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Aus dem Italienischen von Christine Ammann, Claudia Kolitzus und Antje Peter

Vollständige E-Book-Ausgabe der im Piper Verlag erschienenen Buchausgabe 1. Auflage 2014

ISBN 978-3-492-96855-3
© 2014 RCS Libri S. p. A., Milano. All rights reserved
Die Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Ieri, oggi, domani. La mia vita.« bei RCS Libri, S. p. A.,
Mailand.
Deutschsprachige Ausgabe:
© Piper Verlag GmbH, München 2014
Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee
Covergestaltung: Büro Jorge Schmidt, München
Covermotiv: Photo by Sam Shaw © Sam Shaw Inc. licensed
by www.shawfamilyarchives.com
Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder
Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.
Prolog

Wieder klingelt es, während ich die letzten süßen Teigbällchen, die struffoli,
forme. So gut es geht, wische ich mir die mehlbestäubten Hände an der Schürze
ab und laufe zur Tür. Hinter einem riesigen Weihnachtsstern strahlt mir der
Blumenbote entgegen.
»Der ist für Sie, Signora Loren. Würden Sie mir ein Autogramm geben?«
Das Logo des Blumenversands auf der Schleife ist mir vertraut, und für einen
Moment fühle ich mich nach Italien zurückversetzt.
Ich stelle die Pflanze ab und klappe das Kärtchen auf. Ein herzlicher und
fröhlicher Gruß.

Das ausgelassene Geschrei der Kinder, die gerade aus Amerika eingetroffen sind,
um die Feiertage hier zu verbringen, erfüllt das Haus mit einem sympathischen
Chaos. Morgen ist Heiligabend, endlich werden wir alle wieder versammelt sein.
Aber ehrlich gesagt, stecke ich noch mitten in den Vorbereitungen. Wie soll ich
alle an einem Tisch unterbringen? Und all die struffoli noch rechtzeitig frittieren?
Die Welt um mich herum beginnt sich zu drehen, und ich weiß nicht, wie ich
sie zum Stehen bringen soll. Ich fühle mich benommen, so, als würde mir alles
aus der Hand gleiten. Ich gehe in die Küche zurück und suche nach etwas, das
mir Sicherheit gibt, finde aber nichts. Dann inspiziere ich das Esszimmer, in der
Hoffnung, dass es dort besser wird. Die Tafel! Ja, die Festtafel für morgen. Sie soll
bunt und strahlend sein. Einer Eingebung folgend hole ich die Gläser hervor,
verteile Teller und Besteck und falte sorgsam die Servietten. Es macht mir Spaß,
die Sitzordnung festzulegen.
Ich bin im Sternzeichen der Jungfrau geboren. Für gewöhnlich gehe ich mir mit
meinem etwas übertriebenen Perfektionismus selbst auf die Nerven, aber heute
nicht, heute scheint die Unordnung alles beherrschen zu wollen. Ich fange von
vorn an und versuche, meine Gefühle im Zaum zu halten. Also, mal sehen: zwei,
vier, acht plus fünf sind dreizehn und noch einmal vier, also siebzehn … − nein,
nicht siebzehn! Besser noch mal nachzählen.
Von dem Foto, das auf der Kommode steht, lächelt mir Carlo mit seinem ganz
besonderen Lächeln entgegen. Die Aufnahme wurde an unserem Hochzeitstag
gemacht. Nie werde ich vergessen, wie es war, als diese Augen mich zum ersten
Mal ansahen, vor vielen Jahren, in einem Restaurant ganz in der Nähe des
Kolosseums. Ich war noch ein junges Mädchen, er ein reifer Mann. Der Kellner
kam zu mir und übergab mir eine Visitenkarte, mit der mir der Produzent zu
verstehen gab, dass er mich bemerkt hatte. Dann der Spaziergang im Garten, die
Rosen, der Akazienduft, der Sommer, der sich langsam seinem Ende zuneigte. Der
Beginn meines Abenteuers.
Ich streiche über den grünen Sessel, in dem er immer über seiner Zeitung
einnickte. Mir ist etwas kalt, ich darf nicht vergessen, morgen den Kamin
anzuzünden. Zum Glück kommt Beatrice herein und zerstreut meine
melancholischen Gedanken. »Nonna Sophia, Nonna Sophia!« Sie ist das jüngste
meiner Enkelkinder, ganz blond und sehr selbstbewusst. Hinter ihr tauchen die
anderen Indianer auf. Es ist Zeit, ins Bett zu gehen, aber die Kinder denken gar
nicht daran. Ich schaue sie an, sie lächeln mir zu, wir finden einen Kompromiss.
»Warum sehen wir uns nicht einen Film an?«
Wir setzen uns alle zusammen vor den Fernseher. Mitten im Freudengeschrei
fangen sie an, darüber zu streiten, welchen Trickfilm sie sehen wollen. Am Ende
gewinnt Cars 2, ihr aktueller Lieblingsfilm.
»Nonna, machst du mal Mama Topolino für uns?«
»Jetzt mach ich dir was auf die Schnelle«, zitiere ich meinen Spruch aus dem
Film und ziehe komische Grimassen.
»Weiter, weiter, bitte, Nonna, mach weiter!«
Wenn sie meine Stimme aus dem Mund eines Autos hören, sind sie ganz aus
dem Häuschen. Wer hätte das gedacht, als ich nach einigem Zögern einwilligte,
diese etwas seltsame Synchronisierung zu übernehmen! Schon bald sind Vittorio
und Lucia, Leo und Beatrice ganz im Bann der Bilder, und noch bevor der Film zu
Ende ist, sind sie eingeschlafen. Ich decke sie zu, sehe auf die Uhr und denke an
morgen. Draußen hat es angefangen zu schneien, was ich in dem Trubel gar nicht
bemerkt habe. Wenn Besucher kommen oder gehen, sind das ganz besondere
Momente, weil sie das Karussell der Erinnerungen in Gang setzen.
Wenn ich an mein Leben denke, wundere ich mich, dass das alles wahr ist.
Eines Morgens, sage ich mir dann, werde ich aufwachen und mir wird auf einmal
klar werden, dass ich alles nur geträumt habe. Natürlich war es nicht immer
leicht. Es war schön, ganz klar, aber auch hart. Doch es hat sich gelohnt. Der
Erfolg birgt eine Last in sich, mit der man lernen muss umzugehen.
Niemand bringt einem das bei, man muss – wie bei allem – selbst einen Weg
finden.
Auf Zehenspitzen gehe ich ins Schlafzimmer. Es ist tröstlich, ein bisschen allein
zu sein. Wenn ich innehalte, das weiß ich, findet auch mein Herzschlag zu jenem
heiteren Rhythmus zurück, der mir den Takt vorgibt.
Kaum bin ich im Zimmer, fällt mir auf, dass ich noch immer die
Küchenschürze umhabe. Ich lege sie ab, ziehe die Schuhe aus und werfe mich
aufs Bett. Die Zeitschrift liegt noch aufgeschlagen dort, wo ich sie am Morgen
zurückgelassen habe. In den vergangenen Tagen war ich so aufgeregt, meine
Familie wieder um mich zu haben, dass ich nicht schlafen konnte. Ohne Schlaf
bin ich allerdings zu nichts zu gebrauchen. Er ist der Motor, der mich in
Bewegung hält.
»Gute Nacht«, ruft Ninni von nebenan. »Versuchen Sie zu schlafen!«
Ninni, Ninni … Seit fast fünfzig Jahren ist sie nun schon bei uns. Sie hat sich
um Carlo jr. und Edoardo gekümmert, sie hat sich um mich gekümmert, und jetzt
kümmert sie sich mit derselben Begeisterung wie eh und je um die kleinen
Indianer, die bei mir eingefallen sind. Manchmal frage ich mich, woher sie die
Geduld nimmt, uns zu ertragen.
»Ich schlafe schon«, lüge ich, um sie zu beruhigen. In Wirklichkeit bin ich
hellwach und starre mit weit aufgerissenen Augen an die Decke.
Ich versuche, zur Ruhe zu kommen, und lasse den Gedanken freien Lauf. Wer
weiß, ob den Enkeln meine struffoli schmecken! Die von meiner Tante, Zia
Rachelina, in Pozzuoli waren natürlich viel besser. Aber so ist das eben, die
Genüsse der Kindheit sind immer unübertrefflich.
Ich fühle eine Unruhe in mir, als ob ich von der Wirklichkeit langsam in eine
andere Welt hinübergleiten würde, in eine Welt der Träume oder der
Erinnerungen, wer weiß. Ich kann nicht still liegen, also schlüpfe ich in den
Morgenmantel und gehe ins Arbeitszimmer hinüber, das am andern Ende des
Korridors liegt, ohne zu wissen, was ich dort will. Ich starre das Regal an, stelle
Bücher um, die Nippsachen, die Fotos, die Briefbeschwerer. Irgendetwas macht
mich nervös, so, als würde ich nach etwas suchen. Die Unruhe wird größer, als
ich ganz hinten im Bücherregal eine dunkle Holzkiste entdecke. Ich erkenne sie
sofort wieder. Auf einmal habe ich Briefe vor Augen, Telegramme, Karten,
Fotografien. Das war es, das ist der rote Faden, der mich an diesem kalten
Winterabend hierher geführt hat.
Es ist meine Schatzkiste. Mein Herz beginnt auf einmal, schneller zu schlagen.
Ich bin versucht, alles unberührt zu lassen. Zu viel Zeit ist vergangen, zu viele
Empfindungen würden geweckt. Doch dann greife ich nach der Kiste, spreche
mir Mut zu und gehe langsam ins Schlafzimmer zurück.
Vielleicht ist das mein Weihnachtsgeschenk, und es liegt nur an mir, es zu
öffnen.
1 Die Bohnenstange

Mütter und Großmütter

Ich öffne einen Briefumschlag, auf dem »Nonna« steht, und auf einem Foto sehe
ich mich, wie ich damals war, klapperdürr, mit einem zu großen Mund unter
honigfarbenen Augen, die überrascht dreinblicken. Ich kann mir ein Lächeln
nicht verkneifen, als ich meine Kinderschrift betrachte, und schon fühle ich mich
nach Pozzuoli zurückversetzt, in meine Kindheit, in der alles begann. Manche
Dinge kann man einfach nicht vergessen, selbst wenn man es will.
In dem Briefchen dankte ich Nonna Sofia für die dreihundert Lire, die ihr
Sohn, Riccardo Scicolone, mir über sie hatte schicken lassen. Nicht einmal auf
dem Postweg trat mein Vater persönlich in Erscheinung. Nonna Sofia war eine
kalte, distanzierte Frau, die ich erst einmal in meinem Leben gesehen hatte. Und
trotzdem erzählte ich ihr in diesem Brief, dass der Tag meiner Erstkommunion
und Firmung der schönste meines Lebens gewesen war, und dass mir meine Patin
ein goldenes Armband geschenkt hatte, und außerdem, dass ich »mit den besten
Noten in die fünfte Klasse versetzt« worden war. Kurzum, ich erzählte ihr alles,
was jede x-beliebige Großmutter hätte hören wollen, und tat so, als würde es sie
interessieren, als hätte sie mich lieb. Ich bat sie sogar darum, meinem Vater für
die Aufmerksamkeit zu danken.
Wer weiß, wer mich dazu gedrängt hatte, ihr zu schreiben. Möglicherweise
Luisa, meine Großmutter mütterlicherseits, die auch in den schwierigsten
Momenten auf gute Manieren pochte. Sie hat mich wenige Monate nach meiner
Geburt bei sich aufgenommen, sie hatte mich wirklich gern, ihre Liebe war
geradeheraus und herzlich, voller Aufmerksamkeiten. Oder vielleicht war es
meine Mutter gewesen, die jeden nur erdenklichen Vorwand suchte, um meinen
Vater zu kontaktieren, und alle möglichen Tricks anwendete, um ihn
zurückzuerobern. Im Grunde genommen war sie nur ein Mädchen, dem man die
Jugend gestohlen hatte. Wenn ich heute darüber nachdenke, wird mir klar, dass
ich meine Großeltern – Nonno Domenico und Nonna Luisa – nicht zufällig
»Papà« und »Mamma« nannte, während meine Mutter einfach nur »Mammina«
war.

Als junges Mädchen sprühte meine Mutter, Romilda Villani, nur so vor Charme
und Talent. Sie interessierte sich nicht sonderlich für die Schule, spielte aber sehr
gut Klavier, und mithilfe eines Stipendiums gelang es ihr, in das Konservatorium
San Pietro a Majella in Neapel aufgenommen zu werden. Bei ihrer
Abschlussprüfung spielte sie »La Campanella« von Liszt und bekam hohe
Auszeichnungen dafür. Die Großeltern hatten ihr trotz finanzieller Engpässe
einen imposanten Flügel gekauft, der mitten in der kleinen Wohnstube in
unserem Haus stand. Doch Romilda wollte höher hinaus, vielleicht, weil sie so
beunruhigend schön war.
Eine Ausschreibung der amerikanischen Filmproduktionsgesellschaft Metro-
Goldwyn-Mayer (MGM) verdrehte ihr dann den Kopf. Sie suchten damals in
ganz Italien eine Doppelgängerin für Greta Garbo, die Königin aller Diven.
Romilda, die erst siebzehn war, verlor keine Zeit und bewarb sich hinter dem
Rücken ihrer Eltern, in der festen Überzeugung, die Jury für sich gewinnen zu
können. Und sie sollte recht behalten: Wie im Märchen gewann sie den
Wettbewerb und noch dazu ein Ticket nach Hollywood. Doch Papà Domenico
und Mamma Luisa wollten nichts davon wissen; dass ihre Tochter wegging, kam
für sie nicht infrage. Außerdem war Amerika am anderen Ende der Welt.
Es heißt, dass die von der MGM sogar zu Romilda nach Hause gekommen
seien, um die Eltern umzustimmen, dann aber, ebenso ungläubig wie enttäuscht,
mit gesenktem Kopf wieder abziehen mussten. Die Lorbeeren erntete die
zweitklassierte Kandidatin, Romilda aber verzieh ihren Eltern nicht und ging fort,
sobald es möglich war, um ihren Traum weiterzuverfolgen: Sie wollte nach Rom
und Cinecittà und sich nehmen, was ihr zustand, koste es, was es wolle.
Doch eines hatte die junge Garbo aus Pozzuoli nicht bedacht: die
Unvorhersehbarkeit der Liebe. Die schicksalhafte Begegnung mit Riccardo
Scicolone Murillo fand mitten auf der Straße, in der Via Cola di Rienzo, an einem
Herbstabend des Jahres 1933 statt. Er war schön, groß, elegant, und er hatte
Erfahrung mit Frauen. Er war sofort fasziniert von diesem wunderschönen
Mädchen, das berühmt werden wollte, und um sie zu erobern, brauchte er sie nur
darin zu bestärken und ihr vorzugaukeln, dass er in der Welt des Films eine
einflussreiche Rolle spielte, was überhaupt nicht stimmte. Ihr, die die langen
Schlangen bei Komparsen-Castings inzwischen kannte, kam es wie ein Traum
vor, endlich ihrem Prinzen begegnet zu sein. Riccardo war zwanzig Jahre alt, er
hatte ein bisschen Geld und eine Familie mit adeligen Vorfahren. Zum Ingenieur
hatte er es nicht gebracht, aber er arbeitete aushilfsweise bei der staatlichen
Eisenbahngesellschaft auf der Strecke Rom −Viterbo. Die Leidenschaft führte die
beiden kurz darauf in ein kleines Hotel im Stadtzentrum, wo sie lange
Liebesnächte miteinander verbrachten. Doch dann kam ich und machte ihnen
einen Strich durch die Rechnung. Als Riccardo von Romildas Schwangerschaft
erfuhr, brachte ihn das durcheinander, und er zog sich immer mehr von ihr
zurück. Ich passte nicht in sein Lebenskonzept, so, wie meine Mutter nie
hineingepasst hatte.
Um die Ehre ihrer Tochter zu retten, eilte Mamma Luisa nach Rom und
forderte Riccardo auf, Romilda zu heiraten. Fast schien es, als ließe sich Riccardo
überzeugen, doch dann kam ein scheinbar banales Detail ans Licht: Er hatte das
Sakrament der Firmung nicht erhalten, und dieser Umstand entpuppte sich als
enormes Hindernis für eine Eheschließung. Es kam also nicht zur Hochzeit, aber
zumindest gab mir mein Vater, ob er nun wollte oder nicht, seinen Namen und
damit einen Tropfen blauen Blutes. Paradoxerweise hatte ich zwar nie einen
richtigen Vater, darf mich aber Vicecontessa von Pozzuoli, Edelfrau von Caserta
aus der Familie der Hohenstaufen, Marchesa di Licata Scicolone Murillo nennen.

Eine Truhe voller Weisheit und Armut

Am 20. September 1934 kam ich als zartes und unansehnliches Kind auf der
Station für ledige Mütter im römischen Krankenhaus Santa Margherita zur Welt.
Wie ich immer sage, bekam ich als »Aussteuer« eine Truhe voller Weisheit und
Armut mit auf den Weg. Mammina wollte unbedingt, dass man mir ein Armband
mit meinem Namen anlegte, da sie schreckliche Angst hatte, man könnte mich in
der Wiege vertauschen. Eine kurze Zeit lang hoffte Riccardo, der keine feste
Arbeit hatte und von Zweifeln geplagt wurde, dass uns seine Mutter Sofia bei
sich aufnehmen würde, deren Zuneigung Romilda hatte gewinnen wollen, indem
sie mir ihren Namen gab. Doch auch diesmal irrte sie sich. So mietete er für uns
ein Zimmer in einer Pension, in der wir einige Wochen lang zusammenlebten wie
eine Familie. Oder beinahe.
Leider fehlte es uns an Geld, es fehlten die grundlegenden Dinge, es fehlte an
allem. Vater war zu arrogant, um irgendeine Arbeit anzunehmen, besaß aber
nicht die nötigen Zeugnisse für die Tätigkeiten, die er anstrebte. Meine Mutter
hatte keine Milch mehr und begann, sich ernsthaft um meine Gesundheit zu
sorgen. Diese Sorge verwandelte sich in Gewissheit, als sie mich eines Tages in
den Händen der Vermieterin ließ, um nach einer Anstellung zu suchen. Als sie
zurückkam, war ich fast tot. Die Signora hatte mir, wer weiß aus welchen guten
Absichten, einen Löffel Linsen verabreicht, die mich beinahe ins Jenseits
befördert hätten. Und Riccardo? War natürlich verschwunden.
Romilda tat das einzig Richtige. Irgendwie schaffte sie es, sich eine
Zugfahrkarte nach Pozzuoli zu kaufen, und kehrte nach Hause zurück. Ohne Geld
und ohne Mann, mit einem sterbenskranken Neugeborenen im Arm und der
»Schande« im Nacken, den Ruf der Familie beschmutzt zu haben, war sie gewiss
nicht zu beneiden. Wie würden uns die Villanis aufnehmen? Am Rande der
Verzweiflung fürchtete sie, auch von ihnen zurückgewiesen zu werden. Mamma
Luisa machte ihr die Tür auf. Ein Blick genügte, und schon schloss sie uns in die
Arme, als wären wir nie weg gewesen. Sie holte den Brandy und die guten Gläser
hervor, und nach einem bewegenden Prosit kümmerte sie sich sofort um mich.
»Wir brauchen Muttermilch«, verkündete sie, ohne Zeit zu verlieren. Die in
ganz Kampanien bekannte Amme Zaranella wurde gerufen. Damit ich überlebte,
legten die Villanis ein Gelübde vor dem heiligen Januarius ab und verzichteten
monatelang auf Fleisch. Alles wurde an Zaranella weitergegeben, die es ihnen in
Form von reichhaltiger, nahrhafter Muttermilch dankte. Niemand beschwerte
sich über dieses Opfer, weder Papà Domenico noch meine Onkel, Zio Guido und
Zio Mario, und auch nicht Zia Dora. Gemeinsam waren wir stark, daran haben
wir in unserer Familie immer geglaubt.
Doch die Milch von Amme Zaranella reichte nicht aus, um mich wieder
aufzupäppeln. »Diesem Mädchen geht es schlecht«, urteilte der Doktor, als er
meine von Hustenkrämpfen durchschüttelte Brust abhorchte. »Bergluft würde ihr
guttun …« Und so beschloss Mamma Luisa, die kleine Wohnung an der
Strandpromenade zu verlassen und die ganze Familie in die weiter oben gelegene
Via Solfatara umzusiedeln. Es war die richtige Entscheidung. Ein erster
Spaziergang in der abendlichen Kühle genügte, um in mein abgezehrtes Gesicht
ein hübsches Lächeln zu zaubern. »Sie ist gerettet!«, sagte Mamma Luisa, die sich
nun, da sie beruhigt war, endlich wieder um ihre alltäglichen Pflichten kümmern
konnte.
Papà Domenico, oder Mimì, wie wir ihn nannten, ein kleiner untersetzter
Mann, war Abteilungsleiter in der Munitionsfabrik Ansaldo, die der Grund dafür
war, dass Pozzuoli wenige Jahre später zur Zielscheibe schrecklicher
Bombardements werden sollte. Er arbeitete viel, zu viel für sein Alter, und abends
kam er erschöpft nach Hause. Alles, wonach er sich dann sehnte, waren seine
Zeitung und ein bisschen Ruhe. Was er jedoch vorfand, war eine große Familie,
in der es turbulent zuging und die Mamma Luisa – so gut sie konnte –
durchzubringen versuchte, mit Kraft und Willensstärke und mit reichlich
Phantasie. Die beiden Jungen arbeiteten in der Fabrik, allerdings nur gelegentlich,
während sich Zia Dora als Schreibkraft betätigte. Dennoch reichte das Geld nicht
aus, um jeden Abend ein Essen auf den Tisch zu bringen.
Und so war die Hauptzutat in der Küche von Mamma Luisa weniger das Brot
als Liebe und Phantasie. Ich erinnere mich noch heute an ihre Pasta mit Bohnen,
die lustig in unserer kleinen Küche vor sich hin köchelte und den Duft von
angebratenem Speck, wenn es ihn gab, verströmte. Es war der Duft unseres
Zuhauses, der Familie, die uns vor den Bomben schützte, vor Tod und vor
Gewalt. Noch heute kommen mir die Tränen, wenn ich diesen Duft einatme, der
mich in meine Kindheit zurückversetzt. Ich kann mich auch noch an die farinella
erinnern, eine Art Pfannkuchen aus Kichererbsenmehl, an die Pasta mit Kürbis,
an die panzanella, bestehend aus altem Brot und frischen Tomaten, an die
gekochten Kastanien … Es war eine arme Küche, aus nichts gemacht. Und
trotzdem, verglichen mit dem Hunger, den der Krieg über uns bringen sollte,
waren es fürstliche Speisen, besonders gegen Monatsende, wenn das halbe Gehalt
von Papà Mimì in der Fleischsoße von Mamma Luisa landete. Etwas so Köstliches
kann man einfach nicht vergessen.
Das Haus in der Via Solfatara hatte einen Eingang aus rotem Marmor, der
Farbton war wunderschön und konnte mit allem mithalten, was ich später in den
Villen von Hollywood gesehen habe. Es war ein warmes Rot, fast ein Orangeton,
der ganz typisch für Neapel war. Als ich es Jahre später wiedersah, kam es mir
verändert vor, mit traurigen Nuancen von Lila. Vielleicht lag es am Zahn der Zeit,
vielleicht an den Spuren des Krieges, oder vielleicht war mein Blick einfach nicht
mehr so ungetrübt wie damals.
Unsere Wohnung war zwar klein, aber so eingerichtet, dass wir alle irgendwie
hineinpassten. Es ging auch nicht anders, denn bald wurden wir noch mehr. Um
etwas dazuzuverdienen, spielte meine Mutter in den Cafés und Restaurants von
Pozzuoli und Neapel Klavier. Manchmal fuhr sie sogar bis nach Rom, wo sie
wieder anfing, sich mit Riccardo zu treffen. Und so kam es, dass sie eines Tages
zitternd vor ihre Eltern trat, um ihnen zu gestehen, dass sie wieder schwanger
war.
»Warum muss uns Gott noch Salz auf unsere Wunden streuen?«, entgegnete
Papà Mimì resigniert über das mangelnde Urteilsvermögen dieser starrköpfigen
und unzähmbaren Tochter. Und dieses Mal tappte der junge Scicolone gar nicht
erst in die erpresserische Falle und ließ sich auf nichts ein. Meine Schwester
Maria kam im Jahr 1938 als eine Villani zur Welt.
Meinen Vater sah ich mit etwa fünf Jahren zum ersten Mal wieder. Um das zu
bewerkstelligen, hatte ihm meine Mutter ein Telegramm geschickt, in dem sie
ihm mitteilte, ich sei sehr krank. Irgendwann kam er dann und brachte mir ein
wunderhübsches Tretauto mit hellblauen Pedalen und roten Rädern mit, auf
dessen Seite mein Spitzname stand: Lella. Ich war bei dieser Begegnung so
aufgeregt, dass ich mich nicht einmal traute, ihm in die Augen zu sehen. Für mich
war Mimì mein Vater, und niemand durfte ihm diesen Platz streitig machen.
Manchmal frage ich mich, ob Riccardo mir das übel genommen hat. Tatsache ist
aber, dass es dieses kleine Gefährt immer noch gibt, ich bewahre es in meinem
Herzen, und es hat nicht mal einen Kratzer.
Ein anderes Mal brachte er mir Rollschuhe mit, auf denen ich fröhlich in der
Eingangshalle unseres Hauses herumraste. Meine Schwester bettelte mich jeden
Tag an, sie ihr auszuleihen. Und ich, die grausame ältere Schwester, gab sie ihr
nur, wenn ich sie frisch geölt hatte. Wie oft ist sie hingefallen, die arme kleine
Maria!

Unterdessen lebte ich mein Leben, so gut ich konnte, verborgen hinter einem
dünnen Schleier der Schüchternheit, den ich fast nie ablegte. Ja, man mag es
kaum glauben, aber ich war wirklich schüchtern, vielleicht auch wegen unserer
Lebensumstände. Mein Vater war nicht da, und meine Mutter war zu blond, zu
groß, zu lebhaft, und vor allem war sie nicht verheiratet. Ihre exzentrische und
überbordende Schönheit machte mich verlegen. Ich wünschte mir eine normale
Mutter, die mir Sicherheit gab, mit schwarzen Haaren und einer zerknitterten
Schürze, mit runzeligen Händen und müdem Blick. Wie Mamma Luisa oder wie
Antonietta, die ich vierzig Jahre später in Ein besonderer Tag (Una giornata
particolare) spielen würde.
Ich betete zu Gott, dass mich Mammina nicht von der Schule abholte, denn ich
schämte mich vor meinen Klassenkameradinnen. In der Schwesternschule, die ich
besuchte, betrat ich immer als Erste oder Letzte die Klasse, wenn bereits alle auf
ihren Plätzen saßen. Ich hatte Angst, verspottet zu werden. Mädchen können ja
bekanntlich sehr grausam sein. Ich war ordentlich und fleißig, erledigte meine
Schulaufgaben wie ein kleiner Soldat, aber vor den anderen fühlte ich mich
immer unwohl. Auch deshalb, weil ich ganz dunkel war und schrecklich mager,
alle nannten mich nur »die Bohnenstange«.
Eine Freundin hatte ich trotzdem, eine echte Freundin, die mich mein ganzes
Leben lang begleitet hat. Als sie starb, nahm sie unsere Kindheit mit sich fort und
alle gemeinsamen Erinnerungen, die schönen und die weniger schönen. Sie hieß
Adele, und sie wohnte auf demselben Stockwerk. Kaum waren wir aufgestanden,
trafen wir uns im Treppenhaus und spielten bis zum Abend miteinander. Nach
der Grundschule trennten sich unsere Wege – sie besuchte die
berufsvorbereitende Schule, ich die Lehrerbildungsanstalt –, aber nichts konnte
uns wirklich auseinanderbringen.
Ihre Familie war nicht ganz so arm oder vielleicht einfach nur kleiner als
unsere. Zu ihrem Geburtstag bekam sie immer eine Puppe, mit der wir dann
zusammen spielten. Meine Großmutter hingegen brachte mir zum Dreikönigsfest
Kohle mit und behauptete, ich sei unartig gewesen. Doch wenn sie sie mir gab,
schaute sie mich liebevoll an und gab mir zu verstehen, dass das gar nicht stimme
und dass wir nur wieder einmal kein Geld hatten. Im Krieg wurde es mit dem
Hunger noch schlimmer: Oft konnte ich dem Duft, der aus Adeles Küche strömte,
nicht widerstehen und näherte mich voller Hoffnung. Manchmal, allerdings nicht
sehr oft, lud mich ihre Mutter zum Mittagessen ein.
Als ich viele Jahre später nach Pozzuoli zurückkehrte, um ein »Special« zu
drehen, lud ich auch Adele ein. Von diesem Moment an haben wir uns nicht
mehr aus den Augen verloren, bis zu dem Tag, als sie nicht ans Telefon ging. Es
war mein Geburtstag, einer der traurigsten, die ich je erlebt habe. Sie hatte einen
Schlaganfall erlitten und war nun an den Rollstuhl gefesselt. Sie weinte still vor
sich hin, wenn ihre Töchter von mir erzählten, von uns und unserem Leben, als
wir noch Kinder waren.

In der Schule war ich fasziniert von den Waisenkindern, die die
Ordensschwestern immer in die letzte Reihe setzten, als wollten sie betonen, was
für ein Pech diese Mädchen hatten. Ich setzte mich in die Reihe vor sie, wie ein
Bindeglied zwischen ihrem Unglück und einer Normalität, für die ich mich in
ihrer Gegenwart schämte. Zu gern hätte ich einmal das angeschlossene
Waisenhaus besucht, aber man hätte eine riesige Treppe hinaufsteigen müssen,
was absolut verboten war.
Die Schwestern waren streng, und ich hatte Angst vor ihnen, auch wenn sie
mir gegenüber besonders rücksichtsvoll waren. Bei Bestrafungen musste man die
Hände ausstrecken, und dann bekam man Schläge. Meine Hände haben sie nie
auch nur gestreift.
Ich war zwar schüchtern, das stimmt, aber mir gefiel es auch, gegen den Strom
zu schwimmen. Als ich Nonna Sofia fröhlich von meiner Erstkommunion
berichtete, hatte ich mir das erste Abendmahl in Wahrheit schon einige Zeit
vorher heimlich selbst besorgt. Ich war allein in die Kirche gegangen, hatte mich
angestellt, war mit gesenktem Blick vor dem Priester auf die Knie gesunken und
hatte »Amen« geflüstert. Als ich nach Hause kam, erzählte ich Mamma Luisa von
meinem Abenteuer, in der Überzeugung, dass sie sich freuen würde, ein so
frommes Enkelkind zu haben.
»Was hast du nur getan! Was hast du nur getan!«, rief sie und war ganz
verzweifelt über meine mehr oder weniger unbewusste Grenzüberschreitung. In
Wirklichkeit war das einfach meine Art, nach Gott zu suchen, ganz intuitiv. Auch
heute noch bin ich auf der Suche nach ihm, und manchmal finde ich ihn an den
unglaublichsten Orten.

Jene Nächte im Tunnel

Ich war sechs, als der Krieg ausbrach, und elf, als er zu Ende ging. Mein Kopf war
voller Bilder, die ich nie wieder ausradieren konnte. In meinen frühesten
Erinnerungen höre ich die Bomben, den Lärm der Luftschutzsirene. Und dann
waren da der quälende Hunger, die Kälte, die schwärzeste Dunkelheit. Manchmal
kommt ganz plötzlich die Angst zurück. Man glaubt es kaum, aber bis heute
schlafe ich bei Licht.
Zuerst kamen die Deutschen, die anfangs noch unsere Verbündeten waren.
Morgens marschierten sie vor dem Haus vorbei, groß, blond und blauäugig, und
ich beobachtete sie fasziniert vom Fenster aus, hin- und hergerissen zwischen
Furcht und Aufgeregtheit. Aus meiner Kinderperspektive kamen sie mir gar nicht
böse oder gefährlich vor, aber die Großeltern, deren Gespräche ich manchmal
versehentlich mitbekam, sprachen von Juden und Deportationen, von Folter und
ausgerissenen Fingernägeln, von Vergeltungsmaßnahmen und Verrat, und das
ergab ein völlig anderes Bild. Da rannte ich in die Küche und fragte sie aus, aber
sie stritten alles ab. »Wir haben gar nichts gesagt«, meinten sie nur.
In Wirklichkeit befanden wir uns in der Höhle des Löwen, und das sollten wir
bald zu spüren bekommen. Nach und nach kam alles zum Erliegen – die Schule,
das Filmtheater Sacchini, die Konzerte der Musikkapelle auf der Piazza –, alles
außer den Bomben.
Neapel war für die Alliierten ein wichtiges Ziel, da es einen der bedeutendsten
Häfen des Mittelmeers besaß, von dem aus die meisten Schiffe nach Nordafrika
ablegten. Darüber hinaus lag dort, neben Tarent und La Spezia, ein Teil der
italienischen Flotte. Um die Stadt herum befanden sich wichtige Industriegebiete,
was die Region zu einem strategisch noch wichtigeren Standort machte: Baia
Domizia, Castellammare di Stabia, Torre Annunziata, Pomigliano, Poggioreale,
Bagnoli und nicht zuletzt auch Pozzuoli. Während zu Beginn des Krieges vor
allem Militärstützpunkte angegriffen wurden, fielen die Bomben später
flächendeckend über Stadt und Küste. Ich brauchte eine Weile, um zu begreifen,
dass die Spuren, die die Bomben am Himmel hinterließen, nichts mit dem
Feuerwerk zu tun hatten, das beim Fest der Madonna in Pompei veranstaltet
wurde. Häuser wurden getroffen, Kirchen und Krankenhäuser, Hotels und
Märkte. Ich erinnere mich daran, als sei es gestern gewesen. Kaum ging die Sirene
los, flüchteten wir uns auch schon in den Eisenbahntunnel, der sich auf der
Strecke Pozzuoli−Neapel befand. Der Schienenweg war ein empfindliches Ziel, so
wie alle Verkehrswege, doch der Tunnel bot uns Schutz.
Wir brachten Matratzen mit und breiteten sie auf dem Kiesboden neben den
Schienen aus. Wir drängten uns in der Mitte des Tunnels zusammen, weil es an
den Ausgängen gefährlich war, und wir bereiteten uns darauf vor, die Nacht dort
zu verbringen, in der es feucht und kalt werden konnte oder so stickig, dass man
kaum Luft bekam. Die Ratten und Kakerlaken waren aber immer da, ebenso wie
das Getöse der Flieger und die Angst, nicht lebend wieder herauszukommen.
Im Tunnel teilte man das wenige, das man hatte, man sprach sich gegenseitig
Mut zu, man weinte und versuchte zu schlafen, man stritt, und manchmal wurde
auch ein Kind hier geboren. Alle miteinander, einer über dem anderen, brüllend
und einander tröstend, hofften wir, dass dieser Albtraum bald ein Ende hatte. Im
Morgengrauen dann, gegen halb fünf, rannten wir nach draußen, um nicht vom
ersten Zug überfahren zu werden.
Oft kamen die Bombenangriffe ganz plötzlich – die Sirene funktionierte nicht
immer –, und ich erschrak so sehr, dass ich mich auszog, anstatt mich
anzuziehen. So kam es nicht selten vor, dass ich nackt im Haus herumrannte,
während die ersten Flugzeuge ihre Bomben abwarfen … Zusammen mit meiner
Mutter hetzte ich dann in Richtung Unterschlupf. An einem Abend jedoch
verletzte mich ein Granatsplitter am Kinn. Angsterfüllt und blutend kam ich im
Tunnel an. Es war nicht schlimm, aber ich behielt eine Narbe zurück, die uns
wenige Monate später unverhoffte Essensgeschenke verschaffen sollte.
Der Hunger war das beherrschende Thema meiner Kindheit.
Manchmal, wenn wir aus dem Tunnel kamen, brachte uns Mammina aufs
Land, gleich hinter Pozzuoli, wo die Höhlen der Schäfer waren. Wir ließen uns
von einem Freund unseres Onkels ein Glas frischer Milch geben, das wir ’a
rennetura nannten, was bedeutete, dass die Kuh sofort gemolken wurde,
nachdem das neugeborene Kalb getrunken hatte. Die Milch war gelb und
reichhaltig wie Butter und konnte ganze Tage, in denen man nichts gegessen
hatte, wieder ausgleichen. Ja, je länger der Krieg dauerte und je heftiger die
Bombenangriffe wurden, desto weniger Lebensmittel und Wasser gab es. Die
Essensrationen reichten nicht aus, die Transporte waren blockiert, die Bomben
zerstörten die Wasserleitungen. Die Menschen lebten unter extremen
Bedingungen.
Mamma Luisa schickte mich zum Einkaufen zu Signora Sticchione, bei der wir
anschreiben konnten. Sie notierte unsere Schulden auf dem braunen Papier, mit
dem sie das Brot einwickelte. Am dritten Tag im Monat war das Geld schon
wieder alle, und so gab sie uns Kredit, während sie vor sich hinmurmelte »Ci
risiamo ’n’ata vota – Auf ein Neues …«
Im Übrigen saßen wir mehr oder weniger alle im selben Boot. In einem
Papiertütchen kaufte ich acht Kaffeebohnen, die die Großmutter mahlte und
anschließend das Malz damit aufbesserte. Auch ein Laib Brot stand uns zu und
ein kleines Brötchen, ’a jonta, das allerdings nie zu Hause ankam, weil ich den
Hunger nicht aushielt und es noch auf dem Rückweg verschlang. Meine
Großmutter fragte mich dann: »Ma addo’ sta? – Wo ist es denn?«, schimpfte aber
nicht. Sie liebte mich von Herzen und litt selbst, wenn sie mich leiden sah.
Irgendwann konnte man gar nichts mehr einkaufen, es war weder Geld da
noch irgendwelche Waren. Es gab Tage, an denen wir nicht ein Krümelchen aßen.
In einer wunderschönen Szene aus Die vier Tage von Neapel (Le quattro giornate
di Napoli) von Nanni Loy stürzt sich einer der kleinen Protagonisten mit einer
verzweifelten Gier, in der ich mich als Kind wiedererkenne, auf ein Stück Brot.
Jene berühmten Tage Ende September 1943, in denen sich Neapel gegen die
deutschen Besatzer erhob, waren der Höhepunkt einer schlimmen Zeit und der
Anfang vom Ende.

Wenige Monate zuvor, als die Bombenangriffe auf Pozzuoli unerträglich


geworden waren, hatte man uns aufgefordert, unsere Häuser zu verlassen. Da uns
nichts anderes übrig blieb, waren wir zu Verwandten von Mamma Luisa
geflüchtet, zu der Familie Mattia. Meine Onkel Guido und Mario, die sich
versteckt hatten, um nicht an die Front geschickt zu werden, kamen mit uns, aber
im Zug gerieten sie in eine brenzlige Situation, und es hätte nicht viel gefehlt,
und sie wären geschnappt worden. Zwei Ordensschwestern, die mit im Abteil
saßen, reagierten blitzschnell: Sie versteckten die beiden unter ihrer
Schwesterntracht und retteten sie so vor den Deutschen, die in den Zug gestiegen
waren. Diese Episode wurde später zu einer Art Legende, einer Familienanekdote.
Damals freilich war das gar nicht lustig. Wir empfanden nur Dankbarkeit
gegenüber diesen beiden Nonnen, die ihr Leben für zwei Unbekannte aufs Spiel
gesetzt hatten.
Die Familie Mattia war nicht besonders gastfreundlich. Sie trauten sich zwar
nicht, uns rauszuwerfen, begegneten uns aber von Anfang an mit einer gewissen
Kälte. Ich war nur noch Haut und Knochen, während Maria an Typhus erkrankt
war, der damals in der ganzen Stadt grassierte.
Meine Mutter ging betteln, um etwas zu Essen für uns aufzutreiben, was ihr
aber nicht immer gelang. Mal brachte sie eine Kartoffel mit, mal eine Handvoll
Reis oder das dunkle Brot mit der unglaublich harten Kruste, in dem immer das
Messer stecken blieb, weil es innen feucht und matschig war. Wir Mädchen
blieben im Haus, um die Stellung zu halten und nicht zu riskieren, dass uns die
Verwandten nicht wieder hineinließen. Wir kneteten uns kleine Puppen aus
Brotteig, die wir dann zum Trocknen aufs Fensterbrett stellten, am nächsten
Morgen aber aufaßen, weil wir so hungrig waren.
Eines Abends sah Romilda vom Fenster aus eine Frau mit einem Kinderwagen
und einer Einkaufstasche. Auf ihr mütterliches Mitgefühl hoffend, fiel sie vor ihr
auf die Knie und bettelte um ein Stück Brot, wobei sie auf unsere ausgemergelten
Gesichter zeigte. Die Frau hatte Mitleid und teilte ihr Brot mit uns.
Nachdem die Deutschen im September 1943 plötzlich zu Besatzern geworden
waren, zwangen sie die Stadt in einen eisernen Schraubstock. Sie spürten, dass
ihre Niederlage bevorstand, und ließen ihre Wut willkürlich an uns aus. Die
Neapolitaner, die, von Hunger, Krankheiten und Bomben geschwächt, am Ende
ihrer Kräfte waren, fingen an, sich zu wehren. Ich erinnere mich an die
Verhaftung eines jungen Matrosen, der sich nichts anderes hatte zu Schulden
kommen lassen, als über den Waffenstillstand zu jubeln, in der Hoffnung auf
baldigen Frieden. Er wurde auf den Treppenstufen der Universität erschossen, vor
den Augen des Volkes, das gezwungen wurde zu applaudieren.
Spontan erhoben sich die Menschen der Stadt, und der Aufstand griff von
Viertel zu Viertel, von Haus zu Haus über. Alle kämpften, egal, wie alt, egal, aus
welcher sozialen Schicht sie kamen. Die Männer zwischen achtzehn und
fünfunddreißig Jahren wurden von den Deutschen aufgefordert, sich zum
obligatorischen Arbeitsdienst zu melden. Von dreißigtausend Männern kamen
gerade mal hundertfünfzig. Inzwischen herrschte offener Krieg. Selbst die
Gassenjungen griffen zu den Waffen und wurden zu den eigentlichen Helden der
Revolte. Nach vier Tagen nahmen die Deutschen Verhandlungen mit den
Aufständischen auf und räumten das Feld. Am 1. Oktober 1943 betrat General
Clark an der Spitze der alliierten Truppen die Stadt.
Der erste alliierte Soldat, den ich zu Gesicht bekam, trug einen Rock und
gehörte ganz offensichtlich den schottischen Truppen an, die unter dem Gelächter
und den Frotzeleien der Kinder durch die Straßen marschierten. Die Amerikaner
verteilten sofort Bonbons, Kekse und Kaugummis. Ein Soldat gab mir Schokolade,
aber ich wusste nicht, was das war, und traute mich nicht, sie zu probieren. Ich
brachte eine Dose Kaffeekonzentrat mit nach Hause und gab sie Mamma Luisa.
Sie verstand nicht gleich, dass man nur noch heißes Wasser hinzufügen musste,
um das Pulver in jenes Getränk zu verwandeln, dessen Geschmack wir schon
vergessen hatten.

»Einsame Pinie …«

Zu Fuß kehrten wir nach Pozzuoli zurück, mit der noch immer kranken Maria
auf den Schultern von Zio Mario. Unser Haus war schwer beschädigt worden,
aber die Mauern standen noch. Wir mussten alles wieder aufbauen, vernagelten
die Fenster mit Pappkarton und gingen auf den Schwarzmarkt. Zum Hunger und
Durst kamen nun auch noch Läuse, die uns monatelang quälten, bis wir sie
endlich dank einer amerikanischen Erfindung besiegten: dem DDT. Ihr
Verschwinden war für mich ein untrügliches Zeichen dafür, dass der Krieg
wirklich zu Ende war.
Die Alliierten verteilten richtige Lebensmittel – sogar weißes Mehl, für uns der
reinste Luxus –, und die Bauern fingen langsam wieder an, den Boden zu
bestellen. Was blieb, war die Kälte, die uns den Atem nahm. In der Zwischenzeit
hatte auch ein kleiner Cousin das Licht der Welt erblickt, nun waren wir zu
neunt. Eng aneinandergedrängt saßen wir in der Küche, dem wärmsten Raum im
Haus. Doch die Welt draußen machte noch immer Angst.
In der Eingangshalle unseres Hauses war eine Einheit marokkanischer Soldaten
stationiert, der ein französischer Offizier vorstand. Sie waren vollkommen
respektlos und taten so, als wären sie hier zu Hause, von morgens bis abends
wurde nur gezecht. Sie vermittelten nicht gerade ein Gefühl von Sicherheit,
manchmal hämmerten sie sogar nachts gegen die Tür und rissen uns aus dem
Schlaf. Ich musste einige Jahre später wieder an sie denken, am Set zu Und
dennoch leben sie (La ciociara), was mir half, die intensive, schwierige Rolle der
Cesira authentischer zu gestalten. Wenn ich am Morgen aus der Tür trat, um in
die Schule zu gehen, war am Hauseingang alles voller Kondome. Natürlich
wusste ich nicht, was das war. Einmal hob ich eines auf, weil ich dachte, es sei
ein Luftballon. Wie damals nach der heimlichen Kommunion ging ich jubelnd zu
Mamma Luisa, mit meiner kleinen Trophäe in der Hand. Und wieder musste ich
einsehen, dass ich völlig falsch lag. Meine Großmutter ließ mich nicht mehr
hinunter – »Die Luftballons rührst du nicht mehr an!« –, und dann redete sie ein
Wörtchen mit dem französischen Offizier, der von da an seine Männer etwas
mehr im Zaum hielt.

Meine Mutter hatte wieder angefangen, Klavier zu spielen, in einer Trattoria mit
hellblauen Wänden gegenüber von unserem Haus. Oft gesellte sich meine
Schwester, die inzwischen wieder gesund war, zu ihr: »Pino solitario ascolta
questo addio che il vento porterà …« (»Einsame Pinie, hör dieses Lebewohl, das
der Wind zu dir trägt …«). Maria war zwar noch ein Kind, wirkte aber schon
damals wie eine reife Künstlerin. Ich sah ihr erstaunt zu und war wie immer ganz
verlegen, während die amerikanischen Soldaten begeistert schienen und sich wie
zu Hause fühlten. Genau hier kam dann auch die Idee auf, sie am
Sonntagnachmittag in unserer guten Stube zu bewirten und mit einer Art Haus-
Café ein paar Lire dazuzuverdienen. Mamma Luisa bot einen selbst gemachten
Brandy an, wobei sie dem auf dem Schwarzmarkt erstandenen Alkohol
Kirschlikör beimischte, Mammina spielte Klavier, und die Soldaten sangen dazu
Songs von Frank Sinatra oder Ella Fitzgerald. Ich selbst trug unentwegt Flaschen
hin und her, um sie mit Wasser aufzufüllen, und lernte Boogie -Woogie tanzen.
Einem dieser Soldaten fiel die Narbe an meinem Kinn auf, und er nahm mich
mit zum Lager, wo ein Arzt sie wie durch Zauberhand verschwinden ließ. Und
als ob es nicht schon genug gewesen wäre, schickte er uns mit einem Jeep voller
Lebensmittel nach Hause. Sogar stortarelli waren dabei, kurze Nudeln aus
weißem Mehl. Es kam uns vor wie ein Traum.
Zu dieser Zeit versuchte Mammina, mir das Klavierspiel beizubringen, was mir
sehr gefiel, aber wenn ich die Taste nicht traf, wurde sie so wütend, dass ich von
den Schlägen, die sie mir gab, Kopfschmerzen bekam und aufhören musste. Trost
fand ich im Filmtheater Sacchini.
Als der Krieg zu Ende war, wurden die Kinosäle von amerikanischen Filmen
nur so überflutet. Ich sah mir bis zum Überdruss König der Toreros (Blood and
Sand) an und verliebte mich unsterblich in Tyrone Power und die kupferroten
Haare von Rita Hayworth. Dann kam Duell in der Sonne (Duel in the Sun) an die
Reihe, der mich genauso verzauberte. In meiner Einsamkeit verlor ich mich in
den schmachtenden Blicken von Jennifer Jones und Gregory Peck und träumte
davon, wie sie zu werden. Nicht das Leben, das sie führten, faszinierte mich,
sondern ihre Fähigkeit, ihr Innerstes auszudrücken.
Das Lernen machte mir Spaß, aber mein Interesse ließ mit der Zeit nach,
sodass ich im letzten Schulzeugnis nur Dreien und Vieren hatte. Was die
Hausaufgaben anging, wartete ich immer, bis Zia Dora, die Literatin der Familie,
von der Arbeit nach Hause kam. Aber sie war dann meist so müde, dass sie
zwischen der Lateinübersetzung und der Übung mit Verben einschlief. »Tantchen,
wach auf  !«, flüsterte ich ihr mit leicht schlechtem Gewissen zu.
Die Chemielehrerin himmelte mich an, auch die Französischlehrerin. Ich war
immer schon sprachbegabt, was mir bei meiner Karriere von Nutzen sein sollte.
Aber damals wusste ich noch nichts davon, schließlich sollte ich
Grundschullehrerin werden, wie mein Vater es wollte. Das dachte ich jedenfalls.
Als ich dann aber viele Jahre später nach Pozzuoli zurückkam, fand ich zufällig
ein altes Schulheft von mir wieder, in das ich »Sofia Scicolone wird einmal
Schauspielerin werden« gekritzelt hatte. Offensichtlich hatte ich bereits eine
merkwürdige Ahnung, welche Zukunft mich erwartete. Dabei war es meine
Schwester Maria, die bei unseren kleinen Aufführungen in der Küche, für die uns
Mamma Luisa mit ihrem angeborenen Schneidergeschick Kostüme aus billigem
Stoff und Papier bastelte, vor allen Leuten posierte, Verwandten wie Nachbarn,
während ich aus einem Winkel heraus zusah und mich sogar da noch genierte.
Doch die Dinge änderten sich. Ich wurde groß. Aus dem hässlichen Entlein
wurde ein Schwan. Vor allem aber reifte in mir der Wunsch, ja das fast schon
körperliche Verlangen heran, meinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen, sie in
Gesten und Worte zu verwandeln und alles rauszulassen, was sich im Lauf der
Jahre in mir angestaut hatte und was ich noch immer nicht deuten konnte. Ich
wollte mich auf das offene Meer begeben. Nur etwas Geduld brauchte ich, denn
ich konnte noch nicht schwimmen.
2 Die Traumwerkstatt

Prinzessinnen in der Kutsche

Die Verwandlung vom hässlichen Entlein zum Schwan wird auf einer vergilbten
Titelseite der Wochenzeitschrift Sogno sichtbar, die aus einer anderen Zeit
stammt und Erinnerungen wachruft. Sie datiert aus dem Jahr 1951 und zeigt ein
Mädchen mit einem fast schon vergessenen Namen: Sofia Lazzaro.
Der Krieg war zu Ende, Italien lebte wieder auf, und die Menschen fingen
wieder an zu träumen. Selbst mir fällt es schwer, hinter dem süßlichen Blick der
Heldin des Fotoromans die Bohnenstange wiederzuerkennen, die ich kurz zuvor
noch gewesen war. Tatsächlich hatten sich mein Körper, mein Gesicht und mein
Name in nur wenigen Monaten verändert. Auch die Stadt, in der ich nun lebte,
war eine andere.
Es hatte eine richtige Revolution stattgefunden, und Revolutionen sind immer
unvorhersehbar. Manchmal passiert es, dass die Zeit plötzlich schneller vergeht,
dass alte Ängste neuen Herausforderungen weichen und alles ein anderes Gesicht
annimmt, wenn wir unbekannte neue Wege einschlagen.
Im Vergleich zu meinen Klassenkameradinnen setzte der Übergang vom
Mädchen zur jungen Frau bei mir mit großer Verspätung ein. Ich glaubte schon
gar nicht mehr daran. Als ich fünfzehn Jahre alt wurde, fand ich mich dann aber
doch in einem wohlgeformten, schönen Körper wieder, der vital und
vielversprechend war. Wenn ich durch die Straßen von Pozzuoli ging, drehten
sich die Jungs nach mir um und pfiffen mir nach.
Der Erste, dem das auffiel, war mein Sportlehrer. Er war ein gut aussehender
junger Mann, der es gewohnt war, das Leben als einfache Freiübung zu
betrachten. An einem Frühlingstag kam er zu uns nach Hause, mit ernstem Blick
und Hut in der Hand, und hielt um meine Hand an.
»Donna Romilda, ich hege aufrichtige Gefühle für Ihre Tochter. Ich besitze ein
Haus und auch einen sicheren Arbeitsplatz. Wenn Sie einverstanden sind,
könnten wir schon im September heiraten.«
»Verehrter Herr Lehrer, es tut mir sehr leid, aber das geht auf keinen Fall. Sofia
ist zu jung, um sich zu vermählen.«
Mammina verabschiedete ihn freundlich, aber bestimmt. Es tat ihr zwar um
diesen wohlerzogenen Jungen leid, doch mit mir hatte sie anderes vor. Ich
beobachtete die Szene mit einer gewissen Distanz, so, als ginge mich das Ganze
nichts an, aber ich war erleichtert. Ich musste erst noch herausfinden, wer ich
war, ans Heiraten war also nicht zu denken.
Da gab es noch einen anderen Jungen, der mich für kurze Zeit beschäftigte. Er
hieß Manlio und wohnte in La Pietra, das nur ein paar Zugstationen von Pozzuoli
entfernt war. Wir waren uns auf der Straße begegnet, wir gefielen einander, und
eines Nachmittags wagte ich mich über die Grenzen meiner kleinen Welt hinaus
und besuchte ihn. Ich erinnere mich nur an seine roten Augen und ein Ungestüm,
auf das ich nicht vorbereitet war. Vielleicht hatte er etwas getrunken, oder es lag
an der Glut der Jugend, Tatsache ist, dass er mich abschreckte. Ich war noch nicht
so weit und rannte weg, ohne mich umzudrehen. Von außen betrachtet war ich
zwar schon eine Frau, im Inneren aber noch immer das spröde, schüchterne
Mädchen. Mein Gefühl sagte mir, dass ich mich in die Welt stürzen musste, ich
wusste nur nicht, wie und wo. Und vielleicht nicht einmal, warum.
Das Sprungbrett bot mir der »Circolo della Stampa«, der Presseclub von
Neapel. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, wenn Mammina mich nicht dorthin
gebracht und damit meine Schüchternheit und unsere Armut herausgefordert
hätte. Sie war eine Art hellseherische Fee, die Aschenputtel entgegen jeder
Erfolgsaussicht zum Ball führte. Da gibt es nichts zu rütteln − jene Jahre meines
Lebens hatten etwas von einem Traum, der Wirklichkeit wurde.
An einem Herbsttag des Jahres 1949 kam ein Nachbar zu Besuch und brachte
einen Zeitungsausschnitt mit. Die Nachmittagsausgabe des Corriere di Napoli
berichtete über die bevorstehende Wahl der »Regina del mare«, der
Meereskönigin und ihrer Prinzessinnen, und hatte deshalb einen
Schönheitswettbewerb ausgeschrieben. Die Siegerinnen sollten in einer Kutsche
durch die Straßen des Zentrums fahren und die Kriegstrümmer rechts und links
wie durch Zauberhand in ein Märchenreich verwandeln.
Romildas Augen fingen an zu leuchten, sie zwinkerte mir verschwörerisch zu.
Unser Moment war gekommen, jener Moment, auf den sie so lange gewartet
hatte. Ich antwortete ihr mit dem üblichen Gehorsam: »Wenn du meinst …« Wir
hatten kaum genügend Geld für Essen, doch Mammina wollte sich diese
Gelegenheit auf keinen Fall entgehen lassen. Die Gelegenheit ihres Lebens hatten
ihr ihre Eltern verweigert, niemals würde sie das vergessen. Und so hätte sie jetzt
alles darangesetzt, um das wiedergutzumachen. Ich war eigentlich noch nicht alt
genug, um an dem Wettbewerb teilzunehmen, daher steckte sie mir die Haare
hoch, damit ich älter aussah. Voller Eifer stürzte sie sich in die Vorbereitungen,
und dieses Mal wagte nicht einmal Mamma Luisa, ihr zu widersprechen; sie half
sogar mit, wenn auch schweren Herzens.
Kein Ball ohne Kleid und Tanzschuhe. Also nahm Luisa die Gardinen aus
rosafarbenem Taft herunter und verwandelte sie in Nullkommanichts in eine
Abendrobe, die zwar nicht wirklich elegant war, mir aber zumindest eine gewisse
Würde verlieh. Was die Schuhe betraf, so besaß ich nur ein einziges Paar, das
abgenutzt und voller dunkler Flecken war. Doch ich brauchte nur ein wenig
weiße Farbe aufzutragen, und schon sahen sie aus wie neu. »Madonna, ich flehe
Euch an, macht, dass es nicht regnet«, murmelten zitternd meine Feen.
So stiegen Mammina und ich in den Zug, setzten uns in einen Waggon der
dritten Klasse und fuhren nach Neapel. Es war kalt, und über dem Kleid trug ich
den Mantel, den ich immer anzog, denn es war der einzige, den ich hatte. Alle
starrten mich an, ich sah aus, als wollte ich zum Karneval. Ein Windhauch hätte
genügt, ein Regentropfen, eine Minute Verspätung, und meine wächserne Hülle
wäre zerronnen und der Traum geplatzt.
Der Wettbewerb begann im Cinerama, dem Filmtheater in der Via Chiaia, und
endete beim Circolo della Stampa im Rathaus, einem wunderschönen Palazzo,
der heute in einem heruntergekommenen Zustand ist. Damals war er das
Flaggschiff der vom Krieg zerstörten Stadt. Ich ging meinem Schicksal entgegen
wie ein Lamm dem Opferaltar, aber sobald ich angekommen war, wusste ich, dass
man Notiz von mir genommen hatte. Vielleicht war es einfach meine
zurückhaltende Art, die Eindruck machte und mich von den anderen Mädchen
unterschied, die möglicherweise erfolgreicher waren und sich in Grüppchen
zusammentaten wie die Hühner. Ich atmete tief durch und marschierte los: Vor
den Mitgliedern der Jury, im Hintergrund der glitzernde Golf von Neapel, war ich
dann plötzlich nicht mehr so schüchtern wie sonst, sondern ausgelassen und
fröhlich.
Es ist immer so bei mir: Vor jedem Auftritt sterbe ich fast vor Lampenfieber,
aber sobald die Scheinwerfer angehen, lasse ich mich fallen und schaffe es, wie
auch immer, mich von meiner besten Seite zu zeigen.
Nach der Wartezeit, die mir vorkam wie eine halbe Ewigkeit, verkündete die
Jury ihre Entscheidung. Ich erinnere mich noch daran, wie glücklich ich war,
meinen Namen unter den auserwählten Prinzessinnen zu hören. Doch es war nur
ein halber Sieg, denn den Titel der Königin hatte eine andere gewonnen, aber das
war mir egal. Ich entsprach ja nicht in jeder Hinsicht dem klassischen
Schönheitsideal, was es sicher schwieriger machte. Trotzdem sollte mein
Anderssein zu einem meiner Erfolgsgeheimnisse werden, wie Fachleute meinen.
Für den Moment musste ich nur daran glauben.
Ich wurde mit Beifall überschüttet, Fotos wurden geschossen, Interviews
gegeben, sogar einen schönen Blumenstrauß bekam ich. Mein erster Auftritt vor
der Welt war ein Triumph, und das gab mir Mut. Wir liefen durch die Straßen des
Zentrums, begleitet von einer Musikkapelle, und die Menschen überhäuften uns
mit Blumen. Die Königin saß allein in einer vergoldeten Kutsche, wir
Prinzessinnen folgten ihr. Von der Via Caracciolo über die Via Partenope zur
Piazza Municipio, über die Via Depretis zum Corso Umberto und zur Piazza
Nicola Amore, dann die Via Duomo hinauf, die Via Roma (die heute Via Toledo
heißt) hinunter und zurück Richtung Meer. Wenn man sich die Szene im
Nachhinein vor Augen führt, kommt sie einem vor wie aus einem Film von De
Sica! Ich war im siebten Himmel und scherte mich nicht um den Regen, der alles
nur noch romantischer und unwirklicher machte. Wie den Zeitungen zu
entnehmen war, feierten bei der Wahl der schönsten Mädchen von Neapel auch
die Schauspielerin Tina Pica, der Liedermacher Sergio Bruni und sogar der Sänger
Claudio Villa mit.
Damals war mir nicht klar, wie sehr dieser Tag mein Leben verändern sollte.
Wie jedes junge Mädchen konzentrierte ich mich auf den Preis, der mir zu schön
vorkam, um wahr zu sein: eine Tapete mit großen grünen Blättern, über die sich
Mamma Luisa riesig freute, eine Tischdecke mit zwölf Platzdeckchen und die
stolze Summe von 23 000 Lire: Noch nie hatte ich so viel Geld auf einmal gesehen.
Das Wichtigste aber war eine Zugfahrkarte nach Rom, die mich allerdings
zunächst gar nicht beeindruckte. Mammina jedoch zitterte vor Aufregung, war es
doch eine Eintrittskarte für Cinecittà.
Als Erstes schrieb sie mich in einer Schauspielschule in Neapel ein, die sie mit
dem Verdienst aus den Klavierstunden bezahlte, die sie inzwischen wieder gab.
Eigentlich war es keine richtige Schule, sondern eher das Werk eines echten
Neapolitaners, der sich zu helfen wusste. Das »Actors Studio« im Schatten des
Vesuvs, wo ich meine ersten Gehversuche machte, basierte im Grunde auf der
langen Erfahrung eines einzigen Lehrers, Pino Serpe, der sich damit brüstete,
sogar aus einem Stein einen Schauspieler herausmeißeln zu können. Wie das?
Indem er uns beibrachte, Gesichter zu schneiden. Wir trainierten sämtliche
Gesichtsmuskeln, um die ganze Bandbreite menschlicher Empfindungen
nachzuahmen: Angst, Freude, Verzweiflung, Traurigkeit, Überraschung,
Überheblichkeit, Hoffnung. Die Hauptakteure waren dabei die Augenbrauen. Es
klingt wie ein Scherz, aber dieses kleine Mienenspiel, das mich dazu zwang, aus
mir herauszugehen und mich vor anderen zu zeigen, hat mir sehr geholfen, mich
in der Welt der Fotoromane zu behaupten, die ich bald schon betreten sollte.
Einige Jahre später, als ich bereits in Hollywood Fuß gefasst hatte, bekam ich
einen Brief: »Mein Name ist D’Amore, wir haben zusammen den Kurs bei Serpe
besucht, weißt du noch?« Es rührte mich, dass sich dieser ehemalige Mitschüler
an mich erinnerte. Auch ich konnte mich noch gut an ihn erinnern: Er kam vom
Land, er hatte Talent und er aß viel. Den Lehrer bezahlte er mit Brot, Salami und
Eiern.
Ausgerechnet mein Lehrer Serpe organisierte für mich ein paar
Probeaufnahmen und eine winzige Statistenrolle in Cuori sul mare von Giorgio
Bianchi und Il voto von Mario Bonnard. Vor allem aber informierte er mich
darüber, dass die Metro-Goldwyn-Mayer in Rom Komparsen für einen
Kolossalfilm suchte, der im alten Rom spielen sollte. Und wieder einmal bewies
Mammina, dass sie sehr klare Vorstellungen hatte, und beschloss gegen den
Willen der Großeltern, nach Rom umzuziehen. Maria, die noch klein und
kränklich war, blieb bei ihnen, während wir mit ebenso viel Begeisterung wie
Angst unserem Traum hinterherjagten.

Quo vadis?

Rom empfing uns mit offenen Armen, so kam es uns jedenfalls vor. Von meinem
Vater, den Romilda noch vom Bahnhof aus anrief, konnte man das nicht gerade
behaupten. Romilda war in manchen Dingen so ungeübt, dass sie es nicht einmal
schaffte, den öffentlichen Münzsprecher zu benutzen, und in einer Bar
telefonieren musste. Riccardo, der sich wie immer aus der Affäre ziehen wollte,
willigte notgedrungen ein, uns bei seiner Mutter zu treffen, auch wenn ihn diese
plötzliche Ankunft ganz offensichtlich irritierte.
Großmutter Sofia bot mir ein Glas Milch an und ließ uns, ohne auch nur eine
Frage zu stellen oder irgendetwas Nettes zu sagen, allein im Salon zurück, wo wir
auf Riccardo warten sollten. Als mein Vater hereinkam, warf er mir nur einen
kurzen, vorwurfsvollen Blick zu. Er schien nicht überrascht zu sein, dass ich so
groß geworden war, setzte aber alles daran, unseren Plan zu durchkreuzen. Wenn
es nach ihm gegangen wäre, hätten wir sofort nach Pozzuoli zurückkehren sollen,
um ihn und seine neue Familie nicht weiter zu behelligen. Denn in der
Zwischenzeit hatte er eine andere Frau geheiratet, mit der er später zwei Söhne
bekam, Giuliano und Giuseppe.
Ich kann mich noch an den Tag erinnern, an dem er nach Pozzuoli gekommen
war, um meine Mutter über seine bevorstehende Heirat zu informieren. Bis dahin
hatte ich nicht verstanden, warum sich die beiden das Leben immer noch so
schwer machten, wo mein Vater doch sowieso nichts mehr von uns wissen
wollte. Und als die kleine Maria den Raum betrat, fragte er nur voller
Geringschätzung: »Und wer ist das?« Dabei wusste er es genau.
Mammina ließ sich im Salon von Großmutter Sofia keineswegs von dem
abweisenden Verhalten Riccardos, ihrer ersten und einzigen Liebe, entmutigen
und dachte nicht einen Moment lang daran, umzukehren. Stattdessen wandte sie
sich an entfernte Verwandte und bat um eine Unterkunft. Auch sie versuchten,
uns nach Hause zurückzuschicken, boten uns aber, da ihnen dies nicht gelang,
schließlich einen Schlafplatz auf dem Sofa an. Und auch wenn sie keinerlei
Anstalten machten, etwas zu unserem Wohlbefinden beizutragen, konnte uns das
nicht von unserem Weg abbringen. Am Morgen unseres zweiten Tages in Rom
spazierten wir Richtung »Traumfabrik« in der Via Tuscolana, ganz in Schwarz
gekleidet, um elegant zu wirken.

Der Lauf der Geschichte hat auch Cinecittà nicht verschont, das im Krieg in
Schutt und Asche gelegt wurde, wie der Rest des Landes. Im November 1943
wurden alle Automobile in den Norden verfrachtet, und die großen Gebäude
funktionierte man in Lagerhallen für deutsches Kriegsmaterial um. Sieben
Studios wurden durch Bomben der Alliierten zerstört. Seit der Befreiung der
Stadt hatte sich das ganze Areal in ein Flüchtlingslager verwandelt, während die
Produktionshalle Pisorno di Tirrenia als Logistikstützpunkt der amerikanischen
Truppen diente. Die Arbeiter, Techniker, Regisseure und Schauspieler, die sich
nicht von den falschen Versprechungen des faschistischen Salò-Regimes hatten
einwickeln lassen, holten die wenigen Autos hervor, die sie hatten verstecken
können, und fingen wieder an zu arbeiten, während sie darauf warteten, dass
auch das restliche Italien befreit würde. Den Anfang machten die Aufnahmen zu
Rom, offene Stadt (Roma città aperta) im Januar 1945, und im September, wenige
Monate nach Kriegsende, kam der Film in die Kinos.
Auch für die italienischen Regisseure war der Moment gekommen
weiterzumachen. Sie fingen wieder bei null an: Mit wenig Mitteln, aber umso
mehr Ideen, machten sie sich auf den Weg. Es gab viel zu erzählen, Schönes und
Wichtiges, das Leben hatte wieder angefangen. Es war die Stunde des
Neorealismus, der die Geschichte des Kinos für immer verändern würde.
Während Rossellini, De Sica und Visconti sich unters Volk mischten, um die
Wirklichkeit anhand von Gesten, Gesichtern und Alltagsgegenständen
einzufangen, überschwemmten die amerikanischen Truppen Italien mit
Hollywoodfilmen, die von anderen Träumen erzählten, voller Freiheit und
Triumph.
Im offenen Wettstreit zwischen den italienischen Regisseuren und Produzenten
und den großen amerikanischen Filmproduktionen trat auch der künftige
Ministerpräsident Giulio Andreotti in Erscheinung, der sich als junger
Abgeordneter und Staatssekretär mit Nachdruck für den Wiederaufbau von
Cinecittà einsetzte. Er brachte ein Gesetz auf den Weg, mit dessen Hilfe die
Gewinne, die die amerikanischen Filme in Italien erzielten, im Land bleiben und
in Rom selbst investiert werden sollten. Als dann die Metro-Goldwyn-Mayer mit
der Produktion von Quo vadis? begann, war Hollywood am Tiber angekommen.
Und es war auch der eigentliche Beginn meiner Geschichte.

An jenem Morgen im Mai des Jahres 1950 stiegen Mammina und ich an der
Stazione Termini in die blaue Straßenbahn und fuhren bis zur Endhaltestelle. Was
ich mit meinen Mädchenaugen zu sehen bekam, war ein Heer von Römern, die
vor den Pforten von Cinecittà ihr Lager aufgeschlagen hatten, auf der Suche nach
Arbeit und zu allem bereit. Die Menge formte sich zu einer riesigen Schlange von
Menschen, die hofften, als Komparse engagiert zu werden oder vielleicht sogar
eine kleine Sprechrolle zu ergattern, die besser bezahlt wurde. Auch wir reihten
uns in diese Schlange ein, in die wir alle unsere Hoffnungen legten.
Kaum war Mervyn LeRoy, der Regisseur von Quo vadis?, eingetroffen, hieß er
uns in einer Reihe aufstellen, um die vielversprechendsten Gesichter
auszuwählen. Meine Mutter hatte sich sagen lassen, dass man am besten immer
mit »Ja« antwortete, ganz gleich, welche Frage gestellt wurde. Schade nur, dass
LeRoy englisch sprach und ich nicht.
Ich bereitete mich so gut es ging auf diese kleine Prüfung vor, wobei ich nicht
wusste, welch komische Wendung das Ganze nehmen würde. Als ich aufgerufen
wurde, machte ich einen Schritt nach vorn und setzte mein schönstes Lächeln
auf.
»Do you speak English?«
»Yes.«
»Is it your first time in Cinecittà?«
»Yes.«
»Have you read Quo Vadis?«
»Yes.«
»What’s your name?«
»Yes.«
»How old are you?«
»Yes!«
LeRoy musste lachen, vielleicht war er von meiner Naivität gerührt, auf jeden
Fall wies er mir eine kleine Szene zu, bei der ich nichts sagen musste. Ich sollte
eine einfache Magd spielen, die dem siegreichen Marcus Vinicius, dem
wunderschönen Robert Taylor, Blumen zuwarf. Mammina hingegen musste den
ganzen Tag mit einem riesigen Bronzekorb auf dem Kopf herumstehen, sodass sie
am Abend ihren Hals nicht mehr spürte. Später fanden wir heraus, dass sich die
anderen Komparsen, die schon mehr Erfahrung hatten als sie, im letzten Moment
weiter hinten eingereiht hatten, um diese zweifelhafte Ehre der Neuen zu
überlassen.
Ich kann mich noch an das Getöse, die Lichter, das Geschrei und die stickige
Hitze am Set erinnern, an dem sich Hunderte von Leuten stundenlang die Beine
in den Bauch standen, wie bestellt und nicht abgeholt. Die Komparsen waren das
letzte Rad am Wagen, und nicht immer wurden sie gut behandelt, vor allem dann
nicht, wenn sie eine Szene vermasselten und alles noch einmal gedreht werden
musste. Als ich in der ersten Reihe vor den Kameras stand, bildete ich mir ein,
dass sie auch mich filmten. In Wirklichkeit war ich gar nicht im Fokus, sondern
nur ein winziges Detail in einem monumentalen Bild. Und auch wenn ich mich
meistens ziemlich klein fühlte, so wusste ich doch, am richtigen Platz zu sein, und
ich war mir sicher, dass ich mich mit viel Geduld und Durchhaltevermögen in
den Mittelpunkt der Szene vorkämpfen würde.
Unter den Komparsen war auch der junge Carlo Pedersoli, der mehrmalige
italienische Landesmeister im Schwimmen, der sich später Bud Spencer nennen
würde, was wir freilich nicht wissen konnten. Wegen seines athletischen
Körperbaus bekam er eine Rolle als Legionär. In einer kleineren Szene spielte
auch die blutjunge, aber schon berühmte Elizabeth Taylor mit. Sie war nur ein
paar Jahre älter als ich, hatte sich aber mit Heimweh (Lassie Come Home) bereits
weltweit einen Namen gemacht.
Wie im Rausch starrte ich Robert Taylor und Deborah Kerr an, die ich so oft
im Filmtheater Sacchini bewundert hatte. Allein schon dieselbe Luft wie sie zu
atmen kam mir wie ein Wunder vor.
Doch keine Rose ohne Dornen, und so stand auch mir etwas Unschönes bevor.
Kaum war ich vom Regisseur ausgewählt worden, rief man durch einen
Lautsprecher die Komparsen mit ihren Familiennamen auf, damit sie in die
Gehaltliste aufgenommen wurden. Nach »Villani« wurde der Name »Scicolone«
aufgerufen, nur dass wir am Tisch der Produktionsfirma zu zweit erschienen.
Eine davon war ich, die andere die Frau meines Vaters. Ich weiß nicht mehr
genau, wie es dazu gekommen war, aber die Demütigung, die ich in diesem
Moment empfand, werde ich nie vergessen. Ich war ein junges Mädchen, und die
Intrigen der Erwachsenen interessierten mich nicht. Was sollte ich denn auch
anfangen mit meinem Familiennamen, wo mir doch die Zuneigung des Mannes,
der ihn trug, verweigert wurde? Ich war ohne Vater aufgewachsen, und nichts in
der Welt konnte ihn mir ersetzen.
Die Frau meines Vaters schäumte vor Wut und beschimpfte mich vor allen
Anwesenden. Meine Mutter verteidigte mich, so gut sie konnte, doch der
eigentliche Schuldige war wie immer nicht da. Ich sagte nichts und wusste auch
nicht, wie ich mich verhalten sollte. Am Ende kam mir ein Angestellter der
Produktionsfirma zu Hilfe und sagte: »Scicolone … Sofia.«
Das war auf jeden Fall eine schwierige Situation für alle Beteiligten, und
glücklicherweise wiederholte sie sich nie wieder. Einmal war mehr als genug.
Jedenfalls brachte uns die Arbeit insgesamt fünfzigtausend Lire ein, die uns zwei
Wochen ernährten. Und dann? Dann ging uns wieder das Geld aus, und mit den
Lire schwanden auch die Hoffnungen von Romilda. Eines Tages sah sie mir direkt
in die Augen und sagte: »Sofì, vielleicht ist es an der Zeit, nach Hause zu
fahren …« Ich war zwar noch ein junges Mädchen, aber von den Ängsten meiner
Mutter, so gerechtfertigt sie waren, ließ ich mich nicht anstecken. »Was sagst du
denn da, Mammina, wir müssen hierbleiben, wir müssen Geduld haben. Früher
oder später …«
Vielleicht war es das Leuchten in meinen Augen, das sie davon überzeugte,
dass ich recht hatte. Auf jeden Fall wusste sie jetzt, dass ihr Traum auch der
meine war.
In der Zwischenzeit war die Nachricht eingetroffen, dass es Maria wieder
schlecht ging, und Mammina fuhr Hals über Kopf nach Pozzuoli zurück und ließ
mich einige Tage im Haus meiner Verwandten allein. Ich hatte Angst und
versuchte, mich noch unsichtbarer zu machen. Wie es mich Mamma Luisa
gelehrt hatte, war ich darauf bedacht, niemandem zur Last zu fallen, legte mich
als Letzte schlafen und stand im Morgengrauen als Erste auf, um nicht im Weg zu
stehen. Bevor meine Mutter abreiste, hielt sie mir eine Predigt und warnte mich
vor den Gefahren der Stadt, die sie nur zu gut kannte. Aber ich war vernünftig.
Ich wusste, was zu tun war, und hatte eine Aufgabe zu erfüllen; von kleinen
Fallstricken ließ ich mich nicht beirren. Dabei half mir auch der Umstand, dass
mich der Chefredakteur von Sogno in die magische Welt der Fotoromane
eingeführt hatte.

