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Max Goldt benutzt Notizbücher. Wie er in einem Ende letzten Jahres in der
ZEIT abgedruckten Interview mitteilte, ist seit 1994 die mehr als stattliche
Anzahl von 270 Exemplaren von ihm vollgeschrieben worden. Goldt hat
auch sehr präzise, pragmatische Vorstellungen von der Beschaffenheit sol-
cher Notizbücher, wenn man sie aufgeschlagen hat: „So muss ein Notizbuch
liegen! Man muss beide Seiten nebeneinander betrachten können, es darf
nicht von allein zusammenklappen.“2 Beim Schreiben, so darf man diese Aus-
sage ergänzen, muss man sich also auf den Schreibvorgang konzentrieren
können und dabei eine größere, durch einen Mittelfalz spiegelsymmetrisch
aufgeteilte Arbeitsfläche zur Verfügung haben. Goldt macht damit auf die
Relevanz des inhaltlich noch gar nicht näher spezifizierten Schreibprozesses
selbst aufmerksam. Damit verbindet sich die von ihm allerdings nicht näher
dargelegte Überzeugung, dass die äußeren Umstände des Notierens, Skizzie-
rens und Entwerfens der literarischen Produktion keineswegs äußerlich blei-
ben. Natürlich haben auch viele andere Schriftsteller Notizbücher genutzt.
Und natürlich hat sich in der Editionsphilologie und Literaturwissenschaft
1 Jacob, Heinrich Eduard, Mozart oder Geist, Musik und Schicksal eines Europäers, Frankfurt / M.
1963, S. 266 [erstmals 1955].
2 „,Ich strotze vor Einfällen‘. Aber seit langer Zeit hat Max Goldt Angst, sie aufzuschreiben.
Warum? Ein Gespräch mit dem sanften Satiriker über Schreibblockaden, dumme Journalisten,
alberne Benimmregeln, die lächerlichen ,Unworte des Jahres‘ und andere Albernheiten der
Gegenwart“, in: Die ZEIT, Nr. 1 vom 29. Dezember 2016, S. 41f., hier S. 42.
3 Alle in den Haupttext integrierten Fundstellenhinweise beziehen sich auf die anzuzeigende
Arbeit. Da die zwei Bände durchgezählt worden sind – Band 2 beginnt mit S. 595 –, erübrigt
sich ein Hinweis auf die Bandnummer.
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4 Welche editorischen Probleme aus Benns handwerklicher Montagetechnik resultieren, wird auch
auch ersichtlich aus der auf hochwertig reproduzierte Autographen zurückgreifenden Doku-
mentation von Bürger, Jan, Benns Doppelleben oder Wie man sich selbst zusammensetzt, Marbach am
Neckar 2006 (= Marbacher Magazin, 113).
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5 Steinhagen, Harald, Die Statischen Gedichte von Gottfried Benn. Die Vollendung seiner expressionistischen
Lyrik, Stuttgart 1969.
6 Vgl. Gottfried Benn. Sämtliche Werke (Stuttgarter Ausgabe), in Verbindung mit Ilse Benn hrsg. von
Gerhard Schuster [Bände I–V] und Holger Hof [Bände VI–VII / 2], 7 Bände in 8 Bänden,
Stuttgart 1986–2004, hier Band I (Gesammelte Gedichte 1956), Band II (Zu Lebzeiten veröffentlichte
Gedichte, die nicht in die Sammlung von 1956 aufgenommen wurden. Gedichte aus dem Nachlass. Poetische
Fragmente 1901–1956) und Band VII/2 (Vorarbeiten, Entwürfe und Notizen aus dem Nachlass. Re-
gister). Aus dieser Ausgabe wird im Folgenden mit der Sigle „SW“ zitiert.
