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JÜRGEN

AHRENS, geboren in Bremen, studierte Germanistik,


Musikwissenschaft und Fotodesign. Danach arbeitete er viele Jahre als Texter
und Konzeptioner in den internationalen Werbeagenturen Grey, Heye und
DDB, bevor er sich 1985 selbstständig machte und parallel das (Bücher-
)Schreiben begann. Seine journalistischen Artikel erscheinen u. a. in der
Süddeutschen Zeitung. Jürgen Ahrens lebt mit seiner Frau in München.
www.wie-deutsch-ist-das-denn.de
www.ja-text.de
ORIGINALAUSGABE 10/2013
© 2013 by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Redaktion: Thomas Bertram
Umschlaggestaltung: Büro Überland, München
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-08401-1
www.heyne.de
Für Gertrud
Dies hier sind lediglich Versuche, meine natürlichen Fähigkeiten zu erproben,
mitnichten aber die erworbnen; und wer mich bei einem auf Unwissenheit
beruhenden Fehler ertappt, vermag mir nichts anzuhaben, denn wie könnte ich
andern gegenüber für die Stichhaltigkeit meiner Gedanken einstehn, der ich, da
mit ihnen keineswegs zufrieden, nicht einmal mir selbst gegenüber dafür einstehe?
Wer auf gelehrtes Wissen aus ist, möge da angeln, wo es sich findet – es gibt nichts,
was ich weniger wollte.
Michel de Montaigne
Die Deutschen glauben nicht an das, was sie sehen,
sondern an den Fahrplan.
Erich Kästner
Vorbemerkung
Wer sind wir, und wenn nein, was dann?
Sehr deutsch ist es anscheinend, eine solche Frage überhaupt zu stellen. Denn
was Nabelschau und Identitätssuche betrifft, sind wir als Nation offensichtlich
unschlagbar: Sucht man das Wortpaar »typisch deutsch« (mit sämtlichen
Deklinationsendungen) im Internet, so erhält man mehr als 1,13 Millionen[1]
Treffer – einsamer Weltrekord. Weit abgeschlagen folgen die Franzosen mit 207
200 Treffern für »typiquement français/e/s«, und ausgerechnet die Weltmacht
USA bringt es nur auf einen kümmerlichen dritten Platz: 168 000 Mal »typically
American«, das ist angesichts von 316 Millionen stolzen US-Bürgern verblüffend
wenig.
Was aber treibt uns dazu, mit solcher Inbrunst dem »Typischen« unseres
Volkscharakters oder unserer Kultur nachzuspüren? Ist es die uns nachgesagte
Gründlichkeit, die auch im eigenen Selbstverständnis keine weißen Flecken des
Nichtwissens duldet? Oder verrät diese unermüdliche Selbstbespiegelung einfach
die innere Unsicherheit einer Nation, die sich als solche noch immer nicht ganz
gefunden hat?
Wie auch immer, die deutsche Identität scheint ein vertracktes Thema zu sein.
Jeder Versuch, sie einzukreisen und festzunageln, erinnert an den berühmten
Vergleich mit Wand und Wackelpudding. Schon die sattsam bekannten
Klischees, die andere uns andichten oder wir uns selber aufkleben, ergeben ein
reichlich diffuses Bild: Weltschmerz, Romantik, Großspurigkeit, Ordnungsliebe,
Gründlichkeit, Fleiß, Vereinsmeierei, Erfindergeist – und mit Sicherheit lassen
sich zu jeder Eigenschaft genügend Deutsche finden, die das genaue Gegenteil
verkörpern. Selbst die vermeintlich exklusiv deutsche Modetorheit, im Sommer
Sandalen mit Socken zu tragen, soll es nach neuesten Erkenntnissen schon bei
den alten Römern gegeben haben.
Das Wochenmagazin Stern[2] nannte das Wirtschaftswunder der Jahre 2010/11
»irgendwie sehr deutsch«. Wie, was, irgendwie? Beim Verständnis helfen könnte
eine Studie der Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), für die im
Jahr 2006 rund 12 000 Bürger in Deutschland, Frankreich, Großbritannien,
Italien, den Niederlanden, Österreich, Polen, Russland, Tschechien und der
Türkei befragt wurden. Wichtigste Erkenntnisse: Im europäischen Ausland hält
man die Deutschen vor allem für gut organisiert, akkurat und leicht pedantisch.
Klar, keine Frage, das ist der Stoff, aus dem Wirtschaftswunder sind. Aber dass
uns Pedanterie unterstellt wird, wenn auch nur leichte, entbehrt nicht einer
gewissen Ironie – haben wir doch ausgerechnet diesen Begriff aus Frankreich
importiert!
Interessant ist auch, dass die Deutschen über sich selbst offenbar strenger
urteilen als ihre Nachbarn: Auf die Frage »Was ist deutsch?« antworten rund
sieben Prozent der Bundesbürger, die Deutschen seien pessimistisch und
jammerten viel. Diese Auffassung teilt man in anderen Ländern Europas so gut
wie gar nicht.
Leicht nachweisen lässt sich, dass es in Deutschland die meisten Baumärkte
gibt; das spricht für Fleiß und Tüchtigkeit – allerdings ist die »Do-it-yourself«-
Welle in den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts in England entstanden
und erst später zu uns herübergeschwappt. Belegt ist auch das komplizierteste
Steuerrecht der Welt, was aber wiederum keine weiteren Rückschlüsse erlaubt:
Bei der Gesamtzahl an Gesetzen und Vorschriften sind wir geradezu
Waisenknaben im Vergleich zum europäischen Spitzenreiter Italien.
Man sieht: Klischees und Stereotypen taugen wenig bis gar nichts zur Definition
des »typisch Deutschen«. Aber brauchen wir das überhaupt – eine deutsche
Identität, womöglich gar eine »deutsche Seele«? Ist es nicht viel spannender,
inspirierender und letztlich befriedigender, in einem Land zu leben, das seine
Vitalität gerade aus seinem Facettenreichtum und seinen immer wieder
überraschenden Seiten gewinnt? Und fallen volksunabhängige politische
Errungenschaften wie Demokratie, Sozialstaat, Presse- und Meinungsfreiheit
nicht mehr ins Gewicht als ein Nationalcharakter, den man auf dem globalen
Jahrmarkt der Eitel- oder Befindlichkeiten spazieren tragen kann?
Will man den schwarz-rot-goldenen Wackelpudding also partout an die Wand
nageln, dann könnte des Rätsels Lösung lauten: Typisch deutsch ist, dass wir gar
nicht »typisch« sind, sondern etwas von allem an uns haben. So gesehen,
verkörpert der Deutsche im Grunde den Idealtyp des Weltbürgers –
vorausgesetzt, er merkt es endlich. Interessanterweise sind wir Deutschen
übrigens die Ersten, die in ihrer ureigenen Sprache ein Wort für den
griechischen Begriff »Kosmopolit« geprägt haben.
In Oberbayern gibt es ein Dorf mit dem sinnigen Namen »Kreuzstraße«.
Tatsächlich treffen dort sieben Landstraßen aus allen Himmelsrichtungen
aufeinander, was für eine 113-Seelen-Ortschaft nicht gerade wenig ist. Ähnliches
gilt sinngemäß auch für Deutschland: Unser Land belegt nach Einwohnern zwar
nur Platz 14 der Weltrangliste und steckt flächenmäßig eher im Tabellenkeller,
aber für Europa bildet es die wichtigste »Straßenkreuzung«, eine Drehscheibe der
Völker, Sprachen und Kulturen. Schließlich haben wir sage und schreibe neun
unmittelbare Grenznachbarn – das ist einmalig auf dem Kontinent und wird
weltweit nur noch von den Giganten China, Russland und Brasilien übertroffen.
Diese bemerkenswerte »Umzingelung« spiegelt sich in so ziemlich allem wider,
was unsere Kultur, unsere Sprache und unsere sonstigen Errungenschaften
ausmacht. Wahrscheinlich hat sie auch unsere Kreativität beflügelt: Immerhin
verdankt die Welt den Deutschen eine Reihe bahnbrechender Erfindungen und
Entdeckungen – wie die Druckerpresse, den Druckknopf, den
Verbrennungsmotor, die Schallplatte, die Röntgenstrahlen, das Echolot, den
Raketenantrieb, das Fernsehen, den Dübel, den Computer, das Faxgerät, den
MP3-Player, das Kegeln und das Schunkeln. Andererseits wurden viele
vermeintlich deutsche Erfindungen in Wahrheit anderswo gemacht, und viele
vermeintliche Facetten unseres Volkscharakters tragen bei näherem Hinsehen
ausgesprochen multikulturelle Züge. Gerade die scheinbar typischsten Dinge –
etwa das Sauerkraut, der Gartenzwerg, das Vereinswesen oder die Autobahn –
stammen gar nicht aus Deutschland, sondern sind früher oder später als
Importgüter zu uns gelangt. Andere, wie das Bier, Grimms Märchen oder die
»deutsche« Eiche, teilen wir von jeher mit anderen Nationen.
Auf den folgenden Seiten werden wir die Nase tief in die nationale
Requisitenkammer stecken, der Herkunft der Fundstücke auf den Grund gehen
und zahlreiche überraschende Fakten zutage fördern, die gängige Deutschland-
Klischees als das entlarven, was sie sind: Klischees eben – teils ungenau, teils
pauschalierend und teils völlig an den Haaren herbeigezogen. Seien Sie also
gespannt auf eine Reihe von Aha-Effekten. Vielleicht bescheren sie Ihnen ein
ganz neues Deutschlandbild – etwas lockerer, etwas globaler und auf jeden Fall
differenzierter als bisher.
So könnte am Schluss dieses Buches – trotz oder gerade wegen dieser
Erkenntnisse – eine Frage stehen, die der amerikanisch-irische Schriftsteller
Frank McCourt eigentlich auf die USA gemünzt hat: »Ist das nicht ein
wundervolles Land?«
[1]Momentaufnahme vom Mai 2013
[2] Stern 26/2011.
Abendland
Das Licht kommt woandersher
Kein schöner Land in dieser Zeit
als hier das unsre weit und breit …
Es gibt, zumindest in der älteren Generation, wohl nur wenige Deutsche, denen
die obigen Worte nicht das Herz erwärmen und die nicht die Melodie dazu
summen können. Nebenbei bemerkt, stammt der Liedtext von einem Mann mit
Migrationshintergrund, Anton Wilhelm von Zuccalmaglio (1803 – 1899). Aber
sehen wir über diesen kleinen Webfehler mal hinweg – irgendwie trifft die viel
gesungene Zeile doch eine kollektive Gemütslage. Klingt das konkurrenzlos
schöne Land aus Zuccalmaglios Volksweise nicht auch wunderbar romantisch in
dem urdeutschen Wort »Abendland« an? Hat dieses Wort nicht zugleich einen
anheimelnden Unterton von Feierabend, während sein Gegenstück
»Morgenland« eher unangenehme Gedanken an Weckerklingeln, Frühschicht
und Terminstress wachruft? Und rührt das Attribut »abendländisch« (wahlweise
auch »christlich-abendländisch«) nicht an Heimatgefühle, die ein steifes
Kunstwort wie »Leitkultur« nicht einmal im Ansatz aufkommen lässt?
Von daher wundert es nicht, wenn beide Begriffsvarianten zum
Lieblingsvokabular mancher konservativer Politiker gehören – als gefühlsbetonte
Pendants zu den würdevolleren »westlichen Werten« und zur »deutschen
Leitkultur«. Unter Konrad Adenauers Kanzlerschaft in den Fünfzigerjahren des
vorigen Jahrhunderts verstieg man sich gar dazu, die NATO-Mitgliedschaft der
jungen Bundesrepublik (Seite an Seite mit der Türkei!) ins abendländische
Wertgefüge einzureihen. Tempi passati. Aber abgesehen davon, dass solche
Schablonen in einer globalisierten Welt zunehmend angestaubt wirken – was ist
eigentlich das Abendland? Und was macht das Abendländische an ihm aus?
Bohrende Fragen. Also stopp, Heimatfilm auf Anfang. Historisch gesehen, kann
das Gegenstück einen knappen Vorsprung für sich verbuchen: Martin Luther –
dem das Deutsche übrigens viele neu erfundene Vokabeln verdankt –
verwendete den Begriff »Morgenland« erstmals in seiner 1522 erschienenen
Bibelübersetzung als Synonym für die Welt des Mittleren Ostens, also der
Gebiete östlich von Palästina. Damit wurde das Wort zum fast sprichwörtlichen
Attribut der drei Könige, die wir aus der Weihnachtsgeschichte kennen. Das
Gegenstück »Abendländer« (im Plural) als Bezeichnung für die Nationen der
westlichen Welt findet sich erst sieben Jahre später bei dem deutschen Theologen
Kaspar Hedio.
Natürlich haben weder Luther noch Hedio die Abgrenzung zwischen Ost und
West erfunden – die gab es schon in der Antike, wie sich an den lateinischen
Bezeichnungen »Orient« und »Okzident« für die auf- und untergehende Sonne
ablesen lässt. An Sinn und Berechtigung einer solchen künstlichen Barriere darf
man allerdings – zumindest aus heutiger Sicht – mit Fug und Recht zweifeln,
verbindet sich damit doch häufig der unausgesprochene Hintergedanke, das
Abendland sei dem Morgenland geistig-moralisch oder zivilisatorisch überlegen.
Übersehen wird dabei gern, dass nahezu alles, was nach unserem Verständnis die
westliche und somit auch die deutsche Zivilisation ausmacht, ursprünglich aus
dem Orient stammt, also aus dem Morgenland im weitesten Sinne. Zufällig, aber
passenderweise ist »Orient« ein direkter Verwandter des Begriffs »Original«, und
der bedeutet genau das: ursprünglich.
Das Christentum etwa, das mit dem Abendland scheinbar so unlösbar
verknüpft ist, geht bekanntermaßen auf einen Israeli zurück – mithin einen
Asiaten (der als bekennender Jude übrigens nie die Absicht hatte, eine neue
Glaubensrichtung zu begründen). Zur Staatsreligion avancierte die katholische
Lehre erstmals im Jahr 391 unter dem oströmischen Kaiser Theodosius in
Konstantinopel, also auf dem Gebiet der heutigen Türkei. Und ausgerechnet eine
der zentralen Gestalten des Katholizismus, Maria, findet sich später ausführlich
im Koran wieder.
Auch die Kenntnis der »alten Griechen« wurde uns von Morgenländern
vermittelt: Fast die gesamte Wissenschaft der hellenistischen Antike, die ja
ebenfalls einen Großteil unserer Kultur ausmacht, wäre spurlos im Dunkel der
Geschichte verschwunden, hätten nicht Araber die alten Schriften im Mittelalter
für die Nachwelt konserviert. Dass Hippokrates, Platon, Aristoteles, Archimedes
und viele andere zu Säulen der humanistischen Bildung werden konnten,
verdanken wir allein einer Riege fleißiger Übersetzer und Schreiber am »Haus
der Weisheit« in Bagdad. Diese einflussreiche Akademie, gegründet im Jahr 825
von dem Kalifen Al-Ma’mun, war zu ihrer Zeit die Drehscheibe für das
gesammelte Wissen der damals bekannten Welt. Zu dessen Niederschrift
verwendete man übrigens schon damals Papier, das in Europa noch völlig
unbekannt war – doch dazu später.
Überhaupt war das »Abendland« nach dem Niedergang des Römischen
Imperiums zunächst vergleichsweise arm dran – oder wie es der britische
Historiker Ian Morris lakonisch ausdrückt: »Westeuropa war lange ein
langweiliger Platz an der Peripherie, wo nicht viel passierte.«[3] Das trifft
zumindest auf ein paar Jahrhunderte zu, auch wenn dann mit der
Völkerwanderung eben jene Durchmischung einsetzte, die den späteren
kulturellen Reichtum Europas und Deutschlands mitbegründete. Doch während
sich aus diesem Amalgam erst langsam so etwas wie eine europäische Kultur
herausbildete, war die arabische Welt bereits buchstäblich ein Mekka der
Wissenschaften, erlebte China unter dem Tang-Kaiser Xuanzong eine
einzigartige kulturelle Blüte und befand sich Indiens klassische Literatur auf
ihrem Höhepunkt. Europa indes zehrte noch immer weitgehend von dem Erbe,
das die verblichene römische Antike ihm hinterlassen hatte – und nicht zuletzt
von den fruchtbaren Impulsen aus dem sogenannten Morgenland. Dass dessen
Einflusssphäre zeitweise bis in die französische Charente und später bis kurz vor
Wien reichte, kann man für unsere abendländische Kultur also durchaus als
positiv verbuchen.
Auch eine Reihe technischer Errungenschaften, auf die sich die vermeintliche
Vorrangstellung des »Westens« gründet, hat ihren tatsächlichen Ursprung in
asiatischen Ländern. China als Plagiator? Da müssen wir uns rückblickend wohl
auch an die eigene Nase fassen, denn über Jahrhunderte war es eher umgekehrt:
Was Chinesen erfanden, machten andere nach, wie etwa den Kompass, oder
stahlen es schlicht und einfach – so das bereits angesprochene Geheimnis der
Papierherstellung, das in China schon vor fast zweitausend Jahren bekannt war.
Es wurde chinesischen Papierfabrikanten (vermutlich im 8. Jahrhundert von
Arabern) gewaltsam abgepresst, und so entstanden ab 794 in Bagdad die ersten
Papiermühlen diesseits des Fernen Ostens. 1144 errichteten die Mauren in
Spanien die erste vergleichbare Anlage Europas, und erst 1390 wurde auch in
Deutschland – korrekter gesagt, in Mittelfranken – erstmals Papier hergestellt.
Ebenso ist der Buchdruck entgegen einem verbreiteten Missverständnis keine
deutsche Erfindung: Er war in China seit dem frühen 11. Jahrhundert bekannt,
und schon 1234 druckte man in Korea erstmals mit beweglichen Lettern. Was
Johannes Gutenberg zweihundert Jahre später erfand, war nicht der Buchdruck,
sondern ein Handgießinstrument zur Herstellung beweglicher Lettern in großer
Zahl. Und er kombinierte bestehende Erfindungen zu einem neuen
Druckverfahren, das erstmals die massenhafte Produktion von Büchern
ermöglichte.
Ein weiteres Geheimnis, das in China lange streng gehütet wurde, war das des
Porzellans. Erst 1707 gelang es dem thüringischen Alchemisten Johann Friedrich
Böttger in Dresden, hinter den Trick zu kommen und ein Gefäß aus Porzellan
herzustellen.
Direkt aus der arabischen Welt wiederum stammen optische Errungenschaften
wie die Lupe oder die »Camera obscura«, ohne die wir heute weder Fotografie
noch Film und Fernsehen kennen würden. Der Mathematiker, Optiker und
Astronom Abu Ali al-Hasan ibn al-Haitham aus Basra im heutigen Irak (leichter
zu merken unter seinem Kurznamen Alhazen) entdeckte das Prinzip, nach dem
alle Linsen funktionieren, schon um die vorletzte Jahrtausendwende.
Was wäre außerdem die heutige – nicht nur deutsche und europäische, sondern
weltweite – Popmusik ohne das Morgenland? Gar nichts. Zumindest klänge sie
ganz anders, denn zwei ihrer wichtigsten Instrumente, die Gitarre und das
Becken, stammen ursprünglich aus Asien.
Der mit Abstand wichtigste orientalische Import ist jedoch unser Zahlen- und
Rechensystem, dessen Wurzeln in Indien liegen und das in Europa erst zwischen
dem 11. und 15. Jahrhundert eingeführt wurde. Zuvor bereitete es große
Schwierigkeiten, sehr viel weiter zu zählen als bis tausend, denn die größte
römische Ziffer ist bekanntlich das M (als Abkürzung für »mille«). Zwar wurden
im antiken Rom für die Vervielfachung der Zahl 1000 noch andere, etwas
kompaktere Zeichen verwendet, aber in der mittelalterlichen und bis heute
gültigen Darstellung gibt es sie nicht mehr. Das heißt, römische Zahlen, die über
1000 hinausgehen, werden ab dem fünften Tausender unübersichtlich, und
spätestens bei Millionenangaben hat man es mit einem wahren Gartenzaun von
Buchstaben zu tun. Für die Zahl 1.234.567 zum Beispiel findet sich in Wikipedia
die Schreibweise MCCXXXIV·M DLXVII. Viel Spaß beim Entziffern.
Man erkennt schnell, dass eine derartige Aneinanderreihung nicht weiterführt –
und rechnen kann man auf diese Weise schon gar nicht. Rechnen, so wie wir es
kennen, ist erst durch eine der genialsten Erfindungen der Menschheit möglich
geworden: die Null (im Sanskrit bezeichnet als sunya, »das Nichts«). Sie bildet
die Grundlage nicht nur des Dezimalsystems, sondern auch aller heutigen Bits
und Bytes. Ohne Null wären die moderne Mathematik und Physik nicht
denkbar, hätte ein Deutscher namens Konrad Zuse nicht den Computer erfinden
können, gäbe es kein Handy, kein Smartphone, kein Internet und kein iPad.
Es ist nicht eindeutig überliefert, wann und wo die rein philosophische
Beschäftigung mit dem »Nichts« zur Geburt eines definierten Zahlenwerts
führte. Jedenfalls erscheint die Null als vollwertige Zahl erstmals in einem Text
des indischen Astronomen und Mathematikers Brahmagupta aus dem Jahr 628.
Brahmagupta entwickelte auch die ersten Regeln für das Rechnen mit der Null,
die schon weitgehend unseren heutigen entsprechen. Über die arabische Welt
gelangte sein Wissen dann weiter nach Westen. Wichtige Adepten waren der
persische Mathematiker Al-Khwarizmi (von dessen Namen übrigens das heutige
Wort »Algorithmus« abgeleitet ist) und der ägyptische Mathematiker Abu
Kamil.
Der marokkanische Gelehrte Abu al-Qasim Abbas ibn Firnas schließlich
brachte das Dezimalsystem im 9. Jahrhundert über das maurisch besetzte
Andalusien nach Europa. Auch der Italiener Leonardo Fibonacci, einer der
bedeutendsten Mathematiker des Mittelalters, lernte die indisch-arabischen
Zahlen gegen Ende des 12. Jahrhunderts auf einer Algerienreise kennen und
übernahm sie in sein Hauptwerk, den Liber abbaci. Achthundert Jahre später
sollte er mit seinen Zahlenspielen einen Autor namens Dan Brown zu einem
Buch inspirieren, dessen Verkaufszahlen wir ohne Dezimalsystem auch nicht
ohne größeren Schweißausbruch hinschreiben könnten …
»Wer sich selbst und andere kennt, wird auch hier erkennen: Orient und
Okzident sind nicht mehr zu trennen«, reimte Goethe im Jahr 1829 in seiner
Gedichtsammlung West-Östlicher Divan. Besser könnte man es auch heute nicht
sagen.
Fazit: In unserer abendländischen Kultur – einschließlich des Christentums –
steckt mehr Morgenland, als den meisten Abendländern vermutlich bewusst ist.
»Ex oriente lux«, sagten die alten Römer und meinten damit das Licht der im
Osten aufgehenden Sonne. In späteren Jahrhunderten wurde die Wendung frei
übersetzt: Aus dem Osten kommt die Erleuchtung. Da ist was dran. Über unser
schönes (Abend)land können wir uns trotzdem oder gerade deswegen freuen.
[3] Zit. aus: Neue Zürcher Zeitung vom 30.04.2011.
ADAC
Überholt wird links
Klar wie Kühlwasser: Das Land, in dem das Automobil erfunden wurde, wird
sich sicher auch des ältesten und größten Automobilclubs der Welt rühmen
dürfen. Und wer anders könnte das sein als der ADAC? Schon zu Beginn des 20.
Jahrhunderts gegründet, ist er heute mit über 18 Millionen Mitgliedern die mit
Abstand größte nichtreligiöse Vereinigung in ganz Deutschland. Zum Vergleich:
Die katholische Kirche hat gerade mal fünf Millionen Schäfchen mehr, das
Deutsche Rote Kreuz kommt nur auf rund 4,7 Millionen Mitglieder. Einen so
eindrucksvollen Vorsprung soll uns ein anderes Land erst mal nachmachen.
Oder – heiliger Benz! – ist die Idee des Automobilclubs etwa doch nicht so
deutsch, wie es scheint? Liebe ADAC-Mitglieder, ihr müsst jetzt ganz stark sein:
Sie ist es wirklich nicht.
Tatsächlich erlebte die Welt um die vorletzte Jahrhundertwende einen wahren
Gründungsboom von Clubs für Automobilisten und Motorradfahrer. Der
ADAC, heute die größte derartige Vereinigung in Europa, war dabei keineswegs
unter den Ersten. Er war übrigens auch nicht der erste deutsche Autoclub: Diese
Ehre gebührt dem Automobilclub von Deutschland (AvD), gegründet 1899 in
Berlin unter dem Namen »Deutscher Automobilclub« (DAC). Der ADAC
entstand erst am 24. Mai 1903, und das auch nicht als Club für Autofahrer,
sondern als »Motorradfahrer-Vereinigung«. War er damit wenigstens der erste
Motorradclub? Möglicherweise, aber der Yonkers Motorcycle Club in New York
(YMC) wurde ebenfalls 1903 etwa zeitgleich gegründet.
Der allererste Automobilclub jedenfalls, so viel steht fest, entstand weder in
Deutschland noch in den USA, sondern in Frankreich: Es ist der ehrwürdige
(und bis heute äußerst elitäre) Automobile Club de France (ACF), gegründet in
Paris von Marquis Albert de Dion, Baron de Zuylen de Nyevelt und dem
Journalisten Paul Meyam am 12. November 1895 – also nur knapp zehn Jahre,
nachdem Carl Benz seinen Motorwagen zum Patent angemeldet hatte. Das
Ganze war eine Art Retourkutsche, weil de Dion kurz zuvor in einem
Wettbewerb für »Wagen ohne Pferde« disqualifiziert worden war und die
Siegprämie an ein Auto mit Daimler-Motor ging. De Dion war darüber aufs
Äußerste erbost und rief kurzerhand ein Komitee ins Leben, das eigene
Motorsportveranstaltungen organisieren sollte. Ebendiesem Komitee gebührt die
Ehre, am 11. Juni 1895 das erste offizielle Autorennen der Geschichte
veranstaltet zu haben: von Paris nach Bordeaux und zurück – rund 1200
Kilometer, die in knapp 49 Stunden absolviert wurden. Aus dem
Veranstaltungskomitee wurde dann im Spätherbst ein Club, dessen Hauptzweck
zunächst weiterhin der Motorsport war. Auch die als Rennsport-
Dachorganisation weithin bekannte FIA (Fédération Internationale de
l’Automobile), gegründet 1904, ist einer Initiative des ACF zu verdanken.
Mon dieu, ausgerechnet die Franzosen! Menschen, die der Autowelt so
merkwürdige Kreationen beschert haben wie den Döschewo oder den Vel Satis,
überholen uns einfach linksrheinisch, ohne vorher zu blinken!
Aber halt, es geht ja noch weiter. Denn das Beispiel des ACF machte natürlich
Schule, und so erblickten in rascher Folge weitere Automobilclubs das Licht der
Welt. Die Liste der Gründungen in chronologischer Reihenfolge:

Touring Club Schweiz (TCS), ursprünglich ein reiner Fahrradclub, ab


1.9.1896
1901 auch für Autofahrer geöffnet
24.10.1896 Österreichischer Touring-Club (OTC)

Österreichischer Automobil-Club (1946 mit dem OTC vereinigt zum


6.2.1898
ÖAMTC)

6.12.1898 Automobil Club der Schweiz (ACS)


31.7.1899 Automobilclub von Deutschland (AvD)

8.4.1900 L’Automobile Club (AC), Frankreich


4.3.1902 American Automobile Association (AAA), USA

Deutsche Motorradfahrer-Vereinigung (1911 umbenannt in Allgemeiner


24.5.1903
Deutscher Automobilclub, ADAC)
Von der zeitlichen Abfolge her ist der ADAC also nur die Nummer neun unter
den wichtigen Automobilclubs der Welt. Und erst recht ist er natürlich nicht der
größte: Auch wenn er im Jahr 2010 den japanischen Automobilclub JAF als
weltweite Nummer zwei abgelöst hat – souveräner Spitzenreiter ist und bleibt die
amerikanische AAA, die mit rund 50 Millionen fast dreimal so viele Mitglieder
hat wie unser deutsches Vereinsflaggschiff.
Einen Rekord hält der ADAC immerhin, und zwar bei den Mitgliederzahlen im
Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Allerdings ist der Vorsprung auch hier nur
knapp: Mit 20,5 Prozent bleibt der Touring Club Schweiz dem ADAC
(22 Prozent) dicht auf den Fersen.
Unter dem Strich bleibt die Erkenntnis: Der Spaß am fahrbaren Untersatz hat
Automobilisten schon immer und in allen motorisierten Ländern dazu bewogen,
sich mit Gleichgesinnten in Clubs zusammenzuschließen. Erfunden haben »wir«
die Benzinkarosse ja schließlich trotzdem, und das kann uns keiner nehmen –
Club hin, Verein her!
Autobahn
Erste Ausfahrt Rom
Einmal Luftlinie Mumbai und zurück: Das sind fast dreizehntausend Kilometer,
und so viel misst auch der Stolz aller motorisierten Bundesbürger. Damit ist
unser Autobahnnetz zwar weltweit nur die Nummer drei hinter den USA und
China, aber wer hat’s erfunden? Wir natürlich! Was man schon unschwer daran
erkennt, dass unsere geliebten deutschen Rennstrecken immer wieder als
internationale Referenz herhalten müssen: Wenn Autohersteller oder
Motorjournalisten in den USA ein Fahrzeug als besonders sportlich
kennzeichnen wollen, lautet einer ihrer Lieblingsausdrücke »autobahn tested«.
Das heißt, man hat mit der Karre selbst bei Tempo 200 oder 250 keinen Abflug
gemacht – was in jedem anderen Land auch ohne Abflug strikt verboten wäre
und das sofortige Einkassieren des Führerscheins nach sich zöge.
Dabei ist die Autobahn keineswegs eine deutsche Erfindung, und es wurde auch
nicht zum ersten Mal im Dritten Reich eine gebaut. Das Grundkonzept geht
sogar – man lese und staune – auf die Zeit des antiken Rom zurück: Im 1.
Jahrhundert n. Chr. ließ Kaiser Claudius die Städte Rom und Ostia durch den
vermutlich ersten Verkehrsweg verbinden, der separate Fahrspuren für jede
Richtung besaß – wie die heutigen Autobahnen getrennt durch einen
Mittelstreifen (der seinerzeit allerdings für Fußgänger gedacht war). Diese
ursprünglich 24 Kilometer lange Strecke, die »Via Portuensis«, dürfte damals die
meistbefahrene Straße der Welt gewesen sein. Einige ihrer Teilstücke sind
zwischen Pozzuoli und Porta Portese noch heute zu besichtigen.
Das Imperium Romanum ging bekanntlich unter, und mit ihm verfielen die
meisten seiner Städte, sodass die spätrömisch-dekadente Idee einer
mehrspurigen Straße für viele Jahrhunderte im Dunkel der Geschichte
verschwand. Mit der Erfindung des Automobils und später des Fließbands
änderte sich die Situation allerdings dramatisch. Der Großangriff der
knatternden Kisten überforderte zunehmend die herkömmlichen Pferdestraßen,
sodass eine grundlegend neue Lösung hermusste. Und als Erste setzten nicht
etwa die Deutschen, sondern die Amerikaner zum Überholen an: Schon ab 1907
entstanden im Ballungsgebiet um New York City sogenannte parkways –
vierspurige Schnellstraßen mit Beton- oder Ziegelmauern als Fahrbahntrenner,
zum Teil auch mit begrüntem Mittelstreifen. Diese frühen Autobahnvorläufer
waren allerdings noch nicht konsequent kreuzungsfrei.
Im Vergleich dazu hinkte Europa jedenfalls weit hinterher, wie auch bei der
Massenmotorisierung als solcher. So war die 1921 eröffnete schnurgerade
Berliner AVUS (Automobil-Verkehrs- und Übungsstraße) noch keine echte
Autobahn, sondern eher ein Luxusspielplatz für betuchte Herrenfahrer mit
Rennambitionen. Als kühne Zukunftsvision empfand man es denn auch, als der
italienische Ingenieur Piero Puricelli 1922 den Plan zur ersten wirklichen
Autostrada entwickelte, genauer, zu einer »nuova strada riservata esclusivamente
al traffico a motore« – einer neuen Straße ausschließlich für den motorisierten
Verkehr. In ganz Italien gab es damals nur knapp 90 000 Kraftfahrzeuge, was das
Projekt als reichlich überzogen erscheinen ließ.
Da die Kosten (schon damals!) über eine Maut finanziert werden sollten, wurde
der Bau trotzdem beschlossen. Bereits zwei Jahre später – am 21. September 1924
– konnte das weiße Band zerschnitten werden, und Europa hatte zwischen
Milano und Varese seine erste Autobahn, oder besser Kraftfahrzeugstraße. Sie
besaß zwar nur eine Spur in jede Richtung, aber bereits beim Folgeprojekt wurde
dieses Manko korrigiert: Die 1927 eröffnete, 92 Kilometer lange
Autobahnumgehung von Rom (Tangenziale) war ebenso vierspurig wie ihre drei
Jahre später entstandenen Verlängerungen nach Neapel im Süden und Florenz
im Norden. Der Vorläufer der berühmten Autostrada del Sole, deren Name bei
jedem Nordlicht sehnsuchtsvolle Gefühle weckt, war geboren.
Und was ist nun mit uns Deutschen? Gemach, wir reisen zunächst wieder nach
Amerika, diesmal in die Karibik: Zwischen 1927 und 1931 – also Jahre vor
Eröffnung der ersten deutschen Autobahn – entstand unter dem kubanischen
Diktator Gerardo Machado nach dem Vorbild der USA die erste
autobahnähnliche Straße Lateinamerikas. Die noch heute existierende,
inzwischen vier- bis sechsspurige Autopista Nacional (ursprünglich Carretera
Central) zwischen Havanna und Taguasco ließ allerdings wichtige Städte
buchstäblich links oder auch rechts liegen: Ihr Hauptzweck war es, den
Zuckerbaronen einen komfortablen Transportweg für ihre süße und teure Fracht
zu verschaffen.
Aber nun sind endlich wir dran. Und immerhin besitzen wir für unsere
Fernstraßen ein eigenes Wort, auch wenn das Urheberrecht den Italienern
gebührt: Um 1929 prägte der Berliner Bauingenieur Robert Otzen, Vorsitzender
des Fernstraßenprojekts Hamburg-Frankfurt-Basel (Ha-Fra-Ba), erstmals den
Begriff »Autobahn«. Für die Entwicklung des Autobahnnetzes wurde allerdings
wiederum Piero Puricelli herangezogen – schließlich brachte er als Pionier die
meiste Erfahrung mit. So trugen wesentliche Züge des deutschen Konzepts seine
Handschrift, etwa die Trennung der Fahrtrichtungen durch einen breiten
Grünstreifen und die Verwendung von Betonplatten als Fahrbahnbelag. Jahre
später kam es deswegen zu einem erbitterten Streit zwischen Puricelli und dem
deutschen Ingenieur Fritz Todt, der als Generalinspekteur für das deutsche
Straßenwesen die Autobahnen zu »Straßen des Führers« erklärte, während
Puricelli sie (mit größerer Berechtigung) für sein Idol Benito Mussolini
reklamierte. Duce hin, Führer her – auf jeden Fall war mit den deutschen Plänen
der Kreis zu Italien geschlossen, vom 20. Jahrhundert bis zurück zum Römischen
Kaiserreich. Und nimmt man Kuba und die USA hinzu, ist die Autobahn ein
Multikulti-Produkt reinsten Wassers.
Am 6. August 1932 war es dann so weit: Der damalige Kölner
Oberbürgermeister Konrad Adenauer eröffnete das erste deutsche
Autobahnteilstück zwischen Köln und Bonn. Die zwanzig Kilometer lange
Strecke – hier noch mit schmucklosem Farb- statt Grünstreifen in der Mitte –
war auf die damals abenteuerliche Geschwindigkeit von 120 km/h ausgelegt, was
schon eine leise Vorahnung auf den ungebremsten Vorwärtsdrang der heutigen
PS-Ritter vermittelt. Immerhin: Wo sonst könnte ein Ferrarista oder
Porschefahrer zeigen, was seine Bodenrakete drauf hat, wenn nicht in
Deutschland?
So bleibt uns beim Thema Autobahn zumindest ein Trost: Wir Deutschen sind
zwar nicht die Ersten oder Einzigen, aber nach wie vor die Schnellsten.
Bier
Ein Prost auf Ninkasi
Bier ist ein ganz besonderer Saft und ganz besonders für uns Deutsche. Selbst
unseren Sprachgebrauch überschwemmt es ja tagtäglich in Gestalt der Redensart
»Nicht mein Bier / nicht dein Bier«, die den Gerstensaft scheinbar zum Gleichnis
für sämtliche Facetten des menschlichen Daseins erhebt. Gemeinsam kommen
beide Varianten immerhin auf die süffige Zahl von fast 900 000
Suchmaschinentreffern.
Aber da geht’s auch schon los mit den Irrtümern. Beim vermeintlichen Bier in
dieser Redewendung handelt es sich in Wirklichkeit um eine Verballhornung des
Wortes »Birne«. Und auch im Hinblick auf historische und statistische
Tatsachen gilt es die deutsche Bierseligkeit etwas zu dämpfen: Weder haben wir
das Bier erfunden, noch ist Deutschland Weltmeister im Brauen, Exportieren
oder Trinken des Gerstensaftes.
Woher also kommt das Bier? Die ältesten Hinweise finden sich ausgerechnet in
einer Region, die alkoholische Getränke heute eher verschmäht – nämlich in
Mesopotamien, dem Landstrich zwischen den Flüssen Euphrat und Tigris auf
dem Gebiet des heutigen Irak und der östlichen Türkei. Das dort lebende antike
Volk der Sumerer verstand sich auf das Bierbrauen vermutlich schon vor über
sechstausend Jahren. Man hat Überreste von Bier aus Weizen gefunden, die aus
der Zeit um 3000 v. Chr. stammen; außerdem sind sumerische Bilddarstellungen
erhalten, die Bier trinkende Menschen zeigen. Es gab sogar eine Göttin des
Bierbrauens, Ninkasi, wie man aus einer an sie gerichteten Hymne in Keilschrift
weiß. Selbst feinere Zungen kamen offenbar schon früh auf ihre Kosten:
Überlieferungen auf Tontafeln aus der Zeit der Babylonier, die das Bierbrauen
von den Sumerern übernahmen, listen bereits über zwanzig verschiedene Sorten
auf.
Der älteste chemische Nachweis für aus Gerste gebrautes Bier, wie es bis zum
heutigen Tag Standard ist, wurde anhand von Tonkrügen in der Ruinenstadt
Godin Tepe im heutigen Iran erbracht. Diese Funde stammen aus dem 3. bis 4.
Jahrtausend v. Chr. Bei den alten Ägyptern schließlich blühte schon eine
regelrechte Bierkultur: Sie nutzten den Gerstensaft nicht nur als Nahrungsmittel,
sondern auch als Medizin gegen verschiedene Krankheiten sowie als Opfergabe
in religiösen Zeremonien. Nach alten Grabinschriften zu urteilen, gab man sogar
den Verstorbenen als Proviant für ihre Reise ins Jenseits mehrere Sorten Bier mit
ins Grab.
Von den Ägyptern lernten möglicherweise später die Griechen das Bierbrauen,
von diesen wiederum die Römer. Allerdings war bei den europäischen
Mittelmeer-Anrainern der Wein stets wesentlich populärer als Bier, was
angesichts des für den Weinbau idealen Klimas auch nur zu verständlich ist. Bier
galt demgegenüber als Arme-Leute-Getränk, wenn nicht gar als barbarisch – und
ausgerechnet in diesem Zusammenhang kommen unsere Urahnen ins Spiel. Der
Geschichtsschreiber Tacitus äußert sich in seinem Hauptwerk Germania (98 n.
Chr.) jedenfalls ziemlich abfällig über die primitiven, Bier saufenden Germanen.
Die hatten nämlich ebenfalls die Braukunst erlernt, wann genau, vermag
niemand zu sagen. Wie überhaupt das Bier in der Menschheitsgeschichte eine
globale Rolle spielt: Völlig unabhängig von der Alten Welt stellten auch die
Ureinwohner Mittel- und Südamerikas aus Mais ein vergorenes Getränk her, das
unserem Bier stark ähnelte. Schon Kolumbus erwähnt in seinen Reiseberichten,
dass er damit bewirtet worden sei.
Man kann also festhalten, dass die unterschiedlichsten Völker des Altertums
irgendwann zu Brauern wurden. Das Prinzip verdankt seine Entdeckung
wahrscheinlich dem Zufall: Ein Behälter mit Brotteig könnte sich mit
Regenwasser gefüllt haben, das Ganze kam in Kontakt mit wilden Hefesporen
und fing an zu gären – und siehe da, die entstandene Brühe erwies sich als
trinkbar und obendrein angenehm berauschend. Auch heute noch bezeichnet
man Bier ja gern als »flüssiges Brot«, und die Erfindung von Brot und Bier wird
von vielen Historikern als paralleler Zivilisationsschritt gesehen.
Der älteste gesicherte Nachweis für eine Bierbrauertätigkeit auf deutschem
Boden stammt aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. Es handelt sich um
Bieramphoren, die in Kasendorf bei Kulmbach in Oberfranken gefunden
wurden. Von einem regelrechten Brauereiwesen kann man allerdings erst ab
dem frühen Mittelalter sprechen. Den Anfang machten dabei Klosterbrauereien,
die besonders von Karl dem Großen systematisch gefördert wurden. Die
Geschichte dieser Braustätten lässt sich bis zu dem irischen Wandermönch
Columban (521 – 597) zurückverfolgen: Der siedelte sich gemeinsam mit seinem
Weggefährten Gallus irgendwann südlich des Bodensees an und gründete dort
einen Orden, zunächst nur in Form einer bescheidenen Klause. Im Jahr 719 oder
720 entstand dann an gleicher Stelle – nach Gründung der Stadt St. Gallen – das
Kloster St. Columban mit angeschlossener Brauerei. Die (wahrscheinlich) älteste
kommerzielle Bierbrauerei der Welt befand sich also nicht etwa in Bayern,
sondern in der heutigen Schweiz. Um das Jahr 1000 arbeiteten im Kloster bereits
über hundert Mönche, die in drei Brauhäusern die Sorten Celia, Cerevisia und
Conventus herstellten.
Immerhin können wir aber auf eine der ältesten noch existierenden Brauereien
stolz sein. Im Jahr 830 gründete Bischof Hitto von Freising auf dem Berg
Weihenstephan nördlich von München das Kloster Weihenstephan. Im Jahr
1040 erhielten die dortigen Mönche von der Stadt Freising das Brau- und
Schankrecht – und noch heute, bald tausend Jahre danach, ist die Brauerei
Weihenstephan am gleichen Ort zu Hause. Als weitere deutsche Pioniertat kann
die Entdeckung des Hopfens als Bierwürze gelten, die ebenfalls auf die
Brautätigkeit von Mönchen zurückgeht. Sie ist sogar noch älter als die Marke
Weihenstephan: Gehopftes Bier wird erstmals im Jahr 822 von einem
karolingischen Abt beschrieben.
Nicht zu vergessen die Vorreiterrolle bei Reinheit und Qualität des Bieres: Zwar
gab es diesbezüglich schon im Mittelalter strenge Vorschriften, aber in vielen
Brauereien wurde trotzdem gepanscht, was das Zeug hielt. Man experimentierte
mit Kräutern und Gewürzen wie Eichenrinde und Rosmarin; sogar Kohlenstaub
wurde zugegeben, um das Bier dunkler zu machen. Um die zweifelhaften
kreativen Auswüchse wenigstens in seinem Hoheitsbereich zu unterbinden,
erließ der bayerische Herzog Wilhelm IV. am 23. April 1516 sein berühmtes
Reinheitsgebot. Demnach gehören ins Bier ausschließlich Wasser, Hopfen und
Malz. Noch heute werden alle deutschen Biere unverändert nach diesen
Vorgaben gebraut.
In puncto Klasse rangieren deutsche Biere also sicherlich ganz oben auf der
Skala. In puncto Masse dagegen müssen wir uns den ganz Großen geschlagen
geben: Mit gut 100 Millionen Hektolitern Bierausstoß pro Jahr ist Deutschland
zwar Europameister, beim Export erreichen wir aber nur Platz zwei hinter den
Niederlanden. Und im Weltmaßstab spielt die Oberliga sowieso ganz woanders –
man kann es sich fast denken: Wie in so vielen Disziplinen liegen auch beim
Bierbrauen die Chinesen einsam an der Spitze. Fast 25 Prozent der gesamten
Weltjahresproduktion, rund zwei Milliarden Hektoliter, werden in der
Volksrepublik China erzeugt. Das ist zwanzig Mal so viel, wie sämtliche
deutschen Brauereien zusammen produzieren. Platz zwei nehmen in dieser
Tabelle die USA ein, Deutschland folgt erst auf Platz fünf. Auch die größten
Brauereien sind somit, wie sich vermuten lässt, keine deutschen: Fünf
ausländische Branchenriesen – AB-InBev, SAB-Miller, Heineken, Carlsberg und
China Resource Brewery – teilen die Hälfte des Weltmarktes unter sich auf. Die
drei größten deutschen Brauereigruppen erreichen demgegenüber zusammen
gerade mal einen Anteil von 1,5 Prozent.
Anders sieht es beim Hopfen aus – hier hat Deutschland mit über einem Drittel
der Welternte die Nase vorn. Und auch bei der Anzahl der Brauereien sind wir
unschlagbar: Insgesamt 1330 gibt es in Deutschland, wobei sich die größte
Zusammenballung (drei Brauereien pro Hektar!) im bayerischen
Regierungsbezirk Oberfranken findet. Beide Zahlen sind mit Abstand
Weltrekord.
Ob es unbedingt erstrebenswert ist, auch beim Pro-Kopf- Bierkonsum den
Weltmeistertitel innezuhaben und damit dem Klischee von Tacitus’ saufenden
Germanen zu entsprechen, sei dahingestellt. Wer sich darum sorgt, kann indes
beruhigt sein: Diesen Titel haben wir nicht. Allerdings liegt Deutschland
regelmäßig in der Spitzengruppe der schluckfreudigsten Nationen, hinter
Rekordmeister Tschechien mit rund 150 Litern pro Kopf jährlich. Die Rangfolge
auf den übrigen Plätzen wechselt des Öfteren. Zu den Dauerkandidaten auf Platz
zwei gehören neben Deutschland auch Österreich, Irland und Australien.
Ob es für uns nächstes Jahr wieder zum Vizemeister reicht? Hören wir uns in
Oberbayern um: »I möcht gern an Biersee so groß wie der Schliersee«, heißt es in
einem populären Schunkellied aus den Fünfzigern.
Na, das dann doch lieber nicht.
Bundesrepublik
In 21 Staaten um die Welt
Wer ist bereit für die Millionenfrage? Kandidaten vor! Aber Achtung, die Fragen
zum Stichwort »Bundesrepublik« sind knifflig. Dass nach Jahrzehnten der
Männerherrschaft erstmals eine Frau die Richtlinien der Politik bestimmt, dürfte
zwar weitgehend bekannt sein. Ebenso, dass der Name der Bundeshauptstadt mit
B beginnt. Aber hätten Sie zum Beispiel auch gewusst, dass die Bundesrepublik
über die bedeutendste Zuckerrohrindustrie der Welt verfügt? Dass ihre
Fußballnationalmannschaft schon fünf Mal Weltmeister war? Oder dass nur 1,5
Millionen Bundesbürger die deutsche Sprache beherrschen, dafür aber 97
Prozent der Bevölkerung ein Idiom, das entfernt wie Portugiesisch klingt?
Für Leser, die spätestens jetzt die Stirn runzeln: Es hat alles seine Richtigkeit.
Denn gemeint ist natürlich nicht die Bundesrepublik Deutschland, sondern ein
Land, das 45 Längengrade weiter westlich liegt – die Bundesrepublik Brasilien
(República Federativa do Brasil). Und so weit wie der Amazonas vom Rhein sind
wir Deutschen auch davon entfernt, diese Staatsform erfunden zu haben: In der
Heimat von Samba und Lambada wurde sie schon 1891 erstmals begründet, also
stramme 58 Jahre vor der ersten echten Bundesrepublik auf deutschem Boden.
Allerdings wackelte der brasilianische Staat in den folgenden Jahrzehnten
erheblich und durchlief diverse Diktaturen, wie man es praktisch von allen
lateinamerikanischen Ländern kennt. Erst seit 1985 ist Brasilien eine gefestigte
Demokratie, und 1993 wurde per Volksabstimmung die Rückkehr zum
Staatsmodell der Bundesrepublik beschlossen, also zu einem Zusammenschluss
mehrerer teilsouveräner Staaten unter einer gemeinsamen Zentralregierung. 26
Bundesstaaten und ein Bundesdistrikt (Distrito Federal) bilden seitdem ein
Staatsgefüge, das sich im Grundsatz kaum von unserem deutschen unterscheidet
– nur dass die Regierungschefin nicht Bundeskanzlerin, sondern Präsidentin
heißt und das Amt der Bundespräsidentin gleich mit bekleidet.
Dies nur als Beispiel. Denn Brasilien ist keineswegs unser einziger Bundes-
Genosse auf einem Planeten der Königreiche, Volks- und Präsidialrepubliken.
Ganz im Gegenteil, die Idee des Föderalismus zieht sich rund um die Welt:
Bundesrepubliken sind neben Deutschland und Brasilien auch Österreich, die
Schweiz, Bosnien und Herzegowina, Russland, Irak, Äthiopien, Somalia, Sudan,
Südsudan, Nigeria, die Komoren, Pakistan, Indien, Nepal, Mikronesien, die
USA, Mexiko, Venezuela und Argentinien. Macht 21 Staaten in sämtlichen
Breiten und Zeitzonen dieser Erde.
Andere Bundesrepubliken wiederum sind längst Geschichte, wie die Republiek
der Zeven Verenigde Provinciën in den Niederlanden (1588 – 1795) oder die
República Federal de Centro América (1824 – 1839).
Das Urvorbild besteht dagegen noch heute in fast unveränderter Form: Es ist
die Schweiz, entstanden schon im Spätmittelalter als »Confoederatio Helvetica«.
Der Legende nach liegt ihrer Gründung der berühmte Rütlischwur zugrunde,
den wir aus Schillers Vers »Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern« kennen.
Hat man allerdings je erlebt, dass in Presseberichten über eines dieser Länder
von der »Bundesrepublik« die Rede ist? Nein, mit eingespieltem Automatismus
schnurrt immer nur Deutschland (bzw. früher sein westlicher Teil) auf diese
Kurzformel zusammen, sodass man tatsächlich meinen könnte, wir seien die
einzigen Bundesrepublikaner des Erdenrunds. Allenfalls – und sogar
bemerkenswert oft – taucht in den Medien die Bezeichnung »Bundesrepublik
Österreich« auf. Womit die Autoren leider keine Chance hätten, bei Günther
Jauch die Million abzustauben: Die frühere k.u.k. Monarchie ist zwar eine
Bundesrepublik, sie heißt aber (wie diverse andere) nicht so, obwohl es auch in
Österreich die Ämter des Bundeskanzlers und des Bundespräsidenten gibt.
»Ja in der Bundesrepublik, da machen alle gern Musik«, sang die italienische
Schlagernudel Rita Pavone Anfang der Siebzigerjahre. Das jedenfalls passt
länderübergreifend – ganz besonders aber auf Brasilien.
Currywurst
Indien liegt in Charlottenburg
Da mögen kultivierte Feinschmecker noch so sehr Nasen, Gaumen und sonstige
Sinnesorgane rümpfen – die Currywurst gehört unzweifelhaft zu Deutschland,
und das nun schon seit mehr als sechs Jahrzehnten. Unausrottbar beherrscht sie
neben Hamburgern, Döner und Pizza unser nationales Schnellimbiss-Wesen.
Und so pikant wie die Sauce, so ätzend sind Spott und Häme, die wahre und
vermeintliche Gourmets bisweilen über sie ausgießen: Als »ungesund, billig und
hässlich« schmähte sie etwa der Journalist Christoph Giesen in der Süddeutschen
Zeitung.[4] Noch mehr schüttelte sich sein britischer Kollege Roger Boyes:
»Ungefähr so natürlich wie Nylon«, lautet dessen Fazit, »eine kaum essbare,
frittierte Technicolor-Wurst.«[5] Also nichts weiter als Junkfood?
Nun, letzten Endes ist das Geschmacks- und Ansichtssache. Publikumsliebling
Herbert Grönemeyer zum Beispiel vertrat 1982 in seinem Ruhrpott-Kultsong
»Currywurst« einen völlig anderen Standpunkt: »Kommse vonne Schicht, wat
Schönret gibt et nich als wie Currywurst.« Sternekoch Eckart Witzigmann ist –
man lese und staune – bekennender Currywurst-Fan. Im November 2009 verlieh
der Edelrestaurantführer Gault Millau (!) einer Hamburger Currywurstbude
höchste Weihen. Und wollen Politiker sich volksnah geben, in was beißen sie mit
Vorliebe vor laufenden Kameras? Frag nach bei Altkanzler Gerhard Schröder.
Irgendetwas muss also dran sein an diesem Stück Wurst mit Sauce.
Anerkannte Erfinderin der Currywurst ist die Berlinerin Herta Heuwer, die in
der Nachkriegszeit einen Imbissstand im Stadtteil Charlottenburg, im damals
britischen Sektor der Stadt, betrieb. Am 4. September 1949 soll sie auf ihre
glorreiche Idee gekommen sein – möglicherweise angeregt durch die
amerikanische Spezialität »Steak mit Ketchup«, die sie von den US-
Besatzungstruppen her kannte. Nun, Steaks waren für die Berliner in jenen
Jahren Luxus, also griff Frau Heuwer ersatzweise zu einer Brühwurst aus
Schweinefleisch. An Ketchup war ebenfalls schwer zu kommen – den gab es 1949
so wenig im Laden zu kaufen wie amerikanische Zigaretten oder Kaugummi.