»Ich darf dich nicht lieben«

»Was hast du, warum sagst du nichts?«


»Er ist der Sohn des Mannes, der meinen Vater getötet hat, ich kann, ich darf
mich nicht in ihn verlieben.«
»Heute beginnt mein Rachefeldzug, und er wird schrecklich sein. Nur du siehst
in mein Herz, Mama, du siehst, wie es blutet und schmerzt …«
»Nein, Greg, nein …«
Wenn ich heute die Zeilen aus den Heftchen von damals lese, fühle ich mich
wie auf einen anderen Planeten versetzt, aber vielleicht fand ich sie schon damals
etwas albern. Nichtsdestotrotz lösten die Fotoromane in der Nachkriegszeit einen
regelrechten verlegerischen Boom aus, verkörperten sie doch den Wunsch der
Italiener, und vor allem der Italienerinnen, wieder frei heraus zu lachen und zu
weinen und einer noch immer harten Wirklichkeit zu entfliehen. Sie wollten sich
lieber mit dem Liebeskummer anderer befassen als mit Bomben und Hunger.
Verbotene Verbindungen, schreckliche Liebesqualen, unsagbare Sünden,
Verwechslungen, Betrug und Eifersucht ließen die Herzen der Leserinnen und
Leser höher schlagen, ohne größere Ansprüche zu stellen oder belehren zu
wollen.
Die Kommunisten sahen in diesen Heftchen Opium für das Volk, die
Katholiken hielten sie für ein Instrument des Verderbens, die Intellektuellen –
viele von ihnen hatten sie übrigens geschrieben oder konzipiert – für ein
zweitklassiges Genre. Vielleicht lag das daran, dass der Fotoroman − zumindest
am Anfang − etwas Grenzüberschreitendes hatte, etwas Junges, Modernes, das
auch verunsichern konnte. Die Kraft der Bilder, die wenigen Sprechblasen und
Bildunterschriften, die Schönheit der jungen Körper und die meist gewagten
Handlungen trugen dazu bei, dass sich die Spielregeln änderten; außerdem
brachten sie den Wunsch der Frauen zum Ausdruck, nach dem Krieg, aus dem sie
gestärkt hervorgegangen waren, nun ihren Platz an der Sonne zu finden. Da jeder
diese Fotoromane haben wollte, trugen sie auch dazu bei, dass viele Italiener
lesen und schreiben lernten, und sie einten die Nation von Norden bis nach
Süden, vom Land bis in die Stadt. Mit der Zeit kam auch die Kommunistische
Partei dahinter, die den Fotoroman für ihre Wahlkampagnen nutzte, und dann
sogar die Kirche, die gut daran tat, sich die Treue der Gläubigen mit Geschichten
von Heiligen zu erhalten, deren unangefochtener Star die heilige Rita von Cascia
war.
Die Idee, Liebesgeschichten im Comicformat zu erzählen, stammte von den
Brüdern Del Duca vom Universo-Verlag, die in Mailand die traditionsreiche
Jugendzeitschrift L’Intrepido publizierten und nun von Tür zu Tür gingen und
bündelweise Liebesromane verteilten. Sie waren auch die Initiatoren von Grand
Hôtel, wo es um qualvolle Leidenschaften und unmögliche Abenteuer ging. Die
Abbildungen in den Heften stammten von zwei großartigen Illustratoren, Walter
Molino und Giulio Bertoletti. Es war der erste Schritt hin zum Fotoroman. Im
Jahr 1957 machte mich Molino zur Protagonistin eines dieser Romane, der den
Titel La peccatrice (»Die Sünderin«) trug. Darin gelang es ihm nicht nur, mein
Äußeres in Szene zu setzen, sondern auch meine Ausdruckskraft. Grand Hôtel
und seine Gefesselten Seelen und Goldenen Tränen waren schon ab 1946 am
Kiosk erhältlich. Mir hatten es besonders die Zeichnungen angetan. Ich erinnere
mich noch, dass wir in Pozzuoli pro Mietshaus ein Exemplar kauften und es dann
untereinander weiterreichten. Es muss aber viele Mietshäuser gegeben haben,
wenn man bedenkt, dass die erste Ausgabe in einer Woche vierzehnmal
nachgedruckt werden musste.
Im Jahr darauf folgte mit Bolero und Il mio sogno, das bald einfach nur Sogno
(»Traum«) hieß, die römische Antwort, die auf Fotos statt auf Zeichnungen setzte
und damit eine direktere und schnellere Wirkung erzielte. So entstand das Genre
des Fotoromans, wie wir es heute kennen und an dem sich bald auch Grand Hôtel
orientierte. Auf der ersten Titelseite von Il mio sogno war das Gesicht von Gina
Lollobrigida abgebildet, auf vielen späteren Ausgaben dann meines.
Für uns, die wir zum Film wollten, war der Fotoroman ein notwendiger
Zwischenschritt, der uns dabei half, bekannt zu werden und zu lernen, vor einem
Objektiv zu stehen, den Anweisungen eines Regisseurs zu folgen und die eigenen
Widerstände zu überwinden und, wie es Vincenzo Mollica so treffend formuliert
hat, sich der eigenen Ausdruckskraft bewusst zu werden. So war es auch für
mich, denn ich bekam endlich die Gelegenheit, das Minenspiel einzusetzen, das
mir mein Lehrmeister Serpe mit so viel Geduld beigebracht hatte. Abends übte
ich stundenlang vor dem Spiegel: Im Nu wechselte ich von Verzweiflung zu
Melancholie, von blankem Hass zu einfältiger Liebe, von Verachtung zu
Besorgnis, von Wut zu Leidenschaft, indem ich einfach nur eine Augenbraue
hochzog, die Augen aufriss oder einen Schmollmund machte.
Es gab kein eigentliches Set – wir standen ja erst am Anfang dessen, was bald
eine ganze Industrie werden sollte –, sondern nur eine heruntergekommene
Halle, in der die Fotoshootings durchgeführt wurden, mit ein paar Lichtern und
zwei Möbelstücken, die das Bühnenbild abgaben. Wir lasen das Drehbuch, als
wären wir lebendige Musikboxen, und produzierten die entsprechende
Empfindung. Es war harte Arbeit, und ich nahm sie ernst. Mehrere Fotos pro
Pose, etwas weniger als zwanzig Abbildungen pro Folge, drei oder vier
Arbeitstage pro Woche. Die Gage war zwar niedriger als beim Kino, dennoch war
es sehr viel mehr als das bisschen, an das ich gewohnt war. Mal war ich die
Gefangene eines Traums, mal ein Bezaubernder Eindringling, dann wieder eine
Prinzessin im Exil, wie der große Alberto Sordi in Der weiße Scheich (Lo sceicco
bianco), ich wandelte im Garten Allahs umher, mit viel Sand, riesigen Ohrringen
und lustigen Kopfbedeckungen. Dank des Fotoromans konnte ich in Rom bleiben
und mir meinen Lebensunterhalt verdienen, mich eingewöhnen und die richtigen
Leute kennenlernen, ich konnte Erfahrungen sammeln und mich noch dazu
vergnügen. Gott allein weiß, wie sehr ich danach dürstete nach all den schweren
Jahren in Pozzuoli. Mit Vera Palumbo und Anna Vita wurde ich zur Königin des
Genres, und da wusste ich, dass ich es schaffen konnte.
Natürlich bediente sich der Fotoroman der Plots und Intrigen des
Hollywoodkinos, er fischte aber gleichermaßen im Feuilleton und im
Abenteuerroman, in der Tradition der Schriftstellerinnen Liala und Carolina
Invernizio. Grand Hôtel orientierte sich eher am Jet-Set-Stil, während Bolero auf
den exotischen Aspekt setzte. In Sogno hingegen kam alles vor. Wir waren kleine
hausgemachte Götter. Wenn ich die Hefte heute durchblättere, stoße ich voller
Überraschung auf die Leserbriefe und vor allem auf unsere augenzwinkernden
Antworten. Wer weiß, wer sie geschrieben hat, die einen wie die anderen.
Ein gewisser Benito aus Caserta bekam folgende Antwort: »Das nächste Mal
darfst du mich als Ausdruck deiner platonischen Liebe natürlich duzen. Siehst du,
wie kühn ich war, dir das ›Du‹ als Erste anzubieten?« Unterzeichnet: Sofia
Lazzaro. Genau, denn der Chefredakteur von Sogno hatte meinen Namen in der
Zwischenzeit von Scicolone in Lazzaro umgeändert, wobei er behauptete, meine
Schönheit sei so außergewöhnlich, dass ich selbst Tote zum Leben erwecken
könnte.
Während ich in den Fotostrecken Prinzessinnen, verführerische rumänische
Mädchen, stolze Kellnerinnen und heldenhafte Zigeunerinnen verkörperte,
verfolgte ich unentwegt die Filmproduktion: So gelang es mir, kleine Rollen in
vielen Filmen zu ergattern, einige von ihnen wurden sogar von bedeutenden
Regisseuren gedreht. So erinnere ich mich zum Beispiel an die Lichter des Varieté
(Luci del varietà) des damals blutjungen Federico Fellini in Zusammenarbeit mit
Alberto Lattuada. An der Seite von Carla Del Poggio, der Frau von Lattuada,
hatte ich einen kurzen Auftritt in einem Theater. In den Pausen, in denen die
Techniker Beleuchtung und Kulissen wechselten, spielte Mammina, die
inzwischen mit Maria nach Rom zurückgekehrt war und mich immer bei der
Arbeit begleitete, zum Vergnügen von Federico auf einem Bühnenklavier. Ich
ging vom Set für Le sei mogli di Barbablù über das von Tototarzan, von Io sono il
Capataz bis zu Lebbra bianca und versuchte die ganze Zeit, alles genau zu
beobachten, den Beruf des Schauspielers zu verstehen und zu lernen.
Schritt für Schritt machte ich auf mich aufmerksam. Irgendwann riefen mich
die Produktionsfirmen an, um mir kleine Rollen anzubieten, meine Fotos fingen
an, in der Presse zu kursieren, und im Jahr darauf, 1952, sollte ich die ersten
Hauptrollen bekommen. Auch dank der Heftchen wurde ich langsam zu einer
wirklichen Schauspielerin.
Mit dem Fotoroman arbeitete ich mich von ganz unten hoch; es war hart,
machte mir aber auch Spaß, ich lernte sehr viel und wusste bald, wie ich auf das
Publikum wirkte. Doch wie alles andere ging auch diese Zeit zu Ende.
Auf der Titelseite des Sogno vom 5. April 1953 schaue ich mit sehnsuchtsvoll-
nostalgischem Blick in die Ferne. Am unteren Rand der Fotografie steht eine
ebenso taktvolle wie traurige Anmerkung:
»SOFIA LAZZARO, unvergessliche Interpretin vieler unserer Fotoromane,
wurde uns vom Kino geraubt: Doch Sofia hat die Leserinnen und Leser von Sogno
nicht vergessen, und in liebevoller Erinnerung sendet sie ihnen herzliche Grüße.«
3 Der ideale Mann

Der Rosengarten

Was auch immer ich betrachte, die Augen meiner Kinder, die im Haus verstreuten
Fotos, die unzähligen Schriftstücke, die sich im Lauf unseres Lebens angehäuft
haben, immer sehe ich ihn vor mir, lächelnd und selbstsicher. Meine Geschichte –
im Privaten, im Beruflichen und Familiären – kreist um meine Begegnung mit
Carlo. Von diesem Moment an war alles ein langer, ein sehr langer Anfang, den
wir gemeinsam durchlebt haben, ohne einander jemals zu verlassen.
Es war an einem Septemberabend des Jahres 1951. Am Colle Oppio, in einem
hübschen Gartenrestaurant in der Nähe des Kolosseums, wurde der x-te
Schönheitswettbewerb veranstaltet. Miss Lazio oder Miss Rom, ich weiß nicht
mehr. Es wehte ein laues Lüftchen, es war mild und roch noch immer nach
Sommer. Inzwischen hatte ich mich an solche Veranstaltungen gewöhnt und eine
spezielle Vorliebe für den zweiten Platz entwickelt. An diesem Abend aber dachte
ich gar nicht daran mitzumachen. Ich war da, um mich zu amüsieren, mich zu
zerstreuen, um zu tanzen, was ich gut konnte. Ich war mit einer Freundin aus
Neapel da, die etwas älter war als ich und ebenfalls nach Rom gekommen war,
um hier ihr Glück zu suchen, und mit zwei jungen Männern, die uns begleiteten.
Damals ging man als wohlerzogenes Mädchen nicht allein aus.

Der letzte Schönheitswettbewerb, an dem ich teilgenommen hatte, war der für
Miss Italia im Jahr zuvor gewesen. Ich war bis dorthin gekommen, weil ich bei
der Misswahl von Cervia dabei gewesen war, die ich zwar nicht gewann, wo ich
mich aber trotzdem für den großen, landesweiten Wettbewerb qualifizieren
konnte. Voller Zuversicht fuhr ich also mit Mammina nach Norden, um endlich
jenen Sieg zu erringen, den mir das Schicksal zu verweigern schien. Es war
wichtig, sich zu zeigen, die richtigen Leute zu treffen, die Aufmerksamkeit der
Fotografen auf sich zu lenken – ein hartes Stück Arbeit, ohne das man nicht
auskam, wenn man etwas erreichen wollte. Und ich ging hin, um meinen Kampf
zu gewinnen, um mich selbst und meine Familie zu befreien, um Romilda den
Traum zu erfüllen, den sie selbst nicht hatte leben dürfen.
Ich erinnere mich noch an den Swimmingpool, um den wir an jenem Abend in
Salsomaggiore im Badeanzug herumlaufen mussten. Mein Herz raste, schließlich
verfolgte halb Italien das Ereignis im Radio – nicht wie damals bei der Kür der
Meereskönigin, die alles in allem eine provinzielle Veranstaltung gewesen war.
Nur ein Jahr war seitdem vergangen, doch es kam mir so vor, als läge ein ganzes
Leben dazwischen.
Als Paten standen uns Gina Lollobrigida und Gianna Maria Canale zur Seite,
die 1947 hinter Lucia Bosè, meinem langjährigen Vorbild, gewonnen hatten. Ich
ließ mir die Haare kurz schneiden, um wie sie zu sein, und tatsächlich ähnelte ich
ihr etwas. Auch ihre Geschichte mutete an wie ein Märchen, da sie es von der
Verkäuferin in der berühmten Mailänder Pasticceria Gallo bis zur bekannten
Schauspielerin gebracht hatte. Ein Märchen, an das alle Mädchen unserer
Generation glauben wollten, weil es um einen Neuanfang, um Ruhm und um
Glück ging.
Den Höhepunkt sollte der Galaabend bilden, bei dem wir uns vor dem
zahlenden Publikum präsentieren mussten. Natürlich hatte ich wieder das übliche
Kleiderproblem. »Und was zieh ich an?« Der Chef Dino Villani kam mir zu Hilfe,
vielleicht, weil ihn meine Unerfahrenheit rührte oder auch meine Armut, und so
vertraute er mich einer Freundin von ihm an, die eine wunderschöne Boutique
besaß. Sie war eine reizende Person, die es ebenso gewohnt war, mit großen
Damen umzugehen wie mit kleinen Aschenputteln, und nicht alle waren sie
ausersehen, auf einen Ball zu gehen.
»Meine Liebe, probier das mal an, das müsste dir gut stehen …«, sagte sie zu
mir in ihrem hübschen emilianischen Akzent und hielt mir ein langes weißes
Kleid mit Fransen hin, das sie ohne Zweifel unter vielen ausgewählt hatte. Ich
betrachtete es mit glänzenden Augen, traute mich aber nicht einmal, es
anzufassen.
»Signora, aber ich …«, setzte ich an, während sie mir entschlossen dabei half,
es anzuziehen.
»Mach dir keine Gedanken, mein Kind, es steht dir zauberhaft. Jetzt solltest du
nur noch an heute Abend denken. Morgen, wenn alles vorbei ist, bringst du es
mir zurück.«
Ich bedankte mich überschwänglich und kehrte mit frischem Mut ins Hotel
zurück.
Diese großzügige Geste bedeutete in jenem Moment alles für mich. Und es
stimmt: Was wir für andere tun oder nicht tun, kann eine weitaus größere
Bedeutung haben, als wir zunächst denken.
Das Kleid stand mir zwar gut, aber es reichte nicht. Auch diesmal wunderte
sich die Jury unter dem Vorsitz des renommierten Journalisten Orio Vergani über
meine ungewöhnliche Schönheit. Irgendwie trauten sie meinen Ecken und
Kanten nicht – »zu groß, zu dünn, zu schlecht proportioniert …« –, trotzdem
konnten sie nicht einfach so tun, als bemerkten sie mich nicht. Und so kam es,
dass Anna Maria Bugliari Siegerin wurde, während für mich eine
Sonderkategorie eingerichtet wurde, eine Art Kritikerpreis, der außerhalb des
Wettbewerbs verliehen wurde: So stieg ich mit einer hübschen Banderole, auf der
»Miss Eleganza« stand, auf das Podium. Paradox, wenn man bedenkt, wie absolut
zufällig mein Outfit zustande gekommen war.
Im Jahr 1950 wurde die Kür der Siegerinnen zum ersten Mal live im Radio
übertragen. Meine Fotos, die Federico Patellani und Fedele Toscani, der Vater des
berühmten Oliviero und erster Fotoreporter des Corriere della Sera,
aufgenommen hatten, machten jedenfalls die Runde bei den Film- und
Fotoromanproduzenten. Vielleicht hatte die seltsame Auszeichnung ihre Neugier
geweckt.

Genau zwölf Monate später fand ich mich nun an jenem Tisch am Colle Oppio
wieder, genau unter dem Podest, auf dem die Jury saß. Plötzlich trat ein Kellner
zu mir heran und überreichte mir ein Billet:
»Warum nehmen nicht auch Sie an diesem Defilee teil? Es wäre mir ein
Vergnügen.«
»Was will der denn?«, dachte ich bei mir. »Und wer ist das überhaupt? Da wird
nichts draus, heute Abend bin ich nicht in Stimmung.«
Doch meine Freunde bestanden darauf. »Das sind Leute vom Film. Es könnte
also eine gute Gelegenheit sein!«
Als ich eine weitere Einladung erhielt, die mit Carlo Ponti unterschrieben war,
gab ich schließlich nach. Ich brauche es gar nicht erst zu sagen: Natürlich wurde
ich Zweite, allerdings mit dem kleinen, aber wesentlichen Unterschied, dass ich
den Blick des großen Produzenten auf mich gezogen hatte.
Carlo war damals neununddreißig Jahre alt, zweiundzwanzig Jahre älter als
ich, und er hatte sich bereits einen Namen gemacht, befand sich mitten in seiner
glänzenden Karriere. Als er sich am Ende des Wettbewerbs vorstellte, gab er mir
gleich zu verstehen, dass er große Diven wie Gina Lollobrigida, Sylva Koscina
und die von mir bewunderte Lucia Bosè entdeckt hatte.
»Machen wir einen Spaziergang im Park? Es ist ein zauberhafter Ort, man
nennt ihn den ›Rosengarten‹, Sie werden sehen, wie er duftet …« Dabei legte er
mir meinen leichten Organza-Schal um die Schultern, was einer Aufforderung
gleichkam.
»Da sind wir«, sagte er, und ich bereitete mich im Innern schon auf die
üblichen Avancen vor, die ich zurückweisen würde. Tatsächlich verhielt sich
Carlo sehr professionell, im Nu hatte ich Vertrauen gefasst. Er erzählte mir von
den Filmen, die er gerade drehte, und versuchte herauszufinden, welche
beruflichen Pläne ich hatte.
»Woher kommen Sie, Signorina? Ah, Pozzuoli? Wenn ich mich nicht irre, gibt
es da ein wunderschönes römisches Amphitheater … Ich war vor ein paar Jahren
einmal dort.«
»Das steht genau vor unserem Haus, wir sehen es von unseren Fenstern aus«,
antwortete ich ihm, dankbar, dass wir eine Gemeinsamkeit gefunden hatten.
Von Anfang an vermittelte er mir ein unglaubliches Gefühl von Sicherheit und
Nähe, so, als hätten wir uns schon immer gekannt. Ich hatte das seltsame Gefühl,
dass er mich verstand, dass er hinter meiner unbändigen Schönheit mein
zurückhaltendes Wesen und die Spuren einer schweren Vergangenheit erkannt
hatte, aber auch den Willen, die Dinge gut zu machen, voller Ernst und
Leidenschaft. Denn für mich war das alles kein Spiel, es war viel mehr.
Er ahnte das und kam zur Sache.
»Haben Sie schon einmal Probeaufnahmen gemacht?«, fragte er mich
unvermittelt, als sich unser Spaziergang bereits dem Ende näherte.
»Also, um ehrlich zu sein …«
»Sie haben ein interessantes Gesicht«, fuhr er mit einem Nachdruck fort, dem
man sich kaum widersetzen konnte. »Kommen Sie mich in meinem Büro
besuchen. Wir werden sehen, wie Sie auf dem Bildschirm wirken.«
Er gab mir seine Adresse und verabschiedete sich so höflich, dass man es fast
schon formell nennen konnte. Zweifellos war er den Umgang mit schönen Frauen
gewöhnt, doch vielleicht hatte er eine gewisse Scheu vor diesem seltsamen
Provinzmädchen, das zum Mond wollte, aber zugleich feste Prinzipien hatte, die
nicht verhandelbar waren.
Carlo war in Magenta, in der Nähe von Mailand, geboren worden, wo sein
Großvater Bürgermeister gewesen war. Eigentlich wollte er Architektur
studieren, erst im letzten Moment entschied er sich für Jura, trotz seines
Interesses für Kunst und Literatur.
Eher zufällig kam er dann zum Film, weil er die entsprechenden Verträge
betreute. Im Jahr 1940, im zarten Alter von achtundzwanzig Jahren, gründete er
in Mailand die Filmproduktionsfirma Artisti Tecnici Associati (ATA), da er dem
römischen Monopol misstraute. Seine erste wichtige Produktion war der 1941 von
Mario Soldati gedrehte Film Kleine alte Welt (Piccolo mondo antico), mit dem er
der Baroness von Altenburger, alias Alida Valli, einen Karrierestart verschaffte,
was ihr allerdings eine kurze Haftstrafe einbrachte, da man sie des
Antifaschismus verdächtigte.
Nach dem Krieg hatte Carlo die Generalstochter und Anwältin Giuliana Fiastri
geheiratet, mit der er zwei Kinder bekam, Guendalina und Alex. Später zog er
nach Rom, um mit Riccardo Gualino zusammenzuarbeiten, dem Gründer der
legendären Filmproduktionsfirma Lux. Doch Carlo, der zwar Respekt vor
Riccardo hatte und ihn bewunderte, war zu sehr Unternehmer, als dass er auf
lange Sicht nur Angestellter hätte bleiben wollen, und so gründete er zusammen
mit Dino De Laurentiis, der ebenfalls im Schatten von Lux groß geworden war,
eine eigene Produktionsfirma, die bald Zugpferde wie De Sica und Lattuada,
Zampa und Rossellini, Blasetti, Camerini und Visconti in ihrem Stall hatte. Ob
mir das damals so klar war? Schwer zu sagen.
Sicher ist, dass mich mein Bauchgefühl dazu drängte, der Einladung, die ich im
Rosengarten erhalten hatte, sofort nachzukommen. Ich kann mich nicht mehr
erinnern, ob ich schon am Morgen danach hinging oder einen oder zwei Tage
verstreichen ließ. Tatsache ist, dass ich es nicht abwarten konnte herauszufinden,
ob sein Interesse für mich so ehrlich und begründet war, wie es mir
vorgekommen war. Meine Mutter wollte mich wie gewöhnlich begleiten, aber
dieses Mal hielt ich sie davon ab.
»Mammina, es ist besser, wenn ich allein hingehe.«
Sie sah mich halb beleidigt, halb besorgt an und versuchte, ihren Kopf
durchzusetzen. Doch ich hatte meine Entscheidung getroffen, und nichts hätte
mich davon abbringen können.
Atemlos kam ich bei der Adresse an, die Ponti mir angegeben hatte, und fand
mich vor einem Trupp Carabinieri wieder. Ich ließ die Arme sinken, das
Misstrauen, dass mir ausgerechnet Mammina eingeflößt hatte, ließ mich sofort
denken, ich sei auf einen schlechten Scherz hereingefallen.
»Da haben wir’s, er hat mich reingelegt. Er ist genauso wenig Produzent wie
ich Ballerina!« Ich spürte, wie Wut in mir aufstieg, die sich mit einem bitteren
Gefühl der Demütigung mischte. »Wie konnte ich ihm nur Glauben schenken!
Wie dumm, dumm, dumm ich war!« Sofort dachte ich an meinen Vater und die
Tricks, mit denen er Romilda eingelullt hatte.
Glücklicherweise muss sich nicht immer alles wiederholen, und meine
Geschichte hatte ja gerade erst begonnen. Für Erleichterung sorgte dann ein
junger Carabiniere, der zu mir sagte: »Wenn Sie die Produktionsfirma Ponti-De
Laurentiis suchen, die befindet sich nebenan.« Ich kam mir dämlich und albern
vor, bedankte mich mit einem breiten Lächeln und schickte mich an, ins Herz des
italienischen Kinos vorzudringen. Ein paar Tage später sollte ich siebzehn Jahre
alt werden.

Die Favoritin

Nach etwa einer halben Stunde wurde ich von Carlo empfangen. Nie zuvor hatte
ich ein so imposantes, luxuriöses Büro gesehen. Ich kann mich noch an die
erstaunliche Anzahl von Telefonen erinnern, die auf dem Schreibtisch aufgereiht
waren. »Sie sind für die verschiedenen interkontinentalen Verbindungen da«,
griff er meine Frage vorweg und setzte sein unwiderstehliches Lächeln auf. Ich
sprach wenig, weil ich nicht wusste, was ich hätte sagen sollen, aber ich fühlte
mich seltsam wohl, so, als wäre ich dort schon immer ein- und ausgegangen.
Seine Erfahrung und meine Frische trafen sich irgendwo in der Mitte und
begannen, Bekanntschaft zu schließen.
Hinter seinem Schreibtisch hatte Carlo eine Truhe stehen, die aus einem Film
stammte, in dem »die Lollo« mitgewirkt hatte – vielleicht Herzen kennen keine
Grenzen (Cuori senza frontiere). Er machte sie auf und holte ein wunderschönes
Kleid in Altrosa hervor. »Vielleicht könnte Ihnen das für das ein oder andere Foto
nützlich sein«, sagte er freundlich.
»Kann sein, ich weiß nicht …«, entgegnete ich schüchtern, nahm es aber
schließlich an, ohne es auch nur anzuprobieren. Im Übrigen hätte ich nicht
einmal gewusst, wo ich dies hätte tun sollen, allein der Gedanke daran ließ mich
erröten.
Weil er die Gelegenheit nutzen wollte, führte mich Ponti zu einem
einsatzbereiten Set im Filmstudio neben seinem Büro und machte sofort ein paar
Probeaufnahmen. Es war weder leicht noch vergnüglich, und vor allem war das
Ergebnis furchtbar schlecht.
»Ziehen Sie sich das hier über«, wies mich ein Techniker an und hielt mir
einen Badeanzug hin. Sein Ton war so schroff, dass es mir die Sprache verschlug.
Schließlich war ich mit dem Produzenten dort. »Wer weiß, wie man mich
behandeln würde, wenn ich allein hier wäre«, fragte ich mich voller Schrecken.
Ich zog mich hinter einer spanischen Wand um und präsentierte mich erneut. Ich
fühlte mich nackt, und meine Schüchternheit schmerzte wie eine Wunde.
Vollkommen gleichgültig streckten mir die Kameramänner eine Zigarette
entgegen, wiesen mich an, sie anzuzünden und dann auf und ab zu gehen und ins
Objektiv zu blicken. Ich hatte in meinem Leben nicht geraucht, und auch vor
einer Filmkamera hatte ich noch nie allein gestanden. Ich kam mir völlig fehl am
Platz vor; der Techniker schien übrigens der gleichen Meinung zu sein.
»Dottore, es ist unmöglich, sie aufzunehmen. Das Gesicht ist zu breit, der
Mund zu groß, die Nase zu lang.« Wieder einmal hatte ich von allem »zu viel«.
Aber ich war eben so, was konnte ich denn dafür?
Auf diese ersten Probeaufnahmen folgten weitere, die ebenso schiefgingen. Ich
versuchte, mich davon nicht entmutigen zu lassen, doch meine Hoffnungen
schwanden dahin. Auch deshalb, weil die Kameramänner wirklich unhöflich zu
mir waren, vielleicht war ihnen nicht bewusst, dass ich einfach nur ein junges
Mädchen war, das sie mit ihren Worten zunichtemachen konnten. Am Ende kam
mir ein Maskenbildner zu Hilfe, der etwas einfühlsamer war oder vielleicht auch
einfach nur etwas älter. Möglicherweise sah er in mir so etwas wie eine Tochter
oder jüngere Schwester und hatte deshalb Mitleid.
»Signorina, die Leute hier reden nur Blödsinn. Man müsste lediglich die
Lichtverhältnisse ändern, und schon würde Ihre Nase kürzer wirken!«
Diese spontanen und aufrichtigen Worte halfen mir dabei, mich zur Wehr zu
setzen. Und als Carlo mir später einzureden versuchte, dass mir eine kleine
»Korrektur« von Nutzen sein könnte, ließ ich ihn nicht einmal den Satz beenden.
»Sofia, was hältst du davon … wie soll ich sagen, wenn wir dein Profil, das
so … so auffallend ist, etwas abmildern …«
»Carlo, wenn du mir sagen willst, dass ich mir die Nase abschneiden muss,
damit ich ins Kino komme, geh ich nach Pozzuoli zurück, denn meine Nase will
ich mir auf keinen Fall abschneiden.«
»Aber nein, Sofia, was sagst du denn da …«
»Sieh mal, ich hab schon verstanden, ich bin ja nicht dumm. Es kommt
überhaupt nicht infrage, Schluss und aus. Wenn du meine Nase änderst, änderst
du alles, und das will ich nicht.«
Ich wollte kein französisches Näschen. Mir war klar, dass meine Schönheit das
Ergebnis vieler Unregelmäßigkeiten war, die in meinem ganz eigenen Gesicht
vereint waren. Ich würde diesen Kampf um eine Filmkarriere verlieren oder
gewinnen, aber mein Äußeres sollte so bleiben, wie es war.
Damals war ich wirklich jung, und da stand dieser mächtige Mann vor mir, der
sehr viel älter und erfahrener war als ich und den ich nach und nach ins Herz
schließen sollte, hatte er mein Schicksal doch längst in der Hand … Doch woher
nahm ich den Mut, auf meinem Standpunkt zu beharren? Vielleicht war es die
Kühnheit der Jugend oder eine innere Stimme, die mir sagte, dass ich bei den
Dingen, die mir wirklich wichtig waren, nicht nachgeben durfte. Ich glaube, dass
auch Carlo verblüfft war, wie entschlossen ich auftrat – trotz meiner
Schüchternheit und Verletzlichkeit. Er sagte immer, dass er in mir noch vor der
Schauspielerin die Künstlerin sah, und dass etwas in mir leuchtete. Ich weiß nicht
genau, was er damit meinte, aber ich empfand es als Kompliment, und als solches
bewahre ich es in mir.
In jener Zeit schonte ich mich nicht, ein Fotoroman jagte den anderen. Ich war
auf der Suche nach meinem Weg, und das war keineswegs einfach. In der ersten
Jahreshälfte hatte ich bereits als Statistin in Milano miliardaria und Era lui … Sì!
Sì! gespielt. Für die französische Version von Era lui musste ich ein paar Szenen
mit entblößter Brust spielen. In Milano miliardaria gab ich das Serviermädchen
in einer Cafébar, in Era lui hatte ich eine Doppelrolle als Modell für
Hochzeitsmode und als Haremsdame. Beide Filme wurden von Vittorio Metz und
Marcello Marchesi gedreht und hatten es mir, auch wenn sie nichts Besonderes
waren, ermöglicht, Schauspielern wie Isa Barzizza, Tino Scotti und Walter Chiari
bei der Arbeit zuzusehen. »Es sind alles nur Erfahrungen!«, sagte ich mir mit der
Stimme der Vernunft, die für ein so junges Mädchen wie mich eher
ungewöhnlich war.
In Anna von Alberto Lattuada, mit Silvana Mangano und Vittorio Gassman,
durfte ich sogar ein paar Worte sagen. Lattuada hatte ich bereits ein Jahr zuvor
am Set zu Lichter des Varieté, kennengelernt, wo ich eine winzig kleine Rolle
spielte. Er sah mir mit einer gewissen Aufmerksamkeit zu und bestärkte mich von
Anfang an, indem er mir versicherte, dass ich einmal erfolgreich sein würde. Das
mochte lapidar klingen, aber eine junge Anfängerin wie ich zehrte von einer
solchen Ermutigung monatelang.
In Anna und dann in dem Film È arrivato l’accordatore wurde ich erstmals als
Sofia Lazzaro engagiert. Ich verdiente fünfzigtausend Lire, ein Vermögen
verglichen mit dem, was wir sonst hatten.
Eine meiner ersten Nebenrollen hatte ich ein Jahr später, im Frühling 1952, in
dem Film La tratta delle bianche von Luigi Comencini, bei dem Silvana
Pampanini und Eleonora Rossi Drago, die beide von der Wahl zur Miss Italia
kamen, sowie Marc Lawrence als männlicher Hauptdarsteller mitwirkten. Nach
ein paar Außenaufnahmen in der Nähe von Genua schaffte ich es sogar auf das
amerikanische Filmplakat mit dem scherzhaften Titel »Achtung! Ausgesprochen
gefährliche Mädchen!«. Wir waren die jungen italienischen Schönheiten, die
darauf warteten, die Welt zu erobern.
Mein wahres Debüt als Hauptdarstellerin hatte ich dann im Frühjahr 1952 mit
La favorita, einer Filmversion der Oper Die Favoritin von Donizetti, bei der
Cesare Barlacchi Regie führte. Ich habe Musik immer geliebt, zu Hause habe ich
sie von klein auf eingesogen, und an einem so melodramatischen Set fühlte ich
mich überaus wohl. Ich arbeitete hart daran, die Rolle zu lernen, und bekam viele
Komplimente. Ich möchte fast sagen, dass ich ernst genommen wurde, auch wenn
der Film nicht viel einbrachte. Bei den Arien wurde ich von Palmira Vitali Marini
synchronisiert. Das war eine großartige Übung, vielleicht sogar die Eintrittskarte
für Aida, wo ich mich kurz darauf mit der sagenhaften Stimme von Renata
Tebaldi schmücken durfte. Später sollte ich die Ehre haben, dieser bedeutenden
Sängerin, die ständig kreuz und quer durch die Welt reiste, mehrmals zu
begegnen. Sie war ein wunderbarer Mensch, und ihrer Stimme mein Gesicht zu
geben machte mich ungeheuer stolz.

Weißer Shantung

Die Zeiten, in denen es ums reine Überleben ging, schienen endlich vorbei zu
sein. Mit meinen ersten Honoraren, die ich unter der Matratze aufbewahrte,
finanzierten wir – Mammina, Maria und ich – unseren Umzug in ein kleines
möbliertes Zimmer, zunächst in der Via Cosenza und dann in der Via Severano
bei der Piazza Bologna. Es war eng, aber wir waren glücklich, zusammen zu sein.
Maria, die mit Mammina aus Pozzuoli hergekommen war, hatte es ohnehin
nicht leicht, und die große Stadt machte es noch schlimmer. Sie war ein
empfindliches Mädchen und sehr krank gewesen. Es hatte ihr zugesetzt, dass wir
fortgegangen waren, auch wenn Mamma Luisa sie weiterhin aufopferungsvoll
und zärtlich umsorgte. Das eigentliche Problem war, dass unser Vater sie nie
anerkannt hatte. Deshalb schämte sie sich, in die Schule zu gehen, wo sie ihre
Familienverhältnisse hätte offenbaren müssen. Während Mammina und ich den
ganzen Tag außer Haus waren, um zu arbeiten oder neue Engagements zu
suchen, blieb die noch kleine Maria allein zu Hause. Noch heute denke ich
manchmal, wie sehr sie gelitten haben, wie verlassen und überflüssig sie sich
gefühlt haben muss. Doch damals hatten wir keine andere Möglichkeit, obgleich
mir klar war, dass ich mich schnellstmöglich darum kümmern musste. Leider
sorgte unser Vater weiterhin für Überraschungen, und das nicht nur durch seine
Abwesenheit.
Eines Morgens klopfte es an der Tür. Verblüfft wegen der frühen Uhrzeit
machten wir auf: Es war die Polizei.
»Villani, Romilda? Scicolone, Sofia? Kommen Sie mit uns mit.«
»Weshalb? Was haben wir getan? Was denn, was erlauben Sie sich?«
Sie ließen uns weder Zeit, uns etwas überzuziehen, noch beantworteten sie
unsere Fragen. Sie schleiften uns zum Kommissariat, wo wir uns für die
Einkünfte rechtfertigen mussten, von denen wir lebten. Jemand hatte uns
angezeigt und behauptet, wir würden unsere Behausung für gewisse Treffen mit
Männern nutzen, womit wir nicht nur gegen die Sitten verstoßen hätten, sondern
auch gegen das Gesetz.
»Eine Anzeige? Unser Zuhause ein Puff?«, fragte Mammina. »Wir? Wer war
das? Wer hasst uns so sehr, dass er unseren Namen derart in den Schmutz zieht?«
Da gerieten selbst die Polizisten in Verlegenheit. Denn sie merkten, dass man
sie in eine Familienangelegenheit hineingezogen hatte, die nichts mit der Justiz zu
tun hatte. Der Anzeigensteller war tatsächlich niemand anderes als Riccardo
Scicolone, Vater der einen, verfehlter Ehemann der anderen. Es gibt keine Worte,
um den Sturm der Gefühle zu beschreiben, der über uns hereinbrach: Erstaunen,
Demütigung, Wut und Scham wirbelten nur so durcheinander. Als wir uns
wieder beruhigt hatten, war es ein Leichtes, den Polizisten die Herkunft meiner
Einnahmen zu dokumentieren, und dann gingen wir sofort nach Hause. Doch die
Wunde, die uns mein Vater zugefügt hatte, war tief, und was mich betraf, sollte
sie nie wieder heilen.

In dem Zimmer in der Via Severano kochte Mammina oft im Badezimmer auf
einer kleinen Kochplatte, auch wenn uns die Hausbesitzerin jegliches Kochen
untersagt hatte. Wir warteten ab, bis sie zu Ende gegessen hatte und ein
Nickerchen machte, um dann blitzschnell eine Soße zuzubereiten, in der
Hoffnung, dass sie es nicht roch.
Diese Gewohnheit habe ich immer beibehalten, auch als ich bereits eine
bekannte Schauspielerin war, häufig ins Ausland reiste und in kleinen oder
größeren Hotelzimmern übernachtete. Noch heute greife ich, wenn ich unterwegs
bin und mich das Heimweh packt oder wenn ich zu müde bin, um in ein
Restaurant zu gehen, zu meiner Kochplatte. Was braucht es schon, um eine Pasta
zuzubereiten?
Von dem möblierten Zimmer zogen wir in eine kleine Wohnung, die ebenfalls
in der Via Severano lag, und wir fingen an, wie eine richtige Familie
zusammenzuleben.
Endlich hatte ich die Zügel für mein, für unser Leben in der Hand. Meine
Mutter begleitete mich überallhin, mit ihrer üblichen Begeisterung, der allerdings
immer auch etwas Pessimismus anhaftete. Maria hingegen war noch immer nicht
flügge, doch bald schon sollte auch für sie der richtige Moment kommen. Ich
jedenfalls musste mich, auch wenn ich inzwischen die Rolle des
Familienoberhaupts übernommen hatte, nach wie vor an die Regeln halten, die
auch im Hause Villani gegolten hatten. Wenn ich spät nach Hause kam, musste
ich auf Zehenspitzen ins Bett schleichen, um den Standpauken meiner Mutter zu
entgehen: Sie tat alles, damit ich nicht dieselben Fehler machte wie einst sie
selbst.
»Meinst du, das ist die richtige Zeit, um nach Hause zu kommen? Mit wem
warst du überhaupt unterwegs? Findest du das in Ordnung? Du und er allein?
Für wen hältst du dich eigentlich? Sofia, Sofia, hast du denn gar nichts aus
unserer Geschichte gelernt?«
Inzwischen ging ich nur noch mit Carlo aus. Es stimmt, er war noch
verheiratet, und wir mussten vorsichtig sein, auch wenn zwischen uns noch
nichts passiert war und sich unsere Zuneigung erst später in eine
Liebesgeschichte verwandeln sollte. Zu diesem Zeitpunkt gab es allerdings schon
kein Zurück mehr. Für den Augenblick war ich einfach nur froh, endlich einen
Menschen an meiner Seite zu haben, mit dem ich reden konnte, der mir
Ratschläge gab und der mich bei der Wahl meiner Rollen unterstützte, was für
jeden Schauspieler, der am Anfang seiner Karriere steht, von entscheidender
Bedeutung ist. Ich versuchte, Boden unter die Füße zu bekommen und falsche
Entscheidungen zu vermeiden. Carlo an meiner Seite zu wissen war mir eine
große Hilfe. In gewisser Hinsicht hatte er etwas Väterliches an sich, was mir ja
immer gefehlt hatte. Er war wie ein Anker, wie eine Wurzel, die mich in der Erde
hielt, während alles um mich herum auf beunruhigende, aufregende und
schwindelerregende Weise in Bewegung war.
Nach und nach wurde dieser Mann Teil meines Lebens, ohne dass ich es
merkte. Oder vielleicht merkte ich es und wollte es nur noch nicht zugeben.
Er konnte mir so viel beibringen, und genau das wollte ich: lernen. Im Jahr
1950 hatte ich vergebens versucht, ins »Centro Sperimentale di Cinematografia«,
eine Schule für Filmschaffende, aufgenommen zu werden, wo man mir sagte, ich
sei als Schülerin nicht geeignet. Der Ort gefiel mir. Ich erinnere mich noch gut an
die schönen Gärten und die große Fensterfront. Es war eine seriöse Schule,
vielleicht zu seriös für mich. Ich hatte ja meinen Platz schon gefunden, am Set.
Seit der Zeit, in der ich nur eine kleine Komparsin war, beobachtete ich alles und
versuchte, so viel wie möglich mitzubekommen und alles zu umgehen, was mich
nicht weiterbrachte. Am Set gab ich alles, traf Menschen und sammelte Tag für
Tag neue Erfahrungen. Carlo half mir dabei, den neapolitanischen Dialekt
abzulegen und meine Aussprache zu verfeinern. Er forderte mich auf,
anspruchsvolle Bücher laut vorzulesen, und nahm mich dabei auf  Tonband auf,
damit mir meine eigenen Fehler bewusst wurden. Er brachte mir bei, wie ich
mich bei einem Interview verhalten musste und sogar, mich gut zu kleiden.
Eines Tages, ich weiß gar nicht mehr bei welcher Gelegenheit, brachte er mir
ein großes Paket mit, auf dem ich das Label einer der renommiertesten
Modeboutiquen der Stadt erkannte. Zitternd machte ich es auf, glücklich über
diese Aufmerksamkeit. Ich fand darin ein wunderschönes Kostüm aus weißer
Shantung-Seide.
»Danke …«, murmelte ich bewegt.
»Du solltest immer ein Kostüm tragen«, antwortete er, »Und immer ein
weißes.« Ich tat so, als glaubte ich ihm, aber ich wusste, dass das nicht stimmte.
Damals konnte ich anziehen, was ich wollte, mir stand einfach alles.
An einem unserer ersten gemeinsamen Abende gingen wir essen. Ich war nicht
daran gewöhnt, im Restaurant zu essen, und mit meiner üblichen Vernunft dachte
ich, ich müsste irgendetwas Einfaches bestellen, um mit dem Besteck nicht allzu
sehr in Verlegenheit zu geraten. Deshalb bestellte ich ein Omelett. Doch genau in
dem Moment, als ich mit dem Messer das erste Stück abschneiden wollte, traf
mich Carlos Blick, der mir entsetzt zuraunte: »Nein, nicht mit dem Messer!« Von
da an wagte ich nicht einmal mehr, ein Omelette zu bestellen, so sehr schämte ich
mich …
Es war eine einzige Prüfung, eine ständige Herausforderung. Mein Leben kam
mir vor wie ein Minenfeld, und ganz langsam, Stück für Stück, von Film zu Film
und von Szene zu Szene, näherte ich mich der Person, die ich immer schon sein
wollte.

Wie ein Fisch

Vielleicht war es Carlo, der Goffredo Lombardo anrief, vielleicht wurde er auch
von selbst auf mich aufmerksam. Wie dem auch sei, als mich der neapolitanische
Produzent im Sommer 1952 zu sich bestellte, um mir die Hauptrolle in Weiße
Frau in Afrika (Africa sotto i mari) unter der Regie von Giovanni Roccardi
anzubieten, sagte ich auf der Stelle Ja, genau wie damals bei Mervyn LeRoy.
Dieses Mal war der Einsatz jedoch deutlich höher, und die Risiken waren viel
größer. Der Film erzählt die Geschichte eines reichen Industriellen, der an Bord
seiner Jacht eine wissenschaftliche Expedition auf dem Roten Meer durchführt.
Er nutzt die Gelegenheit und nimmt auch seine gelangweilte, verwöhnte und
rebellische Tochter mit, die sich am Ende nicht nur für die Unterwasserwelt
begeistert, sondern auch für den Kapitän … Das Spannende daran ist, dass sich
ein Großteil der Handlung im oder sogar unter Wasser abspielt.
»Signorina, Sie kommen aus der Nähe von Neapel und können schwimmen,
richtig?«, fragte mich Lombardo.
»Aber natürlich, Dottore«, log ich, ohne zu ahnen, in welche Schwierigkeiten
ich mich dadurch brachte. »Wie ein Fisch!«
Ich war bestimmt nicht die einzige Neapolitanerin, die nicht schwimmen
konnte, aber mit Sicherheit war ich die einzige, die einen Vertrag für einen Film
unterzeichnete, der auf hoher See spielte.
Apropos Wasser: Lombardo war derjenige, der meinen Künstlernamen aus der
Taufe hob. Lazzaro gefiel ihm ebenso wenig wie Scicolone. Er wollte einen kurzen
Nachnamen, der leicht auszusprechen war und nach etwas klang. Und so kam es,
dass er eines Tages ein Plakat mit der schönen schwedischen Schauspielerin
Märta Torén sah und verschiedene Buchstaben ausprobierte, um schließlich bei L
zu landen: Soren, Toren, Loren. Ja, das war es: Sofia Loren! Und da er mich schon
umtaufte, machte er aus dem »f« auch gleich ein »ph«, und fertig war der Name
für einen internationalen Star. Schade nur, dass man mich in Pozzuoli von da an
»Sopìa« nannte, weil man dort den Sinn dieser scheinbar unnützen Änderung
nicht verstand.
Die Geschichte von Weiße Frau in Afrika spielte sich vor der Küste von Ponza
ab. Ich stand in einem großen Motorboot, die Filmkameras waren einsatzbereit,
da rief der Regisseur durch einen Lautsprecher: »Ins Wasser!«
Ich zögerte keinen Moment, sondern tat so, als wäre das überhaupt kein
Problem für mich, und sprang.
Kaum war ich im Wasser, umfingen mich auch schon die starken Arme des
Technikers, der für die Aufnahmen im Wasser verantwortlich war und der mir in
nur wenigen Tagen die Grundregeln des Schwimmens beibrachte. Jetzt war mein
Retter allerdings ziemlich sauer: Man hatte mich nur wenige Meter von der
Schiffsschraube entfernt ins Wasser springen lassen und damit einer erheblichen
Gefahr ausgesetzt. Nun, da ich wie durch ein Wunder überlebt hatte, lernte ich,
mit Sauerstoffflasche und Mundstück umzugehen, ebenso mit Flossen,
Taucheranzug und unterschiedlichen Druckverhältnissen.
Am Ende der Dreharbeiten konnte ich wirklich schwimmen wie ein Fisch und
hatte eine meiner unzähligen Ängste besiegt.

Himmlische Aida

Die erste wirklich große Gelegenheit – aber eigentlich ist jede Gelegenheit groß,
wenn man am Anfang seiner Karriere steht – flog mir in Form der himmlischen
Musik von Verdi zu. Während wir gemeinsam an einem Film arbeiteten (ich
glaube, es war Il voto), wies mich die wunderbare Schauspielerin Doris Duranti
darauf hin, dass in einem der berühmtesten Filmstudios in Rom, der Scalera
Fracassi, gerade die Dreharbeiten zu Aida begonnen hätten. »Geh doch einfach
mal hin«, riet sie mir. Immerhin konnte ich den Opernfilm La favorita vorweisen,
bei dem ich der Stimme von Palmira Vitali Marini ein Gesicht gegeben hatte. Die
amerikanischen Produzenten wollten zwar ursprünglich eine farbige Darstellerin
für die Titelrolle, schienen aber nicht darauf zu bestehen. Und so bekam ich die
Rolle, möglicherweise auch deshalb, weil Renzo Rossellini, Robertos Bruder und
musikalischer Berater des Films, ein Wort für mich einlegte. Ich hatte nicht viel
Zeit, die Rolle zu lernen, zumal der Text genau mit dem der Sängerin
synchronisiert werden musste. Ich schloss mich zwei Monate lang in dem
kleinen, eisigen Büro der Filmproduktion ein. Es war dermaßen kalt, dass man
mir vor dem Dreh Eis zu essen gab, damit man die Atemwolken nicht sah. Um
das Problem gänzlich aus dem Weg zu räumen, folgte uns einer der Techniker
sogar mit einem Fön, in der Hoffnung, die Spuren unseres Atems zu verbergen!
Jeden Tag verbrachte ich vier geschlagene Stunden in der Maske, um mich in
die von Kopf bis Fuß schwarze Aida zu verwandeln. Ich kann mich sogar noch an
die sehr dunkle Schminke für Haaransatz und Stirn erinnern, die den
Perückenrand kaschieren sollte. Ich muss allerdings zugeben, dass sich der
Aufwand gelohnt hat. Der Stimme der Tebaldi mein Gesicht zu geben war eine
ganz besondere, einmalige Erfahrung. Am Ende wirkten wir wie eine Einheit.
Dazu muss ich noch sagen, dass die anderen Schauspieler allesamt Opernsänger
waren, während ich als Einzige nur sprach, anstatt zu singen, was meine Aufgabe
erschwerte. Keiner durfte merken, dass es eine Schallplatte war, die meine
Lippenbewegungen diktierte. Selbst Carlo war verblüfft, wie gut mir das gelang.
Vielleicht war dies der Moment, in dem er anfing, wirklich an mich zu glauben.

Und auch ich selbst begann, an mich zu glauben. Mit dem verdienten Geld – eine
Million Lire – zogen Mammina, Maria und ich in eine größere Wohnung in der
Via Balzani um. Außerdem konnte ich endlich die Ehre meiner Schwester retten.
Mein Vater, den ich ja ohnehin nur ein paar Mal gesehen hatte, war nun
endgültig aus meinem Leben verschwunden. Ich bemühte mich auch nicht mehr,
so etwas wie Zuneigung für ihn zu empfinden. Daher fiel es mir auch nicht
schwer, ihm einen Teil der Gage für Aida zu schicken, um als Gegenleistung
dafür einen Familiennamen zu bekommen: für mich eine leere Hülse, für meine
Schwester die Rettung. Und aus Maria Villani wurde Maria Scicolone, die somit
endlich ein neues Kapitel aufschlagen konnte, wieder zur Schule ging und anfing
zu leben.
Damit war diese traurige Angelegenheit für mich erledigt. Ich war jedenfalls
auf der sicheren Seite. So gut ich konnte, hatte ich unsere Familiengeschichte
aufgearbeitet und verstanden, was ich als kleines Mädchen noch nicht begreifen
konnte. Und ich hatte meine Schlüsse gezogen: Nicht alle Männer waren wie
Riccardo Scicolone, und nicht alle Geschichten mussten sich zwangsläufig
wiederholen. Ich wollte jemand anderen an meiner Seite, jemanden, der mich
wirklich glücklich machen konnte. Noch wusste ich es nicht sicher, aber bald
schon sollte mir das Leben zeigen, dass ich meinen idealen Mann bereits
gefunden hatte.
Die Schatzkiste
meiner Erinnerung
4 »Wer ist denn die Kleine da?«

Die Bank

»Sofia, Sofì, du warst erst fünfzehn und sagtest ›Sì‹«, heißt es in einem
neapolitanischen Volkslied. Wie hätte ich nicht Ja sagen können? Ohne De Sica
wäre ich nicht die, die ich heute bin, ohne ihn hätte ich meine eigene Stimme
vielleicht nie gefunden. Sein Können und sein Vertrauen waren für mich ein
Geschenk des Himmels. Und dafür werde ich ihm ewig dankbar sein.
An jenem Tag lief ich ziellos durch Cinecittà: von einem Set zum nächsten und
immer auf der Suche nach ich weiß nicht was. In Wahrheit war ich allerdings
nicht fünfzehn, sondern neunzehn Jahre alt. Das Szenengetümmel, die
kreischenden Komparsen, die Bühnenbilder aus Pappmaché, die Welten, die sich
einem an jeder Ecke überraschend eröffneten: Das gefiel mir einfach. Ich
verbrachte meine Tage dort, weil ich die Welt des Kinos liebte. Außerdem gab es
Arbeit, und vielleicht würde ich ja im nächsten Moment einen wichtigen Hinweis
erhalten, etwas entdecken oder jemandem begegnen. Schon bald stellte ich fest,
dass jede Begegnung eine einmalige Gelegenheit sein konnte, die man beim
Schopfe packen musste.
Cinecittà war ein Wunderland und erweckte Traumwelten zum Leben, die sich
wie in einem Märchenschloss kunterbunt mischten: Da tranken alte Römer mit
jungen Soubretten Kaffee, da schwatzten Heerführer mit Ensembletänzerinnen,
und Frauen aus dem einfachen Volk aßen mit vornehmen Frackträgern zu Mittag.
Während eifrige Händler ihren Alltagsgeschäften nachgingen, diskutierten
Regisseure mit Kameraleuten leidenschaftlich über Details oder ließen die neuen
Komparsen vorsprechen.
Ich lief durch diese Märchenwelt und haschte nach meinem Schicksal wie nach
einem Trugbild. Ich lief und träumte, aber ich war keine Träumerin. Ich stand mit
beiden Beinen fest auf dem Boden und wartete auf meine Chance. Und ich war
zuverlässig und pünktlich. Ich wollte unbedingt arbeiten und war bereit, das
wenige, was ich hatte, in den Ring zu werfen.
Als ich an jenem Tag durch die Straßen lief, fühlte ich mich auf einmal von zwei
Männern beobachtet. Sie saßen auf einer Bank in der Sonne und rauchten. Der
eine war Peppino Annunziata. Er sollte später mein erster, für immer
unvergessener Maskenbildner werden – und eine Art Bodyguard, den Carlo für
mich ausgesucht hatte und der mir stets mit Rat und Tat zur Seite stand. Und der
andere war er: Vittorio De Sica. Niemand hat dem italienischen Kino mehr
Natürlichkeit eingehaucht als dieser großartige Regisseur. Die beiden unterhielten
sich in neapolitanischem Dialekt. Als ich ihren Akzent hörte, fühlte ich mich
sofort wie zu Hause. Wie sich herausstellte, sprachen sie über mich. Aus den
Augenwinkeln blickte ich zu ihnen hinüber und musste unweigerlich lächeln.
»Sofia, Sofia, kommen Sie her, ich möchte Sie jemandem vorstellen …«, rief
Peppino, den ich schon etwas länger kannte.
Vittorio sprach mich mit seiner wunderbar sanften, melodiösen Stimme an,
machte mir irgendein Kompliment und erzählte dann eine von den Geschichten,
die man hübschen Mädchen damals gern auftischte.
»Die Welt ist der reinste Dschungel. Passen Sie bloß auf sich auf…«, schloss er
mit väterlicher Miene. »Aber eines kann ich Ihnen sagen: Wenn Sie mit
Leidenschaft dabei sind, und davon scheinen Sie mir reichlich zu besitzen,
brauchen Sie nur auf sich zu vertrauen, und dann werden Sie sehen: Alles fügt
sich von selbst!«
Ich konnte es kaum glauben. Es war zu schön, um wahr zu sein: Da saß
Vittorio De Sica und redete mit mir.
Sein abenteuerlicher Lebensweg hatte De Sica zunächst als Schauspieler in die
Welt des Kinos geführt. Erst während des Kriegs begann er, Regie zu führen.
Rasch erkannte er den neuen Zeitgeist und folgte dem Ruf der Straße. Mit
Begeisterung stürzte er sich in die Arbeit und suchte in den Gesichtern der
einfachen Leute nach den Zeichen der neuen Welt, die gerade aus den Trümmern
auferstand. Er gab Alten und Kindern, Schuhputzern, Obdachlosen und lockeren
Weibsbildern eine Stimme, wobei ihm jede Schönfärberei fremd war. Er prangerte
die Ungerechtigkeit der Welt an und litt mit seinen Figuren.
Seine Erfahrung als Schauspieler und sein sicheres Auge als Regisseur machten
ihn zu einem wahren Meister: Mit unfehlbarem Instinkt sah er sofort, wer vor
ihm stand, und kitzelte aus ihm heraus, was er für seinen Film brauchte.
Manchmal kam er dabei völlig ohne Worte aus. Wie viele Kinder hat er zum
Weinen gebracht, weil er das für eine Stimmung, eine Szene brauchte!
Alle taten, was er sagte, und gaben für ihn ihr Bestes: ob die wunderbaren
Jungen in Schuhputzer (Sciuscià) oder die Obdachlosen in Das Wunder von
Mailand (Miracolo a Milano), ob berühmte Schauspieler oder solche, die es noch
werden wollten.
Einige Zeit später traf ich ihn im Büro von Ponti-De Laurentiis wieder. Er
bereitete gerade Das Gold von Neapel (L’oro di Napoli) vor, und Carlo hatte mich
für die Rolle der Pizzabäckerin vorgeschlagen. Während sich De Sica nicht mehr
an mich erinnerte, war mir unsere erste Begegnung ins Gedächtnis gebrannt. Wir
redeten über dies und das, er fragte mich ein paar Dinge: wo ich herkomme, was
ich mache. Ich antwortete, aus Pozzuoli, erzählte ihm von meinem Debüt im
Fotoroman Sogno, von meinen kleinen Rollen in Filmen wie La favorita, Weiße
Frau in Afrika und Aida und gestand ihm schließlich meine furchtbare Angst vor
Probeaufnahmen.
»Interessant«, sagte er und tat so, als hörte er mir zu. In Wahrheit beobachtete
er mich die ganze Zeit mit seinem dritten Auge, mit dem er dem Schauspieler
nachspürte, der sich hinter der Fassade verbarg: das natürliche Talent hinter dem
banalen Lebenslauf, den ich artig abspulte. Während ich mich abmühte, mich ins
rechte Licht zu rücken, ließ er sich nicht aus der Ruhe bringen. Er schaute
einfach, was ich machte. Nach einer Weile fühlte ich mich zwar geschmeichelt,
dass er mir überhaupt seine Aufmerksamkeit schenkte, kam aber zu dem Schluss,
dass da wohl nichts zu machen sei. »Torna cù ’e piedi’ pe’ terra – Komm runter
auf den Boden, Sofì, Träume sind Schäume«, sagte ich mir. Dabei hätte ich doch
längst wissen müssen, dass man den Mut zum Träumen braucht, wenn man
etwas erreichen will.
Und plötzlich legte er die Karten auf den Tisch, und siehe da: Ich hatte den
Joker gezogen. Als ich gerade aufgeben wollte, pflanzte er sich wie ein
Zauberkünstler vor mir auf, duzte mich plötzlich und sagte:
»Du fährst morgen nach Neapel. Ich drehe dort einen Episodenfilm nach
Giuseppe Marotta, dem neapolitanischen Schriftsteller. Mit erstklassiger
Besetzung.« Ich stand da und sah ihn entgeistert an, wie ein Kind, dem sich
plötzlich die verschlossene Tür zu einem Spielzeuggeschäft öffnet. »In einer
Episode geht es um ein Mädchen, das Sofia heißt«, fuhr er mit einer
unwahrscheinlichen Ruhe fort. »Das bist du, dafür brauche ich keine
Probeaufnahmen. Ich lasse dir eine Zugfahrkarte ausstellen.«
Was gab es da zu überlegen? Ich sagte einfach »Sì«.

Goldfieber

Ich fuhr los, ins Ungewisse, dem Märchen meines Lebens entgegen.
Nur meine Mutter war wie immer misstrauisch und wollte mich nicht gehen
lassen:
»Ma si’ asciut’ pazz’? – Bist du verrückt geworden? Du kennst die doch gar
nicht. Und wenn sie Böses im Schilde führen?«
Doch ich wusste mich inzwischen zu wehren:
»Ma no, nun ce pensa’ – Mach dir keine Sorgen«, versuchte ich sie zu
beruhigen, »es wird schon alles gut gehen …«
Im Grunde freute sie sich über mein Glück genauso wie ich, doch von Ängsten
getrieben, machte sie aus jeder Mücke einen Elefanten und versteifte sich auf
Nebensächlichkeiten:
»Was willst du überhaupt anziehen?«
Sie wusste nicht einmal, wen ich spielen würde. Eigentlich brauchte ich nichts
zum Anziehen. Bekanntlich sind die Pizzabäckerinnen in Neapel knapp bekleidet.
Vor Mammina gab ich mich erwachsen und selbstsicher, doch in Wahrheit
schwankte ich ununterbrochen zwischen Vorfreude und Panik.
»Schaffe ich das überhaupt?«, fragte ich mich mehr als einmal. »Was ist, wenn
De Sica sich irrt oder denkt, dass ich schon eine echte Schauspielerin bin?
Madonna mia, was soll ich bloß machen?«

An den ersten Tag erinnere ich mich noch, als wäre es gestern gewesen. Es war
der Februar 1954, bitterkalt, und noch dazu hatte ich wahrscheinlich kaum
geschlafen. Als ich dem berühmten Regisseur gegenüberstand, schlotterten mir
die Knie. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind und brachte kaum einen Ton
heraus. Das letzte Mal war ich in den Zeiten der »Meereskönigin« in Neapel
gewesen, als ich nichts als eine Pappfigur in einem fertigen Stück war und man
mich in der Kutsche durch die Stadt fuhr. Nun war ich plötzlich die Hauptperson
in einem Film, der sich vor unser aller Augen noch entwickeln sollte und wo es
unter anderem auf mich ankam. Neapel wartete.
Vittorio hatte eine genaue Vorstellung von dem, was er wollte, und er zeigte
mir, wo es langging:
»Sofì, du bringst alles mit. Aber zeig es uns, lass es raus! Denk an das, was du
von der Welt gesehen, was du erlebt hast. Da musst du die Gefühle herholen. Geh
in die Via Solfatara zurück, da liegt der Ursprung von allem.«
Vittorio hatte intuitiv erkannt, dass sich hinter meiner ebenso spröden wie
sinnlichen Erscheinung ein starkes Gefühlsleben verbarg und mir meine nicht
einfache Kindheit eine Sensibilität mitgegeben hatte, die danach drängte, sich
auszudrücken und in Kunst zu verwandeln.
Unermüdlich wiederholte er: »Du musst den Körper sprechen lassen, bis in die
Zehen und Fingerspitzen hinein. Sie sind genauso wichtig wie deine Stimme,
deine Augen oder deine Mimik.« Natürlich war das ein wenig übertrieben, aber
er sprach damit eine wichtige Wahrheit aus. Ein guter Schauspieler ist mit Haut
und Haaren dabei: Er spielt mit allen Sinnen und dem Verstand, mit Kopf und
Herz. Das ist das große Geheimnis, um das es in unserem Beruf eigentlich geht.
An jenem Morgen war ich unglaublich aufgeregt, und um die Kälte zu
vertreiben und mir Mut zu machen, trank ich sogar ein paar Schlückchen Cognac.
Und dann? Im Handumdrehen war es Abend! Der Tag verging im Nu, er flog nur
so vorbei, ohne dass ich es merkte. Aber als wir uns nach zwölf Stunden harter
Arbeit zum Essen zusammensetzten, war ich ein anderer Mensch geworden. Den
ganzen Tag lang hatten Vittorio und ich – er hinter und ich vor der Kamera –
experimentiert, geschauspielert und vor allem Spaß gehabt. Und er hatte es durch
die Art, wie er seine Schauspieler führte, geschafft, mir alle Ängste zu nehmen. Er
und ich waren auf einmal nichts weiter als zwei ausgelassene Neapolitaner, die
voller Freude improvisierten. Denn wie heißt es doch so schön: »Neapolitaner
und Kinder haben eines gemeinsam: Das Publikum liebt sie.«
Wir drehten zwanzig Tage lang und hatten zwanzig Tage lang Spaß. Für die
Bewohner des Viertels Materdei waren wir ein echtes Ereignis. Sie drängten sich
am Straßenrand und schauten uns gebannt bei der Arbeit zu. Das
Scheinwerferlicht, in das wir ihre Stadt tauchten, verzauberte alle. Manchmal
herrschte ein solches Durcheinander aus Gassenjungen und Zaungästen, dass
sogar die Feuerwehr anrücken musste. Doch wir entzündeten nur ein
Freudenfeuer, das allen guttat. Mit der Zeit fühlte ich mich immer sicherer, und
schon bald schritt ich tatsächlich wie die Pizzabäckerin durch die Gassen:
erhobenen Hauptes, mit stolzgeschwellter Brust und vor Lebenslust sprühend.
Ich sehe Vittorio noch genau vor mir, wie er hinter der Kamera stand und mir
zeigte, welche Reaktion oder Geste, welchen Gefühlsausdruck er von mir
erwartete.
»Ja, gut gemacht, weiter so!«, rief er zufrieden ins Megafon, und ich blickte ihn
ungläubig an. Denn wie konnte es sein, das all das gerade mir passierte? Er
ermutigte mich, über meine Grenzen hinauszugehen und die Mauer zu
überwinden, hinter der ich meine tiefsten Gefühle verbarg. Einige Jahre später
sollte er dann noch viel mehr für mich tun: Er nahm mich an die Hand und
führte mich in die Welt der Tragödie ein. Aber damals bewegten wir uns noch in
der Welt der Leichtigkeit und der Komödie, die aus heutiger Sicht betrachtet
allerdings nicht weniger kompliziert ist. Dort kommt alles auf den Rhythmus an.
Denn wie leicht kann eine Komödie in Schwermut oder Parodie umkippen.

In »Pizza auf Kredit«, dem zweiten Teil des Episodenfilms Das Gold von Neapel,
führt Sofia mit ihrem Ehemann Rosario einen Pizzastand – Giacomo Furia, der
meinen Ehemann spielte, blieb ich übrigens das ganze Leben lang tief verbunden.
Eher wegen Sofia und weniger wegen der Pizza finden sich vor dem Stand
Nachtwächter und Anwälte, Kutscher und Pfarrer, Angestellte und junge
Burschen ein. Sogar Luciano, der jüngere Bruder des berühmten Sängers
Giacomo Rondinella, macht mir den Hof: Zur großen Freude aller auf und
außerhalb des Sets singt er auf seinem Karren nur für mich.
»Heute essen und in acht Tagen zahlen«, steht auf einem Schild neben dem
Stand, und dasselbe rufen Ehefrau und Ehemann lautstark, um Kunden
anzulocken.
»Kommt alle her! Lasst es euch schmecken! Donna Sofia hat gebacken!«
Doch das Unglück nimmt seinen Lauf, als eines Morgens alle bei der Messe
sind. Während Sofia ihren feurigen Liebhaber umarmt, verliert sie den
Smaragdring, den ihr Ehemann ihr geschenkt hat. Aus Liebe und auch ein wenig
aus Protz hatte er all seine Ersparnisse in »den schönsten Ring im Viertel Stella«
gesteckt. Sofort nimmt das ganze Viertel großen Anteil am »Skandal« der
Eheleute. Während der Chor des einfachen Volks die Protagonisten auf ihrem
Weg durch das winterlich verregnete Neapel begleitet, wo sie nach Verlorenem
suchen, hält er mit seiner Meinung nicht hinter dem Berg.
Nie werde ich Paolo Stoppa in der Rolle des einsamen Witwers Don Peppino
vergessen, der sich von der Terrasse stürzen will, weil er alles verloren hat, und
sich schließlich mit einem Teller Spaghetti tröstet. Der großartige und gestrenge
Schauspieler verfolgte ebenso vergnügt wie respektvoll meine ersten, glücklichen
Gehversuche als Schauspielerin.
Und wir mussten viel gehen. In diesem Film bewegen wir uns von einem Haus
zum nächsten und von einer Geschichte zur anderen und durch eine Stadt, die in
ständiger Bewegung ist. Unser Weg führt uns durch eine Welt voller Ironie und
Gemeinplätze, Aberglauben und Gerüchte, Menschlichkeit und Lästereien,
kurzum durch das reale Leben, in dem die Menschen versuchen, Widrigkeiten zu
überwinden, sich vom Joch der Mächtigen zu befreien und dem Tod, der an jeder
Ecke und am nahen Vesuv lauert, ein Schnippchen zu schlagen – und das auf
neapolitanische Art: Sie genießen das Leben einfach in vollen Zügen, als wäre es
’na jurnata ’e sole, ein sonniger Tag.
In allen Episoden des Films haben die Protagonisten – allesamt phantastische
Schauspielerinnen und Schauspieler – etwas auf dem Herzen: Bei Totò hat sich
ein gewalttätiger Untermieter einquartiert, der die Familie seit Jahren
tyrannisiert, und Silvana Mangano, die sich bisher als Prostituierte
durchgeschlagen hat, möchte nun durch Heirat ins bürgerliche Leben
zurückkehren. Auch De Sica mischt sich unter die Schauspieler und mimt den
Spielsüchtigen, von dem er leider auch im wahren Leben etwas hatte. Und der
großartige Eduardo De Filippo leidet unter einem arroganten Adligen, dem alle
ausweichen müssen, wenn er mit dem Auto durch die Gassen fährt. Um den
Adeligen zu bestrafen, greift das Volk zur stärksten Waffe, die es hat: ’o
pernacchio. Die neapolitanische pernacchiu geht weit über das verächtliche,
vulgäre Mundgeräusch hinaus, das man hochsprachlich unter pernacchia versteht
und das jeder zustandebringt.
Eine echte pernacchio macht den Mächtigen deutlich, dass sie nichts als eine
schifezza sind, sprich: der letzte Dreck. Wer Ziel einer pernacchio wird, muss sich
gedemütigt fühlen und gleichzeitig erkennen können, was man ihm sagen will.
Wer jemanden mit einer pernacchio bestraft, der fühlt sich befreit. Bekanntlich
leben in Neapel Arm und Reich Seite an Seite. Intellektuelle wie Vittorio und
Totò, Eduardo und Peppino haben sich unter die einfachen Leute gemischt und
gezeigt, wie sie wirklich sind. Und die Leute wussten das zu schätzen.
Mein Triumphmarsch, bei dem ich mit wiedergefundenem Ring, freizügigem
Dekolleté und aufmüpfigem Lächeln durch die Gassen schritt, hat mir noch vor
allen anderen gezeigt, wer ich wirklich war. Und, was noch wichtiger war, meine
Schauspielkarriere lag von da ab in den Händen von Vittorio De Sica, der eine
bestimmende Rolle in meinem Leben spielen sollte. Er begleitete mich in den
nächsten zwanzig Jahren und weiteren dreizehn Filmen und brachte mir alles bei,
was ich weiß. Er unterstützte mich ebenso wie der großartige Cesare Zavattini in
meiner Entwicklung und zeigte mir, welche Rollen am besten zu meiner
Persönlichkeit passten. Er führte mich durch stürmische Dramen und leichte
Komödien, in denen die Gefahr, zu übertreiben, groß ist und die
Wahrscheinlichkeit, mit heiler Haut davonzukommen, mitunter sehr klein.
Vittorio und mich verband eine Liebe wie zwischen Vater und Tochter: Ich
vertraute ihm blind, und er half mir, stets mein Bestes zu geben. Und schon bald
stieß auch Marcello Mastroianni zu uns. Wir drei wurden ein perfektes Team.

Die Filmkommission des Vatikans (CCC – Centro Cattolico Cinematografico)


mochte »Pizza auf Kredit« überhaupt nicht: zu viel Ehebruch, zu viel Fröhlichkeit,
zu viel Sinnlichkeit. Aber allen anderen gefiel der Film – abgesehen von meiner
Mutter, die die Welt weiterhin mit dem ihr eigenen Pessimismus betrachtete. Sie
begleitete mich zur Premiere, weil sie mir in diesem wichtigen Moment zur Seite
stehen wollte. Doch kaum wurde es wieder hell im Saal, rief sie beleidigt:
»Dieser Ponti ist dein Verderben … Silvana Mangano hat eine viel schönere
Rolle als du!«
»Aber Mammina, was sagst du denn da!«, versuchte ich sie zu beruhigen.
»Beide Rollen sind schön, nur anders. Die eine ist tragisch, die andere
komisch …«
Sie wollte nur mein Bestes, konnte sich aber nicht von der Vorstellung lösen,
dass die böse Welt zerstören wollte, was wir uns mühsam aufgebaut hatten. Sie
konnte die Enttäuschungen ihrer Jugend nicht vergessen. Aber ich blickte nach
vorn, und nun konnte mich nichts und niemand mehr aufhalten.
Mein berühmter Gang durch den Regen, der im Übrigen kein echter Regen
war, bescherte mir nicht nur meinen ersten bescheidenen Ruhm und mein Ticket
in die Zukunft, sondern auch eine Lungenentzündung, von der ich mich nur
langsam erholte. An einem der letzten Abende, als wir alle beisammensaßen und
das bevorstehende Ende der Dreharbeiten feierten, brach ich zusammen. Man
brachte mich sofort ins Hotel, und die letzten Drehtage stand ich mit hohem
Fieber durch. Vielleicht hatte ich einfach zu viel gegeben. Doch mit Sicherheit
hatte ich noch mehr zurückbekommen: Lebensfreude, Geduld und jede Menge
Hoffnung, kurzum, das Gold von Neapel, das mich schon bald ins ferne Amerika
führen sollte.

Die Kleine wird größer

Der unumstrittene König dieses goldenen Reiches war zweifellos Antonio Griffo
Focas Flavio Angelo Ducas Comneno Porfirogenito Gagliardi De Curtis di
Bisanzio, besser bekannt als Totò. Seit ich 1950 erstmals nach Cinecittà
gekommen war, hatte ich ihn schon einige Male am Set gesehen. Als junge,
unerfahrene Komparsin in Le sei mogli di Barbablù oder eines der Mädchen in
Tototarzan durfte ich ihn schüchtern und voller Ehrfurcht aus der Ferne
bewundern. Und noch früher, als junges Mädchen ohne Arbeit und ohne eine
Lira in der Tasche, war ich einmal ins Scalera gegangen, wo er arbeitete. Ich war
in den Saal geschlüpft, und ein Produktionsmitarbeiter hatte mich, vielleicht aus
Mitleid und weil ich so jung war, zuschauen lassen. Totò sah mich und fragte:
»Wer ist denn die Kleine da?«
Zögernd ging ich zu ihm hin und stellte mich vor:
»Scicolone, Sofia, freut mich sehr …«
Er war freundlich zu mir, lächelte mich an und schenkte mir einen Moment
seiner wertvollen Zeit.
»Und was macht eine Göre wie du hier? Wo kommst du denn her?«
»Aus Pozzuoli, ich möchte zum Film …«
»Ach, der Film«, seufzte er und schnitt eine seiner berühmten Grimassen.
Einen winzigen Moment lang war sein unwiderstehlicher, melancholischer
Humor allein auf mich gerichtet. Ich sog den Moment in mich auf, trank davon
wie von einem frischen Quell und fühlte mich gestärkt. Wenn Totò mir seine
Aufmerksamkeit schenkte, dann war alles möglich. Dann war »nur das Beste«
schon da.
Aber Totò schenkte mir nicht nur freundliche Worte. Er sah mir an, was ich
auf keinen Fall preisgeben wollte, und drückte mir schließlich hundert Lire in die
Hand. Vermutlich erkannte er den Hunger in meinen Augen: nach Nahrung, nach
Arbeit oder einfach nach dem Kino. Ich und Mamma haben lange davon gezehrt.
Für uns war das wie ein Lottogewinn.
Wie seine Tochter Liliana später erzählte, wäre Totò fast ohnmächtig
umgefallen, als ich auf dem Set von Barbablù plötzlich in seiner Garderobe
auftauchte.
»Es kann gefährlich sein, bestimmte Panoramen gleich nach dem Mittagessen
zu betrachten. Beim Anblick der Hügel und Täler geriet meine Verdauung ins
Stocken.«
Da ich ihn persönlich kennenlernen durfte, weiß ich, dass der König der
Komiker auch außerhalb des Sets ganz der Schauspieler blieb: Für einen guten
Einfall hätte er sein Leben gegeben.

1953, für mich ein arbeitsreiches Jahr mit vielen Filmen, angefangen bei Aida, traf
ich ihn dann bei zwei Gelegenheiten wieder, die etwas bedeutsamer waren. Die
verkaufte Unschuld (Miseria e nobiltà) basierte auf einem Volksstück von
Eduardo Scarpetta: Felice Sciosciamocca, dessen Name (»Der mit dem offenen
Mund«) bereits Programm ist, wird mitsamt seiner Familie von einem jungen
Adeligen dafür bezahlt, sich als aristokratische Verwandtschaft von Gemma
auszugeben, einer Tänzerin, die der Adelige anhimmelt und vor den Altar führen
möchte. Die Rolle der Gemma spielte ich.
»Da verblasst die Schönheit Karthagos und aller Karthager«, ruft Totò, als er
mich, die künftige Braut, erblickt. »Wir nehmen dich auf in den … in den Schoß
unserer Familie, und du … du nimmst uns auf in deinen.«
Totò war einfach unwiderstehlich; wenn ich an seiner Seite spielte, lösten sich
alle Ängste und Hemmungen in Wohlgefallen auf. Auch weil er das halbe
Drehbuch aus dem Stehgreif umschrieb und sich dabei von nichts und
niemandem aufhalten ließ. Das machte er übrigens auch in der berühmten Szene,
in der er sich die Spaghetti in die Jackentaschen steckt. Sie sollte Filmgeschichte
schreiben und verrät viel über das hungernde italienische Volk. Der Hunger
begegnete einem ja nicht nur im Film, ich hatte ihn nach dem Krieg auch in
Pozzuoli kennengelernt. Gegen diesen Hunger helfen nur ein Lächeln, Humor
und Gelassenheit – kurzum die Lebenskunst, die wir Neapolitaner so gut
beherrschen.
Neapel ist für mich noch immer die schönste Stadt Italiens, und die
Neapolitaner sind mir bis heute die liebsten Italiener. Die Stadt hat so viel
Abscheuliches und Schreckliches erlebt, dass sie dringend der Hoffnung auf ein
besseres Morgen bedarf. Vielleicht ist das der Grund, weshalb ich 2013, als mein
Sohn Edoardo mir vorschlug, Die menschliche Stimme (La voix humaine) von
Jean Cocteau in Neapel zu drehen, überglücklich zustimme. Es war mein
bescheidener Beitrag an Hoffnung für meine geliebte Stadt.
Das Leben hat mich in die Ferne geführt, aber mein Herz hängt noch immer an
meiner Heimat: an dem Licht, an der Sprache und der Küche dieses Landstrichs.
Je älter ich werde, desto häufiger spüre ich den Wunsch, im neapolitanischen
Dialekt zu sprechen. Vielleicht, weil ich manches auf Neapolitanisch besser
ausdrücken kann als auf Italienisch, von Französisch oder Englisch ganz zu
schweigen. Wenn ich Dialekt spreche, tue ich das mit so viel Liebe, dass mich
sogar meine Söhne und nun auch meine Enkel verstehen, die sonst nur
Hochitalienisch oder Englisch sprechen.
Und so geht es mir auch mit den traditionellen Gerichten aus Neapel. Sie
entführen mich in die Heimat, in die Küche der Via Solfatara, wo es nach Armut
roch und schmeckte. Dort verbrachte ich meine Kindheit, dort lauschte ich den
Liedern, die Mamma Luisa sang, und spürte die Wärme des Ofens, auf dem eine
Fleischsauce köchelte, wenn das Geld reichte.
Heute koche ich nur noch selten. Ich esse wenig, weil ich ständig mit anderen
Dingen beschäftigt bin. Aber wenn meine Söhne aus Amerika zu Besuch kommen
und sich ihr Lieblingsgericht wünschen, ziehe ich mich in mein Königreich
zurück und bin wieder in Pozzuoli. Am liebsten koche ich Pasta alla Genovese:
Ich brate fünf Kilo Zwiebeln an, bis sie weich sind, gebe die Fleischstückchen
hinzu und lasse alles vier Stunden köcheln. In unserer schnelllebigen Zeit
scheinen vier Stunden eine Ewigkeit. Doch diese Zeit brauche ich, um in die
Jahre meiner Kindheit in Pozzuoli zurückzukehren.

Aber um auf Totò zurückzukommen: Unsere Wege kreuzten sich auch in dem
Film Tempi nostri, bei dem niemand Geringerer als Alessandro Blasetti Regie
führte. Der große Meister des italienischen Films glaubte schon an mich, als ich
noch ein Niemand war. Auch Tempi nostri war ein Episodenfilm, und in ihm
spielten alle Größen der Zeit mit: De Sica und Mastroianni, Yves Montand und
Alberto Sordi, Eduardo De Filippo und das wundervolle »Quartetto Cetra«, ein
Vokalquartett mit drei Männern und einer Frau. Das Drehbuch stammte von
Alberto Moravia, Vasco Pratolini, Giuseppe Marotta, Giorgio Bassani, Achille
Campanile, Sandro Continenza und Suso Cecchi D’Amico. Ich arbeitete in einer
Episode direkt mit Totò zusammen: Er spielte einen Fotografen, dem seine
Kamera gestohlen wird, weil er durch ein hübsches Mädchen abgelenkt wird –
das war ich.
Blasetti war angeblich fasziniert davon, wie gut ich mit dem begnadeten
Komödianten zusammenspielte. Normalerweise lernte ich das Drehbuch
gründlich auswendig, am liebsten sogar weit im Voraus, aber diesmal musste
selbst ich einsehen, dass das völlig sinnlos war. Totò improvisierte drauflos und
brachte nach Belieben neue Wendungen, Einfälle und Träume ein. Am besten
machte man einfach mit und passte auf, dass man den Anschluss nicht verlor.
Dass ich in Pozzuoli aufgewachsen war, erwies sich nun als Vorteil. Denn wir
beiden Neapolitaner brachten dieselbe Mentalität mit. Unsere Intuition, unser
Instinkt und unsere Ironie passten wunderbar zusammen, und in unserem
Zusammenspiel sprühten die Funken.
Das sollte meine letzte Arbeit mit Totò sein. Blasetti traf ich hingegen schon
bald bei einem Film wieder, an dem mein Herz bis heute hängt.

Eine Kanaille im Taxi

Suso Cecchi D’Amico kam als Erste auf die Idee, mir in Schade, dass Du eine
Kanaille bist (Peccato che sia una canaglia) die Hauptrolle zu geben. Sie war die
einzige Frau unter den großen Drehbuchschreibern jener Zeit, und Lina
Wertmüller nannte sie »eine Eiche, an deren Zweigen das italienische Kino neue
Triebe hervorbrachte«. Bei der Lektüre der Römischen Erzählungen von Alberto
Moravia war Suso gleich zu Beginn auf eine hübsche Geschichte gestoßen: »Der
Fanatiker.«
Ich erinnere mich, dass wir uns eines Tages zufällig im Zug trafen. Suso hatte
mich schon am Bahnhof entdeckt, kam in mein Abteil und setzte sich so
selbstverständlich neben mich, dass meine Schüchternheit sofort verschwand.
»Mir schwebt gerade eine Story vor, die perfekt zu dir passen würde«, sagte sie
nur und schaute mir direkt in die Augen.
»Warum nicht!«, antwortete ich, überschwänglich wie immer. Suso hatte die
Geschichte gemeinsam mit Flaiano, Moravia und Continenza ausgearbeitet und
sie Blasetti angeboten, der gerade auf der Suche nach einem Drehbuch für seinen
nächsten Film war. Die Produzenten wollten zunächst Lollo für den Film: Gina
Lollobrigida galt damals als die Nummer eins. Doch Suso hatte mich in Cinecittà
bei den Dreharbeiten zu Ci troviamo in galleria von Mauro Bolognini gesehen,
und meine Fröhlichkeit hatte sie beeindruckt. In dem Film tanzte ich Mambo, wie
später dann in Die Frau vom Fluss (La donna del fiume) und, in meinem
leuchtend roten Kleid, in Liebe, Brot und 1000 Küsse (Pane, amore e …).
Nach unserer kurzen Begegnung im Zug setzten sich Suso, aber auch Flaiano
und Blasetti bei den Produzenten dafür ein, dass ich die Rolle der »Kanaille«
bekam.
Blasetti war froh, mich dabeizuhaben, und ich hatte meine erste richtige
Hauptrolle. Bis dahin hatte ich nur kleinere Genrerollen gespielt, und in Gold von
Neapel die Hauptrolle in einer einzigen Episode. Nun würde ich in einem ganzen
Film Seite an Seite mit zwei großartigen Partnern auftreten: mit Vittorio De Sica
und Marcello Mastroianni. Es sollte der Anfang eines langen und wunderbaren
Wegstücks sein, das wir gemeinsam zurücklegten.
Bei dieser Gelegenheit lernte ich auch Blasettis Tochter Mara kennen, die in
der Produktion arbeitete. Mit ihrem geschulten Blick sah sie, dass in mir
Anfängerin das Zeug zur Schauspielerin steckte, dennoch redete sie mit mir noch
lange wie mit einem kleinen Kind. Heute plaudern wir manchmal, erinnern uns
an die alten Zeiten, als wäre es gestern gewesen, und lachen.

