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Daniel Falb

Spinozas Philosophie der Multitudo

Der Begriff der multitudo steht wie sein griechischer Vorläuferbegriff des plethos in
einem Feld von Begriffen der politischen Philosophie, wie etwa populus, demos,
plebs, vulgo oder turba, die, wie man sagen könnte, allesamt Begriffe für Gruppen
von Menschen in je unterschiedlichen Aggregatzuständen sind. 1
Bedeutungsmäßig scheint sich der Multitude-Begriff teils mit den Begriffen
plebs, vulgo und turba zu überscheiden, d.h. eine dominante Bedeutungsdimension
der multitudo ist die des einfachen Volkes, des Pöbels, der wütenden Masse. Bereits
Platon kennzeichnet das plethos negativ, nämlich als unvernünftig, affektgeleitet und
sinnlichen Leidenschaften hingenommen (Rep. 389d, 494a), eine Charakterisierung,
die in der römischen Zeit etwa von Cicero für die multitudo reproduziert und bekräftigt
wird (Lühr 1979) und die, außerhalb der politischen Philosophie im engeren Sinne,
noch Shakespeare dazu bringen wird, von der Multitude als einem „beast / With
many heads“ zu sprechen. Am anderen Ende des Bedeutungsspektrums wird man
hingegen mit Aristoteles beginnen müssen, der in seiner Politik insistiert, der Staat
sei seiener Natur nach plethos, eine Vielheit, und keine Einheit (1261a13-20), und
weiter das Theorem von der sog. „Weisheit der Menge“ entwickelt (1281a40ff.),
demzufolge die Performanz einer Menge von Menschen, selbst wenn diese sich
einzeln genommen nicht durch Exzellenz auszeichnen, in Hinsicht auf Klugheit und
Weisheit der Performanz jedes noch so exzellenten Einzelnen überlegen sei; ein
Theorem, dass man später etwa in Machiavellis Discorsi wiederfindet (Machiavelli
1977, 148ff.).
Ich kann das Bedeutungsspektrum der multitudo, das etwa auch
demographische Konnotationen umfasst (vgl. Biller 2000), hier nicht ausschöpfen.
Wichtig auch für Spinoza – der hier ja im Zentrum steht – dürfte aber Hobbes relativ
prominente Verwendung des Begriffs sein. So bezeichnet die multitudo bei Hobbes
eine explizit vorpolitische, disparate Ansammlung von Menschen auf einem
Territorium, der, weil sie jeder politischen Organisation entbehrt, auch keinerlei
Einheit des Wollens und Handelns zukommt. Vielmehr wird sie zu einer Einheit,
nämlich zu einer „natürlichen Person“ erst dann, wenn sie sich per
Gesellschaftsvertag als politische konstituiert (vgl. Hobbes 1983, 92): „[T]he
Multitude so united in one Person, is called a COMMON-WEALTH, in latine

1
Vortrag, gehalten im Colloquium Gebauer, FU-Berlin 2012

1
CIVITAS.“ (Hobbes 1929, 132) Die Menge, die ihre Einheit durch die Einheit ihres
Repräsentanten gewinnt, ist dann tatsächlich auch keine Menge mehr, sondern ist
ein Volk geworden („the People“). (Hobbes 1983, 92, 110) Geht diese Einheit
verloren, z.B. im Fall eines Interregnums, fällt das Volk wieder zurück in den
„Aggregatzustand“ der Menge. (Hobbes 1983)
Es ist diese zentrale Hobbes’sche Unterscheidung von populus und multitudo,
politischer Einheit und disparater Vielheit, die Spinoza im TP (1677) kritisiert, indem
er sie abschafft. Dabei ist Spinozas Verwendung des Begriffs der multitudo, wenn
man sein Gesamtwerk betrachet, keineswegs einheitlich und kontinuierlich. Vielmehr
findet eine Begriffsverwendung außerhalb des TP so gut wie nicht statt,
insbesondere nicht in der Ethik. (1675). Im TTP (1670) wird der Begriff vier Mal
verwendet, und zwar in der Bedeutung von niederes Volk und Pöbel, welche durch
schwankende Affektivität und Aberglaube gekennzeichnet seien. Der Begriff
konvergiert hier bedeutungsmäßig etwa mit (den von Spinoza recht häufig
verwendeten Begriffen) vulgo und plebs. Der eigentlich politikttheoretische Begriff
des TTP (vgl. Kap. 16ff.) ist aber das Volk, populus.
Diese Lage ändert sich dramatisch im TP, in dem der Multitudebegriff
endemisch, nämlich dutzendfach verwendet, der populus-Begriff ganz aufgegeben
und der Begriff des plebs zum terminus technicus für Non-Aristokraten in der
Aristokratie wird. Vulgo und Turba treten praktisch nicht auf. D.h., Spinoza verfolgt im
TP eine monistische Strategie hinsichtlich des Begriffs der multitudo: er macht die
multitudo zum Grundbegriff seiner spätern politischer Philosophie, und in der
Tatsache, dass er dies tut, liegt genau das innovative Moment seines politischen
Denkens; zugleich gibt er die geläufigen Konnotationen des Multitude-Begriffs nicht
auf, sondern hält sie in seiner Begriffsverwendung präsent.
Das führt bei der Lektüre des TP gelegentlich zu Verwirrung. So lautet
Spinozas zentrale systematische Formulierung, das Recht des Staates sei durch die
Macht der Menge definiert. Andererseits liest man Formulierungen wie die, die beste
Verfasstheit des Staates sei diejenige, in der die multitudo möglichst wenig zu
fürchten sei (TP8/5), was dann als widersprüchlich erscheint. Allein, Spinoza
verwendet multitudo hier in der Bedeutung von wütender Menge oder Mob. Oder
man liest, die höchste Gewalt des Staates dürfe nicht in die Hände der Menge
zurückfallen (TP7/25), – was widersinnig klingt, da die höchste Gewalt doch genau
durch deren Macht definiert sein soll. Allein, Spinoza verwendet multitudo hier in der
Bedeutung eines disparaten Haufens, in den der Staat in Zeiten eines

