Touring Club Schweiz (TCS), ursprünglich ein reiner Fahrradclub, ab
1.9.1896 1901 auch für Autofahrer geöffnet 24.10.1896 Österreichischer Touring-Club (OTC)
Österreichischer Automobil-Club (1946 mit dem OTC vereinigt zum
6.2.1898 ÖAMTC)
6.12.1898 Automobil Club der Schweiz (ACS)
31.7.1899 Automobilclub von Deutschland (AvD)
8.4.1900 L’Automobile Club (AC), Frankreich
4.3.1902 American Automobile Association (AAA), USA
Deutsche Motorradfahrer-Vereinigung (1911 umbenannt in Allgemeiner
24.5.1903 Deutscher Automobilclub, ADAC) Von der zeitlichen Abfolge her ist der ADAC also nur die Nummer neun unter den wichtigen Automobilclubs der Welt. Und erst recht ist er natürlich nicht der größte: Auch wenn er im Jahr 2010 den japanischen Automobilclub JAF als weltweite Nummer zwei abgelöst hat – souveräner Spitzenreiter ist und bleibt die amerikanische AAA, die mit rund 50 Millionen fast dreimal so viele Mitglieder hat wie unser deutsches Vereinsflaggschiff. Einen Rekord hält der ADAC immerhin, und zwar bei den Mitgliederzahlen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Allerdings ist der Vorsprung auch hier nur knapp: Mit 20,5 Prozent bleibt der Touring Club Schweiz dem ADAC (22 Prozent) dicht auf den Fersen. Unter dem Strich bleibt die Erkenntnis: Der Spaß am fahrbaren Untersatz hat Automobilisten schon immer und in allen motorisierten Ländern dazu bewogen, sich mit Gleichgesinnten in Clubs zusammenzuschließen. Erfunden haben »wir« die Benzinkarosse ja schließlich trotzdem, und das kann uns keiner nehmen – Club hin, Verein her! Autobahn Erste Ausfahrt Rom Einmal Luftlinie Mumbai und zurück: Das sind fast dreizehntausend Kilometer, und so viel misst auch der Stolz aller motorisierten Bundesbürger. Damit ist unser Autobahnnetz zwar weltweit nur die Nummer drei hinter den USA und China, aber wer hat’s erfunden? Wir natürlich! Was man schon unschwer daran erkennt, dass unsere geliebten deutschen Rennstrecken immer wieder als internationale Referenz herhalten müssen: Wenn Autohersteller oder Motorjournalisten in den USA ein Fahrzeug als besonders sportlich kennzeichnen wollen, lautet einer ihrer Lieblingsausdrücke »autobahn tested«. Das heißt, man hat mit der Karre selbst bei Tempo 200 oder 250 keinen Abflug gemacht – was in jedem anderen Land auch ohne Abflug strikt verboten wäre und das sofortige Einkassieren des Führerscheins nach sich zöge. Dabei ist die Autobahn keineswegs eine deutsche Erfindung, und es wurde auch nicht zum ersten Mal im Dritten Reich eine gebaut. Das Grundkonzept geht sogar – man lese und staune – auf die Zeit des antiken Rom zurück: Im 1. Jahrhundert n. Chr. ließ Kaiser Claudius die Städte Rom und Ostia durch den vermutlich ersten Verkehrsweg verbinden, der separate Fahrspuren für jede Richtung besaß – wie die heutigen Autobahnen getrennt durch einen Mittelstreifen (der seinerzeit allerdings für Fußgänger gedacht war). Diese ursprünglich 24 Kilometer lange Strecke, die »Via Portuensis«, dürfte damals die meistbefahrene Straße der Welt gewesen sein. Einige ihrer Teilstücke sind zwischen Pozzuoli und Porta Portese noch heute zu besichtigen. Das Imperium Romanum ging bekanntlich unter, und mit ihm verfielen die meisten seiner Städte, sodass die spätrömisch-dekadente Idee einer mehrspurigen Straße für viele Jahrhunderte im Dunkel der Geschichte verschwand. Mit der Erfindung des Automobils und später des Fließbands änderte sich die Situation allerdings dramatisch. Der Großangriff der knatternden Kisten überforderte zunehmend die herkömmlichen Pferdestraßen, sodass eine grundlegend neue Lösung hermusste. Und als Erste setzten nicht etwa die Deutschen, sondern die Amerikaner zum Überholen an: Schon ab 1907 entstanden im Ballungsgebiet um New York City sogenannte parkways – vierspurige Schnellstraßen mit Beton- oder Ziegelmauern als Fahrbahntrenner, zum Teil auch mit begrüntem Mittelstreifen. Diese frühen Autobahnvorläufer waren allerdings noch nicht konsequent kreuzungsfrei. Im Vergleich dazu hinkte Europa jedenfalls weit hinterher, wie auch bei der Massenmotorisierung als solcher. So war die 1921 eröffnete schnurgerade Berliner AVUS (Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße) noch keine echte Autobahn, sondern eher ein Luxusspielplatz für betuchte Herrenfahrer mit Rennambitionen. Als kühne Zukunftsvision empfand man es denn auch, als der italienische Ingenieur Piero Puricelli 1922 den Plan zur ersten wirklichen Autostrada entwickelte, genauer, zu einer »nuova strada riservata esclusivamente al traffico a motore« – einer neuen Straße ausschließlich für den motorisierten Verkehr. In ganz Italien gab es damals nur knapp 90 000 Kraftfahrzeuge, was das Projekt als reichlich überzogen erscheinen ließ. Da die Kosten (schon damals!) über eine Maut finanziert werden sollten, wurde der Bau trotzdem beschlossen. Bereits zwei Jahre später – am 21. September 1924 – konnte das weiße Band zerschnitten werden, und Europa hatte zwischen Milano und Varese seine erste Autobahn, oder besser Kraftfahrzeugstraße. Sie besaß zwar nur eine Spur in jede Richtung, aber bereits beim Folgeprojekt wurde dieses Manko korrigiert: Die 1927 eröffnete, 92 Kilometer lange Autobahnumgehung von Rom (Tangenziale) war ebenso vierspurig wie ihre drei Jahre später entstandenen Verlängerungen nach Neapel im Süden und Florenz im Norden. Der Vorläufer der berühmten Autostrada del Sole, deren Name bei jedem Nordlicht sehnsuchtsvolle Gefühle weckt, war geboren. Und was ist nun mit uns Deutschen? Gemach, wir reisen zunächst wieder nach Amerika, diesmal in die Karibik: Zwischen 1927 und 1931 – also Jahre vor Eröffnung der ersten deutschen Autobahn – entstand unter dem kubanischen Diktator Gerardo Machado nach dem Vorbild der USA die erste autobahnähnliche Straße Lateinamerikas. Die noch heute existierende, inzwischen vier- bis sechsspurige Autopista Nacional (ursprünglich Carretera Central) zwischen Havanna und Taguasco ließ allerdings wichtige Städte buchstäblich links oder auch rechts liegen: Ihr Hauptzweck war es, den Zuckerbaronen einen komfortablen Transportweg für ihre süße und teure Fracht zu verschaffen. Aber nun sind endlich wir dran. Und immerhin besitzen wir für unsere Fernstraßen ein eigenes Wort, auch wenn das Urheberrecht den Italienern gebührt: Um 1929 prägte der Berliner Bauingenieur Robert Otzen, Vorsitzender des Fernstraßenprojekts Hamburg-Frankfurt-Basel (Ha-Fra-Ba), erstmals den Begriff »Autobahn«. Für die Entwicklung des Autobahnnetzes wurde allerdings wiederum Piero Puricelli herangezogen – schließlich brachte er als Pionier die meiste Erfahrung mit. So trugen wesentliche Züge des deutschen Konzepts seine Handschrift, etwa die Trennung der Fahrtrichtungen durch einen breiten Grünstreifen und die Verwendung von Betonplatten als Fahrbahnbelag. Jahre später kam es deswegen zu einem erbitterten Streit zwischen Puricelli und dem deutschen Ingenieur Fritz Todt, der als Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen die Autobahnen zu »Straßen des Führers« erklärte, während Puricelli sie (mit größerer Berechtigung) für sein Idol Benito Mussolini reklamierte. Duce hin, Führer her – auf jeden Fall war mit den deutschen Plänen der Kreis zu Italien geschlossen, vom 20. Jahrhundert bis zurück zum Römischen Kaiserreich. Und nimmt man Kuba und die USA hinzu, ist die Autobahn ein Multikulti-Produkt reinsten Wassers. Am 6. August 1932 war es dann so weit: Der damalige Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer eröffnete das erste deutsche Autobahnteilstück zwischen Köln und Bonn. Die zwanzig Kilometer lange Strecke – hier noch mit schmucklosem Farb- statt Grünstreifen in der Mitte – war auf die damals abenteuerliche Geschwindigkeit von 120 km/h ausgelegt, was schon eine leise Vorahnung auf den ungebremsten Vorwärtsdrang der heutigen PS-Ritter vermittelt. Immerhin: Wo sonst könnte ein Ferrarista oder Porschefahrer zeigen, was seine Bodenrakete drauf hat, wenn nicht in Deutschland? So bleibt uns beim Thema Autobahn zumindest ein Trost: Wir Deutschen sind zwar nicht die Ersten oder Einzigen, aber nach wie vor die Schnellsten. Bier Ein Prost auf Ninkasi Bier ist ein ganz besonderer Saft und ganz besonders für uns Deutsche. Selbst unseren Sprachgebrauch überschwemmt es ja tagtäglich in Gestalt der Redensart »Nicht mein Bier / nicht dein Bier«, die den Gerstensaft scheinbar zum Gleichnis für sämtliche Facetten des menschlichen Daseins erhebt. Gemeinsam kommen beide Varianten immerhin auf die süffige Zahl von fast 900 000 Suchmaschinentreffern. Aber da geht’s auch schon los mit den Irrtümern. Beim vermeintlichen Bier in dieser Redewendung handelt es sich in Wirklichkeit um eine Verballhornung des Wortes »Birne«. Und auch im Hinblick auf historische und statistische Tatsachen gilt es die deutsche Bierseligkeit etwas zu dämpfen: Weder haben wir das Bier erfunden, noch ist Deutschland Weltmeister im Brauen, Exportieren oder Trinken des Gerstensaftes. Woher also kommt das Bier? Die ältesten Hinweise finden sich ausgerechnet in einer Region, die alkoholische Getränke heute eher verschmäht – nämlich in Mesopotamien, dem Landstrich zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris auf dem Gebiet des heutigen Irak und der östlichen Türkei. Das dort lebende antike Volk der Sumerer verstand sich auf das Bierbrauen vermutlich schon vor über sechstausend Jahren. Man hat Überreste von Bier aus Weizen gefunden, die aus der Zeit um 3000 v. Chr. stammen; außerdem sind sumerische Bilddarstellungen erhalten, die Bier trinkende Menschen zeigen. Es gab sogar eine Göttin des Bierbrauens, Ninkasi, wie man aus einer an sie gerichteten Hymne in Keilschrift weiß. Selbst feinere Zungen kamen offenbar schon früh auf ihre Kosten: Überlieferungen auf Tontafeln aus der Zeit der Babylonier, die das Bierbrauen von den Sumerern übernahmen, listen bereits über zwanzig verschiedene Sorten auf. Der älteste chemische Nachweis für aus Gerste gebrautes Bier, wie es bis zum heutigen Tag Standard ist, wurde anhand von Tonkrügen in der Ruinenstadt Godin Tepe im heutigen Iran erbracht. Diese Funde stammen aus dem 3. bis 4. Jahrtausend v. Chr. Bei den alten Ägyptern schließlich blühte schon eine regelrechte Bierkultur: Sie nutzten den Gerstensaft nicht nur als Nahrungsmittel, sondern auch als Medizin gegen verschiedene Krankheiten sowie als Opfergabe in religiösen Zeremonien. Nach alten Grabinschriften zu urteilen, gab man sogar den Verstorbenen als Proviant für ihre Reise ins Jenseits mehrere Sorten Bier mit ins Grab. Von den Ägyptern lernten möglicherweise später die Griechen das Bierbrauen, von diesen wiederum die Römer. Allerdings war bei den europäischen Mittelmeer-Anrainern der Wein stets wesentlich populärer als Bier, was angesichts des für den Weinbau idealen Klimas auch nur zu verständlich ist. Bier galt demgegenüber als Arme-Leute-Getränk, wenn nicht gar als barbarisch – und ausgerechnet in diesem Zusammenhang kommen unsere Urahnen ins Spiel. Der Geschichtsschreiber Tacitus äußert sich in seinem Hauptwerk Germania (98 n. Chr.) jedenfalls ziemlich abfällig über die primitiven, Bier saufenden Germanen. Die hatten nämlich ebenfalls die Braukunst erlernt, wann genau, vermag niemand zu sagen. Wie überhaupt das Bier in der Menschheitsgeschichte eine globale Rolle spielt: Völlig unabhängig von der Alten Welt stellten auch die Ureinwohner Mittel- und Südamerikas aus Mais ein vergorenes Getränk her, das unserem Bier stark ähnelte. Schon Kolumbus erwähnt in seinen Reiseberichten, dass er damit bewirtet worden sei. Man kann also festhalten, dass die unterschiedlichsten Völker des Altertums irgendwann zu Brauern wurden. Das Prinzip verdankt seine Entdeckung wahrscheinlich dem Zufall: Ein Behälter mit Brotteig könnte sich mit Regenwasser gefüllt haben, das Ganze kam in Kontakt mit wilden Hefesporen und fing an zu gären – und siehe da, die entstandene Brühe erwies sich als trinkbar und obendrein angenehm berauschend. Auch heute noch bezeichnet man Bier ja gern als »flüssiges Brot«, und die Erfindung von Brot und Bier wird von vielen Historikern als paralleler Zivilisationsschritt gesehen. Der älteste gesicherte Nachweis für eine Bierbrauertätigkeit auf deutschem Boden stammt aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. Es handelt sich um Bieramphoren, die in Kasendorf bei Kulmbach in Oberfranken gefunden wurden. Von einem regelrechten Brauereiwesen kann man allerdings erst ab dem frühen Mittelalter sprechen. Den Anfang machten dabei Klosterbrauereien, die besonders von Karl dem Großen systematisch gefördert wurden. Die Geschichte dieser Braustätten lässt sich bis zu dem irischen Wandermönch Columban (521 – 597) zurückverfolgen: Der siedelte sich gemeinsam mit seinem Weggefährten Gallus irgendwann südlich des Bodensees an und gründete dort einen Orden, zunächst nur in Form einer bescheidenen Klause. Im Jahr 719 oder 720 entstand dann an gleicher Stelle – nach Gründung der Stadt St. Gallen – das Kloster St. Columban mit angeschlossener Brauerei. Die (wahrscheinlich) älteste kommerzielle Bierbrauerei der Welt befand sich also nicht etwa in Bayern, sondern in der heutigen Schweiz. Um das Jahr 1000 arbeiteten im Kloster bereits über hundert Mönche, die in drei Brauhäusern die Sorten Celia, Cerevisia und Conventus herstellten. Immerhin können wir aber auf eine der ältesten noch existierenden Brauereien stolz sein. Im Jahr 830 gründete Bischof Hitto von Freising auf dem Berg Weihenstephan nördlich von München das Kloster Weihenstephan. Im Jahr 1040 erhielten die dortigen Mönche von der Stadt Freising das Brau- und Schankrecht – und noch heute, bald tausend Jahre danach, ist die Brauerei Weihenstephan am gleichen Ort zu Hause. Als weitere deutsche Pioniertat kann die Entdeckung des Hopfens als Bierwürze gelten, die ebenfalls auf die Brautätigkeit von Mönchen zurückgeht. Sie ist sogar noch älter als die Marke Weihenstephan: Gehopftes Bier wird erstmals im Jahr 822 von einem karolingischen Abt beschrieben. Nicht zu vergessen die Vorreiterrolle bei Reinheit und Qualität des Bieres: Zwar gab es diesbezüglich schon im Mittelalter strenge Vorschriften, aber in vielen Brauereien wurde trotzdem gepanscht, was das Zeug hielt. Man experimentierte mit Kräutern und Gewürzen wie Eichenrinde und Rosmarin; sogar Kohlenstaub wurde zugegeben, um das Bier dunkler zu machen. Um die zweifelhaften kreativen Auswüchse wenigstens in seinem Hoheitsbereich zu unterbinden, erließ der bayerische Herzog Wilhelm IV. am 23. April 1516 sein berühmtes Reinheitsgebot. Demnach gehören ins Bier ausschließlich Wasser, Hopfen und Malz. Noch heute werden alle deutschen Biere unverändert nach diesen Vorgaben gebraut. In puncto Klasse rangieren deutsche Biere also sicherlich ganz oben auf der Skala. In puncto Masse dagegen müssen wir uns den ganz Großen geschlagen geben: Mit gut 100 Millionen Hektolitern Bierausstoß pro Jahr ist Deutschland zwar Europameister, beim Export erreichen wir aber nur Platz zwei hinter den Niederlanden. Und im Weltmaßstab spielt die Oberliga sowieso ganz woanders – man kann es sich fast denken: Wie in so vielen Disziplinen liegen auch beim Bierbrauen die Chinesen einsam an der Spitze. Fast 25 Prozent der gesamten Weltjahresproduktion, rund zwei Milliarden Hektoliter, werden in der Volksrepublik China erzeugt. Das ist zwanzig Mal so viel, wie sämtliche deutschen Brauereien zusammen produzieren. Platz zwei nehmen in dieser Tabelle die USA ein, Deutschland folgt erst auf Platz fünf. Auch die größten Brauereien sind somit, wie sich vermuten lässt, keine deutschen: Fünf ausländische Branchenriesen – AB-InBev, SAB-Miller, Heineken, Carlsberg und China Resource Brewery – teilen die Hälfte des Weltmarktes unter sich auf. Die drei größten deutschen Brauereigruppen erreichen demgegenüber zusammen gerade mal einen Anteil von 1,5 Prozent. Anders sieht es beim Hopfen aus – hier hat Deutschland mit über einem Drittel der Welternte die Nase vorn. Und auch bei der Anzahl der Brauereien sind wir unschlagbar: Insgesamt 1330 gibt es in Deutschland, wobei sich die größte Zusammenballung (drei Brauereien pro Hektar!) im bayerischen Regierungsbezirk Oberfranken findet. Beide Zahlen sind mit Abstand Weltrekord. Ob es unbedingt erstrebenswert ist, auch beim Pro-Kopf- Bierkonsum den Weltmeistertitel innezuhaben und damit dem Klischee von Tacitus’ saufenden Germanen zu entsprechen, sei dahingestellt. Wer sich darum sorgt, kann indes beruhigt sein: Diesen Titel haben wir nicht. Allerdings liegt Deutschland regelmäßig in der Spitzengruppe der schluckfreudigsten Nationen, hinter Rekordmeister Tschechien mit rund 150 Litern pro Kopf jährlich. Die Rangfolge auf den übrigen Plätzen wechselt des Öfteren. Zu den Dauerkandidaten auf Platz zwei gehören neben Deutschland auch Österreich, Irland und Australien. Ob es für uns nächstes Jahr wieder zum Vizemeister reicht? Hören wir uns in Oberbayern um: »I möcht gern an Biersee so groß wie der Schliersee«, heißt es in einem populären Schunkellied aus den Fünfzigern. Na, das dann doch lieber nicht. Bundesrepublik In 21 Staaten um die Welt Wer ist bereit für die Millionenfrage? Kandidaten vor! Aber Achtung, die Fragen zum Stichwort »Bundesrepublik« sind knifflig. Dass nach Jahrzehnten der Männerherrschaft erstmals eine Frau die Richtlinien der Politik bestimmt, dürfte zwar weitgehend bekannt sein. Ebenso, dass der Name der Bundeshauptstadt mit B beginnt. Aber hätten Sie zum Beispiel auch gewusst, dass die Bundesrepublik über die bedeutendste Zuckerrohrindustrie der Welt verfügt? Dass ihre Fußballnationalmannschaft schon fünf Mal Weltmeister war? Oder dass nur 1,5 Millionen Bundesbürger die deutsche Sprache beherrschen, dafür aber 97 Prozent der Bevölkerung ein Idiom, das entfernt wie Portugiesisch klingt? Für Leser, die spätestens jetzt die Stirn runzeln: Es hat alles seine Richtigkeit. Denn gemeint ist natürlich nicht die Bundesrepublik Deutschland, sondern ein Land, das 45 Längengrade weiter westlich liegt – die Bundesrepublik Brasilien (República Federativa do Brasil). Und so weit wie der Amazonas vom Rhein sind wir Deutschen auch davon entfernt, diese Staatsform erfunden zu haben: In der Heimat von Samba und Lambada wurde sie schon 1891 erstmals begründet, also stramme 58 Jahre vor der ersten echten Bundesrepublik auf deutschem Boden. Allerdings wackelte der brasilianische Staat in den folgenden Jahrzehnten erheblich und durchlief diverse Diktaturen, wie man es praktisch von allen lateinamerikanischen Ländern kennt. Erst seit 1985 ist Brasilien eine gefestigte Demokratie, und 1993 wurde per Volksabstimmung die Rückkehr zum Staatsmodell der Bundesrepublik beschlossen, also zu einem Zusammenschluss mehrerer teilsouveräner Staaten unter einer gemeinsamen Zentralregierung. 26 Bundesstaaten und ein Bundesdistrikt (Distrito Federal) bilden seitdem ein Staatsgefüge, das sich im Grundsatz kaum von unserem deutschen unterscheidet – nur dass die Regierungschefin nicht Bundeskanzlerin, sondern Präsidentin heißt und das Amt der Bundespräsidentin gleich mit bekleidet. Dies nur als Beispiel. Denn Brasilien ist keineswegs unser einziger Bundes- Genosse auf einem Planeten der Königreiche, Volks- und Präsidialrepubliken. Ganz im Gegenteil, die Idee des Föderalismus zieht sich rund um die Welt: Bundesrepubliken sind neben Deutschland und Brasilien auch Österreich, die Schweiz, Bosnien und Herzegowina, Russland, Irak, Äthiopien, Somalia, Sudan, Südsudan, Nigeria, die Komoren, Pakistan, Indien, Nepal, Mikronesien, die USA, Mexiko, Venezuela und Argentinien. Macht 21 Staaten in sämtlichen Breiten und Zeitzonen dieser Erde. Andere Bundesrepubliken wiederum sind längst Geschichte, wie die Republiek der Zeven Verenigde Provinciën in den Niederlanden (1588 – 1795) oder die República Federal de Centro América (1824 – 1839). Das Urvorbild besteht dagegen noch heute in fast unveränderter Form: Es ist die Schweiz, entstanden schon im Spätmittelalter als »Confoederatio Helvetica«. Der Legende nach liegt ihrer Gründung der berühmte Rütlischwur zugrunde, den wir aus Schillers Vers »Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern« kennen. Hat man allerdings je erlebt, dass in Presseberichten über eines dieser Länder von der »Bundesrepublik« die Rede ist? Nein, mit eingespieltem Automatismus schnurrt immer nur Deutschland (bzw. früher sein westlicher Teil) auf diese Kurzformel zusammen, sodass man tatsächlich meinen könnte, wir seien die einzigen Bundesrepublikaner des Erdenrunds. Allenfalls – und sogar bemerkenswert oft – taucht in den Medien die Bezeichnung »Bundesrepublik Österreich« auf. Womit die Autoren leider keine Chance hätten, bei Günther Jauch die Million abzustauben: Die frühere k.u.k. Monarchie ist zwar eine Bundesrepublik, sie heißt aber (wie diverse andere) nicht so, obwohl es auch in Österreich die Ämter des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten gibt. »Ja in der Bundesrepublik, da machen alle gern Musik«, sang die italienische Schlagernudel Rita Pavone Anfang der Siebzigerjahre. Das jedenfalls passt länderübergreifend – ganz besonders aber auf Brasilien. Currywurst Indien liegt in Charlottenburg Da mögen kultivierte Feinschmecker noch so sehr Nasen, Gaumen und sonstige Sinnesorgane rümpfen – die Currywurst gehört unzweifelhaft zu Deutschland, und das nun schon seit mehr als sechs Jahrzehnten. Unausrottbar beherrscht sie neben Hamburgern, Döner und Pizza unser nationales Schnellimbiss-Wesen. Und so pikant wie die Sauce, so ätzend sind Spott und Häme, die wahre und vermeintliche Gourmets bisweilen über sie ausgießen: Als »ungesund, billig und hässlich« schmähte sie etwa der Journalist Christoph Giesen in der Süddeutschen Zeitung.[4] Noch mehr schüttelte sich sein britischer Kollege Roger Boyes: »Ungefähr so natürlich wie Nylon«, lautet dessen Fazit, »eine kaum essbare, frittierte Technicolor-Wurst.«[5] Also nichts weiter als Junkfood? Nun, letzten Endes ist das Geschmacks- und Ansichtssache. Publikumsliebling Herbert Grönemeyer zum Beispiel vertrat 1982 in seinem Ruhrpott-Kultsong »Currywurst« einen völlig anderen Standpunkt: »Kommse vonne Schicht, wat Schönret gibt et nich als wie Currywurst.« Sternekoch Eckart Witzigmann ist – man lese und staune – bekennender Currywurst-Fan. Im November 2009 verlieh der Edelrestaurantführer Gault Millau (!) einer Hamburger Currywurstbude höchste Weihen. Und wollen Politiker sich volksnah geben, in was beißen sie mit Vorliebe vor laufenden Kameras? Frag nach bei Altkanzler Gerhard Schröder. Irgendetwas muss also dran sein an diesem Stück Wurst mit Sauce. Anerkannte Erfinderin der Currywurst ist die Berlinerin Herta Heuwer, die in der Nachkriegszeit einen Imbissstand im Stadtteil Charlottenburg, im damals britischen Sektor der Stadt, betrieb. Am 4. September 1949 soll sie auf ihre glorreiche Idee gekommen sein – möglicherweise angeregt durch die amerikanische Spezialität »Steak mit Ketchup«, die sie von den US- Besatzungstruppen her kannte. Nun, Steaks waren für die Berliner in jenen Jahren Luxus, also griff Frau Heuwer ersatzweise zu einer Brühwurst aus Schweinefleisch. An Ketchup war ebenfalls schwer zu kommen – den gab es 1949 so wenig im Laden zu kaufen wie amerikanische Zigaretten oder Kaugummi. Also vermischte sie Tomatenmark mit ein paar anderen der damals verfügbaren Zutaten, um wenigstens etwas Ähnliches hinzubekommen. Und weil das Wetter gerade schlecht war und kein Gast sich blicken ließ, experimentierte sie noch mit zusätzlichen Gewürzen herum. Vermutlich bei britischen Soldaten hatte sie Worcestershire-Soße und Currypulver abgestaubt – also rein damit. Und wie wir heute wissen: Die so zusammengerührte Pampe war tatsächlich genießbar. In einem späteren Interview kommentierte Frau Heuwer ihr Zufallsrezept lakonisch: »Es goss kleene Kinderköppe, keen Mensch war an meiner Bude. Aus Langeweile rührte ich Gewürze mit Tomatenmark zusammen. Und es schmeckte herrlich.«[6] Was also lag näher, als die neue Spezialität ins Angebot aufzunehmen? Herta Heuwer tat es – und siehe da, die Currywurst erwies sich als derartiger Verkaufsschlager, dass ihre Erfinderin bald ein größeres Lokal aufmachen konnte. 1958 meldete sie ihre Soße unter dem Namen »Chillup« sogar zum Patent an, und tatsächlich wurde der Patentschutz am 21. Januar 1959 offiziell verbrieft. Was natürlich niemanden daran hindern konnte, ähnlich schmeckende Soßen zusammenzukleistern – so verbreitete sich die Idee schnell über weite Teile Deutschlands, neben Berlin vor allem in Hamburg und im Ruhrgebiet. Ab 1960 machte die Currywurst auch in der DDR Karriere: Günter Konnopke, Sohn des Ostberliner Imbissbudenbetreibers Max Konnopke, entdeckte sie während seiner Metzgerlehre im Westen und erfand gemeinsam mit seinem Vater eine eigene Soße. In ihrem Kiosk am Prenzlauer Berg landeten die Konnopkes damit einen Riesenerfolg, und so war die Currywurst – mit welcher Soße auch immer – schon früh ein gesamtdeutscher Hit. Heute gilt »Konnopke’s Imbiss« nicht nur als das Berliner Currywurst-Mekka, sondern als regelrechte Institution, die zur Stadt gehört wie der Fernsehturm und das Brandenburger Tor. Aber nun die Gretchenfrage: Wie deutsch ist das Ganze denn eigentlich? Nehmen wir die rotbraune Würzpampe mal unter die Lupe. Ihr Grundbestandteil sind Tomaten – für uns heute eine selbstverständliche und allgegenwärtige Frucht, aber 1949 in Deutschland noch nicht sehr verbreitet. Ursprünglich stammt die Tomate aus Mittel- und Südamerika, und ihr Name leitet sich aus der Aztekensprache Nahuatl ab: tomatl. In Europa fand sie bis weit ins 18. Jahrhundert hinein fast ausschließlich als Zierpflanze Verwendung; nur in Italien und England war sie auch als Nahrungsmittel populär. Erst ab 1900 hielten Tomatensalat und Tomatensuppe langsam auch bei uns Einzug. Bis die Tomate ihren Weg in den Ketchup fand, verging nach der Entdeckung Amerikas ebenfalls eine lange Zeit. Eigentlich hat das Wort Ketchup mit Tomaten gar nichts zu tun: Sein Ursprung ist zwar nicht vollständig geklärt, aber mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stammt es aus dem Fernen Osten. Möglicherweise ist es von kecap abgeleitet, einer indonesischen Variante der Sojasoße. Es könnte auch aus China stammen, wo gegen Ende des 17. Jahrhunderts erstmals kôe-chiap oder kê-tsiap erwähnt wird – eine Soße aus vergorenem Fisch, ähnlich der in Vietnam verbreiteten Spielart nuóc-mă΄m. Im frühen 18. Jahrhundert jedenfalls entdeckten britische Reisende diese Spezialität, nannten sie Catchup und brachten sie nach Europa mit, wo sie bald eifrig nachgeahmt wurde. Das erste Rezept für englischen Catchup findet sich 1727 in einem Ratgeber für Hausfrauen: Man nehme Sardellen, Schalotten, Weißweinessig, Weißwein und füge diverse Gewürze hinzu. Das Ergebnis, definiert als »High East-India Sauce«, wurde schnell populär und zog eine ganze Reihe unterschiedlicher Rezeptvarianten nach sich. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts gab es Catchup in England auch als Fertigsoße zu kaufen. Wohlgemerkt: noch ohne Tomaten. Britische Auswanderer machten den Ketchup schließlich auch in den USA bekannt. Wer dort wann das erste Rezept auf Basis pürierter Tomaten vorstellte, ist nicht einwandfrei geklärt – wahrscheinlich aber war es der Gastronom Richard Briggs in seinem 1792 erschienenen Kochbuch The new art of cookery. Jedenfalls erfreute sich die so angereicherte Form des Ketchups – bald auch in ebendieser Schreibweise – in Nordamerika rasant wachsender Beliebtheit, und zwar lange vor den Tomaten selbst (die, als reine Früchte genossen, vielfach als giftig galten). Endgültig zum Millionenseller wurde die rote Pampe in den 1880er-Jahren, als sie der legendäre Henry John Heinz aus Pittsburgh in die Produktpalette seiner Lebensmittelfirma aufnahm. Mit den amerikanischen Besatzern kam diese Spezialität 1945 dann auch nach Deutschland und setzte hier ihren Siegeszug fort. Der Curry, den Herta Heuwer ihrer Spezialsoße beigab, wurde ebenfalls zuerst von Briten nach Europa eingeführt. Er hat seine Ursprünge in Südindien, Sri Lanka, Bangladesch und Pakistan und schreibt sich im Original kari – was eigentlich nicht das Gewürz meint, sondern die so gewürzten Gerichte: kari bedeutet in der tamilischen Sprache so viel wie Soße, Suppe oder Eintopf. Die gleichlautende Gewürzmischung Curry (oder Körri, wie es Amerikaner und Deutsche aussprechen) ist eher eine vereinfachte Version der indischen Masalas, die als Sammelbegriff eine ganze Reihe verschiedener Gewürzzubereitungen für Curry-Gerichte bezeichnen. Zu kompliziert und exotisch? So empfanden es die englischen Kolonialherren des 18. Jahrhunderts auch, weshalb sie – abgeleitet aus dem südindischen Sambarpulver – eine eigene Currymischung zusammenstellten, die den europäischen Geschmack eher traf. Heraus kam das klassische ockergelbe Pulver, wie wir es heute kennen. Im Zweiten Weltkrieg gehörte dieser Curry Powder übrigens zur Standardverpflegung der britischen Armee, sonst wäre Herta Heuwer wohl nie an die wichtigste Zutat ihrer »Chillup«-Sauce gekommen. Die Worcestershire-Soße wiederum ist eine echt englische Erfindung, die seit 1837 von der Firma Lea & Perrins in Worcester hergestellt wird. Sie besteht unter anderem aus Essig, Sojabohnen, Sardellen, Salz, Zwiebeln und Knoblauch – hat also weit mehr mit dem ursprünglichen englischen Catchup zu tun als die gewürzte Tomatensoße, die man heute als Ketchup bezeichnet. Was darauf hindeutet, dass auch John Lea und William Perrins durch koloniale Einflüsse aus Fernost zu ihrem Rezept inspiriert wurden. Verschiedene Legenden, die das nahelegen, kursieren jedenfalls. Was wäre die Currywurst also ohne die Briten und ihr Empire! Und welche Sättigungsbeilage vertilgen wir vorzugsweise zu unserer nationalen »Technicolor-Wurst«? Selbstverständlich Pommes frites. Wie schon der Name sagt, ebenfalls nichts Deutsches, sondern – ja, hier streiten sich die Gelehrten. Sicher ist nur, dass die Kartoffel ihren Ursprung in Südamerika hat. Aber wer kam auf die Idee, sie zu zerschnippeln und in siedendem Fett zu garen? Der belgische Historiker Jo Gérard behauptet, Fischer an der Maas hätten die frittierten Kartoffelstäbchen erstmals um 1680 als Bratfisch-Ersatz zubereitet, um bei zugefrorenem Fluss im Winter wenigstens etwas Fischähnliches zu haben. Die Franzosen wiederum bestehen darauf, dass die Pommes frites 1789 während der Französischen Revolution in Paris erfunden wurden. Wie gut, dass wenigstens die Schöpferin der Currywurst unumstritten ist. Und deshalb konnte man am ersten Standort ihrer Bude in der Kantstraße 101 im Jahr 2003 guten Gewissens eine Gedenktafel zu Ehren von Herta Heuwer enthüllen. Seit August 2009 gibt es in Berlin gar ein Deutsches Currywurst- Museum, zu dessen Attraktionen unter anderem ein Sofa in Wurstform und ein Imbissbuden-Fotostand gehören. An der Decke zeigt ein »Currywurst-Ticker« an, in welchen Stückzahlen sich die Deutschen ihren Fastfood-Favoriten Jahr für Jahr einverleiben: Hochgerechnet sind es 850 Millionen. Abschließend darf man aber wohl feststellen: Die Currywurst, wiewohl sie fast nur in Deutschland gegessen wird, ist eine echte Weltbürgerin. Mittelamerika, Indonesien, Südindien, Großbritannien, die USA und wahlweise noch Belgien oder Frankreich haben zu ihr beigetragen – könnte ein simpler Imbiss internationaler sein? [4] Süddeutsche Zeitung vom 18.7.2012. [5] Quelle: Goethe-Institut. [6] Quelle: B.Z. Dackel Hot Dog à la mode Wenn eine Nation auf den Hund kommt, ist das normalerweise bedauerlich. Bei Deutschland und dem Dackel aber kann davon keine Rede sein: Das wurstförmige Etwas mit seinen vier Stummelchen zur Fortbewegung gehört nicht nur zu den deutschen Lieblingshaustieren, sondern genießt quasi den Status eines Nationalhundes und erfreut sich auch im Ausland größter Sympathie. So eng scheint Waldi mit unserem Land verbunden, dass er 1972 sogar zum offiziellen Maskottchen der Olympischen Spiele in München gekürt wurde. Aber hallo: Soll der etwa kein echter Deutscher sein? Doch, in der Tat – als Züchtung ist er es, jedenfalls soweit es die Neuzeit betrifft. Seinen Aufstieg zum Nationalsymbol verdankt er allerdings indirekt wohl eher einem Österreicher, denn eigentlich belegt der Deutsche Schäferhund hierzulande seit gefühlten Ewigkeiten Platz eins der populärsten Hunderassen, während der Dackel, obwohl die ältere Züchtung, ihm – je nach Zeitgeist und Mode – meistens hinterherwackelt. Aber wir erinnern uns: Da gab es mal einen Schäferhund namens Blondi, und dessen Herrchen ist nicht unbedingt geeignet, diese Rasse zum internationalen Sympathieträger zu machen. So musste als Modehund der frühen Siebzigerjahre fast zwangsläufig der Dackel herhalten. Und das, obwohl er gar nicht so lieb ist, wie er aussieht: Tatsächlich führt er weit vor dem Schäferhund die Statistik der bissigsten Hunderassen an. Die Idee zum Olympia-Waldi stammte übrigens vom damaligen NOK- Präsidenten Willi Daume, selber Besitzer eines Dackels, und dessen Rechnung ging auf: Die bunt gestreifte Dackelfigur löste seinerzeit einen derartigen Dackel- Hype aus, dass uns alle Welt spontan mit dem niedlichen kleinen Hund in Verbindung brachte. Der buchstäbliche Höhepunkt findet sich in einem Bericht des Spiegel vom Januar 1972: »Bayerische Bergsteiger, die im Frühjahr 1970 die offizielle OK-Einladung ins südamerikanische Ecuador bringen durften, deponierten ihn – in Holz – auf einem bis dahin unbezwungenen Andengipfel.«[7] So musste selbst dem letzten Kondor klar werden: Dackel gleich Deutschland. Tatsächlich gehen alle heutigen Dackelvarianten auf deutsche Zuchtbemühungen zurück. Allerdings waren wir nicht die Ersten, die sich solche Haustiere bastelten. Ähnliche Zwerghunde – schlanker und langer Körper, kurze Beine – haben den Menschen wohl in aller Welt schon vor Jahrtausenden als Jagdhelfer gedient. Entsprechende Darstellungen finden sich zum Beispiel auf Wandgemälden in altägyptischen Tempeln; erst vor Kurzem entdeckten Archäologen in einem Urnengrab sogar einen mumifizierten Vorläufer des Dackels. Skelettüberreste, die auf dackelähnliche Hunde schließen lassen, wurden auch in römischen Siedlungen in Deutschland exhumiert. Außerdem fand man Abbildungen solcher Kurzbeiner auf Gips- und Steinabdrücken im vorkolumbianischen Peru und Mexiko, in Griechenland und in China. In Deutschland gibt es vergleichbare Züchtungen – sogenannte »kurzläufige Jagdhunde« – wahrscheinlich seit dem Mittelalter. Ursprünglich waren es reine Nutzhunde für die Dachs-, Fuchs- und Kaninchenjagd. Ihre schmalen, länglichen Körper und kurzen Beine ermöglichen es ihnen, in unterirdische Bauten zu robben, die Bewohner herauszuscheuchen und sie so dem Jäger direkt vor die Armbrust oder Flinte zu treiben. Die Definition von Rassen, die speziell für diese Zwecke gezüchtet und abgerichtet wurden, findet sich erstmals in einem Hundebuch von 1560. Der »Urvater« des Dackels, wie wir ihn heute kennen, entstand im frühen 18. Jahrhundert aus Kreuzungen verschiedener solcher Hunderassen. Im Lauf der Zeit wurde dieser noch relativ große »Dachshund« weitergezüchtet, was zu den verschiedenen kleineren Spielarten von Kurz-, Lang- und Rauhaardackeln führte. Der Name »Dachs« kommt übrigens wahrscheinlich vom altindischen táksan, was so viel wie »Zimmermann« bedeutet, und würde sich somit auf das kunstfertige Anlegen unterirdischer Bauten beziehen. »Dachshund« ist noch heute die offizielle Bezeichnung, unter welcher der Dackel beim internationalen Hundezüchter-Dachverband Fédération Cynologique Internationale (FCI) geführt wird. Im Deutschen mutierte das Wort während des 18. Jahrhunderts zu den Kurzformen Dächsel und Teckel – Letztere noch immer ein gängiger Begriff in der Jägersprache. Die Kurzform »Dackel« ist erst seit Ende des 19. Jahrhunderts belegt. Aber nicht nur sprachlich, sondern erst recht genetisch ist der deutsche Dackel eine überraschend bunte Mixtur. Was im Verlauf der Züchtungen alles eingekreuzt wurde, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit nachvollziehen – Hundeexperten vermuten, dass unter anderem folgende Rassen ihr Erbgut zu den heutigen Dackel-Genen beigesteuert haben: Terrier. – Der Name wurde aus dem Englischen ins Deutsche übernommen und leitet sich vom lateinischen terrarius ab, was so viel wie »Erdhund« bedeutet. Man darf also annehmen, dass Terrier – wie Dackel – ursprünglich für die unterirdische Jagd auf Dachse, Füchse und Kaninchen eingesetzt wurden. Spaniel. – Die Rasse ist aus England importiert, das Wort dagegen vom Altfranzösischen espagneul abgeleitet und dieses wiederum von español. Es bezeichnet also einen »spanischen Hund«. Spaniel wurden zu ähnlichen Zwecken gezüchtet und eingesetzt wie Terrier. Ihre ursprüngliche Heimat vermutet man in Asien. Pinscher. – Ebenfalls eine Rasse aus England, deren Name die eingedeutschte Schreibweise von pincher darstellt. To pinch bedeutet im Englischen »packen« oder »zufassen«. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm interpretiert die Vokabel jedoch anders: Demnach sind Pinscher Hunde, »denen gewöhnlich in der jugend schwanz und ohren gestutzt werden (engl. pinch, franz. pincer abkneifen, stutzen, woher der Name)«. English Pointer. – Die britische Züchtung, bei der auch französische und weitere britische Rassen mit eingekreuzt wurden, ist ursprünglich wohl in Spanien beheimatet. Der Name soll eine Verballhornung des spanischen perro de punta (»Vorstehhund«) sein. Basset. – Die ersten Exemplare dieser Rasse gelangten möglicherweise schon im 16. Jahrhundert von Frankreich nach England und wurden dort ab dem 19. Jahrhundert systematisch weitergezüchtet. Der englische Name basset ist vom französischen bas (»niedrig«) abgeleitet. Diese multikulturelle Ahnenreihe zeigt: Einerseits ist der Dackel zwar ein Deutscher, andererseits kann man ihm aber auch einen beachtlichen Migrationshintergrund bescheinigen – ganz im Gegensatz übrigens zum Deutschen Schäferhund. Ein solcher Weltbürger unter den Hunden steht uns als internationales Maskottchen tatsächlich nicht schlecht zu Gesicht. [7] Der Spiegel, 24.1.1972. Deutsche Eiche Buchen sollt ihr suchen Wie ihr zu dem Wahn gekommen, Deutsche, daß für euern Baum Ihr die Eich’ habt angenommen, Zu begreifen weiß ich’s kaum. Eine perfekte Einleitung, die uns der Dichter Friedrich Rückert (1788 – 1866) da liefert! Zwar meinte er mit diesen Zeilen eher das Aussehen der Eiche, die er als »verkrüppelt« bezeichnet und somit nicht zum deutschen Wesen passend – aber so recht begreiflich ist der Rang der Eiche als deutsches Quasi-Nationalsymbol auch aus anderen Gründen nicht. Dass in unserem Land tatsächlich ein ziemlicher Eichenwahn herrscht, zeigt schon die Zahl der Suchmaschinen-Treffer: Unter dem Stichwort »Deutsche Eiche« listet Google fast eine halbe Million Seiten auf, geradezu ein Kantersieg im Vergleich zu anderen hierzulande wachsenden Bäumen. »Deutsche Buche« erreicht nicht mal ein Zehntel dieser Menge, »Deutsche Birke« kommt auf rund 1700 Treffer, »Deutsche Linde« gar nur auf 1200 – und selbst diese Ergebnisse beziehen sich größtenteils gar nicht auf den Baum, sondern auf das von Carl Linde gegründete gleichnamige Industrieunternehmen. Die deutsche Eiche dagegen scheint fest in unsere Volksseele eingewachsen zu sein. Unzählige Schützen-, Burschen-, Sport- und Gesangsvereine, Gasthäuser, Restaurants und Hotels heißen so, und nicht zuletzt enthalten Hunderte von Textstellen in der Literatur den bedeutungsschweren Begriff. Zwar gibt es auch jede Menge Gasthäuser »Zur Linde«, aber den Namenszusatz »deutsch« trägt kein einziges von ihnen. Was also ist an der Eiche so deutsch, dass sie es in Verbindung mit diesem Attribut zu einer solchen Popularität bringt? Hat sie vielleicht ihren Ursprung in Deutschland? Oder sind wir Weltmeister, was die Eichenvorkommen in unseren Wäldern betrifft? Weder noch. Eigentlich müsste daher auch die Rangfolge der Google-Treffer ganz anders ausfallen – denn aus botanischer Sicht wäre es weit übertrieben, die Eiche in den Rang des deutschen Nationalbaumes zu erheben. Die größte Verbreitung haben bei uns in Wirklichkeit Buchen (übrigens enge Verwandte der Eichen). Sie machen rund 15 Prozent des deutschen Baumbestandes aus, während Eichen nur auf knapp zehn Prozent kommen. Sehr landes- und kulturtypisch sind außerdem Linden, und das alles lässt sich sehr schön an unseren Dorf- und Städtenamen ablesen. Ein Blick in den Atlas rückt die Verhältnisse zurecht: Sowohl Eichen als auch Buchen und Linden sind als Taufpaten absolute Hits – die beiden Erstgenannten kommen auf jeweils rund tausend Ableitungen, die Linde auf etwa 850. Auch bei Familiennamen herrscht in etwa Gleichstand, was die Herkunft von den Wortstämmen Eiche, Buche und Linde betrifft. Davon ganz abgesehen, ist die Eiche alles andere als ein »typisch deutsches« Gewächs. Im Gegenteil: Eichenbäume bevölkern praktisch die gesamte nördliche Erdhalbkugel. Es gibt sie in Europa, Nordafrika, Asien, Nord- und Mittelamerika und sogar im äußersten Nordwesten des südamerikanischen Kontinents (die australische Silbereiche gehört dagegen trotz ihres Namens zu einer anderen Pflanzenfamilie). Nach einer aktuellen Zählung wachsen allein in Kalifornien fast eine halbe Milliarde Eichen, die zusammen über 46 000 Quadratkilometer Eichenwald bilden – das entspricht nahezu der Gesamtfläche Niedersachsens. Und auf dieser Seite des Atlantiks? Da liegt nicht etwa Deutschland an der Spitze, sondern Frankreich, dessen Eichenwälder eine Gesamtfläche von fast 60 000 Quadratkilometern bedecken. Mit nicht mal einem Fünftel dieser Fläche nimmt sich Deutschland dagegen eher wie ein Eichen-Zwergstaat aus. Auch die Verehrung der Eiche als Heiligtum und mythisches Kraftsymbol ist keine altgermanische Spezialität, sondern findet sich in vielen antiken Kulturen. In Griechenland etwa wähnte man im Eichenbaum den Ursprung der Menschheit, und schon im Römischen Imperium wurden die Sieger bei den Kapitolinischen Spielen – einem frühen Ableger der Olympischen Spiele – mit einem Kranz aus Eichenlaub geehrt. Interessanterweise verbindet sich mit der Eiche auch in fast allen Kulturen der Gedanke an Unwetter. Bei den Griechen und Römern war sie dem Blitze schleudernden Hauptgott Zeus bzw. Jupiter geweiht, bei den Kelten dem Donnergott Taranis, bei den Germanen dem Gewittergott Donar, in der baltischen Mythologie dem Donnergott Pērkons. Tatsächlich scheint es so, als wäre die Eiche ein bevorzugtes Ziel von Blitzen – was aber lediglich daran liegt, dass Eichen häufiger als andere Bäume einzeln in der Landschaft stehen und damit entsprechend einschlagsgefährdeter sind. Die alte Volksweisheit »Vor den Eichen sollst du weichen« wendet man also besser auf alle Bäume an. Davon abgesehen haben Eichen tatsächlich etwas Ehrfurchtgebietendes an sich: Als lebende Bäume werden sie ohne Weiteres über tausend Jahre alt, und auch ihr Holz ist besonders hart und dauerhaft. Von daher wundert es nicht, dass man beim Militär noch heute gern Eichenlaub (stellvertretend für den ganzen Baum) als Schmuck für Orden und Rangabzeichen verwendet. Ein Eichenblatt bildet auch das Symbol der Konservativen Partei Großbritanniens. Das Etikett »typisch deutsch« hingegen steht, wie gesagt, nach der Faktenlage eher den Buchen und Linden zu. Die Buche, noch heute der meistverbreitete Laubbaum in Deutschland, war bis zum Spätmittelalter die absolute Königin unserer Wälder. Parallel zur rasant zunehmenden Eisenherstellung begannen sich die Buchenwälder dann allerdings massiv zu lichten. Ihr Holz war für den Betrieb der Schmelzöfen unerlässlich, denn nur mit Buchenholzkohle ließen sich die nötigen Temperaturen erreichen, um Roheisen aus Erzen zu lösen. So sind von der einstigen deutschen Buchenpracht im Vergleich zum ersten Jahrtausend nur noch Restbestände geblieben. Wie die Eiche ist übrigens auch die Buche ein uralter Kultbaum – und nicht nur das: Sie steht sogar wortwörtlich für Kultur, denn die Begriffe »Buch« und »Buchstabe« sind direkt von ihr abgeleitet. Beide beziehen sich auf Buchenholztafeln, die ein verbreitetes Schreibmaterial waren, bevor das Papier erfunden wurde. Einziger Nachteil der Buche gegenüber der Eiche ist die Tatsache, dass sie selten älter wird als drei- bis vierhundert Jahre – als Symbol für Stärke und Dauerhaftigkeit bringt sie also keine Idealvoraussetzungen mit. Immerhin hat die deutsche Buche 2011 endlich die verdiente Würdigung als landschaftsprägender Baum erfahren: Auf deutschen Antrag erklärte die UNESCO-Kommission für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Paris fünf alte deutsche Buchenwälder zum Weltnaturerbe. Die Linde wiederum ist zwar als Waldbaum weniger verbreitet, aber dafür in fast allen deutschen Städten und Dörfern zu finden und auch als Alleebaum überaus beliebt. Notabene: Über zwei Drittel sämtlicher alten Linden Europas stehen in Deutschland! In zahlreichen Gemeinden war und ist die »Dorflinde« der Ortsmittelpunkt; unter ihr fanden Hochzeit, Kirchweih und Tänze statt, und nach der altgermanischen Tradition des Thing wurde unter der Linde vielfach auch das Dorfgericht abgehalten. Vor allem aber ist die Linde der Sehnsuchtsbaum der deutschen Romantik, weswegen sie in zahllosen Gedichten, Geschichten und Liedern des 18. und 19. Jahrhunderts ihren seelen- oder schmerzvollen Auftritt hat. Das 1832 von Wilhelm Müller verfasste Gedicht »Der Lindenbaum« (»Am Brunnen vor dem Tore«) ist mit Franz Schuberts Melodie zu einem der populärsten deutschen Volkslieder geworden, und auch in dem 1840 entstandenen Lied »Kein schöner Land in dieser Zeit« trifft man sich bekanntlich »unter Linden«. Beste Referenzen also für die Linde, um sich ebenfalls als deutscher Nationalbaum zu empfehlen. Im Deutschen Kaiserreich wurden immerhin Kaiserlinden und Friedenslinden gepflanzt, und ab 1933 kamen Adolf-Hitler-Linden in Mode, die vielfach heute noch stehen (schließlich können sie nichts für ihren Taufnamen). Dass die Eiche im Rennen um das Dauerprädikat »deutsch« letztlich doch den Sieg davongetragen hat, verdankt sie weniger historisch gewachsenen Traditionen als dem erwachenden deutschen Nationalbewusstsein zur Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon, das einfach nach einem starken Identifikationssymbol verlangte. So stiftete Preußenkönig Friedrich Wilhelm III. 1813 das »Eiserne Kreuz« mit drei Eichenblättern als Kriegsauszeichnung, und so entstanden reihenweise eichenhaltige Kampfgedichte – wie Theodor Körners »Bundeslied vor der Schlacht«, das vor vaterländischem Pathos nur so überschäumt: Hinter uns, im Grau’n der Nächte, Liegt die Schande, liegt die Schmach, Liegt der Frevel fremder Knechte, Der die deutsche Eiche brach. Unsre Sprache ward geschändet, Unsre Tempel stürzten ein; Unsre Ehre ist verpfändet, Deutsche Brüder, löst sie ein! Daß sich der Fluch der Himmlischen wende! Löst das verlor’ne Palladium ein! Diese volkstrunkenen Zeiten und Zeilen haben die Eiche zum Sinnbild deutschen Heldentums werden lassen; spätestens mit der Reichsgründung 1871 wurde sie dann endgültig zum nationalen »Schicksalsbaum« verklärt. Und ob wir wollen oder nicht, wir kommen fast täglich mit ihr in Berührung. Seit dem Kaiserreich ziert Eichenlaub auch die Rückseite der deutschen Kupfermünzen – und das ohne Unterbrechung von der Reichsmark bis hin zum Euro. Na, zumindest diesen Platz können wir ihr lassen. Stimmt so. Deutsche Namen Mein Gott, Michel! Preisfrage: Welcher Name kommt in Deutschland am häufigsten vor? Bingo! Natürlich ist es Müller. Ein Familienname, der so deutsch klingt, als wäre er extra für die Eigenheiten unseres Alphabets erfunden worden, und der sämtliche anderen – einschließlich aller Vornamen – weit auf die hinteren Ränge verweist. Über 700 000 Müllers gibt es im deutschen Sprachraum – damit könnte man nahezu die Plätze aller Stadien der Ersten Bundesliga füllen. Rechnet man die Schreibweisen Möller und Miller hinzu, sind es sogar über 780 000. Aber nicht nur, dass wir den Namen mit unseren schweizerischen und österreichischen Nachbarn sowie über 200 000 weiteren Miller in der englischsprachigen Welt teilen müssen – ausgerechnet er, der sich so wunderschön mit der deutschen Wanderlust verbindet, ist in Wahrheit gar kein Germane, sondern stammt aus dem Lateinischen. Ursprungsvokabel ist molae, von dem sich über die spätantike Version molina unser heutiges Wort Mühle ableitet. Beim Beruf des Müllers und dem entsprechenden Familiennamen ist die lateinische Wurzel noch im 13. Jahrhundert gut zu erkennen: Molner. Knapp 150 Jahre später hat sich das Wort über Mulner und Moller zu seiner heutigen Form gewandelt. Und Müller ist keineswegs der einzige Fremdling in der Hitliste unserer Familiennamen. Die Rangfolge gestaltet sich allerdings nicht ganz einfach, da sich etwa die Berufe des Schmieds und des Meiers in den unterschiedlichsten Schreibweisen von Nachnamen niedergeschlagen haben – noch weit mehr als beim Müller. So folgt je nach Lesart auf Rang 3 oder 6 der ebenfalls lateinische Meier mit den Varianten Meyer, Maier und Mayer. Das Wort geht auf die antike Wurzel maior (der Obere oder Ranghöhere) zurück und taucht im 13. Jahrhundert erstmals als Familienname in der Schreibweise Meyger auf. Damit wurde ursprünglich eine Art Oberbauer bezeichnet, der im Auftrag eines adeligen oder geistlichen Grundherrn die Bewirtschaftung der Güter beaufsichtigte. Ab dem Spätmittelalter ist das Wort Meyer auch als Begriff für einen Pächter oder selbstständigen Bauern anzutreffen. Noch zwei weitere Römer finden sich unter den Top 50 der deutschen Familiennamen: Auf Rang 12 steht der Koch, abgeleitet vom gleichbedeutenden lateinischen coquus, auf Rang 41 der Kaiser, der auf den römischen Imperator Caesar zurückgeht. Allerdings handelt es sich hier nicht etwa um eine Berufsbezeichnung (wer hätte es gedacht!), sondern um einen Spottnamen für Menschen mit aufgesetzt höfischem Gehabe. Weitaus häufiger als die Familiennamen gehen allerdings deutsche Vornamen auf lateinische und andere antike Wurzeln zurück. Des Deutschen Hang und Drang zur Exotik äußert sich eben nicht nur in seit Jahrzehnten ungebremster Reiselust, sondern auch in einer offensichtlichen Vorliebe für ausländische Namen – übrigens keineswegs erst in der heutigen Zeit, wenngleich mit steigender Tendenz. Hänsel und Gretel? So deutsch das auch klingt – vom Namen her haben sich da zwei Einwanderer in den deutschen Wald verirrt. Genauer gesagt, ein Israeli (Jochanaan, auf Deutsch »Gott ist gnädig«) und eine Römerin mit indischen Wurzeln (Margarita, auf Deutsch »die Perle«). Auch die heute mit Abstand meistverbreiteten deutschen Vornamen, Peter (über 220 000 Namensträger) und Maria (über 175 000 Namensträgerinnen), gehen auf nichtdeutsche Ursprünge zurück – das griechische petros (»Felsblock«) und das aramäische mirjam (»die Widerspenstige«). Einige weitere Herkunftsbeispiele populärer Vornamen (jeweils bezogen auf ihre Urheimat): Aus dem Lateinischen: Anton, Beate, Cornelia, Diana, Felix, Julia, Leo, Lukas, Margit, Margret, Mario, Markus, Marlene, Martin, Max, Oliver, Paul, Paula, Regina, Renate, Rita, Sabine, Sylvia, Toni, Ulla, Ursula, Uschi, Verena Aus dem Griechischen: Alexander, Andrea, Andreas, Barbara, Christian, Christiane, Christine, Doris, Eugen, Georg, Irene, Jürgen, Kathrin, Klaus, Nicole, Nikola, Peter, Petra, Philipp, Sandra, Sebastian, Stefan, Sibylle, Theo, Timo, Veronika Aus dem Keltischen und Altenglischen: Alfred, Brigitte, Britta, Edgar, Edith, Edwin, Evelin, Ida, Kai, Kevin, Kilian, Patrick Aus dem skandinavischen Sprachraum: Astrid, Birgit, Björn, Dagmar, Gudrun, Harald, Helga, Holger, Inge, Kerstin, Knut, Lars, Olaf, Peer, Silke, Sven, Torsten, Ulf Aus dem Russischen: Anja, Sascha, Sonja, Natascha, Tanja, Vera Aus dem Hebräischen und Aramäischen: Achim, Adam, Anita, Anna, Anne, Axel, Bettina, Daniel, Daniela, David, Eva, Gabriele, Hanna, Hans, Jakob, Joachim, Jochen, Josef, Jutta, Lena, Lisa, Matthias, Michael, Ruth, Sara, Simon, Simone, Susanne, Thomas, Tobias So gesehen, ist ausgerechnet unsere nationale Symbolfigur, der zipfelmützige »deutsche Michel«, gar kein Deutscher, sondern Israeli. Das hebräische Wort mikhael bedeutet so viel wie »Wer gleicht Gott?«. Überhaupt fällt auf, dass die große Mehrzahl der heute gängigen Vornamen ihre Wurzeln in der Antike hat. Danach wurde im Grunde nur noch variiert und abgekürzt, aber nichts wirklich Neues mehr erfunden. Viele vermeintlich deutsche Namen gehen auf lateinische, griechische oder hebräische Originale zurück, die in anderen europäischen Ländern zungengerecht umgemodelt wurden. Nicht wenige von ihnen haben sich auf ihrer Reise durch Geschichte und Geografie so abenteuerlich gewandelt, dass man ihre ursprüngliche Herkunft nur noch mit Mühe erkennt. Wer würde etwa hinter der bayerischen Vroni die griechische Pherenike (»Siegbringerin«) vermuten? Oder, noch bizarrer, hinter dem so knackig-deutsch klingenden Axel das hebräische Abu shalom (»Vater des Friedens«)? Mittlerweile scheint die Internationalität fast ihren Gipfelpunkt erreicht zu haben: Bei den Top Ten unter den deutschen Taufnamen 2012 – ermittelt von der Gesellschaft für deutsche Sprache – waren bei den Mädchen geschlagene neun und bei den Jungen sogar alle zehn Namen ausländischer oder gemischter Herkunft. Unter dem Strich lautet somit die Erkenntnis: Wir Deutsche sind nicht nur ausgesprochen international, sondern wir heißen auch so. Womit wir uns, notabene, in bester europäischer Gesellschaft befinden. Deutsche Sprache Frankreich trifft Anatolien Die Sprache der Bundesrepublik Deutschland ist Deutsch –egal, was passiert. So mancher Politiker sähe das gern im Grundgesetz verankert, und wer würde es auch ernsthaft bezweifeln? Nun ja, man kann sich schon seine Gedanken machen. Immerhin enthält der listig eingefügte Nachsatz »egal, was passiert« bereits zwei Immigranten – französische Vokabeln, die erst vor gut dreihundert Jahren nach Deutschland gelangt sind: égal und passer. Altmeister Goethe zum Beispiel, obwohl von Jugend an frankophil, hatte das Fremdwort »egal« noch gar nicht in seinem Vokabular; er verwendet es jedenfalls in seinen Werken und Briefen kein einziges Mal und schreibt stattdessen »gleichgültig«. Schon dieses kleine Beispiel illustriert, dass Deutsch das Gegenteil einer in sich geschlossenen und womöglich »rein germanischen« Sprache ist. Vielmehr liefert es ein seltenes Musterbeispiel dafür, was Sprache eigentlich darstellt: einen lebendigen, mit der Zeit gehenden und sich wandelnden Organismus, der, ähnlich wie ein Lebewesen, ständig atmet, isst, verdaut und ausscheidet. Man könnte auch sagen: Das Deutsche ist eine äußerst leistungsfähige Verwurstungsmaschine, die sich munter einverleibt, was immer ihr in die Quere kommt. Manchmal werden ausländische Wörter auch so umgemodelt, dass sie hier wie dort funktionieren: Man nehme den italienischen attentatore, pfropfe ihm den deutschen Täter auf, und schon hat man die neue Wortschöpfung Attentäter. Oder man kombiniere das deutsche schlimm mit dem hebräischen massel (»Glück«) und heraus kommt das Gegenteil des Ursprungswortes, der jiddische Schlamassel. Oder wir kneten uns aus fremdländischem Rohmaterial ganz neue Begrifflichkeiten – wie Akkuratesse, Autoscooter, Bowle, Dressman, Friseur, Handy, Oldtimer, Profi, Pulli, Regisseur, Sakko, Showmaster, Simsen, Smoking, Trafo oder USB-Stick. Es ist genau diese Integrationsfähigkeit, die unsere Sprache so überaus interessant, kraftvoll und farbenreich macht. Im Lauf der Jahrtausende ist auf diese Weise ein bunt zusammengequirlter Multikulti-Eintopf aus germanischen und romanischen Strukturen und Vokabeln entstanden – mit einer Unzahl von Fremd- und Lehnwörtern aus allen möglichen weiteren Sprachen und Ländern. Mitunter sind sie sogar über zwei oder mehr Landesgrenzen hinweg eingewandert und haben dabei ihre Gestalt und oft auch ihren Sinngehalt verändert. Ein treffendes Beispiel ist das arabische safar (ursprünglich einfach »Reise«), das über die Swahili-Version safari ins ehemalige Deutsch-Ostafrika und von dort nach Deutschland gelangte. Eine abenteuerliche Odyssee hat auch das altindische nilas hinter sich: In der Urfassung stand es für bläulich, im Arabischen wurde es als lilak zum Wort für Flieder, im Französischen tauchte es als lilas in gleicher Bedeutung wieder auf, und schließlich landete es als lila in Deutschland. Oder, ebenfalls recht bizarr, der altnormannische trique (»Betrug«), der aus Frankreich über Großbritannien zu uns einwanderte und sich seit einigen Jahrzehnten in der neudeutschen Wortschöpfung tricksen wiederfindet. Umgekehrt sind aber auch Tausende von deutschen Wörtern in die verschiedensten anderen Länder exportiert worden – und manchmal auch wieder zurück: etwa das deutsche schick, das nach längerem Frankreichaufenthalt noch schicker, nämlich als chic, in seine alte Heimat zurückkehrte. Oder das Bollwerk, das eines Tages leicht verfremdet als Boulevard nach Hause kam. Oder die Arbeit, die im Tschechischen zu Robot verballhornt wurde und in Gestalt des Roboters wieder zu uns fand. So gesehen, ist der Roboter ein gänzlich deutsches Wesen, nämlich nichts anderes als der vertraute Arbeiter. Auch wir haben unseren Nachbarn also einiges zu bieten. Aber was genau ist eigentlich die deutsche Sprache? Wo kommt sie her, und was macht ihr Wesen aus? Ein kleiner Exkurs zur Begriffsklärung: Das Wort Deutsch geht auf ein altes germanisches Substantiv zurück (diot oder diota), was so viel wie Volk oder Stamm bedeutet. Im Altirischen findet es sich als tuath wieder, im Litauischen als tautá. Daraus abgeleitet und seit dem 10. Jahrhundert belegt sind die späteren deutschen Varianten: althochdeutsch diutisc, mittelhochdeutsch diutisch oder diutsch. Im Niederländischen hieß es ursprünglich duitsch (deshalb ging Dutch als Bezeichnung für die Niederländer ins Englische ein). Schon früher, nämlich im 8. Jahrhundert, wurde der altgermanische Wortstamm zu theodiscus latinisiert (weshalb die Italiener für »deutsch« noch heute das Wort tedesco haben). Der lateinische Begriff Lingua theodisca wurde schließlich zur amtlichen Bezeichnung der altfränkischen Volkssprache im Reich Karls des Großen. Im Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Ost- und Westfranken (den heutigen Franzosen) entwickelte sich dieses Altfränkische dann zum Oberbegriff für sämtliche Stammessprachen im Osten des Frankenreiches, also des späteren Deutschland. Ursprünglich entstammt das Deutsche der indogermanischen Sprachfamilie, deren Mitglieder sich auf dem eurasischen Kontinent von der äußersten Nordwestecke bis weit nach Mittelasien verbreitet haben. Persisch, Kurdisch, das afghanische Paschtu und verschiedene anatolische Sprachen gehören ebenso dazu wie die uns vertrauten europäischen Idiome. Gemeinsamer Vorläufer all dieser Sprachen ist eine indogermanische Ursprache, deren Geburt mehrere Tausend Jahre zurückliegt. Wann und wo genau sie entstanden ist und gesprochen wurde, lässt sich nicht mehr mit vollständiger Sicherheit sagen. Sprachwissenschaftler vermuten ihre Keimzelle teils auf dem Balkan, teils im Gebiet des heutigen Kirgistan, also am äußersten Ostrand Europas, teils sogar im heute türkischen Anatolien, das zum asiatischen Kontinent gehört. Eine kürzlich erschienene wissenschaftliche Arbeit scheint letztere Hypothese zu bestätigen: Im August 2012 veröffentlichte eine Gruppe von Sprachwissenschaftlern der University of Auckland (Neuseeland) die Ergebnisse einer Studie[8], in der 103 indoeuropäische Sprachen untersucht wurden – mit dem Fazit, dass ein »decisive support for an Anatolian origin« bestehe, also eine eindeutige Untermauerung des anatolischen Ursprungs, und dies schon vor 8000 bis 9000 Jahren. Die ersten germanischen Sprachen als Vorläufer des heutigen Deutsch lassen sich allerdings erst ab etwa dem 5. Jahrhundert v. Chr. weiter westlich orten und näher bestimmen. In jedem Fall hat unser heutiges Deutsch eine lange und abenteuerliche Reise hinter sich. In deren Verlauf nahm es die unterschiedlichsten germanischen, aber auch romanischen und slawischen Elemente in sich auf, spaltete sich in zahllose Dialekte und Mundarten und wurde so zu einer ausgesprochen multikulturellen (und bis heute schwierigen!) Form der sprachlichen Kommunikation. Nahezu jedes seiner Wörter hat einen Migrationshintergrund, sei es germanischer, romanischer oder anderer Schattierung. Häufig lassen sich an solchen Wortwanderungen auch kulturgeschichtliche Entwicklungen ablesen, wie zum Beispiel das Vordringen der romanischen Baukunst über die Alpen nach Norden: Für Wörter wie Fenster, Fundament, Gips, Kalk, Kammer (das deutsche Wort Zimmer bedeutet eigentlich »aus Holz gebaut«), Keller, Marmor, Mauer, Mörtel, Quader, Schindel und Ziegel – allesamt aus dem Lateinischen stammend – gibt es keine Entsprechung mit germanischen Wurzeln, weil unsere Vorfahren das Bauen mit Stein noch nicht kannten. Der lateinische carcer ist sogar zweimal nach Deutschland eingewandert: das erste Mal während der Antike als Kerker, das zweite Mal im Mittelalter als Karzer, die Arrestzelle für aufmüpfige Studierende an den Universitäten. Oder nehmen wir das italienische Bank-, Versicherungs- und Kaufmannswesen, das während der Renaissance seine Blüte erlebte und von der Lombardei aus den Weg nach Norden antrat: Aus dieser Zeit stammen Wörter wie Agio, Assekuranz, Bank, bankrott, Bilanz, brutto, Diskont, Firma, Giro, Kapital, Kasko, Kasse, Konto, Kredit, Lombardsatz, Manko, netto und Saldo. Auch unserer klassischen Musikkultur ist die Einwanderung aus Italien deutlich anzumerken – da erklingt eine Wortsinfonie aus adagio, allegro, Alt, andante, Arie, Bass, Bratsche, Cello, da capo, Dirigent, Fagott, Klarinette, Konzert, Libretto, Menuett, Oper, Partitur, Piano, Primadonna, Rondo, Solo, Sonate, Sopran, Tenor, unisono, Violine usw. Bei der internationalen Popmusik unserer Tage wiederum zeigt sich der beherrschende Einfluss der USA. Wir reden ganz selbstverständlich von Bandleader, Beat, Break, Charts, Discjockey, Feeling, Funk, Groove, Grunge, Hiphop, Hit, live, Open Air, Playback, Punk, Rap, Rock, Sampler, Single, Soul, Synthesizer oder unplugged, ohne uns groß mit deutschen Alternativen abzuquälen. Über das Englische braucht man ohnehin kaum Worte zu verlieren, scheint es doch so, als würden wir im Alltag heute zunehmend ein Gemisch aus Deutsch und Englisch reden. Hier stimmt allerdings unsere Wahrnehmung nicht ganz, denn den Vogel schießt in Wirklichkeit Frankreich ab. Was das Deutsche im Verlauf der nachrömischen Geschichte an französischen Vokabeln aufgesogen hat, ist wahrhaft gigantisch. Unser Wortschatz ist durchsetzt mit Hunderten, wenn nicht Tausenden französischer Wörter (Gallizismen), ohne dass wir sie im täglichen Sprachgebrauch überhaupt als solche wahrnehmen. Wir verdanken sie größtenteils den hugenottischen Einwanderern der Neuzeit ( »Preußentum«) und später der napoleonischen Besetzung, aber auch im Mittelalter fand bereits ein reger und stetiger Direktimport statt. So sind viele Wörter vom Altfranzösischen ins Alt- und Mittelhochdeutsche gelangt und haben die Evolution unserer Sprache über Jahrhunderte mitvollzogen. Andere Gallier (wie Bombast, Champion, Couch, Festival, Grill, Klosett, Party, Rallye, Sport, Toast, Training oder Tunnel) gelangten über Großbritannien nach Deutschland – einige sogar zusätzlich zum direkten Grenzübertritt: Service gibt es bei uns sowohl im französischen Original (als Tischgedeck) als auch in der englischen Version (als Dienstleistung). Als Ergebnis reden wir quasi auf Schritt und Tritt Französisch, ohne uns dessen bewusst zu sein. Schon die ersten beiden Worte, die ein deutsches Baby quäkt (Mama, Papa), stammen von unserem westlichen Nachbarn. Später entpuppt sich das Kleine vielleicht als Genie, nutzt seine Chance, macht Karriere als Journalist, Ingenieur oder Komiker und hat kommerziellen Erfolg. Voilà! Bei Wörtern in ganz oder halbwegs erhaltener französischer Schreibweise und Aussprache erkennt man den Ursprung ja meist noch ohne Probleme – wie bei Abonnement, Accessoire, Coupé, Coupon, Medaille, Restaurant, Toilette, Toupet usw. Auch französische Verben, die mit deutschen Endungen versehen wurden, zeigen ihre Herkunft vergleichsweise unverhüllt: balancieren, changieren, echauffieren, engagieren, genieren, jonglieren, soufflieren, tranchieren usw. Schon etwas schwieriger wird es, wenn Wörter lautlich oder schriftlich halbwegs eingemeindet sind – wie neben vielen anderen Affäre, Allüren, Barrikade, Journalist, Kalkül, Parfüm, Passagier, Tourist und neuerdings auch das Portmonee. Äußerstes Gespür ist gefragt bei Gallizismen, die schon so fest im Alltagsgebrauch verwurzelt sind, dass wir sie kaum noch oder gar nicht mehr als Fremdkörper wahrnehmen, wie schon ein kleiner Streifzug zeigt: Abenteuer, Allee, Allianz, Ballon, Dementi, Desaster, Garnitur, gewieft, Karussell, Leutnant, Limonade, Liter, Lokal, Lupe, makaber, manierlich, Maskottchen, Massaker, Möbel, Onkel, Panne, Pantoffel, Pinzette, Rampe, Rang, rasieren, Relief, Rekrut, Rente, Reserve, rollen, Rollo, Roman, Soße, Tablette, Tante, Vase, um nur einige zu nennen. So viel zum »Deutschsein« der deutschen Sprache. [8] Quentin D. Atkinson et al.: Indo-European Language Family. Science 24. Deutsche Weihnacht Süßer die Palmen nie rauschen Unter den vier Jahreszeiten wird sie zwar nicht offiziell aufgeführt, aber dennoch schlägt die deutsche Weihnachtssaison alle anderen buchstäblich um Längen: In den Supermärkten etwa beginnt sie, wie man weiß, stets pünktlich am 1. September mit Paletten voller Nikolausnaschwerk und endet im Februar mit dem Verramschen der letzten hart gewordenen Printen. In diversen, quer über das Land verteilten Läden findet sie sogar ganzjährig statt – beispielsweise in Oberammergau, in Rothenburg ob der Tauber und in der Bremer Altstadtgasse »Schnoor«. Es muss also wohl etwas mit romantisch-deutscher Befindlichkeit zu tun haben, dass uns die Weihnachts- und Vorweihnachtszeit so sehr und andauernd am Herzen liegt: diese (meist nur herbeigesehnten) verschneiten Wälder! Diese Rauschgoldengel und lieblich läutenden Schlittenglöckchen! Diese anheimelnden Aromen und Düfte! Der Schriftsteller Heinrich Böll ließ die Figuren seiner Satire Nicht nur zur Weihnachtszeit nach dieser Idylle dermaßen süchtig werden, dass sie zwei Jahre lang jeden Tag Weihnachten feiern und Spekulatius knabbern mussten. Aber wonach riecht oder schmeckt die deutsche Weihnacht denn nun eigentlich? Eine sicher nicht repräsentative, aber dennoch aufschlussreiche Blitzumfrage unter 120 ganz verschiedenen Adressaten ergab ein fast erwartbares Bild: Sieht man vom unvermeidlichen Tannenduft einmal ab, dann steht ganz oben auf der Hitliste Zimt und alles, was damit gewürzt ist (Bratäpfel, Spekulatius, Lebkuchen, Zimtsterne, Glühwein) – dicht gefolgt von Weihrauch, Gewürznelken, Mandarinen, Orangen und gebrannten Mandeln. All diese Spezereien bringt der Weihnachtsmann natürlich nicht aus dem verschneiten deutschen Winterwald mit, sondern überwiegend aus Weltgegenden, in denen sich Palmwipfel im heißen Tropenwind wiegen. Mit anderen Worten: Die deutsche Weihnacht riecht gar nicht anheimelnd, sondern in erster Linie exotisch. Um genauer zu sein: südostasiatisch. So hat der absolute Renner unter den Weihnachtsgewürzen, der Zimt, seine Heimat im fernen Sri Lanka. Lieferant der begehrten Zutat ist der Ceylon- Zimtbaum (Cinnamomum verum), in dessen Rinde das aromatische Zimtöl steckt. Allerdings wird dieser »echte Zimt« bei der industriellen Herstellung von Backwaren meist mit chinesischem Cassia-Zimt verschnitten, der erheblich billiger, aber dafür auch eher minderwertig ist. Anbaugebiete dieser heute meistverwendeten Sorte sind neben China hauptsächlich Vietnam und Indonesien. Aus Rinde wird auch das Weihrauch-Harz (Olibanum) gewonnen, das uns nicht nur zu Weihnachten feierlich ums Herz werden lässt. Seine Quelle ist der Weihrauchbaum (Boswellia), den man überwiegend in heißen Wüstengegenden Afrikas wie Äthiopien, Eritrea und Sudan antrifft. Übrigens ist Weihrauch, wie wir ja aus der Bibel wissen, ein uralter Dufterzeuger – er diente schon vor über sechstausend Jahren den ägyptischen Pharaonen als Aromakulisse für kultische Handlungen, später auch Priestern im antiken Rom. Bei Gewürznelken, unserer Leib-und-Magen-Zutat für Glühwein, handelt es sich um die getrockneten Blütenknospen des Gewürznelkenbaums (Syzygium aromaticum), der ursprünglich von der indonesischen Inselgruppe der Molukken stammt. Hauptanbaugebiet ist heute die afrikanische Insel Sansibar; Gewürznelkenplantagen gibt es aber rund um die Welt in fast allen tropischen Ländern. In ihrer Urheimat Indonesien sind Nelken vor allem als Tabakbeimischung beliebt – mehr als die Hälfte der einheimischen Gesamtproduktion wandert dort als Krümel in die sogenannten Kretek- Zigaretten, die trotz oder gerade wegen ihres grausigen Geschmacks im Ruf stehen, gesundheitsfördernd zu sein. Mandarinen sind ebenfalls aus Ostasien zu uns eingewandert: Sie stammen aus dem südlichen China, werden dort schon seit Jahrtausenden kultiviert und gelten als die ältesten bekannten Zitrusfrüchte überhaupt. Orangen oder Apfelsinen (vom altniederländischen appelsina = Apfel aus China) sind dagegen kein originales Gewächs, sondern das Ergebnis einer Kreuzung von Mandarine und Pampelmuse. Für beide – Mandarinen und Orangen – ist in Europa heute Spanien der bei Weitem größte Exporteur, gefolgt von Italien und Griechenland. Der einzige weihnachtliche Aromenlieferant, der auch hierzulande gedeiht, ist der Mandelbaum (Prunus dulcis), dem wir die gebrannten Mandeln verdanken. Von der Abstammung her ebenfalls ein Südasiat, wurde er vermutlich von den alten Römern zusammen mit dem Weinbau nach Deutschland eingeführt. Allerdings sind die hiesigen Anbauflächen sehr klein, denn der Mandelbaum braucht ein sonnig-heißes Klima – weshalb unsere Mandeln zum überwiegenden Teil aus Kalifornien und den Mittelmeerländern kommen. Berühmt sind zum Beispiel jene aus der sizilianischen Provinz Catania, und dazu passt dann wunderbar die ebenfalls sizilianische Volksweise O sanctissima (besser bekannt in der deutschen Version O du fröhliche), die dem internationalen Reigen noch eine musikalische Pointe hinzufügt. Natürlich ist es kein Zufall, dass wir zu Weihnachten so gern diese Düfte der großen weiten Welt um uns haben. Es liegt schlicht und ergreifend daran, dass tropische Gewürze, Südfrüchte und sogar Zucker vor noch nicht allzu langer Zeit ein teurer und begehrter Luxus waren, den man sich nur zu besonderen Anlässen gönnte. Und das Weihnachtsfest als solches? Dass die Welt es am 25. Dezember begeht, hat ebenfalls einen historischen Hintergrund, und der liegt, wie die Länder unserer meisten Mandarinen- und Mandellieferanten, südlich der Alpen. Zu verdanken haben wir das Datum zwei Herrschern des antiken Rom, Gaius Iulius Caesar und Lucius Domitius Aurelianus (kurz Aurelian). Ersterer setzte im nach ihm benannten Julianischen Kalender – fälschlicherweise – den 25. Dezember als Zeitpunkt der Wintersonnenwende fest. Letzterer begründete im Jahr 275 den spätrömischen Sonnenkult als eine Art Staatsreligion und proklamierte den Geburtstag des »unbesiegten Sonnengottes« (sol invictus) an eben jenem Tag der Sonnenwende. Ursprünglich eine eher zweitrangige Instanz, wurde Sol damit auf den Sockel eines allmächtigen Übervaters gehoben – und der 25. Dezember schon für die alten Römer zu einem offiziellen Feiertag. Im Zuge der Christianisierung, etwa um die Mitte des 4. Jahrhunderts, begann man dieses »heidnische« Datum dann in den Geburtstag Christi umzudeuten. Das ist nicht einmal weit hergeholt, denn Jesus wurde seinerzeit vielfach mit dem römischen Sonnengott verglichen. Der aus Jerusalem stammende Geschichtsschreiber Sextus Iulius Africanus (um 160/170 bis nach 240) bestand dagegen auf einer religiösen Herleitung und setzte den 25. März sowohl mit der Kreuzigung Jesu als auch mit dem Tag seiner Empfängnis gleich, was bei exakt neun Monaten Schwangerschaft Marias zu einer Geburt am 25. Dezember geführt hätte. Allerdings gibt es für diese gewagte Hypothese keinerlei Belege. Im Übrigen wurde der Geburtstag Jesu in der altpalästinensischen Kirche lange Zeit Mitte Mai gefeiert, und in Armenien begeht man ihn noch heute am 6. Januar. Die Weihnachtsgeschichte der Bibel jedenfalls schweigt sich über Datum und Jahreszeit ebenso aus wie später der Koran. Dafür lässt Letzterer den frisch geborenen Jesus in der 19. Sure selber die Stimme erheben: »Friede komme über den Tag meiner Geburt und meines Todes, und über den Tag, an welchem ich wieder zum Leben erweckt werde.« Alles in allem ist die deutsche Weihnacht also eine überaus internationale Veranstaltung: das Datum aus dem alten Rom, die Geschichte eine Überlieferung der gesamten Arabischen Halbinsel, das Geburtstagskind aus Palästina, dazu die drei altbekannten morgenländischen Könige und nicht zuletzt kulinarisch-aromatische Zutaten aus Tropenländern rund um die Welt. Bliebe als echt deutscher Vertreter in diesem Festtagsplenum noch der gute alte Weihnachtsmann. Also, was ist mit dem? Nun ja – schlicht und vereinfacht gesagt: Er ist Türke. Als historischer Vorläufer gilt Nikolaus von Myra (im kleinasiatischen Lykien, der heutigen türkischen Provinz Antalya), der dort im 4. Jahrhundert als Bischof wirkte. Die amerikanische Bezeichnung »Santa Claus« – entstanden in New York, dem früheren Neu-Amsterdam, aus dem niederländischen »Sinterklaas« – verrät noch diesen Ursprung. Über Jahrhunderte war der Namenstag des heiligen Nikolaus, also der 6. Dezember, auch der traditionelle Tag der Bescherung. Erst nach der Reformation verschob sich dieses Datum auf den 24. Dezember, den Vorabend des Weihnachtsfestes. Der heutige deutsche Weihnachtsmann vereinigt in sich eigentlich zwei Personen: zum einen den gütigen Sankt Nikolaus, zum anderen dessen strafenden Knecht, der je nach Region meist Ruprecht oder Krampus heißt. Schon immer wurde diese Figur als alter Mann mit weißem Rauschebart dargestellt; bis vor wenigen Jahrzehnten allerdings in einem braunen statt einem roten Pelz. 1931 schaffte es dann der aus Norwegen stammende Grafiker Haddon Sundblom, dieses Bild nachhaltig durch ein neues zu verdrängen. Im Auftrag des Coca-Cola-Konzerns entwarf er eine Werbefigur, die populärer werden sollte als Micky Maus, Donald Duck und Asterix zusammen: rote Pausbäckchen, roter Mantel mit Hermelinbesatz und breitem Ledergürtel, rote Zipfelmütze, gefütterte Stiefel und als wichtigstes Requisit ein Sack mit Geschenken. In diesem Outfit hat der Coca-Cola-Weihnachtsmann eine Weltkarriere hingelegt, die in der Geschichte ihresgleichen sucht, und das nahezu über sämtliche Kultur- und Sprachgrenzen hinweg. Im Englischen tritt uns der Rotmantel als Father Christmas entgegen (bzw. als Santa Claus in den USA), im Französischen als Père Noël, im Italienischen als Babbo Natale und im Spanischen als Papá Noel; in Portugal heißt er Pai Natal, in Rumänien Mos Craciun, in Brasilien Papai Noel, in der Türkei Noel Baba. Und allüberall trägt er das Gewand und die Züge, die Haddon Sundblom ihm damals verliehen hat. Wer diesem Weltbeglücker im Dezember entkommen will, muss schon in Ländern wie Somalia oder Nordkorea Zuflucht suchen. Natürlich braucht der moderne Weihnachtsmann auch einen angemessenen Wohnsitz, denn das sonnige Antalya und verschneite Tannenzweige passen ja nicht so recht zusammen. Die genaue Adresse ist je nach Nationalität strittig – auf jeden Fall aber liegt sie irgendwo hoch im Norden: Zur Auswahl stehen unter anderem Grönland, Rovaniemi in Finnland, Gesunda in der schwedischen Provinz Dalarna, Drøbak am norwegischen Oslofjord sowie der winzige Ort Northpole (nicht am Nordpol, sondern bei Fairbanks in Alaska). Wunschzettel können gerichtet werden an info@santaclaushouse.com, gern auch auf Deutsch. Der Weihnachtsmann ist eben wirklich international! Deutsches Volk Die polnischen Piefke »Ihr solltet einander achten und Streitigkeiten unterlassen; ihr solltet einander nicht zurückweisen wie Wasser und Öl, sondern euch vermischen wie Wasser und Milch.« Diese weise Mahnung formulierte Siddharta Gautama, besser bekannt als Buddha, in seiner Heimat Indien vor über zweieinhalbtausend Jahren. Man möchte seine Worte gern allen Patchwork-Völkern dieser Welt (und das sind die meisten) ins Stammbuch schreiben. Würden sie verstanden und konsequent beherzigt, dann gäbe es auf unserem Planeten weder Diskriminierung noch Pogrome oder Bürgerkriege. Wir Deutschen können selber ein Lied davon singen – insofern haben wir guten Grund, uns an die eigene Nase zu fassen. Denn wie die Geschichte zeigt, waren gegenseitiger Respekt und das Unterlassen von Streitigkeiten auf deutschem Boden keineswegs die Regel; vielmehr haben wir uns nur unter großen Mühen im Verlauf der Jahrhunderte einigermaßen zusammengerauft ( »Deutschland«). Immerhin, heute dürfen wir uns an einem Land erfreuen, in dem weder heiße noch kalte Kriege geführt werden. Dass es so lange gedauert hat, dürfte auch an unseren vielfältigen ethnischen Zutaten liegen, bei denen Vermischen und Zurückweisen immer wieder im Clinch miteinander lagen. Letzten Endes aber – um in Buddhas Bild zu bleiben – hat die Variante »Wasser und Milch« historisch doch meist die Oberhand behalten. Der Geschlechtstrieb kümmert sich eben selten um Politik, so wenig wie es Märkte und Geschäftsinteressen tun. Daher entpuppt sich das »deutsche Volk« bei näherer Betrachtung sehr schnell als Mythos – jedenfalls wenn man versucht, die Bezeichnung mit ethnischen oder gar rassischen Inhalten zu füllen. Wir sind alles andere als eine homogene Sippe. Als geografischer Mittelpunkt Europas haben wir die Gene anderer Völker, die Einflüsse anderer Sprachen und Kulturen über Jahrtausende in uns aufgesogen. Dass dieser Prozess immer wieder von Gewalt und Blutvergießen begleitet war, ändert nichts an der Sache selbst. »Die deutschsprachige Region war integraler Teil der Migration im europäischen Großraum«, schreibt der Bremer Historiker Dirk Hoerder als Fazit seiner Erkenntnisse zu den deutschen Wanderbewegungen.[9] Wie rege die Völker hier tatsächlich unterwegs waren und sind, zeigt schon die Vielzahl deutscher Familiennamen, die sich auf Herkunftsorte oder -länder beziehen. Teils sind sie innerdeutsch wie Bayer, Brandenburger, Bremer, Franck, Friese, Hess, Preuße, Sachs oder Schwab, teils bezeichnen sie Einwanderer aus anderen Ländern – zum Beispiel Böhme, Dähn (Däne), Pohl (Pole), Reuss (Russe), Sarrazin (Sarazene), Unger (Ungar), Basler oder Wiener. Hinzu kommen Hunderte von Namen, denen man mehr oder weniger deutlich ihre ausländischen Wurzeln anmerkt – allen voran solche aus den verschiedenen slawischen Sprachräumen. Ein kleiner Querschnitt durch die aktuelle deutsche Prominenz: Baselitz, Bednarz, Bendzko, Biolek, Burda, Karasek, Kubicki, Lisicki, Littbarski, Makatsch, Masur, Matussek, Miosga, Nowitzki, Petković, Pilawa, Podolski, Pofalla, Prochnow, Skibbe, Slomka, Solga, Sukowa, Trittin, Wontorra, Wondratschek, Zietlow. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang: Wenn Österreicher sich über die Deutschen ärgern, bezeichnen sie uns bekanntlich gern kollektiv als »Piefke« (ohne Plural-S!). Der Oberbegriff soll auf den Schweriner Militärmusiker Johann Gottfried Piefke zurückgehen, der als Komponist des »Königgrätzer Marsches« 1866[10] zur nationalen Hassfigur wurde – scheinbar folgerichtig haben ihn unsere südlichen Nachbarn als Verkörperung alles Deutschen (oder Preußischen) gebrandmarkt. Aber weit daneben gelangt! Auch die in Deutschland lebenden Piefke waren ursprünglich Slawen. Der Name taucht 1390 erstmals als Pifka auf und geht auf das polnische Wort für Bier, piwo, zurück. Insofern passt er dann doch wieder zum Deutschen-Klischee; allerdings sind die Österreicher dem Gerstensaft kaum weniger zugetan als wir ( »Bier«). Zurück zu Wasser und Milch. Das große Verquirlen beginnt schon in der Antike: Neben den unterschiedlichsten Germanenstämmen – wie Alamannen, Bajuwaren, Markomannen, Vandalen, Langobarden, Cherusker, Chauken, Burgunden, Franken, Sachsen oder Friesen – tummelte sich auf dem Gebiet des heutigen Deutschland auch eine Reihe anderer ethnischer Gruppen. So gehörte etwa ganz Süddeutschland bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. zum Kernsiedlungsgebiet der Kelten. Von deren Sprache zeugt noch heute eine Reihe von Lehnwörtern, wie zum Beispiel Amt, Eisen, Reich oder Pferd. Der Regensburger Germanist Albrecht Greule vermutet keltische Wurzeln außerdem in mindestens 150 bayerischen Orts- und Flussnamen – darunter Kempten, Andechs, Isar und Main. Auch die Bezeichnung Germanen für die einheimischen Stämme ist kein »deutsches« Wort, sondern geht wahrscheinlich auf das Keltische zurück. Als Nächstes kam eine Besatzungsmacht aus dem Süden, die Römer. Zur Zeit seiner größten Ausdehnung unter Kaiser Trajan reichte das Imperium Romanum bis weit ins heutige Deutschland hinein. Bis 116 n. Chr. befanden sich große Teile der heutigen Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland- Pfalz, Hessen sowie das gesamte Gebiet links des Rheins vollständig unter römischer Herrschaft. In dieser Zeit gab es eine Vielzahl von Mischehen zwischen Römern und Germanen, und wie andere Länder hätten auch wir komplett zur römischen Provinz werden können – wie es das unersättliche Weltreich eigentlich vorhatte. Dann sprächen wir heute vermutlich nicht Deutsch, sondern eine romanische Sprache wie Franzosen, Rumänen, Portugiesen und Spanier. Nur die römische Niederlage in der berühmten Varusschlacht im Jahr 9 n. Chr. vereitelte diese Pläne und bewahrte uns einen Rest »germanischer« Identität. Wobei man allerdings anfügen muss: Die lateinische Sprache war bis dahin bereits unauflösbar mit unseren eigenen Dialekten vermischt. Vermutlich um 375 n. Chr. fielen dann aus Osten in mehreren Wellen die Hunnen (die nicht zu den Germanen gehören) in Mitteleuropa ein, und unter ihrem Ansturm begann der Nordwesten des Römischen Reichs auseinanderzubrechen. Um die Mitte des folgenden Jahrhunderts war praktisch das ganze spätere Deutschland von Hunnen besetzt, bis nach dem Tod ihres Königs Attila (453) innere Konflikte ausbrachen, die das Hunnenreich langsam zerfallen ließen. Kaum anzunehmen, dass sich die Hunnenkrieger gegenüber germanischen Frauen sonderlich prüde benahmen – man darf also davon ausgehen, dass nicht wenige von uns heutigen Deutschen hunnische Gene in sich tragen (auch wenn das von Engländern gern für die Deutschen benutzte Schimpfwort Hun wohl doch leicht übertrieben ist). Ab der Mitte des 6. Jahrhunderts folgten mehrere Einwanderungswellen westslawischer Gruppen, sogenannter Polaben, die über die Oder ins heutige Deutschland kamen, dort Wurzeln schlugen und sich mit anderen Volksgruppen vermischten. So finden sich im östlichen Deutschland noch heute zahlreiche Familien- und Ortsnamen polabischer Herkunft – auch wenn die Sprache gegen Ende des 16. Jahrhunderts bereits weitgehend ausgestorben war. Selbst unsere Hauptstadt trägt keinen deutschen Namen: Berlin bedeutet im Altpolabischen so viel wie »Sumpfgebiet«. Eine Geschichte für sich ist die der Juden, die ebenfalls zu den Gründervätern und -müttern des deutschen Volks gehören. Schon bevor Jerusalem im Jüdischen Krieg 70 n. Chr. von den Römern zerstört wurde, lebten mehr als doppelt so viele Juden in der Diaspora wie auf dem Gebiet des heutigen Staates Israel selbst – nicht etwa, weil sie vertrieben worden wären, sondern weil sie ganz einfach ihr Glück in der Fremde suchten. Etwa ab dem 4. Jahrhundert gab es jüdische Siedlungen auch in den römischen Gebieten Germaniens, und damals begegnete man sich noch ganz unbefangen. Juden und Germanen (die damals noch lange keine Christen waren) zeugten jahrhundertelang gemeinsame Nachkommen, bevor mittelalterliche Judengesetze diese Mischehen verboten. Aufgrund ihrer Wirtschaftskraft genossen die Juden unter den ottonischen und salischen Kaisern bis weit ins 11. Jahrhundert hinein sogar besondere Privilegien. Erst während des Ersten Kreuzzugs ab 1095, bei dem Juden als »Feinde der Christenheit« stigmatisiert wurden, begann ihre jahrhundertelange Verfemung und Verfolgung. Nichtsdestotrotz war gerade das Mittelalter, wie Dirk Hoerder schreibt, »eine Zeit vielfältiger Mobilität im deutschsprachigen Zentraleuropa mit seinen bi- oder mehrkulturellen Regionen«. Damals gab es einen unbeschränkten europaweiten Arbeitsmarkt, und so zog auf dem Gebiet des heutigen Deutschland ein internationales Mischvolk aus fast aller Herren Länder umher. Insbesondere Handwerksgesellen waren oft mehrere Jahre auf Wanderschaft, und nicht selten wurden sie durch Heirat oder Geschäftsübernahme in einer fremden Stadt sesshaft. So machten Migranten zum Beispiel in Frankfurt am Main um 1600 rund 40 Prozent der gesamten Stadtbevölkerung aus – das übertrifft sogar die heutigen Verhältnisse in manchen deutschen Großstädten. Ab dem 15. Jahrhundert wanderten dann Sinti zu uns ein, die zum ursprünglich indischen Volk der Roma gehören. Woher ihr Name stammt, ist bis heute ungeklärt; eine Ableitung des Wortes von der pakistanischen Landschaft Sindh klingt zwar plausibel, lässt sich aber nicht belegen. Zwischen dem 5. und 10. Jahrhundert brachen die Sinti zu ihrer Westwanderung auf, die sie Jahrhunderte später auch nach Mitteleuropa führte. In Deutschland, wo sie als Händler, Gold-, Kunst- und Waffenschmiede sowie Musikinstrumentenbauer ihren Lebensunterhalt verdienten, werden sie erstmals 1407 urkundlich erwähnt. Zunächst waren sie wegen ihrer Kunstfertigkeit ähnlich geschätzt und mit Privilegien ausgestattet wie die Juden, doch im ausgehenden Mittelalter war es aus mit der Gunst der Herrscher, und die Sinti wurden praktisch rechtlos. Am treffendsten ist hier der Vergleich »Wasser und Öl«: Ablehnung und Hass auf die nicht anpassungswilligen »Zigeuner« gärten immer weiter und gipfelten schließlich im Dritten Reich, als im Zuge des Holocaust rund eine halbe Million Sinti und Roma ermordet wurden. Entgegengesetzt dazu verlief die Geschichte der französischen Protestanten (Hugenotten), die sich als Einwanderer höchst erfolgreich in Deutschland niederließen und integrierten. Vor allem Brandenburg-Preußen warb schon ab dem 16. Jahrhundert ausländische Siedlerfamilien an, um der demografischen Auszehrung durch den Dreißigjährigen Krieg entgegenzuwirken. So ließen sich neben Polen, Niederländern, Österreichern und Schweizer Mennoniten auch die in ihrer Heimat verfemten Hugenotten nicht lange bitten – besonders ab 1685 nicht, als »Sonnenkönig« Ludwig XIV. die protestantische Minderheit seines Landes systematisch einkerkern und umbringen ließ. Aus allen Regionen Frankreichs strömten die Flüchtlinge in tolerantere Nachbarländer; annähernd 50 000 kamen nach Deutschland, davon allein 20 000 nach Preußen, wo sie als wirtschaftlich leistungskräftige Neubürger hochwillkommen waren. Hier sind wir im Übrigen wieder ganz bei »Wasser und Milch«: Blieben die Hugenotten in der brandenburgischen Kolonie anfangs noch weitgehend unter sich, so gab es in der zweiten Generation – und erst recht in der dritten – schon zahlreiche Mischehen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts suchten sich bereits 70 Prozent der Einwanderer deutsche Partner. Aus diesen Verbindungen ging so etwas wie eine neue Elite hervor. Bekannte Vertreter der hugenottischen Volksgruppe sind zum Beispiel Theodor Fontane und der Verleger Anton Philipp Reclam, in heutiger Zeit der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, die Politiker Lothar und Thomas de Maizière sowie der Schauspieler Sky du Mont. Zunächst gewaltsam, aber später umso reibungsloser verlief die Integration der ersten Türken in Deutschland. Im Zuge der Türkenkriege des 17. und 18. Jahrhunderts, besonders nach der Niederlage des osmanischen Heeres vor Wien 1683, machte das Kaiserreich schätzungsweise bis zu 10 000 Gefangene, die nach Deutschland verschleppt und vollständig assimiliert wurden – darunter auch Frauen und Kinder. Viele der Männer wurden an deutschen Adelshäusern als exotische Hoflakaien (genau genommen Sklaven) beschäftigt; später entließ man die »Beutestücke« nach und nach in die Freiheit und machte sie mit deutscher Gründlichkeit zu Abendländern. Zum Standardprogramm gehörten das intensive Erlernen der deutschen Sprache und ein christlicher Religionsunterricht mit anschließender Zwangstaufe, die meist als öffentliches Massenspektakel inszeniert wurde. Was herauskam, waren normale deutsche Untertanen, denen man alles Türkische restlos ausgetrieben hatte. Bei dieser Gelegenheit erhielten sie auch neue Namen – nicht selten mit Bezug auf den Ort ihrer Herkunft. Rechnet man die Vermehrung dieser »Deutschtürken« über die verschiedenen Generationen bis heute hoch, dann dürften ihre Nachkommen die Gesamtzahl der im 20. und 21. Jahrhundert eingewanderten Türken locker erreichen, wenn nicht sogar übertreffen. Die ursprünglichen Wurzeln schimmern bis heute in Tausenden deutscher Familiennamen durch, wenngleich es für Türk, Türck, Türke und Türcke unterschiedliche Herkunftsdeutungen gibt. Außerdem finden sich im Adressbuch mehrere hundert Soldans (= Sultan). Machen wir einen Sprung in die jüngere Vergangenheit. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigte sich der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft in ganz Europa rasant, und dementsprechend wuchs auch der Bedarf an Arbeitskräften. So erlebte Deutschland schon damals einen Vorgeschmack dessen, was wir aus der Zeit des »Wirtschaftswunders« in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts kennen: den massiven Zuzug ausländischer Arbeiter – die seinerzeit allerdings noch nicht »Gastarbeiter«, sondern »Wanderarbeiter« hießen. Importiert wurden sie vor allem aus Skandinavien sowie den ost- und südeuropäischen Randstaaten, in denen man damals besonders wenig zu beißen hatte. Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs war die Zahl ausländischer Billiglöhner in Deutschland auf 1,2 Millionen angestiegen. Während des Krieges wurde die große Mehrheit von ihnen praktisch zu Gefangenen; sie mussten Zwangsarbeit leisten und konnten nicht mehr in ihre Heimat zurück. Unter anderem gehörten dazu Hunderttausende von Polen, die teils in der Landwirtschaft, vor allem aber als Bergarbeiter im Ruhrgebiet eingesetzt wurden. Mit rund einer halben Million »Ruhrpolen« stellte die Industrieregion zwischen Dortmund und Duisburg quasi eine polnische Kolonie dar, und dieser Immigrationsschub wirkt bis heute nach – denn viele der polnischen Arbeiter assimilierten sich, heirateten deutsche Frauen und ließen sich an Ruhr und Emscher dauerhaft nieder. Bezeichnend: Während der Glanzzeit des Fußballclubs FC Schalke 04 zwischen 1934 und 1942, in der die Knappen sechs deutsche Meistertitel abräumten, bestand nahezu die gesamte Mannschaft aus Spielern polnischer Abstammung. Nicht unerwähnt bleiben darf auch die Einwanderung aus Russland, die während des 20. Jahrhunderts in mehreren Wellen stattfand. So suchten im Gefolge der Russischen Revolution bis zu zwei Millionen Flüchtlinge aus dem ehemaligen Zarenreich ihr Heil in Deutschland – überwiegend gebildete und wohlhabende Bürger unterschiedlichster Provenienz. Deutsche Stammbäume waren ebenso vertreten wie jüdische, ukrainische, baltische, armenische oder tatarische. Allerdings zogen die meisten dieser Neuankömmlinge aufgrund der restriktiven deutschen Einwanderungspolitik in andere Länder weiter, vorzugsweise nach Frankreich. Eine weitere Generation Entwurzelter hinterließ der Zweite Weltkrieg im westlichen Teil Deutschlands, nachdem die Nazis für ihre Zwangsarbeitslager Millionen von Menschen aus den besetzten Ländern verschleppt hatten. Die Mehrzahl von ihnen zog es nach dem Krieg verständlicherweise zurück in ihre Heimat. Russen – die von den Sowjets der Kollaboration mit dem Feind beschuldigt worden waren – und andere, die aus nun kommunistisch besetzten Ländern stammten, blieben allerdings oft wohl oder übel in der Bundesrepublik. Während des Kalten Krieges flüchteten außerdem zahlreiche Dissidenten aus der Sowjetunion in den Westen und ließen sich zum Teil auch in Deutschland nieder. Die letzte größere Einwanderungswelle schließlich, die noch immer nicht ganz verebbt ist, begann mit der Zeit der Perestroika und dem nachfolgenden Zusammenbruch des Ostblocks. In den Fünfzigerjahren führten der Wiederaufbau, das Einziehen von Rekruten zur Bundeswehr und der wirtschaftliche Boom in Westdeutschland zu einem massiven Arbeitskräftemangel. Große Teile Südeuropas und der Türkei hatten dagegen das umgekehrte Problem – somit lag es nahe, einmal mehr in diesen Regionen nach Arbeitskräften Ausschau zu halten. Die ersten wurden 1955 in Italien angeworben, ab 1960 folgten Spanien und Griechenland, ab 1961 die Türkei, ab 1964 Portugal und 1968 das damalige Jugoslawien. Zum Zeitpunkt des Anwerbestopps 1973 lebten in der Bundesrepublik rund drei Millionen »Gastarbeiter« und deren Familienangehörige. Wobei die derart Titulierten oft so großen Geschmack an ihrem »Gastaufenthalt« fanden, dass sie sich in ihrer neuen Heimat dauerhaft einrichteten. Das deutsche Volk hatte somit erneut massiven Zuwachs bekommen, und dem konnte sich irgendwann auch die Politik nicht mehr verschließen. Ende der Siebzigerjahre des vorigen Jahrhunderts wagte sich der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung, Heinz Kühn, mit der Feststellung vor, (West-)Deutschland sei »faktisch ein Einwanderungsland«. Ähnliches galt im Prinzip auch für die DDR, wenngleich in weit geringerem Ausmaß. Hier blieb man im sozialistischen Lager natürlich unter sich und holte Arbeitskräfte aus Ländern wie Polen, Kuba, Vietnam und Mosambik. Viele von ihnen heirateten deutsche Frauen und wurden zu DDR-Bürgern, andere bemühten sich nach 1990 um Einbürgerung im wiedervereinigten Deutschland. Nicht vergessen darf man auch die Vielzahl der Asylsuchenden aus Diktaturen und Krisengebieten. In die Bundesrepublik flüchteten während der deutschen Teilung Dissidenten aus praktisch allen Ländern des Ostblocks, Juden aus der UdSSR und (wie auch heute noch) verfolgte Kurden aus der Türkei. Gegenwärtig kommen die meisten Asylbewerber aus Afghanistan, dem Irak, dem Iran und Syrien. Insgesamt haben heute rund 16 Millionen in Deutschland lebende Menschen (mit oder ohne deutschen Pass) einen »Migrationshintergrund« – also rund ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Lässt man die zeitliche Beschränkung weg und betrachtet die zurückliegenden Jahrtausende, dann kommt man vermutlich auf annähernd 81 Millionen. Überspitzt gesagt: Letzten Endes sind wir alle Abkömmlinge von Migranten – in welcher Form auch immer. Oder sagen wir’s poetischer: Wir alle sind unter einem Wandelstern geboren (»born under a wand’rin’ star«, wie Lee Marvin in dem Filmmusical Westwärts zieht der Wind so herzerweichend brummt). Milch und Wasser also, um es noch einmal mit Buddha zu sagen – in den verschiedensten Spielarten und Konzentrationen. Umso widersinniger mutet es an, dass die verquere Praxis der Kaiserzeit bis heute fast unverändert fortgeschrieben wird. Kein Land der Welt ist so eifersüchtig (und vergeblich) um seine nationale Identität besorgt wie ausgerechnet Deutschland, kaum ein anderes – außer Israel und Japan – trennt Bevölkerungsgruppen so penibel nach Einheimischen und Immigranten. Noch 1991 sorgte ein »Ausländergesetz« dafür, dass zwischen dem deutschen Kumpel Schimanski und seinem türkischen Kollegen Özkan streng unterschieden wurde. Dabei waren bis zu diesem Datum beispielsweise schon 25 Prozent aller minderjährigen Kinder türkischer Eltern in Deutschland geboren. Was heißt es also, deutsch zu sein? Als gemeinsame Klammer bleibt im Grunde nur eines: Wer sich in unserem Land und in unserer Sprache zu Hause fühlt, der ist Deutscher. Es gibt keine andere Definition, die wirklich brauchbar wäre (von der Staatsbürgerschaft mal abgesehen). Da muss kein »deutsches Blut« durch die Adern strömen und kein Familienstammbaum bis zum Römerschreck Arminius zurückreichen (der im Übrigen ja auch noch gar kein »Deutscher« war, sondern zu dem relativ kleinen Stamm der Cherusker zählte). Nein – das deutsche Volk besteht und bestand schon immer aus denen, die hier ihre Heimat gefunden haben. [9] Dirk Hoerder: Geschichte der deutschen Migration, München 2010. [10] In der Schlacht bei Königgrätz besiegten im Deutschen Krieg die Truppen Preußens am 3. Juli 1866 die Armeen Österreichs und Sachsens und begründeten damit die preußische Vorherrschaft innerhalb Deutschlands. Deutschland Ein Jahrtausendmärchen Im traurigen Monat November war’s, Die Tage wurden trüber, Der Wind riß von den Bäumen das Laub, Da reist ich nach Deutschland hinüber. Klar, diese Zeilen kennt man. Ebenso klar: Sie gehören zum deutschen Bildungskanon. Auch nach diversen sportlichen Winter- und Sommermärchen der letzten Jahre ist Heinrich Heines Versepos Deutschland, ein Wintermärchen ein unschlagbares Original geblieben – und sei es nur diese erste Strophe. Sie klingt romantisch, melancholisch, sehnsuchtsvoll, Neugier weckend – aber ach! Die letzte Zeile stimmt eben nicht. Ebenso wenig wie der Titel des ganzen Werkes. Denn Deutschland war zu jener Zeit tatsächlich noch ein Märchen, so real wie Schneewittchen und die sieben Zwerge. Und es sollte noch mehr als ein Jahrhundert dauern, bis diese Schimäre zumindest teilweise Gestalt annahm – als Bundesrepublik Deutschland. Faktisch gab es vor dem 23. Mai 1949, dem Tag der Verkündung des Grundgesetzes, niemals ein Staatsgebilde oder eine Nation namens Deutschland; östlich der Elbe musste man sogar bis zum 3. Oktober 1990 darauf warten. Trotz unserer vermeintlich uralten Geschichte gehören wir damit zu den Jungspunden unter den Staaten dieser Welt. Selbst das so junge Israel der Neuzeit bringt es auf exakt neun Tage mehr. Deutschland – das war über viele Jahrhunderte eben nichts weiter als ein vage definierter Sammelbegriff für alle möglichen Ländereien, in denen Deutsch gesprochen wurde. Auch Heinrich Heine fuhr also im November 1843 aus seiner Wahlheimat Frankreich in Wirklichkeit nicht nach Deutschland hinüber, sondern ins Königreich Preußen. Weswegen er sich ein Kapitel weiter folgerichtig über die »preußischen Douaniers« mokiert, die sein Gepäck durchwühlen. Das Kapitel schließt denn auch mit dem Fazit: »Ein einiges Deutschland tut uns not, einig, nach außen und innen.« Eine klare Ansage nach tausend Jahren der Zerrissenheit. Ja, aber das »Deutsche Reich«? Das entstand doch 28 Jahre nach dem Wintermärchen, also schon lange vor 1949. Natürlich. Nur dass dieses Gebilde – wie später auch die DDR – eben nicht den Namen Deutschland trug, sondern mit stolzgeschwellter Brust das Reich in den Mittelpunkt stellte und den Begriff »deutsch« nur als Anhängsel führte. In den rund tausend Jahren zuvor stolperte unsere sogenannte Nation ziemlich planlos als unvollendetes Flickwerk durch die Geschichte. Würde man die Entwicklung der politischen Landkarte zwischen den Jahren 800 und 1871 zu einem dreiminütigen Film im Zeitraffer komprimieren, dann wäre das Ergebnis ein einziges Augenflimmern. Zwar gab es seit Karl dem Großen ein Kaiserreich in der Mitte Europas, aber das war die meiste Zeit bis zu seinem Ende im beginnenden 19. Jahrhundert nicht mehr als ein gemeinsames Dach, unter dem unzählige Könige, Kurfürsten, Herzöge und Markgrafen ihr jeweils eigenes Süppchen kochten. Karl V. etwa herrschte als Kaiser des Heiligen Römischen Reiches von Madrid aus und kannte »Deutschland« gar nicht, der Stauferkaiser Friedrich II. wiederum residierte in Süditalien. Die »Deutschen« bildeten während dieser Zeit allenfalls eine Sprachgemeinschaft, aber weder einen Staat noch irgendeine andere politische Einheit. »Wir« waren Teil des Heiligen Römischen Reiches. Dessen Bewohner begannen frühestens im 11. Jahrhundert, aufgrund ihrer gemeinsamen Sprache überhaupt so etwas wie ein Nationalbewusstsein zu entwickeln: Zu Beginn des 12. Jahrhunderts tauchten erstmals schriftliche Dokumente mit Bezeichnungen wie diutisches land oder diutische lande auf. Aber erst seit 1486 – also seit dem Spätmittelalter – ist für das Kaiserreich der erweiterte Name »Heiliges Römisches Reich deutscher Nation« belegt. Etwa ab 1500 klingt es dann schon etwas vertrauter, wenn der Dichter und Humanist Ulrich von Hutten den Begriff »deutsche Lande« verwendet. Allerdings gilt für Hutten wie für die meisten seiner gebildeten Zeitgenossen: Die geistige Elite, und erst recht die geistliche, hielt sich an ihr angestammtes Latein. Selbst Martin Luther, dessen Bibelübersetzung die deutsche Sprachgemeinschaft so nachhaltig geprägt hat, ist diesbezüglich keine Ausnahme. Die meisten seiner Schriften verfasste er auf Latein, auch wenn er teilweise die Übersetzung gleich beifügte. Deutsch, das war bis in die Neuzeit hinein eher die Sprache der niederen Stände – so überwog bis 1681 die Zahl der auf Latein veröffentlichten Bücher die der deutschsprachigen. Erst der streitbare Augustinermönch und Volksschriftsteller Johann Ulrich Megerle (1644 – 1709), besser bekannt unter seinem Künstlernamen Abraham a Sancta Clara, schrieb erstmals konsequent auf Deutsch und verwendete in seinen Schriften auch ausgiebig das Wort »Deutschland«. Zum Vergleich: Unser winziger Nachbar Dänemark (Danmark) existierte schon im 8. Jahrhundert unter seinem heutigen Namen – und das nicht nur als Begriff, sondern auch als Staatswesen. Das deutschsprachige Gebiet, auch wenn es landläufig immer öfter als Deutschland bezeichnet wurde, blieb dagegen jahrhundertelang ein Flickenteppich aus Fürsten- und Herzogtümern, Grafschaften, Reichsritterschaften, Reichsstädten, Städtebünden und kirchlich beherrschten Gebieten. Mit der sogenannten Reichsreform von 1495, die den verschiedenen Provinzfürsten noch mehr Macht und Kompetenzen gab, erlebte diese Zersplitterung ihren Höhepunkt. Die historisch gewachsene Eigenbrötelei ist noch heute an unserem föderativen deutschen Staat abzulesen: Da gibt es gewöhnliche Bundesländer, Freistaaten, Regierungsbezirke, Stadtstaaten, Kreisstädte, kreisfreie Städte, Hansestädte, eine »Freie Hansestadt« und – damit es ja keine Verwechslung gibt – auch noch eine »Freie und Hansestadt«. Die deutsche Kleinstaaterei währt bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als im Gefolge der Französischen Revolution zaghaft ein neuer Geist einzuziehen beginnt. Mithilfe französischer Truppen entwickeln sich in der damaligen Kurpfalz erste Ansätze eines moderneren Staatswesens in Gestalt der 1792 gegründeten, kurzlebigen »Mainzer Republik«, während gleich nebenan in Frankfurt noch der letzte Kaiser des »Heiligen Römischen Reichs« residiert. Das damals übermächtige Frankreich bestimmt auch in den Folgejahren das Geschick des zerbröselnden kaiserlichen Imperiums. Dem Vordringen Napoleons in Richtung Osten hat die lose Allianz aus Preußen, Österreich und diversen Fürstentümern nicht viel entgegenzusetzen – so streckt man 1801 die Waffen und schließt den »Frieden von Lunéville«, mit dem die Abtretung der linksrheinischen Reichsgebiete an Frankreich besiegelt wird. Die dort bislang herrschenden deutschen Adligen mit Ersatzterritorien zu versorgen erfordert nun allerdings eine größere Aufräumaktion: Sage und schreibe 112 Zwerg- und Stadtstaaten auf deutschem Boden werden per Federstrich abgeschafft und einer Landesherrschaft unterworfen. Was übrig bleibt, ist immer noch bunt genug für ein politisches Faschingskostüm. Am 6. August 1806 muss Kaiser Franz II. auf Druck Napoleons abdanken, und damit endet nach über tausend Jahren offiziell die Ära der fränkisch-römisch- deutschen Kaiser. Sechs Jahre und diverse Schlachten später herrscht der kleine Korse über das gesamte Gebiet des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation. Aber nun hat es den Anschein, als seien die Deutschen – die sich inzwischen auch großenteils als solche fühlen – der ewigen Territorien- und Machtwechsel allmählich überdrüssig. Lebhaftes Zeugnis dafür ist ein flammender Appell, den der Schriftsteller und spätere Abgeordnete Ernst Moritz Arndt im Jahr 1813 verfasst, zur Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon: Was ist des Deutschen Vaterland? So nenne mir das große Land! So weit die deutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt, Das soll es sein! Das, wackrer Deutscher, nenne dein! Auch an diesen Zeilen sieht man: »Deutschland« steht in erster Linie für die gemeinsame Sprache, also das geografische Gebiet, in dem Deutsch gesprochen wird. So bezieht Arndt in weiteren Strophen gleich noch Österreich in seine Beschwörung ein, vergisst offensichtlich, dass auch die Schweiz einen deutschsprachigen Teil besitzt – lässt sich aber nicht die rhetorische Pflichtübung entgehen, jeden »Franzmann« als des Deutschen natürlichen Feind zu bezeichnen. Vor lauter Überschwang scheint ihn dabei nicht zu bekümmern, dass es in deutschen Landen unter Napoleon liberaler und aufgeklärter zugegangen sein dürfte als je zuvor. Der Weg zu Arndts »deutschem Vaterland« erweist sich auch weiterhin als lang und steinig. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig und dem Sieg über Napoleon wird Mitteleuropa erst einmal wieder gründlich durcheinandergewürfelt. Ergebnis des Wiener Kongresses in der Schlussakte von 1815: An die Stelle des Heiligen Römischen Reiches tritt der »Deutsche Bund« unter Führung Österreichs, bestehend aus 35 souveränen Fürstentümern und vier freien Städten. Nur zu verständlich, dass diese Neuauflage eines zusammengestoppelten Multimonarchen-Ungetüms kaum jemanden so recht glücklich macht. Die entstehende deutsche Einheitsbewegung erreicht im Jahr 1817 einen ersten Höhepunkt mit dem Treffen deutscher Burschenschaften auf der Eisenacher Wartburg. Hier wird zum ersten Mal öffentlich die fortbestehende Kleinstaaterei angeprangert. Es ist der Beginn eines geistigen Aufstands, den die deutsche Ministerkonferenz in Karlsbad zwei Jahre später – unter dem Eindruck der Ermordung des Dichters August von Kotzebue durch den Studenten Karl Ludwig Sand – mit den sogenannten Karlsbader Beschlüssen gründlich abwürgt. Doch allmählich dämmert es auch dem letzten Provinzherrscher, dass man sich mit dem antiquierten Flickenteppich in Gefahr bringt, den Anschluss an die rasch fortschreitende Industrialisierung Europas zu verlieren. Die deutsche Einheit ist plötzlich keine bloße politische Schwärmerei mehr, sondern wird zu einer Frage des wirtschaftlichen Überlebens. 1828 führt diese Einsicht zur Gründung sogenannter Zollvereine, einer Art innerdeutschem Vorläufer des heutigen Schengener Abkommens. Zunächst wird ein solcher Pakt zwischen Bayern und Württemberg geschlossen, dann zwischen Preußen und Hessen. 1834 folgt der Deutsche Zollverein, mit dem endlich die letzten Schlagbäume fallen. Heinrich Heine konnte also nach erfolgreicher Einreise aus Frankreich aufatmen: Im Land selbst musste er keine weitere Belästigung durch preußische und andere »Douaniers« mehr befürchten. Im Februar 1848 erlebt Frankreich eine zweite Revolution; der letzte König wird gestürzt und das Land in eine demokratisch regierte Republik umgewandelt. Auch diese Bewegung schwappt nach Deutschland über und führt zu einem weiteren hoffnungsvollen Schritt in Richtung Einheit: Noch im selben Jahr wird mit der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche das erste deutsche Parlament eröffnet. 1849 verabschiedet dieses Gremium auch die erste deutsche Verfassung, geprägt durch eine konstitutionelle Monarchie unter der Führung Preußens. Zum Kaiser wird Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gewählt – doch als die meisten deutschen Königreiche und Kleinstaaten der neuen Reichsverfassung ihre Unterstützung versagen, lehnt Friedrich Wilhelm die Kaiserkrone ab und drückt seinen Preußen eine eigene Verfassung aufs Auge. Die scheinbar unendliche Geschichte der deutschen Zerrissenheit geht weiter. Erst Otto von Bismarck, den König Wilhelm I. 1862 zum preußischen Ministerpräsidenten ernennt, schafft es, die politische Landkarte radikal umzugestalten. Nach dem Sieg über Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 erreicht er in zähen Verhandlungen, dass sich die süddeutschen Staaten mit dem Norddeutschen Bund zu einem Gesamtstaat zusammenschließen. 1871 entsteht so das Deutsche Reich – der erste deutsche Nationalstaat der Geschichte, aber mit den privilegierten Königreichen Preußen und Bayern noch immer ein Abziehbild seiner wechselvollen Vorgeschichte. Tempi passati. Zwei Weltkriege und einen kalten Krieg später sind wir endlich so weit: Aus dem Reich ist ein schlichtes Land geworden, und der Name Deutschland ist kein Jahrtausendmärchen mehr, sondern politische Realität. Was lange währt, wird endlich gut? Bis dato jedenfalls können wir mit unserem jungen, erfolgreichen Staat durchaus zufrieden sein. Und irgendwann dürften auch die letzten innerdeutschen Antagonismen (Ossi – Wessi, Bayer – Saupreiß) der Vergangenheit angehören. Hoffen wir also mal das Beste. Deutschlandlied Frühmorgens in Kroatien Gott erhalte Franz den Kaiser für das deutsche Vaterland, auferstanden aus Ruinen walte seine Segenshand … Klingt gar nicht mal so abwegig, oder? Offensichtlich ergeben Bayernhymne und DDR-Hymne plus Alt- und Neufassung des Deutschlandliedes auch als gut geschüttelte Cocktailzutaten genießbare Verse – was zugleich aber auch die lyrische und politische Achterbahnfahrt beleuchtet, die mit dem Besingen unserer (meist ungeeinten) Nation in den letzten zweihundert Jahren verbunden war. Dass die der Zeile »Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland« unterlegte Melodie ursprünglich mit einem kroatischen Text intoniert wurde, ist dabei nur eine von vielen historischen Kuriositäten. Denn eine offizielle Nationalhymne besitzt Deutschland erst seit 1922 und ist damit vergleichsweise spät dran. Vor der Reichsgründung 1871 bestand allerdings auch gar kein Bedarf an einer Hymne, weil es eine Nation namens Deutschland noch nicht gab. Aber selbst im Deutschen Kaiserreich ging man mit dem Thema noch ziemlich lax um und bediente sich bequem verfügbarer ausländischer Quellen: Das berühmte »Heil dir im Siegerkranz« ist nichts anderes als die Umdichtung eines Liedes, das der Flensburger Pfarrer Heinrich Harries 1790 zu Ehren des dänischen Königs Christian VII. verfasst hatte (Flensburg gehörte damals zu Dänemark). Die Melodie wiederum entstammt dem 1745 entstandenen britischen »God Save the King« (heute »the Queen«), das zu Beginn des 19. Jahrhunderts offizielle Nationalhymne des Vereinigten Königreichs wurde. 1793 modelte der Dichter Gerhard Balthasar Schumacher den Harries-Text dann auf den deutsch- römischen Kaiser um, sodass er später auch auf die beiden Wilhelms passte. Übrigens diente die gleiche Melodie auch anderen Nationen als musikalisches Aushängeschild. Bis zum heutigen Tag hat sie sich im Fürstentum Liechtenstein erhalten (»Oben am jungen Rhein«); außerdem basiert auf ihr der Vorgänger der heutigen Bayernhymne »(Heil unserem König, Heil«), die frühere Schweizer Nationalhymne (»Rufst du, mein Vaterland«) und die russische Hymne »Molitwa Russkich« aus der Zarenzeit, die mit der Zeile beginnt: »Bosche, Zarja chrani!« (»Gott schütze den Zaren!«). Bemerkenswert daran ist, dass mit Ausnahme der Schweizer und Liechtensteiner Version nicht das Land besungen wird, sondern der jeweilige Monarch. Und selbst Liechtenstein bedenkt seinen Regenten zumindest in der zweiten Strophe: »Hoch leb’ der Fürst vom Land«. Von daher überrascht es kaum, dass auch das heutige Deutschlandlied zunächst als Huldigung an einen Herrscher gedacht war. Und ebenso wie »Heil dir im Siegerkranz« bedient es sich einer importierten Melodie: Die Noten stammen von dem Österreicher Joseph Haydn, der sie als »Kaiserlied« zu Ehren von Franz II. komponierte. Allerdings machte sich auch Haydn nicht die Mühe einer eigenen Idee – vielmehr ließ er sich von dem kroatischen Volkslied »Vjutro rano se ja stanem« inspirieren, dessen erste vierzehn Töne er unverändert übernahm und ihnen drei weitere hinzufügte. Zur Erinnerung: Große Teile Kroatiens, inzwischen jüngstes Mitglied der EU, gehörten damals zur Donaumonarchie. Und so liest sich die Urfassung des späteren Deutschlandliedes in der Originalsprache: Vjutro rano se ja stanem, malo pred zorom. (Früh am Morgen stehe ich auf, kurz vor dem Morgenrot.) Es kann auch gar nicht früh genug sein, denn die nun beginnende Irrfahrt durch die Geschichte dauert fast zwei Jahrhunderte. Es ist der Wiener Universitätsbibliothekar Lorenz Leopold Haschka (1749 – 1827), der die volkstümlichen Zeilen vom Balkan erstmals in eine deutsche Hymne verwandelt. Anlässlich des 29. Geburtstags von Franz II. am 12. Februar 1797 erlebt das recycelte Lied in der Haschka-Haydn-Version seine Uraufführung im Wiener Burgtheater, feierlich abgenommen von Seiner Majestät höchstselbst. Der Text der ersten Strophe: Gott erhalte Franz, den Kaiser, Unsern guten Kaiser Franz! Lange lebe Franz, der Kaiser, In des Glückes hellstem Glanz! Ihm erblühen Lorbeerreiser, Wo er geht, zum Ehrenkranz! Gott erhalte Franz, den Kaiser, Unsern guten Kaiser Franz! Bis daraus »Deutschland, Deutschland über alles« wird, stehen dem Lied allerdings noch eine ganze Reihe weiterer Metamorphosen bevor. Eine kleine Chronologie der Ereignisse in den nun folgenden Zeitläuften: Knapp drei Jahrzehnte nach der Uraufführung, am 1. Oktober 1826, wird das Kaiserlied aufgrund »Allerhöchster Entschließung« zur österreichischen Nationalhymne erklärt und offiziell ins Hofprotokoll aufgenommen. Als Text dient jedoch nicht die Originalfassung, sondern eine leicht abgewandelte Version, deren Verfasser heute nicht mehr bekannt ist. In dieser Form besteht die Hymne bis 1835 fort: Gott erhalte Franz den Kaiser, Unsern guten Kaiser Franz! Hoch als Herrscher, hoch als Weiser Steht er in des Ruhmes Glanz. Liebe windet Lorbeerreiser Ihm zu ewig grünem Kranz. Gott erhalte Franz den Kaiser, Unsern guten Kaiser Franz! Für Kaiser Ferdinand I., den Nachfolger von Franz II., wird der Text ein weiteres Mal umgebaut. Nicht weniger als vierzehn Entwürfe bewerben sich anlässlich der Thronbesteigung im März 1835 um die Ehre, die göttliche Erhaltung des neuen Monarchen beschwören zu dürfen. Den Sieg im Austrian Song Contest erringt schließlich die folgende Fassung des schlesischen Dichters Karl von Holtei: Gott erhalte unsern Kaiser, Unsern Kaiser Ferdinand! Reich, o Herr, dem guten Kaiser Deine starke Vaterhand! Wie ein zweiter Vater schalte Er an Deiner Statt im Land! Ja, den Kaiser, Gott, erhalte, Unsern Kaiser Ferdinand! Allerdings kann sich diese Version des Kaiserliedes nur kurze Zeit halten, denn sie bzw. ihr Urheber hat einen entscheidenden Webfehler: Der aus Breslau stammende Holtei ist preußischer Untertan und somit als österreichischer »Nationaldichter« eine gänzlich unpassende Besetzung – noch dazu, wenn es um die Loyalität zum Kaiser geht. So wird der Text schon nach wenigen Monaten durch einen anderen ersetzt, den der Dichter Johann Christian Freiherr von Zedlitz liefert. Seine Version singt man vom Februar 1836 bis zum März 1854: Segen Östreichs hohem Sohne, Unserm Kaiser Ferdinand! Gott, von Deinem Wolkenthrone Blick erhörend auf dies Land! Laß Ihn, auf des Lebens Höhen Hingestellt von Deiner Hand, Glücklich und beglückend stehen, Schütze unsern Ferdinand! Man beachte: Zum ersten Mal kommt hier neben dem Kaiser auch das Wort »Östreich« vor. Die Zedlitz-Hymne ist auch die erste, die in sämtliche Sprachen der Donaumonarchie übersetzt wird – also ins Ungarische, Tschechische, Polnische, Illyrische, Kroatische, Serbische, Slowenische, Italienische, Ruthenische, Rumänische, Walachische, Neugriechische, Aramäische und Hebräische. Währenddessen gelangt das Lied dann auch nach Deutschland, allerdings noch mit einem völlig anderen Text. Im Jahr 1840 greift der preußische Germanistikprofessor August Heinrich Hoffmann (der sich nach seinem Geburtsort »von Fallersleben« nannte) die Melodie ein erstes Mal auf. In seinem Lied »Der Deutsche Zollverein« preist er den freien Austausch von Waren innerhalb der Mitgliedstaaten dieser 1834 gegründeten Institution. Seine zweistrophige Urversion des heutigen Deutschlandliedes liest sich zunächst wie ein Kinderabzählreim: Schwefelhölzer, Fenchel, Bricken,[11] Kühe, Käse, Krapp, Papier, Schinken, Scheren, Stiefel, Wicken, Wolle, Seife, Garn und Bier; Pfefferkuchen, Lumpen, Trichter, Nüsse, Tabak, Gläser, Flachs, Leder, Salz, Schmalz, Puppen, Lichter, Rettig, Rips, Raps, Schnaps, Lachs, Wachs! Die zweite Strophe liefert dann die Auflösung: Und ihr andern deutschen Sachen, Tausend Dank sei euch gebracht! Was kein Geist je konnte machen, Ei, das habet ihr gemacht: Denn ihr habt ein Band gewunden Um das deutsche Vaterland, Und die Herzen hat verbunden Mehr als unser Bund dies Band. Dass die Melodie schließlich doch noch den heute gültigen Text bekommt, verdanken wir letzten Endes einem Franzosen, nämlich dem Ministerpräsidenten Adolphe Thiers. Dieser fordert 1840 während seiner kurzen Regierungszeit, der Deutsche Bund solle sein gesamtes linksrheinisches Gebiet an Frankreich abtreten, und droht monatelang offen mit Krieg – womit er allerdings das Gegenteil erreicht und die national gesinnten Geister im Nachbarland erst recht in Wallung bringt. Vom aufgeheizten politischen Klima dieser Zeit zeugen Kampflieder wie »Die Wacht am Rhein« (»Es braust ein Ruf wie Donnerhall«). Auch Hoffmann von Fallersleben lässt sich davon anstecken: Am 26. August 1841, während eines Aufenthalts auf der damals noch britischen Insel Helgoland, nimmt er sich das österreichische Kaiserlied abermals vor und verpasst ihm einen neuen Text unter dem Titel »Das Lied der Deutschen«: Deutschland, Deutschland über alles, Über alles in der Welt, Wenn es stets zu Schutz und Trutze Brüderlich zusammenhält, Von der Maas bis an die Memel, Von der Etsch bis an den Belt, Deutschland, Deutschland über alles, Über alles in der Welt! Nach einem kroatischen Frühaufsteher und einer ganzen Galerie österreichischer Alleinherrscher, nach Schwefelhölzern, Fenchel und Bricken nun also endlich Deutschland – 44 Jahre nach Joseph Haydns Kaiserlied. Aber die Irrfahrt ist noch längst nicht zu Ende. Acht Jahre später braucht man in Österreich wieder eine aktualisierte Fassung, denn zur Krönungsfeier Franz Josephs I. sind verständlicherweise weder sein Vorgänger Ferdinand noch Schwefelhölzer passende Liedinhalte. Die von Franz Grillparzer gedichtete neue Volkshymne findet jedoch bei Hofe keinen Anklang und bleibt daher für immer in der Schublade: Gott erhalte unsern Kaiser Und in ihm das Vaterland! Der du Kronen hältst und Häuser, Schirm ihn, Herr, mit starker Hand! Daß ein Guter und ein Weiser, er ein Strahl von deinem Blick: Gott erhalte unsern Kaiser, Unsre Liebe, unser Glück! So muss es sich Franz Joseph zunächst wohl oder übel gefallen lassen, überhaupt nicht besungen zu werden. Zwar gibt es zahlreiche Vorschläge für eine neue Volkshymne, aber keiner findet allerhöchste Gnaden. Fast sechs Jahre bleibt Österreich hymnenlos, dann aber beginnt die Zeit zu drängen: Für den 24. April 1854 ist die Traumhochzeit Franz Josephs mit der bayerischen Herzogin Elisabeth (»Sisi«) terminiert, und zu diesem Festtag soll unbedingt eine neue Volkshymne gefunden werden. Als gebranntes Kind erbittet sich Kaiser Franz Joseph dazu einen Text, der beim nächsten Herrscherwechsel nicht schon wieder vollständig umgebaut werden muss. Am 27. März, gerade einen Monat vor dem großen Tag, segnet er schließlich die folgenden Zeilen von Johann Gabriel Seidl ab: Gott erhalte, Gott beschütze Unsern Kaiser, unser Land! Mächtig durch des Glaubens Stütze Führt er uns mit weiser Hand! Laßt uns seiner Väter Krone Schirmen wider jeden Feind: Innig bleibt mit Habsburgs Throne Österreichs Geschick vereint. Das heutige Deutschlandlied ist derweil von einer Hymne noch weit entfernt – als ein patriotisches Lied unter vielen genießt es nicht einmal besondere Popularität. In Bayern setzt man ihm schon 1860 ein entschlossenes »Mir san mir« entgegen und besingt lieber die eigene Identität mit der soeben geschaffenen Bayernhymne (»Gott mit dir, du Land der Bayern«). Erst dreißig Jahre später, 1890, erlebt Hoffmanns Lied überhaupt seine erste offizielle Aufführung. Anlass ist eine Feier in Hamburg zum Tausch des britisch besetzten Helgolands gegen die deutsche Inselkolonie Sansibar. Es vergehen weitere 32 Jahre, bis Reichspräsident Friedrich Ebert das »Lied der Deutschen« schließlich in der Weimarer Republik zur Nationalhymne erklärt. Die Melodie wird damit offiziell zweistaatlich, denn auch das österreichische Kaiserlied besteht parallel dazu weiter. Zwar gibt es in der gewesenen und im Ersten Weltkrieg stark geschrumpften Donaumonarchie diverse Anläufe zu einer neuen Nationalhymne, aber keiner davon kann sich wirklich durchsetzen. So singt man weiter die alte Melodie, jedoch mit einem neuen Text des steirischen Pfarrers und Hobbydichters Ottokar Kernstock, bis das Deutschlandlied 1938 zwangsweise auch in Österreich eingeführt wird. Den Anschluss an das Dritte Reich scheint Kernstocks Version schon prophetisch anzudeuten: Sei gesegnet ohne Ende, Heimaterde wunderhold! Freundlich schmücken dein Gelände Tannengrün und Ährengold. Deutsche (!) Arbeit ernst und ehrlich, Deutsche (!) Liebe zart und weich – Vaterland, wie bist du herrlich, Gott mit dir, mein Österreich! Nach dem Zweiten Weltkrieg stellt sich die Frage nach einer passenden Hymne abermals. Österreich beantwortet sie 1946 mit dem sogenannten Bundeslied (»Land der Berge«), nördlich der Alpen tun sich die Politiker wesentlich schwerer. Zwar heben die alliierten Militärregierungen das zunächst verhängte Verbot des Deutschlandliedes 1949 wieder auf – aber kann man wirklich noch guten Gewissens »Deutschland, Deutschland über alles« singen, ganz zu schweigen von Etsch, Maas und Memel? Die Regierung der DDR sagt kurzerhand Nein und lässt eine völlig neue Hymne komponieren. In der Bundesrepublik diskutieren Bundeskanzler Konrad Adenauer und Bundespräsident Theodor Heuss 1952 das Dilemma in einem Briefwechsel, wobei es durchaus ihr Ziel ist, an die Tradition der ersten deutschen Republik anzuknüpfen. Sie einigen sich schließlich darauf, das Deutschlandlied als Nationalhymne beizubehalten, aber bei offiziellen Anlässen nur Hoffmanns dritte Strophe singen zu lassen. Im Jahr 1991, im wiedervereinigten Deutschland, werden die beiden anderen Strophen schließlich offiziell ganz gestrichen – seitdem besteht die deutsche Nationalhymne nur noch aus Strophe drei. [11] Bricke oder Pricke = Neunauge, ein aalähnlicher Speisefisch. Filterkaffee Der Erzbischof war’s Der typisch deutsche Kaffeespießer muss wohl so sein wie die längst verblichene Werbe-Kunstfigur Karin Sommer: betulich, hausbacken, provinziell und ohne den Hauch einer Ahnung von wahrer Lebensart. Denn was ist für ihn der Gipfel des Genusses? Eine fade braune Plörre mit Dosenmilch, ohne Crema und auch im Aroma bestenfalls Mittelmaß. Der deutsche Filterkaffee. Huch! So etwas wagen doch nur noch unterbelichtete Betriebskantinen anzubieten. Oder man kriegt es kännchenweise in betagten Ausflugslokalen zur Käsesahnetorte bzw. am Frühstücksbuffet drittklassiger Hotels aus dem Samowar. Als weltgewandter Gourmet, der »savoir vivre« fehlerfrei aussprechen kann, distanziert man sich jedenfalls davon und wendet sich seinem Espresso aus der Original-Bezzera- Maschine zu. Als Schuldige an diesem Geschmacksirrtum, der von Deutschland aus die halbe Welt buchstäblich infiltriert hat, gilt allgemein die Dresdnerin Amalie Auguste Melitta Bentz. Selbst in der englischsprachigen Wikipedia ist zu lesen: »On July 1908, the first paper coffee filter was created by a German housewife named Melitta Bentz.« Die Spanier schließen sich an: »El primer filtro de café fue inventado en 1908 por la empresaria Melitta Bentz«, und die französische Ausgabe spricht ebenfalls von der »inventeuse Melitta Bentz«. Nur die italienischen Wikipedianer kennen lediglich einen 1909 entdeckten Asteroiden namens Melitta. Die seit mehr als hundert Jahren überlieferte Erfolgsstory dürfte den meisten Lesern bekannt sein: Weil das Kaffeetrinken bis dato wegen bitteren Nachgeschmacks und Kaffeesatz im Mund noch kein ungetrübter Genuss war, tüftelte die 35-jährige Hausfrau so lange mit einer alten Konservendose und Löschpapier herum, bis aus diesen Requisiten ein brauchbares Filtersystem entstanden war. Als bemerkenswert geschäftstüchtige Person begann Melitta Bentz ihre Erfindung sofort in klingende Münze zu verwandeln. Gemeinsam mit Ehemann Hugo und 73 Pfennig Startkapital meldete sie ein Gewerbe an und wurde so zur Begründerin eines Unternehmens, dessen Jahresumsatz heute über 1,2 Milliarden Euro beträgt. Stimmt so weit alles. Bis auf eine Kleinigkeit: Melitta Bentz hat den Kaffeefilter keineswegs erfunden – sie ist nur zur rechten Zeit auf die richtige Idee gestoßen, hat sie patentieren lassen und clever vermarktet. Überdies ist der viel zitierte, belächelte oder auch geschmähte Filterkaffee alles andere als eine typisch deutsche Marotte, und er ist auch wesentlich älter als die Melitta-Variante. Tatsächlich wird Kaffee schon seit Jahrhunderten und in vielen Ländern der Erde gefiltert; nur in der arabisch-islamischen Welt trinkt man quahwa oder kahve von alters her »naturtrüb«, also mit schwebendem Kaffeemehl im Glas. Womöglich liegt es daran, dass man sich hier geografisch und kulturell näher an der Urheimat des Kaffees befindet, die in der Region Kaffa (daher der Name) im südwestlichen Äthiopien vermutet wird. So wirkt denn auch die traditionelle äthiopische Zubereitungsart recht urtümlich: Die Bohnen werden stets in grünem Zustand gekauft, in einer Eisenpfanne frisch geröstet, danach grob gemahlen oder in einem Mörser zu Pulver zerstampft. Das Kaffeemehl wird anschließend mit Wasser und Zucker in einer Jabana (einem karaffenähnlichen Tonkrug) gekocht und in kleinen Schalen, »Sini« genannt, serviert. Tradition hin, Tradition her – mehlig-trüber Kaffee ist nicht unbedingt jedermanns Sache. Also sannen mit dem Vordringen des afrikanischen Muntermachers nach Europa immer wieder Kaffeetrinker darüber nach, wie man das Mehl, aber nicht das Aroma aus dem Wasser fernhalten könnte. Der erste Versuch mit dauerhaftem Erfolg gelang dann nicht etwa in Deutschland, sondern in Frankreich. Dort behagte es dem Pariser Erzbischof Jean Baptiste de Belloy (1709 – 1808) ebenfalls nicht, dass Schwebeteilchen und Bitterstoffe ihm den Kaffeegenuss vergällten. Woraufhin er höchstpersönlich eine Filterkanne entwickelte, die in seinem Heimatland zum Teil noch heute gebräuchlich ist. Die sogenannte De-Belloy-Kanne hat mehrere Etagen: Oben auf der eigentlichen Kanne befinden sich eine Filterkammer mit Stempel zum Festdrücken des Kaffeemehls sowie ein Wasserverteiler. Das kochende Wasser wird – ganz ähnlich wie beim Melitta-Filter – auf das Kaffeemehl gegossen und tropft dank Wasserverteiler und Filtersieb als klare braune Flüssigkeit in die Kanne. Ein Stöpsel im Ausguss verhindert dabei, dass das Wasser zu schnell durch das Kaffeemehl fließt. De Belloy meldete die Vorrichtung nie zum Patent an, aber dennoch ist seine Erfindung das erste kontrollierte Filtersystem in der Geschichte des Kaffees. Andere Methoden jener Zeit muten eher improvisiert an, aber immerhin – es gab sie. Der Berliner Naturwissenschaftler Johann Georg Krünitz widmet der Technik des Kaffeefilterns in seinem 242 Bände starken, größtenteils auf französischen Quellen beruhenden Mammutwerk Oeconomische Encyclopädie jedenfalls schon einen recht umfangreichen Artikel. Hier ein Auszug aus Band 32, erschienen 1784: »Die neuerlich eingeführte Weise, den Kaffetrank durch das Filtriren zu verfertigen, ist wohl unstreitig die beste. Man legt nähmlich in einen dazu gemachten blechernen, wohl verzinnten, Filtrirhut oder Trichter, (Kaffe-Sieb) ein reines, feines Leinwand-Tüchlein oder Haartuch, oder, weil dieses durch den öftern Gebrauch leicht unrein gemacht werden könnte, lieber weißes Lösch- und Druck-Papier, und nimmt jedes Mahl neues; in dieses schüttet man den gemahlenen Kaffe, setzt den Trichter über einen erwärmten Topf oder Kanne, und gießt allmählich siedendes Wasser darauf. Auf solche Art zieht das Wasser aus dem Kaffe die Kräfte, und filtrirt ganz klar durch das Tuch oder Papier. Das Wasser aber muß langsam aufgegossen werden; man könnte auch, um die Kraft desto besser auszuziehen, diesen durchgeseiheten Trank nochmahls in den Trichter zurück gießen, und durch den gemahlenen Kaffe zum zweyten Mahl laufen lassen.« Sieh einer an, das Löschpapier! Also hier und nicht erst bei Melitta Bentz wird es zum ersten Mal urkundlich als Hilfsmittel zum Kaffeefiltern erwähnt. Trotzdem waren es zunächst papierlose Kombisysteme wie jenes von de Belloy, die bis ins 20. Jahrhundert hinein Schule machten. So soll der Vater des Englischen Gartens in München, Sir Benjamin Thompson Count of Rumford, bereits im 18. Jahrhundert in den USA den sogenannten Percolator (vom Lateinischen percolare = durchseihen) erfunden haben – einen zweiteiligen Kaffeekocher, der das Prinzip der De-Belloy-Kanne automatisierte. Seine trickreiche Funktionsweise: Von unten wird Wasser zum Kochen gebracht, schießt durch ein zentrales Rohr ins obere Stockwerk, rieselt dann über eine perforierte Metallscheibe über das Kaffeemehl und schließlich durch einen Filter zurück in den erhitzten Wasserbehälter, wo es den Kreislauf erneut beginnt und sich so in zunehmend stärkeren Kaffee verwandelt. Fast wie bei Krünitz beschrieben, nur eben selbsttätig. Zum Patent angemeldet wurde dieses Verfahren allerdings erst 1865 von dem Techniktüftler James H. Mason aus Massachusetts – der Beginn einer Erfolgsgeschichte, die bis in die 1970er-Jahre andauern sollte. Der Saxophonist und Sänger Boots Randolph widmete dem Percolator 1958 sogar einen eigenen Song (in Deutschland bekannt unter dem Titel »Ich will keine Schokolade«, mit welcher das Gerät allerdings auch arg überfordert wäre). Vier Jahre später kam Masons Erfindung dann als Instrumental-Twist der Gruppe Billy Joe & The Checkmates noch einmal zu musikalischen Ehren. Eine italienische Konstruktion wiederum, die »macchinetta napoletana«, besteht ebenfalls aus zwei zusammengeschraubten Teilen, zwischen denen sich ein Sieb befindet: Das Oberteil ist die eigentliche Kanne, in das Unterteil wird Wasser eingefüllt, in ein Zwischenstück das Kaffeemehl. Dann erhitzt man das Unterteil mittels Herdplatte oder Flamme, und sobald das Wasser kocht, stellt man das Ganze auf den Kopf. Das heiße Wasser läuft nun durch das Kaffeemehl, wird durch das Sieb von selbigem gereinigt und tropft als Filterkaffee in die Kanne. Eine ziemlich lange Tradition hat auch das Verfahren, das beim sogenannten »indian filter coffee« im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu verwendet wird. Dabei stellt man zwei Töpfe aus Edelstahl übereinander: Der obere hat einen perforierten Boden, auf den das Kaffeemehl geschüttet wird. Darauf kommt eine weitere perforierte Metallscheibe, um das Kaffeemehl festzuhalten, und dann wird heißes Wasser darübergegossen. Also nicht viel anders als bei der neapolitanischen Kanne, nur in diesem Fall ohne 180-Grad-Drehung. Fazit: Von den »klassischen« Kaffeeländern abgesehen, ist die Menschheit eine weltumspannende Gemeinschaft von Kaffeefilterern. Selbst beim 1855 erfundenen, vielgerühmten italienischen Espresso bleibt das Kaffeemehl ja in einem Sieb hängen und rauscht nicht ungebremst in die Tasse. Der Unterschied liegt hauptsächlich in der »Crema«, die durch hohen Dampfdruck (bis zu 9 bar) erzeugt wird – da kann natürlich keine Maschine mithalten, die den Kaffee einfach nur filtriert. Aber was ist vom »deutschen Filterkaffee« überhaupt noch geblieben? Längst hat die Espressomaschine ihren Siegeszug auch durch deutsche Küchen und Büros angetreten, längst sind Cappuccino und Latte macchiato – Sattmacher, die mit Kaffee nur entfernt zu tun haben – auch hierzulande zu Kultgetränken avanciert. Und die amerikanische Kaffeehauskette Starbucks, die in Deutschland immerhin über 150 Filialen betreibt, versteigt sich zu Kreationen wie »Caramel Macchiato« (mit Vanillesirup und Caramel-Topping) oder »White Caffè Mocha« (mit weißer Schokolade). Dem Trend zu Exotik und Experimentierfreude hat sich selbst die Firma Melitta angeschlossen: Zwar ist das Bentz’sche Filterprinzip noch immer im Programm, aber es hat einen schweren Stand gegen Lifestyle-Produkte wie Kaffeepads, Espressomaschinen, Vollautomaten und die fantasievollsten Kaffeesorten. Wer weiß, ob die gute alte Krepptüte in zehn Jahren nicht schon einen Platz im Museum erhält. Frikadellen Völkerverbindende Fleischeslust Grad gibt es den Abend auch Frikadellen, die unbeliebt in den meisten Fällen. So reimte sich Wilhelm Busch 1876 das Heraufziehen eines Ehekrachs bei seinem Biedermann-Bürger Tobias Knopp zusammen. Unbeliebt? Was mag den Dichter zu dieser Einschätzung bewogen haben? Eher ist doch das Gegenteil der Fall: Frikadellen futtert nahezu ganz Deutschland einträchtig jeden Tag in den verschiedensten Spielarten, und das – wie man annehmen darf – freiwillig. Allerdings zeigt schon die Vielzahl verschiedener Namen, unter denen die Frikadelle kursiert, dass auch sie kein urdeutsches Phänomen darstellt. Fast alle Bezeichnungen stammen nämlich aus anderen Ländern; lediglich der ostpreußische »Klops« kann eventuell als deutschstämmiges Wort durchgehen, das möglicherweise auf »kloppen« (von zerklopftem Fleisch) zurückgeht. Das Grimm’sche Wörterbuch aus dem 19. Jahrhundert nennt dagegen das schwedische kalops (gebratene Fleischscheibe) oder das englische collops (Fleischschnitten) als wahrscheinlichen Ursprung. Das Wort »Frikadelle« wiederum wird häufig auf das italienische frittata zurückgeführt – allerdings ist diese Hypothese sehr umstritten, denn frittata bedeutet eigentlich »Eierkuchen«. Sprachlicher Urvater scheint dafür mit ziemlicher Sicherheit das lateinische frigere (braten) zu sein. Im Grimm’schen Wörterbuch findet sich noch die davon abgeleitete, heute nicht mehr gebräuchliche deutsche Form fricken – die aber wohl eher in der Bedeutung »kochen« benutzt wurde, wie folgendes Beispiel zeigt: »Ich will nun sieden, fricken und braden, dasselbig das gott hat beraden.