Marcello und ich begegneten uns in Schade, dass Du eine Kanaille bist das erste
Mal in einer wunderbaren Schwarz-Weiß-Einstellung, und wir verliebten uns auf
der Stelle. Nur im Film natürlich.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich ihn das erste Mal sah. Ich stand auf
der Treppe des Wohnhauses, in dem wir drehen sollten, und er beobachtete mich
aus einem oberen Stockwerk.
»Ciao«, rief er, als spräche er mit der Luft.
»Ciao«, antwortete ich schüchtern und aufgeregt.
Wir verstanden uns auf Anhieb, und das sollte bis zum Schluss so bleiben. Es
gab zwischen uns keine Unstimmigkeiten. Unser erster gemeinsamer Film spielte
im ausgelassenen, fröhlichen Rom der Nachkriegszeit, in dem die Menschen
gerade wieder anfingen zu reisen, ans Meer zu fahren, zu baden, sich zu verlieben
und zu vergnügen. Wir passten gut zusammen, Marcello und ich. Was für ein
Paar! So natürlich, so schön, so wahrhaftig.
In der Kanaille spielt er Paolo, einen freundlichen, etwas naiven jungen Mann,
der im Bombenhagel seine ganze Familie verloren hat und seinen
Lebensunterhalt als Taxifahrer verdienen muss. Er kann der unbefangenen Lina
nicht widerstehen, die mit bewundernswerter Unverschämtheit »Bongo, bongo,
bongo« trällert und versucht, ihn zu beklauen. In der damaligen Zeit war meine
Rolle neu und ungewohnt: Als Sprössling einer Gaunerfamilie begleite ich
meinen Vater, gespielt von dem großartigen Vittorio De Sica, auf seinen
Diebestouren. Auch diesmal nahm mich Vittorio wieder an der Hand und führte
mich in die richtige Richtung, ebenso wie den jungen Mastroianni, der gerade
vom Theater kam.
Marcello war zehn Jahre älter als ich und wesentlich dreister. Am Set erschien
er auf charmante Weise unvorbereitet. Ich dagegen war präpariert wie eine brave
Schülerin, weil ich nichts falsch machen wollte und Angst hatte, mich zu
blamieren.
Ich hatte viel Text zu sprechen und lange Szenen, es kam mir manchmal vor,
als wäre ich die Einzige, die redete. An eine Szene erinnere ich mich besonders
gut. Ich stand auf der Treppe, wo wir uns das erste Mal gesehen hatten, und
musste eine endlose Litanei aufsagen. Schließlich umarmte Marcello mich
lachend und sagte:
»Wie kannst du dir das bloß alles merken?«
»Weil ich im Gegensatz zu dir lerne. Wenn du dich nicht erst im letzten
Moment hinsetzen würdest, könntest du das genauso …«
Wir lachten und hatten viel Spaß zusammen. Wir waren jung und
unbekümmert. Und die Welt lächelte uns zu.
Vieles verdankten wir zweifellos Blasetti, der ein Händchen für uns hatte. Er
wusste uns Schauspieler zu nehmen, er schätzte und mochte uns. Außerdem war
er ein Perfektionist, der uns eine Szene auch zwanzig Mal wiederholen ließ. Beim
zehnten Mal nahm er uns zur Seite – mich, Marcello oder Vittorio – und sagte:
»Gut, sehr gut, aber …«, und alles ging von vorn los.
Sandro stellte an andere dieselben hohen Ansprüche wie an sich selbst, und in
diesem Punkt konnte er sich hundertprozentig auf mich verlassen. Vielleicht war
das der Grund, weshalb wir so gut miteinander auskamen.
Vittorio war als Schauspieler bescheiden und respektierte die anderen. Ohne
den geringsten Widerspruch akzeptierte er alles, was die Regie ihm sagte. Es war
Alessandro, der ihn häufig bat, eine Szene gemeinsam zu planen, und dann alles
hundert Mal wieder umwarf.
»Was meinst du, Vittorio? Ist es gut so? Oder war die erste Version doch
besser?«
Blasetti schätzte uns sehr, und er wusste, was er an De Sica hatte. Es machte
Freude, den beiden Gentlemen zuzusehen, die in ihrer Vornehmheit etwas
besaßen, was es heute nicht mehr gibt.
Blasetti war ein phantastischer Regisseur und hatte ein unfehlbares Auge für
die richtige Einstellung. Am Set tauchte er immer in Stiefeln und Knickerbockern
auf, ein bisschen à la Dreißigerjahre, weil er, wenn er drehte, mitten im Schlamm
hauste und seine Frau das ständige Waschen leid war. Und manchmal erschien er
sogar in einem seltsamen Fliegeranzug.
Er war außerdem der Erfinder der Kamerafahrt: Eines Tages fragte er einfach
eine Firma, die eigentlich Förderwagen für den Bergbau herstellte, ob sie nicht
einen Kamerawagen bauen könne. Und er konnte stundenlang mit den
Filmtechnikern diskutieren, denn er liebte das Kino und alle, die dort arbeiteten.
Er hatte Humor, konnte aber auch streng sein. Ein wenig fühlten wir uns bei ihm
immer wie in der Schule.
Wir blieben ein Leben lang befreundet. Im Grunde war Blasetti jemand, der
unermüdlich nach Neuem suchte. Wäre er ein Jahrhundert früher auf die Welt
gekommen, wäre er bestimmt Entdecker geworden. Aber so hat er immerhin
mich entdeckt, und dafür bin ich ihm unendlich dankbar.

Dass sich am Set einer der größten Schriftsteller unserer Zeit, Gabriel García
Márquez, versteckte, habe ich leider erst nach seinem Tod erfahren. Auch Gabo,
wie Márquez genannt wurde, träumte von Cinecittà und war durch den
argentinischen Regisseur Fernando Birri an die römische Filmhochschule »Centro
sperimentale di cinematografia« gekommen. In einem Interview hat er später
erzählt, dass er in Schade, dass Du eine Kanaille bist der dritte Regieassistent war,
kurzum: der Rausschmeißer. Und so gelang es ihm zu seinem Leidwesen nicht,
während der Dreharbeiten in meine Nähe zu kommen. Denn seine Aufgabe war
es ja, Neugierige fernzuhalten. Schade! Es hätte der Beginn einer großen
Freundschaft sein können.
Zwischenspiel
Fotos, Karten, Briefe, Gedichte … Die Schatzkiste, die vor mir auf dem Bett liegt,
ist prall gefüllt mit Leben. Ihre Schätze entführen mich auf eine Zeitreise, bringen
mich zurück in die längst vergangenen Jahre meiner Jugend und deuten mir an,
wohin die Reise geht. Erinnerungen, Hoffnungen und noch unerfüllte Träume
ziehen wie eine leuchtende Spur an mir vorbei.
Ich nippe an dem Kräutertee, den mir Ninni vorsorglich auf den Nachttisch
gestellt hat, bevor sie sich zurückzog. Morgen ist Heiligabend. Alles ist bereit,
aber ich bin mit den Gedanken woanders: Ich gebe mich dem Strom der
Erinnerungen hin, die mein Leben sind. Glück und Traurigkeit sind auf
geheimnisvolle Weise ineinander verwoben, das eine kann es ohne das andere
nicht geben. Viele Menschen, die ich geliebt habe, leben nicht mehr, aber in
meinem Innern sprechen sie zu mir. Ich sehe sie in den Erfolgen meiner Kinder
und in der Vorstellungskraft meiner Enkel, die unsere bescheidene
Weihnachtsgesellschaft morgen zum Lachen bringen werden.
Der Gedanke an meine Enkelkinder bringt mich für einen Moment ins Hier
und Jetzt zurück. Ich freue mich schon auf die morgigen Vorbereitungen. Wir
werden alle in der Küche stehen und die Fleischklößchen von Livia, der Köchin,
formen – das gehört in unserer Familie zum Weihnachtsfest einfach dazu. Ich
sehe die mehligen Händchen meiner Enkel schon vor mir, wie sie die kleinen oder
großen Fleischbällchen in Semmelbröseln wenden. Es duftet nach Gebratenem,
ein Duft, der die Kälte vertreibt und dem Winter Fröhlichkeit einhaucht. Doch
nun ruft mich wieder der Strom meiner Erinnerungen, und voller Vertrauen gebe
ich mich ihm hin.
5 Mambo

Das Phantomorchester

Ich schaue mir die Fotos an, und bei einem, das ich ganz vergessen hatte, wird
mir warm ums Herz: Carlo streicht mir zärtlich mit der Hand über den Kopf. Die
Geste sagt mehr als tausend Worte und offenbart die tiefen Gefühle, die wir
füreinander hatten. Ich drehe das Foto um und lese »Sommer 1954«. Bei den
Dreharbeiten zu Die Frau vom Fluss wurde uns endlich klar, dass wir ineinander
verliebt waren. Aus dem früh gereiften Kind war eine Frau, aus der Komparsin
eine Schauspielerin, aus dem Gefühl der Nähe Liebe geworden. Wir sind am Set,
es ist Drehpause. Hinter uns liegt das Po-Delta, in sanftes Licht getaucht, mit
einem Grün, das ins Bläuliche changiert, und Wasser, das nahtlos in den Himmel
übergeht. Schauspieler und Techniker fahren wie im Film mit dem Fahrrad oder
Boot durch die mit Stechmücken verseuchten Sümpfe, man erkennt Kanäle,
kleine Stege und graue Gewässer zwischen hohem Schilf. Und weiter hinten,
jenseits der Dünen, das Meer mit seiner verlockenden Ferne.
Die Frau vom Fluss hatte Carlo mir auf den Leib geschnitten. Er war der
alleinige Produzent, sein langjähriger Partner De Laurentiis war diesmal nicht
dabei. Hätte ich gewusst, wie viel Geld er für den Film ausgab, wäre ich bestimmt
vor Schreck erstarrt. Doch auch so spürte ich auf mir eine große Verantwortung
lasten. Anders als bei Gold von Neapel oder in dem Sommer, als ich mit Vittorio
und Marcello in Rom die Kanaille drehte, war ich diesmal weit weg von zu Hause
und alleinige Hauptdarstellerin in einem großen Melodram. Carlo setzte großes
Vertrauen in mein noch junges Talent.
Ich freute mich über diese Charakterrolle, weil ich in ihr meine tiefsten
Gefühle zum Ausdruck bringen konnte, was mir im wirklichen Leben schwerfiel,
aber ich empfand sie auch als riesige Herausforderung. »Schaffe ich das
überhaupt?«, fragte ich mich erschrocken. Doch es war niemand da, der mir
antwortete.
Carlo, der wie immer auf Nummer sicher gehen wollte, dachte in großen
Dimensionen und versammelte um sich die Filmgrößen der Zeit. Wenn ich die
Namen heute lese, stockt mir beinahe der Atem. Die Story entwarfen Alberto
Moravia und Ennio Flaiano, das Drehbuch schrieben Giorgio Bassani, Antonio
Altoviti und der junge Pier Paolo Pasolini, der als Lehrer an einem
Vorortgymnasium gerade nach Rom gekommen war, gemeinsam mit dem
Regisseur Mario Soldati. Mit dabei war außerdem Florestano Vancini aus Ferrara,
der 1951 einen wunderbaren Dokumentarfilm über das Po-Delta gedreht hatte.
Und last, but not least war Basilio Franchina mit von der Partie: Dass ich ihn
kennenlernte durfte, war eine der glücklichen Fügungen meines Lebens. Der
gebürtige Sizilianer, Journalist, Schriftsteller, Drehbuchautor, Film- und
Kunstliebhaber war Regieassistent in Bitterer Reis (Riso amaro), einem großen
Erfolg von Ponti-De Laurentiis. Mit dem Film von 1949 hatte Silvana Mangano in
der Rolle einer Arbeiterin auf den Reisfeldern von Vercelli Filmgeschichte
geschrieben. In weiteren Rollen traten der junge Vittorio Gassman als
Kleinkrimineller und Verführer und der gut aussehende, kluge Raf Vallone auf.
Der berühmte Film erzählt von großen Gefühlen und sozialer Ungerechtigkeit
und brachte Silvana den internationalen Durchbruch. Sie tanzt darin einen
unvergessenen Boogie-Woogie, bevor sie schließlich ihrem tragischen Ende
entgegengeht.
Die Atmosphäre von Bitterer Reis – das Wasser, die schönen Arbeiterinnen mit
Kopftuch und Shorts, die kleinen Gauner, die die Frauen ins Unglück stürzten –
inspirierte Carlo und Mario Soldati dazu, eine Rolle zu schaffen, die genau auf
mich zugeschnitten war. Der Film spielt auf der Klaviatur der großen Gefühle
und schlägt die verschiedensten Töne an, sentimentale, dramatische und
tragische.
Nives legt in einer Fischfabrik Aale ein. Sie führt ein unabhängiges Leben, ist
bei Freundinnen und Kolleginnen beliebt. Es ist ein Leben unter Frauen in einer
volkstümlichen, harten, aber solidarischen Welt, in der man viel arbeitet und
wenig braucht, um glücklich zu sein. Die junge, aufgeweckte Nives, die
amtierende »Miss Comacchio«, widersetzt sich den Avancen des schönen Gino,
der Schmuggler ist und sich zu nichts verpflichten will. Er wird von Rick
Battaglia gespielt, dessen bleiche Gesichtszüge an Burt Lancaster erinnern.
Que bel ritmo tiene el mambo, que sonrisa tiene el mambo, singt Nives mit
herausfordernder Sinnlichkeit, als sie das Heft noch in der Hand hat. Doch wie
viele starke und leidenschaftliche Frauen ist sie verloren, als sie sich schließlich
doch verliebt. Eine lange Spazierfahrt auf dem Motorroller lässt ihren letzten
Widerstand dahinschmelzen, und sie gibt sich dem Schönen mit den dunklen
Augen hin, weil sie glaubt, er werde mit ihr eine Familie gründen und ihren
Traum von Haus und Einbauküche erfüllen, kurzum die kleinen großen Wünsche
der Menschen in aller Welt. Wer hätte das besser verstehen können als ich? Doch
Gino, der als Schmuggler sein Geld verdient, fühlt sich in der Falle und will keine
Verantwortung übernehmen. Er flüchtet vor sich selbst und vor der Polizei, und
als er schließlich erfährt, dass Nives ein Kind von ihm erwartet, macht er sich auf
und davon. Die Geschichte kam mir bekannt vor.
Am Set arbeiteten wir hart und unermüdlich. Doch je mehr sich das Drama
dem Ende zuneigte, desto größer wurde der Druck, der auf mir lastete, und desto
mehr nahmen meine Ängste und Sorgen zu. Natürlich traten sie nicht zutage,
wenn ich vor der Kamera stand, doch nachts, wenn alles ruhig und friedlich war,
stiegen sie in mir hoch. Sobald ich mich hinlegte, bedrängten mich die Bilder des
Tages: Szenen, einzelne Momente, die leicht unterkühlten Anweisungen von
Mario Soldati, Ricks Scherze, ein verpatzter Einsatz. Wieder und wieder ging ich
meine Szenen durch, fragte mich, wo ich was falsch gemacht hatte, wo ich etwas
hätte besser machen können. Meine Gedanken drehten sich im Kreise, und das
Atmen fiel mir schwer. Ich bekam kaum noch Luft, und in meinem Kopf kreischte
ein Orchster aus ohrenbetäubenden Geigen, die mir meinen so dringend
benötigten Schlaf raubten.
»Was habe ich bloß?«, fragte ich meinen Arzt. »Erst vor einigen Monaten hatte
ich ja eine Lungenentzündung …« Ich befürchtete, dass mein Unwohlsein noch
immer von dem künstlichen Regen in Das Gold von Neapel herrührte, der mich
nach den Dreharbeiten außer Gefecht gesetzt hatte.
Aber der Arzt ließ keinen Zweifel:
»Machen Sie sich keine Sorgen, Signorina, die ›Geigen‹ sind nur ein
Angstsymptom. Ihren Lungen geht es blendend. Sie leiden an psychisch
bedingtem Asthma. Sie müssen gelassener werden und Ihre Gefühle in den Griff
bekommen.« Ich wusste nicht, ob ich nun lachen oder weinen sollte. Dem Kopf
kann man ja bekanntlich nur schwer etwas befehlen.
Wenn Carlo bei mir war, tröstete er mich in seiner leicht beiläufigen Art. »Was
soll schon sein: Am besten drehst du dich auf die andere Seite. Dann verstummt
die Stradivari bestimmt …« Ich litt und fürchtete, dass ich es nicht mehr bis zum
Ende des Films schaffen würde.
Mein Zustand verschlechterte sich, doch am Ende verdankte ich ihm auch ein
großes Geschenk. Die enge Freundschaft mit Basilio Franchina, die für mich bald
unverzichtbar wurde, nahm bei den Dreharbeiten ihren Anfang. Unsere
Arbeitsbeziehung verwandelte sich unversehens in tiefe Freundschaft, die mir
meine Fröhlichkeit und Kraft zurückgab und mir half, mich selbst zu finden.
Wenn ich mich nun bei Sonnenuntergang schlafen legte, hatte ich seine
freundschaftlichen Ermahnungen im Ohr:
»Sofia, fang nicht wieder mit den Geigen an!«
»Ich fang nicht wieder damit an«, rief ich erschrocken. »Aber du musst in
meiner Nähe bleiben.«
Sobald ich mich schlafen legte, bekam ich schlecht Luft und in schlimmen
Nächten sogar Fieber. Ich führte damals ein Doppelleben: Tagsüber strotzte ich
nur so vor Kraft und Energie, und nachts lag ich schreckerstarrt im Bett, von
Geigen gemartert, die es nicht gab.
Basilio wusste genau, wie er mir und meiner verletzlichen Seele helfen konnte.
Fast unbemerkt wurde er zu einem Teil meines Lebens und unterstützte mich in
meinen schwierigsten Momenten. Als wahrer Freund schenkte er mir, was am
allerwertvollsten ist: die Gabe, ich selbst zu sein.

Stell noch einen Stuhl dazu

Ich hatte schon immer einen sechsten Sinn dafür, zu erkennen, wem ich mein
Innerstes anvertrauen kann. Ich habe mich selten getäuscht. Und wenn doch,
dann schlich ich mich auf Zehenspitzen davon. Ich möchte niemandem wehtun.
Ich leide nicht gern und sehe andere nicht gern leiden.
Eigentlich bin ich ein introvertierter Mensch, der die Ruhe und Einsamkeit
liebt. Die mondäne Welt hat mich immer ermüdet. Ich vertraue Fremden nur
schwer und schenke Bekanntschaften keine große Bedeutung. Ich kann mich auf
meine Intuition verlassen und erkenne sofort, wen ich vor mir habe, ob er es
ehrlich meint und welche Absichten er hegt.
Als ich Basilio das erste Mal begegnete, wusste ich gleich, dass wir Freunde
fürs Leben würden.
Er stammte aus Palermo, war intelligent, gebildet, geistreich und aufmerksam
– und wie viele Sizilianer zurückhaltend. Er erzählte ungern von sich, seinen
Gefühlen, Träumen und Wünschen. Er war mit Renato Guttuso, Luchino Visconti
und Roberto Rossellini und später eng mit Pasolini befreundet und hatte gleich
nach dem Krieg mit Giuseppe De Santis zusammengearbeitet.
Carlo wollte ihn ursprünglich mit der Regie der Frau vom Fluss betrauen,
überlegte es sich dann aber anders. Basilio wurde Drehbuchautor und Executive
Producer, wobei Carlo ihn ausdrücklich bat, sich um meine Dialoge zu kümmern.
Basilio nahm ihm das nicht übel, sondern widmete sich seiner Aufgabe so
engagiert wie immer. Als wir uns kennenlernten, merkte er gleich, wo meine
Schwierigkeiten lagen, und ließ mich nicht einen Moment am Set allein. Unter
anderem, weil ich mit dem ironisch-distanzierten Mario Soldati nicht gut
zurechtkam und wir manchmal unterschiedlicher Meinung waren. Mario war ein
Kopfmensch, ein Intellektueller, der die Dinge auf seine Art erklärte und wenig
Mitgefühl für eine junge Frau hatte, die sich im Kino gerade ihre ersten Sporen
verdiente und lieber aus dem Bauch heraus spielte.
Einerseits war ich Mario gegenüber schüchtern, andererseits wurde ich
allmählich selbstbewusster und wollte auf eine bestimmte Art spielen. Manchmal
gerieten wir dann unweigerlich aneinander. Ich war eine blutige Anfängerin, die
nicht freiheraus sagen konnte, was sie wollte, und dazu wahrscheinlich auch
nicht in der Lage gewesen wäre. Aber ich war überzeugt davon, dass er für den
Film nicht der richtige Regisseur war, und mit Sicherheit war er mir keine Hilfe.
Basilio erkannte dagegen sofort, was ich brauchte, um mein Bestes zu geben.
Er ließ mich nicht aus den Augen, weder in der Maske noch vor, während oder
nach den Dreharbeiten. Abgesehen davon gelang es ihm, mein nächtliches
Phantomorchester zum Schweigen zu bringen. Am Set zeigte er mir, wo die
Kamera war, wo die Markierungen am Boden, und wo ich hinschauen sollte. Mit
Engelsgeduld erklärte er mir alles und gab mir für die dramatischen Szenen
Bilder an die Hand, die mich inspirierten. Abends saßen wir in meinem
Wohnwagen und gingen die Szenen des nächsten Tages durch, besprachen jedes
Detail, welche Saiten ich anschlagen, welche Empfindungen ich in mir wecken
musste. Er half mir, damit ich meine Unsicherheit in Gefühle und meine
Verletzlichkeit in Leidenschaft verwandeln konnte. Und obwohl wir immer am
aktuellen Text arbeiteten und jede Zeile und jeden Einsatz diskutierten, verloren
wir den Schluss des Films nie aus dem Blick. Denn dort wartete die schwierigste
Szene auf mich, die mir alles abverlangen würde.
Anfangs erwähnte er sie nur beiläufig und sprach vage davon. Doch je näher
der Moment rückte, desto deutlicher wurde er. Basilio verstand nicht nur etwas
vom Kino, sondern auch von Psychologie. Er wartete auf den passenden Moment
und wusste, wann seine Ratschläge auf fruchtbaren Boden fielen:
»Stell dir ein kleines, schutzloses Kind vor. Deinen Sohn. Und du, Nives, bist
seine Mutter. Du siehst Wasser, nichts als Wasser, und plötzlich findest du dein
Kind nicht mehr.«
Dann erhöhte er die Dosis:
»Du suchst dein Kind, langsam begreifst du. Dir schwindelt, du glaubst, jeden
Moment den Verstand zu verlieren. Die anderen wollen dir helfen, aber du weißt
nicht, was du tun sollst …«
Ich hing an seinen Lippen. Ich wollte ihm glauben, ich musste ihm glauben,
und obwohl ich wusste, dass das alles erfunden war, ließ ich mich mitreißen und
näherte mich der Figur an, die irgendwo dort auf mich wartete. Ich befolgte
Vittorios Rat und spürte den Gefühlen nach, die Nives vermutlich durchlebte. Ich
ließ nichts unversucht, horchte geduldig in mich hinein und fand erste
Antworten, Annäherungen, wo ich sie am wenigsten vermutet hatte. Wir
arbeiteten so intensiv, dass ich im richtigen Moment nur einmal tief durchatmen
musste und die Szene beim ersten Mal saß. Und wieder hatte ich erfahren, was
Angst und Verletzlichkeit ausrichten können, wenn sie mit Engagement und
Disziplin einhergehen und ein echter Freund einem hilft.
Nur einmal war Basilio unaufmerksam, und das kam ihn teuer zu stehen.
Meinen Gegenpart, Tosca, spielte die Französin Lise Bourdin. Als er sie lange
genug bestürmt hatte und sie endlich an den Strand gingen und sich ein
Plätzchen im Schilf suchten, waren auf einmal alle ihre Kleidungsstücke
verschwunden, ihre und seine. Ich weiß nicht, wie die beiden unvorsichtigen
Verliebten wieder ins Hotel zurückgekommen sind. Vielleicht haben sie ein
Bettlaken stibitzt, das irgendwo draußen hing, oder sie sind einfach gerannt,
keine Ahnung … Jedenfalls wussten bald alle Bescheid und hatten einen
Heidenspaß.
Basilio war für unsere ganze Familie der Fels in der Brandung: für Carlo, für
mich und für uns beide. Meine quälenden Versuche, Mutter zu werden, erlebte er
hautnah mit, und als Carlo jr. in Genf zur Welt kam, betrank er sich so heillos,
dass er auf den Stufen zur Klinik schließlich nicht mehr wusste, wo er war. Er
vergötterte unsere Kinder, und wenn er uns besuchte, spielte er ganze Tage mit
ihnen. Carlo und Edoardo sind jetzt über vierzig, denken aber noch immer mit
Wehmut an ihn. »Wenn Basilio doch da wäre und unsere Kinder sehen könnte«,
sagen sie.
2003 ist unser lieber Freund Basilio in Rom gestorben, allein in seiner
Wohnung. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an ihn denke. Um die Leere zu
füllen, die er hinterlassen hat, rufe ich mir dann unseren langen gemeinsamen
Lebensweg und die Herzlichkeit in Erinnerung, mit der wir uns zugetan waren.
Er hat jeden in unserer Familie auf seine Art geliebt. Und je mehr ich darüber
nachdenke, desto weniger war er eigentlich ein Freund der Familie. Er war ein
Teil davon.

Und Die Frau vom Fluss sollte mir noch ein weiteres Geschenk machen: Ich lernte
den Pianisten Armando Trovajoli kennen, der später die Musik zu einigen meiner
wichtigsten Filme schrieb: Und dennoch leben sie, Gestern, heute und morgen
(Ieri oggi, domani) oder Ein besonderer Tag. Armando Trovajoli, hochgeschätzter
Mitarbeiter in der Produktionsgesellschaft Ponti-De Laurentiis, gehörte zu den
angesehensten Filmkomponisten der italienischen Kinoszene. In seiner Musik
erklang die Seele Roms, sie war die Tonspur unseres Lebens. Der große Pianist
und Jazzliebhaber spielte mit allen Musikgrößen seiner Zeit: Miles Davis, Duke
Ellington, Chet Baker und Django Reinhardt. Als ich ihn kennenlernte, war er
Dirigent eines Unterhaltungsorchesters im italienischen Rundfunk (Rai) und
leitete mit Piero Piccioni die einflussreiche Wochensendung Eclipse. Dino De
Laurentiis und Carlo hatten schon in Bitterer Reis und Anna mit ihm
zusammengearbeitet. In Anna, in dem ich eine winzige Rolle hatte, tanzt Silvana
Mangano zu dem Song El Negro Zumbon, der ein Welthit wurde.
Armando heiratete Anna Maria Pierangeli, wurde jedoch nicht glücklich mit
ihr. Seine zweite Frau, Maria Paola Sapienza, war reizend und liebte ihn
abgöttisch. In ihrem wundervollen Haus im römischen Viertel Olgiata lebten sie
ein Leben für die Musik. In den Sechziger- und Siebzigerjahren wurde Trovajoli
als Komponist für das Duo Garinei und Giovannini zum Inbegriff der
musikalischen Komödie in Italien – und sein Song Roma nun fa la stupida stasera
aus Rugantino wohl für immer unsterblich.
Wenn die Weihnachtsfeiertage nahten, war er immer der Erste, der anrief. Und
wenn er es nicht tat, tat ich es. Das blieb so bis zum Schluss.
»Pronto, Sofia? Armando hier. Stell noch einen Stuhl dazu …«, trällerte er und
spielte damit auf einen seiner großen Erfolge an: die Komödie Aggiungi un posto
a tavola, für die er die Musik geschrieben hatte.
»… weil noch ein Freund kommt!«, antwortete ich dann und freute mich, seine
Stimme zu hören.
Wir hatten immer einen Riesenspaß. Weihnachten ist nicht mehr dasselbe,
seitdem er gestorben ist.
Es kann sein, dass wir uns schon am Set von Zwei Nächte mit Kleopatra (Due
notti con Cleopatra) über den Weg gelaufen waren, jedenfalls lernten wir uns erst
bei den Dreharbeiten zur Frau vom Fluss näher kennen. Wir waren uns gleich
sympathisch. Alle bei uns zu Hause, Mamma Luisa, Mammina, Maria und ich,
sangen schrecklich gern. Ich war wahrscheinlich die schlechteste Sängerin von
uns allen, auf jeden Fall die schüchternste. In der Öffentlichkeit zu singen war
mir einfach peinlich. Trotzdem sang und singe ich wahnsinnig gerne.
Trovajoli fand, meine Stimme habe etwas Strahlend-Sinnliches, und obwohl
ich keine Stimmbildung hatte, wollte er, dass meine Stimme möglichst natürlich
blieb. Er vertrat damit eine ähnliche Einstellung wie Vittorio De Sica, was mein
Spielen betraf. Er gab mir Rückhalt, vermittelte mir einige technische Kunstkniffe
und schenkte mir viel Freude – und ein Lied.
1958 komponierte er für mich Che m’e ’mparato a fa’, nach einem Text von
Dino Verde. Der Song wurde ein großer Erfolg. Er schrieb ihn eigens für mich,
die Melodie passte genau zu meiner Stimmlage. Nicht in meinen kühnsten
Träumen hätte ich mir vorstellen können, dass jemand je einen Song für mich
komponieren würde, noch dazu ein Maestro wie Trovajoli!
Als er 2013 mit fünfundneunzig Jahren starb, ging auch ein Kapitel meines
märchenhaften Lebens zu Ende. Zum Abschied habe ich leise vor mich
hingesungen: »Capre, Surriento e ’sta luna, se ne so’ xiute cu’ ttè – Capri, Sorrent
und der Mond sind mit dir fort gegangen.«
Der Ring

Mit dem Ende der Dreharbeiten zu Die Frau vom Fluss begann für mich ein neues
Leben, und mein Asthma verschwand so plötzlich, wie es gekommen war,
offenbar war es tatsächlich psychosomatisch. Ich hatte zwei neue Freunde
gewonnen, eine Charakterrolle gespielt, die aus der Pizzabäckerin in Gold von
Neapel eine echte Schauspielerin gemacht hatte, und, was am wichtigsten war:
Ich trug nun einen Ring.
Am letzten Tag unserer Dreharbeiten war Carlo mit einer kleinen Schachtel
am Set erschienen. In einer Drehpause nahm er mich zur Seite und überreichte
sie mir wortlos. Wir hatten über unsere Beziehung nie gesprochen und taten es
auch in diesem Moment nicht. Die Welt hörte auf, sich zu drehen, ich rannte weg,
und sobald ich um die Ecke war, fing ich an zu weinen – vor Freude. Ines Bruscia
– damals Scriptgirl und schon bald meine rechte Hand, die mich im Privat- und
Berufsleben begleitete – lief mir besorgt hinterher. Sie verstand nicht, was los
war, doch als sie den Grund meiner Tränen erfuhr, weinte sie aus Rührung mit.
Sie ist eine zurückhaltende Frau, die uns unser ganzes Leben wohlwollend und
tatkräftig zur Seite gestanden ist. Ohne sie wäre ich ein anderer Mensch und eine
andere Schauspielerin geworden.
Als ich nach Rom zurückkehrte, hatte ich neue Erfahrungen gemacht, viele
Ängste besiegt und einen Ring am Finger. Voller Stolz präsentierte ich ihn meiner
Mutter. Ich hielt meine Hand ins Licht, damit der Diamant noch schöner glitzerte,
und meine Mutter sagte, was wohl jede Mutter sagen würde, erst recht eine mit
ihrem Charakter und ihren Erfahrungen:
»Was willst du denn von dem? Nun ’o vide ch’è spusato, tenne ddoje figl’ ’e
vint’ann’ cchiù ’e te? − Du weißt doch, dass er Familie hat. Und er ist zwanzig
Jahre älter als du! Was erwartest du denn? Lass die Finger davon, solange es noch
geht. Du hast dein Leben noch vor dir. Du bist doch noch jung …«
Ich wusste nicht, was ich auf ihre wiederholte Frage, ob wir denn über eine
gemeinsame Zukunft gesprochen hätten, antworten sollte. Ich wusste nur, dass
ich ihn liebte und er der Mann meines Lebens war.
Mammina, Maria und ich zogen aus der Via Balzani in die Via di Villa Ada, im
Viertel Salario, nahe der Priscilla-Katakomben. Allerdings verbrachte ich immer
mehr Zeit mit Carlo in seiner großen Wohnung, die über seinen Büroräumen im
Palazzo Colonno an der Piazza D’Aracoeli lag. Seine Ehe bestand nur noch auf
dem Papier, doch er war Vater zweier kleiner Kinder. Das bekümmerte mich, ich
litt darunter. Es tat mir leid für sie, aber was hätte ich tun können? Liebend gern
hätte ich schneller klare Verhältnisse gehabt, aber letztendlich vertraute ich auf
unsere Liebe und fühlte mich nun endlich bereit, sie zu leben.
1954 war für mich das Jahr der großen Veränderungen, der überraschenden
Wendungen und rasanten Entwicklungen, hinter die es plötzlich kein Zurück
mehr gab. Ich lernte De Sica und Marcello kennen, arbeitete unter Blasetti und
Soldati, sang und spielte mit großen Schauspielern, wechselte vom komischen ins
tragische Fach, blieb dennoch ich selbst und gab meiner Beziehung zu Carlo eine
Richtung. Ich wurde langsam ein Star. Man sprach über mich. Im Frühjahr fuhr
ich das erste Mal nach Cannes und präsentierte dort Karussell Neapel (Carosello
napoletano). In dem einzigen großen Film von Ettore Giannini, der es nach
Meinung der Kritiker durchaus mit amerikanischen Musicals aufnehmen konnte,
hatte ich eine kleine Rolle: Ich sang, synchronisiert, O surdato ’nnammurato.
Im Juni war ich in Berlin, wo das berühmte Foto entstand, auf dem ich neben
Gina Lollobrigida und Yvonne De Carlo zu sehen bin. Und als die Dreharbeiten in
Comacchio beendet waren, ging es weiter nach London, wo man mich zum
italienischen Filmfestival eingeladen hatte.
Im Dezember kamen Das Gold von Neapel und Die Frau vom Fluss in die
Kinos, und Weihnachten stand ich erstmals als Pizzabäckerin auf der Piazza San
Babila in Mailand und verteilte Hunderte von Pizzen an hungrige Fans. Schon am
Bahnhof empfing mich eine jubelnde Menge, darunter der Bürgermeister Virgilio
Ferrari. Auf einmal war ich eine Diva mit einem Pressebüro, das an meinem
Image feilte. Doch in meinem Inneren blieb ich das kleine Mädchen mit den
großen Augen, das seinen Schauspielertraum träumte – und eine Frau, die sich
wie jede Frau nach einem Zuhause mit Mann und Kindern sehnte. Man wächst
mit seinen Aufgaben, und ich wuchs mit meinem kleinen großen Traum, den ich
Tag für Tag, Zeile für Zeile, Seite für Seite ein kleines bisschen weiterschrieb.

Wie herrlich, Sophia zu sein

Die Frau vom Fluss hielt noch andere Überraschungen für mich bereit. Eines
Tages, wir drehten gerade die Schlussszenen am Leuchtturm von Punta Pila,
näherte sich uns ein Boot. Der Mann, der es ruderte, wirkte, als hätte er in seinem
Leben nie etwas anderes getan. Ich hielt ihn für einen neugierigen Fischer, doch
dann erkannte ich, wer da in Badehose und mit einem T-Shirt als Sonnenschutz
um den Kopf vor mir stand. Ich war sprachlos.
»Ich möchte, dass du in meinem nächsten Film mitspielst«, sagte die seltsame
Erscheinung zu mir, ohne mich überhaupt zu begrüßen. Ich brach in Lachen aus
und fiel ihm um den Hals. Es war Alessandro Blasetti, und er sprach von seinem
Film Wie herrlich, eine Frau zu sein (La fortuna di essere donna), in dem ich im
darauffolgenden Jahr wieder mit Marcello vor der Kamera stehen sollte. Doch
zunächst gab es noch einige kleinere Gipfel zu erstürmen.
Das Jahr 1955 begann gut. Bei der »Gran Gala del Cinema« am 15. Januar
wurde ich von der italienischen Zeitschrift Guild ausgezeichnet und damit –
neben Anna Magnani, Gina Lollobrigida und Silvana Mangano, die die
Auszeichnung vor mir erhalten hatten – in den Rang der großen italienischen
Schauspielerinnen erhoben.
Zu diesem Zeitpunkt war ich schon einige Wochen mit den Dreharbeiten zu Im
Zeichen der Venus (Il segno di Venere) beschäftigt. Die wunderbare Komödie war
exzellent besetzt: mit De Sica, Peppino De Filippo, Raf Vallone, Tina Pica, Alberto
Sordi und vor allem Franca Valeri, die auch zu Story und Drehbuch beigetragen
hatte. Die Komik des Films lebte davon, dass Franca und ich unterschiedlicher
kaum sein konnten. Geschickt ließ der Film unsere physischen, geografischen und
sprachlichen Gegensätze aufeinanderprallen und brachte damit nicht nur die
Zuschauer, sondern auch uns zum Lachen. Der Regisseur war Dino Risi, dem ich
dort zum ersten Mal begegnete.
Ich spiele Agnese und Franca meine Kusine Cesira Colombo, die auf der Suche
nach Arbeit und der großen Liebe gerade aus Mailand nach Rom gekommen ist.
Laut meiner Kusine laufe ich mit vorgestreckter Brust durch die Gegend und
provoziere die Männer mit dem bisschen, was ich habe, nur damit sie mich
anglotzen. Cesira schaut dagegen keiner an, sie giert nach Aufmerksamkeit und
lässt sich von der Wahrsagerin Pina einreden, sie stünde gerade im Zeichen der
Venus: Für kurze Zeit habe sie die Chance, ihren Traumprinzen zu finden, wenn
sie nur die Augen offen halte. Doch zu ihrem Leidwesen verlieben sich alle
Männer in ihrer Umgebung – ob Fotografen, Schriftsteller, Polizisten oder
Gebrauchtwagenhändler – früher oder später in Agnese, abgesehen von denen,
die nur auf ihren Vorteil aus sind. Das Ende des Films ist bittersüß: Cesiras
romantischer Traum löst sich schließlich in Luft auf, und sie bleibt einsam und
enttäuscht zurück.
Franca Valeri ist eine phantastische Frau, der ich viel verdanke. Wir standen
und stehen uns sehr nahe.

Im Sommer brachte mich Risi erneut auf die Leinwand. Im dritten Teil der »Liebe
und Brot«-Reihe spielte ich zusammen mit De Sica. In den beiden ersten Teilen,
Liebe, Brot und Phantasie (Pane, amore e fantasia) und Liebe, Brot und Eifersucht
(Pane, amore e gelosia), hatte Luigi Comencini Regie geführt. Ihren großen
kommerziellen Erfolg verdankten diese Filme hauptsächlich Gina Lollobrigida,
die man inzwischen nur noch »La Bersagliera« nannte, nach der resoluten
Frauenfigur, die sie dort verkörperte, und der Komik von De Sica, dem reifen
Polizeimarschall, der aus seiner Heimat Sorrent nach Sagliena in den Abruzzen
versetzt worden war. Die »Lollo« war der erste italienische Leinwandstar, der
Prototyp der Sexbombe, wie De Sica sie in Andere Zeiten (Altri tempi) nennt.
Damals steckte man mich und manch andere Schauspielerin gern in diese
Schublade, obwohl wir in Wahrheit sehr unterschiedlich waren und jede ihren
eigenen Weg ging.
Die Welt war eine andere geworden, der Krieg war weit weg und das
Wirtschaftswunder in vollem Gange. Das italienische Kino verlor seinen
sozialkritischen Anspruch und wandte sich dem populären Kassenschlager zu.
Doch weil in der Commedia all’italiana so viele erfahrene Schauspieler,
Drehbuchschreiber und Regisseure mitwirkten, brachte die italienische Komödie
wahre Meisterwerke hervor, die auf vielfältige Weise erzählten, wie sich ein Land
veränderte.
Beim dritten Teil der »Liebe und Brot«-Reihe wollte Gina Lollobrigida nicht
mehr mitwirken. Vielleicht wollte sie sich nicht zur Gefangenen ihrer eigenen
Rolle machen, vielleicht reizte sie die Möglichkeit, die sich ihr mit Die schönste
Frau der Welt (La donna più bella del mondo) bot. Denn trotz ihrer wunderbaren
Stimme hatte sie noch nie in einem Film gesungen, und dieser romantische Film
erzählte das Leben der Sängerin Lina Cavalieri.
Als man mir anbot, für sie einzuspringen, zögerte ich nicht einen Moment. Die
Presse machte daraus dann einen Riesenwirbel und dichtete uns eine Rivalität an,
für die es nicht den leisesten Grund gab: Wir waren völlig unterschiedliche
Frauen und Schauspielerinnen, und der Erfolg der einen bedeutete keineswegs
den Misserfolg der anderen. Aber so ist die Welt nun mal, und warum hätte es in
Italien anders sein sollen? Das Land war vernarrt in große Duelle: ob Radfahrer
Fausto Coppi gegen Gino Bartali, Maria Callas gegen Renata Tebaldi oder, warum
nicht, Lollo gegen Loren. Doch ich und Gina liebten vor allen unseren Beruf. Wir
hatten gar keine Zeit für Intrigen und Geplänkel.
Die Hauptrolle in Liebe, Brot und 1000 Küsse zu spielen war mehr als
verlockend. Warum hätte ich die Chance nicht ergreifen sollen? Ich freute mich
allein schon deshalb, weil ich wieder mit De Sica vor der Kamera stehen konnte.
Mit ihm machte die Arbeit Spaß, ich lernte viel und konnte Seiten von mir
zeigen, die ich sonst eher für mich behielt. Seine ansteckende Fröhlichkeit, seine
große Erfahrung und sein unfehlbarer Blick ermutigten mich, und wie von allein
spielte ich immer besser. Kurzum: Ich lernte mein Handwerk. Hinzu kam, dass
wir in unserer Heimat drehen sollten und mit Risi unter einem Regisseur, der
mich verstand und mich geschickt in Szene zu setzen wusste.
Da waren wir also in Sorrent: Vittorio ist als Marschall Antonio Carotenuto
gerade aus den Abruzzen zurückgekehrt und glücklich zum Polizeichef ernannt.
Seine treue Haushälterin Caramella, die großartige Tina Pica, ist eigentlich schon
in Pension, passt aber auf ihn auf, weil er bei seiner Rückkehr ausgerechnet auf
mich trifft: auf Sofia, die Fischverkäuferin und Mieterin seines Hauses, die
keineswegs vorhat auszuziehen.
Die Fischverkäuferin verkauft den Fisch so verführerisch wie die
Pizzaverkäuferin ihre Pizza: »Frische Fische, Langusten, Rotbarsch, Frutti di mare
– kauft bei Sofia!« In der Figur der Sofia konnte ich mich voll und ganz ausleben,
vor allem, weil ich Vittorio hinter mir wusste. »Sie haben mir schon völlig den
Kopf verdreht«, sagt der Frauenheld in Polizeiuniform. Höhepunkt des vor Witz
und Vitalität strotzenden Films ist zweifellos die legendäre Szene, in der wir
Mambo tanzen: ich in meinem roten Kleid und Vittorio, der verblüfft versucht,
meinen Schritten zu folgen.
Die Szene ist vielleicht deshalb so gelungen, weil in ihr – neben der
phantastischen Kamerakunst eines Peppino Rotunno – viel Spontaneität spürbar
wird. Die Szene stand nicht im Drehbuch. Wir hatten einfach Lust, zu tanzen,
und tanzten so unbefangen, wie man einen Witz macht, eine Runde spazieren
geht oder sich an der nächsten Ecke ein Eis kauft.
»Commandante, wie wär’s mit dem Mambo?«
»Wie geht denn Mambo?«
»Ja so – ein brasilianischer Tanz …«

Einige sahen in dem Film den Untergang des Neorealismus, die »Accademia del
Cinema Italiano« zeichnete ihn jedoch gleich mit zwei »David di Donatello«-
Preisen aus, und das Publikum kürte ihn zum Kassenschlager. Aus der
Pizzabäckerin in Schwarz-Weiß war nun eine Fischverkäuferin in Farbe
geworden, die vielleicht nicht ganz so authentisch, aber sicher moderner und
populärer war.
Mein Name ging um die Welt: Mein Gesicht blickte mir sogar von den
Titelseiten namhafter Magazine wie Life und Newsweek entgegen.
Im Herbst drehte ich schließlich mit Marcello den Film, für den Blasetti mich
unbedingt gewollt hatte: Wie herrlich, eine Frau zu sein. Der Film zeigt das Rom
der Möchtegern-Diven, Paparazzi und Journalisten so, wie es war. Für Marcello
war es die Generalprobe zu Das süße Leben (La dolce vita), für mich ein
Wendepunkt in meinem Leben: Aus Sofia wurde jetzt wirklich Sophia, und
Sophia war bereit für Hollywood.
6 Rosen von Cary

Happy thoughts

Meine erste Begegnung mit dem amerikanischen Kino trug das unwiderstehliche
Lächeln von Cary Grant, dem eleganten Filmstar mit dem beschwingten Gang.
Welche Frau hätte da nicht liebend gern mit mir getauscht? Doch ausgerechnet
ich mit meinen Unsicherheiten, der schwierigen Vergangenheit und dem Ehrgeiz,
immer besser zu werden, sollte die Gelegenheit bekommen, mit ihm zu arbeiten.
Das war meine Chance, und ich durfte mir keinen Fehler erlauben. Ich sah die
Rolle als meine Aufgabe an, als meine Pflicht, die meine ganze Aufmerksamkeit
verdiente. Nicht mehr und nicht weniger. Irgendwann hörte ich einfach auf, mir
Fragen zu stellen, schob meine Angst beiseite und machte mich an die Arbeit.
Bei Carlo gingen seit einiger Zeit internationale Anfragen für mich ein, und ein
paar Monate zuvor hatte er mir ein Telegramm aus Los Angeles geschickt, in dem
er mir in knappem, väterlichem Ton mitteilte:
»Sophia, du musst Englisch lernen, wenn du Amerika erobern willst.«
Noch während er seiner Sekretärin das Telegramm diktierte, sprach er am
Telefon mit der Frau, die das möglich machen sollte: mit der legendären und
unvergesslichen Sarah Spain.
»Miss Spain, Ponti am Apparat, wie sehen Ihre Pläne für die nächsten Monate
aus?«, überfiel er die Arme, die kaum zu Wort kam. »Miss Loren muss Englisch
lernen. Sie muss auf Englisch denken, essen und sogar träumen. Kurzum auf
Englisch leben, als wäre sie in Dublin oder New York geboren. Sie sind ihr
Schatten, stehen ihr überall mit Rat und Tat zur Seite und nutzen jede
Gelegenheit, ihr etwas beizubringen.«
»Aber ich …«
»Ich bitte Sie, sagen Sie nicht Nein. Sie haben andere Verpflichtungen? Machen
Sie sich einfach davon frei. Wir fangen morgen früh an.«
Sarah war Irin und sprach ein sehr weiches Englisch. Wenn man die
dunkelhaarige, rundliche Frau sah, schien es, als ob sie nicht lief, sondern
dahinfloss. Nachdem sie sich gefangen hatte, nahm sie den ehrgeizigen Auftrag
an und Ponti beim Wort: Sie unterrichtete mich nicht, sondern verfolgte mich auf
Schritt und Tritt. Sie erschien – es war im September 1955, wir drehten Wie
herrlich, eine Frau zu sein – zwei Stunden vor der Maske am Set, stand in jeder
Pause neben mir, aß mit mir und begleitete mich abends nach Hause. Wenn ich
ein paar Worte mit Marcello oder Blasetti wechseln wollte, zog sie mich
erbarmungslos weg. »Sophia, come along, take a look at this, what do you think
of that? Would you like some coffee? What about your next film?« Mastroianni
zuckte nur mit den Schultern und zwinkerte mir amüsiert zu. »Was sein muss,
muss sein.«
Sarah begann mit der Grammatik, machte mit T. S. Eliot und Bernard Shaw
weiter, ließ aber auch Comics und Lieder, Zeitschriften und Zeitungen nicht aus.
Wir lasen die Times und Vogue, Shakespeare und Mickey Mouse, Jane Austen
und Little Women. Wir hörten Frank Sinatra und Louis Armstrong, sangen
Gershwin und Cole Porter auswendig, unterhielten uns über Kleider und Hüte,
Essen und Politik. Wir gingen geduldig alle Fachausdrücke am Set, von der
Beleuchtung bis zur Klappe, durch und sahen uns schließlich die Filme meiner
Kindheit an, damit ich die verschiedenen Akzente meiner ach so geliebten Diven
kennenlernte. Und sie mit ihrer jeweiligen Originalstimme reden hörte. Sie
sprachen weich, mit ironischem Unterton, kurzum ganz anders als die harten
Synchronstimmen, die natürlich trotzdem ein Wunder vollbracht hatten. Ich war
verwirrt, aber die Sache machte mir Spaß.
Sarah ließ mir nicht eine freie Sekunde, und ich tat eifrig, was sie sagte.
Glücklicherweise habe ich ein gutes Sprachohr. Ich machte also fleißig meine
Hausaufgaben, wurde von Tag zu Tag besser, und trotzdem reichte es nie. Schuld
daran war auch, dass in der Zwischenzeit etwas geschehen war, das mir wie ein
Wunder erschien. Die meisten Wunder geschehen ja bekanntlich immer dann,
wenn man nicht mit ihnen rechnet.
Carlo hatte erfahren, dass sich Stanley Kramer, der Produzent von Zwölf Uhr
mittags (High Noon), in Spanien aufhielt, um die Dreharbeiten für einen
Kostümfilm über die napoleonischen Kriege vorzubereiten. Zunächst waren
Marlon Brando und Ava Gardner für die Hauptrollen vorgesehen, doch Brando
zog sich aus dem Projekt zurück. Nun sollte Frank Sinatra seinen Part
übernehmen, der hatte sich aber mit Ava entzweit, kurzum, es herrschte das
übliche Hollywoodchaos. Sicher war eigentlich nur die Mitarbeit von Cary Grant,
der seine Partnerinnen laut Vertrag aber ablehnen durfte und bestimmt keine
Unbekannte, noch dazu eine Italienerin, an seiner Seite dulden würde.
Aber Carlo ließ sich wie immer nicht entmutigen, griff zum Telefonhörer und
lud Kramer nach Rom ein, wo er ihm Die Frau vom Fluss zeigte. Kaum war die
Vorführung zu Ende, kam ihm der Regisseur überraschend zuvor:
»Was halten Sie von 200 000 Dollar für Miss Loren? Ich denke, sie wäre für die
Rolle die ideale Besetzung.«
Carlo blieb ganz ruhig, ließ einige Sekunden verstreichen und sagte
zurückhaltend: »Ein interessantes Angebot, ich werde darüber nachdenken und
schauen, welche Verpflichtungen sie in nächster Zeit hat, aber grundsätzlich kann
ich sagen: Das lässt sich wohl einrichten.«
»Es war die leichteste Entscheidung meines Lebens«, sagte er am Abend, als
wir in einem Restaurant auf Stanley warteten. Das war eine Stargage. Jetzt
musste ich sie mir nur noch verdienen.

Nachdem wir den Vertrag Ende Dezember unterschrieben hatten, setzte die
Filmgesellschaft United Artists ihre Propagandamaschine in Gang. Es war
Anfang 1956, in Cortina d’Ampezzo fanden die Olympischen Winterspiele statt,
und in Monte Carlo bereitete man sich auf die Hochzeit von Fürst Rainier mit
Grace Kelly vor. Wenige Monate später sollten Arthur Miller und die glücklose
Marilyn es ihnen gleichtun. Während der sowjetische Traum die ersten Risse
bekam, legte man in Italien den Grundstein für die Autostrada del Sole. Die Welt
veränderte sich rasant, aber ich war bereit, es mit ihr aufzunehmen.
Im Februar flog ich als Vorposten nach Spanien. Am Flughafen Madrid-Barajas
erlebte ich die erste Überraschung: Ungefähr fünfhundert Fans empfingen mich
mit »Guapa, guapa!«-Rufen. Doch es warteten noch ganz andere
Überraschungen auf mich.

In Madrid traf ich Lucia Bosé, die ich seit meiner Jugend verehrte, und ihren
faszinierenden Mann Dominguín, den großen Matador. Welche bessere
Begleitung hätte ich haben können, um mich in die Welt des Stierkampfs zu
stürzen? Wir wollten ein bisschen schlendern, uns vergnügen und ein paar
witzige Fotos schießen.
Es war ein klarer Winternachmittag, als die Madrider Stierkampfarena »Plaza
de Toros de Las Ventas« plötzlich sonnendurchflutet vor mir lag. Unerfahren, wie
ich mit meinen zwanzig Jahren war, hielt ich es für eine gute Idee, die Treppen
hinabzusteigen und die leere Arena zu betreten. Ich fühlte mich unbesiegbar, als
könne mich meine Torera-Kleidung vor allem beschützen. Ausgerechnet in dem
Moment ließ Dominguín, der sich vermutlich einen kleinen Spaß erlauben wollte,
den Stier nach draußen. Dann ging alles blitzschnell. Als die dunkle Staubwolke
herangaloppierte, um mich auf die Hörner zu nehmen, erfasste mich eine
Mischung aus Aufregung und Angst, die ich nie vergessen werde. Dominguín,
der ein Spaßvogel sein mochte, aber selbst die leiseste Gefahr roch, stürzte in die
Arena und riss mich zur Seite. Außer Atem und von oben bis unten eingestaubt,
lachte ich ihn an, völlig ahnungslos, welcher Gefahr ich gerade entronnen war.
Im letzten Teil des Stierkampfs, der suerte suprema, war ich klüger und blieb
ordnungsgemäß im callejón, dem schmalen Gang zwischen der hölzernen Wand
und der ersten Sitzreihe des Publikums. Während ich von dort das Spektakel
genoss, dachte ich daran, wie oft ich als Kind Mammina oder Zia Dora genötigt
hatte, mit mir ins Filmtheater Sacchini zu gehen, um König der Toreros zu sehen.
Manchmal mussten sie den Film zwei oder drei Mal am Tag über sich ergehen
lassen, weil ich hoffnungslos in Tyrone Power verliebt war. Und abends beim
Einschlafen dachte ich an Doña Sol des Muire, an Rita Hayworths Gesicht und
vor allem an ihr Haar.
Immer wieder tauchten Erinnerungen an meine Kindheit auf, die mich tief
berührten. Obwohl ich nun meinen Weg gefunden hatte, konnte ich nicht
vergessen, wie ich inmitten von Krieg und Hunger und ohne Vater, der mir zur
Seite stand, nur diesen einzigen Ausweg gesehen hatte: mich meinen Träumen
hinzugeben. Das kleine Mädchen, die »Bohnenstange« mit ihren Problemen und
Märchenträumen, lebt noch heute in mir fort und erinnert mich daran, dass
nichts im Leben selbstverständlich ist. Doch darin liegt auch mein Glück, weil ich
mich so jeden Tag an all dem Wunderbaren erfreuen kann, das ich erlebt und
erreicht habe. Wenn es den Träumen an Leben mangelt, verlieren sie ihre Kraft –
und umgekehrt. Am schönsten ist es, wenn man sich in beiden Welten bewegt
und auf keine von beiden verzichten muss.

Doch obwohl ich einem entfesselten Stier getrotzt hatte, lag die größte Hürde
noch vor mir. Im April fand im Madrider Castellana Hilton eine Cocktailparty
statt, auf der der Film präsentiert und ich Sinatra und Grant vorgestellt werden
sollte. Ich muss gestehen, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie so aufgeregt
war. Ich zog mich mindestens acht Mal um, probierte elf verschiedene Frisuren
aus, schlüpfte in Schuhe mit hohen und weniger hohen Absätzen und war doch
nicht zufrieden. Während ich mich schminkte, ging ich mit Sarah meine
englischen Sätze durch. Sie spielte einmal Grant, dann Sinatra und dann die
Journalisten, die nur auf einen Fehler von mir lauerten. Sie bombardierte mich
mit Fragen, und ich gab die passende Antwort: I’m so pleased to meet you,
Mr. Grant … I’m looking forward to working with you, Frank … Sure, I love
singing … No, it’s my first time in Madrid. Yes, of course you’re right, my English
is still sort of shaky, but it’s getting better every day … I beg your pardon? Oh,
yes, I definitely enjoy eating paella. Ich konzentrierte mich auf mein Englisch und
dachte an die beiden Superstars, denen ich in Kürze gegenübertreten sollte. Ich
wäre sogar in Panik geraten, wenn sie aus Neapel gewesen wären. Mir
schlotterten die Knie, und ich überlegte ununterbrochen, welchen
Gesichtsausdruck ich bloß aufsetzen sollte. Das Gute war allerdings, dass ich für
meine Vorbereitungen alle Zeit der Welt hatte. Cary erschien erst mit zwei
Stunden Verspätung und Frank nach weiteren zwei Stunden, als wir schon
dachten, er käme gar nicht mehr.
In dem Saal wimmelte es vor Journalisten und Fotografen, die alle nur Englisch
sprachen, noch dazu mit den unterschiedlichsten Akzenten. Ich verstand nur ein
Viertel von dem, was ich gefragt wurde, und überspielte den Rest mit einem
Lächeln in allen Variationen: sanft, sexy, rätselhaft, selbstbewusst … Von wegen
Fotoromane!
Als Carys unverwechselbares Profil schließlich im Türrahmen erschien, fühlte
ich mich der Ohnmacht nahe. Es war so weit. Während ich langsam auf ihn
zuging, sprach ich mir Mut zu und versuchte, so unbefangen wie möglich zu
wirken. Sein Smoking mit glänzendem Revers, das leicht grau melierte Haar, die
Eleganz seiner Erscheinung raubten mir den Atem. Er schien geradewegs der
Leinwand entstiegen, ein fleischgewordener Traum. »Was suche ich hier?«,
dachte ich, als sich unsere Blicke trafen. »Am besten mache ich mich schnellstens
aus dem Staub …«
Zu spät. Er reichte mir die Hand, der Schalk blitzte in seinen Augen, und er
sagte:
»Miss Lolloloren, I suppose? Or is it Miss Lorenigida? Ich kann mir diese
italienischen Namen einfach nicht merken!«
Sehr witzig, dachte ich. Alle Welt redete damals von nichts anderem als von
der angeblichen Rivalität zwischen Gina Lollobrigida und mir, ich konnte es nicht
mehr hören. Am liebsten wäre ich im Erdboden versunken. Das ist ja nicht zum
Aushalten, dachte ich.
Doch dann musste ich lachen. Herausgeputzt, wie ich für die Cocktailparty
war, ging ich den einfachen Weg: Ich streifte die Rolle der Diva ab und war
einfach ich selbst. Jetzt machte es mir Spaß, ihn zu beobachten, seinen Blicken
standzuhalten, mich in seinen geschmeidigen Gesten zu verlieren, etwa wenn er
den Kopf seitlich neigte und mich wissend anschaute. Kurzum, ich lernte ihn
kennen, seinen Humor schätzen und wusste bald, wie ich ihn zum Schmunzeln
bringen konnte. Wer konnte dem Charme von Cary Grant schon widerstehen? Es
war der Beginn einer großen Freundschaft, einer ganz besonderen Verbundenheit,
die unter anderem entstehen konnte, weil uns die sechs langen Monate, in denen
wir Stolz und Leidenschaft (The Pride and the Passion) drehten, ausreichend Zeit
gaben, unsere Starallüren abzulegen und uns dem anderen so zu zeigen, wie wir
waren.
In Begleitung einer riesigen Kanone, dem eigentlichen Hauptdarsteller,
durchquerten wir das unwegsame Gelände der Region Castilla y León. Ein
Filmtross aus sage und schreibe vierhundert Technikern, Kameraleuten,
Schauspielern und sogar Militärberatern bewegte sich von Segovia nach
Salamanca, von Burgos nach Palencia. Die Produktionskosten dieses Films hätte
selbst der größte Kassenschlager nie wieder einspielen können. In den großen
Feldschlachten tummelte sich neben den Hauptdarstellern, Grant, Sinatra und
mir, ein Heer aus Komparsen. Die letzten Wochen der Dreharbeiten verbrachten
wir damit, Ávila zu belagern und die mächtigen Stadtmauern mithilfe von 3685
Soldaten − so steht es zumindest in den Geschichtsbüchern − zu bezwingen. Die
Arbeitsbedingungen waren hart, es war heiß, und auf dem Set wimmelte es nur
so von Menschen. Ich musste unweigerlich an Quo vadis? denken, an jenes
Gefühl der Ohnmacht, das mich damals in Cinecittà als blutige Anfängerin
befallen hatte. Ich versuchte, bei der Sache zu bleiben und mich so gut es ging auf
meine Rolle zu konzentrieren, und am Ende überraschte ich alle mit meiner
Ausdauer und meiner guten Laune.
Sinatra war ein ganz reizender Mann. Er war gutmütig und unterhaltsam,
obwohl er damals unter der Trennung von Ava Gardner litt und nicht in
allerbester Verfassung war. Er scherzte gern, aber in seinem Herzen weinte er
bittere Tränen. Er zog mich auf, verhätschelte meine Schwester Maria, die vom
Singen träumte, und verwirrte mich in meinem noch immer unsicheren Englisch,
indem er mir Obszönitäten als elegante Wendungen verkaufte. Am Set sang er
nie, doch in seiner Garderobe hortete er eine Klassiksammlung, die von Bach bis
Beethoven, von Verdi bis Scarlatti reichte. Er eröffnete mir die Welt des Jazz und
spielte mir Ella Fitzgerald vor, seiner Meinung nach die größte Sängerin aller
Zeiten. Er war jähzornig und großzügig, manchmal unberechenbar, aber immer
aufrichtig, und er leistete mir häufig Gesellschaft.
Wirklich hingerissen war ich allerdings von Cary. Er war wesentlich
zurückhaltender, besaß tadellose Manieren und strahlte eine große Lebensfreude
aus. Als er mich das erste Mal in ein Restaurant einlud, glaubte ich an ein
Missverständnis und fragte naiv, wie ich war: »You and me? Out for dinner? Are
you sure?« Was fand er an mir, an dieser italienischen jungen Frau, die nur
mühsam englisch sprach und gerade mal halb so alt war wie er? Worüber sollten
wir den ganzen Abend reden? Er ließ sich nicht aus der Ruhe bringen: »Yes
darling, nur du und ich.«
Er hatte sich einen flammendroten MG besorgt – am Set erfüllte man ihm
jeden Wunsch –, und damit fuhren wir durch die sanfte spanische
Hügellandschaft. Es war ein zauberhafter Abend, der Zeit und Raum vergessen
ließ, und trunken vom Duft des Spätfrühlings unterhielten wir uns wie alte
Freunde. »Erzähl«, sagte ich, und er erzählte mit Leichtigkeit.
»Hollywood ist ein ganz simpler Traum. Wenn du das nie vergisst, kann dir
nichts passieren.« Zwischendurch kommentierte er murmelnd die Gerichte, die
man uns brachte.
Sein trockener Humor, seine Klugheit und Wärme, seine Erfahrung faszinierten
mich. Allein wenn ich beobachtete, wie er das Leben und seinen Beruf anging,
lernte ich dazu.
Wir verbrachten immer mehr Zeit zusammen. Ich war ganz verwirrt, ich war
erst zweiundzwanzig, in meinem Leben ging alles viel zu schnell. Er hatte mit
seinen zweiundfünfzig Jahren schon allerhand erlebt und auch erlitten, obwohl es
ihm scheinbar an nichts mangelte.
Archibald Alexander Leach, wie er eigentlich hieß, der zum dritten Mal
verheiratet war und auf große Schauspielerfolge zurückblicken konnte, hatte
keine einfache Kindheit gehabt. Seine Mutter war nie über den Tod ihres
erstgeborenen Kindes hinweggekommen und langsam in eine Welt geistiger
Umnachtung abgeglitten. Beinahe beschämt und tief bewegt erzählte er mir seine
Geschichte:
»Eines Tages, ich war ungefähr zehn Jahre alt, kam ich nach Hause, und meine
Mutter war nicht da. Mein Vater erklärte mir, sie sei tot, aber in Wahrheit hatte er
sie in die Psychiatrie eingeliefert, was ich erst Jahre später herausfand … Ich habe
sie dann so oft besucht, wie ich konnte.«
Die seelischen Qualen, von denen er erzählte, berührten mich tief. Im Stillen
versuchte ich, hinter dem eleganten Erscheinungsbild den Jungen zu sehen, der
eine für ihn unerklärliche Tragödie erlebte. Ich wünschte mir, ich hätte damals da
sein, ihn trösten, in den Arm nehmen und ihm all seinen Schmerz nehmen
können. Als ich ihn bat fortzufahren, wählte er seine Worte mit Bedacht.
»Mein Vater schickte mich in ein ausgezeichnetes Internat, aber die Schule
interessierte mich nicht. Was ich wollte, war eine Familie.«
Er fand sie schließlich in einer Varietétruppe, deren Chef, ein gewisser Bob
Pender, zu seinem Lehrer und Vaterersatz wurde. Er riss aus dem Internat aus,
reiste mit Pender durch ganz England, lernte Zirkuskunststücke, spielte
Revuetheater und landete mit der Truppe schließlich am Broadway. Inzwischen
bewegte er sich geschickt wie ein Seiltänzer auf der Bühne und in der Welt und
beschloss, in New York zu bleiben. Dort arbeitete er in verschiedenen Berufen,
legte den Arbeiterakzent ab, den man in Bristol sprach, und wurde schließlich
von der Paramount als Schauspieler und Mädchen für alles angestellt. Wie die
Geschichte weiterging, ist bekannt.
Als das Vertrauen zwischen uns wuchs, offenbarte mir Cary eine
Verletzlichkeit, die der meinen unglaublich ähnlich war. Er suchte einen
Menschen, dem er Seiten von sich zeigen konnte, die die raffinierten Komödien
von George Cukor und Frank Capra höchstens erahnen ließen. In mir glaubte er,
ihn gefunden zu haben. »Tell me more«, sagte ich, doch er wich scherzend aus. Er
war immer noch Cary Grant, der einen Ruf zu verteidigen hatte. Vielleicht waren
seine seelischen Verletzungen zu groß, als dass er sich jemandem voll und ganz
anvertrauen konnte. Wir spürten beide, dass wir dabei waren, uns ineinander zu
verlieben, und wir fürchteten uns davor, wenn auch aus unterschiedlichen
Gründen.
Ich stand ganz im Banne Carlos, der mein Zuhause, meine Familie war, obwohl
er schon eine Familie hatte und es völlig unklar war, wann wir heiraten und offen
zusammenleben konnten. Und auch Cary war verheiratet. Seine Frau Betsy Drake
ging am Set ein und aus, und auch wenn ihre Beziehung schon lange vor Stolz
und Leidenschaft faktisch nicht mehr bestand, hoffte sie vermutlich, ihn
zurückzuerobern.
Bei ihrer letzten Rückkehr nach Amerika schiffte Betsy sich von Genua aus auf
der Andrea Doria ein. Als der Überseedampfer vor Nantucket sank, verloren
46 Passagiere ihr Leben. Betsy verlor glücklicherweise nur ihre Juwelen, doch
diese Katastrophe war auch der endgültige Untergang ihrer Ehe. Cary konnte die
Dreharbeiten nicht unterbrechen, um sich um sie zu kümmern, und widmete
seine Aufmerksamkeit stattdessen mir.
Wir arbeiteten viele Stunden lang und bereiteten häufig gemeinsam die Szenen
für den nächsten Tag vor, doch wir nahmen uns auch Zeit für uns. Wir gingen in
kleine, versteckte Restaurants in den Bergen von Ávila, wo wir Rotwein tranken
und Flamenco hörten. Ich hatte noch viel zu lernen, doch manchmal konnte ich
auch ihm etwas beibringen.
Eines Tages trat ein Herr an unseren Tisch und fragte:
»Mister Grant, wären Sie so nett, mir ein Autogramm zu geben?«
Cary scheuchte ihn empört weg, er wollte in Ruhe gelassen werden. Ich wies
ihn sanft zurecht.
»Warum behandelst du ihn schlecht? Er möchte so gern ein Autogramm, das
kostet dich doch nichts.«
Am Ende gab Cary mir recht und rief seinen Bewunderer zu sich, der sich
schließlich über ein Autogramm von uns beiden mitsamt Widmung freute.
Glücklicherweise waren wir in verschiedenen Hotels untergebracht. Auf diese
Weise gelang es uns, eine gewisse Distanz zu wahren. Wenn wir nicht arbeiten
mussten, setzte ich mich oft auf die Terrasse meines Zimmers und sonnte mich.
Allerdings durfte ich es nicht übertreiben, sonst wäre ich bei den Dreharbeiten
am nächsten Tag zu stark gebräunt gewesen.
Wenn wir ausgingen, sprachen Cary und ich häufig über das Leben und unsere
Träume. Nicht über die von Ruhm und Reichtum (davon besaß er, neben der
Liebe und Hochachtung, die die Welt ihm entgegenbrachte, schon genug),
sondern über unsere geheimsten Träume, die für viele Menschen so
selbstverständlich sind: ein eigenes Zuhause, einen Menschen, mit dem man
lachen kann und mit dem man alles im Leben teilt. »In was für einem Haus
würdest du gerne leben? Magst du Hunde? Welche Namen würdest du deinen
Kindern geben?« Wenn wir redeten, erlag ich dem Zauber seiner Worte, aber ich
gab mich ihnen niemals ganz hin. Ich wollte und konnte ihm keine falschen
Hoffnungen machen.
Auch nachdem sich unsere Wege getrennt hatten, verband uns diese
gemeinsame Sehnsucht. Als Carlo jr. und Edoardo zur Welt kamen,
beglückwünschte er mich von ganzem Herzen. Und als seine so sehnsüchtig
erwartete Jennifer geboren wurde und er der wunderbaren Barbara begegnete,
die er bis ans Ende seiner Tage liebte, war ich ebenso glücklich wie er. Sich mit
dem anderen über die kleinen großen Wunder des Lebens zu freuen, das ist
wahre Freundschaft.
Doch damals standen wir noch am Scheideweg. Das Ende der Dreharbeiten
rückte näher, und die Situation zwischen uns war noch immer ungeklärt. Ich war
zunehmend verwirrt, hin- und hergerissen zwischen zwei Männern und zwei
Welten. Jeden Morgen fragte ich mich beim Aufwachen, wie es nun weitergehen
sollte. Ich wusste, dass mein Platz an Carlos Seite war. Er war mein sicherer
Hafen, auch wenn ich noch immer auf eine klare Entscheidung wartete: Unsere
»heimliche« Beziehung konnten wir so nicht weiterleben. Ich wusste außerdem,
dass ich nicht in Amerika wohnen wollte, ich fürchtete mich vor dem Leben in
einer ganz anderen Kultur. Gleichzeitig fiel es mir schwer, der magnetischen
Anziehungskraft von Cary zu widerstehen, der für mich, wie er sagte, auf alles
verzichten würde.
An unserem letzten Abend lud er mich mit sehr feierlicher Miene in ein
Restaurant ein. In mir stieg langsam Panik auf. Und als er es dann sagte, traf es
mich völlig unvorbereitet. Während die Sonne draußen majestätisch unterging,
hielt er ohne Vorwarnung inne, schaute mir in die Augen und sagte:
»Willst du mich heiraten?«
Mir versagte die Stimme. Ich fühlte mich wie die Heldin in einem Film, die
ihren Text nicht kennt. Was sollte ich antworten? Ich hatte ihm nichts
vorgemacht und wollte ihm nichts vormachen. Ich konnte nichts versprechen,
was ich nicht empfand.
»Cary, mein Lieber, ich brauche Zeit«, hauchte ich schließlich. Er wartete auf
eine Entscheidung, die ich nicht treffen konnte, und ich fühlte mich winzig klein.
Er verstand und fing den Schlag mit einer Prise Humor ab.
»Vielleicht heiraten wir einfach erst und denken später darüber nach?«
Am nächsten Morgen ging es für mich weiter nach Griechenland, wo ich
meinen zweiten amerikanischen Film drehte: Der Knabe auf dem Delphin (Boy on
a Dolphin). Als ich in Athen ankam, wartete in meinem Hotelzimmer ein Strauß
Rosen mit einem Brief auf mich.
»Verzeih mir, liebes Mädchen – ich dränge dich zu sehr. Bete – das werde ich
auch tun. Bis nächste Woche. Goodbye Sophia, Cary.«
Es gab kein Wiedersehen in der nächsten Woche. Das war nur eine Hoffnung,
ein Wunsch, ein Traum. Doch seine Zeilen auf dem blauen Umschlag – »With
only happy thoughts« – habe ich nie vergessen. Seine fröhlichen Gedanken
begleiten mich bis heute.

Wie ist das Meer so tief

Nach dem trockenen, aufwühlenden und anstrengenden Sommer in der


spanischen Meseta empfand ich den Sprung ins leuchtendblaue griechische Meer
geradezu als Erleichterung. Ich war erschöpft, physisch und psychisch, doch auf
der wunderbaren Insel Hydra mit ihrem Meer, dem Wind und der Sonne fühlte
ich mich wie zu Hause. Es waren die Düfte meiner Heimat, das Licht und die
Landschaft, in denen ich aufgewachsen war.
Der Knabe auf dem Delphin war ein Abenteuerfilm, eine Art archäologischer
Thriller. Ich spielte darin an der Seite von Alan Ladd. Alan war etwas kleiner als
ich, für viele Szenen brauchten wir einen Hocker. Dafür konnte niemand etwas,
aber Alan litt darunter und pflegte seine Komplexe. Ich tat so, als merkte ich es
gar nicht. Ich war nicht besonders nett zu ihm und zog ihn gerne auf. Ich nahm
alles einfach von der lustigen Seite, als wäre das Leben eine Komödie.
Damals war ich noch nicht die professionelle Schauspielerin, die ich später
wurde. Meine Arbeit machte mir Spaß, ich gab alles, ich nahm sie ernst, aber ich
war jung und musste an Unbekümmertheit aufholen, was mir als Kind gefehlt
hatte. Als junges Mädchen musste ich mich in Cinecittà durchschlagen, immer
mit der Angst im Nacken, ja nichts falsch zu machen. Jetzt lief es langsam besser,
und ich nahm mir die Freiheit, auch mal zu lachen und zu witzeln. Das meinte
ich nicht böse, es war ein Zeitvertreib, der mir dabei half, die Nervosität und
Unsicherheit zu überspielen, die mich mein Leben lang begleitet haben.
Außerdem entwickelte ich so meine Rolle. In Der Knabe auf dem Delphin spielte
ich nämlich eine lebhafte, überschwängliche junge Frau. Weil ich nie eine
Schauspielschule besucht oder Theater gespielt hatte, musste ich mich von
anderem inspirieren lassen. Um mich auf meine Rollen vorzubereiten, vermischte
ich häufig Fiktion und wahres Leben.
Um meinen Rollen Tiefe zu geben, schöpfe ich noch heute aus allem
Möglichen: aus der Wirklichkeit, der Erinnerung, aus dem, was ich bei anderen
Schauspielern sehe. Erst kürzlich hat mich die Schlussszene in Blue Jasmine tief
beeindruckt. Cate Blanchett zeigt uns dort ein völlig neues Gesicht. Ihr Ausdruck
hat sich mir tief eingeprägt, und nun warte ich darauf, dass er neue Blüten treibt,
dass sich in mir etwas Neues entwickelt.
Jean Negulesco, der Regisseur von Der Knabe auf dem Delphin, war
Amerikaner rumänischer Abstammung, ein fröhlicher, lebenslustiger Mensch.
Wir verstanden uns gut und fuhren abends oft mit Laternen zum Angeln hinaus.
Ich liebte es, die Nächte auf dem Meer zu verbringen. Manchmal fühlte ich mich
dann Jahre zurückversetzt, zu den Dreharbeiten von Weiße Frau in Afrika, als ich
mit Antonio Cifariello vor der Insel Palmarola, nahe Ponza, aufs Wasser
hinausfuhr.
Antonio war etwas jünger als ich und kam wie ich aus Neapel. Wenn wir nicht
arbeiteten, alberten wir wie Kinder herum. Ich war tief getroffen, als ich Jahre
später von seinem Tod erfuhr. Er war mit dem Flugzeug abgestürzt, als er für die
RAI einen Dokumentarfilm in Sambia drehte. Er war erst achtunddreißig Jahre
alt, Vater eines kleinen Sohnes und hatte sein Leben noch vor sich.
Negulesco ließ sich von der griechischen Landschaft verzaubern, ihrer
strahlenden, uralten Schönheit, die von unseren Ursprüngen erzählt. Ob er wollte
oder nicht, das Mittelmeer war der eigentliche Held des Films. Andererseits war
Negulesco Künstler. Heimlich, wenn ich es nicht merkte, machte er
wunderschöne Porträtfotos von mir. Noch im Dezember desselben Jahres zeigte
er sie in einer Ausstellung in Rom, nachdem wir für die Studioaufnahmen dorthin
zurückgekehrt waren. Den Erlös spendete er für Ungarn, das wenige Monate
zuvor von sowjetischen Panzern überrollt worden war. Negulescos Frau war
Ungarin und fühlte sich ihrer Heimat sehr verbunden. Obgleich die Welt
zunehmend vom Kalten Krieg beherrscht wurde, war dieser griechische Herbst
für mich eine ruhige, glückliche Zeit. Das mochte auch daran liegen, dass Carlo
mich häufig besuchte und mir zu verstehen gab, dass er an einer Lösung für uns
arbeitete. Ich vertraute ihm, trotz aller Ermahnungen meiner Mutter.
Weihnachten 1956 feierten wir in der Suite von John Wayne, der sich wegen
der Proben für Die Stadt der Verlorenen (Legend of the lost) – der Film, den wir
ab Januar drehen wollten − vorübergehend in Rom aufhielt. Das versammelte
Filmteam traf sich zuerst auf der Piazza Navona, wo wir auf dem
Weihnachtsmarkt kleine Geschenke kauften: Hirten für die Krippe, handgefertigte
Fotoalben, zuckersüße torroncini, eine Spezialität aus Benevento. In den belebten
Gassen herrschte Festtagsstimmung, an jeder Ecke hielten uns die zampognari an
und spielten auf ihren Sackpfeifen ein Weihnachtslied für uns, in der Luft lag der
Duft von Maronen. Wie die vielen Touristen waren auch unsere amerikanischen
Kollegen von dem quirligen italienischen Leben hingerissen. Schließlich waren
sie an ein Leben zwischen Ranch und Haus am Meer gewöhnt. Wir genossen
unsere letzten freien Tage, weil wir uns schon bald in die afrikanische Wüste
aufmachen mussten. Am 2. Januar flogen wir ins libysche Ghadames.
Mir kam das alles unglaublich vor: Ich war in Pozzuoli in der Via della
Solfatara aufgewachsen, und jetzt flog ich in der Weltgeschichte herum.