2
Königswechsels (Interregnums) führungslos abzugleiten droht. Obwohl ich mich
nachfolgend v.a. mit der multitudo als dem systematischen Grundbegriff von
Spinozas politischer Philosophie beschäftigen werde, werde ich am Schluss den
Sinn seiner monistischen Begriffsstrategie zumindest anzudeuten versuchen.
Das von Spinoza im TP verfolgte Gesamtprojekt ergibt sich aus dem
Schlußsatz der Ethik, demzufolge „alles, was vortrefflich ist, [...] ebenso schwierig
wie selten“ sei (5P42S). Das von der Ethik empfohlene gute Leben, verstanden als
ein Leben im Vollzug der Vervollkommnung der je eigenen Handlungsmacht von
Menschen, oder, was das gleiche ist, als Leben nach der Vorschrift der Vernunft,
werden faktisch nur wenige führen können. Nun schließt ein Leben nach Vorschrift
der Vernunft für Spinoza ein, dass Menschen ihre Handlungsmacht gebrauchen bzw.
ihren Vorteil suchen werden „ohne jeden Schaden für den anderen“ (4P37S2); daher
bedürfte eine utopische Gemeinschaft der Vernünftigen, so darf man Spinoza
verstehen, allerst überhaupt keiner Politik (vgl. TTP5, 84). Umgekehrt, wo Menschen
in der Dominanz ihrer Affekte leben, werden sie ihren Vorteil meist auf eine Weise
suchen, die anderen schadet, was zur Entgegengesetztheit von Menschen führt
(4P34). Indem Politik darauf zielt, solche Entgegengesetztheit in ihren schädlichen
Effekten zu verhindern, besteht ihr Projekt darin, Menschen, die an ihnen selbst nicht
vernünftig sind (TP1/5), ein zumindest vernunftgemäßes Leben in Gemeinschaft zu
ermöglichen (6/3), d.h. ein Leben in der multitudo.
Als Grundfigur seiner Staats- und Gesellschaftstheorie kommt der Begriff der
multitudo häufig in Kombination mit einam anderen Begriff vor, dem der Macht
(potentia). Der Machtbegriff ist im TP einschlägig, da der Kern der von Spinoza
entwickelten Naturrechtslehre (die schon im TTP vorliegt, vgl. vgl. TTP16, 232-234),
genau in der Engführung von Macht und Recht besteht: Das Recht eines Dinges
umfasst alles, was in seiner Macht steht. Wie jedes natürliche Ding Naturgesetzen
unterliegt, Naturgesetze in seinem Prozess zur Geltung bringt, so auch der Mensch:
sein Recht ist genau sein Naturgesetz, und sein Naturgesetz ist definiert durch alles,
was er faktisch vermag. „Verboten“ ist bloß, was ohnehin „niemand begehrt und was
niemand [tun] kann“ (2/8). Und ausgeschlossen ist, dass es ein „Recht“ gebe, das
nicht jederzeit effektiv Geltung besäße.
Der Machtbegriff ist aber noch tiefer im spinozanischen Denken verankert,
handelt es sich bei ihm doch um einen Zentralbegriff der Ontologie und
Handlungstheorie der Ethik. So ist die Essenz der einen spinozanische Substanz,
d.h. die Essenz Gottes, genau Macht (1P34), nämlich eine in quantitativer wie

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qualitativer Hinsicht unbegrenzte Handlungsmacht: „Aus der Notwendigkeit der
göttlichen Natur muß unendlich vieles auf unendlich viele Weisen folgen.“ (1P16)
Indem alle endlichen Einzeldinge Modifikationen der Attribute der einen Substanz
sind, drücken sie die Essenz der Substanz aus (1P36), mit der Folge, dass ihre
Essenz ebenfalls als Macht zu verstehen ist:

„[D]ie Macht jedes Dinges, anders formuliert das Streben, mit dem es, entweder
allein oder zusammen mit anderen, handelt oder zu handeln strebt, d.h. die Macht
oder das Streben, mit dem es in seinem Sein zu verharren strebt, ist [...] nichts
anderes als die gegebene oder wirkliche Essenz dieses Dinges.“ (2P7D)

