre Anwendung stellt die Aufhebung
der grundlegendsten Normen, die auf dem Prinzip der Nicht-Intervention in nationalen
Angelegenheiten der UNO-Mitgliedstaaten gründen. Der Ausnahmezustand, dem die
Normen der Charta unterworfen werden, beruft sich auf ein absolutes moralisches Fun-
dament: die Rettung der Menschheit.
Aus humanistischer Perspektive entzieht sich die militärische Aktion zur Rettung der
Menschenrechte jeder Diskussion, vor allem wenn es Anzeichen für einen Genozid, für
Verbrechen gegen die Menschheit und für Kriegs- und Aggressionsverbrechen gibt (Ar-
tikel 5 des Römischen Statuts des Internationalen Gerichtshofs). Vielen gilt der Minder-
heitenentscheid des Sicherheitsrats14 als letzter Garant zur Wahrung der grundlegends-
ten Rechte der Menschheit. Die Ausnahmetheoretiker wiederum vertreten die Auffas-
sung, dass eine solche Aktion nur von Ländern unternommen werden kann, die die Un-
terstützung der großen Atommächte genießen, vor allem der imperialen Souveränität
der USA, welche seit der Übernahme einer universalen Interpretation der Monroe-
Doktrin jegliche Frage der Weltpolitik als innenpolitische Angelegenheit betrachten.
Die Erosion des westfälischen Systems, die Umwandlung des Staatenkrieges in einen
Weltbürgerkrieg, die Verwischung der Unterscheidung zwischen Zivilem und Militäri-
Im Fortgang unserer Überlegung müssen wir natürlich von der UNO sprechen, der globalen
Organisation, der die Aufgabe zukommt, den Frieden und die Weltordnung zu sichern.
Doch wir sind uns bewusst, dass die UNO nichts anderes ist als der Reflex der bestehenden
Ordnung und leider auch der Unordnung. Die UNO konstituiert nicht. Wie wir sehen, tut
sie nichts anderes, als jede Wendung in der Entwicklung des kalten Krieges nachzuvollzie-
Wenn die Charta tatsächlich, wie Habermas behauptet, eine „Weltverfassung“17 dar-
stellt, ist sie tatsächlich „nichts anderes als der Reflex der bestehenden Ordnung und
leider auch der Unordnung“. Entsprechend der Hauptrolle, die die Regierung der USA
in der heutigen Weltordnung spielt, ist sie als Trägerin der Supersouveränität in der La-
ge, die „Weltverfassung“ außer Kraft zu setzen. Diese Vorstellung von Souveränität ist
nicht dieselbe, die Schmitt ihr zuwies, als er sagte: „Souverän ist, wer über den Aus-
nahmezustand entscheidend“.18 Obwohl Schmitt die semantische Tiefe des Begriffs un-
tersucht und sogar eine Art Souveränität verteidigt hatte, die in der Lage wäre, die herr-
schende Rechtsordnung außer Kraft zu setzen, um sie zu schützen – z. B. im Fall einer
kommissarischen Diktatur –, hat er doch eine imperialistische Souveränität ebenso we-
nig verteidigt wie das Entscheidungsmonopol über die Ausnahme. Indem er aber die
Entmachtung des Staates, die Asymmetrie der Konflikte und die Existenz einer Weltpo-
lizei und eines totalen Bürgerkriegs ankündigte, hat er den Übergang von der provisori-
schen zur permanenten Ausnahme vorhergesehen. In diesem Sinne jedoch verwenden
die USA die Souveränität, also die Entscheidung über den Ausnahmezustand, nicht,
„um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit zu bewahren oder
wiederherzustellen“ – weder vom Standpunkt des rechtskonstituierenden Subjekts aus
gesehen noch von jenem, dessen Übermacht ihn in die Lage versetzt, das Recht außer
Kraft zu setzen. Der Unterschied zur Idee der Ausnahme in der kommissarischen Dikta-
tur besteht darin, die Aufhebung der internationalen Rechtsordnung weder an eine kon-
krete Situation noch an ein bestimmtes Ziel zu binden. Der Ausnahmezustand verliert
somit seinen wichtigsten Zweck, der dem Schutz der bedrohten Rechtsordnung gilt. Den
Ausnahmetheoretikern zufolge war der vorübergehende oder provisorische Ausnahme-
zustand nur in einem zwischenstaatlichen System möglich, da kein Staat eine derart
starke Souveränität besaß, die ihn in die Lage versetzt hätte, die internationale Ordnung
aufzuheben. Die staatlichen Souveränitäten beschränkten sich vielmehr gegenseitig
durch ihre vielseitigen Beziehungen im Bereich der Weltpolitik. So gesehen, konnte nur
eine imperialistische Souveränität, groß genug, um alle anderen staatlichen Einheiten an
Größe und Kraft zu übertrumpfen, die Weltordnung außer Kraft setzen, um eine neue
Ordnung und Ortung zu konstituieren. Die fortschreitende Monopolisierung des Aus-
nahmezustandes durch eine Macht geht einher mit der Dezentralisierung der Mächte der
staatlichen Einheiten internationaler Politik.
In der gegenwärtigen Weltordnung befindet sich die globale Souveränität sowohl inner-
halb als auch außerhalb der internationalen Rechtsordnung und kann die internationalen
Wir befinden uns in einem ideologischen Klima, das die Forderungen der „nationalen Sou-
veränität“ zugunsten der Forderungen der „Globalität“ schwächt, das die Völkerrechte zu-
gunsten der Rechte des Individuums verdunkelt und in dem die Freiheits- und Klassen-
kämpfe als abgeschlossene Phänomene, als obsolete Begriffe erscheinen. An die Stelle der
„Befreiung“ setzt man nun „Anschluss“ oder „Einschluss“ und an die Stelle des sozialen
Kampfes die humanitäre oder unternehmerische Solidarität.22
Die übernationalen Organisationen oder internationalen Gerichtshöfe sind von den Staa-
ten abhängig, um grundlegende Rechte garantieren zu können. Alles andere als trivial
19 Münkler 2005, S. 8.
20 Siehe Schmitt 1995, S. 521.
21 Siehe Gómez 2008, S. 267-308.
22 Casanova 2002, S. 46
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ist der Fall der Palästinenser, deren Kampf um die internationale Anerkennung ihres
Staates – kürzlich von der UNO anerkannt, ohne Unterstützung jedoch der USA und Is-
raels – offenbart das kollektive Bewusstsein, wonach es ohne ein Minimum an Souve-
ränität nicht möglich ist, den eigenen Mitgliedern ein Recht auf Leben zuzusichern.
Wendet man die Ausnahmetheorie auf die Weltpolitik an, so wird ersichtlich, dass der
dem Individuum als Rechtssubjekt der internationalen Beziehungen eingeräumte Vor-
rang – von vielen Vertretern der Humanisierung und Internationalisierung des internati-
onalen Rechts bereits als erwiesene Tatsache gefeiert – seine Schutzlosigkeit gegenüber
der Struktur der konkreten Wirklichkeit fördert, die gekennzeichnet ist von der Dyna-
mik der Machtverhältnisse, deren gegenwärtiger Ausdruck einer fortschreitenden
Asymmetrie der Antagonismen entspricht.