7 Vgl. z. B. Ries, Thorsten, „,Ewiger Traum, daß man etwas nicht macht, sondern daß es ent-
steht.‘ Zur Problematik der Textgenese in den Notizbüchern Gottfried Benns“, in: Dieter
Burdorf (Hrsg.), Edition und Interpretation moderner Lyrik seit Hölderlin, Berlin / New York 2010,
S. 155–175.
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sentierten Überlieferungsträger, aber natürlich lässt sich damit der von Hof
in seiner prinzipiellen Wichtigkeit erkannte, zudem nicht konsequent diplo-
matisch erschlossene materiale Zusammenhang des Schreibprozesses keines-
wegs adäquat abbilden. Obwohl die Stuttgarter Ausgabe wegen ihrer vollstän-
digen Erfassung von Benns Lyrik auf absehbare Zeit die verbindliche Re-
ferenzedition bleiben wird, ist Ries’ Auswahlausgabe also als methodisch am
besten reflektierte und hinsichtlich ihrer Realisierung anspruchsvollste Benn-
Edition einzuschätzen und sollte künftig bei der Beschäftigung mit den dort
edierten Gedichten bevorzugt genutzt werden.
Man kann im Hinblick auf die von Horst Bienek veranstalteten, seiner-
zeit Aufsehen erregenden Autoreninterviews8 davon sprechen, dass auch Ries
Werkstattgespräche geführt hat. Während sich Bienek jedoch an lebende Au-
toren gewandt hat, befragt Ries Autographen. Hatten Bieneks Zeitgenossen
die Möglichkeit, sowohl durch Einflussnahme auf die ihnen gestellten Fra-
gen als auch durch ihre darauf gegebenen Antworten sehr persönliche Deu-
tungsaspekte in die Interviews einzubringen, konzentrieren sich Ries’ Erkun-
dungen tatsächlich auf Benns Schreibwerkstatt und folgen einer wesentlich
stärker objektivierbaren, durch die Grundsätze und Fragestellungen einer ge-
netischen Archivausgabe disziplinierten Erkenntnisabsicht. Dennoch sind sie
keineswegs Resultate einer subjektfreien Beobachtung. Das hat nicht nur da-
mit zu tun, dass Ries die verwendeten Editionsgrundsätze eigenen Präferen-
zen und dem ausgewerteten Untersuchungsmaterial angepasst hat. Vielmehr
bringt schon die Beschränkung auf Gedichte, die dem Verwandlungsmotiv
verpflichtet sind, selbst dann eine subjektive Ausrichtung des Editionspro-
jekts mit sich, wenn man die unbestreitbare Relevanz dieses Motivs für Benns
Werk anerkennt – man hätte eben auch andere wichtige Themen darin fa-
vorisieren können. Außerdem sprechen die unvollständige Auswahl der Text-
träger (vgl. S. 106 f.) und das häufig schwer zu entscheidende Taxierungs-
problem, ob man es in deren Fall mit bloßen Tagesnotizen oder bereits mit
Vorarbeiten bzw. gar mit Entwürfen zu tun hat (vgl. S. 79), für die philolo-
gische Interpretationsbedürftigkeit der ausgewerteten Autographen. Ries
spricht diese Aspekte mehrmals mit begrüßenswerter Deutlichkeit aus und
macht damit den von seiner Einschätzung geprägten Zugriff auf das Text-
material transparent.
Nicht nachvollziehbar ist, warum einige Textträger nur deshalb aufgeführt
werden, weil sie schon von Steinhagen und Schuster als relevant eingestuft
worden sind (vgl. S. 42, Anm. 37). Ries hätte sie nicht berücksichtigen sol-
len, wenn er sie für unmaßgeblich hält. Ebenfalls bemängelt werden müssen
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einige Redundanzen in der Einleitung zur Edition, die vermutlich auf deren
Ausarbeitung als Zusammenfassung früherer, separat erschienener Aufsätze
zurückzuführen sind. Diese Aspekte sind jedoch nachrangig im Vergleich zu
einem grundsätzlichen Thema, das in dem Anspruch der textgenetischen Edi-
tion zum Ausdruck kommt, nicht an der Entstehung eines fixierbaren Werks,
sondern an der Dokumentation des Schreibprozesses interessiert zu sein.