Spinozas bekannte Formel vom Steben, „in seinem Sein zu verharren“ (2P6) ist
dabei keineswegs konservativ zu verstehen. Sondern dem Streben ist selbst eine
Vervollkommnungstendenz eigen (4P21, vgl. 3P12D, 3P6), was sich affektiv so
darstellt, dass Menschen Freude empfinden, wenn sie zu einer größeren
Vollkommenheit, und Trauer, wenn sie zu einer geringeren Vollkommenheit
übergehen (3P11S). Verschiedene Grade von Vollkommenheit entsprechen bei
Spinoza aber verschiedene Grade, überhaupt zu Sein oder zu Existieren (2Def.6),
und dieses graduierte Sein und Existieren entspricht wiederum einer graduierten
Handlungsmacht: Je aktiver ein Mensch ist, d.h. je mehr er Ursache von Wirkungen
ist, die aus seiner Essenz folgen (3Def.2), desto mehr Sein hat er, desto mehr
Vollkommenheit und Macht hat er (vgl. 1P11S), und, so wird Spinoza sagen, desto
mehr Tugend hat er auch (4Def.8). In anderer Terminologie würde man sagen, die
Handlungsmacht eines Menschen bestehe darin, dass er seinen Vorteil (utile)
suchen kann (3P20), und sein Vorteil bestehe darin, dass er seine Handlungsmacht
steigern kann. Der Weg der Tugend, den die Ethik vorzeichnet, erscheint so gesehen
als das Inswerksetzen eines offenen Machtprozesses, in dem Menschen immer
mehr und auf immer diversere Weisen aus sich selbst heraus zu handeln fähig
werden.

Damit kann jetzt Spinozas Rede von der potentia multitudines als der Grundfigur
seiner Gesellschafts- und Staatstheorie betrachtet werden. Die Frage nach der
Macht der Menge wird hier den Schlüssel zum Verständnis dessen liefern, was
überhaupt mit dem Begriff der Menge gesellschaftstheoretisch auf dem Spiel steht.
Was also ist die Macht der Menge, und wie wird sie generiert? Spinoza liefert im TP

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zwei zentrale Formulierungen kollektiver Machtgenese: eine, welche auf die
Positivität von Kooperation, und eine, welche, scheinbar negativ, auf die Zwangskraft
des Rechts abstellt. Zunächst die erste.

A. „Wenn zwei auf einmal zusammenkommen und ihre Kräfte verbinden, dann
vermögen [possunt] sie zusammen mehr und haben folglich mehr Recht auf [Dinge
in der] Natur als jeder für sich allein. Und je mehr Verbündete so ihre Kräfte
zusammengeschlossen haben werden, umso mehr Recht werden sie alle zusammen
haben.“ (2/13)

Das Recht, dass hier „alle zusammen haben“, ist, nach der Gleichung Recht =
Macht, genau die potentia multitudines. Die zitierte Formulierung aus dem TP nimmt
eine Formulierung aus der Ethik auf, wo es heißt, wenn „zwei Individuen von ganz
derselben Natur“ sich miteinander verbänden, sie ein neues Individuum bilden
würden, „das doppelt so mächtig ist wie jedes einzelne für sich.“ (E4P18S) Dabei
springt ins Auge, dass Spinoza im TP die Qualifikation der Verdopplung ihrer Macht
in der Kooperation von zwei Akteuren unterlässt. Tatsächlich ergäbe aus der
Perspektive des TP keinen Sinn, von einer bloßen Machtverdopplung qua
Kooperation zu sprechen. Denn in einem hypothetischen Naturzustand konsequenter
Non-Kooperation „ist das natürliche Recht des Menschen, solange es durch die
Macht eines einzelnen bestimmt wird und dieser ein auf sich gestellter einzelner ist,
[...] so gut wie nichts; es besteht eher in der Einbildung als in Wirklichkeit“ (TP2/15).
Würde sich das Nichts oder Fast-Nichts der Macht zweier einzeln genommener
Menschen bloß verdoppeln, oder mehrerer einzeln genommener Menschen bloß
nach Maßgabe ihrer Anzahl vervielfachen, wenn sie kooperieren, hätten sie
zusammen gar nicht mehr Macht als vereinzelt, nämlich weiterhin ein Nichts oder
Fast-Nichts an Macht. Das ist aber nicht zu beobachten. Das Leben im Staatswesen
kooperierender Menschen hebt sich vom „fast tierische[n] Leben“ von Menschen im
hypothetischen Naturzustand vielmehr klar ab (TTP5, 84). Hieraus folgt, dass es,
„[w]enn zwei auf einmal zusammenkommen...“, einen Machtsprung geben muss:
Kooperation führt offenbar zu einem Surplus, nicht einer Summation, von Macht.
Es wird jetzt essenziell sein, genauer zu verstehen, wie dieses Machtsurplus
generiert, und umgekehrt, wie sein Zustandekommen verhindert wird. Um die
Logiken glückender, kooperativer vs. mißlingender, destruktiver Zusammentreffen

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von Menschen zu erfassen, wird man wiederum auch die Ethik zur Hand nehmen
müssen. Dabei ergibt sich im Kern Folgendes:

Surpluslogik. Ein kooperatives Zusammentreffen von Menschen ist eines, durch das
der eine (an Macht) gewinnt, wenn auch der andere (an Macht) gewinnt. Das
Zusammentreffen erzeugt somit ein Machtsurplus gegenüber der Fall, in dem die
Individuen gar nicht zusammengetroffen wären.

Null- oder Minuslogik. Ein destruktives Zusammentreffen von Menschen ist eines,
durch das der eine (an Macht) nur dann gewinnt, wenn der andere (an Macht) verliert
(und vice versa). Das Zusammentreffen erzeugt nicht nur kein Machtsurplus,
sondern die Individuen können sich hier ggf. sogar auf ein Machtniveau
herabdrücken, das niedriger ist als in dem Fall, in dem sie nicht zusammengetroffen
wären.