Räumlich betrachtet hat die permanente Ausnahme das Nicht-Verständnis der Raumli-
nien zur Folge, deren Grenzen den räumlichen Vorstellungen von innen und außen, In-
land und Ausland, oben und unten, Sichtbarkeit verleihen. Das Verwischen der räumli-
chen Grenzlinien ist in der Sicht der Ausnahmetheorie Indiz und Faktor der Ausweitung
der Konflikte, die ihre räumliche Hegung mit dem Zerfall der Territorialstaaten einbü-
ßen. So meint Negri:
Im Laufe dieser modernen Epoche wurde die internationale Bühne von einer Reihe nationa-
ler, souveräner Mächte beherrscht, die gegenseitig ihre eigene Souveränität einschränkten
und die über die Nationen und die ihnen untergeordneten Regionen herrschten.23
Jede Veränderung des Geschichtsbegriffs bewirkt auch eine Veränderung in der Vor-
stellung des Raums, und heute sehen wir uns mit der Wahrnehmung der Beschleuni-
gung der historischen Zeit konfrontiert, die unter anderem durch die Erosion des Erfah-
rungsraumes und der kleiner werdenden Lücke zwischen Denken und Handeln verur-
sacht wird. Eine andere Perspektive der zeitlichen Struktur, die in einem Bereich der
Gleichzeitigkeiten gegenwärtig ist24 und von den elektronischen Medien konfiguriert
wird, produziert einen Überschuss an Erfahrungs- und Handlungsmöglichkeiten, die in
der Zeit nicht abnehmen. In diesem Sinne könnte die permanente Ausnahme im Licht
eines „neuen Topos der zeitlichen Lähmung und der Gleichzeitigkeiten“ gedacht wer-
den.25 Es ist bemerkenswert, wie „zu Beginn des 21. Jahrhunderts sich die Zukunft kei-
Die Organisation der Vereinten Nationen hat ihrerseits ihren Beitrag geleistet, damit in die-
sem ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die Konsolidierung des Prinzips der universellen
Gerichtsbarkeit inmitten der Ausweitung der internationalen rechtlichen Funktion Wirk-
lichkeit werde, dies im Bestreben, das antike Ideal der Gerechtigkeit auf internationaler
Ebene des Rechts zu verwirklichen26.
Weitere Einwände richten sich nicht bloß gegen ein Weltreich, sondern gegen jede Art von
Weltstaat. Sie betonen seine Bürgerferne, ferner seine Nichtregierbarkeit oder aber die Ge-
fahr einer Überbürokratisierung.27
Die Ausnahme nimmt als Thema einen zentralen Platz im Denken Carl Schmitts ein.
Schon in seinen ersten Schriften taucht die Vorstellung des Ausnahmezustandes im
Rahmen seiner Überlegungen zur Rechtstheorie und Rechtspraxis auf. Die Rolle, die die
Ausnahme in Schmitts Denken einnimmt,28 ist untrennbar verbunden mit der Vorstel-
lung einer konkreten Wirklichkeit. Der Ausnahmebegriff bei Carl Schmitt weist drei
grundlegende Aspekte auf, deren Gehalt die Erkenntnistheorie, die Ontologie und die
Anthropologie betrifft. Die drei Inhalte sind aufs Innigste miteinander verknüpft. Zu-
nächst also gilt es allerdings, den erkenntnistheoretischen Sinn herauszuarbeiten, um ihn
dann mit dem ontologischen und anthropologischen Aspekt in Verbindung zu setzen.
Wie der Autor selbst sagt, entspricht die Ausnahme einem intellektuellen Konstrukt,29
dessen Zweck der Zugriff auf die Wirklichkeit von einer privilegierten Perspektive aus
ist. In der philosophisch-politischen Literatur ist es üblich, einen privilegierten Platz zu
finden, von dem aus die politischen Umstände einer bestimmten Wirklichkeit mit grö-
ßerer Genauigkeit untersucht werden. Ein Beispiel dafür finden wir in Hobbes‘ Behe-
moth, in dem er von dem Platz spricht, von dem aus man eine privilegierte Perspektive
habe, um die Welt und die Handlungen der Menschen im englischen Bürgerkrieg zu be-
obachten. Wie Hobbes sagt, handelt es sich um einen Standpunkt
„[...] as from the Devil´s Mountain, should have looked upon the world and observed the
actions of men, especially in England, might have had a prospect of all kinds of injustice,
and of all kinds of folly [...]“.30
Der außerordentliche Blickpunkt kehrt die übliche Art und Weise, die Wirklichkeit des
politischen und sozialen Lebens zu verstehen, um. Indem er die Einhaltung ihrer Bedin-
gungen untersucht, welche des Regulären und der Stabilität bedürfen, stellt er fest, dass
die Bedingungen der Erkenntnis sich nicht an der gewöhnlichen, mit einer gewissen
Routine behafteten Erfahrung orientieren können. Das Regelhafte des politischen und
sozialen Lebens stellt ein erkenntnistheoretisches Hindernis dar, denn in der Normalität
Mir scheint die Frage nach der Normalität oder Abnormalität der konkreten Situation von
grundlegender Bedeutung zu sein. Wer davon ausgeht, dass ein abnormer Zustand vorliegt
– sei es nun, dass er die Welt in einer radikalen Abnormität erblickt, sei es, dass er nur eine
besondere Situation für Abnormität hält –, wird das Problem von Politik, Moral und Recht
anders lösen, als wer von ihrer prinzipiellen, nur durch kleine Störungen getrübten Norma-
lität überzeugt ist. (...) Aus der Ausnahme der abnormen Situation ergeben sich besonders
geartete, dezisionistische Konsequenzen, ergibt sich ein Sinn für Durchbrechung, für eine,
oberflächlicheweise Irrationalität (...)31.
Die erkenntnistheoretische Grundlage für das Erkennen der Faktoren, die in der Lage
sind, die Fassade des regulären sozialen Lebens zu errichten, hängt vom Ausnahmefall
oder vom extremen Blickpunkt ab. Andernfalls verfiele man der Illusion der
Immanenzdarstellungen, die eine selbstgeschaffene Regelhaftigkeit und Kontinuität im
Fluss der Lebensereignisse von universeller Gültigkeit voraussetzen. Die Extrem- oder
Grenzsituation und die Erkenntniskritik auszuschließen, würde bedeuten, an der Fassade
der Ereignisse stehenzubleiben, hieße, an der Oberflächlichkeit des regulären Flusses
des politischen und sozialen Lebens hängenzubleiben. Die Perspektive der Ausnahme
ist ein heuristisches Werkzeug, mit dessen Hilfe der Beobachter die Oberfläche der er-
lebten Wirklichkeit durchbricht, um den Untergrund, auf welchem ihre Schaffungsbe-
dingungen beruhen, von einem radikalen Standpunkt aus zu begreifen. Deshalb privile-
giert die erkenntnistheoretische Perspektive der Ausnahme immer den Blick, der sich
als fähig erweist, die Immanenzdarstellungen der Wirklichkeit, deren Ontologie immer
mit dem Regelhaften, mit der Selbstkontrolle ausgestattet ist, zu übersteigen. Die Er-
kenntnistheorie, die in die Falle der Immanenzdarstellungen der Wirklichkeit tappt,
31 Schmitt 1994.
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schließt immer die Möglichkeit aus, die politischen Bedingungen zu erkennen, die das
Funktionieren der untersuchten Wirklichkeit ermöglichen.
