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Ganzheitliches Musizieren

Klavier-Festival Ruhr - Studientag


Chorforum Essen am 20. Mai 2015

Prof. Nadia Kevan


Folkwang Universität der Künste

Das ganzheitliche Musizieren liegt uns allen sehr nah. Sein Kern und Ursprung sind von Ge-
burt an da, in uns geboren. Das ganzheitliche Musizieren entspringt unserem inneren Wesen.
Wir brauchen es nicht zu machen, und wir sollten nicht versuchen, es zu machen. Die tägliche
Aufgabe besteht darin, all das wegzulassen, was dem ganzheitlichen Musizieren im Wege steht.
Es ist ein Geschenk des Lebens und braucht unsere Pflege und Freude.

Ganzheitliches Musizieren bedeutet, in Berührung zu sein, mit unserem vollen musikalischen


Potential, sich zu fühlen und einzuordnen als ein Teil des Ur-Rhythmus des Lebens. Seine Ent-
stehung gehört zur Schöpfungsgeschichte: Am Anfang war die Stille – dann der Klang. Ganz-
heitliches Musizieren ist eine Sache, die weit umfassender, wundervoller und aufregender ist,
als unser Alltagsdenken denken kann.

„Ganzheitlichkeit ist kein von Menschen gemachtes Konzept. Es ist nichts, was wir Menschen
machen. Wir öffnen uns für etwas, das sowieso immer da ist... Die Musik ist ganzheitlich, aber
unser Bewusstsein hat es vergessen.“

Warum sind wir uns dann dieser Ganzheitlichkeit nicht bewusst? Weil wir sie stören. Wir stö-
ren sie durch unbewusste Gewohnheiten des Körpers und des Denkens. Sie lässt sich nicht
zurechtschneiden, damit sie in ein normales, von Unsicherheit gemachtes Weltbild passt. Im
Gegenteil: Unsere Liebe zur Musik ist die Einladung, unseres Selbst bewusster zu werden, und
das heißt, Neues, Unvertrautes zu entdecken.

Was für Gewohnheiten stören diese Ur-Erfahrung? Ganzheitlichkeit wird durch zu viel Denken,
zu viel Tun, und zu wenig Wahrnehmung gestört.

Gestört wird sie außerdem, wenn unser Körper nicht im Gleichgewicht ist und Körper und
Seele nicht genug Unterstützung erleben. Ganzheitlichkeit wird gestört durch übermäßige kör-
perliche und seelische Anstrengung, die auf den Mangel an Unterstützung zurückzuführen ist.
Ganzheitlichkeit wird durch übermäßige Kontrolle und Kritik gestört. Die Ganzheitlichkeit
wird durch die Glaubenssysteme gestört, die Stimme im Kopf, die uns täglich sagt: „Ich bin
noch nicht richtig, ich muss anders sein“, und sie wird durch ungelöste Konflikte gestört. Sie
wird durch die Angst, man sei nicht gut genug, gestört. Und doch! kann uns die lustvolle
Überwindung der Angst in die Ganzheit „zwingen“ – eine wichtige Energie beim Musizieren
und überhaupt beim kreativen Schaffen.

Die Gründe der Störung sind vielfältig, und sie sind alle zurückzuführen auf Gewohnheiten der
Angst. Deswegen setzte ich mich an der Folkwang Universität der Künste nicht nur für Körper-
bewusstsein ein, sondern auch für das Selbstbewusstsein der jungen KünstlerInnen und für die

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psychologische Perspektive auf den Künstler /die Künstlerin und das künstlerische Schaffen.
Vor zwei Jahren habe ich gemeinsam mit meiner Kollegin Dr. Daniela Schwarz eine Initiative
gegründet: Zur Psychologie des künstlerischen Schaffens, ein Projekt mit öffentlichen Vorträgen und
sehr wirksamen Seminaren.

Die Ganzheitlichkeit braucht die Natürlichkeit: Das Empfinden – ich lebe von Innen nach
Außen, selbst bestimmend, von meiner eigenen Selbstwahrnehmung gesteuert und vom Leben
unterstützt und willkommen geheißen. So laufe ich aufrecht und geschmeidig durch den Tag.

Ich erlebe oft, dass Studierende mit dem Glauben in meine Kurse kommen, sie müssten Aspek-
te ihrer Person draußen vor der Tür lassen, wie Straßenschuhe vor einer heiligen Moschee. Erst,
wenn alle Aspekte einer Person in ihrem Lernprozess Raum, Anerkennung und Unterstützung
bekommen, und - wenn notwendig - durch klare und sensible Hand geführt werden, können
junge KünstlerInnen lernen, die Verantwortung für sich selbst zu tragen und so für ihr künstle-
risches Schaffen stimmige Entscheidungen treffen.