Ich will zuerst die Minuslogik an drei Fällen konkretisieren, an denen sich die
Herrschaft der Affekte Furcht, Hass und Neid manifestiert.
1. Der Extremfall der Minuslogik menschlicher Zusammentreffen ist
trivialerweise der Fall offener Feindschaft zwischen Menschen. Menschen sind,
sofern sie Affekten unterworfen sind, Feinde, sagt Spinoza, und als Feinde haben sie
sich zu fürchen (TP2/14). Das in der Definition der Furcht (3Aff.Def.37) gelegene
Moment objektiver Unsicherheit (hier: über die Absichten Anderer) legt nahe, dass
selbst Menschen, die sich gar nicht kennen, zunächst verfeindet sein werden. Dass
der eine nur an Macht gewinnt, wenn der andere an Macht verliert, mag unter
Bedingungen objektiver Unsicherheit dann bedeuten, dass der eine nur überleben
kann, wenn er den anderen zu vernichten vermag. In jedem Fall werden die, die sich
unter dem Vorzeichen existenzieller Feindschaft begegnen, sich in ihrem
Zusammentreffen gegenseitig auf ein niedrigeres Machtniveau herabzudrücken, als
jeder alleine für sich realisieren könnte. Das zu Grunde liegende
Unsicherheitsproblem wird dann der Staat zu lösen haben; Ziel und Tugend des
Staates ist für Spinoza im TP tatsächlich genau die Gewährung von Sicherheit
(TP2/6, 3/3, 5/2).
2) Menschen sind Teil der Natur, und sie benötigen vieles außerhalb ihrer, um
ihr Sein zu erhalten bzw. zu vervollkommnen, nämlich Lebensmittel und, grob
gesagt, Artefakte. In einer Welt jenseits von Knappheit resultierte hieraus kein

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Problem; wo aber Dinge knapp sind, da gelingt die Erhaltung und Vervollkommnung
des Seins des einen nur, wenn die Erhaltung und Vervollkommnung des Seins des
anderen mißlingt, d.h. das Knappheitsproblem setzt menschliche Zusammentreffen
in eine Minuslogik. Spinoza sieht klar, dass das Knappheitsproblem und die mit ihm
zusammenhängende Eigentumsfrage (4P34S) ein Hauptgrund von Haß und
Entgegengesetztheit von Menschen ist (3P32, 4P34D). Das Knappheitsproblem wird
verschäft durch den für Spinoza zentralen Mechanismus der sog. Imitation der
Affekte: Wenn wir uns vorstellen, dass jemand eine Sache liebt, so werden wir sie
auch lieben (3P27), und gerade die Unvernünftigen tendieren dazu, das zu erstreben
und als höchstes Gut auszugeben, „das nur einer ganz besitzen kann“ (4P37S), d.h.
ein knappes, im Konsum rivalisierendes Gut.
3) Ein drittes Geltungsfeld der Minuslogik ist das Feld der Selbstanerkennung
von Menschen. „Der Geist strebt“, schreibt Spinoza, „sich nur das vorzustellen, was
seine eigene Wirkungsmacht setzt“ (3P54, vgl. 3P12), und „die der Betrachtung
unserer selbst entspringende Freude [heißt] Eigenliebe oder Selbstzufriedenheit“
(3P55S). In der Betrachtung ihrer selbst aber vergleichen sich Menschen mit
anderen. Das Bewußtsein ihrer Macht wird umso größer, je weiter ihre Macht von
derjenigen der anderen absteht. Also werden sie „über die Schwäche von
ihresgleichen frohlocken, über deren Können hingegen traurig sein“ (ebd.). Somit
begegnen sich Menschen im Modus des Neides (3P24S) und realisieren eine Logik,
bei der der eine an Eigenliebe nur gewinnt, wenn der andere verliert, – was für
Spinoza bedeutet, dass der eine an Macht gewinnt, was der andere verliert: denn die
der Eigenliebe intrinsische Freude kennzeichnet einen realen Übergang zu größerer
Vollkommenheit.
Dieser und ähnlicher Probleme, die Spinoza als unmittelbar aus der
Disposition der menschlichen Affektivität herrührend betrachtet (4P34), wird sich,
zumindest in gewissem Umfang, wiederum der Staat anzunehmen haben, nämlich in
Form eines Affektmanagements seiner Bürger.
Da das in der Figur der potentia multitudines gelegene Machtsurplus nicht aus
den beschriebenen minuslogischen Machtprozessen resultieren kann, stellt sich jetzt
die Frage nach der Funktionsweise surpluslogischer Machtprozesse. Das Prinzip,
dass in solchen Prozessen der eine (an Macht) gewinnt, wenn auch der andere (an
Macht) gewinnt, formuliert Spinoza so, dass er sagt: „Insofern ein Ding mit unserer
Natur übereinstimmt, ist es zwangsläufig gut.“ (4P31) Die formale Begründung hierfür
ist folgende: wären sie in dem, worin sie übereinstimmen, schlecht füreinander,