« Auch die Frikadelle ist schon seit dem späten 17. Jahrhundert im deutschen Sprachgebrauch belegt, wenngleich sie bei den Grimms noch nicht auftaucht. Später kam als weitere Ableitung die Schreibweise Frikandelle vom französischen fricandeau hinzu – dieses ist in der französischen Küche allerdings kein Hackfleisch, sondern ein gebratenes Kalbsnüsschen. Johann Georg Krünitz’ 1784 erschienene Oeconomische Encyclopädie definiert Frikadellen dann schon halbwegs so, wie wir sie heute kennen: »Fricandellen, Fr. Fricandelles, nennt man, in der Kochkunst, ein in Butter gebackenes Gehäcke aus Kalb-Fleisch, Semmel, Speck u.s.w. welches in Gestalt kleiner Würste, oder auch in anderer Form zusammen gerollt ist. Sie werden zuweilen mit Stücken von Kälber-Netz überzogen, und alsdann Netz- Würstchen genannt.« Aus Frankreich stammt ursprünglich auch die Berliner Bezeichnung Bulette ( »Preußentum«), im Original boulette (= Kügelchen) geschrieben. Der Begriff kam während der napoleonischen Besatzungszeit zwischen 1806 und 1813 auf – allerdings als deutsche Eigenkreation, ähnlich wie heutzutage das Handy, das im Englischen ebenso wenig ein Telefon ist wie eine boulette im Französischen ein Hackfleischklops. Übrigens kann man hier fast von einem fliegenden Wechsel sprechen – denn umgekehrt haben die Franzosen aus dem Deutschen die fricadelle reimportiert. Selbst das urbayerische Fleischpflanzerl ist trotz seines volkstümlich klingenden Namens nur teilweise deutsch: »Pflanzerl« hat nämlich nichts mit einem Pflänzchen zu tun, sondern mit einem Pfännchen (eigentlich müsste es also »Fleischpfanzl« heißen) und einem Zelten – Letzteres die altertümliche Bezeichnung für einen flachen kleinen Kuchen, in diesem Fall aus Fleisch. Das Ursprungswort heißt mithin »Fleischpfannzelten«; das Wort »Pfanne« wiederum geht zurück auf das lateinische patina und letztendlich auf das griechische pátanē (»Schüssel«). Diese wahrhaft babylonische Sprachverwirrung lässt ahnen, dass Frikadellen weit über Deutschland hinaus verbreitet sind und zudem eine längere Geschichte haben. Tatsächlich experimentierten englische Köche schon im Mittelalter mit klein gehacktem Fleisch, und die ersten Hackfleischklopse wurden mit großer Wahrscheinlichkeit im 16. Jahrhundert unter dem Namen Frikadel in den Niederlanden gebraten. In Schweden kennt man die Variante Köttbullar, in Österreich Faschierte Laberl oder Fleischlaberl, in der Schweiz Hacktätschli, in Italien Polpette, in Ungarn Fasírozott, auf dem ganzen Balkan Ćevapčići, in Griechenland Keftedes, in der Türkei Köfte und in der arabischen Welt Kufta – alles enge Verwandte unserer deutschen Frikadellen. Nicht zu vergessen die Rohfleisch-Variante Steak Tatar, die der Legende nach auf das asiatische Steppenvolk der Tataren zurückgeht, tatsächlich aber erstmals im 20. Jahrhundert in Frankreich unter dem Namen Steak à l’Americaine serviert wurde. Wie auch immer – das alles zeigt, dass Frikadellen zum Multikulturellsten gehören, was hierzulande auf den Tisch kommt. Ausgerechnet die Idee aber, eine Frikadelle zwischen zwei Brötchenhälften zu packen und das Ganze »Hamburger« zu nennen, ist ironischerweise mit hoher Wahrscheinlichkeit deutschen Ursprungs, obwohl sie in aller Welt als amerikanisch gilt. Es kursieren zu viele Geschichten und Legenden über die Entstehung des Hamburgers, um sie hier alle auszubreiten. Die gängigste Theorie besagt, das sogenannte »Hamburger Stück«, eine aus gebratenem Rindfleisch bestehende Spezialität der hanseatischen Küche, sei mit deutschen Auswanderern nach Amerika gelangt und dort – zunächst unter dem Namen Hamburger Steak – zum Fleischklops mutiert. Tatsächlich taucht das Hamburger Steak als Arme-Leute- Essen in amerikanischen Kochbüchern gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf, in gebratener wie in roher Form. Das »Hamburger Stück« gibt es in Hamburg noch immer, allerdings wird damit heute eine Wurstsorte bezeichnet. Näher am Hamburger ist das populäre »Rundstück warm« – bestehend aus einer Scheibe Braten mit Soße, die zwischen dem Ober- und Unterteil eines runden Weizenbrötchens klemmt. Aber wie, wann und wo kam es in den USA zur Vermählung von Brötchen und Hamburger-Steak, also Hacksteak? Verbürgt ist, dass an einem Stand auf der Weltausstellung 1904 in St. Louis/Missouri Frikadellenbrötchen in ihrer heutigen Form unter dem Namen Hamburg (noch ohne die Endung »er«) verkauft wurden. Über den wahren Ursprung dieses größten kulinarischen Hits der Weltgeschichte streiten sich allerdings die Gelehrten und Köche. In der noch heute existierenden Imbissbude Louis’ Lunch in New Haven/Connecticut behauptet man, dort sei der Hamburg(er) im Jahr 1900 erfunden worden, als ein eiliger Gast auf die Schnelle etwas zum Mitnehmen suchte. Nach einer anderen Lesart dachte sich der Standverkäufer Charlie Nagreen (genannt »Hamburger Charlie«) dieselbe Kreation schon 1885 auf einer Messe in Seymour/Wisconsin aus, damit die Messebesucher während des Herumschlenderns gleichzeitig essen konnten. Auf jeden Fall scheinen Hamburger in den USA vom Start weg ein Verkaufsschlager gewesen zu sein. »Er lehnt sie ab mit stillem Dank« heißt es in der Fortsetzung unserer beiden Eingangszeilen über die Frikadellen. Womöglich, weil 1876 noch das Brötchen fehlte? Angesichts der Tatsache, dass heutzutage allein bei McDonald’s Deutschland pro Tag geschätzte zwei Millionen Hamburger-Bratlinge auf den Grill und in deutsche Mägen wandern, kann diese Deutung nicht ganz abwegig sein. Frühstücksei Weiche Tatsachen aus Exeter Zum Frühstück hat er immer weiche Eier gegessen; das sah man, weil sein Bart voll Dotter war.[12] Igittigitt! Aber mal abgesehen von den gelben Flecken im Kinnhaar – schildert der bayerische Volksschriftsteller Ludwig Thoma hier nicht einen ganz und gar deutschen Brauch? Das Frühstücksei, zumindest am Wochenende, gehört doch schließlich zu uns wie das in Milchkaffee getunkte Croissant zum Franzosen und der Espresso zum Italiener. Mehr noch, es trägt alle Züge eines erhabenen Kulturguts: Einschlägige Zitate finden sich in literarischen Werken fast jeder Epoche, alljährlich zu Ostern toben wir am Ei unsere Kreativität aus, und das Mysterium seiner richtigen Garzeit beschäftigt seit Generationen die klügsten Köpfe des Landes. In einem schon legendären Zeichensketch von Loriot wird das Thema gar zum Auslöser einer handfesten Ehekrise: »Ich bringe sie um«, murmelt der frustrierte Gemahl finster entschlossen, nachdem er mit der Dame des Hauses eine end- und fruchtlose Diskussion über das Viereinhalb-Minuten- Prinzip geführt hat. »Morgen bringe ich sie um!« Der Härtegrad des deutschen Frühstückseis – eine der großen nationalen Schicksalsfragen? Womöglich gar eines der unaufgedeckten Rätsel unserer Kriminalstatistik? Wie viele deutsche Ehefrauen mögen inzwischen unter dem Rasen schlummern, nur weil sie ihrem Gatten das Ei »nach Gefühl« zubereiteten und nicht nach der Stoppuhr? Eine beunruhigende Vorstellung, fürwahr! Aber auch das Problem von zu harten oder zu weichen Eiern ist mit Sicherheit kein exklusiv deutsches. Denn Tatsache ist: Gekochte Eier zum Tagesauftakt isst man nahezu überall auf der Welt. Und man isst sie auch schon seit ewigen Zeiten, wie Eierbecherfunde in Ausgrabungsstätten des antiken Rom belegen. Seit jenen Zeiten hat das Frühstücksei eine ausgedehnte Wanderung über die Alpen angetreten; heute schätzt man den morgendlichen Energiespender in ganz Mitteleuropa, aber auch in Teilen Skandinaviens und des Baltikums. Außerhalb Europas konzentrieren sich seine Verbreitungsschwerpunkte dagegen mehr auf die weiter östlich gelegenen Weltregionen – darunter Afghanistan, Ägypten, Indonesien, Irak, Iran, Kambodscha, Korea, Libanon, Malaysia, Myanmar, Singapur, Syrien, die Türkei und Vietnam. Wobei der Härte- oder Weichheitsgrad je nach heimatspezifischer Vorliebe variiert. Am intensivsten haben sich mit der Kunst des Eierkochens denn auch nicht deutsche Experten befasst, sondern zwei Österreicher und ausgerechnet ein Engländer – obwohl die Briten bekanntlich Spiegel- und Rühreier bevorzugen. Werner Gruber, Neurophysiker am Institut für Experimentalphysik der Universität Wien, beschäftigt sich als Hobbykoch schon lange mit den komplexen Problemen, die uns das Garen roher Hühnereier bereitet, beispielsweise mit der Frage, warum Eierschalen beim Kochen zum Aufplatzen neigen. Was er aufgrund seiner Erkenntnisse (durch die Temperaturänderung bauen sich in der Schale Spannungen auf) als Gegenmaßnahme empfiehlt, unterscheidet sich allerdings nicht von den gängigen Hausfrauentricks: Zuvor ein Loch in die Schale piksen oder das Ei in Essig baden. Natürlich hat Magister Gruber mittels mathematischer Algorithmen auch das Geheimnis des perfekt gekochten Frühstückseis entdeckt. »Es gibt Berechnungen aus der Thermodynamik«, schreibt er, »die kann man ganz einfach auf das Ei übertragen.« Heraus kommt dabei eine wirklich elegante Formel: t=0,0016*d²*ln[(2*TWasser-TStart)/(TWasser-TInnen)] Zu ebenso bahnbrechenden Erkenntnissen gelangt eine weitere Wissenschaftlerin aus Österreich, die Physikerin Silke Maier. In ihrer Diplomarbeit »Kulinarische Physik« (2002) heißt es wörtlich: Für die Zubereitung eines Frühstückseis im Kochtopf gibt es zwei Möglichkeiten: 1. Den Topf mit kaltem oder etwas wärmerem Wasser füllen und auf den Herd stellen. Ei hineingeben und einschalten. Nach gewünschter Zeit herausnehmen. 2. Topf mit Wasser zum Kochen bringen, dann das Ei hineinlegen. Nach gewünschter Zeit herausnehmen. Die Krönung jedoch liefert der Engländer Charles D. H. Williams von der Universität Exeter. Von ihm stammt das wohl ultimative Standardwerk zur Physik des Eierkochens – die wissenschaftliche Publikation The Science of Boiling an Egg (1998). Wie man ein Ei nach naturgesetzlichen Gegebenheiten vom Rohzustand in eine essbare Form bringt, belegt Williams hier haarklein mit mathematischen Formeln, die auch jede deutsche Hausfrau auf Anhieb versteht und praktisch umsetzen kann. »Das Endergebnis ist relativ einfach«, lautet sein Fazit. Und so sieht das Ganze dann aus: $$ t_{\rm cooked} = \frac{M^{2/3} c \rho^{1/3}}{K \pi^2 ( 4 \pi / 3 )^{2/3}}log_e left [ 0.76 \times \frac{( T_{rm egg}-T_{\rm water} ) }{ ( T_{\rm yolk}-T_{\rm water}) } \right ] $$ Ei, ei, ei. Schade, dass Loriot nicht mehr lebt – vermutlich wäre ihm auch dazu ein Sketch eingefallen, der uns ein paar Lachtränchen in die Augen getrieben hätte. [12] Ludwig Thoma: Lausbubengeschichten (1905). Gartenzwerg Küss die Hand, gnä’ Wichtel Er hat es weder in die Literatur noch ins Theater oder in die E-Musik geschafft, und trotzdem ist er eine stille Berühmtheit: der Gartenzwerg. Er gehört zu unserem Deutschlandbild wie der Bundesadler und das Brandenburger Tor. Schöngeister bezeichnen ihn schlicht als Kitsch, wenden sich mit Grausen ab oder ergehen sich in ätzendem Spott – zumindest nach außen hin. Insgeheim pflegt vermutlich so mancher eine Art lustvoller Hassliebe zu den possierlichen Wesen. Schließlich zeigt sich hier der deutsche Spießer in Reinkultur, und den braucht man schon als Messlatte für die eigene intellektuelle Überlegenheit. Spießer hin, Schöngeist her: Der Gartenzwerg steht zweifellos für Schwarz-Rot- Gold bis auf den Grund seines tönernen Wesens. Oder etwa nicht? Spiegelt sich in ihm nicht der Prototyp des deutschen Michel? Und war er nicht selbst in den Jahrzehnten der deutschen Teilung der sichtbare Beweis dafür, dass wir trotz auseinanderdriftender Lebensgewohnheiten ein Volk waren und sind? Zwar verhängte das thüringische Wirtschaftsministerium 1948 ein zeitweiliges Gartenzwergverbot (wg. kleinbürgerlicher Dekadenz), aber schon drei Jahre später fiel der Bann, und es herrschte wieder einig Zwergenland. Drüben Broiler und Rotkäppchen, hüben Toast Hawaii und Henkell Trocken – den gezipfelten Gnom focht das alles nicht an, er zierte als Sinnbild von Brüderlichkeit und deutscher Wertarbeit ostdeutsche Datschen ebenso wie westdeutsche Schrebergärten. Wobei die in der DDR gefertigte 1A-Ware selbstverständlich in den Westen exportiert wurde, während man sich im real existierenden Sozialismus mit Ausschuss oder zweiter Wahl begnügen musste. Dabei soll der Gartenzwerg sogar in Ostdeutschland erfunden worden sein: Die Idee wird dem Thüringer Terracotta-Fabrikanten Philipp Griebel zugeschrieben, der 1890 in Gräfenroda die ersten Tonzwerge in Serie herstellte und damit eine ungeahnte, bis heute andauernde Unternehmerkarriere auf den Weg brachte. Allerdings hat diese Story einen Haken – sie ignoriert nämlich eine Vorgeschichte, die zwei weitere Jahrhunderte zurückliegt. Die ernüchternde Wahrheit lautet: Der Gartenzwerg kommt aus Österreich, und auch hinsichtlich seiner Verbreitung ist er keineswegs ein rein deutsches Phänomen. In der italienischen Kleinstadt Furore scheint die Zwergenpopulation sogar derart überhandgenommen zu haben, dass sich der Bürgermeister im Jahr 2010 genötigt sah, ein Verbot zu verfügen. Seitdem dürfen die Nani di giardino in dortigen Vorgärten nicht mehr aufgestellt werden. Aber der Reihe nach. Verbürgt ist: Die ersten Gartenzwerge entstanden in der Barockzeit – vermutlich zwischen 1690 und 1695 – in Salzburg, und ihr Schöpfer war der in Graz geborene Architekt Johann Bernhard Fischer von Erlach. Seine Figuren, aus Marmor gehauene Nachbildungen kleinwüchsiger Menschen, bildeten die Wahrzeichen des sogenannten Zwergelgartens von Schloss Mirabell (wo sie heute, größtenteils als Nachbildung, wieder zu besichtigen sind). Frühere Generationen hatten mit der Traditionspflege offensichtlich noch nicht so viel am Hut, denn der Garten wurde Ende des 18. Jahrhunderts einem radikalen Umbau unterzogen, weil seine Gestaltung als hoffnungslos altmodisch galt. Im Jahr 1811 verschwanden als letztes Relikt schließlich auch die historischen Zwerge. Der bayerische Kronprinz Ludwig I., damals vorübergehend Regent von Salzburg, empfand sie als Beleidigung des guten Geschmacks und ließ sie kurzerhand versteigern. Den Siegeszug des Gartenzwergs konnte Ludwigs Freveltat allerdings nicht bremsen, denn die Idee ihres Erfinders hatte längst Schule gemacht. So verbreiteten sich barocke Zwergenfiguren in zahlreichen weiteren Ziergärten des Adels – in Österreich, Deutschland, Tschechien, Italien, Slowenien und anderen Ländern, sogar über Europa hinaus. Auch die Meissener Porzellanmanufaktur und die Kaiserliche Hofmanufaktur in Wien fertigten im 18. Jahrhundert Zwerge en masse, nun aus Keramik. Schon um 1800 sollen Serien solcher Figuren auch in England entstanden sein; zumindest aber scheint man sie dort geschätzt zu haben. Den Beweis liefert ein standhafter Überlebender jener Zeit. Noch heute ist im Hausgarten von Schloss Lamport Hall in Northamptonshire einer von ursprünglich 21 garden gnomes aus Terracotta zu bewundern, die der Besitzer Sir Charles Isham aus Deutschland mitgebracht hatte. Spitzname des Zwergs: »Lampy«. Heutiger Versicherungswert: eine Million Pfund. Erst 1872 und 1874 entstanden im thüringischen Gräfenroda die zwei Firmen, die später den deutschen Gartenzwerg als Massenprodukt auf den Markt warfen. Die Gründer August Heissner und Philipp Griebel hatten ihr Handwerk gemeinsam im selben Betrieb gelernt – wobei nicht gesichert ist, wer von den beiden zuerst auf die Zwergenfigur kam. Interessanterweise wirkten die ersten Exemplare (die noch nicht »Gartenzwerge«, sondern »Gnome« hießen) bereits so amerikanisch wie später Walt Disneys Schneewittchenzwerge, und sie waren es vielleicht auch. Man nimmt an, dass sich zumindest Philipp Griebel bei seinen Entwürfen von Kobold-Darstellungen auf amerikanischen Weihnachtsbildern inspirieren ließ. Also von wegen »typisch deutsch«! Die noch immer existierende Firma August Heissner hat sich übrigens schon seit Längerem von den Gartenzwergen verabschiedet, während man bei Griebel der Tradition des Hauses treu geblieben ist. Nach der Wende wagte Reinhard Griebel, der Urenkel des Gründers, im Jahr 1990 einen Neuanfang auf dem ursprünglichen Firmengelände. Das Unternehmen nennt sich stolz »Gartenzwergmanufaktur« und betreibt inzwischen sogar ein Gartenzwergmuseum. Weit eher als Gräfenroda verdient heute allerdings die westpolnische Stadt Nowa Sol (Neusalz) den Titel »Gartenzwerg-Welthauptstadt«: Hier gab es Anfang der Neunzigerjahre über dreihundert Hersteller, heute sind es immerhin noch vierzig. Und auch die intensivste Zuwendung erfährt der Gartenzwerg keineswegs in Deutschland, sondern – wer hätte das gedacht? – in Frankreich, Italien und der Schweiz. Schon 1980 gründete in Basel der selbst ernannte »Nanologe« (Zwergenkundler) Fritz Friedmann die »Internationale Vereinigung zum Schutz der Gartenzwerge«. Als Vereinszweck nennt die Homepage www.zipfelauf.com den Schutz der hilflosen Wichtel gegen »Gewalt, Zerstörung, Geiselnahme, Verschleppung, Misshandlung, Diebstahl, Pulverisierung usw.«, gegen »üble Nachrede« und »Missbrauch in der Werbung«. Was nicht unpopulär zu sein scheint, denn immerhin hat die IVZSG nach eigenen Angaben Mitglieder in sage und schreibe vier Kontinenten. Ganz andere Ziele verfolgt eine französische Organisation, die Front de Libération des Nains de Jardin (»Front zur Befreiung der Gartenzwerge«): Seit Ende der Neunzigerjahre ahmen ihre Mitglieder und Anhänger auf grotesk- anarchische Art militante Tierschutzorganisationen nach, indem sie domestizierte Gartenzwerge aus Vorgärten befreien – sprich: klauen – und anschließend »auswildern«. Der Gartenzwerg als Waldzwerg? Irgendwie scheinen unsere linksrheinischen Nachbarn da etwas durcheinanderzubringen. Doch die Schnapsidee vom natürlichen Lebensraum hat offensichtlich ihren Reiz: Nach französischem Vorbild entstand wenig später auch in Italien eine vergleichbare Organisation, Movimento Autonomo per la Liberazione delle Anime da Giardino (»Autonome Bewegung für die Befreiung der Gartenseelen«). Sieh mal an! Ausgerechnet die Italiener trauen dem Gartenzwerg also eine Seele zu und bemächtigen sich damit eines Wortes, das so unnachahmlich sehnsuchtsvoll deutsch klingt. Ebenfalls in Italien – und nicht etwa in Deutschland – würdigt man die Wichtel auch mit einer eigenen Facebook-Seite (Fronte Di Liberazione Dei Nani Da Giardino). Und die Befreiungswelle ist mittlerweile sogar bis ins ferne Australien geschwappt. Dort heißt die entsprechende Organisation kurz und knapp Free the Gnomes (»Befreit die Zwerge«). Die deutsche Gartenzwergpopulation (derzeit noch geschätzte 25 Millionen) ist überdies seit Jahrzehnten bedenklich im Schrumpfen begriffen. Nachdem sich Mief und Muff der Nachkriegszeit weitgehend verzogen haben, scheint das Großklima der Republik unseren kleinen Freunden nicht mehr recht zu bekommen. Der moderne Gartenfreund wendet sich zunehmend von ihnen ab – oft zugunsten schräger Designobjekte oder modischen Schnickschnacks, wobei sich der Gewinn an Ästhetik zumindest bezweifeln lässt. So weit ist es also gekommen: der deutsche Gartenzwerg als Kandidat für die rote Liste aussterbender Arten. Müssen wir ihn ausgerechnet von Schweizern, Italienern oder Franzosen retten lassen? Es sieht fast danach aus. Goethe Hinten, weit in der Türkei Achtung, jetzt geht es gegen die Ungläubigen: Närrisch, dass jeder in seinem Falle Seine besondere Meinung preist! Wenn Islam »Gott ergeben« heißt, In Islam leben und sterben wir alle. Wer könnte so etwas geschrieben haben? Steckt ein religiöser Eiferer dahinter? Hat der Verfassungsschutz diese Verse auf einer islamistischen Website entdeckt? Weit gefehlt. Tatsächlich stammen sie vom vermeintlich deutschesten aller Dichter und Denker, unserem literarischen Nationalheros Johann Wolfgang von Goethe. Genauer gesagt, aus seiner 1819 erschienenen Anthologie West- Östlicher Divan. Dort ist sogar noch stärkerer Tobak zu lesen: Ärgert’s jemand, dass es Gott gefallen Mohammed zu gönnen Schutz und Glück, Um den stärksten Balken seiner Hallen, Da befestig’ er den derben Strick, Knüpfe sich daran! Das hält und trägt, Er wird fühlen, dass sein Zorn sich legt. Goethe, der ewige Leuchtturm unter den deutschen Geistesriesen – ausgerechnet er ein militanter Fürsprecher des Propheten, womöglich gar ein verkappter Dschihadist? Oder was soll man von derartigen Ergüssen halten? Nun ja. Wenn’s eine Nummer kleiner sein darf: Die Bewunderung der islamisch-arabischen Kultur gehört in der Tat untrennbar zu Goethes Leben und Werk. Sie ist allerdings nur eine von zahllosen Facetten, die unseren Dichterfürsten – neben seiner gewaltigen literarischen Hinterlassenschaft – zu einer so imponierenden Persönlichkeit machen. Und gerade das Festnageln auf den Aspekt »deutsch« passt in diesem Zusammenhang in der Tat am wenigsten. Als nationales Besitztum hätte Goethe sich nie verstanden wissen wollen, auch wenn die öffentliche Wahrnehmung heute das Gegenteil suggeriert. So sind aktuell acht verschiedene deutsche Preise, Medaillen und Plaketten nach Goethe benannt. Wir haben zwei Goethe-Museen, eine Goethe-Universität und eine Unzahl von Goethe-Schulen. Es gibt einen Goethe-Bund, eine Goethe- Gesellschaft; und jene Einrichtungen, welche die deutsche Sprache und Kultur in aller Welt hochhalten, heißen natürlich »Goethe-Institute« – von Denkmälern und Straßennamen gar nicht zu reden. Kurz, unser Land ist von Goethe förmlich durchdrungen. Dabei empfanden viele seiner Zeitgenossen den Weimarer Dichterfürsten als Nestbeschmutzer und vaterlandslosen Gesellen. Denn in Wahrheit war Goethe das exakte Gegenstück eines deutsch denkenden Patrioten, wie man ihn als Geistesgröße damals gern gehabt hätte. Vielmehr lebte er vor, was es heißt, kosmopolitisch zu denken und zu fühlen, und gehörte damit seinerzeit zu denjenigen, die am weitesten über den Tellerrand, sprich: über die Grenzen des deutschen Kultur- und Sprachraums hinausblickten: »Wissenschaft und Kunst gehören der Welt an und vor ihnen verschwinden die Schranken der Nationalität.« Es sind vielfältige Einflüsse, die Goethe dergestalt prägten, und sie reichen bis in seine Jugendzeit zurück. So wird während des Siebenjährigen Krieges, als seine Heimatstadt Frankfurt am Main von französischen Truppen besetzt ist, ein aus Paris stammender Offizier in seinem Elternhaus einquartiert. Zur Unterhaltung der Truppe ist gleich noch ein Ensemble von Schauspielern dabei, sodass der junge Johann Wolfgang die französische Dramenliteratur aus erster Hand kennenlernt und sich für sie begeistert. Vier Jahre später folgt eine weitere Schlüsselerfahrung: Gerade mal 16 Jahre alt, beginnt Goethe 1765 auf Wunsch seines Vaters ein Jurastudium in Leipzig – in jener Zeit eine Metropole, deren quirliges Leben im krassen Gegensatz zum bräsig-verschlafenen Frankfurt stand. Bei dem zwar vielseitig gebildeten, sonst aber noch recht unbedarften Provinzgrünschnabel löst die weltoffene Atmosphäre der Stadt wohl einen wahren Kulturschock aus. Jedenfalls zieht sie Goethe unwiderstehlich in ihren Bann und beeindruckt ihn fürs Leben. Wozu sicher auch der Umstand beiträgt, dass er sich in Leipzig bis über beide Ohren in die drei Jahre ältere Wirtstochter Annette »Käthchen« Schönkopf verliebt. Noch viele Jahre später greift er die Erinnerung an diese Zeit im Faust I wieder auf: »Mein Leipzig lob’ ich mir! Es ist ein Klein-Paris und bildet seine Leute!« Weitere kulturell prägende Stationen und Erlebnisse sind – nach überstandener Lungenkrankheit – die Fortsetzung seines Studiums im stark französisch geprägten Straßburg, die dortige Begegnung mit Geistesgrößen wie dem Schriftsteller und Philosophen Johann Gottfried Herder, später eine mehrmonatige Reise in die Schweiz und schließlich der Umzug in die Kunst- und Kulturhochburg Weimar. Zu einer denkwürdigen Erfahrung wird auch die ausgedehnte »italienische Reise«, zu der Goethe 1786 aufbricht. Hier lernt er die Bauten und Kunstwerke aus Renaissance und Antike kennen, erweitert seinen Horizont um eine Unzahl neuer Eindrücke und kommt – nach seiner eigenen Schilderung – wie neu geboren zurück. Mehr denn je empfindet er sich nun als Europäer und »Weltbürger«, ferner denn je liegt ihm alles nationalistische Denken und Gehabe. Im Gegenteil: Seine deutschen Landsleute betrachtet er als geistig und kulturell eher rückständig. »Italien«, schreibt der Literaturwissenschaftler Gerhard Schulz, »hatte ihm das Bild von einer grundsätzlich anderen, großzügigeren, offeneren Lebensweise und Lebenseinstellung als der in den deutschen Kleinstaaten vorgeführt.«[13] Was sich 1790 in Goethes schon fast vernichtendem Urteil niederschlägt: »Die Deutschen sind im Durchschnitt rechtliche, biedere Menschen, aber von Originalität, Erfindung, Charakter, Einheit, und Ausführung eines Kunstwerks haben sie nicht den mindesten Begriff. Das heißt mit einem Worte, sie haben keinen Geschmack.«[14] Später machen die Französische Revolution und ihr Gedankengut tiefen Eindruck auf ihn, und selbst die 1806 beginnende napoleonische Besatzung kann ihn nicht zu vaterländischen Gefühlen bewegen. Auch hier steht er geistig über den Grenzen und Nationalismen. Zwar nimmt er seinen Landesherrn, den von ihm verehrten Herzog von Weimar, vehement gegen französische Unterstellungen eines Komplotts in Schutz, aber das hindert ihn nicht, gleichzeitig auch Napoleon glühend zu bewundern – also ausgerechnet den Erzfeind aller »aufrechten Deutschen«. Und diese Zuneigung beruht durchaus auf Gegenseitigkeit: Der französische Kaiser gehört zu Goethes größten Bewunderern; allein Die Leiden des jungen Werthers soll er sieben Mal gelesen haben. In Erfurt kommt es schließlich zu einem Treffen der beiden, bei dem sie ausgiebig über Literatur, Gott und die Welt parlieren. Gipfelpunkt dieser bemerkenswerten Männerfreundschaft: Im Oktober 1808 bekommt Goethe den Orden der Ehrenlegion verliehen, die höchste Auszeichnung Frankreichs. Mit großem Stolz trägt er nun den Titel eines »Chevalier de la Légion d’Honneur«. Sein späteres Urteil über Napoleon, überliefert von seinem Freund Johann Peter Eckermann, fällt denn auch geradezu schwärmerisch aus: »Ein Kerl! Immer erleuchtet, immer klar und entschieden, und zu jeder Stunde mit der hinreichenden Energie begabt, um das, was er als vorteilhaft und notwendig erkannt hatte, sogleich ins Werk zu setzen.« Dass sich Goethe damit unter seinen Landsleuten nicht gerade Freunde schafft, liegt auf der Hand. Während sie ihm Unchristlichkeit und mangelnden Patriotismus vorwerfen, attestiert er ihnen Spießigkeit, Borniertheit und einen unterentwickelten Kunstsinn. Wie tief der Stachel sitzt, belegt eine Reihe von Schmähungen, in denen er ziemlich hemmungslos über die Deutschen vom Leder zieht. Aus einem Dialog mit dem Historiker Heinrich Luden: »Ich habe oft einen bittern Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das so achtbar im Einzelnen und so miserabel im Ganzen ist.« Und im Gespräch mit dem Pädagogen und Schriftsteller Johannes Falk (der sich als Urheber des Weihnachtslieds »O du fröhliche« ebenfalls in der deutschen Kulturgeschichte verewigt hat) bricht es einmal aus Goethe heraus: »Wenn ich es nur je dahin noch bringen könnte, dass ich ein Werk verfasste – aber ich bin zu alt dazu –, dass die Deutschen mich so ein fünfzig oder hundert Jahre hintereinander recht gründlich verwünschten und aller Orten und Enden mir nichts als Übels nachsagten; das sollte mich außer Maßen ergetzen.« Überliefert sind diese Äußerungen wortwörtlich in Falks 1832 postum erschienenen Buch Goethe aus näherm persönlichen Umgange dargestellt. Allerdings muss man einschränkend sagen: Wenn Goethe von »den« Deutschen spricht, meint er in erster Linie das sogenannte Bildungsbürgertum – also Bücherleser und Theatergänger, Kritiker und Rezensenten, aber auch viele Künstler und Intellektuelle, die ihm aus seiner Sicht nicht das Wasser reichen konnten. Mit dem »einfachen Volk« dagegen – Handwerkern, Dienstboten, Knechten und Mägden – kommt er problemlos zurecht. Ihren Höhepunkt erreicht die Entfremdung zwischen Goethe und dem überwiegenden Rest der deutschen Geisteselite – zwangsläufig – zur Zeit der Befreiungskriege. Vielen seiner Landsleute gilt der Napoleon-Freund nun geradezu als Vaterlandsverräter. Wilhelm von Humboldt bemerkt noch Jahre später in einem Brief: »Der Geheimrat trägt den Annen-Orden[15], die Legion ist beiseitegelegt, wie es scheint. Allein die Befreiung Deutschlands hat noch bei ihm keine tiefe Wurzel geschlagen.« Dieser tadelnde Unterton entspricht weitgehend dem allgemeinen Goethe- Gefühl der damaligen Zeit. So wird der Dichter zu Lebzeiten zwar als Autor respektiert, aber keineswegs bewundert oder gar geliebt. Nach Goethes Tod rücken Name und Werk dann für einige Jahrzehnte ins zweite Glied; man beginnt ihn langsam zu vergessen. Erst das 1871 gegründete Kaiserreich entdeckt Goethe – seiner ketzerischen Geisteshaltung zum Trotz – als geistigen Nationalhelden neu und verklärt ihn gemeinsam mit Friedrich Schiller zum »Olympier«, also quasi zur Gottheit. Goethe wurde in fortgeschrittenem Alter, zur Zeit der Befreiungskriege und damit auf dem Gipfel der Verfemung, zu einem ausgesprochenen Bewunderer des Islam und der arabischen Welt (die er allerdings, wie viele seiner Zeitgenossen, auch romantisierte). Er vergräbt sich in Studien des Arabischen und Persischen, liest den Koran und entdeckt den Diwan des persischen Nationaldichters Hafis (1320 – 1388), eine Sammlung von knapp fünfhundert Gedichten, die der Orientalist und Diplomat Joseph von Hammer-Purgstall kurz zuvor erstmals ins Deutsche übersetzt hat. Goethe berauscht sich geradezu an diesen Versen, lässt sich von ihnen inspirieren und schreibt ab 1814 seinen eigenen Divan, der 1819 erscheint und später um zusätzliche Gedichte erweitert wird. Woher rührte dieser Hang zum Orientalischen? Dazu gibt es eine gewagte Hypothese, die der deutsche Psychiater und Ahnenforscher Robert Sommer (1864 – 1937) aufstellte. Demnach soll Goethe türkische Vorfahren gehabt haben, sodass entsprechende ethnische Wurzeln quasi schon in seinen Genen verankert waren. Zumindest meinte Sommer, diesen Zusammenhang aufgrund einer alten Familienchronik belegen zu können. Er bezieht sich dabei auf einen gewissen Sadok Selim Sultan (vermutlich 1270 – 1328), der während einer Schlacht zwischen Kreuzrittern und Seldschuken bei Aleppo im heutigen Syrien in deutsche Gefangenschaft geraten und nach Deutschland verschleppt worden sein soll – genauer gesagt, nach Brackenheim in Baden-Württemberg. Im Jahr 1305, so heißt es weiter, ließ er sich dort taufen und nahm den Namen Johannes Soldan an. Später heiratete er eine Deutsche, mit der er drei Söhne zeugte. In weiteren Generationen verzweigten sich die Soldans nach Hessen und Franken – und eine dieser Linien führt angeblich zur Familie Textor in Frankfurt, somit auch zu Goethes Mutter Catharina Elisabeth Textor. Spekulation, Dichtung oder Wahrheit? Was soll’s. Gönnen wir unseren türkischstämmigen Mitbürgern einfach ihren Anteil an Goethe! [13] Gerhard Schulz: Exotik der Gefühle. Goethe und seine Deutschen, München 1998. [14] Gerhard Schulz: Exotik der Gefühle. Goethe und seine Deutschen, München 1998. [15] Der russische »Orden der heiligen Anna« wurde Goethe von Zar Alexander I. im Oktober 1808 verliehen. Golfklasse European Open »Kein Auto haben die Deutschen lieber«, schrieb die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vollkommen treffend über den VW Golf[16]. Und seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 im eigenen Land ist es als womöglich deutschestes aller Bilder in unserem Kollektivgedächtnis verankert: ein Golf mit auf die Seitenscheibe gestecktem, lustig im Wind flatterndem schwarz-rot- goldenem Fähnchen. Deutscher Ingenieur- und Erfindergeist, deutsche Wertarbeit, das deutsche Nationalauto und die deutschen Landesfarben, gepaart mit deutscher Fußballbegeisterung – welch ein Symbol für die Werte unserer Nation, für Mannschaftsspiel, Zusammenhalt und überlegene Leistungsfähigkeit! Halt, halt, halt – hier müssen wir mal sachte auf die Bremse treten. Die Wahrheit ist: Weder der VW Golf noch die sogenannte Golfklasse sind rein deutsche Hervorbringungen. Vielmehr stellen auch sie Musterbeispiele für das länderübergreifende Zusammenwirken von Ideen dar, was sie aus europäischer Sicht doch irgendwie sympathischer macht. Konzept, Design und Technik des VW Golf sind so multinational wie sein Name. Eine kompakte Schrägheckkarosserie mit Heckklappe, eine umklappbare Rücksitzlehne, ein quer eingebauter Frontmotor und Vorderradantrieb: Das alles sind Zutaten, die es bei diversen Autos in anderen Ländern und auch in Deutschland schon lange vorher gab. Wer Golf fährt, der fährt also mit an der Spitze der europäischen Integration. Das weltweit erste Fahrzeug mit Frontantrieb zum Beispiel entstand 1898 in Österreich bei dem Wiener Automobilhersteller Gräf & Stift, der 1971 von MAN übernommen wurde. Im Jahr 1900 meldeten Gräf & Stift diese Technik zum Patent an, doch erst viel später – in den Zwanzigerjahren des vorigen Jahrhunderts – gelang es der französischen Firma Tracta, sie zu wirklicher Serienreife zu bringen. Die Lizenz dieser Konstruktion wurde an verschiedene europäische Automobilunternehmen verkauft, darunter auch die deutschen Firmen DKW und Adler. Erster deutscher Hersteller eines Modells mit Frontantrieb war allerdings der Fahrzeug- und Nähmaschinenfabrikant Stoewer in Stettin. Sein Kleinwagen Stoewer V5 kam 1931 heraus und wurde insgesamt 2100-mal gebaut. Die nächste Weltpremiere, ebenfalls 1931, war ein Ergebnis deutsch-dänischer Zusammenarbeit: Der in Kopenhagen geborene Unternehmer Jørgen Skafte Rasmussen hatte 1916 im sächsischen Zschopau die Marke DKW gegründet (was ursprünglich für »Dampf-Kraft-Wagen« stand). 1925 übernahm seine Firma, die nach dem vorhersehbaren Flop des Dampfmobils alle möglichen Zweiräder und Motoren produzierte, die marode deutsche Automarke Slaby-Beringer und wurde damit selber zum Automobilunternehmen. Sechs Jahre später gelang Rasmussen dann ein Coup, der DKW zum zweitgrößten Automobilhersteller Deutschlands machen sollte: das weltweit erste Auto mit Vorderradantrieb und quer eingebautem Frontmotor, der DKW F1. Im Frühjahr 1931 wurde der dreisitzige Roadster mit lederbespannter Holzkarosse auf der Internationalen Automobilausstellung in Berlin vorgestellt – technisch gesehen, der Urahn des heutigen VW Golf, auch wenn der überwiegend aus Blech besteht. 1938 nahm auch der französische Hersteller Citroën das Grundkonzept des Golf in weiten Teilen vorweg: Der in nur wenigen Exemplaren gebaute Traction Avant Commerciale war das erste Auto mit Frontantrieb, Schrägheck und voll nutzbarer Ladeöffnung. Allerdings war seine Heckklappe in der Mitte zweigeteilt, und anders als beim DKW F1 steckte der Motor in traditioneller Bauweise längs unter der Haube. Wir übergehen den Zweiten Weltkrieg, machen einen Zeitsprung und erleben gut zwanzig Jahre später das Auftauchen einer radikal neuen Karosseriebauweise – der Countdown zur Golfklasse beginnt. Zunächst überraschen die Briten die automobile Welt mit einer buchstäblich winzigen, aber dennoch weitreichenden Revolution: Die Urversion des Mini ist der erste moderne Kleinwagen mit Frontantrieb, quer eingebautem Motor und kurzem, abgeschrägtem Steilheck. Der Mini ist größtenteils die Schöpfung eines einzigen Mannes – des Ingenieurs Alexander »Alec« Issigonis, geboren 1906 im damals noch griechischen Smyrna (heute das türkische Izmir) als Sohn eines Griechen mit britischem Pass und einer deutschen Mutter. Nach seinem Studium in London beginnt er 1936 in der Automobilindustrie zu arbeiten und landet nach mehreren Stationen im Austin- Werk Longbridge, das zu jener Zeit gemeinsam mit Morris in Cowley die British Motor Corporation (BMC) bildete. Die Idee zum Mini entsteht 1956, nachdem die Sueskrise einen ersten Ölschock ausgelöst hat. Die Konstruktion eines sparsamen Kleinwagens ist dringend geboten, und Issigonis lässt sich dadurch zu einem Geniestreich inspirieren. 1959 wird das winzige und witzige Unikum erstmals vorgestellt – damals allerdings noch nicht unter der Modellbezeichnung Mini, sondern je nach Markenzugehörigkeit als Austin Seven oder Morris Mini- Minor. Der Neue ist ein Riesenerfolg, und Issigonis wird dafür 1969 zum »Sir« geadelt. Mit insgesamt 5,3 Millionen Exemplaren (der moderne BMW- Nachfolger nicht mitgerechnet) ist der Mini bis heute das meistverkaufte britische Auto aller Zeiten. Mit einer weiteren wegweisenden Entwicklung warten 1961 die Franzosen auf: Der Renault 4 ist das erste Großserienauto mit »fünfter Tür«, also einer vollständig öffnenden Heckklappe, und einer komplett umlegbaren Rücksitzbank. Die Idee dazu stammt von dem damaligen Renault-Vorstandschef Pierre Dreyfus, der sich große Marktchancen von einem preisgünstigen, praktischen, unkomplizierten und »klassenlosen« Automobil verspricht. Und er behält recht: Obwohl der R4 auf heftigen internen Widerstand stößt, wird er wie geplant realisiert – und erweist sich als wahre Verkaufsrakete. Bis 1992 entstehen in fast unveränderter Form über acht Millionen Exemplare des R4, die in mehr als 100 Länder rund um die Welt verkauft werden. 1969 schließlich springt die italienische Fiat-Tochter Autobianchi auf den Trend zur Heckklappe auf. Sie besinnt sich dabei auf das Konzept des Mini, kopiert es geschickt und verbindet es mit einer »echten«, also am Dach angeschlagenen Gepäckraumklappe. Heraus kommt der Kleinwagen A112, und damit nähert sich der Countdown langsam seinem Ende. Im Jahr 1971, drei Jahre vor dem Produktstart des VW Golf, stellt Fiat das Modell 127 vor – ein Kompaktfahrzeug nach dem Vorbild des Autobianchi A112, allerdings deutlich geräumiger. Der Fiat 127 ist das erste Auto vergleichbarer Größe, dessen Konstruktion alle Merkmale des späteren Golf aufweist: quer eingebauter Frontmotor, Vorderradantrieb, Schrägheck mit vollständig öffnender Heckklappe und umlegbare Rücksitzlehne. Er ist lediglich 10,7 Zentimeter kürzer und 8,5 Zentimeter schmaler als der spätere Golf. Das Design stammt von Pio Manzù, Sohn eines berühmten Bildhauers und Absolvent der legendären Hochschule für Gestaltung in Ulm. Tragischerweise kommt Manzù 1969 im Alter von nur 30 Jahren bei einem Autounfall ums Leben, zwei Jahre vor der Premiere seines Meisterstücks. Man hätte ihm gewünscht, dessen Triumph noch zu erleben: 1972 wird der Fiat 127 zum Auto des Jahres gewählt, und mit insgesamt rund 4,5 Millionen verkauften Exemplaren reiht er sich ein unter die erfolgreichsten italienischen Autos aller Zeiten. Auch die Urform des Golf ist von Manzùs Linienführung inspiriert, und auch sie stammt nicht aus Deutschland, sondern ebenfalls aus Italien. Geschaffen hat sie der Turiner Designer Giorgio Giugiaro mit seiner Firma Italdesign, die mittlerweile (seit 2010) zum VW-Konzern gehört. Dass Giugiaro den Job 1971 überhaupt bekommt (und die Welt eine Golfklasse), ist einer Last-Minute- Entscheidung zu verdanken. Eigentlich schwebte den VW-Managern eine Art »Käfer 2.0« vor, ein Auto mit Mittelmotor und dem VW-typischen Heckantrieb. Den Prototyp dazu entwickelt der damals 30-jährige Ferdinand Piëch bei Porsche. Das neue Modell steht bereits kurz vor der Serieneinführung, als der neue VW-Chef Rudolf Leiding sein Team quasi auf der Zielgeraden zurückpfeift. Zwei gravierende Schwachpunkte sind ihm aufgefallen: In dieser Form wäre das Auto nicht nur zu teuer, sondern der Motor läge auch direkt unter der Rücksitzbank – eine nicht gerade wartungsfreundliche Konstruktion, die obendrein den Fondpassagieren auch sommers ein backofenwarmes Hinterteil bescheren würde. So setzen sich die VW-Entwickler erneut ans Reißbrett und lassen sich in Windeseile eine Alternative einfallen. In knapp 18 Monaten entsteht ein völlig anderes Modell, das dem technischen Vorbild des Fiat 127 folgt. Eine glückliche Hand beweist VW auch mit dem Auftrag an Giorgio Giugiaro. Der italienische Stardesigner schneidert ein so markantes Blechkleid, dass es den Golf zum formalen Vorbild einer ganzen Wagenklasse und sogar zu ihrem Namensgeber macht. Ist der Golf also eher ein Italiener? Ein Italo-Deutscher? Ein Deutsch-Italiener? Ach was. In der Summe seiner österreichischen, französischen, dänischen, griechischen, britischen, italienischen und deutschen Gene ist er tatsächlich das Musterbeispiel eines Europäers. Und das ist doch ganz einfach – Klasse. [16] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2.9.2012. Grimms Märchen Dornröschen schläft sich durch Es waren einmal zwei Brüder, die hießen Jacob und Wilhelm. Beide hatten in Marburg Rechtswissenschaft studiert, aber ihr wahres Herzblut gehörte der Literaturgeschichte ihrer deutschen Heimat. So begannen sie anno 1806, gleich nach dem Studienabschluss, mit der Erforschung alter Urkunden, Gedichte und Sagen. Ein glücklicher Zufall bescherte ihnen bald darauf die Einladung der beiden Schriftsteller Clemens Brentano und Achim von Arnim, an der Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn mitzuarbeiten. Bei diesen Recherchen stießen sie nebenbei auf zahlreiche Märchentexte. Zunächst fand ihr Sammeleifer auch die Unterstützung Brentanos, doch der verlor bald das Interesse an den Märchen, und die zwei Brüder überwarfen sich schließlich mit ihm. Dieser Rückschlag konnte die beiden aber nicht bremsen, denn die Märchenbegeisterung hatte sie längst unentrinnbar gepackt. So sammelten sie munter weiter, und dank der Vermittlung Achim von Arnims konnten sie 1812 schließlich den ersten Band mit 86 deutschen »Kinder- und Hausmärchen« im Verlag von Georg Andreas Reimer herausgeben. 