Sehnsucht nach Afrika

Die Stadt der Verlorenen war der letzte Film, den ich drehte, bevor ich in die
Vereinigten Staaten übersiedelte. Die Bedingungen am Set waren hart. Wir
drehten mitten in der Wüste, nahe der antiken römischen Kolonie Leptis Magna.
Es war ein verwunschener Ort voll märchenhaftem Zauber – und Gefahren.
Kakerlaken, Skorpione, Schlangen, Wüstenstürme, die Hitze, der Durst … Und
dann die Tuareg: Die Männer mit der blau gefärbten Haut faszinierten mich,
ängstigten mich aber auch. Sie wirkten so geheimnisvoll, wie aus einer anderen
Welt. Glücklicherweise hatten wir John Wayne dabei, der uns beschützte!
Ich wundere mich bis heute, dass der König der Westernhelden in natura
genau so aussah, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. »The Duke«, wie ihn alle
nannten, war ein echter Cowboy: ein großer, breitschultriger Mann, der Autorität
und Selbstbewusstsein ausstrahlte – und der stets die Nähe seiner Frau suchte,
einer winzigen Mexikanerin, ohne die er sich verloren fühlte. Für ihn war ich das
Küken. Er schaute mir vergnügt zu, und wenn jemand meinen Übermut bändigen
wollte, sagte er: »C’mon, lasst sie doch, sie ist jung … Lasst sie lachen!« Ich sehe
ihn noch vor mir, als wäre es gestern gewesen. Ich hätte gut und gerne seine
Tochter sein können, neben ihm fühlte ich mich sicher und fürchtete mich vor
nichts. Er war unser unumstrittener Anführer, aber er nutzte seine Macht nie aus.
Er kannte kein Getue und keine Launen. Das brauchte er gar nicht. Wir
bemühten uns von allein, ihm jeden Wunsch von den Augen abzulesen, und
waren begierig, von ihm zu lernen. Er arbeitete hoch professionell und so
geduldig, wie es nur die ganz Großen können.
Nur einmal hätte sein Mythos beinahe Risse bekommen. Eines Tages stürzte er
vom Pferd – wer hätte das für möglich gehalten? – und brach sich den Knöchel.
Jeder dachte natürlich, er würde seinen Schmerz mit einem Schluck Whiskey
runterspülen. Weit gefehlt. Er schrie wie ein Wahnsinniger. Wir starrten ihn an
und wunderten uns, dass unser Held auch nur ein Mensch war. Er fing sich
allerdings schnell, und kaum, dass wir uns versahen, war er wieder ganz der alte
John Wayne, als wäre nichts gewesen. Die Hufeisen von seinem Pferd hängen
noch heute in meinem Studio. Unfälle beiseite: Er war und ist eine lebende
Legende.
Aus ganz anderem Holz geschnitzt war dagegen der zweite Hauptdarsteller,
Rossano Brazzi. Er war der Latin Lover, wie er leibt und lebt: schön, gut gelaunt
und dermaßen mit sich und seinem Äußeren beschäftigt, dass ihm nicht einmal
auffiel, wenn ich ihn aufzog. »Quanto sii bbbello! – Wie schön du doch bist!«,
sagte ich zu ihm wie zu einem Kind, aber er nahm es vermutlich ernst. Er sang
immer und überall: Mit schmachtendem Blick und Dauerlächeln trällerte er in
den Pausen wie im Musical Süd Pazifik: »Some enchanted evening, you may see a
stranger, across a crowded room …« Er kam gerade aus Venedig, wo er mit
Katharine Hepburn für Traum meines Lebens vor der Kamera gestanden hatte. In
seinen Augen lag noch immer ein Abglanz ihres Stils und ihrer Eleganz. Doch als
es einmal darauf ankam, war er da und rettete mir das Leben. Ohne ihn könnte
ich diese Geschichte vielleicht gar nicht erzählen.
Die Nächte waren kalt, und mein kleines Hotelzimmer wurde mit einem
Gasofen beheizt. In dem Zimmer stand praktisch nichts außer einem Bett und
einem Schminktisch, und ich fühlte mich darin wie eingekerkert. Nachts
verriegelte ich vor lauter Angst Türen und Fenster. Der Gedanke, dass das
gefährlich sein könnte, kam mir nicht. An jenem Abend sollte ich es allerdings
am eigenen Leib erfahren. Mitten in der Nacht fuhr ich aus einem Albtraum
hoch, und mein Kopf schmerzte fürchterlich. Ich wusste kaum, wo ich war, und
hatte das Gefühl, gleich ohnmächtig zu werden. Ich ahnte nicht, dass ich dabei
war zu ersticken. Auf Knien kroch ich bis zur Tür, und es gelang mir noch, sie zu
öffnen. Im selben Moment kam Rossano vorbei und sah mich ohnmächtig am
Boden liegen. Er rief sofort nach einem Arzt. »Help! Help! Sophia stirbt!« Mein
Leben stand auf Messers Schneide. Einen Augenblick später, und es wäre zu spät
gewesen.
Der Schreck war groß, aber ich arbeitete weiter, obwohl die grausamen
Kopfschmerzen noch Tage anhielten. Morgens war es so kalt, dass wir im
Pelzmantel zu den Dreharbeiten gingen, im Lauf des Tages wurde die Hitze dann
so brütend, dass wir uns nach und nach unserer Kleidungsstücke entledigten.
Der Regisseur, Henry Hathaway, hielt damals schwer erkrankt bis zum
Drehschluss durch. Eines Tages konnten wir sogar dem Bürgermeister von
Ghadames helfen, dessen Erstfrau sterbenskrank im Bett lag. Wir richteten alle
Scheinwerfer vom Set auf die Landebahn, sodass eine kleine zweisitzige Maschine
landen, seine Ehefrau aufnehmen und ins nächste Krankenhaus fliegen konnte. Es
war ein Triumph, der alle Mühen der Dreharbeiten hundertfach aufwog.
Als wir Afrika verließen, fiel mir der Abschied beinahe schwer. Die Wüste ist
ein magischer Ort, und ich verstand auf einmal gut, warum diese schier endlose
Landschaft so viele in ihren Bann zieht und ihre Phantasie entzündet. Meine
eigene Phantasie war allerdings von anderem gefangen genommen, und keine
Wüste der Welt konnte mich aufhalten. Hollywood war zum Greifen nah.

Partys in Hollywood
Am 6. April 1957 stieg ich zusammen mit meiner Schwester Maria in eine
Maschine der Fluggesellschaft SAS nach Los Angeles. Als ich meine Mutter
umarmte, die uns bis zur Gangway begleitet hatte, weinte ich.
»Mammina, es wird mir bestimmt gut gehen und dir auch. Ich rufe jeden Tag
an, statte accuorta – Pass gut auf dich auf …«
Es war unsere erste längere Trennung. Und ein Sprung ins kalte Wasser, in eine
Filmwelt, die mir fremd war. Was würde mich dort erwarten? Ich ließ jetzt die
Pizzabäckerin, die Fischverkäuferin, einen Teil meines Lebens hinter mir, ich war
jetzt eine internationale Schauspielerin, doch irgendwo in mir wohnte noch
immer das kleine Mädchen, das Angst vor dem Ungewissen hatte.
In Los Angeles wartete die gesamte amerikanische Presse auf uns – und nicht
nur sie. Es war ein Bad in der Menge – mit Stil. Am Fuße der Gangway stand
John Minervini: Der Vierjährige gab mir schüchtern ein Küsschen und hieß mich
im Namen aller Italoamerikaner willkommen: »Welcome in America, Miss
Loren«, stotterte er leise, als würde er ein Weihnachtsgedicht aufsagen. Ich
hinterließ Lippenstiftspuren auf seiner Wange, und kein Kind der Welt wurde an
jenem Tag wohl häufiger fotografiert als er.
Maria und ich blickten uns immer wieder an und mussten lachen. Wir kniffen
uns in die Wangen, um uns davon zu überzeugen, dass all das tatsächlich wahr
war.
»Und das passiert wirklich uns? Maria und Sophia? Wer hätte das gedacht!«
Doch irgendwann gewöhnt man sich auch daran, ein Star zu sein. Ich erkannte
schon bald, wie wichtig es war, die Dinge immer im Verhältnis zu sehen und
darauf zu achten, dass der ganze Wirbel, den man um mich machte, mein Denken
und Fühlen nicht veränderte. Ich wusste, was ich wollte. Der Erfolg überwältigte
mich und befeuerte mich, mein Bestes zu geben, doch in meinem Herzen gab es
noch eine andere große Sehnsucht: nach Familie, Kindern, nach einer Normalität,
die ich nie gehabt hatte. Einige Jahre später sollte mir Alberto Moravia in einem
Interview, das um die Welt ging, helfen, meine Sehnsucht in Worte zu kleiden.
In Amerika konnte ich dann wirklich mit Carlo zusammenleben. Er kam und
ging, aber wenn er in Hollywood war, hatte er nur Augen und Ohren für mich.
Vor einiger Zeit schon hatte er sich von De Laurentiis getrennt und mit dem
Neapolitaner Marcello Girosi die Produktionsgesellschaft »Champion Film«
gegründet. Girosi sprach hervorragend Englisch und half Carlo, sein Geschäft auf
Amerika auszuweiten. Sie unterzeichneten einen Vertrag mit der Paramount, der
zugleich meine Eintrittskarte in eine der größten Filmschmieden der Welt war.

Mein erster Termin in Hollywood war ausgerechnet die Cocktailparty, die die
Paramount im berühmten Restaurant von Mike Romanoff zu meinen Ehren
veranstaltete. Man hatte dem Lokal eine mediterrane Atmosphäre verliehen –
oder was man, etwas kitschig, in Amerika darunter verstand. Alle waren da. Ich
war das Ereignis, jeder wollte mich sehen. Rechts von mir erspähte ich den
atemberaubend gut aussehenden Gary Cooper, von links lächelte mir Barbara
Stanwyck zu, und in der Nähe des Fensters erkannte ich den schüchternen Fred
Astaire, der mit Gene Kelly plauderte. Mamma mia!
Und schließlich, als es am schönsten war, erschien Jayne Mansfield. Sie schritt
durch die Menge und kam geradewegs auf unseren Tisch zu. Auf ihren hohen
Absätzen wirkte sie etwas unsicher – vielleicht war sie ja nicht mehr ganz
nüchtern, denn sie ging ein wenig breitbeinig. Sie wusste, dass alle Blicke auf sie
gerichtet waren – ihr großzügiges Dekolleté war ja auch kaum zu übersehen. Es
war, als wollte sie sagen: »Aufgepasst, hier kommt Jayne Mansfield, die blonde
Sexbombe!« Sie setzte sich neben mich und redete ohne Punkt und Komma auf
mich ein. Es war der reinste Vulkanausbruch, und während sie sich ins Zeug
legte, hing plötzlich eine Brust in meinem Teller. Ich starrte sie erschrocken an.
Jayne nahm kaum Notiz davon. Nach einer Weile beruhigte sie sich wieder und
ging. Doch ein eifriger Fotograf hatte schnell abgedrückt, und das Bild ging um
die Welt. Ich weigerte mich, Autogramme darauf zu geben. Die Traumfabrik
Hollywood besaß so manche groteske Kehrseite, die mir für immer fremd blieb
und mit der ich nichts zu tun haben wollte.
Auf die erste Party folgten weitere. Sie waren alle gleich und doch wieder
anders. Für mich waren sie ein einziges Abenteuer, ein Karussell, ein Kaleidoskop
aus Gesichtern, Namen und Mode. Die Limousinen und Cadillacs, die riesigen
Häuser, aber auch die Motels und Drive-ins beeindruckten mich. Ich erkundete
die Supermärkte und Shopping-Center, lernte Drinks am Swimmingpool zu
schlürfen und Obstsalat mit cottage cheese zu essen. Ich begegnete den Mythen
meiner Jugend und fühlte mich am Nabel der Welt. Doch alle Gespräche drehten
sich nur ums Kino, und manchmal bekam ich plötzlich Sehnsucht nach Italien,
nach seiner reichen Geschichte, seiner Herzlichkeit und seinem Humor. In
Hollywood gab es keine einfachen Leute, wie ich sie kannte.
Wir wohnten in einem wunderschönen Hotel in einer Suite mit riesiger
Terrasse. Dort drehten wir eine Folge der berühmten amerikanischen Ed Sullivan
Show. Doch während ich jeden Tag ein wenig bekannter wurde, wuchs nicht nur
meine Verantwortung, sondern auch meine Versagensangst. Es verging kein Tag,
an dem ich nicht kritisch beäugt wurde, und alle lauerten nur darauf, dass ich
einen Fehler machte und sich alles als großer Bluff herausstellte. Mein Englisch
wurde besser, aber auch meine Rollen wurden größer. Sie verlangten meine ganze
Aufmerksamkeit. Louella Parsons und Hedda Hopper, die beiden
erbarmungslosesten Klatschkolumnistinnen jener Zeit, verfolgten uns Diven mit
hartnäckiger Boshaftigkeit. Glücklicherweise meinten sie es mit mir noch
einigermaßen gut, weil ich letztendlich die Außenseiterin blieb, das »Italian girl«,
das früher oder später wieder nach Hause zurückkehren würde.

Begierde unter Ulmen (Desire Under the Elms), nach einem Drama von Eugene
O’Neill, war der erste Film, den ich für die Paramount drehte. Auf mich wartete
die Rolle einer schwierigen, leidenschaftlichen Frau. An meiner Seite Anthony
Perkins. Er sah genauso gut aus und war so neurotisch, wie wir ihn aus Psycho
kennen: ein freundlicher, wohlerzogener und melancholischer junger Mann, dem
es nicht gelang, seine innere Unruhe zu verbergen. Zwischen uns herrschte eine
gewisse Komplizenschaft. Er half mir mit meinem Englisch, und ich brachte ihn
ab und zu zum Lachen. Seine Garderobe schien das reinste Studentenzimmer: ein
Tisch, einige Bücher, eine fast klösterliche Nüchternheit.
Der Film wurde vollständig im Studio gedreht. In Kalifornien sucht man ja
vergebens nach natürlichen Settings, wie im italienischen Neorealismus. Der Film
erhielt auf diese Weise etwas Theatralisches, was durch die phantastischen
Schwarz-Weiß-Aufnahmen noch unterstrichen wurde. Als mein kleiner Enkel das
Titelbild der DVD vor ein paar Tagen sah, fragte er: »Nonna, warst du früher
eine Chinesin?« Der Eindruck rührt vom Augen-Make-up her, das damals Mode
war – ein Stil, den mein Maskenbildner Goffredo Rocchetti und ich erfunden
haben. Ich habe den Trend gesetzt, und andere sind mir gefolgt.
In der Zwischenzeit waren die letzten Szenen von Stolz und Leidenschaft
gedreht. Wir hatten den Film nicht in Spanien beenden können, weil Sinatra
überraschend abgereist war, wer weiß, vielleicht war er dem Objekt seiner
Liebesqualen hinterhergeflogen.
Was mich anging, hatte ich wieder engeren Kontakt zu Cary, der sich noch
nicht geschlagen gab. Da ihn die Anwesenheit von Carlo abschreckte, schickte er
mir jeden Tag einen großen Strauß Rosen, rief mich an oder schrieb mir.
Auch wenn Carlo darunter gelitten haben mochte, gesagt hat er nichts. Mir
war die Situation ein wenig peinlich, und ich wartete darauf, dass etwas
Entscheidendes geschah, denn so konnte es nicht weitergehen.
Anfang des Sommers kehrte ich für einen kurzen Urlaub nach Italien zurück.
Obwohl ich meiner Mutter täglich schrieb, spürte ich doch das Bedürfnis, sie zu
sehen und in die Arme zu schließen. Sie hatte ihrer vergeblichen Liebe
inzwischen die Krone aufgesetzt. Riccardo hatte seine Frau verlassen, um mit
Mammina zu leben, nur um sie dann − ça va sans dire − zum x-ten Mal wieder
zu verlassen. Glücklicherweise war ich zu der Zeit nicht da. Ich hatte schon mein
halbes Leben damit zugebracht, Mammina vor dieser unmöglichen Liebe zu
bewahren, und einsehen müssen, dass ich in diesem Punkt machtlos war.
Maria dagegen war seit einiger Zeit wieder zu Hause. Obwohl Sinatra sie
ermutigt hatte, ihren Traum vom Singen weiterzuverfolgen, hatte sie schließlich
aufgegeben. Vielleicht, weil sie Mammina in ihrer Einsamkeit nicht allein lassen
wollte. Die Ironie der Geschichte wollte es, dass ausgerechnet Romilda, deren
Träume an ihren Eltern gescheitert waren, zwar alles getan hatte, um meine
Laufbahn anzukurbeln, ihre jüngere Tochter aber nicht ziehen ließ.
Nach einem rauschenden Fest zu meinen Ehren im Restaurant Casina Valadier
der Villa Borghese zogen Carlo und ich uns nach Bürgenstock am
Vierwaldstättersee zurück. Dort, weit weg vom Scheinwerferlicht, fanden wir die
Ruhe, die uns im täglichen Leben fehlte. Der zauberhafte, sonnenverwöhnte Ort
inmitten von Wäldern hatte mit all den Auswüchsen der mondänen Welt nichts
gemein. Hier konnten wir lesen, wandern und faulenzen, ohne dass man uns
beschattete, anklagte oder verurteilte. In der Ruhe und Einsamkeit der Natur
kamen unsere Herzen zur Ruhe, und unsere Liebe wuchs.
Am 8. August waren wir wieder in Amerika. Anderes Set, anderer Dreh. Von
Los Angeles aus fuhr ich mit dem »Super Chief«, dem Zug der Stars, nach
Washington. Vor dem Weißen Haus wartete Cary auf mich. In Hausboot
(Houseboat), einer der raffinierten Komödien, die für ihn geschrieben wurden,
sollten wir wieder gemeinsam vor der Kamera stehen. Doch der Zauber Spaniens
wirkte nicht mehr. Die Situation war zu festgefahren. Es musste etwas geschehen.

In meiner Schatzkiste entdecke ich Briefe und Karten von ihm. Sie tragen seine
elegante, schwungvolle Handschrift, die mich noch heute berührt, und erzählen
von einem Gefühl, das sich im Lauf der Zeit verändert, aber nie verloren hat.
»Wenn du kannst und möchtest, hinterlass mir doch ein Briefchen an der
Rezeption. Mir genügen schon ein paar Worte, ganz gleich, was du mir sagst. Wie
jeden Tag spüre ich auch heute das Bedürfnis, irgendetwas von dir zu erhalten
(und sei es ein Hieb auf die Nase, allerdings wären mir zwei Zeilen, die mir deine
Liebe versichern, lieber) … Wenn du an dieselbe Sache wie ich glaubst und aus
demselben Grund wie ich dafür betest, wird alles gut, und das Leben wunderschön
werden.

P. S.: Wenn dir dieses Briefchen so viel bedeutet wie die deinen mir, wäre ich
glücklich darüber, es geschrieben zu haben.«

Zwei Tage vor Ende der Dreharbeiten frühstückten Carlo und ich auf der Terrasse
des Hotels, auf dem Tisch die Tageszeitung und zwei Croissants. Beim
Durchblättern der Zeitung fiel unser Blick auf die Kolumne von Louella Parsons,
in der sie zu berichten wusste, dass wir am Vortag in Mexiko per procura
geheiratet hatten.
Ich fiel aus allen Wolken, und Carlo ebenso. Er hatte zwar seine Rechtsanwälte
beauftragt, eine außeritalienische Lösung für uns zu finden, und ihnen die
Vollmacht für weitere Schritte erteilt; dennoch traf ihn die Nachricht völlig
unvorbereitet. Seine Anwälte hatten offensichtlich Tatsachen geschaffen, ohne
ihn zu informieren. Und wie wir bald feststellen mussten, war die Eheschließung
zumindest in Italien ungültig und bereitete uns dort große Probleme.
Doch in den Vereinigten Staaten und der übrigen Welt galten wir nun als
ordnungsgemäß verheiratet. In den Staaten waren Scheidungen, anders als in
Italien, nicht nur erlaubt, sondern auch einfach. Dort betrachtete man dagegen
eine »wilde Ehe« als ungehörig. Darum waren auch viele Stars so oft verheiratet.
Elizabeth Taylor etwa heiratete acht Mal und zwei Mal sogar denselben Mann.
Das war nicht die Hochzeit, von der ich geträumt hatte, aber für den Moment
schien es die einzige Lösung zu sein. Trotz der Überraschung saßen Carlo und ich
abends beim Candle-Light-Dinner und dachten über Flitterwochen nach.
Cary wirkte am Set leicht benommen und enttäuscht, reagierte aber wie ein
echter Gentleman:
»Herzlichen Glückwunsch, Sophia. Ich hoffe, du wirst glücklich.«
Wie es die Ironie des Schicksals wollte, heirateten Cary und ich für Hausboot
vor der Kamera: Er trug eine Gardenie im Knopfloch und ich ein wundervolles
weißes Kleid aus Spitze.

Wie das Leben so spielt

Einen Monat später ging es los. Der erste Hieb kam von der Vatikanzeitung
L’Osservatore Romano, der zweite von einer unbekannten Signora Brambilla, die
uns im Namen eines Vereins zum Schutz der Familie der Bigamie und des
Konkubinats bezichtigte, was in Italien bis 1969 als Straftat gegolten hätte. Den
Gedanken an Flitterwochen hatten wir inzwischen aufgegeben und uns
stattdessen nach London aufgemacht, wo auf mich niemand Geringeres als
William Holden und Trevor Howard warteten – und die Dreharbeiten zu Der
Schlüssel (The Key).
Im Flugzeug zog Carlo dann endgültig einen Schlussstrich unter unsere letzten
schwierigen Monate. Als wir die Maschine bestiegen: Blitzlichtgewitter und
Starrummel. Eine Journalistenmeute bombardierte uns mit Fragen über unsere
Hochzeit, über Hollywood und über meinen nächsten Film. Ich war kaum
zwanzig Jahre alt, ich fühlte mich leicht benommen, aber glücklich. Während ich
meinen Mantel ablegte und meine Tasche im Gepäckfach verstaute, lächelte ich
Carlo zu. Er schien mir ein wenig verärgert, vermutlich hatte ihn der ganze
Rummel erschöpft oder er hatte berufliche Sorgen. Ich atmete tief durch, blätterte
die Bordzeitung nach dem Parfüm durch, das ich so liebte, und während ich die
vorbeikommenden Passagiere beobachtete, stellte ich mir vor, welche Arbeit,
welche Liebe und welche Träume sie wohl beschäftigten. Langsam entspannte ich
mich, und plötzlich rutschte mir völlig unbedacht etwas heraus. Na ja, vielleicht
nicht ganz so unbedacht.
»Cary hat mir vor der Abreise noch einen Strauß gelber Rosen geschickt. Gelb
wie die Eifersucht? Er ist ja so nett …«
Bevor ich begriff, was geschah, hatte Carlo sich umgedreht und mir eine
Ohrfeige gegeben, die für niemanden zu überhören war. Ich lief puterrot an, der
weiße Abdruck seiner Hand auf meiner dunkel gefärbten Wange brannte vor Wut
und Scham. Ich spürte, wie die Tränen über mein Gesicht liefen. Am liebsten
wäre ich in den Erdboden versunken, doch tief in mir wusste ich, dass ich mich
selbst in diese Situation gebracht hatte. Und ich bereute nichts.
Mit zwanzig muss man noch Erfahrungen sammeln, und Carys Liebe hatte mir
viel gegeben. Vielleicht auch den Mut, für ein normales Leben mit Carlo zu
kämpfen. Ich war zwar jung, aber nicht dumm: Mir war klar, dass diese Ohrfeige,
so unverständlich sie heute erscheint, die Geste eines verliebten Mannes war, der
befürchtet hatte, seine Liebe zu verlieren, und der sich von seinem Schreck und
Kummer gerade erst erholt hatte. Ich versuchte, mein Weinen wegen der vielen
Leute um mich herum zu unterdrücken. Die Stewardess kam an meinen Sitz und
fragte unsicher, ob ich etwas brauchte. Ich wusste nicht, wo ich hinschauen sollte,
aber im Grunde war ich hochzufrieden. Endlich hatte ich die Bestätigung, nach
der ich mich so lange gesehnt hatte: Carlo liebte mich. Ich hatte meine Wahl
getroffen, und meine Wahl war richtig.

In London musste ich zum ersten Mal eine Schlacht alleine schlagen – und ging
siegreich aus ihr hervor. Schon kurz nach meiner Ankunft musste ich bestürzt
erkennen, dass sich Sir Carol Reed und Carl Foreman, Regisseur und Produzent
des Films, die Sache noch einmal überlegt hatten: Ich sei für die Rolle der
Hauptdarstellerin zu jung und Ingrid Bergman gern bereit, einzuspringen. Mir
war sofort klar, dass das Drehbuch gar keine Rolle spielte. Ich kannte es. Da gab
es nichts, was gegen mich als sanfte, traurige Stella sprach. Der eigentliche Grund
war ein anderer. Sie wollten den Namen, den berühmten Namen der Bergman,
und dachten, allein wenn ich den hörte, würde ich klein beigeben. Foreman kam
zu mir, als Carlo nicht da war, und glaubte, er habe den Sieg schon in der Tasche.
Aber er wusste nicht, mit wem er es zu tun hatte. Mit meinem Kampfgeist hatte
er nicht gerechnet. Ich ließ mich nicht einschüchtern.
»Das kommt gar nicht infrage. Ich habe den Vertrag unterschrieben, das ist
meine Rolle. Es tut mir leid, aber ich wüsste nicht, warum ich davon zurücktreten
sollte. Die Rolle passt zu mir, und sicherlich werde ich sie gut spielen.«
Die Charakterrolle war mir wichtig, weil ich damit aus der Schublade des
hübschen Dummchens herauskommen würde, in der ich immer noch steckte. Ich
hätte niemals auf die Rolle verzichtet. Foreman war sprachlos und legte nach:
»Dir ist klar, dass wir dir dafür einiges zahlen würden …«
»Das ist mir egal«, antwortete ich selbstbewusst. »Ich mache den Film. Wann
fangen wir an?«
Vertrag war Vertrag, und Foreman zog schließlich wie ein begossener Pudel ab.
Natürlich verging ich die nächsten Tage vor Angst, weil ich meinen Mund so
weit aufgerissen hatte. Doch ich stürzte mich kopfüber in die Arbeit, und es
gelang mir schließlich, ihre Achtung zurückzugewinnen. Es war eine schöne
Story, die an der grau verhangenen, sturmgepeitschten englischen Küste spielte.
Sie handelte vom Krieg, vom Meer, von der Liebe und nahm dann eine
überraschende Wendung, die eine große Präsenz erforderte. Nach den
Dreharbeiten kam Foreman zu mir, um mir zu gratulieren. Er war froh, dass ich
nicht von dem Vertrag zurückgetreten war.
Anlässlich der Filmvorführung wurden wir zur »Royal Command
Performance« eingeladen, wo mir dann dieser Fauxpas passierte, der in die
Geschichte einging. Beim Empfang trug ich zu meinem wunderbaren Kleid von
Emilio Schuberth, der mich inzwischen einkleidete, ein kleines Diadem. Auch
wenn ich zusehends erwachsener wurde, war ich in meinem Herzen noch immer
das kleine Mädchen, das gern die Königin spielte. Nur leider empfing uns diesmal
eine echte Königin, Queen Elizabeth, und laut der offiziellen Anstandsregeln
durfte man in Anwesenheit gekrönter Häupter keine irgendwie geartete Krone
tragen. Zwar schien die Königin von England keinen Anstoß daran zu nehmen.
Doch in der Presse überschlugen sich am nächsten Tag die Sensationsmeldungen.

Meine und Ingrid Bergmans Wege sollten sich bald ein weiteres Mal kreuzen.
Wie ich wusste, drehte Cary in London mit ihr Indiskret, und eines Tages
besuchte ich ihn am Set. Als Ingrid mich sah, verlor sie für einen Moment den
Faden. So etwas kann jedem passieren, und sie war sicher eine der größten
Schauspielerinnen, die ich zudem unglaublich bewunderte. »Ich geh wohl
besser«, flüsterte ich Cary zu und schlich mich weg.

Weihnachten 1957 verbrachten wir gemeinsam mit Maria und Mammina wieder
in dem idyllischen Bürgenstock. Unsere Nachbarn, Audrey Hepburn und Mel
Ferrer, liebten die Ruhe ebenso wie wir und begegneten uns häufig, wenn wir
durch die weißen Winterwälder spazierten. Sie waren sehr angenehme Freunde,
die sich niemals aufdrängten.
Eines Tages lud uns Audrey zum Essen ein, Mel war wegen der Arbeit nicht
da. Über einen verschneiten, einsamen und ruhigen Weg gelangten wir zu ihrem
Haus. Audrey hatte das wunderbar lichtdurchflutete Chalet ganz in Weiß
dekoriert. Es lag an einem Hang, und wir blickten direkt auf den See. Auch
Audrey war ganz in Weiß gekleidet. Und auf dem ebenfalls weiß geschmückten
Tisch prangten Blumen und Kerzen. Raffinesse pur.
»Dieser Ort ist magisch«, sagte ich. Und sie antwortete leise: »Ich brauche die
Abgeschiedenheit und die Schönheit …«
Wir unterhielten uns über dies und das, über das Kino, gemeinsame Freunde.
Sie führte uns durch das Haus. Dann setzten wir uns gemütlich zu Tisch. Und
schon standen die Vorspeisen vor uns, oder was ich dafür hielt. Ein Blättchen
Salat, darüber frisch gehobelter Käse, garniert mit einem Häubchen
Himbeerkompott. Auf dem Teller daneben knuspriges Gebäck. Wir unterhielten
uns angenehm, das Himbeerkompott schmeckte köstlich, doch als die Teller
abgeräumt wurden, erhob sich Audrey und sagte mit ihrem elfenhaft zarten und
perfekten Lächeln: »Ich bin so satt!« Die Mahlzeit war somit beendet. Ich
antwortete diplomatisch: »Ja, es war wirklich viel, viel köstlicher als in jedem
Restaurant!« Ich kam vor Hunger um, und zu Hause machte ich mir als Erstes ein
belegtes Brötchen.
Audrey und Mel hatten ein paar Jahre zuvor in einer zauberhaften Kapelle
ganz in der Nähe geheiratet. Das Kirchlein war winzig, aber es wirkte so
würdevoll und feierlich wie eine Kathedrale. Es hatte einfach eine wunderbare
Lage, umgeben von Wäldern, und es stand allen Glaubensrichtungen offen: ob
katholisch, buddhistisch, hinduistisch oder evangelisch. Wann immer ich dort
vorbeiging, dachte ich an die Traumhochzeit der beiden. Für mich lag dieser
Traum nun wieder in weiter Ferne, ebenso wie Italien, das Carlo und mich
verstoßen hatte, als wären wir Verbrecher.

Im Januar kehrten wir nach Los Angeles zurück, wo uns diesmal der Regisseur
King Vidor für einige Monate seine Villa überlassen hatte. Wir lebten dort sehr
abgeschieden. Wenn wir nicht arbeiteten, blieben wir zu Hause. Abends schauten
wir fern und gingen ansonsten früh schlafen. Wir fühlten uns wie im Auge des
Orkans.
Meine nächste Herausforderung hieß Die schwarze Orchidee (The Black
Orchid). Ich spielte in dem Film eine Mafia-Witwe, die sich ein neues Leben
aufbauen muss, also wiederum eine Italienerin und Mutter. Und wieder stand ich
gemeinsam mit einem großartigen, erfahrenen Schauspieler vor der Kamera: mit
Anthony Quinn. Er kam mir allerdings nicht gerade entgegen. Ich erinnere mich,
wie wir eines Morgens gemeinsam eine Außenszene durchgingen. »Are you
going to do it like that?!«, fragte er mich verächtlich.
»Lieber Tony«, sagte ich. »Ich tue, was ich kann.« Nach außen bewahrte ich
die Fassung, aber eigentlich war ich verzweifelt. »Ich hau ab«, sagte ich mir. »Ich
fahre nach Hause.« Doch dann machte ich weiter, als sei nichts gewesen.
Quinn hatte ebenfalls eine schwere Kindheit gehabt: Sein Vater war ein
Abenteurer und Revolutionär, ein Freund von Pancho Villa, und seine
mexikanische Mutter besaß aztekische Wurzeln. Nach zig Gelegenheitsjobs, unter
anderem als Polsterer, war er beim Film gelandet und hatte die Tochter von Cecil
DeMille geheiratet, die ihm schließlich wichtige Türen öffnete. Bei den
Dreharbeiten war er ruppig und abweisend, ansonsten aber ein sympathischer
Mann, dem meine spaghetti al pomodoro ausgezeichnet schmeckten.
Der Schwarzen Orchidee verdanke ich den ersten wichtigen Preis meiner
Karriere: Bei den internationalen Filmfestspielen von Venedig wurde mir die
»Coppa Volpi« als beste Schauspielerin verliehen. Als ich das erfuhr, wäre ich am
liebsten auf der Stelle nach Venedig gefahren, um den Preis entgegenzunehmen.
Doch so einfach war das nicht …
»Wenn wir italienischen Boden betreten, nimmt man uns sofort fest«,
ermahnte mich Carlo. Wir beschlossen schließlich, dass ich allein fahren würde,
nachdem Venedig mir sicheres Geleit zugesichert hatte. Wir erholten uns damals
gerade eine Woche an der Côte d’Azur, und Carlo begleitete mich bis nach Saint-
Tropez. Als mein Zug abfuhr, schaute er mir nicht ohne Bitterkeit hinterher. In
Venedig empfing mich eine riesige Menschenmenge, angeblich waren es
fünftausend Menschen, die begeistert »Willkommen zu Hause, Sophia!«
skandierten. Niemals hätte ich solchen Jubel erwartet. Jetzt fühlte ich mich
wieder im Reinen mit der Welt, vom Publikum und meinem Land geliebt. Als ich
vor der Jury stand, brachte ich vor lauter Rührung kaum ein Wort heraus. Tony
Quinn warf ich mein schönstes Lächeln zu: »Siehst du, so schlecht war ich gar
nicht!«
Außerdem verdanke ich dem Film noch einen unvergesslichen Glücksmoment.
Bei der Premiere in Rom saß Anna Magnani neben mir, und als es im Saal wieder
hell wurde, rief Nannarella, der alles Förmliche fernlag: »Großartig, Sophia. Es
hat mir wirklich sehr gut gefallen!« Nur wenige Komplimente in meinem Leben
haben mich so glücklich gemacht.

Nach einem kurzen sommerlichen Zwischenspiel in New York, wo ich für So


etwas von Frau! (That Kind of Woman) vor der Kamera stand – ein nicht wirklich
gelungener Film, obwohl Sidney Lumet Regie führte –, waren Carlo und ich
wieder einmal ohne festen Wohnsitz. Wir reisten wie zwei Verbannte durch die
Welt: So privilegiert wir waren, so verloren fühlten wir uns. Der Herbst gehörte
Paris, der Rue de Rivoli. Als wir wieder abflogen, verabschiedeten uns Ives
Montand und Simone Signoret, Kirk Douglas und Gérard Oury. Wir waren nun
Weltbürger, ohne festes Zuhause, aber mit Freunden in jedem Hafen. Im Januar –
wir schrieben inzwischen das Jahr 1959 – kehrten wir dann nach Hollywood
zurück, um den Vertrag mit der Paramount zu erfüllen.
Diesmal war die Reihe an George Cukor: Die Dame und der Killer (Heller in
Pink Tights). An meiner Seite wieder Tony Quinn. Die Arbeit mit Cukor war
nicht leicht, erst später sollte ich verstehen, wie viel ich von ihm gelernt hatte.
Anders als De Sica, der mir nie etwas aufzwang, wollte Cukor, dass ich alles
genau so machte, wie er sagte. Ich fühlte mich wie eine Marionette. Noch dazu
verbesserte er ständig mein Englisch, das natürlich immer besser wurde, aber
längst nicht perfekt war. Erst mit der Zeit sah ich ein, dass ich allen Grund hatte,
ihm dankbar zu sein, und heute gehört dieses etwas ausgefallene Western-
Musical zu meinen Lieblingsfilmen.
Von Los Angeles ins kaiserliche Österreich brauchte es nur eine Nacht im
Flugzeug. Doch auch am Set von Prinzessin Olympia, einem Kostümfilm im
Kielwasser der »Sissi«-Welle, mangelte es nicht an Schwierigkeiten. Michael
Curtiz, der Regisseur des sagenumwobenen Casablanca, sprach mit ungarischem
Akzent, den ich nur schwer verstand, und die Dreharbeiten gestalteten sich
mühsamer als gedacht.
Bevor wir die Zusammenarbeit mit der Paramount beendeten, drehten wir noch
Es begann in Neapel (It Started in Naples) – mit dem großartigen Clark Gable –
und kehrten daher endlich wieder nach Italien zurück. Gable war ein gestandener
Schauspieler, außerordentlich charmant und sympathisch. Immer wenn ich ihn
anblickte, musste ich unweigerlich an Rhett Butler in Vom Winde verweht
denken: an herzzerreißende Küsse, an Sonnenuntergänge und sein beängstigend
gutes Aussehen. Ich sah ihn mit den Augen von früher und fing unweigerlich an
zu schwärmen.
Gable war da und auch wieder nicht. Er erschien überpünktlich am Set und
arbeitete ebenso präzise wie professionell. Alles an ihm war perfekt: was er sagte,
wie er geschminkt war und wann er morgens kam. So perfekt, dass seine
Armbanduhr um Schlag fünf piepte. Dann war die Arbeit für ihn beendet, und er
verließ das Set – auch mitten in der Szene.
Es war August, und Capri empfing uns mit offenen Armen, obwohl man der
Klage gegen Carlo gerade stattgegeben hatte und ihn nun wegen Bigamie
anklagte. An meinem Geburtstag überreichte mir das Team eine Torte mit
25 Kerzen, und Carlo pfiff auf die ganze Welt und kam zu meiner Feier. Mir
schien alles wieder einmal viel zu kompliziert und zu schön, um wahr zu sein.
Wieder war ein Lebensabschnitt vorbei. Wir wollten nicht mehr als Exilanten
leben und entschieden, die Rückkehr zu riskieren. Hollywood hatte mir alles
gegeben, was es konnte, aber nun war die Zeit reif, trotz aller Schwierigkeiten,
die uns erwarteten, in die Heimat zurückzukehren.
7 Eine oscarwürdige Mutter

Schlaflos in Rom

Als Ende Februar 1962 die Nominierung kam, konnte ich es zuerst nicht glauben.
»Ein Oscar? Ein Oscar für mich?« Ich ging noch einmal die Namen der anderen
Kandidatinnen durch: Audrey Hepburn, Natalie Wood, Piper Laurie, Geraldine
Page. »Das kann nur ein Witz sein«, dachte ich. »Und dennoch leben sie ist doch
ein italienischer Film in italienischer Sprache, unmöglich.«
Aber natürlich fühlte ich mich geschmeichelt. Es war ein großartiges Gefühl,
und ich dachte bei mir, dass ich jetzt, da ich es bis zur Oscarnominierung
geschafft hatte, eigentlich zufrieden sein konnte. Doch gleichzeitig wusste ich,
dass ich mir etwas vormachte, denn jede erklommene Stufe ließ mich nur wieder
vom nächsten Sieg träumen. Vielleicht verlangte ich ja zu viel vom Leben, aber
ich war machtlos dagegen. Ehrgeizige Ziele und Hoffnungen waren ein Teil von
mir, obwohl mir natürlich klar war, dass hinter der nächsten Ecke schon die
Enttäuschung lauerte. Den Oscar für die beste Schauspielerin konnte auf jeden
Fall nur eine gewinnen.
Ich überlegte lange hin und her und beschloss schließlich, nicht zur
Oscarverleihung zu fliegen. Ich würde in Ohnmacht fallen, wenn ich zu den
Verliererinnen gehörte. Und erst recht, wenn ich die Siegerin wäre. Das konnte
ich mir nicht erlauben, nicht vor diesem Publikum, nicht vor den Augen der
ganzen Welt. »Ich bleibe in Rom auf meinem Sofa«, sagte ich mir, und das machte
ich dann auch.
Selbst Carlo wurde in jener schicksalhaften Nacht nervös, auch wenn er es
geschickt überspielte. Er war ein robuster, integrer Mann, der sich normalerweise
auf seine Arbeit und seine Ziele konzentrierte. Wenn ich ihn mit einem Wort
beschreiben sollte, würde ich sagen, er war intuitiv: Er hatte ein gutes Gespür für
Situationen, für andere Menschen, für sich selbst. Schon als Kind hatte er seine
Liebe zum Kino entdeckt und ihm dann sein Leben gewidmet. Er war
Geschäftsmann mit Blick für die Zahlen, aber für einen guten Film konnte er
auch kämpfen. Und wenn ihm ein Film am Ende nicht gefiel, setzte er sich schon
mal selbst an den Schneidetisch und montierte ihn so, wie er es sich vorstellte. Er
war ein gebildeter, feinfühliger Mensch, kurzum, er wusste sofort, wen er vor sich
hatte, als er mich kennenlernte, und er wollte nie jemand anderen aus mir
machen.
Wir hatten hart gearbeitet, um bis hierhin zu kommen, und wir hatten uns
dem anderen gegenüber immer kollegial und solidarisch verhalten. Wie in einer
guten Familie ergänzten wir uns hervorragend. Wer weiß, welche Vorstellung die
vermeintlichen Bilderbuchfamilien von uns hatten, die sich unbesehen im Recht
glaubten und über unserer Ehe den Stab brachen. Sie hatten ihr Urteil schnell
gefällt, obwohl sie nicht die geringste Ahnung von unserer Liebe hatten, die uns
bei allem, was wir taten, beflügelte. Heute würde man von Synergieeffekten
sprechen, damals nannte man so etwas gegenseitige Achtung und Unterstützung.
Wir hatten die Welt bereist und uns nicht verkrochen und waren schließlich trotz
aller Hindernisse nach Italien zurückgekehrt, wo man gegen uns Anklage erhoben
hatte. Uns war klar, dass einem im Leben nichts geschenkt wird. Jeder noch so
kleine Sieg kostet Mühen und Opfer, und selbst wenn man ihn erreicht hat, heißt
das noch lange nicht, dass man sich darauf ausruhen kann.

An jenem 9. April 1962 waren wir in unserer Wohnung in Rom an der Piazza
D’Aracoeli, wo wir seit einiger Zeit mehr oder weniger offiziell zusammenlebten.
Wegen der Zeitverschiebung zwischen Kalifornien und Italien bereiteten wir uns
auf eine schlaflose Nacht vor, auf Stunden, die uns endlos scheinen würden.
Damals wurde die Oscarverleihung noch nicht weltweit im Fernsehen
übertragen. Wir waren so angespannt, dass wir nicht einfach nur plaudern, uns
hinlegen oder lesen konnten. Noch dazu klingelte ununterbrochen das Telefon
und überschwemmte uns mit mehr oder minder aufrichtigen Beteuerungen, dass
man mir die Daumen drückte. Manch einer war sogar so dreist, über die
Ergebnisse zu orakeln, dieser und jener sei ein sicherer Gewinner – und hielt sich
dann für oberschlau. Wir schauten uns an und lächelten. Egal, wie es ausgehen
würde, diese Nacht würden wir nie vergessen. Eine Oscarnacht. Ein wenig Musik,
ein Schlückchen Wein, noch eine Zigarette, ein Kamillentee, wir öffneten die
Fenster, um die Frühlingsluft hereinzulassen. Und jetzt?
Es war schon spät, als mir endlich der rettende Einfall kam. Die
Spaghettisauce. Natürlich. Die Spaghettisauce. Wie konnte ich so dumm sein und
das vergessen. In der Küche fühlte ich mich doch geschützt und sicher und
konnte mich ablenken, damit die Panik von mir abfiel, die mich langsam zu
verschlingen drohte. Während ich den Knoblauch schälte, dachte ich frohen
Herzens an Mamma Luisa, die vor einigen Jahren gestorben war. Sie hatte sich
vermutlich ein anderes Leben für mich erträumt: als Lehrerin in Pozzuoli, in einer
kleinen Wohnung neben der ihren oder im Stockwerk darüber. Sonntags hätten
wir gemeinsam zu Mittag gegessen, und vielleicht hätten sogar die Enkel unterm
Tisch gespielt. Doch an diesem Abend wäre sie sicherlich stolz auf mich gewesen.
Schließlich hatte sie mich gelehrt, was Disziplin bedeutet, wie wichtig es ist, seine
Pflicht zu erfüllen und mit der Welt und sich im Reinen zu sein. Sie wäre stolz
auf mich gewesen, weil ich meinen Erfolg allein meiner Willenskraft verdankte.
Tränen schossen mir in die Augen. Ich ließ mich von meinen Gefühlen
mitreißen. Wieder läutete das Telefon, wieder Mammina, zum zwanzigsten Mal.
Angeblich wollte sie mich beruhigen, doch in Wahrheit wurde sie ihrer eigenen
Aufregung nicht Herr. Carlo antwortete brüsker als gewöhnlich. »Romilda, lass
Sophia einfach in Ruhe. Wir rufen an, sobald wir etwas wissen.« Die beiden
schätzten und achteten sich sehr, waren aber mehr oder weniger gleich alt und
betrachteten sich in gewisser Weise als Konkurrenten. Das galt zumindest für
Romilda, die sich zurückgesetzt fühlte, seitdem dieser Mann so viel Platz in
meinem Leben einnahm. Natürlich fürchtete sie, die Dinge würden sich in einer
für die Familie Scicolone »typischen« Weise entwickeln. Man darf den Männern
nie trauen, schon gar nicht, wenn sie verheiratet sind.
Schließlich hackte ich noch die Zwiebel, hinter der ich meine Tränen
verstecken konnte, und fühlte mich sofort besser. Wenn schöne oder weniger
schöne Überraschungen einen zu überwältigen drohen, braucht es manchmal nur
eine Kleinigkeit, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen und das
Gleichgewicht zurückzugewinnen.
Um drei Uhr nachts kam ein Überseetelegramm aus Santiago de Chile, mit der
Nachricht, dass doña Loren den Golden Laurel als beste Hauptdarstellerin 1961
gewonnen hatte. Ein kleiner Vorgeschmack auf den Oscar oder Ironie des
Schicksals? Der Morgen lag noch in weiter Ferne, und mit dem Schlaf war es
endgültig vorbei. »Und jetzt?« Wie sollte ich die Zeit bloß totschlagen? Ich
kuschelte mich aufs Sofa, wartete, dass es hell würde, und bald leistete mir Carlo
Gesellschaft.
Auch wenn die Zeit sich scheinbar endlos dehnt oder gar stillzustehen scheint,
vergeht sie glücklicherweise irgendwann doch. Aus Minuten wurden Stunden,
aus der Nacht wurde Tag. Wenn wir richtig gerechnet hatten, musste um sechs
Uhr morgens alles entschieden sein. Doch wir warteten vergebens: Kein Telefon
klingelte, kein Telegramm kam, nichts. Die Stille tat beinahe weh. »Eigentlich
können wir jetzt schlafen gehen«, dachten wir, ohne es auszusprechen, wagten
aber nicht, vom Sofa aufzustehen. Wie gelähmt saßen wir in der Dämmerung,
starrten auf die Wände, die Bilder, die Fotos, und nickten schließlich wie kleine
Kinder ein.
Dann, um 6.39 Uhr, ein Schrillen. Hartnäckig wie ein Wecker, eine Sirene.
Carlo stürzte zum Telefon. »Wer? Wer? Cary? Cary Grant?« Abgrundtiefe Stille
und dann ein Freudenausbruch, so explosiv wie Böller auf dem Dorffest. In
seinem holprigen Englisch schrie er: »Sophia win, Sophia win, Sophia win!!!« Ich
riss ihm den Hörer aus der Hand. Am anderen Ende der Leitung die sanfte
Stimme von Cary Grant. »It’s wonderful, Sophia, it’s wonderful. You are always
the best!« Ich schenkte Cary über den Ozean hinweg ein strahlendes Lächeln, ich
schenkte es mir, uns, dem Leben. Dann legte ich auf und hüpfte und tanzte
durchs Wohnzimmer. Plötzlich übermannte mich große Müdigkeit, und in
meinem Kopf drehte sich alles. Ich sammelte mich und rannte in die Küche, um
nachzusehen, ob die Spaghettisauce nicht angebrannt war.
Unten, vor der Haustür, warteten immer mehr ungeduldige Journalisten.
Mammina und Maria bahnten sich ihren Weg durch die Menge und versprachen,
ich würde die Presse bald empfangen. Meine Schwester überreichte mir ein
Basilikumtöpfchen: »Damit du nicht vergisst, wo du herkommst …«
Die Umarmung, die dann folgte, gehört zu den intensivsten Momenten meines
Lebens. Mein Oscar war auch der ihre. Ihre Glückseligkeit die meine.

Mütter und Töchter

Ich werde niemals vergessen, wie Vittorio De Sica mir gratulierte und wir uns in
die Arme fielen. In den letzten acht Jahren hatten wir gemeinsam endlose
Filmmeter gedreht: in Neapel und Umgebung, auf den Plätzen von Trastevere, in
den Gassen von Sorrent und auf den kahlen Hügeln der Ciociaria östlich von
Rom. Er hatte als Erster in der Komparsin das vielversprechende Talent, in der
Sexbombe die Schauspielerin und in der Tochter die Mutter gesehen. Ja, auch
diesmal ging es wieder um Mütter und Töchter, ein nicht immer einfaches
Verhältnis.
Alles begann mit einem Werk von Alberto Moravia, den Carlo sehr schätzte.
Die beiden trafen sich häufig, redeten über Projekte, über Bücher, tauschten
Meinungen aus. Aus einer seiner Erzählungen war der Film Schade, dass Du eine
Kanaille bist hervorgegangen, bei dem ich Marcello kennengelernt hatte.
Außerdem hatte er gemeinsam mit anderen großen Schriftstellern das Drehbuch
zu Die Frau vom Fluss geschrieben. Doch Cesira (La ciociara) zerriss mir
geradezu das Herz. Der Roman erzählte von unserer Heimat, von mir und meiner
Mutter, vom Krieg, von Ängsten und Verletzungen, für die es keine Heilung gibt.
Es ging darin um Mut, Hunger, die blinde Torheit der Unwissenden und den
Mutterinstinkt, der jeder Frau innewohnt.
Carlo wollte die Rechte an dem Roman schon drei Jahre zuvor in Bürgenstock
kaufen und hatte mich nach meiner Meinung gefragt. Ich verschlang das Buch
damals in zwei Tagen, ich konnte es kaum aus der Hand legen.
Die Figur der Cesira fesselte mich: die ungehobelte junge Frau vom Land, die
nach Rom geht, viel zu jung den falschen Mann heiratet und im Bombenhagel
ganz allein beschützen muss, was ihr noch geblieben ist − die Tochter, die Möbel,
den Laden –, und die dann beschließt, in ihrer Heimat, der Ciociaria, Zuflucht zu
suchen. Es sei nur eine Frage von wenigen Wochen, sagen die Leute, die
Alliierten stehen ja schon vor der Tür. Cesira ist eine warmherzige, kämpferische
Frau mit gesundem Menschenverstand, die für ihre Tochter Rosetta alles tun
würde. Ihre Anständigkeit und Aufrichtigkeit, ihr Wissen um die eigenen
Grenzen kollidieren mit den Kriegswirren, mit der Banalität des Bösen, mit einem
Zug nach Neapel, der mitten auf der Strecke hält und nicht mehr weiterfahren
kann.
Die Landschaft ist staubig und steinig, Saumpfade führen über Hänge und
Terrassengärten hoch in die Berge, die eine Sicherheit versprechen, die es längst
nicht mehr gibt. Bauern und Flüchtlinge leben notgedrungen auf engstem Raum
– in Hütten, die mehr an Ställe als an menschliche Behausungen erinnern.
Wochenlang, schließlich monatelang müssen die Bauern und die Flüchtlinge aus
der Stadt miteinander auskommen. Zwei unterschiedliche Mentalitäten treffen
aufeinander, die wiederum so anders nicht sind. Bald denkt jeder nur noch an
sich und hütet das wenige, was ihm geblieben ist. Wenn Hunger, Kälte und Angst
herrschen, zählen Ideale wenig. Ganz gleich, ob die Engländer oder die
Deutschen gewinnen, Hauptsache, sie gewinnen schnell, sagen die Leute.
Moravia war mit seiner Frau Elsa Morante selbst aus Rom in die Ciociaria
geflüchtet. Er wusste, worüber er schrieb, denn er hatte Hunger, Kälte,
Untätigkeit und Angst am eigenen Leib erfahren und selbst inmitten von Wanzen
und Mäusen auf pieksenden Strohmatratzen geschlafen und vor lauter Hunger
Brot aus Hülsenfrüchten, harten Schafskäse, bittere Orangen oder Ziegengedärm
hinuntergeschlungen. Zehn Jahre später verarbeitete er seine Erinnerungen in der
Gestalt von Cesira und Rosetta, zwei Verlorenen fernab der Heimat.
Mutter und Tochter finden schließlich für viel Geld eine Unterkunft in
Sant’Eufemia, wo sie Michele kennenlernen, einen Außenseiter, der anders ist als
die übrigen Dorfbewohner. Er ist gebildet, redet kaum, und niemand versteht ihn,
wenn er die »Toten« endlich zum Leben erwecken, seine Mitmenschen dazu
bewegen möchte, eine bessere Welt zu erschaffen. Ihre Freundschaft, so zart wie
das Blau des Himmels, reift langsam, so langsam wie Veilchen und Venushaar an
den Terrassenrändern, so zaghaft wie Zichorie, Gänsedistel und Minze, von
denen sie sich schließlich ernähren müssen, als Herbst und Winter vorbei, die
Vorräte aufgebraucht und Engländer und Deutsche sich am Garigliano
festgefahren haben und Italien in die Zange nehmen. Nach vierzig Tagen
Schlamm und Regen fegt der Tramontana-Wind die Wolken beiseite, und der
Himmel klart auf. Doch das Schlimmste steht ihnen noch bevor. Die Bomber
greifen von Neuem an, zerschneiden den Himmel und treffen, wo es der Zufall
will. Die Deutschen durchkämmen nun Dörfer und Häuser, nach der Niederlage
wüten sie schlimmer als je zuvor. Dann ziehen die freundlich-distanzierten
Amerikaner vorbei und verteilen Bonbons und Zigaretten, während sie über die
Via Appia träge weiter nach Rom ziehen.
Jeder kämpft gegen jeden. Egoismus und Angst gewinnen die Oberhand. Jeder
schaut, was er kriegen kann. Auch Cesira freut sich so sehr über die
bevorstehende Befreiung, dass sie ihren Freund Michele einen Moment völlig
vergisst. Doch ihre Freude währt nur kurz. Sie und Rosetta werden im letzten
Moment Opfer einer schrecklichen Gewalttat, und die Täter sind ausgerechnet
die, die sich »Befreier« nennen.
In jenem Sommer 1959 sprachen wir auf unseren Waldspaziergängen in
Bürgenstock von nichts anderem als von Cesira. Sie wurde fast zu einer fixen
Idee, und Carlo suchte nach einer internationalen Beteiligung für unser neues
Filmabenteuer. Die Drehbuchschreiber in Hollywood mochten das Buch zwar,
konnten sich aber nicht vorstellen, einen Film daraus zu machen. »Die
Vorgeschichte zu lang, das Ganze zu langatmig, bis zum Ende passiert nichts«,
gaben sie zu bedenken. Doch wir hatten den Krieg aus nächster Nähe miterlebt
und konnten warten. Den Film konnten wir uns sehr wohl vorstellen. Wir
kannten die Geschichte ja nur allzu gut.

Cesira ist in dem Buch fünfunddreißig Jahre alt, Rosetta achtzehn. Mein Alter lag
genau dazwischen. Anfangs dachte man an Anna Magnani als Mutter und an
mich als Tochter. Der Regisseur sollte George Cukor sein, unter dem ich kurz
davor gespielt hatte und der Anna vergötterte. Er war von der Idee begeistert und
kam extra nach Italien, um sie zu überzeugen, doch Anna blieb hart.
»Die Figur ist toll, aber ich kann nicht Sophias Mutter spielen«, sagte sie sofort.
»Sie ist zu groß, zu präsent. Ich schätze sie als Schauspielerin sehr, aber als meine
Tochter passt sie nicht. Ich müsste ja zu ihr aufschauen. Wie soll das gehen?«
Ohne die Magnani wollte Cukor nicht mehr, und Carlo musste wieder bei null
anfangen.
Jetzt kam Vittorio De Sica ins Spiel, der aus der Ciociaria stammte – und mit
ihm sein unzertrennlicher Drehbuchschreiber Cesare Zavattini. Auch De Sica
bearbeitete die Magnani, er dachte, ihm würde gelingen, was sein geschätzter
amerikanischer Kollege nicht geschafft hatte. Aber Anna war ein Sturkopf und
blieb bei ihrer Meinung. Vittorio ließ nichts unversucht. Sein letzter Trumpf war
Paolo Stoppa, der Anna anrief und schüchtern vorbrachte: »Nannarella, ich esse
gerade mit De Sica im Restaurant um die Ecke. Können wir kurz
vorbeikommen?« Alles vergebens. »Die Figur der Tochter muss fügsamer sein,
was weiß ich, vielleicht Anna Maria Pierangeli … Das würde passen.«
Je mehr Vittorio auf sie einredete, desto abweisender wurde sie. Vielleicht
wollte er sie provozieren, als er ihr schließlich an den Kopf warf: »Wenn du so
große Stücke auf Sophia hältst, warum überlässt du ihr dann nicht die Rolle der
Mutter?«
Gesagt, getan. De Sica bedauerte die Absage der Magnani sehr, aber er rief
mich am nächsten Morgen in Paris an und schilderte mir die neueste Wendung.
»Wie bitte? Cesira ist doch viel älter als ich! Noch dazu Mutter! Wie soll ich
das spielen?«
»Ich bitte dich, Sofì, denk drüber nach. Du kennst solche Mütter, sie ist wie
andere Mütter auch, wie deine Mutter. Wir machen Rosetta ein wenig jünger, und
es passt. Bitte sag Ja.«
Carlo fand den Gedanken amüsant und ermutigte mich auf seine Art:
»Wenn Vittorio meint, du schaffst das, dann schaffst du es auch. Vertrau ihm
einfach.«
Die komplexen, tiefen Gefühle einer Mutter bieten einer Schauspielerin die
Gelegenheit, auf der ganzen Klaviatur ihres Könnens zu spielen. Die
facettenreichen, psychologisch komplexen Muttergefühle haben mich immer
fasziniert, vielleicht, weil mir tiefe Gefühle meiner eigenen Geschichte wegen
vertraut sind. Man kann sagen, was man will, aber in der Mutterrolle findet die
weibliche Persönlichkeit erst ihre Vollendung, und darum ist sie für jede
Künstlerin die Herausforderung, die ihr am meisten abverlangt.

Auch diesmal war es Vittorio, der mich bei diesem Abenteuer begleitete:
»Cesira ist eine Mutter, wie sie leibt und lebt. Sie ist bescheiden, arbeitsam und
tut für ihre Tochter alles. Das Leben nimmt sie, wie es kommt. Du kennst das
alles, Sofì, du hast das genau so erlebt. Du weißt, wovon hier die Rede ist. Du bist
ungeschminkt und spielst ohne Firlefanz. Spiel einfach dich selbst, spiel deine
Mutter, dann klappt das schon.«
Nach den Jahren in Hollywood kehrte ich mit Und dennoch leben sie wieder in
meine Heimat, in die schwere Zeit meiner Kindheit zurück. Lange hatte ich den
Krieg in mir begraben, aber jetzt kam er wieder an die Oberfläche, und plötzlich
konnte ich dieser verletzten, leidenden und mutigen Frau eine Stimme geben. Ich
dachte an Mammina: wie sie für uns gekämpft hatte, damit wir zu Trinken und
zu Essen bekamen, wie sie sich wohl gefühlt hatte, als die marokkanischen
Soldaten im Hausflur herumlungerten und betrunken gegen unsere Tür
hämmerten, wie sie die jungen amerikanischen Marines, die in unserem
Wohnzimmer Brandy tranken, aus den Augenwinkeln beobachtet hatte, weil sie
wusste, dass immer und überall Gefahren lauern, und meistens dort, wo man sie
am wenigsten vermutet.
Als man mir Eleonora Brown vorstellte, die Rosetta spielen sollte, fühlte ich
mich sofort für sie und für uns beide verantwortlich. Schüchtern schaute mich
das Mädchen aus intelligenten Augen an. Ein hartes Stück Arbeit wartete auf uns.
Wie konnte ich zu ihrer Mutter werden? Wie konnte ich ihretwegen leiden? Wie
sie dazu bringen, mir zu vertrauen? Instinktiv sah ich sie mit der Zuneigung an,
mit der man mich von klein auf begleitet hatte, mit der Liebe, mit der man mich
als Kind umsorgt und beschützt hatte. Es funktionierte.
Die Mutter von Eleonora war Neapolitanerin, ihr Vater Amerikaner. Die
beiden hatten sich im Krieg kennengelernt, und Eleonora wurde oft von ihrer
Tante zum Set begleitet. Sie war erst dreizehn Jahre alt, praktisch noch ein Kind:
Ihr Blick war kindlich, doch ihr Körper schon der eines jungen Mädchens.
De Sica war ein Meister, wenn es darum ging, mit Laiendarstellern zu arbeiten.
Das hatte er schon in Schuhputzer, Umberto D. oder dem Wunder von Mailand
bewiesen, doch hier übertraf er sich noch einmal selbst. Die Darsteller spielten
immer das, was er sich vorstellte, und dazu war ihm jedes Mittel recht. Als es um
die hochdramatische Szene ging, in der Rosetta wegen Michele verzweifelt, der
übrigens von Jean-Paul Belmondo gespielt wurde, sagte er ihr, ihre Eltern hätten
einen Unfall gehabt.
»Es tut mir leid, mein Kind, so leid«, sagte er aufgeregt und scheinbar
mitfühlend. »Sie sind jetzt im Krankenhaus, es sieht gar nicht gut aus, aber es
besteht noch Hoffnung … Mein armes Kind, aber es wird bestimmt alles gut …«
Eleonora hörte gar nicht mehr auf zu weinen. Wir mussten die Dreharbeiten
unterbrechen. Sie konnte nicht weiterarbeiten. Einmal war Vittorio zu weit
gegangen.
»Eleonora!« Ich lief sofort zu ihr. »Das ist nicht wahr. Er hat das nur gesagt,
damit du weinst! Nun komm schon, lach doch wieder …«
Vergebens. Der Schock saß zu tief.
Natürlich war es für ein Kind nicht leicht, spontan diese starken Emotionen zu
zeigen. Wenn Vittorio sein Ziel nicht erreichte oder darüber hinausschoss,
versuchte ich, Gefühle aus Eleonora herauszukitzeln oder zu dämpfen, sie zu
inspirieren. Ich erinnere mich noch an die Szene, in der ich ihr beim Waschen
helfe und ihr Po zu sehen ist. Es brauchte viel Geduld, bis sie ihre Scheu, ihre
Scham überwinden konnte.
Mit der Zeit lernten wir uns besser kennen. Wir mochten uns sehr, wie Mutter
und Tochter eben, und ihre Rosetta schrieb schließlich Filmgeschichte. Die
Dreharbeiten schweißten uns zusammen, und wir blieben Freundinnen. Auch
heute unterhalten wir uns öfter.

Am 10. August 1960 begannen die Dreharbeiten. Das Filmteam richtete sich auf
den Hügeln um Gaeta ein. Carlo und ich mieteten ein großes weißes Haus mit
Blick auf den Golf von Neapel. Vom Fenster aus konnte ich Pozzuoli sehen. »Das
ist etwas anderes als Beverly Hills, was?«, sagte Vittorio. »Hier bist du geboren,
hier ist dein Platz.« Tatsächlich, ich spielte ungeschminkt, in Lumpen gekleidet,
von oben bis unten eingestaubt, in brütender Hitze, und fühlte mich dennoch wie
ein Fisch im Wasser. Unter den Komparsen, in den Höhlen, barfuß und mit dem
Koffer auf dem Kopf ging es mir gut.
Als die Bombenangriffe kamen, sah ich mich wieder inmitten von Mäusen und
Kakerlaken in dem Bahntunnel hocken. Ich erinnerte mich noch an den
Geschmack der Ziegenmilch und an das mürrische Lächeln der Hirten und
verspürte wieder Appetit auf das ärmliche Essen, auf das dunkle Brot, von dem
wir nie genug hatten.
De Sica führte mich mit sicherer Hand, dämpfte mich, wenn ich zu
überschwänglich wurde, ermunterte mich, wenn ich mich zu sehr zurückhielt.
Doch wenn es um Kummer und Verzweiflung ging, gab es keinerlei Regeln oder
Beschränkungen. Dann konnte ich hemmungslos mein Herz sprechen lassen.
Vittorio ließ das Wunder einfach geschehen, ließ zu, dass meine Cesira Gestalt
annahm und ihren Weg ging.
Es war die schwierigste Rolle in meiner Schauspielerkarriere. Ohne Vittorio
wäre es mir nie gelungen, die Welt um mich herum völlig auszublenden und voll
und ganz eine andere Person zu werden, sobald die Kamera lief. Manchmal, wenn
wir eine besonders bewegende Szene probten, traten De Sica die Tränen in die
Augen: »Genau so machen wir es !!!« Er schaffte es meisterhaft, starke Gefühle
aus mir herauszuholen: Ich wurde wirklich zu dieser Frau, die meilenweit vom
Star-Glamour entfernt war.
Wenn ich heute zufällig Und dennoch leben sie sehe, braucht es nur eine
einzige Szene, damit ich die ganze Bandbreite der Gefühle von damals wieder
durchlebe. Der große Stein etwa, mit dem Cesira den Jeep der Amerikaner
bewirft – »Macht, dass ihr wegkommt, ihr feigen Hunde« –, ist ein Akt der
Auflehnung gegen den Krieg, der die Welt so viele Jahre geknebelt hat. Wir
sollten diesen rebellischen Aufschrei nicht vergessen, sondern auch in den
heutigen Friedenszeiten wachsam bleiben, damit all das nie wieder passieren
kann.
Ich verdanke Und dennoch leben sie nicht nur einen Oscar, sondern noch
zwanzig andere Auszeichnungen, den David di Donatello, den Nastro d’Argento,
die Goldene Palme für die beste Darstellerin in Cannes … – und ein wunderbares
Interview mit dem großen Schriftsteller Alberto Moravia, der mit mir über mein
Leben sprach. Selbst fünfzig Jahre später bin ich noch gerührt, wenn ich es lese.
[1]

Das Geheimnis der Normalität

Auf Wunsch von Moravia kehre ich nach Pozzuoli zurück, an den kleinen Hafen,
wo in grünem, öligem Wasser gelbe Zitronenschalen schwimmen; ich kehre
zurück zu den alten Häusern und schattigen Gassen, den römischen Ruinen und
dem Serapistempel mit seinen wasserumstandenen Säulen, aber auch zu den
Werften und der Munitionsfabrik Ansaldo, wo Papà Mimì einst arbeitete.
Moravias Fragen führen mich zurück in unsere kleine Wohnung mit den
geschnitzten Nussbaummöbeln, in unsere Küche, wo ich Hausaufgaben mache
und Mamma Luisa mir eine Tasse Kaffee hinstellt und Märchen im Dialekt
erzählt. Mittags kocht sie in ihrem kleinen Reich Bohnensuppe mit Brot, die in
der Ciociaria minestrina genannt wird. Abends, wenn die Männer hungrig von
der Arbeit kommen, essen wir pasta asciutta, Spaghetti mit Fleischsoße. Am 27.
jeden Monats fahre ich mit Zia Dora nach Neapel, wo ich in der Pasticceria
Caflisch ein Glas heiße Schokolade mit Sahne und eine sfogliatella, ein
Blätterteiggebäck, bekomme. Dort sehe ich auch zum ersten Mal Anna Magnani.
An einer Straßenecke, ganz in der Nähe des Theaters, wo sie auftritt, schaut sie
groß und wunderbar von einem Plakat zu mir herunter. Unsere Wege hätten sich
kreuzen können, haben sich aber nur berührt.
In dem Pozzuoli meiner Erinnerung spüre ich wieder den Schatten meines
Vaters. Man hat ihn mit phantasievollen Telegrammen hergelockt, doch er wartet
nur darauf, endlich wieder verschwinden zu können. Er bleibt ein Fremder, ein
Eindringling – »L’asino tra i suoni«, wie wir in Neapel sagen. Der große,
zurückhaltende Mann mit dem grau melierten Haar und der krummen Nase hat
große Hände und Füße, aber schmale Knöchel und Handgelenke. Und er
versprüht jede Menge Charme.
Klug, wie er ist, hakt Moravia an dieser Stelle erbarmungslos nach. Und bringt
die Verletzungen ans Licht, die mich zu Sophia Loren gemacht haben. Ich leide,
weil meine Familie anders ist: Der Vater fehlt, und die Mutter ist schöner als die
anderen Mütter – viel zu schön. Ich schäme mich für meine Familienverhältnisse,
aber sie sind auch mein Glück – die Quelle, aus der ich Kraft schöpfe, die mich
zur Arbeit antreibt, weil ich beweisen will, wer ich bin, und die mich früh meinen
eigenen Weg gehen lässt. »Der Erfolg ist ein Ersatz für die unerreichbare
Normalität«, wie Moravia es formuliert. Mit meinem Aufbruch nach Rom fliehe
ich vor dem Kind, das keinen Vater hat, und suche mich selbst in der
Schauspielerin, die ich mir erträume.
Das Ganze wiederholt sich einige Jahre später mit Carlo und seiner
Doppelrolle. Er ist der Produzent, der möglicherweise meinen Traum vom Film
erfüllen wird, aber auch der Mann, der mir die heiß ersehnte Normalität
schenken könnte. Doch wieder steht ein Hindernis im Weg, nur eine kleine
Unregelmäßigkeit eigentlich, die mich aber an den Rand drängt und gleichzeitig
meinen Ehrgeiz beflügelt.
Und wieder gehe ich auf Reisen: Erst habe ich Pozzuoli verlassen, um nach
Rom zu gehen, jetzt fliege ich von Rom nach Hollywood. Ich lasse eine Situation
hinter mir, die mir ausweglos erscheint, und suche nach einem »normalen« Weg.
Den es aber nicht gibt. Und das bringt mich dazu, über mich hinauszuwachsen.
Ein innerer Drang ermöglicht es mir, mich in meine Figuren einzufühlen und
ihnen Leben einzuhauchen und so die Wirklichkeit, mich selbst und die ganze
Welt, besser zu verstehen.
»Man leidet nie umsonst«, sagt Moravia, »zumindest nicht, wenn man wissen
will, warum man leidet.«
Mit ihrer Klage wegen Bigamie raubt mir Signora Brambilla die Normalität,
nach der ich mich so sehne, und ich reagiere darauf mit Und dennoch leben sie,
einem Film, der mir in den Augen der Welt die allerhöchsten Weihen verleiht.
Das ist mein Schicksal. Während ich als Schauspielerin die leidenschaftlichen,
tragischen Rollen, die starken, gefühlsbetonten Figuren liebe, versuche ich im
wahren Leben kühl, selbstbeherrscht und zurückhaltend zu sein. Kurzum normal.
Doch die Normalität gelingt mir nicht. Meine Lebenslust, mein Überschwang,
mein Temperament stehen ihr im Weg. Also versuche ich, mich durch die Kunst
zu behaupten, durch Figuren, die nicht normal sind und mich gerade deshalb
anziehen, weil sie so anders sind als das, was ich mir im wahren Leben wünsche.
Das ist alles. Und das ist nicht wenig.

Ich träume, dass ich bei Sonnenuntergang am Strand bin, vor mir das blaue Meer,
so ruhig und groß wie ein endloses Tuch. Die Sonne geht rot wie ein Feuerball
unter. Plötzlich laufe ich über den Strand und laufe und laufe. Im Laufen wache
ich schließlich auf.
Moravia deutet den Traum, »wie die chaldäischen Wahrsager die Träume von
Nebukadnezar deuten«. Das Meer sei die Normalität, nach der ich mich
vergebens sehne. Die Sonne mein Erfolg. Ich könnte stehen bleiben und die
Meeresstille genießen, doch ich laufe der Sonne hinterher. Und wie alle, die nach
den Sternen greifen, muss ich einen langen beschwerlichen Weg zurücklegen,
doch ich gehe ihn, weil die Sonne, die in weiter Ferne auf mich wartet, mich
tröstet und mir den Weg weist.
8 Das süße Leben

Marcello

Marcello, Marcello … Mein Griff nach den Sternen wäre ohne ihn niemals so
schön und erfüllend gewesen. Sein sanfter Blick und sein freundliches Lächeln
haben mich immer begleitet und mir ein Gefühl von Geborgenheit, Fröhlichkeit
und tausend andere Emotionen geschenkt. Zwölf Filme, die wir gemeinsam
gedreht haben, hinterlassen ihre Spuren. Beim ersten Mal war ich zwanzig und er
dreißig Jahre alt, beim letzten Mal er siebzig und ich sechzig. Und dazwischen lag
eine lange, herzliche, intensive Freundschaft, die am Set auch leidenschaftliche
Töne kannte.
Die Chemie zwischen uns stimmte einfach. Unser Zusammenspiel, ob es nun
sexy,  fröhlich, melancholisch, ironisch oder einfach zutiefst menschlich war,
funktionierte so spontan, dass sich manch einer fragte, ob zwischen uns nicht
doch etwas war. Wir lächelten dann und zuckten mit den Schultern: »Nichts, gar
nichts. Wir sind einfach das reinste Wunder – im Film wie im Leben.«
Marcello scherzte darüber in aller Öffentlichkeit mit Enzo Biagi, der endlich
mehr über uns wissen wollte: »Meine längste Geschichte ist die mit Sophia … Das
geht nun schon seit 1954 …« Doch dann wurde er ernst: »Sophia ist nicht nur eine
gute Schauspielerin, sondern auch ein sehr authentischer Mensch. Zwischen uns
war und ist nichts. Ein tiefes Gefühl. Doch wenn ich es brüderlich nennen würde,
wäre das banal, es ist einfach etwas ganz anderes.«
Ich verstand mich ausgezeichnet mit seiner Mutter, Ida. Sie lud mich oft zu sich
ein, sie wusste, dass ich gern gut aß. »Sofi, morgen mache ich Kaninchen nach
Jägerinnenart für dich, hast du Zeit?« Sie war eine warmherzige Frau, die
natürlich stolz auf ihre Kinder war, aber mit beiden Beinen fest auf der Erde
stand. Sie kam aus armen Verhältnissen und wollte nicht jemanden spielen, der
sie nicht war. Sie blieb in ihrer Zweizimmerwohnung, in der sie ihr ganzes Leben
verbracht hatte. Sie freute sich, als Marcello der Verdienstorden »Commendatore«
verliehen wurde. Sie ließ die Urkunde und das Foto von Aldo Moro mit
Widmung rahmen und zeigte es ihren Nachbarinnen.
Die außerehelichen Abenteuer ihres ältesten Sohnes verstörten sie. Sie konnte
das nicht begreifen. Doch die tiefen, herzlichen und treuen Freundschaften, die
Marcello pflegte, verstand sie gut.
Mein Eindruck war, dass ihr an meiner Beziehung mit Marcello etwas lag, dass
sie ihr eine gewisse Sicherheit gab. Wenn sie ihn im Film mit einer anderen
Partnerin sah, fragte sie besorgt: »Marce, was ist los? Hast du mit Sophia
gestritten?«
Ich kann bis heute nicht sagen, worin eigentlich das Geheimnis unseres Erfolgs
bestand. Wir hatten unglaublich viel Spaß zusammen, das steht fest, und
wahrscheinlich spürte man das auch in unseren Filmen. Nach unserer Feuertaufe
unter Blasetti 1954 legten wir unser Schicksal in die Hände von De Sica, der uns
besser verstand als irgendjemand sonst und mindestens genauso viel Spaß hatte
wie wir. De Sica lenkte uns in die entscheidende Richtung und fand den Schlüssel
zu unserer Filmliebe. Als der Stab dann an Dino Risi, an Giorgio Capitani und
später an Ettore Scola, Lina Wertmüller und mit Prêt-à-porter schließlich an
Robert Altman ging, waren wir ein eingespieltes Team und kannten uns so gut,
dass wir eigentlich nur noch uns selbst spielen mussten. Wir brauchten keine
Proben mehr, wir fanden wie von allein ins Spiel. Federleicht, wie zwei Freunde,
die im Frühling zu einer Landpartie aufbrechen. »Sofì, was meinst du, sollen wir
losfahren?«
Wenn ich heute darüber nachdenke, gründete sich unser Erfolg vielleicht
gerade auf dieser Natürlichkeit, mit der wir den Alltag, die Hoffnungen und
kleinen Schwächen der normalen Leute zeigten, ob es nun das arme oder
kleinbürgerliche oder das etwas snobistische Italien der oberen Zehntausend war.
Gleichzeitig schöpften wir aus einem großen Fundus universeller menschlicher
Gefühle, die das Publikum auf der ganzen Welt verstand. Wir vermittelten der
Welt den »Italian way of life«, dessen Selbstironie die nationalen Schranken mit
Leichtigkeit überwand.