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würde das heißen, dass bereits der Einzelne in dem, worin er sozusagen mit sich
übereinstimmt, nämlich in seiner eigenen Natur, schlecht für sich selbst wäre; und
das kann nicht sein (3P4). Akzeptiert man diese Begründung, bleibt trotzdem
folgendes Problem: Zwar ist klar, dass, wenn zwei Menschen ihrer Natur nach
übereinstimmen, für den einen gut ist, was auch für den anderen gut ist, d.h. dass
hier eine Art Gleichrichtung ihrer Interessen vorliegt; damit ist aber noch nicht klar,
dass tatsächlich auch der eine für den anderen gut ist. Das sind zwei verschiedene
Dinge und es fragt sich, unter welchen Bedingungen denn der eine wirklich für den
anderen gut sein kann, d.h. sie sich wechselseitig ein Mehr an Macht verschaffen. So
ergab sich das genannte Knappheitsproblem ja gerade daraus, das zwei dasselbe
Ding für gut halten und haben wollen, es aber, weil es eben knapp ist, nicht beide
haben können. Zumindest für die im TP skizzierte Konstitution der Monarchie löst
Spinoza dieses Problem so, dass er das ultimativ knappe, weil quantitativ absolut
begrenzte Gut, nämlich Land, vom Privatbesitz rundweg ausschießt. Vielleicht lassen
sich aber zumindest zwei Bedingungen angeben, unter denen zwei oder mehrere,
die in ihrer Natur und ihren Interessen nach übereinstimmen, auch füreinander gut
sind.
1) Die eine Bedingung wäre die, dass die Dinge, die für beide gut sind, nicht
intrinsisch knapp sind und dass der eine sie haben kann nur dann, wenn der andere
sie auch haben kann. Das ist, schematisch betrachtet, die Ausgangslage derjenigen,
die über bestimmte Güter noch nicht verfügen, diese Güter aber prinzipiell herstellen
können, dies aber nur gemeinsam, nicht jeder für sich. Das Feld der kooperativen
und dann auch arbeitsteiligen Produktion von Gütern ist also eines, in dem eine
irreduzibel gemeinsame Handlungsmacht Menschen dazu befähigt, zusammen mehr
und andere Prozesse auszuführen als jeder für sich, eben Produktionsprozesse, als
deren Effekt die Beteiligten über Güter verfügen, die gut für sie sind, d.h. ihre
Handlungsmacht erhalten oder steigern in einer Weise, zu der sie einzeln niemals in
der Lage gewesen wären. Dass Spinoza derartige ökonomische Aktivitäten als einen
Fall von potentia multitudines par exellance ansieht, zeigt sich darin, dass seine
zentrale Formulierung positiver Machtgenese v.a. eben auf ökonomische Prozesse
abstellt: „Wenn zwei auf einmal zusammenkommen“, dann haben sie „mehr Recht
auf [Dinge in der] Natur als jeder für sich allein“.
2) Die zweite mögliche Bedingung, unter denen zwei oder mehrere, die in ihrer
Natur und ihren Interessen nach übereinstimmen, auch füreinander gut sind, wäre
die, dass von den Dingen, die für beide gut sind, der eine umso mehr haben kann, je

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mehr der andere davon hat. Mit dieser Formulierung ist klar, dass wir uns hier in
einem Feld ganz jenseits von Knappheit befinden, konkret nämlich im Feld von
Einsicht und Wissen. So gilt für Spinoza: Das höchste Gut der Vernünftigen ist das
Einsehen (4P26), das Einsehen aber ist Menschen in höchstem Maße nützlich, da es
ihnen erlaubt, adäquate Ursache von Dingen zu sein, die nur aus ihnen folgen, d.h.
weil das Einsehen ihn ein Höchstmaß an Handlungsmacht verschafft (4P24 und D).
Nun werden „Menschen, die vernunftgeleitet ihren eigenen Vorteil suchen, für sich
selbst nach nichts verlangen, was sie nicht auch für andere Menschen begehren.“
(4P18S) Da das, was sie für sich und andere im höchsten Maße begehren, eben die
Einsicht, nicht intrinsisch knapp ist, kann dann gelten: „Das höchste Gut derer, die
den Weg der Tugend gehen, ist allen gemeinsam, und an ihm können sich alle
gleichermaßen innerlich erfeuen“. (4P36)
In heutiger Terminologie würde man sagen, neben der ökonomischen
Kooperation sei die kooperative Produktion von Wissen ein weiterer
paradigmatischer Fall von potentia multitudines, und entsprechend fordert Spinoza
im TPP die Rede-, Lehr- und Publikationsfreiheit auch deshalb ein, weil sie „ganz
unerläßlich ist zur Förderung der Künste und Wissenschaften“ (TTP20, 304)
Da hier keine Zeit bleibt, Spinozas verstreuten Analysen der ökonomischen,
wissensmäßigen oder anderweitig bestimmten Mächte der Menge im Detail zu
rekonstruieren, möchte ich zu diesem Punkt nur noch eine generelle Bemerkungen
machen. So ist es, wie ich glaube, entscheidend zu verstehen, dass das mittels
Kooperation generierte Machtsurplus, die potentia multitudines, irreduzibel in der
Kooperation bzw. in der Form der Kooperation liegt, nicht in den Kooperierenden.
Das liegt etwa im hier nicht behandelten Fall der Armee, mittels derer eine Menge ihr
Territorium und ihre Güter verteidigt, klar auf der Hand: die Macht liegt hier durchaus
nicht in einer bestimmten Anzahl von Körpern, Waffen und Strategieplänen; sondern
genau in der Koordinations- bzw. Kooperationsform dieser Elemente; unter zwei
äquivalent bestückten Armeen gewinnt die besser koordinierte. Ebenso liegt die
Macht eines Unternehmens nicht in seinen Arbeitskräften, Produktionsanlagen und
Forschungsabteilungen, sondern eben in der Kooperationsform dieser Elemente, und
Management besteht, verkürzt gesagt, darin, diese Form gemäß eines maximalen
Surplus der potentia multitudines zu gestalten (wobei Phänomene ökonomischer
Ausbeutung zumindest im Kontext spinozanischen Denkens kein Surplus, sondern
im Gegenteil eine Null oder ein Minus markierten). Betrachtet man weiter nicht ein
Unternehmen, sondern die ökonomische Aktivität einer Gesellschaft insgesamt, so