1850 folgte der zweite Band mit weiteren siebzig Märchen, und so ging es weiter mit jeder neuen Auflage, bis sie schließlich bei stolzen 211 angelangt waren. Etwa die Hälfte davon hatte man ihnen mündlich zugetragen, wobei die ergiebigste Quelle die Bäuerin Dorothea Viehmann war, eine Nachfahrin französischer Hugenotten. Andere Geschichten lieferten ihnen der Philologe Werner von Haxthausen, dessen Bruder August sowie deren gemeinsame Nichte, die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff. Alle übrigen Märchen basieren auf schriftlichen Quellen. Mit diesem ihrem Lebenswerk, das neben der Märchensammlung auch zahlreiche sprachwissenschaftliche Publikationen umfasst, gelten die beiden Brüder als Mitbegründer der heutigen Germanistik. So weit die wahre Geschichte der Brüder Grimm. Aber ist Ihnen aufgefallen, dass sie einen klitzekleinen Fehler enthält? Gemeint ist das Attribut »deutsch«. Denn die von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten Märchen stammen zum großen Teil gar nicht aus Deutschland, sondern ihre Quellen verteilen sich in bunter Mischung quer über Europa, Nordafrika und Asien. So finden sich in den Handlungssträngen und Personen zahlreiche international verbreitete Motive – wie zum Beispiel der Zauberschlaf von Dornröschen, der in ähnlicher Form schon in der griechischen Antike bedichtet wurde. Oder das Aschenputtel, das uns schon bei den alten Ägyptern, im antiken Rom und später im chinesischen Kaiserreich begegnet. Nicht selten existieren solche Grundmotive in Dutzenden oder sogar Hunderten von Spielarten, bei denen Handlung und Personen immer wieder neue Wendungen erfahren. Märchen kennen nun mal keine Grenzen – sie vagabundieren nach Herzenslust von einem Land zum nächsten, von einer Kultur und Sprache zur anderen, und wie bei einer Völkerwanderung verändern sie dabei je nach Umfeld und Zeitalter ihre Gestalt. Auf diese Weise, mehr oder weniger landestypisch zurechtgemacht, verbreiten sie sich mühelos über große geografische Räume. Selbst die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, die ursprünglich in Indien beheimatet sind, haben es durch immer wieder angepasste Übersetzungen über Persien und die arabische Welt bis in die heutige Weltliteratur geschafft. So sind etwa Ali Baba und die vierzig Räuber (»Sesam öffne dich!«) bei uns kaum weniger populär als Schneewittchen und die sieben Zwerge, und Aladins orientalische Wunderlampe fasziniert uns ebenso wie das abendländische Tischlein-deck- dich. Einer der ersten Europäer, die Märchen systematisch sammelten, war der Italiener Giovanni Francesco Straparola (1480 – 1558). Daneben erfand er auch eigene Geschichten, sogenannte Kunstmärchen, und lieferte damit weiteren Stoff für nachfolgende Generationen. Seine Sammlung – insgesamt 75 Geschichten, davon 21 Märchen – veröffentlichte Straparola zwischen 1550 und 1553 in der zweibändigen Anthologie Le piacevole notti (»Die ergötzlichen Nächte«), bei der die einzelnen Episoden in eine Rahmenerzählung eingebettet sind. Hier begegnen wir unter anderem der Geschichte vom Gestiefelten Kater, die Jahrhunderte später als Märchen Nummer 33 bei den Grimms wieder auftaucht. Die ersten schriftlichen Urfassungen der Volksmärchen Tischlein-deck-dich, Schneewittchen, Aschenputtel und Rapunzel finden sich ebenfalls in einer italienischen Kollektion mit Rahmenhandlung – dem Pentamerone, das der aus Neapel stammende Schriftsteller Giambattista Basile (1575 – 1632) im Dialekt seiner Heimat aufschrieb. Außerdem enthält das Werk eine weiterentwickelte Version der Dornröschen-Geschichte, die erstmals im 14. Jahrhundert in der altfranzösischen Erzählsammlung Le Roman de Perceforest auftaucht. Interessant in diesem Zusammenhang: In beiden Fassungen wird das in den Schlaf gehexte Dornröschen nicht nur wachgeküsst, sondern zuvor noch schnell geschwängert – ein schöner Beleg dafür, dass man sich Märchen in vormodernen Zeiten auch und gerade unter Erwachsenen erzählte. Kinder wurden, was den gleichen Vorgang betrifft, schon immer mit der altgermanischen Sage vom Klapperstorch abgespeist. Basile selbst erlebte das Erscheinen seines Werks nicht mehr; erst nach seinem Tod gab es seine Schwester heraus, zunächst unter dem Titel Lo cunto de li cunti (»Das Märchen der Märchen«) und dem Pseudonym Gian Alesio Abbattutis. Jahrzehnte später, 1674, erhielt die Sammlung dann – in Anlehnung an Boccaccios Decamerone – den bis heute gebräuchlichen Titel Il Pentamerone (frei übersetzt »Fünf-Tages-Erzählung«). Die Brüder Grimm nutzten solche Quellen ausgiebig, um ihre eigene Sammlung weiter auszubauen. Allerdings schrieben sie nicht einfach ab, sondern verwendeten häufig unterschiedliche Texte und setzten sie neu zusammen – wie etwa bei Schneewittchen, das bereits in zwei deutschen Übersetzungen von Ludwig Bechstein und Johann Karl August Musäus vorlag. Oder bei dem in ganz Europa verbreiteten Rotkäppchen, das der Weimarer Verleger Friedrich Justin Bertuch 1790 erstmals in einer deutschen Fassung herausbrachte: Hier entschieden sich die Grimms für eine Version mit glücklichem Ausgang, denn ein vom bösen Wolf unwiderruflich zerfleischtes Rotkäppchen (das gibt es auch) wollten sie ihren Lesern offenbar doch nicht zumuten. Bei anderen Geschichten bedienten sich die Brüder der Sammlungen des französischen Schriftstellers Charles Perrault (1628 – 1703), der seinerseits zum Teil bei Straparola und Basile fündig geworden war: In Hänsel und Gretel finden sich Motive aus Le Petit Poucet (»Der kleine Daumen«), Rotkäppchen geht auf Le Petit Chaperon rouge zurück, Dornröschen auf La Belle au bois dormant (»Die schöne Schlafende im Wald«), Aschenputtel auf Cendrillon und Der gestiefelte Kater auf das mittlerweile von Italien nach Frankreich eingewanderte Märchen Le chat botté. Bei Dornröschen griffen die Grimms auch direkt auf die ältere Version von Basile zurück. Die Begattung der schlafenden Schönen ließen sie allerdings ebenso weg wie Perrault – wie sie auch viele andere Märchen von ursprünglich vorhandenen erotischen Motiven säuberten und damit »kindgerecht« machten. Ebenfalls in Frankreich fanden die Grimms die schriftliche Urversion von Rumpelstilzchen. Die Geschichte von dem Kobold, der ein Mädchen Stroh zu Gold spinnen lässt, wurde unter dem Titel Ricdin-Ricdon erstmals 1705 in der Sammlung La Tour ténébreuse (»Der finstere Turm«) von Marie-Jeanne L’Héritier de Villandon veröffentlicht, einer Tochter oder Nichte von Charles Perrault. Das Märchen selbst ist allerdings wesentlich älter. Der Froschkönig wiederum basiert auf einem Kommentar, den der Herausgeber John Leyden in eine Neuausgabe der schottischen Geschichten- und Balladensammlung The Complayant of Scotlande (1549) einfügte. Das wissen wir mit Sicherheit von Jacob Grimm, der 1812 an seinen Bruder Wilhelm schrieb: »Das Volksmärchen vom Froschprinz habe ich in einem schottischen Buch heut Nachmittag gefunden.« Tatsächlich gaben auch die Grimms der Geschichte zunächst den Titel Der Froschprinz – was eigentlich zutreffender wäre, denn bei dem Frosch handelt es sich ja nicht um einen verwunschenen König, sondern um einen Prinzen. Bleibt festzuhalten, dass sich unsere berühmteste Märchensammlung bei näherem Hinsehen als ein erstaunlich multikulturelles Panoptikum erweist, dessen Helden und Bösewichter wir mit einer ganzen Reihe anderer Völker teilen. Rein deutschen Ursprungs sind dagegen – paradoxerweise – einige populäre Geschichten, die im Orient spielen. Die Geschichte vom Kalif Storch, Die Geschichte von dem kleinen Muck und Das Märchen vom falschen Prinzen stammen nicht etwa aus Tausendundeiner Nacht, sondern aus dem Zyklus Die Karawane, den der Stuttgarter Schriftsteller Wilhelm Hauff 1825 als Sammlung frei erfundener Kunstmärchen veröffentlichte. Mutabor heißt dort das Zauberwort des zum Storchen gewordenen Kalifen – und wie man gesehen hat, ist es zugleich ein treffendes Motto für alle Märchen dieser Welt: »Ich werde mich verwandeln.« Die Grünen Born in California Seit 2011 ist er also endlich unter Dach und Fach – der Ausstieg aus der Atomenergie. Und auch sonst zeigt sich Deutschland zunehmend umweltbewegt: Bioläden boomen, Autohersteller unterbieten sich mit Verbrauchswerten, und selbst gemachter Solarstrom elektrisiert immer mehr Hausbesitzer – was sich im politischen Farbenspektrum nachhaltig niederschlägt. Seit Jahren ist Grün auf dem Vormarsch – mit inzwischen fast durchweg zweistelligen Prozentwerten bei allen Stimmzettelauszählungen bis hin zur Bundestagswahl. »Staunend nahmen die Nachbarn den fast religiösen Eifer wahr, der die deutsche Ökologiebewegung von Beginn an beseelte«, schrieb der Dortmunder Statistikprofessor Walter Krämer.[17] Ist das nun typisch deutsch? Sind wir ein Volk von ökologisch denkenden Visionären, Mahnern und Machern? Womöglich gar Musterknaben, die dem Rest der Welt zeigen müssen, wo es in Zukunft langgeht? Ja und nein. Tatsache ist: Wir lernen von anderen, ebenso wie andere von uns. Deutsche Umwelttechnik mag heute Spitze sein, aber bei genauerer Betrachtung sind wir in mancherlei Hinsicht erst ziemlich spät in die Gänge gekommen. Weder das Elektroauto noch die Abgasreinigung noch Solar-, Wasser- und Windenergie wurden in deutschen Landen erfunden oder erstmals eingesetzt. Bei der Ausweisung von Naturschutzgebieten und Nationalparks rangieren wir noch immer unter »ferner liefen«, und auch die Grünen sind keineswegs nur ein deutsches Phänomen. Tatsächlich gibt es politische Organisationen, die sich den Umweltschutz auf ihre Fahnen geschrieben haben, schon seit (sage und schreibe!) über hundertzwanzig Jahren. Dabei hält die Geschichte einiges an Überraschungen bereit. Welches Land zum Beispiel darf sich der ältesten »grünen« Bewegung überhaupt rühmen, sozusagen der Mutter aller Umweltorganisationen? Es sind ausgerechnet die USA – der vermeintlich böse Bube, auf den alle Welt wegen seiner spritfressenden Monstertruck-Spielzeuge mit dem Finger zeigt. Am 28. Mai 1892 entstand in San Francisco der Sierra Club, gegründet von dem Universalgelehrten John Muir (1838 – 1914) im Verbund mit mehreren Universitätsprofessoren. Der in Schottland geborene Muir gilt als Wegbereiter der amerikanischen Nationalpark-Idee (auch wenn es mit Yellowstone den ersten Nationalpark bereits gab) und nahm schon damals viele Grundgedanken der heutigen Umweltbewegung vorweg – wie das Bewahren der Schöpfung und die gegenseitige Abhängigkeit von Mensch und Natur. Mit diesen Ideen ist der Sierra Club nachhaltig erfolgreich geblieben: In den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts schafften es seine Mitglieder unter anderem, ein gigantisches Staudammprojekt in den Canyonlands von Utah zu verhindern – und das zu einer Zeit, als technischer Fortschritt meist noch kritiklos bejubelt wurde und Umweltschutz in den Medien allenfalls eine Nebenrolle spielte. Seit den Sechzigerjahren macht sich der Club auch für die Einführung von Umweltstandards in der US-Gesetzgebung stark. Vor solchem Hintergrund erstaunt es nicht, dass der Begriff environment in den USA schon im 19. Jahrhundert aufkam, während das entsprechende deutsche Wort Umwelt erst 17 Jahre nach Gründung des Sierra Club eingeführt und definiert wurde. 1909 verwendete es der deutsch-estnische Biologe und Philosoph Jakob Johann von Uexküll (1864 – 1944) erstmals in seinem Buch Umwelt und Innenwelt der Tiere. Dessen Grundgedanke bestand darin, dass Menschen nur mit der Natur, aber nicht gegen sie leben und überleben können. Von Uexküll stellte damit wegweisende ökologische Thesen auf und gilt allgemein als Begründer des europäischen Umweltschutzgedankens. Wenig später hatten erneut die USA die Nase vorn: Am 28. Dezember 1915 gründete der Botanikprofessor Henry Chandler Cowles (1869 – 1939) in Columbus (Ohio) die Ecological Society of America (»Ökologische Gesellschaft von Amerika«), kurz ESA. Dieser Zusammenschluss von Wissenschaftlern engagiert sich bis heute weltweit in Politik, Forschung und Bildung für die Belange des Umweltschutzes. Innerhalb der ESA entstand 1917 der Vorläufer einer weiteren bedeutenden Naturschutzorganisation, das Committee for the Preservation of Natural Conditions (»Komitee für die Bewahrung der natürlichen Gegebenheiten«) – eine Gruppe von Umweltaktivisten unter der Führung des Zoologen Victor Shelford (1877 – 1968). Daraus wiederum wurde 1946 die Ecologists’ Union und 1951 die Organisation The Nature Conservancy. Letztere engagiert sich vor allem für den Erhalt der natürlichen Artenvielfalt und hat damit enormen Zulauf gefunden: The Nature Conservancy umfasst heute über eine Million Mitglieder und ist in dreißig Ländern der Erde aktiv. Gemeinsam mit dem Sierra Club und der 1987 gegründeten Organisation Conservation International gehört sie zu den drei größten Umweltverbänden der USA. Der nächste Punkt geht an Frankreich: Am 5. Oktober 1948 wurde in Fontainebleau bei Paris eine weitere bedeutende Nichtregierungsorganisation gegründet – die International Union for the Protection of Nature (»Internationale Union für den Schutz der Natur«), kurz IUPN. Ihr Ziel ist es, weltweit das Bewusstsein für den Natur- und Artenschutz sowie für die nachhaltige und schonende Nutzung von Ressourcen zu schärfen. Um diese weit gefasste Definition besser deutlich zu machen, änderte die IUPN ihren Namen 1956 in International Union for Conservation of Nature and Natural Resources (»Internationale Union für den Erhalt der Natur und der natürlichen Ressourcen«), kurz IUCN. Der Hauptsitz der Organisation befindet sich heute im schweizerischen Gland nahe dem Genfer See, außerdem unterhält sie Niederlassungen in 62 Ländern. Mitinitiator der IUCN war der Londoner Biologe und Schriftsteller Sir Julian Huxley (1887 – 1975), der auch zu den Gründungsvätern der UNESCO gehört und von 1946 bis 1948 als deren erster Generalsekretär wirkte. Seinem Engagement ist noch eine zweite prominente Umweltorganisation zu verdanken, der World Wide Fund for Nature (WWF) – gegründet 1961 unter dem Namen World Wildlife Fund. Dessen Aufgaben bestehen laut Gründungsurkunde im »Schutz von Tieren, Pflanzen, Wäldern, Landschaft, Wasser, Boden und allen natürlichen Ressourcen«. Der Hintergrund: 1960 reiste Huxley nach Ostafrika, um ein Wildtierschutzprojekt der UNESCO zu betreuen. Was er dort antraf, nämlich die hemmungslose Jagd auf wilde Tiere und die Vernichtung natürlicher Biotope, entsetzte ihn zutiefst. So schrieb er nach seiner Rückkehr nach London drei flammende Artikel für den Observer, in denen er davor warnte, dass viele Tierarten innerhalb der nächsten zwanzig Jahre verschwunden sein könnten, wenn nicht schnellstens gegengesteuert würde. Mit seinem Appell fand Huxley große Aufmerksamkeit und gewann wichtige Mitstreiter – wie den Geschäftsmann Victor Stolan und den Ornithologen Max Nicholson –, die schließlich gemeinsam eine internationale Organisation zum Schutz der Natur auf die Beine stellten. Sein Hauptquartier bezog der WWF in der schweizerischen Kleinstadt Morges am Nordufer des Genfer Sees, wo damals bereits der IUCN seinen Sitz hatte. Als werbewirksames Markenzeichen entwarf Gründungsmitglied und Hobbymaler Peter Scott ein Abbild des berühmten Pandabären Chi-Chi im Londoner Zoo – es dürfte heute eines der bekanntesten Logos der Welt sein. So gilt der WWF, gleichauf mit der 1971 gegründeten Bewegung Greenpeace, als eines der Synonyme für Naturschutz schlechthin, auch wenn beide immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik stehen (der Journalist Wilfried Huismann etwa nannte den WWF 2012 aufgrund seiner Nähe zur Agrarindustrie eine »schizophrene Organisation«).[18] Was tat sich während all dieser Jahre in Deutschland? Noch immer praktisch nichts. Das änderte sich erst in den Siebzigerjahren, als eine wahre Gründungswelle grüner Bewegungen den Planeten überrollte. Die zunehmende Verschmutzung von Luft und Wasser ließ damals in ganz Europa, aber auch auf anderen Kontinenten das Bewusstsein für den Schutz von Umwelt und Klima wachsen. So entstanden zahlreiche Gruppen, Komitees und Vereine, die sich teils mit spektakulären Aktionen für diese Belange einsetzten. Eine der ersten war die von US-amerikanischen und kanadischen Atomkraftgegnern und Pazifisten am 15. September 1971 in Kanada gegründete Aktivistengruppe Don’t Make a Wave Committee, die sich ursprünglich gegen einen geplanten unterirdischen Atombombentest auf der zu Alaska gehörenden Insel Amchitka richtete. Der Name der Aktion, mit der das geschehen sollte: Greenpeace. Im Jahr 1971 charterten die Mitglieder des Komitees einen Fischkutter, um damit in das vorgesehene Testgebiet zu fahren. Zwar fing die US-Küstenwache ihr Schiff kurz vor dem Ziel ab, doch immerhin fand das Abenteuer so viel Medienresonanz, dass der Atombombentest zunächst verschoben und dann ganz abgeblasen wurde. Ein Jahr später mündete die Aktion dann in die Gründung der Umweltstiftung Greenpeace, die heute weltweit vierzig Büros betreibt und mehr als drei Millionen Fördermitglieder hat. Und nun endlich: Vorhang auf für die grünen Parteien! Die weltweit erste Umweltbewegung mit dem Status einer politischen Partei sind allerdings nicht die deutschen Grünen – es ist eine Gruppe von Schweizern: Im Dezember 1971 treten aus Protest gegen eine geplante Autobahn quer durch das Stadtgebiet von Neuchâtel mehrere Politiker aus ihren bisherigen Parteien aus und schließen sich zum Mouvement populaire pour l’environnement (»Volksbewegung für die Umwelt«), kurz MPE, zusammen. Im Mai 1972 beteiligt sich das MPE an den Schweizer Gemeinderatswahlen, erringt auf Anhieb 17,8 Prozent der Stimmen und stellt mit acht von 41 Sitzen die drittstärkste Fraktion – ein sensationelles Ergebnis, das die späteren deutschen Grünen erst Jahrzehnte später übertreffen. 1979 gibt es im Schweizer Nationalrat eine weitere Weltpremiere: Mit Daniel Brélaz, dem heutigen Stadtpräsidenten von Lausanne, zieht zum ersten Mal ein grüner Politiker in ein nationales Parlament ein. Am 23. März 1972 formiert sich auf der anderen Seite des Globus eine weitere grüne Partei auf regionaler Basis – die United Tasmania Group (UTG) in Australien. Einen Monat später folgt die Values Party in Wellington (Neuseeland) als erste national organisierte grüne Partei der Welt. Sie beteiligt sich an fünf nationalen Parlamentswahlen (1972, 1975 und 1978) und bekommt immerhin bis zu 5,2 Prozent der Wählerstimmen; aufgrund des geltenden Wahlrechts erringt sie allerdings keinen Sitz im Parlament. Die Enttäuschung darüber führt schließlich zur Aufspaltung der Partei. 1990 erlebt die Values Party jedoch im Verbund mit anderen Umweltorganisationen eine Renaissance und schafft es endlich auch, eine Reihe von Sitzen zu gewinnen. In Europa wird die erste grüne Partei auf nationaler Ebene 1973 im englischen Coventry ins Leben gerufen. Ihre Gründer, das Rechtsanwaltsehepaar Tony und Lesley Whittaker sowie verschiedene Mitstreiter, nennen sie schlicht und einfach PEOPLE. Im Parteiprogramm berufen sie sich auf den Club of Rome – eine internationale Gruppe von Wissenschaftlern, die ein Jahr zuvor die berühmte Studie »Grenzen des Wachstums« vorlegt hatte. Nach diversen Flügelkämpfen benennt sich PEOPLE zwei Jahre später in Ecology Party um, 1985 dann in Green Party, um die Geistesverwandtschaft mit anderen europäischen Umweltparteien herauszustellen. Zum größten Erfolg wird die Wahl zum Europaparlament 1989, bei der die Green Party 15 Prozent der Stimmen erringt. Erst 1978 entsteht auch in Deutschland die erste Umweltpartei. Ihr Name: Grüne Aktion Zukunft (GAZ). Initiator ist der CDU-Politiker Herbert Gruhl, Abgeordneter des Bundestages und umweltpolitischer Sprecher seiner Fraktion. Aus Unzufriedenheit über die Umweltpolitik der CDU verlässt er am 12. Juli die Partei und verschreibt sich mit seiner Neugründung konsequent dem Umweltschutzgedanken. Im Rahmen einer Gemeinschaftsliste – zu der auch die spätere Grünen-Sprecherin Petra Kelly gehört – beteiligt sich die GAZ im Folgejahr an der Europawahl und kommt auf 3,2 Prozent der Stimmen. Aus der Keimzelle der GAZ (die sich jedoch bald abspaltet) und ergänzt um diverse andere Umweltgruppierungen sowie linke und alternative Wahlbündnisse gehen am 12. Januar 1980 in Karlsruhe schließlich Die Grünen hervor – als westdeutsche Ausgangsbasis der heutigen gesamtdeutschen Partei Bündnis 90 / Die Grünen. Wie jeder weiß, hat dieser im Grunde sehr bunte Haufen seitdem eine beispiellose Erfolgsgeschichte geschrieben – ein schöner Beleg dafür, wie gelassen und selbstverständlich wir heute mit der Buntheit umgehen können: Wenn an Deutschland etwas international und multikulturell ist – von den Ursprüngen und Ideen wie von den Mitgliedern her –, dann sicherlich Die Grünen! [17] Walter Krämer: Die Angst der Woche. Warum wir uns vor den falschen Dingen fürchten, München 2011. [18] Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3.6.2012. Kartoffeln Die Schönen vom Titicacasee Kindermund tut Wahrheit kund. Glaubt man dem Sprichwort, dann gehören Kartoffeln nicht nur zu den deutschesten aller Nahrungsmittel, sondern belegen auch insgesamt einen Spitzenrang unter den identitätsstiftenden Merkmalen unserer Nation. Eine Umfrage der Zeitschrift Eltern Family aus dem Jahr 2007 legt diesen Schluss jedenfalls nahe. 19 Prozent der befragten Kinder und Jugendlichen votierten hier für die Kartoffel als etwas typisch Deutsches. Das bedeutet den vierten Platz hinter Bier, Wurst und Sauerkraut – was auch aus ausländischer Sicht scheinbar ins Schwarze trifft. Der BBC-Korrespondent Stephen Evans bestätigte nach einem Berliner Gastmahl naserümpfend: »Deutsche sind wirklich genügsam. Sie lieben gekochte Kartoffeln.«[19] Die Deutschen und ihre meistgefutterte Knolle – ein uraltes, inniges Liebesverhältnis? Und so typisch, dass man uns statt »Krauts« genauso gut »Kartoffels« nennen könnte? Dass es nicht so ist, zeigt eigentlich schon der weltumspannende Massenverzehr gelber Stäbchen bei McDonald’s und Konsorten. Werfen wir also einen Blick in die Geschichte und über den Tellerrand, um den wahren Verhältnissen auf die Spur zu kommen. Tatsächlich hatte die Kartoffel in Deutschland (wie auch im übrigen Europa) noch vor wenigen Jahrhunderten einen denkbar miserablen Ruf. Sie galt als giftig und teuflisch, als Schweinefraß und später als Arme-Leute-Essen, das man allenfalls zu sich nahm, wenn das Geld partout für nichts Besseres reichte. Erst im Verlauf des 19. Jahrhunderts begann sie klassenübergreifend akzeptiert zu werden und damit Eingang in die deutsche Lebensart zu finden. Bekanntlich ist die Kartoffel auch alles andere als eine Deutsche, sondern eine geborene Südamerikanerin. Das erste Land der Alten Welt, das mit ihr Bekanntschaft machte, war folglich Spanien, das Land der Konquistadoren – genauer gesagt, die Kanarischen Inseln. In diesem Zusammenhang gilt es zunächst eine historische Begriffsverwirrung zu klären: Der erste Europäer, der je Kartoffeln sah und aß, war mit einiger Sicherheit Kolumbus. Dabei handelte es sich jedoch um Süßkartoffeln (Ipomoea batatas), die mit der uns vertrauten Knolle (Solanum tuberosum) nur sehr entfernt verwandt sind und auch eine andere geografische Herkunft haben. Kolumbus begegnete diesen Früchten erstmals auf der – von ihm Hispaniola getauften – Karibikinsel Aytí. In seinem Tagebucheintrag vom 4. November 1492 schreibt er: »Am Abend lehren uns die Eingeborenen die Zubereitung eines unscheinbaren Knollengewächses, an dem wir bisher achtlos vorbeigingen. Ich werde einige dieser seltsamen Äpfel, die wie Kastanien schmecken und von den Indianern Batate genannt werden, nach Europa mitnehmen.« Batate, patata oder auch papa: Irgendwann übertrug sich dieser Name auf die viel später entdeckte Andenkartoffel, die schließlich die Welt eroberte. So heißt diese im lateinamerikanischen Spanisch noch immer papa, in der spanischen Schriftsprache und im Italienischen patata und im Englischen potatoe. Unser heutiges deutsches Wort »Kartoffel« geht ebenfalls auf eine Verwechslung zurück – es ist abgeleitet vom Lateinischen terrae tuber (»Erdknolle«), das eigentlich für Trüffeln steht. Klingt unwahrscheinlich? Nicht, wenn man die verschiedenen Entwicklungsstadien des Wortes betrachtet. In einer späteren Dialektform wurde daraus terrae tufer, dann tartufo und schließlich die italienische Verkleinerungsform tartufolo (so viel wie »Trüffelchen«). Diese wiederum wurde im 18. Jahrhundert eingedeutscht zu Tartüffel, und siehe da: Schon haben wir den direkten Vorläufer des heutigen Wortes »Kartoffel«. Die Geschichte der Namensgebung ist jedoch nur ein historischer Wimpernschlag gegen den Werdegang der Kartoffel selbst: In ihrer Urheimat Südamerika, rund um die Ufer des Titicacasees im Andenhochland, wurden frühe Formen wahrscheinlich schon vor über zehntausend Jahren kultiviert. Vor gut siebentausend Jahren entstand daraus in etwa die Knolle, wie wir sie heute kennen – eine unentbehrliche Nahrungsgrundlage für die vorspanischen Kulturen. Denn der in Amerika ansonsten weit verbreitete Mais verträgt keinen Frost, hat also in solchen Höhen (der Titicacasee liegt 3810 m über dem Meeresspiegel) kaum eine Chance. So verbreitete sich die Kartoffel dank ihrer Widerstandsfähigkeit über große Teile des Kontinents: Bei Ankunft der spanischen Eroberer erstreckte sich ihr Anbaugebiet vom Westen des heutigen Venezuela bis ins südliche Chile. Der erste historisch gesicherte Kontakt der Kartoffel mit einem Europäer fand 1537 statt, wie spätere Aufzeichnungen verbürgen. Er war vermutlich etwas enttäuschend – denn der Konquistador Gonzalo Jiménez de Quesada hatte mit seiner Expedition im heutigen Kolumbien eigentlich das sagenumwobene Goldland El Dorado aufspüren wollen. 18 Jahre später findet sich dann eine Beschreibung der Knolle aus erster Hand: Francisco López de Gómara, Sekretär des Eroberers Hernán Cortés, liefert sie in seinem Buch Historia general de las Indias. Auch ab diesem Zeitpunkt dauerte es noch ziemlich lange, bis die ersten Kartoffeln in der Alten Welt auftauchten. Ihre Ankunft auf den Kanarischen Inseln fand wahrscheinlich zwischen 1560 und 1570 statt, also erst Jahrzehnte nach Kolumbus’ Bekanntschaft mit der batate. Welcher der zahlreichen spanischen Seefahrer sie über den Atlantik brachte, lässt sich heute nicht mehr sagen. Wenig später jedenfalls hatte die Kartoffel auch das spanische Festland erreicht. Der erste Hinweis findet sich 1573 im Hospital de la Sangre in Sevilla, wo für die Patienten papas zubereitet wurden. Von nun an geht alles vergleichsweise schnell: Um 1590 gelangt die Kartoffel auf die Britischen Inseln und nach Irland. Erstmals erwähnt und abgebildet wird sie dort 1597 von dem Botaniker John Gerard in seinem Hauptwerk The Herball or Generall Historie of Plantes. 1601 findet sich eine weitere Abbildung in dem Buch Rariorum plantarum historia (»Geschichte seltenerer Pflanzen«) des niederländischen Arztes und Botanikers Charles d’Écluse. Die Erkenntnis, dass man Kartoffeln essen kann, setzt sich allerdings nur sehr zögerlich durch. Im Wettbewerb gegen die zartvioletten Blüten und das üppige Laub haben die unansehnlichen Wurzelknollen einfach einen schweren Stand. So verwendet man die Kartoffel jahrzehntelang vorwiegend als exotische Zierpflanze, zum Beispiel in botanischen Gärten. »Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der Große Kurfürst, etwa lässt sie 1664 in den Gärten seines Berliner Schlosses Monbijou pflanzen, der polnische König Jan III. Sobieski erfreut sich in seinem Palastgarten an ihnen, und die französische Königin Marie Antoinette soll die Blüten im 18. Jahrhundert sogar als Haarschmuck getragen haben. Was dem Verzehr im Wege steht, sind auch botanische Unzulänglichkeiten: Die Knollen der ursprünglich importierten Kartoffeln sind klein und haben wenig Geschmack, denn als Nachtschattengewächs braucht die Kartoffel relativ lange Nächte. An denen fehlt es im europäischen Sommer, und so reift unter der Erde nichts wirklich Appetitliches heran. Stattdessen verzehrt man aus Unwissenheit häufig die giftigen, tomatenähnlichen oberirdischen Früchte – was in der Regel heftige Magen- und Darmbeschwerden auslöst und den Ruf der Knollen weiter untergräbt. Die Kirche schmäht die Kartoffel sogar als »Teufelswurzel«, weil sie in der Bibel nicht vorkommt. Erst nach und nach erkennt man den Nährwert der Knollen und beginnt, den europäischen Gegebenheiten angepasste Kartoffelsorten zu züchten. Hauptanbaugebiete sind zunächst Irland und England. Für einen ersten Boom in Deutschland sorgt dann König Friedrich II. von Preußen: Er erkennt die Kartoffel mit ihrem hohen Nährwert als Chance, sein Volk satt zu bekommen und Hungersnöte schon im Ansatz zu bekämpfen. Am 24. März 1756 erlässt er seinen legendären »Kartoffelbefehl«: »Wo nur ein leerer Platz zu finden ist, soll die Kartoffel angebaut werden, da diese Frucht nicht allein sehr nützlich zu gebrauchen, sondern auch dergestalt ergiebig ist, daß die darauf verwendete Mühe sehr gut belohnt wird.« Der Appell des »Alten Fritz« fruchtet im wahrsten Sinne des Wortes. Allem anfänglichen Widerwillen zum Trotz lassen sich die preußischen Bauern breitschlagen, großflächig Kartoffeläcker anzulegen. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hat sich die neue Nahrungsgrundlage bereits so weit durchgesetzt, dass ein Drittel der Landbevölkerung von nichts anderem mehr lebt. Mit dem Ende der Napoleonischen Kriege 1815 hat sie sich dann europaweit endgültig den Status eines Grundnahrungsmittels erobert, und heute ist die Kartoffel so global verbreitet wie kaum ein anderes Grundnahrungsmittel. In über 130 Ländern werden Kartoffeln angebaut; mehr als eine Milliarde Menschen essen sie – das bedeutet nach Reis und Weizen den dritten Platz unter den Nahrungslieferanten der Welt. Das Land mit der höchsten Kartoffelproduktion der Welt ist übrigens China, und in unseren heimischen Supermärkten findet man unter anderem Kartoffeln aus Ägypten, von den Kanarischen Inseln, aus Sizilien und Madeira. So stammen die international meistverbreiteten und beliebtesten Kartoffelspezialitäten auch keineswegs aus Deutschland. Bei den Pommes frites streiten sich Belgier und Franzosen um die Urheberschaft ( »Currywurst«); die Kartoffelchips wurden wahrscheinlich 1853 in den USA unter der Bezeichnung Saratoga Chips erfunden. Internationaler geht’s also kaum. Typisch deutsch dürfte eher der Erfindungsreichtum sein, mit dem wir der Kartoffel auf die Pelle rücken und sie zu Reibekuchen, Bratkartoffeln, Kartoffelknödeln oder Suppe verarbeiten – um nur einige der zahlreichen Varianten zu nennen. Was die Vielfalt ihrer Zubereitungsarten betrifft, stehen wir also mit Sicherheit ganz weit oben auf der Weltrangliste. Und das ist ja schließlich auch etwas. [19] BBC News Magazine vom 18.11.2012. Lindenstraße With a little help from Mr. Warren »Second life« auf dem Fernsehschirm, und das in hochkonzentrierter Form: Seit dem 8. Dezember 1985 können TV-Zuschauer im Ersten allwöchentlich ein Abziehbild des deutschen Alltags verfolgen, in dem so ziemlich alles vorkommt, was unsere Gesellschaft beschäftigt und prägt. Ob familiäre oder soziale Probleme, ob Liebeskummer oder politische Konflikte, ob Megatrends oder die Schlagzeilen der Woche – die Lindenstraße saugt das ganze pralle Menschenleben in ihre kleine Welt ein und sorgt damit wie ein Perpetuum mobile für immerwährende Aktualität. Die Energie scheint der Serie tatsächlich nie auszugehen: Mit inzwischen mehr als 1400 ausgestrahlten Folgen ist sie fast zu einer nationalen Institution geworden, zumindest genießt sie bei ihren Fans Kultstatus unter den wöchentlichen TV-Ereignissen. Keine andere deutsche Soap Opera kommt auch nur annähernd auf ein so langes Leben. Auf den ersten Blick ist die Lindenstraße auch ein sehr deutsches Phänomen. Gedreht wird in Köln, fiktiver Schauplatz ist München, und als Erfinder der Serie gilt der aus Augsburg stammende Regisseur Hans Wilhelm Geißendörfer, der sie bis heute produziert. Wohl nicht ganz zufällig wählte er die Linde als Namensgeberin – einen Baum, der mit deutschem Wesen und deutscher Kultur verwoben ist wie kaum ein zweiter ( »Deutsche Eiche«). Von daher weckt die allsonntägliche halbe Stunde mit der Lindenstraße durch und durch heimatliche Gefühle. Allein, auch hier haben wir es uns mit einem Import gemütlich gemacht. Ideen und Konzept der Serie stammen nämlich nicht aus Deutschland. Vielmehr übernahm Geißendörfer den Plot von einem britischen Vorbild, das beim Starttermin seiner deutschen Coverversion schon auf eine erkleckliche Zahl von Jahren zurückblicken konnte. Dessen geistiger Vater wiederum ist der Schauspieler und Drehbuchautor Anthony McVay Simpson (besser bekannt unter seinem Künstlernamen Tony Warren). 1959 begann Warren mit den Arbeiten zu einer Serie, die er ursprünglich Florizel Street nannte und die inzwischen seit über einem halben Jahrhundert Fernsehgeschichte schreibt: Coronation Street (»Krönungsstraße«). Dabei schien ursprünglich alles auf einen Flop hinauszulaufen. Die Produzentin Olive Shapley erinnert sich, wie Warren ihr spät abends auf einer gemeinsamen Zugfahrt vorschlug, statt Mörder, Detektive und Geheimagenten mal den ganz normalen Alltag ganz normaler Leute in einer ganz normalen Straße zu zeigen. Shapleys ebenso spontane Reaktion: »Ach Tony, wie langweilig! Leg dich wieder schlafen.« Warren ließ sich von dieser Einzelmeinung jedoch nicht entmutigen, und so erlebte die Coronation Street am 9. Dezember 1960 im Fernsehsender ITV ihre Premiere. Anfänglich schien Olive Shapley recht zu behalten – die ersten Folgen lockten nur wenige Zuschauer hinter dem Ofen hervor, sodass der Serie ein schnelles Ende vorhergesagt wurde. Aber wie das mit Unkenrufen so ist – häufig werden sie eben doch von der Realität übertönt. Tatsächlich hat es Coronation Street von der Erstausstrahlung bis heute auf weit über 8000 Folgen gebracht. Damit ist sie die langlebigste noch existierende TV-Soap aller Zeiten – mehr Episoden verzeichnet bis heute nur die US-Serie Guiding Light, die von 1952 bis 2009 ausgestrahlt wurde. In Aufbau und Inhalt gleichen sich Coronation Street und Lindenstraße wie ein deutsches Ei einem britischen. Hier wie dort erzählen die Folgen vom Alltag und Familienleben der handelnden Personen, bauen gesellschaftliche Konflikte und politische Entwicklungen in die Handlung ein und liefern damit ein Spiegelbild der aktuellen Wirklichkeit. Protagonisten sind jeweils die Einwohner eines eng umgrenzten fiktiven Stadtviertels – wobei dieses im Gegensatz zur Lindenstraße bei den Briten auch in einer fiktiven Stadt liegt, die man auf den Namen Weatherfield taufte. Das Vorbild für die TV-Kulisse wiederum lieferte die real existierende Coronation Street, eine typisch englische Reihenhausstraße in einem Arbeiterviertel von Salford (Greater Manchester). Die echte Lindenstraße im Münchner Stadtteil Harlaching – ja, die gibt’s auch! – sieht dagegen völlig anders aus als ihre Namensvetterin in der TV-Serie. Ansonsten ist beim britischen Original alles ein paar Nummern größer als bei der Lindenstraße: Während diese nur einmal pro Woche läuft, strahlte ITV von Anfang an zwei Folgen aus – anfangs noch in Schwarz-Weiß, seit 1969 in Farbe und seit März 2010 in HDTV. 1989 wurde die Zahl der wöchentlichen Folgen auf drei aufgestockt, 2009 sogar auf fünf. Man könnte annehmen, dass die britischen Fernsehzuschauer einen solchen Serien-Overkill irgendwann satt gehabt hätten. Aber weit gefehlt: Coronation Street läuft und läuft und läuft, bei inzwischen zwar abgeebbter, aber noch immer enormer Beliebtheit. Am 27. Juli 1981 beispielsweise, als zwei der Seriendarsteller im Rahmen der Handlung heirateten, saßen über 24 Millionen Menschen vor den Geräten – mehr als bei der realen Hochzeit von Prinz Charles und Diana Spencer zwei Tage später. Den absoluten Rekord hält bis heute die Weihnachtsfolge von 1987 mit 27 Millionen Zuschauern. Das entspricht fast 48 Prozent der damaligen Gesamteinwohnerzahl des Vereinigten Königreichs, vom Säugling bis zum Greis. Gegen solche Traumwerte sieht die Lindenstraße eher alt aus, obwohl sie 25 Jahre jünger ist. Vom Start weg litt sie an Zuschauerschwund, und dieser Negativtrend ist bis heute ungebrochen. Erreichte die Serie in den ersten drei Jahren noch zwischen 10 und 13 Millionen Zuschauer, so sank deren Zahl ab Ende der Achtzigerjahre kontinuierlich um rund eine halbe Million pro Jahr. In den Neunzigern musste man sich bereits dauerhaft mit einstelligen Millionenziffern begnügen; nach dem Jahrtausendwechsel rutschte die durchschnittliche Zuschauerzahl dann auf unter fünf Millionen. Aktuell kommt die Lindenstraße auf rund drei Millionen Zuschauer pro Folge. Das liegt bereits unter dem Durchschnittswert aller Sendungen des WDR – von einem Quotenrenner kann also längst keine Rede mehr sein. Coronation Street dagegen hält sich noch immer wacker im achtstelligen Bereich. Und das trotz gewichtiger Konkurrenz im eigenen Land: Am 19. Februar 1985 – also ebenfalls noch vor dem Sendebeginn der Lindenstraße – startete BBC One eine vergleichbare Soap, die Serie EastEnders, die im fiktiven Londoner Stadtviertel Walford spielt. Schon ein Jahr darauf war Coronation Street auf Platz zwei verwiesen, und im Lauf der Zeit gelang es EastEnders, die Konkurrentin auch auf Dauer zu überflügeln. Zusammengenommen erreichen beide Serien heute im Durchschnitt über 20 Millionen Zuschauer pro Folge. Man sieht: Anscheinend haben es die Briten deutlich mehr mit Stadtviertel- Serien als wir Deutsche. Vielleicht denken wir auf dem Kontinent inzwischen doch zu europäisch, als dass uns eine Familie Beimer und ihre kleinbürgerliche Nachbarschaft noch vom Hocker reißen könnten. Jedenfalls munkelt man, dass die Lindenstraße in den nächsten zwei bis drei Jahren endgültig eingestellt werden soll. Aber ein Trost bleibt uns allemal: Das reale Leben geht weiter. Marschmusik Einführung aus dem Serail Peng, klatsch, rumms, tatütata: Was lautmalerische Bildungen betrifft, quillt der deutsche Sprachschatz förmlich über, und er wird ständig um weitere Perlen bereichert – von Perdatsch oder Klickeradomms (Wilhelm Busch) über Spotz oder Britzel (Erika Fuchs) bis hin zu Glorz oder Kaschumpf (Rötger Feldmann alias »Brösel«). Aber welche von all diesen Schöpfungen kann es an krachender Volkstümlichkeit mit Tschingderassabum und Schnedderengteng aufnehmen? Und welche sonst klingen so urdeutsch? Die beiden Wortungetüme genießen eine solche Popularität, dass sie selbst der Gralshüter unserer Sprache, Der große Duden, in seinen festen Bestand aufgenommen hat. 1963 gelang es allerdings dem Mainzer Karnevalskomponisten Toni Hämmerle, mit der Variante Humba Täterä noch eins draufzusetzen – während es Brösels Umpftrötelradiruu[20] bislang nicht in die Umgangssprache geschafft hat. Auch Loriots legendäres Tata-uff, tata-uff wird in der Regel nur im Zusammenhang mit dem Sketch zitiert, aus dem es stammt: »Weihnachten bei Hoppenstedts«. Doch immerhin: Allein diese Vielfalt lässt schon ahnen, dass die Marschmusik in uns Deutschen quasi genetisch angelegt sein muss. Klingendes Spiel, Preußens Gloria, Großer Zapfenstreich und überhaupt, das Marschieren! Schon in frühester Kindheit wird es uns doch förmlich eingebläut: »Marsch, ab in die Heia!« Hier ist nun allerdings dasselbe einzuwenden wie bei den Kindheitsbegriffen Mama und Papa: Das Wort »Marsch« hat gar keine deutschen Wurzeln, sondern wurde erst während des Dreißigjährigen Krieges vom gleichlautenden französischen marche entlehnt. Ausgerechnet der so zackig-deutsch klingende Befehl »Marsch!« ist also ein welscher Import. Aber auch an Humba Täterä, Schnedderengteng und Tschingderassabum findet sich bei genauerer Betrachtung nicht viel originär Deutsches: Schnedderengteng oder Täterä beschreiben das für Marschmusik typische Trompetengeschmetter – und die Trompete wurde natürlich nicht in Deutschland erfunden, sondern ihre Geschichte reicht mindestens dreieinhalbtausend Jahre zurück bis ins alte Ägypten. Tschingderassabum beginnt zufällig, aber durchaus passend mit einer chinesisch klingenden Silbe. Tsching steht für die Zimbel oder das Becken – ein uraltes asiatisches Schlaginstrument, das von China aus über die Türkei erst im 17. Jahrhundert den Weg nach Westeuropa fand. Das Rassa wiederum bezieht sich auf das Rasseln der Kleinen Trommel (in der Jazz- und Rockmusik später mittels Spiralteppich verstärkt), das Bum oder Humba auf den dumpfen Ton der Großen Trommel oder Basstrommel. Beide Instrumente haben ihren Ursprung ebenfalls im alten Orient. Allerdings scheint das Trommeln dem Menschen ohnehin in die Wiege gelegt zu sein: Selbst Primaten bearbeiten mit den Händen rhythmisch Gegenstände oder den eigenen Brustkorb, um ihren Machtanspruch innerhalb der Sippe zu betonen. Und die Marschmusik selber? Auch da dürfen wir weit in die Antike zurückblicken – vergleichbare Rhythmen sind schon um 1600 v. Chr. für das ägyptische und ab 500 v. Chr. für das römische Heer belegt. Was nicht verwundert, denn der Marsch leitet sich vom gleichmäßigen Stapfen Hunderter oder Tausender Füße ab, wie es Heereszügen eben seit Urzeiten zu eigen ist. Schlaginstrumente, wie wir sie heute kennen, fanden gleichwohl relativ spät ihren Weg nach Mitteleuropa. Erst während der Kreuzzüge ab dem 11. Jahrhundert entdeckten christliche Heere die Feldmusik der Sarazenen und mit ihr die zweifellige Zylindertrommel und die Militärpauke – so gelangte das »Rassabum« in den Klangkörper abendländischer Kapellen. Zu einem großen Teil hat unsere heutige Marschtradition auch türkische Wurzeln. Ab dem frühen 18. Jahrhundert wurde es in europäischen Armeen Mode, die Musik der Janitscharen nachzuahmen – einer Elitetruppe, die im Osmanischen Reich unter anderem die Leibgarde des Sultans stellte. Charakteristisch für deren Stil sind vor allem Schlaginstrumente wie Becken, Tamburin, Pauke, Trommel, Triangel und Schellenbaum – ganz besonders aber die Große Trommel (anfangs noch »Türkentrommel« genannt), wie sie heute aus keiner Marschkapelle mehr wegzudenken ist. Das Ungetüm, das dem »Bum« erst seine Urgewalt verleiht, wird von alters her vor dem Bauch getragen und mit Muskelkraft und Schlegeln beidseitig bearbeitet. Die osmanischen Militärkapellen sind vermutlich die weltweit älteste Form von Musikgruppen, auf die der Begriff »Marschmusik-Kapelle« im heutigen Sinne zutrifft. In der Türkei – wo ihre Tradition als Volksfest- und Touristengaudi noch heute lebendig ist – bezeichnete man sie als mehter bölüğü (so viel wie »Musikantentruppe«), wobei mehter für die einzelnen Musiker steht. Die ersten dieser türkischen Spielleute waren vermutlich ein Geschenk des seldschukischen Sultans Kayqubad III. an den legendären Herrscher Osman I. im 14. Jahrhundert. Im Verlauf der Türkenkriege, die sich über rund dreihundert Jahre hinzogen, gelangte die Musik der mehter bölüğü (heute mit französischem Einschlag mehter marşı genannt) dann auch in unseren Kulturkreis. Der britische Musikwissenschaftler Henry George Farmer (1882 – 1965) beschreibt in seinem 1912 erschienenen Buch The rise & development of military music, wie die neue Welle über Polen und Russland nach ganz Europa hereinschwappte: »In sehr kurzer Zeit erfasst das Virus der ›türkischen Musik‹ die meisten europäischen Armeen. Die Gründung von Militärkapellen in Österreich- Ungarn wird auf das Jahr 1741 datiert, als Freiherr von der Trenck an der Spitze seiner Truppen in Wien einmarschierte, ihm vorangehend eine türkische Kapelle. Etwa zur gleichen Zeit findet die Musik ihren Weg ins französische Corps d’élite, und Marschall de Saxe[21] verwendet sie während des Krieges von 1741 bei seinen Ulanen … Selbst der mächtige Staatsmann und General Friedrich der Große fand keine Ruhe, bis er Proben dieser Musik gehört hatte, und die eindrucksvolle Erscheinung dieser Orientalen … gefiel ihm so sehr, dass er bei allen Kapellen seiner Regimenter Schlaginstrumente einführte. Für deren Bedienung engagierte er mit Turbanen bekleidete und herausgeputzte Schwarze.