Wenn dieser Anspruch unter Berufung auf Axel Gellhaus mit dem Argument
begründet wird, die Konzentration auf die Textgenese destabilisiere den tra-
ditionellen Werkbegriff „zugunsten des kognitiven Prozessaspekts“ (S. 49),
so fragt man sich, was damit gemeint sein soll. Gewiss können Faksimiles we-
sentlich bessere Einblicke in Umstände, Anlässe, Beweggründe, Hindernisse
und andere Aspekte des Schreibens vermitteln als jede andere, in der Edi-
tionsphilologie verwendete Darstellung der Textgenese vom Einzelstellen-
bis zum synoptischen Apparat.9 Die Kognitionstheorie leistet jedoch der pro-
blematischen Illusion Vorschub, sich in die Lage des Autors versetzen zu
können, wie an einem relativ einfachen Beispiel verdeutlicht werden kann.
Wenn Ries seinen Kollegen Hof zustimmend mit dem Satz zitiert (vgl.
S. 105), dass es „[z]um Zeitpunkt des Notierens […] weder ästhetisch noch
poetologisch eine Rolle [spielt], ob eine Formulierung in einem Brief, einem
in Arbeit befindlichen Werk, beidem oder überhaupt nicht mehr benutzt wer-
den wird“ (SW VII/2, S. 617), dann fragt man sich, woher beide Editoren
ihre Gewissheit beziehen. Was sich während des Notierens in Benns Kopf
abgespielt hat, ist dem materialen Textträger schlichtweg nicht zu entneh-
men – Benn hatte sehr wohl konkrete Beweggründe für seine Schreibarbeit.
Warum hätte er sie sonst ausführen sollen?
Auch der Hinweis auf das Interesse an „Schreibszenen“ oder „Schreib-
Szenen“ (vgl. S. 79, Anm. 79), das eine Vielzahl instruktiver Publikationen ins-
besondere in der seit 2004 erscheinenden Reihe Zur Genealogie des Schreibens
hervorgebracht hat, ist kein hinreichendes Argument für die editorische Pri-
vilegierung des Schreibprozesses. Denn während Aufsätze und Monogra-
phien immer nur von Teilen einer stark ausdifferenzierten, durch Methoden-
und Paradigmenpluralismus geprägten Forschungslandschaft nachgefragt
werden, stellen Editionen Grundlagen für die literaturwissenschaftlichen Fä-
cher bereit und sind deshalb einer anderen, breiter verankerten Erwartungs-
haltung ausgesetzt. Gerade bei Benn stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist,
das von ihm geschaffene „,Werk‘ […] aus der Perspektive der critique génétique
als eine Kontinuitätszuschreibung auf eine Reihe von Textzuständen zu den-
ken, welche nie als endgültig abgeschlossen oder stabilisiert betrachtet werden
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kann“ (S. 48 f.). Das vermag ein Vergleich mit Trakls anders gearteter Ar-
beitsweise zu demonstrieren, obwohl sich Ries auf einschlägige Trakl-Editio-
nen berufen zu können glaubt.10 Zwar stellt das Schreiben auch für Trakl ei-
nen offenen, keineswegs von vornherein ergebnisorientierten Prozess dar,
sondern gleicht vielmehr wie bei Benn einem vorantastenden Prüfen. Trakl
beginnt aber in medias res mit im eigentlichen Sinne poetischen, mehrere
Verse umfassenden Texten, die dann verworfen, durch Neueinsätze „über-
schrieben“ und durch weitere, frühere Formulierungen partiell übernehmen-
de Textstufen ersetzt werden. Das führt zu zwei bei Benn so nicht beobacht-
baren Folgen: Erstens hinterlässt Trakl in seinen Autographen hochwertige
literarische Texte, die als Stimulanzien für seine weitere dichterische Arbeit
dienen und bei einer Konzentration auf angebliche Endfassungen durch das
Raster der zu publizierenden Texte fallen bzw. als schwer zuordenbare Varian-
ten behandelt werden müssten.11 Zweitens kann bei dieser Produktionsweise
oftmals nicht entschieden werden, in welcher Relation die verfassten Texte
zueinander stehen, ob also in ihrem Fall z.B. noch von verschiedenen Fas-
sungen eines Gedichts oder von mehreren eigenständigen Gedichten auszu-
gehen ist. Hierzu gehört auch der Sachverhalt, dass Trakl bereits abgelegte,
aufgrund ihrer Reinschrift für abgeschlossen erklärte oder sogar schon ge-
druckte Gedichte erneut überarbeitet und stark verändert hat.12 Diese Phä-
nomene, die in der Tat für die Destabilisierung eines statischen Werkbegriffs
sprechen, treten bei dem an der Ausarbeitung „hinterlassungsfähige[r] Ge-
bilde“ (SW VI, S. 137) interessierten Autor Benn nicht auf. Man findet in der
Edition von Ries textgenetisch höchst aufschlussreiches Material, aber kaum
unverzichtbare, dem endgültigen Gedicht nicht mehr sinnvoll zuordenbare
poetische Trouvaillen. Und natürlich gibt es bei Benn wegen seines notori-
schen Desinteresses an einem für abgeschlossen gehaltenen Gedicht auch
nicht das Problem der (vermeintlichen) Fassungen.