Hier stoßen wir auf eine ontologische Vorstellung der Wirklichkeit, deren Struktur un-
bestimmt, kontingent und zwischen den Dimensionen des Sollens und des Seins, zwi-
schen Gültigkeit und Faktizität, zwischen Abstraktem und Konkretem geteilt ist. Der er-
kenntnistheoretische Charakter der Ausnahme verlangt nach einer Methode, welche es
erlaubt, die gewöhnliche Wirklichkeit zu verzerren, um über das Intellektuelle eine
Grenzsituation zu erschaffen. Schmitt zufolge wäre dies der Weg, um die kontingenten
Elemente, die konkrete Ausnahme hervorzutreiben, die die kollektive Existenz be-
stimmt. Die Ausnahme wird so zu einem „besonders entscheidenden Sinn, der den Kern
der Dinge offenbart“.32 Die Ausnahme nimmt damit einen erkenntnistheoretischen Cha-
rakter an, der die konkrete Wirklichkeit vom radikalen Blickpunkt ihrer politischen
Schaffungs- und Erhaltungsbedingugen aus zu verstehen sucht. Bei Schmitt erlaubt die
Ausnahme die Erkenntnis, dass das ontologische Bild der Wirklichkeit durch ihre Un-
bestimmtheit gekennzeichnet ist, wodurch sie sich der normativen Vernunft entzieht.
Nur mittels der Ausnahme lässt sich die Notwendigkeit einer souveränen Entscheidung
– und nicht die einer unpersönlichen Norm – für die Struktur des politischen und sozia-
len Lebens begreifen.
Die eng mit dem erkenntnistheoretischen und ontologischen Aspekt verbundene anthro-
pologische Frage liegt in Schmitts Kritik in der aufklärerischen Vorstellung des libera-
len Denkens der menschlichen Natur begründet. Schmitt verwirft den Glauben an das
Bild eines freien und vernünftigen Menschen. Seine Anthropologie ist weder pessimis-
tisch noch optimistisch, denn beide Sichtweisen könnten zu einer deterministischen Illu-
sion führen, wonach der vernünftige Mensch nach einem liberalen, nicht interventionis-
tischen Staat verlangt. Das anthropologische Fundament, das dem Denken Schmitts
zugrundeliegt, offenbart einen kontingenten, in gewissem Sinne unvorhersehbaren
Menschen. Das Wissen um den Menschen ist der Wissenschaft nicht gänzlich zugäng-
lich – auch nicht der Neurowissenschaft, die derzeit in Mode ist –, es bleibt immer ein
Bereich des Unvorhersehbaren und des Unvernünftigen, eine existentielle Dimension,
die sich jedem normativen Versuch, die verborgenen Bestimmungen zu ergründen, ent-
zieht. Das anthropologische – in gewissem Masse unergründliche – Fundament der
conditio humana erlaubt es, den Grund zu verstehen, weshalb Schmitts ontologisches
Wirklichkeitsbild von der Unbestimmtheit gekennzeichnet ist. Diese konkrete Wirk-
lichkeit kann nur teilweise erkannt werden – da sie nie auf einen Begriff reduziert wer-
den kann –, wenn die Prämisse des kontingenten und unergründlichen Charakters des
Menschen anerkannt wird. Die Sichtweise der Ausnahme als erkenntnistheoretische
Strategie übernimmt den methodologischen Pessimismus als Erkenntnis des politischen
Lebens, was jedoch nicht bedeutet, dass der Mensch böse sei, sondern nur unzureichend
33 Schmitt schreibt: „Eine geschichtliche Wahrheit dagegen ist nur einmal wahr. Wie oft sollte sie denn
auch wahr sein, da sie nicht ewig wahr sein kann, weil das ihrer Geschichtlichkeit widerspräche? Die
Einmaligkeit der geschichtlichen Wahrheit ist das uralte Arkanum der Ontologie“, Schmitt 1955, S.
153.
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dert. Diese weisen größere semantische Ähnlichkeiten mit den Diktaturen des 20. Jahr-
hunderts auf, da sie einen imperialistischen, permanenten Charakter annehmen und sich
nicht an ein konkretes Resultat in Bezug auf den Schutz der republikanischen Institutio-
nen festlegen lassen.
Die Diktatur wird als Ausnahmezustand interpretiert: Ausnahme in Bezug auf das
Recht, Ausnahme in Bezug auf die Demokratie oder Ausnahme in Bezug auf ein politi-
sches Ideal. Die Behauptung, die Diktatur sei eine Ausnahme in Bezug auf eine Norm,
bedeutet nicht, dass sie als zufällige Ausnahme irgendeiner Norm begriffen wird, denn
dies wäre offensichtlich ein willkürliches Dispositiv. Die Diktatur ist eine Ausnahme in
Bezug auf jene Norm, die sie wiederherstellen will, und deshalb ist sie direkt an einen
Zweck gebunden, den sie verwirklichen will, wie z.B. eine Ordnung, die es wiederher-
zustellen gilt, das Recht also zur Einsetzung, das aber, sobald es verwirklicht ist, über-
flüssig wird. Die Diktatur ist kein Zweck an sich, ihr Zweck besteht vielmehr darin, eine
normale Situation zu schaffen.34 Ihre Essenz besteht demnach darin, das zu leugnen,
was sie einzusetzen gedenkt. Es gilt daher, das herrschende Recht zu leugnen (das Recht
beschränkt sich nicht auf die juristischen Normen der herrschenden Ordnung), um das
Recht einzusetzen. Die Diktatur macht die grundlegende Unterscheidung noch verständ-
licher, die Schmitt bereits in seinen ersten Arbeiten getroffen hatte: die Unterscheidung
von Rechtsnorm und Rechtsverwirklichung. Nur ausgehend von dieser Unterscheidung
kann die Diktatur begriffen werden, deren Merkmal darin besteht, dass ihre Verleug-
nung der herrschenden juristischen Normen nicht einer Verleugnung des Rechts gleich-
kommt, denn ihr Zweck besteht darin, dieses zu schützen. Wer die Rechtmäßigkeit im
Moment der Rechtsverwirklichung verleugnet, verleugnet auch die Diktatur als juristi-
sche Institution.