Also vermischte sie Tomatenmark mit ein paar anderen der damals verfügbaren
Zutaten, um wenigstens etwas Ähnliches hinzubekommen. Und weil das Wetter
gerade schlecht war und kein Gast sich blicken ließ, experimentierte sie noch mit
zusätzlichen Gewürzen herum. Vermutlich bei britischen Soldaten hatte sie
Worcestershire-Soße und Currypulver abgestaubt – also rein damit. Und wie wir
heute wissen: Die so zusammengerührte Pampe war tatsächlich genießbar. In
einem späteren Interview kommentierte Frau Heuwer ihr Zufallsrezept
lakonisch: »Es goss kleene Kinderköppe, keen Mensch war an meiner Bude. Aus
Langeweile rührte ich Gewürze mit Tomatenmark zusammen. Und es schmeckte
herrlich.«[6]
Was also lag näher, als die neue Spezialität ins Angebot aufzunehmen? Herta
Heuwer tat es – und siehe da, die Currywurst erwies sich als derartiger
Verkaufsschlager, dass ihre Erfinderin bald ein größeres Lokal aufmachen
konnte. 1958 meldete sie ihre Soße unter dem Namen »Chillup« sogar zum
Patent an, und tatsächlich wurde der Patentschutz am 21. Januar 1959 offiziell
verbrieft. Was natürlich niemanden daran hindern konnte, ähnlich schmeckende
Soßen zusammenzukleistern – so verbreitete sich die Idee schnell über weite
Teile Deutschlands, neben Berlin vor allem in Hamburg und im Ruhrgebiet.
Ab 1960 machte die Currywurst auch in der DDR Karriere: Günter Konnopke,
Sohn des Ostberliner Imbissbudenbetreibers Max Konnopke, entdeckte sie
während seiner Metzgerlehre im Westen und erfand gemeinsam mit seinem
Vater eine eigene Soße. In ihrem Kiosk am Prenzlauer Berg landeten die
Konnopkes damit einen Riesenerfolg, und so war die Currywurst – mit welcher
Soße auch immer – schon früh ein gesamtdeutscher Hit. Heute gilt »Konnopke’s
Imbiss« nicht nur als das Berliner Currywurst-Mekka, sondern als regelrechte
Institution, die zur Stadt gehört wie der Fernsehturm und das Brandenburger
Tor.
Aber nun die Gretchenfrage: Wie deutsch ist das Ganze denn eigentlich?
Nehmen wir die rotbraune Würzpampe mal unter die Lupe. Ihr
Grundbestandteil sind Tomaten – für uns heute eine selbstverständliche und
allgegenwärtige Frucht, aber 1949 in Deutschland noch nicht sehr verbreitet.
Ursprünglich stammt die Tomate aus Mittel- und Südamerika, und ihr Name
leitet sich aus der Aztekensprache Nahuatl ab: tomatl. In Europa fand sie bis weit
ins 18. Jahrhundert hinein fast ausschließlich als Zierpflanze Verwendung; nur in
Italien und England war sie auch als Nahrungsmittel populär. Erst ab 1900
hielten Tomatensalat und Tomatensuppe langsam auch bei uns Einzug.
Bis die Tomate ihren Weg in den Ketchup fand, verging nach der Entdeckung
Amerikas ebenfalls eine lange Zeit. Eigentlich hat das Wort Ketchup mit
Tomaten gar nichts zu tun: Sein Ursprung ist zwar nicht vollständig geklärt, aber
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit stammt es aus dem Fernen
Osten. Möglicherweise ist es von kecap abgeleitet, einer indonesischen Variante
der Sojasoße. Es könnte auch aus China stammen, wo gegen Ende des 17.
Jahrhunderts erstmals kôe-chiap oder kê-tsiap erwähnt wird – eine Soße aus
vergorenem Fisch, ähnlich der in Vietnam verbreiteten Spielart nuóc-mă΄m. Im
frühen 18. Jahrhundert jedenfalls entdeckten britische Reisende diese Spezialität,
nannten sie Catchup und brachten sie nach Europa mit, wo sie bald eifrig
nachgeahmt wurde.
Das erste Rezept für englischen Catchup findet sich 1727 in einem Ratgeber für
Hausfrauen: Man nehme Sardellen, Schalotten, Weißweinessig, Weißwein und
füge diverse Gewürze hinzu. Das Ergebnis, definiert als »High East-India Sauce«,
wurde schnell populär und zog eine ganze Reihe unterschiedlicher
Rezeptvarianten nach sich. Ab Mitte des 18. Jahrhunderts gab es Catchup in
England auch als Fertigsoße zu kaufen. Wohlgemerkt: noch ohne Tomaten.
Britische Auswanderer machten den Ketchup schließlich auch in den USA
bekannt. Wer dort wann das erste Rezept auf Basis pürierter Tomaten vorstellte,
ist nicht einwandfrei geklärt – wahrscheinlich aber war es der Gastronom
Richard Briggs in seinem 1792 erschienenen Kochbuch The new art of cookery.
Jedenfalls erfreute sich die so angereicherte Form des Ketchups – bald auch in
ebendieser Schreibweise – in Nordamerika rasant wachsender Beliebtheit, und
zwar lange vor den Tomaten selbst (die, als reine Früchte genossen, vielfach als
giftig galten). Endgültig zum Millionenseller wurde die rote Pampe in den
1880er-Jahren, als sie der legendäre Henry John Heinz aus Pittsburgh in die
Produktpalette seiner Lebensmittelfirma aufnahm. Mit den amerikanischen
Besatzern kam diese Spezialität 1945 dann auch nach Deutschland und setzte
hier ihren Siegeszug fort.
Der Curry, den Herta Heuwer ihrer Spezialsoße beigab, wurde ebenfalls zuerst
von Briten nach Europa eingeführt. Er hat seine Ursprünge in Südindien, Sri
Lanka, Bangladesch und Pakistan und schreibt sich im Original kari – was
eigentlich nicht das Gewürz meint, sondern die so gewürzten Gerichte: kari
bedeutet in der tamilischen Sprache so viel wie Soße, Suppe oder Eintopf. Die
gleichlautende Gewürzmischung Curry (oder Körri, wie es Amerikaner und
Deutsche aussprechen) ist eher eine vereinfachte Version der indischen Masalas,
die als Sammelbegriff eine ganze Reihe verschiedener Gewürzzubereitungen für
Curry-Gerichte bezeichnen.
Zu kompliziert und exotisch? So empfanden es die englischen Kolonialherren
des 18. Jahrhunderts auch, weshalb sie – abgeleitet aus dem südindischen
Sambarpulver – eine eigene Currymischung zusammenstellten, die den
europäischen Geschmack eher traf. Heraus kam das klassische ockergelbe Pulver,
wie wir es heute kennen. Im Zweiten Weltkrieg gehörte dieser Curry Powder
übrigens zur Standardverpflegung der britischen Armee, sonst wäre Herta
Heuwer wohl nie an die wichtigste Zutat ihrer »Chillup«-Sauce gekommen.
Die Worcestershire-Soße wiederum ist eine echt englische Erfindung, die seit
1837 von der Firma Lea & Perrins in Worcester hergestellt wird. Sie besteht
unter anderem aus Essig, Sojabohnen, Sardellen, Salz, Zwiebeln und Knoblauch
– hat also weit mehr mit dem ursprünglichen englischen Catchup zu tun als die
gewürzte Tomatensoße, die man heute als Ketchup bezeichnet. Was darauf
hindeutet, dass auch John Lea und William Perrins durch koloniale Einflüsse aus
Fernost zu ihrem Rezept inspiriert wurden. Verschiedene Legenden, die das
nahelegen, kursieren jedenfalls. Was wäre die Currywurst also ohne die Briten
und ihr Empire!
Und welche Sättigungsbeilage vertilgen wir vorzugsweise zu unserer nationalen
»Technicolor-Wurst«? Selbstverständlich Pommes frites. Wie schon der Name
sagt, ebenfalls nichts Deutsches, sondern – ja, hier streiten sich die Gelehrten.
Sicher ist nur, dass die Kartoffel ihren Ursprung in Südamerika hat. Aber wer
kam auf die Idee, sie zu zerschnippeln und in siedendem Fett zu garen? Der
belgische Historiker Jo Gérard behauptet, Fischer an der Maas hätten die
frittierten Kartoffelstäbchen erstmals um 1680 als Bratfisch-Ersatz zubereitet, um
bei zugefrorenem Fluss im Winter wenigstens etwas Fischähnliches zu haben.
Die Franzosen wiederum bestehen darauf, dass die Pommes frites 1789 während
der Französischen Revolution in Paris erfunden wurden.
Wie gut, dass wenigstens die Schöpferin der Currywurst unumstritten ist. Und
deshalb konnte man am ersten Standort ihrer Bude in der Kantstraße 101 im
Jahr 2003 guten Gewissens eine Gedenktafel zu Ehren von Herta Heuwer
enthüllen. Seit August 2009 gibt es in Berlin gar ein Deutsches Currywurst-
Museum, zu dessen Attraktionen unter anderem ein Sofa in Wurstform und ein
Imbissbuden-Fotostand gehören. An der Decke zeigt ein »Currywurst-Ticker«
an, in welchen Stückzahlen sich die Deutschen ihren Fastfood-Favoriten Jahr für
Jahr einverleiben: Hochgerechnet sind es 850 Millionen.
Abschließend darf man aber wohl feststellen: Die Currywurst, wiewohl sie fast
nur in Deutschland gegessen wird, ist eine echte Weltbürgerin. Mittelamerika,
Indonesien, Südindien, Großbritannien, die USA und wahlweise noch Belgien
oder Frankreich haben zu ihr beigetragen – könnte ein simpler Imbiss
internationaler sein?
[4] Süddeutsche Zeitung vom 18.7.2012.
[5] Quelle: Goethe-Institut.
[6] Quelle: B.Z.
Dackel
Hot Dog à la mode
Wenn eine Nation auf den Hund kommt, ist das normalerweise bedauerlich. Bei
Deutschland und dem Dackel aber kann davon keine Rede sein: Das
wurstförmige Etwas mit seinen vier Stummelchen zur Fortbewegung gehört
nicht nur zu den deutschen Lieblingshaustieren, sondern genießt quasi den
Status eines Nationalhundes und erfreut sich auch im Ausland größter
Sympathie. So eng scheint Waldi mit unserem Land verbunden, dass er 1972
sogar zum offiziellen Maskottchen der Olympischen Spiele in München gekürt
wurde. Aber hallo: Soll der etwa kein echter Deutscher sein?
Doch, in der Tat – als Züchtung ist er es, jedenfalls soweit es die Neuzeit
betrifft. Seinen Aufstieg zum Nationalsymbol verdankt er allerdings indirekt
wohl eher einem Österreicher, denn eigentlich belegt der Deutsche Schäferhund
hierzulande seit gefühlten Ewigkeiten Platz eins der populärsten Hunderassen,
während der Dackel, obwohl die ältere Züchtung, ihm – je nach Zeitgeist und
Mode – meistens hinterherwackelt. Aber wir erinnern uns: Da gab es mal einen
Schäferhund namens Blondi, und dessen Herrchen ist nicht unbedingt geeignet,
diese Rasse zum internationalen Sympathieträger zu machen. So musste als
Modehund der frühen Siebzigerjahre fast zwangsläufig der Dackel herhalten.
Und das, obwohl er gar nicht so lieb ist, wie er aussieht: Tatsächlich führt er weit
vor dem Schäferhund die Statistik der bissigsten Hunderassen an.
Die Idee zum Olympia-Waldi stammte übrigens vom damaligen NOK-
Präsidenten Willi Daume, selber Besitzer eines Dackels, und dessen Rechnung
ging auf: Die bunt gestreifte Dackelfigur löste seinerzeit einen derartigen Dackel-
Hype aus, dass uns alle Welt spontan mit dem niedlichen kleinen Hund in
Verbindung brachte. Der buchstäbliche Höhepunkt findet sich in einem Bericht
des Spiegel vom Januar 1972: »Bayerische Bergsteiger, die im Frühjahr 1970 die
offizielle OK-Einladung ins südamerikanische Ecuador bringen durften,
deponierten ihn – in Holz – auf einem bis dahin unbezwungenen
Andengipfel.«[7] So musste selbst dem letzten Kondor klar werden: Dackel
gleich Deutschland.
Tatsächlich gehen alle heutigen Dackelvarianten auf deutsche
Zuchtbemühungen zurück. Allerdings waren wir nicht die Ersten, die sich solche
Haustiere bastelten. Ähnliche Zwerghunde – schlanker und langer Körper, kurze
Beine – haben den Menschen wohl in aller Welt schon vor Jahrtausenden als
Jagdhelfer gedient. Entsprechende Darstellungen finden sich zum Beispiel auf
Wandgemälden in altägyptischen Tempeln; erst vor Kurzem entdeckten
Archäologen in einem Urnengrab sogar einen mumifizierten Vorläufer des
Dackels. Skelettüberreste, die auf dackelähnliche Hunde schließen lassen,
wurden auch in römischen Siedlungen in Deutschland exhumiert. Außerdem
fand man Abbildungen solcher Kurzbeiner auf Gips- und Steinabdrücken im
vorkolumbianischen Peru und Mexiko, in Griechenland und in China.
In Deutschland gibt es vergleichbare Züchtungen – sogenannte »kurzläufige
Jagdhunde« – wahrscheinlich seit dem Mittelalter. Ursprünglich waren es reine
Nutzhunde für die Dachs-, Fuchs- und Kaninchenjagd. Ihre schmalen,
länglichen Körper und kurzen Beine ermöglichen es ihnen, in unterirdische
Bauten zu robben, die Bewohner herauszuscheuchen und sie so dem Jäger direkt
vor die Armbrust oder Flinte zu treiben. Die Definition von Rassen, die speziell
für diese Zwecke gezüchtet und abgerichtet wurden, findet sich erstmals in
einem Hundebuch von 1560.
Der »Urvater« des Dackels, wie wir ihn heute kennen, entstand im frühen 18.
Jahrhundert aus Kreuzungen verschiedener solcher Hunderassen. Im Lauf der
Zeit wurde dieser noch relativ große »Dachshund« weitergezüchtet, was zu den
verschiedenen kleineren Spielarten von Kurz-, Lang- und Rauhaardackeln
führte. Der Name »Dachs« kommt übrigens wahrscheinlich vom altindischen
táksan, was so viel wie »Zimmermann« bedeutet, und würde sich somit auf das
kunstfertige Anlegen unterirdischer Bauten beziehen.
»Dachshund« ist noch heute die offizielle Bezeichnung, unter welcher der
Dackel beim internationalen Hundezüchter-Dachverband Fédération
Cynologique Internationale (FCI) geführt wird. Im Deutschen mutierte das
Wort während des 18. Jahrhunderts zu den Kurzformen Dächsel und Teckel –
Letztere noch immer ein gängiger Begriff in der Jägersprache. Die Kurzform
»Dackel« ist erst seit Ende des 19. Jahrhunderts belegt.
Aber nicht nur sprachlich, sondern erst recht genetisch ist der deutsche Dackel
eine überraschend bunte Mixtur. Was im Verlauf der Züchtungen alles
eingekreuzt wurde, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit nachvollziehen –
Hundeexperten vermuten, dass unter anderem folgende Rassen ihr Erbgut zu
den heutigen Dackel-Genen beigesteuert haben:
Terrier. – Der Name wurde aus dem Englischen ins Deutsche übernommen und
leitet sich vom lateinischen terrarius ab, was so viel wie »Erdhund« bedeutet.
Man darf also annehmen, dass Terrier – wie Dackel – ursprünglich für die
unterirdische Jagd auf Dachse, Füchse und Kaninchen eingesetzt wurden.
Spaniel. – Die Rasse ist aus England importiert, das Wort dagegen vom
Altfranzösischen espagneul abgeleitet und dieses wiederum von español. Es
bezeichnet also einen »spanischen Hund«. Spaniel wurden zu ähnlichen
Zwecken gezüchtet und eingesetzt wie Terrier. Ihre ursprüngliche Heimat
vermutet man in Asien.
Pinscher. – Ebenfalls eine Rasse aus England, deren Name die eingedeutschte
Schreibweise von pincher darstellt. To pinch bedeutet im Englischen »packen«
oder »zufassen«. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm
interpretiert die Vokabel jedoch anders: Demnach sind Pinscher Hunde, »denen
gewöhnlich in der jugend schwanz und ohren gestutzt werden (engl. pinch,
franz. pincer abkneifen, stutzen, woher der Name)«.
English Pointer. – Die britische Züchtung, bei der auch französische und
weitere britische Rassen mit eingekreuzt wurden, ist ursprünglich wohl in
Spanien beheimatet. Der Name soll eine Verballhornung des spanischen perro de
punta (»Vorstehhund«) sein.
Basset. – Die ersten Exemplare dieser Rasse gelangten möglicherweise schon im
16. Jahrhundert von Frankreich nach England und wurden dort ab dem 19.
Jahrhundert systematisch weitergezüchtet. Der englische Name basset ist vom
französischen bas (»niedrig«) abgeleitet.
Diese multikulturelle Ahnenreihe zeigt: Einerseits ist der Dackel zwar ein
Deutscher, andererseits kann man ihm aber auch einen beachtlichen
Migrationshintergrund bescheinigen – ganz im Gegensatz übrigens zum
Deutschen Schäferhund. Ein solcher Weltbürger unter den Hunden steht uns als
internationales Maskottchen tatsächlich nicht schlecht zu Gesicht.
[7] Der Spiegel, 24.1.1972.
Deutsche Eiche
Buchen sollt ihr suchen
Wie ihr zu dem Wahn gekommen,
Deutsche, daß für euern Baum
Ihr die Eich’ habt angenommen,
Zu begreifen weiß ich’s kaum.
Eine perfekte Einleitung, die uns der Dichter Friedrich Rückert (1788 – 1866) da
liefert! Zwar meinte er mit diesen Zeilen eher das Aussehen der Eiche, die er als
»verkrüppelt« bezeichnet und somit nicht zum deutschen Wesen passend – aber
so recht begreiflich ist der Rang der Eiche als deutsches Quasi-Nationalsymbol
auch aus anderen Gründen nicht.
Dass in unserem Land tatsächlich ein ziemlicher Eichenwahn herrscht, zeigt
schon die Zahl der Suchmaschinen-Treffer: Unter dem Stichwort »Deutsche
Eiche« listet Google fast eine halbe Million Seiten auf, geradezu ein Kantersieg
im Vergleich zu anderen hierzulande wachsenden Bäumen. »Deutsche Buche«
erreicht nicht mal ein Zehntel dieser Menge, »Deutsche Birke« kommt auf rund
1700 Treffer, »Deutsche Linde« gar nur auf 1200 – und selbst diese Ergebnisse
beziehen sich größtenteils gar nicht auf den Baum, sondern auf das von Carl
Linde gegründete gleichnamige Industrieunternehmen. Die deutsche Eiche
dagegen scheint fest in unsere Volksseele eingewachsen zu sein. Unzählige
Schützen-, Burschen-, Sport- und Gesangsvereine, Gasthäuser, Restaurants und
Hotels heißen so, und nicht zuletzt enthalten Hunderte von Textstellen in der
Literatur den bedeutungsschweren Begriff. Zwar gibt es auch jede Menge
Gasthäuser »Zur Linde«, aber den Namenszusatz »deutsch« trägt kein einziges
von ihnen.
Was also ist an der Eiche so deutsch, dass sie es in Verbindung mit diesem
Attribut zu einer solchen Popularität bringt? Hat sie vielleicht ihren Ursprung in
Deutschland? Oder sind wir Weltmeister, was die Eichenvorkommen in unseren
Wäldern betrifft?
Weder noch. Eigentlich müsste daher auch die Rangfolge der Google-Treffer
ganz anders ausfallen – denn aus botanischer Sicht wäre es weit übertrieben, die
Eiche in den Rang des deutschen Nationalbaumes zu erheben. Die größte
Verbreitung haben bei uns in Wirklichkeit Buchen (übrigens enge Verwandte
der Eichen). Sie machen rund 15 Prozent des deutschen Baumbestandes aus,
während Eichen nur auf knapp zehn Prozent kommen. Sehr landes- und
kulturtypisch sind außerdem Linden, und das alles lässt sich sehr schön an
unseren Dorf- und Städtenamen ablesen. Ein Blick in den Atlas rückt die
Verhältnisse zurecht: Sowohl Eichen als auch Buchen und Linden sind als
Taufpaten absolute Hits – die beiden Erstgenannten kommen auf jeweils rund
tausend Ableitungen, die Linde auf etwa 850. Auch bei Familiennamen herrscht
in etwa Gleichstand, was die Herkunft von den Wortstämmen Eiche, Buche und
Linde betrifft.
Davon ganz abgesehen, ist die Eiche alles andere als ein »typisch deutsches«
Gewächs. Im Gegenteil: Eichenbäume bevölkern praktisch die gesamte nördliche
Erdhalbkugel. Es gibt sie in Europa, Nordafrika, Asien, Nord- und Mittelamerika
und sogar im äußersten Nordwesten des südamerikanischen Kontinents (die
australische Silbereiche gehört dagegen trotz ihres Namens zu einer anderen
Pflanzenfamilie). Nach einer aktuellen Zählung wachsen allein in Kalifornien fast
eine halbe Milliarde Eichen, die zusammen über 46 000 Quadratkilometer
Eichenwald bilden – das entspricht nahezu der Gesamtfläche Niedersachsens.
Und auf dieser Seite des Atlantiks? Da liegt nicht etwa Deutschland an der
Spitze, sondern Frankreich, dessen Eichenwälder eine Gesamtfläche von fast 60
000 Quadratkilometern bedecken. Mit nicht mal einem Fünftel dieser Fläche
nimmt sich Deutschland dagegen eher wie ein Eichen-Zwergstaat aus.
Auch die Verehrung der Eiche als Heiligtum und mythisches Kraftsymbol ist
keine altgermanische Spezialität, sondern findet sich in vielen antiken Kulturen.
In Griechenland etwa wähnte man im Eichenbaum den Ursprung der
Menschheit, und schon im Römischen Imperium wurden die Sieger bei den
Kapitolinischen Spielen – einem frühen Ableger der Olympischen Spiele – mit
einem Kranz aus Eichenlaub geehrt. Interessanterweise verbindet sich mit der
Eiche auch in fast allen Kulturen der Gedanke an Unwetter. Bei den Griechen
und Römern war sie dem Blitze schleudernden Hauptgott Zeus bzw. Jupiter
geweiht, bei den Kelten dem Donnergott Taranis, bei den Germanen dem
Gewittergott Donar, in der baltischen Mythologie dem Donnergott Pērkons.
Tatsächlich scheint es so, als wäre die Eiche ein bevorzugtes Ziel von Blitzen –
was aber lediglich daran liegt, dass Eichen häufiger als andere Bäume einzeln in
der Landschaft stehen und damit entsprechend einschlagsgefährdeter sind. Die
alte Volksweisheit »Vor den Eichen sollst du weichen« wendet man also besser
auf alle Bäume an.
Davon abgesehen haben Eichen tatsächlich etwas Ehrfurchtgebietendes an sich:
Als lebende Bäume werden sie ohne Weiteres über tausend Jahre alt, und auch
ihr Holz ist besonders hart und dauerhaft. Von daher wundert es nicht, dass man
beim Militär noch heute gern Eichenlaub (stellvertretend für den ganzen Baum)
als Schmuck für Orden und Rangabzeichen verwendet. Ein Eichenblatt bildet
auch das Symbol der Konservativen Partei Großbritanniens.
Das Etikett »typisch deutsch« hingegen steht, wie gesagt, nach der Faktenlage
eher den Buchen und Linden zu.
Die Buche, noch heute der meistverbreitete Laubbaum in Deutschland, war bis
zum Spätmittelalter die absolute Königin unserer Wälder. Parallel zur rasant
zunehmenden Eisenherstellung begannen sich die Buchenwälder dann allerdings
massiv zu lichten. Ihr Holz war für den Betrieb der Schmelzöfen unerlässlich,
denn nur mit Buchenholzkohle ließen sich die nötigen Temperaturen erreichen,
um Roheisen aus Erzen zu lösen. So sind von der einstigen deutschen
Buchenpracht im Vergleich zum ersten Jahrtausend nur noch Restbestände
geblieben.
Wie die Eiche ist übrigens auch die Buche ein uralter Kultbaum – und nicht nur
das: Sie steht sogar wortwörtlich für Kultur, denn die Begriffe »Buch« und
»Buchstabe« sind direkt von ihr abgeleitet. Beide beziehen sich auf
Buchenholztafeln, die ein verbreitetes Schreibmaterial waren, bevor das Papier
erfunden wurde.
Einziger Nachteil der Buche gegenüber der Eiche ist die Tatsache, dass sie selten
älter wird als drei- bis vierhundert Jahre – als Symbol für Stärke und
Dauerhaftigkeit bringt sie also keine Idealvoraussetzungen mit. Immerhin hat
die deutsche Buche 2011 endlich die verdiente Würdigung als
landschaftsprägender Baum erfahren: Auf deutschen Antrag erklärte die
UNESCO-Kommission für Bildung, Wissenschaft und Kultur in Paris fünf alte
deutsche Buchenwälder zum Weltnaturerbe.
Die Linde wiederum ist zwar als Waldbaum weniger verbreitet, aber dafür in fast
allen deutschen Städten und Dörfern zu finden und auch als Alleebaum überaus
beliebt. Notabene: Über zwei Drittel sämtlicher alten Linden Europas stehen in
Deutschland! In zahlreichen Gemeinden war und ist die »Dorflinde« der
Ortsmittelpunkt; unter ihr fanden Hochzeit, Kirchweih und Tänze statt, und
nach der altgermanischen Tradition des Thing wurde unter der Linde vielfach
auch das Dorfgericht abgehalten.
Vor allem aber ist die Linde der Sehnsuchtsbaum der deutschen Romantik,
weswegen sie in zahllosen Gedichten, Geschichten und Liedern des 18. und 19.
Jahrhunderts ihren seelen- oder schmerzvollen Auftritt hat. Das 1832 von
Wilhelm Müller verfasste Gedicht »Der Lindenbaum« (»Am Brunnen vor dem
Tore«) ist mit Franz Schuberts Melodie zu einem der populärsten deutschen
Volkslieder geworden, und auch in dem 1840 entstandenen Lied »Kein schöner
Land in dieser Zeit« trifft man sich bekanntlich »unter Linden«. Beste
Referenzen also für die Linde, um sich ebenfalls als deutscher Nationalbaum zu
empfehlen. Im Deutschen Kaiserreich wurden immerhin Kaiserlinden und
Friedenslinden gepflanzt, und ab 1933 kamen Adolf-Hitler-Linden in Mode, die
vielfach heute noch stehen (schließlich können sie nichts für ihren Taufnamen).
Dass die Eiche im Rennen um das Dauerprädikat »deutsch« letztlich doch den
Sieg davongetragen hat, verdankt sie weniger historisch gewachsenen
Traditionen als dem erwachenden deutschen Nationalbewusstsein zur Zeit der
Befreiungskriege gegen Napoleon, das einfach nach einem starken
Identifikationssymbol verlangte. So stiftete Preußenkönig Friedrich Wilhelm III.
1813 das »Eiserne Kreuz« mit drei Eichenblättern als Kriegsauszeichnung, und
so entstanden reihenweise eichenhaltige Kampfgedichte – wie Theodor Körners
»Bundeslied vor der Schlacht«, das vor vaterländischem Pathos nur so
überschäumt:
Hinter uns, im Grau’n der Nächte,
Liegt die Schande, liegt die Schmach,
Liegt der Frevel fremder Knechte,
Der die deutsche Eiche brach.
Unsre Sprache ward geschändet,
Unsre Tempel stürzten ein;
Unsre Ehre ist verpfändet,
Deutsche Brüder, löst sie ein!
Daß sich der Fluch der Himmlischen wende!
Löst das verlor’ne Palladium ein!
Diese volkstrunkenen Zeiten und Zeilen haben die Eiche zum Sinnbild
deutschen Heldentums werden lassen; spätestens mit der Reichsgründung 1871
wurde sie dann endgültig zum nationalen »Schicksalsbaum« verklärt. Und ob wir
wollen oder nicht, wir kommen fast täglich mit ihr in Berührung. Seit dem
Kaiserreich ziert Eichenlaub auch die Rückseite der deutschen Kupfermünzen –
und das ohne Unterbrechung von der Reichsmark bis hin zum Euro. Na,
zumindest diesen Platz können wir ihr lassen. Stimmt so.
Deutsche Namen
Mein Gott, Michel!
Preisfrage: Welcher Name kommt in Deutschland am häufigsten vor?
Bingo! Natürlich ist es Müller. Ein Familienname, der so deutsch klingt, als
wäre er extra für die Eigenheiten unseres Alphabets erfunden worden, und der
sämtliche anderen – einschließlich aller Vornamen – weit auf die hinteren Ränge
verweist. Über 700 000 Müllers gibt es im deutschen Sprachraum – damit könnte
man nahezu die Plätze aller Stadien der Ersten Bundesliga füllen. Rechnet man
die Schreibweisen Möller und Miller hinzu, sind es sogar über 780 000.
Aber nicht nur, dass wir den Namen mit unseren schweizerischen und
österreichischen Nachbarn sowie über 200 000 weiteren Miller in der
englischsprachigen Welt teilen müssen – ausgerechnet er, der sich so
wunderschön mit der deutschen Wanderlust verbindet, ist in Wahrheit gar kein
Germane, sondern stammt aus dem Lateinischen. Ursprungsvokabel ist molae,
von dem sich über die spätantike Version molina unser heutiges Wort Mühle
ableitet. Beim Beruf des Müllers und dem entsprechenden Familiennamen ist die
lateinische Wurzel noch im 13. Jahrhundert gut zu erkennen: Molner. Knapp 150
Jahre später hat sich das Wort über Mulner und Moller zu seiner heutigen Form
gewandelt.
Und Müller ist keineswegs der einzige Fremdling in der Hitliste unserer
Familiennamen. Die Rangfolge gestaltet sich allerdings nicht ganz einfach, da
sich etwa die Berufe des Schmieds und des Meiers in den unterschiedlichsten
Schreibweisen von Nachnamen niedergeschlagen haben – noch weit mehr als
beim Müller. So folgt je nach Lesart auf Rang 3 oder 6 der ebenfalls lateinische
Meier mit den Varianten Meyer, Maier und Mayer. Das Wort geht auf die antike
Wurzel maior (der Obere oder Ranghöhere) zurück und taucht im 13.
Jahrhundert erstmals als Familienname in der Schreibweise Meyger auf. Damit
wurde ursprünglich eine Art Oberbauer bezeichnet, der im Auftrag eines
adeligen oder geistlichen Grundherrn die Bewirtschaftung der Güter
beaufsichtigte. Ab dem Spätmittelalter ist das Wort Meyer auch als Begriff für
einen Pächter oder selbstständigen Bauern anzutreffen.
Noch zwei weitere Römer finden sich unter den Top 50 der deutschen
Familiennamen: Auf Rang 12 steht der Koch, abgeleitet vom gleichbedeutenden
lateinischen coquus, auf Rang 41 der Kaiser, der auf den römischen Imperator
Caesar zurückgeht. Allerdings handelt es sich hier nicht etwa um eine
Berufsbezeichnung (wer hätte es gedacht!), sondern um einen Spottnamen für
Menschen mit aufgesetzt höfischem Gehabe.
Weitaus häufiger als die Familiennamen gehen allerdings deutsche Vornamen
auf lateinische und andere antike Wurzeln zurück. Des Deutschen Hang und
Drang zur Exotik äußert sich eben nicht nur in seit Jahrzehnten ungebremster
Reiselust, sondern auch in einer offensichtlichen Vorliebe für ausländische
Namen – übrigens keineswegs erst in der heutigen Zeit, wenngleich mit
steigender Tendenz. Hänsel und Gretel? So deutsch das auch klingt – vom
Namen her haben sich da zwei Einwanderer in den deutschen Wald verirrt.
Genauer gesagt, ein Israeli (Jochanaan, auf Deutsch »Gott ist gnädig«) und eine
Römerin mit indischen Wurzeln (Margarita, auf Deutsch »die Perle«). Auch die
heute mit Abstand meistverbreiteten deutschen Vornamen, Peter (über 220 000
Namensträger) und Maria (über 175 000 Namensträgerinnen), gehen auf
nichtdeutsche Ursprünge zurück – das griechische petros (»Felsblock«) und das
aramäische mirjam (»die Widerspenstige«).
Einige weitere Herkunftsbeispiele populärer Vornamen (jeweils bezogen auf ihre
Urheimat):
Aus dem Lateinischen:
Anton, Beate, Cornelia, Diana, Felix, Julia, Leo, Lukas, Margit, Margret, Mario,
Markus, Marlene, Martin, Max, Oliver, Paul, Paula, Regina, Renate, Rita, Sabine,
Sylvia, Toni, Ulla, Ursula, Uschi, Verena
Aus dem Griechischen:
Alexander, Andrea, Andreas, Barbara, Christian, Christiane, Christine, Doris,
Eugen, Georg, Irene, Jürgen, Kathrin, Klaus, Nicole, Nikola, Peter, Petra, Philipp,
Sandra, Sebastian, Stefan, Sibylle, Theo, Timo, Veronika
Aus dem Keltischen und Altenglischen:
Alfred, Brigitte, Britta, Edgar, Edith, Edwin, Evelin, Ida, Kai, Kevin, Kilian,
Patrick
Aus dem skandinavischen Sprachraum:
Astrid, Birgit, Björn, Dagmar, Gudrun, Harald, Helga, Holger, Inge, Kerstin,
Knut, Lars, Olaf, Peer, Silke, Sven, Torsten, Ulf
Aus dem Russischen:
Anja, Sascha, Sonja, Natascha, Tanja, Vera
Aus dem Hebräischen und Aramäischen:
Achim, Adam, Anita, Anna, Anne, Axel, Bettina, Daniel, Daniela, David, Eva,
Gabriele, Hanna, Hans, Jakob, Joachim, Jochen, Josef, Jutta, Lena, Lisa, Matthias,
Michael, Ruth, Sara, Simon, Simone, Susanne, Thomas, Tobias
So gesehen, ist ausgerechnet unsere nationale Symbolfigur, der zipfelmützige
»deutsche Michel«, gar kein Deutscher, sondern Israeli. Das hebräische Wort
mikhael bedeutet so viel wie »Wer gleicht Gott?«. Überhaupt fällt auf, dass die
große Mehrzahl der heute gängigen Vornamen ihre Wurzeln in der Antike hat.
Danach wurde im Grunde nur noch variiert und abgekürzt, aber nichts wirklich
Neues mehr erfunden. Viele vermeintlich deutsche Namen gehen auf lateinische,
griechische oder hebräische Originale zurück, die in anderen europäischen
Ländern zungengerecht umgemodelt wurden. Nicht wenige von ihnen haben
sich auf ihrer Reise durch Geschichte und Geografie so abenteuerlich gewandelt,
dass man ihre ursprüngliche Herkunft nur noch mit Mühe erkennt. Wer würde
etwa hinter der bayerischen Vroni die griechische Pherenike (»Siegbringerin«)
vermuten? Oder, noch bizarrer, hinter dem so knackig-deutsch klingenden Axel
das hebräische Abu shalom (»Vater des Friedens«)?
Mittlerweile scheint die Internationalität fast ihren Gipfelpunkt erreicht zu
haben: Bei den Top Ten unter den deutschen Taufnamen 2012 – ermittelt von
der Gesellschaft für deutsche Sprache – waren bei den Mädchen geschlagene
neun und bei den Jungen sogar alle zehn Namen ausländischer oder gemischter
Herkunft.
Unter dem Strich lautet somit die Erkenntnis: Wir Deutsche sind nicht nur
ausgesprochen international, sondern wir heißen auch so. Womit wir uns,
notabene, in bester europäischer Gesellschaft befinden.
Deutsche Sprache
Frankreich trifft Anatolien
Die Sprache der Bundesrepublik Deutschland ist Deutsch –egal, was passiert. So
mancher Politiker sähe das gern im Grundgesetz verankert, und wer würde es
auch ernsthaft bezweifeln?
Nun ja, man kann sich schon seine Gedanken machen. Immerhin enthält der
listig eingefügte Nachsatz »egal, was passiert« bereits zwei Immigranten –
französische Vokabeln, die erst vor gut dreihundert Jahren nach Deutschland
gelangt sind: égal und passer. Altmeister Goethe zum Beispiel, obwohl von
Jugend an frankophil, hatte das Fremdwort »egal« noch gar nicht in seinem
Vokabular; er verwendet es jedenfalls in seinen Werken und Briefen kein
einziges Mal und schreibt stattdessen »gleichgültig«.
Schon dieses kleine Beispiel illustriert, dass Deutsch das Gegenteil einer in sich
geschlossenen und womöglich »rein germanischen« Sprache ist. Vielmehr liefert
es ein seltenes Musterbeispiel dafür, was Sprache eigentlich darstellt: einen
lebendigen, mit der Zeit gehenden und sich wandelnden Organismus, der,
ähnlich wie ein Lebewesen, ständig atmet, isst, verdaut und ausscheidet. Man
könnte auch sagen: Das Deutsche ist eine äußerst leistungsfähige
Verwurstungsmaschine, die sich munter einverleibt, was immer ihr in die Quere
kommt. Manchmal werden ausländische Wörter auch so umgemodelt, dass sie
hier wie dort funktionieren: Man nehme den italienischen attentatore, pfropfe
ihm den deutschen Täter auf, und schon hat man die neue Wortschöpfung
Attentäter. Oder man kombiniere das deutsche schlimm mit dem hebräischen
massel (»Glück«) und heraus kommt das Gegenteil des Ursprungswortes, der
jiddische Schlamassel. Oder wir kneten uns aus fremdländischem Rohmaterial
ganz neue Begrifflichkeiten – wie Akkuratesse, Autoscooter, Bowle, Dressman,
Friseur, Handy, Oldtimer, Profi, Pulli, Regisseur, Sakko, Showmaster, Simsen,
Smoking, Trafo oder USB-Stick. Es ist genau diese Integrationsfähigkeit, die
unsere Sprache so überaus interessant, kraftvoll und farbenreich macht.
Im Lauf der Jahrtausende ist auf diese Weise ein bunt zusammengequirlter
Multikulti-Eintopf aus germanischen und romanischen Strukturen und
Vokabeln entstanden – mit einer Unzahl von Fremd- und Lehnwörtern aus allen
möglichen weiteren Sprachen und Ländern. Mitunter sind sie sogar über zwei
oder mehr Landesgrenzen hinweg eingewandert und haben dabei ihre Gestalt
und oft auch ihren Sinngehalt verändert. Ein treffendes Beispiel ist das arabische
safar (ursprünglich einfach »Reise«), das über die Swahili-Version safari ins
ehemalige Deutsch-Ostafrika und von dort nach Deutschland gelangte. Eine
abenteuerliche Odyssee hat auch das altindische nilas hinter sich: In der
Urfassung stand es für bläulich, im Arabischen wurde es als lilak zum Wort für
Flieder, im Französischen tauchte es als lilas in gleicher Bedeutung wieder auf,
und schließlich landete es als lila in Deutschland. Oder, ebenfalls recht bizarr,
der altnormannische trique (»Betrug«), der aus Frankreich über Großbritannien
zu uns einwanderte und sich seit einigen Jahrzehnten in der neudeutschen
Wortschöpfung tricksen wiederfindet.
Umgekehrt sind aber auch Tausende von deutschen Wörtern in die
verschiedensten anderen Länder exportiert worden – und manchmal auch
wieder zurück: etwa das deutsche schick, das nach längerem
Frankreichaufenthalt noch schicker, nämlich als chic, in seine alte Heimat
zurückkehrte. Oder das Bollwerk, das eines Tages leicht verfremdet als Boulevard
nach Hause kam. Oder die Arbeit, die im Tschechischen zu Robot verballhornt
wurde und in Gestalt des Roboters wieder zu uns fand. So gesehen, ist der
Roboter ein gänzlich deutsches Wesen, nämlich nichts anderes als der vertraute
Arbeiter. Auch wir haben unseren Nachbarn also einiges zu bieten.
Aber was genau ist eigentlich die deutsche Sprache? Wo kommt sie her, und was
macht ihr Wesen aus?
Ein kleiner Exkurs zur Begriffsklärung: Das Wort Deutsch geht auf ein altes
germanisches Substantiv zurück (diot oder diota), was so viel wie Volk oder
Stamm bedeutet. Im Altirischen findet es sich als tuath wieder, im Litauischen als
tautá. Daraus abgeleitet und seit dem 10. Jahrhundert belegt sind die späteren
deutschen Varianten: althochdeutsch diutisc, mittelhochdeutsch diutisch oder
diutsch. Im Niederländischen hieß es ursprünglich duitsch (deshalb ging Dutch
als Bezeichnung für die Niederländer ins Englische ein). Schon früher, nämlich
im 8. Jahrhundert, wurde der altgermanische Wortstamm zu theodiscus
latinisiert (weshalb die Italiener für »deutsch« noch heute das Wort tedesco
haben). Der lateinische Begriff Lingua theodisca wurde schließlich zur amtlichen
Bezeichnung der altfränkischen Volkssprache im Reich Karls des Großen. Im
Verlauf der Auseinandersetzung zwischen Ost- und Westfranken (den heutigen
Franzosen) entwickelte sich dieses Altfränkische dann zum Oberbegriff für
sämtliche Stammessprachen im Osten des Frankenreiches, also des späteren
Deutschland.
Ursprünglich entstammt das Deutsche der indogermanischen Sprachfamilie,
deren Mitglieder sich auf dem eurasischen Kontinent von der äußersten
Nordwestecke bis weit nach Mittelasien verbreitet haben. Persisch, Kurdisch, das
afghanische Paschtu und verschiedene anatolische Sprachen gehören ebenso
dazu wie die uns vertrauten europäischen Idiome. Gemeinsamer Vorläufer all
dieser Sprachen ist eine indogermanische Ursprache, deren Geburt mehrere
Tausend Jahre zurückliegt. Wann und wo genau sie entstanden ist und
gesprochen wurde, lässt sich nicht mehr mit vollständiger Sicherheit sagen.
Sprachwissenschaftler vermuten ihre Keimzelle teils auf dem Balkan, teils im
Gebiet des heutigen Kirgistan, also am äußersten Ostrand Europas, teils sogar im
heute türkischen Anatolien, das zum asiatischen Kontinent gehört. Eine kürzlich
erschienene wissenschaftliche Arbeit scheint letztere Hypothese zu bestätigen:
Im August 2012 veröffentlichte eine Gruppe von Sprachwissenschaftlern der
University of Auckland (Neuseeland) die Ergebnisse einer Studie[8], in der 103
indoeuropäische Sprachen untersucht wurden – mit dem Fazit, dass ein »decisive
support for an Anatolian origin« bestehe, also eine eindeutige Untermauerung
des anatolischen Ursprungs, und dies schon vor 8000 bis 9000 Jahren. Die ersten
germanischen Sprachen als Vorläufer des heutigen Deutsch lassen sich allerdings
erst ab etwa dem 5. Jahrhundert v. Chr. weiter westlich orten und näher
bestimmen.
In jedem Fall hat unser heutiges Deutsch eine lange und abenteuerliche Reise
hinter sich. In deren Verlauf nahm es die unterschiedlichsten germanischen,
aber auch romanischen und slawischen Elemente in sich auf, spaltete sich in
zahllose Dialekte und Mundarten und wurde so zu einer ausgesprochen
multikulturellen (und bis heute schwierigen!) Form der sprachlichen
Kommunikation. Nahezu jedes seiner Wörter hat einen Migrationshintergrund,
sei es germanischer, romanischer oder anderer Schattierung.
Häufig lassen sich an solchen Wortwanderungen auch kulturgeschichtliche
Entwicklungen ablesen, wie zum Beispiel das Vordringen der romanischen
Baukunst über die Alpen nach Norden: Für Wörter wie Fenster, Fundament,
Gips, Kalk, Kammer (das deutsche Wort Zimmer bedeutet eigentlich »aus Holz
gebaut«), Keller, Marmor, Mauer, Mörtel, Quader, Schindel und Ziegel – allesamt
aus dem Lateinischen stammend – gibt es keine Entsprechung mit germanischen
Wurzeln, weil unsere Vorfahren das Bauen mit Stein noch nicht kannten. Der
lateinische carcer ist sogar zweimal nach Deutschland eingewandert: das erste
Mal während der Antike als Kerker, das zweite Mal im Mittelalter als Karzer, die
Arrestzelle für aufmüpfige Studierende an den Universitäten.
Oder nehmen wir das italienische Bank-, Versicherungs- und
Kaufmannswesen, das während der Renaissance seine Blüte erlebte und von der
Lombardei aus den Weg nach Norden antrat: Aus dieser Zeit stammen Wörter
wie Agio, Assekuranz, Bank, bankrott, Bilanz, brutto, Diskont, Firma, Giro,
Kapital, Kasko, Kasse, Konto, Kredit, Lombardsatz, Manko, netto und Saldo.
Auch unserer klassischen Musikkultur ist die Einwanderung aus Italien deutlich
anzumerken – da erklingt eine Wortsinfonie aus adagio, allegro, Alt, andante,
Arie, Bass, Bratsche, Cello, da capo, Dirigent, Fagott, Klarinette, Konzert, Libretto,
Menuett, Oper, Partitur, Piano, Primadonna, Rondo, Solo, Sonate, Sopran, Tenor,
unisono, Violine usw. Bei der internationalen Popmusik unserer Tage wiederum
zeigt sich der beherrschende Einfluss der USA. Wir reden ganz selbstverständlich
von Bandleader, Beat, Break, Charts, Discjockey, Feeling, Funk, Groove, Grunge,
Hiphop, Hit, live, Open Air, Playback, Punk, Rap, Rock, Sampler, Single, Soul,
Synthesizer oder unplugged, ohne uns groß mit deutschen Alternativen
abzuquälen.
Über das Englische braucht man ohnehin kaum Worte zu verlieren, scheint es
doch so, als würden wir im Alltag heute zunehmend ein Gemisch aus Deutsch
und Englisch reden. Hier stimmt allerdings unsere Wahrnehmung nicht ganz,
denn den Vogel schießt in Wirklichkeit Frankreich ab. Was das Deutsche im
Verlauf der nachrömischen Geschichte an französischen Vokabeln aufgesogen
hat, ist wahrhaft gigantisch. Unser Wortschatz ist durchsetzt mit Hunderten,
wenn nicht Tausenden französischer Wörter (Gallizismen), ohne dass wir sie im
täglichen Sprachgebrauch überhaupt als solche wahrnehmen. Wir verdanken sie
größtenteils den hugenottischen Einwanderern der Neuzeit ( »Preußentum«)
und später der napoleonischen Besetzung, aber auch im Mittelalter fand bereits
ein reger und stetiger Direktimport statt. So sind viele Wörter vom
Altfranzösischen ins Alt- und Mittelhochdeutsche gelangt und haben die
Evolution unserer Sprache über Jahrhunderte mitvollzogen. Andere Gallier (wie
Bombast, Champion, Couch, Festival, Grill, Klosett, Party, Rallye, Sport, Toast,
Training oder Tunnel) gelangten über Großbritannien nach Deutschland –
einige sogar zusätzlich zum direkten Grenzübertritt: Service gibt es bei uns
sowohl im französischen Original (als Tischgedeck) als auch in der englischen
Version (als Dienstleistung).
Als Ergebnis reden wir quasi auf Schritt und Tritt Französisch, ohne uns dessen
bewusst zu sein. Schon die ersten beiden Worte, die ein deutsches Baby quäkt
(Mama, Papa), stammen von unserem westlichen Nachbarn. Später entpuppt
sich das Kleine vielleicht als Genie, nutzt seine Chance, macht Karriere als
Journalist, Ingenieur oder Komiker und hat kommerziellen Erfolg. Voilà!
Bei Wörtern in ganz oder halbwegs erhaltener französischer Schreibweise und
Aussprache erkennt man den Ursprung ja meist noch ohne Probleme – wie bei
Abonnement, Accessoire, Coupé, Coupon, Medaille, Restaurant, Toilette, Toupet
usw.
Auch französische Verben, die mit deutschen Endungen versehen wurden,
zeigen ihre Herkunft vergleichsweise unverhüllt: balancieren, changieren,
echauffieren, engagieren, genieren, jonglieren, soufflieren, tranchieren usw.
Schon etwas schwieriger wird es, wenn Wörter lautlich oder schriftlich
halbwegs eingemeindet sind – wie neben vielen anderen Affäre, Allüren,
Barrikade, Journalist, Kalkül, Parfüm, Passagier, Tourist und neuerdings auch
das Portmonee.
Äußerstes Gespür ist gefragt bei Gallizismen, die schon so fest im
Alltagsgebrauch verwurzelt sind, dass wir sie kaum noch oder gar nicht mehr als
Fremdkörper wahrnehmen, wie schon ein kleiner Streifzug zeigt: Abenteuer,
Allee, Allianz, Ballon, Dementi, Desaster, Garnitur, gewieft, Karussell, Leutnant,
Limonade, Liter, Lokal, Lupe, makaber, manierlich, Maskottchen, Massaker,
Möbel, Onkel, Panne, Pantoffel, Pinzette, Rampe, Rang, rasieren, Relief, Rekrut,
Rente, Reserve, rollen, Rollo, Roman, Soße, Tablette, Tante, Vase, um nur einige
zu nennen.
So viel zum »Deutschsein« der deutschen Sprache.
[8] Quentin D. Atkinson et al.: Indo-European Language Family. Science 24.
Deutsche Weihnacht
Süßer die Palmen nie rauschen
Unter den vier Jahreszeiten wird sie zwar nicht offiziell aufgeführt, aber dennoch
schlägt die deutsche Weihnachtssaison alle anderen buchstäblich um Längen: In
den Supermärkten etwa beginnt sie, wie man weiß, stets pünktlich am 1.
September mit Paletten voller Nikolausnaschwerk und endet im Februar mit
dem Verramschen der letzten hart gewordenen Printen. In diversen, quer über
das Land verteilten Läden findet sie sogar ganzjährig statt – beispielsweise in
Oberammergau, in Rothenburg ob der Tauber und in der Bremer Altstadtgasse
»Schnoor«.
Es muss also wohl etwas mit romantisch-deutscher Befindlichkeit zu tun haben,
dass uns die Weihnachts- und Vorweihnachtszeit so sehr und andauernd am
Herzen liegt: diese (meist nur herbeigesehnten) verschneiten Wälder! Diese
Rauschgoldengel und lieblich läutenden Schlittenglöckchen! Diese
anheimelnden Aromen und Düfte! Der Schriftsteller Heinrich Böll ließ die
Figuren seiner Satire Nicht nur zur Weihnachtszeit nach dieser Idylle dermaßen
süchtig werden, dass sie zwei Jahre lang jeden Tag Weihnachten feiern und
Spekulatius knabbern mussten.
Aber wonach riecht oder schmeckt die deutsche Weihnacht denn nun
eigentlich? Eine sicher nicht repräsentative, aber dennoch aufschlussreiche
Blitzumfrage unter 120 ganz verschiedenen Adressaten ergab ein fast erwartbares
Bild: Sieht man vom unvermeidlichen Tannenduft einmal ab, dann steht ganz
oben auf der Hitliste Zimt und alles, was damit gewürzt ist (Bratäpfel,
Spekulatius, Lebkuchen, Zimtsterne, Glühwein) – dicht gefolgt von Weihrauch,
Gewürznelken, Mandarinen, Orangen und gebrannten Mandeln. All diese
Spezereien bringt der Weihnachtsmann natürlich nicht aus dem verschneiten
deutschen Winterwald mit, sondern überwiegend aus Weltgegenden, in denen
sich Palmwipfel im heißen Tropenwind wiegen. Mit anderen Worten: Die
deutsche Weihnacht riecht gar nicht anheimelnd, sondern in erster Linie
exotisch. Um genauer zu sein: südostasiatisch.
So hat der absolute Renner unter den Weihnachtsgewürzen, der Zimt, seine
Heimat im fernen Sri Lanka. Lieferant der begehrten Zutat ist der Ceylon-
Zimtbaum (Cinnamomum verum), in dessen Rinde das aromatische Zimtöl
steckt. Allerdings wird dieser »echte Zimt« bei der industriellen Herstellung von
Backwaren meist mit chinesischem Cassia-Zimt verschnitten, der erheblich
billiger, aber dafür auch eher minderwertig ist. Anbaugebiete dieser heute
meistverwendeten Sorte sind neben China hauptsächlich Vietnam und
Indonesien.
Aus Rinde wird auch das Weihrauch-Harz (Olibanum) gewonnen, das uns
nicht nur zu Weihnachten feierlich ums Herz werden lässt. Seine Quelle ist der
Weihrauchbaum (Boswellia), den man überwiegend in heißen Wüstengegenden
Afrikas wie Äthiopien, Eritrea und Sudan antrifft. Übrigens ist Weihrauch, wie
wir ja aus der Bibel wissen, ein uralter Dufterzeuger – er diente schon vor über
sechstausend Jahren den ägyptischen Pharaonen als Aromakulisse für kultische
Handlungen, später auch Priestern im antiken Rom.
Bei Gewürznelken, unserer Leib-und-Magen-Zutat für Glühwein, handelt es
sich um die getrockneten Blütenknospen des Gewürznelkenbaums (Syzygium
aromaticum), der ursprünglich von der indonesischen Inselgruppe der
Molukken stammt. Hauptanbaugebiet ist heute die afrikanische Insel Sansibar;
Gewürznelkenplantagen gibt es aber rund um die Welt in fast allen tropischen
Ländern. In ihrer Urheimat Indonesien sind Nelken vor allem als
Tabakbeimischung beliebt – mehr als die Hälfte der einheimischen
Gesamtproduktion wandert dort als Krümel in die sogenannten Kretek-
Zigaretten, die trotz oder gerade wegen ihres grausigen Geschmacks im Ruf
stehen, gesundheitsfördernd zu sein.
Mandarinen sind ebenfalls aus Ostasien zu uns eingewandert: Sie stammen aus
dem südlichen China, werden dort schon seit Jahrtausenden kultiviert und
gelten als die ältesten bekannten Zitrusfrüchte überhaupt. Orangen oder
Apfelsinen (vom altniederländischen appelsina = Apfel aus China) sind dagegen
kein originales Gewächs, sondern das Ergebnis einer Kreuzung von Mandarine
und Pampelmuse. Für beide – Mandarinen und Orangen – ist in Europa heute
Spanien der bei Weitem größte Exporteur, gefolgt von Italien und Griechenland.
Der einzige weihnachtliche Aromenlieferant, der auch hierzulande gedeiht, ist
der Mandelbaum (Prunus dulcis), dem wir die gebrannten Mandeln verdanken.
Von der Abstammung her ebenfalls ein Südasiat, wurde er vermutlich von den
alten Römern zusammen mit dem Weinbau nach Deutschland eingeführt.