Allerdings wird die anzuzeigende Edition von diesen Überlegungen nur
bedingt berührt, weil sie zu ihrem Vorteil keineswegs dogmatisch ihrer pro-
grammatischen Vorgabe folgt, sich auf den Schreibprozess zu konzentrieren.
10 Killy, Walther, „Entwurf des Gedichts. Über den Helian-Komplex“, in: ders., Über Georg Trakl,
Göttingen 1960, S. 52–96 u. 99 [Anm.].
11 Vgl. ebd., S. 79.
12 Dieselbe Arbeitstechnik lässt sich bei Hölderlin beobachten: „Unter ,Dekomposition‘ verstehe
ich hier einen spezifischen textgenetischen Vorgang, der nicht bloß einen vorhandenen Text
verbessert und korrigiert, sondern der eine in sich abgeschlossene Sinnstruktur angreift, so-
gar beschädigt, um daraus Energie für eine neue Sinnstruktur zu gewinnen“ (Groddeck, Wolf-
ram, „,Ebenbild‘ und ,Narben‘. Poetische Revision beim späten Hölderlin und der Ort der
Handschrift“, in: Martin Stingelin in Zusammenarbeit mit Davide Giuriato und Sandro Za-
netti [Hrsg.], „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manus-
kripte, München 2004, S. 175–190, hier S. 178).
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Indem Ries alle zu Benns Lebzeiten vorgelegten Drucke der edierten Ge-
dichte aufnimmt oder durch Variantenverzeichnisse erschließt, relativiert er
diese Vorgabe und lässt eine von ihm selbst vielleicht weniger gewünschte,
ihrer größeren Akzeptanz aber auf jeden Fall zuträgliche Rezeption seiner
Arbeit zu. Dies gilt trotz des Verzichts auf die faksimilierte Wiedergabe jener
Drucke, die für die Veranschaulichung des favorisierten Schreibprozesses in
der Tat nicht mehr einschlägig sind. Insgesamt kann Ries’ Edition in meh-
rerlei Hinsicht als begrüßenswerter Gewinn für die Benn-Forschung gelten.
Erstens entlarvt sie den Glauben an die teleologische Entstehung eines Benn-
Gedichts definitiv als naive, korrekturbedürftige Vorstellung. Zweitens führt
sie den überzeugenden Nachweis, dass der extensive, akribische Papierarbei-
ter13 und Montagekünstler Benn tatsächlich nur mit textgenetischen Mitteln
überzeugend ediert werden kann, auch wenn in seinem Fall keine Notwendig-
keit einer Destabilisierung des Werkbegriffs besteht. Damit markiert sie einen
qualitativen Sprung in der Erschließung von Benns Lyrik bzw. Werk. Drittens
eröffnet der Gesamtüberblick über das ausgebreitete Material interpretato-
rische Spielräume, weil die Einbeziehung materialer Produktionskontexte,
entstehungsgeschichtlicher Notizen und später verworfener Vorarbeiten oder
Varianten in das textuelle Umfeld eines schließlich abgeschlossenen Gedichts
zu dessen semantischer Anreicherung führt.