Der paradoxe Charakter der Diktatur zeigt, dass ihr Wesen in der Verleugnung des
Rechts zur Einsetzung des Rechts besteht. Zu behaupten, dass eine gewisse Verleug-
nung des Rechts praktiziert wird, um eine Ordnung wiederherzustellen oder einzuset-
zen, bedeutet nicht, ihr eine juristische Legitimität zuzuschreiben, was von der Diktatur
jedoch verlangt wird, da ihre Absicht ja darin besteht, die Rechtsnormen zu leugnen, um
das Recht zu verwirklichen. Diese Notwendigkeit ergibt sich in einer Grenzsituation, in
der die Rechtsnormen sich mit ihrer Ohnmacht konfrontiert sehen und zu ihrer Durch-
setzung der exekutiven Macht des Staates bedürfen, um sie angesichts konkreter Um-
stände einzusetzen und die bedrohte Rechtsordnung wiederherzustellen. Das Problem
besteht nun darin zu wissen, wann eine solche Situation vorliegt. Die Legitimität ergibt
sich aus der Anwesenheit einer höchsten Macht, die den Ausnahmezustand anerkennt
und folglich die Diktatur bewilligt: abstrakt ausgedrückt, reduziert sich das Problem der
Diktatur auf die konkrete Ausnahme.
Schmitt beginnt seine Schrift Der Begriff des Politischen mit der Aussage: „Der Begriff
des Staates setzt den des Politischen voraus“.37 Diese Aussage deckt sich mit jener in
der Schrift Politische Theologie, die das erste Kapitel über die Definition der Souveräni-
tät eröffnet: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“38 Die Wurzeln
der Unterscheidung zwischen dem Politischen und dem Staatlichen finden sich in der
Abhandlung Der Wert des Staates aus dem Jahre 1914, in der Kritik am Positivismus,
welcher die Macht mit der juristischen Ordnung gleichsetzte. In Die Diktatur (1921)
zeigte Schmitt bereits auf, dass die Aufhebung der normalen juristischen Ordnung nicht
die Eliminierung der Autorität des Staates bedeutete, der weiterhin regierungsfähig
35 Schmitt 1994.
36 Benoist 2007, S. 113.
37 Schmitt 2002b, S. 20.
38 Schmitt 2004b, S. 13.
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blieb, um die Ordnung wiederherzustellen. Die Doktrin der Souveränität lehrte, dass die
konkrete Bedrohung der Normen einer juristischen Ordnung eine Unterscheidung zwi-
schen Rechtsnormen und Normen zur Rechtsverwirklichung erforderte. Angesichts der
Gefahr einer Auflösung der Rechtsordnung des Staates ist es notwendig, die Rechts-
normen außer Kraft zu setzen, um das dem Ideal der eigenen Normen zugehörige Recht
zu verwirklichen.
Die Loslösung des Ideals der Rechtsnormen von ihrer Verwirklichung erlaubt es, das
Recht aufgrund der souveränen Macht zu verwirklichen, die nicht illegitim agiert, da sie
ihre Legitimität von der Rechtsverwirklichung bezieht. Die Rechtsverwirklichung, eine
Aufgabe, zu deren Ausführung sich das normative Recht als unfähig erweist, wäre also
ein Attribut des Subjekts der Souveränität, das nicht persönliche Interessen verfolgt,
sondern die Rechtsidee, dessen Absicht die Bewahrung der Rechtsordnung ist. Ist das
Ziel der Rechtsnormen erreicht, müsste der Souverän seine Macht abgeben, andernfalls
verwandelte er sich in einen Tyrannen:
Eine Diktatur, die sich nicht abhängig macht von dem einer normativen Vorstellung ent-
sprechenden, aber konkret herbeizuführenden Erfolg, die demnach nicht den Zweck hat,
sich selbst überflüssig zu machen, ist ein beliebiger Despotismus.39
In Deutschland beschleunigt sich der legislative Prozess nach 1914, mit dem Krieg und in
der Nachkriegszeit, mit der Inflation usw. immer mehr, und die Zeit, die dem Inkrafttreten
der Normen gegeben ist, wird immer kürzer. Damit verändert sich der staatliche Rechtspo-
sitivismus in seiner Substanz: er wird zu einer legislativen Maschine, die das Produktions-
tempo in unvorstellbarem Ausmaß erhöht. Die Vorstellung des an die Vergangenheit ge-
bundenen Gesetzes und des noch vom Gesetzgeber des 19. Jahrhunderts geführten Feder-
striches, der jedoch schon in der Lage war, ganze Bibliotheken auszulöschen, müssen dem
‚motorisierten Gesetz‘, dem Dekret, den Übergangsregelungen und jeder elastischen Form
des Gesetzes weichen. Die Beschleunigung und der Kontrollverlust des allmächtigen Ge-
setzes offenbaren dessen Unterwerfung unter die faktische Befehlsgewalt.45
Aber mit der Motorisierung des Gesetzes zur bloßen Verordnung war der Höhepunkt der
Vereinfachungen und Beschleunigungen noch nicht erreicht. Neue Beschleunigungen erga-
ben sich aus der Marktordnung und der staatlichen Lenkung der Wirtschaft […].46
Der Begriff ‚internationale Menschenrechte‘ ist ein Sprachcode für eine – kontinuierlich
wachsende und sich ausbreitende – Reihe verschiedener Initiativen: a) ein Angriff auf die
übliche Vorstellung der staatlichen Souveränität; b) die Ausarbeitung einer Agenda für eine
globale Politik; [...].
In einer etwas weiteren Dimension befinden wir uns inmitten eines historischen und juris-
tisch revolutionären Prozesses der Rekonstruktion eines neuen Paradigmas im Internationa-
len Öffentlichen Recht, das ganz eindeutig seine alte, lediglich zwischenstaatliche und heu-
te völlig überwundene Dimension übersteigt.60
Der auf das Sollen reduzierte Idealismus führt zur triumphalen Behauptung:
Im neuen jus gentium des 21. Jahrhunderts taucht der Mensch als Subjekt jener Rechte auf,
die direkt dem Internationalen Recht entspringen, und mit der Fähigkeit ausgestattet, sie
einzufordern. Ich erlaube mir, diese breite Evolution als Rekonstruktion des jus gentium zu
bezeichnen, entsprechend der recta ratio, als ein neues und wahres universelles Recht der
Menschheit. Aufgrund seiner Humanisierung und Universalisierung beschäftigt sich das in-
ternationale Recht nun direkter mit der Identifizierung und Verwirklichung der allgemeinen
höheren Werte und Ziele, die die Menschheit als Ganzes betreffen. Zu diesem historischen
Prozess haben sowohl der Aufstieg des Internationalen Rechts der Menschenrechte als auch
das Recht der Internationalen Organisationen entscheidend beigetragen.61
Das „neue“ jus gentium jedoch exhumierte den Begriff des gerechten Krieges, und viele
Vertreter der Menschenrechte begannen, diesen zu verteidigen. In Bezug auf die
humanitäre Intervention wird behauptet: “This doctrine was greatly misused in the past
and frequently served as pretext for the occupation or invasion of weaker countries“.62
Die Analyse des Einsatzes der humanitären Intervention zeigt, dass diese Doktrin nicht
nur in der Vergangenheit missbraucht wurde, sondern auch weiterhin unter dem Vor-
wand der Verteidigung der Menschenrechte verwendet wird, um die Interessen mächti-
ger Staaten zu verteidigen. Regelmäßig wird die Doktrin der Intervention vom moder-
nen oder zeitgenössischen Imperialismus mit dem zivilisatorischen oder humanitären
Argument angewandt, wobei diese immer mit einer absoluten, als Axiom behandelten
Moral gerechtfertigt wird. Es ist kein Zufall, dass der Internationale Strafgerichtshof
seine Urteile nur gegen Regierende und Funktionäre schwacher Länder ausspricht. Der
Der Sicherheitsrat stellt fest, ob eine Bedrohung oder ein Bruch des Friedens oder eine An-
griffshandlung vorliegt; er gibt Empfehlungen ab oder beschließt, welche Maßnahmen auf
Grund der Artikel 41 und 42 zu treffen sind, um den Weltfrieden und die internationale Si-
cherheit zu wahren oder wiederherzustellen.