Jeder Teil eines Menschen, die musikalische Begabung, die Sinne, die Knochen und Muskeln,
die Emotionalität, die musikalische Vorstellungskraft, bedingen sich gegenseitig - ununterbro-
chen. Der Mensch ist und bleibt eine Geist-Körper-Einheit. Es gibt keine Aktivität von einem
Arm, einer Hand oder einem Fuß, es gibt keinen Atemzug, der nicht aus dem ganzen Selbst des
Menschen entsteht

F. M. Alexander, der Erfinder der ganzheitlichen Lernmethode, die Alexander Technik ge-
nannt wird, lehrte seinen SchülerInnen im letzten Jahrhundert in London (viele MusikerInnen
waren unter seinen SchülerInnen): „Lerne das Falsche, was Du tust, zu erkennen und dieses zu
lassen, dann geschieht das Richtige von alleine“. Das ist der Weg in die Ganzheitlichkeit. Unter
den richtigen Bedingungen geschieht sie von alleine, und auf eine fast metaphysische Ebene
entsteht Musik.

In der Tat ist es ganz konkret und praktisch, neben allen Geschicklichkeiten, die man sich zum
Spielen eines Instrumentes über Jahre aneignen muss: Lerne, das Falsche zu lassen, und das
Richtige geschieht von alleine.

Der Körper, den ich habe oder der ich bin, wenn ich meine Flöte halte, ist der gleiche Körper,
mit dem ich meine E-Mails schreibe, meine Tasche trage, mein Fahrrad fahre, meine Küche
aufräume, meinen Hobbys nachgehen (hoffentlich haben Sie welche!), am Klavier sitze oder
meine Geige spiele. Immer der gleiche Körper. Wir trainieren ihn den ganzen Tag.

Gerade in diesem alltäglichen Umgang mit meinem Körper liegen die versteckten Fehler,
gleichzeitig auch die Chancen zum bewussten Umgang mit mir selbst und somit zum ganzheit-
lichen Musizieren. Es gibt die berühmten Ausgleichsübungen, aber die Ursachen der Störungen
bleiben - der unbewusste Umgang mit meinem Körper und meinem Denken. Diesen Umgang
mit sich selbst nannte F. M. Alexander den „ Gebrauch des Selbst“.

Alle Wege zum ganzheitlichen Musizieren müssen früher oder später durch den Körper. Es ist
der Körper, der alle inneren Vorstellungen in die Musik umsetzt.

Ein Beispiel der Wirkung eines bewussten Umgangs mit dem Körper:

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Eine Geigerin setzte sich ans Klavier um auszuprobieren, wie es sich anfühlt, Klavier zu spielen,
was sie bis dahin nie gemacht hatte. Sie hatte sich von der Schönheit des Spiels einer befreun-
deten Pianistin inspirieren lassen. In dem Moment, als sie sich auf den Klavierhocker setzte,
fühlte sie sich eingeschüchtert und unfähig, irgendetwas auszuprobieren. Ihr Körper fiel ein
wenig zusammen, und sie verlor den Kontakt zum Instrument. Die Pianistin und Körperbe-
wussteinlehrerin merkte, was geschah und half ihr durch sanfte Führung mit den Händen, das
Sitzen am Klavier bewusster zu organisieren. Ohne Anstrengung wurde der Körper stabiler,
aufrechter und kraftvoller, und das Gefühl, von ihrer Intention und vom Klavier getrennt zu sein,
war verschwunden. Sie fühlte sich auf einmal bereit zu spielen.
Dieses ist ein Beispiel für die gegenseitige Wirkung zwischen Körper und Emotion; die innere
eingeschüchterte Empfindung der Geigerin wirkte negativ auf den Körper, und ihr neues Kör-
pergefühl wirkte nun positiv auf ihre innere Empfindung – eine Übertragung vom Geist zum
Körper und vom Körper zum Geist. Das ist die Kraft der Ganzheit.

Der Mensch ist und bleibt eine Geist-Körper-Einheit. Was wir durch unseren bewussten bzw.
unbewussten Gebrauch des Selbst unaufhörlich beeinflussen, ist die Qualität unserer Ganzheit.
Wenn sie harmonisch ist, wird alles leicht. Wenn sie geschwächt ist, wird alles beschwerlicher.