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hat Spinoza recht mit Formulierung, die ökonomische Macht der Menge bestehe in
einem Surplus von Recht auf Dinge in der Natur, d.h. in einem gesteigerten Zugriff
auf Ressourcen und Naturdinge im Prozess materieller Produktion. Ich würde aber
meinen, dass in einer zunehmend arbeitsteiligen Wirtschaftsweise, die schließlich zu
einer allseitigen ökonomischen Abhängigkeit aller von allen führt, die Menge zugleich
gewissermaßen mehr Recht auf sich selbst hat: alle Elemente der Menge haben
marktvermittelt immer mehr Macht nämlich immer mehr Verfügung über die Produkte
der Tätigkeit aller anderen Elemente. Auch dieses Machtsurplus liegt in der Form
bzw. Intensität der Kooperation der Elemente der Menge, nicht in den Elementen
selbst.
Das kann natürlich nicht bedeuten, dass das Machtsurplus der Menge nicht zu
einem Surplus der Macht ihrer Elemente führte. Aber die Beziehung ist hier
uneindeutig. Liegt etwa das Surplus ökonomischer und wissensmäßiger Kooperation
irreduzibel in dieser Kooperation, so kann es hier doch gleichsam parzelliert
entnommen werden, nämlich, schlicht ausgedrückt, in Form von Produkten und
Lehrbüchern, die kein einzelner je alleine hätte produzieren können. Im Fall der
Landesverteidigung hingegen ist keine parzellierte Entnahme möglich: das
Machtsurplus der Elemente liegt hier, wiederum schlicht ausgedrückt, etwa bloß
darin, nicht in einem besetzten Land leben zu müssen (TP3/11). Angesichts der
Tatsache, dass die bloße Existenz von Armeen anzeigt, dass Staaten sich
zueinander verhalten wie Einzelne im Naturzustand (TP3/11), in dem ihre Macht
faktisch auf ein Minimum herabgedückt ist, fragt sich aber, ob man hier überhaupt
sinnvoll von einem Machtsurplus sprechen kann, oder ob die Militarisierung nicht
insgesamt eher einer Minuslogik folgt.

B) Bis hierhin habe ich nur die erste, auf die Positivität von Kooperation abstellende
Formulierung kollektiver Machtgenese im TP behandelt. Nun wird es darum gehen,
die zweite Formulierung zu betrachten. Sie lautet:

„Wo Menschen gemeinsame Rechtsgesetze haben und alle wie von einem Geist
geleitet werden, da hat sicherlich jeder von ihnen umso weniger Recht, je mehr ihn
die übrigen [reliqui] in ihrer Gesamtheit an Macht übertreffen. Das bedeutet, daß er
in Wirklichkeit kein anderes Recht auf [Dinge in der] Natur hat als dasjenige, das das

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gemeinsame Recht ihm zugesteht. [...] Dieses Recht, das durch die Macht der
Menge bestimmt wird, nennt man gewöhnlich Regierung [imperium].“ (2/16f.) 2