Allerdings sind die hiesigen Anbauflächen sehr klein, denn der Mandelbaum
braucht ein sonnig-heißes Klima – weshalb unsere Mandeln zum überwiegenden
Teil aus Kalifornien und den Mittelmeerländern kommen. Berühmt sind zum
Beispiel jene aus der sizilianischen Provinz Catania, und dazu passt dann
wunderbar die ebenfalls sizilianische Volksweise O sanctissima (besser bekannt
in der deutschen Version O du fröhliche), die dem internationalen Reigen noch
eine musikalische Pointe hinzufügt.
Natürlich ist es kein Zufall, dass wir zu Weihnachten so gern diese Düfte der
großen weiten Welt um uns haben. Es liegt schlicht und ergreifend daran, dass
tropische Gewürze, Südfrüchte und sogar Zucker vor noch nicht allzu langer Zeit
ein teurer und begehrter Luxus waren, den man sich nur zu besonderen
Anlässen gönnte.
Und das Weihnachtsfest als solches? Dass die Welt es am 25. Dezember begeht,
hat ebenfalls einen historischen Hintergrund, und der liegt, wie die Länder
unserer meisten Mandarinen- und Mandellieferanten, südlich der Alpen. Zu
verdanken haben wir das Datum zwei Herrschern des antiken Rom, Gaius Iulius
Caesar und Lucius Domitius Aurelianus (kurz Aurelian). Ersterer setzte im nach
ihm benannten Julianischen Kalender – fälschlicherweise – den 25. Dezember als
Zeitpunkt der Wintersonnenwende fest. Letzterer begründete im Jahr 275 den
spätrömischen Sonnenkult als eine Art Staatsreligion und proklamierte den
Geburtstag des »unbesiegten Sonnengottes« (sol invictus) an eben jenem Tag der
Sonnenwende. Ursprünglich eine eher zweitrangige Instanz, wurde Sol damit auf
den Sockel eines allmächtigen Übervaters gehoben – und der 25. Dezember
schon für die alten Römer zu einem offiziellen Feiertag.
Im Zuge der Christianisierung, etwa um die Mitte des 4. Jahrhunderts, begann
man dieses »heidnische« Datum dann in den Geburtstag Christi umzudeuten.
Das ist nicht einmal weit hergeholt, denn Jesus wurde seinerzeit vielfach mit dem
römischen Sonnengott verglichen. Der aus Jerusalem stammende
Geschichtsschreiber Sextus Iulius Africanus (um 160/170 bis nach 240) bestand
dagegen auf einer religiösen Herleitung und setzte den 25. März sowohl mit der
Kreuzigung Jesu als auch mit dem Tag seiner Empfängnis gleich, was bei exakt
neun Monaten Schwangerschaft Marias zu einer Geburt am 25. Dezember
geführt hätte. Allerdings gibt es für diese gewagte Hypothese keinerlei Belege. Im
Übrigen wurde der Geburtstag Jesu in der altpalästinensischen Kirche lange Zeit
Mitte Mai gefeiert, und in Armenien begeht man ihn noch heute am 6. Januar.
Die Weihnachtsgeschichte der Bibel jedenfalls schweigt sich über Datum und
Jahreszeit ebenso aus wie später der Koran. Dafür lässt Letzterer den frisch
geborenen Jesus in der 19. Sure selber die Stimme erheben: »Friede komme über
den Tag meiner Geburt und meines Todes, und über den Tag, an welchem ich
wieder zum Leben erweckt werde.«
Alles in allem ist die deutsche Weihnacht also eine überaus internationale
Veranstaltung: das Datum aus dem alten Rom, die Geschichte eine
Überlieferung der gesamten Arabischen Halbinsel, das Geburtstagskind aus
Palästina, dazu die drei altbekannten morgenländischen Könige und nicht
zuletzt kulinarisch-aromatische Zutaten aus Tropenländern rund um die Welt.
Bliebe als echt deutscher Vertreter in diesem Festtagsplenum noch der gute alte
Weihnachtsmann. Also, was ist mit dem?
Nun ja – schlicht und vereinfacht gesagt: Er ist Türke. Als historischer
Vorläufer gilt Nikolaus von Myra (im kleinasiatischen Lykien, der heutigen
türkischen Provinz Antalya), der dort im 4. Jahrhundert als Bischof wirkte. Die
amerikanische Bezeichnung »Santa Claus« – entstanden in New York, dem
früheren Neu-Amsterdam, aus dem niederländischen »Sinterklaas« – verrät
noch diesen Ursprung. Über Jahrhunderte war der Namenstag des heiligen
Nikolaus, also der 6. Dezember, auch der traditionelle Tag der Bescherung. Erst
nach der Reformation verschob sich dieses Datum auf den 24. Dezember, den
Vorabend des Weihnachtsfestes.
Der heutige deutsche Weihnachtsmann vereinigt in sich eigentlich zwei
Personen: zum einen den gütigen Sankt Nikolaus, zum anderen dessen
strafenden Knecht, der je nach Region meist Ruprecht oder Krampus heißt.
Schon immer wurde diese Figur als alter Mann mit weißem Rauschebart
dargestellt; bis vor wenigen Jahrzehnten allerdings in einem braunen statt einem
roten Pelz. 1931 schaffte es dann der aus Norwegen stammende Grafiker
Haddon Sundblom, dieses Bild nachhaltig durch ein neues zu verdrängen. Im
Auftrag des Coca-Cola-Konzerns entwarf er eine Werbefigur, die populärer
werden sollte als Micky Maus, Donald Duck und Asterix zusammen: rote
Pausbäckchen, roter Mantel mit Hermelinbesatz und breitem Ledergürtel, rote
Zipfelmütze, gefütterte Stiefel und als wichtigstes Requisit ein Sack mit
Geschenken.
In diesem Outfit hat der Coca-Cola-Weihnachtsmann eine Weltkarriere
hingelegt, die in der Geschichte ihresgleichen sucht, und das nahezu über
sämtliche Kultur- und Sprachgrenzen hinweg. Im Englischen tritt uns der
Rotmantel als Father Christmas entgegen (bzw. als Santa Claus in den USA), im
Französischen als Père Noël, im Italienischen als Babbo Natale und im
Spanischen als Papá Noel; in Portugal heißt er Pai Natal, in Rumänien Mos
Craciun, in Brasilien Papai Noel, in der Türkei Noel Baba. Und allüberall trägt er
das Gewand und die Züge, die Haddon Sundblom ihm damals verliehen hat.
Wer diesem Weltbeglücker im Dezember entkommen will, muss schon in
Ländern wie Somalia oder Nordkorea Zuflucht suchen.
Natürlich braucht der moderne Weihnachtsmann auch einen angemessenen
Wohnsitz, denn das sonnige Antalya und verschneite Tannenzweige passen ja
nicht so recht zusammen. Die genaue Adresse ist je nach Nationalität strittig –
auf jeden Fall aber liegt sie irgendwo hoch im Norden: Zur Auswahl stehen unter
anderem Grönland, Rovaniemi in Finnland, Gesunda in der schwedischen
Provinz Dalarna, Drøbak am norwegischen Oslofjord sowie der winzige Ort
Northpole (nicht am Nordpol, sondern bei Fairbanks in Alaska). Wunschzettel
können gerichtet werden an info@santaclaushouse.com, gern auch auf Deutsch.
Der Weihnachtsmann ist eben wirklich international!
Deutsches Volk
Die polnischen Piefke
»Ihr solltet einander achten und Streitigkeiten unterlassen;
ihr solltet einander nicht zurückweisen wie Wasser und Öl,
sondern euch vermischen wie Wasser und Milch.«
Diese weise Mahnung formulierte Siddharta Gautama, besser bekannt als
Buddha, in seiner Heimat Indien vor über zweieinhalbtausend Jahren. Man
möchte seine Worte gern allen Patchwork-Völkern dieser Welt (und das sind die
meisten) ins Stammbuch schreiben. Würden sie verstanden und konsequent
beherzigt, dann gäbe es auf unserem Planeten weder Diskriminierung noch
Pogrome oder Bürgerkriege. Wir Deutschen können selber ein Lied davon
singen – insofern haben wir guten Grund, uns an die eigene Nase zu fassen.
Denn wie die Geschichte zeigt, waren gegenseitiger Respekt und das Unterlassen
von Streitigkeiten auf deutschem Boden keineswegs die Regel; vielmehr haben
wir uns nur unter großen Mühen im Verlauf der Jahrhunderte einigermaßen
zusammengerauft ( »Deutschland«). Immerhin, heute dürfen wir uns an einem
Land erfreuen, in dem weder heiße noch kalte Kriege geführt werden. Dass es so
lange gedauert hat, dürfte auch an unseren vielfältigen ethnischen Zutaten liegen,
bei denen Vermischen und Zurückweisen immer wieder im Clinch miteinander
lagen.
Letzten Endes aber – um in Buddhas Bild zu bleiben – hat die Variante »Wasser
und Milch« historisch doch meist die Oberhand behalten. Der Geschlechtstrieb
kümmert sich eben selten um Politik, so wenig wie es Märkte und
Geschäftsinteressen tun. Daher entpuppt sich das »deutsche Volk« bei näherer
Betrachtung sehr schnell als Mythos – jedenfalls wenn man versucht, die
Bezeichnung mit ethnischen oder gar rassischen Inhalten zu füllen. Wir sind
alles andere als eine homogene Sippe. Als geografischer Mittelpunkt Europas
haben wir die Gene anderer Völker, die Einflüsse anderer Sprachen und
Kulturen über Jahrtausende in uns aufgesogen. Dass dieser Prozess immer
wieder von Gewalt und Blutvergießen begleitet war, ändert nichts an der Sache
selbst.
»Die deutschsprachige Region war integraler Teil der Migration im
europäischen Großraum«, schreibt der Bremer Historiker Dirk Hoerder als Fazit
seiner Erkenntnisse zu den deutschen Wanderbewegungen.[9] Wie rege die
Völker hier tatsächlich unterwegs waren und sind, zeigt schon die Vielzahl
deutscher Familiennamen, die sich auf Herkunftsorte oder -länder beziehen.
Teils sind sie innerdeutsch wie Bayer, Brandenburger, Bremer, Franck, Friese,
Hess, Preuße, Sachs oder Schwab, teils bezeichnen sie Einwanderer aus anderen
Ländern – zum Beispiel Böhme, Dähn (Däne), Pohl (Pole), Reuss (Russe),
Sarrazin (Sarazene), Unger (Ungar), Basler oder Wiener.
Hinzu kommen Hunderte von Namen, denen man mehr oder weniger deutlich
ihre ausländischen Wurzeln anmerkt – allen voran solche aus den verschiedenen
slawischen Sprachräumen. Ein kleiner Querschnitt durch die aktuelle deutsche
Prominenz: Baselitz, Bednarz, Bendzko, Biolek, Burda, Karasek, Kubicki, Lisicki,
Littbarski, Makatsch, Masur, Matussek, Miosga, Nowitzki, Petković, Pilawa,
Podolski, Pofalla, Prochnow, Skibbe, Slomka, Solga, Sukowa, Trittin, Wontorra,
Wondratschek, Zietlow.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang: Wenn Österreicher sich über die
Deutschen ärgern, bezeichnen sie uns bekanntlich gern kollektiv als »Piefke«
(ohne Plural-S!). Der Oberbegriff soll auf den Schweriner Militärmusiker Johann
Gottfried Piefke zurückgehen, der als Komponist des »Königgrätzer Marsches«
1866[10] zur nationalen Hassfigur wurde – scheinbar folgerichtig haben ihn
unsere südlichen Nachbarn als Verkörperung alles Deutschen (oder
Preußischen) gebrandmarkt. Aber weit daneben gelangt! Auch die in
Deutschland lebenden Piefke waren ursprünglich Slawen. Der Name taucht 1390
erstmals als Pifka auf und geht auf das polnische Wort für Bier, piwo, zurück.
Insofern passt er dann doch wieder zum Deutschen-Klischee; allerdings sind die
Österreicher dem Gerstensaft kaum weniger zugetan als wir ( »Bier«).
Zurück zu Wasser und Milch. Das große Verquirlen beginnt schon in der
Antike: Neben den unterschiedlichsten Germanenstämmen – wie Alamannen,
Bajuwaren, Markomannen, Vandalen, Langobarden, Cherusker, Chauken,
Burgunden, Franken, Sachsen oder Friesen – tummelte sich auf dem Gebiet des
heutigen Deutschland auch eine Reihe anderer ethnischer Gruppen. So gehörte
etwa ganz Süddeutschland bis ins 5. Jahrhundert v. Chr. zum
Kernsiedlungsgebiet der Kelten. Von deren Sprache zeugt noch heute eine Reihe
von Lehnwörtern, wie zum Beispiel Amt, Eisen, Reich oder Pferd. Der
Regensburger Germanist Albrecht Greule vermutet keltische Wurzeln außerdem
in mindestens 150 bayerischen Orts- und Flussnamen – darunter Kempten,
Andechs, Isar und Main. Auch die Bezeichnung Germanen für die einheimischen
Stämme ist kein »deutsches« Wort, sondern geht wahrscheinlich auf das
Keltische zurück.
Als Nächstes kam eine Besatzungsmacht aus dem Süden, die Römer. Zur Zeit
seiner größten Ausdehnung unter Kaiser Trajan reichte das Imperium
Romanum bis weit ins heutige Deutschland hinein. Bis 116 n. Chr. befanden sich
große Teile der heutigen Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg, Rheinland-
Pfalz, Hessen sowie das gesamte Gebiet links des Rheins vollständig unter
römischer Herrschaft. In dieser Zeit gab es eine Vielzahl von Mischehen
zwischen Römern und Germanen, und wie andere Länder hätten auch wir
komplett zur römischen Provinz werden können – wie es das unersättliche
Weltreich eigentlich vorhatte. Dann sprächen wir heute vermutlich nicht
Deutsch, sondern eine romanische Sprache wie Franzosen, Rumänen,
Portugiesen und Spanier. Nur die römische Niederlage in der berühmten
Varusschlacht im Jahr 9 n. Chr. vereitelte diese Pläne und bewahrte uns einen
Rest »germanischer« Identität. Wobei man allerdings anfügen muss: Die
lateinische Sprache war bis dahin bereits unauflösbar mit unseren eigenen
Dialekten vermischt.
Vermutlich um 375 n. Chr. fielen dann aus Osten in mehreren Wellen die
Hunnen (die nicht zu den Germanen gehören) in Mitteleuropa ein, und unter
ihrem Ansturm begann der Nordwesten des Römischen Reichs
auseinanderzubrechen. Um die Mitte des folgenden Jahrhunderts war praktisch
das ganze spätere Deutschland von Hunnen besetzt, bis nach dem Tod ihres
Königs Attila (453) innere Konflikte ausbrachen, die das Hunnenreich langsam
zerfallen ließen. Kaum anzunehmen, dass sich die Hunnenkrieger gegenüber
germanischen Frauen sonderlich prüde benahmen – man darf also davon
ausgehen, dass nicht wenige von uns heutigen Deutschen hunnische Gene in sich
tragen (auch wenn das von Engländern gern für die Deutschen benutzte
Schimpfwort Hun wohl doch leicht übertrieben ist).
Ab der Mitte des 6. Jahrhunderts folgten mehrere Einwanderungswellen
westslawischer Gruppen, sogenannter Polaben, die über die Oder ins heutige
Deutschland kamen, dort Wurzeln schlugen und sich mit anderen Volksgruppen
vermischten. So finden sich im östlichen Deutschland noch heute zahlreiche
Familien- und Ortsnamen polabischer Herkunft – auch wenn die Sprache gegen
Ende des 16. Jahrhunderts bereits weitgehend ausgestorben war. Selbst unsere
Hauptstadt trägt keinen deutschen Namen: Berlin bedeutet im Altpolabischen so
viel wie »Sumpfgebiet«.
Eine Geschichte für sich ist die der Juden, die ebenfalls zu den Gründervätern
und -müttern des deutschen Volks gehören. Schon bevor Jerusalem im
Jüdischen Krieg 70 n. Chr. von den Römern zerstört wurde, lebten mehr als
doppelt so viele Juden in der Diaspora wie auf dem Gebiet des heutigen Staates
Israel selbst – nicht etwa, weil sie vertrieben worden wären, sondern weil sie ganz
einfach ihr Glück in der Fremde suchten. Etwa ab dem 4. Jahrhundert gab es
jüdische Siedlungen auch in den römischen Gebieten Germaniens, und damals
begegnete man sich noch ganz unbefangen. Juden und Germanen (die damals
noch lange keine Christen waren) zeugten jahrhundertelang gemeinsame
Nachkommen, bevor mittelalterliche Judengesetze diese Mischehen verboten.
Aufgrund ihrer Wirtschaftskraft genossen die Juden unter den ottonischen und
salischen Kaisern bis weit ins 11. Jahrhundert hinein sogar besondere Privilegien.
Erst während des Ersten Kreuzzugs ab 1095, bei dem Juden als »Feinde der
Christenheit« stigmatisiert wurden, begann ihre jahrhundertelange Verfemung
und Verfolgung.
Nichtsdestotrotz war gerade das Mittelalter, wie Dirk Hoerder schreibt, »eine
Zeit vielfältiger Mobilität im deutschsprachigen Zentraleuropa mit seinen bi-
oder mehrkulturellen Regionen«. Damals gab es einen unbeschränkten
europaweiten Arbeitsmarkt, und so zog auf dem Gebiet des heutigen
Deutschland ein internationales Mischvolk aus fast aller Herren Länder umher.
Insbesondere Handwerksgesellen waren oft mehrere Jahre auf Wanderschaft,
und nicht selten wurden sie durch Heirat oder Geschäftsübernahme in einer
fremden Stadt sesshaft. So machten Migranten zum Beispiel in Frankfurt am
Main um 1600 rund 40 Prozent der gesamten Stadtbevölkerung aus – das
übertrifft sogar die heutigen Verhältnisse in manchen deutschen Großstädten.
Ab dem 15. Jahrhundert wanderten dann Sinti zu uns ein, die zum ursprünglich
indischen Volk der Roma gehören. Woher ihr Name stammt, ist bis heute
ungeklärt; eine Ableitung des Wortes von der pakistanischen Landschaft Sindh
klingt zwar plausibel, lässt sich aber nicht belegen. Zwischen dem 5. und 10.
Jahrhundert brachen die Sinti zu ihrer Westwanderung auf, die sie Jahrhunderte
später auch nach Mitteleuropa führte. In Deutschland, wo sie als Händler, Gold-,
Kunst- und Waffenschmiede sowie Musikinstrumentenbauer ihren
Lebensunterhalt verdienten, werden sie erstmals 1407 urkundlich erwähnt.
Zunächst waren sie wegen ihrer Kunstfertigkeit ähnlich geschätzt und mit
Privilegien ausgestattet wie die Juden, doch im ausgehenden Mittelalter war es
aus mit der Gunst der Herrscher, und die Sinti wurden praktisch rechtlos. Am
treffendsten ist hier der Vergleich »Wasser und Öl«: Ablehnung und Hass auf die
nicht anpassungswilligen »Zigeuner« gärten immer weiter und gipfelten
schließlich im Dritten Reich, als im Zuge des Holocaust rund eine halbe Million
Sinti und Roma ermordet wurden.
Entgegengesetzt dazu verlief die Geschichte der französischen Protestanten
(Hugenotten), die sich als Einwanderer höchst erfolgreich in Deutschland
niederließen und integrierten. Vor allem Brandenburg-Preußen warb schon ab
dem 16. Jahrhundert ausländische Siedlerfamilien an, um der demografischen
Auszehrung durch den Dreißigjährigen Krieg entgegenzuwirken. So ließen sich
neben Polen, Niederländern, Österreichern und Schweizer Mennoniten auch die
in ihrer Heimat verfemten Hugenotten nicht lange bitten – besonders ab 1685
nicht, als »Sonnenkönig« Ludwig XIV. die protestantische Minderheit seines
Landes systematisch einkerkern und umbringen ließ. Aus allen Regionen
Frankreichs strömten die Flüchtlinge in tolerantere Nachbarländer; annähernd
50 000 kamen nach Deutschland, davon allein 20 000 nach Preußen, wo sie als
wirtschaftlich leistungskräftige Neubürger hochwillkommen waren.
Hier sind wir im Übrigen wieder ganz bei »Wasser und Milch«: Blieben die
Hugenotten in der brandenburgischen Kolonie anfangs noch weitgehend unter
sich, so gab es in der zweiten Generation – und erst recht in der dritten – schon
zahlreiche Mischehen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts suchten sich
bereits 70 Prozent der Einwanderer deutsche Partner. Aus diesen Verbindungen
ging so etwas wie eine neue Elite hervor. Bekannte Vertreter der hugenottischen
Volksgruppe sind zum Beispiel Theodor Fontane und der Verleger Anton
Philipp Reclam, in heutiger Zeit der frühere Präsident des
Bundesverfassungsgerichts Hans-Jürgen Papier, die Politiker Lothar und
Thomas de Maizière sowie der Schauspieler Sky du Mont.
Zunächst gewaltsam, aber später umso reibungsloser verlief die Integration der
ersten Türken in Deutschland. Im Zuge der Türkenkriege des 17. und 18.
Jahrhunderts, besonders nach der Niederlage des osmanischen Heeres vor Wien
1683, machte das Kaiserreich schätzungsweise bis zu 10 000 Gefangene, die nach
Deutschland verschleppt und vollständig assimiliert wurden – darunter auch
Frauen und Kinder. Viele der Männer wurden an deutschen Adelshäusern als
exotische Hoflakaien (genau genommen Sklaven) beschäftigt; später entließ man
die »Beutestücke« nach und nach in die Freiheit und machte sie mit deutscher
Gründlichkeit zu Abendländern. Zum Standardprogramm gehörten das
intensive Erlernen der deutschen Sprache und ein christlicher
Religionsunterricht mit anschließender Zwangstaufe, die meist als öffentliches
Massenspektakel inszeniert wurde. Was herauskam, waren normale deutsche
Untertanen, denen man alles Türkische restlos ausgetrieben hatte. Bei dieser
Gelegenheit erhielten sie auch neue Namen – nicht selten mit Bezug auf den Ort
ihrer Herkunft.
Rechnet man die Vermehrung dieser »Deutschtürken« über die verschiedenen
Generationen bis heute hoch, dann dürften ihre Nachkommen die Gesamtzahl
der im 20. und 21. Jahrhundert eingewanderten Türken locker erreichen, wenn
nicht sogar übertreffen. Die ursprünglichen Wurzeln schimmern bis heute in
Tausenden deutscher Familiennamen durch, wenngleich es für Türk, Türck,
Türke und Türcke unterschiedliche Herkunftsdeutungen gibt. Außerdem finden
sich im Adressbuch mehrere hundert Soldans (= Sultan).
Machen wir einen Sprung in die jüngere Vergangenheit. In der zweiten Hälfte
des 19. Jahrhunderts beschleunigte sich der Wandel von der Agrar- zur
Industriegesellschaft in ganz Europa rasant, und dementsprechend wuchs auch
der Bedarf an Arbeitskräften. So erlebte Deutschland schon damals einen
Vorgeschmack dessen, was wir aus der Zeit des »Wirtschaftswunders« in den
Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts kennen: den massiven Zuzug
ausländischer Arbeiter – die seinerzeit allerdings noch nicht »Gastarbeiter«,
sondern »Wanderarbeiter« hießen. Importiert wurden sie vor allem aus
Skandinavien sowie den ost- und südeuropäischen Randstaaten, in denen man
damals besonders wenig zu beißen hatte.
Bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs war die Zahl ausländischer Billiglöhner
in Deutschland auf 1,2 Millionen angestiegen. Während des Krieges wurde die
große Mehrheit von ihnen praktisch zu Gefangenen; sie mussten Zwangsarbeit
leisten und konnten nicht mehr in ihre Heimat zurück. Unter anderem gehörten
dazu Hunderttausende von Polen, die teils in der Landwirtschaft, vor allem aber
als Bergarbeiter im Ruhrgebiet eingesetzt wurden. Mit rund einer halben Million
»Ruhrpolen« stellte die Industrieregion zwischen Dortmund und Duisburg quasi
eine polnische Kolonie dar, und dieser Immigrationsschub wirkt bis heute nach
– denn viele der polnischen Arbeiter assimilierten sich, heirateten deutsche
Frauen und ließen sich an Ruhr und Emscher dauerhaft nieder. Bezeichnend:
Während der Glanzzeit des Fußballclubs FC Schalke 04 zwischen 1934 und 1942,
in der die Knappen sechs deutsche Meistertitel abräumten, bestand nahezu die
gesamte Mannschaft aus Spielern polnischer Abstammung.
Nicht unerwähnt bleiben darf auch die Einwanderung aus Russland, die
während des 20. Jahrhunderts in mehreren Wellen stattfand. So suchten im
Gefolge der Russischen Revolution bis zu zwei Millionen Flüchtlinge aus dem
ehemaligen Zarenreich ihr Heil in Deutschland – überwiegend gebildete und
wohlhabende Bürger unterschiedlichster Provenienz. Deutsche Stammbäume
waren ebenso vertreten wie jüdische, ukrainische, baltische, armenische oder
tatarische. Allerdings zogen die meisten dieser Neuankömmlinge aufgrund der
restriktiven deutschen Einwanderungspolitik in andere Länder weiter,
vorzugsweise nach Frankreich.
Eine weitere Generation Entwurzelter hinterließ der Zweite Weltkrieg im
westlichen Teil Deutschlands, nachdem die Nazis für ihre Zwangsarbeitslager
Millionen von Menschen aus den besetzten Ländern verschleppt hatten. Die
Mehrzahl von ihnen zog es nach dem Krieg verständlicherweise zurück in ihre
Heimat. Russen – die von den Sowjets der Kollaboration mit dem Feind
beschuldigt worden waren – und andere, die aus nun kommunistisch besetzten
Ländern stammten, blieben allerdings oft wohl oder übel in der Bundesrepublik.
Während des Kalten Krieges flüchteten außerdem zahlreiche Dissidenten aus der
Sowjetunion in den Westen und ließen sich zum Teil auch in Deutschland
nieder. Die letzte größere Einwanderungswelle schließlich, die noch immer nicht
ganz verebbt ist, begann mit der Zeit der Perestroika und dem nachfolgenden
Zusammenbruch des Ostblocks.
In den Fünfzigerjahren führten der Wiederaufbau, das Einziehen von Rekruten
zur Bundeswehr und der wirtschaftliche Boom in Westdeutschland zu einem
massiven Arbeitskräftemangel. Große Teile Südeuropas und der Türkei hatten
dagegen das umgekehrte Problem – somit lag es nahe, einmal mehr in diesen
Regionen nach Arbeitskräften Ausschau zu halten. Die ersten wurden 1955 in
Italien angeworben, ab 1960 folgten Spanien und Griechenland, ab 1961 die
Türkei, ab 1964 Portugal und 1968 das damalige Jugoslawien. Zum Zeitpunkt
des Anwerbestopps 1973 lebten in der Bundesrepublik rund drei Millionen
»Gastarbeiter« und deren Familienangehörige. Wobei die derart Titulierten oft
so großen Geschmack an ihrem »Gastaufenthalt« fanden, dass sie sich in ihrer
neuen Heimat dauerhaft einrichteten. Das deutsche Volk hatte somit erneut
massiven Zuwachs bekommen, und dem konnte sich irgendwann auch die
Politik nicht mehr verschließen. Ende der Siebzigerjahre des vorigen
Jahrhunderts wagte sich der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung,
Heinz Kühn, mit der Feststellung vor, (West-)Deutschland sei »faktisch ein
Einwanderungsland«.
Ähnliches galt im Prinzip auch für die DDR, wenngleich in weit geringerem
Ausmaß. Hier blieb man im sozialistischen Lager natürlich unter sich und holte
Arbeitskräfte aus Ländern wie Polen, Kuba, Vietnam und Mosambik. Viele von
ihnen heirateten deutsche Frauen und wurden zu DDR-Bürgern, andere
bemühten sich nach 1990 um Einbürgerung im wiedervereinigten Deutschland.
Nicht vergessen darf man auch die Vielzahl der Asylsuchenden aus Diktaturen
und Krisengebieten. In die Bundesrepublik flüchteten während der deutschen
Teilung Dissidenten aus praktisch allen Ländern des Ostblocks, Juden aus der
UdSSR und (wie auch heute noch) verfolgte Kurden aus der Türkei. Gegenwärtig
kommen die meisten Asylbewerber aus Afghanistan, dem Irak, dem Iran und
Syrien.
Insgesamt haben heute rund 16 Millionen in Deutschland lebende Menschen
(mit oder ohne deutschen Pass) einen »Migrationshintergrund« – also rund ein
Fünftel der Gesamtbevölkerung. Lässt man die zeitliche Beschränkung weg und
betrachtet die zurückliegenden Jahrtausende, dann kommt man vermutlich auf
annähernd 81 Millionen. Überspitzt gesagt: Letzten Endes sind wir alle
Abkömmlinge von Migranten – in welcher Form auch immer. Oder sagen wir’s
poetischer: Wir alle sind unter einem Wandelstern geboren (»born under a
wand’rin’ star«, wie Lee Marvin in dem Filmmusical Westwärts zieht der Wind so
herzerweichend brummt).
Milch und Wasser also, um es noch einmal mit Buddha zu sagen – in den
verschiedensten Spielarten und Konzentrationen. Umso widersinniger mutet es
an, dass die verquere Praxis der Kaiserzeit bis heute fast unverändert
fortgeschrieben wird. Kein Land der Welt ist so eifersüchtig (und vergeblich) um
seine nationale Identität besorgt wie ausgerechnet Deutschland, kaum ein
anderes – außer Israel und Japan – trennt Bevölkerungsgruppen so penibel nach
Einheimischen und Immigranten. Noch 1991 sorgte ein »Ausländergesetz«
dafür, dass zwischen dem deutschen Kumpel Schimanski und seinem türkischen
Kollegen Özkan streng unterschieden wurde. Dabei waren bis zu diesem Datum
beispielsweise schon 25 Prozent aller minderjährigen Kinder türkischer Eltern in
Deutschland geboren.
Was heißt es also, deutsch zu sein? Als gemeinsame Klammer bleibt im Grunde
nur eines: Wer sich in unserem Land und in unserer Sprache zu Hause fühlt, der
ist Deutscher. Es gibt keine andere Definition, die wirklich brauchbar wäre (von
der Staatsbürgerschaft mal abgesehen). Da muss kein »deutsches Blut« durch die
Adern strömen und kein Familienstammbaum bis zum Römerschreck Arminius
zurückreichen (der im Übrigen ja auch noch gar kein »Deutscher« war, sondern
zu dem relativ kleinen Stamm der Cherusker zählte). Nein – das deutsche Volk
besteht und bestand schon immer aus denen, die hier ihre Heimat gefunden
haben.
[9] Dirk Hoerder: Geschichte der deutschen Migration, München 2010.
[10] In der Schlacht bei Königgrätz besiegten im Deutschen Krieg die Truppen
Preußens am 3. Juli 1866 die Armeen Österreichs und Sachsens und begründeten
damit die preußische Vorherrschaft innerhalb Deutschlands.
Deutschland
Ein Jahrtausendmärchen
Im traurigen Monat November war’s,
Die Tage wurden trüber,
Der Wind riß von den Bäumen das Laub,
Da reist ich nach Deutschland hinüber.
Klar, diese Zeilen kennt man. Ebenso klar: Sie gehören zum deutschen
Bildungskanon. Auch nach diversen sportlichen Winter- und Sommermärchen
der letzten Jahre ist Heinrich Heines Versepos Deutschland, ein Wintermärchen
ein unschlagbares Original geblieben – und sei es nur diese erste Strophe. Sie
klingt romantisch, melancholisch, sehnsuchtsvoll, Neugier weckend – aber ach!
Die letzte Zeile stimmt eben nicht. Ebenso wenig wie der Titel des ganzen
Werkes. Denn Deutschland war zu jener Zeit tatsächlich noch ein Märchen, so
real wie Schneewittchen und die sieben Zwerge. Und es sollte noch mehr als ein
Jahrhundert dauern, bis diese Schimäre zumindest teilweise Gestalt annahm – als
Bundesrepublik Deutschland.
Faktisch gab es vor dem 23. Mai 1949, dem Tag der Verkündung des
Grundgesetzes, niemals ein Staatsgebilde oder eine Nation namens Deutschland;
östlich der Elbe musste man sogar bis zum 3. Oktober 1990 darauf warten. Trotz
unserer vermeintlich uralten Geschichte gehören wir damit zu den Jungspunden
unter den Staaten dieser Welt. Selbst das so junge Israel der Neuzeit bringt es auf
exakt neun Tage mehr. Deutschland – das war über viele Jahrhunderte eben
nichts weiter als ein vage definierter Sammelbegriff für alle möglichen
Ländereien, in denen Deutsch gesprochen wurde. Auch Heinrich Heine fuhr also
im November 1843 aus seiner Wahlheimat Frankreich in Wirklichkeit nicht
nach Deutschland hinüber, sondern ins Königreich Preußen. Weswegen er sich
ein Kapitel weiter folgerichtig über die »preußischen Douaniers« mokiert, die
sein Gepäck durchwühlen. Das Kapitel schließt denn auch mit dem Fazit: »Ein
einiges Deutschland tut uns not, einig, nach außen und innen.« Eine klare
Ansage nach tausend Jahren der Zerrissenheit.
Ja, aber das »Deutsche Reich«? Das entstand doch 28 Jahre nach dem
Wintermärchen, also schon lange vor 1949. Natürlich. Nur dass dieses Gebilde –
wie später auch die DDR – eben nicht den Namen Deutschland trug, sondern
mit stolzgeschwellter Brust das Reich in den Mittelpunkt stellte und den Begriff
»deutsch« nur als Anhängsel führte.
In den rund tausend Jahren zuvor stolperte unsere sogenannte Nation ziemlich
planlos als unvollendetes Flickwerk durch die Geschichte. Würde man die
Entwicklung der politischen Landkarte zwischen den Jahren 800 und 1871 zu
einem dreiminütigen Film im Zeitraffer komprimieren, dann wäre das Ergebnis
ein einziges Augenflimmern. Zwar gab es seit Karl dem Großen ein Kaiserreich
in der Mitte Europas, aber das war die meiste Zeit bis zu seinem Ende im
beginnenden 19. Jahrhundert nicht mehr als ein gemeinsames Dach, unter dem
unzählige Könige, Kurfürsten, Herzöge und Markgrafen ihr jeweils eigenes
Süppchen kochten. Karl V. etwa herrschte als Kaiser des Heiligen Römischen
Reiches von Madrid aus und kannte »Deutschland« gar nicht, der Stauferkaiser
Friedrich II. wiederum residierte in Süditalien.
Die »Deutschen« bildeten während dieser Zeit allenfalls eine
Sprachgemeinschaft, aber weder einen Staat noch irgendeine andere politische
Einheit. »Wir« waren Teil des Heiligen Römischen Reiches. Dessen Bewohner
begannen frühestens im 11. Jahrhundert, aufgrund ihrer gemeinsamen Sprache
überhaupt so etwas wie ein Nationalbewusstsein zu entwickeln: Zu Beginn des
12. Jahrhunderts tauchten erstmals schriftliche Dokumente mit Bezeichnungen
wie diutisches land oder diutische lande auf. Aber erst seit 1486 – also seit dem
Spätmittelalter – ist für das Kaiserreich der erweiterte Name »Heiliges Römisches
Reich deutscher Nation« belegt.
Etwa ab 1500 klingt es dann schon etwas vertrauter, wenn der Dichter und
Humanist Ulrich von Hutten den Begriff »deutsche Lande« verwendet.
Allerdings gilt für Hutten wie für die meisten seiner gebildeten Zeitgenossen: Die
geistige Elite, und erst recht die geistliche, hielt sich an ihr angestammtes Latein.
Selbst Martin Luther, dessen Bibelübersetzung die deutsche Sprachgemeinschaft
so nachhaltig geprägt hat, ist diesbezüglich keine Ausnahme. Die meisten seiner
Schriften verfasste er auf Latein, auch wenn er teilweise die Übersetzung gleich
beifügte. Deutsch, das war bis in die Neuzeit hinein eher die Sprache der
niederen Stände – so überwog bis 1681 die Zahl der auf Latein veröffentlichten
Bücher die der deutschsprachigen. Erst der streitbare Augustinermönch und
Volksschriftsteller Johann Ulrich Megerle (1644 – 1709), besser bekannt unter
seinem Künstlernamen Abraham a Sancta Clara, schrieb erstmals konsequent
auf Deutsch und verwendete in seinen Schriften auch ausgiebig das Wort
»Deutschland«. Zum Vergleich: Unser winziger Nachbar Dänemark (Danmark)
existierte schon im 8. Jahrhundert unter seinem heutigen Namen – und das nicht
nur als Begriff, sondern auch als Staatswesen.
Das deutschsprachige Gebiet, auch wenn es landläufig immer öfter als
Deutschland bezeichnet wurde, blieb dagegen jahrhundertelang ein
Flickenteppich aus Fürsten- und Herzogtümern, Grafschaften,
Reichsritterschaften, Reichsstädten, Städtebünden und kirchlich beherrschten
Gebieten. Mit der sogenannten Reichsreform von 1495, die den verschiedenen
Provinzfürsten noch mehr Macht und Kompetenzen gab, erlebte diese
Zersplitterung ihren Höhepunkt. Die historisch gewachsene Eigenbrötelei ist
noch heute an unserem föderativen deutschen Staat abzulesen: Da gibt es
gewöhnliche Bundesländer, Freistaaten, Regierungsbezirke, Stadtstaaten,
Kreisstädte, kreisfreie Städte, Hansestädte, eine »Freie Hansestadt« und – damit
es ja keine Verwechslung gibt – auch noch eine »Freie und Hansestadt«.
Die deutsche Kleinstaaterei währt bis gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als im
Gefolge der Französischen Revolution zaghaft ein neuer Geist einzuziehen
beginnt. Mithilfe französischer Truppen entwickeln sich in der damaligen
Kurpfalz erste Ansätze eines moderneren Staatswesens in Gestalt der 1792
gegründeten, kurzlebigen »Mainzer Republik«, während gleich nebenan in
Frankfurt noch der letzte Kaiser des »Heiligen Römischen Reichs« residiert.
Das damals übermächtige Frankreich bestimmt auch in den Folgejahren das
Geschick des zerbröselnden kaiserlichen Imperiums. Dem Vordringen
Napoleons in Richtung Osten hat die lose Allianz aus Preußen, Österreich und
diversen Fürstentümern nicht viel entgegenzusetzen – so streckt man 1801 die
Waffen und schließt den »Frieden von Lunéville«, mit dem die Abtretung der
linksrheinischen Reichsgebiete an Frankreich besiegelt wird. Die dort bislang
herrschenden deutschen Adligen mit Ersatzterritorien zu versorgen erfordert
nun allerdings eine größere Aufräumaktion: Sage und schreibe 112 Zwerg- und
Stadtstaaten auf deutschem Boden werden per Federstrich abgeschafft und einer
Landesherrschaft unterworfen. Was übrig bleibt, ist immer noch bunt genug für
ein politisches Faschingskostüm.
Am 6. August 1806 muss Kaiser Franz II. auf Druck Napoleons abdanken, und
damit endet nach über tausend Jahren offiziell die Ära der fränkisch-römisch-
deutschen Kaiser. Sechs Jahre und diverse Schlachten später herrscht der kleine
Korse über das gesamte Gebiet des ehemaligen Heiligen Römischen Reichs
deutscher Nation. Aber nun hat es den Anschein, als seien die Deutschen – die
sich inzwischen auch großenteils als solche fühlen – der ewigen Territorien- und
Machtwechsel allmählich überdrüssig. Lebhaftes Zeugnis dafür ist ein
flammender Appell, den der Schriftsteller und spätere Abgeordnete Ernst Moritz
Arndt im Jahr 1813 verfasst, zur Zeit der Befreiungskriege gegen Napoleon:
Was ist des Deutschen Vaterland?
So nenne mir das große Land!
So weit die deutsche Zunge klingt
Und Gott im Himmel Lieder singt,
Das soll es sein!
Das, wackrer Deutscher, nenne dein!
Auch an diesen Zeilen sieht man: »Deutschland« steht in erster Linie für die
gemeinsame Sprache, also das geografische Gebiet, in dem Deutsch gesprochen
wird. So bezieht Arndt in weiteren Strophen gleich noch Österreich in seine
Beschwörung ein, vergisst offensichtlich, dass auch die Schweiz einen
deutschsprachigen Teil besitzt – lässt sich aber nicht die rhetorische
Pflichtübung entgehen, jeden »Franzmann« als des Deutschen natürlichen Feind
zu bezeichnen. Vor lauter Überschwang scheint ihn dabei nicht zu bekümmern,
dass es in deutschen Landen unter Napoleon liberaler und aufgeklärter
zugegangen sein dürfte als je zuvor.
Der Weg zu Arndts »deutschem Vaterland« erweist sich auch weiterhin als lang
und steinig. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig und dem Sieg über Napoleon
wird Mitteleuropa erst einmal wieder gründlich durcheinandergewürfelt.
Ergebnis des Wiener Kongresses in der Schlussakte von 1815: An die Stelle des
Heiligen Römischen Reiches tritt der »Deutsche Bund« unter Führung
Österreichs, bestehend aus 35 souveränen Fürstentümern und vier freien
Städten. Nur zu verständlich, dass diese Neuauflage eines
zusammengestoppelten Multimonarchen-Ungetüms kaum jemanden so recht
glücklich macht. Die entstehende deutsche Einheitsbewegung erreicht im Jahr
1817 einen ersten Höhepunkt mit dem Treffen deutscher Burschenschaften auf
der Eisenacher Wartburg. Hier wird zum ersten Mal öffentlich die
fortbestehende Kleinstaaterei angeprangert. Es ist der Beginn eines geistigen
Aufstands, den die deutsche Ministerkonferenz in Karlsbad zwei Jahre später –
unter dem Eindruck der Ermordung des Dichters August von Kotzebue durch
den Studenten Karl Ludwig Sand – mit den sogenannten Karlsbader Beschlüssen
gründlich abwürgt.
Doch allmählich dämmert es auch dem letzten Provinzherrscher, dass man sich
mit dem antiquierten Flickenteppich in Gefahr bringt, den Anschluss an die
rasch fortschreitende Industrialisierung Europas zu verlieren. Die deutsche
Einheit ist plötzlich keine bloße politische Schwärmerei mehr, sondern wird zu
einer Frage des wirtschaftlichen Überlebens. 1828 führt diese Einsicht zur
Gründung sogenannter Zollvereine, einer Art innerdeutschem Vorläufer des
heutigen Schengener Abkommens. Zunächst wird ein solcher Pakt zwischen
Bayern und Württemberg geschlossen, dann zwischen Preußen und Hessen.
1834 folgt der Deutsche Zollverein, mit dem endlich die letzten Schlagbäume
fallen. Heinrich Heine konnte also nach erfolgreicher Einreise aus Frankreich
aufatmen: Im Land selbst musste er keine weitere Belästigung durch preußische
und andere »Douaniers« mehr befürchten.
Im Februar 1848 erlebt Frankreich eine zweite Revolution; der letzte König wird
gestürzt und das Land in eine demokratisch regierte Republik umgewandelt.
Auch diese Bewegung schwappt nach Deutschland über und führt zu einem
weiteren hoffnungsvollen Schritt in Richtung Einheit: Noch im selben Jahr wird
mit der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche das erste deutsche
Parlament eröffnet. 1849 verabschiedet dieses Gremium auch die erste deutsche
Verfassung, geprägt durch eine konstitutionelle Monarchie unter der Führung
Preußens. Zum Kaiser wird Friedrich Wilhelm IV. von Preußen gewählt – doch
als die meisten deutschen Königreiche und Kleinstaaten der neuen
Reichsverfassung ihre Unterstützung versagen, lehnt Friedrich Wilhelm die
Kaiserkrone ab und drückt seinen Preußen eine eigene Verfassung aufs Auge.
Die scheinbar unendliche Geschichte der deutschen Zerrissenheit geht weiter.
Erst Otto von Bismarck, den König Wilhelm I. 1862 zum preußischen
Ministerpräsidenten ernennt, schafft es, die politische Landkarte radikal
umzugestalten. Nach dem Sieg über Frankreich im Deutsch-Französischen Krieg
1870/71 erreicht er in zähen Verhandlungen, dass sich die süddeutschen Staaten
mit dem Norddeutschen Bund zu einem Gesamtstaat zusammenschließen. 1871
entsteht so das Deutsche Reich – der erste deutsche Nationalstaat der
Geschichte, aber mit den privilegierten Königreichen Preußen und Bayern noch
immer ein Abziehbild seiner wechselvollen Vorgeschichte.
Tempi passati. Zwei Weltkriege und einen kalten Krieg später sind wir endlich so
weit: Aus dem Reich ist ein schlichtes Land geworden, und der Name
Deutschland ist kein Jahrtausendmärchen mehr, sondern politische Realität.
Was lange währt, wird endlich gut? Bis dato jedenfalls können wir mit unserem
jungen, erfolgreichen Staat durchaus zufrieden sein. Und irgendwann dürften
auch die letzten innerdeutschen Antagonismen (Ossi – Wessi, Bayer – Saupreiß)
der Vergangenheit angehören. Hoffen wir also mal das Beste.
Deutschlandlied
Frühmorgens in Kroatien
Gott erhalte Franz den Kaiser
für das deutsche Vaterland,
auferstanden aus Ruinen
walte seine Segenshand …
Klingt gar nicht mal so abwegig, oder? Offensichtlich ergeben Bayernhymne und
DDR-Hymne plus Alt- und Neufassung des Deutschlandliedes auch als gut
geschüttelte Cocktailzutaten genießbare Verse – was zugleich aber auch die
lyrische und politische Achterbahnfahrt beleuchtet, die mit dem Besingen
unserer (meist ungeeinten) Nation in den letzten zweihundert Jahren verbunden
war. Dass die der Zeile »Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche
Vaterland« unterlegte Melodie ursprünglich mit einem kroatischen Text
intoniert wurde, ist dabei nur eine von vielen historischen Kuriositäten.
Denn eine offizielle Nationalhymne besitzt Deutschland erst seit 1922 und ist
damit vergleichsweise spät dran.
Vor der Reichsgründung 1871 bestand allerdings auch gar kein Bedarf an einer
Hymne, weil es eine Nation namens Deutschland noch nicht gab. Aber selbst im
Deutschen Kaiserreich ging man mit dem Thema noch ziemlich lax um und
bediente sich bequem verfügbarer ausländischer Quellen: Das berühmte »Heil
dir im Siegerkranz« ist nichts anderes als die Umdichtung eines Liedes, das der
Flensburger Pfarrer Heinrich Harries 1790 zu Ehren des dänischen Königs
Christian VII. verfasst hatte (Flensburg gehörte damals zu Dänemark). Die
Melodie wiederum entstammt dem 1745 entstandenen britischen »God Save the
King« (heute »the Queen«), das zu Beginn des 19. Jahrhunderts offizielle
Nationalhymne des Vereinigten Königreichs wurde. 1793 modelte der Dichter
Gerhard Balthasar Schumacher den Harries-Text dann auf den deutsch-
römischen Kaiser um, sodass er später auch auf die beiden Wilhelms passte.
Übrigens diente die gleiche Melodie auch anderen Nationen als musikalisches
Aushängeschild. Bis zum heutigen Tag hat sie sich im Fürstentum Liechtenstein
erhalten (»Oben am jungen Rhein«); außerdem basiert auf ihr der Vorgänger der
heutigen Bayernhymne »(Heil unserem König, Heil«), die frühere Schweizer
Nationalhymne (»Rufst du, mein Vaterland«) und die russische Hymne
»Molitwa Russkich« aus der Zarenzeit, die mit der Zeile beginnt: »Bosche, Zarja
chrani!« (»Gott schütze den Zaren!«). Bemerkenswert daran ist, dass mit
Ausnahme der Schweizer und Liechtensteiner Version nicht das Land besungen
wird, sondern der jeweilige Monarch. Und selbst Liechtenstein bedenkt seinen
Regenten zumindest in der zweiten Strophe: »Hoch leb’ der Fürst vom Land«.
Von daher überrascht es kaum, dass auch das heutige Deutschlandlied zunächst
als Huldigung an einen Herrscher gedacht war. Und ebenso wie »Heil dir im
Siegerkranz« bedient es sich einer importierten Melodie: Die Noten stammen
von dem Österreicher Joseph Haydn, der sie als »Kaiserlied« zu Ehren von Franz
II. komponierte. Allerdings machte sich auch Haydn nicht die Mühe einer
eigenen Idee – vielmehr ließ er sich von dem kroatischen Volkslied »Vjutro rano
se ja stanem« inspirieren, dessen erste vierzehn Töne er unverändert übernahm
und ihnen drei weitere hinzufügte. Zur Erinnerung: Große Teile Kroatiens,
inzwischen jüngstes Mitglied der EU, gehörten damals zur Donaumonarchie.
Und so liest sich die Urfassung des späteren Deutschlandliedes in der
Originalsprache:
Vjutro rano se ja stanem, malo pred zorom.
(Früh am Morgen stehe ich auf, kurz vor dem Morgenrot.)
Es kann auch gar nicht früh genug sein, denn die nun beginnende Irrfahrt durch
die Geschichte dauert fast zwei Jahrhunderte. Es ist der Wiener
Universitätsbibliothekar Lorenz Leopold Haschka (1749 – 1827), der die
volkstümlichen Zeilen vom Balkan erstmals in eine deutsche Hymne verwandelt.
Anlässlich des 29. Geburtstags von Franz II. am 12. Februar 1797 erlebt das
recycelte Lied in der Haschka-Haydn-Version seine Uraufführung im Wiener
Burgtheater, feierlich abgenommen von Seiner Majestät höchstselbst. Der Text
der ersten Strophe:
Gott erhalte Franz, den Kaiser,
Unsern guten Kaiser Franz!
Lange lebe Franz, der Kaiser,
In des Glückes hellstem Glanz!
Ihm erblühen Lorbeerreiser,
Wo er geht, zum Ehrenkranz!
Gott erhalte Franz, den Kaiser,
Unsern guten Kaiser Franz!
Bis daraus »Deutschland, Deutschland über alles« wird, stehen dem Lied
allerdings noch eine ganze Reihe weiterer Metamorphosen bevor. Eine kleine
Chronologie der Ereignisse in den nun folgenden Zeitläuften:
Knapp drei Jahrzehnte nach der Uraufführung, am 1. Oktober 1826, wird das
Kaiserlied aufgrund »Allerhöchster Entschließung« zur österreichischen
Nationalhymne erklärt und offiziell ins Hofprotokoll aufgenommen. Als Text
dient jedoch nicht die Originalfassung, sondern eine leicht abgewandelte
Version, deren Verfasser heute nicht mehr bekannt ist. In dieser Form besteht
die Hymne bis 1835 fort:
Gott erhalte Franz den Kaiser,
Unsern guten Kaiser Franz!
Hoch als Herrscher, hoch als Weiser
Steht er in des Ruhmes Glanz.
Liebe windet Lorbeerreiser
Ihm zu ewig grünem Kranz.
Gott erhalte Franz den Kaiser,
Unsern guten Kaiser Franz!
Für Kaiser Ferdinand I., den Nachfolger von Franz II., wird der Text ein weiteres
Mal umgebaut. Nicht weniger als vierzehn Entwürfe bewerben sich anlässlich der
Thronbesteigung im März 1835 um die Ehre, die göttliche Erhaltung des neuen
Monarchen beschwören zu dürfen. Den Sieg im Austrian Song Contest erringt
schließlich die folgende Fassung des schlesischen Dichters Karl von Holtei:
Gott erhalte unsern Kaiser,
Unsern Kaiser Ferdinand!
Reich, o Herr, dem guten Kaiser
Deine starke Vaterhand!
Wie ein zweiter Vater schalte
Er an Deiner Statt im Land!
Ja, den Kaiser, Gott, erhalte,
Unsern Kaiser Ferdinand!
Allerdings kann sich diese Version des Kaiserliedes nur kurze Zeit halten, denn
sie bzw. ihr Urheber hat einen entscheidenden Webfehler: Der aus Breslau
stammende Holtei ist preußischer Untertan und somit als österreichischer
»Nationaldichter« eine gänzlich unpassende Besetzung – noch dazu, wenn es um
die Loyalität zum Kaiser geht. So wird der Text schon nach wenigen Monaten
durch einen anderen ersetzt, den der Dichter Johann Christian Freiherr von
Zedlitz liefert. Seine Version singt man vom Februar 1836 bis zum März 1854:
Segen Östreichs hohem Sohne,
Unserm Kaiser Ferdinand!
Gott, von Deinem Wolkenthrone
Blick erhörend auf dies Land!
Laß Ihn, auf des Lebens Höhen
Hingestellt von Deiner Hand,
Glücklich und beglückend stehen,
Schütze unsern Ferdinand!
Man beachte: Zum ersten Mal kommt hier neben dem Kaiser auch das Wort
»Östreich« vor. Die Zedlitz-Hymne ist auch die erste, die in sämtliche Sprachen
der Donaumonarchie übersetzt wird – also ins Ungarische, Tschechische,
Polnische, Illyrische, Kroatische, Serbische, Slowenische, Italienische,
Ruthenische, Rumänische, Walachische, Neugriechische, Aramäische und
Hebräische.
Währenddessen gelangt das Lied dann auch nach Deutschland, allerdings noch
mit einem völlig anderen Text. Im Jahr 1840 greift der preußische
Germanistikprofessor August Heinrich Hoffmann (der sich nach seinem
Geburtsort »von Fallersleben« nannte) die Melodie ein erstes Mal auf. In seinem
Lied »Der Deutsche Zollverein« preist er den freien Austausch von Waren
innerhalb der Mitgliedstaaten dieser 1834 gegründeten Institution. Seine
zweistrophige Urversion des heutigen Deutschlandliedes liest sich zunächst wie
ein Kinderabzählreim:
Schwefelhölzer, Fenchel, Bricken,[11]
Kühe, Käse, Krapp, Papier,
Schinken, Scheren, Stiefel, Wicken,
Wolle, Seife, Garn und Bier;
Pfefferkuchen, Lumpen, Trichter,
Nüsse, Tabak, Gläser, Flachs,
Leder, Salz, Schmalz, Puppen, Lichter,
Rettig, Rips, Raps, Schnaps, Lachs, Wachs!
Die zweite Strophe liefert dann die Auflösung:
Und ihr andern deutschen Sachen,
Tausend Dank sei euch gebracht!
Was kein Geist je konnte machen,
Ei, das habet ihr gemacht:
Denn ihr habt ein Band gewunden
Um das deutsche Vaterland,
Und die Herzen hat verbunden
Mehr als unser Bund dies Band.