Wir hatten auch eine gewisse Zurückhaltung und eine optimistische


Lebenseinstellung gemeinsam. Und vielleicht vor allem eine bestimmte Art von
Lebensfreude und das Bewusstsein, dass es das Schicksal unglaublich gut mit uns
gemeint hatte.
»Ich glaube an die Natur, an die Liebe, die Gefühle, die Freundschaft; an diese
wunderbare Landschaft; an meine Arbeit (…)«, sagte Marcello so wunderbar
einfach, wie nur er es konnte.[2] Die Arbeit bewahrte ihn vor dem Laster der
Faulheit; wenn er nicht spielte, fühlte er sich wie »eine würdelose Flagge«.
Während ich nicht still sitzen kann, mich sorgfältig auf alles vorbereite und mein
Leben wie eine Fließbandarbeit organisiere, neigte er zur Trägheit.
»Ich bin ein Strohfeuer, eine Flamme, die sofort erlischt, wenn nicht jemand
Benzin draufschüttet«, sagte er einmal in einem Gespräch mit Oriana Fallaci.[3]
Er bezeichnete sich selbst als oberflächlich, dabei hätten wohl nur wenige
Menschen seines Ranges den Mut gehabt, sich so offen infrage zu stellen, wie er
es tat. Es stimmt, er machte gern halbe Sachen, ging unangenehmen Dingen aus
dem Weg und ließ sich leicht beeinflussen. Einige meinen, aufgrund seines
zerstreuten Wesens sei er ein halbes Kind geblieben, das sich von seiner eigenen
Naivität einlullen ließ. Während ich beim Schauspielen meine tiefsten
Empfindungen offenbarte, versteckte sich Marcello hinter den Gefühlen seiner
Figuren. Kurzum, Schauspielen war für ihn ein Versteckspiel, ein Fluchtweg, den
er insgeheim einschlug.
Wir glaubten beide an die Macht der Liebenswürdigkeit. Wir gaben uns nicht
für Lästereien her und mischten uns auch nicht in das Leben anderer ein.
Marcellos edle Seele verriet sich in all seinen Gesten und Worten. Vermutlich hat
es ihn deshalb so geärgert, dass man ihn in die Schublade des »Latin Lover«
steckte. »Mancher Landvermesser hat mehr Frauengeschichten als ich«, sagte er
zu Enzo Biagi, um sich gegen banale Vorurteile zu verteidigen.[4]
Auch Marcello hatte es anfangs schwer gehabt. Er kam 1924 in Fontana Liri,
nahe Frosinone, zur Welt, doch die Familie zog schon bald nach Turin und dann
nach Rom, in das Viertel San Giovanni. Die Kriegzeiten waren für ihn ein
Abenteuer. Um nicht eingezogen zu werden, bewarb er sich als Bauzeichner bei
Todt, einer großen deutschen Bauorganisation, die Straßen und Brücken für die
Wehrmacht baute. Er war zuerst am Militärinstitut für Geografie in Florenz,
später in Toblach. Von dort floh er mit einem gefälschten Passierschein nach
Venedig, wo er sich ein Jahr lang versteckte. Als die Alliierten anrückten, kehrte
er nach Rom zurück, im Gepäck einen Sack Bohnen für seine Familie. Doch wie
er feststellen musste, war sein jüngerer Bruder Ruggero, später übrigens ein sehr
guter Cutter, erfolgreicher als er: Er arbeitete im Hotel Excelsior und brachte
jeden Abend Lebensmittel in Hülle und Fülle mit nach Hause.
Wie im Hause Villani schlug man sich auch im Hause Mastroianni gerade so
durch, am Monatsende war das Geld immer knapp. Das war unsere Kindheit, das
war Italien damals, und vielleicht standen wir uns deshalb so nahe. Bis er
siebenundzwanzig war, schlief Marcello mit seiner Mutter in einem Bett, es gab
keinen Platz, der Bruder schlief auf der anderen Seite am Boden, und der Vater,
ein Tischler, im Flur.
Mit Ende des Krieges wurde es leichter, die Menschen schöpften wieder
Hoffnung, und ausgerechnet vor der »Bar Sport« entstand ein Platz, auf dem man
Boogie tanzte. Marcello verliebte sich leidenschaftlich in Silvana Mangano, die im
selben Viertel wohnte wie er, es aber ein Jahr später zum Film schaffte und ihn
für De Laurentiis verließ. Sie waren noch halbe Kinder, doch er litt sehr darunter
und besuchte sie trotz der schwülen Hitze und der Stechmücken am Set von
Bitterer Reis. Sie tat so, als würde sie ihn nicht sehen.
Marcello, der Bautechniker gelernt hatte, wollte eigentlich Architekt werden,
aber es waren schwere Zeiten, und man musste nehmen, was man kriegen
konnte. Er arbeitete als Buchhalter in einer Filmproduktionsfirma, nach zwei
Jahren kündigte man ihm, und er rackerte im Theater und in Cinecittà. Unter
anderem, weil er nun am Theaterinstitut der Universität spielte und dort von
Luchino Visconti entdeckt wurde. Doch Lehrjahre sind keine Herrenjahre, und
der Graf – Visconti entstammte dem italienischen Hochadel – fackelte nicht
lange: »Du siehst aus wie ein Gorilla, warum wirst du nicht
Straßenbahnschaffner?«, soll er bei einer Probe zu Vittorio Alfieris Oreste zu
Marcello gesagt haben, aber immerhin lernte er viel bei ihm. Marcello brachte es
nie über sich, Visconti zu duzen, und später blieb er auch bei Vittorio De Sica
beim »Sie«, obwohl sie sich so gut kannten.
Bei den Dreharbeiten zu Hochzeit auf Italienisch (Matrimonio all’italiana) fuhr
Vittorio ihn einmal an:
»Wegen dir habe ich gestern fünf Millionen verloren.« »Wegen mir?«
»Ich wollte zu dir, aber du warst nicht da. Sonst wären wir vielleicht Pizza
essen gegangen, und ich wäre nicht im Kasino gelandet …«
»Commendatore, mit Verlaub: Warum verschleudern Sie Ihr Geld am
Spieltisch?«
Mit Fellini verstand er sich dagegen sofort blendend, als hätten sie schon
zusammen im Sandkasten gespielt. Ihre Freundschaft sei so vollkommen
aufrichtig, weil sie auf einem gesunden gegenseitigen Misstrauen beruhe, pflegte
der »Maestro« Fellini zu scherzen. Es machte den beiden Spaß, durch die Stadt zu
streunern und anderen einen Bären aufzubinden. Sie waren wie innige Brüder.
Sie gingen gemeinsam durchs Leben und drehten nebenbei ein paar Meisterwerke
des italienischen Films. Man denke nur an Das süße Leben, Achteinhalb (Otto e
mezzo) oder Ginger und Fred (Ginger e Fred).
Marcello war sehr konstant, was seine Gefühle anging. Wen er liebte, den ließ
er nie im Stich. Seine Ehe mit Flora Carabella wurde nie geschieden. Er hatte
andere Frauen und Gefährtinnen, aber er wollte sich nicht scheiden lassen. Flora
war seine Frau. Selbst für Catherine Deneuve oder seine amour fou mit Faye
Dunaway trennte er sich nicht von ihr, er wollte ihr kein unnötiges Leid zufügen.
Flora wusste das, sie liebte ihn und ertrug seine Affären. Für Barbara und Chiara
war er ein verständnisvoller, liebevoller Vater, und wenn es sein musste, trösteten
sie ihn auch über seine verlorenen Lieben hinweg.
Wenn ich an Marcello denke, fällt mir zuallererst seine Gutmütigkeit ein. In
den meisten Filmen, in denen wir gemeinsam vor der Kamera standen, spielt er
den treuherzigen, wandlungsfähigen Liebhaber oder Ehemann und ich die
Aggressive, die Ungestüme oder Spröde. Als ich ihn in einer Szene wieder einmal
schlecht behandeln musste, sagte ich zu ihm:
»Entschuldige, Marce, das wollte ich nicht. Diesmal habe ich wohl
übertrieben …«
Aber er war nicht nur gutmütig, sondern auch durch und durch Schauspieler.
Er nahm es mir nie krumm.
»Du bist eine kleine Hexe, Sofì, komm her, lass dich umarmen, ich habe dich
von Herzen lieb.«
Am Ende musste fast immer er mich trösten und mein schlechtes Gewissen
beruhigen. Als Dank kochte ich ihm dann Bohnen mit Speck.
Unsere Freundschaft kam ohne viele Worte aus. Ein Blick oder eine Geste
genügte, um uns zu verstehen oder dem anderen Mut zu machen. Wir haben uns
nie gegenseitig Vorwürfe gemacht, uns nie über den anderen beklagt und nie
etwas voneinander verlangt, was der andere nicht wollte. Wenn die Anspannung
in einer schwierigen Szene einmal zu groß wurde, stichelten wir höchstens und
sagten: »Es gefällt mir nicht, wie du das spielst …« Aber unsere Augen lachten, es
war klar, dass wir nur scherzten.

Zwischen Romagna und Brecht

»Vertrauen« – das Wort klingt beinahe wie eine Losung. Mit der Zeit habe ich
gelernt, dass die wahre Herausforderung in unserem und vielleicht in jedem
Beruf darin liegt, das Vertrauen, das einem die anderen entgegenbringen, in
Selbstachtung zu verwandeln. Nur wenn man wirklich an sich glaubt, kann man
anfangen, Erfahrungen zu sammeln, und aus seinen Erfolgen und Fehlern die
richtigen Schlüsse zu ziehen.
Für mich kam dieser Moment mit Und dennoch leben sie. Nach diesem Film
hatte ich das Gefühl, ich könnte mehr oder weniger jede Rolle spielen. Der Erfolg,
den ich vor allem selbst spürte, beflügelte mich, mit ihm begann für mich ein
überaus arbeitsreiches Jahrzehnt, in dem ich als Charakterdarstellerin anerkannt
und endlich Ehefrau und Mutter wurde.
Es waren die »Fab Sixties«, die die Welt veränderten. Die Zeit der Beatles und
von JFK, von Achteinhalb und James Bond, der legendären Strandbar »Bussola«
und von Martin Luther King. Ich drehte ganz unterschiedliche, häufig
internationale Filme, verkörperte aber so oft ich konnte Italienerinnen, in denen
ich mich besser ausdrücken konnte.
Während ich darauf wartete, gemeinsam mit Marcello Gestern, heute und
morgen zu drehen, reiste ich durch Raum und Zeit und bewegte mich in den
verschiedensten Welten. Nachdem ich in El Cid, einer Art »Superwestern« in
historischen Kostümen, die Jimena an der Seite von Charlton Heston gespielt
hatte, verwandelte ich mich in die Ungezähmte Catherine (Madame Sans-Gêne),
eine Waschfrau, die zur Zeit der Französischen Revolution zur Herzogin ernannt
wird.
Im Herbst 1961 ließ ich den Historienfilm hinter mir und stand für De Sica in
»Der Hauptgewinn« (La riffa), einer von vier Episoden aus Boccaccio ’70, vor der
Kamera. In den anderen Episoden führten Visconti, Fellini und Monicelli Regie.
Am Drehbuch waren Ennio Flaiano, Suso Cecchi D’Amico, Giovanni Arpino,
Tullio Pinelli, Goffredo Parise, Brunello Rondi, Italo Calvino und natürlich Cesare
Zavattini beteiligt, von dem die ursprüngliche Idee stammte. Vor der Kamera
defilierten Romy Schneider und Paolo Stoppa, Tomas Milian, Romolo Valli,
Peppino De Filippo und Anita Ekberg, die mit Marcello Das süße Leben gedreht
hatte.
In meine Episode hatte De Sica seine ganze Ironie eingebracht, doch selbst in
Szenen, die ans Groteske grenzten, blieb sie subtil und unaufdringlich. Auf einem
Jahrmarkt in der Romagna findet eine geheime Lotterie statt, deren erster Preis
Zoe, die Schießbudenbesitzerin, ist. Das war meine Rolle.
»Männer von Lugo, … schießen Sie nach bunten Ballons … Pistole oder
Karabiner?«
Fröhlich und leicht anzüglich singe ich zum unwiderstehlichen Cha-cha-cha-
Rhythmus von Trovajoli: »Soldi soldi soldi tanti soldi, beati siano i soldi, i bene
amati soldi perché / chi ha tanti soldi vive come un pascià, e a piedi caldi se ne
sta …« Ich trage ein leuchtend rotes Kleid, das mir fast zum Verhängnis wird, als
ein wütender Stier aus seinem Gehege ausbricht. In der Schießbudenbesitzerin
lasse ich die Pizzabäckerin wiederauferstehen, doch am Ende verzichte ich für die
wahre Liebe auf alles Gold der Welt.
Die Dreharbeiten in der ländlichen Gegend, inmitten von Kühen und
Jahrmarktstrubel, machten mir einen Heidenspaß. Das Romagnol – der Dialekt,
der in der Romagna gesprochen wird – gefiel mir, und am Ende der Dreharbeiten
war er beinahe der meine geworden. Allen fiel auf, wie gut gelaunt ich war. Ich
radelte zu den Dreharbeiten, kochte in den Pausen, hörte Jazz und sang.
Manchmal besuchte mich meine Schwester Maria. Wir stürzten uns dann in
neapolitanische Duettgesänge, mit denen wir die ganze Truppe unterhielten. Und
als hätte das nicht genügt, tauften die Blumenzüchter von Lugo eine neue
Rosensorte auf meinen Namen. Was wollte ich mehr?
Meine Zoe gefiel Moravia, machte den Autor von Das Gold von Neapel,
Giuseppe Marotta, aber so nervös, dass er Zavattini halb im Scherz des Plagiats
beschuldigte. Der Film wurde ein Riesenerfolg. Man überlegte sogar, einen
internationalen »Boccaccio 71« mit Jacques Tati, Charlie Chaplin und De Sica als
Regisseure auf die Beine zu stellen.
Doch das Sequel kam nicht zustande, und 1962 drehte ich – nachdem ich in
Die dritte Dimension (Le couteau dans la plaie), einem Thriller von Anatole
Litvak, vor der Kamera gestanden und den Oscar für Und dennoch leben sie
bekommen hatte – erneut unter der Regie von Vittorio De Sica das Drama Die
Eingeschlossenen von Altona (I sequestrati di Altona). Das Werk, auf dem der
Film basiert, stammte von keinem Geringeren als Jean-Paul Sartre, und mit uns
am Set waren sage und schreibe drei Oscargewinner: die Schauspieler Frederic
March und Maximillian Schell und der Drehbuchautor Abby Mann, der von
Zavattini unterstützt wurde. Ich spiele in dem Film eine kultivierte Brecht-
Schauspielerin vom Berliner Ensemble, die sich einem nationalsozialistischen
Schwager und dessen dunkler Vergangenheit gegenübersieht. Die Rolle hatte
wenig mit dem zu tun, was ich sonst verkörperte, und vielleicht war der Film
trotz der berühmten Namen auch nicht rundum gelungen. Doch es war eine
phantastische Geschichte, und wir Schauspieler versuchten, unser Bestes zu
geben. Die Kritiker waren jedoch unerbittlich oder vielleicht auch einfach nur ein
wenig irritiert. So etwas kommt vor. Wenn man erwachsen wird, lernt man, dass
es keine Katastrohpe ist, wenn der Erfolg ausbleibt. Am nächsten Morgen scheint
wieder die Sonne, und der Appetit kommt auch zurück. Für mich war es
jedenfalls eine interessante Erfahrung, die mir einen weiteren »David di
Donatello« einbrachte und mein kritisches Bewusstsein ein wenig schärfte.
Während der Aufnahmen rief mich Carlo an, um mir eine traurige Nachricht
zu überbringen. Ich war im Hotel, die Dreharbeiten waren gerade beendet.
»Sophia …«
»Was ist los? Du klingst so komisch?«
»Marilyn ist tot, ich habe es gerade erfahren. Barbiturate. Angeblich
Selbstmord.«
Ich konnte nichts sagen, schweigend hielt ich den Hörer in der Hand. Carlo,
der wusste, dass sich hinter der strengen, entschlossenen Fassade eine
gefühlsbetonte Frau verbarg, wurde unruhig.
»Sophia, bist du noch da?«
»Ja, ja, wieso nicht, wo soll ich hingehen …«
Ihr früher, letztendlich ungeklärter Tod verstörte mich. Plötzlich ging mir
allerhand durch den Kopf, schwindelerregende, verwirrende Bilder stürzten auf
mich ein. Ich dachte über den Sinn von Schönheit, Einsamkeit, über das
urmenschliche Bedürfnis, geliebt zu werden, nach. Ich sah ihr verführerisches
Lächeln vor mir, das immer ein wenig melancholisch wirkte. Wenn selbst die
schönste Frau der Welt nicht glücklich war?
Marilyn war eine großartige Schauspielerin, aber sie wurde von ihrem großen
Talent, von Männern, die alles von ihr wollten, aber nichts zurückgaben oder sie
nach eigenem Gutdünken formten, erdrückt. Sie hatte ihren eigenen Weg nicht
gefunden. Mir lief ein Schauer über den Rücken, es war, als legte sich ein
Schatten auf mich.
Wir leben in einer grausamen Welt, die nur nach dem äußeren Schein fragt
und sich damit zufriedengibt; was sich dahinter verbirgt, interessiert die Leute
nur selten. Unser Traum muss daher fest im wirklichen Leben verankert sein,
damit wir nie vergessen, wer wir sind und woher wir kommen. Die Faszination,
die von Marilyn ausging, hat sie am Ende zerstört, weil sie nur noch ein
Sexsymbol war, dem jede Lebensfreude fehlte.

Gestern und heute

»Vittorio, aber ich habe noch nie einen Striptease gesehen, nun saccio proprio
comme se fa − ich habe keine Ahnung, wie das geht.«
»Sofì, keine Sorge, ich habe einen Fachmann organisiert, der es dir beibringt.«
Nach einem weiteren langen Frühling in Spanien und Cinecittà, wo ich mit
Alec Guinness und Omar Sharif Der Untergang des Römischen Reiches (The Fall
of the Roman Empire) drehte, nur unterbrochen von einer kurzen Auszeit in
Hollywood, wo ich Gregory Peck einen Oscar überreichte, stand ich erneut für
Vittorio vor der Kamera. Er war in Hochform und verlangte wieder einmal, dass
ich meine eigenen Grenzen überschritt. Wir schrieben Juli 1963, und auch
Marcello war wieder dabei, unser magisches Kleeblatt also komplett.
Mein Widerstand stieß bei Vittorio auf taube Ohren.
»Pass auf, Sofì, wir proben jetzt eine Szene, die so unglaublich sexy ist, dass
Marcello so klein mit Hut wird!«
Ich schaute ihn zweifelnd an, aber insgeheim ahnte ich schon, dass das Ganze
gewaltigen Spaß machen würde.
Gestern, heute und morgen ist wie Boccaccio ’70 ein Episodenfilm, doch
diesmal waren Marcello und ich die Hauptdarsteller in allen Episoden. Wir
drehten den letzten Teil zuerst und gingen dann rückwärts vor, wobei wir kreuz
und quer durch Italien fuhren.
Mara, die Hure mit dem großen Herz, wohnt an der Piazza Navona. Von ihrem
Balkon aus blickt man über die Dächer von Rom und auf den benachbarten
Balkon eines angehenden Priesters, der sich schließlich hoffnungslos in sie
verliebt und von zu Hause abhaut. Die verzweifelte Großmutter des jungen
Mannes beschuldigt Mara, ihren Jungen verführt zu haben, doch nach einer Weile
schließen die beiden Frauen Frieden und machen sogar gemeinsame Sache. Mara
bringt ein kleines Opfer, damit der junge Mann nach Hause zurückkehrt: Sie lässt
ihre Arbeit eine Woche lang ruhen. Nur für ihren glühendsten Verehrer legt sie
einen Striptease hin, der Filmgeschichte schreiben sollte.
Der Mann vom Fach, den De Sica dazugeholt hatte, war Jacques Ruet. Er kam
geradewegs vom Crazy Horse in Paris. Nach einigen »Unterrichtseinheiten«, in
denen er mich über Gesten, Rhythmus und Bewegungsabläufe aufklärte, war ich
bereit, den Striptease auf meine Weise zu interpretieren.
Ehrlich gesagt habe ich die ganze Woche vor dem Dreh der Szene kaum ein
Auge zugemacht. Und offenbar war ich auch an jenem Morgen so nervös, dass
ich De Sica ausnahmsweise um einen Gefallen bat: »Vittorio, willst du das Set
nicht besser räumen lassen? Bitte!«
Wir waren allein mit dem Kameramann. Marcello lümmelte angezogen auf
dem Bett herum und wartete auf das Schauspiel, das sich ihm gleich bieten
würde. »Los, Sofì, gib alles!«, flüsterte er und lächelte mir aufmunternd zu. Dass
er das Ganze mit Humor nahm, machte es mir viel leichter. Während ich mich
zur Melodie von »Abat-jour« auszog, saß Marcello zusammengekauert auf dem
Bett, das Kinn auf die Hände gestützt, und wischte sich hin und wieder mit dem
Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Er sah aus wie ein naschhaftes Kind. Als
ich den Strumpfhalter löste, heulte er auf wie ein liebestoller Wolf, und in diesen
Aufschrei packte er die ganze Fröhlichkeit, zu der ein Mensch fähig ist. Es war
wieder einer von Vittorios großartigen Einfällen, geradezu ein Geniestreich, der
ihm 1965 den Oscar für den besten ausländischen Film einbrachte.
Ich weiß, ich laufe Gefahr, mich zu wiederholen, aber ohne Vittorio hätten
Marcello und ich die Szene nicht hingekriegt. Das ist einfach so. Unter anderem,
weil uns beiden jede schonungslos zur Schau gestellte Nacktheit fremd war.
»Ich erinnere mich noch an die alten Filme«, sagte Marcello, ebenfalls zu Enzo
Biagi, »etwa an Marlene Dietrich. Da verschwanden die Leute noch hinter einem
Paravent, und plötzlich sah man ein Mieder. Man phantasierte, durchbohrte den
Wandschirm mit Blicken und stellte sich vor, wie sie sich auszog und dann nackt
war.« Der Paravent in unserer Szene war De Sicas ironischer Unterton, seine
Mahnung, sich selbst nicht allzu ernst zu nehmen, und sein Lächeln voller
Zuneigung und Menschlichkeit. Erst viel später wurde mir klar, dass dies die
Szene ist, die mir in meinem ganzen Leben am meisten Spaß gemacht hat. Und
ich denke, sie funktioniert immer noch, obwohl sich die Zeiten und die
Sehgewohnheiten geändert haben.
Wenn ich an die Worte von Omar Sharif denke, den ich damals gerade erst
kennengelernt hatte, muss ich immer lachen: »Der Striptease war für mich gar
keine Überraschung. Ich habe so oft geträumt, dass du ohne Kleidung vor mir
stehst, Sophia, dass mir die Szene vollkommen bekannt vorkam!«

Für die Episode »Adelina«, die Eduardo De Filippo nach der wahren Geschichte
von Concetta Muccardi geschrieben hatte, reisten wir nach Neapel. Die
Zigarettenschmugglerin aus dem Viertel Forcella wusste nur allzu gut, dass
Schwangere nicht ins Gefängnis wanderten, und bekam sage und schreibe
neunzehn Kinder, die im Film glücklicherweise auf sieben
zusammenschrumpften. Das reichte natürlich nicht, um einer Verhaftung zu
entgehen, sprich: In der Filmversion musste sie dann doch ins Gefängnis, aber
ihre Kinder waren immer noch mehr als genug. Sie waren einfach überall, auf
dem Arm, unterm Bett und vor dem Gefängnis, wo sie auf ihre Mutter warteten.
Die komischste Szene blieb Marcello alias Carmine vorbehalten, dem
verstörten Ehemann, der seinen ehelichen Pflichten nicht mehr nachkommen
kann. Die Szene, in der wir schließlich zum Arzt gehen, ist einfach göttlich.
»Ich meine, wenn ihr keine Kinder mehr wollt …«
»Nein, Professore, ganz im Gegenteil, ganz im Gegenteil. Das ist es ja, es
funktioniert nicht mehr!«
»Wenn ein Pferd überanstrengt ist«, ermahnt uns der Arzt, »dann peitscht man
es nicht, sondern führt es in den Stall.«

Das Schicksal wollte es, dass ich mich ausgerechnet während der Dreharbeiten in
Neapel auf einmal seltsam fühlte. Nach ein paar Tagen fragte ich mich, ob
Adelina mich vielleicht angesteckt hatte und ob ich schwanger sei. Der Arzt, zu
dem ich schließlich ging, machte einige Tests, die aber allesamt negativ ausfielen.
Doch das Gefühl hielt an, und so reiste schließlich eine Koryphäe aus Rom an,
mit schwarzem Lederkoffer. Als der Koffer aufsprang, machte ich vor Schreck
einen Satz rückwärts. Eine kleine grünliche Kröte schaute mich ebenso
erschrocken aus vorquellenden Äuglein an.
»E chisto che c’entra? – Was wollen Sie denn damit?«
Der Arzt blieb die Ruhe selbst und injizierte ihr Urin von mir.
»Wenn sie stirbt, dann sind sie in anderen Umständen …«
Nach einer Weile taumelte das Tierchen, als habe es einen Schlag auf den Kopf
bekommen, starb aber nicht. Nachdem ich den Arzt verabschiedet hatte, machte
ich einen Spaziergang nach Mergellina, um das arme Versuchstier in einen
Tümpel zu entlassen.
»Schade«, dachte ich. »Einen Moment lang hatte ich wirklich geglaubt,
schwanger zu sein.«
Entgegen aller Erwartungen stellte man gegen Ende der Dreharbeiten dann
doch fest, dass ich schwanger war. Ich konnte mich vor Freude kaum fassen. Mit
meinen neunundzwanzig Jahren, was damals für eine werdende Mutter schon als
»alt« galt, war ich von meinem Kinderwunsch geradezu besessen. Ich liebte
Kinder, und wenn ich mir vorstellte, mein eigenes Kind in den Armen zu halten,
empfand ich eine Erfüllung, nach der ich mich schon immer gesehnt hatte.
»Sophia ist die geborene Mutter«, sagte Vittorio, der viel von Kindern verstand
und als Regisseur viele Kinder zu Hauptdarstellern gemacht hatte. Einige lernte
ich am Set näher kennen und hielt danach lange Zeit Kontakt zu ihnen. Das
Mädchen aus Hausboot hat mir erst vor wenigen Jahren geschrieben, dass sie
inzwischen Großmutter geworden ist!
Ich spielte eine verzweifelte Mutter in Die Frau vom Fluss, eine verbitterte
Mutter in Die schwarze Orchidee, die leidenschaftliche Mutter der Zwillinge von
Cid Campeador, ganz zu schweigen von Cesira, der süditalienischen Mutter in
Und dennoch leben sie, die für ihre Tochter durchs Feuer geht.
In Es begann in Neapel von 1959 schlüpfte ich in die Rolle der fröhlichen Tante,
die die Dinge nicht so genau nimmt. Im Übrigen war ich in der Zwischenzeit
tatsächlich Tante geworden. Am 30. Dezember 1962, genau neun Monate nach der
Hochzeit mit Romano Mussolini, brachte Maria die kleine Alessandra zur Welt.
Sie war ein Frühchen, und wir machten uns tagelang schreckliche Sorgen. Am
12. Januar wurde sie schließlich getauft, und ich als glückliche, stolze Patentante
hielt sie im Arm.
Im Nachhinein scheint es schier unglaublich, aber damals rief selbst ein so
freudiges, unschuldiges Ereignis Unmut hervor. Eine Sünderin wie ich hätte kein
Recht, an einer religiösen Zeremonie teilzunehmen, hieß es. Das Verhältnis
zwischen Carlo und mir war alles andere als geregelt und erregte noch immer die
krankhaften Gemüter mancher Moralapostel. Wir versuchten, uns davon nicht
beeindrucken zu lassen. Alessandra wuchs, nachdem der erste Schreck vorbei
war, als kräftiges, gesundes Mädchen heran, und aller Kummer war schnell
vergessen. Doch nun war die Reihe an mir, und ich konnte es kaum erwarten,
meinem eigenen Baby in die Augen zu blicken.
Doch es sollte anders kommen, und die folgenden Tage gehören zu den
traurigsten, dunkelsten meines Lebens. Trotz aller Ablenkung durch die
Dreharbeiten spürte ich, dass irgendetwas nicht stimmte. In Rom suchte ich einen
anderen Gynäkologen auf, der mich aber beruhigte. »Sie sollten sich ein paar
Tage ausruhen, und reisen Sie besser mit dem Zug und nicht mit dem Auto.
Machen Sie sich keine Sorgen, es ist alles in Ordnung.«

In Mailand drehten wir dann die letzte Episode des Films, nach einer Erzählung
von Moravia. »Anna«, wie die Episode hieß, spielte nur leider fast vollständig in
einem Auto, das am Set auf einen Hydraulikarm montiert war, um das Ruckeln
der Autofahrt zu simulieren. Es ruckelte schlimmer als in einem echten Auto.
In der ersten Nacht in Mailand hatte ich plötzlich furchtbare Schmerzen. Der
Arzt, den das Hotel herbeirief, beruhigte mich, doch wenige Stunden später
musste ich mich in die Notaufnahme begeben. Wir riefen keinen Krankenwagen,
um kein Aufsehen zu erregen, aber als ich den Fahrstuhl bestieg, wurde mir
beinah schwarz vor Augen. Alle kümmerten sich rührend um mich, doch die
Nervosität der Ärzte, die hektisch um mich herumliefen, ließ nichts Gutes ahnen.
Ich war starr vor Angst, weil ich das Unheil auf mich zukommen sah, das mir
meinen wunderbaren, lieb gewordenen Traum zu entreißen drohte. Ich fühlte
mich machtlos und stellte Fragen, die mir niemand beantworten konnte.
»Seien Sie unbesorgt, Signora. Wir müssen noch ein paar Untersuchungen
machen, um herauszufinden, was los ist. Regen Sie sich nicht unnötig auf, es wird
alles gut.« Ein Wortschwall, der mir nichts sagte und mich mit meiner
Verzweiflung allein ließ. Ich sehe mich noch auf dem Krankenhausbett liegen, die
weißen Wände, das Neonlicht, der Desinfektionsgeruch, der durch alle Poren
ging und bis in mein Herz drang.
Noch heute schmerzt mich vor allem die Erinnerung an die verächtlichen
Blicke der Schwestern. Sie sahen mich an, als wollten sie mir die Schuld geben –
unbeweglich, gefühllos und ohne jede Menschlichkeit. Diese vollkommen
überflüssige Demütigung speiste sich aus billigen Vorurteilen. Manche Menschen
glauben einfach, sie könnten über andere richten, dabei wussten sie nicht das
Geringste über die Frau, die sie vor sich hatten, über ihre Wünsche und Ängste.

Nach der Ausschabung machte ich mich sofort wieder an die Arbeit. Ich wollte
das Filmteam nicht unnötig warten lassen; und außerdem war es das Einzige, was
ich tun konnte.
Doch ich musste beinahe übermenschliche Kräfte aufbringen, um die
Dreharbeiten fortzusetzen. Ich fühlte mich unendlich leer, als wäre es um mich
für immer finster geworden. Wie sehr ich mich auch bemühte, ich sah kein Licht
im Dunkel, nichts konnte mich trösten. Carlo stand mir zur Seite, meine
Schwester kam aus Rom herbeigeeilt, um mir Gesellschaft zu leisten, vergebens.
Ich empfand nichts als abgrundtiefe Einsamkeit, wie ich sie noch nie erlebt hatte.
Mein Dasein als Filmstar war nichts im Vergleich zu dem der glücklichen jungen
Mütter, die ihre neugeborenen Babys an die Brust legten, wie ich gerade im
Krankenhaus gesehen hatte.
An dem Morgen, als ich wieder am Set ankam, blieb ich, in eine Ecke gekauert,
im Auto sitzen und starrte gedankenverloren auf ein graues, sinnloses Mailand.
Zögernd trat Marcello näher. »Was ist passiert? Bist du schwanger?«
»Ich war es.«
»Entschuldige.«
Er wandte sich genauso rücksichtsvoll ab, wie er näher getreten war, ohne ein
weiteres Wort zu verlieren. Wir sprachen nicht mehr darüber, aber ich wusste,
dass er in Gedanken bei mir war und mit mir fühlte. In dem Moment wurde mir
klar, dass ich auf seine Freundschaft immer zählen konnte.

Morgen

Später sollte sich herausstellen, dass das ruckelnde Auto nicht der Auslöser der
Fehlgeburt gewesen war. Es lag an den Hormonen. Doch bis ich das herausfand,
sollte das Leben noch viel Leid für mich bereithalten.
Vier Jahre später, während der Dreharbeiten zu Schöne Isabella (C’era una
volta), einem wunderbaren Märchenfilm von Francesco Rosi mit Omar Sharif,
verlor ich das zweite Kind. Erfahrungen sind insofern nützlich, als dass sie einen
auf das, was kommt, vorbereiten, doch sie schützen einen nicht vor Trauer und
Schmerz. Allerdings kannte ich meinen Körper nun besser und wusste die
Symptome gleich richtig zu deuten.
Obwohl die Dreharbeiten drei Tage später beendet sein sollten, rief ich Carlo
freudig und ein wenig besorgt an, als ich die ersten Schwangerschaftsanzeichen
bemerkte:
»Ich bekomme ein Kind, Carlo … Aber diesmal schone ich mich, ich will nichts
riskieren.«
Er war fast aufgeregter als ich. Mich ein weiteres Mal leiden zu sehen hätte er
nicht ertragen. Er war es gewohnt, die Dinge im Griff zu haben, doch hier
bewegten wir uns auf unbekanntem Terrain, ohne erkennbare Regeln oder
Gewissheiten. Um mich aufzuheitern, tat er rundum zuversichtlich.
»Natürlich, Sophia. Ich kümmere mich drum. Wir drehen den Film später zu
Ende.«
Ich verließ das Set und verordnete mir Bettruhe. Ich tat nichts. Las nicht,
schaute nicht fern, sprach so wenig wie möglich, damit das Baby Ruhe hatte. Vor
lauter Angst strich ich mir nicht einmal über den Bauch. Aber eine innere
Stimme flüsterte mir zu, dass mir wieder dasselbe passieren würde.
Mein Gynäkologe, der als echte Kapazität galt, war mir auch keine Hilfe. Im
Gegenteil. Als ich wie beim ersten Mal spürte, dass etwas nicht stimmte, war ich
zu Hause. Wir wohnten seit Kurzem in einer wunderschönen Villa in den
Albaner Bergen, in Marino. Carlo war beruflich in London, doch mein lieber
Freund Basilio leistete mir Gesellschaft. Seit wir uns am Set von Die Frau vom
Fluss kennengelernt hatten, haben wir uns nie mehr aus den Augen verloren.
Neben ihm fühlte ich mich sogar jetzt aufgehoben, obwohl ich die Katastrophe
schon kommen sah. An meiner Seite war außerdem Ines, meine Assistentin, und
hielt mir die Hand. Mit ihrem siebten Sinn spürte sie ebenso wie ich das nahende
Unheil, aber wir sagten nichts.
Basilio rief den Arzt an.
»Bitte kommen Sie sofort … Aber wenn ich es Ihnen doch sage, Signora Loren
hat Krämpfe, sie ist ganz bleich im Gesicht, und ihr wird schwarz vor Augen.«
Die große Koryphäe ließ sich nicht beeindrucken und sagte dünkelhaft: »Was
soll schon sein? Machen Sie ihr einen Kamillentee, wir sprechen uns morgen
früh.« Er hielt sich für wer weiß wen, jeder Selbstzweifel war ihm fremd, und
seine Leidenschaft lag offensichtlich woanders. Er hatte einen Rennwagen-Spleen
und fuhr mit einer lächerlichen Rennfahrermütze durch die Gegend, als wäre er
der neue Nuvolari.
Wir fuhren trotzdem ins Krankenhaus, und als wir ankamen, war er gerade auf
dem Weg zu einem Cocktailempfang. »Eine kleine Krise, das geht vorbei«,
urteilte er, bevor er mit wehendem Kittel, den er über einem Kashmirpullover
trug, den Raum verließ. »Schlafen Sie jetzt, ich habe Ihnen ein gutes
Beruhigungsmittel gegeben, morgen sehen wir weiter.«
Die Krämpfe waren jetzt so stark, als hätte ich Wehen, und mein Gesicht war
quittengelb. Meine Mutter, die in die Klinik geeilt war, wollte den Arzt mit aller
Macht daran hindern zu gehen: »Sehen Sie denn nicht, wie sie aussieht? Sie
verliert ihr Kind!« Aber vergebens. Der Cocktailempfang konnte nicht warten.
Als die Schmerzen um vier Uhr morgens plötzlich aufhörten, wusste ich, dass
es vorbei war. Ines informierte den Arzt, der in aller Seelenruhe gegen sechs Uhr
vorbeischaute und mir eiskalt mitteilte: »Signora Loren, Sie haben phantastische
Hüften, Sie sind eine traumhaft schöne Frau, aber Sie können keine Kinder
bekommen.«
Seine Worte gaben mir das Gefühl, eine Versagerin zu sein, eine Frau, mit der
etwas nichts stimmte, ein unfruchtbares Wesen. Meine letzten Hoffnungen
schwanden dahin. Von wegen Märchen. Mein Leben nahm gerade eine
tieftraurige Wendung, die mir jede Zukunft raubte. Und was die Sache noch
schlimmer machte: Die Zeitungen posaunten unseren Schmerz in alle Welt
hinaus.
»Jetzt kann ich den Film zu Ende drehen«, sagte ich zu Carlo, kaum dass er
vom Flughafen herbeigeeilt war und einen Fuß in mein Zimmer gesetzt hatte.
Doch mein Versuch, zu lächeln und die starke Frau zu spielen, war vergeblich.
Auch Carlo konnte nicht verbergen, wie ohnmächtig er sich fühlte. Erst jetzt
konnte ich mich gehen lassen und schluchzte los. Ich heulte wie ein Schlosshund.
Die folgenden Monate waren fürchterlich, das Gefühl, versagt zu haben, kroch
bis in die letzten Winkel meiner Seele, wie eine große Flut, die Häuser, Straßen,
Städte, alles mit sich riss. Sogar Carlo, sonst der bodenständige Geschäftsmann,
der keine Angst kannte, verlor den Boden unter den Füßen. Er verfiel in
Depressionen und konnte kaum noch arbeiten, sprechen und lachen.

Glücklicherweise hält das Schicksal neben scheinbar unüberwindbaren Hürden


auch Überraschungen bereit, und manchmal kann eine leichte Brise den Kurs
ändern und die Lösung bringen.
Die Ehefrau des Produzenten Goffredo Lombardo, des Erfinders meines
Künstlernamens, hatte eine ähnliche Odyssee hinter sich wie ich und war an die
richtige Person geraten. An einen Arzt, der, vor allem anderen, Mensch war. Er
hieß Hubert de Watteville und leitete die Frauenklinik des Genfer Kantonsspitals.
Er war ein großer, hagerer Mann in den Sechzigern, mit Adlernase und
aristokratischem Gebaren, und wirkte ein wenig zerstreut. Zuerst war ich
enttäuscht, ich hatte einen väterlichen Ratgeber und keinen abgehobenen
Fachmann erwartet. Doch ich irrte mich. Bald schon erkannte ich, dass es kaum
einen Mann mit mehr Verständnis und Feingefühl gab als ihn. Er selbst hatte
keine Kinder, seinen Kinderwunsch lebte er in der Arbeit aus, und die Kinder,
denen er zum Leben verhalf, waren ein wenig auch die seinen.
Er untersuchte mich gründlich und kam schließlich zu optimistischeren
Schlussfolgerungen, als ich erwartet hatte. »Mit Ihnen ist alles in Ordnung, Sie
sind eine ganz normale Frau. Wenn Sie das nächste Mal schwanger werden,
möchte ich Sie unter genauer Beobachtung haben, um zu sehen, was wir machen
können. Sie werden sehen, es wird alles gut.«
Als ich Anfang 1968 zum dritten Mal schwanger wurde, zog ich nach Genf. Ich
wohnte in einem Hotel, das in der Nähe seiner Praxis lag, legte mich ins Bett und
wartete auf das Wunder. De Watteville stellte mich auf den Kopf, untersuchte
alles, was möglich war, und sagte schließlich lächelnd: »Ihnen fehlen Östrogene,
darum kann sich das Ei nicht richtig einnisten. Wir geben Ihnen Östrogene, Sie
bekommen ein paar schöne Injektionen, und im Dezember kommt dann Ihr Kind
zur Welt. Es wird ein Weihnachtsgeschenk!«
In den nächsten Monaten, die ich im achtzehnten Stock des Hotels
Intercontinental verbrachte, war ich manchmal besorgt, dann auch wieder
vollkommen ruhig. Die erzwungene Untätigkeit verlangte allerdings dringend
nach Ablenkung. Ich fand sie schließlich im Kochen, das etwas mit Kindheit,
Familie, dem Leben generell zu tun hat. Gemeinsam mit Ines kochte ich die
Gerichte meiner Heimat und andere leckere Speisen, die ich auf Reisen
kennengelernt hatte, wobei ich mich von berühmten und weniger berühmten
Küchenchefs inspirieren ließ, die mir im Lauf der Jahre begegnet waren. Ich
schrieb alles sorgfältig in ein Heft, damit auch ja nichts verloren ging. Als Basilio
eines Tages darin blätterte, sagte er plötzlich: »Das ist ja ein wunderbares
Kochbuch. Warum veröffentlichst du das nicht?« So entstand Komm, iß mit mir
(In cucina con amore), das erstmals 1971 erschien und 2013 in Italien neu
aufgelegt wurde.[5] Die Liebe und das Kochen halfen mir über die langen Monate
bis zur Geburt hinweg, die ich ebenso fürchtete wie herbeisehnte.
Als es so weit war – wir hatten uns, um Komplikation auszuschließen, für
einen Kaiserschnitt entschieden –, holte mich De Watteville morgens um fünf
heimlich ab. Er fuhr mit dem Auto praktisch bis in die Hotelhalle vor, um mir die
Journalisten vom Hals zu halten, die sich schon vor dem Hotel und der Klinik
drängelten.
Die Nacht davor hatte ich kein Auge zugetan, mir ging alles Mögliche durch
den Kopf. Eigentlich wünschte ich mir, die Schwangerschaft möge ewig dauern.
Als ich die Klinik betrat, hörte ich die Neugeborenen schreien, und mir wurde
klar, dass es schon bald mein eigenes Baby sein würde, das schrie. Wie gern hätte
ich die Zeit angehalten. Ich hatte Angst. Ich wollte mein Kind, das doch nur mir
gehörte, nicht mit anderen teilen. Heute weiß ich, dass es genau dieses Gefühl ist,
mit dem das Muttersein beginnt. Ich musste mich von meinem Baby trennen, um
es ins Leben zu entlassen.
Wenige Stunden später kam Carlo Hubert Leone jr. zur Welt – Carlo nach
seinem Vater, Hubert nach Doktor De Watteville und Leone nach seinem
Großvater – und schenkte mir das zärtlichste, intensivste, großartigste Gefühl,
das ich je erlebt habe, abgesehen von Edoardos Geburt vier Jahre später.
Endlich war mein Traum, mein wahrer Traum, Wirklichkeit geworden.

Ich gebe mich meinen Gefühlen hin und spüre dieser unsagbaren Freude im Hier
und Jetzt noch eine Weile nach, bevor mich wieder meine Schatzkiste ruft und in
die Vergangenheit zurückführt.
9 Hochzeiten

Hochzeiten auf Italienisch

»Dummi’, die schönste Zeit mit den Kindern haben wir verpasst … Kinder, das
sind die, die man im Arm hält, wenn sie klein sind, die einem Sorgen bereiten,
wenn sie krank sind, und einem nicht sagen können, was sie haben … Die, die dir
mit offenen Armen entgegenlaufen und ›Papà‹ rufen …«

Filumena Marturanos Worte erklingen in meinen Ohren wie eine liebliche Musik
voller Wahrheit, während ich mit den Fingern eine zerknitterte Seite des
Magazins Oggi vom 23. April 1964 glatt streiche, die den Beginn der Dreharbeiten
ankündigt. Carlo und Vittorio De Sica hatten vor, die Komödie zu verfilmen, die
Eduardo De Filippo für seine Schwester Titina geschrieben hatte. Damals konnte
ich noch nicht wissen, dass ich vier Jahre später tatsächlich selbst Mutter sein
würde, und so war ich zunächst wieder mal eine Film-Mamma und spielte wieder
an der Seite von Marcello.
Carlo dachte schon länger darüber nach, und eines Tages, als er sich immer
noch nicht entschieden hatte, fragte er mich freiheraus, mit gespielter Lässigkeit:
»Sophia, könntest du dir vorstellen, die Filumena zu spielen?«
Ich hatte die Augen geschlossen, vor mir öffnete sich ein Vorhang aus rotem
Samt, ich sah die Lichter einer riesigen Bühne …
»Filumena? Filumena Marturano?«
Carlo spürte meinen Widerstand und lächelte mich an.
Ich erwiderte sein Lächeln: »Glaubst du, ich könnte das? Ich würde es sehr
gerne tun …«
Dieser kleine Austausch genügte, um eines unserer schönsten Abenteuer
einzuläuten.

Der Titel Hochzeit auf Italienisch spielte auf Pietro Germis Film Scheidung auf
Italienisch (Divorzio all’italiana) aus dem Jahr 1961 an. Für mich war es einer
meiner wichtigsten Filme und in jeder Hinsicht eine wunderbare Rolle. Erzählt
werden fünfundzwanzig Jahre aus dem Leben und Leiden einer intelligenten und
leidenschaftlichen Neapolitanerin, die bereit ist, mit allen Mitteln um ihre Würde
und die ihrer Kinder zu kämpfen.
Eine Herausforderung, die jede italienische Schauspielerin gerne angenommen
hätte.
In dem Stück ist Filumena eine vom Leben gezeichnete Frau mittleren Alters,
die sich jedoch nicht geschlagen gibt. Sie wächst in einer der ärmlichen Gassen
Neapels auf und landet, wie viele ihrer Altersgenossinnen, in einem Bordell. Dort
begegnet sie Domenico (»Dummì«), einem unverbesserlichen, wohlhabenden
Lebemann aus vollkommen anderen sozialen Verhältnissen. Sie verlieben sich
ineinander, und Filumena macht sich Hoffnungen. Domenico denkt aber nicht im
Traum daran, sie zu heiraten. Stattdessen hält er sie aus und macht sie zur
Geschäftsführerin einer seiner Konditoreien, die sie sehr erfolgreich leitet. Sie lebt
bei ihm zu Hause im Dienstbotenzimmer, und er betrügt sie am laufenden Band.
Mit der Zeit bringt sie drei Kinder zur Welt, die sie versteckt hält, aber mit
Domenicos Geld aufziehen und ausbilden lässt. Aber irgendwann ist sie es leid.
Die Kinder sind inzwischen größer, und sie möchte ihnen eine sichere Zukunft
bieten, einen Namen und einen Vater − zu Recht. Meine Schwester Maria und ich
wissen genau, worum es geht.
Hier beginnt der Film, mit einem phantastischen Täuschungsmanöver.
Filumena tut so, als läge sie im Sterben, um Domenico endlich dazu zu bringen,
sie zu heiraten. Selbst als der Schwindel auffliegt, gibt sie sich nicht geschlagen.
Nichts kann sie mehr aufhalten. Sie hat beschlossen, mit offenen Karten zu
spielen, bis zum Ende. »Dummi’, uno di chisti figli è tuxo − einer von diesen
dreien ist dein Sohn, aber ich sage dir nicht, welcher. Alle oder keiner.«
Die Figur der Filumena war zu ihrer Zeit, Ende der Vierzigerjahre, beim
Publikum so beliebt, dass sie quasi ein Eigenleben entwickelte. Eines Abends, so
erzählte Luigi De Filippo, Peppinos Sohn, kam eine Gruppe von Frauen in die
Garderobe des Eliseo-Theaters in Rom, um Titina zu begrüßen. Bei dieser
Gelegenheit wollten sie das Geheimnis lüften und erfahren, welcher der drei
Marturano-Söhne denn nun Domenicos Sohn war. »Brava, brava, Titina, Sie sind
wirklich bezaubernd. Aber bitte verraten Sie uns doch: Welcher ist der Sohn von
Domenico? Wir platzen vor Neugier.«
Titina, ganz die großartige Schauspielerin, die sie nun einmal war, spielte mit
und entgegnete:
»Meine lieben Damen, ich weiß es, aber ich kann es Ihnen unter keinen
Umständen verraten. Mein Bruder Eduardo würde ein Drama veranstalten!«
In der Regel durchschaue ich Menschen auf den ersten Blick. Genauso geht es
mir bei den Figuren: Ich mag sie oder ich mag sie nicht, ich kann etwas mit ihnen
anfangen oder nicht.
Filumena gehörte zu mir wie der Dialekt aus Pozzuoli, wie die Via Solfatara.
Vielleicht, weil sie stets ihren eigenen Regeln folgte: »Was zählt, ist nicht das,
was dich zum Weinen bringt, sondern das, was dich zum Lachen bringt.«
Carlo verlor keine Zeit, um meine Zweifel zu zerstreuen. Er fragte bei
Mastroianni an und beauftragte Renato Castellani, Tonino Guerra, Leonardo
Benvenuti und Piero De Bernardi mit dem Drehbuch. Aber es war wie immer
Vittorio De Sica, der meine letzten Zweifel ausräumte und die Rolle auf mich
zuschnitt.
Mit der Komödie, die dem Film zugrunde liegt, hatten Eduardo und Titina
große Erfolge am Theater gefeiert. Außerdem wurde der Stoff bereits 1951 von
den Geschwistern De Filippo für das Kino adaptiert. Wenn man »Filumena«
erwähnte, dachte damals jeder sofort an Titina und an andere große
Schauspielerinnen wie Regina Bianchi oder Pupella Maggio − die Besten der
Besten.
De Filippo war glücklich darüber, den Stab an De Sica weiterzureichen. Er
verließ sich auf seinen durch und durch neapolitanischen Humor und sein
Feingefühl. Er schien auch gespannt darauf zu sein, wie ich die Figur spielen
würde, die er eigentlich Titina auf den Leib geschrieben hatte.
»Saccio ca ’a trattarraje bbuon’ − Ich weiß, dass du sie gut behandeln wirst«,
sagte er mir eines Tages mit einem Lächeln auf den Lippen. »Es wird ihr an nichts
fehlen, du wirst ihr etwas von dir geben und die Welt bewegen.«
Doch manchmal spielt einem das Leben böse Streiche. Wir arbeiteten schon an
dem Film, als am 26. Dezember 1963 das Telefon in unserem Haus in Marino
klingelte. Wir saßen am Tisch und aßen zusammen mit Basilio, Mammina, Maria
und der kleinen Alessandra die Reste des Weihnachtsfestmals. Wie so oft nach
dem Feiertagstrubel herrschte eine familiäre und entspannte Stimmung – alles
erschien sanfter, und man konnte die gemeinsame Zeit richtig genießen. Am
anderen Ende der Leitung erklang die gebrochene Stimme von Vittorio De Sica:
»Sofì, Titina ist tot!« Ihr krankes Herz hatte nicht länger durchgehalten und uns
eine liebevolle und starke Frau und großartige Schauspielerin genommen.
Ich ging mit Vittorio zur Trauerfeier in der Kirche Sacro Cuore Immacolato di
Maria an der Piazza Euclide. Der Winter in Rom war kalt, und die Mäntel
Hunderter Trauergäste bildeten dunkle Tupfen auf dem Platz. Alles war umweht
von grenzenloser Traurigkeit. Mit bleiernem Herzen betraten wir die Kirche und
setzten uns zu Totò und Eduardo. An Peppino, den anderen Bruder, erinnere ich
mich nicht, vielleicht saß er auf der gegenüberliegenden Seite. Zwanzig Jahre
zuvor hatten sich die beiden Brüder De Filippo zerstritten und mieden sich
seither wie der Teufel das Weihwasser, obwohl ihre Schwester bis zuletzt
versucht hatte, die beiden einander wieder näherzubringen.
Auch Titina, Eduardo und Peppino waren, wie die drei heimlichen Söhne
Filumenas, Kinder aus einer außerehelichen Beziehung ihres Vaters, dem
großartigen Eduardo Scarpetta, einem unvergesslichen Meister des
neapolitanischen Theaters. Ihre Mutter, Luisa De Filippo, war die Nichte von
Scarpettas Ehefrau Rosa. Angeblich gab es in der Patchwork-Familie Scarpetta–
De Filippo noch einen unehelichen Sohn von Rosa De Filippo, dessen Vater König
Vittorio Emanuele gewesen sein soll.
Eduardo Scarpetta lebte mit beiden Frauen gleichzeitig, mit der einen hier, mit
der anderen dort. Dasselbe tat übrigens auch Vittorio De Sica: Auf der einen Seite
gab es seine Ehefrau Giuditta Rissone und die gemeinsame Tochter Emilia, auf
der anderen Seite María Mercader und die Söhne Manuel und Christian.
Hochzeiten auf Italienisch? Carlo und ich jedenfalls waren keinen Schritt weiter:
Unsere Heirat blieb nach wie vor unerreichbar.
Es war nicht so einfach, ein Theaterstück für das Kino zu adaptieren, ohne die
Intensität des Theaters zu verwässern. Hinzu kam, dass es, wie schon bei Und
dennoch leben sie, ein Problem mit dem Alter der Figur gab. Filumena war viel
älter als ich. Vittorio löste das Problem auf seine Weise, durch eine Art
Zaubertrick. Er versetzte diese wunderschöne Geschichte mit ihren Monologen
und Dialogen auf die Straße, in die Gassen, auf den Vesuv. Er brachte Filumena
auf die Rennbahn nach Agnano und ließ sie Pferderennen anschauen, in die
Kirche, auf die Piazza Gesù und ins elegante Café Soriano, das so real wirkte, dass
man glaubte, den Kaffeeduft in der Nase zu haben. Er malte das Geschehen bunt,
erfüllte es mit Leben und ließ es in der Zeit reisen. Außerhalb des Theaters
konnte er Filumena aus den Grenzen ihres Alters befreien und in langen
Rückblenden ihre Jugend erzählen. Dort sieht man sie erst als junges Mädchen
mit kurzem Haar und umgeben vom Schrecken des Bombenkriegs, der um sie
herum wütet, dann als junge neapolitanische Schönheit, temperamentvoll und
fröhlich.
Die Lieblingsszene meiner Söhne ist die, in der Domenico mich zum ersten Mal
sieht. Der Fliegeralarm treibt die Mädchen und ihre Kunden aus dem Bordell.
Alle flüchten in die Bunker, während ich wie ein kleines, verschrecktes Tierchen
im Zimmer bleibe, mich im Kleiderschrank verstecke und mich nicht hinaustraue.
»Wie alt bist du?«, fragt mich Marcello.
»Siebzehn«, antworte ich mit weit aufgerissenen, ängstlichen Augen. Diese
Augen bleiben den gesamten Film über trocken, denn:
»Weißt du, wann man weint? Wenn man das Gute kennt und es nicht haben
kann.« Und Filumena hat das Gute niemals kennengelernt. Erst am Ende, als sich
dank ihrer eigenen Stärke alles zum Guten wendet, bricht sie voller
Menschlichkeit in ein befreiendes Weinen aus.
Ich kann mir kaum eine andere Rolle denken, die besser zu mir gepasst hätte.
In mir begegneten sich Ausgelassenheit und Melancholie, Mut und Ängstlichkeit,
Unordnung und Perfektion und schufen so neue, tiefere Empfindungen.
Ich war wieder in Neapel, in meiner Stadt, und trug dazu bei, dass eines ihrer
Mädchen, ihrer »gefallenen Mädchen«, für immer in Erinnerung blieb.
Ich gebe zu, dass ich mir bei den Dreharbeiten zu Hochzeit auf Italienisch
helfen ließ. Und das war richtig so! Die Idee kam mir ganz spontan eines Abends
bei einem Gespräch mit Carlo und Enrico Lucherini, meinem Presseagenten, auf
der Terrasse des Hotels Excelsior in Neapel. Vom Meer wehte eine frische Brise,
die die Müdigkeit vertrieb und Platz machte für neue Gedanken. Während ich die
Straßen meiner Heimatstadt betrachtete, fühlte ich mich um Jahre zurückversetzt,
und auch die Gerüche und die Stimmung von zu Hause waren plötzlich wieder
da.
»Carlo, was hältst du davon, wenn ich Mammina und Zia Dora zu den
Dreharbeiten einlade?«
»Sicher, wenn es dir Freude macht. Aber wozu?«
Er war kein Mann der vielen Worte. Er wollte verstehen, nicht urteilen.
»Wer könnte sich besser in Filumena hineinversetzen als Mammina und Zia
Dora? Wer könnte mir ihr Innenleben anschaulicher vermitteln als sie? Die
richtigen Bewegungen und Worte …«
Ich zögerte nicht lange und rief die beiden an. Sie waren inzwischen um die
fünfzig. Damals war das schon alt.
»Liebes Tantchen, ich lasse dich morgen früh in Pozzuoli abholen.«
»Mammina, morgen früh um sieben schicke ich dir einen Wagen. Sei pünktlich
fertig.«
»Che staje dicenno, si’ asciuta pazza? – Was sagst du denn da? Bist du
verrückt geworden? Morgen früh?«, antworteten beide fast wie aus einem
Munde, wenn auch in zwei unterschiedlichen Telefonaten. Sie lebten schon lange
weit voneinander entfernt, und vielleicht hatten sie einander nie besonders
nahegestanden, schon als Kinder nicht. Jede träumte ihren eigenen Traum.
Dennoch sprachen sie die gleiche Sprache und reagierten ähnlich. Und ich
wusste, dass sie sich über meine Einladung freuten. Das Team empfing sie wie
zwei Königinnen. Mammina fühlte sich richtig wohl und stolzierte am Set auf
und ab wie ein Star. Sie präsentierte all ihr künstlerisches Talent, das sie im Leben
nie hatte zeigen können.
Zia Dora war etwas unbehaglich zumute, aber da sie keinerlei
schauspielerische Ambitionen hatte, erwies sie sich als umso wertvoller. Wenn
sich in den Ohren der beiden etwas falsch anhörte, nahmen sie mich beiseite und
sagten: »Chest’ ’o facess’ accussì, chest’ accullì − Das musst du so machen und
nicht so.« Ich folgte zwar dem Drehbuch, aber ihre Spontaneität verhalf meiner
Filumena zu der Natürlichkeit, die sie brauchte. Zwischen den Aufnahmen
betrachtete ich meine Ratgeberinnen liebevoll. Nur Dank ihnen war ich jetzt da,
wo ich immer hinwollte − sie waren meine Ehrengäste.
Die Krönung war Marcello, der den beiden den Hof machte und beim Spielen
sein Bestes gab. Sie hingen an seinen Lippen und buhlten um ihn wie um den
Hahn im Korb.
Endlich spielte Marcello mal eine weniger gutmütige Rolle als gewöhnlich und
machte seinen Domenico unvergesslich. Sein affektierter Schnurrbart, die
elegante Kleidung und seine etwas pathetische Oberflächlichkeit standen in
perfektem Kontrast zum Drama dieser Frau, die älter wird, ohne je
wahrgenommen zu werden. Und wieder einmal sollte unsere Leidenschaft auf der
Leinwand überzeugen und die Zuschauer berühren. Die Geschichte war so real
und so unvollkommen, dass selbst das Happy End absolut glaubwürdig und
menschlich wirkte.
De Sica hielt sich lange mit der Szene auf, in der Filumena und Domenico nach
zwanzig Jahren endlich heiraten: Er richtete sein Augenmerk auf scheinbar
nebensächliche Details, etwa das nicht perfekt sitzende Kleid oder die zu engen
Schuhe – die sich Filumena, wie jede Braut, die etwas auf sich hält, erleichtert
abstreift, sobald sie zu Hause ist –, die mehr Emotionen weckten als tausend
Worte.
Auch bei uns schäumten die Emotionen über, und wir amüsierten uns köstlich!
Die Anfangsszene, in der Filumena vorgibt, im Sterben zu liegen, mussten wir
zehn Mal drehen. Sobald wir »Action« hörten, brachen Marcello und ich in
Gelächter aus und konnten nicht mehr aufhören. Vittorio kochte vor Wut! Er war
müde, seine Füße schmerzten, und wir machten ihm auch noch das Leben
schwer. Die Krönung war, als der Priester zur letzten Ölung eintraf. Wir
versuchten, ernst zu bleiben, aber es genügte ein Blick, und wir fingen wieder an
zu lachen und ruinierten alles. De Sica war machtlos gegen unsere Lachkrämpfe.
Er donnerte los wie der Göttervater Zeus, dem ein niederer Gott einen Streich
gespielt hat: »Ihr seid Schauspieler, keine Kinder! Schämt ihr euch nicht, hier alle
zum Narren zu halten? Was soll das? Es reicht, reißt euch zusammen!«
Hochzeit auf Italienisch wurde als bester ausländischer Film für den Oscar
nominiert, obwohl ja Gestern, heute und morgen gerade erst gewonnen hatte. Ich
war außerdem als beste Schauspielerin nominiert. Das war eine große
Befriedigung. Eine Bestätigung dafür, dass die Auszeichnung für Und dennoch
leben sie keine rein emotionale Entscheidung der Academy gewesen war.
Filumena verdanke ich noch weitere bedeutende Preise: vom David Donatello
über die Nominierung für den Golden Globe, den Moskauer Filmpreis bis hin
zum Bambi, der Auszeichnung für die beliebteste Schauspielerin in Deutschland,
die ich, mit Ausnahme des Jahres 1966, zwischen 1961 und 1969 jedes Jahr
erhalten habe.
Carlo und Vittorio, Marcello und ich hatten also recht behalten: Unsere
Filumena hatte mit ihrer Hochzeit auf Italienisch gesiegt. Im wahren Leben
schienen die Dinge für uns allerdings viel komplizierter zu sein.
Eine andere, sehr italienische Hochzeit, hatte zwei Jahre zuvor stattgefunden.
Meine kleine Schwester Maria, die inzwischen erwachsen war, hatte Romano
Mussolini geheiratet, den jüngsten Sohn des »Duce«, Benito Mussolini. Nach
einer tragischen Kindheit widmete sich Romano mit Leib und Seele der Musik
und wurde ein talentierter Jazzpianist. Vielleicht war es gerade diese
Leidenschaft, mit der er Maria für sich gewann, denn auch sie war hoch
musikalisch. Ich war jedoch nicht überzeugt von ihrer Wahl und versuchte, mit
ihr darüber zu sprechen. Wir waren − wir sind − richtige Schwestern und
konnten uns immer alles sagen.
Unsere Vertrautheit ist eine der schönsten Gewissheiten in meinem Leben.
»Marì, bist du dir sicher? Bist du wirklich in ihn verliebt?«
»Was soll das, Sofì? Ich habe ihn sehr gern. Hast du ihn mal spielen hören?
Hast du seine Hände gesehen? Sein Lächeln?«
Romano lebte in seiner eigenen Welt. Die bestand aus Reisen, Konzerten und
Frauen. Er kam und ging, wie es ihm gefiel. Niemand wusste, wann oder warum.
Aber sie liebte ihn, oder zumindest glaubte sie, ihn zu lieben. Dagegen war kein
Kraut gewachsen.
Die Hochzeit fand am 3. März 1962 in Predappio statt. Die Menge drängte sich
in der Kirche und schwappte auf den Vorplatz wie Wasser aus einer
überlaufenden Flasche. Es wimmelte von Paparazzi, die ihre Kameras über die
Köpfe der Menschen hielten, nur um einen Schnappschuss von dieser seltsamen
Veranstaltung machen zu können. Ich sah gar nichts. Nicht einmal, dass der
Bräutigam, der beunruhigend spät zu seiner eigenen Hochzeit erschienen war, vor
dem Altar zusammenbrach und wiederbelebt werden musste.
»Was ist los? Kommt er nicht? Da ist er! Romano, Romano … geht es ihm nicht
gut? Ist er ohnmächtig geworden? Es wird die Hitze sein, das Gedränge, die
Aufregung …«
Jeder, der einen Blick erhaschen konnte, steuerte einen Kommentar bei, doch es
war völlig unmöglich, sich in dem Gedränge einen Überblick zu verschaffen.
Nach der Zeremonie machte ich mich davon, ganz benommen von dem
Durcheinander. Leider erwartete uns noch Schlimmeres. Der Wagen, der mich
nach Rom fahren sollte, wurde in einen Unfall mit einer Vespa verwickelt, der
tragisch endete. Es war einer der schrecklichsten Momente meines Lebens. Dazu
fehlen mir die Worte.
Die Ehe von Romano und Maria hielt gerade lange genug, um zwei Töchtern,
Alessandra (1962) und Elisabetta (1967), das Leben zu schenken. Anfangs waren
sie eine heile Familie, aber dann …

Hochzeit auf Französisch

»Was habe ich damit zu tun? Sophia, du weißt, ich lasse mich nicht gerne mit dir
am Set fotografieren.«
»Ach komm, Carlo, nun te lamenta’ − hör auf zu meckern. Es bedeutet mir so
viel. Tazio sagt, in diesem nach Vanille duftenden Licht werden wir wunderbar
aussehen!«, entgegnete ich mit meinem neckischen Blick, den ich immer dann
parat hatte, wenn ich etwas um jeden Preis erreichen wollte.
Tazio Secchiaroli, meinem Lieblingsfotografen, vertraute ich blind. Er konnte
machen, was er wollte, denn ich wusste, es würde immer das Richtige sein.
Marcello hatte ihn mir empfohlen. Sie waren befreundet, und auch wir kamen
sofort gut miteinander aus. Selbst Federico Fellini vergötterte ihn. Sie arbeiteten
häufig zusammen. Er hielt das nächtliche Leben der Via Veneto auf eine Weise
fest, dass seine Aufnahmen nicht nur die Figur des Paparazzo in Das süße Leben
inspirierten, sondern die Stimmung des gesamten Films beeinflussten.
Für mich gehörte er schon bald zur Familie. Er begleitete mich um die ganze
Welt, von Set zu Set, von Veranstaltung zu Veranstaltung. Sein Sohn David, der
im selben Alter war wie Carlo jr., fuhr des Öfteren mit uns in die Ferien. Tazio
war ein tiefsinniger Mann, ein Fotograf der Sonderklasse und jemand, der das
Leben liebte. Aber als seine Frau starb, hielt er den Schmerz nicht aus und wurde
des Lebens überdrüssig.
An jenem Tag am Set von Hochzeit auf Italienisch machte Tazio einige
hinreißende Bilder von Carlo und mir hinter dem Café Soriano, wo Domenico
hinter dem Rücken von Filumena die Heirat mit der jungen und ehrwürdigen
Diana, gespielt von Marilù Tolo, anzettelte.
Wir waren sehr gut getroffen, aber keine Zeitschrift wollte die Bilder
veröffentlichen. Matteo Spinola, der gemeinsam mit Lucherini mein Pressebüro
leitete, konnte sich das nicht erklären. Ich auch nicht. »Wir sind doch nicht etwa
aus der Mode?« witzelte ich, um meine Enttäuschung zu überspielen. Aber
schließlich fanden wir heraus, wo das Problem lag. Tazio entwickelte die Bilder
neu, sodass sie wie Schnappschüsse wirkten, und Matteo verkaufte sie als
»geheime Aufnahmen von Sophia Loren und Carlo Ponti«. Das Geheimnis war
gelüftet! Die ersten Bilder waren zu harmlos, sie interessierten niemanden. Diese
vermeintlichen exklusiven Schnappschüsse hingegen weckten das morbide
Interesse an unserer ehebrecherischen und sündigen Liebe. Dabei waren wir
schon seit Jahren zusammen und Carlos erste Ehe war längst beendet. Lediglich
das Gesetz – und die Kirche – weigerten sich, das zu akzeptieren.
Unser gemeinsamer Weg war steinig und hatte schon sieben Jahre zuvor
begonnen. Im September 1957 waren wir per procura in Ciudad Juárez, Mexiko,
vermählt worden. Aufgrund dieser mexikanischen Heirat aber, die auf einem
grotesken Foto verewigt wurde, auf dem zwei dickliche Anwälte an unserer Stelle
die Ringe tauschen, brach für uns die Hölle los. Da die Ehe eigentlich nur im
Ausland, nicht aber in Italien gültig war, hätte sie auch keine rechtlichen
Konsequenzen gehabt, wenn nicht besagte Signora Brambilla auf die Idee
gekommen wäre, uns anzuzeigen. Wer weiß, was sie tatsächlich dazu getrieben
hatte. Das fragten wir uns damals, im Wirbel der Ereignisse, und manchmal frage
ich mich das noch heute, nachdem alles gut ausgegangen ist. Doch so sehr ich
mich auch bemühe, ich kann darauf keine einleuchtende Antwort finden.
Gegen uns lag der Verdacht auf Verletzung von Artikel 556 des
Strafgesetzbuches vor: Bigamie. Zur Anzeige von Signora Brambilla kam 1959
eine weitere hinzu, diesmal von Ornaldo di Nello, dem Bürgermeister eines
kleinen Dorfes in den Abruzzen. Carlo riskierte bis zu fünf Jahre Haft und ich
eine Verurteilung wegen Mittäterschaft und Konkubinat.
Die ersten Jahre hielten wir uns im Ausland auf, aus Angst, verhaftet zu
werden. Aber man kann nicht ewig in Ungewissheit leben, weit weg von zu
Hause. Nach unserem Aufenthalt in Hollywood kehrten wir also, des Exils
überdrüssig, auf eigenes Risiko nach Italien zurück. Das permanente Gefühl,
etwas Illegales zu tun, machte uns das Leben schwer. Wir versuchten, nicht
zusammen gesehen zu werden. Wenn wir abends zum Essen ausgingen, kamen
und gingen wir getrennt, wir flüchteten vor den Blicken wie zwei heimliche
Geliebte, wie aus dem Internat geflohene Schüler oder Häftlinge auf Bewährung.
Wirklich paradox war die Tatsache, dass auch Giuliana, Carlos erste Ehefrau,
frei sein wollte. Als Anwältin prüfte sie die Lage immer wieder, um einen
Ausweg zu finden. Drei Mal ersuchten die Pontis das Kirchengericht in Rom, die
»Sacra Rota Romana«, um Annullierung ihrer Ehe, und drei Mal wurde es ihnen
verwehrt. Die einzige Möglichkeit, um uns aus der Affäre zu ziehen, schien die
Annullierung der in Mexiko geschlossenen Ehe zu sein, was wohl eher einen
Rückschritt als einen Fortschritt bedeutete.
Ich litt sehr unter der Situation, aber im Grunde meines Herzens hatte ich ein
reines Gewissen. Und so sehr mich auch die unzähligen öffentlichen und
persönlichen Anschuldigungen trafen, wusste ich, dass ich im Recht war. Ich
fühlte mich als Ehefrau, das musste reichen. Auch wenn es nicht immer einfach
war, am Pranger zu stehen, abgestempelt als Sünderin.
An den Kirchentüren hingen Bekanntmachungen, dass meine Filme auf den
Index gesetzt worden waren. Gleichzeitig forderte man die Gläubigen dazu auf,
für unsere sündigen Seelen zu beten. Wir wurden mit bösen Briefen nur so
überschüttet. Der schlimmste stammte von einer Gruppe Frauen aus Pozzuoli.
Dieser Angriff aus meiner Stadt, aus dem Herzen meiner Kindheit, meiner
Heimat, verletzte mich zutiefst, und ich erholte mich nur schwer davon.
Italien war in zwei Lager gespalten: die, die für uns waren, und die, die gegen
uns waren. Es war das Italien von Fausto Coppi und der sogenannten dama
bianca, Giulia Occhini, von Roberto Rossellini und Ingrid Bergmann. Ein
scheinheiliges Italien, das so nicht bleiben konnte: Bereits zehn Jahre später sollte
sich das alles durch die Volksabstimmung zum Scheidungsgesetz erledigen.
Davon waren wir aber noch weit entfernt, und uns blieb nichts anderes übrig, als
es zu ertragen, ohne uns davon kaputt machen zu lassen.
Ende August 1960 wurden Carlo und ich vor den Richter geladen. Wir waren
ganz pünktlich, und Carlo ging noch schnell in eine Bar auf einen Kaffee, als ob
wir lediglich eine unbedeutende Formalität zu erledigen hätten.
»Sophia, möchtest du etwas?«
Ich brachte kein Wort heraus, schüttelte nur den Kopf und drehte mich weg.
Mit meinen glasigen Augen wollte ich ihn nicht ansehen.
Wir stiegen die steilen Treppen des Gerichtsgebäudes hinauf, ganz außer
Atmen vor Aufregung. Zum ersten Mal, seit ich erwachsen war, hatte ich Angst.
Ich fühlte mich nackt und ohnmächtig. Die Welt schien sich verkehrtherum zu
drehen, und alle Regeln waren über den Haufen geworfen. Selbst Carlos
Anwesenheit gab mir keine Sicherheit. Während er an die Tür des Richters
klopfte, setzte ich mich auf den Rand eines alten Ledersessels im Vorzimmer. Zum
Glück war August, und außer uns war niemand anwesend. Es gab nur Staub,
endlose Korridore und schmutzige Scheiben. Angespannt betrachtete ich durch
das Fenster den sommerlichen Himmel, von einem Blau, wie es Kinder auf ihren
Bildern verwenden, die Sonne, die weißen Wölkchen und die Vögel.
»Kann es denn sein, dass sich an einem solchen Morgen unser Leben von
Grund auf verändert? Dass jemand aus Liebe ins Gefängnis muss?« Das
Mittelalter schien mir erschreckend nah.
»Komm, Sophia. Der Richter erwartet dich«, sagte Carlo leise und warf mir
einen aufmunternden Blick zu.
Ich trat allein ein, und wenn mich die Erinnerung nicht trügt, war das Ganze
nach wenigen Sekunden erledigt.
»Sind Sie mit Carlo Ponti verheiratet?«
»Nein.«
»Danke, Signorina. Sie können gehen.«
Dann war Carlo an der Reihe, der ungefähr fünf Minuten drinnen blieb. Mir
kam es wie eine Ewigkeit vor. Als er mit dunkler Miene und müdem Blick
herauskam, stand ich auf, um ihm entgegenzugehen. Er berührte sanft meinen
Rücken und wies auf den Ausgang.
Wir gingen hinunter, ohne ein Wort zu sprechen. Ich hörte nur das Klappern
meiner Absätze auf dem kalten Marmorboden, im gleichen Takt wie die Schläge
meines verwundeten Herzens.
Als wir im Auto saßen, sagte er, dass der Richter ihn erneut gefragte hatte, ob
wir verheiratet seien, und dass er mit Nein geantwortet hatte. Er sagte, dass die
Ehe, die in Mexiko geschlossen wurde, aus verschiedenen Gründen nicht
rechtskräftig sei, unter anderem aufgrund der fehlenden Trauzeugen.
Um den Vorgang noch einmal überprüfen zu können, benötigte der Richter
aber die Urkunde aus Ciudad Juárez, die nicht aufzufinden war. Ein weiteres
Hindernis für unser Glück, wie in einem schlechten Drehbuch. Während der
Fahrt löste Carlo seine Hand von der Schaltung und legte sie auf meine:
»Es wird alles gut, da bin ich mir sicher. Wir müssen nur Geduld haben.«
Die Urkunde wurde gefunden. Ein italienischer Journalist hatte sie gestohlen.
Die Anhörung wurde auf Februar des darauffolgenden Jahres verschoben.

Das fortwährende Verschieben hörte nicht auf, und ganz allmählich ließ das
Interesse an uns nach. Was soll ich sagen? Eine typisch italienische Farce. Dafür
fand Giuliana eine Lösung jenseits der Grenze. Wenn wir alle drei die
französische Staatsbürgerschaft annehmen würden, so erklärte sie Carlo, hätte
das ganze Kopfzerbrechen ein Ende, und das scheinbar unlösbare Problem würde
sich in Luft auflösen.
Aus diesem Grund zogen wir 1964 nach Paris, in eine phantastische Wohnung
in der Avenue George V. Frankreich verlieh uns die Ehrenstaatsbürgerschaft für
unseren Beitrag zum französischen und internationalen Film. Giuliana erhielt sie
als Ehefrau von Carlo.
Es war ein Witz: Eine Italienerin wird Französin, weil sie mit einem Franzosen
verheiratet war, von dem sie sich auf diese Weise aber nur scheiden lassen wollte.
Ein Jahr später, am 9. April 1966, erwartete uns der Bürgermeister von Sèvres,
einem Ort kurz hinter Paris, um uns zu verheiraten. Zwei Telefonate genügten,
um alles zu organisieren.
»Basilio, wir sind so weit. Nimm ganz unauffällig den ersten Flug. Und vergiss
die Ringe nicht!«
»Marì, wir erwarten dich morgen früh. Lass dich nicht erwischen. Was sagst
du? Der Hut? Mach, wie du möchtest. Es wird ganz unkompliziert, wir sind unter
uns. Ja, der grüne gefällt mir. Das wird gut aussehen. Mammina? Das hätte
keinen Sinn, sie würde ohnehin nicht kommen. Sie hat Flugangst. Wir stellen sie
vor vollendete Tatsachen. Für sie zählt es ohne Kirche und weißes Kleid sowieso
nicht …«
Am Vorabend der Hochzeit nächtigte Carlo in einer Suite im Hotel Lancaster,
während ich zu einer Freundin, Sophie Agiman, ging. Es war wohl Fügung, dass
wir nicht nur den gleichen Vornamen hatten, sondern auch eine ähnliche Statur.
Am Morgen, als ich gerade das Haus verlassen wollte, sah ich aus dem Fenster
einen Fotografen am Eingangstor lehnen. Die Nachricht war irgendwie
durchgesickert. Sophie zog sich meinen Regenmantel über, setzte sich meine
Sonnenbrille auf und eilte zu meinem Wagen. Der arme Fotograf fiel darauf
herein. Während er ihr folgte, fuhr ich mit ihrem Mann zu meiner Hochzeit. Wie
lange hatte ich darauf gewartet? Es erschien mir alles ganz unwirklich.
Die schlichte Zeremonie ging rasch über die Bühne und hatte gleichermaßen
etwas Vertrautes und Neues. Im Leben verläuft so gut wie nichts genau so, wie
man es sich vorgestellt hat. Die Träume weichen der Realität, die häufig
überraschende Wendungen nimmt. Nach ortsüblichem Brauch steckte mir nicht
Carlo den Ring an den Finger, sondern der Bürgermeister: »Je vous déclare unis
par les liens du mariage − Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau.« Ich, in
meinem gelben Kostüm und einem Strauß Maiglöckchen in der Hand, fühlte
mich seltsam. Seltsam, müde und glücklich. Und ich weinte, weinte, weinte.
Zwischenspiel
Die Zeit vergeht. Draußen hat der Schnee alles in Stille getaucht. Wie spät es
wohl ist? Die Erinnerung ist eine eigenartige Freundin, die dich manchmal
davonträgt, ohne dass du es merkst. Es ist schön, sich von ihr mitreißen zu lassen
und alles andere zu vergessen. Vielleicht stolpert sie über das eine oder andere
Datum, bringt etwas durcheinander oder spielt dir einen bösen Streich, indem sie
allzu intensive Gefühle oder leidvolle Erfahrungen einfach auslöscht, aber wenn
du die Geduld aufbringst, ihr zu folgen, bringt sie dich dorthin, wo du wirklich
gelebt hast, wo du wirklich gewesen bist, und nicht dorthin, wo du glaubst,
gewesen zu sein. Man muss den Abkürzungen widerstehen, die langen Wege
nehmen, die sich in den Details verlieren. Manchmal wartet hinter einer Ecke
eine Überraschung, wer weiß. Mein Bett ist heute Nacht übersäht von
Erinnerungen. Zwischen den Zeilen eines Briefes, beim Betrachten eines Fotos,
werden Farben und Stimmen wieder lebendig, um mir mein Leben zu erzählen.
Sie laden mich ein, darin zu blättern wie in einem Buch, als sei es die Geschichte
eines anderen. Es ist mir häufig passiert, dass ich mich von außen betrachtet
habe, dass ich meine Entwicklung beobachtet habe, als sei sie die einer Fremden.
Das ist ein merkwürdiges Gefühl, das mir eine Zeit lang Unbehagen bereitet hat.
Als ich jung war und voll und ganz in allem aufging, störte mich dieser plötzliche
Perspektivenwechsel. Heute macht mir das nichts mehr aus, ich habe mich daran
gewöhnt. Manchmal glaube ich, dass dieses Heraustreten aus mir selbst nicht
zufällig geschieht, sondern mir dabei hilft, einen gewissen Abstand zu etwas zu
gewinnen, das größer ist als ich. Um eine Richtung zu erahnen, auch wenn nicht
sicher ist, dass es eine gibt.
Ich mache es mir gemütlich und gönne mir einen dieser halbmondförmigen
Schokoladenkekse. Sein vertrauter Geschmack liebkost und tröstet mich. Wenn
ich ihn esse und mich keiner sieht, zählt das nicht, denke ich lächelnd. Ich decke
mich zu, der Schweizer Winter ist gnadenlos. Morgen ist Heiligabend.
Ich bin müde und zugleich hellwach. All meine Sinne sind gespannt, damit mir
nichts von dem entgeht, was aus meiner Schatzkiste zum Vorschein kommt. Und
jetzt, da ich all das in Gedanken wieder durchlebt habe − die Geburt meiner
Kinder, meine lang ersehnte Hochzeit, die Fröhlichkeit von Marcello und Vittorio
−, spüre ich in mir eine Erregtheit, die etwas Besonderes verspricht. Ein Name
kommt in meinen Papieren zum Vorschein. Er scheint mir wahrhaftiger und
lebendiger als je zuvor, so wie auch seine Worte: »Sophia, der Moment ist
gekommen, an dem du lernen musst, Nein zu sagen.« Ich lese diese kurze Notiz
auf einem Zettel und fühle mich größer und stärker. Das passiert, wenn man
einmal das Glück hatte, einem Genie zu begegnen: Das Licht, das von ihm
ausgeht, erleuchtet und verändert dich.
10 Sterne

Von der Notwendigkeit, Nein zu sagen

»Signora, Sie werden am Telefon verlangt.«


»Wer ist es denn?«, rief ich von oben aus dem ersten Stock. Ich war
hinaufgegangen, um mir eine Stola zu holen.
»Charlie Chaplin.«
Ganz gewiss hatte ich mich verhört. Ich fragte noch einmal.
»Wer? Sprich lauter, ich bin oben!«
»Chaplin! Charlie Chaplin!«
Das musste ein Scherz von Carlo oder Basilio sein. Ein Irrtum, eine
Halluzination.
Ich griff zum Hörer und brachte ein schüchternes »Hello?« hervor. Er war es
wirklich. Der Meister wollte mir einen Besuch abstatten. Er fragte mich, wann es
passte.
Sobald ich aufgelegt hatte, wählte ich die Nummer der Champion, Carlos
Produktionsfirma in Rom. »Carlo??? Carlo??? Ich hoffe, du sitzt? Du ahnst nicht,
du kannst dir nicht vorstellen, wer mich gerade angerufen hat!« Er hörte mir zu,
ganz gerührt von meiner Begeisterung. Aber ich spürte ganz tief in mir, dass er
sehr stolz auf mich war.