Das Interpretationsproblem besteht hier zunächst darin, zu erlären, wie dieses


Szenario, in dem Menschen über gemeinsame Gesetze und eine Regierung, mit
dem Szenario positiver Kooperation, das Spinoza ganze drei Paragraphen vorher
entwickelt, in Zusammenhang steht. Wie kommt man von der Kooperation zweier
oder mehrerer Menschen zu Gesetz und Staat? Der Schlüssel zu einer Antwort liegt
in der Feststellung, dass Kooperation eben nicht rein positiv funktioniert. So ist
erstens zu bemerken, dass Spinoza Kooperation nicht als punktuelle, sondern als
kontinuierliche denkt; in der Ethik geht er sogar soweit zu sagen, die Kooperierenden
würden zusammen ein neues Individuum bilden (4P18S), worunter er eine Menge
von Elementen versteht, die „ihre Bewegungen nach einer bestimmten Regel
untereinander verknüpfen“ (Def. nach 2P13) Und zweitens ist zu bemerken, dass der
Regularität der Kooperation Regeln entsprechen, nämlich sachliche und soziale
Regeln, von deren Einhaltung der Erfolg und die Fortsetzbarkeit der Kooperation
abhängt. Die Möglichkeit der Verfehlung ist immer gegeben. Die Originalität
Spinozas liegt in diesem Zusammenhang dann in der Behauptung, die sozialen
Regeln der Kooperation hätten die gleiche Objektivität an sich wie die sachlichen
Regeln, d.h. die Tatsache, dass man mit Menschen, die etwa unzuverlässig sind und
Kooperationsgewinne einseitig an sich reißen wollen, nicht erfolgreich kooperieren
kann, würde Spinoza als eine ebenso objektive an sehen wie die, dass man ein
Automobil nur in einer effizientesten Weise zusammenschrauben kann und die
Arbeitskraft gemäß dieser Objektivität zu koordinieren hat. Und weiter, würden
Menschen die Objektivität sozialer Regeln als solche erkennen, würden sie, als
vernünftige, diese Regeln ebenso anstandslos befolgen wie die sachlichen: niemand
muss dazu gezwungen werden, ein sachliches Problem auf die beste Weise zu
lösen. In dieser Weise bedürften die Vernünftigen auch keiner Poltik. Wenn also die
sozialen Regeln gelingener Kooperation in Form von Geboten und Verboten, nämlich
gesetzesförmig formuliert werden, dann nur, weil die Meisten diese Regeln in ihrer
Objektivität nicht verstehen. Dass das Gesetz gewissermaßen nur die an die
Unvernünftigen adressierte Darreichungsform objektiver Regeln darstellt, macht
Spinoza im 19. Brief in anderem Zusammenhang deutlich, wenn er sagt, Gott habe
2
vgl. TTP16, 235 „... daß sie das Recht, das von Natur jeder zu allem hat, nun gemeinsam besitzen
und daß es nicht mehr von dem Vermögen und der Begierde des einzelnen, sondern von der Macht
und dem Willen der Gesamtheit bestimmt wird [fed ex omnium fimul potentia et voluntate
determinarctur].“
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dem Adam das Essen des Apfels nur deshalb verboten, weil Adam nicht verstanden
habe, dass der Apfel vergiftet gewesen sei.3 Damit lässt sich vorläufig bilanzieren,
Sinn zumindest des vernünftigen staatlichen Rechts sei es nach Spinoza, die
Surpluslogik der Kooperation von Menschen, d.h. die potentia multitudines, gegen
diejenigen zu schützen, die die Objektivität der dieser Logik zu Grunde liegenden
Regeln nicht verstehen. Alles vernünftige Recht ist Kooperationsrecht.
Gleichwohl kommt mit Spinozas zweiter Formulierung kollektiver Machtgenese doch
ein zweites genuines Motiv ins Spiel, das zum Verständnis der multitudo
entscheidend ist: die Elemente der Menge sind einander prinzipiell äußerlich und
können als einander äußerliche eine zwingende Macht aufeinander ausüben. „Wo
Menschen gemeinsame Rechtsgesetze haben [...], da hat sicherlich jeder von ihnen
umso weniger Recht, je mehr ihn die übrigen in ihrer Gesamtheit an Macht
übertreffen“, wobei die Übrigen sich selbst wiederum nur aus Einzelnen
zusammensetzen, für die je genau das gleiche gilt: alle Übrigen sind allen Einzelnen
potentiell zwingend äußerlich.
Dabei ist die Figur, dass jemand unter der Gewalt eines oder meherer anderer
steht, zunächst genau die Figur, die auch in minuslogischen Zusammentreffen von
Menschen am Werk ist: dass ich unter der Gewalt eines anderen stehe, heißt etwa,
dass der andere mich entwaffnen und festsetzen kann, oder dass ich, durch von ihm
bewirkte Furcht oder Hoffnung, „lieber ihm als [mir] selbst willfahren“ werde (TP2/10),
was meist bedeuten wird: er gewinnt, was ich verliere. Spinoza würde sagen, dass
solche minuslogischen Zusammentreffen v.a. aus den destruktiven Potentialen der
menschlichen Affektivität resultierten. Seine Pointe besteht dann aber darin,
hinzuzufügen, dass, gerade weil die menschliche Affektivität potentiell destruktiv ist,
es für die Herbeiführung von Surpluslogiken von Zusammentrefffen notwendig und
essenziell ist, dass Menschen unter der Gewalt von anderen stehen. Denn das
einzige, was auf Affekte wirkt, sind andere Affekte, sagt Spinoza (4P7), und indem
ich unter der Gewalt eines anderen stehe, folge ich genau nicht meiner Affektivität,
sondern den Affekten, die der andere in mir produziert, allererst nämlich Furcht und
Hoffnung. Wenn nun die Gewalt, unter der ich stehe, die des Gesetzes ist, und wenn
das Gesetz vernünftig ist, d.h. Surpluslogiken schützt, dann werde ich mich qua
gesetzesinduzierter Affektivität vernünftiger verhalten, und d.h. mehr im Sinne der
Vervollkommnung meiner Macht in der Kooperation mit anderen, als wenn ich in