Wer das Monopol über die Menschenrechte besitzt, besitzt auch die Kontrolle über die
neue Weltordnung, da sie es
[…] selber sind, die definieren, interpretieren und anwenden. Sie entscheiden, wann etwas
Krieg ist oder ein friedliches Mittel internationaler Politik, ein friedliches Mittel zur Auf-
rechterhaltung der Ordnung und Sicherheit in einem Staat, der selber dazu nicht imstande
ist, zum Schutze des Lebens und des Privateigentums, überhaupt zur Pazifizierung der Er-
de.63
Artikel 39 wurde in den Entscheidungen des Rates zu den Kurden und anderen zivilen
Gruppierungen im Irak, in Ex-Jugoslawien, Haiti, Sierra Leone und Osttimor angerufen.
Because the resolutions authorizing these measures are ambiguous in terms of the legal
norms and factual considerations giving rise to them, it may be premature to assert that the
Security Council has adopted a modern version of the collective humanitarian intervention.
Hier müsste man zuallererst die notwendigen Reformen der oligarchischen Strukturen
der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates diskutieren, unter denen sich der Hauptak-
teur der internationalen Politik befindet. Die USA sind nicht nur der größte Geldgeber,
sondern auch die größte Streitmacht und Rekordhalter der Menschenrechtsverletzungen.
Tatsächlich ist die Situation noch ernster, denn die oligarchische Struktur des Rates, zu
dessen ständigen Mitgliedern die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges zählen, ver-
dunkelt die imperialistische Souveränität Nordamerikas:
Nevertheless, the doctrine of humanitarian intervention was the first to give expression to
the proposition that there were some limits to the freedom states enjoyed under internation-
al law in dealing with their own nationals. Contemporary arguments about the rights of in-
ternational organizations or groups of states to use the force, if necessary, to put an end to
Die Souveränität ist direkt mit der Idee der Intervention verbunden. So haben die USA
unter Zuhilfenahme der Monroe-Doktrin eine defensive Expansion in eine imperialisti-
sche Expansion und auch das Prinzip der Nichtintervention in ein Instrument der andau-
ernden Intervention verwandelt.65 Obwohl die Humanisten des gegenwärtigen internati-
onalen Rechts die Nichtreduzierbarkeit des Konflikts in der konkreten Wirklichkeit auf
der Bühne der politischen Beziehungen verleugnen, widersprechen sich ihre Interpreta-
tionen bezüglich der universellen Gültigkeit der Menschenrechte. In der Wahrnehmung
von Celso Lafer,
bedeuten die Menschenrechte als globales Thema im Bereich der Jurisdiktion eines jeden
Staates, dass nur die effektive Sicherstellung der Menschenrechte der Bevölkerung den Re-
gierenden auf internationaler Ebene völlige Legitimität verleiht.66
Die Rekonstruktion der Menschenrechte folgt einer Logik, die sich an der Verleugnung
des Politischen orientiert. Aus ihrer historischen Rekonstruktion werden alle dem Be-
griff der Menschheit zugrundeliegenden Antagonismen ausgeschlossen, deren Gehalt in
ihrem politischen Gebrauch eine binäre Struktur des Ein-/Ausschlusses aufweist und
vom universellen und abstrakten Charakter der Menschheitsidee verdunkelt wird. Der
Inhalt der Rekonstruktion der Menschenrechte wird verstanden als Folge friedlicher Re-
volutionen:
Wenn das Ende des Zweiten Weltkrieges die erste Revolution des Prozesses der Internatio-
nalisierung der Menschenrechte bedeutete und die Schaffung internationaler Überwa-
chungsorgane sowie die Ausarbeitung von Abkommen zum Schutz der Menschenrechte
bewirkte – welche die globalen und regionalen Systeme zum Schutz der Menschenrechte
darstellen –, dann war das Ende des Kalten Krieges aufgrund der Konsolidierung und Be-
kräftigung der Menschenrechte als globales Thema die zweite Revolution im Prozess der
Internationalisierung der Menschenrechte.67
Es ist kurios, wie die rekonstruierende Erzählung der „Revolutionen“ des Internationali-
sierungsprozesses der Menschenrechte von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die
Menschheit begleitet wird. Die historische Erzählung der Rekonstruktion der Men-
schenrechte pflegt diese Kontingenzen oder Situationen zu ignorieren, welche nicht in
eine Erzählung passen, deren Inhalt die entsprechenden Ausnahmesituationen aus-
schließt.
Rückblickend auf das 20. Jahrhundert ergibt sich üblicherweise eine zwiespältige politische
Bilanz. Sicherlich sind bisher noch in keinem Jahrhundert zuvor so viele Menschen Opfer
von Kriegen und Massenvernichtung geworden wie in diesem. Und das, obwohl dieses
64 Buergenthal 2002, S. 4.
65 Schmitt 1994, S. 188.
66 Lafer im Vorwort zu Lindgren Alves’ Buch – apud Piovesan 2012, S. 365.
67 Piovesan 2012, S. 364 (Hervorhebungen durch den Autor).
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Jahrhundert gleichzeitig die weltweite Anerkennung der aufklärerischen Ideen von Men-
schenrechten und politischer Demokratie mit sich brachte – die allerdings noch nicht mit
ihrer politischen Verwirklichung gleichgesetzt werden kann.68
Der polemische und konfliktbeladene Charakter, den die Humanisten des internationa-
len Rechts in den internationalen Beziehungen nicht anerkennen wollen, zeigt sich ein-
deutig, wenn man die Frage nach dem Fundament und dem Wesen der Menschenrechte
angeht. Die von der Grundlegung der Menschenrechte provozierte Kontroverse ist eines
von vielen Indizien, welche die Merkmale ihrer semantischen Struktur in Frage stellen,
so z.B. ihren Anspruch auf Universalität:
Schon immer war die Polemik um das Fundament und das Wesen der Menschenrechte sehr
intensiv: sind die Rechte naturgegeben und eingeboren, sind es positive Rechte, historische
Rechte oder etwa Rechte, die sich von einem bestimmten Moralsystem herleiten lassen?