An dem Tag, als ich Charlie Chaplin zum ersten Mal begegnen sollte, ein
Frühlingsmorgen im Jahr 1965, war ich allein zu Hause. Auch Ines war
ausgegangen. Draußen fiel dichter englischer Regen, bei dem man es sich am
besten zu Hause gemütlich machte. Das Cottage, das wir gemietet hatten, befand
sich in der Nähe von Ascot. Es lag nur wenige Kilometer von dem Studio
entfernt, in dem ich Arabeske (Arabesque) drehte, einen Spionagefilm à la 007
mit dem wunderschönen Gregory Peck. Die Handlung war viel zu kompliziert,
als dass sie jemand wirklich nachvollziehen konnte, aber wir hatten sehr viel
Spaß mit all den waghalsigen Fluchten, Entführungen, Pferderennen und den
umwerfenden Kleidern von Christian Dior. Als es läutete, erhob ich mich
bedächtig vom Sofa und ging gemächlich zur Tür. Wenn ich mich ganz langsam
bewegte, dachte ich, würde ich vielleicht Zeit gewinnen, um meine Aufregung in
den Griff zu bekommen. Als ich die Tür öffnete, blickte ich in ein rundes, etwas
verlegenes und weiß eingerahmtes Gesicht.
»Good morning, Misses Loren. Pleased to meet you!«
Ich lächelte ihn an, ließ ihn eintreten und führte ihn ins Wohnzimmer, ohne
ein Wort zu sagen. Charlie Chaplin war dunkel gekleidet. Er trug graue Hosen,
ein blaues Polohemd und darüber ein leicht abgewetztes Tweedjacket. Die drei
Knöpfe seines Polohemds waren bis obenhin zugeknöpft. Er überreichte mir
einen Strauß Veilchen, und unter seinem Arm lugte etwas hervor, das wie ein
Drehbuch aussah. Ich brachte kein einziges Wort heraus, und er schaute mich
geduldig an, wie ein eingeschüchtertes Kind.
Er hatte es nicht eilig.
Schließlich fragte ich, beinahe flüsternd: »Kann ich Ihnen etwas anbieten? Tee,
Kaffee, ein Glas Wasser …?«
»Nein, danke. Machen Sie sich keine Umstände«, sagte er. Er konzentrierte sich
auf etwas, das weit entfernt, tief in ihm drin zu sein schien. Um mir aus meiner
Verlegenheit herauszuhelfen, begann er schließlich zu reden. Er übersprang
sämtliche Förmlichkeiten und kam direkt auf den Punkt.
»Ich habe seit geraumer Zeit eine Geschichte in der Schublade liegen. Als ich
Sie in Gestern, heute und morgen sah, dachte ich, das sei wie für Sie gemacht. Ich
würde mich also freuen …«
»Ja!«, unterbrach ich ihn ungestüm. Endlich hatte ich die Kontrolle über meine
Stimmbänder zurückgewonnen und meine Angst überwunden. »Ja, Mister
Chaplin, natürlich, jederzeit!« – Er hatte die Gräfin von Hongkong (A Countess
from Hongkong) für Paulette Goddard geschrieben, eine seiner vielen Exfrauen
und unvergessliche Darstellerin in Der große Diktator (The Great Dictator) und
Tagebuch einer Kammerzofe (Le Journal d’une femme de chambre). Und nun
hatte er die Rolle für mich überarbeitet … Unnötig zu erwähnen, dass es der
Traum eines jeden Schauspielers überall auf der Welt war, einmal mit Charlie
Chaplin zu arbeiten. Es war, als würde man vom König persönlich an den Hof
beordert und vom Prinzen zum Tanz aufgefordert. Es war wie im Märchen. Die
absolute Erfüllung des Berufs, der Berufung, der Karriere. Unter seiner Leitung
hätte ich selbst das Telefonbuch vorgetragen. Er erzählte mir in groben Zügen die
Handlung des Films, die auf einem Dampfer von Hongkong nach Amerika spielte.
Natascha, eine russische Vertriebene adeliger Herkunft, schleicht sich als blinde
Passagierin in die Kabine eines amerikanischen Diplomaten und stellt sein Leben
auf den Kopf.
Chaplin trug mir Teile des Drehbuchs vor und las alle Rollen mit verstellter
Stimme. Er sprach von Marlon Brando als möglichem Filmpartner. Er lud mich
und Carlo nach Vevey ein, wo er mit seiner Familie lebte.
Ich sagte ihm, ich müsse noch einen Vertrag erfüllen, aber sobald Arabeske
abgedreht wäre, stünde ich voll und ganz zu seiner Verfügung. Er stand auf und
verabschiedete sich mit einer kaum wahrnehmbaren Verbeugung: »Also dann, bis
bald.« Ich wollte ihn instinktiv nach seiner Telefonnummer oder Kontaktadresse
fragen, biss mir aber auf die Zunge.
Genies haben kein Telefon und keine Adresse, dachte ich. Sie leben einfach
irgendwo in der Welt, um sie jeden Tag schöner zu machen.
Wir verabschiedeten uns wie zwei, die ein gemeinsames Ziel haben, für das sie
sich begeistern. Wir waren vertraut miteinander, und hätten wir uns auf
Italienisch unterhalten, hätten wir uns wahrscheinlich geduzt.
Sobald es uns möglich war, fuhren Carlo und ich nach Vevey, wo Charlie, der
auf die achtzig zuging, mit Oona, seiner noch sehr jungen Frau, lebte. Sie war die
Tochter von Eugene O’Neill und hatte Charlie unzählige Kinder geschenkt. Sie
gaben ein seltsames, aber wunderschönes Paar ab, und in jeder ihrer Gesten war
ihre Zuneigung zu spüren. Trotz der Herzlichkeit bei unserer ersten Begegnung
war ich angespannt und aufgeregt, mein Herz hämmerte zum Zerspringen. Es
hilft alles nichts, an die Gegenwart eines Genies gewöhnt man sich niemals.
Das Haus der Chaplins befand sich in der Nähe von Montreux am Genfer See.
Es war von einem zauberhaften, parkähnlichen Garten umgeben, erfüllt von
fröhlichem Kindergeschrei. Ich wusste nicht, was ich tun, denken oder sagen
sollte. Ich hatte keine Ahnung, wie ich eine auch nur annähernd sinnvolle
Unterhaltung anfangen sollte. Carlo, der in dieser Situation wahrscheinlich
weniger gehemmt war als ich, hielten seine bescheidenen Englischkenntnisse
davon ab. Oona war eine sanfte und schüchterne Frau, die daran gewöhnt war,
im Schatten dieses außergewöhnlichen Mannes zu leben und ihm Liebe und
Aufmerksamkeit zu schenken. Also übernahm Chaplin selbst die Unterhaltung
auf seine wunderbar gewandte Weise. Er sprach über das Drehbuch, dann auf
einmal über sich selbst und seine Kindheit in den armen Vororten Londons, um
dann wieder zum Film zurückzukommen. Schließlich erhob er sich, setze sich ans
Klavier und spielte uns das Thema des Films vor, das er gerade komponierte. Er
sprühte nur so vor Phantasie, war ein großartiger Erzähler, vollkommen
versunken in seine Magie. Um uns seine Zuneigung zu beweisen, hatte er sein
Lieblingsgericht für uns zubereitet. Wir sollten uns setzen, er rannte in die Küche
und kehrte mit einem triumphierenden Lächeln zurück.
»Hier kommen meine berühmten Kaviar-Kartoffeln!«, rief er und stellte das
Tablett mit einer ausladenden, gauklerhaften Geste auf den Tisch. Er bediente uns
und zeigte, wie man die Kartoffeln am besten aß.
»Seht ihr«, erklärte er ehrfürchtig, während er sie aus der Alufolie befreite,
»man schneidet sie der Länge nach auf, streicht etwas Butter hinein und gibt den
Kaviar darauf, mit einem Spritzer Zitrone …«
In allem, was er tat, war er höchst präzise. Alles Ungefähre war ihm fremd.
Wenn er glaubte, eine Sache nicht gut machen zu können, machte er sie lieber gar
nicht.
Ich kehrte später noch einmal mit Marlon Brando nach Vevey zurück. Chaplin
hatte das Drehbuch beendet und wollte es uns unbedingt zeigen. Er empfing uns
mit einer Umarmung, zeigte uns den See am Ende seines Grundstücks und führte
uns dann in sein Büro. Dann begann die Vorstellung. Er las das gesamte
Drehbuch vor und spielte dabei jede einzelne Rolle. Ich war in Ekstase. Ich
lauschte seinen Worten, versuchte, jeden Tonfall und jede Nuance
nachzuvollziehen. Ich sah, wie er nacheinander in die verschiedenen Rollen
schlüpfte. Von der verführerischen Natascha, die ich spielen sollte, über den
schönen, etwas miesepetrigen Botschafter, der sich um seine Karriere sorgte, die
alte kränkelnde Erbin in ihrem Bett bis hin zu dem freundlichen, aber etwas
schwächlichen, stocksteifen Kapitän des Schiffs.
Wie auch Vittorio De Sica war Chaplin Regisseur und Schauspieler zugleich
und ließ uns an seinem darstellerischen Talent teilhaben, um uns zu inspirieren.
Er zeigte uns mit Leib und Seele, was er von uns erwartete. Und Brando? Trotz
seiner bemerkenswerten Ausstrahlung wirkte er wie jemand, der sich in der Welt
fehl am Platz fühlte.
Am ersten Tag der Dreharbeiten traf ich wie immer überpünktlich am Set ein.
Meinen Text hatte ich auswendig gelernt, und das Herz schlug mir bis zum Hals.
Die erste Szene spielte im Ballsaal des Schiffs. Alle Paare waren versammelt. Ich
hatte ein weißes Ballkleid an, das ich noch in vielen weiteren Szenen des Films
tragen sollte. Alle waren bereit: die Komparsen, die Crew, der Regisseur. Aber
etwas fehlte. Er fehlte.
»Weißt du, wo Brando ist?«, fragte mich Chaplin etwas nervös.
»Ich habe keine Ahnung, Charlie, tut mir leid«, antwortete ich geknickt und
etwas beschämt. Ich konnte ja nichts dafür, fühlte mich aber dennoch irgendwie
verantwortlich. Ich stand einer Koryphäe des internationalen Films gegenüber
und kam nicht damit zurecht, dass irgendetwas schieflaufen, dass ihm jemand
nicht den nötigen Respekt entgegenbringen könnte. Chaplin schwieg und setzte
eine finstere Miene auf. Beinahe zum Fürchten. Er lief auf und ab wie ein
werdender Vater in Erwartung seines ersten Kindes und inspizierte alle drei
Minuten misslaunig seine Armbanduhr. Ich suchte nach einem Punkt im Raum,
den ich fixieren konnte. Auch die anderen wussten nicht recht, wo sie hinsehen
sollten. Eine nervöse Spannung lag in der Luft.
Mit einer Dreiviertelstunde Verspätung erschien Brando, frisch wie eine Rose.
Vielleicht war er sich nicht bewusst, was er angestellt hatte. Jedenfalls rechnete er
nicht damit, was dann geschah. Chaplin ging strengen Schrittes auf ihn zu,
langsam, aber unaufhaltbar und mit kämpferischem Blick.
Er musterte ihn eindringlich von oben bis unten und wies ihn gnadenlos vor
der gesamten Crew zurecht. »Wenn du glaubst, auch morgen, übermorgen und
überübermorgen mit derartiger Verspätung hier eintrudeln zu können, kannst du
meinetwegen auf der Stelle das Set verlassen und brauchst gar nicht erst
wiederzukommen.«
Brando schrumpfte zusammen wie ein Luftballon und stammelte
Entschuldigungen. Mit gesenktem Kopf nahm er seinen Platz ein und war nun
endlich bereit anzufangen. Aber bei seiner ersten Textzeile versagte seine Stimme.
Sie war verschwunden, ebenso wie seine Dreistigkeit.
Er kam zwar nie wieder zu spät, aber trotzdem wurde es nicht viel besser. Ich
gewann den Eindruck, dass er ein unglücklicher Mensch war, gefangen in seinen
Gedanken. Jemand, der nicht wusste, was er mit sich, seinem außergewöhnlichen
Talent und seinem Körper anfangen sollte. Zu Beginn des Films war er in
Höchstform und so schön, wie nur er es sein konnte. Aber der Schmerz des
Lebens quälte ihn und ließ ihm keine Ruhe. Ich weiß nicht wieso, aber er hatte
beschlossen, sich nur von Eiscreme zu ernähren. Das hatte zur Folge, dass er
aufging wie ein Hefekloß und dadurch beinahe seine Rolle gefährdete.
Zudem brachte er auch noch unser Arbeitsverhältnis in Gefahr. Eines Tages,
kurz vor dem Dreh einer der romantischsten Szenen, begrapschte er mich auf
einmal. Ich drehte mich in aller Ruhe zu ihm um und fauchte ihm ins Gesicht wie
eine Katze, die man gegen den Strich gestreichelt hatte:
»Wage es nicht noch einmal. Nie wieder.«
Während ich ihn mit meinen Blicken durchbohrte, kam er mir plötzlich klein
und wehrlos vor, wie ein Opfer des schlechten Rufs, der ihm anhaftete. Zwar tat
er es nie wieder, aber dennoch wurde es dadurch schwieriger, ihm
nahezukommen.
Auch Chaplin hatte seine Probleme. Er hatte schon längere Zeit nicht mehr
gedreht, und in der ersten Woche hatte er Probleme mit der Kamera, so als traue
er sich nicht recht, die Sache in die Hand zu nehmen. Einem wunderbaren
Techniker gelang es schließlich mit seiner Engelsgeduld, diese Blockade zu lösen,
indem er ihn Stück für Stück dazu brachte, wieder das Kommando zu
übernehmen. Ich glaube, auch Oonas Anwesenheit am Set ermutigte ihn. Sie war
immer dort, sprach kein Wort und war stets bereit, ihm zu helfen, wenn er Hilfe
benötigte. Einige Tage später machte mir Charlie das schönste Kompliment, das
ich je bekommen habe. Das Drehbuch sah vor, dass ich an einer Stelle auf
Brandos Part nur mit Blicken reagieren sollte, ganz ohne Worte.
»Du bist wie ein Orchester, das auf seinen Dirigenten reagiert«, sagte er
beinahe gerührt. »Wenn ich die Arme hebe, spielst du ganz kraftvoll, wenn ich sie
senke, wirst du sanfter – sensationell.«
Aus diesen Worten, die Chaplin damals in mir säte, erblühte eine kräftige
Pflanze, die noch heute Früchte trägt.
Es war eine unvergessliche Erfahrung, mit ihm zu arbeiten. Er war ein
gewissenhafter Regisseur, der auf jedes Detail achtete. Er konnte sich stundenlang
bei einer Szene aufhalten. Er gab Betonungen, Gesten und vor allem Stimmungen
vor, die er durch die außergewöhnlichsten Beschreibungen hervorrufen konnte.
Aber wenn er aufhörte zu erklären und anfing zu spielen, veränderte sich die
Welt. In diesen Momenten vergaß er, dass er der Regisseur war. Trotz seines
hohen Alters sprang er vor uns herum wie ein junger, übermütiger Komödiant.
Charlie Chaplin vor Augen zu haben machte mir Mut und hemmte mich
gleichzeitig, denn ich wusste: Er ist einzigartig. Alles begann und endete bei ihm.
Chaplin war sehr anspruchsvoll. Alles musste genau so sein, wie er es sich
vorgestellt hatte, und er wich keinen Meter davon ab. Er war auch sehr direkt.
Wenn er jemanden gern hatte, gab es kein Kalkül, er hatte ihn gern, und damit
basta. Er sagte immer, was er dachte, und wenn er den Eindruck hatte, dass
jemand nicht ehrlich war, wendete er sich von ihm ab und strich ihn aus seinem
Leben.
Das Drehen mit ihm hat mich damals, mit meinen dreißig Jahren, am meisten
geprägt. Ich arbeitete nun fast schon die Hälfte meines Lebens beim Film, aber in
gewisser Hinsicht war ich immer noch empfindlich und unerfahren. Man muss
dazu sagen, dass dreißig ein schwieriges Alter für eine Frau ist. Die Jugend hat
man bereits hinter sich – zumindest war das zu meiner Zeit so –, und so
großartig das, was du tust, auch sein mag, niemand würde je wieder über dich
sagen: »Sieh mal, wie jung sie ist!«
Ich begriff, dass mich nicht mehr nur Neues erwartete und dass auch ich nun
auf eine Vergangenheit zurückblicken konnte, die mir Gutes und Schlechtes
gebracht hatte. Es war der Zeitpunkt gekommen, mich mit meinen Schwächen
auseinanderzusetzen, um sie zu akzeptieren oder möglicherweise sogar zu
überwinden. Es war Chaplin mit seiner entwaffnenden Ehrlichkeit, der mir
meinen Schwachpunkt offenlegte. »Sophia, meine Liebe, du hast eine große
Schwäche, die du überwinden musst, wenn du eine rundum glückliche Frau
werden willst. Du musst lernen, Nein zu sagen. Hör auf damit, immer alle
zufriedenstellen zu wollen, Hör auf, allen entgegenzukommen. Nein, nein und
nochmals nein. Das kannst du noch nicht sagen, und das ist eine große Schwäche.
Zu lernen, Nein zu sagen, ist essenziell, damit du dein Leben so leben kannst, wie
du es möchtest. Ich hatte auch meine Schwierigkeiten damit, aber als ich es
schließlich konnte, war nichts mehr wie vorher. Mein Leben ist unendlich viel
einfacher geworden.«
Die Gräfin von Hongkong war Chaplins letzter Film und zugleich sein erster
Farbfilm. Ich werde nie vergessen, wie er als alter Schiffssteward in der
Kabinentür stand. Eine kleine, bescheidene Erscheinung, die mir ab und zu
Gesellschaft leistete.
In den Tagen, als ich lernte, Nein zu sagen, verließ ich das Set, um kurz Ja zu
sagen, und zwar zu Carlo in Sèvres. Als ich zurückkam, war ich endlich eine
verheiratete Frau und stieß darauf mit der ganzen Crew an.

Lady Loren

Vor der Arbeit mit Charlie Chaplin und Marlon Brando hatte ich im Lauf der
Sechzigerjahre eine ganze Reihe von Filmen an der Seite großer Stars des
internationalen Films gedreht: natürlich mit Gregory Peck, aber auch mit Paul
Newman, Alec Guinness, Omar Sharif, Charlton Heston und dem wunderbaren,
unvergesslichen Peter Sellers.
Zusammen mit Paul Newman drehte ich, ebenfalls 1965, Lady L, einen
bedeutenden und schwierigen Film unter der Regie von Peter Ustinov. Mit dabei
waren außerdem David Niven und Philippe Noiret, zwei weitere
Ausnahmetalente. Der Film basierte auf einem Roman von Romain Gary, einem
russisch-französischen Autor, der bekannt war für die Wirren um seine
verschiedenen Pseudonyme und für zwei Goncourt-Preise. Ich hatte eine sehr
komplexe Rolle, die mich dazu zwang, viel an mir zu arbeiten. Ich spielte eine
achtzigjährige Herzogin, die ihr ganzes Leben Revue passieren lässt, bis zurück zu
Napoleons Zeiten. Das Alter war eine große Herausforderung. Es kam, neben der
Maske, auf die Stimme an. Wer weiß, wie ich es angestellt habe, sie zu finden, wo
ich sie ausgegraben habe. Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht mehr. Ich weiß aber
noch, dass ich sehr stolz auf das Ergebnis war, vor allem auch deshalb, weil es
formvollendet britisch sein musste. Es machte natürlich auch Spaß, in der Zeit zu
reisen und mich in eine Achtzigjährige zu verwandeln.
Da kommt aus meiner Schatzkiste auf einmal ein schöner Brief an meine
Mutter zum Vorschein:

Liebe Mammina,
gestern wurden Probeaufnahmen von mir als Achtzigjährige gemacht, und ich
habe diese drei Polaroids bekommen. Ich schicke sie dir, denn als ich sie sah, war
ich ganz ergriffen von der Ähnlichkeit, die sie mit dem Foto von Mamma Luisa
haben, das bei uns im Wohnzimmer steht.
Küsse und bis bald, Sophia
(Drei Stunden in der Maske, die Haut verzerrt vom Klebstoff.)

Das Leben, das Kino – sie spielen einem böse Streiche. Manchmal denke ich
daran, dass die Protagonistin in Lady L damals im selben Alter war wie ich heute.
Trotzdem passiert es, dass ich mich heute ebenso jung fühle wie damals.
Manchmal sogar noch jünger. Vielleicht liegt es daran, dass Zeit subjektiv ist. Es
kommt immer auf die Ziele an, die man sich setzt, und auf die innere Ruhe. Alt
werden kann sogar Spaß machen, wenn man weiß, wie man seine Tage
verbringen möchte, glücklich über das ist, was man hat, und nicht aufhört, sich
umzuschauen. Wenn ich morgens aufwache, versuche ich, an Dinge zu denken,
die mir guttun. Ich nehme mir vor, etwas zu tun, das mir Freude bereitet und das
mir sinnvoll erscheint. Und wenn es nur Kleinigkeiten sind, die meinem Tag
etwas geben, das mir gefällt und das mir entspricht.
Ustinov, der gerade den Oscar als bester Nebendarsteller für seine Rolle in
Topkapi gewonnen hatte, war außerdem ein guter Regisseur. Ein charismatischer
und starker Mann, trotz seines vielleicht etwas starrköpfigen Wesens. Es war
nicht immer ganz einfach, mit ihm umzugehen. Paul Newman war dafür ein
sanftmütiger und empfindsamer Mann, etwas schüchtern, aber mit sich selbst im
Reinen. Er war schön wie die Sonne mit seinen stahlblauen Augen, die die
Leinwand zu durchdringen schienen. Er hatte das wohlverdiente Glück, eine
lange und glückliche Ehe zu führen, die sicherlich auch zu seiner
Bodenständigkeit beitrug. Er ließ seine Launen nicht an anderen aus und hatte
keinerlei Allüren. Er kannte sich selbst gut. Am Set erschien er stets mit einem
Stapel Handtücher. »Wer weiß, wozu die gut sind«, fragte ich mich. »Was macht
er bloß damit?«
Eines Tages konnte ich nicht anders und fragte ihn, vielleicht einen Tick zu
frech:
»Paul, wozu brauchst du diese ganzen Tücher?«
Er lächelte mich ganz offen an und sagte:
»Meine Hände schwitzen immer so, Sophia. Ich habe immer nasse Hände.«
Er war ein liebenswerter Mann, der es nicht nötig hatte, seine Schwächen zu
verbergen.

Mit Omar Sharif hingegen trat ich einmal einen spektakulären kulinarischen
Wettstreit an. Bei dem Gedanken daran läuft mir noch heute das Wasser im
Mund zusammen. Wir hatten schon zusammen in Der Untergang des Römischen
Reiches mit Alec Guiness gespielt, dem vielleicht vielseitigsten Schauspieler, dem
ich je begegnet bin. In dem Film war Alec mein Vater, der Kaiser Marc Aurel.
Wenn er anfing zu sprechen, hörte die Erde auf, sich zu drehen, und ich stand nur
da und schaute ihn ganz entrückt an.
Omar war ein Typ voller Leben, und er strotzte nur so vor Ideen. Wir waren an
den gegenüberliegenden Ufern des Mittelmeers geboren worden und hatten
Erinnerungen an dieselben Düfte und Farben und einen ähnlichen Sinn für
Humor. Es war im Sommer 1966 am Set von Es war einmal (C’era una volta),
einem wunderschönen Märchen unter der Regie von Francesco Rosi. Eines Tages,
beim Anblick des ungenießbaren Lunchpakets, das die Produktion an die
Schauspieler verteilte, richtete er seine schönen dunklen Augen gen Himmel und
seufzte: »Wie kann man nur so etwas Scheußliches essen? Die Auberginen meiner
Mutter wären jetzt genau das Richtige …«
Das hätte genauso gut von mir kommen können, und ich fing an zu lachen und
erwiderte:
»Wenn du wüsstest, wie gut die meiner Mutter sind … die besten der Welt!«
Da wurde es ernst.
»Oh nein, Sophia. Ich zweifele nicht daran, dass Romilda eine exzellente
Köchin ist, aber was die Auberginen angeht, gibt es keine Diskussion: Die meiner
Mutter sind unübertrefflich!«
»Wollen wir wetten?«, fragte ich und warf ihm einen herausfordernden Blick
zu.
Omar rief seine Mutter in Ägypten an und schlug ihr vor, ihn in Rom zu
besuchen, ohne ihr zu sagen, worum es ging. Sie nahm die Einladung gerne an
und freute sich, etwas Zeit bei ihrem Sohn zu verbringen, den sie so gut wie nie
sah. Er führte sie herum, überhäufte sie mit Aufmerksamkeiten, stellte sie seinen
italienischen Freunden vor und dann, ganz unauffällig, startete er seine Offensive:
»Mama, nächste Woche machen wir ein Abendessen zusammen mit Sophia,
ihrer Mutter und der Crew. Hättest du Lust, deine Auberginen zu machen?«
Die Dame nahm die Aufgabe sehr ernst und klapperte sämtliche Märkte nach
den schönsten Auberginen ab. Sie kaufte eine hier, eine dort … nur die
allerbesten. Für Mammina hingegen war es ein Heimspiel, und ich musste sie
nicht weiter darauf vorbereiten.
Am Abend des Wettstreits beriefen wir also die beiden nichts ahnenden
Köchinnen ein und stellten sie auf die Probe. Die improvisierte Jury war nach
einem langen Drehtag zwar etwas angeschlagen, aber mit einem gesunden
Appetit gesegnet. Es war nicht einfach, die Gewinnerin zu ermitteln. Die Rezepte
waren ganz ähnlich, melanzane alla parmigiana, überbackene Auberginen.
Sowohl die aus Pozzuoli als auch die ägyptischen zergingen auf der Zunge, und
die leicht knusprige Kruste kitzelte am Gaumen. Wir aßen alle wie die
Scheunendrescher, nachdem es tagelang nur gummiähnliche Brötchen gegeben
hatte. Nach langer Diskussion gewann schließlich ganz knapp Frau Sharif. Aber
Mammina war keineswegs beleidigt, denn sie hatte in der sympathischen und
warmherzigen ägyptischen Mamma eine Freundin gefunden. Am gleichen Abend
gestand sie mir lachend: »Wir haben nur über euch geredet, pecché ogni star è
bell’ a’ mamma soja − denn jeder Star ist nur so schön wie seine Mamma.«
Essen macht glücklich, es gibt einem das Gefühl, zu Hause zu sein, und es kann
vieles ausdrücken, wozu Worte nicht in der Lage sind. Dasselbe gilt für die
Musik: Wenn man sich ihr voll und ganz widmet, kann das verblüffende
Auswirkungen haben. Das hat mir einmal Peter Sellers deutlich gemacht, als er
mich in die Produktion einer Schallplatte mit einbezog, die uns sehr glücklich
machte. Aber vor der Musik kam das Kino. Wir hatten uns 1960 am Set von Die
Millionärin (The Millionairess) kennengelernt und uns blendend verstanden.
Peter war ein außergewöhnlich intelligenter Mann, der es verstand, einen immer
wieder mit seinem Charme zu überraschen. Es kam so gut wie nie vor, dass er
eine Szene so spielte, wie man es erwartete. Er war spontan, unvorhersehbar und
unglaublich komisch. Er hatte mich sehr gern, und wir spielten mit großer Freude
zusammen. Er brachte mich zum Lachen wie niemand sonst. Er kannte London
wie seine Westentasche, und zwischen uns entwickelte sich eine lang andauernde
Freundschaft.
Der Film war inspiriert von einer Komödie von George Bernard Shaw und
drehte sich um das Thema Geld. Die Erbin Epifania, von oben bis unten in das
französische Modelabel Balmain gekleidet, erhält von ihrem Vater die
Anweisung, keinen Mann zu heiraten, der nicht dazu in der Lage ist, innerhalb
von drei Monaten 150 Pfund zu verhundertfachen. Als sie sich bei einem
grotesken Selbstmordversuch in die Themse stürzt, gerät sie an einen indischen
Arzt, der seinerseits von seiner Mutter den Ratschlag erhalten hat, keine Frau zu
heiraten, die nicht drei Monate lang mit 35 Schilling auskommen kann.
Eine Woche nach Beendigung der Dreharbeiten zogen wir uns in die Abbey
Road Studios zurück – ja, tatsächlich in die Studios der Beatles –, um »Goodness
Gracious Me« aufzunehmen, einen Song, den George Martin, der legendäre
Musikproduzent der Beatles, geschrieben hatte, um den Film zu promoten. Die
Single erklomm innerhalb weniger Wochen die Charts, und das trieb uns an,
weiterzumachen. Der nächste Hit war »Bangers and Mash« und erzählte von der
amüsanten Hochzeit eines Soldaten mit einer Neapolitanerin. In diesem Duett ist
es das Essen, was die beiden mal vereint, mal entzweit. Wenn Peter, alias Joe,
wieder einmal nach dem Rezept seiner Mutter verlangte, Kartoffelpüree mit
Würstchen und Cockneysauce, schlug ich ihm stattdessen minestrone, macaroni,
tagliatelle oder vermicelli vor. Es war ein Feuerwerk der Improvisation und des
Gelächters, und das hört man in jeder Note des Lieds.
Absurderweise war es ausgerechnet während der Dreharbeiten zu Die
Millionärin, als mir »The Cat« über den Weg lief, genauer gesagt: »The Cat« lief
meinem Schmuck über den Weg – allen Juwelen, die ich mir dank meiner Arbeit
nun leisten konnte, oder die mir Carlo nach Abschluss eines Films geschenkt
hatte. Hinter jedem Paar Ohrringe, hinter jedem Ring und jeder Kette steckte eine
Geschichte, eine Anstrengung, ein Triumph. Es waren die Medaillen, die jeden
meiner Erfolge gekrönt hatten. Nach einer ersten Nacht im Ritz, wo ich mein
schwarzes Necessaire dem Hotelsafe anvertraut hatte, waren wir im Norwegian
Barn untergekommen, einem Cottage innerhalb des Country Clubs in
Hertfordshire. Neben Basilio und Ines waren auch die Köchin Livia und meine
Friseurin mitgekommen, das ganze kleine Gefolge, das mich immer von Set zu Set
begleitete. Basilio hatte wegen des Schmucks nach einem Nachtwächter gefragt,
aber der Sekretär des Clubs antwortete überzeugt: »Wir befinden uns hier in
England, nicht in Neapel. Machen Sie sich keine Sorgen!« Wir zogen in das
Cottage, und jeder richtete sich in seinem Zimmer ein. Meines befand sich im
ersten Stock und hatte gleich nebenan eine geräumige, lichtdurchflutete
Garderobe. Dort drang der Dieb ein, während wir alle im Haus waren, wie ein
feiner Windhauch, und wartete auf den richtigen Moment.
Den richtigen Moment bot ich ihm auf einem Silbertablett. An diesem Abend
fuhr ich zum Flughafen, um Carlo abzuholen. Während Basilio und Ines vor dem
Fernseher saßen und sich unterhielten, schlüpfte »The Cat« aus der Garderobe im
Obergeschoss in mein Zimmer und nahm mir viele kleine wertvolle Dinge meines
Lebens. Als wir gegen elf Uhr abends zurückkamen, ging ich gleich in mein
Zimmer. Es war schon spät, und ich hatte einen anstrengenden Arbeitstag vor
mir. Sobald ich ins Zimmer kam, spürte ich, dass etwas nicht stimmte. Ich sah
mich um, um herauszufinden, was es war, und dann begriff ich: Die Schublade
meines Nachttischchens stand offen, ebenso das Fenster daneben. Mir
schwindelte. »Um Himmels willen«, murmelte ich. »Ich fasse es nicht …« Durch
dieses Fenster waren sie entschwunden, meine Diamanten, Saphire, Rubine,
meine Perlen und meine wertvollsten Erinnerungen.
Wir riefen Scotland Yard an, und die Polizei kam sofort. Aber da war nichts zu
machen. Der Dieb war über alle Berge und wurde nie gefasst. Als der Fall viele
Jahre später verjährt war, schrieb »The Cat« mir einen Brief, den er mit diesem
Namen unterschrieb. Und genau so stelle ich ihn mir vor. Eine Katze auf leisen
Sohlen, ganz in Schwarz, wie Cary Grant in Über den Dächern von Nizza.
In jenem Moment versuchte ich mit Mühe, Haltung zu bewahren. Mir drehte
sich der Kopf, und ich fühlte mich, als hätte mir jemand Gewalt angetan. Mein
Verstand sagte mir zwar, dass es schlimmeres Unglück im Leben gab, aber es
fühlte sich an, als wäre jemand in meinen Kopf und in mein Herz eingedrungen,
um mir all meine Erfolge zu stehlen und die Mühen, mit denen ich sie erreicht
hatte. Nicht nur die Filme als solche, sondern all die Emotionen, die damit
verbunden waren und die ich am Hals oder am Finger mit mir trug.
Ich ging erst in der Morgendämmerung schlafen, erschien aber tags darauf am
Set, als sei nichts geschehen. Mit Sicherheit hatte das mit meinem Pflichtgefühl
zu tun und mit meiner Überzeugung, dass man sich an Abmachungen halten
muss, aus Respekt vor der Zeit anderer Menschen. Aber vielleicht hatte es auch
damit zu tun, dass ich in der Arbeit die Ordnung wiederfand, die durch den
Vorfall durcheinandergeraten war. Das zu tun, was ich tun konnte und musste,
gab mir das Gefühl, die Kontrolle wiederzuerlangen, die mir »The Cat« so
geschickt direkt vor der Nase weggeschnappt hatte.
An diesem Morgen, in einer Drehpause, umringte mich die gesamte Crew.
»Was ist los?«, fragte ich erschrocken. Meine Nerven lagen noch blank.
Peter überreichte mir ein silbernes Päckchen mit einem goldenen Band. Darin
war eine wunderschöne goldene Anstecknadel, mit der mir meine Kollegen ihre
Anteilnahme und Zuneigung bekunden wollten. Diese Geste zeigte mir, dass ich
gar nicht wirklich etwas verloren hatte. Dass es noch viele weitere Filme geben
würde, die ich erleben, feiern und in Erinnerung behalten konnte. Und mit denen
ich mich schmücken konnte.
Wie so oft war es aber De Sica, der mir mit seinen Worten das wertvollste
Geschenk machte. Er war für einige Tage aus London gekommen, um eine kleine
Rolle bei uns zu übernehmen. Sobald er von dem Diebstahl erfahren hatte, kam
er, um nach mir zu sehen.
Er fand mich weinend in meinem Zimmer vor. Ich saß auf dem Bett und
betrachtete das Nachttischchen, das Fenster und die Leere, die »The Cat«
hinterlassen hatte. Er setzte sich neben mich und reichte mir sein Taschentuch.
»Sofì, vergieße keine unnützen Tränen. Wir sind doch zwei Neapolitaner und
in Armut geboren. Geld kommt und geht. Was meinst du, wie viel ich davon
schon im Casino verloren habe …«
»Was sagst du da, Vittorio, verstehst du denn nicht? Dieser Schmuck war ein
Teil von mir.«
»Sophia, merk dir eines: Weine niemals um etwas, das nicht um dich weinen
kann.«
11 Kommen und Gehen

Das Wunder

Wie alle Neugeborenen weinte Carlo jr. ununterbrochen. Und wie jede Mutter es
tut, betrachtete ich ihn mit einer Mischung aus Freude und Sorge. Wenn man in
Erinnerungen schwelgt, kommt man manchmal vom Hundertsten zum
Tausendsten, und bei dem Wort »weinen« muss ich unwillkürlich an den Januar
1969 und die Genfer Klinik denken, in der Doktor de Watteville meinem neuen
Leben auf die Sprünge half.
Ja, ich kann behaupten, dass auch ich an dem Tag ein zweites Mal geboren
wurde, als mein erstes Kind das Licht der Welt erblickte. Das Gefühl, dieses
kleine Wesen in meinen Armen zu halten, das seit Jahren mein innigster Wunsch
gewesen war, überwältigte mich. Um diesen Moment ausgiebig zu genießen, oder
vielleicht auch aus Sorge davor, aus diesem wundervollen Traum zu erwachen,
verkroch ich mich in meinem Zimmer. Dort war es warm, und ich fühlte mich
geborgen. Ich und er, er und ich, in einem flauschigen Nest aus zärtlichen
Blicken, Milch und Liebkosungen. Die Krankenschwestern verwöhnten und
pflegten uns und zerstreuten alle Sorgen. Die nach Sensationen gierende Welt da
draußen konnte uns nichts anhaben. Es war natürlich nicht ganz einfach, die
Neugierigen in Schach zu halten. Aber Carlo fand mit seiner zupackenden Art
und seiner Intelligenz einen Weg, um allen das zu geben, was sie wollten, und
den Rest für uns zu behalten.
Wir gehörten ja zu den Stars, und Carlo jr. wurde behandelt wie ein Prinz. Am
Tag seiner Geburt war die Klinik umzingelt von einem Heer von Fotografen und
Presseleuten aus aller Welt.
Es heißt, die Italiener seien – wie immer − am lautesten gewesen, die
Engländer am hartnäckigsten, die Deutschen am besten organisiert (mit zwei
Hubschraubern und einem Privatflugzeug), die Amerikaner am besten informiert
und die Japaner am schlausten. Letztere hatten eine Frau an die Spitze ihres
Teams gesetzt, um leichter an mich und meine mütterlichen Gefühle
heranzukommen.
Um alle auf einmal zufriedenzustellen, wurde eine Pressekonferenz einberufen.
Ich wurde in meinem Wöchnerinnenbett mit meinem Sohn auf dem Arm in den
Konferenzraum der Klinik geschoben, glücklich und erschöpft. Neben mir meine
Beschützer: auf der einen Seite Carlo, auf der anderen meine Schwester Maria,
die extra aus Rom angereist war. Basilio war uns irgendwo inmitten unseres
Glücks, das auch ein wenig seines war, abhandengekommen.
Die Journalisten bombardierten mich mit Fragen. Ich weiß nicht wieso, aber
ich bildete mir ein, dass sie ebenfalls ergriffen waren. Solche Gefühle sind ja
ansteckend, und immer, wenn ein neugeborenes Baby im Raum ist, sind alle ganz
gerührt angesichts dieses kleinen Wunders.
»Wem sieht er ähnlich?«
»Von wem hat er die Augen?«
»Und den Mund?«
»Wie viel wiegt er?«
»Sophia, Sophia, wie fühlen Sie sich?«
»Hatten Sie Angst?«
»Haben Sie schon Milch?«
»Ist es aufregender, als einen Oscar zu bekommen?«
»Wann werden Sie wieder drehen?«
Ich sah sie an und lächelte, aber dann beugte ich mich wieder über »Cipi« – so
nannte ich ihn. »Quanto si’ bello – Wie schön du doch bist«, dachte ich. Das
runde Gesicht, die Händchen, mit denen er meinen Finger umklammerte, dieses
warme, nach Paradies duftende Wesen nahm mich gefangen. Alles andere wurde
unscharf und verlor an Bedeutung, als ginge es mich gar nichts an.
Aber ich fühlte mich auch unsicher in meinem neuen Dasein, das auf einmal
einen tieferen Sinn bekommen hatte und zugleich so zerbrechlich und erfüllend
war. Ich hatte Angst davor, nach draußen zu gehen, weil ich fürchtete, dem
Kleinen könnte es zu kalt sein, und ich wollte auch noch nicht nach Hause. Also
machte ich es mir Tag für Tag in meinem weißen, sauberen Zimmer gemütlich,
wiegte mich in Sicherheit und weigerte mich, an morgen zu denken.
Nach fünfzig Tagen, mir war es vorgekommen wie ein Augenblick, schmiss
mein Arzt mich schließlich behutsam hinaus.
»Sophia, Sie können nicht ewig hierbleiben. Das Leben da draußen wartet auf
Sie …«
Ich schaute ihn verängstigt an, aber schließlich gab ich nach:
»Sie haben wie immer recht.«
Nach neun Monaten Bettruhe und zwei weiteren im Wochenbett war es nun
an der Zeit, sich dem wirklichen Leben zu stellen. Einem Leben, das ganz im
Gegensatz zum Film kein Drehbuch hatte, nach dem man sich richten konnte.
Meine Geschichte als Mutter und Carlos Geschichte als Kind mussten erst
geschrieben werden. Es ist seltsam, aber mit diesem kleinen Wesen im Arm fühlt
man sich stark und verletzlich zugleich. Es ist ein berauschendes Gefühl, das
einen ganz schwindelig macht und einen immer begleiten wird.
Mir wurde bald klar, dass ich jemanden brauchte, der mir half, aus meinem
Schneckenhaus herauszukommen und in die Welt zurückzukehren. Aber keines
der Kindermädchen, die bei mir vorstellig wurden, überzeugte mich. Die
potenziellen Nannys waren entweder zu auffällig oder zu spärlich gekleidet, und
sie waren allesamt so langweilig und einfältig wie die veline, die leicht
bekleideten Mädchen in italienischen Fernsehshows. »Was denken die eigentlich,
wo sie sind? Das hier ist doch kein Casting in Cinecittà«, sagte ich mir angesichts
ihrer übertriebenen Aufmachungen. Ich brauchte eine vertrauenswürdige, ruhige
Person, die mein Glück nachvollziehen konnte und sich voll und ganz dem Kind
widmete. Und vor allem jemanden, der sich nicht zu irgendwelchen
Kurzschlusshandlungen hinreißen ließ.
Eines Morgens schaute ich aus meinem Klinikfenster und beobachtete eine,
wie ich fand, recht leichtsinnige Krankenschwester, die einen Kinderwagen durch
den winterlichen Nebel schob.
»Wie kann man nur«, dachte ich, »ein Neugeborenes bei der Kälte durch die
Gegend schieben! Ist die verrückt geworden? So einer würde ich niemals mein
Kind anvertrauen!« Aber dann …
Am Tag darauf betrat Dr. de Watteville triumphierend mein Zimmer. Er hatte
die Person gefunden, die mir zur Seite stehen und mir endlich das nötige
Selbstvertrauen geben würde, damit ich dieses Zimmer für andere werdende
Mütter räumte.
Hinter ihm lugte Ruth Bapst hervor, eine souverän und freundlich wirkende
Krankenschwester. Ich erkannte sie sofort! »Das ist sie«, dachte ich, »diese
Verrückte mit dem Kinderwagen im kalten Nebel …« Ich begrüßte sie etwas
abweisend und ohne jede Neugier. Innerlich hatte ich sie schon abgeschrieben.
Aber Ruth, kompetent und professionell, wie sie war, ließ sich nicht
entmutigen und reichte mir die Hand. Ich bemerkte ihr offenes Lächeln, ihre
unkomplizierte Art und ihren aufrichtigen Blick. In ihren Augen erkannte ich ihre
Liebe zu Kindern und ihre Motivation. Meine innere Stimme − diese seltsame
Fähigkeit, über die ich schon immer verfügte, immer die Personen zu erkennen,
die am besten zu mir passen − regte sich, und meine Vorurteile begannen zu
bröckeln. »Versuchen wir es«, sagte ich zögerlich.
Ruth ging als »Ninni« in unsere Familienchronik ein, und heute,
sechsundvierzig Jahre später, ist sie noch immer bei uns. Sie half mir, meine
Söhne aufzuziehen, und umsorgt heute deren Kinder mit dem gleichen
Enthusiasmus wie damals.
Mit ihr an meiner Seite nahm ich all meinen Mut zusammen und verließ die
Klinik, Genf, die Schweiz, um in unsere Villa in Marino zurückzukehren.

Die zwei Seiten des Paradieses

Die Villa Sara war ein antikes Anwesen in den Olivenhainen der Castelli Romani,
einer Villengegend, ungefähr eine halbe Stunde von Rom entfernt. Es war eine
Oase der Ruhe und des Friedens, fernab von der Hektik der Stadt, des Sets, des
öffentlichen Lebens. Wo auch immer ich hinsah, war ich berauscht von
Schönheit. Die von römischen Mosaiken bedeckten Fußböden, die üppigen
Gärten mit den Marmorbrunnen und all die antiken Möbel und wertvollen
Antiquitäten, die es in jedem Raum zu entdecken gab.
Am meisten faszinierten mich die mit Fresken verzierten Wände. Große
Festmahle, Jagdszenen, Girlanden und Teppiche aus Früchten und Blumen; Tiere,
Bäume, Sterne, eingebettet in die liebliche italienische Landschaft. Von wegen
Kino! Es war immer ein Vergnügen, sich umzusehen.
Wir hatten das Haus 1962 gekauft. Nach den notwenigen
Restaurierungsarbeiten verließen wir unsere Wohnung an der Piazza D’Aracoeli
in Rom, in der wir einst meine Oscarnacht verbracht hatten, und zogen in die
Villa. 1964 gingen wir dann nach Paris, kehrten aber so oft es ging in die Villa
zurück. Vielleicht war ich damals noch zu jung, um das alles wirklich zu schätzen
zu wissen, aber die magische Mischung aus Kunst und Natur bescherte mir schon
damals einige unbezahlbare Momente.
Doch all das war nichts verglichen mit den kleinen Wundern, die Carlo jr.
vollbrachte, der wuchs, zum ersten Mal lächelte, die Ärmchen hob, um sich
hochheben zu lassen, und stundenlang die Blätter beobachtete, die sich im Wind
wiegten.
Zum ersten Mal in meinem Leben war ich wunschlos glücklich. Wenn ich die
Zeit hätte anhalten können, hätte ich es dort getan, am Rand des Swimmingpools,
der leicht asymmetrisch geraten war, um den wunderschönen Aprikosenbaum zu
verschonen, in den Carlo sich verliebt hatte. Dort, wo mein Sohn mit seiner
Schwimmente herumplanschte. Am Ende des Liegestuhls lag ein Drehbuch, das
mich an meine Pflichten erinnern sollte. Und ich, in Gedanken versunken, ließ
mich von den beiden künstlichen Wasserfällen verwöhnen, die nur dazu da
waren, mit Gesellschaft zu leisten.
Anfangs fiel es mir nicht leicht, mich an all diese wunderbaren Dinge zu
gewöhnen. Ich war von dem Prunk der Villa eingeschüchtert und zog mich oft
mit meinen Zeitschriften und Filmen in mein Zimmer zurück. Es war wieder
einmal Carlo, der mir aus der Klemme half.
»Sophia, Häuser sind wie Menschen, man muss sich langsam kennenlernen
und Vertrauen aufbauen …«.
Und er behielt recht. Villa Sara und ich wurden bald schon die besten Freunde.
Doch wie jedes Paradies hatte auch die Villa ihre Schattenseiten. Ihre einsame
Lage barg das Risiko, Kriminelle und Verrückte anzulocken. Einer von ihnen jagte
uns einen besonderen Schrecken ein. Er war aus einer Anstalt ausgebrochen,
hatte sich in unseren Garten geschmuggelt und drang bis zu der Terrasse neben
dem Pool vor. In den Händen hielt er Papier, mit dem er Feuer machen und alles
abbrennen wollte. Er brüllte aus voller Kehle, dass Cipi ihm gehöre und dass er
gekommen sei, um ihn zu holen. »Ich will meinen Sohn, ich will meinen Sohn«,
phantasierte er in seinem Wahn. Er kam bis zur Eingangstür und schlug mit einer
Axt auf sie ein.
Zuerst fühlten wir uns völlig machtlos, begriffen aber zum Glück schnell, wie
wir mit ihm umgehen mussten, und konnten ihn relativ schnell beruhigen.
Ebenso schnell ließ er sich jedoch erneut von seinem Wahn mitreißen und
tauchte bald wieder bei uns auf. Er entkam noch einige Male aus der
psychiatrischen Klinik, bombardierte mich mit Briefen und schlich sich auf unser
Grundstück. Wir behielten sein Treiben im Auge, ohne uns davon aus der Ruhe
bringen zu lassen. Dennoch blieb ein Gefühl von Angst und Unbehagen zurück,
mit dem ich nur schwer leben konnte. Das lag auch daran, dass Italien zu dieser
Zeit eine Welle von Entführungen erlebte, die oft ein dramatisches Ende nahmen.
Abgesehen von ein paar Drohungen, die glimpflich verliefen, wurde Carlo in
den frühen Siebzigerjahren zweimal um ein Haar selbst Opfer einer Entführung
und kam nur aufgrund seines schnellen Reaktionsvermögens und dem prompten
Einsatz der Polizei davon.
Eines Abends war er spät mit dem Auto auf der Via Appia Antica unterwegs,
um vom Büro nach Hause zu fahren. Plötzlich zwang ihn ein querstehender
Wagen vor ihm auf der Straße zum Halten. Als er einen Blick in den Rückspiegel
warf, entdeckte er einen weiteren Wagen, der ihm von hinten den Weg
versperrte. Im selben Moment öffnete sich die Autotür, und ein maskierter Mann
mit erhobenem Gewehr rannte auf ihn zu.
Carlo war ein selbstsicherer Mann mit schneller Auffassungsgabe, der es
gewohnt war, in brenzligen Situationen spontane Entscheidungen zu treffen. Er
trat das Gaspedal durch und fuhr mit quietschenden Reifen los, wobei er um ein
Haar den Wagen vor ihm gerammt hätte, der ihm den Weg versperrte. Der
Kriminelle hinter ihm begann zu schießen, doch Carlo beugte sich tief über das
Lenkrad und ließ sich nicht beirren.
Als er endlich zu Hause ankam, war sein Auto von Kugeln durchlöchert, wie
im Krieg. Die Polizei konnte nichts tun, außer ihm Personenschutz anzubieten.
»Dottore, zögern Sie nicht, uns zu informieren, wenn Sie wieder spätabends
unterwegs sind.«
So kam es, dass er beim zweiten Mal, erneut auf der Via Appia, ein seltsames
Feuer ganz in der Nähe bemerkte, das ihm nicht geheuer war. Als kurz darauf ein
Wagen neben ihm auffuhr und versuchte, ihn von der Straße abzudrängen,
erschien aus der Dunkelheit plötzlich ein mobiles Einsatzkommando der Polizei
und schlug die Entführer – denn darum handelte es sich – in die Flucht. Im
Gebüsch bei der Villa Sara wurde dann ein Kleinbus ohne Nummernschild und
mit laufendem Motor entdeckt. Im Kofferraum befanden sich Stricke, Klebeband,
Spritzen und Chloroform. Alles, was man für eine Entführung im großen Stil
benötigte. Das war selbst für uns zu viel. 1974 beschlossen wir, mit den Kindern −
es waren inzwischen zwei − nach Paris zu ziehen.
Schon einige Jahre zuvor, in New York, hatte ich ein schockierendes Erlebnis.
Cipi war noch ganz klein.
Es war im Oktober 1970, wir wohnten in einer Suite im zweiundzwanzigsten
Stock des Hampshire House mitten in Manhattan. Die großen Fenster zeigten
zum Central Park, der in herbstlichen Farben erstrahlte. In dem Gebäude
wohnten auch Carlos Sohn Alex und Greta Garbo, der ich aber leider nie
begegnet bin. Ich lief ständig zum Fahrstuhl in der Hoffnung, sie zu treffen,
wurde aber immer enttäuscht. Wir waren zur Premiere von Sonnenblumen (I
girasoli) in Amerika, zusammen mit Vittorio und Marcello. Carlo war spontan
nach Mailand zurückgekehrt, weil sein Vater, dem er sehr nahestand, im Sterben
lag. Ich blieb mit Ines, Ninni und Cipi allein in New York. Am Morgen nach
Carlos Abreise wurde ich durch ein seltsames Geräusch geweckt. Es klang wie
erstickte Schreie.
Ich begriff nicht, was vor sich ging, denn ich war noch im Halbschlaf und
dachte, ich träumte. Ich nahm die Ohrstöpsel, mit denen ich gewöhnlich schlief,
aus meinen Ohren und hörte wieder diese Schreie, dieses Mal viel deutlicher.
Während ich noch dabei war, richtig wach zu werden, drangen zwei Männer in
mein Zimmer ein: Einer von ihnen war der Concierge des Hotels. Er hatte einen
dicken Schlüsselbund bei sich und war leichenblass. Der andere ging hinter ihm
und trug etwas bei sich, von dem ich im ersten Augenblick glaubte, es sei ein
Stethoskop. »Oh Gott, dem Kind geht es nicht gut«, sagte mir mein
Mutterinstinkt. In Wirklichkeit aber war es ein Revolver.
»Das ist ein Überfall«, bellte der eine wie in einem schlechten Krimi. Ich tat so,
als begriff ich nicht, was ihn umso nervöser machte. Er drückte mir den Lauf der
Pistole an die Schläfe und knurrte: »Das ist kein Spaß!« Die Situation war grotesk.
Vor mir stand ein Dieb, der aussah wie beim Karneval, mit Perücke und falschem
Schnurrbart. Auf meinen Kopf war eine Waffe gerichtet, die keineswegs wie ein
Spielzeug aussah. Ich schaute ihm direkt in die Augen, die blauer waren als die
von Paul Newman. Im Zimmer nebenan befand sich mein Sohn, klein und
wehrlos.
»Los, beweg dich und rück die Juwelen raus«, brüllte der Dieb, während er
alles nach der Beute durchwühlte. Der Juwelier Van Cleef & Arpels hatte mir eine
Schmuckgarnitur für die Rockefeller-Gala geliehen, die am Abend stattfinden
sollte. »Woher weiß er davon?«, fragte ich mich verwirrt und voller Angst. Beim
Gedanken an Cipi fand ich die Sprache wieder: »Sie sind in einem Etui in der
untersten Schublade der Kommode.« Der Mann mit den blauen Augen folgte
fahrig meinen Hinweisen, fand das mit Diamanten und Rubinen besetzte
Armband mit der passenden Kette und den Ohrringen und stopfte sich alles in die
Tasche. Es war aber nicht das, wonach er suchte. Er schrie wie besessen, so laut,
dass man ihn kaum verstehen konnte.
»Das ist alles Ramsch … Den Ring, ich will den Ring, den aus dem
Fernsehen …«
Endlich verstand ich, was er wollte, und verfluchte meine Eitelkeit. Einige
Abende zuvor hatte ich dem Fernsehmoderator David Frost zusammen mit
Marcello ein langes Interview gegeben und dabei einen sehr ansehnlichen
Diamanten getragen. Der stammte ebenfalls von Van Cleef & Arpels, und ich
hatte ihn direkt nach der Sendung wieder zurückgegeben. Und nun brachte dieses
nutzlose Teil, das mindestens eine halbe Million Dollar wert war, mein Leben und
das meines Sohnes in Gefahr. Ich versuchte, es zu erklären, ihm die Wahrheit zu
sagen, aber er packte mich an den Haaren und schleuderte mich zu Boden.
»Wo ist das Kind ?!«, schrie er gleich darauf, und ich erschrak zu Tode.
Ich war in Panik und bekam kaum mit, dass sein Komplize, der offenbar im
anderen Zimmer Schmiere gestanden hatte, zu viel Angst hatte, um noch länger
zu warten, und schrie: »Gehen wir!« Als sie im Begriff waren, sich mit dem
Schmuck von Van Cleef & Arpels aus dem Staub zu machen, schmiss ich ihnen
ein Täschchen mit all meinem persönlichen Schmuck vor die Füße. Ich weiß
nicht, warum ich das tat. Vielleicht, um mich abzureagieren oder um sie zu
provozieren. Vielleicht wollte ich auch nur erreichen, dass sie so schnell wie
möglich verschwanden.
Ich lief zu Cipi, drückte ihn fest an mich und brach in Tränen aus. Ich schwor
mir, dass ich von diesem Tag an nie wieder wertvollen Schmuck tragen würde,
außer, wenn ich meinen Sohn im Arm hielt.

The (Im)possible Dream

Bald sollte sich Edoardo zu Carlo jr. gesellen und dieses Glück, von dem ich
dachte, es sei einmalig, noch verdoppeln. Ein weiteres unergründliches Wunder
der Mutterschaft.
Als ich zum zweiten Mal schwanger wurde, drehte ich gerade Der Mann von
La Mancha (Man of La Mancha) mit Peter O’Toole. Es war das erste und einzige
Musical meiner Karriere (bis auf eine kleine Rolle in dem Film Nine, der 2009 in
die Kinos kam). Der Film war angelehnt an den großen Broadwayerfolg von Dale
Wasserman und erzählt die Geschichte von Miguel de Cervantes, der von der
Inquisition eingesperrt wird und zur Zerstreuung seiner Zellengenossen die
Geschichte von Don Quijote und seiner Liebe zur Dienerin Aldonza, alias
Prinzessin Dulcinea, zum Besten gibt.
Peter war ein ausgezeichneter Schauspieler, ein Mann von erstaunlicher und
unkonventioneller Intelligenz, geistreich wie ein großer Komödiant und
eindringlich wie die Figur einer Tragödie. Es war schön, mit ihm zu arbeiten. Ich
erinnere mich daran, wie ich voller Bewunderung an seinen Lippen hing: Wenn
er seinen Text vortrug, war es, als würde er singen. Aber wenn er dann
tatsächlich singen sollte, hatte auch er seine Schwierigkeiten. Weder ich noch er
waren ausgebildete Sänger, und wir waren uns dessen vollkommen bewusst. Um
die Wahrheit zu sagen, starben wir fast vor Angst …
Das meiste wurde im Studio aufgenommen, aber wir mussten auch am Set
singen, denn wie in jedem ernst zu nehmenden Musical gingen Spiel und Gesang
ineinander über. Eines Morgens, als wir gerade drehen wollten, war meine
Stimme komplett weg, und ich brachte kein Wort heraus. Es war schlimmer als
bei Marlon Brando, nachdem er von Chaplin gerügt worden war. Peter nahm
mich beiseite, und klug, wie er war, stellte er die richtige Diagnose:
»Reg dich nicht auf, Sophia. Das ist eindeutig eine psychosomatische
Kehlkopfentzündung …«
Ich versuchte, ihm zu widersprechen, aber sein fester Blick ließ keine
Ausflüchte zu. Als die Krankenschwester kam und meine Temperatur maß, stellte
sich heraus, dass ich neununddreißig Grad Fieber hatte. Ich war regelrecht
erleichtert.
»Siehst du, Peter, das ist alles andere als psychosomatisch, ich habe die
Grippe!«, krächzte ich, beruhigt, was meine geistige Gesundheit betraf.
Aber er ließ nicht locker: »Sophia, was sagst du da! Das ist Angst. Die Angst
davor, vor all diesen Leuten hier zu singen.« Er hatte recht. Zwei Tage später, in
der intimen Atmosphäre des Studios, brachte ich problemlos jeden Ton heraus.
Jetzt war er es, der seine Nervosität nicht überwinden konnte – vielleicht hatte er
zu eifrig Sigmund Freud beschworen. Als wir schließlich den Titelsong des Films,
The Impossible Dream, singen sollten, der mit der Zeit zum berühmten Evergreen
wurde und von Frank Sinatra, Elvis Presley, Jacques Brel und Plácido Domingo
interpretiert worden ist, sollte ich ganz nah bei ihm stehen.
Wir teilten den Erfolg und waren Leidensgenossen bis zum Schluss. In den
Drehpausen forderte ich ihn beim Scrabble heraus. Und die Ironie des Schicksals
wollte es, dass ich, eine Neapolitanerin im Ausland, ihn, den hochgebildeten
Shakespeare-Interpreten, schlug, ohne ihm auch nur einen Punkt zuzugestehen.
Vielleicht lag es daran, dass ich, obgleich ich nicht sehr lange zur Schule
gegangen bin, noch rechtzeitig die ersten Brocken Latein aufgeschnappt hatte und
mir vieles herleiten konnte, womit ich oft richtig lag. Wir amüsierten uns
köstlich! Oder vielmehr ich amüsierte mich köstlich, auf seine Kosten!
Die lebendigste Erinnerung an ihn jedoch besteht in einem ganz konkreten
Bild. Eines Abends klopfte es an die Tür unserer Suite, die ich mit Ninni und Cipi
bewohnte. Wir öffneten sie, und da stand er in einer unmöglichen grünen Tunika,
die Arme weit ausgebreitet, wie eine Art Jesus Christus, der vom Kreuz
herabgestiegen war.
»Darf ich hereinkommen und euch Gesellschaft leisten?« Er war vollkommen
verrückt. Es war dieser kreative, herzliche Wahnsinn, der einen die Welt mit
anderen Augen betrachten lässt.

Am Ende der Dreharbeiten, die ausschließlich in Rom stattgefunden hatten, fand


ich heraus, dass ich mit Edoardo schwanger war. Dieses Mal traf mich die
Nachricht nicht so unvorbereitet wie beim ersten Mal. Wir wussten ja schon über
die Östrogene Bescheid, und die Spritzen verabreichte mir schließlich die
Schneiderin am Set. Ich hörte erst im fünften Schwangerschaftsmonat auf zu
arbeiten, und im September 1972 flog ich nach Genf.
Ich verbrachte einige entspannte Monate dort. Ich las, kochte oder schaute
fern. Und ich schuf Platz in meinem Herzen für eine zweite große Liebe. Denn
obwohl die Umstände dieses Mal unbeschwerter waren, war die Aufregung
genauso groß wie beim ersten Mal. Das Kind lag zwar in einer guten Position,
aber de Watteville entschied sich dennoch erneut für einen Kaiserschnitt, um in
Anbetracht meiner Vorgeschichte kein unnötiges Risiko einzugehen. Ich hatte
Angst, diese gesunde Angst, die jede Mutter vor der Geburt überkommt. Es ist
eine Mischung aus Aufregung und Ehrfurcht vor einem der größten Wunder der
Natur. Wie schon bei Carlo jr. empfand ich die Geburt Edoardos als das größte
Geschenk, das mir das Leben machen konnte, abgesehen von meinen Enkeln
natürlich.
Apropos Geschenk: Peter blieb sich auch an diesem Punkt treu. Als Edoardo
am 6. Januar 1973 das Licht der Welt erblickte, schön wie die Sonne, erschien
mein Don Quijote mit einem riesigen signierten Straußenei: »With all my love,
Peter.« Es stand lange Zeit auf meiner Kommode, als eine surreale Erinnerung an
einen lieben und zweifellos exzentrischen Freund.

Onkel Richard

Apropos exzentrische Freunde: In jenem Frühjahr des Jahres 1973 sollte ein ganz
besonderer Gast in der Villa Sara eintreffen, der unseren Alltag bereichern und in
gewisser Weise auch verkomplizieren sollte. Richard Burton wurde von Carlo
dazu eingeladen, an meiner Seite in Die Reise nach Palermo (Il viaggio) zu
spielen. Es sollte der letzte Film meines großen Meisters, Vittorio De Sica, sein.
Eines Morgens nach dem Stillen genoss ich auf der Terrasse den zaghaften
Einzug des Frühlings. Edoardo war endlich satt und schlief, während Cipi nun
zum Ausgleich meine volle Aufmerksamkeit forderte, da ihn die Anwesenheit des
kleinen Bruders manchmal doch etwas eifersüchtig machte. In diesem Moment
reichte mir Ines das Telefon.
»Sophia? Bist du das? Hier ist Richard.«
»Richard?«
»Ja, Richard, Richard Burton!«
Wir waren uns noch nie begegnet, und ich hatte nicht mit seinem Anruf
gerechnet, freute mich aber über seine Offenheit. Und diese Stimme! Sie
durchbohrte geradezu den Telefonhörer, wenn man das so sagen kann. Ich wusste
natürlich, dass wir zusammen drehen würden, und ich konnte es kaum erwarten,
einem der Götter des Olymps zu begegnen. Aber Richard ging noch einen Schritt
weiter.
»Wenn ihr nichts dagegen habt, würde ich vor Drehbeginn gerne eine Zeit lang
bei euch bleiben. Weißt du, ich muss in Form kommen und möchte nicht im
Hotel wohnen. Dort würde man mir keine Luft zum Atmen lassen …«
In der Tat war seine turbulente Affäre mit Elizabeth Taylor Thema in jeder
Illustrierten, und kein Reporter oder Paparazzo hätte sich eine solch pikante
Beute entgehen lassen. Außerdem verfügte die Villa Sara über ein hübsches
Gästehaus, das uns ermöglichte, Freunde und Verwandte zu beherbergen, ohne
dass man sich zu sehr in die Quere kam.
»Du bist herzlich willkommen, Richard«, erwiderte ich ohne zu zögern und
froh, ihm behilflich sein zu können. Er reiste mit seinem ganzen Gefolge an,
inklusive einem Arzt, einer Krankenschwester und einer Sekretärin.
In Wirklichkeit versuchte er damals nicht nur, vom Alkohol loszukommen,
sondern auch von der Liebe zu seiner schönen Cleopatra mit den violetten
Augen. Er konnte über nichts anderes reden als über sie, und ich hörte ihm
geduldig zu. Oft aß er mit mir und den Kindern am Pool zu Mittag, und bald
wurden wir Freunde. Auch Cipi war ganz verliebt in ihn, und zusammen gaben
sie ein seltsames Paar ab.

Aus meiner Schatzkiste, deren Inhalt ich nun schon fast vollständig zutage
gefördert habe, kommt ein wunderschönes Foto von Richard im Filmkostüm zum
Vorschein, das er einige Jahre später an seinen kleinen Freund geschickt hatte.

To my beloved Cipi …
Hier siehst du Onkel Richard, als er noch etwas jünger war, und du und Edoardo
und E’en So [Red.: Burtons Pekinese] noch nicht einmal geboren wart! Que [sic]
cosa incredibile – Unglaublich!

Richard

Diese paar Worte genügen, um mir seine Stimme, seine Intelligenz und seine
Warmherzigkeit ins Gedächtnis zu rufen.
Er war walisischer Abstammung, das vorletzte von dreizehn Kindern eines
Bergarbeiters, und hatte es bis nach Oxford zum Schauspielstudium geschafft. Er
war stets hin- und hergerissen zwischen Theater und Film, ein Schürzenjäger und
bereits in jungen Jahren ein großer Trinker. Am Set zu Cleopatra verliebte er sich
schließlich in Elizabeth Taylor, und wenige Monate später verließ er seine erste
Frau, um sie heiraten zu können.
In diesen ersten Monaten des Jahres 1973 befand sich seine Ehe mit Liz Taylor
in einer tiefen Krise, die ein Jahr darauf, 1974, mit der Scheidung endete. Doch
das hinderte die beiden nicht daran, 1975 erneut zu heiraten, um sich dann, 1976,
endgültig scheiden zu lassen. Jedes Jahr eine Überraschung.
Während seines Aufenthalts in Marino war Richard ein Nervenbündel.
Vielleicht lag das auch an dem Alkoholentzug, dem er sich unterzog. Dennoch
war er sympathisch, liebenswert und brillant; er sprühte nur so vor Ideen und
zitierte pausenlos aus Büchern. Seine Liebe zur Literatur sickerte immer wieder
durch und machte seine Gesellschaft zu einer einzigartigen Erfahrung. Und
trotzdem – ich weiß, es ist kaum hinzunehmen – wurde auch er Opfer meiner
Scrabble-Künste. Trotz seiner umfangreichen Bildung und seines reichen
Wortschatzes musste er sich mir, wie bereits Peter O’Toole, geschlagen geben.
Diese Tatsache machte ihn sprachlos, und er sah mich ganz erschüttert an. Ich
kostete meinen Erfolg voll aus und kicherte hämisch.
Wir spielten, um die Zeit bis zur ersten Klappe totzuschlagen. Kurz vor den
Dreharbeiten zu Die Reise nach Palermo verschlechterte sich aber De Sicas
Gesundheitszustand, und er musste sich einer Operation unterziehen, die den
Beginn der Dreharbeiten um einen Monat verzögerte. Richard gehörte inzwischen
schon zur Familie. Cipi nannte ihn Onkel, und Edoardo starrte ihn mit offenem
Mund an, mit diesem für einen Säugling typischen Staunen. Trotz unserer großen
Sorge um Vittorio pflegten wir unsere häusliche Freundschaft mit Richard, die
aus Spielen, Scherzen und Vertrautheit bestand. Es schien so, als hätte er sein
Gleichgewicht wiedergefunden, doch dieser Zustand sollte nicht lange andauern.
Am Freitag vor Beginn der Dreharbeiten kam ein verhängnisvoller Anruf von Liz
Taylor aus Los Angeles.
»Ich werde morgen operiert, du musst unbedingt kommen, Richard.«
»Das soll wohl ein Witz sein?«, wollte ich gerade sagen, hielt mich dann aber
zurück. Im Grunde war es nicht meine Angelegenheit, und ich tat gut daran,
mich nicht einzumischen. Als hätte er meine Gedanken gelesen, fragte er mich
leise mit verunsichertem Blick: »Was soll ich tun? Ich kann doch nicht einfach
Nein sagen!«
Carlo erfasste wie gewöhnlich die Lage und packte den Stier bei den Hörnern:
»Fahr ruhig. Es reicht, wenn du Montag früh am Set bist.«
Richard flog also fünfzehn Stunden hin und fünfzehn zurück, nur um Liz ein
paar Minuten die Hand zu halten. Aber er hatte seine Pflicht erfüllt, sein
Gewissen beruhigt und erschien pünktlich zur ersten Klappe am Set.
Liz kam einige Wochen später zu ihm nach Rom, und sie verbrachten etwas
Zeit bei uns und in einem Hotel in der Stadt. Ein Tsunami, ein freies Elektron, ein
Pfeil, der mitten in sein leidendes Herz getroffen hatte, das war sie für ihn.
Als wir mit Die Reise nach Palermo anfingen, war Richard zwar körperlich
anwesend, aber mit seinen Gedanken woanders. Er war auf der Suche nach einer
Lösung für seine Probleme, die aber zu diesem Zeitpunkt nicht in Sicht zu sein
schien. Offenbar fand er einige Zeit später zumindest einen provisorischen
Ausweg und berichtete mir sogleich davon. Wir bereiteten uns gerade auf einen
weiteren gemeinsamen Dreh zu Flüchtige Begegnung (Brief Encounter) vor − ein
Remake des berühmten Films von David Lean, das wir 1974 unter der Regie von
Alan Bridges in England drehten −, als er mir einen Brief schrieb. Darin scherzte
er auf seine typische Art, sprach aber auch offen und ehrlich über sich und feierte
die Freundschaft, die uns verband:

Dearest Dost [sic] and Devine Ashes [6],


habe das Drehbuch gelesen. Wer zum Teufel konnte jemals auf die Idee kommen,
das ohne mich zu machen? Was für eine Unverschämtheit. Wir sehen uns heute in
einer Woche. Ich hab dich lieb, das ist klar, aber es ist auch ein phantastisches
Projekt – ansonsten hätte ich es, bei aller Liebe, nicht gemacht. Der Regisseur
scheint sehr nett zu sein, aber auch sehr nervös. Ob wir zwei wohl mit ihm
auskommen werden? Ich nehme an, dass die Engländer Verwirrung stiften
werden, aber überlassen wir das Frings [Red.: dem Agenten von Elizabeth Taylor]
und den anderen Idioten. Ich hab dich lieb.
Inzwischen bin ich vollkommen von meinem jüngsten Wahnsinn genesen und
habe mich selten so zufrieden gefühlt. Elizabeth wird mir immer in den Knochen
stecken, aber immerhin ist sie inzwischen aus meinem Kopf verschwunden, und
die Liebe, die ich empfand, hat sich in Mitleid verwandelt. Sie ist eine einzige
Katastrophe, und es gibt nichts, was ich für sie tun könnte, ohne mir dabei selbst
zu schaden. Ich hab dich lieb.
Ich kann es kaum erwarten, dich wiederzusehen. Und auch Cipi und Edoardo,
Ines, Pasta und Carlo und sogar England. Ich war schon lange nicht mehr dort.
Ich bin selbst überrascht, wie lange.
Dieses Mal werde ich dir ein guter Schauspielpartner sein. Letztes Mal war ich ein
verdammter Idiot.
Wir sehen uns in einer Woche,

In Liebe,
Richard

Ich vergaß dir zu sagen, dass ich dich lieb habe.

Ciao Vittorio

Vier Jahre vor Die Reise nach Palermo, als ich gerade Mutter geworden war,
kehrte ich ans Set von Sonnenblumen zurück. Das war im Herbst 1969. Und
während in der ganzen Welt Aufruhr herrschte, drehten wir zwischen Mailand
und Russland. Ich aber fühlte mich geborgen, wie zu Hause. Die drei Musketiere
waren wieder zusammen: Vittorio, Marcello und ich. Carlo jr. hatte in dem Film
einen Gastauftritt als mein Sohn, also fast wie im echten Leben. Er war so klein
und damit der ideale Reisebegleiter. Ich nahm ihn überallhin mit, denn ich konnte
ihn nicht länger als ein paar Stunden allein lassen.
Sonnenblumen spielte im Krieg, den wir in Italien miterlebt hatten, und
spannte den Bogen dann über die Grenzen hinweg bis nach Russland, zum
großen Rückzug und zum Soldaten Antonio, der halb erfroren von einer
Einheimischen gerettet wird, mit der er später eine neue Familie gründet. Seine
italienische Frau ist auf der Suche nach ihm, und unglücklicherweise findet sie
ihn auch. Dann kommt es zu der dramatischen Begegnung zweier Frauen, die
beide den gleichen Schmerz empfinden. Mittendrin ein Mastroianni, der, wieder
einmal erstklassig, einen Mann ohne Eigenschaften verkörpert. So wie Domenico
in Hochzeit auf Italienisch oder Carmine, der Ehemann von Adelina in Gestern,
heute und morgen oder Don Mario in Die Frau des Priesters (La moglie del prete),
einer bittersüßen Komödie unter der Regie von Dino Risi, in der wir ein Jahr
darauf wieder zusammen spielen sollten.
Vittorio ging es nicht gut. Die Krankheit in seinen Lungen schritt weiter voran.
Sein Gefühl für Besonderheiten, seine Liebe zu Kindern – ob russische oder
italienische –, seine Gabe, die alltägliche Arbeit der Frauen, die Qualen eines
Abschieds am Bahnhof oder von der Unerbittlichkeit des Lebens gebeutelte
Gefühle darzustellen, hatte er dennoch nicht verloren.
Cipi – und das sage ich nicht nur so – spielte wunderbar, und der Film kam vor
allem in den Vereinigten Staaten gut an. Im Nachhinein betrachtet war das
intensive Gelb der Sonnenblumen über den toten Körpern von Millionen
russischer, italienischer und deutscher Soldaten, die für wer weiß wen in den Tod
gegangen waren, eine Art letzter Appell an das Leben, ein Funken Hoffnung, ein
Farbklecks in einer Welt, in der es nach und nach immer dunkler wurde, bevor
die letzte Reise begann.

Und ausgerechnet Il viaggio (»Die Reise«) war der Originaltitel des letzten Films
von De Sica. Er wurde zwischen Oktober 1973 und Januar 1974 gedreht, und
wieder spielte ich an Richards Seite. Nach unserer gemeinsamen Zeit in der Villa
Sara waren wir gut befreundet. Der Film basierte auf einer Novelle von Luigi
Pirandello, die zwischen Sizilien, Neapel und Venedig zu Beginn des Ersten
Weltkriegs spielt. Es ist eine Geschichte von Liebe und Tod, ein klassisches
italienisches Melodrama. Vittorio ging es schlecht, Richard war mit den
Gedanken woanders, und ich war mehr Mama als Schauspielerin. Trotz allem
war es ein schönes Thema, das das Publikum bewegte und wieder einmal vor
allem im Ausland gut ankam.
Zwei Tage vor Ende der Dreharbeiten tat ich etwas, das ich noch nie zuvor
getan hatte. De Sica und ich stöberten gerade in den Fotos vom Set herum, als
mir eine sehr schöne Aufnahme von ihm in die Hände fiel.
»Vitto, was für ein schönes Foto! Bitte schreib mir etwas Nettes darauf!«
Er sah mich gerührt an und gehorchte:
»Sofia, Sofì, du warst erst fünfzehn und sagtest: ›Sì‹.«
Nicht zufällig war ausgerechnet dieses Foto eines der ersten, die ich aus meiner
Schatzkiste gezogen habe und die mich zu meiner langen Reise in die Erinnerung
inspiriert haben.
Nach Beendigung der Dreharbeiten im Januar 1974 arbeitete ich eifrig weiter. Ich
drehte Das Urteil (Verdict) mit Jean Gabin, Flüchtige Begegnung mit Richard und
schließlich, wieder an der Seite von Marcello, Die Puppe des Gangsters (La pupa
del gangster). Aber der Gedanke an Vittorio ließ mich nicht los.
Als ich an jenem 13. November Carlos Stimme am Telefon vernahm, war ich
kurz davor, unter irgendeinem Vorwand einfach aufzulegen. Ich wollte nicht
hören, was er mir sagen wollte und was ich tief in meinem Inneren bereits
wusste. Und doch war es wahr. De Sica war tot. Er war in Paris gestorben, nur
wenige Kilometer von mir entfernt. Wir waren uns ganz nah gewesen und doch
so weit voneinander entfernt. Jeweils am anderen Ufer des Flusses, der unsere
gemeinsame Geschichte mit sich riss.
Er war im American Hospital gestorben, und seine Familie hatte sehr strenge
Anweisungen erteilt, um die Privatsphäre zu wahren, und das galt sogar für die
engsten Freunde. Ich rief seine Frau, María Mercader, an, aber sie antwortete
nicht. Ich fühlte mich machtlos, eingefroren in meinem Schmerz, und ich wusste
nicht, wohin mit mir oder was ich tun sollte, um mir Erleichterung zu
verschaffen. Ich wusste nur, dass ich nicht einfach zu Hause bleiben konnte, ohne
mich von ihm zu verabschieden, bevor er nach Rom überführt werden würde.
Ich rief einmal, zehnmal, hundertmal im Krankenhaus an, aber die Antwort
blieb die gleiche.
»Es tut uns leid, aber wir können nichts für Sie tun.«
Am Ende ging ich kurzerhand zu der Klinik, in der Absicht, mich in das
Zimmer zu schmuggeln, in dem Vittorio aufgebahrt war. Der willfährige
Klinikangestellte begleitete mich, aber das Zimmer war abgeschlossen. Durch das
Fenster betrachtete ich fassungslos den schon geschlossenen Sarg. Daneben stand
eine Bahre, auf der noch kurz zuvor sein Körper gelegen haben musste. Auf
Kopfhöhe war ein dunkler Fleck zu erkennen. Ich roch den Duft seiner Pomade
und begann zu weinen, wie ich noch nie zuvor geweint hatte.