Dass die Melodie schließlich doch noch den heute gültigen Text bekommt,
verdanken wir letzten Endes einem Franzosen, nämlich dem
Ministerpräsidenten Adolphe Thiers. Dieser fordert 1840 während seiner kurzen
Regierungszeit, der Deutsche Bund solle sein gesamtes linksrheinisches Gebiet
an Frankreich abtreten, und droht monatelang offen mit Krieg – womit er
allerdings das Gegenteil erreicht und die national gesinnten Geister im
Nachbarland erst recht in Wallung bringt. Vom aufgeheizten politischen Klima
dieser Zeit zeugen Kampflieder wie »Die Wacht am Rhein« (»Es braust ein Ruf
wie Donnerhall«). Auch Hoffmann von Fallersleben lässt sich davon anstecken:
Am 26. August 1841, während eines Aufenthalts auf der damals noch britischen
Insel Helgoland, nimmt er sich das österreichische Kaiserlied abermals vor und
verpasst ihm einen neuen Text unter dem Titel »Das Lied der Deutschen«:
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt,
Wenn es stets zu Schutz und Trutze
Brüderlich zusammenhält,
Von der Maas bis an die Memel,
Von der Etsch bis an den Belt,
Deutschland, Deutschland über alles,
Über alles in der Welt!
Nach einem kroatischen Frühaufsteher und einer ganzen Galerie
österreichischer Alleinherrscher, nach Schwefelhölzern, Fenchel und Bricken
nun also endlich Deutschland – 44 Jahre nach Joseph Haydns Kaiserlied.
Aber die Irrfahrt ist noch längst nicht zu Ende. Acht Jahre später braucht man
in Österreich wieder eine aktualisierte Fassung, denn zur Krönungsfeier Franz
Josephs I. sind verständlicherweise weder sein Vorgänger Ferdinand noch
Schwefelhölzer passende Liedinhalte. Die von Franz Grillparzer gedichtete neue
Volkshymne findet jedoch bei Hofe keinen Anklang und bleibt daher für immer
in der Schublade:
Gott erhalte unsern Kaiser
Und in ihm das Vaterland!
Der du Kronen hältst und Häuser,
Schirm ihn, Herr, mit starker Hand!
Daß ein Guter und ein Weiser,
er ein Strahl von deinem Blick:
Gott erhalte unsern Kaiser,
Unsre Liebe, unser Glück!
So muss es sich Franz Joseph zunächst wohl oder übel gefallen lassen, überhaupt
nicht besungen zu werden. Zwar gibt es zahlreiche Vorschläge für eine neue
Volkshymne, aber keiner findet allerhöchste Gnaden. Fast sechs Jahre bleibt
Österreich hymnenlos, dann aber beginnt die Zeit zu drängen: Für den 24. April
1854 ist die Traumhochzeit Franz Josephs mit der bayerischen Herzogin
Elisabeth (»Sisi«) terminiert, und zu diesem Festtag soll unbedingt eine neue
Volkshymne gefunden werden. Als gebranntes Kind erbittet sich Kaiser Franz
Joseph dazu einen Text, der beim nächsten Herrscherwechsel nicht schon wieder
vollständig umgebaut werden muss. Am 27. März, gerade einen Monat vor dem
großen Tag, segnet er schließlich die folgenden Zeilen von Johann Gabriel Seidl
ab:
Gott erhalte, Gott beschütze
Unsern Kaiser, unser Land!
Mächtig durch des Glaubens Stütze
Führt er uns mit weiser Hand!
Laßt uns seiner Väter Krone
Schirmen wider jeden Feind:
Innig bleibt mit Habsburgs Throne
Österreichs Geschick vereint.
Das heutige Deutschlandlied ist derweil von einer Hymne noch weit entfernt –
als ein patriotisches Lied unter vielen genießt es nicht einmal besondere
Popularität. In Bayern setzt man ihm schon 1860 ein entschlossenes »Mir san
mir« entgegen und besingt lieber die eigene Identität mit der soeben
geschaffenen Bayernhymne (»Gott mit dir, du Land der Bayern«). Erst dreißig
Jahre später, 1890, erlebt Hoffmanns Lied überhaupt seine erste offizielle
Aufführung. Anlass ist eine Feier in Hamburg zum Tausch des britisch besetzten
Helgolands gegen die deutsche Inselkolonie Sansibar. Es vergehen weitere 32
Jahre, bis Reichspräsident Friedrich Ebert das »Lied der Deutschen« schließlich
in der Weimarer Republik zur Nationalhymne erklärt.
Die Melodie wird damit offiziell zweistaatlich, denn auch das österreichische
Kaiserlied besteht parallel dazu weiter. Zwar gibt es in der gewesenen und im
Ersten Weltkrieg stark geschrumpften Donaumonarchie diverse Anläufe zu einer
neuen Nationalhymne, aber keiner davon kann sich wirklich durchsetzen. So
singt man weiter die alte Melodie, jedoch mit einem neuen Text des steirischen
Pfarrers und Hobbydichters Ottokar Kernstock, bis das Deutschlandlied 1938
zwangsweise auch in Österreich eingeführt wird. Den Anschluss an das Dritte
Reich scheint Kernstocks Version schon prophetisch anzudeuten:
Sei gesegnet ohne Ende,
Heimaterde wunderhold!
Freundlich schmücken dein Gelände
Tannengrün und Ährengold.
Deutsche (!) Arbeit ernst und ehrlich,
Deutsche (!) Liebe zart und weich –
Vaterland, wie bist du herrlich,
Gott mit dir, mein Österreich!
Nach dem Zweiten Weltkrieg stellt sich die Frage nach einer passenden Hymne
abermals. Österreich beantwortet sie 1946 mit dem sogenannten Bundeslied
(»Land der Berge«), nördlich der Alpen tun sich die Politiker wesentlich
schwerer. Zwar heben die alliierten Militärregierungen das zunächst verhängte
Verbot des Deutschlandliedes 1949 wieder auf – aber kann man wirklich noch
guten Gewissens »Deutschland, Deutschland über alles« singen, ganz zu
schweigen von Etsch, Maas und Memel?
Die Regierung der DDR sagt kurzerhand Nein und lässt eine völlig neue Hymne
komponieren. In der Bundesrepublik diskutieren Bundeskanzler Konrad
Adenauer und Bundespräsident Theodor Heuss 1952 das Dilemma in einem
Briefwechsel, wobei es durchaus ihr Ziel ist, an die Tradition der ersten
deutschen Republik anzuknüpfen. Sie einigen sich schließlich darauf, das
Deutschlandlied als Nationalhymne beizubehalten, aber bei offiziellen Anlässen
nur Hoffmanns dritte Strophe singen zu lassen.
Im Jahr 1991, im wiedervereinigten Deutschland, werden die beiden anderen
Strophen schließlich offiziell ganz gestrichen – seitdem besteht die deutsche
Nationalhymne nur noch aus Strophe drei.
[11] Bricke oder Pricke = Neunauge, ein aalähnlicher Speisefisch.
Filterkaffee
Der Erzbischof war’s
Der typisch deutsche Kaffeespießer muss wohl so sein wie die längst verblichene
Werbe-Kunstfigur Karin Sommer: betulich, hausbacken, provinziell und ohne
den Hauch einer Ahnung von wahrer Lebensart. Denn was ist für ihn der Gipfel
des Genusses? Eine fade braune Plörre mit Dosenmilch, ohne Crema und auch
im Aroma bestenfalls Mittelmaß. Der deutsche Filterkaffee. Huch! So etwas
wagen doch nur noch unterbelichtete Betriebskantinen anzubieten. Oder man
kriegt es kännchenweise in betagten Ausflugslokalen zur Käsesahnetorte bzw. am
Frühstücksbuffet drittklassiger Hotels aus dem Samowar. Als weltgewandter
Gourmet, der »savoir vivre« fehlerfrei aussprechen kann, distanziert man sich
jedenfalls davon und wendet sich seinem Espresso aus der Original-Bezzera-
Maschine zu.
Als Schuldige an diesem Geschmacksirrtum, der von Deutschland aus die halbe
Welt buchstäblich infiltriert hat, gilt allgemein die Dresdnerin Amalie Auguste
Melitta Bentz. Selbst in der englischsprachigen Wikipedia ist zu lesen: »On July
1908, the first paper coffee filter was created by a German housewife named
Melitta Bentz.« Die Spanier schließen sich an: »El primer filtro de café fue
inventado en 1908 por la empresaria Melitta Bentz«, und die französische
Ausgabe spricht ebenfalls von der »inventeuse Melitta Bentz«. Nur die
italienischen Wikipedianer kennen lediglich einen 1909 entdeckten Asteroiden
namens Melitta.
Die seit mehr als hundert Jahren überlieferte Erfolgsstory dürfte den meisten
Lesern bekannt sein: Weil das Kaffeetrinken bis dato wegen bitteren
Nachgeschmacks und Kaffeesatz im Mund noch kein ungetrübter Genuss war,
tüftelte die 35-jährige Hausfrau so lange mit einer alten Konservendose und
Löschpapier herum, bis aus diesen Requisiten ein brauchbares Filtersystem
entstanden war. Als bemerkenswert geschäftstüchtige Person begann Melitta
Bentz ihre Erfindung sofort in klingende Münze zu verwandeln. Gemeinsam mit
Ehemann Hugo und 73 Pfennig Startkapital meldete sie ein Gewerbe an und
wurde so zur Begründerin eines Unternehmens, dessen Jahresumsatz heute über
1,2 Milliarden Euro beträgt.
Stimmt so weit alles. Bis auf eine Kleinigkeit: Melitta Bentz hat den Kaffeefilter
keineswegs erfunden – sie ist nur zur rechten Zeit auf die richtige Idee gestoßen,
hat sie patentieren lassen und clever vermarktet. Überdies ist der viel zitierte,
belächelte oder auch geschmähte Filterkaffee alles andere als eine typisch
deutsche Marotte, und er ist auch wesentlich älter als die Melitta-Variante.
Tatsächlich wird Kaffee schon seit Jahrhunderten und in vielen Ländern der
Erde gefiltert; nur in der arabisch-islamischen Welt trinkt man quahwa oder
kahve von alters her »naturtrüb«, also mit schwebendem Kaffeemehl im Glas.
Womöglich liegt es daran, dass man sich hier geografisch und kulturell näher an
der Urheimat des Kaffees befindet, die in der Region Kaffa (daher der Name) im
südwestlichen Äthiopien vermutet wird. So wirkt denn auch die traditionelle
äthiopische Zubereitungsart recht urtümlich: Die Bohnen werden stets in
grünem Zustand gekauft, in einer Eisenpfanne frisch geröstet, danach grob
gemahlen oder in einem Mörser zu Pulver zerstampft. Das Kaffeemehl wird
anschließend mit Wasser und Zucker in einer Jabana (einem karaffenähnlichen
Tonkrug) gekocht und in kleinen Schalen, »Sini« genannt, serviert.
Tradition hin, Tradition her – mehlig-trüber Kaffee ist nicht unbedingt
jedermanns Sache. Also sannen mit dem Vordringen des afrikanischen
Muntermachers nach Europa immer wieder Kaffeetrinker darüber nach, wie
man das Mehl, aber nicht das Aroma aus dem Wasser fernhalten könnte. Der
erste Versuch mit dauerhaftem Erfolg gelang dann nicht etwa in Deutschland,
sondern in Frankreich. Dort behagte es dem Pariser Erzbischof Jean Baptiste de
Belloy (1709 – 1808) ebenfalls nicht, dass Schwebeteilchen und Bitterstoffe ihm
den Kaffeegenuss vergällten. Woraufhin er höchstpersönlich eine Filterkanne
entwickelte, die in seinem Heimatland zum Teil noch heute gebräuchlich ist. Die
sogenannte De-Belloy-Kanne hat mehrere Etagen: Oben auf der eigentlichen
Kanne befinden sich eine Filterkammer mit Stempel zum Festdrücken des
Kaffeemehls sowie ein Wasserverteiler. Das kochende Wasser wird – ganz
ähnlich wie beim Melitta-Filter – auf das Kaffeemehl gegossen und tropft dank
Wasserverteiler und Filtersieb als klare braune Flüssigkeit in die Kanne. Ein
Stöpsel im Ausguss verhindert dabei, dass das Wasser zu schnell durch das
Kaffeemehl fließt.
De Belloy meldete die Vorrichtung nie zum Patent an, aber dennoch ist seine
Erfindung das erste kontrollierte Filtersystem in der Geschichte des Kaffees.
Andere Methoden jener Zeit muten eher improvisiert an, aber immerhin – es
gab sie. Der Berliner Naturwissenschaftler Johann Georg Krünitz widmet der
Technik des Kaffeefilterns in seinem 242 Bände starken, größtenteils auf
französischen Quellen beruhenden Mammutwerk Oeconomische Encyclopädie
jedenfalls schon einen recht umfangreichen Artikel. Hier ein Auszug aus Band
32, erschienen 1784:
»Die neuerlich eingeführte Weise, den Kaffetrank durch das Filtriren zu
verfertigen, ist wohl unstreitig die beste. Man legt nähmlich in einen dazu
gemachten blechernen, wohl verzinnten, Filtrirhut oder Trichter, (Kaffe-Sieb)
ein reines, feines Leinwand-Tüchlein oder Haartuch, oder, weil dieses durch
den öftern Gebrauch leicht unrein gemacht werden könnte, lieber weißes
Lösch- und Druck-Papier, und nimmt jedes Mahl neues; in dieses schüttet
man den gemahlenen Kaffe, setzt den Trichter über einen erwärmten Topf
oder Kanne, und gießt allmählich siedendes Wasser darauf. Auf solche Art
zieht das Wasser aus dem Kaffe die Kräfte, und filtrirt ganz klar durch das
Tuch oder Papier. Das Wasser aber muß langsam aufgegossen werden; man
könnte auch, um die Kraft desto besser auszuziehen, diesen durchgeseiheten
Trank nochmahls in den Trichter zurück gießen, und durch den gemahlenen
Kaffe zum zweyten Mahl laufen lassen.«
Sieh einer an, das Löschpapier! Also hier und nicht erst bei Melitta Bentz wird es
zum ersten Mal urkundlich als Hilfsmittel zum Kaffeefiltern erwähnt.
Trotzdem waren es zunächst papierlose Kombisysteme wie jenes von de Belloy,
die bis ins 20. Jahrhundert hinein Schule machten. So soll der Vater des
Englischen Gartens in München, Sir Benjamin Thompson Count of Rumford,
bereits im 18. Jahrhundert in den USA den sogenannten Percolator (vom
Lateinischen percolare = durchseihen) erfunden haben – einen zweiteiligen
Kaffeekocher, der das Prinzip der De-Belloy-Kanne automatisierte. Seine
trickreiche Funktionsweise: Von unten wird Wasser zum Kochen gebracht,
schießt durch ein zentrales Rohr ins obere Stockwerk, rieselt dann über eine
perforierte Metallscheibe über das Kaffeemehl und schließlich durch einen Filter
zurück in den erhitzten Wasserbehälter, wo es den Kreislauf erneut beginnt und
sich so in zunehmend stärkeren Kaffee verwandelt. Fast wie bei Krünitz
beschrieben, nur eben selbsttätig. Zum Patent angemeldet wurde dieses
Verfahren allerdings erst 1865 von dem Techniktüftler James H. Mason aus
Massachusetts – der Beginn einer Erfolgsgeschichte, die bis in die 1970er-Jahre
andauern sollte. Der Saxophonist und Sänger Boots Randolph widmete dem
Percolator 1958 sogar einen eigenen Song (in Deutschland bekannt unter dem
Titel »Ich will keine Schokolade«, mit welcher das Gerät allerdings auch arg
überfordert wäre). Vier Jahre später kam Masons Erfindung dann als
Instrumental-Twist der Gruppe Billy Joe & The Checkmates noch einmal zu
musikalischen Ehren.
Eine italienische Konstruktion wiederum, die »macchinetta napoletana«,
besteht ebenfalls aus zwei zusammengeschraubten Teilen, zwischen denen sich
ein Sieb befindet: Das Oberteil ist die eigentliche Kanne, in das Unterteil wird
Wasser eingefüllt, in ein Zwischenstück das Kaffeemehl. Dann erhitzt man das
Unterteil mittels Herdplatte oder Flamme, und sobald das Wasser kocht, stellt
man das Ganze auf den Kopf. Das heiße Wasser läuft nun durch das Kaffeemehl,
wird durch das Sieb von selbigem gereinigt und tropft als Filterkaffee in die
Kanne.
Eine ziemlich lange Tradition hat auch das Verfahren, das beim sogenannten
»indian filter coffee« im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu verwendet wird.
Dabei stellt man zwei Töpfe aus Edelstahl übereinander: Der obere hat einen
perforierten Boden, auf den das Kaffeemehl geschüttet wird. Darauf kommt eine
weitere perforierte Metallscheibe, um das Kaffeemehl festzuhalten, und dann
wird heißes Wasser darübergegossen. Also nicht viel anders als bei der
neapolitanischen Kanne, nur in diesem Fall ohne 180-Grad-Drehung.
Fazit: Von den »klassischen« Kaffeeländern abgesehen, ist die Menschheit eine
weltumspannende Gemeinschaft von Kaffeefilterern. Selbst beim 1855
erfundenen, vielgerühmten italienischen Espresso bleibt das Kaffeemehl ja in
einem Sieb hängen und rauscht nicht ungebremst in die Tasse. Der Unterschied
liegt hauptsächlich in der »Crema«, die durch hohen Dampfdruck (bis zu 9 bar)
erzeugt wird – da kann natürlich keine Maschine mithalten, die den Kaffee
einfach nur filtriert.
Aber was ist vom »deutschen Filterkaffee« überhaupt noch geblieben? Längst
hat die Espressomaschine ihren Siegeszug auch durch deutsche Küchen und
Büros angetreten, längst sind Cappuccino und Latte macchiato – Sattmacher, die
mit Kaffee nur entfernt zu tun haben – auch hierzulande zu Kultgetränken
avanciert. Und die amerikanische Kaffeehauskette Starbucks, die in Deutschland
immerhin über 150 Filialen betreibt, versteigt sich zu Kreationen wie »Caramel
Macchiato« (mit Vanillesirup und Caramel-Topping) oder »White Caffè Mocha«
(mit weißer Schokolade).
Dem Trend zu Exotik und Experimentierfreude hat sich selbst die Firma
Melitta angeschlossen: Zwar ist das Bentz’sche Filterprinzip noch immer im
Programm, aber es hat einen schweren Stand gegen Lifestyle-Produkte wie
Kaffeepads, Espressomaschinen, Vollautomaten und die fantasievollsten
Kaffeesorten. Wer weiß, ob die gute alte Krepptüte in zehn Jahren nicht schon
einen Platz im Museum erhält.
Frikadellen
Völkerverbindende Fleischeslust
Grad gibt es den Abend auch Frikadellen,
die unbeliebt in den meisten Fällen.
So reimte sich Wilhelm Busch 1876 das Heraufziehen eines Ehekrachs bei
seinem Biedermann-Bürger Tobias Knopp zusammen.
Unbeliebt? Was mag den Dichter zu dieser Einschätzung bewogen haben? Eher
ist doch das Gegenteil der Fall: Frikadellen futtert nahezu ganz Deutschland
einträchtig jeden Tag in den verschiedensten Spielarten, und das – wie man
annehmen darf – freiwillig.
Allerdings zeigt schon die Vielzahl verschiedener Namen, unter denen die
Frikadelle kursiert, dass auch sie kein urdeutsches Phänomen darstellt. Fast alle
Bezeichnungen stammen nämlich aus anderen Ländern; lediglich der
ostpreußische »Klops« kann eventuell als deutschstämmiges Wort durchgehen,
das möglicherweise auf »kloppen« (von zerklopftem Fleisch) zurückgeht. Das
Grimm’sche Wörterbuch aus dem 19. Jahrhundert nennt dagegen das
schwedische kalops (gebratene Fleischscheibe) oder das englische collops
(Fleischschnitten) als wahrscheinlichen Ursprung.
Das Wort »Frikadelle« wiederum wird häufig auf das italienische frittata
zurückgeführt – allerdings ist diese Hypothese sehr umstritten, denn frittata
bedeutet eigentlich »Eierkuchen«. Sprachlicher Urvater scheint dafür mit
ziemlicher Sicherheit das lateinische frigere (braten) zu sein. Im Grimm’schen
Wörterbuch findet sich noch die davon abgeleitete, heute nicht mehr
gebräuchliche deutsche Form fricken – die aber wohl eher in der Bedeutung
»kochen« benutzt wurde, wie folgendes Beispiel zeigt: »Ich will nun sieden,
fricken und braden, dasselbig das gott hat beraden.«
Auch die Frikadelle ist schon seit dem späten 17. Jahrhundert im deutschen
Sprachgebrauch belegt, wenngleich sie bei den Grimms noch nicht auftaucht.
Später kam als weitere Ableitung die Schreibweise Frikandelle vom französischen
fricandeau hinzu – dieses ist in der französischen Küche allerdings kein
Hackfleisch, sondern ein gebratenes Kalbsnüsschen.
Johann Georg Krünitz’ 1784 erschienene Oeconomische Encyclopädie definiert
Frikadellen dann schon halbwegs so, wie wir sie heute kennen:
»Fricandellen, Fr. Fricandelles, nennt man, in der Kochkunst, ein in Butter
gebackenes Gehäcke aus Kalb-Fleisch, Semmel, Speck u.s.w. welches in Gestalt
kleiner Würste, oder auch in anderer Form zusammen gerollt ist. Sie werden
zuweilen mit Stücken von Kälber-Netz überzogen, und alsdann Netz-
Würstchen genannt.«
Aus Frankreich stammt ursprünglich auch die Berliner Bezeichnung Bulette (
»Preußentum«), im Original boulette (= Kügelchen) geschrieben. Der Begriff
kam während der napoleonischen Besatzungszeit zwischen 1806 und 1813 auf –
allerdings als deutsche Eigenkreation, ähnlich wie heutzutage das Handy, das im
Englischen ebenso wenig ein Telefon ist wie eine boulette im Französischen ein
Hackfleischklops. Übrigens kann man hier fast von einem fliegenden Wechsel
sprechen – denn umgekehrt haben die Franzosen aus dem Deutschen die
fricadelle reimportiert.
Selbst das urbayerische Fleischpflanzerl ist trotz seines volkstümlich klingenden
Namens nur teilweise deutsch: »Pflanzerl« hat nämlich nichts mit einem
Pflänzchen zu tun, sondern mit einem Pfännchen (eigentlich müsste es also
»Fleischpfanzl« heißen) und einem Zelten – Letzteres die altertümliche
Bezeichnung für einen flachen kleinen Kuchen, in diesem Fall aus Fleisch. Das
Ursprungswort heißt mithin »Fleischpfannzelten«; das Wort »Pfanne« wiederum
geht zurück auf das lateinische patina und letztendlich auf das griechische pátanē
(»Schüssel«).
Diese wahrhaft babylonische Sprachverwirrung lässt ahnen, dass Frikadellen weit
über Deutschland hinaus verbreitet sind und zudem eine längere Geschichte
haben. Tatsächlich experimentierten englische Köche schon im Mittelalter mit
klein gehacktem Fleisch, und die ersten Hackfleischklopse wurden mit großer
Wahrscheinlichkeit im 16. Jahrhundert unter dem Namen Frikadel in den
Niederlanden gebraten. In Schweden kennt man die Variante Köttbullar, in
Österreich Faschierte Laberl oder Fleischlaberl, in der Schweiz Hacktätschli, in
Italien Polpette, in Ungarn Fasírozott, auf dem ganzen Balkan Ćevapčići, in
Griechenland Keftedes, in der Türkei Köfte und in der arabischen Welt Kufta –
alles enge Verwandte unserer deutschen Frikadellen. Nicht zu vergessen die
Rohfleisch-Variante Steak Tatar, die der Legende nach auf das asiatische
Steppenvolk der Tataren zurückgeht, tatsächlich aber erstmals im 20.
Jahrhundert in Frankreich unter dem Namen Steak à l’Americaine serviert
wurde.
Wie auch immer – das alles zeigt, dass Frikadellen zum Multikulturellsten
gehören, was hierzulande auf den Tisch kommt. Ausgerechnet die Idee aber, eine
Frikadelle zwischen zwei Brötchenhälften zu packen und das Ganze
»Hamburger« zu nennen, ist ironischerweise mit hoher Wahrscheinlichkeit
deutschen Ursprungs, obwohl sie in aller Welt als amerikanisch gilt.
Es kursieren zu viele Geschichten und Legenden über die Entstehung des
Hamburgers, um sie hier alle auszubreiten. Die gängigste Theorie besagt, das
sogenannte »Hamburger Stück«, eine aus gebratenem Rindfleisch bestehende
Spezialität der hanseatischen Küche, sei mit deutschen Auswanderern nach
Amerika gelangt und dort – zunächst unter dem Namen Hamburger Steak – zum
Fleischklops mutiert. Tatsächlich taucht das Hamburger Steak als Arme-Leute-
Essen in amerikanischen Kochbüchern gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf, in
gebratener wie in roher Form. Das »Hamburger Stück« gibt es in Hamburg noch
immer, allerdings wird damit heute eine Wurstsorte bezeichnet. Näher am
Hamburger ist das populäre »Rundstück warm« – bestehend aus einer Scheibe
Braten mit Soße, die zwischen dem Ober- und Unterteil eines runden
Weizenbrötchens klemmt.
Aber wie, wann und wo kam es in den USA zur Vermählung von Brötchen und
Hamburger-Steak, also Hacksteak? Verbürgt ist, dass an einem Stand auf der
Weltausstellung 1904 in St. Louis/Missouri Frikadellenbrötchen in ihrer
heutigen Form unter dem Namen Hamburg (noch ohne die Endung »er«)
verkauft wurden. Über den wahren Ursprung dieses größten kulinarischen Hits
der Weltgeschichte streiten sich allerdings die Gelehrten und Köche. In der noch
heute existierenden Imbissbude Louis’ Lunch in New Haven/Connecticut
behauptet man, dort sei der Hamburg(er) im Jahr 1900 erfunden worden, als ein
eiliger Gast auf die Schnelle etwas zum Mitnehmen suchte. Nach einer anderen
Lesart dachte sich der Standverkäufer Charlie Nagreen (genannt »Hamburger
Charlie«) dieselbe Kreation schon 1885 auf einer Messe in Seymour/Wisconsin
aus, damit die Messebesucher während des Herumschlenderns gleichzeitig essen
konnten. Auf jeden Fall scheinen Hamburger in den USA vom Start weg ein
Verkaufsschlager gewesen zu sein.
»Er lehnt sie ab mit stillem Dank« heißt es in der Fortsetzung unserer beiden
Eingangszeilen über die Frikadellen. Womöglich, weil 1876 noch das Brötchen
fehlte? Angesichts der Tatsache, dass heutzutage allein bei McDonald’s
Deutschland pro Tag geschätzte zwei Millionen Hamburger-Bratlinge auf den
Grill und in deutsche Mägen wandern, kann diese Deutung nicht ganz abwegig
sein.
Frühstücksei
Weiche Tatsachen aus Exeter
Zum Frühstück hat er immer weiche Eier gegessen;
das sah man, weil sein Bart voll Dotter war.[12]
Igittigitt! Aber mal abgesehen von den gelben Flecken im Kinnhaar – schildert
der bayerische Volksschriftsteller Ludwig Thoma hier nicht einen ganz und gar
deutschen Brauch? Das Frühstücksei, zumindest am Wochenende, gehört doch
schließlich zu uns wie das in Milchkaffee getunkte Croissant zum Franzosen und
der Espresso zum Italiener. Mehr noch, es trägt alle Züge eines erhabenen
Kulturguts: Einschlägige Zitate finden sich in literarischen Werken fast jeder
Epoche, alljährlich zu Ostern toben wir am Ei unsere Kreativität aus, und das
Mysterium seiner richtigen Garzeit beschäftigt seit Generationen die klügsten
Köpfe des Landes. In einem schon legendären Zeichensketch von Loriot wird das
Thema gar zum Auslöser einer handfesten Ehekrise: »Ich bringe sie um«,
murmelt der frustrierte Gemahl finster entschlossen, nachdem er mit der Dame
des Hauses eine end- und fruchtlose Diskussion über das Viereinhalb-Minuten-
Prinzip geführt hat. »Morgen bringe ich sie um!«
Der Härtegrad des deutschen Frühstückseis – eine der großen nationalen
Schicksalsfragen? Womöglich gar eines der unaufgedeckten Rätsel unserer
Kriminalstatistik? Wie viele deutsche Ehefrauen mögen inzwischen unter dem
Rasen schlummern, nur weil sie ihrem Gatten das Ei »nach Gefühl« zubereiteten
und nicht nach der Stoppuhr?
Eine beunruhigende Vorstellung, fürwahr! Aber auch das Problem von zu
harten oder zu weichen Eiern ist mit Sicherheit kein exklusiv deutsches. Denn
Tatsache ist: Gekochte Eier zum Tagesauftakt isst man nahezu überall auf der
Welt. Und man isst sie auch schon seit ewigen Zeiten, wie Eierbecherfunde in
Ausgrabungsstätten des antiken Rom belegen.
Seit jenen Zeiten hat das Frühstücksei eine ausgedehnte Wanderung über die
Alpen angetreten; heute schätzt man den morgendlichen Energiespender in ganz
Mitteleuropa, aber auch in Teilen Skandinaviens und des Baltikums. Außerhalb
Europas konzentrieren sich seine Verbreitungsschwerpunkte dagegen mehr auf
die weiter östlich gelegenen Weltregionen – darunter Afghanistan, Ägypten,
Indonesien, Irak, Iran, Kambodscha, Korea, Libanon, Malaysia, Myanmar,
Singapur, Syrien, die Türkei und Vietnam. Wobei der Härte- oder
Weichheitsgrad je nach heimatspezifischer Vorliebe variiert.
Am intensivsten haben sich mit der Kunst des Eierkochens denn auch nicht
deutsche Experten befasst, sondern zwei Österreicher und ausgerechnet ein
Engländer – obwohl die Briten bekanntlich Spiegel- und Rühreier bevorzugen.
Werner Gruber, Neurophysiker am Institut für Experimentalphysik der
Universität Wien, beschäftigt sich als Hobbykoch schon lange mit den
komplexen Problemen, die uns das Garen roher Hühnereier bereitet,
beispielsweise mit der Frage, warum Eierschalen beim Kochen zum Aufplatzen
neigen. Was er aufgrund seiner Erkenntnisse (durch die Temperaturänderung
bauen sich in der Schale Spannungen auf) als Gegenmaßnahme empfiehlt,
unterscheidet sich allerdings nicht von den gängigen Hausfrauentricks: Zuvor
ein Loch in die Schale piksen oder das Ei in Essig baden.
Natürlich hat Magister Gruber mittels mathematischer Algorithmen auch das
Geheimnis des perfekt gekochten Frühstückseis entdeckt. »Es gibt Berechnungen
aus der Thermodynamik«, schreibt er, »die kann man ganz einfach auf das Ei
übertragen.« Heraus kommt dabei eine wirklich elegante Formel:
t=0,0016*d²*ln[(2*TWasser-TStart)/(TWasser-TInnen)]
Zu ebenso bahnbrechenden Erkenntnissen gelangt eine weitere
Wissenschaftlerin aus Österreich, die Physikerin Silke Maier. In ihrer
Diplomarbeit »Kulinarische Physik« (2002) heißt es wörtlich:
Für die Zubereitung eines Frühstückseis im Kochtopf gibt es zwei
Möglichkeiten:
1. Den Topf mit kaltem oder etwas wärmerem Wasser füllen und auf den Herd
stellen. Ei hineingeben und einschalten. Nach gewünschter Zeit
herausnehmen.
2. Topf mit Wasser zum Kochen bringen, dann das Ei hineinlegen. Nach
gewünschter Zeit herausnehmen.
Die Krönung jedoch liefert der Engländer Charles D. H. Williams von der
Universität Exeter. Von ihm stammt das wohl ultimative Standardwerk zur
Physik des Eierkochens – die wissenschaftliche Publikation The Science of Boiling
an Egg (1998). Wie man ein Ei nach naturgesetzlichen Gegebenheiten vom
Rohzustand in eine essbare Form bringt, belegt Williams hier haarklein mit
mathematischen Formeln, die auch jede deutsche Hausfrau auf Anhieb versteht
und praktisch umsetzen kann. »Das Endergebnis ist relativ einfach«, lautet sein
Fazit. Und so sieht das Ganze dann aus:
$$ t_{\rm cooked} = \frac{M^{2/3} c \rho^{1/3}}{K \pi^2 ( 4 \pi / 3
)^{2/3}}log_e left [ 0.76 \times \frac{( T_{rm egg}-T_{\rm water} ) }{ ( T_{\rm
yolk}-T_{\rm water}) } \right ] $$
Ei, ei, ei. Schade, dass Loriot nicht mehr lebt – vermutlich wäre ihm auch dazu
ein Sketch eingefallen, der uns ein paar Lachtränchen in die Augen getrieben
hätte.
[12] Ludwig Thoma: Lausbubengeschichten (1905).
Gartenzwerg
Küss die Hand, gnä’ Wichtel
Er hat es weder in die Literatur noch ins Theater oder in die E-Musik geschafft,
und trotzdem ist er eine stille Berühmtheit: der Gartenzwerg. Er gehört zu
unserem Deutschlandbild wie der Bundesadler und das Brandenburger Tor.
Schöngeister bezeichnen ihn schlicht als Kitsch, wenden sich mit Grausen ab
oder ergehen sich in ätzendem Spott – zumindest nach außen hin. Insgeheim
pflegt vermutlich so mancher eine Art lustvoller Hassliebe zu den possierlichen
Wesen. Schließlich zeigt sich hier der deutsche Spießer in Reinkultur, und den
braucht man schon als Messlatte für die eigene intellektuelle Überlegenheit.
Spießer hin, Schöngeist her: Der Gartenzwerg steht zweifellos für Schwarz-Rot-
Gold bis auf den Grund seines tönernen Wesens. Oder etwa nicht? Spiegelt sich
in ihm nicht der Prototyp des deutschen Michel? Und war er nicht selbst in den
Jahrzehnten der deutschen Teilung der sichtbare Beweis dafür, dass wir trotz
auseinanderdriftender Lebensgewohnheiten ein Volk waren und sind? Zwar
verhängte das thüringische Wirtschaftsministerium 1948 ein zeitweiliges
Gartenzwergverbot (wg. kleinbürgerlicher Dekadenz), aber schon drei Jahre
später fiel der Bann, und es herrschte wieder einig Zwergenland. Drüben Broiler
und Rotkäppchen, hüben Toast Hawaii und Henkell Trocken – den gezipfelten
Gnom focht das alles nicht an, er zierte als Sinnbild von Brüderlichkeit und
deutscher Wertarbeit ostdeutsche Datschen ebenso wie westdeutsche
Schrebergärten. Wobei die in der DDR gefertigte 1A-Ware selbstverständlich in
den Westen exportiert wurde, während man sich im real existierenden
Sozialismus mit Ausschuss oder zweiter Wahl begnügen musste.
Dabei soll der Gartenzwerg sogar in Ostdeutschland erfunden worden sein: Die
Idee wird dem Thüringer Terracotta-Fabrikanten Philipp Griebel zugeschrieben,
der 1890 in Gräfenroda die ersten Tonzwerge in Serie herstellte und damit eine
ungeahnte, bis heute andauernde Unternehmerkarriere auf den Weg brachte.
Allerdings hat diese Story einen Haken – sie ignoriert nämlich eine
Vorgeschichte, die zwei weitere Jahrhunderte zurückliegt. Die ernüchternde
Wahrheit lautet: Der Gartenzwerg kommt aus Österreich, und auch hinsichtlich
seiner Verbreitung ist er keineswegs ein rein deutsches Phänomen. In der
italienischen Kleinstadt Furore scheint die Zwergenpopulation sogar derart
überhandgenommen zu haben, dass sich der Bürgermeister im Jahr 2010
genötigt sah, ein Verbot zu verfügen. Seitdem dürfen die Nani di giardino in
dortigen Vorgärten nicht mehr aufgestellt werden. Aber der Reihe nach.
Verbürgt ist: Die ersten Gartenzwerge entstanden in der Barockzeit –
vermutlich zwischen 1690 und 1695 – in Salzburg, und ihr Schöpfer war der in
Graz geborene Architekt Johann Bernhard Fischer von Erlach. Seine Figuren, aus
Marmor gehauene Nachbildungen kleinwüchsiger Menschen, bildeten die
Wahrzeichen des sogenannten Zwergelgartens von Schloss Mirabell (wo sie
heute, größtenteils als Nachbildung, wieder zu besichtigen sind). Frühere
Generationen hatten mit der Traditionspflege offensichtlich noch nicht so viel
am Hut, denn der Garten wurde Ende des 18. Jahrhunderts einem radikalen
Umbau unterzogen, weil seine Gestaltung als hoffnungslos altmodisch galt. Im
Jahr 1811 verschwanden als letztes Relikt schließlich auch die historischen
Zwerge. Der bayerische Kronprinz Ludwig I., damals vorübergehend Regent von
Salzburg, empfand sie als Beleidigung des guten Geschmacks und ließ sie
kurzerhand versteigern.
Den Siegeszug des Gartenzwergs konnte Ludwigs Freveltat allerdings nicht
bremsen, denn die Idee ihres Erfinders hatte längst Schule gemacht. So
verbreiteten sich barocke Zwergenfiguren in zahlreichen weiteren Ziergärten des
Adels – in Österreich, Deutschland, Tschechien, Italien, Slowenien und anderen
Ländern, sogar über Europa hinaus. Auch die Meissener Porzellanmanufaktur
und die Kaiserliche Hofmanufaktur in Wien fertigten im 18. Jahrhundert Zwerge
en masse, nun aus Keramik. Schon um 1800 sollen Serien solcher Figuren auch
in England entstanden sein; zumindest aber scheint man sie dort geschätzt zu
haben. Den Beweis liefert ein standhafter Überlebender jener Zeit. Noch heute ist
im Hausgarten von Schloss Lamport Hall in Northamptonshire einer von
ursprünglich 21 garden gnomes aus Terracotta zu bewundern, die der Besitzer Sir
Charles Isham aus Deutschland mitgebracht hatte. Spitzname des Zwergs:
»Lampy«. Heutiger Versicherungswert: eine Million Pfund.
Erst 1872 und 1874 entstanden im thüringischen Gräfenroda die zwei Firmen,
die später den deutschen Gartenzwerg als Massenprodukt auf den Markt warfen.
Die Gründer August Heissner und Philipp Griebel hatten ihr Handwerk
gemeinsam im selben Betrieb gelernt – wobei nicht gesichert ist, wer von den
beiden zuerst auf die Zwergenfigur kam. Interessanterweise wirkten die ersten
Exemplare (die noch nicht »Gartenzwerge«, sondern »Gnome« hießen) bereits
so amerikanisch wie später Walt Disneys Schneewittchenzwerge, und sie waren
es vielleicht auch. Man nimmt an, dass sich zumindest Philipp Griebel bei seinen
Entwürfen von Kobold-Darstellungen auf amerikanischen Weihnachtsbildern
inspirieren ließ. Also von wegen »typisch deutsch«!
Die noch immer existierende Firma August Heissner hat sich übrigens schon
seit Längerem von den Gartenzwergen verabschiedet, während man bei Griebel
der Tradition des Hauses treu geblieben ist. Nach der Wende wagte Reinhard
Griebel, der Urenkel des Gründers, im Jahr 1990 einen Neuanfang auf dem
ursprünglichen Firmengelände. Das Unternehmen nennt sich stolz
»Gartenzwergmanufaktur« und betreibt inzwischen sogar ein
Gartenzwergmuseum.
Weit eher als Gräfenroda verdient heute allerdings die westpolnische Stadt
Nowa Sol (Neusalz) den Titel »Gartenzwerg-Welthauptstadt«: Hier gab es
Anfang der Neunzigerjahre über dreihundert Hersteller, heute sind es immerhin
noch vierzig. Und auch die intensivste Zuwendung erfährt der Gartenzwerg
keineswegs in Deutschland, sondern – wer hätte das gedacht? – in Frankreich,
Italien und der Schweiz. Schon 1980 gründete in Basel der selbst ernannte
»Nanologe« (Zwergenkundler) Fritz Friedmann die »Internationale Vereinigung
zum Schutz der Gartenzwerge«. Als Vereinszweck nennt die Homepage
www.zipfelauf.com den Schutz der hilflosen Wichtel gegen »Gewalt, Zerstörung,
Geiselnahme, Verschleppung, Misshandlung, Diebstahl, Pulverisierung usw.«,
gegen »üble Nachrede« und »Missbrauch in der Werbung«. Was nicht
unpopulär zu sein scheint, denn immerhin hat die IVZSG nach eigenen Angaben
Mitglieder in sage und schreibe vier Kontinenten.
Ganz andere Ziele verfolgt eine französische Organisation, die Front de
Libération des Nains de Jardin (»Front zur Befreiung der Gartenzwerge«): Seit
Ende der Neunzigerjahre ahmen ihre Mitglieder und Anhänger auf grotesk-
anarchische Art militante Tierschutzorganisationen nach, indem sie
domestizierte Gartenzwerge aus Vorgärten befreien – sprich: klauen – und
anschließend »auswildern«. Der Gartenzwerg als Waldzwerg? Irgendwie
scheinen unsere linksrheinischen Nachbarn da etwas durcheinanderzubringen.
Doch die Schnapsidee vom natürlichen Lebensraum hat offensichtlich ihren
Reiz: Nach französischem Vorbild entstand wenig später auch in Italien eine
vergleichbare Organisation, Movimento Autonomo per la Liberazione delle
Anime da Giardino (»Autonome Bewegung für die Befreiung der Gartenseelen«).
Sieh mal an! Ausgerechnet die Italiener trauen dem Gartenzwerg also eine Seele
zu und bemächtigen sich damit eines Wortes, das so unnachahmlich
sehnsuchtsvoll deutsch klingt. Ebenfalls in Italien – und nicht etwa in
Deutschland – würdigt man die Wichtel auch mit einer eigenen Facebook-Seite
(Fronte Di Liberazione Dei Nani Da Giardino). Und die Befreiungswelle ist
mittlerweile sogar bis ins ferne Australien geschwappt. Dort heißt die
entsprechende Organisation kurz und knapp Free the Gnomes (»Befreit die
Zwerge«).
Die deutsche Gartenzwergpopulation (derzeit noch geschätzte 25 Millionen) ist
überdies seit Jahrzehnten bedenklich im Schrumpfen begriffen. Nachdem sich
Mief und Muff der Nachkriegszeit weitgehend verzogen haben, scheint das
Großklima der Republik unseren kleinen Freunden nicht mehr recht zu
bekommen. Der moderne Gartenfreund wendet sich zunehmend von ihnen ab –
oft zugunsten schräger Designobjekte oder modischen Schnickschnacks, wobei
sich der Gewinn an Ästhetik zumindest bezweifeln lässt.
So weit ist es also gekommen: der deutsche Gartenzwerg als Kandidat für die
rote Liste aussterbender Arten. Müssen wir ihn ausgerechnet von Schweizern,
Italienern oder Franzosen retten lassen? Es sieht fast danach aus.
Goethe
Hinten, weit in der Türkei
Achtung, jetzt geht es gegen die Ungläubigen:
Närrisch, dass jeder in seinem Falle
Seine besondere Meinung preist!
Wenn Islam »Gott ergeben« heißt,
In Islam leben und sterben wir alle.
Wer könnte so etwas geschrieben haben? Steckt ein religiöser Eiferer dahinter?
Hat der Verfassungsschutz diese Verse auf einer islamistischen Website
entdeckt? Weit gefehlt. Tatsächlich stammen sie vom vermeintlich deutschesten
aller Dichter und Denker, unserem literarischen Nationalheros Johann Wolfgang
von Goethe. Genauer gesagt, aus seiner 1819 erschienenen Anthologie West-
Östlicher Divan. Dort ist sogar noch stärkerer Tobak zu lesen:
Ärgert’s jemand, dass es Gott gefallen
Mohammed zu gönnen Schutz und Glück,
Um den stärksten Balken seiner Hallen,
Da befestig’ er den derben Strick,
Knüpfe sich daran! Das hält und trägt,
Er wird fühlen, dass sein Zorn sich legt.
Goethe, der ewige Leuchtturm unter den deutschen Geistesriesen – ausgerechnet
er ein militanter Fürsprecher des Propheten, womöglich gar ein verkappter
Dschihadist? Oder was soll man von derartigen Ergüssen halten?
Nun ja. Wenn’s eine Nummer kleiner sein darf: Die Bewunderung der
islamisch-arabischen Kultur gehört in der Tat untrennbar zu Goethes Leben und
Werk. Sie ist allerdings nur eine von zahllosen Facetten, die unseren
Dichterfürsten – neben seiner gewaltigen literarischen Hinterlassenschaft – zu
einer so imponierenden Persönlichkeit machen. Und gerade das Festnageln auf
den Aspekt »deutsch« passt in diesem Zusammenhang in der Tat am wenigsten.
Als nationales Besitztum hätte Goethe sich nie verstanden wissen wollen, auch
wenn die öffentliche Wahrnehmung heute das Gegenteil suggeriert. So sind
aktuell acht verschiedene deutsche Preise, Medaillen und Plaketten nach Goethe
benannt. Wir haben zwei Goethe-Museen, eine Goethe-Universität und eine
Unzahl von Goethe-Schulen. Es gibt einen Goethe-Bund, eine Goethe-
Gesellschaft; und jene Einrichtungen, welche die deutsche Sprache und Kultur in
aller Welt hochhalten, heißen natürlich »Goethe-Institute« – von Denkmälern
und Straßennamen gar nicht zu reden. Kurz, unser Land ist von Goethe förmlich
durchdrungen.
Dabei empfanden viele seiner Zeitgenossen den Weimarer Dichterfürsten als
Nestbeschmutzer und vaterlandslosen Gesellen. Denn in Wahrheit war Goethe
das exakte Gegenstück eines deutsch denkenden Patrioten, wie man ihn als
Geistesgröße damals gern gehabt hätte. Vielmehr lebte er vor, was es heißt,
kosmopolitisch zu denken und zu fühlen, und gehörte damit seinerzeit zu
denjenigen, die am weitesten über den Tellerrand, sprich: über die Grenzen des
deutschen Kultur- und Sprachraums hinausblickten: »Wissenschaft und Kunst
gehören der Welt an und vor ihnen verschwinden die Schranken der
Nationalität.«
Es sind vielfältige Einflüsse, die Goethe dergestalt prägten, und sie reichen bis in
seine Jugendzeit zurück. So wird während des Siebenjährigen Krieges, als seine
Heimatstadt Frankfurt am Main von französischen Truppen besetzt ist, ein aus
Paris stammender Offizier in seinem Elternhaus einquartiert. Zur Unterhaltung
der Truppe ist gleich noch ein Ensemble von Schauspielern dabei, sodass der
junge Johann Wolfgang die französische Dramenliteratur aus erster Hand
kennenlernt und sich für sie begeistert.
Vier Jahre später folgt eine weitere Schlüsselerfahrung: Gerade mal 16 Jahre alt,
beginnt Goethe 1765 auf Wunsch seines Vaters ein Jurastudium in Leipzig – in
jener Zeit eine Metropole, deren quirliges Leben im krassen Gegensatz zum
bräsig-verschlafenen Frankfurt stand. Bei dem zwar vielseitig gebildeten, sonst
aber noch recht unbedarften Provinzgrünschnabel löst die weltoffene
Atmosphäre der Stadt wohl einen wahren Kulturschock aus. Jedenfalls zieht sie
Goethe unwiderstehlich in ihren Bann und beeindruckt ihn fürs Leben. Wozu
sicher auch der Umstand beiträgt, dass er sich in Leipzig bis über beide Ohren in
die drei Jahre ältere Wirtstochter Annette »Käthchen« Schönkopf verliebt. Noch
viele Jahre später greift er die Erinnerung an diese Zeit im Faust I wieder auf:
»Mein Leipzig lob’ ich mir! Es ist ein Klein-Paris und bildet seine Leute!«
Weitere kulturell prägende Stationen und Erlebnisse sind – nach überstandener
Lungenkrankheit – die Fortsetzung seines Studiums im stark französisch
geprägten Straßburg, die dortige Begegnung mit Geistesgrößen wie dem
Schriftsteller und Philosophen Johann Gottfried Herder, später eine
mehrmonatige Reise in die Schweiz und schließlich der Umzug in die Kunst-
und Kulturhochburg Weimar.
Zu einer denkwürdigen Erfahrung wird auch die ausgedehnte »italienische
Reise«, zu der Goethe 1786 aufbricht. Hier lernt er die Bauten und Kunstwerke
aus Renaissance und Antike kennen, erweitert seinen Horizont um eine Unzahl
neuer Eindrücke und kommt – nach seiner eigenen Schilderung – wie neu
geboren zurück. Mehr denn je empfindet er sich nun als Europäer und
»Weltbürger«, ferner denn je liegt ihm alles nationalistische Denken und
Gehabe. Im Gegenteil: Seine deutschen Landsleute betrachtet er als geistig und
kulturell eher rückständig. »Italien«, schreibt der Literaturwissenschaftler
Gerhard Schulz, »hatte ihm das Bild von einer grundsätzlich anderen,
großzügigeren, offeneren Lebensweise und Lebenseinstellung als der in den
deutschen Kleinstaaten vorgeführt.«[13] Was sich 1790 in Goethes schon fast
vernichtendem Urteil niederschlägt: »Die Deutschen sind im Durchschnitt
rechtliche, biedere Menschen, aber von Originalität, Erfindung, Charakter,
Einheit, und Ausführung eines Kunstwerks haben sie nicht den mindesten
Begriff. Das heißt mit einem Worte, sie haben keinen Geschmack.«[14]
Später machen die Französische Revolution und ihr Gedankengut tiefen
Eindruck auf ihn, und selbst die 1806 beginnende napoleonische Besatzung kann
ihn nicht zu vaterländischen Gefühlen bewegen. Auch hier steht er geistig über
den Grenzen und Nationalismen. Zwar nimmt er seinen Landesherrn, den von
ihm verehrten Herzog von Weimar, vehement gegen französische
Unterstellungen eines Komplotts in Schutz, aber das hindert ihn nicht,
gleichzeitig auch Napoleon glühend zu bewundern – also ausgerechnet den
Erzfeind aller »aufrechten Deutschen«. Und diese Zuneigung beruht durchaus
auf Gegenseitigkeit: Der französische Kaiser gehört zu Goethes größten
Bewunderern; allein Die Leiden des jungen Werthers soll er sieben Mal gelesen
haben. In Erfurt kommt es schließlich zu einem Treffen der beiden, bei dem sie
ausgiebig über Literatur, Gott und die Welt parlieren. Gipfelpunkt dieser
bemerkenswerten Männerfreundschaft: Im Oktober 1808 bekommt Goethe den
Orden der Ehrenlegion verliehen, die höchste Auszeichnung Frankreichs. Mit
großem Stolz trägt er nun den Titel eines »Chevalier de la Légion d’Honneur«.
Sein späteres Urteil über Napoleon, überliefert von seinem Freund Johann Peter
Eckermann, fällt denn auch geradezu schwärmerisch aus: »Ein Kerl! Immer
erleuchtet, immer klar und entschieden, und zu jeder Stunde mit der
hinreichenden Energie begabt, um das, was er als vorteilhaft und notwendig
erkannt hatte, sogleich ins Werk zu setzen.«
Dass sich Goethe damit unter seinen Landsleuten nicht gerade Freunde schafft,
liegt auf der Hand. Während sie ihm Unchristlichkeit und mangelnden
Patriotismus vorwerfen, attestiert er ihnen Spießigkeit, Borniertheit und einen
unterentwickelten Kunstsinn. Wie tief der Stachel sitzt, belegt eine Reihe von
Schmähungen, in denen er ziemlich hemmungslos über die Deutschen vom
Leder zieht. Aus einem Dialog mit dem Historiker Heinrich Luden: »Ich habe oft
einen bittern Schmerz empfunden bei dem Gedanken an das deutsche Volk, das
so achtbar im Einzelnen und so miserabel im Ganzen ist.« Und im Gespräch mit
dem Pädagogen und Schriftsteller Johannes Falk (der sich als Urheber des
Weihnachtslieds »O du fröhliche« ebenfalls in der deutschen Kulturgeschichte
verewigt hat) bricht es einmal aus Goethe heraus: »Wenn ich es nur je dahin
noch bringen könnte, dass ich ein Werk verfasste – aber ich bin zu alt dazu –,
dass die Deutschen mich so ein fünfzig oder hundert Jahre hintereinander recht
gründlich verwünschten und aller Orten und Enden mir nichts als Übels
nachsagten; das sollte mich außer Maßen ergetzen.« Überliefert sind diese
Äußerungen wortwörtlich in Falks 1832 postum erschienenen Buch Goethe aus
näherm persönlichen Umgange dargestellt.
Allerdings muss man einschränkend sagen: Wenn Goethe von »den«
Deutschen spricht, meint er in erster Linie das sogenannte Bildungsbürgertum –
also Bücherleser und Theatergänger, Kritiker und Rezensenten, aber auch viele
Künstler und Intellektuelle, die ihm aus seiner Sicht nicht das Wasser reichen
konnten. Mit dem »einfachen Volk« dagegen – Handwerkern, Dienstboten,
Knechten und Mägden – kommt er problemlos zurecht.
Ihren Höhepunkt erreicht die Entfremdung zwischen Goethe und dem
überwiegenden Rest der deutschen Geisteselite – zwangsläufig – zur Zeit der
Befreiungskriege. Vielen seiner Landsleute gilt der Napoleon-Freund nun
geradezu als Vaterlandsverräter. Wilhelm von Humboldt bemerkt noch Jahre
später in einem Brief: »Der Geheimrat trägt den Annen-Orden[15], die Legion
ist beiseitegelegt, wie es scheint. Allein die Befreiung Deutschlands hat noch bei
ihm keine tiefe Wurzel geschlagen.«
Dieser tadelnde Unterton entspricht weitgehend dem allgemeinen Goethe-
Gefühl der damaligen Zeit. So wird der Dichter zu Lebzeiten zwar als Autor
respektiert, aber keineswegs bewundert oder gar geliebt. Nach Goethes Tod
rücken Name und Werk dann für einige Jahrzehnte ins zweite Glied; man
beginnt ihn langsam zu vergessen. Erst das 1871 gegründete Kaiserreich entdeckt
Goethe – seiner ketzerischen Geisteshaltung zum Trotz – als geistigen
Nationalhelden neu und verklärt ihn gemeinsam mit Friedrich Schiller zum
»Olympier«, also quasi zur Gottheit.