3
„Das Verbot ann Adam bestand also allein darin, daß Gott dem Adam offenbarte, daß das Essen von
dem Baum den Tod verursachte, gerade so wie er auch uns durch den natürlichen Verstand offenbart,
daß das Gift für uns tödlich ist.“ (19. Brief)
12
meinen Zusammentreffen mit anderen keiner Gesetzesgewalt ausgesetzt wäre.
Genau das ist gemeint, wennn Spinoza davon spricht, der Staat sei „so einzurichten,
dass alle, Regierende wie Regierte, mögen sie wollen oder nicht, dasjenige tun, was
im Interesse des gemeinsamen Wohls [d.h. gemäß der Surpluslogik] ist, anders
formuliert, dass alle [...] genötigt sind, sei es aus [eigener] Kraft oder aus [äußerer]
Notwendigkeit, nach der Vorschrift der Vernunft zu leben.“ (TP6/3) In diesem Sinne
ist es auch zu verstehen, wenn Spinoza postuliert, Menschen würden nicht als
Staatsbürger geboren, sondern würden zu Staatsbürgern erst gemacht werden
(TP5/2).
Vor diesem Hintergrund würde ich die zweite Formulierung kollektiver
Machtgenese, nach der, wie Spinoza in TP3/2 wiederholt, „das Recht des Staates
oder der höchsten Gewalten nichts anderes ist als eben das Recht der Natur, das
durch die Macht [...] der wie von einem Geist geleiteten Menge bestimmt wird“ wie
folgt verstehen:
Dass eine Menge von Menschen „wie von einem Geist geleitet“ ist, heißt nicht,
dass alle völlig identisch wären, aber doch, dass sie in ihrer Verschiedenheit so
übereinstimmen, dass es überhaupt etwas geben kann, das für alle beteiligten
gleichermaßen gut ist. Das ist die Minimalbedingung jedes positiven
Machtprozesses. Dass weiter das Recht des Staates durch die Macht der Menge
bestimmt sei, ist meiner Wahrnehmung nach mindestens dreifach konnotiert.
1. Politische Macht wird nicht von einzelnen ausgeübt. Vielmehr hat man den
Staat selbst als die Kooperationsform einer Menge von Menschen zu begreifen, die
zusammen vermögen, was keiner alleine vermöchte: nämlich, eine ganze
Bevölkerung in die Affektlogik des Rechts hineinzustellen. Der staatliche Zustand ist
dadurch definiert, dass qua Gesetzeskraft „alle dasselbe fürchten und [...] es für alle
ein und denselben Urheber von Sicherheit gibt“ (TP3/3). Die institutionelle Ordnung,
die Spinoza für die Monarchie und Aristokratie ausfühlicher vorzeichnet, ist genau die
Kooperationsform der Menge von Menschen, die den Staat handelnd erzeugen.
2. Das Recht des Staates ist durch die Macht der Menge bestimmt, insofern
das Recht, wenn es vernunftgemäß ist, seinem Inhalt nach einzig und allein durch
die Aufgabe defiert und vorgezeichnet ist, die Surpluslogik der potentia multitudines
zu schützen und zu steigern.
3. Versteht man schließlich unter multitudo eine ganze Bevölkerung (vgl.
TP8/13, 8/22), so würde man den Satz, dass das Recht des Staates durch die Macht
der Menge bestimmt ist, so verstehen, dass eine Bevölkerung sich selbst, und aus

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sich selbst heraus, eine Teilmenge oder ein Subsystem erzeugt, eben das politische
System, durch dass sie sich eigenhändig in die Surpluslogik der Kooperation zwingt.
Diese autopoietische Betrachtung der multitudo legt Spinoza nahe, wenn er
einerseits politisches Handeln als Lenkung einer Menge von Menschen bestimmt
(TP1/3), andererseits aber klar ist, dass politische Macht, d.h. Handlungsfähigkeit,
nur genau Effekt des kollektiven Prozesses derselben Menge sein kann. Das
politische System ist ein Teil der Kooperationsform der Gesamtmenge, an der hängt,
wieviel Macht diese Menge insgesamt hat, d.h. an der hängt, wie surplushaft ihre
Machtprozess insgesamt ist.
Dies ist die Perspektive, aus der heraus Spinoza dann einerseits feststellen
kann, Streit und politischer Tumult schwächten die Menge, bzw. dokumentierten die
Schwäche einer Menge (TP3/9, 7/5), und andererseits, die Demokratie sei die „ganz
und gar uneingeschränkte Regierungsform“, da in ihr die Macht uneingeschränkt in
den Händen der ganzen Menge liege (TP11/1, 8/3; vgl. TTP16, 240). Die Logik
dieser letzteren Aussage würde ich auch über Spinoza hinaus optimistisch so
bestimmten: Je mehr und je diversere – auch konflingierende – Interessenlagen in
den politischen Prozess einfließen, desto wahrscheinlicher ist es, dass das
resultierende Recht Formen der Kooperation legalisieren und sanktionieren wird, bei
denen alle Beteiligten gewinnen, d.h. surpluslogische Formen der Kooperation,
welche die potentia multitudines maximieren. Anders gesagt, die formalisierte
Austragung laufender Interessenkonflikte verhindert idealiter das Einschwenken des
kollektiven Machtprozesses in eine Minuslogik.

Damit kann ich jetzt abschließend die Frage nach der sachlichen Logik von Spinozas
Monismus hinsichtlich des Multitudebegriffs ganz knapp so beantworten: Es macht
für Spinoza keinen Sinn, Volk und Menge, die Bevölkerung, den sog. Pöbel und die
protestierende Masse begrifflich zu unterscheiden, weil dies suggerierte, es handelte
sich um abgegrenzte Phänomene. Das ist aber nicht der Fall. Die Menge geht nicht
ein für allemal in ein Volk über (d.h. hypothetischer Naturzustand und staatlicher
Zustand sind nicht kategorisch verschieden (TP3/3)), sondern eine Bevölkerung
realisiert aus sich selbst heraus qua politischer Konstitution einen stets fragil
bleibenden Machtprozess, der immer für ein Mehr oder Weniger, und sogar für den
Rückfall zum bloßen Haufen offen ist. Nicht nur der Pöbel ist affektgeleitet, sondern
schlechthin alle Menschen, und ihr gemeinsamer Prozess wird immer wieder zu
Minuslogiken tendieren, als deren Konsequenz protestierende Massen ihr Recht auf

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Surplus einfordern. Alle diese Dinge hängen in sich zusammmen, und deshalb gibt
es bei Spinoza für sei einen einzigen Begriff, eben: den der multitudo.

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