Weder Soldat, noch Ehemann, noch Vater

Ich dachte, dass ich ohne De Sica nicht mehr arbeiten würde. Oder vielmehr, dass
ich zwar weiterhin spielen würde, aber bestimmt nie wieder eine Rolle, die mich
vollkommen ausfüllte und die mir Flügel verlieh. Aber das Leben steckt voller
Überraschungen, ganz gleich, ob man nun Schauspielerin ist oder eine
verbrauchte Hausfrau, deren Leben darin besteht, das Haus in Ordnung zu halten
und eine ganze Rasselbande von Halbwüchsigen so gut wie möglich
großzuziehen. Hätte Vittorio noch gelebt, wäre er mit Sicherheit stolz auf mich
gewesen, wenn er mich in Ein besonderer Tag gesehen hätte. Außerdem hätte ich
niemals eine Antonietta spielen können, ohne zuvor eine Cesira, Adelina oder
Filumena gespielt zu haben.
Es war 1977, als der große Regisseur Ettore Scola, ein strenger, konsequenter
und idealistischer Meister seines Fachs, Carlo das Projekt vorstellte. Die
Geschichte schien geradezu für mich und Marcello geschrieben worden zu sein.
Eine sensible und überaus menschliche Geschichte, die wieder einmal von uns,
von unserem Leben erzählte.
Der »besondere Tag« ist der 6. Mai 1938, an dem ein imperial anmutendes Rom
den deutschen Führer mit einer karnevalesken Parade willkommen heißt. Die
ganze Stadt ist auf den Beinen. Zumindest fast die ganze. Einige bleiben lieber zu
Hause, zum Beispiel in der Viale XXI Aprile, in einem großen Wohnblock, in
dem Konformismus und Normalität zu Hause sind. Dort, am Rande der
Gesellschaft, wohnen Gabriele, ein Radiosprecher, der aufgrund seiner
antifaschistischen Ideen und seiner Homosexualität gerade entlassen wurde und
nach Sardinien ins Exil geschickt werden soll, und die erschöpfte Hausfrau und
Mutter Antonietta, Ehefrau eines strammen Faschisten. Sie ist ausgezehrt von
einer Einsamkeit, deren sie sich nicht einmal bewusst ist.
Während Antoniettas Mann mit den Kindern der Parade zu Ehren Hitlers
beiwohnt, begegnen sich Antonietta und Gabriele auf der Dachterrasse des
Hauses, und dort, zwischen den Laken, die in der Sonne trocknen und den
blassen Himmel mit frischen Farben erleuchten, kommen sie sich näher. Ihre
Begegnung ist intensiv und dennoch verhalten. Man erhascht einen flüchtigen
Blick auf das, was sich hinter den Augenringen, den schweren Hüften, den
angedeuteten Rumbaschritten ihres gemeinsamen Tanzes und den auf dem
Fußboden verstreuten Kaffeebohnen verbirgt. Man erahnt Antoniettas Sehnsucht
nach etwas Neuem, nach einer Veränderung ihres monotonen Lebens, und sei sie
auch noch so geringfügig, wie zum Beispiel eine neckische Locke, die in letzter
Minute vor dem Spiegel zurechtgezupft wird.
Während Gabriele und Antonietta die eigenen Grenzen und
Unzulänglichkeiten ausloten, berichtet das Radio, das in dem Film die dritte
Hauptrolle spielt, live und reißerisch von der Parade. Die Pförtnerin des
Gebäudes wacht erbittert darüber, dass alles so bleibt, wie es ist. Aber selbst sie,
die engstirnige Wächterin, bemerkt, dass in der schüchternen Begegnung der
beiden Hausbewohner, wie in jeder Begegnung, etwas Wahrheit liegt, eine
Wahrheit, die die Grenzen des Konventionellen zweifellos überschreitet.
Während Antoniettas einziges Hobby darin besteht, Fotos von Mussolini in ein
Album zu kleben, gesteht Gabriele, dass er von keinem der faschistischen
Konzepte überzeugt ist, an die Antonietta angeblich glaubt. Mit seiner
unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit flüstert er ihr zu, weder Soldat, noch
Ehemann, noch Vater zu sein. Er ist einfach nur ein Mann, in den sich diese
alternde und verzagte Frau verliebt.
Carlo hatte seine Schwierigkeiten damit, Geldgeber für den Film zu finden,
aber schließlich fand er sie in Kanada, und wir konnten anfangen zu drehen. Es
war natürlich eine Herausforderung, aus zwei Schauspielern wie uns, die wir für
Schönheit und Jugend standen, zwei schlichte, ausgegrenzte Figuren zu machen.
Scola war gut mit Marcello befreundet und hatte keinerlei Zweifel, was ihn betraf
− was mich anging allerdings schon. Er fürchtete, meine ausgeprägte
Körperlichkeit würde nicht zu einer ungeschminkten, abgewirtschafteten Frau
mit Kittelschürze passen.
Ich bemerkte sein anfängliches Misstrauen sofort, und die ersten Drehtage
waren nicht leicht. Ich spürte, dass die Rolle zwar zu mir passte, dass ich aber
noch sein Vertrauen brauchte, um den richtigen Zugang zu finden. Nach ein paar
Tagen rief Carlo ohne mein Wissen bei Ettore an. »Ciao, Scola, hier ist Ponti. Was
ist los? Du hast Sophia zum Weinen gebracht …«
»Ich?«, fragte er. »Und warum?«
»Vielleicht fühlt sie sich nicht wohl, vielleicht ist die Rolle …«
Scola wich keinen Zentimeter zurück.
»Sophia ist eine großartige Schauspielerin, und sie muss sich der Rolle
anpassen. Die Rolle bleibt, wie sie ist.«
Carlo musste sich damit abfinden. Er war es, der mich zuerst in Antoniettas
Kittelschürze gesehen hatte, und er war niemand, der Kompromisse suchte, wo es
keine gab. Er glaubte an die Geschichte, er glaubte an den Regisseur und er
glaubte an mich. Das genügte ihm.
Vielleicht trug das kurze Telefonat zumindest dazu bei, uns etwas Luft zu
verschaffen und deutlich zu machen, dass die Identifikation eines Schauspielers
mit seiner Rolle etwas sehr Sensibles ist und Zeit braucht.
Es dauerte nur noch wenige Tage, bis ich mich endgültig in diese so
gewöhnliche und doch so besondere Frau verliebt hatte. Meine Dankbarkeit
Ettore gegenüber bleibt grenzenlos. Der Film wurde ein großer Erfolg und
gewann jede Menge Preise. Er eroberte die Herzen des Publikums und der
Kritiker und wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben.
Während der Dreharbeiten zu Ein besonderer Tag starb Riccardo Scicolone.
Eines Morgens rief mich meine Schwester unter Tränen am Set an: »Sofì, du
musst sofort kommen, Papà geht es schlecht.«
Ich eilte zum Krankenhaus, und um sein Bett standen die Frauen seines Lebens:
Mammina, Maria und seine letzte Partnerin, eine Deutsche. Ich ging zu ihm und
drückte seine Hand. Er sah mich an. Ich hielt seinem Blick stand, wie gelähmt.
Ich lächelte ihm zu und ging zum Fenster, wo Maria stand und weinte. Ich
schaute hinaus. Von oben betrachtet wirkten Fußgänger, Autos und Fahrräder
wie Spielzeug.
Ich versuchte, ebenfalls zu weinen, aber es gelang mir nicht.
12 Siebzehn Tage

Blitze

Eines Morgens im Februar 1977 fuhren zwei Wagen der Guardia di Finanza, der
Finanzpolizei, durch die Einfahrt der Villa Sara in Marino. Die Beamten
durchsuchten das gesamte Haus und machten eine genaue Bestandsaufnahme
unserer Möbel, Bilder und anderer Wertgegenstände. Dasselbe geschah
gleichzeitig in den Räumen der Champion, Carlos Produktionsfirma. Der
Staatsanwalt Paolino Dell’Anno leitete die Ermittlungen. Er meinte, Carlo sei in
Italien gemeldet (in Wirklichkeit war er seit Jahren französischer Staatsbürger mit
Wohnsitz im Ausland), und beschuldigte ihn der Devisenunregelmäßigkeiten bei
Verkäufen von Filmen auf dem internationalen Markt. Außerdem warf man ihm
vor, Filme in Koproduktion mit ausländischen Firmen realisiert zu haben, für die
er Rechtsbegünstigungen in Italien beantragt habe, die laut Anklage aber
unrechtmäßig gewesen seien, da die besagten Filme vollständig vom Ausland
finanziert worden wären.
Das schlug ein wie ein Blitz und nahm uns unsere Ruhe und unsere Sicherheit,
vor allem, weil wir uns stets rechtschaffen und ehrlich verhalten hatten und in
keiner Weise auf Derartiges vorbereitet waren. Wir versuchten, angemessen zu
reagieren, das Gleichgewicht in der Familie aufrechtzuerhalten und nicht in
Panik zu verfallen, aber das war alles andere als einfach, und wir mussten
unseren ganzen Mut zusammennehmen.
Einen Monat später, am 8. März, folgte die nächste kalte Dusche. Ich war
gerade in Rom bei den Vorbereitungen zur Premiere von Ein besonderer Tag. Als
ich am Flughafen Fiumicino in Rom ankam, um den letzten Flug nach Paris zu
nehmen, wurde ich vom Zoll festgehalten und verbrachte die Nacht in einem
Verhörzimmer. Die Beamten fragten mich Dinge, die ich nicht beantworten
konnte. »Ich bin Schauspielerin, keine Geschäftsfrau«, versuchte ich mich zu
verteidigen − vergeblich. Nur Dank meines Anwalts bekam ich meinen Pass
zurück und konnte am nächsten Morgen die erste Maschine nach Paris nehmen.
Am Pariser Flughafen Charles de Gaulle erwartete mich außer Carlo eine Meute
kampfeslustiger Journalisten. Es war eine überaus unangenehme Erfahrung, aber
ich täuschte mich gewaltig in der Annahme, dass das schon alles gewesen sein
sollte.
Inzwischen befanden wir uns in einer Art kafkaeskem Labyrinth, in dem alles
verkehrtherum war. Die Ermittlungen von Paolino Dell’Anno endeten für Carlo
mit einer Verurteilung ersten Grades zu vier Jahren Haft wegen
Währungsbetrugs, von der er aber letztendlich freigesprochen wurde. Auch die
Anklage bezüglich der Koproduktionen mit dem Ausland wurde fallen gelassen.
Obwohl sich am Ende alles zum Guten wendete, war es eine schwierige Zeit, in
der wir uns verletzlich und machtlos vorkamen.
Aber unsere Probleme mit der Justiz schienen kein Ende nehmen zu wollen.
Nach einem Konstrukt aus vollkommen unbegründeten Anklagen warf man
uns steuerschonende Gewinnverlagerung vor (die steuerliche Scheinresidenz
eines Unternehmens im Ausland, das seine Aktivitäten und seinen
Gesellschaftszweck tatsächlich aber in Italien hat). Diese Anklage hatte die
Sicherstellung und letztendlich die Beschlagnahmung unserer Kunstsammlung
zur Folge, die wir im Lauf der Jahre dank unserer Arbeit hatten anlegen können.
Die Beschlagnahmung (die Jahre später, nach zahlreichen ermüdenden Prozessen,
schließlich rückgängig gemacht wurde) hinterließ eine tiefe Wunde, weil sie, mal
abgesehen von dem nicht unerheblichen wirtschaftlichen Aspekt, eine unserer
großen Leidenschaften betraf. Auch das »Happy End« konnte uns nicht ganz über
die Verbitterung hinwegtrösten, die uns diese Geschichte bereitet hat.

Die Verurteilung

Dies war für mich jedoch nicht das traumatischste Erlebnis.


Zur gleichen Zeit wurde ich wegen mutmaßlicher Steuerhinterziehung
verurteilt, die in Wirklichkeit nie stattgefunden hatte und einen Zeitraum betraf,
der lange zurücklag. Die richterliche Entscheidung traf mich völlig überraschend
und machte mich sprachlos.
Ungefähr zwischen Ende der Fünfziger- und Anfang der Sechzigerjahre lebte
ich im Ausland und war dort steuerlich gemeldet. Aus diesem Grund hatte mein
damaliger Steuerberater von einer Steuererklärung abgesehen. Jahre später aber
verlangte mein neuer Steuerberater (der offenbar die Entscheidung seines
Vorgängers einfach ignorierte) einen Steuervergleich für genau diesen Zeitraum.
Indem ich dem nachkam, widerlegte ich praktisch die Tatsache, dass ich zu jener
Zeit woanders gemeldet war, und zeigte mich so im Grunde selbst an, die
Steuererklärung damals unterschlagen zu haben.
Daraus folgte ein Strafverfahren gegen mich.
Auf das erste Urteil folgte ein Berufungsverfahren und schließlich, 1980, die
Verurteilung des obersten Gerichtshofs zu dreißig Tagen Haft. Die Entscheidung
ging darauf zurück, dass meine Anwälte versäumt hatten, mildernde Umstände
zu beantragen. Auf Fehler folgten Fehler. Es blieb mir schließlich nichts anderes
übrig, als entweder ins Exil zu gehen, was bedeutet hätte, nie wieder nach Italien
zurückkehren zu können und meine Mutter nie wiederzusehen, oder ins
Gefängnis zu gehen.
Wir lebten seit Langem in Paris, und ich wusste nicht, was ich tun sollte.
Meine Entscheidung wuchs langsam, aber sicher in mir heran, und am Ende
beschloss ich, nach Italien zu fahren und meine Haftstrafe anzutreten. Ich traf
diese Entscheidung ganz alleine und folgte dabei meinem Instinkt, meiner
inneren Stimme, die mir immer den richtigen und den direktesten Weg gewiesen
hat, ohne große Umwege und bequeme Lösungen.
Ich war erschöpft und verwirrt und glaubte, wenn ich mich dem Gesetz
auslieferte, würde mir Recht widerfahren und die Wahrheit bewiesen werden. Ich
hatte nie die Absicht, mein Land zu betrügen, aber allein der Verdacht lastete
schwer auf mir. Ich hatte schon einmal die Bitterkeit des Exils gekostet, als es um
die Eheangelegenheiten mit Carlo ging, und jetzt, mit fast fünfzig Jahren, konnte
ich nicht einmal den Gedanken daran ertragen. Ich wollte mir nicht die Freiheit
nehmen lassen, nach Pozzuoli zurückzukehren, meine Familie in die Arme zu
schließen, meine Freunde und das Meer an meinem Heimatort wiederzusehen.
Aufgrund irgendeines bürokratischen Wirrwarrs wurden mein Name und mein
Ruf in aller Öffentlichkeit in den Dreck gezogen.
Und dennoch fühlte ich mich, und fühle mich bis heute, als Italienerin. Mal
abgesehen von einem sauberen Führungszeugnis, wollte ich im Reinen sein mit
meinen Landsleuten.
Am Sonntag vor meiner Abreise nach Italien, am 16. Mai 1982, hatten Carlo jr.
und Edoardo ihre Erstkommunion. Wir feierten zu viert, und es war ein
besonderer Moment voller Wärme und Geborgenheit vor der langen Trennung.
Am Dienstagabend, ich packte gerade meinen Koffer, kamen die beiden Jungs in
mein Zimmer, um sich zu verabschieden. In diesem Moment, als ich sie voller
Liebe ansah und mir ihre Gesichter genau einprägte, wurde mir plötzlich klar,
warum ich mich zu diesem schweren Schritt entschieden hatte. Wieso war ich
nur nicht früher darauf gekommen? Ich hätte niemals zugelassen, dass meine
Söhne ein zweifelhaftes Bild von ihrer Mutter haben, verschleiert durch
Unehrlichkeit und Feigheit. Von frühester Kindheit an hatte ich versucht, ihnen
den Wert von Verantwortung und die Kraft von Mut zu vermitteln. Da konnte ich
mir selbst jetzt nicht untreu werden, wo sie größer wurden und dabei waren, der
Welt entgegenzutreten.
Am Tag darauf machte ich mich erhobenen Hauptes auf nach Italien, auch
wenn mir das Herz schwer war vor Sorge und Traurigkeit. Ich wusste nicht recht,
was mich erwartete, und, ja, ich gebe es zu, hinter meinen großen braunen Augen
verbarg sich Angst. Auf der Landebahn in Rom wartete ein weißer Streifenwagen
auf mich, der mich zum Ortsgefängnis von Caserta brachte, ganz in der Nähe des
Ortes, an dem ich aufgewachsen war. Die Fahrt glich einem Spießrutenlauf durch
die Meute von Journalisten und Fotografen, die mir überall auflauerten. Es war
ein kleines Gefängnis mit dreiundzwanzig Inhaftierten – ich würde die Nummer
vierundzwanzig sein. Es war in einem Gebäude in der Altstadt untergebracht und
würde bald in der ganzen Welt bekannt sein. Am Eingang drängelte sich eine
Menschenmenge, die mich so herzlich begrüßte, als wäre es ein Festtag. Trotz
allem hatten mich die Menschen noch gern, und dieser Beifall gab mir die Kraft,
meinem schwierigen Schicksal entgegenzutreten.
Trotz der Blumen, der Briefe und Telegramme, der Besuche von Zia Dora und
der rührenden Anwesenheit meiner Schwester Maria, die während meiner
ganzen Haftzeit in Caserta blieb und jeden Abend unter meinem Fenster
verweilte, um mir Gesellschaft zu leisten, erlebte ich den Schmerz der Einsamkeit,
der Isolation. Nichts ist demütigender als Freiheitsentzug. Nichts ist
schmerzhafter, als unsichtbar zu werden.
Ich werde nie den Tag vergessen, an dem sie mich zum Verhör riefen.
»Wo ist die Gefangene Scicolone?«, fragte der Beamte hinter seinem
Schreibtisch. Ich stand schon seit fünf Minuten direkt vor ihm.
Ich bekam eine Einzelzelle, die – wie Staatspräsident Alessandro Pertini extra
betonte – über den Luxus eines Fernsehgeräts verfügte. Und sie rieten mir, nicht
mit den anderen Häftlingen zu verkehren. Ich befand mich tatsächlich in einer
etwas heiklen Lage, die mitunter auch gefährlich werden konnte. Trotzdem
versuchte ich, den anderen unglücklichen Frauen Zuneigung, Freundlichkeit und
Hoffnung zu vermitteln, und wenn ich rausging, grüßte ich jede einzelne von
ihnen. Ich erfuhr am eigenen Leib, wenn auch nur für kurze Zeit, was einige von
ihnen über Jahre durchmachten. Und durch die Gespräche mit den neun
wunderbaren Nonnen, die sich um uns kümmerten, wurde mir bewusst, dass ich
diese Frauen niemals vergessen würde und es sie auch wissen lassen wollte. Und
so war es.
Im Gefängnis fand ich heraus, dass die Zeit ihre Gangart wechseln kann. Sie
wird lang und bitter, wenn man dunkle Gedanken hat. Ich versuchte, sie zu
bändigen, indem ich las, beobachtete, manchmal kochte und vor allem schrieb.

In meiner Schatzkiste stoße ich auf ein schlichtes rotes Heft, so, wie es die Kinder
in der Schweiz für die Schule verwenden. Es ist das Tagebuch aus meiner kurzen,
aber nicht weniger traumatischen Haftzeit. Darin habe ich meine Gedanken und
Überlegungen festgehalten, eindringliche und bruchstückhafte Notizen. Es enthält
meine verzweifelte Wut, ein Gefühl, das mir bis dahin fremd war. Und es enthält
einen Brief an den Alessandro Pertini, in dem ich ihn um Gnade ersuchte, die er
mir versagte. Dieser Brief gibt den Sinn meiner unerwarteten Entscheidung
besser wieder als so manch nachträglich rekonstruierte Beschreibung.
Ich möchte aus diesem Tagebuch zitieren, das in jenen dunklen Stunden meine
Art, die Dinge zu betrachten, verändert hat – ob zum Guten oder zum
Schlechten, vermag ich noch nicht zu sagen.

Notizen

Fame is a vapor, popularity is an accident, riches take wings, those who cheer
today may curse tomorrow, and only one thing endures − character.

Harry S. Truman [7]


Nachdem ich ungefähr die Hälfte meiner Haftstrafe verbüßt hatte, fing ich an,
Tagebuch zu schreiben. Nach den ersten Tagen der Eingewöhnung waren diese
gelegentlichen Notizen ein Versuch, Ordnung zu schaffen, meine Gefühle zu
kontrollieren und mir Mut zu machen. Außerdem wollte ich so den Angriffen der
Presse standhalten, die wie üblich einen bizarren Gefallen daran fand, ihre Idole
zu vernichten, die sie kurz vorher noch in den Himmel gelobt hatte. Wenn ich
diese Worte aus längst vergangenen Zeiten lese, bekomme ich eine Gänsehaut. In
jener Zeit entwickelte ich eine Verletzlichkeit, die sich durch nichts einfach
wieder auslöschen lässt.

Mit einer Wut, die mich lebendig und aktiv hält, versuche ich, gegen meine
Traurigkeit anzukämpfen.

Samstag
Hier im Gefängnis. Meine Freude ist nicht echt,
aber auch meine Trauer wird langsam mechanisch.

Sonntag
Nun sind schon elf Tage vergangen. Ich bin sehr traurig und melancholisch, so
ganz von der Welt abgeschnitten. Es scheint mir noch immer unfassbar. Das alles
ist grotesk und verleitet zu philosophischen Betrachtungen über die
Niederträchtigkeit der Menschheit und über die Eitelkeit und die Frustration des
Menschen. Wenn ein armer Tropf fragt, ob die Justiz ehrlich sei, kann er einem
nur leidtun, denn er weiß gar nichts. Aber etwas weiß er: Nämlich dass er in
Ungerechtigkeit lebt und von den Mächtigen schikaniert wird. Also versucht er, in
diesem offensichtlichen Fall, Gerechtigkeit zu erreichen. Dasselbe gilt
offensichtlich nicht für die sogenannten Journalisten, die in den letzten Tagen so
viel herumphantasiert haben. Ihre Beweggründe sind Neid, moralische Armut und
ständige Frustration. Keiner von ihnen ist den Dingen auf den Grund gegangen,
um seinen Lesern die Moral der Geschichte und das Groteske der Situation
aufzuzeigen … Nun, es ist wohl besser, ich denke nicht mehr darüber nach, oder
noch besser, ich versuche, eine Lehre daraus zu ziehen.

Zum Glück begegnet man in jeder auch noch so schwierigen Situation


besonderen Personen, die über den Tellerrand schauen können und sich nicht von
einfachen und oberflächlichen Urteilen beeindrucken lassen. Das sind die
Personen, die den Unterschied machen, die selbst in den schlimmsten Situationen
eine Bereicherung darstellen, die wie ein Geschenk des Himmels erscheinen und
in deinen Augen, hinter den Vorurteilen und Allgemeinplätzen, deine
Menschlichkeit erkennen.

Die Mutter Oberin ist so eifrig und liebevoll, wie eine echte Mutter es in
schmerzvollen Momenten ist. Möge Gott sie segnen für das, was sie anderen zu
geben vermag. Was hätte ich in dieser schlimmen Zeit nur ohne sie gemacht?
Bei all der Traurigkeit ist die Begegnung mit ihr die einzige wertvolle
Erfahrung, die ich von hier mitnehmen werde. Eine Erfahrung, die mich
bereichert hat und mich nicht mehr am Sieg des Guten im Menschen zweifeln
lässt.
Das Gefängnis muss keine hoffnungslose Hölle sein. Im Herzen derjenigen, die
eine Strafe verbüßen, egal, wie schwer sie auch gewesen sein mag, glüht immer
ein Funke, der die Flamme der Erlösung entzünden kann. Ich habe viel mit meiner
lieben Mutter Oberin geredet, habe sie beobachtet und bewundert. Wie viel
Weisheit und Entschlossenheit in ihrer Seele schlummern!

Während ich jeden Moment jener schrecklichen Tage nach dreißig Jahren Revue
passieren lasse, frage ich mich, was Freiheit eigentlich bedeutet. Freiheit besteht
nicht unbedingt darin, zu tun, was man will; vielmehr geht es darum, die eigenen
Prinzipien mit anderen teilen zu können. Wenn ich heute meine
Tagebucheinträge von damals lese, wird mir klar, dass mein Schmerz durch das
Gefühl der Verlassenheit, der Einsamkeit und der Missachtung hervorgerufen
wurde, mit dem ich so unerwartet konfrontiert worden war. Unter der ständigen
Beobachtung fühlte ich mich komplett durchsichtig, als sähe die Welt in mir
nichts als die in Ungnade gefallene Diva.

Nicht frei zu sein, ist die Hölle. Man denkt an nichts anderes, nur noch daran,
was man tun wird, wenn man rauskommt. Man wird egoistischer. In dieser
Hinsicht könnte mir meine Haft sogar noch nützlich sein.
Man muss stark und bescheiden sein, nur dann knien die Großen vor einem
nieder. Diejenigen, die mir helfen konnten, haben mir das Blaue vom Himmel
versprochen. Aber nach dem ersten großen Knall haben sie sich ganz schnell aus
der Affäre gezogen – so läuft das in Italien (kein Wunder, dass ich unschuldig im
Gefängnis sitze). Alle sind abgetaucht. Ab und zu lässt mal einer von ihnen etwas
von sich hören und macht gleichgültige oder ironische Bemerkungen. Sie sind alle
unsichtbar geworden. Wenn ich hier raus bin und meine Freiheit wiederhabe,
verschwinden sie hoffentlich auch aus meinem Herzen.

Ohne Freiheit bin ich wie trockenes Holz. Ich komme mir nutzlos vor. Man könnte
mich genauso gut wegwerfen.

Alle haben ihre Augen auf mich gerichtet und sind bereit, jede meiner
Handlungen zu verurteilen. Es ist wirklich schwierig, ihnen klarzumachen, dass
auch ich menschliche Gefühle habe.
Ich versuche, etwas Kraft in mir zu finden, auf die Justiz kann ich mich nicht
verlassen. Ich muss versuchen, diese schlechte Erfahrung zu überwinden, dieses
Schmierentheater.

Ob unser Präsident weiß, dass die Welt sich verändert hat? Dass wir uns schon
fast im Jahr 2000 befinden? Und was nützen einem die Bilder im Fernsehen, wenn
man im Gefängnis sitzt?

Ich hatte nie viel für das Schreiben übrig, aber jetzt schreibe ich wie eine
Wahnsinnige. Es ist die einzige Möglichkeit, sich zu beschäftigen, der einzige
Trost in den Momenten der völligen Leere. Außerdem habe ich so Gesellschaft,
fühle mich weniger einsam. Es kommt mir vor, als unterhalte ich mich mit mir
selbst, und mit ein wenig Phantasie fühle ich mich besser.

Die Tage im Gefängnis verbrachte ich mit Lesen und Gesprächen mit den
Nonnen, am tröstenden Feuer des Ofens oder in Erwartung von Nachrichten.
Man lebte hier in dem Bewusstsein, an einem Ort zu sein, an dem der Schmerz
größer ist als die Hoffnung. Ein Schmerz, der für mich vorübergehend war, aber
für viele der anderen Häftlinge vielleicht für immer andauern würde.
Dienstag
Heute habe ich den Vormittag in der Küche verbracht. Basilio hat mir keine
einzige Nachricht geschickt. Sie haben mich hier vergessen. Die Mühlen der Justiz
mahlen langsam, und die Abläufe sind endlos. Es ist kein Ende abzusehen. Ich
hoffe, Basilio schickt mir bald eine Nachricht. Die Stimmung hier ist erdrückend.
Dazu kommt noch, dass ein Mädchen versucht hat, sich das Leben zu nehmen,
und ein anderes sich den Arm geritzt hat.
Hoffentlich lässt Basilio etwas von sich hören.
Endlich, um halb sieben habe ich einen Brief von Basilio erhalten.
Es war ein tragischer Abend. Ein weiteres Mädchen hat sich geritzt, und sie
haben es ins Krankenhaus gebracht. Ich kann nicht schlafen. Ich habe zu viele
Gedanken im Kopf.

Mittwoch
Ich denke, lese, schreibe, beobachte. Ich tröste mich mit dem Gedanken, dass jede
Erfahrung einen Nutzen hat. Und in wenigen Tagen die Freiheit? Ich denke auch
an diejenigen, die im Gefängnis bleiben. Wer weiß, für wie viele Jahre und
vielleicht unschuldig. Ich bin sehr melancholisch, das ist die Stimmung, die bei
mir überwiegt. Ich muss all meine Lebensgeister wecken und Kraft aus meiner
Ironie schöpfen, um nicht zu verzweifeln – das passiert schnell, wenn man nicht
frei ist. Niemand ist von der öffentlichen Verurteilung abgewichen, niemand hat
innegehalten, um sich die Absurdität der Situation vor Augen zu führen, die aus
mir einen neuen Al Capone gemacht hat. Niemand hat die Frage aufgeworfen:
»Moment mal, ist das hier nicht übertrieben?« Wozu die ganzen Emotionen in der
Öffentlichkeit? Mal ganz abgesehen davon, dass es die Beiträge der Medien
waren, die den Präsidenten endgültig von irgendeinem möglichen Akt der Gnade
abgehalten haben.

Ich wurde über nichts informiert, und selbst als sich das Ende des Albtraums
näherte, ließ man mich nicht wissen, an welchem Tag und um welche Zeit ich
entlassen werden würde. Ich konnte nichts tun, außer die Kraft aufzubringen, der
Situation mit Würde zu begegnen.

Donnerstag
Ich hatte eine schlaflose Nacht. Als ich gestern Abend alles wie gewohnt erledigte,
sagte ich mir: Das ist das letzte Mal, dass ich die Fenster schließe, das letzte Mal,
dass ich den Schlüssel im Schloss höre und das metallische Geräusch beim
Abschließen, das letzte Mal, dass ich in diesem Bett schlafe … Und als ich heute
Morgen aufwachte, ging es so weiter: Das letzte Mal, dass ich in diesem Bett
aufwache … Ich sah mir alles genau an, um die Eindrücke in meinem Kopf zu
speichern. Der lachsfarbene Spind, die beiden Liegen mit den Militärdecken, die
winzige Toilette und das kleine Viereck, das sie Terrasse nennen, umgeben von
hohem Glas und Eisen. Wenn man nach oben schaut, sieht man dort, wo sich die
Sonne für circa zwei Stunden am Tag zeigt, ein winziges Stück blauen Himmel.
Das Zimmer ist hell. Auf dem Tisch mit der karierten Plastikdecke stehen ein
Korb mit Veilchen, Obst und viele, viele Blumen. Nachrichten und Früchte, die
jeden Tag gebracht werden. Zum ersten Mal schreibe ich über meine Zelle.
Vielleicht weil ich spüre, dass nun alles dem Ende zugeht?

Das Tagebuch enthält auch Abschnitte auf Französisch und Englisch. In einer
anderen Sprache zu schreiben half mir vielleicht dabei, mich von dem Gefühl der
Klaustrophobie zu befreien, die Dinge aus einem anderen Blickwinkel zu
betrachten, von dem aus ich mich weniger erdrückt, weniger gelähmt und
weniger gefangen fühlte.

Freitag
Obviously it’s very very tough. I am facing a world that I would have never
known. It’s pain, suffering, frustration. Being secluded it’s I think the worst
punishment that human soul may bare.[8]

Dann endlich der Abschied. Ich denke zuallererst an die Mutter Oberin, der ich
ewig dankbar sein werde.

Samstag
Letzte Blicke, letzte Handlungen in dieser Zelle, die mir in den vergangenen
siebzehn Tagen eine solche Qual bereitet hat. Ein letzter Abschied von den
rührenden Nonnen, letzte Umarmungen mit der Wärterin. In einer Ecke am Ende
des Flurs sitzt eine kleine, traurige Gestalt – die Mutter Oberin. Sie wartet auf
mich, weicht aber meinem Blick aus. Sie ist die Einzige, die mich nicht
hinunterbegleitet, und ihre Mundwinkel zittern, als ich in den Fahrstuhl steige.
Ich drehe mich rasch um und lasse eine Welt voller Schmerz und menschlichem
Elend zurück.

Briefe

Zwischen den letzten Seiten des Tagebuchs steckt ein Brief, den ich
abgeschrieben habe: »Brief eines Freundes«, steht da. Es ist ein anonymes und
wertvolles Geschenk, das mich in den dunkelsten Stunden getröstet hat.

Wenn ich Ihr Berater oder Freund gewesen wäre, hätte ich Sie davon abgehalten,
eine so drastische Entscheidung zu treffen. Nur ein einziger Tag in einem
italienischen Gefängnis ist eine schreckliche und überflüssige Erfahrung. Ich
schreibe Ihnen aus Solidarität, aber mehr noch aus Dankbarkeit dafür, was Sie
für die Kultur des internationalen Films bedeutet haben und noch immer
bedeuten, und für Ihre Entschlossenheit, die Sie durch jede Ihrer Entscheidungen
zum Ausdruck bringen. […]
Aber seien Sie vorsichtig. Sie werden sich mit der Stumpfsinnigkeit und der
Einsamkeit auseinandersetzen müssen. Dazu werden Sie die Reserven an
Menschlichkeit und Kraft brauchen, über die Sie zweifellos verfügen. Gehen Sie
auf Distanz und lassen Sie diese Gewalt an sich abprallen, damit sie Ihnen nicht
wehtut.

In tiefer Freundschaft.

Ich stoße auch auf einen Antwortbrief von mir an einen Journalisten, der die
Dinge offenbar durchschaut hatte, während viele andere mich nur verurteilten
und ein riesiges Medienspektakel veranstalteten.

Brief an einen neapolitanischen Journalisten


Danke. Und bitte gestatte mir, dass ich dich duze. An diesem Ort sind
Förmlichkeiten wie das »Sie« völlig fehl am Platze … Danke. Du kannst dir nicht
vorstellen, welche Wohltat, welch Segen deine Worte für meine Seele waren. Und
wie wahr, wenn du schreibst: »Man kommt dem Innersten der Welt auf den
Grund … einer Menschheit voller Irrsinn, die auf dem Nullpunkt angelangt ist, die
keinen Frieden findet und nicht schlafen kann …«
Du hast es verstanden und den Mut, es zu schreiben. Du klebst nicht an den
simplen Mustern wie die anderen Schreiberlinge, die sich an meinen Fall heften,
um ihre zweifelhafte Moralität zur Schau zu stellen. Du bist der wahre Journalist.
Die anderen werden verschwinden, genau wie irgendwelche Modeerscheinungen,
wie die Eitelkeit, die Angeberei und der Opportunismus, je nachdem, wie der
Wind gerade weht.
Ich danke dir für deine ehrlichen und anständigen Worte, die nicht den Tenor
der pseudointellektuellen Salons widerspiegeln, sondern den der einfachen Leute,
die mich mögen und die genau wissen, dass es an jeder Ecke und zu jeder Zeit
Ungerechtigkeit und Demütigung gibt. Entschuldige meinen Gefühlsausbruch,
aber die Stunden, die Minuten hier sind lang, endlos. Das Herz schlägt schneller,
aber der Geist wird langsamer. Man kommt aus dem Rhythmus, und manchmal
fällt es schwer, die Gedanken neu zu ordnen. Dies ist einer der Momente, in denen
es mir gelingt, sie zu ordnen, und das wollte ich nutzen und als Erstes an dich
schreiben, denn du hast es geschafft, mir meine bittere Situation mit Klarheit und
neapolitanischer Leidenschaft zu erleichtern. Verstanden zu werden, während um
einen herum Intoleranz und Böswilligkeit herrschen, ist eines der schönsten
Geschenke, die man der menschlichen Seele machen kann. Du hast mir dieses
Geschenk gemacht. Ehrlich und wahrhaftig, ganz auf die neapolitanische Art,
und dafür bin ich dir dankbar.

Und schließlich mein Brief an den Präsidenten, Alessandro Pertini, der meine
Gedanken und Gefühle vielleicht am besten wiedergibt.

Sehr geehrter Herr Präsident,


die Einsamkeit des Gefängnisses bringt einen dazu, sich über vieles Gedanken zu
machen, nach dem Warum zu fragen und zu versuchen, der Wahrheit auf den
Grund zu gehen.
Als die Journalisten Ihnen von meinem Fall und meiner Gefangenschaft
berichteten, hat das in Ihnen Erinnerungen an Ihre eigene Gefangenschaft [Red.:
unter dem faschistischen Regime] wachgerufen, und ich fühlte mich im Vergleich
dazu nichtig und schämte mich beinahe. Ich habe Sie um Ihren festen Glauben
beneidet, der Ihnen, in diesem dunklen und beklemmenden Tunnel des
Gefängnislebens, eine große Stütze war.
Aber in meinem Fall kann es keine moralische Unterstützung geben. Ich bin
unschuldig in die Fänge der juristischen Bürokratie geraten. Mein einziger
Antrieb, die Strafe anzutreten, war meine tiefe Sehnsucht nach Italien. Ich konnte
mich nicht mit der Vorstellung abfinden, mich nie wieder als freie Bürgerin in
meinem Land bewegen zu können.
Das Gefängnis, Herr Präsident, bedeutet nicht nur die Einzelzelle, die Arbeit
oder das Fernsehgerät. Sie haben es am eigenen Leib erfahren. Es bedeutet die
totale Einsamkeit, das Eingeschlossensein in einer Umgebung, in der das Auf-
und Zuschließen von Türen in den Händen anderer liegt. Es bedeutet die
Wutschreie und Wutausbrüche der anderen unglücklichen Gefangenen. Die
schlaflosen Nächte und eine Seele, die auf ihren Urzustand reduziert wird. Der
Geist stumpft ab, während das Herz wie verrückt schlägt.
Herr Präsident, habe ich all das wirklich verdient? Und wenn dem so ist,
warum bin ich dann die, die ich bin? Meine Karriere, mein Ruhm, sind sie eine
Schuld? Der banale Tratsch, die sadistische Wut, mit der einstige Idole gesteinigt
werden, sind das nicht Fehltritte, die verurteilt und missbilligt werden müssten,
wenn sie aus purer Lust am Gemetzel verübt werden?
Sie mögen mir verzeihen, Herr Präsident, dass ich Ihnen ein paar Minuten Ihrer
wertvollen Zeit geraubt habe, die Sie so weise in unser Land investieren, wofür Sie
von allen geliebt werden wie ein treu sorgender Vater. Aber die Minuten und
Stunden, die ich hier drinnen verbringe, ließen mich meine Schüchternheit
überwinden; ich wollte Sie an einem Moment der Rührung und des persönlichen
Unglücks teilhaben lassen und bin sicher, dass Sie mich verstehen.

Mit herzlichsten Grüßen und den allerbesten Wünschen.

Am 5. Juni um sechs Uhr zwanzig verließ ich das Gefängnis, um den Rest meiner
Strafe unter Hausarrest bei meiner Mutter in Rom zu verbüßen, so, wie es das
Gesetz gewollt hatte. Ich war dünner geworden, nüchterner und weiser. Und vor
allem wieder frei. Ich konnte meine Kinder in die Arme schließen, in der
Hoffnung, dass die Wahrheit nun siegen würde.
Fast dreißig Jahre später, im Oktober 2013, wurde endlich auch eine weitere
juristische Angelegenheit abgeschlossen, die auf das Jahr 1974 zurückging. Laut
Anklage, wieder einmal unbegründet, hätte ich Steuern unterschlagen. Nach
jahrelangem juristischem Tauziehen quer durch alle Instanzen schuf der Oberste
Gerichtshof endlich Klarheit und bestätigte ausdrücklich, dass ich nicht gegen das
Steuergesetz verstoßen hatte. Ein weiteres eklatantes Beispiel für die Trägheit der
italienischen Justiz.
13 Das Lächeln der Mona Lisa

Ein Vormittag im Museum

Faszination, was ist das? Wenn man sie definieren könnte, wäre sie vielleicht für
jeden erreichbar. Sie ist aber eine Gabe der Natur oder vielmehr ein Geheimnis,
das, anders als körperliche Schönheit, im Lauf der Jahre nicht verblüht. Ich denke
dabei an die Friedensnobelpreisträgerin Mutter Teresa, an die Neurobiologin Rita
Levi-Montalcini, die ebenfalls mit dem Nobelpreis ausgezeichnet wurde, oder an
die Schauspielerinnen Katharine Hepburn und Greta Garbo. Und natürlich an die
Mona Lisa.
An jenem kalten Wintermorgen Anfang der Achtzigerjahre war es
ungewöhnlich leer im Louvre. In den sonst von Touristen überfüllten Hallen
herrschte eine friedliche und wohltuende Ruhe, in der Bilder und Betrachter
einvernehmlich miteinander kommunizierten wie alte Freunde. So kam es, dass
ich plötzlich diese bescheidene Tafel aus Pappelholz entdeckte, die, verglichen mit
ihrem Ruhm, überraschend klein ist. Normalerweise drängten sich unzählige
Bewunderer vor der Mona Lisa. An diesem Tag aber war ich die Einzige und
konnte sie in aller Ruhe genießen.
Ich betrachtete sie lange und suchte in ihrem rätselhaften Lächeln eine
Antwort auf meine Fragen. Auch ich wurde älter, und die Zeit im Gefängnis hatte
eine Spur der Erschöpfung und des Schmerzes hinterlassen. Meine Söhne waren
stark und schön geworden, steckten voller Energie und machten mich jeden Tag
stolzer. Ich ging auf die Fünfzig zu, und die Schönheit, die mich begleitet hatte,
seit ich einst zur »Meeresprinzessin« gekürt worden war, warf nun Fragen auf,
über die ich nachdenken musste.
Ich hatte eine großartige Karriere hinter mir, die mir kaum Zeit gelassen hatte
zurückzublicken. Nun endlich konnte ich Abstand gewinnen und über den Sinn
meines Erfolgs nachdenken, über das Verhältnis zwischen Schein und Sein.
Zweifellos hatte ich mich immer schön gefühlt, doch es war eine unruhige
Schönheit, die sich selbst nie genug war. Außerdem kann Schönheit leicht zur
Last werden, wenn man ihr zu viel Bedeutung beimisst. Sie stellt dir ein Bein,
wenn du es am wenigsten erwartest. Sie bringt dich hoch und immer höher, bis
sie dich plötzlich fallen lässt. Ein tiefer Fall, der fatal sein kann, wenn man sich
vorher nur darauf konzentriert hat.
An diesem Morgen erschien mir die Mona Lisa gar nicht so schön. Sie hatte
etwas männliche Züge und ein paar Kilo zu viel − ein Casting in Cinecittà hätte
sie bestimmt nicht bestanden. Dennoch begriff ich in diesem Moment, warum sie
die Menschheit in ihren Bann zog. Die Mona Lisa sah mich an, als würde sie
jeden Augenblick ein Geheimnis lüften, das mein Leben verändern sollte. Ich
musste ihr nur zuhören, und mit einem Mal wurde mir alles klar.
Während wir uns musterten wie zwei Fremde, kurz bevor sie sich einander
vorstellen, verstand ich, dass ihre Faszination von einer inneren Ruhe ausging,
von einer tiefen Selbstkenntnis. Und, wie George Cukor zu sagen pflegte, keine
Schönheit kann es mit dem Wissen um sich selbst aufnehmen: Man muss
erkennen und akzeptieren, wer man wirklich ist.
Ich wusste inzwischen, wer ich war, und ich fand Erfüllung in der Liebe
meiner Familie. Der Film blieb meine Leidenschaft, aber die langjährige
Erfahrung half mir dabei, mich auch für andere Dinge zu interessieren. Ich war
mit mir selbst im Reinen, fühlte mich wohl in meiner Rolle und in meinem Leben.
Ich kannte mich viel besser als früher, und vielleicht hatte ich sogar gelernt, das
eine oder andere Mal Nein zu sagen – nicht zuletzt dank der wertvollen
Ratschläge, die Charlie Chaplin mir gegeben hatte. Jedenfalls wusste ich, wie ich
meine Energie nutzen und Freude finden konnte. Selbst wenn man schon klug zur
Welt gekommen ist, kann einem nur das Alter diese Sicherheit vermitteln. Und
nur diese Sicherheit kann die Schönheit nähren, die in jedem von uns steckt.
Wahre Schönheit ist, neben dem Selbstausdruck, ein Geschenk für alle, die
einen umgeben. Die eigene Schönheit zu pflegen ist eine Form des Respekts für
diejenigen, die man liebt. Sicher, wenn man älter wird, muss man sich etwas
mehr anstrengen, und es ist eine Frage der Disziplin. Der Körper verlangt Pflege
und Aufmerksamkeit sowie einen Tick Geduld. Immer, wenn ich nach meinem
Geheimnis gefragt werde, versuche ich, mit gesundem Menschenverstand zu
antworten: Jeder muss das richtige Verhältnis von Bewegung und Erholung
finden, von Aktivität und Schlaf, von kulinarischen Genüssen und der Freude an
einer gesunden und ausgewogenen Ernährung. Doch das wahre Schönheitselixier
liegt in der Phantasie, mit der man den Herausforderungen des Lebens begegnet,
in der Leidenschaft für das, was man tut, und in der Art und Weise, wie man die
eigenen Fähigkeiten nutzt und die eigenen Grenzen akzeptiert. Das Leben ist kein
leichtes Spiel. Man braucht Ernsthaftigkeit und Humor. Zwei Eigenschaften, in
denen ich mich seit geraumer Zeit übe.

Kleine Männer

1980 zogen wir von Paris in die Schweiz, wo wir sicherer und friedlicher leben
konnten. Wenn ich nicht unterwegs war, um zu arbeiten, kümmerte ich mich so
viel wie möglich um die Kinder, um deren Ausbildung und Bedürfnisse. Ich holte
sie von der Schule ab, begleitete sie zu ihren Aktivitäten und bewunderte das
Aufblühen ihrer Talente.
Carlo jr., der mit neun Jahren angefangen hatte, Klavier zu spielen, widmete
sich mit Leib und Seele der Musik. In langen Gesprächen mit seinem Vater, der
einen außergewöhnlichen Instinkt für Fähigkeiten und Talente besaß, hatte er
begonnen, sich seine Zukunft auszumalen.
»Warum ziehst du nicht in Betracht, Dirigent zu werden?«, schlug ihm Carlo
vor. »Es wäre eine sehr komplexe und ganzheitliche Herangehensweise an die
Musik, die du so sehr liebst …«
Wie immer hatte er recht. Jahre später, nachdem Carlo jr. seinen Abschluss am
Pepperdine Seaver College in Malibu und einen Master an der University of
Southern California in Los Angeles gemacht hatte, besuchte er ein
Dirigentenseminar in Connecticut, das ihm, nach weiterführendem Studium an
der UCLA (University of California in Los Angeles) und der Musikakademie in
Wien, den Weg zu seinem Traumberuf ebnete.
Edoardo träumte seit seiner Kindheit vom Film. Wir wollten ihm seine Freiheit
lassen und ihn ermutigen, ohne Druck auf ihn auszuüben. Gerade weil er der
Sohn einer Schauspielerin war, musste er die Möglichkeit bekommen, genau zu
überprüfen, ob das tatsächlich seine Berufung war.
1984 drehten wir zusammen ein Roadmovie mit dem Titel Qualcosa di biondo.
Edoardo war elf Jahre alt, ich über vierzig. Er spielte einen blinden Jungen und
ich seine Mutter, die kreuz und quer durch Italien reist, um von sämtlichen
Exliebhabern − alles potenzielle Väter des Jungen − Geld für eine Operation
zusammenzukratzen, die ihm sein Augenlicht wiedergeben soll. Edoardos Rolle
war nicht einfach, und ich, als Mamma und Schauspielerin, versuchte, ihm den
einen oder anderen Rat zu geben. »Edoardo, wollen wir uns unterhalten?
Vielleicht hilft es dir ein wenig …«
Aber er erwiderte, beinahe gekränkt und mit der für sein Alter typischen
Selbstüberschätzung:
»Nein, danke. Ich kann das alleine.«
Also ließ ich ihn gewähren und behielt ihn von Weitem im Blick.
Es dauerte nicht lange, bis er von sich aus auf mich zukam, nachdem er auf die
ersten Hürden gestoßen war.
»Du hattest recht, Mamma. Ich schaffe es nicht ohne dich, hilf mir bitte …«
Ich lächelte ihn an und nahm ihn mit auf einen kleinen Spaziergang.
»Du darfst nicht mehr daran denken, dass du blind bist. Du musst es einfach
sein und fertig …«
In den nächsten Tagen gingen wir gemeinsam noch einmal seine Rolle durch
und versuchten, uns vor Augen zu führen, wie ein Kind, das nicht sehen kann,
empfindet und sich bewegt. Er überwand seine Blockade, spielte gut, gewann den
Young Artist Award und machte sich diese Erfahrung bei seiner späteren Arbeit
hinter der Kamera zunutze.

So ist die Jugend. Ein Hin und Her zwischen groß und klein, Abhängigkeit und
Selbstständigkeit, zwischen Rückkehr und dem Drang danach, wegzugehen. Und
während ich noch dabei war, meine Söhne dabei zu beobachten, wie sie sich in
ihrem Alltag bewegten, waren sie auf einmal erwachsen. »Und was jetzt?«, fragte
ich mich. »Was soll ich jetzt machen, da sie mich nicht mehr brauchen?«
Ich wusste zwar, dass das nicht ganz stimmte, aber die Tatsachen zwangen
mich dazu, meinen Lebensrhythmus zu ändern und eine neue Balance zu finden.
Nachdem ich an jedem Moment ihres Lebens teilgenommen und mich ihnen
gewidmet hatte, war nun der Augenblick gekommen, in dem ich ihnen vom Ufer
aus zusehen würde, wie sie davonschwammen. Es ist ein zweischneidiger
Moment der Zufriedenheit und der Nostalgie, den alle durchleben müssen.
Mütter bleiben für immer Mütter, aber sie müssen zulassen, dass ihre Kinder
ihren eigenen Weg finden.
Carlo jr. ging nach Aiglon, ein College nach britischem Vorbild in der Schweiz.
Als es dann an der Zeit war, auf die Universität zu wechseln, entschied er sich für
Kalifornien. Carlo und ich zogen auf unsere Ranch, »La Concordia«, im Hidden
Valley in der Nähe von Los Angeles, wo wir schon seit Jahren die Sommermonate
verbrachten. Dort begann für uns ein neuer Lebensabschnitt in einer Oase der
Ruhe, wo wir innehalten und uns vor Augen führen konnten, was wir bereits
alles erreicht hatten und noch erreichen wollten. Edoardo, der nun selbst in
Aiglon war, besuchte uns in den Ferien, und wir fuhren auch häufig nach Europa.
Obwohl wir so weit voneinander entfernt waren, liebten wir uns wie eh und je
und waren häufig beisammen, um uns gegenseitig zu unterstützen, zu erheitern
und zu amüsieren.
Unser Ranch-Nachbar war Michael Jackson. Die Jungs konnten es kaum
erwarten, ihn kennenzulernen, und ließen nicht locker, bis der Moment
gekommen war. Eines Morgens rief Michael an, um uns zum Mittagessen
einzuladen, und wir sagten freudig zu.
Er empfing uns fürstlich, mit seiner Haarpracht, der dunklen Sonnenbrille und
dem unvermeidlichen schwarzen Hut auf dem Kopf.
Zum Mittagessen gab es köstliche Langusten, und anschließend führte er uns
mit seiner zarten und etwas kindlichen Schüchternheit durch das riesige Haus,
das einem gigantischen Spielplatz glich. Es war wie in Disneyworld. Carlo jr. und
Edoardo trauten ihren Augen kaum, sie kamen sich vor wie auf dem Mond. Um
sie nicht zu enttäuschen, nahm Michael sie zum krönenden Abschluss mit in den
Probensaal und führte ihnen seinen legendären Moonwalk vor.

Die Jungs lebten weit voneinander entfernt, der eine in Europa, der andere in
Kalifornien. Ihr Leben bestand aus Musik, Film und Literatur. Ich arbeitete weiter,
war aber wählerischer geworden und nahm nur noch Rollen an, die mich
wirklich überzeugten. Ich fühlte mich wohl mit meinem Alter und betrachtete die
jüngeren Frauen nicht mit Neid, sondern mit liebevoller Nachsicht.
Aber um eines klarzustellen: Es ist nicht immer so einfach. Jede Lebensphase
bringt ihre Launen und Tücken mit sich. Mit dreißig ist man jung und unsicher,
mit vierzig ist man stark, aber ständig müde, mit fünfzig ist man weise und
vielleicht etwas sentimental. Und wenn man auf die achtzig zugeht, überkommt
einen manchmal die Lust, noch einmal von vorne anzufangen. Man lebt in den
Erinnerungen auf und verliebt sich in die Zukunft.
Dass mir das Alter heute keine Angst macht, verdanke ich meinen Söhnen. Seit
ich Mutter bin, richte ich meinen Blick nach vorn, und das tue ich noch heute,
indem ich meinen und auch ihren Leidenschaften nachgehe. Man lernt nie aus.
Alles, worauf es ankommt, ist, einander zu kennen und sich lieb zu haben.

Mütter

Seit einiger Zeit spielte ich immer häufiger Mütter. Nicht, dass ich das nicht auch
schon vorher getan hätte, man denke an Und dennoch leben sie oder Hochzeit auf
Italienisch – aber jetzt war es anders: Ich war nun selbst Mutter und brachte all
die Gefühle mit zum Set, die Carlo jr. und Edoardo in den letzten zwanzig Jahren
in mir hervorgerufen hatten.
Die eindringlichste Rolle war die der Mamma Lucia (The Fortunate Pilgrim),
einer Fernsehserie, die 1988 auf Canale 5 gezeigt wurde. Sie basierte auf dem
gleichnamigen Roman des großen Mario Puzo, dem Autor von Der Pate. John
Turturro spielte die Rolle meines ältesten Sohnes Larry. Mit seinen sizilianischen
Wurzeln war John perfekt für die Rolle, und mit der Zeit entwickelte er eine tiefe
und leidenschaftliche Bindung zu Italien (nicht zufällig trug sein Dokumentarfilm
über neapolitanische Musik, der im Jahr 2010 sehr erfolgreich lief, den Titel
Passion).
An unserer Seite spielte auch Anna Strasberg in Mamma Lucia, die Witwe von
Lee Strasberg und damals eine sehr gute Freundin. In der kalifornischen Filiale
des berühmten New Yorker Actors Studio, das sie von ihrem Mann geerbt hatte,
begleitete sie die ersten Schritte von Carlo jr. und Edoardo in der Welt des
Schauspiels. Wenn wir für längere Zeit in Amerika waren, trafen wir uns oft,
noch bevor wir definitiv dort hinzogen. Wir verbrachten die Ferien auf der
Ranch, und häufig ging ich nachmittags mit den Kindern ins Studio am Santa
Monica Boulevard, teils, um etwas Zeit dort zu verbringen, und teils, um
herauszufinden, was den beiden an unserem Beruf vielleicht gefallen könnte. In
kleinen improvisierten Aufführungen, unter der fachkundigen Leitung von Anna,
machten sie Musik oder spielten kleine Rollen. Sie hatten viel Spaß und
sammelten wichtige Erfahrungen für ihren späteren Lebensweg.
Zurück zu Mamma Lucia. Man muss sagen, dass man bei einer gut gemachten
Fernsehproduktion oft mehr Zeit hat als bei einem Kinofilm, was einem
ermöglicht, einen Rundumblick zu schaffen. Die Serie spielt zu Beginn des
20. Jahrhunderts im New Yorker Stadtteil Little Italy, wobei die Kulissen in
Jugoslawien nachgebildet wurden, das schon bald vom Krieg erschüttert werden
sollte. In diesem Viertel, das damals noch einen fast ländlichen Charakter hatte,
lebt Lucia, eine unabhängige und mutige Frau, zweimal verwitwet, die jeden Tag
darum kämpft, ihre fünf Kinder großzuziehen. Eine leidenschaftliche Figur, die
wie für mich gemacht schien.
In der Zehnten Straße, geteilt durch die Schienen einer Dampflok, die den
gesamten Film über durch das Bild schnauft, werden ihre Kinder zu Männern
und Frauen, während sie altert und sich endlich ihren Traum von der
amerikanischen Staatsbürgerschaft erfüllt. Sie setzt alles aufs Spiel und ist kurz
davor, alles zu verlieren. Doch in ihrem Glauben an sich selbst gibt sie nicht auf.
Allen Problemen zum Trotz schafft sie es, die Familie zusammenzuhalten und sie
schließlich auf Long Island in einem hübschen weißen Haus wieder zu vereinen.
Dort erfüllt sie sich den Wunsch nach einem neuen Leben und pflegt die
Erinnerungen an diejenigen, die nicht mehr da sind.
Kurz nachdem wir die Szene abgedreht hatten, in der sich einer von Lucias
Söhnen, der liebste und verletzlichste, das Leben nimmt, wurden wir
tragischerweise Zeuge eines echten Selbstmordes. Als wir gerade eine Szene über
die aus dem Krieg heimkehrenden Soldaten drehten, mit all den amerikanischen
Soldaten auf den Bahren, ging Ninni, die mich immer noch ans Set begleitete,
obwohl die Jungs inzwischen schon groß waren, kurz hinaus, um sich die Füße zu
vertreten. In diesem Moment nahm ein junger Mann, der scheinbar zufällig dort
vorbeikam, seinen Revolver und erschoss sich. Ein tragischer Moment, in dem
sich Film und Realität auf beunruhigende Weise vermischten und der uns
sprachlos und mit bleiernem Herzen zurückließ.
Ich erinnere mich auch an einen anderen − diesmal zum Glück amüsanten −
Zwischenfall mit Turturro, der mich etwas durcheinanderbrachte. In einer Szene
sollte John ein Bad nehmen. Ich, in der Rolle seiner Mutter, stand
gedankenverloren am Fenster. Wie es das Drehbuch vorsah, drehte ich mich
während der Szene plötzlich um, und da stand er, völlig nackt, vor mir. Ich weiß
noch, dass ich sehr verstört war! Ich weiß bis heute nicht, ob es ein Versehen war,
eine Nachlässigkeit oder eine exhibitionistische Geste. Solche Dinge passieren
normalerweise nicht oder sollten zumindest nicht passieren. Ich drehte mich
sofort wieder um, damit er sich etwas anziehen konnte, und wunderte mich über
die Unwägbarkeiten männlicher Eitelkeit.

Mamma Lucia ist und bleibt eine eindringliche und bewegende Geschichte, die
mir sehr viel Freude bereitet hat. Denn wenn ein Projekt, wie in diesem Fall, auf
dem Werk eines großen Autors basiert, ist alles viel einfacher, und die
Wahrscheinlichkeit, dass alles gut gelingt, ist einfach größer. Wenn die Filmmusik
noch dazu von einem Künstler wie Lucio Dalla stammt, ist der Erfolg garantiert.
Eines Morgens, ein paar Monate vor dem Beginn der Dreharbeiten zu Mamma
Lucia, war ich mit Edoardo im Auto unterwegs. Wie gewöhnlich sang mein Sohn
vor sich hin. Das tut er immer, und er kann gut singen. Vielleicht hat er diese
Begabung von seiner Tante Maria …
»Qui dove il mare luccica e tira forte il vento …«
»Was singst du?«, fragte ich ihn neugierig.
»Te voglio bene assaje, ma tanto tanto bene, sai«, fuhr er lächelnd fort. Er
wusste, dass er mich mit dieser improvisierten Darbietung im neapolitanischen
Dialekt beeindruckte. So kam es, dass ich mich in Lucio Dalla verliebte. Als ich
kurz darauf mit Carlo über die Filmmusik für Mamma Lucia sprach, gab es für
mich keinen Zweifel: »Wir müssen unbedingt ›Caruso‹ nehmen, das ist das
perfekte Lied!« Carlo hörte es sich an und war ebenfalls begeistert. Aber er war
noch nicht ganz zufrieden. Er wollte, wie so oft, seinen künstlerischen Einfluss
geltend machen und suchte den bestmöglichen Interpreten, der am besten zum
Genre und zur Stimmung des Films passte.
Am Ende war es kein Geringerer als Luciano Pavarotti, der in Mamma Lucia
»Caruso« sang. Er vermochte wie kein anderer, das historische Setting und die
sehnsuchtsvolle Stimmung dieser großen Familiensaga in Musik zu verwandeln.
Eines Tages während der Dreharbeiten rief Luciano mich an.
»Sophia, ich muss dir etwas gestehen …«
»Was ist los?«, fragte ich und spürte seine Verlegenheit.
»Es tut mir leid, aber ich muss aufhören …«
»Aber was sagst du da, Luciano, warum, was ist denn passiert?«
»Ich bin hier und singe dieses Lied, aber ich werde es niemals so singen wie
Lucio Dalla, nie!«
Ich war verblüfft und gerührt von seiner Bescheidenheit, seiner Unsicherheit.
Ich gab alles, um ihn zu überzeugen und ihn zu ermutigen:
»Also wirklich, Luciano, mit deiner Stimme … Lucio Dalla singt seine Version,
die kannst und sollst du gar nicht imitieren. Du wirst deine eigene daraus machen
und das einbringen, was du bist und was du fühlst …«
Nur die ganz Großen zweifeln wirklich an sich selbst. Und durch diese Zweifel
übertreffen sie sich selbst und werden jeden Tag noch größer.

Erst kurz zuvor hatte ich in Mit dem Mut der Verzweiflung (Courage) eine Art
Mutter Courage gespielt, die dafür kämpft, ihre Kinder aus dem Drogensumpf zu
befreien, und dabei einen milliardenschweren Drogentransport aufdeckt. Der
Fernsehfilm, der 1987 auf Canale 5 ausgestrahlt wurde, geht auf die wahre
Geschichte der lateinamerikanischen Einwanderin Martha Torres zurück, die im
New Yorker Stadtteil Queens lebte und sich aus Liebe zu ihren Kindern in die
Drogenszene einschleuste. Auf diese Weise brachte sie schließlich vierzehn
kolumbianische Drogenhändler vor Gericht. Leider war es mir aus
Sicherheitsgründen nicht möglich, sie persönlich zu treffen, aber ich versuchte,
ihr gerecht zu werden, indem ich meine ganze Liebe in die Rolle steckte, eine
Liebe voller Aufmerksamkeit und Sorgen, wie ich sie sonst nur meinen eigenen
Kindern entgegenbrachte. Eine Liebe, die sich auf geheimnisvolle Weise auf jedes
Kind der Welt übertrug. Es ist schwierig, das rational zu erklären, aber jede
Mutter weiß, was ich meine.
Diese mysteriöse Übertragung der Mutterliebe erlebte ich auch ganz intensiv in
Afrika, als ich während der Hungerkatastrophe in Somalia als UN-Botschafterin
unterwegs war.

Angesichts des Elends und unbeschreiblichen Leids waren alle meine Privilegien
nichtig und wichen einem schrecklichen Ohnmachtsgefühl. Ich hätte diesen
Kindern so gerne wirklich geholfen, sie in den Arm genommen und mit Nahrung
und Liebe versorgt, aber ich konnte nichts weiter tun, als meine Rolle zu spielen.
Eine kleine, aber notwendige Rolle, die hoffentlich eines Tages, irgendwo,
irgendwem dabei helfen würde, wenigstens für einen Moment den Schmerz zu
lindern.
Meine letzte Rolle als Mamma in den Achtzigerjahren war keine andere als die
der Cesira aus Und dennoch leben sie, der ich einen Oscar zu verdanken hatte.
Es war Dino Risi, der sie nach so langer Zeit wieder auf die Leinwand bringen
wollte, und er bat mich, diese großartige Figur, die mir von De Sica auf den Leib
geschneidert worden war, wieder aufleben zu lassen. Es wäre natürlich
unverzeihlich gewesen, die Bedeutung dieses Films zu vergessen oder
herunterzuspielen, der ein Meilenstein meiner Karriere gewesen war. Aber darin
bestand gerade die Herausforderung: Noch einmal zu versuchen, mich selbst zu
übertreffen.
Nach anfänglichem Zögern ließ ich mich schließlich darauf ein, in einen
Dialog mit der siebenundzwanzig Jahre jüngeren Sophia zu treten, die sich
damals vom jungen Hollywoodstar in eine arme und verzweifelte italienische
Mutter verwandelt hatte, zu allem bereit, um ihrer Tochter die schlimmste aller
Qualen zu ersparen.
Der scharfe Verstand Dino Risis half mir dabei. Mit ihm hatte ich schon viele
Jahre zuvor einige Komödien gedreht, wie zum Beispiel Im Zeichen der Venus
oder Liebe, Brot und 1000 Küsse oder Die Frau des Priesters.
Während der Dreharbeiten hatte ich immer das Gefühl, dass die alte Cesira die
ganze Zeit über hinter der Kamera stand und mir zusah. Die Ängste und das
jugendliche Ungestüm jener Zeit lebten wieder in mir auf. Mit der sensiblen Art
von Dino und der Erinnerung an Vittorio, die uns beide inspirierte, brachte ich
nun auch meine Erfahrungen als Mutter in diese neue Version ein, über die ich
damals noch nicht verfügt hatte.
Der Film wurde als Zweiteiler mit dem Titel Cesira – Eine Frau besiegt den
Krieg (La ciociara) an zwei Terminen auf Canale 5 ausgestrahlt: am 9. und
10. April 1989. Er war sehr erfolgreich und berührte mich wieder einmal zutiefst.
Es war die Vermischung verschiedener Lebensabschnitte, die mir die Kraft gab,
nach vorn zu blicken und meiner nunmehr langjährigen Erfahrung als
Schauspielerin einen neuen Sinn zu geben. Die Vergangenheit lebt in der
Gegenwart weiter und bedeutet viel mehr für unsere Zukunft, als wir denken.
Das bestätigten mir wieder einmal Marcello und ein genialer Regisseur, mit dem
ich die Ehre hatte, ein paar Jahre später zusammenzuarbeiten.
Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag

Als Robert Altman uns ans Set von Prêt-à-Porter einlud, wurde ich sechzig und
Marcello siebzig Jahre alt. Es war das Jahr 1994, und wir freuten uns, auf diese
Weise feiern zu dürfen. Ich schrieb ihm:

Liebster Marcello,
irgendwann kommt man an einen Punkt im Leben, an dem die Glückwünsche
einen befremden: Ich sechzig und du siebzig? Das ist doch verrückt! Ich möchte
die Zeit anhalten, im Ernst. Die größte Ungerechtigkeit des menschlichen Daseins
besteht darin, dass man über die Hälfte seines Lebens nur damit verbringt, der
anderen nachzutrauern (der ersten, versteht sich), und den süßen Erinnerungen
an die Jugend nachhängt. Aber nur durch das, was hinter uns liegt, können wir
im Alter finden, was uns glücklich macht.
Lieber Marcello, mein Freund und Gefährte in so vielen Geschichten. Hinter
uns liegt ein Sammelsurium unterschiedlicher Charaktere, Gefühle und
Emotionen, von denen wir unser ganzes Leben lang zehren können. Stell dir die
Leere und die Trostlosigkeit vor, die jemand empfinden muss, der nicht einen
Moment des Glücks und der Liebe in seiner Vergangenheit finden kann.
Wenn ich heute an unsere gemeinsame Arbeit zurückdenke und mit Stolz
unsere gemeinsame Zeit Revue passieren lasse, kann ich dir nur noch einmal
meine Dankbarkeit dafür aussprechen, dass du mir ein unersetzlicher Gefährte
warst auf einem langen Abenteuer, mit all diesen Figuren, die – lass mich etwas
hochmütig sein – das Publikum niemals vergessen wird.

Marcellos Antwort ließ nicht lange auf sich warten:

Liebste Sophia,
ich war sehr gerührt von deinen Worten. Aber vor allem war ich dankbar dafür,
dass sie meinen Kummer dieser Tage mildern konnten. Man kann sagen, was
man will, aber angesichts dieser Zahlen stehen wir einem runden Geburtstag
plötzlich ungläubig gegenüber und suchen Schutz. »Das ist doch verrückt! Ich
möchte die Zeit anhalten, im Ernst.«
Dein leidenschaftlicher Aufschrei war mir eine Wohltat und hat mir dabei
geholfen, mich auf diesen schwierigen Tag zu freuen. Und dann sind wir nun
genau in diesen Tagen wieder gemeinsam am Set von Altman. Das Schicksal
meint es wohl gut mit uns. Wer weiß, vielleicht gib es einen weisen Schöpfergott,
der uns Überraschung und Freude beschert … Aber die Vorstellung, dass mit uns
nun alles vorbei sein soll, ist schwer zu verdauen. Dass dieses phantastische
Zusammenspiel von Gefühlen und Leidenschaft auf einmal aufhören soll und
nicht mehr bis ins Universum hinausgetragen wird …
Doch ich denke, etwas von uns wird dieser Erde, dieser Welt erhalten bleiben.

Leider sollte Marcello nicht mehr lange in dieser Welt sein. Weder er noch ich
hätten gedacht, dass er schon zwei Jahre später von uns gehen würde. Aber
dennoch, für die Welt erhalten blieb auch unser letztes wunderschönes
gemeinsames Abenteuer.

Abat-jour

Kaum hatte ich das Drehbuch von Prêt-à-Porter gelesen, wusste ich schon, dass
wir viel lachen und uns köstlich amüsieren würden. Der Handlung nach erschien
es erst wie ein Thriller, aber in Wirklichkeit war es ein gnadenloser Zerriss der
Modewelt, die sich anlässlich der Modewoche in Paris versammelt hatte. Ich
spiele im Film Isabella de la Fontaine, die Witwe des Vorsitzenden der
italienischen Handelskammer für Mode, der gerade ermordet worden ist.
Außerdem bin ich die Exfrau eines russischen Schneiders, Sergej, der aber
eigentlich gar kein Russe ist und den ich nach vierzig Jahren wiedertreffe, und
zwar in Gestalt von Marcello. Die Produktion war gigantisch und die Besetzung
brillant: Neben den einunddreißig Hauptdarstellern waren eine Reihe berühmter
Sänger, Models und Designer höchstpersönlich anwesend. Julia Roberts und
Rupert Everett, Kim Basinger und Tim Robbins, Ute Lemper und Anouk Aimée,
Lauren Bacall, Jean-Pierre Cassel und viele andere teilten sich die Szenerie mit
Cher, Harry Belafonte, Nicola Trussardi, Gianfranco Ferré und Jean Paul Gaultier,
die allesamt sich selbst spielten. Die Begegnung mit diesen funkelnden
Persönlichkeiten aus der Welt der Haute Couture, mit ihren Neurosen und ihren
Perversionen, spiegelte die Leidenschaften und die Schwächen unseres Lebens
wider.
Beim Dreh war ich ständig an Marcellos Seite. Angesichts der unzähligen
Filmkameras – teilweise fünf, sechs auf einmal, sodass man nie wusste, welche
einen gerade aufnahm – freute ich mich über ein vertrautes Gesicht, das mir
etwas Sicherheit gab. Sicherheit vermittelte mir auch Altman, der hinter meiner
Professionalität meine tiefsten Bedürfnisse erkannte.
Als ich am ersten Tag ans Set kam und ihn nicht gleich antraf, war ich
enttäuscht.
»Sophia, what’s the problem ? Du wirst dich doch von so nichtigen

Formalitäten nicht gleich aus der Bahn werfen lassen!«, sagte er mit einem
verlegenden Lächeln auf den Lippen, als er meinen Missmut bemerkte.
»Bob, jeder ist so, wie er ist. Ich bin hier, um etwas für dich zu tun, aber dazu
brauche ich dich, dein Lächeln und dein Vertrauen.«
Von diesem Augenblick an versäumte er es nicht, mich jeden Morgen zu
begrüßen. Er brachte uns großes Vertrauen entgegen und ließ uns bei der Szene,
die schließlich das Herzstück des Films werden sollte, vollkommene Freiheit.
»Wie wollen wir es machen?«, fragte er uns am Morgen unseres Auftritts ganz
unvoreingenommen.
»Ihr könnt ruhig auf Italienisch spielen, wenn euch das lieber ist. Welche Szene
aus euren gemeinsamen Filmen würdet ihr gerne wiederholen?«
Wir zogen uns für einen Moment an einen Ort außerhalb des
Scheinwerferlichts zurück, um in Ruhe zu überlegen. In dieser stillen Ecke, weit
ab vom Filmset, warf mir Marcello einen verstohlenen Blick zu, wie ein kleiner
Junge, der etwas ausgefressen hat. Ich sah ihn belustigt an und rechnete mit dem
Schlimmsten.
»Sophia, was hältst du davon, wenn wir noch einmal unseren Striptease
machen?«
»Du Flegel!«, antworte ich und tat schockiert. Aber in Wirklichkeit reizte mich
die Vorstellung sehr. Die Unsicherheit von damals hatte ich hinter mir gelassen,
und ich brauchte keinen Nachhilfelehrer mehr. Was ich bei De Sica gelernt hatte,
war mir in Fleisch und Blut übergegangen. Im Lauf der Jahre hatte ich gelernt,
die Zeit zu meinem engsten Verbündeten zu machen: Ich bekämpfte sie nicht und
litt nicht unter ihr, sondern lebte jeden Tag so, wie er war, und ließ, wie Mona
Lisa, meine Schönheit in Frieden reifen.
Marcello und ich gingen zu Altman, überzeugt davon, auf dem richtigen Weg
zu sein. Er sah uns an, begriff sofort und rief: »Action!«
Obwohl das Schicksal unsere Wege irgendwann getrennt hatte und wir
beruflich und privat eine andere Richtung eingeschlagen hatten, war davon beim
Dreh auf wundersame Weise nichts mehr zu spüren. Für einen Moment waren
wir wieder jung, lebenshungrig und hatten uns lieb.
Indem wir den Striptease aus Gestern, heute und morgen nach dreißig Jahren
zu der gleichen schmachtenden Melodie von »Abat-jour« wiederholten,
begegneten wir der Vergänglichkeit mit einem Lächeln und enthüllten in der
Verletzbarkeit jedes Einzelnen von uns den wahren Kern des Lebens.
In diesem Moment war mein Herz bei Vittorio, seiner Empfindsamkeit und
seinem Genie. Dabei fiel mir auch María Mercader ein, Vittorios zweite Frau, die
am Tag unseres ersten Striptease, in jenem fernen Sommer des Jahres 1963, auch
am Set war. Als ich den schwierigsten Teil bereits hinter mir hatte und dabei war,
mich wieder anzuziehen, sah sie mich an und sagte freiheraus: »Mann, du siehst
wirklich toll aus !!!«
Dieser unbefangene Kommentar, der von einem Mann hätte stammen können,
beeindruckte mich sehr, und ich muss heute noch grinsen, wenn ich daran denke.
Während Marcello bei Mara noch vor Vergnügen gejault hatte, wirkte er in
Prêt-à-porter eher ein bisschen gelangweilt, und das Beste war, dass er,
eingekuschelt in seinen schönen weißen Bademantel, bei einer meiner Pirouetten
sogar einschlief. Ein Gag, den selbst De Sica genial gefunden hätte.

Ein zeitloser Stil

Der Modezirkus, der in Prêt-à-Porter dargestellt wird, hat seine Könige und seine
Genies, die unsere Sicht der Dinge völlig umkrempeln können. Der König der
Könige, der Magier der Schönheit ist er: Giorgio Armani, der mich seit Jahren
immer wieder neu interpretiert, mich neu einkleidet und ausstaffiert.
Film und Mode liegen nahe beieinander und beeinflussen sich immer wieder
gegenseitig. Richard Gere weiß genau, was ich meine, denn in American Gigolo
war er von Kopf bis Fuß in Armani gekleidet und präsentierte König Giorgio zum
ersten Mal den Augen der Welt. Das war 1980, und von diesem Moment an
konnte Hollywood nicht mehr auf ihn verzichten. Er staffierte die Diven und die
Stars ebenso kunstvoll aus wie all die vielversprechenden Debütanten. Mit der
gleichen Geflissenheit unterstützt er heute die jungen Nachwuchsdesigner, denen
er eine Plattform für ihre ersten Modeschauen zur Verfügung stellt.
Vielleicht tut er das deshalb, weil er die Mühen seiner ersten Schritte nicht
vergessen hat, so, wie er auch das breite Publikum nie vergisst, überzeugt davon,
dass irgendein Passant auf der Straße oftmals mehr natürliche Eleganz an den
Tag legt als ein VIP. Wir alle können schick aussehen, wenn wir uns nicht jedem
Modediktat unterwerfen und nicht immer den neuesten Trends hinterherjagen,
die unsere Welt überschwemmen.
Ich lernte Armani kennen, als er noch bei Nino Cerruti in Paris arbeitete. Er
sah blendend aus, mit seinen ausdruckstarken Augen, und er strahlte Sicherheit
und eine gewisse Klasse aus. Als junger Mann wollte er eigentlich Arzt werden,
aber wie das Leben so spielt, schlug er eine ganz andere Richtung ein. Während
eines Heimaturlaubs vom Militärdienst verschlug es ihn erst in das Mailänder
Warenhaus La Rinascente, wo er zunächst Schaufenster dekorierte, und dann, ein
weiterer Zufall, in die Modeabteilung aufstieg.
Giorgio und ich haben noch andere Dinge gemeinsam, abgesehen davon, dass
wir gleich alt sind. Das war mir bisher noch nie aufgefallen. Aber wenn ich
darüber nachdenke, ist das vielleicht das Geheimnis unserer Freundschaft.
Wir beide lieben unsere Arbeit leidenschaftlich. Und wir beide sind an unserer
Schüchternheit gewachsen. Trotz unseres Erfolgs sind wir zwei introvertierte
Persönlichkeiten, die lieber ein paar wenige, dafür aber echte Freundschaften
pflegen, als sich in dem Sumpf aus unzähligen oberflächlichen Bekanntschaften
zu verlieren. Außerdem sind wir beide schreckliche Dickköpfe, immer sehr darauf
bedacht, die Ziele zu erreichen, die wir uns gesetzt haben.
Beide verabscheuen wir Scheinheiligkeit und Heuchelei, ertragen keine
Schlamperei und Nachlässigkeit und sind sehr darauf aus, das Wesentliche hinter
der Fassade zu erkennen.
Im Lauf meiner Karriere habe ich andere große Designer kennen- und lieben
gelernt: den brillanten Emilio Schuberth, der mich bei meinen ersten Auftritten
auf dem roten Teppich einkleidete, oder den überaus talentierten Valentino, der
mich eine ganze Zeit lang begleitete. Von einigen seiner Kleider kann ich mich bis
heute nicht trennen. Dann waren da noch der Hutkönig, Jean Barthet, und Pierre
Balmain, der für meine Kostüme in Die Millionärin verantwortlich war,
außerdem Christian Dior und Cristóbal Balenciaga. Aber in dem Moment, als ich
das Königreich von Giorgio betrat – wenn ich mich recht erinnere, war das 1994
−, hatte ich das Gefühl, im Auge des Zyklons zu stehen, wo absolute Ruhe
herrschte. Sein Stil würde jeden Sturm und jede kurzlebige Sensationslust
überdauern.
Seiner Linie wohnt eine unerklärliche Seele inne. Man kann einfach nur sagen:
»Wie wunderschön!«, nichts weiter. Seine Mode ist pure Kreativität zum
Anziehen und zum Leben. Oder, wie einer der großen Designer Hollywoods,
Phillip Bloch, einmal sagte, wenn du einen Anzug von Armani trägst, fühlst du
dich reich und gut. Du brauchst nicht einmal einen Spiegel. Du weißt einfach,
dass er perfekt sitzt und deine beste Seite zur Geltung bringt.
Das ist es auch, was Giorgio antreibt weiterzumachen. Abgesehen von der
Angst vor dem Stillstand ist es der Wunsch, jedem Mann und jeder Frau zu
ermöglichen, die eigene Schönheit zu entdecken. Für ihn, ebenso wie für mich, ist
Mode viel mehr als nur eine Äußerlichkeit. Sie ist mehr als all das Übertriebene
und Lächerliche, das bei den Modeschauen gefeiert wird. Es ist das
Zusammenspiel verschiedener Grundelemente, die sich, wenn man den
natürlichen Gesetzen des guten Geschmacks folgt, nie verändern.
Das hat nichts zu tun mit den schockierenden Bildern aus dem grellbunten
Modezirkus, wo es eher ums Ausziehen oder Verkleiden geht als darum, gut
gekleidet zu sein. Es hat auch nichts mit der oftmals perversen Maschinerie zu
tun, die jahrelang gefährlich dünne Models vorschrieb und damit jungen
Mädchen und Frauen ein verzerrtes Bild von der Wirklichkeit vermittelt und den
Begriff von Eleganz zerstört hat.
Nicht so Giorgio. Giorgio zeigt jeden Tag, wie es noch klassischer, noch
schlichter und noch natürlicher geht. Und in dieser kreativen Feinarbeit, im Spiel
mit den Nuancen, den Details, liegt sein Genie. Er macht aus dem Leben ein
raffiniertes Kunstwerk.
Es ist wahr – alles, was ich schreibe, ist die Wahrheit.
Aber das Geschenk, das mir König Giorgio gemacht hat, geht noch weiter. Es
hat einen Namen, ein Gesicht und eine große Seele hinter dem offenen Blick
eines jungen Mädchens. Es heißt Roberta. Sie ist es, die mich alle zwei oder drei
Monate in Mailand willkommen heißt, wenn ich mit dem Auto aus der Schweiz
komme. Mit ihr zusammen gehe ich die letzten Kollektionen durch und suche mir
die Stücke aus, die am besten zu mir passen. Mit ihr esse ich im Hotel Armani zu
Mittag, mit Blumen, Schokolade und Champagner. Wir setzen uns an einen
möglichst abgesonderten Tisch und machen uns wichtig, wie zwei Mädchen, die
feine Dame spielen. Roberta ist die Nichte von Giorgio Armani, eine
außergewöhnliche Frau mit einem ausgeprägten und unvergleichlichen Sinn für
Ästhetik. Sie wuchs inmitten von Schönheit auf und bahnte sich dort ihren Weg.
Mit ihr ist alles ein Spiel, ernst und lustig zugleich, wie ein gelungenes Spiel
eben sein sollte.
»Was für eine schöne Kette du hast, Roberta«, hauche ich ihr bewundernd zu.
Da nimmt sie sie ohne zu zögern ab und legt sie mir vorsichtig um den Hals,
als würde sie einer Königin die Krone aufsetzen. Jedes Mal nehme ich etwas von
ihr mit: ein Schmuckstück, einen Mantel oder einen Schal. Es ist, als nähme ich
ein gelebtes Stück unserer Freundschaft mit.

Geheimnisse

Freundschaft ist eines der schönsten Geschenke des Lebens. Dennoch gibt man
nie alles von sich preis. Jeder hat seine Geheimnisse, die er niemandem
anvertrauen kann und will. So saftig und reif eine Frucht auch sein mag, in der
Mitte ist immer ein Kern, den man nicht teilen kann. Vielleicht ist ja gerade das
die Faszination, die von jedem Mann und jeder Frau ausgeht. Die Mona Lisa
wusste das nur zu gut. Ich habe jahrelang Tagebuch geführt. Das war für mich
ein Rückzugsort, ein sicherer Bereich, in dem ich mich ganz mir selbst hingeben
konnte, fast als stünde ich vor einer inneren Kamera, vor der ich endlich mal nur
meine Rolle spielen konnte.
Ich hatte im Gefängnis damit begonnen und es mir dann zur Gewohnheit
gemacht. Die Stille des Schreibens spendete mir Trost und leistete mir
Gesellschaft, und ich entdeckte Ausdrucksformen, die ich bei mir noch nicht
kannte. Diese Intimität mit mir selbst gab mir eine Sicherheit, als sei ich wirklich
in mir zu Hause.
Aber das Leben verläuft bekanntlich in Stufen, und eines Morgens im Frühling
schaute ich in den Spiegel und fragte mich voller Sorge: »Was wird nur aus
meinem Tagebuch, wenn ich nicht mehr bin?«, und blickte einen Augenblick lang
in die Zukunft.
Ich bin zwar eine emotionale und mitunter auch verletzliche Frau, aber sehr
wohl in der Lage, Entscheidungen treffen.
»Ich bin für niemanden zu sprechen!«, sagte ich zu Ines und Ninni und zog
mich in mein Zimmer zurück. Lange betrachtete ich das schwarze Heft mit dem
festen Einband, dem ich so viele Gedanken und Gefühle anvertraut hatte. Ich
blätterte aufmerksam darin herum, ganz ohne Eile. Beim Umblättern der Seiten
stiegen mir die Gerüche der Vergangenheit in die Nase, und ich konnte an der
Veränderung meiner Handschrift – mal kantig, mal nervös, dann wieder ganz
flüssig – meine wechselnden Stimmungen ablesen. Schließlich ging ich ins
Badezimmer und nahm eine Packung Zündhölzer. Mit einem Streich gingen
meine Worte in Flammen auf und wurden schließlich zu Asche. Ich bereute es
nicht, nur manchmal hatte ich etwas Sehnsucht. Und ich schrieb weiter. Von
diesem Tag an nahm ich jedoch am Ende jedes Jahres ein Streichholz zur Hand,
wie einen Kultgegenstand für ein kleines Ritual ganz für mich allein.
14 Rückkehr nach Hause

Mammina

»Chère petite maman …« Die rundliche und sorgfältige Kinderhandschrift von


Carlo jr. verliert sich in den himmelblauen Schmetterlingsflügeln, die ihn seine
Lehrerin auf das Brieflein an mich hat kleben lassen. Es ist eines dieser
vorgefertigten Gedichte für den Muttertag, das einem die Kleinen stolz nach
Hause bringen, wenn sie sich erst einmal überwunden und Mühe gegeben haben.
Überall bewahre ich solche Briefchen auf, in jeder Schublade jedes Hauses. Und
natürlich durfte ein solcher auch in meiner Schatzkiste nicht fehlen, deren Inhalt
ich jetzt fast vollständig durchgesehen habe.
Während ich ihn zärtlich betrachte, fallen mir noch andere Blätter ins Auge,
auf denen ich meine eigene Schrift erkenne.