Goethe wurde in fortgeschrittenem Alter, zur Zeit der Befreiungskriege und
damit auf dem Gipfel der Verfemung, zu einem ausgesprochenen Bewunderer
des Islam und der arabischen Welt (die er allerdings, wie viele seiner
Zeitgenossen, auch romantisierte). Er vergräbt sich in Studien des Arabischen
und Persischen, liest den Koran und entdeckt den Diwan des persischen
Nationaldichters Hafis (1320 – 1388), eine Sammlung von knapp fünfhundert
Gedichten, die der Orientalist und Diplomat Joseph von Hammer-Purgstall kurz
zuvor erstmals ins Deutsche übersetzt hat. Goethe berauscht sich geradezu an
diesen Versen, lässt sich von ihnen inspirieren und schreibt ab 1814 seinen
eigenen Divan, der 1819 erscheint und später um zusätzliche Gedichte erweitert
wird.
Woher rührte dieser Hang zum Orientalischen? Dazu gibt es eine gewagte
Hypothese, die der deutsche Psychiater und Ahnenforscher Robert Sommer
(1864 – 1937) aufstellte. Demnach soll Goethe türkische Vorfahren gehabt
haben, sodass entsprechende ethnische Wurzeln quasi schon in seinen Genen
verankert waren. Zumindest meinte Sommer, diesen Zusammenhang aufgrund
einer alten Familienchronik belegen zu können. Er bezieht sich dabei auf einen
gewissen Sadok Selim Sultan (vermutlich 1270 – 1328), der während einer
Schlacht zwischen Kreuzrittern und Seldschuken bei Aleppo im heutigen Syrien
in deutsche Gefangenschaft geraten und nach Deutschland verschleppt worden
sein soll – genauer gesagt, nach Brackenheim in Baden-Württemberg. Im Jahr
1305, so heißt es weiter, ließ er sich dort taufen und nahm den Namen Johannes
Soldan an. Später heiratete er eine Deutsche, mit der er drei Söhne zeugte. In
weiteren Generationen verzweigten sich die Soldans nach Hessen und Franken –
und eine dieser Linien führt angeblich zur Familie Textor in Frankfurt, somit
auch zu Goethes Mutter Catharina Elisabeth Textor.
Spekulation, Dichtung oder Wahrheit? Was soll’s. Gönnen wir unseren
türkischstämmigen Mitbürgern einfach ihren Anteil an Goethe!
[13] Gerhard Schulz: Exotik der Gefühle. Goethe und seine Deutschen, München
1998.
[14] Gerhard Schulz: Exotik der Gefühle. Goethe und seine Deutschen, München
1998.
[15] Der russische »Orden der heiligen Anna« wurde Goethe von Zar Alexander
I. im Oktober 1808 verliehen.
Golfklasse
European Open
»Kein Auto haben die Deutschen lieber«, schrieb die Frankfurter Allgemeine
Sonntagszeitung vollkommen treffend über den VW Golf[16]. Und seit der
Fußballweltmeisterschaft 2006 im eigenen Land ist es als womöglich
deutschestes aller Bilder in unserem Kollektivgedächtnis verankert: ein Golf mit
auf die Seitenscheibe gestecktem, lustig im Wind flatterndem schwarz-rot-
goldenem Fähnchen. Deutscher Ingenieur- und Erfindergeist, deutsche
Wertarbeit, das deutsche Nationalauto und die deutschen Landesfarben, gepaart
mit deutscher Fußballbegeisterung – welch ein Symbol für die Werte unserer
Nation, für Mannschaftsspiel, Zusammenhalt und überlegene Leistungsfähigkeit!
Halt, halt, halt – hier müssen wir mal sachte auf die Bremse treten. Die Wahrheit
ist: Weder der VW Golf noch die sogenannte Golfklasse sind rein deutsche
Hervorbringungen. Vielmehr stellen auch sie Musterbeispiele für das
länderübergreifende Zusammenwirken von Ideen dar, was sie aus europäischer
Sicht doch irgendwie sympathischer macht. Konzept, Design und Technik des
VW Golf sind so multinational wie sein Name. Eine kompakte
Schrägheckkarosserie mit Heckklappe, eine umklappbare Rücksitzlehne, ein quer
eingebauter Frontmotor und Vorderradantrieb: Das alles sind Zutaten, die es bei
diversen Autos in anderen Ländern und auch in Deutschland schon lange vorher
gab. Wer Golf fährt, der fährt also mit an der Spitze der europäischen
Integration.
Das weltweit erste Fahrzeug mit Frontantrieb zum Beispiel entstand 1898 in
Österreich bei dem Wiener Automobilhersteller Gräf & Stift, der 1971 von MAN
übernommen wurde. Im Jahr 1900 meldeten Gräf & Stift diese Technik zum
Patent an, doch erst viel später – in den Zwanzigerjahren des vorigen
Jahrhunderts – gelang es der französischen Firma Tracta, sie zu wirklicher
Serienreife zu bringen. Die Lizenz dieser Konstruktion wurde an verschiedene
europäische Automobilunternehmen verkauft, darunter auch die deutschen
Firmen DKW und Adler. Erster deutscher Hersteller eines Modells mit
Frontantrieb war allerdings der Fahrzeug- und Nähmaschinenfabrikant Stoewer
in Stettin. Sein Kleinwagen Stoewer V5 kam 1931 heraus und wurde insgesamt
2100-mal gebaut.
Die nächste Weltpremiere, ebenfalls 1931, war ein Ergebnis deutsch-dänischer
Zusammenarbeit: Der in Kopenhagen geborene Unternehmer Jørgen Skafte
Rasmussen hatte 1916 im sächsischen Zschopau die Marke DKW gegründet (was
ursprünglich für »Dampf-Kraft-Wagen« stand). 1925 übernahm seine Firma, die
nach dem vorhersehbaren Flop des Dampfmobils alle möglichen Zweiräder und
Motoren produzierte, die marode deutsche Automarke Slaby-Beringer und
wurde damit selber zum Automobilunternehmen. Sechs Jahre später gelang
Rasmussen dann ein Coup, der DKW zum zweitgrößten Automobilhersteller
Deutschlands machen sollte: das weltweit erste Auto mit Vorderradantrieb und
quer eingebautem Frontmotor, der DKW F1. Im Frühjahr 1931 wurde der
dreisitzige Roadster mit lederbespannter Holzkarosse auf der Internationalen
Automobilausstellung in Berlin vorgestellt – technisch gesehen, der Urahn des
heutigen VW Golf, auch wenn der überwiegend aus Blech besteht.
1938 nahm auch der französische Hersteller Citroën das Grundkonzept des
Golf in weiten Teilen vorweg: Der in nur wenigen Exemplaren gebaute Traction
Avant Commerciale war das erste Auto mit Frontantrieb, Schrägheck und voll
nutzbarer Ladeöffnung. Allerdings war seine Heckklappe in der Mitte
zweigeteilt, und anders als beim DKW F1 steckte der Motor in traditioneller
Bauweise längs unter der Haube.
Wir übergehen den Zweiten Weltkrieg, machen einen Zeitsprung und erleben
gut zwanzig Jahre später das Auftauchen einer radikal neuen Karosseriebauweise
– der Countdown zur Golfklasse beginnt. Zunächst überraschen die Briten die
automobile Welt mit einer buchstäblich winzigen, aber dennoch weitreichenden
Revolution: Die Urversion des Mini ist der erste moderne Kleinwagen mit
Frontantrieb, quer eingebautem Motor und kurzem, abgeschrägtem Steilheck.
Der Mini ist größtenteils die Schöpfung eines einzigen Mannes – des Ingenieurs
Alexander »Alec« Issigonis, geboren 1906 im damals noch griechischen Smyrna
(heute das türkische Izmir) als Sohn eines Griechen mit britischem Pass und
einer deutschen Mutter. Nach seinem Studium in London beginnt er 1936 in der
Automobilindustrie zu arbeiten und landet nach mehreren Stationen im Austin-
Werk Longbridge, das zu jener Zeit gemeinsam mit Morris in Cowley die British
Motor Corporation (BMC) bildete. Die Idee zum Mini entsteht 1956, nachdem
die Sueskrise einen ersten Ölschock ausgelöst hat. Die Konstruktion eines
sparsamen Kleinwagens ist dringend geboten, und Issigonis lässt sich dadurch zu
einem Geniestreich inspirieren. 1959 wird das winzige und witzige Unikum
erstmals vorgestellt – damals allerdings noch nicht unter der Modellbezeichnung
Mini, sondern je nach Markenzugehörigkeit als Austin Seven oder Morris Mini-
Minor. Der Neue ist ein Riesenerfolg, und Issigonis wird dafür 1969 zum »Sir«
geadelt. Mit insgesamt 5,3 Millionen Exemplaren (der moderne BMW-
Nachfolger nicht mitgerechnet) ist der Mini bis heute das meistverkaufte
britische Auto aller Zeiten.
Mit einer weiteren wegweisenden Entwicklung warten 1961 die Franzosen auf:
Der Renault 4 ist das erste Großserienauto mit »fünfter Tür«, also einer
vollständig öffnenden Heckklappe, und einer komplett umlegbaren
Rücksitzbank. Die Idee dazu stammt von dem damaligen Renault-Vorstandschef
Pierre Dreyfus, der sich große Marktchancen von einem preisgünstigen,
praktischen, unkomplizierten und »klassenlosen« Automobil verspricht. Und er
behält recht: Obwohl der R4 auf heftigen internen Widerstand stößt, wird er wie
geplant realisiert – und erweist sich als wahre Verkaufsrakete. Bis 1992 entstehen
in fast unveränderter Form über acht Millionen Exemplare des R4, die in mehr
als 100 Länder rund um die Welt verkauft werden.
1969 schließlich springt die italienische Fiat-Tochter Autobianchi auf den
Trend zur Heckklappe auf. Sie besinnt sich dabei auf das Konzept des Mini,
kopiert es geschickt und verbindet es mit einer »echten«, also am Dach
angeschlagenen Gepäckraumklappe. Heraus kommt der Kleinwagen A112, und
damit nähert sich der Countdown langsam seinem Ende.
Im Jahr 1971, drei Jahre vor dem Produktstart des VW Golf, stellt Fiat das
Modell 127 vor – ein Kompaktfahrzeug nach dem Vorbild des Autobianchi
A112, allerdings deutlich geräumiger. Der Fiat 127 ist das erste Auto
vergleichbarer Größe, dessen Konstruktion alle Merkmale des späteren Golf
aufweist: quer eingebauter Frontmotor, Vorderradantrieb, Schrägheck mit
vollständig öffnender Heckklappe und umlegbare Rücksitzlehne. Er ist lediglich
10,7 Zentimeter kürzer und 8,5 Zentimeter schmaler als der spätere Golf. Das
Design stammt von Pio Manzù, Sohn eines berühmten Bildhauers und
Absolvent der legendären Hochschule für Gestaltung in Ulm. Tragischerweise
kommt Manzù 1969 im Alter von nur 30 Jahren bei einem Autounfall ums
Leben, zwei Jahre vor der Premiere seines Meisterstücks. Man hätte ihm
gewünscht, dessen Triumph noch zu erleben: 1972 wird der Fiat 127 zum Auto
des Jahres gewählt, und mit insgesamt rund 4,5 Millionen verkauften
Exemplaren reiht er sich ein unter die erfolgreichsten italienischen Autos aller
Zeiten.
Auch die Urform des Golf ist von Manzùs Linienführung inspiriert, und auch
sie stammt nicht aus Deutschland, sondern ebenfalls aus Italien. Geschaffen hat
sie der Turiner Designer Giorgio Giugiaro mit seiner Firma Italdesign, die
mittlerweile (seit 2010) zum VW-Konzern gehört. Dass Giugiaro den Job 1971
überhaupt bekommt (und die Welt eine Golfklasse), ist einer Last-Minute-
Entscheidung zu verdanken. Eigentlich schwebte den VW-Managern eine Art
»Käfer 2.0« vor, ein Auto mit Mittelmotor und dem VW-typischen Heckantrieb.
Den Prototyp dazu entwickelt der damals 30-jährige Ferdinand Piëch bei
Porsche. Das neue Modell steht bereits kurz vor der Serieneinführung, als der
neue VW-Chef Rudolf Leiding sein Team quasi auf der Zielgeraden zurückpfeift.
Zwei gravierende Schwachpunkte sind ihm aufgefallen: In dieser Form wäre das
Auto nicht nur zu teuer, sondern der Motor läge auch direkt unter der
Rücksitzbank – eine nicht gerade wartungsfreundliche Konstruktion, die
obendrein den Fondpassagieren auch sommers ein backofenwarmes Hinterteil
bescheren würde.
So setzen sich die VW-Entwickler erneut ans Reißbrett und lassen sich in
Windeseile eine Alternative einfallen. In knapp 18 Monaten entsteht ein völlig
anderes Modell, das dem technischen Vorbild des Fiat 127 folgt. Eine glückliche
Hand beweist VW auch mit dem Auftrag an Giorgio Giugiaro. Der italienische
Stardesigner schneidert ein so markantes Blechkleid, dass es den Golf zum
formalen Vorbild einer ganzen Wagenklasse und sogar zu ihrem Namensgeber
macht.
Ist der Golf also eher ein Italiener? Ein Italo-Deutscher? Ein Deutsch-Italiener?
Ach was. In der Summe seiner österreichischen, französischen, dänischen,
griechischen, britischen, italienischen und deutschen Gene ist er tatsächlich das
Musterbeispiel eines Europäers. Und das ist doch ganz einfach – Klasse.
[16] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 2.9.2012.
Grimms Märchen
Dornröschen schläft sich durch
Es waren einmal zwei Brüder, die hießen Jacob und Wilhelm. Beide hatten in
Marburg Rechtswissenschaft studiert, aber ihr wahres Herzblut gehörte der
Literaturgeschichte ihrer deutschen Heimat. So begannen sie anno 1806, gleich
nach dem Studienabschluss, mit der Erforschung alter Urkunden, Gedichte und
Sagen. Ein glücklicher Zufall bescherte ihnen bald darauf die Einladung der
beiden Schriftsteller Clemens Brentano und Achim von Arnim, an der
Volksliedsammlung Des Knaben Wunderhorn mitzuarbeiten. Bei diesen
Recherchen stießen sie nebenbei auf zahlreiche Märchentexte. Zunächst fand ihr
Sammeleifer auch die Unterstützung Brentanos, doch der verlor bald das
Interesse an den Märchen, und die zwei Brüder überwarfen sich schließlich mit
ihm.
Dieser Rückschlag konnte die beiden aber nicht bremsen, denn die
Märchenbegeisterung hatte sie längst unentrinnbar gepackt. So sammelten sie
munter weiter, und dank der Vermittlung Achim von Arnims konnten sie 1812
schließlich den ersten Band mit 86 deutschen »Kinder- und Hausmärchen« im
Verlag von Georg Andreas Reimer herausgeben. 1850 folgte der zweite Band mit
weiteren siebzig Märchen, und so ging es weiter mit jeder neuen Auflage, bis sie
schließlich bei stolzen 211 angelangt waren. Etwa die Hälfte davon hatte man
ihnen mündlich zugetragen, wobei die ergiebigste Quelle die Bäuerin Dorothea
Viehmann war, eine Nachfahrin französischer Hugenotten. Andere Geschichten
lieferten ihnen der Philologe Werner von Haxthausen, dessen Bruder August
sowie deren gemeinsame Nichte, die Dichterin Annette von Droste-Hülshoff.
Alle übrigen Märchen basieren auf schriftlichen Quellen.
Mit diesem ihrem Lebenswerk, das neben der Märchensammlung auch
zahlreiche sprachwissenschaftliche Publikationen umfasst, gelten die beiden
Brüder als Mitbegründer der heutigen Germanistik.
So weit die wahre Geschichte der Brüder Grimm. Aber ist Ihnen aufgefallen, dass
sie einen klitzekleinen Fehler enthält? Gemeint ist das Attribut »deutsch«. Denn
die von Jacob und Wilhelm Grimm gesammelten Märchen stammen zum
großen Teil gar nicht aus Deutschland, sondern ihre Quellen verteilen sich in
bunter Mischung quer über Europa, Nordafrika und Asien. So finden sich in den
Handlungssträngen und Personen zahlreiche international verbreitete Motive –
wie zum Beispiel der Zauberschlaf von Dornröschen, der in ähnlicher Form
schon in der griechischen Antike bedichtet wurde. Oder das Aschenputtel, das
uns schon bei den alten Ägyptern, im antiken Rom und später im chinesischen
Kaiserreich begegnet. Nicht selten existieren solche Grundmotive in Dutzenden
oder sogar Hunderten von Spielarten, bei denen Handlung und Personen immer
wieder neue Wendungen erfahren.
Märchen kennen nun mal keine Grenzen – sie vagabundieren nach Herzenslust
von einem Land zum nächsten, von einer Kultur und Sprache zur anderen, und
wie bei einer Völkerwanderung verändern sie dabei je nach Umfeld und Zeitalter
ihre Gestalt. Auf diese Weise, mehr oder weniger landestypisch zurechtgemacht,
verbreiten sie sich mühelos über große geografische Räume. Selbst die
Geschichten aus Tausendundeiner Nacht, die ursprünglich in Indien beheimatet
sind, haben es durch immer wieder angepasste Übersetzungen über Persien und
die arabische Welt bis in die heutige Weltliteratur geschafft. So sind etwa Ali
Baba und die vierzig Räuber (»Sesam öffne dich!«) bei uns kaum weniger
populär als Schneewittchen und die sieben Zwerge, und Aladins orientalische
Wunderlampe fasziniert uns ebenso wie das abendländische Tischlein-deck-
dich.
Einer der ersten Europäer, die Märchen systematisch sammelten, war der
Italiener Giovanni Francesco Straparola (1480 – 1558). Daneben erfand er auch
eigene Geschichten, sogenannte Kunstmärchen, und lieferte damit weiteren Stoff
für nachfolgende Generationen. Seine Sammlung – insgesamt 75 Geschichten,
davon 21 Märchen – veröffentlichte Straparola zwischen 1550 und 1553 in der
zweibändigen Anthologie Le piacevole notti (»Die ergötzlichen Nächte«), bei der
die einzelnen Episoden in eine Rahmenerzählung eingebettet sind. Hier
begegnen wir unter anderem der Geschichte vom Gestiefelten Kater, die
Jahrhunderte später als Märchen Nummer 33 bei den Grimms wieder auftaucht.
Die ersten schriftlichen Urfassungen der Volksmärchen Tischlein-deck-dich,
Schneewittchen, Aschenputtel und Rapunzel finden sich ebenfalls in einer
italienischen Kollektion mit Rahmenhandlung – dem Pentamerone, das der aus
Neapel stammende Schriftsteller Giambattista Basile (1575 – 1632) im Dialekt
seiner Heimat aufschrieb. Außerdem enthält das Werk eine weiterentwickelte
Version der Dornröschen-Geschichte, die erstmals im 14. Jahrhundert in der
altfranzösischen Erzählsammlung Le Roman de Perceforest auftaucht. Interessant
in diesem Zusammenhang: In beiden Fassungen wird das in den Schlaf gehexte
Dornröschen nicht nur wachgeküsst, sondern zuvor noch schnell geschwängert
– ein schöner Beleg dafür, dass man sich Märchen in vormodernen Zeiten auch
und gerade unter Erwachsenen erzählte. Kinder wurden, was den gleichen
Vorgang betrifft, schon immer mit der altgermanischen Sage vom Klapperstorch
abgespeist.
Basile selbst erlebte das Erscheinen seines Werks nicht mehr; erst nach seinem
Tod gab es seine Schwester heraus, zunächst unter dem Titel Lo cunto de li cunti
(»Das Märchen der Märchen«) und dem Pseudonym Gian Alesio Abbattutis.
Jahrzehnte später, 1674, erhielt die Sammlung dann – in Anlehnung an
Boccaccios Decamerone – den bis heute gebräuchlichen Titel Il Pentamerone (frei
übersetzt »Fünf-Tages-Erzählung«).
Die Brüder Grimm nutzten solche Quellen ausgiebig, um ihre eigene Sammlung
weiter auszubauen. Allerdings schrieben sie nicht einfach ab, sondern
verwendeten häufig unterschiedliche Texte und setzten sie neu zusammen – wie
etwa bei Schneewittchen, das bereits in zwei deutschen Übersetzungen von
Ludwig Bechstein und Johann Karl August Musäus vorlag. Oder bei dem in ganz
Europa verbreiteten Rotkäppchen, das der Weimarer Verleger Friedrich Justin
Bertuch 1790 erstmals in einer deutschen Fassung herausbrachte: Hier
entschieden sich die Grimms für eine Version mit glücklichem Ausgang, denn
ein vom bösen Wolf unwiderruflich zerfleischtes Rotkäppchen (das gibt es auch)
wollten sie ihren Lesern offenbar doch nicht zumuten.
Bei anderen Geschichten bedienten sich die Brüder der Sammlungen des
französischen Schriftstellers Charles Perrault (1628 – 1703), der seinerseits zum
Teil bei Straparola und Basile fündig geworden war: In Hänsel und Gretel finden
sich Motive aus Le Petit Poucet (»Der kleine Daumen«), Rotkäppchen geht auf Le
Petit Chaperon rouge zurück, Dornröschen auf La Belle au bois dormant (»Die
schöne Schlafende im Wald«), Aschenputtel auf Cendrillon und Der gestiefelte
Kater auf das mittlerweile von Italien nach Frankreich eingewanderte Märchen
Le chat botté. Bei Dornröschen griffen die Grimms auch direkt auf die ältere
Version von Basile zurück. Die Begattung der schlafenden Schönen ließen sie
allerdings ebenso weg wie Perrault – wie sie auch viele andere Märchen von
ursprünglich vorhandenen erotischen Motiven säuberten und damit
»kindgerecht« machten.
Ebenfalls in Frankreich fanden die Grimms die schriftliche Urversion von
Rumpelstilzchen. Die Geschichte von dem Kobold, der ein Mädchen Stroh zu
Gold spinnen lässt, wurde unter dem Titel Ricdin-Ricdon erstmals 1705 in der
Sammlung La Tour ténébreuse (»Der finstere Turm«) von Marie-Jeanne
L’Héritier de Villandon veröffentlicht, einer Tochter oder Nichte von Charles
Perrault. Das Märchen selbst ist allerdings wesentlich älter.
Der Froschkönig wiederum basiert auf einem Kommentar, den der Herausgeber
John Leyden in eine Neuausgabe der schottischen Geschichten- und
Balladensammlung The Complayant of Scotlande (1549) einfügte. Das wissen wir
mit Sicherheit von Jacob Grimm, der 1812 an seinen Bruder Wilhelm schrieb:
»Das Volksmärchen vom Froschprinz habe ich in einem schottischen Buch heut
Nachmittag gefunden.« Tatsächlich gaben auch die Grimms der Geschichte
zunächst den Titel Der Froschprinz – was eigentlich zutreffender wäre, denn bei
dem Frosch handelt es sich ja nicht um einen verwunschenen König, sondern
um einen Prinzen.
Bleibt festzuhalten, dass sich unsere berühmteste Märchensammlung bei
näherem Hinsehen als ein erstaunlich multikulturelles Panoptikum erweist,
dessen Helden und Bösewichter wir mit einer ganzen Reihe anderer Völker
teilen.
Rein deutschen Ursprungs sind dagegen – paradoxerweise – einige populäre
Geschichten, die im Orient spielen. Die Geschichte vom Kalif Storch, Die
Geschichte von dem kleinen Muck und Das Märchen vom falschen Prinzen
stammen nicht etwa aus Tausendundeiner Nacht, sondern aus dem Zyklus Die
Karawane, den der Stuttgarter Schriftsteller Wilhelm Hauff 1825 als Sammlung
frei erfundener Kunstmärchen veröffentlichte. Mutabor heißt dort das
Zauberwort des zum Storchen gewordenen Kalifen – und wie man gesehen hat,
ist es zugleich ein treffendes Motto für alle Märchen dieser Welt: »Ich werde
mich verwandeln.«
Die Grünen
Born in California
Seit 2011 ist er also endlich unter Dach und Fach – der Ausstieg aus der
Atomenergie. Und auch sonst zeigt sich Deutschland zunehmend
umweltbewegt: Bioläden boomen, Autohersteller unterbieten sich mit
Verbrauchswerten, und selbst gemachter Solarstrom elektrisiert immer mehr
Hausbesitzer – was sich im politischen Farbenspektrum nachhaltig
niederschlägt. Seit Jahren ist Grün auf dem Vormarsch – mit inzwischen fast
durchweg zweistelligen Prozentwerten bei allen Stimmzettelauszählungen bis hin
zur Bundestagswahl. »Staunend nahmen die Nachbarn den fast religiösen Eifer
wahr, der die deutsche Ökologiebewegung von Beginn an beseelte«, schrieb der
Dortmunder Statistikprofessor Walter Krämer.[17]
Ist das nun typisch deutsch? Sind wir ein Volk von ökologisch denkenden
Visionären, Mahnern und Machern? Womöglich gar Musterknaben, die dem
Rest der Welt zeigen müssen, wo es in Zukunft langgeht?
Ja und nein. Tatsache ist: Wir lernen von anderen, ebenso wie andere von uns.
Deutsche Umwelttechnik mag heute Spitze sein, aber bei genauerer Betrachtung
sind wir in mancherlei Hinsicht erst ziemlich spät in die Gänge gekommen.
Weder das Elektroauto noch die Abgasreinigung noch Solar-, Wasser- und
Windenergie wurden in deutschen Landen erfunden oder erstmals eingesetzt.
Bei der Ausweisung von Naturschutzgebieten und Nationalparks rangieren wir
noch immer unter »ferner liefen«, und auch die Grünen sind keineswegs nur ein
deutsches Phänomen. Tatsächlich gibt es politische Organisationen, die sich den
Umweltschutz auf ihre Fahnen geschrieben haben, schon seit (sage und
schreibe!) über hundertzwanzig Jahren.
Dabei hält die Geschichte einiges an Überraschungen bereit. Welches Land zum
Beispiel darf sich der ältesten »grünen« Bewegung überhaupt rühmen, sozusagen
der Mutter aller Umweltorganisationen? Es sind ausgerechnet die USA – der
vermeintlich böse Bube, auf den alle Welt wegen seiner spritfressenden
Monstertruck-Spielzeuge mit dem Finger zeigt. Am 28. Mai 1892 entstand in San
Francisco der Sierra Club, gegründet von dem Universalgelehrten John Muir
(1838 – 1914) im Verbund mit mehreren Universitätsprofessoren. Der in
Schottland geborene Muir gilt als Wegbereiter der amerikanischen
Nationalpark-Idee (auch wenn es mit Yellowstone den ersten Nationalpark
bereits gab) und nahm schon damals viele Grundgedanken der heutigen
Umweltbewegung vorweg – wie das Bewahren der Schöpfung und die
gegenseitige Abhängigkeit von Mensch und Natur.
Mit diesen Ideen ist der Sierra Club nachhaltig erfolgreich geblieben: In den
Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts schafften es seine Mitglieder unter
anderem, ein gigantisches Staudammprojekt in den Canyonlands von Utah zu
verhindern – und das zu einer Zeit, als technischer Fortschritt meist noch
kritiklos bejubelt wurde und Umweltschutz in den Medien allenfalls eine
Nebenrolle spielte. Seit den Sechzigerjahren macht sich der Club auch für die
Einführung von Umweltstandards in der US-Gesetzgebung stark.
Vor solchem Hintergrund erstaunt es nicht, dass der Begriff environment in den
USA schon im 19. Jahrhundert aufkam, während das entsprechende deutsche
Wort Umwelt erst 17 Jahre nach Gründung des Sierra Club eingeführt und
definiert wurde. 1909 verwendete es der deutsch-estnische Biologe und
Philosoph Jakob Johann von Uexküll (1864 – 1944) erstmals in seinem Buch
Umwelt und Innenwelt der Tiere. Dessen Grundgedanke bestand darin, dass
Menschen nur mit der Natur, aber nicht gegen sie leben und überleben können.
Von Uexküll stellte damit wegweisende ökologische Thesen auf und gilt
allgemein als Begründer des europäischen Umweltschutzgedankens.
Wenig später hatten erneut die USA die Nase vorn: Am 28. Dezember 1915
gründete der Botanikprofessor Henry Chandler Cowles (1869 – 1939) in
Columbus (Ohio) die Ecological Society of America (»Ökologische Gesellschaft
von Amerika«), kurz ESA. Dieser Zusammenschluss von Wissenschaftlern
engagiert sich bis heute weltweit in Politik, Forschung und Bildung für die
Belange des Umweltschutzes.
Innerhalb der ESA entstand 1917 der Vorläufer einer weiteren bedeutenden
Naturschutzorganisation, das Committee for the Preservation of Natural
Conditions (»Komitee für die Bewahrung der natürlichen Gegebenheiten«) –
eine Gruppe von Umweltaktivisten unter der Führung des Zoologen Victor
Shelford (1877 – 1968). Daraus wiederum wurde 1946 die Ecologists’ Union und
1951 die Organisation The Nature Conservancy. Letztere engagiert sich vor allem
für den Erhalt der natürlichen Artenvielfalt und hat damit enormen Zulauf
gefunden: The Nature Conservancy umfasst heute über eine Million Mitglieder
und ist in dreißig Ländern der Erde aktiv. Gemeinsam mit dem Sierra Club und
der 1987 gegründeten Organisation Conservation International gehört sie zu den
drei größten Umweltverbänden der USA.
Der nächste Punkt geht an Frankreich: Am 5. Oktober 1948 wurde in
Fontainebleau bei Paris eine weitere bedeutende Nichtregierungsorganisation
gegründet – die International Union for the Protection of Nature (»Internationale
Union für den Schutz der Natur«), kurz IUPN. Ihr Ziel ist es, weltweit das
Bewusstsein für den Natur- und Artenschutz sowie für die nachhaltige und
schonende Nutzung von Ressourcen zu schärfen. Um diese weit gefasste
Definition besser deutlich zu machen, änderte die IUPN ihren Namen 1956 in
International Union for Conservation of Nature and Natural Resources
(»Internationale Union für den Erhalt der Natur und der natürlichen
Ressourcen«), kurz IUCN. Der Hauptsitz der Organisation befindet sich heute
im schweizerischen Gland nahe dem Genfer See, außerdem unterhält sie
Niederlassungen in 62 Ländern.
Mitinitiator der IUCN war der Londoner Biologe und Schriftsteller Sir Julian
Huxley (1887 – 1975), der auch zu den Gründungsvätern der UNESCO gehört
und von 1946 bis 1948 als deren erster Generalsekretär wirkte. Seinem
Engagement ist noch eine zweite prominente Umweltorganisation zu verdanken,
der World Wide Fund for Nature (WWF) – gegründet 1961 unter dem Namen
World Wildlife Fund. Dessen Aufgaben bestehen laut Gründungsurkunde im
»Schutz von Tieren, Pflanzen, Wäldern, Landschaft, Wasser, Boden und allen
natürlichen Ressourcen«.
Der Hintergrund: 1960 reiste Huxley nach Ostafrika, um ein
Wildtierschutzprojekt der UNESCO zu betreuen. Was er dort antraf, nämlich die
hemmungslose Jagd auf wilde Tiere und die Vernichtung natürlicher Biotope,
entsetzte ihn zutiefst. So schrieb er nach seiner Rückkehr nach London drei
flammende Artikel für den Observer, in denen er davor warnte, dass viele
Tierarten innerhalb der nächsten zwanzig Jahre verschwunden sein könnten,
wenn nicht schnellstens gegengesteuert würde. Mit seinem Appell fand Huxley
große Aufmerksamkeit und gewann wichtige Mitstreiter – wie den
Geschäftsmann Victor Stolan und den Ornithologen Max Nicholson –, die
schließlich gemeinsam eine internationale Organisation zum Schutz der Natur
auf die Beine stellten. Sein Hauptquartier bezog der WWF in der
schweizerischen Kleinstadt Morges am Nordufer des Genfer Sees, wo damals
bereits der IUCN seinen Sitz hatte. Als werbewirksames Markenzeichen entwarf
Gründungsmitglied und Hobbymaler Peter Scott ein Abbild des berühmten
Pandabären Chi-Chi im Londoner Zoo – es dürfte heute eines der bekanntesten
Logos der Welt sein. So gilt der WWF, gleichauf mit der 1971 gegründeten
Bewegung Greenpeace, als eines der Synonyme für Naturschutz schlechthin,
auch wenn beide immer wieder im Kreuzfeuer der Kritik stehen (der Journalist
Wilfried Huismann etwa nannte den WWF 2012 aufgrund seiner Nähe zur
Agrarindustrie eine »schizophrene Organisation«).[18]
Was tat sich während all dieser Jahre in Deutschland? Noch immer praktisch
nichts. Das änderte sich erst in den Siebzigerjahren, als eine wahre
Gründungswelle grüner Bewegungen den Planeten überrollte. Die zunehmende
Verschmutzung von Luft und Wasser ließ damals in ganz Europa, aber auch auf
anderen Kontinenten das Bewusstsein für den Schutz von Umwelt und Klima
wachsen. So entstanden zahlreiche Gruppen, Komitees und Vereine, die sich teils
mit spektakulären Aktionen für diese Belange einsetzten. Eine der ersten war die
von US-amerikanischen und kanadischen Atomkraftgegnern und Pazifisten am
15. September 1971 in Kanada gegründete Aktivistengruppe Don’t Make a Wave
Committee, die sich ursprünglich gegen einen geplanten unterirdischen
Atombombentest auf der zu Alaska gehörenden Insel Amchitka richtete. Der
Name der Aktion, mit der das geschehen sollte: Greenpeace.
Im Jahr 1971 charterten die Mitglieder des Komitees einen Fischkutter, um
damit in das vorgesehene Testgebiet zu fahren. Zwar fing die US-Küstenwache
ihr Schiff kurz vor dem Ziel ab, doch immerhin fand das Abenteuer so viel
Medienresonanz, dass der Atombombentest zunächst verschoben und dann ganz
abgeblasen wurde. Ein Jahr später mündete die Aktion dann in die Gründung
der Umweltstiftung Greenpeace, die heute weltweit vierzig Büros betreibt und
mehr als drei Millionen Fördermitglieder hat.
Und nun endlich: Vorhang auf für die grünen Parteien! Die weltweit erste
Umweltbewegung mit dem Status einer politischen Partei sind allerdings nicht
die deutschen Grünen – es ist eine Gruppe von Schweizern: Im Dezember 1971
treten aus Protest gegen eine geplante Autobahn quer durch das Stadtgebiet von
Neuchâtel mehrere Politiker aus ihren bisherigen Parteien aus und schließen sich
zum Mouvement populaire pour l’environnement (»Volksbewegung für die
Umwelt«), kurz MPE, zusammen. Im Mai 1972 beteiligt sich das MPE an den
Schweizer Gemeinderatswahlen, erringt auf Anhieb 17,8 Prozent der Stimmen
und stellt mit acht von 41 Sitzen die drittstärkste Fraktion – ein sensationelles
Ergebnis, das die späteren deutschen Grünen erst Jahrzehnte später übertreffen.
1979 gibt es im Schweizer Nationalrat eine weitere Weltpremiere: Mit Daniel
Brélaz, dem heutigen Stadtpräsidenten von Lausanne, zieht zum ersten Mal ein
grüner Politiker in ein nationales Parlament ein.
Am 23. März 1972 formiert sich auf der anderen Seite des Globus eine weitere
grüne Partei auf regionaler Basis – die United Tasmania Group (UTG) in
Australien. Einen Monat später folgt die Values Party in Wellington
(Neuseeland) als erste national organisierte grüne Partei der Welt. Sie beteiligt
sich an fünf nationalen Parlamentswahlen (1972, 1975 und 1978) und bekommt
immerhin bis zu 5,2 Prozent der Wählerstimmen; aufgrund des geltenden
Wahlrechts erringt sie allerdings keinen Sitz im Parlament. Die Enttäuschung
darüber führt schließlich zur Aufspaltung der Partei. 1990 erlebt die Values Party
jedoch im Verbund mit anderen Umweltorganisationen eine Renaissance und
schafft es endlich auch, eine Reihe von Sitzen zu gewinnen.
In Europa wird die erste grüne Partei auf nationaler Ebene 1973 im englischen
Coventry ins Leben gerufen. Ihre Gründer, das Rechtsanwaltsehepaar Tony und
Lesley Whittaker sowie verschiedene Mitstreiter, nennen sie schlicht und einfach
PEOPLE. Im Parteiprogramm berufen sie sich auf den Club of Rome – eine
internationale Gruppe von Wissenschaftlern, die ein Jahr zuvor die berühmte
Studie »Grenzen des Wachstums« vorlegt hatte. Nach diversen Flügelkämpfen
benennt sich PEOPLE zwei Jahre später in Ecology Party um, 1985 dann in Green
Party, um die Geistesverwandtschaft mit anderen europäischen Umweltparteien
herauszustellen. Zum größten Erfolg wird die Wahl zum Europaparlament 1989,
bei der die Green Party 15 Prozent der Stimmen erringt.
Erst 1978 entsteht auch in Deutschland die erste Umweltpartei. Ihr Name:
Grüne Aktion Zukunft (GAZ). Initiator ist der CDU-Politiker Herbert Gruhl,
Abgeordneter des Bundestages und umweltpolitischer Sprecher seiner Fraktion.
Aus Unzufriedenheit über die Umweltpolitik der CDU verlässt er am 12. Juli die
Partei und verschreibt sich mit seiner Neugründung konsequent dem
Umweltschutzgedanken. Im Rahmen einer Gemeinschaftsliste – zu der auch die
spätere Grünen-Sprecherin Petra Kelly gehört – beteiligt sich die GAZ im
Folgejahr an der Europawahl und kommt auf 3,2 Prozent der Stimmen.
Aus der Keimzelle der GAZ (die sich jedoch bald abspaltet) und ergänzt um
diverse andere Umweltgruppierungen sowie linke und alternative
Wahlbündnisse gehen am 12. Januar 1980 in Karlsruhe schließlich Die Grünen
hervor – als westdeutsche Ausgangsbasis der heutigen gesamtdeutschen Partei
Bündnis 90 / Die Grünen. Wie jeder weiß, hat dieser im Grunde sehr bunte
Haufen seitdem eine beispiellose Erfolgsgeschichte geschrieben – ein schöner
Beleg dafür, wie gelassen und selbstverständlich wir heute mit der Buntheit
umgehen können: Wenn an Deutschland etwas international und multikulturell
ist – von den Ursprüngen und Ideen wie von den Mitgliedern her –, dann
sicherlich Die Grünen!
[17] Walter Krämer: Die Angst der Woche. Warum wir uns vor den falschen
Dingen fürchten, München 2011.
[18] Quelle: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 3.6.2012.
Kartoffeln
Die Schönen vom Titicacasee
Kindermund tut Wahrheit kund. Glaubt man dem Sprichwort, dann gehören
Kartoffeln nicht nur zu den deutschesten aller Nahrungsmittel, sondern belegen
auch insgesamt einen Spitzenrang unter den identitätsstiftenden Merkmalen
unserer Nation. Eine Umfrage der Zeitschrift Eltern Family aus dem Jahr 2007
legt diesen Schluss jedenfalls nahe. 19 Prozent der befragten Kinder und
Jugendlichen votierten hier für die Kartoffel als etwas typisch Deutsches. Das
bedeutet den vierten Platz hinter Bier, Wurst und Sauerkraut – was auch aus
ausländischer Sicht scheinbar ins Schwarze trifft. Der BBC-Korrespondent
Stephen Evans bestätigte nach einem Berliner Gastmahl naserümpfend:
»Deutsche sind wirklich genügsam. Sie lieben gekochte Kartoffeln.«[19]
Die Deutschen und ihre meistgefutterte Knolle – ein uraltes, inniges
Liebesverhältnis? Und so typisch, dass man uns statt »Krauts« genauso gut
»Kartoffels« nennen könnte?
Dass es nicht so ist, zeigt eigentlich schon der weltumspannende Massenverzehr
gelber Stäbchen bei McDonald’s und Konsorten. Werfen wir also einen Blick in
die Geschichte und über den Tellerrand, um den wahren Verhältnissen auf die
Spur zu kommen.
Tatsächlich hatte die Kartoffel in Deutschland (wie auch im übrigen Europa)
noch vor wenigen Jahrhunderten einen denkbar miserablen Ruf. Sie galt als giftig
und teuflisch, als Schweinefraß und später als Arme-Leute-Essen, das man
allenfalls zu sich nahm, wenn das Geld partout für nichts Besseres reichte. Erst
im Verlauf des 19. Jahrhunderts begann sie klassenübergreifend akzeptiert zu
werden und damit Eingang in die deutsche Lebensart zu finden.
Bekanntlich ist die Kartoffel auch alles andere als eine Deutsche, sondern eine
geborene Südamerikanerin. Das erste Land der Alten Welt, das mit ihr
Bekanntschaft machte, war folglich Spanien, das Land der Konquistadoren –
genauer gesagt, die Kanarischen Inseln.
In diesem Zusammenhang gilt es zunächst eine historische Begriffsverwirrung
zu klären: Der erste Europäer, der je Kartoffeln sah und aß, war mit einiger
Sicherheit Kolumbus. Dabei handelte es sich jedoch um Süßkartoffeln (Ipomoea
batatas), die mit der uns vertrauten Knolle (Solanum tuberosum) nur sehr
entfernt verwandt sind und auch eine andere geografische Herkunft haben.
Kolumbus begegnete diesen Früchten erstmals auf der – von ihm Hispaniola
getauften – Karibikinsel Aytí. In seinem Tagebucheintrag vom 4. November
1492 schreibt er:
»Am Abend lehren uns die Eingeborenen die Zubereitung eines
unscheinbaren Knollengewächses, an dem wir bisher achtlos vorbeigingen. Ich
werde einige dieser seltsamen Äpfel, die wie Kastanien schmecken und von
den Indianern Batate genannt werden, nach Europa mitnehmen.«
Batate, patata oder auch papa: Irgendwann übertrug sich dieser Name auf die
viel später entdeckte Andenkartoffel, die schließlich die Welt eroberte. So heißt
diese im lateinamerikanischen Spanisch noch immer papa, in der spanischen
Schriftsprache und im Italienischen patata und im Englischen potatoe.
Unser heutiges deutsches Wort »Kartoffel« geht ebenfalls auf eine
Verwechslung zurück – es ist abgeleitet vom Lateinischen terrae tuber
(»Erdknolle«), das eigentlich für Trüffeln steht. Klingt unwahrscheinlich? Nicht,
wenn man die verschiedenen Entwicklungsstadien des Wortes betrachtet. In
einer späteren Dialektform wurde daraus terrae tufer, dann tartufo und
schließlich die italienische Verkleinerungsform tartufolo (so viel wie
»Trüffelchen«). Diese wiederum wurde im 18. Jahrhundert eingedeutscht zu
Tartüffel, und siehe da: Schon haben wir den direkten Vorläufer des heutigen
Wortes »Kartoffel«.
Die Geschichte der Namensgebung ist jedoch nur ein historischer
Wimpernschlag gegen den Werdegang der Kartoffel selbst: In ihrer Urheimat
Südamerika, rund um die Ufer des Titicacasees im Andenhochland, wurden
frühe Formen wahrscheinlich schon vor über zehntausend Jahren kultiviert. Vor
gut siebentausend Jahren entstand daraus in etwa die Knolle, wie wir sie heute
kennen – eine unentbehrliche Nahrungsgrundlage für die vorspanischen
Kulturen. Denn der in Amerika ansonsten weit verbreitete Mais verträgt keinen
Frost, hat also in solchen Höhen (der Titicacasee liegt 3810 m über dem
Meeresspiegel) kaum eine Chance. So verbreitete sich die Kartoffel dank ihrer
Widerstandsfähigkeit über große Teile des Kontinents: Bei Ankunft der
spanischen Eroberer erstreckte sich ihr Anbaugebiet vom Westen des heutigen
Venezuela bis ins südliche Chile.
Der erste historisch gesicherte Kontakt der Kartoffel mit einem Europäer fand
1537 statt, wie spätere Aufzeichnungen verbürgen. Er war vermutlich etwas
enttäuschend – denn der Konquistador Gonzalo Jiménez de Quesada hatte mit
seiner Expedition im heutigen Kolumbien eigentlich das sagenumwobene
Goldland El Dorado aufspüren wollen. 18 Jahre später findet sich dann eine
Beschreibung der Knolle aus erster Hand: Francisco López de Gómara, Sekretär
des Eroberers Hernán Cortés, liefert sie in seinem Buch Historia general de las
Indias.
Auch ab diesem Zeitpunkt dauerte es noch ziemlich lange, bis die ersten
Kartoffeln in der Alten Welt auftauchten. Ihre Ankunft auf den Kanarischen
Inseln fand wahrscheinlich zwischen 1560 und 1570 statt, also erst Jahrzehnte
nach Kolumbus’ Bekanntschaft mit der batate. Welcher der zahlreichen
spanischen Seefahrer sie über den Atlantik brachte, lässt sich heute nicht mehr
sagen. Wenig später jedenfalls hatte die Kartoffel auch das spanische Festland
erreicht. Der erste Hinweis findet sich 1573 im Hospital de la Sangre in Sevilla,
wo für die Patienten papas zubereitet wurden.
Von nun an geht alles vergleichsweise schnell: Um 1590 gelangt die Kartoffel
auf die Britischen Inseln und nach Irland. Erstmals erwähnt und abgebildet wird
sie dort 1597 von dem Botaniker John Gerard in seinem Hauptwerk The Herball
or Generall Historie of Plantes. 1601 findet sich eine weitere Abbildung in dem
Buch Rariorum plantarum historia (»Geschichte seltenerer Pflanzen«) des
niederländischen Arztes und Botanikers Charles d’Écluse.
Die Erkenntnis, dass man Kartoffeln essen kann, setzt sich allerdings nur sehr
zögerlich durch. Im Wettbewerb gegen die zartvioletten Blüten und das üppige
Laub haben die unansehnlichen Wurzelknollen einfach einen schweren Stand.
So verwendet man die Kartoffel jahrzehntelang vorwiegend als exotische
Zierpflanze, zum Beispiel in botanischen Gärten. »Friedrich Wilhelm von
Brandenburg, der Große Kurfürst, etwa lässt sie 1664 in den Gärten seines
Berliner Schlosses Monbijou pflanzen, der polnische König Jan III. Sobieski
erfreut sich in seinem Palastgarten an ihnen, und die französische Königin Marie
Antoinette soll die Blüten im 18. Jahrhundert sogar als Haarschmuck getragen
haben.
Was dem Verzehr im Wege steht, sind auch botanische Unzulänglichkeiten:
Die Knollen der ursprünglich importierten Kartoffeln sind klein und haben
wenig Geschmack, denn als Nachtschattengewächs braucht die Kartoffel relativ
lange Nächte. An denen fehlt es im europäischen Sommer, und so reift unter der
Erde nichts wirklich Appetitliches heran. Stattdessen verzehrt man aus
Unwissenheit häufig die giftigen, tomatenähnlichen oberirdischen Früchte – was
in der Regel heftige Magen- und Darmbeschwerden auslöst und den Ruf der
Knollen weiter untergräbt. Die Kirche schmäht die Kartoffel sogar als
»Teufelswurzel«, weil sie in der Bibel nicht vorkommt.
Erst nach und nach erkennt man den Nährwert der Knollen und beginnt, den
europäischen Gegebenheiten angepasste Kartoffelsorten zu züchten.
Hauptanbaugebiete sind zunächst Irland und England. Für einen ersten Boom in
Deutschland sorgt dann König Friedrich II. von Preußen: Er erkennt die
Kartoffel mit ihrem hohen Nährwert als Chance, sein Volk satt zu bekommen
und Hungersnöte schon im Ansatz zu bekämpfen. Am 24. März 1756 erlässt er
seinen legendären »Kartoffelbefehl«: »Wo nur ein leerer Platz zu finden ist, soll
die Kartoffel angebaut werden, da diese Frucht nicht allein sehr nützlich zu
gebrauchen, sondern auch dergestalt ergiebig ist, daß die darauf verwendete
Mühe sehr gut belohnt wird.«
Der Appell des »Alten Fritz« fruchtet im wahrsten Sinne des Wortes. Allem
anfänglichen Widerwillen zum Trotz lassen sich die preußischen Bauern
breitschlagen, großflächig Kartoffeläcker anzulegen. Zu Beginn des 19.
Jahrhunderts hat sich die neue Nahrungsgrundlage bereits so weit durchgesetzt,
dass ein Drittel der Landbevölkerung von nichts anderem mehr lebt. Mit dem
Ende der Napoleonischen Kriege 1815 hat sie sich dann europaweit endgültig
den Status eines Grundnahrungsmittels erobert, und heute ist die Kartoffel so
global verbreitet wie kaum ein anderes Grundnahrungsmittel. In über 130
Ländern werden Kartoffeln angebaut; mehr als eine Milliarde Menschen essen
sie – das bedeutet nach Reis und Weizen den dritten Platz unter den
Nahrungslieferanten der Welt. Das Land mit der höchsten Kartoffelproduktion
der Welt ist übrigens China, und in unseren heimischen Supermärkten findet
man unter anderem Kartoffeln aus Ägypten, von den Kanarischen Inseln, aus
Sizilien und Madeira.
So stammen die international meistverbreiteten und beliebtesten
Kartoffelspezialitäten auch keineswegs aus Deutschland. Bei den Pommes frites
streiten sich Belgier und Franzosen um die Urheberschaft ( »Currywurst«); die
Kartoffelchips wurden wahrscheinlich 1853 in den USA unter der Bezeichnung
Saratoga Chips erfunden.
Internationaler geht’s also kaum. Typisch deutsch dürfte eher der
Erfindungsreichtum sein, mit dem wir der Kartoffel auf die Pelle rücken und sie
zu Reibekuchen, Bratkartoffeln, Kartoffelknödeln oder Suppe verarbeiten – um
nur einige der zahlreichen Varianten zu nennen. Was die Vielfalt ihrer
Zubereitungsarten betrifft, stehen wir also mit Sicherheit ganz weit oben auf der
Weltrangliste. Und das ist ja schließlich auch etwas.
[19] BBC News Magazine vom 18.11.2012.
Lindenstraße
With a little help from Mr. Warren
»Second life« auf dem Fernsehschirm, und das in hochkonzentrierter Form: Seit
dem 8. Dezember 1985 können TV-Zuschauer im Ersten allwöchentlich ein
Abziehbild des deutschen Alltags verfolgen, in dem so ziemlich alles vorkommt,
was unsere Gesellschaft beschäftigt und prägt. Ob familiäre oder soziale
Probleme, ob Liebeskummer oder politische Konflikte, ob Megatrends oder die
Schlagzeilen der Woche – die Lindenstraße saugt das ganze pralle
Menschenleben in ihre kleine Welt ein und sorgt damit wie ein Perpetuum
mobile für immerwährende Aktualität.
Die Energie scheint der Serie tatsächlich nie auszugehen: Mit inzwischen mehr
als 1400 ausgestrahlten Folgen ist sie fast zu einer nationalen Institution
geworden, zumindest genießt sie bei ihren Fans Kultstatus unter den
wöchentlichen TV-Ereignissen. Keine andere deutsche Soap Opera kommt auch
nur annähernd auf ein so langes Leben.
Auf den ersten Blick ist die Lindenstraße auch ein sehr deutsches Phänomen.
Gedreht wird in Köln, fiktiver Schauplatz ist München, und als Erfinder der Serie
gilt der aus Augsburg stammende Regisseur Hans Wilhelm Geißendörfer, der sie
bis heute produziert. Wohl nicht ganz zufällig wählte er die Linde als
Namensgeberin – einen Baum, der mit deutschem Wesen und deutscher Kultur
verwoben ist wie kaum ein zweiter ( »Deutsche Eiche«). Von daher weckt die
allsonntägliche halbe Stunde mit der Lindenstraße durch und durch heimatliche
Gefühle.
Allein, auch hier haben wir es uns mit einem Import gemütlich gemacht. Ideen
und Konzept der Serie stammen nämlich nicht aus Deutschland. Vielmehr
übernahm Geißendörfer den Plot von einem britischen Vorbild, das beim
Starttermin seiner deutschen Coverversion schon auf eine erkleckliche Zahl von
Jahren zurückblicken konnte. Dessen geistiger Vater wiederum ist der
Schauspieler und Drehbuchautor Anthony McVay Simpson (besser bekannt
unter seinem Künstlernamen Tony Warren). 1959 begann Warren mit den
Arbeiten zu einer Serie, die er ursprünglich Florizel Street nannte und die
inzwischen seit über einem halben Jahrhundert Fernsehgeschichte schreibt:
Coronation Street (»Krönungsstraße«).
Dabei schien ursprünglich alles auf einen Flop hinauszulaufen. Die Produzentin
Olive Shapley erinnert sich, wie Warren ihr spät abends auf einer gemeinsamen
Zugfahrt vorschlug, statt Mörder, Detektive und Geheimagenten mal den ganz
normalen Alltag ganz normaler Leute in einer ganz normalen Straße zu zeigen.
Shapleys ebenso spontane Reaktion: »Ach Tony, wie langweilig! Leg dich wieder
schlafen.«
Warren ließ sich von dieser Einzelmeinung jedoch nicht entmutigen, und so
erlebte die Coronation Street am 9. Dezember 1960 im Fernsehsender ITV ihre
Premiere. Anfänglich schien Olive Shapley recht zu behalten – die ersten Folgen
lockten nur wenige Zuschauer hinter dem Ofen hervor, sodass der Serie ein
schnelles Ende vorhergesagt wurde. Aber wie das mit Unkenrufen so ist – häufig
werden sie eben doch von der Realität übertönt. Tatsächlich hat es Coronation
Street von der Erstausstrahlung bis heute auf weit über 8000 Folgen gebracht.
Damit ist sie die langlebigste noch existierende TV-Soap aller Zeiten – mehr
Episoden verzeichnet bis heute nur die US-Serie Guiding Light, die von 1952 bis
2009 ausgestrahlt wurde.
In Aufbau und Inhalt gleichen sich Coronation Street und Lindenstraße wie ein
deutsches Ei einem britischen. Hier wie dort erzählen die Folgen vom Alltag und
Familienleben der handelnden Personen, bauen gesellschaftliche Konflikte und
politische Entwicklungen in die Handlung ein und liefern damit ein Spiegelbild
der aktuellen Wirklichkeit. Protagonisten sind jeweils die Einwohner eines eng
umgrenzten fiktiven Stadtviertels – wobei dieses im Gegensatz zur Lindenstraße
bei den Briten auch in einer fiktiven Stadt liegt, die man auf den Namen
Weatherfield taufte. Das Vorbild für die TV-Kulisse wiederum lieferte die real
existierende Coronation Street, eine typisch englische Reihenhausstraße in einem
Arbeiterviertel von Salford (Greater Manchester). Die echte Lindenstraße im
Münchner Stadtteil Harlaching – ja, die gibt’s auch! – sieht dagegen völlig anders
aus als ihre Namensvetterin in der TV-Serie.