Eine junge Pianistin kam vor vielen Jahren mit einem schmerzhaften Ellenbogen Gelenk zu mir.
Ich konnte fühlen, dass das Gelenk in Ordnung war. Es war der rechte Ellenbogen. Ich bat sie,
irgendetwas zu spielen, was das Pedal benötigt. Sofort wurde mich klar, wo das Problem herkam.
Als sie den Fuß zum Pedal anhob, hob sie gleichzeitig ihre rechte Beckenhälfte auch ein wenig
an und schob ihren Körperschwerpunkt leicht zur Seite, was ihre rechte Rückenseite in einen
verkürzten Zustand brachte. Dies wiederum verursachte, dass sie die Schulter als unbewussten
Ausgleich hochzog, was wiederum eine Verkürzung der Muskeln und eine schädliche Anspan-
nung des Oberarms verursachte. Der Ellenbogen wurde zum Opfer dieser Kette von sehr un-
günstigen Kompensationen für die unfreiwillige Beckenbewegung, die Schmerzen das Symptom
einer Störung der Ganzheit. Als ich sie fragte: „Warum heben Sie das Becken?“, sagte sie, sie
wisse es nicht, aber wenn sie es nicht täte, würde sie nicht ausreichend Kraft haben.

Woher kommt die natürliche Kraft, die eine solche Anstrengung überflüssig macht? Durch den
bewussten Umgang mit den Kräften der Natur. Bei jeder Aktion, die von uns ausgeht, gibt es
gleichzeitig zwei Systeme im Körper, die gebraucht werden: Als erstes die Körperhaltung oder
das Stützsystem und als zweites das Bewegungssystem. Die aufrechte Haltung des Menschen ist
ein Wunder der Natur und entstand allmählich über Millionen von Jahren der Evolution. Das
Stützsystem macht es möglich, dass wir aufrecht auf zwei schmalen Füßen stehen und laufen
können, aber auch, was genau so wichtig ist, dass wir dabei nicht hinfallen, vor allem, dass der
Kopf von seiner hohen Position auf der Wirbelsäule nie und nimmer aufschlägt. Das ist die
konstante Aufgabe des Stützsystems in jeder Aktivität vom Aufwachen bis zum Einschlafen
jeden Tag unseres Lebens. Hier geht es um Stabilität, Sicherheit, Ausgeglichenheit und Zu-
sammenhalt.

Das Bewegungssystem ist elastisch, anpassungsfähig und erzeugt Bewegung in den Gelenken. Es
umhüllt und durchdringt den ganzen Körper. Seine Aufgabe ist Veränderung, Gestaltung,
Freiheit und Koordination. Diese beiden Systeme arbeiten so eng zusammen, dass wir sie nicht
wirklich trennen können, aber - wenn das Stützsystem durch ungünstige Gewohnheiten gestört
ist, springt das Bewegungssystem ein, um auf jeden Preis eine Gefährdung des Gleichgewichts
zu verhindern. In jeder Lebenslage sorgt der Körper für Sicherheit vor Freiheit. Daher kommen die

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vielen Verspannungen bei jungen und nicht mehr so jungen MusikerInnen, sie haben sich
nicht bewusst um die Stabilität ihres Körpers vor, während und nach dem Spielen gesorgt.

Die Muskeln, die sonst bei einer optimalen Körperhaltung ganz frei für Bewegung sind, z. B.
die Hände, Arme und der Brustkorb kontrahieren nun heftig, um die Stabilität halbwegs zu
bewahren. Diese Not-Funktion der Bewegungsmuskeln führt auf Dauer zu chronischen Ver-
spannungen und zu einem Mangel der natürlichen Kraft, zu festen Sehnen und unbeweglichem
Bindergewebe. Wenn ein Musiker / eine Musikerin in diesem Zustand stundenlang musiziert,
werden alle Strukturen und Organe des Körpers überbeansprucht. In meiner Erfahrung ist die-
ses Phänomen in 90% der Fälle von körperlichen Beschwerden bei MusikerInnen, die Ursache.
Wie kommen wir aus dieser Schleife heraus?
Die Antwort ist: Finde heraus, durch welche Gewohnheiten - auf körperlicher und seelischer
Ebene - ich mein eigenes Gleichgewicht störe und lernen, sie zu lassen.

F. M. Alexander hat zwei Vorgänge, oder physiologische Prozesse, entdeckt, die für die bewusste
Veränderung von unbewussten Gewohnheiten verantwortlich sind. Normalerweise funktionie-
ren diese beiden Prozesse des zentralen Nervensystems völlig ohne unsere Wahrnehmung. Er
hat sie zum Gegenstand seines Bewusstseins gemacht, und sich von seinen Stimm- und Atem-
beschwerden befreit, die seine Karriere als Schauspieler gefährdeten.