Hat man dir jemals gesagt, dass du die liebste Mamma der Welt bist? Alles Gute
zum Geburtstag!

Sophia

Der Briefkopf in der goldenen Kursivschrift aus einer anderen Zeit lautet »Piazza
D’Aracoeli 1, Palazzo Colonna, Rom«. Ich muss den Brief zwischen 1961 und 1962
geschrieben haben, wer weiß. Er ist einer der unzähligen Briefe an meine Mutter,
eine der vielen alltäglichen Aufmerksamkeiten, die ich ihr ein Leben lang aus
jedem Winkel der Erde geschickt habe.
Und da ist noch einer, der noch älter sein muss.

»Liebe Mammina, ich würde mir so sehr wünschen, dass deine Briefe etwas
ausführlicher und lustiger wären … Warum beschreibst du mir nicht ein wenig,
wie deine Tage verlaufen, was du so machst? Was geht im Haus vor sich? Hier
läuft alles gut, und Mammina, ich bitte dich, wenn du irgendetwas in der Zeitung
liest, das mich betrifft, lege es in einen Briefumschlag und schicke es mir. Der
Film läuft gut, hier in Amerika läuft alles wie geschmiert. Italien fehlt mir,
vielleicht bist du der eigentliche Grund dafür. Ich hab dich so lieb, Mamma.«

Oder dieser, vom 27. Januar 1958:

»Liebe Mammina, du weißt, dass meine Briefe, in denen ich dir vom Anfang eines
neuen Films berichte, immer gleich klingen: voller Sorgen und Ängste, besonders,
was diesen Film betrifft …«
Das wird Die schwarze Orchidee gewesen sein, überlege ich und lese weiter:
»Dies ist ein besonders schwieriger Film, sehr dramatisch, man muss sich sehr
konzentrieren, sei also nicht böse, wenn ich dir nicht so oft schreibe. Das ist bei
dir ja anders, und ich finde, dass du mir ruhig zehn Minuten am Tag widmen
könntest. Du weißt ja, dass ich mich immer sehr freue, von euch zu hören und
überhaupt Nachrichten aus Italien zu bekommen.«

Wir waren uns immer nah, Mammina und ich, trotz der vielen Tausend
Kilometer, die uns voneinander trennten. Und, so Gott wollte, waren wir uns
auch in dem Moment nahe, als sie überraschend starb. Allein dieser Gedanke hat
mich in all den Jahren über diesen Verlust hinweggetröstet. Ein Gedanke, der
mich auf meiner langen Reise in meinen Erinnerungen innehalten und einen
Schritt zurückgehen lässt. Der Tod, umso mehr der einer Mutter, durchbricht den
Lebenslauf, er zerreißt den Zeitfaden und lässt dich in einem leeren Raum zurück,
in dem es dunkel und still ist.

Es war Anfang Mai 1991, ich kam gerade von einer Reise zurück, vielleicht von
der Abschlussfeier von Carlo jr. am Pepperdine Seaver College. Das Flugzeug
machte wie immer eine Zwischenlandung in Zürich, von wo aus ich weiter nach
Hause fliegen sollte. Aber es kam anders. Ich hatte nichts Wichtiges vor, und
etwas in mir drängte mich, Mammina in Rom anzurufen. Ich wollte sie sehen.
»Aber ja, was kostet mich das schon?«, sagte ich mir. »Ein Flug lässt sich im Nu
umbuchen.«
Ich rief sie an, glücklich, ihr eine Überraschung bereiten zu können.
»Mammina, ich bin’s, Sophia! Wie geht es dir?«
»Wie soll es mir schon gehen, wir sehen uns ja nie …«
»Bereite mir das Zimmer vor, steck die Paprikaschoten in den Ofen, ich bin
unterwegs!«
Sie weinte, so gerührt war sie, und da wusste ich, dass ich das Richtige getan
hatte.
Wir verbrachten zwei Tage schwatzend auf dem Sofa, ich schlief viel wegen
des Jetlags, und wenn ich wach war, aß ich die köstlichen Leckerbissen, die sie
mir mit so viel Liebe zubereitete: salsa genovese mit Zwiebeln und Hackfleisch,
Kalbsrouladen und natürlich den Auberginenauflauf, die melanzane alla
parmigiana. Es waren Stunden der friedlichen Einkehr, so, als hätte mir das
Schicksal gestattet, einen Moment lang wieder Kind zu sein, bevor ich es nie
wieder sein würde.

An jenem Abend war ich bereits im Bett, als sie plötzlich in der Tür stand. Sie
stützte sich am Pfosten ab und sah mich mit mattem Blick an.
»Mammina, was ist denn?«, fragte ich im Halbschlaf.
»Sofì, es geht mir nicht gut.«
Mir war gleich klar, dass es mehr war als eine Laune. Ich stand sofort auf und
ging zu ihr hin.
»Ich fühle mich so komisch, lass uns bitte ins Bad gehen.«
Mit einer Hand auf ihrer Schulter und der anderen unter ihrem Arm führte ich
sie durch den langen Flur, Schritt für Schritt. Die Entfernung kam mir unendlich
vor. Ich öffnete ihr die Tür, sie trat ein, starrte auf das Waschbecken und fing an,
Blut zu spucken. Entsetzt sah sie mich an, so, als fragte sie mich, was da gerade
passierte. Ich versuchte, sie zu beruhigen, zu lächeln, aber ich hatte schreckliche
Angst.
»Bring mich ins Bett«, hauchte sie mir zu.
Ich brachte sie zurück ins Schlafzimmer und half ihr, sich hinzulegen. Sie
schloss die Augen, wie um auszuruhen.
»Mamma?«, sagte ich.
Ich rief den Pförtner an: »Kommen Sie hoch, kommen Sie schnell hoch!« Er
kam, warf einen Blick auf meine Mutter und hob machtlos die Arme.
»Signora Sophia, wir müssen jemanden rufen …«
Ich versuchte es bei Maria, die gerade im Begriff war, mit einer Freundin aufs
Land zu fahren. Sie setzte sich sofort ins Auto und raste mit hundert
Stundenkilometern nach Rom zurück; dabei hielt sie die ganze Zeit ein weißes
Taschentuch aus dem Fenster und wedelte damit herum. Doch es war zu spät.
Als mein Vater vierzehn Jahre zuvor gestorben war, hatte ich mich bemüht,
etwas zu empfinden, aber da war nichts.
Mit Mammina hingegen ist auch ein Teil von mir gegangen.

Je mehr Zeit vergeht, desto tiefer wird die Wunde über ihren Verlust. Mir fehlt
die tägliche Verabredung zum Telefonieren mit ihr. Mir fehlen ihre plötzlichen
Wutausbrüche, ihre kampfbereite, bedingungslose Liebe. Oft, wenn ich mit
meiner Schwester zusammen bin, besonders dann, wenn wir allein sind, sehen
wir einander an und werden, ohne auch nur ein Wort zu sagen, von derselben
Traurigkeit, demselben unermesslichen Schmerz erfasst.
Die Geschichte meiner Mutter hat mich nicht nur als Tochter immer schon
bewegt, sondern auch als Schauspielerin. Sie war ein emotionaler, unschuldiger,
dramatisch veranlagter, geradezu hysterischer Mensch. Neunzehn Jahre nach
ihrem Tod, im Jahr 2010, habe ich sie in dem Film La mia casa è piena di specchi
gespielt, einer kleinen, von der RAI ausgestrahlten Fernsehserie, deren Grundlage
der autobiografische Roman meiner Schwester Maria war.[9] Übrigens hatte ich
sie schon dreißig Jahre vorher auf den Fernsehbildschirm gebracht, nämlich mit
dem Fernsehfilm Sophia Loren: Her Own Story, der sich an dem Buch Living and
Loving orientierte, in dem Aaron Edward Hotchner, ein fähiger Autor und enger
Freund Paul Newmans, im fernen Jahr 1979 meine ersten Erinnerungen
festgehalten hat.[10] Es war eine spannende und zugleich sehr bewegende
Herausforderung, spielte ich doch nicht nur meine Mutter, sondern auch mich
selbst, weshalb ich mich regelrecht aufspalten musste, was zuweilen vergnüglich,
aber auch beunruhigend war. Wenn ich mir unser beider Leben vor Augen führe,
war sie vielleicht die eigentliche Diva, nicht ich.
Mit La mia casa è piena di specchi war es doppelt so schwierig, weil Mammina
nicht mehr unter uns war. Es fiel mir nicht leicht, mich frei zu machen und ihr
eine Stimme zu geben, eine glaubwürdige Hülle. Ich wollte mehr tun, viel mehr.
Ich wollte ihr eine Ehre erweisen auf die einzige mir mögliche Weise: als
Schauspielerin.
Ich weiß nicht, ob mir das gelungen ist. Sie zu spielen, zwang mich allerdings
dazu, unsere gemeinsame Geschichte Revue passieren zu lassen und mich mit
unserer Beziehung auseinanderzusetzen, die eher der zwischen zwei Schwestern
glich als zwischen Mutter und Tochter. Da ich mich in sie hineinversetzen
musste, begriff ich auf einmal Dinge, die mir vorher nicht klar gewesen waren. In
gewisser Weise war es, als kehrte ich nach Hause zurück.

Die heilige Jungfrau

Heute bedeutet nach Hause zu kommen für mich, bei meiner Schwester Maria zu
sein. So unterschiedlich unser Leben verlaufen ist, so sind wir dennoch eng
miteinander verbunden. Es macht nichts, dass wir weit weg voneinander
wohnen, dass wir unter gegensätzlichen Sternzeichen geboren wurden – sie ist als
Stier temperamentvoll und kämpferisch, ich als Jungfrau zwar auch kämpferisch,
aber zurückhaltend –, dass wir nicht denselben Beruf haben. Wir haben einander
immer geholfen und uns gegenseitig unterstützt, und nie haben wir einander in
wichtigen Momenten im Stich gelassen. Wenn ich nach Rom komme und ihr
Haus betrete, in dem sie mit Majid lebt, einem iranischen Arzt, mit dem sie seit
1977 glücklich in zweiter Ehe verheiratet ist, steigen mir die Düfte unserer
Kindheit in die Nase, so, als wäre die Zeit stehen geblieben. In ihrem
wunderschönen persischen Prinzen habe ich den Bruder gefunden, den ich nie
hatte. Und in ihr all die Liebe der Familie, aus der ich stamme und die in einer
langen, festen Umarmung miteinander verbunden ist.
Kaum habe ich die Schwelle überschritten, erblicke ich schon die Patronin des
Hauses, die Jungfrau Maria. Es ist ein kleines Bild, das einst in der Schublade
eines Spiegelschranks in Pozzuoli gelegen hat, einer jener Schubladen, in der sich
die unterschiedlichsten Dinge ansammeln: Garnrollen und Taschentücher, Briefe
und getrocknete Blumen, Zugfahrkarten, Fotos, Haarspangen, Gummis, kleine
Medaillen, Einkaufsbons … Die Jungfrau Maria gehörte der Schwester von
Mamma Luisa, die Anfang des letzten Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert
ist. Maria holte das Bild aus der Vergessenheit hervor und hat sich seither nicht
mehr davon getrennt. Jetzt, wo die Immacolata bei ihr ist, ehrt sie sie mit einer
stets brennenden Kerze, frischem Grün und kleinen Engelsfiguren und Püppchen
aus Papier, die sie zu ihr hinstellt, um sie zu erheitern.
»Sofì, siehst du, wie gut es ihr geht, der Heiligen Jungfrau? Auch sie wird alt
und braucht ein wenig Zerstreuung, was nicht verwunderlich ist, da sie uns die
ganze Zeit beschützen muss …«
»Maria, was sagst du denn da?«, antworte ich in gespielt tadelndem Ton, aber
im Grunde verstehe ich sie. Jeder von uns hat auch eine spirituelle, magische
Seite, die er insgeheim pflegt, wie es das Herz verlangt. Wenn wir uns sehen,
Maria und ich, machen wir nichts anderes, als zu erzählen und zu kochen. Um
genau zu sein ist sie es, die erzählt, während ich zuhöre, und sie ist es, die kocht,
während ich esse …
»Erinnerst du dich noch an damals, in Spanien, du hast geschlafen, während
ich …«
»Während du?«
»Ich bin mit der Crew ausgegangen, kaum dass du eingeschlafen warst, und
wir tanzten die Sevillana bis zum Umfallen …«
»Ach so? Wenn ich das gewusst hätte! Aber auch in Amerika, jetzt, wo ich
darüber nachdenke …«
»Tja. Kaum waren deine Augen zu, stand ich auf, zog mich an und ging
hinunter, wo der Wagen von Frank Sinatra auf mich wartete … Ich hörte ihm in
den Lokalen zu, manchmal sangen wir sogar zusammen.«
»Du hast das Leben an dich gerissen!«, sage ich ihr lächelnd. »Wie eine
Diebin!«
Und manchmal versucht sie wie eine Diebin, mir meine Geheimnisse zu
entlocken … Sie stochert herum, umkreist mich, stellt mir Fallen. Und ich, ganz
die Schauspielerin, führe sie mit einem Blick, einer Geste, einer Bemerkung in die
Irre. Aber ich weiß, dass das bei ihr nicht funktioniert, und am Ende gebe ich
nach, sie ist zu schlau.
»Es hat keinen Zweck, mir was vorzuspielen, Sofì, ich kenne dich zu gut«, ruft
sie amüsiert und stolz darauf, gewonnen zu haben. Dieses Geplänkel unter
Schwestern hält uns am Leben, es erheitert uns und stimmt uns zärtlich. Und
wenn es ums Kochen geht, treiben wir es auf die Spitze.
»Was machst du da, Maria, bereitest du den Stängelkohl etwa mit Knoblauch
zu?«
»Also, wenn du unbedingt willst, hol ich ihn wieder raus …«
»Aber wer hat je Stängelkohl ohne Knoblauch gesehen?«
»Sophia, du musst dich entscheiden, willst du nun diesen Knoblauch oder
nicht?«
Es ist schön zu wissen, dass nichts auf der Welt uns trennen wird, so, wie uns
nie irgendetwas getrennt hat. Solange sie da ist, werde ich immer nach Hause
zurückfinden.
Wenn ich in Rom bin, ist neben dem Sofa von Maria und Majid das Hotel
Boscolo mein Zuhause, wo mir die wundervollen Besitzer, Angelo und Grazia,
eine Suite reserviert haben. Für mich ist es eine Oase des Friedens, in der ich
heitere Tage verbringe, fernab vor neugierigen Blicken, umsorgt von einem
tadellos geschulten, herzlichen Team. Signor Giuseppe ist inzwischen ein Freund,
und jedes Mal, wenn ich abreise, verabschieden wir uns innig und zugleich
wehmütig.

Das Mädchen mit der weißen Brille und dem ansteckenden Lachen, das
einfach immer gut gelaunt ist

»Nach Hause« führte mich Anfang der Neunzigerjahre auch eine große
Regisseurin. Die Rede ist von Lina Wertmüller, dem »Mädchen« mit der weißen
Brille und dem ansteckenden Lachen. Seit den Zeiten mit Vittorio habe ich mich
am Set nicht mehr so wohl, so vertraut gefühlt. Ich konnte mich ihr vollkommen
überlassen, und ich tat gut daran. Heute denke ich, dass ich mich wohl nicht
zufällig in meinen reiferen Jahren an eine Frau hinter der Kamera gehalten habe.
Und man muss sagen, dass Lina eine außergewöhnliche Frau ist. Obwohl
ausgesprochen intellektuell, kann sie gut mit Menschen umgehen, sie ist voller
Phantasie, menschlicher Wärme und Optimismus. Sie ist schön von innen und
außen, und sie ist wie ein junges Mädchen mit ihrer Lebenslust, ihrer
Lebensfreude. Auch wenn wir nicht oft voneinander hören, haben wir uns doch
immer prächtig verstanden.
Wir hatten schon einmal Ende der Siebzigerjahre zusammengearbeitet, bei
einem Film, an dessen ungewöhnlichen Originaltitel sich viele erinnern dürften:
Fatto di sangue fra due uomini per causa di una vedova – si sospettano moventi
politici, zu Deutsch kurz und bündig Blutfehde. Die Produzenten bevorzugten
eigentlich kurze Titel, so wie Sehnsucht (Senso) oder Schuhputzer (Sciuscià). Lina
aber provozierte sie mit »Bandwurm«-Titeln und amüsierte sich dann, dabei
zuzusehen, wie sie verstümmelt wurden.
Ja, Lina hat etwas von einem Gassenjungen, das sie unwiderstehlich macht.
Jetzt, wo ich daran denke, fällt mir auf, dass sie ein bisschen ihrem Gian Burrasca
ähnelt, den sie mit Rita Pavone und ihrer unvergesslichen Tomatensoße ins
Fernsehen gebracht hat.[11] Ich hoffe, dass ihr der Titel des Abschnitts, den ich
ihr gewidmet habe, gefällt.
Wie sie in ihrer schwungvollen Autobiografie (Tutto a posto e niente in ordine:
Vita di una regista di buonumore) berichtet, wollte sie in Blutfehde durch viel
Schminke meine tragischste, meine mediterranste Seite hervorholen. Der Film
spielt im Sizilien der Zwanzigerjahre, in einer grausamen Atmosphäre voller
Widersprüche. Und genau dort wollte sie mich haben.
Ich kann mich noch gut an jenen Nachmittag erinnern. Wir waren in Paris, in
unserem Haus in der Avenue George V. Lina kam mich besuchen und brachte das
gerade fertig geschriebene Drehbuch mit. Während wir uns über den Film
unterhielten, fing sie an, in meinem Gesicht herumzuschmieren. »Ziehen wir sie
nach unten, diese Augenbauen, nach unten wie die Giebel eines griechischen
Tempels!«, kicherte sie und malträtierte mich weiter mit dem Schminkstift. Sie
wollte sicher sein, jede Spur der weltbekannten Diva zu verwischen, um mich als
eine Frau in Szene zu setzen, die ganz Italienerin war, ganz Süditalienerin.
»Lina, Lina, was machst du da?«, versuchte ich vergebens, mich zu wehren. In
Wirklichkeit sagte mir mein Herz, dass ich ihr vertrauen konnte. Und so ließ ich
sie gewähren, mit der Nachgiebigkeit, wie man sie gegenüber
unternehmungslustigen Kindern an den Tag legt, die zwar meist die wildesten,
aber auch die interessantesten sind.
Aber nicht nur an mir vergriff sich unsere Lina. Marcello, der zusammen mit
Giancarlo Giannini an meiner Seite spielte, wurde mit einem ellenlangen
Sozialisten-Bart bestraft, mit dem er sich den ganzen Film über herumquälte.
Wir hatten mit einer Komödie angefangen und endeten im Melodrama,
untermalt von den herzzerreißenden Klängen von »Casta Diva«, gesungen von
Maria Callas. Wir hatten wirklich Spaß.

Im Jahr 1990 ging Lina mit Eduardo De Filippo erneut zum Angriff über, indem
sie mich, wie ich immer sagte, direkt nach Pozzuoli zurückholte: in die Küche von
Mamma Luisa. Wie das? Natürlich mit dem Ragout, der Fleischsoße, dem
»heiligsten aller Sonntagsrituale«!
Am Set zu Samstag, Sonntag und Montag (Sabato, domenica e lunedì) hörte die
Fleischsoße von morgens bis abends nicht auf zu köcheln. Tatsächlich dreht sich
der ganze Film um ihre Zubereitung in der gekachelten Küche von Rosa Priore,
einer tatkräftigen Familienmutter, die darum kämpft, ihre durch die Eifersucht
des Ehemanns angekratzte Ehre wiederherzustellen. Und sogar sämtliche
Mitglieder der Crew – angefangen bei mir, Luca De Filippo in der Rolle des
Peppino, über Luciano De Crescenzo und Pupella Maggio bis hin zu den
Technikern, den Elektrikern und Bühnenarbeitern – waren der Ansicht, im Besitz
des einzig wahren Rezepts zu sein und forderten sich immer wieder zu
unvergesslichen Spaghetti-Duellen heraus. Andererseits braucht man sich nur
den Anfang des Films anzusehen, der in einer Fleischerei spielt, um zu begreifen,
dass in all dem unhaltbaren neapolitanischen Chaos einfach jeder seine Meinung
sagt und es schier unmöglich ist, sich zu einigen.

»Donna Ceci, wie geht es Ihnen, ich hab heute sehr wenig Zeit …«, sagt Donna
Rosa. »Geben Sie mir nur ein Kilo Oberschale, eineinhalb Kilo
Kalbsgeschnetzeltes, etwas von der Nuss, etwas Schweinebauch, ein
Schwanzstück und ein schönes Stück von der Schulter.«
»Tun Sie mir den Gefallen und nehmen Sie noch zwei Würste mit …«
Eine Bemerkung folgt auf die andere, jede der Damen versucht, ihre Sicht der
Dinge durchzusetzen.
»Meine Schwiegermutter, die das beste Ragout macht, hat mir beigebracht,
zuerst das Fleisch ohne Zwiebeln anzubraten …«
»Um Himmels willen, Signora«, rutschte es Rosa unvorsichtigerweise heraus,
»das ist ein Sakrileg!«
»Verzeihung, wenn ich mich einmische, aber ich bin derselben Meinung wie
die Signora, wenn man Fleisch und Zwiebeln getrennt anbrät, schmeckt das
Ragout einfach viel raffinierter, himmlisch …«
»Ach, und wenn man es zusammen anbrät, wird es gewöhnlich …? Verzeihung,
Signora, woher stammen Sie eigentlich?«
»Was soll diese Frage? Ich komme aus Afragola.«
»Aaaa …«
An diesem »Aaah« entzündet sich der Streit, und das glorreiche Wochenende
kann beginnen.
Zum Glück waren wir am Set etwas sanftmütiger, auch wenn wir im Grunde
genommen genauso dachten wie Rosa und ihre Klatschbasen. Wie auch immer,
was die Fleischsoße anging, gaben wir uns alle Mühe, und das Ergebnis konnte
sich sehen lassen.
Wie sich Lina erinnert, lockte der Essensduft sogar Al Pacino, der ebenfalls zu
Dreharbeiten in Cinecittà war, an unseren Tisch.
»Was gibt es zum Mittag?«, fragte der berühmte Schauspieler, der eines Tages
an der Schiebetür unserer Campingküche erschien. Wir holten sofort einen Stuhl
und rückten zusammen, um ihm am Tisch Platz zu machen. Wir waren nicht nur
überrascht, sondern fühlten uns geehrt. Und für ihn war es eine günstige
Gelegenheit, die neapolitanische Fleischsoße D.O.C. zu probieren, die etwas ganz
anderes ist als die Fleischsoße im Rest der Welt.
Auch Karl Malden, der am Broadway den Peppino gespielt hatte, kam vorbei,
um sie zu probieren. Tatsächlich war Eduardos Komödie in der ganzen Welt
bekannt, und Laurence Olivier brachte sie damals sogar auf die Londoner
Theaterbühne. Aber eigentlich war sie unübersetzbar. Wie soll man auch für
diese Dialoge, diese Dispute und die Stimmungen die richtigen englischen Worte
finden?
Lina, die zusammen mit Raffaele La Capria am Drehbuch arbeitete, verlegte
die Handlung von den frühen Fünfzigerjahren in das Jahr 1934, ausgerechnet
nach Pozzuoli, sodass ich mich ganz und gar mit der Figur identifizieren konnte.
Das war übrigens gar nicht schwer, denn die Welt, um die es hier ging, kannte ich
nur zu gut, und ich hatte sie niemals vergessen. Wir drehten in Pozzuoli, Neapel,
Trani und Cinecittà, wo der Szenograf, Linas geliebter Ehemann Enrico Job,
meine Heimatstadt nach meiner Erinnerung rekonstruiert hatte. Heute ist von
dieser Welt nichts mehr übrig.
Zur Besetzung gehörte auch meine Nichte Alessandra in der Rolle von Rosas
Tochter Giulianella. Sie hatte in Ein besonderer Tag schon einmal meine Tochter
gespielt, aber diesmal war ihre Rolle sehr viel anspruchsvoller.
Eines Morgens platzte meine Schwester Maria am Set herein. Sie wirkte
bedrückt, weil sie sich Sorgen machte, ernsthaft krank zu sein. Sie nahm ihre
Tochter beiseite, um ihr von ihrer Angst zu erzählen. Ich wusste von nichts, ich
sah nur, wie beide in einer Ecke saßen und tuschelten, ohne den Grund zu
kennen. Doch die Unterhaltung hinterließ sichtbare Spuren. Als wir eine
Streitszene drehten, standen in Alessandras Augen echte Tränen, was der Szene
guttat und sie authentischer machte. Das Mädchen war talentiert, entschied sich
aber bald für einen anderen Weg.
Glücklicherweise hatte Maria nichts Ernstes, und auch ihr Mann Majid, der
sich ebenfalls große Sorgen gemacht hatte, war erleichtert. Sie war ihm viele
Jahre zuvor in einer Klinik in Rom begegnet. Er war damals ein junger Arzt, der
im Begriff war, in seine persische Heimat zurückzukehren, sie eine beschlagene
Journalistin mit einer gescheiterten Ehe hinter sich, die auf der Suche nach sich
selbst war. Kaum hatte sie in seine wunderschönen orientalischen Augen
geschaut, schwor sich Maria, ihn nie wieder gehen zu lassen. Und sie umgarnte
ihn so lange, bis sie ihr Ziel erreicht hatte!
Samstag, Sonntag und Montag wurde ein großer Erfolg in Italien und im
Ausland. Mir schenkte er eine meiner liebsten Filmrollen, der ich mich ganz
hingab. Als Carlo jr. und Edoardo den Film zum ersten Mal sahen, lachten sie die
ganze Zeit und stießen sich mit den Ellenbogen an wie zwei freche Jungs, hatten
sie doch in Rosa Verhaltensweisen, Gesten und Redewendungen von ihrer
Mamma wiedererkannt, was sie sehr lustig fanden.
Aber nun war der Moment gekommen, die Küchentür hinter sich zuzumachen
und in die große weite Welt zurückzukehren: Mich erwartete ein Jahrzehnt, das
sich vor mir aufrollte wie ein langer, wunderbarer roter Teppich.

Standing Ovation

1963 sollte ich im Auftrag der Academy of Motion Pictures and Sciences in einem
sehr eleganten weißen Kleid von Emilio Schuberth den Oscar für den besten
Schauspieler überreichen. Mit toupierten Haaren, wie es damals Mode war,
sprach ich wie vom Band mit fester Stimme: »It is my privilege to present the
Oscar for the best performance as an actor …« Aber dann wandte ich mich auf
Italienisch an die Organisatoren hinter den Kulissen: »La busta, per favore …«
(»Den Umschlag, bitte …«) und sorgte damit für Heiterkeit im Publikum. Der
Gewinner war Gregory Peck für seine Rolle in Wer die Nachtigall stört (To Kill a
Mockingbird).
Achtundzwanzig Jahre später, im Shrine Civic Auditorium in Los Angeles,
haben wir die Rollen getauscht, aber die Stimmung im Saal war die gleiche.
Dieses Mal, es war der 25. März 1991, war es Gregory mit weißen Haaren und
grauem Schnurrbart, der mich unten an der ewig langen Treppe erwartete, die ich
ebenso vorsichtig wie bewegt in einem glitzernden Kleid von Valentino
hinunterschritt.
Ich hatte ihn am Abend zuvor im Hotel getroffen, wir hatten uns dreißig Jahre
lang nicht gesehen seit Arabeske. Als sich die Fahrstuhltür öffnete, stand er
plötzlich vor mir − es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Ein Blitz, ein
Augenblick, der eine Ewigkeit dauerte. In seinem überraschten Blick, in seinem
Zögern, mit dem er zur Seite trat, um mir Platz zu machen, habe ich so viele
Dinge gesehen, die er mir hätte sagen wollen, die er aber nicht gesagt hat. Und
die er niemals sagen würde.
Als er mir meinen zweiten Oscar überreichte, diesmal für mein Lebenswerk,
erhob sich das Publikum für eine Standing Ovation, während ich vergebens
versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Falls jemand gedacht haben sollte, ich
hätte das nur vorgetäuscht, hat er sich geirrt. Ich sprach von Dankbarkeit und
Großzügigkeit, von Glück und von Stolz. Ich erzählte von meiner Angst, die mir
diese kleine Statue einflößte und die es mir 1962 unmöglich gemacht hatte, nach
Hollywood zu fliegen, um den Oscar für Und dennoch leben sie
entgegenzunehmen.
»Auch heute Abend sitzt mir der Schreck in den Gliedern, aber ich bin nicht
allein«, schloss ich meine Rede, während ich im Publikum nach meinen Lieben
Ausschau hielt. »Ich möchte diesen besonderen Abend mit den drei Männern
meines Lebens feiern. Mit meinem Mann Carlo Ponti, ohne den ich nicht der
Mensch wäre, der ich heute bin. Und mit meinen Söhnen Carlo jr. und Edoardo,
die mich gelehrt haben, das Verb ›lieben‹ zu konjugieren. Danke, Amerika.«
Dass ich ausgezeichnet werden sollte, hatte mir einige Wochen vorher Karl
Malden mitgeteilt, einer der bedeutendsten Charakterdarsteller des
Hollywoodkinos, und mich damit vollkommen überrascht. Es war eine schöne
Überraschung, mit der ich auch meine Familie zu beglücken dachte, indem ich
die Nachricht für mich behielt und darauf wartete, bis sie es von allein erfuhren.
»Mamma!«, hatte ein paar Tage später Edoardo am Telefon gerufen.
»Mamma !!! Ein Oscar für dein Lebenswerk! Ich habe es im Radio gehört. Aber
warum, warum hast du uns nichts davon gesagt?«
Ich hatte in mich hineingelacht über diesen kleinen Streich. Schließlich gelingt
einem das nicht jeden Tag so gut!

Ich hätte nicht gedacht, dass ich jemals wieder so bewegt sein würde. Doch da
irrte ich mich. Es war im Jahr 1993, als ich ein zweites Mal auf das Podium der
Academy Awards gebeten wurde, »um einen lieben Freund zu ehren, der eine
spektakuläre Filmkarriere hinter sich hat«. Zwölf Nominierungen, vier Oscars für
den besten ausländischen Film, zwei davon sogar hintereinander: La strada – Das
Lied der Straße (La strada), den Carlo produziert hatte, im Jahr 1957, und Die
Nächte der Cabiria (Le notti di Cabiria) im Jahr darauf. Der viel geliebte
Marcello, der wahrscheinlich noch gerührter war als ich, teilte dieses Privileg mit
mir.
Auch für Federico Fellini gab es eine lange Standing Ovation, bei der ebenso
viel geweint wie gelacht wurde.
»Setzt euch, macht es euch bequem«, sagte der Maestro in seinem köstlich
stümperhaften Englisch. »Wenn sich in diesem Raum jemand unwohl fühlen
muss, dann bin ich es!«
Als er die kleine Statue, die er gut kannte, entgegennahm, küsste er mich, dann
wandte er sich an seinen alten Freund: »Danke, Marcellino, danke, dass du
gekommen bist …«
»Bitte«, antwortete dieser, halb beschämt, halb amüsiert.
Sie sprachen miteinander, als befänden sie sich in einem Schnellzug von Rimini
nach Rom, dabei waren sie in Hollywood, standen vor der Crème de la Crème des
internationalen Films.
In den etwas unbeholfenen Bewegungen der beiden Männer, die auch ihre
Ergriffenheit offenbarten, konnte das Publikum die Intensität ihrer menschlichen
wie beruflichen Bindung erahnen, die die Welt jahrzehntelang zum Träumen
gebracht hatte.
Auch an seine Frau wandte sich der große Fellini, der wenige Monate später
sterben sollte: »Danke, Giulietta, und bitte hör auf zu weinen!«

Drei Jahre später starb auch Marcello. Das letzte Mal habe ich ihn in Mailand
gesehen. Er stieg gerade in sein Auto, um zum Theater zu fahren, wo die Proben
zu Die letzten Monde (Le ultime lune) von Furio Bordon liefen. Ich stieg in meines
und fuhr zum Flughafen. Marcello hatte mir noch einen langen Blick zugeworfen,
vielleicht hatte er geahnt, dass wir uns nie wiedersehen würden.
Noch immer fällt es mir schwer, an die Tage nach seinem Tod zu denken. Die
ganze Welt sprach darüber, es waren Momente des Gedenkens, der Anteilnahme,
der Trauer. Ich hatte mich in meinem Zimmer eingeschlossen, überwältigt von
meinem Schmerz. Ich wollte meine Trauer nicht mit der Trauer der anderen
vermengen, ich wollte meine Gefühle nicht für die Medien zur Schau stellen. Ich
blieb allein und versuchte zu begreifen, was eigentlich geschehen war. Am Tag
seiner Beerdigung schickte ich einen Teppich von Orchideen, damit sie ihn mit
ihrer delikaten Frische begleiteten. Und ihm für immer meine Liebe brächten.

Das Jahrzehnt der italienischen Oscars sollte uns noch eine weitere große
Genugtuung bereiten. 1999 war das Jahr von Das Leben ist schön (La vita è bella),
der gleich drei Oscars gewann. Den Preis für den besten ausländischen Film sollte
wieder ich überreichen, diesmal in einem Kleid von Armani.
»And the Oscar goes to …«, während aus dem Saal die ersten erwartungsvollen
Zwischenrufe zu hören waren. »Robbbberto!!!« Das Publikum war überwältigt
von dieser ganz und gar italienischen Begeisterung. Während ich den Umschlag
wie ein kleines Mädchen in der Luft schwenkte, begann Roberto Benigni einen
lustigen Hindernislauf, bei dem er über die Sesselreihen, die ihn von mir
trennten, nach vorn kletterte. Irgendwann kam ihm Steven Spielberg zu Hilfe,
indem er ihn davon abhielt, über die mit Juwelen behängten Häupter der Stars zu
steigen.
Endlich hüpfte der Komiker zu mir aufs Podium, wo wir uns in die Arme fielen
– eine Umarmung, so innig und ausgelassen wie seine Dankesrede: nicht zu
bremsen, witzig, mitreißend und geistreich. Ich sah ihm verblüfft zu, während er
von Sprüngen ins Meer sprach, von Stürmen und Hagelkörnern, vom
Morgengrauen der Ewigkeit. Er gedachte jener, die ihr Leben verloren hatten,
damit wir heute sagen können: Das Leben ist schön. Ein Kuss an Giorgio
Cantarini, das Kind im Film. Und natürlich, nachdem er seinen Eltern in Vergaio
für das größte Geschenk gedankt hatte, das sie ihm machen konnten – »die
Armut« –, widmete er den Oscar seiner Frau Nicoletta Braschi, die vor Freude
weinte.

Es waren Jahre der Auszeichnungen, der Anerkennung, Jahre, in denen ich die
Früchte meiner Arbeit erntete, bei der Freude und Aufopferung, Vergnügen und
Mühe Hand in Hand gingen. 1996 wurden Carlo und ich sogar von Präsident
Luigi Scalfaro mit dem Verdienstorden der Italienischen Republik ausgezeichnet.
Ich habe unzählige Preise für mein Lebenswerk erhalten, es ist völlig unmöglich,
sich an alle zu erinnern. Sie reichen vom César-Ehrenpreis bis zum Goldenen
Bären bei der Berlinale, vom David di Donatello über den Golden Globe bis hin
zum Cecil B. DeMille Award und vielen anderen mehr. Und mit jedem verbinde
ich ganz besondere Emotionen, besondere Erinnerungen an Menschen, die mir
Wertschätzung entgegengebracht haben, die mich auserwählt haben, die mein
Leben durch eine neue Sichtweise bereichert haben. Dafür bin ich jedem
Einzelnen von ihnen zutiefst dankbar.
1998 wollte mir auch Venedig mit dem Goldenen Löwen seine Ehre erweisen,
doch die gute Nachricht erreichte mich in einem Moment, in dem ich besonders
zerbrechlich war. Ich fühlte mich erschöpft und verletzlich, vielleicht auch wegen
der angestauten Gefühle, die meine zunehmende Empfindsamkeit auf die Probe
stellten. Wieder waren es Carlo und die Jungs, die mir den Rücken stärkten, die
mir zur Seite standen und den Preis an meiner statt entgegennahmen. Und die
mit mir weinten, während ich ihnen aus der Ferne zusah.
In diesen schwierigen Monaten wandte ich mich wieder einmal voller Liebe
der Küche zu, die schon immer mein Zufluchtsort gewesen ist, mein Schutzwall
gegen alle Mühsal der Welt. So entstand die Idee zu Rezepte & Erinnerungen
(Ricordi e ricette) [12], die natürlichste Art und Weise, um die kulinarischen
Genüsse meines Lebens zu teilen, indem ich sie an Episoden und Begegnungen
knüpfte, die mich bis hierher geführt hatten. Das Buch war ein großer Erfolg und
wurde sogar auf der Frankfurter Buchmesse mit einem Preis geehrt. Da wurde
mir klar, dass sich wirklicher Erfolg letzten Endes meist im häuslichen Geheimnis
der Schlichtheit verbirgt.

Cazzabubboli
Die Preise stehen alle aufgereiht im Bücherregal. Manchmal staube ich sie ab und
lächele dabei vor mich hin. Es macht mir Freude, mich an sie zu erinnern, an
jeden einzelnen von ihnen, es macht mir Freude, sie geordnet zu wissen, in
Gedanken von Hollywood nach Berlin zu reisen, von Cannes nach Venedig und
nach New York. Aber dann ist es auch schön, zurückzukommen und, wenn
möglich, den Duft meiner Heimaterde einzuatmen.
Francesca e Nunziata, der Fernsehfilm, der später fürs Kino adaptiert wurde
und der auf dem gleichnamigen Roman von Maria Orsini Natale basiert, erzählt
die Geschichte von zwei Pastaköchinnen in Neapel zwischen dem neunzehnten
und zwanzigsten Jahrhundert. Die Autorin hatte Lina Wertmüller das
maschinengeschriebene Manuskript geschickt, bevor es veröffentlicht wurde, und
Lina hatte sich sofort darin verliebt. Dann aber sollten, wie so oft in der Filmwelt,
zehn Jahre verstreichen, bevor irgendetwas geschah. Anfang des neuen
Jahrtausends schließlich waren wir wieder beisammen, Lina und ich, mit einer
wunderwollen Besetzung, die ihr gutes Zusammenspiel in jedem einzelnen Bild
unter Beweis stellen sollte.
Und wieder einmal erwies sich der Drehort als überaus geeignet. Wir machten
die Aufnahmen teilweise auf der zauberhaften Insel Procida im Golf von Neapel,
wo man uns begeistert empfing. Und nach und nach entdeckten wir die
verborgenen und authentischsten Winkel dieses Ortes. Obwohl sie ganz in der
Nähe von Pozzuoli liegt, war ich nie auf dieser Insel gewesen, an die ich jetzt
mein Herz verlor. In der Bucht von Corricella, an der Punta Pizzaco, flanierten
wir auf der Promenade mit Blick auf Capri, zwischen den alten Häusern inmitten
von Gärten mit Zitrusbäumen, die bis ans Meer reichten, und genossen einen
gemächlichen und natürlichen Tagesrhythmus, der uns die Arbeit versüßte und
die Anstrengungen am Set leichter machte.
Doch in Filmen wird viel getrickst, und in diesem Fall wurden nicht alle
Aufnahmen am Golf von Neapel gemacht. Während die Villa Montorsi in
Wirklichkeit in Franciacorta stand und nicht in Sorrent, befand sich die
Nudelmacherei, die im Zentrum der Geschichte steht, in Frascati, wo wir
kilometerweit Spaghetti aus Plastik »zum Trocknen« in die Sonne legten – echte
Spaghetti hätten die Dreharbeiten wohl kaum überstanden.
Jedenfalls fühlte ich mich unter einer so klugen Führung wie der von Lina −
noch dazu an der Seite ihres Herzensschauspielers Giancarlo Giannini, mit
seinem hübschen Schnurrbart wie aus Der Leopard, und zwei jungen, ebenso
attraktiven wie überzeugenden Kollegen, Claudia Gerini und Raoul Bova −
beinahe wie zu Hause.
Und es ging ja auch um eine große Familie. Als Francesca habe ich graue
Haare und so viele Perlenketten wie Kinder. Zu den zahlreichen Sprösslingen
kommt – nachdem Francesca vor der Heiligen Jungfrau ein Gelübde abgelegt hat
− noch ein adoptiertes Waisenkind hinzu, Nunziata, die als Einzige in die
Fußstapfen der stolzen und skrupellosen Unternehmerin Francesca tritt, die alles
allein aufgebaut hat und so zu einem großen Vermögen gekommen ist. Alles läuft
gut, bis Giordano Montorsi, seiner Rolle als Prinzgemahl überdrüssig, eines
schönen Tages aus seiner aristokratischen Dumpfheit erwacht und sich als
Bankier versucht, was katastrophale Folgen für die Finanzen der Familie hat. »Du
bist als Prinz geboren, also verhalte dich auch wie ein Prinz, um die Pasta
kümmere ich mich …«, warnt ihn Francesca, die die lauernde Gefahr erkannt hat.
Doch ihre hellsichtige Mahnung verhallt im Nichts.
Dieser Film hat mir eine wundervolle Geschichte beschert, und noch dazu
fünfzehn ausladende, auffällige Hüte, die wir scherzhaft cazzabubboli nannten,
was im neapolitanischen Dialekt so viel wie »Nichtsnutze« oder »Staubfänger«
bedeutet. Außerdem konnte ich eine Figur spielen, die zugleich stark und
zerbrechlich ist – genau wie ich. Der große Schlussmonolog ist das schönste
Geschenk, das Lina mir gemacht hat: »Am Schmerz stirbt man nicht, Nunziatì –
aber er ist weiß Gott kaum zu ertragen.«

Doch meine Rollen als Mutter waren damit noch nicht ausgeschöpft. Fünf Jahre
später sollte ich für Rob Marshalls Musicalverfilmung Nine noch einmal als die
Mutter von Guido Contini alias Fellini auf die Kinoleinwand zurückkehren. Es
war ein anspruchsvoller Film, der auf ein berühmtes, von Achteinhalb inspiriertes
Broadway-Musical zurückging. Ich habe die Rolle sofort angenommen – in
Gedenken an Federico, mit dem ich nie hatte zusammen arbeiten dürfen, mag
sein, wegen einer Laune des Schicksals, oder vielleicht auch deshalb, weil ich als
Schauspielerin einfach nicht sein Typ gewesen war. Ich habe diese Aufgabe
übernommen, weil mir die Vorstellung gefiel, an der Seite von Daniel Day-Lewis
aufzutreten, der zweifellos einer der größten Schauspieler der Gegenwart ist.
Die besondere Inspirationsquelle und die großen Schauspielerinnen, von
Penélope Cruz über Nicole Kidman und Marion Cotillard bis hin zu Judi Dench,
reichten allerdings nicht aus, um den Film seinem Vorbild ebenbürtig zu machen.
Und so bleibt in meinem Herzen die Erinnerung an einen zärtlichen und
herzzerreißenden Tanz mit Danny, der in diesem Film seine neurotische
Kreativität im Schatten der Mutter pflegt. Und es bleibt die Erinnerung an eine
außergewöhnliche Epoche der italienischen Filmgeschichte, die ich das Privileg
und die Ehre hatte, in erster Reihe mitzuerleben.
15 Stimmen

Die Männer meines Lebens

Mamma am Set und außerhalb des Sets. Und zusammen mit meinem Sohn
Edoardo bei Dreharbeiten. Mein Leben gleicht wirklich einem Märchen, und so
wie im Märchen stehen am Anfang und am Ende große Freude und großes Leid
eng nebeneinander.
Carlo starb am 10. Januar 2007 mit vierundneunzig Jahren in Genf, geschwächt
von dem Diabetes, der ihn in den letzten Wochen seines Lebens allmählich
erblinden ließ, und einer Komplikation in der Lunge, die schließlich sein Ende
herbeiführte. Edoardo und ich hielten seine Hand, während seine Kinder
Guendalina und Alex sowie unser Sohn Carlo jr. im Flugzeug saßen und aus
Amerika beziehungsweise Rom anreisten.
Ich erinnere mich noch an den Anruf aus der Klinik, an jenem dunklen
Winterabend, und daran, dass man uns sagte, wir mögen uns beeilen, da das
Ende nah sei. Ich erinnere mich an eine endlose Nacht ohne Hoffnung. Ich
erinnere mich an die Eiseskälte an jenem Morgen, als wir uns von ihm
verabschiedeten, bevor er auf seine letzte Reise nach Magenta ging, wo er
geboren war und wo er begraben werden sollte.
Der Tod ist ebenso schlimm wie natürlich. Doch es hat etwas zutiefst
Unnatürliches, sich von einem Menschen verabschieden zu müssen, den man so
sehr geliebt hat. Man sucht nach Halt, dabei weiß man, dass es ihn nicht gibt.
Und man bleibt allein zurück, selbst Worte hat man keine mehr.
Was soll man auch sagen, wenn nach sechsundfünfzig Jahren Ehe alles zu
Ende geht? Jeden Morgen wache ich auf und kann es kaum glauben, dass Carlo
nicht mehr da ist. Ich suche ihn in jedem Winkel unseres Hauses, finde ihn in den
Stimmen unserer Kinder, die identisch sind mit der seinen, im Gesichtsausdruck
unserer Enkel, die inzwischen auf der Welt sind und meine Tage erhellen. Sie
vervollkommnen mein Muttergefühl in einer Weise, wie ich es nie vermutet
hätte.
Lucia und Vittorio, Leonardo und Beatrice haben mich zur glücklichsten
Großmutter der Welt gemacht. In meiner Schatzkiste finde ich ein Portrait, das
sie für mich gezeichnet haben und das mich stolzer macht als jedes professionelle
Foto. Wenn sie bei mir sind, widme ich mich ihnen bis zur Selbstaufgabe, und
alles andere tritt in den Hintergrund. Da ich sie nicht erziehen muss, kann ich sie
so sehr verwöhnen, wie es mir beliebt, ich kann sie mit Schokolade vollstopfen
bis zum Umfallen, mit ihnen kuscheln und herumtollen, bis ich nicht mehr kann.
In ihren lachenden Gesichtern, in ihren Begabungen erkenne ich meine eigene
Lebensfreude wieder, meinen Traum von einer heiteren Zukunft, einem besseren
Morgen. Diese Kinder haben Glück, und ich hoffe, dass sie der Welt einst
wiedergeben können, was man ihnen gegeben hat, so, wie es ihre Eltern getan
haben.
Carlo jr., der seiner Liebe für die Musik gefolgt ist, ist heute, nicht zuletzt dank
der Ratschläge seines Vaters, Dirigent. Wenn ich ihm auf dem Podium zusehe, so
zufrieden, so selbstsicher, schlägt mein Herz wie verrückt und füllt sich mit Stolz.
Er hat mit großen Meistern zusammengearbeitet, darunter Mehli und Zubin
Mehta oder auch Leopold Hager, er hat viele Orchester in der ganzen Welt
dirigiert, vom Russischen Nationalorchester bis zum Simón Bolívar Symphony
Orchestra, vom Orchestre Philharmonique de Strasbourg bis zum Orchestra del
Teatro San Carlo und dem Orchester des Maggio Fiorentino. Und er hat seine
große Liebe gefunden: Die ungarische Violinistin Andrea Mészáros teilt seine
Leidenschaft für die Musik, und gemeinsam widmen sie sich der Erziehung ihrer
beiden wunderbaren Kinder.
Doch das Podium allein reicht ihm nicht. Seit Langem schon hegt er den
Wunsch, seine Erfahrungen in den Dienst der Jugend zu stellen. Da er überzeugt
ist, dass die Musik die individuelle Reifung und die soziale Emanzipation
entscheidend beeinflussen kann, engagiert er sich heute begeistert in dieser
Richtung. Edoardo hingegen hat sein Talent für das Kino bestätigt. Im Übrigen
sehe ich ihn noch vor mir, wie er als kleiner Junge mit seinen Püppchen
Geschichten und kleine Szenen improvisierte, während sein Bruder am Klavier
saß. Vielleicht stimmt es, dass es so etwas wie eine Berufung gibt und dass man
sie, wenn sie da ist, von Anfang an sieht. Als Regisseur zu arbeiten war immer
sein Ziel, und er hat es mit Herz und Verstand verfolgt. Sasha Alexander, seine
bildschöne Frau, ist Schauspielerin und ständig auf der Suche nach einem
Gleichgewicht zwischen ihrer Arbeit in Fernsehfilmen und der Erziehung der
Kinder. Im Vergleich zu meiner Zeit haben die Frauen von heute wahrscheinlich
den Vorteil, dass man sie weniger nach ihrem Aussehen beurteilt als nach ihrem
Können. Doch mit den Wahlmöglichkeiten haben auch die Schwierigkeiten
zugenommen, Familie und Arbeit unter einen Hut zu bringen. Die Welt ist
komplizierter geworden, die Anforderungen sind gestiegen, und den jungen
Frauen werden im Verhältnis zum Erfolg größere Opfer abverlangt. Und doch
finden wir uns am Ende alle am selben Punkt wieder, und jede von uns muss
sehen, wie sie damit zurechtkommt. Wer könnte Sasha besser verstehen als ich?
Ich habe es oft gesagt, und ich wiederhole es hier noch einmal: Sie, meine
Kinder, sind meine besten Filme. Und ihr Glück ist die Auszeichnung, die mich
am meisten ehrt.
»Mamma«, sagte eines Tages Edoardo an der Haustür zu mir. Carlo war schon
nicht mehr unter uns und Lucia, Edoardos erste Tochter, knapp ein Jahr alt.
»Mamma, Sasha und ich wollen heiraten.«
Es ist ja bekannt, dass ich immer schon eine Schwäche für Hochzeiten hatte,
und die von Carlo und Andrea, zunächst in Genf und dann in der
wunderschönen St. Stephans-Basilika in Budapest, brachte zwar mein Herz zum
Schmelzen, hat aber meine Sehnsucht nach Schleiern und weißen Kleidern noch
nicht ganz gestillt.
»Wie schön, Edoardo«, flüsterte ich glücklich über diese wunderbare
Nachricht, mit der ich schon gar nicht mehr gerechnet hatte. Er sah mich
schweigend an, so, als wollte er mir den Vortritt lassen.
»Und wo?«, fragte ich schüchtern und erwartete eine Hollywood-Location.
»In Genf, in der russischen Kirche … Du weißt doch, Sasha ist orthodox, und
Papà mochte die Kirche sehr …«
Carlo war kein Kirchenmensch, doch von dieser kleinen, kostbaren Kirche im
Herzen der Altstadt fühlte er sich seltsam angezogen. Wenn er mit Edoardo
spazieren ging, was in den letzten Jahren häufig vorkam, richtete er es immer so
ein, dass sie an ihr vorbeikamen. »Gehen wir dort entlang …«, sagte er fast schon
verschämt. Und dieses »dort entlang« bedeutete zur »Église russe«. Es sind nicht
wir selbst, die wählen, wo und wie sich der heiligste Atem unserer Seele
verströmt. Die Wahrheit ist, dass wir es sind, die erwählt werden.
Wertschätzungen

An diesem Punkt meines Lebens und meiner Karriere wartet hinter jeder Ecke ein
Fest, eine Überraschung auf mich. Wie an jenem Abend des 4. Mai 2011, den
Hollywood beschloss, mir zu widmen.
»Wenn ich den Namen Sophia höre, springe ich in die Luft, denn er ist ein
Feuerwerk des Lebens. Wie ein Kuss auf die Wange. Etwas Wunderbares, ihr
könnt sehen, wie mein Herz pulsiert, wie es klopft, tok, tok, tok. Sie ist ganz
Italien, ganz Italienerin. Wenn sie sich bewegt, wenn sie geht, ist es Italien, das
geht. Ihr seht Sizilien, das sich bewegt, die Toskana, die Lombardei. Und dann
Mailand, Florenz, Neapel, den schiefen Turm von Pisa, das Kolosseum, die Pizza,
Spaghetti, Totò, De Sica, alles ist in ihr.«
Die Worte sind nichts gegen die Gesten, die Mimik, die Komik, die in jedem
Atemzug des großen Roberto Benigni stecken. Und als wäre der große Komiker
mit seiner mitreißenden Videobotschaft, die er mir an jenem Abend schickte,
noch nicht zufrieden gewesen, sang er mir noch ein Lied nach der Melodie von
»’O sole mio«, um sich mit dem spitzbübischen Gruß zu verabschieden: »Grazie
Sophia, amore mio, corpo inesauribile. Bye bye.« (»Danke, Sophia, meine Liebe,
Unerschöpfliche. Bye bye.«)
Zum Glück fing er am Ende an zu lachen, sonst wäre der Strom der Tränen
wohl nie versiegt. Jener Abend war für mich wie ein dritter Oscar, ich war
genauso glücklich, er war genauso wichtig, ich war genauso gerührt. Meine
Söhne waren an meiner Seite, meine Schwiegertöchter standen mir bei, Billy
Crystal geleitete durch den Abend, John Travolta und Rob Marshall, Christian De
Sica, Jo Champa, Sid Ganis und viele Freunde erinnerten an unsere gemeinsamen
Jahre. Alles, was eine Schauspielerin, was eine Frau und Mutter sich wünschen
kann.

Im selben Jahr, am 12. Dezember, hielten meine Söhne und ich im Auditorium
Parco della Musica in Rom eine Gedenkfeier für Carlo ab – es wäre sein
neunundneunzigster Geburtstag gewesen, und wir wollten ihn und unsere Liebe
zu ihm feiern. Als ich im Parkett saß und zusah, wie Carlo jr. mit der ihm eigenen
Energie und Bravour die Musik zu unserem Leben dirigierte und Edoardo sie mit
einer kurzen, aber bewegenden Rede in Form eines Briefes kommentierte, hatte
ich einen Moment lang das Gefühl, dass sich die Lücke schloss, die sein Tod
hinterlassen hat. Bei den Klängen von Doktor Schiwago, Und dennoch leben sie,
La Strada – Das Lied von der Straße und der Musik von Armando Trowajoli und
Nino Rota verwandelte sich meine Wehmut in Dankbarkeit für all die glücklichen
Umstände, die uns bis hierher geführt hatten. Und einen Augenblick lang waren
wir alle vier wieder vereint.
Edoardos Worte beschrieben Carlo eindringlicher, als es jemals ein Bild oder
ein Filmausschnitt vermocht hätte. Er erinnerte an unsere liebevollen
Nachmittage, an denen wir Tschaikowski hörten, an die Abendessen mit Fellini,
an denen ebenso viele heitere Anekdoten wie grobe Witze und weinselige
Weisheiten von sich gegeben wurden, an die zarte Berührung seiner großen
Hände, die ihm schon als Kind ein Gefühl der Geborgenheit gaben. Und dann
erinnerte er uns noch an ein Bild in Rückenansicht, in Hausrock und Pantoffeln,
mit nackten Beinen, wie er im Morgennebel hinaustrat, um nach seinem
Rosengarten zu sehen. Dieser Garten war sein ganzer Stolz, seine ganze Freude:
Reihen von roten, rosafarbenen, weißen und gelben Rosen. Er pflegte sie alle mit
der Aufmerksamkeit, die charakteristisch für ihn war, zupackend und sanft
zugleich.
»Warum liebst du die Rosen so sehr, Papà?«
»Weil die Rosen ein wenig so sind wie die Träume: Die größten erfordern
Geduld und harte Arbeit.«

Carlo ist nicht mehr unter uns, aber er nährt noch immer unsere Leidenschaften
und vereint uns in der Erinnerung an ihn. Meine Söhne und ich leben weit
voneinander entfernt, aber wir lieben einander, wir stehen uns nahe und wissen,
was der andere tut, wir denken aneinander, telefonieren oft und unterstützen uns
gegenseitig. Und manchmal machen wir uns großartige Geschenke.

Auf der Suche nach der Wahrheit

An der Schwelle zu diesem so wichtigen Geburtstag hat mir Edoardo einen


meiner Mädchenträume erfüllt, einen Traum, den vermutlich jede Schauspielerin
einmal in ihrem Leben geträumt hat. Aber er hat sich nicht darauf beschränkt. Er
hat alles wieder und wieder durchdacht und seine ganze Liebe hineingesteckt.
Diese seine Liebe ist das schönste Geschenk, sie ist in Ruhe gereift, über Jahre
hinweg, und er hat gewartet, bis die Zeit gekommen war.
Heute ist Edoardo nach Jahren der Arbeit ein sensibler Regisseur mit klaren
Vorstellungen, der die Empathie als seine größte Kraft einsetzt. Er liebt die
Menschen, er versucht, sie zu verstehen, zu ergründen, wo sie hinwollen. Das ist
es, was ihn interessiert, die Wahrheit der Gefühle, die uns alle verbinden.
Manchmal genügt es, ein paar Stunden mit jemandem zu sprechen, damit man
sich über Ziel und Weg des eigenen Lebens klar wird.
Ihm ist es so mit Miloš Forman ergangen, dem großen Regisseur von Hair und
Amadeus, den er das Glück hatte, an einem inzwischen weit zurückliegenden
Nachmittag zu treffen.
»Es kommt nicht darauf an, dass das Drama dramatisch oder die Komödie
lustig ist«, sagte ihm der Maestro an jenem Tag mit der Einfachheit, wie sie nur
die ganz Großen besitzen. »Es kommt darauf an, dass alles wahr ist.«
Edoardo hat das niemals vergessen, und er sagt es sich jedes Mal aufs Neue,
wenn er »Action!« ruft.
Im Jahr 2001 habe ich unter seiner Regie in Zwischen Fremden (Between
Strangers) gespielt, seinem filmischen Erstlingswerk. Wir drehten in Toronto, und
mit von der Partie war neben Mira Sorvino, Malcolm McDowell und Klaus Maria
Brandauer vor allem er: Gérard Depardieu, einer der großartigsten Schauspieler,
die ich je das Glück hatte zu treffen. So wie Alec Guinness, wie Peter O’Toole,
braucht auch Gérard nur den Mund zu öffnen, um eine ganze Welt zu erschaffen
mit all ihren Unebenheiten und Kontrasten.
So unstet und chaotisch er manchmal im Leben sein mag, so professionell,
freundlich und konzentriert ist Gérard am Set. Abgesehen von Genie und Talent
besitzt er außerdem die Präzision des Handwerkers. Er kennt sein eigenes Gesicht
derart gut, dass er nur einen einzigen Muskel bewegen muss, um einen
vollkommen anderen Ausdruck anzunehmen. Genau wie mein erster Lehrmeister,
Pino Serpe! Und dann der Rhythmus … Er hat ein so gutes Gefühl für Rhythmus,
dass er eigentlich keine Proben braucht: Jeder erste Dreh einer Szene könnte
schon die beste, die endgültige Version sein.
Bei einer anderen Gelegenheit hätte ich ihm einfach nur zugeschaut, voller
Bewunderung an seiner Seite gespielt. Jetzt aber gingen mir andere Dinge durch
den Kopf. Denn mein Sohn war es, der Regie führte, und das war kein
nebensächliches Detail.
Es ist mir nicht leichtgefallen, das richtige Gleichgewicht zwischen der Mutter
und der Schauspielerin zu finden. Mehr als sonst fühlte ich mich bei Edoardos
Debüt verpflichtet, mein Bestes zu geben. Er hatte sich eine komplexe Geschichte
ausgedacht, in der sich die Schicksale dreier Frauen durch Zufall an einem
Flughafen kreuzen. Eines Morgens jedoch wusste ich, was ich zu tun hatte, und es
war einfacher als gedacht.
Es klingt vielleicht komisch, aber das alles hatte ich einem Hund zu verdanken.
An jenem Tag drehten wir eine Szene, in der ein Pudel eine Straße überqueren
sollte. Es war ein banales, aber wichtiges Detail, an dem Edoardo viel lag. Nun
gut, dieser Pudel wollte von alldem nichts wissen. Auf das Signal seiner
Dresseure hin lief er zwar los, blieb dann aber mitten auf der Straße stehen und
weigerte sich strikt, weiterzugehen. Es war nichts zu machen. Weder Kekse noch
Hundekuchen, weder Schreie noch Schubse oder eine durchsichtige Leine
konnten etwas ausrichten. Nichts, dieser Pudel war wie gelähmt mitten im
Getümmel, vielleicht aus Angst oder einfach, weil ihm danach war.
Seine Sturheit zwang uns dazu, die Szene immer wieder neu zu drehen, bis wir
sie wie Roboter abspulten. Und genau dieser Automatismus war es, der in mir
einen Knoten löste und meine Sorgen vertrieb. Ich sah zu Edoardo, der geduldig
immer wieder von vorn anfing. Er ging vollkommen in seiner Rolle auf. Für ihn
gab es in diesem Moment weder eine Mutter noch eine Ehefrau oder eine Familie.
Da waren nur sein Film, seine Schauspieler, seine Crew.
In diesem Augenblick begriff ich, dass unsere Mutter-Sohn-Beziehung am Set
keine Bedeutung hatte. Edoardo war der Regisseur und ich die Darstellerin. Er
gab Anweisungen, und ich musste mich darauf beschränken, sie auszuführen. Es
genügte, ihm zuzuhören und mich dann fallen zu lassen. So schaffte ich es, aus
der Mutterrolle herauszutreten und mich auf das Drehbuch und meine
Authentizität als Schauspielerin zu konzentrieren.
Es war für uns beide eine wichtige Erfahrung, die uns nicht nur beruflich
weiterbrachte, sondern auch unsere Bindung stärkte. So konnten wir uns darauf
vorbereiten, mehr als zehn Jahre später gemeinsam eine andere große
Herausforderung zu meistern, die zugleich sein Geschenk an mich war: die
Geschichte einer reifen Frau, die, eingeschlossen in ihrem Zimmer, in einem
dramatischen Telefonat aus Worten, Zögern, Schweigen die letzte Liebe ihres
Lebens verliert und sich verloren glaubt.

Melanzane alla parmigiana

Das erste Mal, als er mir am Telefon davon erzählte, fiel ich aus allen Wolken.
»Die menschliche Stimme? Du meinst, wie die Magnani, die Bergman, wie
Simone Signoret? Die von …«
»Mamma, du musst mir nicht alle aufzählen. Natürlich meine ich genau die:
Die menschliche Stimme. Von Cocteau.«
In meinem Inneren brach wie immer ein Tumult aus.
»Wie schön, immer schon habe ich davon geträumt, schon als kleines Mädchen
habe ich Nannarella, also Anna Magnani, in dieser Rolle gesehen!«
Doch sofort ergriff die Gegenstimme das Wort:
»Werde ich das schaffen?«
Da ich mich selbst nur zu gut kannte, sortierte ich aus diesem
Gedankenwirrwarr allen unnützen Kram aus und behielt das Wertvollste daran,
jene Begeisterung am Neuen, jene Angst vor dem »ersten Mal«, die mich jede
Rolle spielen lässt, als wäre ich eine Anfängerin. Während ich an mir arbeitete,
machte sich Edoardo Gedanken über die Produktion, den Drehort, das Drehbuch,
den Schnitt, den er haben wollte.
Zwischen uns entstand ein Dialog, wie er sich in der Entstehungsphase eines
Projekts immer entfaltet, und bei dem es immer mehr eingekreist wird. Ein
Dialog voller Abschweifungen, lebendig und kreativ, der jedes neue
Filmvorhaben begleitet und Phantasie und Gefühle anregt.
Alles in mir war erleuchtet. So etwas war mir schon lange nicht mehr passiert.
Ich fühlte mich versucht, die Interpretationen der diversen Schauspielerinnen
anzuschauen, die die Rolle vor mir gespielt hatten, um mich von ihnen inspirieren
zu lassen.
»Nein, Mamma, lass dich nicht beeinflussen«, sagte Edoardo, »jede
Darstellerin setzt ihre eigenen Vorstellungen um.«
Ich gehorchte und versuchte, so wenig wie möglich zu sagen, um zu verstehen,
was er von mir erwartete.
Eines Tages meinte er plötzlich:
»Und wenn es auf Neapolitanisch wäre?«
Ich konnte es nicht glauben.
Die Idee war so gewagt, so einfühlsam, so nah an mir, dass ich ergriffen war.
Edoardo, am anderen Ende der Leitung, bemerkte mein Schweigen, ließ sich
davon aber keineswegs abschrecken:
»Ja, denn eine verlassene Frau kann nicht anders, als in ihrer Muttersprache zu
sprechen, in der Sprache ihrer Kindheit …«

Die Übersetzung des Stücks von Jean Cocteau übernahm Erri De Luca. Wer hätte
dies besser gekonnt als er? Sowohl Edoardo als auch ich liebten ihn als Autor und
vertrauten seiner klaren, trockenen Art zu schreiben und seiner Fähigkeit, aus der
Tiefe zu schöpfen. Wir setzten uns an einen Tisch und sprachen über die
Übersetzung − und kurze Zeit später war der Text fertig.
»Wie hast du das denn fertiggebracht, Erri, wie konntest du das so schnell
hinbekommen?«, fragte ich ihn voller Bewunderung.
»Ich dachte an deine Stimme, ich hörte sie, und deine Stimme hat mir die
Worte diktiert …«, sagte er mit der für ihn typischen Nüchternheit.
Jetzt war es an mir, die Rolle so gut wie möglich zu interpretieren. Allerdings
war mir klar, dass es diesmal nicht reichen würde, mich auf meinen Instinkt zu
verlassen. Wir probten eineinhalb Monate, beinahe wie fürs Theater.
Aufmerksam, konzentriert, eingeschlossen in ein Hotelzimmer wie in eine
Garderobe. Und dann endlich waren wir so weit – wenn man das überhaupt
jemals ist – und fingen an zu drehen. Wir drehten im Studio De Paolis in Rom,
dort, wo auch Ein besonderer Tag entstanden war, dann in Ostia, am selben
Strand von Schade, dass Du eine Kanaille bist, und schließlich in Neapel,
zwischen dem Palazzo Reale, den Gassen von Santa Lucia, dem historischen
Stadtteil Sanità und dem Belvedere Sant’Antonio in Posillipo.
Ja, denn Edoardo wollte nicht nur, dass ich den Text im Dialekt sprach; er
wollte auch den einen Raum, auf den Cocteaus Figur ursprünglich beschränkt ist,
auf die Stadt, das Meer ausdehnen und auf jene konkreten Erinnerungen – einen
Geruch, eine tiefe Verletzung, eine Berührung –, die das Herz am Ende einer
Liebe wie Pfeile durchbohren. Es sind kurze Rückblenden, die sich blitzartig
öffnen, um gleich darauf wieder in jenem Telefondraht zu verschwinden, der sich
um das Zimmer und den Schmerz von Angela rankt. Im Zentrum dieser
Erinnerungen steht der Geliebte selbst, ein gewisser Enrico Lo Verso, der nicht
zufällig nur im Profil oder von hinten gezeigt wird, während er sie
leidenschaftlich küsst, als sie noch glücklich sind. Ein Mann aus dem Norden, der
sie oft gar nicht versteht, wenn sie im Dialekt spricht – ein Sinnbild dafür, dass er
sie überhaupt nicht versteht und sie vielleicht, nein, ganz sicher, auch nicht
verdient hat.
Wir arbeiteten hart, überwanden Widerstände und Befangenheiten. An unserer
Seite Carlo, der uns bei der Auswahl der Musik beriet, Guendalina als Associate
Producer und Alex, der die Postproduktion der DVD übernahm. Auch heute noch
bin ich jedes Mal gerührt, wenn ich mich umblickte und uns alle zusammen sehe.
Leid und Schmerz lassen sich im Leben nicht vermeiden, aber man kann sie
überwinden. Und wir sind mit der Zeit zu einer großen, vereinten Familie
zusammengewachsen.
Was mich betraf, so hatte ich begriffen, dass ich hier als Schauspielerin gefragt
war und nicht als Mutter, aber es fiel mir nicht leicht, mich vor Edoardo gehen zu
lassen, noch dazu in einer so persönlichen Rolle. Denn wenn man verlassen wird,
bleibt man nackt zurück, und diese Nacktheit musste ich erst einmal in mir
verarbeiten und dann vor Edoardo ausbreiten. Dazu musste ich jene Schamgrenze
überschreiten, die normalerweise zwischen einer Mutter und ihrem Sprössling
besteht.
Ich vermute, dass ihm das ebenso schwergefallen ist wie mir. Als Regisseur
sucht er nach der Wahrheit, und da er mich gut kennt, hat er mich ausgepresst,
bis er sie fand. Und so kam es, dass ich nach einer besonders schwierigen Szene
einfach weiterweinte, obwohl die Kamera gar nicht mehr lief. Ich weinte und
weinte, doch als ich aufsah, stellte ich fest, dass auch mein Sohn weinte.
In Edoardos Film gibt es im Vergleich zur Theaterfassung noch eine andere
Erweiterung, die die Geschichte zwar nicht hoffnungsvoller macht, aber − ganz
nach neapolitanischer Manier – die Kluft zwischen Verzweiflung und
vermeintlicher Normalität schmälert: Während sich Angelas Schmerz in Trauer
verwandelt, deckt die Haushälterin im Nebenzimmer wie jeden Dienstag den
Tisch für zwei Personen und holt die melanzane alla parmigiana, den
Auberginenauflauf, aus dem Ofen. Das Gericht der Liebe, des Teilens. Das
Gericht, das Angelas Stärke und Entschlossenheit symbolisiert, sogar noch in der
Niederlage. Das Gericht, das auch mein Leben begleitet hat und das meine
Stimme heute noch menschlicher macht.
»Signo’, es ist viertel nach acht. Ich gehe jetzt …«

Es war einmal

Am Ende dieses langen Wegs öffnet sich vor mir die Zukunft, die noch immer
voller Träume ist. Nach Neapel, in meine geliebte Stadt zurückzukehren und die
Menschen zu sehen, die mir fröhlich von den Balkonen zujubelten, hat mich in
meine Kindheit zurückversetzt und mich glücklich gemacht. Wenn ich mich nun
zufriedengeben würde, würde ich wohl die Last des Lebens spüren. Leben aber
heißt, sich jeden Tag neue Ziele zu setzen.

Ich überlasse mich meinen Gedanken, stolpere über ein Projekt, das mir schon
seit einer Weile im Kopf herumspukt … Doch es ist spät geworden, ich sollte
versuchen, ein paar Stunden zu schlafen. Morgen ist Heiligabend, meine Familie
wartet auf mich.
Ich bin im Begriff, den Deckel meiner Schatzkiste zu schließen, als mir zwei
verblichene Blätter in die Hände fallen, die von mir erzählen. Vielleicht habe ich
das, was da steht, selbst geschrieben, wer weiß, wann das war, wer weiß, warum.
Ich fange an zu lesen, während die Welt draußen im Schnee versinkt.

Es war einmal ein Mädchen mit dünnen Beinen, riesigen Augen, einem lebhaften
Mund.
Es war einmal ein Mädchen, das jeden einzelnen Grashalm in der Natur liebte,
ob hässlich oder schön.
Es war einmal ein Mädchen, das in ein Wirrwarr bitterer Wurzeln
hineingeboren wurde, doch daraus ging eine Blüte hervor, die die Welt entdeckte:
Es gab Berge zu besteigen, Wege zurückzulegen.
Es war einmal eine junge Frau, die das weite Universum liebte; es gehörte ihr
allein, und sie wollte es durchschreiten.
Es war einmal eine Frau, die alle Ängste überwinden und mit ihren riesigen
Augen und dem lebhaften Mund ihr Leben leben wollte.
Es war einmal eine Frau, die Schauspielerin wurde und dem Publikum in ihren
Rollen die unzähligen Gesichter schenkte, von denen es tausend Mal geträumt, die
es aber nie erlebt hatte.
Es war einmal eine Frau, die Ehefrau sein wollte – es war so hart und schwer
zu erreichen.
Es war einmal eine Frau, die wie alle anderen Frauen Mutter sein und ihre
eigenen Kinder haben wollte.
Es war einmal eine Schauspielerin, die in vielen Filmen mitspielte – alles
Gipfel, die erklommen werden mussten. Nicht jeder Gipfel und nicht jeder Film
war der Himalaja … Doch alle waren es wert, gelebt zu werden.
Es war einmal ein bitteres und zugleich großartiges Leben, das ein Mädchen,
eine Frau und eine Schauspielerin Revue passieren lässt.
Für jedes Mädchen, das die Welt mit großen Augen und dieser Sehnsucht nach
dem Leben betrachtet, wird es immer ein »Einmal« geben.
Epilog

»Schhh… siehst du nicht, dass sie schläft?«


»Aber bald ist Essenszeit …«
»Fleisch-klöß-chen, Fleisch-klöß-chen, Fleisch-klöß-chen!«
»Nonna, Nonna, Nonna Sophia!«
Oh Gott, wie spät mag es sein? Ich muss eingeschlafen sein. Es ist schon
Morgen, die Sonne steht hoch am Himmel, ich bin spät dran. Der Fluss der
Erinnerung hat mich sanft bis hierher geführt, mich seiner launischen Strömung
ausgesetzt.
Das Getuschel der Indianer hinter meiner Schlafzimmertür wird fordernder.
»Kommt herein, ihr süßen Kleinen, kommt herein. Aber wie spät ist es denn?«
Die Erste, die hereinplatzt, ist Lucia, mit einer Dreierserie von Rädern und
Purzelbäumen. Dieses Mädchen läuft nicht, es fliegt.
»Es ist zehn Uhr, Nonna, zehn Uhr!«, sagt sie lächelnd.
»Zehn Uhr?!«
Ich glaube, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie so lange geschlafen
habe.
Hinter ihr kommt Vittorio herein. Zuerst sehe ich seinen Blick, der manchmal
so intensiv ist, dass es fast wehtut.
»Nonna, wollten wir heute Morgen nicht die Fleischklößchen machen?«
Und da ist auch schon Leonardo, mit einem flachen Porzellanteller in den
Händen, den er vom Tisch stibitzt hat, und der ihm jetzt als Lenkrad dient.
»Brumm, brumm … Platz da, Platz da, jetzt komme ich.«
Als Letzte erscheint Beatrice, die mit Mühe auf mein Bett klettert, das noch zu
hoch ist für sie, und dann flüstert sie mir mein Lied ins Ohr: »Zoo Be Zoo Be
Zoo.« Dieses Mädchen wird einmal Erfolg haben, sage ich mir.
»Kinder, Nonna hat diese Nacht wenig geschlafen, jetzt muss ich mich
zurechtmachen. Wartet in der Küche auf mich!«
Als ich die Küche betrete, hat Ninni schon den Tisch abgeräumt, das Fleisch auf
ein Brett gelegt, das Mehl in eine große Schüssel gegeben, das altbackene Brot in
Scheiben geschnitten. Und sie hat den vier kleinen Küchenchefs, die mich wie
unternehmungslustige Fohlen anschauen, die Ärmel hochgekrempelt.
»Also, ich bereite das Fleisch zu und ihr die Klöße, in Ordnung?«
Die Kinder kreischen vor Freude, ihre Augen glänzen wie unzählige
Weihnachtssternchen, und dann machen sie sich sofort an die Arbeit.
»Kein Fleischklößchen ist wie das andere«, kommt es mir in den Sinn. »Wie
süß sie sind, noch so unbefangen, so frei …«
»Nun, Kinder, was wollt ihr werden, wenn ihr groß seid?«
Leonardo verkündet entschlossen: »Formel-1-Fahrer.«
Seine Schwester Lucia flüstert süß wie Honig: »Ballerina.«
Beatrice sieht mich fragend an:
»Groß? Ich?«
Vittorio, der Nachdenklichste von den vieren, sagt weise:
»Ich weiß nicht, vielleicht Pianist. Aber es ist noch zu früh …«
»Und du, Nonna, und du?«, rufen meine Indianer im Chor. »Was willst du
werden, wenn du groß bist?«
Ich lache laut los.
»Ich? Das weiß ich nicht, ich müsste mal darüber nachdenken.«
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unten), 28, 29, 30 (oben) © Pierluigi / Reporters Associati & Archivi; Tafeln 31, 32
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Secchiaroli; Tafel 36 (oben und Mitte) © Reporters Associati & Archivi; Tafel 40
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Reporters Associati & Archivi; Tafel 43 (oben) © Tazio Secchiaroli / David
Secchiaroli; Tafel 43 (unten) © Norman Hargood; Tafel 44 © Photo by Jean-
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51 © Photo by Jack Garofalo / Paris Match via Getty Images; Tafel 55 © Tazio
Secchiaroli / David Secchiaroli; Tafel 56 © Reporters Associati & Archivi; Tafel 58
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Aus dem Archiv der Familie Loren Ponti stammen die Bilder und Dokumente auf
den Tafeln 2, 3 (oben), 4 (unten), 5 (oben), 8, 9, 10 (unten), 11, 12, 13 (unten), 15, 16
(unten), 18 (unten), 19, 20, 21, 24, 25, 26, 27 (oben), 30 (unten), 32 (unten), 36
(unten), 37, 38, 39, 46 (unten), 47, 50 (unten), 52, 53, 54, 57, 58 (unten), 59, 63, 64.
Anmerkungen

1 Anm. d. Red.: Alberto Moravia (2006). Anatomia di una stella: Alberto Moravia
intervista Sophia Loren. In: Scicolone, Lazzaro, Loren, hg. v. Vincenzo Mollica und
Alessandro Nicosia. Rom: Gangemi Editore, S. 229 – 246. Das Interview erschien

erstmals am 23. September 1962 in der Wochenzeitung L’Europeo.

2 Anm. d. Red.: Aus Marcello Mastroianni (2000). Ja, ich erinnere mich. München:
Deutscher Taschenbuch Verlag, S. 164 (Originalausgabe: Mi ricordo, sì, io mi
ricordo. Mailand: Dalai Editore, 1997).

3 Anm. d. Red.: Am 5. August 1971 veröffentlichte Oriana Fallaci unter dem Titel
»Radiografia di un uomo: Marcello Mastroianni si confessa con Oriana Fallaci«
ein Portrait des Schauspielers in der Wochenzeitung L’Europeo.

4 Anm. d. Red.: Enzo Biagi (1996). La bella vita: Marcello Mastroianni racconta.  
Mailand: Rizzoli.

5 Anm. d. Red.: Sophia Loren (1972). Sophia Loren: Komm, iß mit mir. Berlin:
Blanvalet. Neuausgabe: In cucina con amore. Rezepte für die italienische Seele.
München: Gräfe und Unzer, 2014.

6 Anm. d. Red.: Das Wortspiel ist ein Insider-Scherz zwischen Burton und Sophia
Loren.

7 Anm. d. Red.: »Ruhm ist flüchtig, Beliebtheit nur ein Zufall, Reichtum verfliegt,
wer heute jubelt, könnte morgen schon fluchen, und das Einzige, was Bestand
hat, ist Persönlichkeit.«
8 Anm. d. Red.: »Es ist wirklich sehr, sehr hart. Ich bin hier in einer Welt, die ich
unter normalen Umständen nie kennengelernt hätte. Sie besteht aus Schmerz,
Leid und Frustration. Von der Welt abgeschnitten zu sein ist, denke ich, die
härteste Strafe, die man der menschlichen Seele aufbürden kann.«

9 Anm. d. Red.: Maria Scicolone (2004). La mia casa è piena di specchi. Rom:
Gremese Editore.

10 Anm. d. Red.: Aaron Edward Hotchner (1979). Sophia: Living and Loving. Her
Own Story. New York: William Morrow.

11 Anm. d. Red.: Gemeint ist der Song »Viva la pappa col pomodoro«, den Lina
Wertmüller zusammen mit Nino Rota komponiert hat und der in der Fernsehserie
Il giornalino di Gian Burrasca (1964 /65, Regie: Lina Wertmüller) von Rita Pavone
gesungen wurde.

12 Anm. d. Red.: Sophia Loren (1999). Rezepte  &  Erinnerungen. München: Heyne
(Originalausgabe: Ricordi e ricette. Rom: Gremese Editore, 1999).

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