« Letztere Idee übernahm der »Alte Fritz« von seinem Vater, Friedrich Wilhelm I., der aus einer exotischen Laune heraus als vermutlich erster europäischer Herrscher afrikanische Militärmusiker beschäftigte. Afrika, Preußen und die Türkei – welch eine Mischung! Aber sie kam an: Marschmusik und Türkenmusik waren in Europa zeitweise fast Synonyme (auch wenn sich die Melodik bei uns weitgehend dem abendländischen Geschmack anpasste). Tatsächlich trugen preußische und sächsische Militärmusiker bis ins frühe 19. Jahrhundert die offizielle Bezeichnung »Janitschar«. Auch die klassische Kunstmusik wurde von den türkischen Klängen in vielfältiger Weise beeinflusst: Entsprechende Elemente finden sich zum Beispiel in Mozarts Oper Die Entführung aus dem Serail, in Joseph Haydns Sinfonie Nr. 100 (Militärsinfonie) oder in Beethovens Vertonung der Ode an die Freude im Finale der 9. Sinfonie. Seine Blütezeit erlebte der Militärmarsch in der preußischen Glanz- und Glorienzeit des 18. Jahrhunderts und später während der Befreiungskriege – weswegen er bis heute vielen als typisch deutsch gilt, wenn nicht gar als typisch preußisch. Auch jenseits des Atlantiks verbreitete sich diese Musiktradition fast parallel zur Alten Welt, und wie so vieles nahm sie dort noch stärker multikulturelle Züge an. In den Südstaaten der USA, besonders in New Orleans, entstanden schon ab 1865 afroamerikanische marching bands mit farbigen Musikern. Das Ende des Sezessionskrieges, die Abschaffung der Sklaverei und die Auflösung der militärischen Musikkorps verbanden sich hier zu einer Gemengelage, in der etwas völlig Neues entstand: Märsche mit eingelagerten afrikanischen Elementen – denen letztlich der Jazz eine seiner frühen Wurzeln verdankt. Berühmt wurden dann vor allem die Märsche des Washingtoner Komponisten John Philip Sousa (1854 – 1932), dessen Vater aus Portugal und dessen Mutter aus Bayern stammte – was wiederum zu einer ganz eigenen musikalischen Mischung führte. So sind seine Werke, anders als deutsche und österreichische Märsche, samt und sonders im schnelleren »französischen« Tempo gehalten, was ihnen eine betonte Leichtfüßigkeit gibt. Mit über 100 populären Titeln, die zum Standardrepertoire von Blaskapellen in aller Welt gehören, gilt Sousa bis heute als der »König der Marschmusik«. Seine patriotische Komposition Stars and Stripes Forever aus dem Jahr 1897 genießt in den USA sogar den Status einer Art zweiten Nationalhymne. Heute gibt es praktisch kein Land mehr, das nicht über eigene Militärkapellen und Märsche verfügt. Die Marschmusik ist zur Weltmusik geworden, und das im globalsten Sinn des Wortes. Selbst im künstlerischen Werk des amtierenden thailändischen Königs Bhumibol Adulyadej (der sich nebenbei als passionierter Saxophonist und Komponist betätigt) findet sich ein Militärmarsch – der Royal Guards March, den Seine Majestät 1948 für das 1. Infanterieregiment seiner Leibwache kreierte. Wer sowohl Marschmusik als auch Tropensonne liebt, kann sich die nächste öffentliche Aufführung ja schon mal als Termin für den Thailand-Urlaub vormerken. [20] Aus dem Werner-Comicband Exgummibur. [21] Gemeint ist der Maréchal de Saxe (Marschall von Sachsen), Hermann Moritz Graf von Sachsen (1696 – 1750), der als Generalmarschall in Frankreich diente. Mülltrennung Vive la poubelle! »Sie stellen Küchenschränke mit immer neuen Mülleimern zu, nehmen die Fliegen über der Biotonne hin, und dann schaffen sie den so getrennten Abfall noch zum Wertstoffhof. Jedenfalls, sofern der Vorgarten nicht von fünf verschiedenen Tonnen vollgestellt ist.« So ätzte am 29.10.2011 ein Kommentar in der Süddeutschen Zeitung über die Deutschen und ihre Mülltrennungswut. Übertreiben wir es womöglich mit der Umweltbeflissenheit? Bringt uns die Mülltrennung unter dem Strich mehr Plagen als Segen? Auf jeden Fall ist sie eine typisch deutsche Erfindung, so scheint es. Lückenlos, pedantisch und durchgeplant bis ins kleinste Detail: Ein solches Organisationsmonster können nur Ordnungs- und Gründlichkeitsfanatiker wie wir in die Welt setzen. Schon der Name des Paragraphenwerks, das all diese Vorgänge regelt, sieht uns ähnlich: »Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz«, abgekürzt mit dem ebenfalls sehr deutschen Zungenbrecher KrW-/AbfG. In der Tat, die Neigung zu unaussprechbaren bürokratischen Kürzeln dürfen wir wohl getrost als nationale Eigenheit verbuchen (wobei sich besagtes Gesetz gegenüber Juwelen wie EuRHiISRÜbkErgVtrG oder SozSichAbkÄndAbk2ZAbkTURG noch eher bescheiden ausnimmt). Das Thema Mülltrennung dagegen ist so international wie zeitlos – es beschäftigt die Menschen schon seit der Antike, auch wenn es damals begreiflicherweise nicht die ökologische Brisanz besaß wie heute. Bevor die Zeit der industriellen Wegwerfgesellschaft anbrach, waren es weitgehend organische Abfälle, die vor sich hin stanken und irgendwie weggeschafft werden mussten. So entstand zum Beispiel schon um 500 v. Chr. vor den Toren Athens die erste öffentliche Müllkippe – bekanntlich nicht der Weisheit letzter Schluss, aber mangels besserer Lösungen jahrtausendelang fast die einzige Möglichkeit einer halbwegs sozial- und gesundheitsverträglichen Entsorgung. Inzwischen kommen auch Schwellenländer langsam davon ab. In Mexiko-Stadt etwa hat man es Ende 2011 geschafft, mit dem Bordo Poniente die übelste Abfallhölle des Planeten zu schließen und stattdessen ein Mülltrennungs- und Recyclingsystem einzuführen. Erste Alternativen zum gewohnten Wegkippen, sei es auf die Deponie oder einfach in die Gosse, kamen im 19. Jahrhundert auf – beispielsweise das Verfeuern von Müll zwecks Wärme- und Energiegewinnung. Das Zeitalter der Müllverbrennung begann 1876 im englischen Nottingham mit der weltweit ersten Anlage dieser Art. Auch in den USA setzte sich die neue Erfindung schnell durch; 1908 arbeiteten dort landesweit bereits 180 Anlagen. Parallel dazu wurden ab dem beginnenden 20. Jahrhundert systematisch Schweinefarmen (piggeries) genutzt, um Lebensmittelabfälle zu beseitigen. Allerdings produzieren Schweine wiederum neuen Dreck, der seinerseits entsorgt werden musste. Eine Patentlösung sieht anders aus. Klarer Fall: Der ideale Lebenszweck von Müll besteht in der Wiederverwertung, und diese Erkenntnis ist alles andere als neu. So wurden zum Beispiel schon im alten Rom Exkremente gesammelt und an die Bauern im Umland als Dünger verkauft. Weniger anrüchige Abfälle hatten zu fast allen Zeiten Konjunktur: Metalle wurden eingeschmolzen und neu geschmiedet, ab dem 12. Jahrhundert verkauften Lumpensammler verschlissene Kleidung an Papiermühlen, und in Großbritannien diente Kaminasche als Zutat für Ziegelsteine. In Germantown im heutigen US-Bundesstaat Pennsylvania soll der gebürtige Deutsche Wilhelm Rittenhausen 1690 erstmals Papier aus einer Fasermasse hergestellt haben, der neben Hadern auch Altpapier beigemischt war. 1774 beschrieb der Göttinger Professor Justus Claproth ein Experiment, bei dem er Druckerschwärze mit Terpentinöl vollständig aus dem Papiermüll herauswaschen konnte. Und im englischen Batley entwickelte der Fabrikant Benjamin Law 1813 ein Verfahren, mit dem sich fein geschredderte alte Wollkleidung zu einem Recycling-Material verarbeiten ließ – der shoddy wool (Reißwolle). Kurz, die Zweitverwertung brauchbarer Abfälle war im Grunde schon immer relevant – auch weil sich ein Großteil der Gesellschaft bis ins 19. Jahrhundert hinein schnödes Wegwerfen ganz einfach nicht leisten konnte. Erst mit dem rasant fortschreitenden Industriezeitalter änderte sich das nach und nach: Immer mehr Einwegartikel, Kunststoffe und Verpackungsmaterialien wurden entwickelt, verbunden mit immer neuen Müllproblemen, weil mit leeren Konservendosen oder Plastiktüten eben nicht viel anzufangen ist. Parallel dazu wuchs der Bedarf an Rohstoffen, sodass Recycling zunehmend wirtschaftlich notwendig wurde. Das aber setzt konsequente Mülltrennung voraus – am besten schon an der Quelle, also in den Haushalten und Unternehmen, wie es bei uns inzwischen allgemeine Gepflogenheit ist. Der Vorreiter dieser Idee war allerdings kein Deutscher, sondern ein Franzose. Eugène Poubelle (1831 – 1907), Präfekt des Départements Seine, führte 1884 in Paris das erste Drei-Tonnen-System ein: eine Tonne für verrottbare Materialien (heute »Biotonne« genannt), die zweite für Papier und Lumpen, die dritte für Glas, Geschirr und (man ist ja in Frankreich!) Austernschalen. Auch das Fassungsvermögen der Tonnen, 40 bis 120 Liter, war bereits reglementiert. Zwar wurde Poubelle dafür heftig angefeindet, weil den Parisern die Abfallklauberei lästig war – doch letzten Endes hat seine Idee überlebt und sich als weltweiter Goldstandard durchgesetzt. Der Name Poubelle ist sogar als Vokabel in den französischen Sprachschatz eingegangen – er bedeutet »Mülleimer« oder »Abfalltonne«. Auch in den USA bemühte man sich schon im 19. Jahrhundert, Abfällen durch Trennen und Wiederverwerten ein zweites Leben zu ermöglichen. So meldete das Allround-Genie Thomas Alva Edison 1889 seinen Eddy Current Separator (»Wirbelstromseparator«) zum Patent an: Das Aggregat bremst Metallteile durch elektromagnetische Felder im Fallen ab und trennt sie dadurch sauber vom restlichen Müll. In New York City ließ George Waring, Chef der städtischen Straßenreinigung, 1897 die erste Anlage zur manuellen Müllsortierung errichten. Ein Jahr später folgte eine Sortieranlage für wiederverwertbare Gummiabfälle, und in Chicago und Cleveland gingen 1904 die ersten Recycling-Zentren für Aluminiumdosen in Betrieb. Während der beiden Weltkriege wurde Recycling schließlich für alle beteiligten Länder zur bitteren Notwendigkeit; massive Kampagnen hielten die Bevölkerung an, Wertstoffe wie Altpapier, Metall und Glas bei Sammelstellen abzugeben. Die anschließende und bis heute ungebrochene Wohlstandsära begünstigte dann wieder eine gewisse Laxheit, bis sich der einstige Mangel endgültig in sein Gegenteil und damit in ein ernsthaftes Umweltproblem verwandelt hatte. Der stetig wachsende Strom von Alufolien, Kunststoffflaschen, Blechdosen, Kartons und Sperrmüll überfordert längst die Verdauung unseres Planeten – gar nicht zu reden von der rasant wachsenden Menge an Elektro- und Elektronikschrott. In den reichen USA bekam man das bedeutend eher zu spüren als im Rest der Welt, sodass zum Beispiel der Bundesstaat Washington 1954 erstmals ein Pfand auf Aluminiumdosen einführte. Deutschland hatte derweil zunächst andere Sorgen und alle Hände voll zu tun mit dem Wiederaufbau. Erst 1961 formierte sich in Offenbach der Bundesverband der Deutschen Entsorgungswirtschaft. Im Ostteil Deutschlands entstand etwa zeitgleich das sozialistische Gegenstück SERO (VEB Kombinat SEkundär-ROhstoff) – interessanterweise war es wesentlich besser organisiert als das westdeutsche System, da die DDR mit ständiger Rohstoffknappheit kämpfte und deshalb regelrecht am Recycling-Tropf hing. Schrittmacher bei der Gesetzgebung waren allerdings die Vereinigten Staaten: 1965 wurde der Solid Waste Disposal Act beschlossen, der die Müllverwertung erstmals landesweit regelte, 1976 folgte eine verbesserte Version, und am 1. Januar 1970 trat als umfassendes Gesetz zum Umweltschutz der National Environment Policy Act (NEPA) in Kraft. Deutschland, der vermeintliche Musterknabe, folgte mit einigen Jahren Verspätung. Erst 1970 und 1971 formulierte die sozialliberale Regierung nach dem Vorbild des NEPA erste Umweltschutzprogramme. Im selben Jahr erließ das Bundesland Hessen ein Abfallbeseitigungsgesetz, das 1972 auch in die Bundesgesetzgebung übernommen wurde. 1987 folgte die Altöl- und 1991 die Verpackungsverordnung. Letztere verpflichtete Hersteller erstmals, in Umlauf gebrachte Verpackungen wieder zurückzunehmen. 1996 schließlich mündete alles in das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, das die Vermeidung, Ablagerung und Wiederverwertung von Abfällen detailliert regelt. Ähnliche Gesetze und Verordnungen gibt es heute in praktisch allen entwickelten Ländern rund um die Welt. Auch getrennte Tonnen für unterschiedliche Abfallsorten, wie sie Eugène Poubelle vor bald 130 Jahren seinen undankbaren Parisern vorsetzte, sind längst zur global verbreiteten Einrichtung geworden. Die oft zitierte skeptische Volksweisheit »Am Ende landet ja doch alles auf demselben Haufen« gehört übrigens ins Reich der modernen Mythen. Dafür hat Urban Mining, die Rohstoff-Rückgewinnung aus Abfällen, inzwischen einen viel zu hohen ökonomischen Stellenwert. Und allen Unkenrufen zum Trotz sind wir Deutschen dabei auf keinem schlechten Weg. Auch wenn wir Mülltrennung und Recycling nicht erfunden haben, befindet sich beides hierzulande doch auf einem vergleichsweise hohen Entwicklungsstand. In diesem Sinne: Vive la poubelle! Oktoberfest O’zapft is! Darauf einen Retsina Preisfrage: Wann fanden die ersten Olympischen Spiele in München statt? Wenn Sie es spontan zu wissen glauben, wird Sie die Auflösung überraschen. Denn »1972« liegt weit daneben – genau gesagt, um 162 Jahre. Tatsächlich gab es schon 1810 in Bayerns Hauptstadt eine Sportveranstaltung, die bewusst dem antiken olympischen Vorbild nachempfunden war. Sie wurde seitdem regelmäßig fast jedes Jahr abgehalten, zog 2012 fast sieben Millionen Besucher an und wird in zahlreichen Ländern rund um den Globus kopiert. Die bevorzugte Sportart heißt inzwischen allerdings Biertrinken (sieht man vom Hau-den-Lukas einmal ab), während Olympia wieder zu den größten Attraktionen zählt (dazu später). Der Name des Ereignisses stammt allerdings aus dem Lateinischen: Oktoberfest. Gleichwohl führt die heiße Spur zurück ins alte Griechenland. Hier müssen wir etwas weiter ausholen: Bei den Olympischen Spielen der Antike erzielte eine Sportart regelmäßig Zuschauerrekorde, und das waren Pferderennen. Im 4. Jahrhundert v. Chr. wurde dafür ein Hippodrom errichtet, das auch aus heutiger Sicht bombastische Ausmaße hatte und alle anderen Sportstätten im Olympischen Hain an Größe übertraf. 2008 entdeckte ein Team deutscher Archäologen die Überreste dieses eindrucksvollen Tribünenbauwerks. Es misst in der Länge mehrere hundert Meter und bot schätzungsweise 50 000 Zuschauern Platz. Auf dem Programm standen alle Arten von Wettbewerben, mit Wagen und auf dem Sattel, und so wie bei heutigen Autorennen verfolgte das Publikum begierig halsbrecherische Überholmanöver und spektakuläre Unfälle. Königsdisziplin war das Rennen der Vierergespanne über 13,8 Kilometer. Auch die großen Pferderennbahnen des antiken Rom entstanden nach dem Vorbild des olympischen Hippodroms. Diese Arenen waren sogar noch größer und pompöser: Der Circus Maximus in Rom, mit einer Grundfläche von 84 000 Quadratmetern größter Veranstaltungsort aller Zeiten, soll in seiner letzten Ausbaustufe im 4. Jahrhundert n. Chr. fast 400 000 Besucher gefasst haben. Nach Nordeuropa gelangte der Pferderennsport über England, das damit zu dessen zweitem Mutterland wurde. Begründer der englischen Renntradition war um das Jahr 210 der römische Kaiser Lucius Septimius Severus, ein großer Pferdeliebhaber, der nach seinem Eroberungsfeldzug gegen die Britannier in der heutigen Grafschaft Yorkshire die erste Pferderennbahn bauen ließ. Weil es auf den Britischen Inseln damals nur Ponys gab, mussten eigens für diesen Sport geeignete Rassezüchtungen aus dem Orient nach England geschafft werden. Viele Jahrhunderte später, wir schreiben das Jahr 1810: An einem Herbsttag in München führt die Faszination des Pferderennens, besonders aber seiner olympischen Wurzeln, auch zur Entstehung des Oktoberfestes. Griechenland grüßt Bayern! Den unmittelbaren Anlass liefert eine adelige Hochzeit: Am 12. Oktober heiratet Kronprinz Ludwig von (damals noch) Baiern die Prinzessin Therese Charlotte Louise von Sachsen-Hildburghausen. Ludwig ist ein ausgesprochener Fan des antiken Griechenland; seine Verehrung für die Hellenen geht so weit, dass er als König später sogar die Schreibweise »Baiern« durch »Bayern« mit griechischem Ypsilon ersetzen lässt. Und er ist besessen von der Idee, seine Hauptstadt München zu einem zweiten Athen zu machen – was ihm mit zahlreichen altgriechisch inspirierten Bauten auch zu weiten Teilen gelingt. Wie heiratet ein solcher Königssohn stilvoll und seinen philhellenischen Neigungen angemessen? Ein Unteroffizier der bayerischen Nationalgarde hat die Idee, das Hochzeitsfest nach Art der Olympischen Spiele zu begehen, also mit einem großen Pferderennen als Höhepunkt. Der aus Südtirol stammende Bankier und Kavalleriemajor Andreas Michael Dall’Armi übermittelt den Vorschlag an den Vater des Bräutigams, König Max I. Joseph von Bayern – und der zeigt sich auf Anhieb begeistert. Dall’Armi wird beauftragt, die Veranstaltung zu organisieren, und legt damit nichts ahnend den Grundstein zum heute größten Volksfest der Welt. Am 17. Oktober 1810 findet das Pferderennen auf einer großen Wiese statt, die damals noch vor den Stadtmauern Münchens liegt: Es ist die gleiche wie heute, nämlich die später nach der königlichen Braut benannte Theresienwiese. Das Sportereignis wird ein überwältigender Erfolg, und so beschließt der bayerische Königshof zur Freude der Münchner Bürger, es im folgenden Jahr zur gleichen Zeit zu wiederholen. Parallel dazu wird auf der Theresienwiese das erste Landwirtschaftsfest gefeiert, das noch heute alle vier Jahre im Rahmen der »Wiesn« stattfindet. So beginnt die Tradition des Oktoberfests – als Hommage an Olympia. Und getreu diesen Anfängen trägt das Fest auch in den Folgejahren überwiegend sportliche Züge. Es wurde damit sogar indirekt zum Vorläufer der Olympischen Spiele der Neuzeit: Bestrebungen, die antike Sportveranstaltung wieder aufleben zu lassen, sind schon aus dem Griechenland des frühen 19. Jahrhunderts bekannt. 1832 schließlich, nach der Befreiung von der Türkenherrschaft, kommt Bewegung in die Sache. Im Jahr zuvor war Ioannis Antonios Graf Kapodistrias, der erste Präsident des frisch gegründeten Staates, ermordet worden. Auf Empfehlung der Signatarmächte Großbritannien, Frankreich und Russland kürt die griechische Nationalversammlung den erst 17-jährigen Sohn Ludwigs I., Prinz Otto, zum neuen König ihres Landes. Im gleichen Jahr reisen drei griechische Gesandte nach München, erleben das Fest auf der Theresienwiese und zeigen sich beeindruckt: »In den Nachmittagsstunden erwiderten wir eine Einladung, an einem besonderen Fest teilzunehmen, das jährlich am Achten dieses Monats stattfindet und ›Oktoberfest‹ genannt wird. Es wird auf einer ausgedehnten Fläche außerhalb der Stadt abgehalten. Das besagte Fest stellt eine Nachahmung der Olympischen Spiele dar, und die Veranstaltungen lassen sich auf das alte Griechenland zurückführen.« Dieser Bericht facht das Feuer der Olympiabewegung weiter an. Wieso sollten Griechen nicht können, was im fernen Bayern bestens funktioniert? Ein Jahr später tritt der griechische Journalist und Dichter Panagiotis Soutsos auf den Plan, ein glühender Befürworter des Olympia-Revivals. In einem seiner Gedichte heißt es ebenso anklagend wie sehnsüchtig: Wo sind all eure Theater und Marmorstatuen? Wo sind eure Olympischen Spiele? Soutsos regt beim Innenministerium eine Wiederbelebung der Spiele nach dem Münchner Vorbild an, stößt aber zunächst auf taube Ohren. Einen Bundesgenossen findet er erst wesentlich später in dem reichen griechisch- rumänischen Geschäftsmann Evangelos Zappas. Der lässt 1856 König Otto auf diplomatischem Weg einen Brief zukommen, in dem er anbietet, Olympische Spiele selber zu finanzieren. Der König zeigt sich nicht abgeneigt, setzt aber eher auf eine Messe zur Förderung der griechischen Wirtschaft und nicht auf die Neuauflage einer antiken Sportveranstaltung. Ottos Ehefrau Amalie ringt ihrem Mann schließlich einen Kompromiss ab, und 1858 erlässt Otto eine 16 Artikel umfassende Königliche Verordnung »über die Errichtung der Olympien« – aufgezogen nach dem ursprünglichen Muster des Münchner Oktoberfestes unter Einbeziehung »gymnischer Spiele auf Staatskosten in dem dafür hergerichteten Stadion«. Die Olympien sind somit in erster Linie als Industrie- und Landwirtschaftsmesse angelegt, mit einem sportlichen Rahmenprogramm aus Pferderennen, Ringkampf, Laufen, Weitsprung und Diskuswerfen. Am 15. November 1859 ist es so weit: Mitten in Athen, im wieder aufgebauten antiken Panathinaikos-Stadion, finden die ersten offiziellen Olympischen Spiele der Neuzeit statt – 37 Jahre vor den von Pierre de Coubertin mit dem von ihm gegründeten Internationalen Olympischen Komitee organisierten. Weitere Olympien gleicher Machart folgen in den Jahren 1870, 1875 und 1889. Das Münchner Pendant entwickelt sich derweil unaufhaltsam von seinen Ursprüngen weg in Richtung Jahrmarkt. Zur Pferderennbahn gesellen sich Kletterbäume, Kegelbahnen und Schaukeln, und 1818 dreht sich auf der Wiesn das erste Karussell. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird das Fest zeitlich verlängert und in die letzten Septembertage vorverlegt, weil der Altweibersommer in dieser Zeit meist schöne und warme Tage verspricht. Ab 1880 genehmigt die Münchner Stadtverwaltung schließlich den Bierverkauf; ein Jahr später eröffnet die erste Hendlbraterei. Parallel dazu zieht das Oktoberfest immer mehr Schausteller und Karussellbetreiber an, die für immer neue Attraktionen sorgen. So sind die Olympischen Spiele und das Oktoberfest, ursprünglich zwei Veranstaltungen im gleichen Geist und Stil, nach und nach immer weiter auseinandergedriftet. Und trotzdem – sieht man genauer hin, dann treten die griechisch-olympischen Wurzeln heute durchaus wieder zutage: Bereits 1902 erhielt der Schausteller Carl Gabriel vom Magistrat die Genehmigung, ein Hippodrom auf dem Festplatz aufzustellen. Publikumsmagnet war in der Mitte des Zeltes eine 60 Meter lange Reitbahn mit 25 Pferden, auf denen sich die Gäste im Reiten versuchen konnten – eine Volksbelustigung, die sich buchstäblich galoppierender Beliebtheit erfreute. Seit 1989 gehört auch der Name Olympia zum festen Inventar der Wiesn. Damals hatte der von den olympischen Ringen inspirierte Olympia-Looping Premiere, die bis heute größte transportable Fünfer-Loopingbahn der Welt. Ob wohl je einer der Wiesn-Besucher, die sich hier Kopf und Magen verdrehen lassen, auf den Gedanken gekommen ist, dass alles mit einer königlichen Schwärmerei für Olympische Spiele angefangen hat? Danke jedenfalls, ihr Griechen, für die wunderbare Grundidee! Preußentum Disziplin à la française Der Staat Preußen ist längst Geschichte – aber die »preußischen Tugenden«, heißt es oft, würden in uns Deutschen unverändert fortleben: Fleiß, Disziplin, Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit und wie sie alle heißen. Leider auch die preußischen Untugenden, so will es das Klischee: Ordnungswut, Obrigkeitsgläubigkeit, militärisches Zackzack und Kadavergehorsam. Spätestens hier wird jeder Bayer sofort Einspruch erheben: »Preißn«, das seien ja wohl die Völker nördlich des Mains, mit denen man nichts zu schaffen habe. Auch Schwaben und Badener dürften dem entschieden zustimmen – und erst recht die Österreicher, die doch mit den Preußen immerhin Seite an Seite gegen den gemeinsamen Erzfeind Napoleon kämpften. Schon daran erkennt man, wie unterschiedlich die Sichtweise der Volksstämme zwischen Ostsee und Alpen auf die gemeinsame deutsche Identität ist. Doch wie immer man dazu steht – das Königreich Preußen macht einen Großteil der deutschen Geschichte aus, und seine Kultur hat uns zweifellos einen von vielen Stempeln aufgeprägt. Immerhin war dieser ursprünglich schmale Landstrich an der Danziger Bucht, der im 18. Jahrhundert unaufhaltsam zur Großmacht aufstieg, rund 250 Jahre lang neben Österreich das zweite politische Schwergewicht innerhalb des deutschen Sprachraums. Das gilt auch flächenmäßig: Zur Zeit seiner größten Ausdehnung, im Deutschen Kaiserreich von 1871 bis 1918, umfasste Preußen ein Gebiet von mehr als 348 000 Quadratkilometern. Zum Vergleich: Die gesamte heutige Bundesrepublik bringt es auf gerade mal achttausend Quadratkilometer mehr. Aber wie deutsch sind oder waren die Preußen wirklich? Und wie deutsch ist das »Preußentum«? Blickt man weit zurück in die Geschichte, so wird man überrascht feststellen, dass die Preußen ursprünglich gar keine Deutschen waren, sondern Balten, genauer gesagt, Prußen (oder Prusai, wie sie sich in ihrer eigenen Sprache nannten). Diese frühen Siedler – zwölf Stämme, die sehr unterschiedliche Mundarten sprachen – sind im Lauf der Geschichte zuerst im bunten Mischvolk Preußens, dann Deutschlands aufgegangen. Bevor im 13. Jahrhundert ihre Bekämpfung und Unterwerfung begann, erstreckte sich ihr Gebiet von der oberen Weichsel bis zur unteren Memel. Die Keimzelle Preußens gehört also tatsächlich zum Baltikum – somit ist sie eng mit den Litauern und Letten verwandt, aber eben nicht mit den Deutschen. Die erste schriftliche Erwähnung der Prußen findet sich im 10. Jahrhundert im Reisebericht eines jüdischen Kaufmanns aus Spanien, der sie dort Brus nennt. In mittelalterlichen Quellen erscheinen sie auch als Pruzzen. Allgemein wurden sie scheel beäugt, denn als Anhänger einer Naturreligion waren sie den christlich getauften Herrschern zwangsläufig suspekt. Dem polnischen Herzog Konrad von Masowien wiederum missfiel, dass ihm die keineswegs auf Partnerschaft erpichten Prußen den Zugang zum Meer versperrten – so versuchte er unter dem Vorwand der Missionierung mehrmals vergeblich, ihr Gebiet zu erobern. 1226 rief er schließlich die Ritter des Deutschen Ordens zu Hilfe, aber auch diese holten sich zunächst blutige Köpfe. Erst nach wiederholtem Anrennen gelang 1234 der erste siegreiche Feldzug, in dessen Gefolge die zwölf Stämme nach und nach im neu gegründeten Ordensstaat aufgingen. Allerdings sollte es noch ein halbes Jahrhundert dauern, bis sich die Prußen endgültig geschlagen gaben. Nach der Unterwerfung des widerspenstigen Baltenvolks öffnete der Deutsche Orden die Schleusen für Zuwanderer aus aller Herren Länder – der Beginn einer Durchmischung, wie sie für unsere gesamte Herkunft im Grunde typisch ist ( »Deutsches Volk«). Zwar konnten sich die Prußen bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts Reste ihrer Identität bewahren, doch schon etwa ab dem 15. Jahrhundert verschmolzen sie zunehmend mit Neusiedlern aus dem deutschen und polnischen Sprachraum. Seit dem 17. Jahrhundert gelten auch ihre Dialekte als ausgestorben. So viel zur Vorgeschichte der Preußen. Von Dauer war auch der gewaltsam errichtete Deutschordensstaat nicht – ab 1466 zerfiel er in diverse Herzog- und Fürstentümer, bis schließlich 1701 das Herzogtum Preußen zum Königreich erhoben wurde. Dessen Territorium lag übrigens wie der vorhergehende Staat des Deutschen Ordens außerhalb des Heiligen Römischen Reiches. Somit war Preußen ein eigener, souveräner Staat und hatte mit dem, was wir unter Deutschland verstehen, erst einmal nichts zu tun. Erst 1871, im Jahr der Reichsgründung, wurde es mit Deutschland praktisch gleichbedeutend, indem es sämtliche deutschen Staaten mit Ausnahme Österreichs unter seiner Führung vereinte. Dass die Überheblichkeit und das Großmachtgehabe der wilhelminischen Epoche auf den gesamtdeutschen Geist abfärbten, lässt sich gewiss nicht abstreiten. Wie militärtrunken und autoritätshörig viele Deutsche seinerzeit waren, führte 1906 der arbeitslose Schuster Wilhelm Voigt exemplarisch vor: Seine Besetzung des Köpenicker Rathauses als verkleideter »Hauptmann von Köpenick« ließ halb Europa zwischen Lachen und Weinen schwanken und ist als Theaterstück bis heute ein Evergreen. Mit »Preußentum« verbindet sich aber auch die Zeit der ersten Preußenkönige, Friedrich Wilhelms I. und seines Sohnes Friedrichs II. des Großen oder auch »Alter Fritz« genannt. Diese Ära des 18. Jahrhunderts hatte mit dem Hurrapatriotismus der späteren deutschen Kaiser kaum etwas gemein. Zwar baute Friedrich Wilhelm I. Preußen konsequent zur Militärmacht aus, aber zugleich lebte er seinem Volk die sprichwörtlichen Tugenden Fleiß, Gewissenhaftigkeit und Pflichtbewusstsein vor. Seinem Sohn und Nachfolger gab er als Mahnung mit auf den Weg: »Arbeiten müsst Ihr, so wie ich das beständig getan habe. Ein Regent, der in der Welt mit Ehren regieren will, muss seine Sachen alle selber machen, denn die Regenten sind zum Arbeiten geboren und nicht zum faulen Leben.« Überdies war Preußen damals eine Drehscheibe der Kulturen und die Hauptstadt Berlin ein Schmelztiegel, der die verschiedensten Volksgruppen und Sprachen in sich aufnahm. Auffallend ist besonders die deutsch-französische Mischkultur, die sich noch heute an vielen französischen Namen ablesen lässt – und natürlich an der Bulette (boulette), dem Wahrzeichen der Berliner Speisekarte. Der »Alte Fritz«, vermeintlicher Inbegriff des Preußentums, dachte, fühlte, baute und parlierte sogar mit Vorliebe französisch. Was ihn dazu trieb? Vielleicht war es der Glanz der Herrscher von Versailles, allen voran der legendäre Sonnenkönig Ludwig XIV., der diese bemerkenswerte Zuneigung beflügelte. Hinzu kam aber ganz sicher eine große Verehrung französischer Baukunst, Literatur und Philosophie – und die daraus erwachsende Widerborstigkeit gegen die Eltern, die mit alldem nicht viel im Sinn hatten. Es waren aber nicht nur Sprache und Kultur Frankreichs, die Friedrich faszinierten. So bestand sein halber Generalstab aus französischen Offizieren, und in seinem Potsdamer Schloss Sanssouci umgab er sich mit so vielen Franzosen, dass sein Gast Voltaire einmal sarkastisch bemerkte: »Majestät sind der einzige Fremde unter uns.« Selbst deutsche Namen erschienen ihm offensichtlich als zu profan: Die von Gottfried Wilhelm Leibnitz gegründete Königliche Societät der Wissenschaften wurde unter Friedrich II. zur Académie Royale des Sciences et Belles Lettres, die städtische Krankenanstalt zur Charité (wie sie heute noch heißt) und die Kadettenanstalt zur École militaire. Zusätzlichen Einfluss übte eine lang anhaltende Einwanderungswelle aus: Der protestantisch geprägte Staat Preußen war das natürliche Auffangbecken für protestantische Hugenotten, die im vorrevolutionären Frankreich verfolgt und zum Teil regelrecht massakriert wurden. Schon ab 1685 gewährte ihnen deshalb Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der »Große Kurfürst«, vor allem in Berlin dauerhaft Asyl. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts bildeten sie dort bereits eine Gemeinde von fünftausend Mitgliedern – damals ein Fünftel der gesamten Stadtbevölkerung. Ab 1701 wurde ihnen mit dem Französischen Dom am Gendarmenmarkt sogar ein eigenes Gotteshaus errichtet. Friedrich der Große setzte diese Offenheit fort und machte Preußen zum Inbegriff religiöser Toleranz, auch wenn die Juden erst zwei Generationen später ihre volle Gleichberechtigung erhielten. So heißt es in einem 1740 geschriebenen Brief (in Friedrichs typischem holprigem Deutsch): »Alle Religionen seindt gleich und guht, wan nuhr die leute, so sie profesieren, Erlige Leute seindt, und wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöplieren, so wollen wier sie Mosqueen und Kirchen bauen.« Von einer derart gelassenen Weltsicht sind so manche Politiker und Publizisten in der heutigen Bundesrepublik weit entfernt. Konsequenterweise erließ Friedrich im selben Jahr und in ebenso holpriger Schreibweise ein Edikt zum gleichen Thema: »Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden, und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der anderen abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden.« Der letzte Halbsatz dürfte jedem Leser als geflügeltes Wort bekannt sein. Und damit war keineswegs der Schlusspunkt gesetzt, auch wenn weitere Reformbestrebungen mit Friedrichs Tod (1786) vorübergehend einschliefen. Die Niederlage gegen Napoleon zwanzig Jahre später wirkte wie ein Weckruf, die Entwicklung Preußens zu einem liberalen und aufgeklärten Staat weiter voranzutreiben – bis hin zu freiheitlich-demokratischen Ansätzen. Die preußischen Reformer Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (übrigens kein gebürtiger Preuße, sondern Nassauer), Karl August von Hardenberg und Wilhelm von Humboldt waren Vordenker, deren Ideale und Ideen bis in die heutige Zeit nachwirken. Erneut gesellte sich auch der direkte französische Einfluss hinzu – nicht nur durch Napoleon, sondern auch durch einen weiteren Strom von Emigranten, der sich ab 1789 als Folge der Französischen Revolution nach Berlin ergoss. Gemeinsam mit den Hugenottenflüchtlingen waren es gerade diese französischen Einwanderer, die durch Überzeugungstreue, Sparsamkeit, Schlichtheit und Fleiß den heutigen Mythos des »Preußentums« mitbegründeten. Angesichts dieses historischen Hintergrunds reibt man sich schon etwas die Augen: Wie konnte es dazu kommen, dass »deutsch« und »preußisch« bis in die heutige Zeit so gern gleichgesetzt werden? Hat das kurzlebige wilhelminische Kaiserreich so nachhaltige Spuren hinterlassen? Oder liegt womöglich alles nur an einer verzerrten und falschen Sichtweise? Der englische Times-Korrespondent und Kolumnist Roger Boyes sieht uns moderne Deutsche jedenfalls überhaupt nicht mehr als Preußen – auch angesichts unserer heutigen Spitzenposition bei Freizeit und Urlaubstagen. Sein skeptischer Kommentar: »Tatsächlich sind viele der preußischen Tugenden längst koreanische oder einfach asiatische Tugenden.«[22] Da könnte etwas dran sein. Was die Untugenden betrifft, war man sich allerdings in der westlichen Welt nach Kriegsende vollkommen einig: typisch Preußen – also musste Preußen weg. Folgerichtig wurde der in Trümmern liegende Staat von den Siegermächten 1947 offiziell aufgelöst, auch wenn sich die Sowjetunion aus taktischen Erwägungen zunächst dagegen sträubte. Zur Begründung heißt es im Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrats, Preußen sei »seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland« gewesen. Das war – wie der australische Historiker und Preußen-Experte Christopher Clark scharfsinnig feststellt – eher ein vorgeschobenes Argument, um das Preußentum gemeinsam mit dem Nationalsozialismus beerdigen zu können und das Entstehen einer liberalen Bundesrepublik zu erleichtern.[23] Als geschichtliche Einstufung ist es viel zu grob gestrickt und wird auch den Fakten nicht gerecht – hat Preußen doch weniger Kriege geführt als etwa Frankreich oder England. Und was die politische Geografie betrifft: Hitler war bekanntlich Österreicher und lebte in Oberbayern, Göring wurde in Rosenheim im Chiemgau geboren und wuchs im gleichfalls bayerischen Nürnberg auf, Himmler stammte aus München, Hitlers Stellvertreter Heß war im Fichtelgebirge beheimatet, und die Parteizentrale der NSDAP stand bekanntlich nicht in Berlin, sondern in München. Nicht zu vergessen: Die berüchtigten Reichsparteitage fanden allesamt in Nürnberg statt. So betrachtet, hätte man auch den Freistaat Bayern auflösen können. Nun, so ist es zum Glück nicht gekommen. Bayern lebt noch, und ihm sei Dank dürfen sich die Deutschen im übrigen Teil des Landes weiterhin als Preußen fühlen (oder südlich der Donau als »Saupreißn«). Doch wir haben gesehen: So einfach, wie man oft denkt, ist dem »Preußentum« nicht beizukommen. Beschäftigt man sich intensiver damit, dann erweist es sich als genauso facettenreich, multikulturell und auch widersprüchlich wie fast alles, was in uns Deutschen und unserem Land steckt. Was unter dem Strich doch auch wieder positiv ist. [22] Quelle: Goethe-Institut. [23]Der Spiegel, 21.8.2007. Pünktlichkeit Ohaio gozaimasu[24] »Fünf Minuten vor der Zeit, das ist preußische Pünktlichkeit.« Im 19. Jahrhundert war dieser Spruch ein geflügeltes Wort – und sein Flügelrauschen scheint noch heute unser nationales Selbstverständnis zu durchwehen. Kommt das Gespräch auf die typisch preußischen (mithin deutschen) Tugenden, dann kann man fast darauf wetten, dass unter anderem das Stichwort »Pünktlichkeit« fällt. Und auch wenn man sich im Ausland umhört, wird es bei der Aufzählung der deutschen Charaktereigenschaften selten ausgelassen. Aber ist das nicht längst ein Klischee? Oder sind wir tatsächlich noch immer die verbiesterten Pünktlichkeitsfanatiker, als die wir in weiten Teilen der Welt gesehen werden? Je nachdem. Denn natürlich kommt es immer darauf an, mit wem man sich vergleicht. Dass wir Mexiko oder die Dominikanische Republik – wie überhaupt fast ganz Lateinamerika – in Sachen Pünktlichkeit locker schlagen: Wer hätte es bezweifelt! Und dass auch eine Reihe anderer Länder, in denen Zeit eine untergeordnete Rolle spielt, unseren minutiösen Umgang damit bestaunen (oder auch belächeln): geschenkt. Dann aber gibt es auch wieder Nationen, die uns in dieser Beziehung geradezu für wurstig halten müssen. Nehmen wir als klassisches Beispiel den Schienenverkehr: Nach langem Zaudern und Sich-Winden veröffentlichte die Deutsche Bahn – zu Kaisers Zeiten der Inbegriff präzise eingehaltener Fahrpläne – im September 2011 ihre erste Pünktlichkeitsstatistik, mit bekanntem Ergebnis: Gegenüber den Vorjahren ist die ohnehin schon gefühlt hohe Verspätungshäufigkeit der Züge nicht etwa gesunken, sondern weiter gestiegen. Gerade mal 80,9 betrug demnach die Pünktlichkeitsquote von Fernzügen im Auswertungszeitraum von 16 Wochen – somit hatte sich jede fünfte Ankunft verspätet. Auswertungen des Verkehrsclubs Deutschland (VCD) ergaben sogar nur magere 67,2 Prozent. Nota bene: Als »pünktlich« gilt ein Zug bei der Deutschen Bahn auch noch dann, wenn er höchstens 5:59 min hinter dem Plan herschnauft. Rechnet man den Regionalverkehr hinzu, dann ergibt sich nach dieser Lesart laut Deutscher Bahn eine Pünktlichkeitsquote von insgesamt 93,2 Prozent. So zurechtfrisiert klingt der Wert durchaus wieder ganz passabel. Im folgenden Zwölf-Monats-Zeitraum bis August 2012 konnte er sogar ein knappes Prozentpünktchen drauflegen – die Quote stieg um 0,92 auf 94,12 Prozent. Aber: Tief im Südwesten gibt es ein Land, in dem man über solche Zahlenakrobatik nur milde lächeln kann. Die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB) setzen nämlich schon das Kriterium für Pünktlichkeit ganz anders an und tolerieren höchstens 2:59 min Verspätung. Nach diesem Maßstab liegt die Schweiz in Europa mit Abstand an der Spitze: Im krassen Gegensatz zur Deutschen Bahn meldete SBB-Chef Andreas Meyer im September 2011 einen Rekord von 91,6 Prozent pünktlich angekommener Züge – das entspricht einer Steigerung um 2,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr, wenngleich die Quote 2012 wieder auf 88 Prozent sank. Auch die Österreichische Bundesbahn, die Nederlandse Spoorwegen und selbst Kandidaten, denen man es nicht zutrauen würde – wie die italienischen Ferrovie dello Stato, die spanische RENFE und die französische SNCF –, können bessere Pünktlichkeitswerte vorweisen als die DB. Aus globaler Sicht ergibt sich wieder ein anderes Bild, aber es widerlegt ebenfalls das überlieferte Preußen-Klischee: Das pünktlichste Volk der Welt sind keineswegs die Deutschen, auch nicht etwa die Schweizer – sondern mit Abstand die Japaner. In keinem anderen Land der Welt wird so viel Wert auf Pünktlichkeit gelegt, ja geradezu ein Kult darum getrieben. Japanische Busse und Bahnen fahren auf die Minute genau, und das in aller Regel zu 100 Prozent. Sollte es dennoch mal eine kurze Verzögerung geben, entschuldigt sich der Zugführer persönlich und demutsvoll bei den Fahrgästen. Und kurz bedeutet im Land der aufgehenden Sonne wirklich »kurz«: Mehr als 45 Sekunden Verspätung sind für den Schuldigen schon fast ein Grund, Harakiri zu begehen. Da blutet die Deutsche Bahn doch lieber finanziell – wie im Jahr 2011, als sie allein dem Freistaat Bayern die Rekordsumme von über 20 Millionen Euro als Strafgeld für Verspätungen überweisen musste. Auch im Arbeits- und Geschäftsleben macht den Japanern in Sachen Pünktlichkeit niemand etwas vor. Auf die Minute genau zu einer Verabredung oder am Arbeitsplatz zu erscheinen gilt bereits als unhöflich: Wer sich zu benehmen weiß, ist in aller Regel fünf oder zehn Minuten vorher da. Und schon bei fünf Minuten Terminüberschreitung wird es hochgradig peinlich – dann gebietet die Etikette unbedingt eine Entschuldigung. Manche Betriebe stellen ihre Uhren sogar um fünf Minuten vor, um diese Gefahr bei ihren Mitarbeitern gar nicht erst aufkommen zu lassen. So gesehen, sind die Japaner die wahren Preußen dieser Welt. Daher wundert es nicht, dass auch japanische Fluglinien und Flughäfen in globalen Vergleichsstatistiken regelmäßig auf den vorderen Plätzen landen. Der amerikanische Dienstleister Flightstats, der alljährlich die Pünktlichkeit aller Airlines weltweit auswertet, listete Japan Airlines (JAL) 2012 zum dritten Mal in Folge als Spitzenreiter auf, und All Nippon Airways (ANA) lag nur knapp dahinter: Erstere schaffte eine Pünktlichkeitsquote von über 90 Prozent, ANA erreichte immerhin noch über 88 Prozent. Unsere stolze Kranich-Linie: abgeschlagen auf Platz zehn – wohingegen sich die schwedische SAS mit den Japanern ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefert und damit immerhin die pünktlichste internationale Airline Europas ist. Nummer eins der innereuropäischen Regionalfluglinien war 2012 übrigens die kaum bekannte griechische (!) Gesellschaft Aegean Airlines, dicht gefolgt von der spanischen NAYSA, die im Auftrag von Binter Canarias von Gran Canaria aus operiert. In dieser Kategorie schaffte es als einziger deutscher Konkurrent die Lufthansa-Tochter German Wings in die Top Ten. Bei den internationalen Airports auf Platz eins der Weltrangliste: Seattle- Tacoma im US-Staat Washington. Als pünktlichster deutscher Konkurrent rangiert München hier abgeschlagen auf Platz acht. Bei den innerasiatischen Flughäfen haben mit Tokio-Haneda wiederum die Japaner die Nase vorn. Überhaupt scheint Pünktlichkeit in ganz Ostasien ein beliebter Volkssport zu sein. Als pünktlichste (und nebenbei auch sauberste) U-Bahn der Welt gilt zum Beispiel die Mass Rapid Transit (MRT) in Singapur. Und die Flughäfen von Singapur, Seoul und Bangkok rangieren in den Hitlisten der internationalen Vergleiche weit oben – ebenso wie deren Luftfahrtgesellschaften. In dieser Liga spielen wir stets nur auf den hinteren Plätzen mit. Mehr noch: Bekanntlich hat es ausgerechnet deutsche Ingenieurs-, Verwaltungs- und Planungskunst geschafft, in Brandenburg den unpünktlichsten Flughafen aller Zeiten in den märkischen Sand zu setzen. Was also ist los mit uns Deutschen? Vielleicht haben wir uns der Pünktlichkeit einfach etwas entfremdet. Seit dem Wertewandel, der in den späten Sechziger- und Siebzigerjahren stattgefunden hat, scheint sie bei uns keinen so guten Ruf mehr zu genießen wie früher. Eingedenk dessen, dass einige Jahrzehnte zuvor präzise »seit 5:45 Uhr zurückgeschossen« wurde, klebte man ihr folgerichtig das Etikett einer Sekundärtugend auf, die – ebenso wie Disziplin, Fleiß, Treue oder Gehorsam – für sich genommen nicht viel bedeutet. Und etwas davon scheint haften geblieben zu sein, auch wenn zum heutigen deutschen Zeitgeist eher die Einstufung als »uncool« passt. So ergab 2011 eine europäische Vergleichsstudie der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), dass nur 18 Prozent der Deutschen bei Verabredungen Wert auf Pünktlichkeit legen. Das Gegenstück dazu sind neben den Österreichern ausgerechnet die oft als schlampig verschrienen Russen und Italiener: Hier waren es jeweils 88 Prozent, die sich für die exakte Einhaltung von Terminen aussprachen. Eine frühere Studie zeigte, dass auch deutsche Manager bei Geschäftsterminen durchaus mal fünf oder fünfzehn Minuten gerade sein lassen. Woanders wäre das ein Unding. Nicht nur in Japan, sondern auch in China, den USA, der deutschsprachigen Schweiz und den skandinavischen Ländern, ja selbst in Norditalien ist jede Verspätung verpönt – wer sichergehen will, erscheint besser ein paar Minuten zu früh. Andererseits: Muss es uns Deutsche wirklich bekümmern, dass diese unsere vermeintliche Kardinaltugend offenbar leichte Symptome von Schwindsucht aufweist? Man kann das alles ja auch positiv interpretieren. Wie es aussieht, wird unser Zeitgefühl nicht mehr von preußischem Dalli-dalli und Zackzack dominiert, sondern es gönnt sich heute etwas mehr Gelassenheit. Auch in dieser Beziehung ist Deutschland internationaler geworden. Wir haben mediterrane Einflüsse aufgesogen, können dolce far niente fehlerfrei aussprechen und auch praktizieren, haben das mexikanische Allzweckwort mañana vor Ort geduldig akzeptiert und in Thailand bestaunt, dass sogar zwei verschiedene Zeiten friedlich koexistieren können. Ach, ihr Japaner! Der Pünktlichkeitsweltrekord sei euch gern gegönnt, wir streben ihn ja gar nicht an. Aber vielleicht könnt ihr wenigstens der Deutschen Bahn etwas Entwicklungshilfe leisten – und ihr verraten, wie man nicht vier, sondern fünf von fünf Zügen planmäßig ankommen lässt. [24] »Guten Morgen« auf Japanisch. Sauerkraut Ein Gedicht aus Fernost Liebe geht durch den Magen, heißt es – und unser deutsches Nationalgericht scheint ganz besonders dazu angetan, vom Verdauungstrakt aus in direkter Linie das Herz in Wallung zu bringen. Schon bei Heinrich Heine weckt es starke lyrische Gefühle: Der Tisch war gedeckt. Hier fand ich ganz Die altgermanische Küche. Sei mir gegrüßt, mein Sauerkraut, Holdselig sind deine Gerüche! Heines Zeitgenosse Ludwig Uhland lässt sich ebenfalls hinreißen und schwärmt voller Inbrunst: Auch unser edles Sauerkraut, wir wollens nicht vergessen, ein Deutscher hat’s zuerst gebaut, drum ist’s ein deutsches Essen. Und Altmeister Wilhelm Busch wird eine Generation später geradezu philosophisch: Denn nur der ist wirklich weise, Der auch in die Zukunft schaut. Denk an deine Lieblingsspeise: Schweinekopf mit Sauerkraut. Eine so enge Nachbarschaft von Gericht und Gedicht – das lässt tief in die Volksseele blicken. Und damit ist der literarische Krautvorrat noch lange nicht erschöpft: Ungereimt findet sich das Wort in Tausenden von Texten unterschiedlicher Autoren aus den verschiedensten Jahrhunderten. Es scheint wirklich so, dass wir Deutsche zu unserem Sauerkraut ein äußerst inniges Verhältnis haben. Aber ist es wirklich »unser« Sauerkraut? Oder teilen wir die Leidenschaft für vergorenen Weißkohl womöglich mit anderen Nationen? Sehen wir einmal genauer hin. Historisch betrachtet, zeigt sich als Erstes, dass Herrn Uhland postum eine Illusion geraubt werden muss. »Ein Deutscher hat’s zuerst gebaut«: Das trifft um einige tausend Kilometer daneben und zeigt, dass deutsche Dichter im 19. Jahrhundert von der weiten Welt offensichtlich noch nicht viel wussten. Richtig ist: Das Verfahren, Gemüse durch Milchsäuregärung haltbar zu machen, wird schon seit Urzeiten in den verschiedensten Regionen der Welt angewandt. Die Sumerer nutzten es vor rund sechstausend Jahren erstmals zum Konservieren von Milch, im antiken Griechenland kannte man es ebenso wie im Römischen Reich. Die meisten Küchenhistoriker sind sich jedoch einig, dass die Ursprünge unseres heutigen Sauerkrauts nicht in Europa zu suchen sind, sondern in Ostasien. In seiner Kulturgeschichte der deutschen Küche bestätigt der Restaurantkritiker Peter Peter: »Es spricht einiges dafür, dass das mit Milchsäuregärung fermentierte geschredderte Weißkraut auf koreanisches kimchi oder chinesisches suan cai zurückgeht.