Ansonsten ist beim britischen Original alles ein paar Nummern größer als bei
der Lindenstraße: Während diese nur einmal pro Woche läuft, strahlte ITV von
Anfang an zwei Folgen aus – anfangs noch in Schwarz-Weiß, seit 1969 in Farbe
und seit März 2010 in HDTV. 1989 wurde die Zahl der wöchentlichen Folgen
auf drei aufgestockt, 2009 sogar auf fünf.
Man könnte annehmen, dass die britischen Fernsehzuschauer einen solchen
Serien-Overkill irgendwann satt gehabt hätten. Aber weit gefehlt: Coronation
Street läuft und läuft und läuft, bei inzwischen zwar abgeebbter, aber noch
immer enormer Beliebtheit. Am 27. Juli 1981 beispielsweise, als zwei der
Seriendarsteller im Rahmen der Handlung heirateten, saßen über 24 Millionen
Menschen vor den Geräten – mehr als bei der realen Hochzeit von Prinz Charles
und Diana Spencer zwei Tage später. Den absoluten Rekord hält bis heute die
Weihnachtsfolge von 1987 mit 27 Millionen Zuschauern. Das entspricht fast 48
Prozent der damaligen Gesamteinwohnerzahl des Vereinigten Königreichs, vom
Säugling bis zum Greis.
Gegen solche Traumwerte sieht die Lindenstraße eher alt aus, obwohl sie 25
Jahre jünger ist. Vom Start weg litt sie an Zuschauerschwund, und dieser
Negativtrend ist bis heute ungebrochen. Erreichte die Serie in den ersten drei
Jahren noch zwischen 10 und 13 Millionen Zuschauer, so sank deren Zahl ab
Ende der Achtzigerjahre kontinuierlich um rund eine halbe Million pro Jahr. In
den Neunzigern musste man sich bereits dauerhaft mit einstelligen
Millionenziffern begnügen; nach dem Jahrtausendwechsel rutschte die
durchschnittliche Zuschauerzahl dann auf unter fünf Millionen. Aktuell kommt
die Lindenstraße auf rund drei Millionen Zuschauer pro Folge. Das liegt bereits
unter dem Durchschnittswert aller Sendungen des WDR – von einem
Quotenrenner kann also längst keine Rede mehr sein.
Coronation Street dagegen hält sich noch immer wacker im achtstelligen
Bereich. Und das trotz gewichtiger Konkurrenz im eigenen Land: Am 19.
Februar 1985 – also ebenfalls noch vor dem Sendebeginn der Lindenstraße –
startete BBC One eine vergleichbare Soap, die Serie EastEnders, die im fiktiven
Londoner Stadtviertel Walford spielt. Schon ein Jahr darauf war Coronation
Street auf Platz zwei verwiesen, und im Lauf der Zeit gelang es EastEnders, die
Konkurrentin auch auf Dauer zu überflügeln. Zusammengenommen erreichen
beide Serien heute im Durchschnitt über 20 Millionen Zuschauer pro Folge.
Man sieht: Anscheinend haben es die Briten deutlich mehr mit Stadtviertel-
Serien als wir Deutsche. Vielleicht denken wir auf dem Kontinent inzwischen
doch zu europäisch, als dass uns eine Familie Beimer und ihre kleinbürgerliche
Nachbarschaft noch vom Hocker reißen könnten. Jedenfalls munkelt man, dass
die Lindenstraße in den nächsten zwei bis drei Jahren endgültig eingestellt
werden soll. Aber ein Trost bleibt uns allemal: Das reale Leben geht weiter.
Marschmusik
Einführung aus dem Serail
Peng, klatsch, rumms, tatütata: Was lautmalerische Bildungen betrifft, quillt der
deutsche Sprachschatz förmlich über, und er wird ständig um weitere Perlen
bereichert – von Perdatsch oder Klickeradomms (Wilhelm Busch) über Spotz
oder Britzel (Erika Fuchs) bis hin zu Glorz oder Kaschumpf (Rötger Feldmann
alias »Brösel«).
Aber welche von all diesen Schöpfungen kann es an krachender
Volkstümlichkeit mit Tschingderassabum und Schnedderengteng aufnehmen?
Und welche sonst klingen so urdeutsch? Die beiden Wortungetüme genießen
eine solche Popularität, dass sie selbst der Gralshüter unserer Sprache, Der große
Duden, in seinen festen Bestand aufgenommen hat. 1963 gelang es allerdings
dem Mainzer Karnevalskomponisten Toni Hämmerle, mit der Variante Humba
Täterä noch eins draufzusetzen – während es Brösels Umpftrötelradiruu[20]
bislang nicht in die Umgangssprache geschafft hat. Auch Loriots legendäres
Tata-uff, tata-uff wird in der Regel nur im Zusammenhang mit dem Sketch
zitiert, aus dem es stammt: »Weihnachten bei Hoppenstedts«.
Doch immerhin: Allein diese Vielfalt lässt schon ahnen, dass die Marschmusik
in uns Deutschen quasi genetisch angelegt sein muss. Klingendes Spiel, Preußens
Gloria, Großer Zapfenstreich und überhaupt, das Marschieren! Schon in
frühester Kindheit wird es uns doch förmlich eingebläut: »Marsch, ab in die
Heia!«
Hier ist nun allerdings dasselbe einzuwenden wie bei den Kindheitsbegriffen
Mama und Papa: Das Wort »Marsch« hat gar keine deutschen Wurzeln, sondern
wurde erst während des Dreißigjährigen Krieges vom gleichlautenden
französischen marche entlehnt. Ausgerechnet der so zackig-deutsch klingende
Befehl »Marsch!« ist also ein welscher Import.
Aber auch an Humba Täterä, Schnedderengteng und Tschingderassabum findet
sich bei genauerer Betrachtung nicht viel originär Deutsches: Schnedderengteng
oder Täterä beschreiben das für Marschmusik typische Trompetengeschmetter –
und die Trompete wurde natürlich nicht in Deutschland erfunden, sondern ihre
Geschichte reicht mindestens dreieinhalbtausend Jahre zurück bis ins alte
Ägypten. Tschingderassabum beginnt zufällig, aber durchaus passend mit einer
chinesisch klingenden Silbe. Tsching steht für die Zimbel oder das Becken – ein
uraltes asiatisches Schlaginstrument, das von China aus über die Türkei erst im
17. Jahrhundert den Weg nach Westeuropa fand. Das Rassa wiederum bezieht
sich auf das Rasseln der Kleinen Trommel (in der Jazz- und Rockmusik später
mittels Spiralteppich verstärkt), das Bum oder Humba auf den dumpfen Ton der
Großen Trommel oder Basstrommel. Beide Instrumente haben ihren Ursprung
ebenfalls im alten Orient. Allerdings scheint das Trommeln dem Menschen
ohnehin in die Wiege gelegt zu sein: Selbst Primaten bearbeiten mit den Händen
rhythmisch Gegenstände oder den eigenen Brustkorb, um ihren Machtanspruch
innerhalb der Sippe zu betonen.
Und die Marschmusik selber? Auch da dürfen wir weit in die Antike
zurückblicken – vergleichbare Rhythmen sind schon um 1600 v. Chr. für das
ägyptische und ab 500 v. Chr. für das römische Heer belegt. Was nicht
verwundert, denn der Marsch leitet sich vom gleichmäßigen Stapfen Hunderter
oder Tausender Füße ab, wie es Heereszügen eben seit Urzeiten zu eigen ist.
Schlaginstrumente, wie wir sie heute kennen, fanden gleichwohl relativ spät
ihren Weg nach Mitteleuropa. Erst während der Kreuzzüge ab dem 11.
Jahrhundert entdeckten christliche Heere die Feldmusik der Sarazenen und mit
ihr die zweifellige Zylindertrommel und die Militärpauke – so gelangte das
»Rassabum« in den Klangkörper abendländischer Kapellen.
Zu einem großen Teil hat unsere heutige Marschtradition auch türkische
Wurzeln. Ab dem frühen 18. Jahrhundert wurde es in europäischen Armeen
Mode, die Musik der Janitscharen nachzuahmen – einer Elitetruppe, die im
Osmanischen Reich unter anderem die Leibgarde des Sultans stellte.
Charakteristisch für deren Stil sind vor allem Schlaginstrumente wie Becken,
Tamburin, Pauke, Trommel, Triangel und Schellenbaum – ganz besonders aber
die Große Trommel (anfangs noch »Türkentrommel« genannt), wie sie heute
aus keiner Marschkapelle mehr wegzudenken ist. Das Ungetüm, das dem »Bum«
erst seine Urgewalt verleiht, wird von alters her vor dem Bauch getragen und mit
Muskelkraft und Schlegeln beidseitig bearbeitet.
Die osmanischen Militärkapellen sind vermutlich die weltweit älteste Form von
Musikgruppen, auf die der Begriff »Marschmusik-Kapelle« im heutigen Sinne
zutrifft. In der Türkei – wo ihre Tradition als Volksfest- und Touristengaudi
noch heute lebendig ist – bezeichnete man sie als mehter bölüğü (so viel wie
»Musikantentruppe«), wobei mehter für die einzelnen Musiker steht. Die ersten
dieser türkischen Spielleute waren vermutlich ein Geschenk des seldschukischen
Sultans Kayqubad III. an den legendären Herrscher Osman I. im 14.
Jahrhundert.
Im Verlauf der Türkenkriege, die sich über rund dreihundert Jahre hinzogen,
gelangte die Musik der mehter bölüğü (heute mit französischem Einschlag
mehter marşı genannt) dann auch in unseren Kulturkreis. Der britische
Musikwissenschaftler Henry George Farmer (1882 – 1965) beschreibt in seinem
1912 erschienenen Buch The rise & development of military music, wie die neue
Welle über Polen und Russland nach ganz Europa hereinschwappte:
»In sehr kurzer Zeit erfasst das Virus der ›türkischen Musik‹ die meisten
europäischen Armeen. Die Gründung von Militärkapellen in Österreich-
Ungarn wird auf das Jahr 1741 datiert, als Freiherr von der Trenck an der
Spitze seiner Truppen in Wien einmarschierte, ihm vorangehend eine
türkische Kapelle. Etwa zur gleichen Zeit findet die Musik ihren Weg ins
französische Corps d’élite, und Marschall de Saxe[21] verwendet sie während
des Krieges von 1741 bei seinen Ulanen … Selbst der mächtige Staatsmann
und General Friedrich der Große fand keine Ruhe, bis er Proben dieser Musik
gehört hatte, und die eindrucksvolle Erscheinung dieser Orientalen … gefiel
ihm so sehr, dass er bei allen Kapellen seiner Regimenter Schlaginstrumente
einführte. Für deren Bedienung engagierte er mit Turbanen bekleidete und
herausgeputzte Schwarze.«
Letztere Idee übernahm der »Alte Fritz« von seinem Vater, Friedrich Wilhelm I.,
der aus einer exotischen Laune heraus als vermutlich erster europäischer
Herrscher afrikanische Militärmusiker beschäftigte.
Afrika, Preußen und die Türkei – welch eine Mischung! Aber sie kam an:
Marschmusik und Türkenmusik waren in Europa zeitweise fast Synonyme (auch
wenn sich die Melodik bei uns weitgehend dem abendländischen Geschmack
anpasste). Tatsächlich trugen preußische und sächsische Militärmusiker bis ins
frühe 19. Jahrhundert die offizielle Bezeichnung »Janitschar«. Auch die
klassische Kunstmusik wurde von den türkischen Klängen in vielfältiger Weise
beeinflusst: Entsprechende Elemente finden sich zum Beispiel in Mozarts Oper
Die Entführung aus dem Serail, in Joseph Haydns Sinfonie Nr. 100
(Militärsinfonie) oder in Beethovens Vertonung der Ode an die Freude im Finale
der 9. Sinfonie.
Seine Blütezeit erlebte der Militärmarsch in der preußischen Glanz- und
Glorienzeit des 18. Jahrhunderts und später während der Befreiungskriege –
weswegen er bis heute vielen als typisch deutsch gilt, wenn nicht gar als typisch
preußisch.
Auch jenseits des Atlantiks verbreitete sich diese Musiktradition fast parallel zur
Alten Welt, und wie so vieles nahm sie dort noch stärker multikulturelle Züge
an. In den Südstaaten der USA, besonders in New Orleans, entstanden schon ab
1865 afroamerikanische marching bands mit farbigen Musikern. Das Ende des
Sezessionskrieges, die Abschaffung der Sklaverei und die Auflösung der
militärischen Musikkorps verbanden sich hier zu einer Gemengelage, in der
etwas völlig Neues entstand: Märsche mit eingelagerten afrikanischen Elementen
– denen letztlich der Jazz eine seiner frühen Wurzeln verdankt.
Berühmt wurden dann vor allem die Märsche des Washingtoner Komponisten
John Philip Sousa (1854 – 1932), dessen Vater aus Portugal und dessen Mutter
aus Bayern stammte – was wiederum zu einer ganz eigenen musikalischen
Mischung führte. So sind seine Werke, anders als deutsche und österreichische
Märsche, samt und sonders im schnelleren »französischen« Tempo gehalten, was
ihnen eine betonte Leichtfüßigkeit gibt. Mit über 100 populären Titeln, die zum
Standardrepertoire von Blaskapellen in aller Welt gehören, gilt Sousa bis heute
als der »König der Marschmusik«. Seine patriotische Komposition Stars and
Stripes Forever aus dem Jahr 1897 genießt in den USA sogar den Status einer Art
zweiten Nationalhymne.
Heute gibt es praktisch kein Land mehr, das nicht über eigene Militärkapellen
und Märsche verfügt. Die Marschmusik ist zur Weltmusik geworden, und das im
globalsten Sinn des Wortes. Selbst im künstlerischen Werk des amtierenden
thailändischen Königs Bhumibol Adulyadej (der sich nebenbei als passionierter
Saxophonist und Komponist betätigt) findet sich ein Militärmarsch – der Royal
Guards March, den Seine Majestät 1948 für das 1. Infanterieregiment seiner
Leibwache kreierte. Wer sowohl Marschmusik als auch Tropensonne liebt, kann
sich die nächste öffentliche Aufführung ja schon mal als Termin für den
Thailand-Urlaub vormerken.
[20] Aus dem Werner-Comicband Exgummibur.
[21] Gemeint ist der Maréchal de Saxe (Marschall von Sachsen), Hermann
Moritz Graf von Sachsen (1696 – 1750), der als Generalmarschall in Frankreich
diente.
Mülltrennung
Vive la poubelle!
»Sie stellen Küchenschränke mit immer neuen Mülleimern zu, nehmen die
Fliegen über der Biotonne hin, und dann schaffen sie den so getrennten Abfall
noch zum Wertstoffhof. Jedenfalls, sofern der Vorgarten nicht von fünf
verschiedenen Tonnen vollgestellt ist.«
So ätzte am 29.10.2011 ein Kommentar in der Süddeutschen Zeitung über die
Deutschen und ihre Mülltrennungswut. Übertreiben wir es womöglich mit der
Umweltbeflissenheit? Bringt uns die Mülltrennung unter dem Strich mehr
Plagen als Segen? Auf jeden Fall ist sie eine typisch deutsche Erfindung, so
scheint es. Lückenlos, pedantisch und durchgeplant bis ins kleinste Detail: Ein
solches Organisationsmonster können nur Ordnungs- und
Gründlichkeitsfanatiker wie wir in die Welt setzen. Schon der Name des
Paragraphenwerks, das all diese Vorgänge regelt, sieht uns ähnlich:
»Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz«, abgekürzt mit dem ebenfalls sehr
deutschen Zungenbrecher KrW-/AbfG.
In der Tat, die Neigung zu unaussprechbaren bürokratischen Kürzeln dürfen
wir wohl getrost als nationale Eigenheit verbuchen (wobei sich besagtes Gesetz
gegenüber Juwelen wie EuRHiISRÜbkErgVtrG oder
SozSichAbkÄndAbk2ZAbkTURG noch eher bescheiden ausnimmt). Das Thema
Mülltrennung dagegen ist so international wie zeitlos – es beschäftigt die
Menschen schon seit der Antike, auch wenn es damals begreiflicherweise nicht
die ökologische Brisanz besaß wie heute.
Bevor die Zeit der industriellen Wegwerfgesellschaft anbrach, waren es
weitgehend organische Abfälle, die vor sich hin stanken und irgendwie
weggeschafft werden mussten. So entstand zum Beispiel schon um 500 v. Chr.
vor den Toren Athens die erste öffentliche Müllkippe – bekanntlich nicht der
Weisheit letzter Schluss, aber mangels besserer Lösungen jahrtausendelang fast
die einzige Möglichkeit einer halbwegs sozial- und gesundheitsverträglichen
Entsorgung. Inzwischen kommen auch Schwellenländer langsam davon ab. In
Mexiko-Stadt etwa hat man es Ende 2011 geschafft, mit dem Bordo Poniente die
übelste Abfallhölle des Planeten zu schließen und stattdessen ein Mülltrennungs-
und Recyclingsystem einzuführen.
Erste Alternativen zum gewohnten Wegkippen, sei es auf die Deponie oder
einfach in die Gosse, kamen im 19. Jahrhundert auf – beispielsweise das
Verfeuern von Müll zwecks Wärme- und Energiegewinnung. Das Zeitalter der
Müllverbrennung begann 1876 im englischen Nottingham mit der weltweit
ersten Anlage dieser Art. Auch in den USA setzte sich die neue Erfindung schnell
durch; 1908 arbeiteten dort landesweit bereits 180 Anlagen. Parallel dazu wurden
ab dem beginnenden 20. Jahrhundert systematisch Schweinefarmen (piggeries)
genutzt, um Lebensmittelabfälle zu beseitigen. Allerdings produzieren Schweine
wiederum neuen Dreck, der seinerseits entsorgt werden musste. Eine
Patentlösung sieht anders aus.
Klarer Fall: Der ideale Lebenszweck von Müll besteht in der Wiederverwertung,
und diese Erkenntnis ist alles andere als neu. So wurden zum Beispiel schon im
alten Rom Exkremente gesammelt und an die Bauern im Umland als Dünger
verkauft. Weniger anrüchige Abfälle hatten zu fast allen Zeiten Konjunktur:
Metalle wurden eingeschmolzen und neu geschmiedet, ab dem 12. Jahrhundert
verkauften Lumpensammler verschlissene Kleidung an Papiermühlen, und in
Großbritannien diente Kaminasche als Zutat für Ziegelsteine. In Germantown
im heutigen US-Bundesstaat Pennsylvania soll der gebürtige Deutsche Wilhelm
Rittenhausen 1690 erstmals Papier aus einer Fasermasse hergestellt haben, der
neben Hadern auch Altpapier beigemischt war. 1774 beschrieb der Göttinger
Professor Justus Claproth ein Experiment, bei dem er Druckerschwärze mit
Terpentinöl vollständig aus dem Papiermüll herauswaschen konnte. Und im
englischen Batley entwickelte der Fabrikant Benjamin Law 1813 ein Verfahren,
mit dem sich fein geschredderte alte Wollkleidung zu einem Recycling-Material
verarbeiten ließ – der shoddy wool (Reißwolle).
Kurz, die Zweitverwertung brauchbarer Abfälle war im Grunde schon immer
relevant – auch weil sich ein Großteil der Gesellschaft bis ins 19. Jahrhundert
hinein schnödes Wegwerfen ganz einfach nicht leisten konnte. Erst mit dem
rasant fortschreitenden Industriezeitalter änderte sich das nach und nach: Immer
mehr Einwegartikel, Kunststoffe und Verpackungsmaterialien wurden
entwickelt, verbunden mit immer neuen Müllproblemen, weil mit leeren
Konservendosen oder Plastiktüten eben nicht viel anzufangen ist. Parallel dazu
wuchs der Bedarf an Rohstoffen, sodass Recycling zunehmend wirtschaftlich
notwendig wurde. Das aber setzt konsequente Mülltrennung voraus – am besten
schon an der Quelle, also in den Haushalten und Unternehmen, wie es bei uns
inzwischen allgemeine Gepflogenheit ist.
Der Vorreiter dieser Idee war allerdings kein Deutscher, sondern ein Franzose.
Eugène Poubelle (1831 – 1907), Präfekt des Départements Seine, führte 1884 in
Paris das erste Drei-Tonnen-System ein: eine Tonne für verrottbare Materialien
(heute »Biotonne« genannt), die zweite für Papier und Lumpen, die dritte für
Glas, Geschirr und (man ist ja in Frankreich!) Austernschalen. Auch das
Fassungsvermögen der Tonnen, 40 bis 120 Liter, war bereits reglementiert. Zwar
wurde Poubelle dafür heftig angefeindet, weil den Parisern die Abfallklauberei
lästig war – doch letzten Endes hat seine Idee überlebt und sich als weltweiter
Goldstandard durchgesetzt. Der Name Poubelle ist sogar als Vokabel in den
französischen Sprachschatz eingegangen – er bedeutet »Mülleimer« oder
»Abfalltonne«.
Auch in den USA bemühte man sich schon im 19. Jahrhundert, Abfällen durch
Trennen und Wiederverwerten ein zweites Leben zu ermöglichen. So meldete
das Allround-Genie Thomas Alva Edison 1889 seinen Eddy Current Separator
(»Wirbelstromseparator«) zum Patent an: Das Aggregat bremst Metallteile durch
elektromagnetische Felder im Fallen ab und trennt sie dadurch sauber vom
restlichen Müll. In New York City ließ George Waring, Chef der städtischen
Straßenreinigung, 1897 die erste Anlage zur manuellen Müllsortierung errichten.
Ein Jahr später folgte eine Sortieranlage für wiederverwertbare Gummiabfälle,
und in Chicago und Cleveland gingen 1904 die ersten Recycling-Zentren für
Aluminiumdosen in Betrieb.
Während der beiden Weltkriege wurde Recycling schließlich für alle beteiligten
Länder zur bitteren Notwendigkeit; massive Kampagnen hielten die Bevölkerung
an, Wertstoffe wie Altpapier, Metall und Glas bei Sammelstellen abzugeben. Die
anschließende und bis heute ungebrochene Wohlstandsära begünstigte dann
wieder eine gewisse Laxheit, bis sich der einstige Mangel endgültig in sein
Gegenteil und damit in ein ernsthaftes Umweltproblem verwandelt hatte. Der
stetig wachsende Strom von Alufolien, Kunststoffflaschen, Blechdosen, Kartons
und Sperrmüll überfordert längst die Verdauung unseres Planeten – gar nicht zu
reden von der rasant wachsenden Menge an Elektro- und Elektronikschrott. In
den reichen USA bekam man das bedeutend eher zu spüren als im Rest der Welt,
sodass zum Beispiel der Bundesstaat Washington 1954 erstmals ein Pfand auf
Aluminiumdosen einführte.
Deutschland hatte derweil zunächst andere Sorgen und alle Hände voll zu tun
mit dem Wiederaufbau. Erst 1961 formierte sich in Offenbach der
Bundesverband der Deutschen Entsorgungswirtschaft. Im Ostteil Deutschlands
entstand etwa zeitgleich das sozialistische Gegenstück SERO (VEB Kombinat
SEkundär-ROhstoff) – interessanterweise war es wesentlich besser organisiert als
das westdeutsche System, da die DDR mit ständiger Rohstoffknappheit kämpfte
und deshalb regelrecht am Recycling-Tropf hing.
Schrittmacher bei der Gesetzgebung waren allerdings die Vereinigten Staaten:
1965 wurde der Solid Waste Disposal Act beschlossen, der die Müllverwertung
erstmals landesweit regelte, 1976 folgte eine verbesserte Version, und am 1.
Januar 1970 trat als umfassendes Gesetz zum Umweltschutz der National
Environment Policy Act (NEPA) in Kraft.
Deutschland, der vermeintliche Musterknabe, folgte mit einigen Jahren
Verspätung. Erst 1970 und 1971 formulierte die sozialliberale Regierung nach
dem Vorbild des NEPA erste Umweltschutzprogramme. Im selben Jahr erließ
das Bundesland Hessen ein Abfallbeseitigungsgesetz, das 1972 auch in die
Bundesgesetzgebung übernommen wurde. 1987 folgte die Altöl- und 1991 die
Verpackungsverordnung. Letztere verpflichtete Hersteller erstmals, in Umlauf
gebrachte Verpackungen wieder zurückzunehmen. 1996 schließlich mündete
alles in das Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz, das die Vermeidung,
Ablagerung und Wiederverwertung von Abfällen detailliert regelt.
Ähnliche Gesetze und Verordnungen gibt es heute in praktisch allen
entwickelten Ländern rund um die Welt. Auch getrennte Tonnen für
unterschiedliche Abfallsorten, wie sie Eugène Poubelle vor bald 130 Jahren
seinen undankbaren Parisern vorsetzte, sind längst zur global verbreiteten
Einrichtung geworden.
Die oft zitierte skeptische Volksweisheit »Am Ende landet ja doch alles auf
demselben Haufen« gehört übrigens ins Reich der modernen Mythen. Dafür hat
Urban Mining, die Rohstoff-Rückgewinnung aus Abfällen, inzwischen einen viel
zu hohen ökonomischen Stellenwert. Und allen Unkenrufen zum Trotz sind wir
Deutschen dabei auf keinem schlechten Weg. Auch wenn wir Mülltrennung und
Recycling nicht erfunden haben, befindet sich beides hierzulande doch auf einem
vergleichsweise hohen Entwicklungsstand. In diesem Sinne: Vive la poubelle!
Oktoberfest
O’zapft is! Darauf einen Retsina
Preisfrage: Wann fanden die ersten Olympischen Spiele in München statt?
Wenn Sie es spontan zu wissen glauben, wird Sie die Auflösung überraschen.
Denn »1972« liegt weit daneben – genau gesagt, um 162 Jahre. Tatsächlich gab es
schon 1810 in Bayerns Hauptstadt eine Sportveranstaltung, die bewusst dem
antiken olympischen Vorbild nachempfunden war. Sie wurde seitdem
regelmäßig fast jedes Jahr abgehalten, zog 2012 fast sieben Millionen Besucher an
und wird in zahlreichen Ländern rund um den Globus kopiert. Die bevorzugte
Sportart heißt inzwischen allerdings Biertrinken (sieht man vom Hau-den-Lukas
einmal ab), während Olympia wieder zu den größten Attraktionen zählt (dazu
später). Der Name des Ereignisses stammt allerdings aus dem Lateinischen:
Oktoberfest.
Gleichwohl führt die heiße Spur zurück ins alte Griechenland. Hier müssen wir
etwas weiter ausholen: Bei den Olympischen Spielen der Antike erzielte eine
Sportart regelmäßig Zuschauerrekorde, und das waren Pferderennen. Im 4.
Jahrhundert v. Chr. wurde dafür ein Hippodrom errichtet, das auch aus heutiger
Sicht bombastische Ausmaße hatte und alle anderen Sportstätten im
Olympischen Hain an Größe übertraf. 2008 entdeckte ein Team deutscher
Archäologen die Überreste dieses eindrucksvollen Tribünenbauwerks. Es misst
in der Länge mehrere hundert Meter und bot schätzungsweise 50 000
Zuschauern Platz. Auf dem Programm standen alle Arten von Wettbewerben,
mit Wagen und auf dem Sattel, und so wie bei heutigen Autorennen verfolgte
das Publikum begierig halsbrecherische Überholmanöver und spektakuläre
Unfälle. Königsdisziplin war das Rennen der Vierergespanne über 13,8
Kilometer.
Auch die großen Pferderennbahnen des antiken Rom entstanden nach dem
Vorbild des olympischen Hippodroms. Diese Arenen waren sogar noch größer
und pompöser: Der Circus Maximus in Rom, mit einer Grundfläche von 84 000
Quadratmetern größter Veranstaltungsort aller Zeiten, soll in seiner letzten
Ausbaustufe im 4. Jahrhundert n. Chr. fast 400 000 Besucher gefasst haben.
Nach Nordeuropa gelangte der Pferderennsport über England, das damit zu
dessen zweitem Mutterland wurde. Begründer der englischen Renntradition war
um das Jahr 210 der römische Kaiser Lucius Septimius Severus, ein großer
Pferdeliebhaber, der nach seinem Eroberungsfeldzug gegen die Britannier in der
heutigen Grafschaft Yorkshire die erste Pferderennbahn bauen ließ. Weil es auf
den Britischen Inseln damals nur Ponys gab, mussten eigens für diesen Sport
geeignete Rassezüchtungen aus dem Orient nach England geschafft werden.
Viele Jahrhunderte später, wir schreiben das Jahr 1810: An einem Herbsttag in
München führt die Faszination des Pferderennens, besonders aber seiner
olympischen Wurzeln, auch zur Entstehung des Oktoberfestes. Griechenland
grüßt Bayern! Den unmittelbaren Anlass liefert eine adelige Hochzeit: Am 12.
Oktober heiratet Kronprinz Ludwig von (damals noch) Baiern die Prinzessin
Therese Charlotte Louise von Sachsen-Hildburghausen. Ludwig ist ein
ausgesprochener Fan des antiken Griechenland; seine Verehrung für die
Hellenen geht so weit, dass er als König später sogar die Schreibweise »Baiern«
durch »Bayern« mit griechischem Ypsilon ersetzen lässt. Und er ist besessen von
der Idee, seine Hauptstadt München zu einem zweiten Athen zu machen – was
ihm mit zahlreichen altgriechisch inspirierten Bauten auch zu weiten Teilen
gelingt.
Wie heiratet ein solcher Königssohn stilvoll und seinen philhellenischen
Neigungen angemessen? Ein Unteroffizier der bayerischen Nationalgarde hat die
Idee, das Hochzeitsfest nach Art der Olympischen Spiele zu begehen, also mit
einem großen Pferderennen als Höhepunkt. Der aus Südtirol stammende
Bankier und Kavalleriemajor Andreas Michael Dall’Armi übermittelt den
Vorschlag an den Vater des Bräutigams, König Max I. Joseph von Bayern – und
der zeigt sich auf Anhieb begeistert. Dall’Armi wird beauftragt, die
Veranstaltung zu organisieren, und legt damit nichts ahnend den Grundstein
zum heute größten Volksfest der Welt.
Am 17. Oktober 1810 findet das Pferderennen auf einer großen Wiese statt, die
damals noch vor den Stadtmauern Münchens liegt: Es ist die gleiche wie heute,
nämlich die später nach der königlichen Braut benannte Theresienwiese. Das
Sportereignis wird ein überwältigender Erfolg, und so beschließt der bayerische
Königshof zur Freude der Münchner Bürger, es im folgenden Jahr zur gleichen
Zeit zu wiederholen. Parallel dazu wird auf der Theresienwiese das erste
Landwirtschaftsfest gefeiert, das noch heute alle vier Jahre im Rahmen der
»Wiesn« stattfindet.
So beginnt die Tradition des Oktoberfests – als Hommage an Olympia. Und
getreu diesen Anfängen trägt das Fest auch in den Folgejahren überwiegend
sportliche Züge. Es wurde damit sogar indirekt zum Vorläufer der Olympischen
Spiele der Neuzeit: Bestrebungen, die antike Sportveranstaltung wieder aufleben
zu lassen, sind schon aus dem Griechenland des frühen 19. Jahrhunderts
bekannt. 1832 schließlich, nach der Befreiung von der Türkenherrschaft, kommt
Bewegung in die Sache. Im Jahr zuvor war Ioannis Antonios Graf Kapodistrias,
der erste Präsident des frisch gegründeten Staates, ermordet worden. Auf
Empfehlung der Signatarmächte Großbritannien, Frankreich und Russland kürt
die griechische Nationalversammlung den erst 17-jährigen Sohn Ludwigs I.,
Prinz Otto, zum neuen König ihres Landes. Im gleichen Jahr reisen drei
griechische Gesandte nach München, erleben das Fest auf der Theresienwiese
und zeigen sich beeindruckt:
»In den Nachmittagsstunden erwiderten wir eine Einladung, an einem
besonderen Fest teilzunehmen, das jährlich am Achten dieses Monats
stattfindet und ›Oktoberfest‹ genannt wird. Es wird auf einer ausgedehnten
Fläche außerhalb der Stadt abgehalten. Das besagte Fest stellt eine
Nachahmung der Olympischen Spiele dar, und die Veranstaltungen lassen sich
auf das alte Griechenland zurückführen.«
Dieser Bericht facht das Feuer der Olympiabewegung weiter an. Wieso sollten
Griechen nicht können, was im fernen Bayern bestens funktioniert? Ein Jahr
später tritt der griechische Journalist und Dichter Panagiotis Soutsos auf den
Plan, ein glühender Befürworter des Olympia-Revivals. In einem seiner Gedichte
heißt es ebenso anklagend wie sehnsüchtig:
Wo sind all eure Theater und Marmorstatuen?
Wo sind eure Olympischen Spiele?
Soutsos regt beim Innenministerium eine Wiederbelebung der Spiele nach dem
Münchner Vorbild an, stößt aber zunächst auf taube Ohren. Einen
Bundesgenossen findet er erst wesentlich später in dem reichen griechisch-
rumänischen Geschäftsmann Evangelos Zappas. Der lässt 1856 König Otto auf
diplomatischem Weg einen Brief zukommen, in dem er anbietet, Olympische
Spiele selber zu finanzieren. Der König zeigt sich nicht abgeneigt, setzt aber eher
auf eine Messe zur Förderung der griechischen Wirtschaft und nicht auf die
Neuauflage einer antiken Sportveranstaltung.
Ottos Ehefrau Amalie ringt ihrem Mann schließlich einen Kompromiss ab, und
1858 erlässt Otto eine 16 Artikel umfassende Königliche Verordnung »über die
Errichtung der Olympien« – aufgezogen nach dem ursprünglichen Muster des
Münchner Oktoberfestes unter Einbeziehung »gymnischer Spiele auf
Staatskosten in dem dafür hergerichteten Stadion«. Die Olympien sind somit in
erster Linie als Industrie- und Landwirtschaftsmesse angelegt, mit einem
sportlichen Rahmenprogramm aus Pferderennen, Ringkampf, Laufen,
Weitsprung und Diskuswerfen. Am 15. November 1859 ist es so weit: Mitten in
Athen, im wieder aufgebauten antiken Panathinaikos-Stadion, finden die ersten
offiziellen Olympischen Spiele der Neuzeit statt – 37 Jahre vor den von Pierre de
Coubertin mit dem von ihm gegründeten Internationalen Olympischen Komitee
organisierten. Weitere Olympien gleicher Machart folgen in den Jahren 1870,
1875 und 1889.
Das Münchner Pendant entwickelt sich derweil unaufhaltsam von seinen
Ursprüngen weg in Richtung Jahrmarkt. Zur Pferderennbahn gesellen sich
Kletterbäume, Kegelbahnen und Schaukeln, und 1818 dreht sich auf der Wiesn
das erste Karussell. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird das Fest zeitlich
verlängert und in die letzten Septembertage vorverlegt, weil der
Altweibersommer in dieser Zeit meist schöne und warme Tage verspricht. Ab
1880 genehmigt die Münchner Stadtverwaltung schließlich den Bierverkauf; ein
Jahr später eröffnet die erste Hendlbraterei. Parallel dazu zieht das Oktoberfest
immer mehr Schausteller und Karussellbetreiber an, die für immer neue
Attraktionen sorgen.
So sind die Olympischen Spiele und das Oktoberfest, ursprünglich zwei
Veranstaltungen im gleichen Geist und Stil, nach und nach immer weiter
auseinandergedriftet. Und trotzdem – sieht man genauer hin, dann treten die
griechisch-olympischen Wurzeln heute durchaus wieder zutage: Bereits 1902
erhielt der Schausteller Carl Gabriel vom Magistrat die Genehmigung, ein
Hippodrom auf dem Festplatz aufzustellen. Publikumsmagnet war in der Mitte
des Zeltes eine 60 Meter lange Reitbahn mit 25 Pferden, auf denen sich die Gäste
im Reiten versuchen konnten – eine Volksbelustigung, die sich buchstäblich
galoppierender Beliebtheit erfreute.
Seit 1989 gehört auch der Name Olympia zum festen Inventar der Wiesn.
Damals hatte der von den olympischen Ringen inspirierte Olympia-Looping
Premiere, die bis heute größte transportable Fünfer-Loopingbahn der Welt. Ob
wohl je einer der Wiesn-Besucher, die sich hier Kopf und Magen verdrehen
lassen, auf den Gedanken gekommen ist, dass alles mit einer königlichen
Schwärmerei für Olympische Spiele angefangen hat?
Danke jedenfalls, ihr Griechen, für die wunderbare Grundidee!
Preußentum
Disziplin à la française
Der Staat Preußen ist längst Geschichte – aber die »preußischen Tugenden«,
heißt es oft, würden in uns Deutschen unverändert fortleben: Fleiß, Disziplin,
Zuverlässigkeit, Pflichtbewusstsein, Pünktlichkeit und wie sie alle heißen. Leider
auch die preußischen Untugenden, so will es das Klischee: Ordnungswut,
Obrigkeitsgläubigkeit, militärisches Zackzack und Kadavergehorsam.
Spätestens hier wird jeder Bayer sofort Einspruch erheben: »Preißn«, das seien
ja wohl die Völker nördlich des Mains, mit denen man nichts zu schaffen habe.
Auch Schwaben und Badener dürften dem entschieden zustimmen – und erst
recht die Österreicher, die doch mit den Preußen immerhin Seite an Seite gegen
den gemeinsamen Erzfeind Napoleon kämpften.
Schon daran erkennt man, wie unterschiedlich die Sichtweise der Volksstämme
zwischen Ostsee und Alpen auf die gemeinsame deutsche Identität ist. Doch wie
immer man dazu steht – das Königreich Preußen macht einen Großteil der
deutschen Geschichte aus, und seine Kultur hat uns zweifellos einen von vielen
Stempeln aufgeprägt. Immerhin war dieser ursprünglich schmale Landstrich an
der Danziger Bucht, der im 18. Jahrhundert unaufhaltsam zur Großmacht
aufstieg, rund 250 Jahre lang neben Österreich das zweite politische
Schwergewicht innerhalb des deutschen Sprachraums. Das gilt auch
flächenmäßig: Zur Zeit seiner größten Ausdehnung, im Deutschen Kaiserreich
von 1871 bis 1918, umfasste Preußen ein Gebiet von mehr als 348 000
Quadratkilometern. Zum Vergleich: Die gesamte heutige Bundesrepublik bringt
es auf gerade mal achttausend Quadratkilometer mehr.
Aber wie deutsch sind oder waren die Preußen wirklich? Und wie deutsch ist
das »Preußentum«?
Blickt man weit zurück in die Geschichte, so wird man überrascht feststellen,
dass die Preußen ursprünglich gar keine Deutschen waren, sondern Balten,
genauer gesagt, Prußen (oder Prusai, wie sie sich in ihrer eigenen Sprache
nannten). Diese frühen Siedler – zwölf Stämme, die sehr unterschiedliche
Mundarten sprachen – sind im Lauf der Geschichte zuerst im bunten Mischvolk
Preußens, dann Deutschlands aufgegangen. Bevor im 13. Jahrhundert ihre
Bekämpfung und Unterwerfung begann, erstreckte sich ihr Gebiet von der
oberen Weichsel bis zur unteren Memel. Die Keimzelle Preußens gehört also
tatsächlich zum Baltikum – somit ist sie eng mit den Litauern und Letten
verwandt, aber eben nicht mit den Deutschen.
Die erste schriftliche Erwähnung der Prußen findet sich im 10. Jahrhundert im
Reisebericht eines jüdischen Kaufmanns aus Spanien, der sie dort Brus nennt. In
mittelalterlichen Quellen erscheinen sie auch als Pruzzen. Allgemein wurden sie
scheel beäugt, denn als Anhänger einer Naturreligion waren sie den christlich
getauften Herrschern zwangsläufig suspekt. Dem polnischen Herzog Konrad von
Masowien wiederum missfiel, dass ihm die keineswegs auf Partnerschaft
erpichten Prußen den Zugang zum Meer versperrten – so versuchte er unter
dem Vorwand der Missionierung mehrmals vergeblich, ihr Gebiet zu erobern.
1226 rief er schließlich die Ritter des Deutschen Ordens zu Hilfe, aber auch diese
holten sich zunächst blutige Köpfe. Erst nach wiederholtem Anrennen gelang
1234 der erste siegreiche Feldzug, in dessen Gefolge die zwölf Stämme nach und
nach im neu gegründeten Ordensstaat aufgingen. Allerdings sollte es noch ein
halbes Jahrhundert dauern, bis sich die Prußen endgültig geschlagen gaben.
Nach der Unterwerfung des widerspenstigen Baltenvolks öffnete der Deutsche
Orden die Schleusen für Zuwanderer aus aller Herren Länder – der Beginn einer
Durchmischung, wie sie für unsere gesamte Herkunft im Grunde typisch ist (
»Deutsches Volk«). Zwar konnten sich die Prußen bis zum Anfang des 18.
Jahrhunderts Reste ihrer Identität bewahren, doch schon etwa ab dem 15.
Jahrhundert verschmolzen sie zunehmend mit Neusiedlern aus dem deutschen
und polnischen Sprachraum. Seit dem 17. Jahrhundert gelten auch ihre Dialekte
als ausgestorben.
So viel zur Vorgeschichte der Preußen.
Von Dauer war auch der gewaltsam errichtete Deutschordensstaat nicht – ab
1466 zerfiel er in diverse Herzog- und Fürstentümer, bis schließlich 1701 das
Herzogtum Preußen zum Königreich erhoben wurde. Dessen Territorium lag
übrigens wie der vorhergehende Staat des Deutschen Ordens außerhalb des
Heiligen Römischen Reiches. Somit war Preußen ein eigener, souveräner Staat
und hatte mit dem, was wir unter Deutschland verstehen, erst einmal nichts zu
tun. Erst 1871, im Jahr der Reichsgründung, wurde es mit Deutschland praktisch
gleichbedeutend, indem es sämtliche deutschen Staaten mit Ausnahme
Österreichs unter seiner Führung vereinte.
Dass die Überheblichkeit und das Großmachtgehabe der wilhelminischen
Epoche auf den gesamtdeutschen Geist abfärbten, lässt sich gewiss nicht
abstreiten. Wie militärtrunken und autoritätshörig viele Deutsche seinerzeit
waren, führte 1906 der arbeitslose Schuster Wilhelm Voigt exemplarisch vor:
Seine Besetzung des Köpenicker Rathauses als verkleideter »Hauptmann von
Köpenick« ließ halb Europa zwischen Lachen und Weinen schwanken und ist als
Theaterstück bis heute ein Evergreen.
Mit »Preußentum« verbindet sich aber auch die Zeit der ersten Preußenkönige,
Friedrich Wilhelms I. und seines Sohnes Friedrichs II. des Großen oder auch
»Alter Fritz« genannt. Diese Ära des 18. Jahrhunderts hatte mit dem
Hurrapatriotismus der späteren deutschen Kaiser kaum etwas gemein. Zwar
baute Friedrich Wilhelm I. Preußen konsequent zur Militärmacht aus, aber
zugleich lebte er seinem Volk die sprichwörtlichen Tugenden Fleiß,
Gewissenhaftigkeit und Pflichtbewusstsein vor. Seinem Sohn und Nachfolger
gab er als Mahnung mit auf den Weg: »Arbeiten müsst Ihr, so wie ich das
beständig getan habe. Ein Regent, der in der Welt mit Ehren regieren will, muss
seine Sachen alle selber machen, denn die Regenten sind zum Arbeiten geboren
und nicht zum faulen Leben.«
Überdies war Preußen damals eine Drehscheibe der Kulturen und die
Hauptstadt Berlin ein Schmelztiegel, der die verschiedensten Volksgruppen und
Sprachen in sich aufnahm. Auffallend ist besonders die deutsch-französische
Mischkultur, die sich noch heute an vielen französischen Namen ablesen lässt –
und natürlich an der Bulette (boulette), dem Wahrzeichen der Berliner
Speisekarte. Der »Alte Fritz«, vermeintlicher Inbegriff des Preußentums, dachte,
fühlte, baute und parlierte sogar mit Vorliebe französisch. Was ihn dazu trieb?
Vielleicht war es der Glanz der Herrscher von Versailles, allen voran der
legendäre Sonnenkönig Ludwig XIV., der diese bemerkenswerte Zuneigung
beflügelte. Hinzu kam aber ganz sicher eine große Verehrung französischer
Baukunst, Literatur und Philosophie – und die daraus erwachsende
Widerborstigkeit gegen die Eltern, die mit alldem nicht viel im Sinn hatten.
Es waren aber nicht nur Sprache und Kultur Frankreichs, die Friedrich
faszinierten. So bestand sein halber Generalstab aus französischen Offizieren,
und in seinem Potsdamer Schloss Sanssouci umgab er sich mit so vielen
Franzosen, dass sein Gast Voltaire einmal sarkastisch bemerkte: »Majestät sind
der einzige Fremde unter uns.« Selbst deutsche Namen erschienen ihm
offensichtlich als zu profan: Die von Gottfried Wilhelm Leibnitz gegründete
Königliche Societät der Wissenschaften wurde unter Friedrich II. zur Académie
Royale des Sciences et Belles Lettres, die städtische Krankenanstalt zur Charité
(wie sie heute noch heißt) und die Kadettenanstalt zur École militaire.
Zusätzlichen Einfluss übte eine lang anhaltende Einwanderungswelle aus: Der
protestantisch geprägte Staat Preußen war das natürliche Auffangbecken für
protestantische Hugenotten, die im vorrevolutionären Frankreich verfolgt und
zum Teil regelrecht massakriert wurden. Schon ab 1685 gewährte ihnen deshalb
Friedrich Wilhelm von Brandenburg, der »Große Kurfürst«, vor allem in Berlin
dauerhaft Asyl. Gegen Ende des 17. Jahrhunderts bildeten sie dort bereits eine
Gemeinde von fünftausend Mitgliedern – damals ein Fünftel der gesamten
Stadtbevölkerung. Ab 1701 wurde ihnen mit dem Französischen Dom am
Gendarmenmarkt sogar ein eigenes Gotteshaus errichtet.
Friedrich der Große setzte diese Offenheit fort und machte Preußen zum
Inbegriff religiöser Toleranz, auch wenn die Juden erst zwei Generationen später
ihre volle Gleichberechtigung erhielten. So heißt es in einem 1740 geschriebenen
Brief (in Friedrichs typischem holprigem Deutsch): »Alle Religionen seindt
gleich und guht, wan nuhr die leute, so sie profesieren, Erlige Leute seindt, und
wen Türken und Heiden kähmen und wolten das Land pöplieren, so wollen wier
sie Mosqueen und Kirchen bauen.« Von einer derart gelassenen Weltsicht sind
so manche Politiker und Publizisten in der heutigen Bundesrepublik weit
entfernt.
Konsequenterweise erließ Friedrich im selben Jahr und in ebenso holpriger
Schreibweise ein Edikt zum gleichen Thema: »Die Religionen Müsen alle
Tolleriret werden, und Mus der Fiscal nuhr das Auge darauf haben, das keine der
anderen abrug Tuhe, den hier mus ein jeder nach seiner Fasson Selich werden.«
Der letzte Halbsatz dürfte jedem Leser als geflügeltes Wort bekannt sein. Und
damit war keineswegs der Schlusspunkt gesetzt, auch wenn weitere
Reformbestrebungen mit Friedrichs Tod (1786) vorübergehend einschliefen. Die
Niederlage gegen Napoleon zwanzig Jahre später wirkte wie ein Weckruf, die
Entwicklung Preußens zu einem liberalen und aufgeklärten Staat weiter
voranzutreiben – bis hin zu freiheitlich-demokratischen Ansätzen. Die
preußischen Reformer Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (übrigens kein
gebürtiger Preuße, sondern Nassauer), Karl August von Hardenberg und
Wilhelm von Humboldt waren Vordenker, deren Ideale und Ideen bis in die
heutige Zeit nachwirken.
Erneut gesellte sich auch der direkte französische Einfluss hinzu – nicht nur
durch Napoleon, sondern auch durch einen weiteren Strom von Emigranten, der
sich ab 1789 als Folge der Französischen Revolution nach Berlin ergoss.
Gemeinsam mit den Hugenottenflüchtlingen waren es gerade diese
französischen Einwanderer, die durch Überzeugungstreue, Sparsamkeit,
Schlichtheit und Fleiß den heutigen Mythos des »Preußentums«
mitbegründeten.
Angesichts dieses historischen Hintergrunds reibt man sich schon etwas die
Augen: Wie konnte es dazu kommen, dass »deutsch« und »preußisch« bis in die
heutige Zeit so gern gleichgesetzt werden? Hat das kurzlebige wilhelminische
Kaiserreich so nachhaltige Spuren hinterlassen? Oder liegt womöglich alles nur
an einer verzerrten und falschen Sichtweise? Der englische Times-Korrespondent
und Kolumnist Roger Boyes sieht uns moderne Deutsche jedenfalls überhaupt
nicht mehr als Preußen – auch angesichts unserer heutigen Spitzenposition bei
Freizeit und Urlaubstagen. Sein skeptischer Kommentar: »Tatsächlich sind viele
der preußischen Tugenden längst koreanische oder einfach asiatische
Tugenden.«[22] Da könnte etwas dran sein.
Was die Untugenden betrifft, war man sich allerdings in der westlichen Welt
nach Kriegsende vollkommen einig: typisch Preußen – also musste Preußen weg.
Folgerichtig wurde der in Trümmern liegende Staat von den Siegermächten 1947
offiziell aufgelöst, auch wenn sich die Sowjetunion aus taktischen Erwägungen
zunächst dagegen sträubte. Zur Begründung heißt es im Gesetz Nr. 46 des
Alliierten Kontrollrats, Preußen sei »seit jeher Träger des Militarismus und der
Reaktion in Deutschland« gewesen.
Das war – wie der australische Historiker und Preußen-Experte Christopher
Clark scharfsinnig feststellt – eher ein vorgeschobenes Argument, um das
Preußentum gemeinsam mit dem Nationalsozialismus beerdigen zu können und
das Entstehen einer liberalen Bundesrepublik zu erleichtern.[23] Als
geschichtliche Einstufung ist es viel zu grob gestrickt und wird auch den Fakten
nicht gerecht – hat Preußen doch weniger Kriege geführt als etwa Frankreich
oder England. Und was die politische Geografie betrifft: Hitler war bekanntlich
Österreicher und lebte in Oberbayern, Göring wurde in Rosenheim im
Chiemgau geboren und wuchs im gleichfalls bayerischen Nürnberg auf,
Himmler stammte aus München, Hitlers Stellvertreter Heß war im
Fichtelgebirge beheimatet, und die Parteizentrale der NSDAP stand bekanntlich
nicht in Berlin, sondern in München. Nicht zu vergessen: Die berüchtigten
Reichsparteitage fanden allesamt in Nürnberg statt. So betrachtet, hätte man
auch den Freistaat Bayern auflösen können.
Nun, so ist es zum Glück nicht gekommen. Bayern lebt noch, und ihm sei Dank
dürfen sich die Deutschen im übrigen Teil des Landes weiterhin als Preußen
fühlen (oder südlich der Donau als »Saupreißn«). Doch wir haben gesehen: So
einfach, wie man oft denkt, ist dem »Preußentum« nicht beizukommen.
Beschäftigt man sich intensiver damit, dann erweist es sich als genauso
facettenreich, multikulturell und auch widersprüchlich wie fast alles, was in uns
Deutschen und unserem Land steckt. Was unter dem Strich doch auch wieder
positiv ist.
[22] Quelle: Goethe-Institut.
[23]Der Spiegel, 21.8.2007.
Pünktlichkeit
Ohaio gozaimasu[24]
»Fünf Minuten vor der Zeit,
das ist preußische Pünktlichkeit.«
Im 19. Jahrhundert war dieser Spruch ein geflügeltes Wort – und sein
Flügelrauschen scheint noch heute unser nationales Selbstverständnis zu
durchwehen. Kommt das Gespräch auf die typisch preußischen (mithin
deutschen) Tugenden, dann kann man fast darauf wetten, dass unter anderem
das Stichwort »Pünktlichkeit« fällt. Und auch wenn man sich im Ausland
umhört, wird es bei der Aufzählung der deutschen Charaktereigenschaften selten
ausgelassen.
Aber ist das nicht längst ein Klischee? Oder sind wir tatsächlich noch immer die
verbiesterten Pünktlichkeitsfanatiker, als die wir in weiten Teilen der Welt
gesehen werden?
Je nachdem. Denn natürlich kommt es immer darauf an, mit wem man sich
vergleicht. Dass wir Mexiko oder die Dominikanische Republik – wie überhaupt
fast ganz Lateinamerika – in Sachen Pünktlichkeit locker schlagen: Wer hätte es
bezweifelt! Und dass auch eine Reihe anderer Länder, in denen Zeit eine
untergeordnete Rolle spielt, unseren minutiösen Umgang damit bestaunen (oder
auch belächeln): geschenkt. Dann aber gibt es auch wieder Nationen, die uns in
dieser Beziehung geradezu für wurstig halten müssen.
Nehmen wir als klassisches Beispiel den Schienenverkehr: Nach langem
Zaudern und Sich-Winden veröffentlichte die Deutsche Bahn – zu Kaisers Zeiten
der Inbegriff präzise eingehaltener Fahrpläne – im September 2011 ihre erste
Pünktlichkeitsstatistik, mit bekanntem Ergebnis: Gegenüber den Vorjahren ist
die ohnehin schon gefühlt hohe Verspätungshäufigkeit der Züge nicht etwa
gesunken, sondern weiter gestiegen. Gerade mal 80,9 betrug demnach die
Pünktlichkeitsquote von Fernzügen im Auswertungszeitraum von 16 Wochen –
somit hatte sich jede fünfte Ankunft verspätet. Auswertungen des Verkehrsclubs
Deutschland (VCD) ergaben sogar nur magere 67,2 Prozent. Nota bene: Als
»pünktlich« gilt ein Zug bei der Deutschen Bahn auch noch dann, wenn er
höchstens 5:59 min hinter dem Plan herschnauft. Rechnet man den
Regionalverkehr hinzu, dann ergibt sich nach dieser Lesart laut Deutscher Bahn
eine Pünktlichkeitsquote von insgesamt 93,2 Prozent. So zurechtfrisiert klingt
der Wert durchaus wieder ganz passabel. Im folgenden Zwölf-Monats-Zeitraum
bis August 2012 konnte er sogar ein knappes Prozentpünktchen drauflegen – die
Quote stieg um 0,92 auf 94,12 Prozent.