Diese Fragestellung wird auch in unserer Zeit noch sehr intensiv diskutiert.“69
Es sei hier daran erinnert, dass die Menschenrechte ihren Ursprung im Naturrecht ha-
ben, deren Merkmal der Universalität immer Grund für heftige Konfrontationen gewe-
sen ist, da es sich dabei um ein revolutionäres Recht gehandelt hat, das verwendet wur-
de, um den Status quo anzugreifen. In Wirtschaft und Gesellschaft bemerkt Max Weber
im Kontext seiner Behandlung der Naturrechte und ihrer Typen:
Das Naturrecht ist daher die spezifische Legitimitätsform der revolutionär geschaffenen
Ordnungen. Berufung auf ‚Naturrecht‘ ist immer wieder die Form gewesen, in welcher
Klassen, die sich gegen die bestehende Ordnung auflehnten, ihrem Verlangen nach Rechts-
schöpfung Legitimität verliehen, sofern sie sich nicht auf positive religiöse Normen und
Offenbarungen stützten. Zwar ist jedes Naturrecht seinem gemeinten Sinn nach ‚revolutio-
när‘, derart dass es bestimmten Normen die Berechtigung zuspräche, einer bestehenden
Ordnung gegenüber durch gewaltsames Handeln oder durch passive Renitenz durchgesetzt
zu werden.70
Dieses Zitat zeigt, wie Max Weber den politisch-revolutionären Charakter des Natur-
rechts offenlegt. Man kommt gar nicht umhin, sie von einem politischen Standpunkt aus
zu sehen. Nur so erkennt man ihre historische Struktur, deren Zeitlichkeit den Hand-
lungsverlauf in der Zeit beschränkt und wie die Räumlichkeit sie an einem bestimmten
Ort festmacht. Außerdem begreift man so, dass es nicht möglich ist, ihre Natürlichkeit
zu naturalisieren, denn das Merkmal „natürlich“, das da dem Recht zugeschrieben wird,
beruht auf dem Versuch, ihm eine universelle Substanz zuzuschreiben, deren Funktion
zwar immer den Einschluss der Rechtlosen hervorruft, gleichzeitig aber auch den Aus-
schluss jener bewirkt, deren Eigenheiten nicht ausreichen, um sie unter die menschliche
Natur zu subsumieren.
Das Absolute – und Melville zufolge wurde ein Absolutes in die Menschenrechte einge-
führt – resultiert in einem Unglück für alle, wenn es in die Welt der Politik eingeführt
wird.71
In ihrer Abhandlung über die Aporien der Menschenrechte, untersucht Hannah Arendt
diese vom historisch-geistigen Standpunkt der Menschenrechtserklärungen der zwei
großen Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts. Die Erklärungen, deren Gehalt die
wichtigsten Grundlagen jedes zeitgenössischen Prozesses der Verwirklichung der Men-
schenrechte darstellen, zeigen ihr zufolge zweifelsfrei auf, dass es nicht mehr die göttli-
chen Gesetze und Gewohnheiten sind, sondern die Menschen, die bestimmen was ge-
recht und was ungerecht sei.72 Arendt zufolge hätten sich die Völker in Übereinstim-
mung mit dem Sprachgebrauch des 18. Jahrhunderts von der Aufsicht jeder histori-
schen, sozialen und religiösen Autorität befreit. Diese Form der Emanzipation habe sich
aus einer in einem moralisch-pädagogischen Projekt gründenden Erziehung ergeben, de-
ren Abschluss die Menschheit zur Mündigkeit geführt habe.
Der utopische Charakter der Menschenrechte zeigt sich in der Unmöglichkeit, ihr Ver-
sprechen einzulösen, d.h. ihre Rechte zu garantieren. Einerseits verleugneten sie die so-
zialen Kräfte, die religiösen Mächte und jegliche Form von traditioneller politischer Au-
torität, andererseits konnten die eingeforderten Rechte nur auf den Staat und seine Ver-
fassung zählen:
Es ist bemerkenswert, wie die heutige Rhetorik der Internationalisierung der Menschen-
rechte verspricht, was sie nicht halten kann, was politisch nicht garantiert werden konn-
te, noch jemals garantiert werden kann. Obwohl sich die Expansionsbewegung der
Menschenrechte häufig als friedliche Revolution oder als apolitische Bewegung ausgibt,
kämpft sie verbissen gegen ihren größten Feind, die staatliche Souveränität, deren Be-
deutung sie auf einen Handlungs- und Entscheidungsraum zur Verteidigung egoisti-
scher, voluntaristischer Interessen, die die Menschenrechte verletzen, reduziert. Das Pa-
radox beruht also in der Tatsache, dass die Bewegung viel stärker als jede andere über-
nationale Organisation von der staatlichen Souveränität zur effektiven Sicherstellung ih-
rer Rechte abhängt. Obwohl die Verfechter der Humanisierung des internationalen
Rechts sogar schon den Untergang der Staaten proklamiert haben, gelingt es ihnen
nicht, die Rechte ohne Appelle an die Staaten zu schützen, da diese die Hauptakteure
auf der Bühne der Weltpolitik sind, ohne die es keinen Schutz der zivilen, politischen,
sozialen, ökologischen und aller anderen Rechte gibt. Der grundlegende Punkt, auf den
Arendt aufmerksam macht, bezieht sich auf die Abhängigkeit der universalistischen
Bewegung der Menschenrechte von der konkreten Wirklichkeit der nationalen Staaten.
Die Abstraktion der Menschenrechte, durch welche jeder Mensch unabhängig von Her-
kunft und Rang zum Rechtssubjekt wird, könnte nur dann teilweise Wirklichkeit wer-
den, wenn ihr universeller Rechtsanspruch durch einen nationalen Staat gestützt würde,
der auch über die legitimen Mittel der Gewalt verfügt. An dieser Stelle könnten wir auf
ein weiteres Paradox hinweisen, das in der Regel in der Rhetorik der Menschenrechte
nicht erwähnt wird: Wie kann man Sicherheit vor der Gewalt durch Gewalt garantieren?
Wie kontrolliert man die Gewalt gegen die Gewalt? Wie kann man die Verletzungen der
Menschenrechte durch die Verfechter und Institutionen der Menschenrechte eindäm-
men?