« Beides ist übrigens noch heute fester Bestandteil der fernöstlichen Küche. Im 13. Jahrhundert, so wird vermutet, könnten diese Spezialitäten mit der Ausdehnung des Mongolenreichs nach Osteuropa gelangt sein. In der Schlacht bei Liegnitz (Legnica) im heutigen Polen gelang es den Truppen des mongolischen Feldherrn Batu Khan 1241 sogar, sich fast ein Jahr lang in unserer unmittelbaren Nachbarschaft festzusetzen. So verbreitete sich die Kunst des Krauteinlegens wahrscheinlich zunächst im baltischen und slawischen Sprachraum und wanderte dann Zug um Zug nach Westen. Heute kennt und schätzt man Sauerkraut in vielen Ländern Ost- und Mitteleuropas, es ist also keineswegs nur ein deutsches Phänomen. In Tschechien wird es als kyselé zelí genossen, in Polen als kiszona kapusta, in Ungarn als savanyú káposzta, in Serbien als kiselo zelje, in Rumänien als sarmale. Szegediner Gulasch ohne Sauerkraut ist unvorstellbar, ebenso wenig die tschechische Kalorienbombe vepřo knedlo zelo (Schweinebraten mit Knödeln und Kraut) oder das polnisch-litauische Nationalgericht bigos. Auch die Westwanderung des Sauerkrauts war kaum zu stoppen – so gelangte es über Deutschland hinaus bis nach Frankreich und in die Beneluxländer (niederländisch zuurkool, französisch choucroute, elsässisch Sürkrüt). Selbst über den Atlantik hinweg hat es das Sauerkraut geschafft, sodass sein Verzehr in den USA heute kaum hinter dem hiesigen zurücksteht. Die Kleinstadt Ackley in Iowa veranstaltet sogar einen regelrechten Kult um das beliebte Gemüse: Jedes Jahr im Juni findet dort ein viertägiges Fest statt, die Sauerkraut Days, bei dem unter anderem Little Miss and Mr. Sauerkraut sowie eine Sauerkraut Queen gekürt werden. Diese Tradition besteht schon seit 1902. Wo, bitte, gibt es etwas Vergleichbares in Deutschland? Und nicht nur der Kult fehlt hierzulande, sondern auch die Starrolle: Sauerkraut ist niemals Hauptgericht, stattdessen duckt es sich bescheiden als Sättigungsbeilage hinter Fleisch und Wurst – ganz im Gegensatz etwa zum Spargel oder zum Grünkohl. Sauerkraut mit Eisbein? Undenkbar. Umgekehrt wird ein Schuh bzw. ein Gericht daraus. Oder schlagen wir nach bei Wilhelm Busch: Im Haus der Witwe Bolte stehen selbstverständlich gebratene Hühner im Mittelpunkt, während die alte Dame von dem »Sauerkohle« ebenfalls nur eine Portion als Beilage aus dem Keller holt. Ganz anders beim Hochzeitsessen des fetten Schmöck aus der Frommen Helene, der sich – in genau dieser Reihenfolge – an »Spargel, Schinken, Koteletts« delektiert. Da kommt das Edelgemüse an erster Stelle. Wo aber steht das Sauerkraut prominent im Mittelpunkt der Tafel? Im Elsass, also in Frankreich! Was zeigt, dass auch unsere westlichen Nachbarn, Erfinder und Bannerträger der gehobenen Küche, einem kräftig-deftigen Essen alles andere als abgeneigt sind. Typisch ist die Choucroute garnie – ein Sattmacher, zu dem traditionell viel Fleisch, Frankfurter und Straßburger Würste sowie Würste aus Montbéliard gehören. Die Krönung der Schlemmerei bildet eine teure Spezialität, die selbst von Gourmets in Paris geschätzt wird: Choucroute royale, zubereitet aus verschiedenen Sauerkrautsorten, reich mit Rauchfleisch, Würsten, Speck und Leberklößchen garniert und ohne anschließenden Magenbitter kaum zu überstehen. Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass südlich von Straßburg sogar eine Route de la choucroute existiert – ein rund 18 Kilometer langes Stück Landstraße zwischen Benfeld und Krautergersheim (!), an dem entlang sich die besten Sauerkrautrestaurants der Region befinden. Insgesamt zieht sich dieser Choucroute-Gürtel, aus dem 75 Prozent des in Frankreich hergestellten Sauerkrauts stammen, bis weit nach Süden ins Département Haute-Savoie hinein. Den höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Sauerkraut haben denn auch keineswegs die Deutschen, sondern tatsächlich die Franzosen. Wie aber konnte sich das Klischee von den Deutschen als Sauerkrautessern so weit und hartnäckig verbreiten? Schuld ist womöglich die Standard-Marschverpflegung der kaiserlichen Armee im Ersten Weltkrieg. Damals wurden deutsche Soldaten von den Briten als »Krauts« bespöttelt, weil sie stets gekochtes Sauerkraut in Dosen im Gepäck hatten. Ein nahrhafter und vitaminreicher Proviant – von daher also durchaus vernünftig –, aber für den britischen Normgeschmack mangels Fettig- und Fischigkeit wahrscheinlich doch eher eine kulinarische Verirrung. So nistete sich der Begriff »Kraut« erfolgreich im Sprachgebrauch ein, überdauerte einen weiteren Weltkrieg und ist offenbar für alle Zeiten nicht totzukriegen. 1968 soll ihn der BBC-Radiomoderator John Peel, bürgerlich John Robert Parker Ravenscroft (1939 – 2004), sogar für eine weitere Wortschöpfung genutzt haben: »Krautrock« – angeblich inspiriert durch den Titel Mama Düül und ihre Sauerkrautband spielt auf von der deutschen Band Amon Düül. Gesicherte Belege für diese Story gibt es nicht, aber immerhin: »Krautrock« hat sich seit Beginn der Siebzigerjahre auch hierzulande als selbstironische Genre- Bezeichnung für deutsche Rockmusik eingebürgert. In der Tat, Kraut rocks – sei es auf Vinyl- oder Porzellanplatten. Lassen wir es uns also, gemeinsam mit unseren europäischen und amerikanischen Tischgenossen, auch weiterhin gut schmecken. Schrebergarten Querbeet durch Europa Ein paar Obstbäume, ein Stück Rasen, eingerahmt von Blumen- und Gemüsebeeten in einträchtigem Nebeneinander, dazu eine Laube mit Veranda und ringsherum eine Buchsbaumhecke. So sieht des Deutschen kleines grünes Paradies aus. Und es ist nicht nur grün, sondern auch wirklich sehr deutsch – oder? Gehört doch Gartenarbeit zu den bevorzugten Hobbys der Bundesbürger. Über 40 Prozent geben sie als Favoriten unter ihren Freizeitbeschäftigungen an, womit sie nach dem Fernsehen immerhin auf Platz zwei rangiert. Auch sonst kann die Laubenpieperei mit eindrucksvollen Zahlen aufwarten. Rund eine Million Kleingärten mit einer Gesamtfläche von 466 Quadratkilometern gibt es auf deutschem Boden, organisiert in 15 000 Kleingartenvereinen, die wiederum den 20 Landesverbänden des Bundesverbandes Deutscher Gartenfreunde e.V. (BDG) angehören. Weltmeisterlich! Die Beliebtheit der Kleingärten wächst neuerdings sogar wieder: Vor nicht allzu langer Zeit noch als spießig verschrien, verzeichnen sie seit einigen Jahren steigenden Zulauf – auch und gerade bei jüngeren Zeitgenossen. Das kleine Glück auf der eigenen Parzelle scheint gerade heute, nicht zuletzt beflügelt durch die Ökobewegung, wieder voll im Trend zu liegen. Vier von zehn Kleingartenvereinen führen inzwischen sogar Wartelisten, weil die Interessenten Schlange stehen, zumindest in größeren Städten. Und wie steht man im Ausland dazu? Vielleicht nicht in der Warteschlange, aber doch weitgehend fest an unserer Seite. Denn siehe da: Kleingärten sind weder eine deutsche Erfindung, noch beschränken sie sich auf Deutschland. Im Gegenteil, sie sind nahezu ein europaweites Phänomen und teilweise sogar auf anderen Kontinenten zu finden – zum Beispiel in Japan, den USA und neuerdings (mit deutscher Entwicklungshilfe) auf den Philippinen. Übrigens haben sie auch nicht viel mit ihrem unfreiwilligen Namensgeber Moritz Schreber zu tun. Die sogenannten »Schrebergärten« sind erst drei Jahre nach Schrebers Tod entstanden. Falls das keine Überraschung ist, so dürfte die folgende Information eine sein: Relativ gesehen gibt es nicht etwa in Deutschland die meisten Kleingärten, sondern in einem Zwergstaat, dem man so viel Blumen- und Gemüsebeetfläche gar nicht zugetraut hätte – nämlich Luxemburg. Der Anteil der Kleingartenpächter an der Gesamtbevölkerung ist dort fast viermal so hoch wie bei uns und markiert damit einen einsamen Rekord. Insgesamt zählt der 1928 gegründete luxemburgische Kleingartenverband Ligue Luxembourgeoise du Coin de Terre et du Foyer rund 25 000 Mitglieder. Selbst in absoluten Zahlen sind die deutschen Kleingärtner nicht alleinige Weltmeister, sondern müssen sich den Podiumsplatz teilen. Auch Polen spielt nämlich ganz oben in der Liga und liegt praktisch gleichauf mit Deutschland. Insgesamt sind in unserem östlichen Nachbarland, ebenso wie bei uns, rund eine Million Kleingärtner in Vereinen organisiert. Kaum verwunderlich also, dass die polnische Kleingärtnerei auf eine ähnlich lange Geschichte zurückblicken kann wie die deutsche, nämlich bis zum Jahr 1823. Die damals in dem Städtchen Koźmin Wielkopolski entstandenen ersten Parzellen sind noch heute in Betrieb. Ein Regelwerk verpasste man dem Kleingartenwesen allerdings erst 1897, als die Anlage Kąpiele Słoneczne im damaligen Graudenz (heute Grudziądz) gegründet wurde. Es war der Beginn einer Vereinstradition, der auch drei Kriege und mehrere Jahrzehnte kommunistischer Diktatur wenig anhaben konnten. Im Zuge der Solidarność-Bewegung wurden 1981 schließlich ein neues, bis heute gültiges Kleingartengesetz verabschiedet und eine unabhängige Organisation gegründet: der Polnische Kleingärtnerverband (Polski Zwiazek Dzialkówow). Die eigentlichen Ursprünge des Kleingartenwesens liegen allerdings nicht im 19. Jahrhundert, sondern reichen noch wesentlich weiter zurück. Gräbt man in der Geschichte nach den Wurzeln, dann stößt man nach einigem Suchen auf Großbritannien und die Zeit der Reformation. In jenen Jahren wurde viel kirchlicher Landbesitz von der britischen Krone konfisziert und Angehörigen des Adels zugeteilt. Diese hatten nichts Eiligeres zu tun, als die zuvor frei zugänglichen Ländereien einzuzäunen und das Betreten zu verbieten – mit dem Ergebnis, dass Tausende in Armut lebende Menschen ihre kleinen Beete verloren und nun erst recht am Hungertuch nagten. Um ihre Not etwas zu lindern, wurden ihnen zum Ausgleich kleine Gartenanteile in Pacht zugewiesen. Aus dieser Zeit – dem späten 16. Jahrhundert – stammt die erste historische Erwähnung von Kleingärten (allotments), die somit als originär britische Errungenschaft gelten können. In den folgenden Jahrhunderten gab es diverse sogenannte Enclosure Acts, die das Umzäunen von Landbesitz regelten – meist zuungunsten der Allgemeinheit. Erst 1845 wurde ein Gesetz beschlossen, das den Interessen der armen Bevölkerung wieder mehr Platz einräumte. Mit der Bereitstellung von field gardens, die maximal ¼ Acre (rund 1000 m2) groß waren, wurde der Grundstein des heutigen britischen Kleingartenwesens gelegt – auch wenn damals von 615 000 Acres eingezäunten Grundbesitzes tatsächlich nur magere 2200 für Kleingärten abfielen. Weil das beim besten Willen kein Glanzlicht war, erließ die britische Regierung in der Folgezeit eine Reihe weiterer Gesetze. Als wichtigstes ist der Allotment Act von 1887 zu nennen, der alle Gemeinden verpflichtete, bei vorhandenem Bedarf Grund und Boden für Kleingärten zur Verfügung zu stellen. 1907 und 1908 schlossen sich verfeinerte Bestimmungen an, die das Kleingartenwesen – ähnlich wie später in Deutschland – Schritt für Schritt auf eine stabile Rechtsgrundlage stellten. In den zwei Weltkriegen erwiesen sich die allotments aufgrund knapper Nahrungsmittel für viele Briten sogar als überlebenswichtig. Nach überstandener Blood-Sweat-and-Tears-Zeit ließ das Interesse an der Gärtnerei allerdings stark nach; nur in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts erlebte es noch einmal eine kurze Renaissance. Heute haben die britischen Kleingartenvereine insgesamt noch rund hunderttausend Mitglieder. Auch die deutsche Kleingärtnerei dürfte von jenseits des Kanals inspiriert worden sein – ihre Ursprünge hat sie jedoch, will man historisch korrekt sein, in Dänemark. Im seinerzeit dänischen Kappeln nämlich, das heute zu Schleswig- Holstein gehört, entstanden 1806 die ersten sogenannten »Armengärten« als Vorläufer der heutigen Kleingärten. Wie der Name sagt, waren diese Einrichtungen von einem Freizeithobby noch weit entfernt. Hinter ihnen stand vielmehr die dringende Notwendigkeit, dem hungernden Prekariat eine Möglichkeit zur Selbstversorgung zu bieten. Es war der Landgraf Carl von Hessen-Kassel, königlich dänischer Statthalter der Herzogtümer Schleswig und Holstein, der die Initiative ergriff und auf dem »Dothmarker Feld« 32 Parzellen an Bedürftige zur Bewirtschaftung vergab. Nach seinem Vorbild stellte später auch der Pastor der Gemeinde Kappeln einen Teil der Kirchengrundstücke »Lütjefeld« und »Scheunefeld« als Gartenland zur Verfügung. Insgesamt waren es 48 Parzellen, die für geringes Geld gepachtet werden konnten. Diese beiden Kleingartenkolonien waren bereits vereinsmäßig organisiert, hatten vier gewählte Vorsteher und eine festgeschriebene Ordnung. Die im Pachtvertrag vom 28. April 1814 enthaltenen Bedingungen und Vorgaben sind im Wesentlichen sogar in das Bundeskleingartengesetz eingeflossen und bilden damit noch heute die Grundlage des deutschen Kleingartenwesens. Im Jahr 1900 entstand die Idee zu einer weiteren Initiative, diesmal nach französischem Vorbild. In jenem Jahr reiste der preußische Regierungsrat Alwin Bielefeldt zur Weltausstellung nach Paris, wo er den Jesuitenpater Felix Volpette traf. Volpette hatte in der Stadt St. Etienne ein interessantes soziales Projekt in Form von Kleingärten für Arbeiter (jardins ouvriers) verwirklicht. Bielefeldt als Gartenfreund war davon begeistert, tat sich mit dem Roten Kreuz zusammen und gründete 1901 die »Arbeitergärten« in der Berliner Jungfernheide, mit zunächst 84 Parzellen. Der Grund und Boden dafür wurde vom Land Berlin bereitgestellt. Bielefeldts Idee kam über die Maßen gut an und machte auch andernorts Schule. Zehn Jahre später gab es in ganz Deutschland schon rund 30 000 Arbeitergärten. Die sogenannten Schrebergärten wiederum gehen auf eine ganz andere Wurzel zurück. Sie tragen zwar den Namen des Leipziger Arztes und Hochschullehrers Dr. Daniel Gottlieb Moritz Schreber (1808 – 1861), aber er hat sie, wie eingangs erwähnt, weder erfunden noch initiiert. Schrebers Ziel war es vielmehr, den Leipziger Großstadtkindern im Schatten der Mietskasernen angemessene Sport- und Spielmöglichkeiten zu verschaffen. Erreicht wurde es allerdings erst postum: 1864 griff der Reformpädagoge und Schuldirektor Ernst Innozenz Hauschild die Idee auf und fand dafür im Leipziger Bürgertum über 250 Mitstreiterinnen und Mitstreiter. Gemeinsam mit ihnen gründete er einen Verein, den er zu Ehren seines verstorbenen Kollegen »Schreberverein« taufte, und legte eine Spielwiese am Leipziger Johannapark an – den heute nicht mehr vorhandenen »Schreberplatz«. Erst vier Jahre danach begann die Idee einer Gartenanlage zu keimen, wie man sie heute üblicherweise mit dem Namen Schreber verbindet: 1868 pachtete der Schreberverein vier brachliegende Äcker, auf denen der Oberlehrer und Hobbygärtner Heinrich Karl Gesell gemeinsam mit seinen Schulkindern kleine Beete anlegte. Allerdings musste er die Erfahrung machen, dass Kinder kaum die Geduld aufbringen, Pflanzen beim Wachsen zuzusehen. So verloren die Kleinen bald die Lust an der Gärtnerei. Umso mehr Interesse zeigten dagegen die Eltern. Sie halfen bei der Bepflanzung und Pflege mit, übernahmen die Gärten schließlich ganz und zäunten ihre Grundstücke nach und nach ein. Ein Jahr später umfasste die Kolonie schon rund hundert Parzellen, die nun »Schrebergärten« genannt wurden. In den Folgejahren entstanden in Leipzig weitere Schreberanlagen nach dem Vorbild der ersten, also Spielplätze im Verbund mit Kleingärten. 1921 organisierten sich alle Schrebervereine gemeinsam mit den Arbeitergärten im neu gegründeten »Reichsverband der Kleingartenvereine Deutschlands«, dem Vorläufer des heutigen BDG. Die historische Kleingartenanlage »Dr. Schreber«, die im Mai 1876 eingerichtet wurde, steht heute unter Denkmalschutz und beherbergt seit 1996 das Deutsche Kleingärtnermuseum. In den mageren Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in vielen Ländern Europas neue Kleingartengebiete ausgewiesen und Vereine gegründet, um die Versorgungslage der Bevölkerung mit frischen Lebensmitteln zu verbessern. Die weitaus meisten von ihnen gehören heute dem Office International du Coin de Terre et des Jardins Familiaux an, das 1926 gegründet wurde und – wen wundert’s – seinen Sitz im Kleingartenmekka Luxemburg hat. Als größte europäische Dachorganisation von Kleingartenverbänden bildet das Office International die Interessenvertretung für rund drei Millionen Kleingärtner und Kleingärtnerfamilien aus insgesamt 15 Ländern: Belgien, Dänemark, Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Österreich, Polen, der Slowakei, aus Schweden, der Schweiz und Japan (dessen Verband Association for Japan Allotment Garden seit 2006 angeschlossen ist). Nun könnten wir Deutschen natürlich einen Trick anwenden, um uns in diesem Feld doch noch an die Spitze zu katapultieren: Zählen wir einfach die ostdeutschen Datschen mit – dann ist uns der Titel des Gartenweltmeisters kaum zu nehmen. Allenfalls von den Russen. Skat Spielend gelungene Integration »Skat ist das Beste von all Germany«, lässt Theodor Fontane 1893 seinen radebrechenden »Mister Robinson« in dem Roman Frau Jenny Treibel sagen. Und der legendäre Humorist Heinz Erhardt hat dem deutschen Leib-und- Magen-Spiel in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit seiner »Skat- Polka« sogar ein musikalisches Denkmal gesetzt: Was wär’ das Leben ohne Skat? Es wäre öd und blöd und fad. Wir dreschen Karten, daß es kracht, bis in die Nacht, bis in die Nacht. Diese Zeilen werden auch viele seiner heutigen Landsleute mit Sicherheit unterschreiben. Was soll man auch sonst machen, wenn man (Mann!) zu dritt zusammenhockt, es nichts Neues gibt, aber ein Set mit 32 Spielkarten verfügbar ist? Klar, ein paar Runden Skat kloppen – ein urdeutscher Reflex, der allen, die das Spiel beherrschen, ein weitgehend langeweilefreies Leben garantiert. Und Politikern, die ihre Skatleidenschaft öffentlich zelebrieren, nebenbei den zuverlässigen Ausweis von Volksnähe. Aber auch wenn Skat für viele »das Beste« sein mag – made in Germany ist es nur teilweise. Das Deutsche an ihm beschränkt sich auf die um 1813 erstmals aufgestellten Regeln; fast alles andere ist im Lauf der Zeit zu uns eingewandert. Schon der Name »Skat« hat keine germanischen, sondern mediterrane Wurzeln. Sein direkter Vorläufer ist das italienische Wort scarto, was so viel wie »Wegwerfen« oder »Ablegen« (von Spielkarten) bedeutet. Die ursprüngliche Form des Lehnworts hat sich in der noch heute in Tirol gebräuchlichen Zusammensetzung »Scartkarte« erhalten. Geht man noch weiter in der Historie zurück, dann kommt man über das italienische carta zum lateinischen charta, auf Deutsch »Papier«. Dieses wiederum geht auf das griechische chártēs (»Papyrusblatt«) zurück und stammt wohl in letzter Konsequenz aus Ägypten. Heiliger Pharao! Das Beste von all Germany kommt also in Wirklichkeit vom Nil? Es sieht ganz so aus – und nicht nur, was das Wort betrifft. Auch das Kartenspiel als solches ist (wie so viele Kulturgüter) aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem fernen Morgenland nach Europa gelangt. Araber oder Ägypter könnten es importiert haben, vielleicht auch europäische Orientreisende, die es in den betreffenden Ländern kennenlernten. Fest steht jedenfalls, dass Spielkarten seit Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa bekannt sind. Erstmals werden sie 1367 in Bern schriftlich erwähnt, und gleich im Zusammenhang mit einem Verbot – denn wie das Würfelspiel hatte auch das Kartenspiel von jeher einen schlechten Ruf. »Gebetbuch des Teufels« nannte man damals das Kartenset. Als solches musste es der Obrigkeit, besonders aber dem Klerus, zwangsläufig ein Dorn im Auge sein. Doch das Kartenspielen hatte offenbar auch seinen teuflischen Reiz, und so breitete es sich schnell über den ganzen Kontinent aus. 1370 taucht in Spanien und Portugal erstmals das Wort naipe (Spielkarte) auf, dessen Herkunft nicht gesichert ist; wenig später finden sich Belege auch in Italien und Deutschland. Im Lauf der Zeit entwickelten sich aus den anfangs handbemalten Spielkarten verschiedene Symbolsysteme, wobei die französische Variante mit Herz, Karo, Pik und Kreuz (in Österreich Treff nach trèfle, dem französischen Wort für Klee) nach und nach die Oberhand gewann. Skat, wie wir es heute kennen, vereint in sich Regeln und Symbole aus drei zum Teil sehr viel älteren Kartenspielen: dem spanischen El Hombre, dem daraus abgeleiteten deutschen Schafkopf und dem französischen Tarot. Das älteste von ihnen, El Hombre (»der Mann«), stammt wahrscheinlich aus der abendländischen Frühzeit des Kartenspiels im 14. oder 15. Jahrhundert. Auf dem Umweg über den französischen Hof fand es später als L’hombre Eingang in ganz Europa – wie Skat ein Spiel für drei Personen, allerdings mit so komplizierten Regeln, dass die breite Masse damit kaum zurechtkam. So blieb L’hombre ein Privileg höherer Stände, das sich aber in Deutschland und Dänemark bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hielt. Das genaue Gegenteil davon, nämlich ein bodenständiges und volkstümliches Spiel, ist Schafkopf – sozusagen die Arme-Leute-Version von El Hombre. Als Wendischer Schafkopf war es ursprünglich im Erzgebirge und im Thüringer Wald angesiedelt. Seine erste schriftliche Erwähnung findet sich 1782 in einem sächsischen Bußgeldkatalog (wo sonst!), der es aber ausdrücklich von den Glücksspielen ausnimmt und deshalb im Gegensatz zu anderen Kartenspielen erlaubt. Heute ist Schafkopf am stärksten verbreitet in Bayern, wo es auf der Beliebtheitsskala weit vor Skat rangiert. Das französische Tarot (im Deutschen Tarock, im Italienischen Tarocchi) ist erstmals am Anfang des 16. Jahrhunderts schriftlich bezeugt und stellt eine Weiterentwicklung des italienischen Kartenspiels Trionfi dar (übrigens der direkte Ahn des deutschen Wortes »Trümpfe«). Dem italienischen Tarocchi- Vokabular entstammt auch der Begriff scarto als Vorläufer des Skat, denn hier wie dort geht es ja – unter anderem – um das Weglegen von Karten. Im 18. Jahrhundert eroberte das Tarotspiel zahlreiche europäische Länder, doch mit der Zeit schwanden das Interesse und damit das Tarot als Gesellschaftsspiel. Heute werden Tarotkarten mit ihren zahlreichen mystischen Symbolen praktisch nur noch zum Kartenlegen verwendet. Wer wissen möchte, ob er in absehbarer Zeit den Lotto-Jackpot knacken wird, kann es ja mal mit einem entsprechenden Wahrsager probieren. Aus diesen drei Vorläufern entstand irgendwann zwischen 1789 und 1813 in der späteren thüringischen Kartenmacher-Metropole Altenburg das Skatspiel. Der Wendische Schafkopf diente als Grundlage; von L’hombre und einer weiteren vereinfachten Version, dem Deutschen Solo, übernahm man das Reizen, vom Tarot das Spielprinzip der weggelegten Karten. Als geistige Väter des Skats gelten drei Altenburger Honoratioren – Hofadvokat Friedrich Ferdinand Hempel, Medizinalrat Dr. Carl Ludwig Schuderoff und Kanzler Hans Carl Leopold von der Gabelenz. Die drei trafen sich des Öfteren auf Schloss Poschwitz, dem Sitz des Adelsgeschlechts von der Gabelenz, zum Kartenspiel – und da sie sich offenbar nicht über die Regeln einigen konnten, mischten sie sich eben ihre eigenen zurecht. Vielleicht war es auch pure Experimentierfreude: Mal sehen, was herauskommt, wenn man ein paar Kartenspiele aus verschiedenen Ecken Europas miteinander vermengt. Irgendwann war es dann so weit, dass sich aus den Schöpfungsnebeln unser neues Nationalspiel erhob. Wir kennen sogar das genaue Datum. Die Spielkladde des Herrn von der Gabelenz ist im Thüringischen Staatsarchiv bis heute erhalten und dokumentiert lückenlos alle Spiele der Männerrunde von 1789 bis 1829. Am 4. September 1813 taucht hier erstmals der Begriff Scat auf. Dieser Eintrag kann somit wohl als offizielle Geburtsurkunde des Skatspiels gelten. Friedrich Ferdinand Hempel entwickelte die Spielregeln später weiter und verfeinerte sie – unter anderem gemeinsam mit dem Verleger Friedrich Arnold Brockhaus und dem Ratsherrn Carl Christian Adam Neefe, auf den das für Skat typische »Reizen« zurückgeht. Der Reiz des Spiels war damit endgültig unwiderstehlich, und so erlebte die Folgezeit eine deutsche Erfolgsstory sondergleichen. Von Altenburg aus verbreitete sich Skat zunächst in verschiedene Universitätsstädte und wurde vor allem unter Studenten zu einem beliebten Zeitvertreib. Allerdings zeigte sich, dass die Altenburger Gründerväter das Regelwerk wohl doch nicht ausreichend festgeklopft hatten – man spielte Skat, wie man es gerade gewohnt war und für korrekt hielt, was dem Frieden der Dreimännerrunden nicht immer dienlich war. Um einheitliche Regeln zu schaffen, fand deshalb am 7. August 1886 in Altenburg der 1. Deutsche Skatkongress statt, auf dem eine verbindliche Skatordnung beschlossen wurde. Aber selbst die hatte offensichtlich noch Lücken, denn erst mit dem 11. und 12. Skatkongress 1927 und 1928 war die schwere Geburt geschafft. Seitdem gelten für Skat in ganz Deutschland die Spielregeln, wie wir sie heute kennen. Eine lange Reise vom Orient durch viele Länder Europas hatte nach fast sechs Jahrhunderten ihren Zielbahnhof gefunden. Das Beste von all Germany? Eher das Beste vieler Welten – aber immerhin haben wir mit dem Skatspiel ein dauerhitverdächtiges »Best of« daraus gemacht. Spätzle Europäische Nocken-Welle Man nehme Mehl, Eier, Wasser und Salz, vermenge alles zu einem Teig und schabe von diesem dünne Streifen direkt in kochendes Salzwasser: Fertig ist eine zwar nicht gesamtdeutsche, aber zumindest in ganz Süddeutschland bekannte und beliebte kulinarische Spezialität – die Spätzle oder auch Spätzla. Die länglichen Teigklümpchen (nicht zu verwechseln mit Nudeln!) werden in den verschiedensten Varianten aufgetischt, von der schwäbischen Fixkombination »Linsen mit Spätzle« über Kässpätzle, Eispätzle und Krautspätzle bis hin zu den süßen Spielarten Apfel- und Mohnspätzle. Kurz, sie sind ein Universalgericht für fast alle Gelegenheiten. Aber woher kommen diese putzigen Sattmacher eigentlich, und was hat ihr Name zu bedeuten? Die schwäbisch-alemannische Verniedlichung »Spätzle« wird meist als »kleine Spatzen« interpretiert – was naheliegt und worauf auch die ursprüngliche Bezeichnung »Wasserspatzen« hindeutet, die erstmals im 18. Jahrhundert auftaucht. Gesichert ist diese Herkunft allerdings nicht – es gehört wohl auch einiges an Fantasie dazu, in geschabten Teigstückchen die Form von Sperlingen zu erkennen. Eine andere Theorie vermutet die Ableitung aus dem italienischen spezzato (was so viel wie »zerstückelt« oder »auseinandergerissen« bedeutet), aber auch dafür gibt es keine eindeutigen Belege. Schon diese Klangverwandtschaft lässt jedoch ahnen, dass hier noch andere Nationen und Sprachen im Spiel sind. Und tatsächlich: Spätzle heißen zwar nur in Deutschland Spätzle, aber weder wurden sie in Deutschland erfunden, noch werden sie ausschließlich hier gegessen. Für Schwaben, Badener und Oberbayern dürfte es ohnehin ein offenes Geheimnis sein, dass man sie auch in Österreich und der Schweiz unter verschiedenen Namen serviert. Das ist aber noch lange nicht alles. Tatsächlich gehören Spätzle zu einer Teigwaren-Großdynastie mit weiter Verbreitung und jahrhundertelanger Tradition. Im Katalog der kulinarischen Artenvielfalt stellen sie nichts anderes dar als eine deutsche Spielart der Nocken, die in einer ganzen Reihe mittel- und südeuropäischer Länder verbreitet sind. Ob nun von Italienern bei uns eingeführt oder nicht – auf jeden Fall spielen Nocken auch in der italienischen Küche eine tragende Rolle. Hier heißen sie gnocchi und sind unseren Spätzle im Aussehen sehr ähnlich – allerdings enthalten sie keine Eier, sondern basieren wahlweise auf Maismehl (gnocchi di polenta), Weizengrieß (gnocchi alla romana) oder gekochten Kartoffeln (gnocchi di patate). Alle drei Varianten sind auf dem gesamten Stiefel verbreitet, sei es als Vorspeise, Hauptgericht oder Suppeneinlage. In Rom werden sie von alters her am Donnerstag aufgetischt, getreu dem Motto: giovedì gnocchi, venerdì pesce, sabato trippa (donnerstags Gnocchi, freitags Fisch, samstags Kutteln). Warum das so ist, weiß allerdings kein Mensch plausibel zu begründen. In der Schweiz wiederum kennt man die Nocken als Spätzli oder Chnöpfli, in Österreich als Nockerln – jeweils in ähnlicher Zubereitungsvielfalt wie im deutschen Süden und Südwesten. Berühmt sind vor allem die Salzburger Nockerln, die sich vom Ursprung allerdings sehr weit entfernt haben: Sie bestehen aus schaumig geschlagenem Eigelb, Eiweiß, Zucker und nur wenig Mehl. Aus dieser cremigen Masse werden sehr große Nockerln geformt, das Ganze wird im Ofen überbacken und anschließend mit Puderzucker (für Österreicher: Staubzucker) bestäubt. Das Ergebnis – wenn es denn gelingt – ist ein Kunstwerk, das offenbar nicht nur unsere südlichen Nachbarn begeistert. So priesen es die deutschen Librettisten Max Wallner und Kurt Feltz 1938 in ihrer Operette Saison in Salzburg überschwänglich als »süß wie die Liebe und zart wie ein Kuss«. Die ungarischen nokedli oder galuska sind den schwäbischen Spätzle wieder sehr viel näher; sie werden aus den gleichen Zutaten hergestellt und genauso zubereitet. Als traditionelle Beilage schätzt man sie insbesondere zu Gulasch (pörkölt). Gleich nebenan in der Slowakei gibt es die ähnlich klingenden halušky, deren Teig allerdings aus Kartoffelmehl hergestellt wird. Als bryndzove halušky (Brimsennocken), mit Schafskäse, Speck und Zwiebeln angerichtet, bilden sie das slowakische Nationalgericht. Selbst der französischen Küche sind Nocken geläufig – zum Beispiel als noques au beurre (Butternocken) oder noques de semoule (Grießnocken), die jeweils meist als Suppeneinlage dienen. Ein weiteres eng verwandtes und weit verbreitetes Mitglied der Nocken-Familie sind Schupfnudeln, die wie die Nocken selbst – je nach Form – eine Vielzahl regional unterschiedlicher Namen tragen. In Altbayern heißen sie auch Fingernudeln oder Dradewixpfeiferl, in Teilen Oberfrankens und in der Oberpfalz nennt man sie Schopperla, in Franken auch Bauchstecherla, im Odenwald Krautnudeln, und in der Pfalz findet sich die deftig-direkte Bezeichnung Buwespitzle (Knabenpenis). Auch die Schupfnudeln bestehen je nach Region und Machart aus den unterschiedlichsten Zutaten – in der einfachsten Version sind es Roggenmehl und Wasser, daneben gibt es aber auch Rezepte mit Kartoffelpüree, Eiern und Weizenmehl. In der österreichischen und böhmischen Küche bevorzugt man sie als Mohnnudeln, also in süßer Form. Ob nun Schupfnudeln, Spätzle, Nockerl, Gnocchi oder Galuska – bei allen Spielarten und Namen haben wir es mit Angehörigen einer paneuropäischen Großfamilie zu tun. Da behaupte noch einer, die schwäbische und bayerische Küche seien nicht international! Stammtisch Die Gentlemen bitten zum Talk »Do hogga de de wo oiwei do hogga« (Hier hocken die, die immer hier hocken): So ist es in vielen bayerischen Wirtshäusern zu lesen, und nichts könnte Wesen und Charakter des Stammtischs besser auf den Punkt bringen. Wobei die augenzwinkernde Dialektform beweist: Die Bajuwaren pflegen ihre Bierkultur, aber nicht unbedingt den Bierernst. Was hier so urgemütlich klingt, trägt im landläufigen Sprachgebrauch allerdings oft eher martialische Züge. Da ist von Stammtischparolen die Rede, mit denen natürlich immer Haudrauf-Parolen gemeint sind – und will man als Partei oder Politiker Wahlen gewinnen, empfiehlt es sich bekanntlich, die Lufthoheit über den Stammtischen zu erobern. Aber mal kritisch nachgefragt: Werden mit solchen Redensarten nicht bloß althergebrachte Klischees beschworen? Sicher mag es in vielen Fällen zutreffen, dass an Stammtischen eher grob argumentiert und versimpelt wird. Auch ist Alkohol ja nicht unbedingt dafür bekannt, dass er intellektuell anspruchsvolles Argumentieren fördert. Wer aber im Stammtisch nichts anderes sieht als politische Unkultur, stellt ihn in ein schlechteres Licht, als er verdient – ganz abgesehen davon, dass sich das Wort heutzutage als Oberbegriff für nahezu jede feste Gesprächsrunde eingebürgert hat. Inzwischen gibt es sogar »Online- Stammtische« (übrigens eine Erfindung aus den USA), die ganz ohne Tisch und Kneipe auskommen. Und auch als klassische Männerbastion hat der deutsche Stammtisch längst ausgedient – heute ziehen sich Tausende von Frauenstammtischen quer über die ganze Republik. »Der Stammtisch erweist sich als bemerkenswert flexibel und anpassungsfähig«, stellte der Münchner Journalist und Grünen-Politiker Georg Etscheit in der Süddeutschen Zeitung ganz richtig fest.[25] Nebenbei bemerkt, hat der Stammtisch noch keine sehr lange Tradition. Der Brauch kam erst im 19. Jahrhundert auf, und das natürlich nicht von ungefähr. Im Zuge wachsenden Freiheits- und Selbstbewusstseins nahm sich das Bürgertum heraus, das politische Geschehen nicht mehr einfach über sich ergehen zu lassen, sondern am runden (oder auch eckigen) Tisch darüber zu diskutieren und sich seine eigene Meinung zu bilden. Von daher steht der deutsche Stammtisch, allen Unkenrufen zum Trotz, eher in einer linksliberalen Tradition; sogar Marx und Engels sollen des Öfteren in einer solchen Runde gesichtet worden sein. Und auch heute ist es ja entgegen dem verbreiteten Stereotyp nicht so, dass hier nur schlichte Gemüter herumhocken und kungeln würden. Tatsächlich war der traditionelle Dorfstammtisch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eher den gebildeten Schichten vorbehalten, den Honoratioren und Doktoren der Gemeinde. Wer da zu hocken pflegte und auch heute oft hockt, beschreibt Kurt Tucholsky mit großstädtischer Süffisanz in der Glosse »Kleine Station«, die er 1926 in der Weltbühne veröffentlichte: »Am Stammtisch sorgen der Amtsrichter, der, ach Gottchen, Referendar, der Apotheker und der Postinspektor für die Aufrechterhaltung der Republik, wie sie sie auffassen. Manchmal darf da auch der Redakteur sein Bier trinken.« Wie immer man es sieht – als unterste Säulen im Tragwerk der Republik erfüllen Stammtische durchaus eine nützliche Funktion. 2009 stellte der englische Publizist Roger Boyes anerkennend fest: »Grundsätzlich gilt, dass man am Stammtisch offen reden kann, und daher wirkt er sich fast immer positiv auf das Gemeindeleben aus und umgeht bürokratische Hürden.«[26] Insofern ist der Stammtisch im Grunde eine urdemokratische Angelegenheit. Im Übrigen: Dass man sich in der Kneipe trifft, um bei Alkohol und Tabak (Letzterer entfällt inzwischen weitgehend) zwanglos über Politik und Gesellschaft zu diskutieren, ist natürlich – mal wieder – kein exklusiv deutscher Brauch. Zwar sitzt die Runde hierzulande am Eichentisch mit dem berühmten Schild darüber, während man in anderen Ländern die Bar oder den Clubsessel bevorzugt, doch der Sinn und Zweck ist im Wesentlichen derselbe. Großbritannien liefert ein klassisches Beispiel – wobei sich hier das Zusammenhocken nach altbritischer Sitte in ein Unter- und ein Oberhaus aufteilt. Für die breite Masse gibt es die Einrichtung der Pubs, die sich bis ins frühe Mittelalter zurückverfolgen lässt: Nach dem Untergang des Römisch- britischen Imperiums und dem Verschwinden der römischen tabernae gingen als Ersatz im 5. Jahrhundert aus Privathäusern die sogenannten alehouses hervor. Diese Einrichtungen erfüllten schon damals die Funktion dörflicher Foren, wo man sich traf, über alles Mögliche diskutierte und sich gegenseitig half. Später entstand dafür die Bezeichnung public house, die sich im Viktorianischen Zeitalter zu pub verkürzte. Auf jeden Fall sind die britischen Pubs älter als selbst die ältesten deutschen Wirtshäuser. Während bei uns das aus dem 12. Jahrhundert stammende »Gasthaus zum Riesen« in Miltenberg am Main die Methusalem-Trophäe beansprucht, streiten sich die Briten um ganz andere Jahreszahlen. Den offiziellen Rekord hält laut Guinness Book Ye Olde Fighting Cocks in St. Albans (Hertfordshire), erbaut im 11. Jahrhundert. Heftig angefochten wird dieser Eintrag allerdings von Ye Olde Man & Scythe in Bolton (Greater Manchester), das für sich über zweihundert Jahre mehr reklamiert, ebenso wie Ye Olde Trip to Jerusalem in Nottingham. Wie auch immer – als Institution darf sich das Pub einer langen und traditionsreichen Vergangenheit rühmen. Noch heute ist es in vielen kleinen Gemeinden der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens, ähnlich wie das Wirtshaus oder der »Krug« in deutschen Dörfern. Und auch in ihm hat sich teilweise bis heute ein Brauch erhalten, der dem deutschen Stammtisch wesensverwandt ist – nämlich das Abhalten von Gesprächsrunden in abgetrennten Hinterzimmern, zu denen nur bestimmte Stammgäste Zutritt haben. Treffpunkt der gehobenen Schichten waren dagegen eher die coffeehouses, von denen es im frühen 18. Jahrhundert allein in London über fünfhundert gab. Ganz wie beim orientalischen Vorbild wurde in diesen Etablissements über Politik und Geschäfte, Gott und die Welt diskutiert, und das weibliche Geschlecht hatte dabei selbstverständlich nichts verloren. In den folgenden Jahrzehnten wurden die coffeehouses in dieser Rolle allmählich von den legendären Gentlemen’s Clubs abgelöst, die damit ebenfalls auf eine wesentlich längere Tradition zurückblicken als der deutsche Stammtisch. Den Höhepunkt ihres gesellschaftlichen Einflusses erreichten die Clubs im 19. Jahrhundert. Damals repräsentierten sie einen großen Teil dessen, was man seinerzeit unter »Establishment« verstand. Geschäftsleute und Politiker, Dandys und Mitglieder des Adels widmeten sich hier dem gepflegten Austausch über gemeinsame Interessen wie Politik, Sport, Reisen, Kunst und Kultur. Auch Wetten war ein populärer Zeitvertreib, wie ihn uns Jules Verne in seinem Roman Reise um die Erde in 80 Tagen höchst unterhaltsam vor Augen führt. Heute gibt es Gentlemen’s Clubs rund um die Welt, speziell in den USA und den britisch geprägten Ländern des Commonwealth wie Australien, Südafrika und Indien, wo die Mitgliedschaft nach wie vor den errungenen hohen sozialen Status dokumentiert. In Spanien wiederum und in seinen früheren Kolonien – also in ziemlich vielen Ländern der Welt – finden sich die sogenannten tertulias, die mit dem deutschen Stammtisch noch mehr Ähnlichkeit aufweisen. Diese regelmäßigen Gesprächsrunden kamen im 17. Jahrhundert auf und finden bis heute üblicherweise in einer Cafeteria statt. Häufig konzentrieren sich tertulias auf bestimmte Interessen und gleichen damit Tausenden von Stammtischen in Deutschland, die sich ebenfalls mit einem eingegrenzten Themenkreis befassen. So diskutiert man zum Beispiel über Stierkampf, Fußball, Literatur oder Theater. Die Bedeutung von tertulia ist im Spanischen übrigens weit gefasst – das Wort kann unter anderem auch »Kaffeekränzchen« oder »Talkshow« bedeuten. Sieh einer an! Sind mittlerweile nicht auch viele deutsche TV-Talkshows fast dasselbe wie Stammtische (und heißen sie nicht manchmal auch so)? Immer dieselben Plaudertaschen, die sich zuverlässig in immer denselben Runden treffen? Betrachtet man es von dieser Warte, dann markiert unser gutes altes Stammtischwesen wirklich einen internationalen Megatrend. Ob Wirtshaus oder Cafeteria, ob Chatforum, Facebook oder Fernsehshow – gemeinschaftliches Hocken und Reden war als Zeitvertreib und Medienfüller nie populärer als heute. Also, ihr Podiumsteilnehmer, Twitterer, Blogger und Anne-Will- Stammgäste: Welcome to the club! [25] Süddeutsche Zeitung vom 23.06.2012. [26] Quelle: Goethe-Institut. Teutonen Barbarische Verwechslung Es ist schon seltsam: Immer wenn wir uns über uns selber lustig machen (oder wenn sich vermeintlich kultivierte Deutsche über den vermeintlich tumben und plumpen Rest des Volkes mokieren), erfolgt ein nahezu reflexhafter Griff zu der Wortschablone »Teutonen«. Wie oft etwa die von deutschen Touristen heimgesuchten Mittelmeerstrände als »Teutonengrill« veräppelt wurden, lässt sich vermutlich kaum mehr zählen. Aktuell finden sich für das Wort im Internet über 65 000 Treffer – gemünzt auf deutsch besetzte Grillstationen von Malle bis Rimini. Aber sind es wirklich Abkömmlinge der Teutonen, die da in der mediterranen Sonne brutzeln? Teutonen gleich Deutsche, sowohl wort- als auch geistesverwandt? Klare Antwort: zum Glück nein! Ebenso gut könnte man die Russen als Tataren bezeichnen, und es wäre ebenso absurd. Zwar waren die Teutonen ein Germanenstamm, aber dessen Heimat lag zum größten Teil im Gebiet des heutigen Dänemark. Die Bezeichnung »Teutonen« hat auch nichts mit dem Wort »Deutsche« zu tun – vielmehr geht sie auf die altrömische Wurzel teutones oder teutoni zurück, deren Ursprung nicht sicher geklärt ist. Möglicherweise stammt das Wort aus dem Keltischen. »Deutsch« dagegen kommt vom althochdeutschen diutisc ( »Deutsche Sprache«), und dieses wiederum ist abgeleitet von dem germanischen Substantiv theot (= Volk oder Stamm). Auch die im Mittelalter eingeführte lateinische Bezeichnung Ordo teutonicus für den Deutschen Orden ist also sprachlicher Kokolores. Genauso daneben liegen folglich die zahllosen deutschen Vereine und Burschenschaften, die sich mit dem Zusatz Teutonia schmücken. Und der Teutoburger Wald? Klingen in diesem Namen nicht unübersehbar die Teutonen an? In der Tat, so weit es die ersten fünf Buchstaben betrifft – aber dabei handelt es sich um die gleiche Zufallsähnlichkeit wie zwischen Schweden und Schwerin. Tatsächlich hat nie ein Teutone seinen Fuß in den Teutoburger Wald gesetzt: Die nördlichste Stelle Westdeutschlands, die von den Teutonen auf ihrer Wanderung durch Europa je erreicht wurde, liegt zwischen Spessart und Odenwald. Der Teutoburger Wald erhielt seinen heutigen Namen erst 1616 von dem deutschen Geografen und Historiker Philipp Clüver. Zuvor hieß das Gebirge Osning, was möglicherweise – wie Osnabrück – von dem alten Flussnamen Osna abgeleitet ist. Als »Teutoburger Wald« übersetzte Clüver eine Ortsangabe des römischen Geschichtsschreibers Tacitus, der den Schauplatz der berühmten Varusschlacht mit haud procul teutoburgiensis saltu (»unweit des Teutoburger Waldes«) umschreibt. Teutoburgiensis soll sich nach dieser Lesart aus der romanisierten germanischen Wurzel theot und dem lateinischen burgus zusammensetzen – was in Kombination so viel wie »Volksburg« bedeuten würde. Vielleicht, denn das ist nur eine Interpretation. Und ob mit saltus tatsächlich »Wald« gemeint ist, steht ebenso wenig fest. Es kann auch ein schlichtes Flächenmaß sein und würde damit nur die Ausdehnung des fraglichen Gebietes bezeichnen. Über diese Finessen werden sich Sprach- und Geschichtsforscher vermutlich noch länger streiten – treten wir das Thema hier also nicht breiter als nötig. Aber wer waren nun die geheimnisvollen Teutonen, mit denen wir uns heute so lustvoll-selbstironisch identifizieren? Dass sie der germanischen Sprachfamilie angehörten, wurde schon gesagt. Mit dem heutigen Deutschland verbindet sie dagegen nur der äußerste Nordzipfel. Legt man antike Quellen zugrunde, dann lässt sich ihre Heimat in etwa auf die Halbinsel Jütland eingrenzen – also den Festlandsteil des heutigen Dänemark und das heutige deutsche Bundesland Schleswig-Holstein. Dort lebten sie »am Rand der bewohnten Welt«, wie Tacitus schreibt, in enger Nachbarschaft zum gleichfalls germanischen Volksstamm der Kimbern. Im Jahr 120 v. Chr. verließen die Kimbern dieses Gebiet und brachen zu einer insgesamt siebentausend Kilometer langen Odyssee in den Süden Europas auf. Was sie dazu trieb, ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt: Der Grund könnte eine gewaltige Sturmflut gewesen sein, die ihre Lebensgrundlagen zerstörte (der römische Geschichtsschreiber Titus Livius berichtet von mehreren solcher Naturkatastrophen). Möglicherweise waren es aber auch Missernten oder ganz einfach das harte, von ständigem Hunger geprägte Leben im Norden, das sie zum Auswandern zwang. Die Teutonen schlossen sich diesem Exodus an, und so dürfte es ein gewaltiger Zug von rund 150 000 Menschen gewesen sein, der da auf der Suche nach neuen Nahrungsquellen unterwegs war – durch Schlesien, Böhmen und das heutige Österreich bis ins gallische Rhonedelta und nach Katalonien. Dabei machten sie der römischen Bezeichnung barbari alle Ehre: Die Krieger der beiden Stämme gingen alles andere als zimperlich vor und schreckten weder vor Plünderung noch vor Mord zurück. Im antiken Noreia, das längst von der Landkarte verschwunden ist und wahrscheinlich in der heutigen Steiermark oder in Kärnten lag, trafen Kimbern und Teutonen im Jahr 113 v. Chr. erstmals auf römisches Militär. Zwar waren ihre Krieger den Legionen zahlenmäßig unterlegen, aber dafür verbanden sie Brutalität und körperliche Stärke zu einer Kampfkraft, die für die Römer in einem Blutbad endete. Der Raubzug ging weiter durch das heutige Bayern und Baden-Württemberg, dann am Nordwestrand der Alpen entlang ins heutige Südfrankreich. 