Aber: Tief im Südwesten gibt es ein Land, in dem man über solche
Zahlenakrobatik nur milde lächeln kann. Die Schweizerischen Bundesbahnen
(SBB) setzen nämlich schon das Kriterium für Pünktlichkeit ganz anders an und
tolerieren höchstens 2:59 min Verspätung. Nach diesem Maßstab liegt die
Schweiz in Europa mit Abstand an der Spitze: Im krassen Gegensatz zur
Deutschen Bahn meldete SBB-Chef Andreas Meyer im September 2011 einen
Rekord von 91,6 Prozent pünktlich angekommener Züge – das entspricht einer
Steigerung um 2,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr, wenngleich die Quote 2012
wieder auf 88 Prozent sank. Auch die Österreichische Bundesbahn, die
Nederlandse Spoorwegen und selbst Kandidaten, denen man es nicht zutrauen
würde – wie die italienischen Ferrovie dello Stato, die spanische RENFE und die
französische SNCF –, können bessere Pünktlichkeitswerte vorweisen als die DB.
Aus globaler Sicht ergibt sich wieder ein anderes Bild, aber es widerlegt ebenfalls
das überlieferte Preußen-Klischee: Das pünktlichste Volk der Welt sind
keineswegs die Deutschen, auch nicht etwa die Schweizer – sondern mit Abstand
die Japaner. In keinem anderen Land der Welt wird so viel Wert auf
Pünktlichkeit gelegt, ja geradezu ein Kult darum getrieben. Japanische Busse und
Bahnen fahren auf die Minute genau, und das in aller Regel zu 100 Prozent.
Sollte es dennoch mal eine kurze Verzögerung geben, entschuldigt sich der
Zugführer persönlich und demutsvoll bei den Fahrgästen. Und kurz bedeutet im
Land der aufgehenden Sonne wirklich »kurz«: Mehr als 45 Sekunden Verspätung
sind für den Schuldigen schon fast ein Grund, Harakiri zu begehen. Da blutet die
Deutsche Bahn doch lieber finanziell – wie im Jahr 2011, als sie allein dem
Freistaat Bayern die Rekordsumme von über 20 Millionen Euro als Strafgeld für
Verspätungen überweisen musste.
Auch im Arbeits- und Geschäftsleben macht den Japanern in Sachen
Pünktlichkeit niemand etwas vor. Auf die Minute genau zu einer Verabredung
oder am Arbeitsplatz zu erscheinen gilt bereits als unhöflich: Wer sich zu
benehmen weiß, ist in aller Regel fünf oder zehn Minuten vorher da. Und schon
bei fünf Minuten Terminüberschreitung wird es hochgradig peinlich – dann
gebietet die Etikette unbedingt eine Entschuldigung. Manche Betriebe stellen
ihre Uhren sogar um fünf Minuten vor, um diese Gefahr bei ihren Mitarbeitern
gar nicht erst aufkommen zu lassen. So gesehen, sind die Japaner die wahren
Preußen dieser Welt.
Daher wundert es nicht, dass auch japanische Fluglinien und Flughäfen in
globalen Vergleichsstatistiken regelmäßig auf den vorderen Plätzen landen. Der
amerikanische Dienstleister Flightstats, der alljährlich die Pünktlichkeit aller
Airlines weltweit auswertet, listete Japan Airlines (JAL) 2012 zum dritten Mal in
Folge als Spitzenreiter auf, und All Nippon Airways (ANA) lag nur knapp
dahinter: Erstere schaffte eine Pünktlichkeitsquote von über 90 Prozent, ANA
erreichte immerhin noch über 88 Prozent. Unsere stolze Kranich-Linie:
abgeschlagen auf Platz zehn – wohingegen sich die schwedische SAS mit den
Japanern ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefert und damit immerhin die pünktlichste
internationale Airline Europas ist.
Nummer eins der innereuropäischen Regionalfluglinien war 2012 übrigens die
kaum bekannte griechische (!) Gesellschaft Aegean Airlines, dicht gefolgt von
der spanischen NAYSA, die im Auftrag von Binter Canarias von Gran Canaria
aus operiert. In dieser Kategorie schaffte es als einziger deutscher Konkurrent die
Lufthansa-Tochter German Wings in die Top Ten.
Bei den internationalen Airports auf Platz eins der Weltrangliste: Seattle-
Tacoma im US-Staat Washington. Als pünktlichster deutscher Konkurrent
rangiert München hier abgeschlagen auf Platz acht. Bei den innerasiatischen
Flughäfen haben mit Tokio-Haneda wiederum die Japaner die Nase vorn.
Überhaupt scheint Pünktlichkeit in ganz Ostasien ein beliebter Volkssport zu
sein. Als pünktlichste (und nebenbei auch sauberste) U-Bahn der Welt gilt zum
Beispiel die Mass Rapid Transit (MRT) in Singapur. Und die Flughäfen von
Singapur, Seoul und Bangkok rangieren in den Hitlisten der internationalen
Vergleiche weit oben – ebenso wie deren Luftfahrtgesellschaften. In dieser Liga
spielen wir stets nur auf den hinteren Plätzen mit. Mehr noch: Bekanntlich hat es
ausgerechnet deutsche Ingenieurs-, Verwaltungs- und Planungskunst geschafft,
in Brandenburg den unpünktlichsten Flughafen aller Zeiten in den märkischen
Sand zu setzen.
Was also ist los mit uns Deutschen? Vielleicht haben wir uns der Pünktlichkeit
einfach etwas entfremdet. Seit dem Wertewandel, der in den späten Sechziger-
und Siebzigerjahren stattgefunden hat, scheint sie bei uns keinen so guten Ruf
mehr zu genießen wie früher. Eingedenk dessen, dass einige Jahrzehnte zuvor
präzise »seit 5:45 Uhr zurückgeschossen« wurde, klebte man ihr folgerichtig das
Etikett einer Sekundärtugend auf, die – ebenso wie Disziplin, Fleiß, Treue oder
Gehorsam – für sich genommen nicht viel bedeutet. Und etwas davon scheint
haften geblieben zu sein, auch wenn zum heutigen deutschen Zeitgeist eher die
Einstufung als »uncool« passt. So ergab 2011 eine europäische Vergleichsstudie
der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK), dass nur 18 Prozent der
Deutschen bei Verabredungen Wert auf Pünktlichkeit legen. Das Gegenstück
dazu sind neben den Österreichern ausgerechnet die oft als schlampig
verschrienen Russen und Italiener: Hier waren es jeweils 88 Prozent, die sich für
die exakte Einhaltung von Terminen aussprachen.
Eine frühere Studie zeigte, dass auch deutsche Manager bei Geschäftsterminen
durchaus mal fünf oder fünfzehn Minuten gerade sein lassen. Woanders wäre
das ein Unding. Nicht nur in Japan, sondern auch in China, den USA, der
deutschsprachigen Schweiz und den skandinavischen Ländern, ja selbst in
Norditalien ist jede Verspätung verpönt – wer sichergehen will, erscheint besser
ein paar Minuten zu früh.
Andererseits: Muss es uns Deutsche wirklich bekümmern, dass diese unsere
vermeintliche Kardinaltugend offenbar leichte Symptome von Schwindsucht
aufweist? Man kann das alles ja auch positiv interpretieren. Wie es aussieht, wird
unser Zeitgefühl nicht mehr von preußischem Dalli-dalli und Zackzack
dominiert, sondern es gönnt sich heute etwas mehr Gelassenheit. Auch in dieser
Beziehung ist Deutschland internationaler geworden. Wir haben mediterrane
Einflüsse aufgesogen, können dolce far niente fehlerfrei aussprechen und auch
praktizieren, haben das mexikanische Allzweckwort mañana vor Ort geduldig
akzeptiert und in Thailand bestaunt, dass sogar zwei verschiedene Zeiten
friedlich koexistieren können.
Ach, ihr Japaner! Der Pünktlichkeitsweltrekord sei euch gern gegönnt, wir
streben ihn ja gar nicht an. Aber vielleicht könnt ihr wenigstens der Deutschen
Bahn etwas Entwicklungshilfe leisten – und ihr verraten, wie man nicht vier,
sondern fünf von fünf Zügen planmäßig ankommen lässt.
[24] »Guten Morgen« auf Japanisch.
Sauerkraut
Ein Gedicht aus Fernost
Liebe geht durch den Magen, heißt es – und unser deutsches Nationalgericht
scheint ganz besonders dazu angetan, vom Verdauungstrakt aus in direkter Linie
das Herz in Wallung zu bringen. Schon bei Heinrich Heine weckt es starke
lyrische Gefühle:
Der Tisch war gedeckt. Hier fand ich ganz
Die altgermanische Küche.
Sei mir gegrüßt, mein Sauerkraut,
Holdselig sind deine Gerüche!
Heines Zeitgenosse Ludwig Uhland lässt sich ebenfalls hinreißen und schwärmt
voller Inbrunst:
Auch unser edles Sauerkraut,
wir wollens nicht vergessen,
ein Deutscher hat’s zuerst gebaut,
drum ist’s ein deutsches Essen.
Und Altmeister Wilhelm Busch wird eine Generation später geradezu
philosophisch:
Denn nur der ist wirklich weise,
Der auch in die Zukunft schaut.
Denk an deine Lieblingsspeise:
Schweinekopf mit Sauerkraut.
Eine so enge Nachbarschaft von Gericht und Gedicht – das lässt tief in die
Volksseele blicken. Und damit ist der literarische Krautvorrat noch lange nicht
erschöpft: Ungereimt findet sich das Wort in Tausenden von Texten
unterschiedlicher Autoren aus den verschiedensten Jahrhunderten. Es scheint
wirklich so, dass wir Deutsche zu unserem Sauerkraut ein äußerst inniges
Verhältnis haben.
Aber ist es wirklich »unser« Sauerkraut? Oder teilen wir die Leidenschaft für
vergorenen Weißkohl womöglich mit anderen Nationen?
Sehen wir einmal genauer hin. Historisch betrachtet, zeigt sich als Erstes, dass
Herrn Uhland postum eine Illusion geraubt werden muss. »Ein Deutscher hat’s
zuerst gebaut«: Das trifft um einige tausend Kilometer daneben und zeigt, dass
deutsche Dichter im 19. Jahrhundert von der weiten Welt offensichtlich noch
nicht viel wussten. Richtig ist: Das Verfahren, Gemüse durch Milchsäuregärung
haltbar zu machen, wird schon seit Urzeiten in den verschiedensten Regionen
der Welt angewandt. Die Sumerer nutzten es vor rund sechstausend Jahren
erstmals zum Konservieren von Milch, im antiken Griechenland kannte man es
ebenso wie im Römischen Reich. Die meisten Küchenhistoriker sind sich jedoch
einig, dass die Ursprünge unseres heutigen Sauerkrauts nicht in Europa zu
suchen sind, sondern in Ostasien.
In seiner Kulturgeschichte der deutschen Küche bestätigt der Restaurantkritiker
Peter Peter: »Es spricht einiges dafür, dass das mit Milchsäuregärung
fermentierte geschredderte Weißkraut auf koreanisches kimchi oder chinesisches
suan cai zurückgeht.« Beides ist übrigens noch heute fester Bestandteil der
fernöstlichen Küche.
Im 13. Jahrhundert, so wird vermutet, könnten diese Spezialitäten mit der
Ausdehnung des Mongolenreichs nach Osteuropa gelangt sein. In der Schlacht
bei Liegnitz (Legnica) im heutigen Polen gelang es den Truppen des
mongolischen Feldherrn Batu Khan 1241 sogar, sich fast ein Jahr lang in unserer
unmittelbaren Nachbarschaft festzusetzen. So verbreitete sich die Kunst des
Krauteinlegens wahrscheinlich zunächst im baltischen und slawischen
Sprachraum und wanderte dann Zug um Zug nach Westen.
Heute kennt und schätzt man Sauerkraut in vielen Ländern Ost- und
Mitteleuropas, es ist also keineswegs nur ein deutsches Phänomen. In
Tschechien wird es als kyselé zelí genossen, in Polen als kiszona kapusta, in
Ungarn als savanyú káposzta, in Serbien als kiselo zelje, in Rumänien als sarmale.
Szegediner Gulasch ohne Sauerkraut ist unvorstellbar, ebenso wenig die
tschechische Kalorienbombe vepřo knedlo zelo (Schweinebraten mit Knödeln
und Kraut) oder das polnisch-litauische Nationalgericht bigos. Auch die
Westwanderung des Sauerkrauts war kaum zu stoppen – so gelangte es über
Deutschland hinaus bis nach Frankreich und in die Beneluxländer
(niederländisch zuurkool, französisch choucroute, elsässisch Sürkrüt).
Selbst über den Atlantik hinweg hat es das Sauerkraut geschafft, sodass sein
Verzehr in den USA heute kaum hinter dem hiesigen zurücksteht. Die Kleinstadt
Ackley in Iowa veranstaltet sogar einen regelrechten Kult um das beliebte
Gemüse: Jedes Jahr im Juni findet dort ein viertägiges Fest statt, die Sauerkraut
Days, bei dem unter anderem Little Miss and Mr. Sauerkraut sowie eine
Sauerkraut Queen gekürt werden. Diese Tradition besteht schon seit 1902. Wo,
bitte, gibt es etwas Vergleichbares in Deutschland?
Und nicht nur der Kult fehlt hierzulande, sondern auch die Starrolle:
Sauerkraut ist niemals Hauptgericht, stattdessen duckt es sich bescheiden als
Sättigungsbeilage hinter Fleisch und Wurst – ganz im Gegensatz etwa zum
Spargel oder zum Grünkohl. Sauerkraut mit Eisbein? Undenkbar. Umgekehrt
wird ein Schuh bzw. ein Gericht daraus. Oder schlagen wir nach bei Wilhelm
Busch: Im Haus der Witwe Bolte stehen selbstverständlich gebratene Hühner im
Mittelpunkt, während die alte Dame von dem »Sauerkohle« ebenfalls nur eine
Portion als Beilage aus dem Keller holt. Ganz anders beim Hochzeitsessen des
fetten Schmöck aus der Frommen Helene, der sich – in genau dieser Reihenfolge
– an »Spargel, Schinken, Koteletts« delektiert. Da kommt das Edelgemüse an
erster Stelle.
Wo aber steht das Sauerkraut prominent im Mittelpunkt der Tafel? Im Elsass,
also in Frankreich! Was zeigt, dass auch unsere westlichen Nachbarn, Erfinder
und Bannerträger der gehobenen Küche, einem kräftig-deftigen Essen alles
andere als abgeneigt sind. Typisch ist die Choucroute garnie – ein Sattmacher, zu
dem traditionell viel Fleisch, Frankfurter und Straßburger Würste sowie Würste
aus Montbéliard gehören. Die Krönung der Schlemmerei bildet eine teure
Spezialität, die selbst von Gourmets in Paris geschätzt wird: Choucroute royale,
zubereitet aus verschiedenen Sauerkrautsorten, reich mit Rauchfleisch, Würsten,
Speck und Leberklößchen garniert und ohne anschließenden Magenbitter kaum
zu überstehen.
Vor diesem Hintergrund wundert es nicht, dass südlich von Straßburg sogar
eine Route de la choucroute existiert – ein rund 18 Kilometer langes Stück
Landstraße zwischen Benfeld und Krautergersheim (!), an dem entlang sich die
besten Sauerkrautrestaurants der Region befinden. Insgesamt zieht sich dieser
Choucroute-Gürtel, aus dem 75 Prozent des in Frankreich hergestellten
Sauerkrauts stammen, bis weit nach Süden ins Département Haute-Savoie
hinein. Den höchsten Pro-Kopf-Verbrauch an Sauerkraut haben denn auch
keineswegs die Deutschen, sondern tatsächlich die Franzosen.
Wie aber konnte sich das Klischee von den Deutschen als Sauerkrautessern so
weit und hartnäckig verbreiten?
Schuld ist womöglich die Standard-Marschverpflegung der kaiserlichen Armee
im Ersten Weltkrieg. Damals wurden deutsche Soldaten von den Briten als
»Krauts« bespöttelt, weil sie stets gekochtes Sauerkraut in Dosen im Gepäck
hatten. Ein nahrhafter und vitaminreicher Proviant – von daher also durchaus
vernünftig –, aber für den britischen Normgeschmack mangels Fettig- und
Fischigkeit wahrscheinlich doch eher eine kulinarische Verirrung. So nistete sich
der Begriff »Kraut« erfolgreich im Sprachgebrauch ein, überdauerte einen
weiteren Weltkrieg und ist offenbar für alle Zeiten nicht totzukriegen. 1968 soll
ihn der BBC-Radiomoderator John Peel, bürgerlich John Robert Parker
Ravenscroft (1939 – 2004), sogar für eine weitere Wortschöpfung genutzt haben:
»Krautrock« – angeblich inspiriert durch den Titel Mama Düül und ihre
Sauerkrautband spielt auf von der deutschen Band Amon Düül. Gesicherte
Belege für diese Story gibt es nicht, aber immerhin: »Krautrock« hat sich seit
Beginn der Siebzigerjahre auch hierzulande als selbstironische Genre-
Bezeichnung für deutsche Rockmusik eingebürgert.
In der Tat, Kraut rocks – sei es auf Vinyl- oder Porzellanplatten. Lassen wir es
uns also, gemeinsam mit unseren europäischen und amerikanischen
Tischgenossen, auch weiterhin gut schmecken.
Schrebergarten
Querbeet durch Europa
Ein paar Obstbäume, ein Stück Rasen, eingerahmt von Blumen- und
Gemüsebeeten in einträchtigem Nebeneinander, dazu eine Laube mit Veranda
und ringsherum eine Buchsbaumhecke. So sieht des Deutschen kleines grünes
Paradies aus. Und es ist nicht nur grün, sondern auch wirklich sehr deutsch –
oder? Gehört doch Gartenarbeit zu den bevorzugten Hobbys der Bundesbürger.
Über 40 Prozent geben sie als Favoriten unter ihren Freizeitbeschäftigungen an,
womit sie nach dem Fernsehen immerhin auf Platz zwei rangiert. Auch sonst
kann die Laubenpieperei mit eindrucksvollen Zahlen aufwarten. Rund eine
Million Kleingärten mit einer Gesamtfläche von 466 Quadratkilometern gibt es
auf deutschem Boden, organisiert in 15 000 Kleingartenvereinen, die wiederum
den 20 Landesverbänden des Bundesverbandes Deutscher Gartenfreunde e.V.
(BDG) angehören. Weltmeisterlich!
Die Beliebtheit der Kleingärten wächst neuerdings sogar wieder: Vor nicht allzu
langer Zeit noch als spießig verschrien, verzeichnen sie seit einigen Jahren
steigenden Zulauf – auch und gerade bei jüngeren Zeitgenossen. Das kleine
Glück auf der eigenen Parzelle scheint gerade heute, nicht zuletzt beflügelt durch
die Ökobewegung, wieder voll im Trend zu liegen. Vier von zehn
Kleingartenvereinen führen inzwischen sogar Wartelisten, weil die Interessenten
Schlange stehen, zumindest in größeren Städten.
Und wie steht man im Ausland dazu? Vielleicht nicht in der Warteschlange, aber
doch weitgehend fest an unserer Seite. Denn siehe da: Kleingärten sind weder
eine deutsche Erfindung, noch beschränken sie sich auf Deutschland. Im
Gegenteil, sie sind nahezu ein europaweites Phänomen und teilweise sogar auf
anderen Kontinenten zu finden – zum Beispiel in Japan, den USA und
neuerdings (mit deutscher Entwicklungshilfe) auf den Philippinen. Übrigens
haben sie auch nicht viel mit ihrem unfreiwilligen Namensgeber Moritz Schreber
zu tun. Die sogenannten »Schrebergärten« sind erst drei Jahre nach Schrebers
Tod entstanden.
Falls das keine Überraschung ist, so dürfte die folgende Information eine sein:
Relativ gesehen gibt es nicht etwa in Deutschland die meisten Kleingärten,
sondern in einem Zwergstaat, dem man so viel Blumen- und Gemüsebeetfläche
gar nicht zugetraut hätte – nämlich Luxemburg. Der Anteil der
Kleingartenpächter an der Gesamtbevölkerung ist dort fast viermal so hoch wie
bei uns und markiert damit einen einsamen Rekord. Insgesamt zählt der 1928
gegründete luxemburgische Kleingartenverband Ligue Luxembourgeoise du Coin
de Terre et du Foyer rund 25 000 Mitglieder.
Selbst in absoluten Zahlen sind die deutschen Kleingärtner nicht alleinige
Weltmeister, sondern müssen sich den Podiumsplatz teilen. Auch Polen spielt
nämlich ganz oben in der Liga und liegt praktisch gleichauf mit Deutschland.
Insgesamt sind in unserem östlichen Nachbarland, ebenso wie bei uns, rund eine
Million Kleingärtner in Vereinen organisiert. Kaum verwunderlich also, dass die
polnische Kleingärtnerei auf eine ähnlich lange Geschichte zurückblicken kann
wie die deutsche, nämlich bis zum Jahr 1823. Die damals in dem Städtchen
Koźmin Wielkopolski entstandenen ersten Parzellen sind noch heute in Betrieb.
Ein Regelwerk verpasste man dem Kleingartenwesen allerdings erst 1897, als die
Anlage Kąpiele Słoneczne im damaligen Graudenz (heute Grudziądz) gegründet
wurde. Es war der Beginn einer Vereinstradition, der auch drei Kriege und
mehrere Jahrzehnte kommunistischer Diktatur wenig anhaben konnten. Im
Zuge der Solidarność-Bewegung wurden 1981 schließlich ein neues, bis heute
gültiges Kleingartengesetz verabschiedet und eine unabhängige Organisation
gegründet: der Polnische Kleingärtnerverband (Polski Zwiazek Dzialkówow).
Die eigentlichen Ursprünge des Kleingartenwesens liegen allerdings nicht im
19. Jahrhundert, sondern reichen noch wesentlich weiter zurück. Gräbt man in
der Geschichte nach den Wurzeln, dann stößt man nach einigem Suchen auf
Großbritannien und die Zeit der Reformation. In jenen Jahren wurde viel
kirchlicher Landbesitz von der britischen Krone konfisziert und Angehörigen
des Adels zugeteilt. Diese hatten nichts Eiligeres zu tun, als die zuvor frei
zugänglichen Ländereien einzuzäunen und das Betreten zu verbieten – mit dem
Ergebnis, dass Tausende in Armut lebende Menschen ihre kleinen Beete verloren
und nun erst recht am Hungertuch nagten. Um ihre Not etwas zu lindern,
wurden ihnen zum Ausgleich kleine Gartenanteile in Pacht zugewiesen. Aus
dieser Zeit – dem späten 16. Jahrhundert – stammt die erste historische
Erwähnung von Kleingärten (allotments), die somit als originär britische
Errungenschaft gelten können.
In den folgenden Jahrhunderten gab es diverse sogenannte Enclosure Acts, die
das Umzäunen von Landbesitz regelten – meist zuungunsten der Allgemeinheit.
Erst 1845 wurde ein Gesetz beschlossen, das den Interessen der armen
Bevölkerung wieder mehr Platz einräumte. Mit der Bereitstellung von field
gardens, die maximal ¼ Acre (rund 1000 m2) groß waren, wurde der Grundstein
des heutigen britischen Kleingartenwesens gelegt – auch wenn damals von 615
000 Acres eingezäunten Grundbesitzes tatsächlich nur magere 2200 für
Kleingärten abfielen.
Weil das beim besten Willen kein Glanzlicht war, erließ die britische Regierung
in der Folgezeit eine Reihe weiterer Gesetze. Als wichtigstes ist der Allotment Act
von 1887 zu nennen, der alle Gemeinden verpflichtete, bei vorhandenem Bedarf
Grund und Boden für Kleingärten zur Verfügung zu stellen. 1907 und 1908
schlossen sich verfeinerte Bestimmungen an, die das Kleingartenwesen – ähnlich
wie später in Deutschland – Schritt für Schritt auf eine stabile Rechtsgrundlage
stellten. In den zwei Weltkriegen erwiesen sich die allotments aufgrund knapper
Nahrungsmittel für viele Briten sogar als überlebenswichtig. Nach überstandener
Blood-Sweat-and-Tears-Zeit ließ das Interesse an der Gärtnerei allerdings stark
nach; nur in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts erlebte es noch
einmal eine kurze Renaissance. Heute haben die britischen Kleingartenvereine
insgesamt noch rund hunderttausend Mitglieder.
Auch die deutsche Kleingärtnerei dürfte von jenseits des Kanals inspiriert
worden sein – ihre Ursprünge hat sie jedoch, will man historisch korrekt sein, in
Dänemark. Im seinerzeit dänischen Kappeln nämlich, das heute zu Schleswig-
Holstein gehört, entstanden 1806 die ersten sogenannten »Armengärten« als
Vorläufer der heutigen Kleingärten. Wie der Name sagt, waren diese
Einrichtungen von einem Freizeithobby noch weit entfernt. Hinter ihnen stand
vielmehr die dringende Notwendigkeit, dem hungernden Prekariat eine
Möglichkeit zur Selbstversorgung zu bieten. Es war der Landgraf Carl von
Hessen-Kassel, königlich dänischer Statthalter der Herzogtümer Schleswig und
Holstein, der die Initiative ergriff und auf dem »Dothmarker Feld« 32 Parzellen
an Bedürftige zur Bewirtschaftung vergab. Nach seinem Vorbild stellte später
auch der Pastor der Gemeinde Kappeln einen Teil der Kirchengrundstücke
»Lütjefeld« und »Scheunefeld« als Gartenland zur Verfügung. Insgesamt waren
es 48 Parzellen, die für geringes Geld gepachtet werden konnten.
Diese beiden Kleingartenkolonien waren bereits vereinsmäßig organisiert,
hatten vier gewählte Vorsteher und eine festgeschriebene Ordnung. Die im
Pachtvertrag vom 28. April 1814 enthaltenen Bedingungen und Vorgaben sind
im Wesentlichen sogar in das Bundeskleingartengesetz eingeflossen und bilden
damit noch heute die Grundlage des deutschen Kleingartenwesens.
Im Jahr 1900 entstand die Idee zu einer weiteren Initiative, diesmal nach
französischem Vorbild. In jenem Jahr reiste der preußische Regierungsrat Alwin
Bielefeldt zur Weltausstellung nach Paris, wo er den Jesuitenpater Felix Volpette
traf. Volpette hatte in der Stadt St. Etienne ein interessantes soziales Projekt in
Form von Kleingärten für Arbeiter (jardins ouvriers) verwirklicht. Bielefeldt als
Gartenfreund war davon begeistert, tat sich mit dem Roten Kreuz zusammen
und gründete 1901 die »Arbeitergärten« in der Berliner Jungfernheide, mit
zunächst 84 Parzellen. Der Grund und Boden dafür wurde vom Land Berlin
bereitgestellt. Bielefeldts Idee kam über die Maßen gut an und machte auch
andernorts Schule. Zehn Jahre später gab es in ganz Deutschland schon rund 30
000 Arbeitergärten.
Die sogenannten Schrebergärten wiederum gehen auf eine ganz andere Wurzel
zurück. Sie tragen zwar den Namen des Leipziger Arztes und Hochschullehrers
Dr. Daniel Gottlieb Moritz Schreber (1808 – 1861), aber er hat sie, wie eingangs
erwähnt, weder erfunden noch initiiert. Schrebers Ziel war es vielmehr, den
Leipziger Großstadtkindern im Schatten der Mietskasernen angemessene Sport-
und Spielmöglichkeiten zu verschaffen. Erreicht wurde es allerdings erst postum:
1864 griff der Reformpädagoge und Schuldirektor Ernst Innozenz Hauschild die
Idee auf und fand dafür im Leipziger Bürgertum über 250 Mitstreiterinnen und
Mitstreiter. Gemeinsam mit ihnen gründete er einen Verein, den er zu Ehren
seines verstorbenen Kollegen »Schreberverein« taufte, und legte eine Spielwiese
am Leipziger Johannapark an – den heute nicht mehr vorhandenen
»Schreberplatz«.
Erst vier Jahre danach begann die Idee einer Gartenanlage zu keimen, wie man
sie heute üblicherweise mit dem Namen Schreber verbindet: 1868 pachtete der
Schreberverein vier brachliegende Äcker, auf denen der Oberlehrer und
Hobbygärtner Heinrich Karl Gesell gemeinsam mit seinen Schulkindern kleine
Beete anlegte. Allerdings musste er die Erfahrung machen, dass Kinder kaum die
Geduld aufbringen, Pflanzen beim Wachsen zuzusehen. So verloren die Kleinen
bald die Lust an der Gärtnerei. Umso mehr Interesse zeigten dagegen die Eltern.
Sie halfen bei der Bepflanzung und Pflege mit, übernahmen die Gärten
schließlich ganz und zäunten ihre Grundstücke nach und nach ein. Ein Jahr
später umfasste die Kolonie schon rund hundert Parzellen, die nun
»Schrebergärten« genannt wurden.
In den Folgejahren entstanden in Leipzig weitere Schreberanlagen nach dem
Vorbild der ersten, also Spielplätze im Verbund mit Kleingärten. 1921
organisierten sich alle Schrebervereine gemeinsam mit den Arbeitergärten im
neu gegründeten »Reichsverband der Kleingartenvereine Deutschlands«, dem
Vorläufer des heutigen BDG. Die historische Kleingartenanlage »Dr. Schreber«,
die im Mai 1876 eingerichtet wurde, steht heute unter Denkmalschutz und
beherbergt seit 1996 das Deutsche Kleingärtnermuseum.
In den mageren Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in vielen Ländern
Europas neue Kleingartengebiete ausgewiesen und Vereine gegründet, um die
Versorgungslage der Bevölkerung mit frischen Lebensmitteln zu verbessern. Die
weitaus meisten von ihnen gehören heute dem Office International du Coin de
Terre et des Jardins Familiaux an, das 1926 gegründet wurde und – wen
wundert’s – seinen Sitz im Kleingartenmekka Luxemburg hat. Als größte
europäische Dachorganisation von Kleingartenverbänden bildet das Office
International die Interessenvertretung für rund drei Millionen Kleingärtner und
Kleingärtnerfamilien aus insgesamt 15 Ländern: Belgien, Dänemark,
Deutschland, Finnland, Frankreich, Großbritannien, Luxemburg, den
Niederlanden, Norwegen, Österreich, Polen, der Slowakei, aus Schweden, der
Schweiz und Japan (dessen Verband Association for Japan Allotment Garden seit
2006 angeschlossen ist).
Nun könnten wir Deutschen natürlich einen Trick anwenden, um uns in
diesem Feld doch noch an die Spitze zu katapultieren: Zählen wir einfach die
ostdeutschen Datschen mit – dann ist uns der Titel des Gartenweltmeisters kaum
zu nehmen. Allenfalls von den Russen.
Skat
Spielend gelungene Integration
»Skat ist das Beste von all Germany«, lässt Theodor Fontane 1893 seinen
radebrechenden »Mister Robinson« in dem Roman Frau Jenny Treibel sagen.
Und der legendäre Humorist Heinz Erhardt hat dem deutschen Leib-und-
Magen-Spiel in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts mit seiner »Skat-
Polka« sogar ein musikalisches Denkmal gesetzt:
Was wär’ das Leben ohne Skat?
Es wäre öd und blöd und fad.
Wir dreschen Karten, daß es kracht,
bis in die Nacht, bis in die Nacht.
Diese Zeilen werden auch viele seiner heutigen Landsleute mit Sicherheit
unterschreiben. Was soll man auch sonst machen, wenn man (Mann!) zu dritt
zusammenhockt, es nichts Neues gibt, aber ein Set mit 32 Spielkarten verfügbar
ist? Klar, ein paar Runden Skat kloppen – ein urdeutscher Reflex, der allen, die
das Spiel beherrschen, ein weitgehend langeweilefreies Leben garantiert. Und
Politikern, die ihre Skatleidenschaft öffentlich zelebrieren, nebenbei den
zuverlässigen Ausweis von Volksnähe.
Aber auch wenn Skat für viele »das Beste« sein mag – made in Germany ist es
nur teilweise. Das Deutsche an ihm beschränkt sich auf die um 1813 erstmals
aufgestellten Regeln; fast alles andere ist im Lauf der Zeit zu uns eingewandert.
Schon der Name »Skat« hat keine germanischen, sondern mediterrane
Wurzeln. Sein direkter Vorläufer ist das italienische Wort scarto, was so viel wie
»Wegwerfen« oder »Ablegen« (von Spielkarten) bedeutet. Die ursprüngliche
Form des Lehnworts hat sich in der noch heute in Tirol gebräuchlichen
Zusammensetzung »Scartkarte« erhalten. Geht man noch weiter in der Historie
zurück, dann kommt man über das italienische carta zum lateinischen charta,
auf Deutsch »Papier«. Dieses wiederum geht auf das griechische chártēs
(»Papyrusblatt«) zurück und stammt wohl in letzter Konsequenz aus Ägypten.
Heiliger Pharao! Das Beste von all Germany kommt also in Wirklichkeit vom
Nil?
Es sieht ganz so aus – und nicht nur, was das Wort betrifft. Auch das
Kartenspiel als solches ist (wie so viele Kulturgüter) aller Wahrscheinlichkeit
nach aus dem fernen Morgenland nach Europa gelangt. Araber oder Ägypter
könnten es importiert haben, vielleicht auch europäische Orientreisende, die es
in den betreffenden Ländern kennenlernten.
Fest steht jedenfalls, dass Spielkarten seit Mitte des 14. Jahrhunderts in Europa
bekannt sind. Erstmals werden sie 1367 in Bern schriftlich erwähnt, und gleich
im Zusammenhang mit einem Verbot – denn wie das Würfelspiel hatte auch das
Kartenspiel von jeher einen schlechten Ruf. »Gebetbuch des Teufels« nannte
man damals das Kartenset. Als solches musste es der Obrigkeit, besonders aber
dem Klerus, zwangsläufig ein Dorn im Auge sein. Doch das Kartenspielen hatte
offenbar auch seinen teuflischen Reiz, und so breitete es sich schnell über den
ganzen Kontinent aus. 1370 taucht in Spanien und Portugal erstmals das Wort
naipe (Spielkarte) auf, dessen Herkunft nicht gesichert ist; wenig später finden
sich Belege auch in Italien und Deutschland. Im Lauf der Zeit entwickelten sich
aus den anfangs handbemalten Spielkarten verschiedene Symbolsysteme, wobei
die französische Variante mit Herz, Karo, Pik und Kreuz (in Österreich Treff
nach trèfle, dem französischen Wort für Klee) nach und nach die Oberhand
gewann.
Skat, wie wir es heute kennen, vereint in sich Regeln und Symbole aus drei zum
Teil sehr viel älteren Kartenspielen: dem spanischen El Hombre, dem daraus
abgeleiteten deutschen Schafkopf und dem französischen Tarot. Das älteste von
ihnen, El Hombre (»der Mann«), stammt wahrscheinlich aus der
abendländischen Frühzeit des Kartenspiels im 14. oder 15. Jahrhundert. Auf dem
Umweg über den französischen Hof fand es später als L’hombre Eingang in ganz
Europa – wie Skat ein Spiel für drei Personen, allerdings mit so komplizierten
Regeln, dass die breite Masse damit kaum zurechtkam. So blieb L’hombre ein
Privileg höherer Stände, das sich aber in Deutschland und Dänemark bis zum
Ende des 19. Jahrhunderts hielt.
Das genaue Gegenteil davon, nämlich ein bodenständiges und volkstümliches
Spiel, ist Schafkopf – sozusagen die Arme-Leute-Version von El Hombre. Als
Wendischer Schafkopf war es ursprünglich im Erzgebirge und im Thüringer
Wald angesiedelt. Seine erste schriftliche Erwähnung findet sich 1782 in einem
sächsischen Bußgeldkatalog (wo sonst!), der es aber ausdrücklich von den
Glücksspielen ausnimmt und deshalb im Gegensatz zu anderen Kartenspielen
erlaubt. Heute ist Schafkopf am stärksten verbreitet in Bayern, wo es auf der
Beliebtheitsskala weit vor Skat rangiert.
Das französische Tarot (im Deutschen Tarock, im Italienischen Tarocchi) ist
erstmals am Anfang des 16. Jahrhunderts schriftlich bezeugt und stellt eine
Weiterentwicklung des italienischen Kartenspiels Trionfi dar (übrigens der
direkte Ahn des deutschen Wortes »Trümpfe«). Dem italienischen Tarocchi-
Vokabular entstammt auch der Begriff scarto als Vorläufer des Skat, denn hier
wie dort geht es ja – unter anderem – um das Weglegen von Karten. Im 18.
Jahrhundert eroberte das Tarotspiel zahlreiche europäische Länder, doch mit der
Zeit schwanden das Interesse und damit das Tarot als Gesellschaftsspiel. Heute
werden Tarotkarten mit ihren zahlreichen mystischen Symbolen praktisch nur
noch zum Kartenlegen verwendet. Wer wissen möchte, ob er in absehbarer Zeit
den Lotto-Jackpot knacken wird, kann es ja mal mit einem entsprechenden
Wahrsager probieren.
Aus diesen drei Vorläufern entstand irgendwann zwischen 1789 und 1813 in der
späteren thüringischen Kartenmacher-Metropole Altenburg das Skatspiel. Der
Wendische Schafkopf diente als Grundlage; von L’hombre und einer weiteren
vereinfachten Version, dem Deutschen Solo, übernahm man das Reizen, vom
Tarot das Spielprinzip der weggelegten Karten. Als geistige Väter des Skats gelten
drei Altenburger Honoratioren – Hofadvokat Friedrich Ferdinand Hempel,
Medizinalrat Dr. Carl Ludwig Schuderoff und Kanzler Hans Carl Leopold von
der Gabelenz. Die drei trafen sich des Öfteren auf Schloss Poschwitz, dem Sitz
des Adelsgeschlechts von der Gabelenz, zum Kartenspiel – und da sie sich
offenbar nicht über die Regeln einigen konnten, mischten sie sich eben ihre
eigenen zurecht. Vielleicht war es auch pure Experimentierfreude: Mal sehen,
was herauskommt, wenn man ein paar Kartenspiele aus verschiedenen Ecken
Europas miteinander vermengt.
Irgendwann war es dann so weit, dass sich aus den Schöpfungsnebeln unser
neues Nationalspiel erhob. Wir kennen sogar das genaue Datum. Die Spielkladde
des Herrn von der Gabelenz ist im Thüringischen Staatsarchiv bis heute erhalten
und dokumentiert lückenlos alle Spiele der Männerrunde von 1789 bis 1829. Am
4. September 1813 taucht hier erstmals der Begriff Scat auf. Dieser Eintrag kann
somit wohl als offizielle Geburtsurkunde des Skatspiels gelten. Friedrich
Ferdinand Hempel entwickelte die Spielregeln später weiter und verfeinerte sie –
unter anderem gemeinsam mit dem Verleger Friedrich Arnold Brockhaus und
dem Ratsherrn Carl Christian Adam Neefe, auf den das für Skat typische
»Reizen« zurückgeht.
Der Reiz des Spiels war damit endgültig unwiderstehlich, und so erlebte die
Folgezeit eine deutsche Erfolgsstory sondergleichen. Von Altenburg aus
verbreitete sich Skat zunächst in verschiedene Universitätsstädte und wurde vor
allem unter Studenten zu einem beliebten Zeitvertreib. Allerdings zeigte sich,
dass die Altenburger Gründerväter das Regelwerk wohl doch nicht ausreichend
festgeklopft hatten – man spielte Skat, wie man es gerade gewohnt war und für
korrekt hielt, was dem Frieden der Dreimännerrunden nicht immer dienlich
war. Um einheitliche Regeln zu schaffen, fand deshalb am 7. August 1886 in
Altenburg der 1. Deutsche Skatkongress statt, auf dem eine verbindliche
Skatordnung beschlossen wurde. Aber selbst die hatte offensichtlich noch
Lücken, denn erst mit dem 11. und 12. Skatkongress 1927 und 1928 war die
schwere Geburt geschafft. Seitdem gelten für Skat in ganz Deutschland die
Spielregeln, wie wir sie heute kennen. Eine lange Reise vom Orient durch viele
Länder Europas hatte nach fast sechs Jahrhunderten ihren Zielbahnhof
gefunden.
Das Beste von all Germany? Eher das Beste vieler Welten – aber immerhin
haben wir mit dem Skatspiel ein dauerhitverdächtiges »Best of« daraus gemacht.
Spätzle
Europäische Nocken-Welle
Man nehme Mehl, Eier, Wasser und Salz, vermenge alles zu einem Teig und
schabe von diesem dünne Streifen direkt in kochendes Salzwasser: Fertig ist eine
zwar nicht gesamtdeutsche, aber zumindest in ganz Süddeutschland bekannte
und beliebte kulinarische Spezialität – die Spätzle oder auch Spätzla. Die
länglichen Teigklümpchen (nicht zu verwechseln mit Nudeln!) werden in den
verschiedensten Varianten aufgetischt, von der schwäbischen Fixkombination
»Linsen mit Spätzle« über Kässpätzle, Eispätzle und Krautspätzle bis hin zu den
süßen Spielarten Apfel- und Mohnspätzle. Kurz, sie sind ein Universalgericht für
fast alle Gelegenheiten.
Aber woher kommen diese putzigen Sattmacher eigentlich, und was hat ihr
Name zu bedeuten? Die schwäbisch-alemannische Verniedlichung »Spätzle«
wird meist als »kleine Spatzen« interpretiert – was naheliegt und worauf auch die
ursprüngliche Bezeichnung »Wasserspatzen« hindeutet, die erstmals im 18.
Jahrhundert auftaucht. Gesichert ist diese Herkunft allerdings nicht – es gehört
wohl auch einiges an Fantasie dazu, in geschabten Teigstückchen die Form von
Sperlingen zu erkennen. Eine andere Theorie vermutet die Ableitung aus dem
italienischen spezzato (was so viel wie »zerstückelt« oder »auseinandergerissen«
bedeutet), aber auch dafür gibt es keine eindeutigen Belege.
Schon diese Klangverwandtschaft lässt jedoch ahnen, dass hier noch andere
Nationen und Sprachen im Spiel sind. Und tatsächlich: Spätzle heißen zwar nur
in Deutschland Spätzle, aber weder wurden sie in Deutschland erfunden, noch
werden sie ausschließlich hier gegessen. Für Schwaben, Badener und Oberbayern
dürfte es ohnehin ein offenes Geheimnis sein, dass man sie auch in Österreich
und der Schweiz unter verschiedenen Namen serviert. Das ist aber noch lange
nicht alles. Tatsächlich gehören Spätzle zu einer Teigwaren-Großdynastie mit
weiter Verbreitung und jahrhundertelanger Tradition. Im Katalog der
kulinarischen Artenvielfalt stellen sie nichts anderes dar als eine deutsche
Spielart der Nocken, die in einer ganzen Reihe mittel- und südeuropäischer
Länder verbreitet sind.
Ob nun von Italienern bei uns eingeführt oder nicht – auf jeden Fall spielen
Nocken auch in der italienischen Küche eine tragende Rolle. Hier heißen sie
gnocchi und sind unseren Spätzle im Aussehen sehr ähnlich – allerdings
enthalten sie keine Eier, sondern basieren wahlweise auf Maismehl (gnocchi di
polenta), Weizengrieß (gnocchi alla romana) oder gekochten Kartoffeln (gnocchi
di patate). Alle drei Varianten sind auf dem gesamten Stiefel verbreitet, sei es als
Vorspeise, Hauptgericht oder Suppeneinlage. In Rom werden sie von alters her
am Donnerstag aufgetischt, getreu dem Motto: giovedì gnocchi, venerdì pesce,
sabato trippa (donnerstags Gnocchi, freitags Fisch, samstags Kutteln). Warum
das so ist, weiß allerdings kein Mensch plausibel zu begründen.
In der Schweiz wiederum kennt man die Nocken als Spätzli oder Chnöpfli, in
Österreich als Nockerln – jeweils in ähnlicher Zubereitungsvielfalt wie im
deutschen Süden und Südwesten. Berühmt sind vor allem die Salzburger
Nockerln, die sich vom Ursprung allerdings sehr weit entfernt haben: Sie
bestehen aus schaumig geschlagenem Eigelb, Eiweiß, Zucker und nur wenig
Mehl. Aus dieser cremigen Masse werden sehr große Nockerln geformt, das
Ganze wird im Ofen überbacken und anschließend mit Puderzucker (für
Österreicher: Staubzucker) bestäubt. Das Ergebnis – wenn es denn gelingt – ist
ein Kunstwerk, das offenbar nicht nur unsere südlichen Nachbarn begeistert. So
priesen es die deutschen Librettisten Max Wallner und Kurt Feltz 1938 in ihrer
Operette Saison in Salzburg überschwänglich als »süß wie die Liebe und zart wie
ein Kuss«.
Die ungarischen nokedli oder galuska sind den schwäbischen Spätzle wieder
sehr viel näher; sie werden aus den gleichen Zutaten hergestellt und genauso
zubereitet. Als traditionelle Beilage schätzt man sie insbesondere zu Gulasch
(pörkölt). Gleich nebenan in der Slowakei gibt es die ähnlich klingenden halušky,
deren Teig allerdings aus Kartoffelmehl hergestellt wird. Als bryndzove halušky
(Brimsennocken), mit Schafskäse, Speck und Zwiebeln angerichtet, bilden sie das
slowakische Nationalgericht.
Selbst der französischen Küche sind Nocken geläufig – zum Beispiel als noques
au beurre (Butternocken) oder noques de semoule (Grießnocken), die jeweils
meist als Suppeneinlage dienen.
Ein weiteres eng verwandtes und weit verbreitetes Mitglied der Nocken-Familie
sind Schupfnudeln, die wie die Nocken selbst – je nach Form – eine Vielzahl
regional unterschiedlicher Namen tragen. In Altbayern heißen sie auch
Fingernudeln oder Dradewixpfeiferl, in Teilen Oberfrankens und in der
Oberpfalz nennt man sie Schopperla, in Franken auch Bauchstecherla, im
Odenwald Krautnudeln, und in der Pfalz findet sich die deftig-direkte
Bezeichnung Buwespitzle (Knabenpenis). Auch die Schupfnudeln bestehen je
nach Region und Machart aus den unterschiedlichsten Zutaten – in der
einfachsten Version sind es Roggenmehl und Wasser, daneben gibt es aber auch
Rezepte mit Kartoffelpüree, Eiern und Weizenmehl. In der österreichischen und
böhmischen Küche bevorzugt man sie als Mohnnudeln, also in süßer Form.
Ob nun Schupfnudeln, Spätzle, Nockerl, Gnocchi oder Galuska – bei allen
Spielarten und Namen haben wir es mit Angehörigen einer paneuropäischen
Großfamilie zu tun. Da behaupte noch einer, die schwäbische und bayerische
Küche seien nicht international!
Stammtisch
Die Gentlemen bitten zum Talk
»Do hogga de de wo oiwei do hogga« (Hier hocken die, die immer hier hocken):
So ist es in vielen bayerischen Wirtshäusern zu lesen, und nichts könnte Wesen
und Charakter des Stammtischs besser auf den Punkt bringen. Wobei die
augenzwinkernde Dialektform beweist: Die Bajuwaren pflegen ihre Bierkultur,
aber nicht unbedingt den Bierernst.
Was hier so urgemütlich klingt, trägt im landläufigen Sprachgebrauch
allerdings oft eher martialische Züge. Da ist von Stammtischparolen die Rede,
mit denen natürlich immer Haudrauf-Parolen gemeint sind – und will man als
Partei oder Politiker Wahlen gewinnen, empfiehlt es sich bekanntlich, die
Lufthoheit über den Stammtischen zu erobern.
Aber mal kritisch nachgefragt: Werden mit solchen Redensarten nicht bloß
althergebrachte Klischees beschworen? Sicher mag es in vielen Fällen zutreffen,
dass an Stammtischen eher grob argumentiert und versimpelt wird. Auch ist
Alkohol ja nicht unbedingt dafür bekannt, dass er intellektuell anspruchsvolles
Argumentieren fördert. Wer aber im Stammtisch nichts anderes sieht als
politische Unkultur, stellt ihn in ein schlechteres Licht, als er verdient – ganz
abgesehen davon, dass sich das Wort heutzutage als Oberbegriff für nahezu jede
feste Gesprächsrunde eingebürgert hat. Inzwischen gibt es sogar »Online-
Stammtische« (übrigens eine Erfindung aus den USA), die ganz ohne Tisch und
Kneipe auskommen. Und auch als klassische Männerbastion hat der deutsche
Stammtisch längst ausgedient – heute ziehen sich Tausende von
Frauenstammtischen quer über die ganze Republik. »Der Stammtisch erweist
sich als bemerkenswert flexibel und anpassungsfähig«, stellte der Münchner
Journalist und Grünen-Politiker Georg Etscheit in der Süddeutschen Zeitung
ganz richtig fest.[25]
Nebenbei bemerkt, hat der Stammtisch noch keine sehr lange Tradition. Der
Brauch kam erst im 19. Jahrhundert auf, und das natürlich nicht von ungefähr.
Im Zuge wachsenden Freiheits- und Selbstbewusstseins nahm sich das
Bürgertum heraus, das politische Geschehen nicht mehr einfach über sich
ergehen zu lassen, sondern am runden (oder auch eckigen) Tisch darüber zu
diskutieren und sich seine eigene Meinung zu bilden. Von daher steht der
deutsche Stammtisch, allen Unkenrufen zum Trotz, eher in einer linksliberalen
Tradition; sogar Marx und Engels sollen des Öfteren in einer solchen Runde
gesichtet worden sein. Und auch heute ist es ja entgegen dem verbreiteten
Stereotyp nicht so, dass hier nur schlichte Gemüter herumhocken und kungeln
würden. Tatsächlich war der traditionelle Dorfstammtisch bis weit ins 20.
Jahrhundert hinein eher den gebildeten Schichten vorbehalten, den
Honoratioren und Doktoren der Gemeinde. Wer da zu hocken pflegte und auch
heute oft hockt, beschreibt Kurt Tucholsky mit großstädtischer Süffisanz in der
Glosse »Kleine Station«, die er 1926 in der Weltbühne veröffentlichte:
»Am Stammtisch sorgen der Amtsrichter, der, ach Gottchen, Referendar, der
Apotheker und der Postinspektor für die Aufrechterhaltung der Republik, wie
sie sie auffassen. Manchmal darf da auch der Redakteur sein Bier trinken.«
Wie immer man es sieht – als unterste Säulen im Tragwerk der Republik erfüllen
Stammtische durchaus eine nützliche Funktion. 2009 stellte der englische
Publizist Roger Boyes anerkennend fest: »Grundsätzlich gilt, dass man am
Stammtisch offen reden kann, und daher wirkt er sich fast immer positiv auf das
Gemeindeleben aus und umgeht bürokratische Hürden.«[26] Insofern ist der
Stammtisch im Grunde eine urdemokratische Angelegenheit.
Im Übrigen: Dass man sich in der Kneipe trifft, um bei Alkohol und Tabak
(Letzterer entfällt inzwischen weitgehend) zwanglos über Politik und
Gesellschaft zu diskutieren, ist natürlich – mal wieder – kein exklusiv deutscher
Brauch. Zwar sitzt die Runde hierzulande am Eichentisch mit dem berühmten
Schild darüber, während man in anderen Ländern die Bar oder den Clubsessel
bevorzugt, doch der Sinn und Zweck ist im Wesentlichen derselbe.
Großbritannien liefert ein klassisches Beispiel – wobei sich hier das
Zusammenhocken nach altbritischer Sitte in ein Unter- und ein Oberhaus
aufteilt. Für die breite Masse gibt es die Einrichtung der Pubs, die sich bis ins
frühe Mittelalter zurückverfolgen lässt: Nach dem Untergang des Römisch-
britischen Imperiums und dem Verschwinden der römischen tabernae gingen
als Ersatz im 5. Jahrhundert aus Privathäusern die sogenannten alehouses hervor.
Diese Einrichtungen erfüllten schon damals die Funktion dörflicher Foren, wo
man sich traf, über alles Mögliche diskutierte und sich gegenseitig half. Später
entstand dafür die Bezeichnung public house, die sich im Viktorianischen
Zeitalter zu pub verkürzte.
Auf jeden Fall sind die britischen Pubs älter als selbst die ältesten deutschen
Wirtshäuser. Während bei uns das aus dem 12. Jahrhundert stammende
»Gasthaus zum Riesen« in Miltenberg am Main die Methusalem-Trophäe
beansprucht, streiten sich die Briten um ganz andere Jahreszahlen. Den
offiziellen Rekord hält laut Guinness Book Ye Olde Fighting Cocks in St. Albans
(Hertfordshire), erbaut im 11. Jahrhundert. Heftig angefochten wird dieser
Eintrag allerdings von Ye Olde Man & Scythe in Bolton (Greater Manchester),
das für sich über zweihundert Jahre mehr reklamiert, ebenso wie Ye Olde Trip to
Jerusalem in Nottingham.
Wie auch immer – als Institution darf sich das Pub einer langen und
traditionsreichen Vergangenheit rühmen. Noch heute ist es in vielen kleinen
Gemeinden der Mittelpunkt des öffentlichen Lebens, ähnlich wie das Wirtshaus
oder der »Krug« in deutschen Dörfern. Und auch in ihm hat sich teilweise bis
heute ein Brauch erhalten, der dem deutschen Stammtisch wesensverwandt ist –
nämlich das Abhalten von Gesprächsrunden in abgetrennten Hinterzimmern, zu
denen nur bestimmte Stammgäste Zutritt haben.
Treffpunkt der gehobenen Schichten waren dagegen eher die coffeehouses, von
denen es im frühen 18. Jahrhundert allein in London über fünfhundert gab.
Ganz wie beim orientalischen Vorbild wurde in diesen Etablissements über
Politik und Geschäfte, Gott und die Welt diskutiert, und das weibliche
Geschlecht hatte dabei selbstverständlich nichts verloren. In den folgenden
Jahrzehnten wurden die coffeehouses in dieser Rolle allmählich von den
legendären Gentlemen’s Clubs abgelöst, die damit ebenfalls auf eine wesentlich
längere Tradition zurückblicken als der deutsche Stammtisch. Den Höhepunkt
ihres gesellschaftlichen Einflusses erreichten die Clubs im 19. Jahrhundert.
Damals repräsentierten sie einen großen Teil dessen, was man seinerzeit unter
»Establishment« verstand. Geschäftsleute und Politiker, Dandys und Mitglieder
des Adels widmeten sich hier dem gepflegten Austausch über gemeinsame
Interessen wie Politik, Sport, Reisen, Kunst und Kultur. Auch Wetten war ein
populärer Zeitvertreib, wie ihn uns Jules Verne in seinem Roman Reise um die
Erde in 80 Tagen höchst unterhaltsam vor Augen führt.