Eine wichtige Tatsache kann in der konkreten Wirklichkeit einer Reihe von Völkern be-
obachtet werden, wie z.B. im Fall der Palästinenser74, von Ländern im Mittleren Orient
und verschiedenen ethnischen Gruppen in Afrika, die sich um die Schaffung eines Staa-
tes bemühen, der in der Lage wäre, Ordnung, Stabilität und ein Minimum an Rechten zu
gewährleisten, denn wenn sie auf die Aktivisten und übernationalen Organisationen ver-
trauen, werden sie für immer rechtlos bleiben. Dies ist die eine Seite der Geschichte:
Während einige Länder ihre Kompetenzen und Vollmachten auf überstaatliche Orga-
nismen übertragen, wie dies in Europa geschieht, gibt es unzählige andere Völker, die
Doch (...) wenn die Menschenrechte wirklich den Grundstein der Verfassung aller zivili-
sierter Länder bilden, wie immer vorausgesetzt wurde, dann mussten die verschiedenen Ge-
setze der Staatsbürger das unabdingbare Recht des Menschen, das an sich unabhängig von
Staatsbürgerschaft und nationaler Differenz konzipiert war, mit verkörpern und konkretisie-
ren.75
Eines der Probleme der Menschenrechte ist ihre Verleugnung der staatlichen Souveräni-
tät, denn es handelt sich dabei um jene Institution, welche geschaffen wurde, um das In-
dividuum und das Kollektiv zu schützen. In diesem Sinn sei hier an das klassische Bi-
nom von Hobbes‘ Staatstheorie erinnert, das Schutz im Tausch gegen Gehorsam ge-
währte.
Aus der vom humanitären internationalen Recht übernommenen Vorstellung von
Menschheit wurde die Ausnahme ausgeschlossen, denn die Ausnahme als Grenzbegriff
ist immer zugleich drinnen und draußen, die Ausnahme ist das Politische: die existenzi-
elle Dimension, die von der Möglichkeit eines Antagonismus nicht zu trennen ist. Indem
der Menschheitsbegriff die Idee der Befriedung in sich aufnimmt, schließt er die ur-
sprüngliche Wirklichkeit der conditio humana aus, derzufolge die ganze Geschichte der
Menschheit von Antagonismen gekennzeichnet ist: von den Gegensätzen zwischen
Christen und Nichtchristen, zwischen Zivilisierten und Unzivilisierten, zwischen Ost
und West, zwischen Griechen und Barbaren, wobei diese Unterschiede jeweils „wissen-
schaftlich“ auf die absurdesten Arten und Weisen gerechtfertigt wurden.76
5. Schluss
Die Humanisierung des internationalen Rechts weist jede Form von Ausnahme zurück,
denn sie verleugnet auch die staatlichen Souveränität, die Antagonismen und die norma-
tive Fehlbarkeit des juristischen Systems. Während die wichtigste Konsequenz der
staatlichen Souveränität das Prinzip der Nichtintervention ist, ist eines der wichtigsten
Merkmale der Humanisierung des internationalen Rechts die humanitäre Intervention:
die Einmischung also in die Angelegenheiten eines anderen Staates – und jede Staats-
angelegenheit wird zu einer innenpolitischen oder peripheren Angelegenheit – ist nicht
nur erlaubt, sondern auch geboten, wenn der Verdacht auf eine Menschenrechtsverlet-
zung besteht. Obwohl die zeitgenössischen Humanisten und Verfechter der Internatio-
nalisierung der Menschenrechte sich vom Rechtspositivismus abwenden, kämpfen sie
dennoch für die Ausweitung der Menschenrechte auf dem Wege ihrer Kodierung und
der Ausweitung der internationalen Gerichtshöfe. Paradoxerweise lässt sich eine Rück-
Die Folge des permanenten Ausnahmezustandes, den Schmitt sehr lange vor Agamben
und auf ganze andere Weise angeprangert hat, ist der permanente Interventionismus je-
ner, welche in der Lage sind, die Rolle der Großmacht auf dem Parkett der internationa-
len Politik zu spielen. Durch ihre progressive und universalistische Geschichtsphiloso-
phie verdrängte die Bewegung der Aufklärung die kulturellen Unterschiede und bereite-
te so den Weg zur Verleugnung der Konflikte und zur gewaltsamen Einführung der
Menschenrechte als universelle Pflicht. Indem die zeitgenössischen Humanisten den
Staat und die ihm eigene Form der Souveränität verleugnen, bestärken sie entgegen ih-
ren Absichten den Imperialismus, die Hegemonie und den Unilateralismus. Die Rheto-
rik der Menschenrechte und ihr begrifflicher Apparat stellen eine gefährliche politische
Waffe dar, deren Monopol vergleichbar ist mit dem Monopol der heiligen Schriften, de-
ren Inhalt den Weg zum Heil der Menschheit bestimmte.
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Autoren
Andreas Anter, Jg. 1960, Prof. Dr., Professor für Politikwissenschaft an der Universität
Erfurt. Forschungsschwerpunkte: Staatstheorie und Staatspraxis, Politische Theorie und
Ideengeschichte der Moderne, Max Weber im Zeitkontext. Publikationen: Theorien der
Macht zur Einführung, Hamburg 2012; Staatskonzepte. Die Theorien der bundesdeut-
schen Politikwissenschaft (mit Wilhelm Bleek), Frankfurt a.M./New York 2013; Max
Weber’s Theory of the Modern State. Origins, Structure, and Significance, Houndmills,
Basingstoke 2013.
Dirk Blasius, Jg. 1941, Dr. phil., Prof. für Sozial-, Wirtschafts- und Rechtsgeschichte,
emeritiert 2006 an der Universität Duisburg-Essen; Publikationen: Carl Schmitt.
Preußischer Staatsrat in Hitlers Reich, Göttingen 2001; Weimars Ende. Bürgerkrieg und
Politik 1930-1933, Göttingen 2005.
Email: dirk.blasius@uni-due.de
Pedro Hermílio Villas Bôas Castelo Branco. Jg. 1972, Prof. Dr., seit 2010 Professor für
Politische Theorie an der Bundesuniversität des Staates Rio de Janeiro (UNIRIO).
Forschungsschwerpunkte: Staat, Souvernität, Ausnahmezustand, Politische Theorie der
internationalen Beziehungen. Publikationen: Die unvollendete Säkularisierung. Politik
und Recht im Denken Carl Schmitts (Secularização Inacabada. Política e Direito no
pensamento de Carl Schmitt, Curitiba 2011), Stuttgart 2013.
Email: pvillasboas@puc-rio.br.
Norbert Campagna, Jg. 1963, Prof. Dr., Professeur-associé an der Université du Lu-
xembourg und Studienrat für Philosophie am Lycée de Garçons Esch. Forschungs-
schwerpunkte: Staats- und Rechtsphilosophie; Sexualethik. Publikationen: Alfarabi. Ein
Denker zwischen Orient und Okzident, Berlin 2010; Wählen als Bürgerpflicht?, Berlin
2011; L'éthique de la sexualité, Paris 2011.