105 v. Chr. kam es in Arausio (dem heutigen Orange) zu einem erneuten Aufeinandertreffen der beiden Stämme und einer römischen Armee, und auch diesmal erlebten die Römer ein gnadenloses Gemetzel. Gefangene wurden nicht gemacht. Wer überlebte, den hängten die Germanenkrieger kurzerhand an Bäumen auf. Damit begann in Gallien eine Schreckensherrschaft, die das ohnehin von inneren Konflikten geschwächte Römische Reich in höchste Angst versetzte – man erinnerte sich an Hannibal, dessen Invasion ein Jahrhundert zuvor fast das Ende des Imperium Romanum bedeutet hätte. Später trennten sich Teutonen und Kimbern: Erstere blieben in der Provence, wo es 102 v. Chr. dem römischen Feldherrn Gaius Marius endlich gelang, sie bei Aquae Sextae (dem heutigen Aix-en-Provence) vernichtend zu schlagen. Zehntausende teutonischer Männer sollen dabei ums Leben gekommen sein; die überlebenden Frauen töteten angeblich ihre Kinder und sich selbst, um nicht in römische Gefangenschaft zu geraten. Die Kimbern waren unterdessen nach Oberitalien weitergezogen. Ein Jahr später wurden auch sie bei Vercellae (dem heutigen Vercelli zwischen Turin und Mailand) von römischen Legionen buchstäblich ausgelöscht. Mit diesen historischen Schlachten verschwanden beide Stämme auf Nimmerwiedersehen aus der Geschichte, vor mehr als zweitausend Jahren. Kein heutiges Volk stammt somit von den Teutonen ab, weder südlich noch nördlich der Alpen. Es wäre ja auch allzu schaurig und würde schlimmste Vorurteile zementieren, wenn wir wirklich solches Erbgut in uns trügen. Legen wir uns also guten Mutes auf den Solargrill und lassen uns als das braten, was wir sind: schlicht und einfach Deutsche. Toast Hawaii Aloha, Monsieur Eine Scheibe Toast, gebuttert, mit Schinken belegt und mit Schmelzkäse überbacken, darauf eine Scheibe Ananas und das Ganze gelegentlich noch von einer Cocktailkirsche gekrönt … Na, wie deutsch ist das denn? Die Antwort kann man sich fast denken: überhaupt nicht – auch wenn die legendäre Südseestulle (mehr oder weniger) in Deutschland erfunden wurde. Tatsächlich ist der Toast Hawaii eine Abwandlung der traditionellen französischen Sandwich-Spezialität »Croque-monsieur«, kombiniert mit einer aus Lateinamerika stammenden Südfrucht und einer kroatischen Kirschsorte – und um die bunte Mischung voll zu machen, trägt das Ganze auch noch einen englisch-polynesischen Namen. Ein kleiner Ausflug in die Historie: Der Croque-monsieur (Schinkentoast mit Käse überbacken), bodenständige Grundlage des Toast Hawaii, wurde bereits 1910 in einem Pariser Café erfunden und gehört seitdem zu den Fast-Food- Klassikern Frankreichs. Den beim Hawaii-Toast verwendeten Schmelzkäse verdanken wir den Schweizer Pionieren Walter Gerber und Fritz Stettler von der Firma Gerberkäse AG in Thun, die ihn 1911 erstmals industriell herstellte. Die Ananas wiederum kultivierte man in Süd- und Mittelamerika schon lange vor der Ankunft der ersten Europäer. Später wurde sie hauptsächlich auf den Hawaii-Inseln angebaut, sodass der pazifische Archipel zu einem der Hauptexporteure weltweit aufstieg – was den Namen »Toast Hawaii« durchaus nahelegt. Inzwischen allerdings sind die Inseln weit ins Hintertreffen geraten und liegen nur noch auf Platz 18 der Anbaugebiete. Wichtigste Produzenten sind heute Brasilien, Thailand und die Philippinen. Maraska-Sauerkirschen schließlich, die durch Einlegen in Maltosesirup zu den geschmacksfreien Cocktailkirschen (Maraschino-Kirschen) werden, stammen ursprünglich von der dalmatinischen Küste. Man sieht, es wird immer internationaler. Immerhin, die dekorative, wenn auch nicht unbedingt deliziöse Idee mit der Ananasscheibe und der Cocktailkirsche stammt tatsächlich von einem Deutschen: Es ist der Schauspieler Clemens Wilmenrod, der Anfang 1953 mit der ersten Kochsendung des Deutschen Fernsehens vor die Kamera trat. Carl Clemens Hahn, wie er eigentlich hieß (Wilmenrod ist die Gemeinde seines Geburtsorts im Westerwald), beendete damit eine eher flau dahindümpelnde Karriere und wurde schlagartig zum Star des Abendprogramms. Seine viertelstündige Show »Clemens Wilmenrod bittet zu Tisch« war in den Folgejahren ein Straßenfeger, der Deutschlands Fernsehpublikum 185-mal vor den Bildschirmen bannte und alle Zuschauerrekorde brach. Dabei war der vermeintliche Koch Autodidakt, und angesichts von nur fünfzehn Minuten für ein ganzes Menü würden unsere gegenwärtigen Kochgrößen vermutlich nur den Kopf schütteln. Doch mithilfe eines Infrarotgrills und viel alkoholischem Flammenzauber schaffte es Wilmenrod tatsächlich, seine Gerichte live im Zeitraffertempo zuzubereiten. Im Jahr 1955 stellte er seine erfolgreichste und zählebigste Schöpfung, den Toast Hawaii, erstmals vor. Eine Sensation! Auch wenn wir heutigen Wohlstandsbürger, die mal eben per Billigflieger wer weiß wohin düsen, darüber nur milde lächeln mögen – schon mit der Grundkomposition war Wilmenrod seiner Zeit ein ganzes Stück voraus. Immerhin musste noch Anfang der Sechzigerjahre die damalige deutsche Familienillustrierte Praline ihren staunenden Lesern erklären: »Ein Stück geröstetes Brot nennt man in England Toast.« Das macht umso deutlicher, wie aufregend dieses Stück Exotik war, das man heute eher als Fast Food abqualifizieren würde. Nun, der Begriff »Fast Food« war damals noch unbekannt – und der Hawaii-Toast galt als Delikatesse, die man sich nicht einfach in den Mund schob wie eine gewöhnliche Butterstulle. Nein, man verzehrte ihn stilvoll mit Messer und Gabel (übrigens auch heute noch anzuraten). Betrachtet man die deutsche Lebenswirklichkeit der Fünfzigerjahre des vorigen Jahrhunderts, so wird der Erfolg des Toast Hawaii nur zu verständlich. Damals sogen die Bundesbürger begierig alles ein, was die zurückliegende entbehrungsreiche Nachkriegszeit vergessen machte, Hoffnung auf ein besseres Leben weckte und vor allem ein Stück große weite Welt verhieß. Rudi Schuricke nahm sich bella Italia vor, Caterina Valente ließ Mexikaner Calypso tanzen und karibische Inseln in blauer Tropennacht versinken, Vico Torriani pries »Ananas (!) aus Caracas«, und norddeutsche Radiohörer durften sich ab 1951 mit der noch heute ausgestrahlten Sendereihe »Zwischen Hamburg und Haiti« von zu Hause wegträumen. Dass zwischen beiden Punkten praktisch nur Wasser liegt – wer wollte es damals so genau wissen? Kurz, das Weltbild vieler Deutscher westlich des Eisernen Vorhangs war kaum anders, als es der Berliner Liedermacher Ulrich Roski in den Siebzigerjahren durch den Kakao zog: »Wenn die Bouzouki klingt am Lago Maggiore«. Es ging einher mit der Verklärung alles Exotischen, in vorderster Reihe das vermeintliche Traumland Mexiko, die Antillen und natürlich Hawaii – der Sehnsuchtsbegriff schlechthin. Schon dieses Namens wegen musste Wilmenrods Erfindung praktisch ein Hit werden. Erstaunlich allerdings, dass sich der Toast Hawaii bis heute nicht von deutschen Speisekarten hat verdrängen lassen. Selbst in die DDR, wo Ananas als westlicher Luxus schlechthin galt, konnte er schon früh unter dem Decknamen »Karlsbader Schnitte« einreisen und sich somit von der Stasi unbehelligt durchsetzen. Und nicht nur das – die Idee machte sogar weltweit Schule: Die »Pizza Hawaii«, eine Variante des Wilmenrod’schen Urrezepts und angeblich 1962 im kanadischen Chatham erfunden, eroberte zuerst Nordamerika und schließlich Australien, wo sie mit einem Anteil von 15 Prozent zum Bestseller unter den Pizzavarianten aufstieg. In der weiteren Folge entstanden ananasgeschmückte Kreationen wie »Steak Hawaii«, »Hähnchen Hawaii« oder »Lasagne Hawaii«. Als Krönung der Multikulti-Küche hat es das eigentlich satirisch gemeinte Rezept zu einem »Leberkäs Hawaii«, das der bayerische Kabarettist Gerhard Polt 1981 präsentierte, allen Ernstes in deutsche Internetforen zum Thema »Kochen« geschafft. Wer hätte zu Clemens Wilmenrods Lebzeiten gedacht, dass einer simplen Scheibe Ananas eine derart kosmopolitische Karriere beschieden wäre? In diesem Sinne: Aloha kāua, möge Freundschaft zwischen uns sein, Monsieur Wilmenrod selig! Vereine Greek connection Haben Sie schon mal versucht, das Wort »Vereinsmeier« in eine andere Sprache zu übersetzen? Ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist so urdeutsch, dass nur unser eigener Nationalcharakter den passenden Sinn dazu ergibt. Der Deutsche und sein Verein – das gehört offenbar zusammen wie Pech und Schwefel, Handkäs und Musik oder Schwarz, Rot und Gold. Oder gilt das inzwischen etwa gar nicht mehr? Ist die klassische Vereinsmeierei in den Zeiten von Facebook und Myspace nicht ein überkommenes Relikt des 19. und 20. Jahrhunderts? Der Verdacht drängt sich jedenfalls auf. Schon 1989 – der Anteil der Vereinsmitglieder unter den (West)deutschen dümpelte damals bei 42 Prozent – wähnte der Kabarettist Klaus Peter Schreiner den deutschen Verein in akuter Gefahr auszusterben.[27] Sein satirischer Alarmruf lässt für die Social-Media-Gegenwart erst recht Schlimmes ahnen: »Die Bürger der Bundesrepublik Deutschland sind vereinsmüde wie nie zuvor. Fast jeder zweite Deutsche ist überhaupt nicht vereinsmäßig organisiert!« Doch irgendetwas muss dem Autor den Blick auf die Fakten vernebelt haben – womöglich die tief sitzende Klischeevorstellung, dass der Anteil der Vereinsmitglieder an der deutschen Bevölkerung nicht unter 80 bis 90 Prozent liegen dürfe. Tatsache ist, dass sich die Zahl der Vereinsmitgliedschaften zwischen 1973 und 1988 verdoppelt hat. Und auch heute kämpfen die Deutschen wacker um die Weltmeisterschaft des organisierten Beisammenseins: 2011 waren stolze 60 Prozent aller Bundesbürger Mitglied in mindestens einem Verein, und sei es ein Automobilclub. Auch die Zahl der Vereine steigt tendenziell und stabilisiert sich inzwischen auf hohem Niveau. Die erste gesamtdeutsche Vereinsstatistik aus dem Jahr 2001 wies bundesweit 544 701 eingetragene Vereine aus, 2003 waren es bereits 574 359, und 2005 erreichte die Zahl mit 594 277 ihren Höhepunkt – eine Steigerung um fast elf Prozent innerhalb von vier Jahren. 2011 waren immerhin noch 580 298 Vereine eingetragen; das entspricht rund sieben Vereinen pro tausend Bundesbürger. Dazu kommt noch eine Vielzahl nicht eingetragener Vereine und Clubs sowie anderer nichtkommerzieller Organisationen. Somit wären die Verhältnisse wieder geradegerückt: Deutschland, Mutterland und Dorado des Vereinswesens – da lassen wir uns doch von niemandem in die Suppe spucken! Das wird auch niemand wollen, nur lohnt sich auch hier ein Blick über den Tellerrand, denn vereinsähnliche Zusammenschlüsse gab und gibt es in fast allen Ländern, und das schon seit der Antike – ganz einfach aus dem Wunsch heraus, eigene Interessen mit einer Gruppe Gleichgesinnter zu teilen. Die Spur des Vereinswesens lässt sich bis ins alte Griechenland zurückverfolgen, wo im 6. Jahrhundert v. Chr. die hetairia (Hetärie) als früher Vorläufer des heutigen Vereins entstand. Ursprünglich waren Hetärien Zusammenschlüsse von Adligen, die dort das betrieben, was man heutzutage unter Networking versteht. Diese Zirkel einten die unterschiedlichsten Interessen – von Handel, Religionsausübung und Vetternwirtschaft bis zu gemeinsamen Mahlzeiten und diversem anderem Zeitvertreib. Ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. politisierten sich die Hetärien zunehmend und wurden zu Vereinigungen von Parteigenossen, die sich gegenseitig bei Kandidaturen oder Prozessen unterstützten. Teilweise mutierten sie zu Geheimbünden und übten großen, häufig antidemokratischen politischen Einfluss aus. In spätantiken Quellen findet sich die Hetärie auch als Bezeichnung für eine Berufsgemeinschaft oder Innung, ähnlich dem lateinischen collegium. Womit wir beim antiken Rom wären: Dort bestanden in der Kaiserzeit rund 80 vereinsähnlich organisierte Gilden, die praktisch alle Berufsgruppen umfassten – »von Bankiers und Ärzten bis hin zu Esel- und Maultiertreibern«, wie es die Encyclopedia Britannica anschaulich umschreibt. Daneben, man lese und staune, gab es schon damals Frauenvereine, deren Einfluss weit in Politik und Gesellschaft hineinreichte. In vielen Regionen des ausgedehnten Imperiums schlossen sich zudem ausländische Bürger zu Freundeskreisen zusammen, die man nach heutiger Lesart als »Heimatvereine« bezeichnen könnte. Mit dem Niedergang des Römischen Reiches lichtete sich die Vielfalt sozialer Zusammenschlüsse. Was blieb, waren die handwerklichen Zünfte des Mittelalters und später die Kaufmannsgilden, die im 8. Jahrhundert in Frankreich entstanden. Erst ab dem Spätmittelalter begann sich vereinsmäßig wieder etwas zu regen. Im 14. Jahrhundert kamen in England die ersten Clubs auf – zunächst als informelle Treffen von Freundeskreisen, später zunehmend in Regeln gefasst und bis hin zum Kassenwart arbeitsteilig organisiert. Eine solche Vereinigung, der er selber angehörte, erwähnt erstmals der Dichter Thomas Hoccleve (1368 – 1426). Sein Club war 1413 in London als karitative Einrichtung gegründet worden und trug den französischen Namen La Court de Bonne Compagnie (»Der Hof guter Gesellschaft«). Zur Blüte gelangte das Clubwesen ab dem 16. Jahrhundert, und im 17. und 18. Jahrhundert waren die Clubs bereits prägend für den britischen Lebensstil – ganz besonders die Gentlemen’s Clubs in London ( »Stammtisch«). Im 19. Jahrhundert erfasste das Clubfieber dann auch den Sport: 1857 entstand mit dem Sheffield F.C. der erste Fußballclub der Welt, ein Jahr später folgten die Tennisspieler mit der ehrwürdigen Edgbaston Archery & Lawn Tennis Society in Birmingham. Selbst die Tradition des gemeinsamen Liedersingens im Verein hat ihren Ursprung in Großbritannien. Schon im Jahr 1787 findet sich an der Harrow School in London erstmals die Erwähnung eines (Männer- )Gesangvereins in Gestalt eines glee club. Das glee ist eine spezielle englische Liedform, die ihre Blütezeit zwischen 1750 und 1850 erlebte. Danach wurden die glee clubs Zug um Zug von »normalen« Gesangsvereinen (choral societies) abgelöst, wie es sie seit dem frühen 19. Jahrhundert auch in Deutschland gibt; nur für die Chorvereine amerikanischer Hochschulen ist die Bezeichnung glee club noch heute gängig. Kurz und gut – die Wiege des neuzeitlichen Vereinswesens steht ganz klar auf der Insel, und da macht den Briten bis heute niemand etwas vor. Das spiegelt sich auch in aktuellen Zahlen: Während die Zahl der Vereine in Deutschland knapp unter der 600 000er-Marke pendelt, geht sie im Vereinigten Königreich in die Millionen; jede bessere Universität bringt es allein auf Dutzende eigener Sportclubs. Zur Herkunft des Wortes Club (oder in neudeutscher Schreibweise »Klub«) gibt es übrigens verschiedene Theorien, die aber so oder so auf eine Art Kerbholz hinauslaufen. Eine mögliche Wurzel ist das altisländische klubba (Knüppel oder Kerbstock), das sich im Mittelenglischen als clubbe (Keule) wiederfindet – gemäß dem alten Brauch, den Clubmitgliedern das nächste Treffen durch Herumsenden eines Kerbstocks anzukündigen. Die zweite Herleitung weicht davon etwas ab, haut aber letztlich in die gleiche Kerbe. Sie bezieht sich auf die indogermanische Wurzel ghleub (schnitzen, kerben), die im Altenglischen als cleofan wieder auftaucht. Damit wäre das Wort Club eng verwandt mit dem neuhochdeutschen klauben und dem süddeutschen Mundartbegriff klieben (spalten). Der »Verein« macht es uns da wesentlich einfacher – was das Wort meint, erschließt sich von selbst. Seine Wurzel ist das indogermanische oinos, das gleichbedeutend in die meisten europäischen Sprachen Eingang gefunden hat. 1408 wird das Wort »Verein« zum ersten Mal in einem Wörterbuch aufgeführt, hier noch in ganz allgemeiner Bedeutung als das Verbinden mehrerer Dinge oder Personen zu einer Einheit. Die Definition als Bündnis von Menschen mit gemeinsamen Interessen kam erst wesentlich später auf; sie ist erstmals 1534 schriftlich belegt. Und damit kommen wir endlich zu Deutschland: Die ersten vereinsähnlichen Gemeinschaften entstanden bei uns im Lauf des 18. Jahrhunderts, also rund vierhundert Jahre nach den ersten englischen Clubs. Sie hatten zunächst – wie der 1776 gegründete Illuminatenorden – einen politischen Hintergrund, verfolgten emanzipatorische Ziele und waren damit der Obrigkeit ein Dorn im Auge. Später kamen patriotische Motive hinzu: Der erste Zusammenschluss, der sich explizit »Verein« nannte, war der 1808 in Königsberg gegründete Tugendbund, der sich vordergründig wohltätigen Zwecken verschrieben hatte, insgeheim aber auch gegen die französische Fremdherrschaft kämpfte. Grundlage des deutschen Vereinswesens war das seit 1794 geltende, noch von Friedrich dem Großen in Auftrag gegebene Allgemeine Preußische Landrecht. Es gewährte den Untertanen Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, verbot aber gleichzeitig jede politische Betätigung innerhalb von »Gesellschaften«, wie Vereine damals noch offiziell tituliert wurden. Ähnlich halbherzige, von Subversionsangst geprägte Regelungen bestanden bis 1848 in allen deutschen Staaten. Die im Dezember 1848 proklamierten Grundrechte garantierten dann zwar für ganz Deutschland das freie Vereins- und Versammlungsrecht, traten aber nie in Kraft und mussten von der Bundesversammlung 1851 auch formell wieder aufgehoben werden. Für die nächsten zwanzig Jahre hielten sich die Landesherren an Maulkorb und Leine: Die Vereine blieben unter Kontrolle der jeweiligen Obrigkeit, wurden streng überwacht und durften sich keinesfalls politisch betätigen. Erst mit der Reichsverfassung von 1871 wurde das Vereinswesen deutschlandweit einheitlich geregelt und zumindest in Teilen liberalisiert. Nun waren auch politische Vereine zugelassen, wenn auch mit einer Reihe von Auflagen – so war es etwa Angehörigen des Militärs nicht erlaubt, solchen Vereinen beizutreten. Nichtsdestotrotz ließ das neue Klima die Lust am Verein prächtig gedeihen. Kriegervereine, Turn- und Sportvereine, Gesangsvereine und Tierzuchtvereine schossen in der Folgezeit wie Pilze aus dem Boden. Viele von ihnen folgten dabei dem britischen Vorbild und nannten sich Club – vor allem in den Sportarten Fußball und Tennis, die ja ebenfalls von der Insel zu uns eingewandert sind. Beispiele dafür sind der Berliner Fußball-Club Germania 1888 und der Heidelberger Tennisclub 1890, beides die ältesten deutschen Vereine ihrer jeweiligen Disziplin. Auch international hat sich das englische club (neben der association) als populärste Vereinsbezeichnung eingebürgert. So einmalig wir Deutschen als »Vereinsmeier« also auch sind, weil wir dieses Wortgebilde exklusiv für uns gepachtet haben: Wir befinden uns damit buchstäblich im Verein mit fast allen anderen Ländern dieser Welt. In diesem Sinne – willkommen im Club. [27] Klaus Peter Schreiner: Der Deutsche Verein. Gewürdigt von Klaus Peter Schreiner, München 1989 (Bibliothek der deutschen Werte). Weißwurst Aber bitte mit Kaviar Zur Erfindung der Weißwurst kursiert eine populäre Legende, die zumindest in Bayern fast jeder kennen dürfte: Am Faschingsdienstag des Jahres 1857 sollen dem Moser Sepp, Pächter der Münchner Bierwirtschaft »Zum Ewigen Licht«, die Schafsdärme für seine Bratwürste ausgegangen sein. Zufällig waren aber noch Schweinsdärme vorrätig, in die er das Wurstbrät ersatzweise füllte. Da diese viel weiter sind als Schafsdärme, streckte Moser die Masse mit zerstoßenem Eis und etwas Grünzeug, um nicht zu viel Fleisch zu verbrauchen. Die fertigen Würste briet er dann aber nicht, weil er befürchtete, die Schweinsdärme könnten dabei platzen, sondern brühte sie in heißem Wasser. Das Fleisch war ungepökelt, sodass es beim Brühen hell blieb. Die solcherart aus Not entstandenen Würste servierte Moser seinen Stammgästen und diversen anwesenden Honoratioren der Stadt – und denen sollen die »weißen« Würste so vortrefflich geschmeckt haben, dass sie fortan als neue Spezialität auf der Speisekarte des Lokals geführt wurden. Wahr daran ist, dass es die Wirtschaft »Zum Ewigen Licht« am Marienplatz 26 tatsächlich gab. Sie hieß so, weil in ihre fensterlosen Gasträume den ganzen Tag lang kein Sonnenstrahl drang und deshalb ständig eine Öllampe brennen musste. Auch Joseph Moser ist im Münchner Stadtarchiv historisch verbürgt. Der gelernte Metzger übernahm ab 1857 das »Ewige Licht« als Pächter; neun Jahre später gab er die Wirtschaft wieder auf und betrieb danach noch mehrere andere Gaststätten, bevor er 1872 mit 51 Jahren starb. Und doch hat die Geschichte gleich mehrere Webfehler: Zum einen war das »Ewige Licht« eine billige und zeitweise verrufene Kaschemme, in der vorwiegend kleine Leute ihre preiswerte Brotzeit einnahmen – was die angeblich am Faschingsdienstag versammelten »Honoratioren« äußerst unwahrscheinlich macht. Zum anderen, und das ist der eigentliche Knackpunkt, hat Joseph Moser mit der Weißwurst nichts wirklich Neues erfunden, sondern lediglich eine traditionelle, einst überaus beliebte Münchner Spezialität abgewandelt – die sogenannte Maibockwurst. Deren Inhalt bestand ebenfalls aus Kalbs- und Schweinsbrät, Petersilie und diversen anderen Gewürzen; das Ganze wurde in Schweinsdärme abgefüllt und in heißem Wasser gegart. Ihren Namen hat diese Weißwurst-Vorläuferin daher, dass man sie in der Zeit des Maibock-Ausschanks (vom 1. Mai bis Fronleichnam) als deftige Unterlage für das Starkbier auftischte – und das schon lange vor 1857. Auch dafür findet sich der Beweis im Münchner Stadtarchiv: ein Stich von 1814, auf dem Gäste im Bockkeller des Hofbräuhauses am »Platzl« genau solche Würste zuzeln. Dem Moser Sepp eine kulinarische Pioniertat zuzuschreiben wäre also stark übertrieben. Sein Dreh bestand schlicht darin, dass er zerstoßenes Eis unter das Brät mischte – mit dem Ergebnis, dass die Weißwurst saftiger schmeckt als die ursprüngliche Maibockwurst. Dafür fehlt ihr wiederum die kräftige Würze des Originals, weswegen sie erst durch die großzügige Beigabe von süßem Senf wirklich genießbar wird. (Ein Stuttgarter Metzgermeister kam deshalb 2012 auf die gloriose Idee, die unentbehrliche Zutat gleich bei der Herstellung in die Weißwurst »einzubauen«). Aber auch damit ist die Geschichte noch nicht zur Gänze erzählt. Die Maibockwurst hat nämlich ebenfalls einen viel älteren Vorläufer – und der stammt, man lese und staune, nicht aus Bayern, sondern aus Frankreich. Unsere gallischen Nachbarn kannten und liebten Weißwurst (boudin blanc) vermutlich schon im 14. Jahrhundert, besonders als Festessen zu Weihnachten. Auch heute noch ist diese Spezialität in verschiedenen Regionen Frankreichs und Belgiens verbreitet. 1973 wurde sogar ein Weißwurst-Meisterschaftsturnier ins Leben gerufen. In der normannischen Stadt Alençon findet alljährlich das Championnat d’Europe du meilleur boudin blanc statt, bei dem die besten Rezepte prämiert werden. Anders als die Münchner Weißwurst gibt es boudin blanc nämlich in zahlreichen verschiedenen Inhalts- und Zubereitungsvarianten. Als Ingredienzen sind zum Beispiel Morcheln, Trüffel, Steinpilze, Nüsse und Rosinen geläufig, und die Wurst wird sowohl in gebrühter als auch in gebratener oder gegrillter Form genossen – gelegentlich sogar kalt. Neben Frankreich gibt es noch ein paar weitere Länder, mit denen wir uns die Weißwurst teilen. So hat sie es als Import in die ehemals französischen Gebiete der USA geschafft, wo boudin blanc in stark abgewandelter Rezeptur, gefüllt mit Schweinefleisch und Reis, zu den regionalen Spezialitäten des Bundesstaates Louisiana gehört. Eine eigene Entwicklungsgeschichte steht hinter der Polnischen Weißwurst (kiełbasa biała), die man traditionell zu Ostern isst. Sie wird üblicherweise mit Knoblauch und Majoran gewürzt und kommt entweder gekocht oder gebraten auf den Tisch – anders als ihre bayerischen und französischen Schwestern jedoch nicht solo, sondern meist als Suppeneinlage in żurek, einem sehr nahrhaften säuerlichen Eintopf mit Brotkrusten und hart gekochten Eiern. Alternativ serviert man sie auch als Hauptgericht mit Polnischer Soße, einer süßsauren, mit Lebkuchen gebundenen Weinsauce. Als weitere Spielart gibt es die Schlesische Weißwurst. Sie wird wie die boudin blanc zu Weihnachten gegessen, in der Regel mit Fisch- oder Lebkuchensoße (hier jedoch ohne Wein). Als Beilagen sind Kartoffeln, Kartoffelsalat, Püree oder Sauerkraut üblich. Wen als Anhänger der reinen Senf- und Brezenlehre spätestens jetzt das Grauen packt, dem sei schnelles Weiterblättern empfohlen. Es kommt nämlich noch dicker, denn »die beste Weißwurst außerhalb Münchens« (Süddeutsche Zeitung vom 18.2.2009) soll es seit Jahren in einer Hamburger Metzgerei geben. Und um das Maß voll zu machen, entstand parallel zu München auch in Norddeutschland im frühen 19. Jahrhundert eine eigene Variante der Weißwurst – die Hamburger Weißwurst, auch bekannt als boudin hambourgeois, die aber ebenso wie ihre bayerische Schwester von der boudin blanc inspiriert war. Es geschah nämlich im Jahr 1813, während der Herrschaft von Kaiser Napoleon, dass der Leibkoch des französischen Generals Louis-Nicolas d’Avoût – damals Generalgouverneur des Elbmündungs-Departements – eine Luxusvariante der Weißwurst erfand. Deren Füllung bestand aus reinem Kalbfleisch, und als Krönung fügte der Maître eine Portion Kaviar hinzu. Den musste er übrigens nicht aus Russland importieren, sondern hatte ihn praktisch vor der Haustür – nämlich in der Elbe, die seinerzeit noch von Stören und Lachsen wimmelte. Von Feinschmeckern wurde diese Kreation in den höchsten Tönen gelobt – sie ist sogar in dem berühmten Kochbuch Le grand dictionnaire de cuisine (»Das große Wörterbuch der Kochkunst«) des französischen Schriftstellers Alexandre Dumas überliefert, der sie außerordentlich schätzte. Nach dem Abzug der napoleonischen Truppen beeilten sich die Hamburger dann jedoch, alles Französische aus Leben und Erinnerung zu verbannen. Immerhin hatte General d’Avoût, der »Robespierre von Hamburg«, während seiner Herrschaft mehr als 20 000 Menschen aus der Stadt vertreiben und Tausende von Wohnungen niederbrennen lassen. So wurde die Kaviar- Weißwurst quasi in Sippenhaft genommen und geriet bald in Vergessenheit. Bis ein neugieriger Koch des 21. Jahrhunderts auf das Rezept stieß und es aus seinem Dornröschenschlaf erweckte: Seit einigen Jahren serviert der aus Nordfriesland stammende Michael Weißenbruch die boudin hambourgeois in seinem Hamburger Restaurant – wie ihr französisches Vorbild besteht sie aus Kalbfleisch und ist mit Keta-Kaviar verfeinert. Auch in der legendären »Oberhafen-Kantine« steht die Hamburger Weißwurst seit 2008 wieder auf der Speisekarte. Allerdings verzichtet man hier auf den Kaviar, um das eher bodenständige Preisniveau nicht zu sprengen, und fügt stattdessen zwei Sorten Hering hinzu. Serviert wird das Ganze mit süßem Senf, Schwarzbrot, Radieschen und geriebenen Möhren, auf Wunsch auch mit Kartoffelsalat. Die bayerischen Leser, die sich nun mit Gänsehaut abwenden, seien an das alte Sprichwort erinnert: »Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht.« Also nur Mut und einfach mal probieren! Weder die Hamburger Weißwürste noch jene unserer westlichen und östlichen Nachbarn hätten auf Dauer Bestand gehabt, wenn sie nicht genießbar wären. Zeppeline Ein Schwarz-Bau hat die Nase vorn Sie gehören als feste Größe zum deutschen Nationalerbe, jene majestätischen silbernen Riesenzigarren, die über drei Jahrzehnte lang Glanz und Ruhm des Reiches verkörperten – ganz besonders natürlich als Ausweis deutscher Ingenieurskunst und Innovationskraft. Noch heute beeindrucken moderne Nachbauten, auch wenn sie in der Regel deutlich kleiner ausfallen, und von den Originalen wird meist mit nostalgischer Ehrfurcht gesprochen – nicht nur bei uns, sondern rund um die Welt. »Zeppeline« heißen die Wunderwerke nach ihrem Urheber Ferdinand Graf von Zeppelin, wobei dieser Begriff ausdrücklich starr gebauten Luftschiffen vorbehalten ist. Alle anderen, die lediglich aufgeblasene Hüllen sind, tituliert der Kenner mit leiser Verachtung als Blimp, was im Englischen auch »Fettsack« bedeutet. So etwas kann halt jeder bauen – ein Zeppelin dagegen ist solide deutsche Wertarbeit wie ein Mercedes. Oder? Nein, dagegen ist so weit nichts einzuwenden, bis auf eine kleine Korrektur: Graf von Zeppelin hat den »Zeppelin« nicht erfunden, sondern nur weiterentwickelt. Die Ehre des Erfinders gebührt vielmehr einem Amateurbastler jüdisch-ungarischer Herkunft, der tatsächlich das erste real existierende und flugfähige Starrluftschiff der Welt konstruierte – mehr als drei Jahre vor Zeppelin. Doch dazu später. Als kleines Aperçu sei angefügt, dass auch der Name Zeppelin nicht deutscher Herkunft ist, sondern auf slawische Wurzeln zurückgeht. Ursprung ist wahrscheinlich das Wort cepel, das im Alttschechischen »Klinge« und im Russischen »Schäufelchen« bedeutet. 1246 wird erstmals ein kleines ostdeutsches Dorf mit dem daraus abgeleiteten Namen Cepelin urkundlich erwähnt. Aus dieser Ansiedlung im heutigen Landkreis Rostock ging wenig später das gleichnamige Adelsgeschlecht hervor, als dessen erster schriftlich belegter Namensträger Heinrich von Cepelin (Heynricus de Cepelin) bekannt ist. Die 440-Seelen-Gemeinde schreibt sich inzwischen Zepelin, beim Namen der Familie kam im Lauf der Geschichte noch ein zweites »p« hinzu. Sechs Jahrhunderte und viele Generationen später: Als württembergischer Vertreter der Zeppelin-Ahnenreihe betritt der in Konstanz geborene Ferdinand Adolf Heinrich August Graf von Zeppelin (1838 – 1919) die Bühne. Nach Realschule, Polytechnikum und Kadettenausbildung dient er ab 1858 zunächst als Leutnant in der württembergischen Armee, doch noch im gleichen Jahr nimmt er Urlaub vom Militär und studiert in Tübingen Staatswissenschaft, Maschinenbau und Chemie. Ein Jahr später zwingt ihn die vorsorgliche preußische Mobilmachung wegen des Krieges zwischen Österreich und Sardinien zum Abbruch des Studiums und zur Fortsetzung des Militärdienstes. 1863 wird er abermals für ein Jahr beurlaubt und nimmt auf Seiten der Nordstaaten als Beobachter am Amerikanischen Bürgerkrieg teil. Dort soll er Gelegenheit bekommen haben, mit einem Ballon aufzusteigen, wofür es allerdings keine Zeugen gibt. Aber wie immer es sich abgespielt haben mag – diese Art Luftfahrt fasziniert den technisch nach wie vor interessierten Grafen. Und er denkt das Prinzip auch gleich weiter. Die Vision eines starr konstruierten, lenkbaren Luftschiffs beginnt sich in seinem Kopf abzuzeichnen. Am 25. April 1874 macht er sich dazu die erste Notiz in seinem Tagebuch. Aber erst 1891, nach seiner endgültigen Verabschiedung aus dem Militärdienst, wird er sich ernsthaft mit entsprechenden Bauplänen befassen. Zu jener Zeit gibt es längst motorisierte, bemannte und lenkbare Luftschiffe, die auch tatsächlich funktionieren. Allerdings besitzen sie nur eine aufblasbare Hülle ohne Trägerstruktur, wie ein Ballon, was aerodynamisch noch nicht der Weisheit letzter Schluss ist. Für die Premiere dieses Bauprinzips zeichnet der Pariser Ingenieur Henri Giffard (1825 – 1882) verantwortlich, ein Spezialist für Dampfmaschinen und erfolgreicher Tüftler auf diesem Gebiet. 1851 meldet Giffard ein Patent auf die »Anwendung des Dampfes in der Luftschifffahrt« an. Gleich darauf setzt er die Idee in die Tat um und baut gemeinsam mit zwei Mitarbeitern ein zigarrenförmiges, 44 Meter langes Luftschiff mit der schlichten Bezeichnung Dirigeable (»Lenkbar«). Am 24. September 1852 hebt seine Konstruktion, angetrieben von einer drei PS starken Dampfmaschine, erstmals ab und legt die knapp 28 Kilometer lange Strecke von Paris bis Élancourt in drei Stunden ohne Probleme zurück. Leider ist die Motorleistung aber viel zu schwach, um gegen den Wind eine Rückkehr zum Startpunkt zu ermöglichen. Mehr PS wiederum würden die Antriebsmaschine zu schwer machen. An der Praxistauglichkeit hapert es also noch. Erst 32 Jahre später ist der Kampf gegen den Wind gewonnen, ebenfalls dank einer französischen Entwicklung: Die 52 Meter lange, elektrisch angetriebene La France der Brüder Charles und Paul Renard ist das erste Luftschiff, mit dem es gelingt, aus eigener Kraft wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Auf insgesamt sieben Flügen zwischen 1884 und 1885 stellt La France diese Fähigkeit fünf Mal unter Beweis. Etwa zur gleichen Zeit befasst sich im österreichisch-ungarischen Kaiserreich ein Mann namens David Schwarz mit der Idee einer starren Luftschiffkonstruktion. Der vollkommen unbekannte jüdische Provinzler stammt aus einer westungarischen Stadt mit dem unaussprechlichen Namen Zalaegerszeg, ist eigentlich Holzhändler und hat keinerlei technische Ausbildung, sondern nur eine Kaufmannslehre absolviert. Nichtsdestotrotz begeistert er sich für Technik, verschlingt diverse einschlägige Bücher und verfällt irgendwann in den Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts auf die Idee, ein Luftschiff mit starrer Hülle zu konstruieren. Nur so, schwant ihm, sind wirklich stabile Flugeigenschaften erzielbar. Für Gerüst und Hülle wählt Schwarz Aluminium, einen damals völlig neuartigen Werkstoff, der leicht und trotzdem stabil ist. 1890 bietet er seine fertigen Konstruktionspläne dem österreichischen Kriegsministerium an. Das zeigt zwar Interesse, hat jedoch kein Budget für ein solches Projekt. Durch Vermittlung des russischen Militärattachés in Wien gelingt es Schwarz drei Jahre später dennoch, in St. Petersburg einen Prototyp seines Luftschiffs zu konstruieren – allerdings mit desaströsem Ergebnis: Gleich beim Befüllen mit Wasserstoff bricht das Aluminiumgerüst in sich zusammen, und der stolze Erfinder kann seinen Traum vorerst begraben. Zum Glück interessiert sich außerhalb des Zarenreichs kein Mensch dafür. So kommt die Rettung schließlich aus Deutschland, wo Schwarz den Fabrikanten Carl Berg im westfälischen Lüdenscheid für seine Idee begeistern kann. Berg hat bereits Aluminiumlegierungen von besonderer Festigkeit patentieren lassen und wittert die Chance, mit dem Erstflug eines Aluminium-Luftschiffs eine spektakuläre Werbeaktion für sein Unternehmen zu inszenieren. Am 18. August 1892 schließt er mit Schwarz einen Vertrag, der diesem die Finanzierung des Projekts, das nötige Aluminium und sowie technische Unterstützung zusichert. Im Januar 1897 ist die imposante Konstruktion auf dem Tempelhofer Feld bei Berlin endlich bereit zum Abheben: 48 Meter lang, 3800 Kubikmeter Hüllenvolumen, 3,65 Tonnen Gewicht und drei Propeller, angetrieben von einem 12 PS starken Daimler-Motor. Für die innere Stabilität sorgt ein Aluminiumgittergerüst, die Außenhülle besteht komplett aus dünnem Aluminiumblech. Doch die Jungfernfahrt seines Luftschiffs erlebt der Erfinder nicht mehr. Die Nachricht von der Fertigstellung löst bei dem Kettenraucher Schwarz einen derartigen Adrenalinschub aus, dass er kurz darauf zusammenbricht und, erst 46-jährig, an Herzversagen stirbt. Der Schock ist groß und guter Rat teuer, denn außer dem Verstorbenen gibt es in der Firma niemanden, der seine Konstruktion sicher bedienen und steuern kann. Beim deutschen Militär verweigert man sich kategorisch, geht es doch hier um ein »jüdisches« Projekt. So fällt die Wahl schließlich auf den Mechaniker Ernst Jagels, dessen aeronautische Fähigkeiten allerdings eher bescheiden sind. Am Nachmittag des 3. November 1897 wagt er in Gegenwart zahlreicher hochrangiger Gäste die erste Probefahrt. Und tatsächlich: Trotz riskanter Windgeschwindigkeiten um 30 km/h steigt das Luftschiff planmäßig auf und erreicht eine Höhe von rund 400 Metern. Doch dann versagt urplötzlich der Antrieb – bei zwei Propellern springen gleichzeitig die Treibriemen ab, und das Luftschiff wird zum unkontrollierbaren Spielball des Windes. In seiner Not lässt Jagels Gas ab, offenbar viel zu schnell, sodass er eine krachende Bruchlandung hinlegt. Der Pilot selber wird dabei zwar nur leicht verletzt, aber Gerüst und Außenhülle des Luftschiffs sind völlig zerknickt: wieder ein Totalschaden. Und abermals zeichnet sich Rettung ab – denn unter den zahlreichen hochrangigen Gästen, die das Schauspiel verfolgen, befindet sich auch der luftschiffbegeisterte Graf Zeppelin. Er nimmt Kontakt mit Carl Berg auf, kauft der Witwe von David Schwarz die Baupläne ab und setzt gleich noch eins drauf: Seine buchstäblich hochfliegenden Pläne sehen eine Art schwebenden Güterzug aus mehreren aneinandergekoppelten Luftschiffen vor. Bekanntlich wurde das Projekt in dieser Form nie realisiert – schade, das Wort »Luftzug« hätte eine ganz neue Bedeutung bekommen. Am 13. August 1898 jedenfalls erhält Zeppelin ein Reichspatent auf diese Konstruktion. Fortan gilt er als Erfinder des starren Luftschiffs, und sein treu zu ihm stehender Nachfolger Dr. Hugo Eckener beteuert später, dass von der ursprünglichen Idee angeblich nur die Aluminiumhülle übernommen worden sei. Doch wie auch immer – der Österreicher Schwarz war zuerst da. Da das Militär nach dem Tempelhof-Fiasko endgültig dankend abwinkt, muss Zeppelin die Finanzierung seines Neubaus auf eigenes Risiko in die Hand nehmen. 1898 gründet er die »Aktiengesellschaft zur Förderung der Luftfahrt« mit einem Startkapital von 800 000 Reichsmark, das er zur Hälfte selber aufbringt. Zweiter Großaktionär ist mit 100 000 Reichsmark Carl Berg. Die endgültige Konstruktion des Luftschiffs wird dann von Zeppelins Chefingenieur Theodor Kober entwickelt. 1899 beginnt der Bau in einer schwimmenden Montagehalle auf dem Bodensee, und am Abend des 2. Juli 1900 ist es so weit: Der erste Zeppelin, schlicht LZ 1 genannt, erhebt sich majestätisch in die Lüfte. Es ist das größte Objekt, das jemals den Erdboden verlassen hat, ein wahres Ungetüm – 128 Meter lang, 15 Meter im Durchmesser und damit mehr als dreimal so groß wie der Prototyp von David Schwarz. Rund 12 000 Schaulustige verfolgen gebannt und begeistert den nur 18 Minuten dauernden Flug. Wer von ihnen weiß schon, dass dieser Triumph deutscher Technik erst durch Ideen aus Frankreich und Österreich-Ungarn möglich geworden ist? David Schwarz, Henri Giffard, Charles und Paul Renard sowie eine Reihe weiterer französischer Ingenieure – bei der Rückschau auf die große Zeit der Zeppeline sollte man fairerweise keinen von ihnen vergessen. Danksagungen Dass dieses Buch geschrieben werden konnte, ist in nicht geringem Umfang der tatkräftigen Mitwirkung und Hilfe geschuldet, die mir von Freunden und Wegbegleitern zuteilwurde. Ganz besonderer Dank gebührt meinem Mentor Klaus Dahms – er hat sein profundes Wissen als ehemaliger Geschichtsdozent an der Freien Universität Berlin freigebig mit mir geteilt und an vielen Stellen geholfen, historische Details korrekt wiederzugeben. Ebenso herzlich danke ich meinem Agenten Dr. Harry Olechnowitz, der mich beim Grundkonzept aufs richtige Gleis gebracht hat, meiner Frau Gertrud, die mir als Testleserin und Erstkorrektorin eine unschätzbare Hilfe war, meinem akribischen Lektor Thomas Bertram und nicht zuletzt Nannette Elke vom Heyne Verlag, die mir immer wieder Anregungen gegeben und mich in der Marschrichtung bestärkt hat. Weiterhin danke ich folgenden kooperativen Menschen für ihre freundliche Unterstützung (in alphabetischer Reihenfolge): Renate Ahrens, Hamburg Tobias Arps, München Nomi Baumgartl, München Christiane Horndasch, Dorfprozelten Reto Kormann, Schweizerische Bundesbahnen Malou Weirich, Office International du Coin de Terre et des Jardins Familiaux, Luxemburg Sandra Hofer, ÖAMTC Klosterneuburg Christopher Horndasch, Miltenberg Doris Talpay, Aachen Eva Veit, München … und allen, die mir ihre persönlichen Weihnachtsduft-Impressionen übermittelt haben.