Heute gibt es Gentlemen’s Clubs rund um die Welt, speziell in den USA und
den britisch geprägten Ländern des Commonwealth wie Australien, Südafrika
und Indien, wo die Mitgliedschaft nach wie vor den errungenen hohen sozialen
Status dokumentiert.
In Spanien wiederum und in seinen früheren Kolonien – also in ziemlich vielen
Ländern der Welt – finden sich die sogenannten tertulias, die mit dem deutschen
Stammtisch noch mehr Ähnlichkeit aufweisen. Diese regelmäßigen
Gesprächsrunden kamen im 17. Jahrhundert auf und finden bis heute
üblicherweise in einer Cafeteria statt. Häufig konzentrieren sich tertulias auf
bestimmte Interessen und gleichen damit Tausenden von Stammtischen in
Deutschland, die sich ebenfalls mit einem eingegrenzten Themenkreis befassen.
So diskutiert man zum Beispiel über Stierkampf, Fußball, Literatur oder Theater.
Die Bedeutung von tertulia ist im Spanischen übrigens weit gefasst – das Wort
kann unter anderem auch »Kaffeekränzchen« oder »Talkshow« bedeuten.
Sieh einer an! Sind mittlerweile nicht auch viele deutsche TV-Talkshows fast
dasselbe wie Stammtische (und heißen sie nicht manchmal auch so)? Immer
dieselben Plaudertaschen, die sich zuverlässig in immer denselben Runden
treffen? Betrachtet man es von dieser Warte, dann markiert unser gutes altes
Stammtischwesen wirklich einen internationalen Megatrend. Ob Wirtshaus oder
Cafeteria, ob Chatforum, Facebook oder Fernsehshow – gemeinschaftliches
Hocken und Reden war als Zeitvertreib und Medienfüller nie populärer als
heute. Also, ihr Podiumsteilnehmer, Twitterer, Blogger und Anne-Will-
Stammgäste: Welcome to the club!
[25] Süddeutsche Zeitung vom 23.06.2012.
[26] Quelle: Goethe-Institut.
Teutonen
Barbarische Verwechslung
Es ist schon seltsam: Immer wenn wir uns über uns selber lustig machen (oder
wenn sich vermeintlich kultivierte Deutsche über den vermeintlich tumben und
plumpen Rest des Volkes mokieren), erfolgt ein nahezu reflexhafter Griff zu der
Wortschablone »Teutonen«. Wie oft etwa die von deutschen Touristen
heimgesuchten Mittelmeerstrände als »Teutonengrill« veräppelt wurden, lässt
sich vermutlich kaum mehr zählen. Aktuell finden sich für das Wort im Internet
über 65 000 Treffer – gemünzt auf deutsch besetzte Grillstationen von Malle bis
Rimini.
Aber sind es wirklich Abkömmlinge der Teutonen, die da in der mediterranen
Sonne brutzeln? Teutonen gleich Deutsche, sowohl wort- als auch
geistesverwandt?
Klare Antwort: zum Glück nein! Ebenso gut könnte man die Russen als Tataren
bezeichnen, und es wäre ebenso absurd. Zwar waren die Teutonen ein
Germanenstamm, aber dessen Heimat lag zum größten Teil im Gebiet des
heutigen Dänemark. Die Bezeichnung »Teutonen« hat auch nichts mit dem
Wort »Deutsche« zu tun – vielmehr geht sie auf die altrömische Wurzel teutones
oder teutoni zurück, deren Ursprung nicht sicher geklärt ist. Möglicherweise
stammt das Wort aus dem Keltischen. »Deutsch« dagegen kommt vom
althochdeutschen diutisc ( »Deutsche Sprache«), und dieses wiederum ist
abgeleitet von dem germanischen Substantiv theot (= Volk oder Stamm). Auch
die im Mittelalter eingeführte lateinische Bezeichnung Ordo teutonicus für den
Deutschen Orden ist also sprachlicher Kokolores. Genauso daneben liegen
folglich die zahllosen deutschen Vereine und Burschenschaften, die sich mit dem
Zusatz Teutonia schmücken.
Und der Teutoburger Wald? Klingen in diesem Namen nicht unübersehbar die
Teutonen an? In der Tat, so weit es die ersten fünf Buchstaben betrifft – aber
dabei handelt es sich um die gleiche Zufallsähnlichkeit wie zwischen Schweden
und Schwerin. Tatsächlich hat nie ein Teutone seinen Fuß in den Teutoburger
Wald gesetzt: Die nördlichste Stelle Westdeutschlands, die von den Teutonen auf
ihrer Wanderung durch Europa je erreicht wurde, liegt zwischen Spessart und
Odenwald.
Der Teutoburger Wald erhielt seinen heutigen Namen erst 1616 von dem
deutschen Geografen und Historiker Philipp Clüver. Zuvor hieß das Gebirge
Osning, was möglicherweise – wie Osnabrück – von dem alten Flussnamen Osna
abgeleitet ist. Als »Teutoburger Wald« übersetzte Clüver eine Ortsangabe des
römischen Geschichtsschreibers Tacitus, der den Schauplatz der berühmten
Varusschlacht mit haud procul teutoburgiensis saltu (»unweit des Teutoburger
Waldes«) umschreibt. Teutoburgiensis soll sich nach dieser Lesart aus der
romanisierten germanischen Wurzel theot und dem lateinischen burgus
zusammensetzen – was in Kombination so viel wie »Volksburg« bedeuten
würde. Vielleicht, denn das ist nur eine Interpretation. Und ob mit saltus
tatsächlich »Wald« gemeint ist, steht ebenso wenig fest. Es kann auch ein
schlichtes Flächenmaß sein und würde damit nur die Ausdehnung des fraglichen
Gebietes bezeichnen. Über diese Finessen werden sich Sprach- und
Geschichtsforscher vermutlich noch länger streiten – treten wir das Thema hier
also nicht breiter als nötig.
Aber wer waren nun die geheimnisvollen Teutonen, mit denen wir uns heute so
lustvoll-selbstironisch identifizieren?
Dass sie der germanischen Sprachfamilie angehörten, wurde schon gesagt. Mit
dem heutigen Deutschland verbindet sie dagegen nur der äußerste Nordzipfel.
Legt man antike Quellen zugrunde, dann lässt sich ihre Heimat in etwa auf die
Halbinsel Jütland eingrenzen – also den Festlandsteil des heutigen Dänemark
und das heutige deutsche Bundesland Schleswig-Holstein. Dort lebten sie »am
Rand der bewohnten Welt«, wie Tacitus schreibt, in enger Nachbarschaft zum
gleichfalls germanischen Volksstamm der Kimbern.
Im Jahr 120 v. Chr. verließen die Kimbern dieses Gebiet und brachen zu einer
insgesamt siebentausend Kilometer langen Odyssee in den Süden Europas auf.
Was sie dazu trieb, ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt: Der Grund könnte eine
gewaltige Sturmflut gewesen sein, die ihre Lebensgrundlagen zerstörte (der
römische Geschichtsschreiber Titus Livius berichtet von mehreren solcher
Naturkatastrophen). Möglicherweise waren es aber auch Missernten oder ganz
einfach das harte, von ständigem Hunger geprägte Leben im Norden, das sie
zum Auswandern zwang. Die Teutonen schlossen sich diesem Exodus an, und so
dürfte es ein gewaltiger Zug von rund 150 000 Menschen gewesen sein, der da
auf der Suche nach neuen Nahrungsquellen unterwegs war – durch Schlesien,
Böhmen und das heutige Österreich bis ins gallische Rhonedelta und nach
Katalonien. Dabei machten sie der römischen Bezeichnung barbari alle Ehre: Die
Krieger der beiden Stämme gingen alles andere als zimperlich vor und
schreckten weder vor Plünderung noch vor Mord zurück.
Im antiken Noreia, das längst von der Landkarte verschwunden ist und
wahrscheinlich in der heutigen Steiermark oder in Kärnten lag, trafen Kimbern
und Teutonen im Jahr 113 v. Chr. erstmals auf römisches Militär. Zwar waren
ihre Krieger den Legionen zahlenmäßig unterlegen, aber dafür verbanden sie
Brutalität und körperliche Stärke zu einer Kampfkraft, die für die Römer in
einem Blutbad endete.
Der Raubzug ging weiter durch das heutige Bayern und Baden-Württemberg,
dann am Nordwestrand der Alpen entlang ins heutige Südfrankreich. 105 v. Chr.
kam es in Arausio (dem heutigen Orange) zu einem erneuten Aufeinandertreffen
der beiden Stämme und einer römischen Armee, und auch diesmal erlebten die
Römer ein gnadenloses Gemetzel. Gefangene wurden nicht gemacht. Wer
überlebte, den hängten die Germanenkrieger kurzerhand an Bäumen auf. Damit
begann in Gallien eine Schreckensherrschaft, die das ohnehin von inneren
Konflikten geschwächte Römische Reich in höchste Angst versetzte – man
erinnerte sich an Hannibal, dessen Invasion ein Jahrhundert zuvor fast das Ende
des Imperium Romanum bedeutet hätte.
Später trennten sich Teutonen und Kimbern: Erstere blieben in der Provence,
wo es 102 v. Chr. dem römischen Feldherrn Gaius Marius endlich gelang, sie bei
Aquae Sextae (dem heutigen Aix-en-Provence) vernichtend zu schlagen.
Zehntausende teutonischer Männer sollen dabei ums Leben gekommen sein; die
überlebenden Frauen töteten angeblich ihre Kinder und sich selbst, um nicht in
römische Gefangenschaft zu geraten. Die Kimbern waren unterdessen nach
Oberitalien weitergezogen. Ein Jahr später wurden auch sie bei Vercellae (dem
heutigen Vercelli zwischen Turin und Mailand) von römischen Legionen
buchstäblich ausgelöscht.
Mit diesen historischen Schlachten verschwanden beide Stämme auf
Nimmerwiedersehen aus der Geschichte, vor mehr als zweitausend Jahren. Kein
heutiges Volk stammt somit von den Teutonen ab, weder südlich noch nördlich
der Alpen. Es wäre ja auch allzu schaurig und würde schlimmste Vorurteile
zementieren, wenn wir wirklich solches Erbgut in uns trügen. Legen wir uns also
guten Mutes auf den Solargrill und lassen uns als das braten, was wir sind:
schlicht und einfach Deutsche.
Toast Hawaii
Aloha, Monsieur
Eine Scheibe Toast, gebuttert, mit Schinken belegt und mit Schmelzkäse
überbacken, darauf eine Scheibe Ananas und das Ganze gelegentlich noch von
einer Cocktailkirsche gekrönt … Na, wie deutsch ist das denn?
Die Antwort kann man sich fast denken: überhaupt nicht – auch wenn die
legendäre Südseestulle (mehr oder weniger) in Deutschland erfunden wurde.
Tatsächlich ist der Toast Hawaii eine Abwandlung der traditionellen
französischen Sandwich-Spezialität »Croque-monsieur«, kombiniert mit einer
aus Lateinamerika stammenden Südfrucht und einer kroatischen Kirschsorte –
und um die bunte Mischung voll zu machen, trägt das Ganze auch noch einen
englisch-polynesischen Namen.
Ein kleiner Ausflug in die Historie: Der Croque-monsieur (Schinkentoast mit
Käse überbacken), bodenständige Grundlage des Toast Hawaii, wurde bereits
1910 in einem Pariser Café erfunden und gehört seitdem zu den Fast-Food-
Klassikern Frankreichs. Den beim Hawaii-Toast verwendeten Schmelzkäse
verdanken wir den Schweizer Pionieren Walter Gerber und Fritz Stettler von der
Firma Gerberkäse AG in Thun, die ihn 1911 erstmals industriell herstellte. Die
Ananas wiederum kultivierte man in Süd- und Mittelamerika schon lange vor
der Ankunft der ersten Europäer. Später wurde sie hauptsächlich auf den
Hawaii-Inseln angebaut, sodass der pazifische Archipel zu einem der
Hauptexporteure weltweit aufstieg – was den Namen »Toast Hawaii« durchaus
nahelegt. Inzwischen allerdings sind die Inseln weit ins Hintertreffen geraten
und liegen nur noch auf Platz 18 der Anbaugebiete. Wichtigste Produzenten sind
heute Brasilien, Thailand und die Philippinen.
Maraska-Sauerkirschen schließlich, die durch Einlegen in Maltosesirup zu den
geschmacksfreien Cocktailkirschen (Maraschino-Kirschen) werden, stammen
ursprünglich von der dalmatinischen Küste. Man sieht, es wird immer
internationaler.
Immerhin, die dekorative, wenn auch nicht unbedingt deliziöse Idee mit der
Ananasscheibe und der Cocktailkirsche stammt tatsächlich von einem
Deutschen: Es ist der Schauspieler Clemens Wilmenrod, der Anfang 1953 mit
der ersten Kochsendung des Deutschen Fernsehens vor die Kamera trat. Carl
Clemens Hahn, wie er eigentlich hieß (Wilmenrod ist die Gemeinde seines
Geburtsorts im Westerwald), beendete damit eine eher flau dahindümpelnde
Karriere und wurde schlagartig zum Star des Abendprogramms. Seine
viertelstündige Show »Clemens Wilmenrod bittet zu Tisch« war in den
Folgejahren ein Straßenfeger, der Deutschlands Fernsehpublikum 185-mal vor
den Bildschirmen bannte und alle Zuschauerrekorde brach. Dabei war der
vermeintliche Koch Autodidakt, und angesichts von nur fünfzehn Minuten für
ein ganzes Menü würden unsere gegenwärtigen Kochgrößen vermutlich nur den
Kopf schütteln. Doch mithilfe eines Infrarotgrills und viel alkoholischem
Flammenzauber schaffte es Wilmenrod tatsächlich, seine Gerichte live im
Zeitraffertempo zuzubereiten.
Im Jahr 1955 stellte er seine erfolgreichste und zählebigste Schöpfung, den
Toast Hawaii, erstmals vor. Eine Sensation! Auch wenn wir heutigen
Wohlstandsbürger, die mal eben per Billigflieger wer weiß wohin düsen, darüber
nur milde lächeln mögen – schon mit der Grundkomposition war Wilmenrod
seiner Zeit ein ganzes Stück voraus. Immerhin musste noch Anfang der
Sechzigerjahre die damalige deutsche Familienillustrierte Praline ihren
staunenden Lesern erklären: »Ein Stück geröstetes Brot nennt man in England
Toast.« Das macht umso deutlicher, wie aufregend dieses Stück Exotik war, das
man heute eher als Fast Food abqualifizieren würde. Nun, der Begriff »Fast
Food« war damals noch unbekannt – und der Hawaii-Toast galt als Delikatesse,
die man sich nicht einfach in den Mund schob wie eine gewöhnliche Butterstulle.
Nein, man verzehrte ihn stilvoll mit Messer und Gabel (übrigens auch heute
noch anzuraten).
Betrachtet man die deutsche Lebenswirklichkeit der Fünfzigerjahre des vorigen
Jahrhunderts, so wird der Erfolg des Toast Hawaii nur zu verständlich. Damals
sogen die Bundesbürger begierig alles ein, was die zurückliegende
entbehrungsreiche Nachkriegszeit vergessen machte, Hoffnung auf ein besseres
Leben weckte und vor allem ein Stück große weite Welt verhieß. Rudi Schuricke
nahm sich bella Italia vor, Caterina Valente ließ Mexikaner Calypso tanzen und
karibische Inseln in blauer Tropennacht versinken, Vico Torriani pries »Ananas
(!) aus Caracas«, und norddeutsche Radiohörer durften sich ab 1951 mit der
noch heute ausgestrahlten Sendereihe »Zwischen Hamburg und Haiti« von zu
Hause wegträumen. Dass zwischen beiden Punkten praktisch nur Wasser liegt –
wer wollte es damals so genau wissen? Kurz, das Weltbild vieler Deutscher
westlich des Eisernen Vorhangs war kaum anders, als es der Berliner
Liedermacher Ulrich Roski in den Siebzigerjahren durch den Kakao zog: »Wenn
die Bouzouki klingt am Lago Maggiore«. Es ging einher mit der Verklärung alles
Exotischen, in vorderster Reihe das vermeintliche Traumland Mexiko, die
Antillen und natürlich Hawaii – der Sehnsuchtsbegriff schlechthin. Schon dieses
Namens wegen musste Wilmenrods Erfindung praktisch ein Hit werden.
Erstaunlich allerdings, dass sich der Toast Hawaii bis heute nicht von deutschen
Speisekarten hat verdrängen lassen. Selbst in die DDR, wo Ananas als westlicher
Luxus schlechthin galt, konnte er schon früh unter dem Decknamen »Karlsbader
Schnitte« einreisen und sich somit von der Stasi unbehelligt durchsetzen. Und
nicht nur das – die Idee machte sogar weltweit Schule: Die »Pizza Hawaii«, eine
Variante des Wilmenrod’schen Urrezepts und angeblich 1962 im kanadischen
Chatham erfunden, eroberte zuerst Nordamerika und schließlich Australien, wo
sie mit einem Anteil von 15 Prozent zum Bestseller unter den Pizzavarianten
aufstieg.
In der weiteren Folge entstanden ananasgeschmückte Kreationen wie »Steak
Hawaii«, »Hähnchen Hawaii« oder »Lasagne Hawaii«. Als Krönung der
Multikulti-Küche hat es das eigentlich satirisch gemeinte Rezept zu einem
»Leberkäs Hawaii«, das der bayerische Kabarettist Gerhard Polt 1981
präsentierte, allen Ernstes in deutsche Internetforen zum Thema »Kochen«
geschafft. Wer hätte zu Clemens Wilmenrods Lebzeiten gedacht, dass einer
simplen Scheibe Ananas eine derart kosmopolitische Karriere beschieden wäre?
In diesem Sinne: Aloha kāua, möge Freundschaft zwischen uns sein, Monsieur
Wilmenrod selig!
Vereine
Greek connection
Haben Sie schon mal versucht, das Wort »Vereinsmeier« in eine andere Sprache
zu übersetzen? Ein Ding der Unmöglichkeit. Es ist so urdeutsch, dass nur unser
eigener Nationalcharakter den passenden Sinn dazu ergibt. Der Deutsche und
sein Verein – das gehört offenbar zusammen wie Pech und Schwefel, Handkäs
und Musik oder Schwarz, Rot und Gold.
Oder gilt das inzwischen etwa gar nicht mehr? Ist die klassische Vereinsmeierei
in den Zeiten von Facebook und Myspace nicht ein überkommenes Relikt des
19. und 20. Jahrhunderts? Der Verdacht drängt sich jedenfalls auf. Schon 1989 –
der Anteil der Vereinsmitglieder unter den (West)deutschen dümpelte damals
bei 42 Prozent – wähnte der Kabarettist Klaus Peter Schreiner den deutschen
Verein in akuter Gefahr auszusterben.[27] Sein satirischer Alarmruf lässt für die
Social-Media-Gegenwart erst recht Schlimmes ahnen: »Die Bürger der
Bundesrepublik Deutschland sind vereinsmüde wie nie zuvor. Fast jeder zweite
Deutsche ist überhaupt nicht vereinsmäßig organisiert!«
Doch irgendetwas muss dem Autor den Blick auf die Fakten vernebelt haben –
womöglich die tief sitzende Klischeevorstellung, dass der Anteil der
Vereinsmitglieder an der deutschen Bevölkerung nicht unter 80 bis 90 Prozent
liegen dürfe. Tatsache ist, dass sich die Zahl der Vereinsmitgliedschaften
zwischen 1973 und 1988 verdoppelt hat. Und auch heute kämpfen die Deutschen
wacker um die Weltmeisterschaft des organisierten Beisammenseins: 2011 waren
stolze 60 Prozent aller Bundesbürger Mitglied in mindestens einem Verein, und
sei es ein Automobilclub.
Auch die Zahl der Vereine steigt tendenziell und stabilisiert sich inzwischen auf
hohem Niveau. Die erste gesamtdeutsche Vereinsstatistik aus dem Jahr 2001
wies bundesweit 544 701 eingetragene Vereine aus, 2003 waren es bereits 574
359, und 2005 erreichte die Zahl mit 594 277 ihren Höhepunkt – eine Steigerung
um fast elf Prozent innerhalb von vier Jahren. 2011 waren immerhin noch 580
298 Vereine eingetragen; das entspricht rund sieben Vereinen pro tausend
Bundesbürger. Dazu kommt noch eine Vielzahl nicht eingetragener Vereine und
Clubs sowie anderer nichtkommerzieller Organisationen. Somit wären die
Verhältnisse wieder geradegerückt: Deutschland, Mutterland und Dorado des
Vereinswesens – da lassen wir uns doch von niemandem in die Suppe spucken!
Das wird auch niemand wollen, nur lohnt sich auch hier ein Blick über den
Tellerrand, denn vereinsähnliche Zusammenschlüsse gab und gibt es in fast allen
Ländern, und das schon seit der Antike – ganz einfach aus dem Wunsch heraus,
eigene Interessen mit einer Gruppe Gleichgesinnter zu teilen. Die Spur des
Vereinswesens lässt sich bis ins alte Griechenland zurückverfolgen, wo im 6.
Jahrhundert v. Chr. die hetairia (Hetärie) als früher Vorläufer des heutigen
Vereins entstand. Ursprünglich waren Hetärien Zusammenschlüsse von
Adligen, die dort das betrieben, was man heutzutage unter Networking versteht.
Diese Zirkel einten die unterschiedlichsten Interessen – von Handel,
Religionsausübung und Vetternwirtschaft bis zu gemeinsamen Mahlzeiten und
diversem anderem Zeitvertreib.
Ab dem 5. Jahrhundert v. Chr. politisierten sich die Hetärien zunehmend und
wurden zu Vereinigungen von Parteigenossen, die sich gegenseitig bei
Kandidaturen oder Prozessen unterstützten. Teilweise mutierten sie zu
Geheimbünden und übten großen, häufig antidemokratischen politischen
Einfluss aus. In spätantiken Quellen findet sich die Hetärie auch als Bezeichnung
für eine Berufsgemeinschaft oder Innung, ähnlich dem lateinischen collegium.
Womit wir beim antiken Rom wären: Dort bestanden in der Kaiserzeit rund 80
vereinsähnlich organisierte Gilden, die praktisch alle Berufsgruppen umfassten –
»von Bankiers und Ärzten bis hin zu Esel- und Maultiertreibern«, wie es die
Encyclopedia Britannica anschaulich umschreibt. Daneben, man lese und staune,
gab es schon damals Frauenvereine, deren Einfluss weit in Politik und
Gesellschaft hineinreichte. In vielen Regionen des ausgedehnten Imperiums
schlossen sich zudem ausländische Bürger zu Freundeskreisen zusammen, die
man nach heutiger Lesart als »Heimatvereine« bezeichnen könnte.
Mit dem Niedergang des Römischen Reiches lichtete sich die Vielfalt sozialer
Zusammenschlüsse. Was blieb, waren die handwerklichen Zünfte des
Mittelalters und später die Kaufmannsgilden, die im 8. Jahrhundert in
Frankreich entstanden. Erst ab dem Spätmittelalter begann sich vereinsmäßig
wieder etwas zu regen. Im 14. Jahrhundert kamen in England die ersten Clubs
auf – zunächst als informelle Treffen von Freundeskreisen, später zunehmend in
Regeln gefasst und bis hin zum Kassenwart arbeitsteilig organisiert. Eine solche
Vereinigung, der er selber angehörte, erwähnt erstmals der Dichter Thomas
Hoccleve (1368 – 1426). Sein Club war 1413 in London als karitative Einrichtung
gegründet worden und trug den französischen Namen La Court de Bonne
Compagnie (»Der Hof guter Gesellschaft«).
Zur Blüte gelangte das Clubwesen ab dem 16. Jahrhundert, und im 17. und 18.
Jahrhundert waren die Clubs bereits prägend für den britischen Lebensstil – ganz
besonders die Gentlemen’s Clubs in London ( »Stammtisch«). Im 19.
Jahrhundert erfasste das Clubfieber dann auch den Sport: 1857 entstand mit dem
Sheffield F.C. der erste Fußballclub der Welt, ein Jahr später folgten die
Tennisspieler mit der ehrwürdigen Edgbaston Archery & Lawn Tennis Society in
Birmingham. Selbst die Tradition des gemeinsamen Liedersingens im Verein hat
ihren Ursprung in Großbritannien. Schon im Jahr 1787 findet sich an der
Harrow School in London erstmals die Erwähnung eines (Männer-
)Gesangvereins in Gestalt eines glee club. Das glee ist eine spezielle englische
Liedform, die ihre Blütezeit zwischen 1750 und 1850 erlebte. Danach wurden die
glee clubs Zug um Zug von »normalen« Gesangsvereinen (choral societies)
abgelöst, wie es sie seit dem frühen 19. Jahrhundert auch in Deutschland gibt;
nur für die Chorvereine amerikanischer Hochschulen ist die Bezeichnung glee
club noch heute gängig.
Kurz und gut – die Wiege des neuzeitlichen Vereinswesens steht ganz klar auf
der Insel, und da macht den Briten bis heute niemand etwas vor. Das spiegelt
sich auch in aktuellen Zahlen: Während die Zahl der Vereine in Deutschland
knapp unter der 600 000er-Marke pendelt, geht sie im Vereinigten Königreich in
die Millionen; jede bessere Universität bringt es allein auf Dutzende eigener
Sportclubs.
Zur Herkunft des Wortes Club (oder in neudeutscher Schreibweise »Klub«) gibt
es übrigens verschiedene Theorien, die aber so oder so auf eine Art Kerbholz
hinauslaufen. Eine mögliche Wurzel ist das altisländische klubba (Knüppel oder
Kerbstock), das sich im Mittelenglischen als clubbe (Keule) wiederfindet – gemäß
dem alten Brauch, den Clubmitgliedern das nächste Treffen durch Herumsenden
eines Kerbstocks anzukündigen. Die zweite Herleitung weicht davon etwas ab,
haut aber letztlich in die gleiche Kerbe. Sie bezieht sich auf die indogermanische
Wurzel ghleub (schnitzen, kerben), die im Altenglischen als cleofan wieder
auftaucht. Damit wäre das Wort Club eng verwandt mit dem neuhochdeutschen
klauben und dem süddeutschen Mundartbegriff klieben (spalten).
Der »Verein« macht es uns da wesentlich einfacher – was das Wort meint,
erschließt sich von selbst. Seine Wurzel ist das indogermanische oinos, das
gleichbedeutend in die meisten europäischen Sprachen Eingang gefunden hat.
1408 wird das Wort »Verein« zum ersten Mal in einem Wörterbuch aufgeführt,
hier noch in ganz allgemeiner Bedeutung als das Verbinden mehrerer Dinge
oder Personen zu einer Einheit. Die Definition als Bündnis von Menschen mit
gemeinsamen Interessen kam erst wesentlich später auf; sie ist erstmals 1534
schriftlich belegt.
Und damit kommen wir endlich zu Deutschland: Die ersten vereinsähnlichen
Gemeinschaften entstanden bei uns im Lauf des 18. Jahrhunderts, also rund
vierhundert Jahre nach den ersten englischen Clubs. Sie hatten zunächst – wie
der 1776 gegründete Illuminatenorden – einen politischen Hintergrund,
verfolgten emanzipatorische Ziele und waren damit der Obrigkeit ein Dorn im
Auge. Später kamen patriotische Motive hinzu: Der erste Zusammenschluss, der
sich explizit »Verein« nannte, war der 1808 in Königsberg gegründete
Tugendbund, der sich vordergründig wohltätigen Zwecken verschrieben hatte,
insgeheim aber auch gegen die französische Fremdherrschaft kämpfte.
Grundlage des deutschen Vereinswesens war das seit 1794 geltende, noch von
Friedrich dem Großen in Auftrag gegebene Allgemeine Preußische Landrecht.
Es gewährte den Untertanen Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, verbot
aber gleichzeitig jede politische Betätigung innerhalb von »Gesellschaften«, wie
Vereine damals noch offiziell tituliert wurden. Ähnlich halbherzige, von
Subversionsangst geprägte Regelungen bestanden bis 1848 in allen deutschen
Staaten. Die im Dezember 1848 proklamierten Grundrechte garantierten dann
zwar für ganz Deutschland das freie Vereins- und Versammlungsrecht, traten
aber nie in Kraft und mussten von der Bundesversammlung 1851 auch formell
wieder aufgehoben werden. Für die nächsten zwanzig Jahre hielten sich die
Landesherren an Maulkorb und Leine: Die Vereine blieben unter Kontrolle der
jeweiligen Obrigkeit, wurden streng überwacht und durften sich keinesfalls
politisch betätigen.
Erst mit der Reichsverfassung von 1871 wurde das Vereinswesen
deutschlandweit einheitlich geregelt und zumindest in Teilen liberalisiert. Nun
waren auch politische Vereine zugelassen, wenn auch mit einer Reihe von
Auflagen – so war es etwa Angehörigen des Militärs nicht erlaubt, solchen
Vereinen beizutreten. Nichtsdestotrotz ließ das neue Klima die Lust am Verein
prächtig gedeihen. Kriegervereine, Turn- und Sportvereine, Gesangsvereine und
Tierzuchtvereine schossen in der Folgezeit wie Pilze aus dem Boden. Viele von
ihnen folgten dabei dem britischen Vorbild und nannten sich Club – vor allem in
den Sportarten Fußball und Tennis, die ja ebenfalls von der Insel zu uns
eingewandert sind. Beispiele dafür sind der Berliner Fußball-Club Germania
1888 und der Heidelberger Tennisclub 1890, beides die ältesten deutschen
Vereine ihrer jeweiligen Disziplin. Auch international hat sich das englische club
(neben der association) als populärste Vereinsbezeichnung eingebürgert.
So einmalig wir Deutschen als »Vereinsmeier« also auch sind, weil wir dieses
Wortgebilde exklusiv für uns gepachtet haben: Wir befinden uns damit
buchstäblich im Verein mit fast allen anderen Ländern dieser Welt. In diesem
Sinne – willkommen im Club.
[27] Klaus Peter Schreiner: Der Deutsche Verein. Gewürdigt von Klaus Peter
Schreiner, München 1989 (Bibliothek der deutschen Werte).
Weißwurst
Aber bitte mit Kaviar
Zur Erfindung der Weißwurst kursiert eine populäre Legende, die zumindest in
Bayern fast jeder kennen dürfte: Am Faschingsdienstag des Jahres 1857 sollen
dem Moser Sepp, Pächter der Münchner Bierwirtschaft »Zum Ewigen Licht«, die
Schafsdärme für seine Bratwürste ausgegangen sein. Zufällig waren aber noch
Schweinsdärme vorrätig, in die er das Wurstbrät ersatzweise füllte. Da diese viel
weiter sind als Schafsdärme, streckte Moser die Masse mit zerstoßenem Eis und
etwas Grünzeug, um nicht zu viel Fleisch zu verbrauchen. Die fertigen Würste
briet er dann aber nicht, weil er befürchtete, die Schweinsdärme könnten dabei
platzen, sondern brühte sie in heißem Wasser. Das Fleisch war ungepökelt,
sodass es beim Brühen hell blieb. Die solcherart aus Not entstandenen Würste
servierte Moser seinen Stammgästen und diversen anwesenden Honoratioren
der Stadt – und denen sollen die »weißen« Würste so vortrefflich geschmeckt
haben, dass sie fortan als neue Spezialität auf der Speisekarte des Lokals geführt
wurden.
Wahr daran ist, dass es die Wirtschaft »Zum Ewigen Licht« am Marienplatz 26
tatsächlich gab. Sie hieß so, weil in ihre fensterlosen Gasträume den ganzen Tag
lang kein Sonnenstrahl drang und deshalb ständig eine Öllampe brennen musste.
Auch Joseph Moser ist im Münchner Stadtarchiv historisch verbürgt. Der
gelernte Metzger übernahm ab 1857 das »Ewige Licht« als Pächter; neun Jahre
später gab er die Wirtschaft wieder auf und betrieb danach noch mehrere andere
Gaststätten, bevor er 1872 mit 51 Jahren starb.
Und doch hat die Geschichte gleich mehrere Webfehler: Zum einen war das
»Ewige Licht« eine billige und zeitweise verrufene Kaschemme, in der
vorwiegend kleine Leute ihre preiswerte Brotzeit einnahmen – was die angeblich
am Faschingsdienstag versammelten »Honoratioren« äußerst unwahrscheinlich
macht. Zum anderen, und das ist der eigentliche Knackpunkt, hat Joseph Moser
mit der Weißwurst nichts wirklich Neues erfunden, sondern lediglich eine
traditionelle, einst überaus beliebte Münchner Spezialität abgewandelt – die
sogenannte Maibockwurst. Deren Inhalt bestand ebenfalls aus Kalbs- und
Schweinsbrät, Petersilie und diversen anderen Gewürzen; das Ganze wurde in
Schweinsdärme abgefüllt und in heißem Wasser gegart. Ihren Namen hat diese
Weißwurst-Vorläuferin daher, dass man sie in der Zeit des Maibock-Ausschanks
(vom 1. Mai bis Fronleichnam) als deftige Unterlage für das Starkbier auftischte
– und das schon lange vor 1857. Auch dafür findet sich der Beweis im Münchner
Stadtarchiv: ein Stich von 1814, auf dem Gäste im Bockkeller des Hofbräuhauses
am »Platzl« genau solche Würste zuzeln.
Dem Moser Sepp eine kulinarische Pioniertat zuzuschreiben wäre also stark
übertrieben. Sein Dreh bestand schlicht darin, dass er zerstoßenes Eis unter das
Brät mischte – mit dem Ergebnis, dass die Weißwurst saftiger schmeckt als die
ursprüngliche Maibockwurst. Dafür fehlt ihr wiederum die kräftige Würze des
Originals, weswegen sie erst durch die großzügige Beigabe von süßem Senf
wirklich genießbar wird. (Ein Stuttgarter Metzgermeister kam deshalb 2012 auf
die gloriose Idee, die unentbehrliche Zutat gleich bei der Herstellung in die
Weißwurst »einzubauen«).
Aber auch damit ist die Geschichte noch nicht zur Gänze erzählt. Die
Maibockwurst hat nämlich ebenfalls einen viel älteren Vorläufer – und der
stammt, man lese und staune, nicht aus Bayern, sondern aus Frankreich. Unsere
gallischen Nachbarn kannten und liebten Weißwurst (boudin blanc) vermutlich
schon im 14. Jahrhundert, besonders als Festessen zu Weihnachten. Auch heute
noch ist diese Spezialität in verschiedenen Regionen Frankreichs und Belgiens
verbreitet. 1973 wurde sogar ein Weißwurst-Meisterschaftsturnier ins Leben
gerufen. In der normannischen Stadt Alençon findet alljährlich das
Championnat d’Europe du meilleur boudin blanc statt, bei dem die besten
Rezepte prämiert werden. Anders als die Münchner Weißwurst gibt es boudin
blanc nämlich in zahlreichen verschiedenen Inhalts- und Zubereitungsvarianten.
Als Ingredienzen sind zum Beispiel Morcheln, Trüffel, Steinpilze, Nüsse und
Rosinen geläufig, und die Wurst wird sowohl in gebrühter als auch in gebratener
oder gegrillter Form genossen – gelegentlich sogar kalt.
Neben Frankreich gibt es noch ein paar weitere Länder, mit denen wir uns die
Weißwurst teilen. So hat sie es als Import in die ehemals französischen Gebiete
der USA geschafft, wo boudin blanc in stark abgewandelter Rezeptur, gefüllt mit
Schweinefleisch und Reis, zu den regionalen Spezialitäten des Bundesstaates
Louisiana gehört.
Eine eigene Entwicklungsgeschichte steht hinter der Polnischen Weißwurst
(kiełbasa biała), die man traditionell zu Ostern isst. Sie wird üblicherweise mit
Knoblauch und Majoran gewürzt und kommt entweder gekocht oder gebraten
auf den Tisch – anders als ihre bayerischen und französischen Schwestern jedoch
nicht solo, sondern meist als Suppeneinlage in żurek, einem sehr nahrhaften
säuerlichen Eintopf mit Brotkrusten und hart gekochten Eiern. Alternativ
serviert man sie auch als Hauptgericht mit Polnischer Soße, einer süßsauren, mit
Lebkuchen gebundenen Weinsauce. Als weitere Spielart gibt es die Schlesische
Weißwurst. Sie wird wie die boudin blanc zu Weihnachten gegessen, in der Regel
mit Fisch- oder Lebkuchensoße (hier jedoch ohne Wein). Als Beilagen sind
Kartoffeln, Kartoffelsalat, Püree oder Sauerkraut üblich.
Wen als Anhänger der reinen Senf- und Brezenlehre spätestens jetzt das Grauen
packt, dem sei schnelles Weiterblättern empfohlen. Es kommt nämlich noch
dicker, denn »die beste Weißwurst außerhalb Münchens« (Süddeutsche Zeitung
vom 18.2.2009) soll es seit Jahren in einer Hamburger Metzgerei geben. Und um
das Maß voll zu machen, entstand parallel zu München auch in
Norddeutschland im frühen 19. Jahrhundert eine eigene Variante der Weißwurst
– die Hamburger Weißwurst, auch bekannt als boudin hambourgeois, die aber
ebenso wie ihre bayerische Schwester von der boudin blanc inspiriert war.
Es geschah nämlich im Jahr 1813, während der Herrschaft von Kaiser
Napoleon, dass der Leibkoch des französischen Generals Louis-Nicolas d’Avoût
– damals Generalgouverneur des Elbmündungs-Departements – eine
Luxusvariante der Weißwurst erfand. Deren Füllung bestand aus reinem
Kalbfleisch, und als Krönung fügte der Maître eine Portion Kaviar hinzu. Den
musste er übrigens nicht aus Russland importieren, sondern hatte ihn praktisch
vor der Haustür – nämlich in der Elbe, die seinerzeit noch von Stören und
Lachsen wimmelte. Von Feinschmeckern wurde diese Kreation in den höchsten
Tönen gelobt – sie ist sogar in dem berühmten Kochbuch Le grand dictionnaire
de cuisine (»Das große Wörterbuch der Kochkunst«) des französischen
Schriftstellers Alexandre Dumas überliefert, der sie außerordentlich schätzte.
Nach dem Abzug der napoleonischen Truppen beeilten sich die Hamburger
dann jedoch, alles Französische aus Leben und Erinnerung zu verbannen.
Immerhin hatte General d’Avoût, der »Robespierre von Hamburg«, während
seiner Herrschaft mehr als 20 000 Menschen aus der Stadt vertreiben und
Tausende von Wohnungen niederbrennen lassen. So wurde die Kaviar-
Weißwurst quasi in Sippenhaft genommen und geriet bald in Vergessenheit. Bis
ein neugieriger Koch des 21. Jahrhunderts auf das Rezept stieß und es aus seinem
Dornröschenschlaf erweckte: Seit einigen Jahren serviert der aus Nordfriesland
stammende Michael Weißenbruch die boudin hambourgeois in seinem
Hamburger Restaurant – wie ihr französisches Vorbild besteht sie aus
Kalbfleisch und ist mit Keta-Kaviar verfeinert. Auch in der legendären
»Oberhafen-Kantine« steht die Hamburger Weißwurst seit 2008 wieder auf der
Speisekarte. Allerdings verzichtet man hier auf den Kaviar, um das eher
bodenständige Preisniveau nicht zu sprengen, und fügt stattdessen zwei Sorten
Hering hinzu. Serviert wird das Ganze mit süßem Senf, Schwarzbrot, Radieschen
und geriebenen Möhren, auf Wunsch auch mit Kartoffelsalat.
Die bayerischen Leser, die sich nun mit Gänsehaut abwenden, seien an das alte
Sprichwort erinnert: »Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht.« Also nur Mut
und einfach mal probieren! Weder die Hamburger Weißwürste noch jene
unserer westlichen und östlichen Nachbarn hätten auf Dauer Bestand gehabt,
wenn sie nicht genießbar wären.
Zeppeline
Ein Schwarz-Bau hat die Nase vorn
Sie gehören als feste Größe zum deutschen Nationalerbe, jene majestätischen
silbernen Riesenzigarren, die über drei Jahrzehnte lang Glanz und Ruhm des
Reiches verkörperten – ganz besonders natürlich als Ausweis deutscher
Ingenieurskunst und Innovationskraft. Noch heute beeindrucken moderne
Nachbauten, auch wenn sie in der Regel deutlich kleiner ausfallen, und von den
Originalen wird meist mit nostalgischer Ehrfurcht gesprochen – nicht nur bei
uns, sondern rund um die Welt. »Zeppeline« heißen die Wunderwerke nach
ihrem Urheber Ferdinand Graf von Zeppelin, wobei dieser Begriff ausdrücklich
starr gebauten Luftschiffen vorbehalten ist. Alle anderen, die lediglich
aufgeblasene Hüllen sind, tituliert der Kenner mit leiser Verachtung als Blimp,
was im Englischen auch »Fettsack« bedeutet. So etwas kann halt jeder bauen –
ein Zeppelin dagegen ist solide deutsche Wertarbeit wie ein Mercedes. Oder?
Nein, dagegen ist so weit nichts einzuwenden, bis auf eine kleine Korrektur:
Graf von Zeppelin hat den »Zeppelin« nicht erfunden, sondern nur
weiterentwickelt. Die Ehre des Erfinders gebührt vielmehr einem Amateurbastler
jüdisch-ungarischer Herkunft, der tatsächlich das erste real existierende und
flugfähige Starrluftschiff der Welt konstruierte – mehr als drei Jahre vor
Zeppelin. Doch dazu später.
Als kleines Aperçu sei angefügt, dass auch der Name Zeppelin nicht deutscher
Herkunft ist, sondern auf slawische Wurzeln zurückgeht. Ursprung ist
wahrscheinlich das Wort cepel, das im Alttschechischen »Klinge« und im
Russischen »Schäufelchen« bedeutet. 1246 wird erstmals ein kleines ostdeutsches
Dorf mit dem daraus abgeleiteten Namen Cepelin urkundlich erwähnt. Aus
dieser Ansiedlung im heutigen Landkreis Rostock ging wenig später das
gleichnamige Adelsgeschlecht hervor, als dessen erster schriftlich belegter
Namensträger Heinrich von Cepelin (Heynricus de Cepelin) bekannt ist. Die
440-Seelen-Gemeinde schreibt sich inzwischen Zepelin, beim Namen der Familie
kam im Lauf der Geschichte noch ein zweites »p« hinzu.
Sechs Jahrhunderte und viele Generationen später: Als württembergischer
Vertreter der Zeppelin-Ahnenreihe betritt der in Konstanz geborene Ferdinand
Adolf Heinrich August Graf von Zeppelin (1838 – 1919) die Bühne. Nach
Realschule, Polytechnikum und Kadettenausbildung dient er ab 1858 zunächst
als Leutnant in der württembergischen Armee, doch noch im gleichen Jahr
nimmt er Urlaub vom Militär und studiert in Tübingen Staatswissenschaft,
Maschinenbau und Chemie. Ein Jahr später zwingt ihn die vorsorgliche
preußische Mobilmachung wegen des Krieges zwischen Österreich und
Sardinien zum Abbruch des Studiums und zur Fortsetzung des Militärdienstes.
1863 wird er abermals für ein Jahr beurlaubt und nimmt auf Seiten der
Nordstaaten als Beobachter am Amerikanischen Bürgerkrieg teil. Dort soll er
Gelegenheit bekommen haben, mit einem Ballon aufzusteigen, wofür es
allerdings keine Zeugen gibt. Aber wie immer es sich abgespielt haben mag –
diese Art Luftfahrt fasziniert den technisch nach wie vor interessierten Grafen.
Und er denkt das Prinzip auch gleich weiter. Die Vision eines starr
konstruierten, lenkbaren Luftschiffs beginnt sich in seinem Kopf abzuzeichnen.
Am 25. April 1874 macht er sich dazu die erste Notiz in seinem Tagebuch. Aber
erst 1891, nach seiner endgültigen Verabschiedung aus dem Militärdienst, wird
er sich ernsthaft mit entsprechenden Bauplänen befassen.
Zu jener Zeit gibt es längst motorisierte, bemannte und lenkbare Luftschiffe, die
auch tatsächlich funktionieren. Allerdings besitzen sie nur eine aufblasbare Hülle
ohne Trägerstruktur, wie ein Ballon, was aerodynamisch noch nicht der Weisheit
letzter Schluss ist. Für die Premiere dieses Bauprinzips zeichnet der Pariser
Ingenieur Henri Giffard (1825 – 1882) verantwortlich, ein Spezialist für
Dampfmaschinen und erfolgreicher Tüftler auf diesem Gebiet. 1851 meldet
Giffard ein Patent auf die »Anwendung des Dampfes in der Luftschifffahrt« an.
Gleich darauf setzt er die Idee in die Tat um und baut gemeinsam mit zwei
Mitarbeitern ein zigarrenförmiges, 44 Meter langes Luftschiff mit der schlichten
Bezeichnung Dirigeable (»Lenkbar«). Am 24. September 1852 hebt seine
Konstruktion, angetrieben von einer drei PS starken Dampfmaschine, erstmals
ab und legt die knapp 28 Kilometer lange Strecke von Paris bis Élancourt in drei
Stunden ohne Probleme zurück. Leider ist die Motorleistung aber viel zu
schwach, um gegen den Wind eine Rückkehr zum Startpunkt zu ermöglichen.
Mehr PS wiederum würden die Antriebsmaschine zu schwer machen. An der
Praxistauglichkeit hapert es also noch.
Erst 32 Jahre später ist der Kampf gegen den Wind gewonnen, ebenfalls dank
einer französischen Entwicklung: Die 52 Meter lange, elektrisch angetriebene La
France der Brüder Charles und Paul Renard ist das erste Luftschiff, mit dem es
gelingt, aus eigener Kraft wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Auf
insgesamt sieben Flügen zwischen 1884 und 1885 stellt La France diese Fähigkeit
fünf Mal unter Beweis.
Etwa zur gleichen Zeit befasst sich im österreichisch-ungarischen Kaiserreich ein
Mann namens David Schwarz mit der Idee einer starren Luftschiffkonstruktion.
Der vollkommen unbekannte jüdische Provinzler stammt aus einer
westungarischen Stadt mit dem unaussprechlichen Namen Zalaegerszeg, ist
eigentlich Holzhändler und hat keinerlei technische Ausbildung, sondern nur
eine Kaufmannslehre absolviert. Nichtsdestotrotz begeistert er sich für Technik,
verschlingt diverse einschlägige Bücher und verfällt irgendwann in den
Achtzigerjahren des 19. Jahrhunderts auf die Idee, ein Luftschiff mit starrer
Hülle zu konstruieren. Nur so, schwant ihm, sind wirklich stabile
Flugeigenschaften erzielbar.
Für Gerüst und Hülle wählt Schwarz Aluminium, einen damals völlig
neuartigen Werkstoff, der leicht und trotzdem stabil ist. 1890 bietet er seine
fertigen Konstruktionspläne dem österreichischen Kriegsministerium an. Das
zeigt zwar Interesse, hat jedoch kein Budget für ein solches Projekt. Durch
Vermittlung des russischen Militärattachés in Wien gelingt es Schwarz drei Jahre
später dennoch, in St. Petersburg einen Prototyp seines Luftschiffs zu
konstruieren – allerdings mit desaströsem Ergebnis: Gleich beim Befüllen mit
Wasserstoff bricht das Aluminiumgerüst in sich zusammen, und der stolze
Erfinder kann seinen Traum vorerst begraben.
Zum Glück interessiert sich außerhalb des Zarenreichs kein Mensch dafür. So
kommt die Rettung schließlich aus Deutschland, wo Schwarz den Fabrikanten
Carl Berg im westfälischen Lüdenscheid für seine Idee begeistern kann. Berg hat
bereits Aluminiumlegierungen von besonderer Festigkeit patentieren lassen und
wittert die Chance, mit dem Erstflug eines Aluminium-Luftschiffs eine
spektakuläre Werbeaktion für sein Unternehmen zu inszenieren. Am 18. August
1892 schließt er mit Schwarz einen Vertrag, der diesem die Finanzierung des
Projekts, das nötige Aluminium und sowie technische Unterstützung zusichert.
Im Januar 1897 ist die imposante Konstruktion auf dem Tempelhofer Feld bei
Berlin endlich bereit zum Abheben: 48 Meter lang, 3800 Kubikmeter
Hüllenvolumen, 3,65 Tonnen Gewicht und drei Propeller, angetrieben von
einem 12 PS starken Daimler-Motor. Für die innere Stabilität sorgt ein
Aluminiumgittergerüst, die Außenhülle besteht komplett aus dünnem
Aluminiumblech. Doch die Jungfernfahrt seines Luftschiffs erlebt der Erfinder
nicht mehr. Die Nachricht von der Fertigstellung löst bei dem Kettenraucher
Schwarz einen derartigen Adrenalinschub aus, dass er kurz darauf
zusammenbricht und, erst 46-jährig, an Herzversagen stirbt.
Der Schock ist groß und guter Rat teuer, denn außer dem Verstorbenen gibt es
in der Firma niemanden, der seine Konstruktion sicher bedienen und steuern
kann. Beim deutschen Militär verweigert man sich kategorisch, geht es doch hier
um ein »jüdisches« Projekt. So fällt die Wahl schließlich auf den Mechaniker
Ernst Jagels, dessen aeronautische Fähigkeiten allerdings eher bescheiden sind.
Am Nachmittag des 3. November 1897 wagt er in Gegenwart zahlreicher
hochrangiger Gäste die erste Probefahrt. Und tatsächlich: Trotz riskanter
Windgeschwindigkeiten um 30 km/h steigt das Luftschiff planmäßig auf und
erreicht eine Höhe von rund 400 Metern. Doch dann versagt urplötzlich der
Antrieb – bei zwei Propellern springen gleichzeitig die Treibriemen ab, und das
Luftschiff wird zum unkontrollierbaren Spielball des Windes. In seiner Not lässt
Jagels Gas ab, offenbar viel zu schnell, sodass er eine krachende Bruchlandung
hinlegt. Der Pilot selber wird dabei zwar nur leicht verletzt, aber Gerüst und
Außenhülle des Luftschiffs sind völlig zerknickt: wieder ein Totalschaden.
Und abermals zeichnet sich Rettung ab – denn unter den zahlreichen
hochrangigen Gästen, die das Schauspiel verfolgen, befindet sich auch der
luftschiffbegeisterte Graf Zeppelin. Er nimmt Kontakt mit Carl Berg auf, kauft
der Witwe von David Schwarz die Baupläne ab und setzt gleich noch eins drauf:
Seine buchstäblich hochfliegenden Pläne sehen eine Art schwebenden Güterzug
aus mehreren aneinandergekoppelten Luftschiffen vor. Bekanntlich wurde das
Projekt in dieser Form nie realisiert – schade, das Wort »Luftzug« hätte eine ganz
neue Bedeutung bekommen. Am 13. August 1898 jedenfalls erhält Zeppelin ein
Reichspatent auf diese Konstruktion. Fortan gilt er als Erfinder des starren
Luftschiffs, und sein treu zu ihm stehender Nachfolger Dr. Hugo Eckener
beteuert später, dass von der ursprünglichen Idee angeblich nur die
Aluminiumhülle übernommen worden sei. Doch wie auch immer – der
Österreicher Schwarz war zuerst da.
Da das Militär nach dem Tempelhof-Fiasko endgültig dankend abwinkt, muss
Zeppelin die Finanzierung seines Neubaus auf eigenes Risiko in die Hand
nehmen. 1898 gründet er die »Aktiengesellschaft zur Förderung der Luftfahrt«
mit einem Startkapital von 800 000 Reichsmark, das er zur Hälfte selber
aufbringt. Zweiter Großaktionär ist mit 100 000 Reichsmark Carl Berg. Die
endgültige Konstruktion des Luftschiffs wird dann von Zeppelins Chefingenieur
Theodor Kober entwickelt. 1899 beginnt der Bau in einer schwimmenden
Montagehalle auf dem Bodensee, und am Abend des 2. Juli 1900 ist es so weit:
Der erste Zeppelin, schlicht LZ 1 genannt, erhebt sich majestätisch in die Lüfte.
Es ist das größte Objekt, das jemals den Erdboden verlassen hat, ein wahres
Ungetüm – 128 Meter lang, 15 Meter im Durchmesser und damit mehr als
dreimal so groß wie der Prototyp von David Schwarz. Rund 12 000 Schaulustige
verfolgen gebannt und begeistert den nur 18 Minuten dauernden Flug. Wer von
ihnen weiß schon, dass dieser Triumph deutscher Technik erst durch Ideen aus
Frankreich und Österreich-Ungarn möglich geworden ist?
David Schwarz, Henri Giffard, Charles und Paul Renard sowie eine Reihe
weiterer französischer Ingenieure – bei der Rückschau auf die große Zeit der
Zeppeline sollte man fairerweise keinen von ihnen vergessen.
Danksagungen
Dass dieses Buch geschrieben werden konnte, ist in nicht geringem Umfang der
tatkräftigen Mitwirkung und Hilfe geschuldet, die mir von Freunden und
Wegbegleitern zuteilwurde. Ganz besonderer Dank gebührt meinem Mentor
Klaus Dahms – er hat sein profundes Wissen als ehemaliger Geschichtsdozent an
der Freien Universität Berlin freigebig mit mir geteilt und an vielen Stellen
geholfen, historische Details korrekt wiederzugeben. Ebenso herzlich danke ich
meinem Agenten Dr. Harry Olechnowitz, der mich beim Grundkonzept aufs
richtige Gleis gebracht hat, meiner Frau Gertrud, die mir als Testleserin und
Erstkorrektorin eine unschätzbare Hilfe war, meinem akribischen Lektor
Thomas Bertram und nicht zuletzt Nannette Elke vom Heyne Verlag, die mir
immer wieder Anregungen gegeben und mich in der Marschrichtung bestärkt
hat.
Weiterhin danke ich folgenden kooperativen Menschen für ihre freundliche
Unterstützung (in alphabetischer Reihenfolge):
Renate Ahrens, Hamburg
Tobias Arps, München
Nomi Baumgartl, München
Christiane Horndasch, Dorfprozelten
Reto Kormann, Schweizerische Bundesbahnen
Malou Weirich, Office International du Coin de Terre et des Jardins Familiaux,
Luxemburg
Sandra Hofer, ÖAMTC Klosterneuburg
Christopher Horndasch, Miltenberg
Doris Talpay, Aachen
Eva Veit, München
… und allen, die mir ihre persönlichen Weihnachtsduft-Impressionen
übermittelt haben.

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