Email: norbertcampagna@hotmail.com
Verena Frick, Jg. 1986, M.A., Promotionsstipendiatin des Cusanuswerks und Dokto-
randin am Institut für Politikwissenschaft der Universität Leipzig. Forschungsschwer-
punkte: Staats- und Verfassungstheorie, Verfassungspolitik.
Email: verena.frick@uni-leipzig.de
Oliver Hidalgo, PD Dr., Privatdozent am Institut für Politikwissenschaft der Universität
Regensburg. Forschungsschwerpunkte: Politische Ideengeschichte des 19. und 20. Jahr-
hunderts; Demokratietheorie; Politik, Staat und Religion; Theorie der Internationalen
Beziehungen. Publikationen: Kants Friedensschrift und der Theorienstreit in den Inter-
nationalen Beziehungen, Wiesbaden 2012; (Hrsg.): Religion und Politik im vereinigten
Deutschland. Was bleibt von der Rückkehr des Religiösen? (mit Gert Pickel), Wiesba-
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den 2013; (Hrsg.): Der lange Schatten des Contrat social. Demokratie und Volkssouve-
ränität bei Jean-Jacques Rousseau, Wiesbaden 2013.
Website: http://www.uni-regensburg.de/philosophie-kunst-geschichte-gesellschaft/poli-
tikwissenschaft-hidalgo/index.html. Email: oliver.hidalgo@politik.uni-regensburg.de,
Jochen Kleinschmidt, Jg. 1980, Dipl. sc. pol. Univ., Doktorand am Geschwister-Scholl-
Institut für Politische Wissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München, von
2009 bis 2012 Lehrbeauftragter am Lehrstuhl für Politische Theorie der Universität der
Bundeswehr München. Forschungsschwerpunkte: Moderne politische Theorie, Politi-
sche Geographie, Konfliktforschung, Politik und Technologie. Publikationen: Hrsg. mit
Falko Schmid, Bernhard Schreyer und Ralf Walkenhaus: Der terrorisierte Staat.
Entgrenzungsphänomene politischer Gewalt, Stuttgart 2012; Zur politischen Geogra-
phie der targeted killings, in: Rüdiger Voigt (Hrsg.): Staatsräson. Steht die Macht über
dem Recht?, Baden-Baden 2012; Drogenkrieg in Mexiko – Staatszerfall oder Moderni-
sierungskrise?, in: Politische Studien 435, 2011, S. 54-64.
Christian Kreuder-Sonnen, Jg. 1985, M.A., Promotionsstipendiat an der Berlin Gradua-
te School for Transnational Studies (BTS) und Stipendiat der Abteilung Global
Governance am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB). Forschungs-
schwerpunkte: Internationale Beziehungen, Rechtstheorie und Völkerrecht, Notstands-
praktiken internationaler Organisationen, globaler Konstitutionalismus. Publikationen:
Der Globale Ausnahmezustand. Carl Schmitt und die Anti-Terror-Politik des UN-
Sicherheitsrates, Baden-Baden 2012; Souverän durch die Krise: Überforderte Staaten
und die (Selbst-)Ermächtigung der WHO (zus. mit Tine Hanrieder), in: Christopher
Daase u.a. (Hrsg.): Verunsicherte Gesellschaft – überforderter Staat. Zum Wandel der
Sicherheitskultur, Frankfurt a.M. 2013.
Email: christian.kreuder-sonnen@wzb.eu
Matthias Lemke, Jg. 1978, Dr. phil., seit 2012 wissenschaftlicher Koordinator im
BMBF-Verbundprojekt „Postdemokratie und Neoliberalismus“ am Lehrstuhl für Poli-
tikwissenschaft, insbesondere Politische Theorie, an der Helmut-Schmidt-Universität
Hamburg. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Ideengeschichte seit der
frühen Neuzeit, insbesondere Postdemokratie und Neoliberalismus, Ökonomisierung;
Ausnahmezustand; Demokratischer Sozialismus. Publikationen: Wandel durch Demo-
kratie. Liberaler Sozialismus und die Ermöglichung des Politischen, Wiesbaden 2012;
Die gerechte Stadt. Politische Gestaltbarkeit verdichteter Räume, Stuttgart 2012 (Hrsg.);
Ausnahmezustände als Dispositiv demokratischen Regierens. Eine historische
Querschnittsanalyse am Beispiel der USA. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft
3/2012.
Email: matthias.lemke@hsu-hh.de, Website: http://www.epol-projekt.de
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Reinhard Mehring, Jg. 1959, Dr. phil., Prof. für Politikwissenschaft und deren Didaktik
an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg. Forschungsschwerpunkte: Politische
Philosophie, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte. Publikationen u.a.: Heideggers
Überlieferungsgeschick, Würzburg 1992; Carl Schmitt zur Einführung, Hamburg 1992,
4. Aufl. 2011; Thomas Mann. Künstler und Philosoph, München 2001; Carl Schmitt.
Aufstieg und Fall, München 2009; Briefwechsel Carl Schmitt-Rudolf Smend, Berlin
2010, 2. Aufl. 2012.
Email: Mehring@PH-Heidelberg.de
Stefano Saracino, Jg. 1980, Dr. phil., Stipendiat der Goethe-Universität Frankfurt am
Main. Forschungsschwerpunkte: Politische Theorie und Geschichte des politischen
Denkens insbesondere der Antike und der frühen Neuzeit, Republikanismus, Renais-
sance-Utopien. Publikationen: „Niccolò Machiavelli“, in: Rüdiger Voigt/Ulrich Weiß
(Hrsg.): Handbuch Staatsdenker, Stuttgart 2010, S. 261–266, Politische Thymotik und
das Streben nach Ruhm. Eine vergessene Quelle der republikanischen Ordnung, in:
Jahrbuch Politisches Denken, 2010, S. 165-195; Tyrannis und Tyrannenmord bei Ma-
chiavelli. Eine antitraditionelle Auffassung politischer Gewalt, politischer Ordnung und
Herrschaftsmoral, München 2012.
Website: http://www.geschichte.uni-frankfurt.de/igk/Stipendiaten /Dr_Stefano_Saraci-
no/index. html.
Email: saracino@em.uni-frankfurt.de,
Rüdiger Voigt, Jg. 1941, Prof. Dr. emeritus, Universität der Bundeswehr München; For-
schungsschwerpunkte: Staat und Recht, Krieg und Weltordnung, Visualisierung der Po-
litik; Publikationen: Den Staat denken. Der Leviathan im Zeichen der Krise, 2. Aufl.
Baden-Baden 2009; Staatskrise. Muss sich die Regierung ein anderes Volk wählen?
Stuttgart 2010; Handbuch Staatsdenker (hrsg. zus. m. Ulrich Weiß), Stuttgart 2011; Al-
ternativlose Politik? Zukunft des Staates – Zukunft der Demokratie, Stuttgart 2013.
Email: dr.ruediger.voigt@gmail.com; Homepage: www.staatswissenschaft.de
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Generiert durch Universität Passau, am 07.12.2016, 12:00:10.
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