Was Eberhard Sauermann und Hermann Zwerschina – um eine in me-
thodischer Hinsicht vergleichbare Ausgabe14 heranzuziehen – für Trakls ge-
samtes Werk getan haben, kommt nun einigen Benn-Gedichten zugute. Da
Ries eine Auswahledition einer relativ kleinen Anzahl an Gedichten vorgelegt
hat, stellt sich natürlich die Frage, ob nicht Benns gesamtes (lyrisches) Werk
textgenetisch erschlossen werden sollte. Oder reicht es aus, Benns Schreib-
prozess exemplarisch anhand der jetzt vorgelegten Textträger zu studieren?
Wird, wenn man den schon jetzt erreichten Platzbedarf von 1042 Druck-
seiten in Rechnung stellt, eine vollständige Edition nicht viel zu ausladend –
Benns lyrisches Werk ist wesentlich umfangreicher als jenes von Trakl – und
wird sie nicht Materialien bereitstellen, die hauptsächlich für einen schmalen
Kreis textgenetisch arbeitender Editoren von Interesse ist? Sollte man alter-
nativ über eine digitale Edition nachdenken, die allerdings nur das Raum-
problem, nicht jedoch die ebenfalls angesprochene Frage nach ihrer Ver-
hältnismäßigkeit lösen könnte? Ries’ Arbeit bietet eine valide Grundlage für
solche auf breiter Basis durchzuführenden Anschlusserwägungen. Wenn man
wie der Rezensent aus den eben dargelegten Gründen der Ansicht ist, dass
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sie für die Benn-Forschung generell eine erhebliche Relevanz besitzt, wird
man eine digitale Edition für ein wünschenswertes Projekt halten, das na-
türlich die mit dem Medienwechsel einhergehenden erweiterten Darstel-
lungsmöglichkeiten nutzen müsste.
Ries’ Arbeit repräsentiert den neuesten Stand editionswissenschaftlicher
Theoriebildung und bewegt sich sowohl wegen ihrer methodologischen Re-
flektiertheit als auch mit ihrer konkreten Textpräsentation auf einem für die
Benn-Philologie bislang einzigartigen Niveau. Mit Zerstreuung darf man
diese opulenten, mit aufwändiger Sorgfalt konzipierten zwei Bände nicht in
die Hand nehmen, weil sie editorische Verweissysteme, Noten und weiter-
führende Kommentare enthalten, die auf den ersten Blick nicht leicht ein-
gängig sind. Wenn man sie jedoch sorgfältig studiert, wird man in ihr eine
benutzerfreundlich konzipierte und im Übrigen schön gestaltete Ausgabe er-
kennen, die gute Reproduktionen der Autographen enthält und mit einer ver-
gleichsweise geringen Anzahl editorischer Zeichen und Siglen auskommt –
eben mit gerade so vielen, als nötig sind. Mit der angesprochenen Schönheit
sind selbstverständlich nicht die faksimilierten Schriftzüge Benns gemeint,
womit sich übrigens wieder der Kreis zu Max Goldt schließt, der „den Wert
einer schönen Handschrift“ zu schätzen weiß und sie nach Auskunft seines
Interviewers tatsächlich besitzt.15 Aber auch Benn war aus pragmatischen
Gründen wenigstens der Überzeugung, man müsse als „großer Schriftsteller
[…] vor allem seine eigene Handschrift lesen können. Daran hat es bei mir von
je gemangelt. Alle Notizen, Zettel, Diarien nützen zu nichts, wenn man nach
2 Tagen schon garnicht mehr weiss, was sie bedeuten sollen“ (SW VII/2, S.
617). Die in großer Fülle publizierten Faksimiles demonstrieren einmal mehr
eindrucksvoll, dass weder Benns Stoßseufzer noch die von späteren Editoren
getroffenen Aussagen über dessen kaum entzifferbare Schriftzüge aus der
Luft gegriffen waren. Wenn wir diese Diarien nun sogar 80 bis 60 Jahre nach
ihrer Entstehung bequem lesen können, so verdanken wir dies der bewunde-
rungswürdigen Dechiffrierungskunst von Meister Ries und können zugleich
ermessen, wie viel Fleiß, Akribie und Ausdauer dafür notwendig gewesen
sein müssen.
Michael Ansel
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