Der erste Vorgang ist mit dem Hören sprachlich eng verknüpft ist. Es heißt Aufhören, Innehal-
ten, sich nicht auf die Aufgabe stürzen, nicht sofort auf den Reiz zu spielen reagieren, sondern
sich bewusst Zeit und Raum zu lassen. In die Stille zu gehen. Jede spontane und authentische Ges-
te fängt in dieser Stille an. Dieses Aufhören zu tun, der Moment der körperlichen und gedank-
lichen Stille ist nicht zu vergleichen mit normaler Entspannung. Sie ist energiegeladen - sie öff-
net einen weiten Raum für alle Sinne und für künstlerische Entscheidungen. Sie schenkt Frei-
heit und Zugang zum ganzheitlichen künstlerischen Schaffens. Diese Stille erlaubt das Bei-Sich-
Sein.

Der nächste Vorgang folgt dem ersten. Platon, Urvater der westlichen Philosophie, definierte
das Denken als „ein Gespräch der Seele mit sich selbst“. Der zweite Vorgang ist gerade diese
Aktivität; innerlich „sprechen“ wir mit unserem Körper - Hinweise, freundliche Anweisungen.
Wir müssen nichts tun im normalen Sinn vom Tun. Wir schenken dem Körper Bilder und Vor-
stellungen durch bewusstes Denken. Das sind die Mittel, wodurch wir uns neu ausrichten ler-
nen, und lernen, das Falsche zu lassen und das Richtige geschehen zu lassen. Alexander nannte
diese Vorgänge „Prinzipien“; durch Innehalten und durch Körperdenken sich bewusst auszurich-
ten und zwar, bevor wir beginnen zu spielen (Auf Englisch von Alexander genannt Inhibition and
Direction.

Ich zitiere Alexander:


„Ein Mensch, der gelernt hat, beim Ausführen einer Übung nach einem Prinzip vorzugehen,
der hat es gelernt, jede Übung auszuführen.“

Wichtig zu wissen ist, dass der Prozess jeden Tag mit den Füßen anfängt, mit einem bewussten,
spürbaren Kontakt zum Boden unter den Füßen, und zu der Kraft, die von seiner Unterstüt-
zung kommt. Diese Unterstützungskraft steht auch für die Hände zur Verfügung durch bewuss-
ten Kontakt, z. B. zu den Tasten eines Klaviers. Mit der Zeit ist es möglich, einen zweiten As-
pekt des Körperbewusstseins zu entwickeln. Der Kopf soll vor und während aller Bewegungen
eine freie und ruhige Balance auf der Wirbelsäule bewahren. Diese Entdeckung von Alexander

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führte dazu, dass er sich von seinen Stimm- und Atembeschwerden vollständig befreien konnte.
Er nannte seine Entdeckung dieser zentralen Funktion des neuromuskulären Systems die
„Grund Steuerung“ (auf englisch Primary Control).

Eine Kollegin, Konzertpianistin und Klavierlehrerin erzählte, wie leicht den Zustand eines gut
unterstützten und ausgerichteten Körpers beim Unterricht zu erkennen sei: „...weniger Hemm-
nisse entstehen, der Zugang zum Lernprozess ist wesentlich natürlicher und alle Bewegungen
sind direkt mit der musikalischen Vorstellung verknüpft. Der Umgang mit dem Pedal, weil es
nicht synchron mit den Händen ist, benötigt ein hohes Maß an Geschehenlassen. Das Körperge-
fühl koordiniert alles - das Hören mit den anderen Sinnen - welches nur durch den stabilen
und gut ausgerichteten Körper möglich ist. Die hohe Sensibilität der Hände erlaubt der Künst-
lerin zu spüren, wie die Tasten hoch kommen unter den Fingern und so bleiben die Finger in
Kontakt und fühlen jede Vibration, die vom Ton erzeugt wird. Musik ist ein sinnliches Erlebnis.
Das emotionale Spiel kommt nicht vom Kopf. Musikalität braucht den Körper. So erreichen
wir die Fähigkeit zur Hingabe“.

Nach traditioneller Sicht gibt es fünf physische Sinne, und nun fügen wir seit deren Entde-
ckung einen „sechsten Sinn“ hinzu: der Muskel-, Körperhaltungs- und Bewegungssinn. Diese
Eigenwahrnehmung versorgt das Gehirn mit unentbehrlichen Informationen über die Gleich-
gewichtsorgane, die räumlichen Anordnung des Körpers und den Zustand der Muskeln und
Sehnen. Die zuverlässige Aufnahme und Verarbeitung dieser Information vom sechsten Sinn
wird durch ungünstige Körpergewohnheiten verhindert, und das Gehirn sendet „falsche“ Sig-
nale zum Körpergefühl. Deswegen „meinen“ so viele MusikerInnen, sie sitzen und spielen „be-
quem“ (was in diesem Fall von ihnen „ganz normal“ oder sogar „natürlich“ genannt wird“),
obwohl ihr Körper überhaupt kein ausreichendes Gleichgewicht hat. Das nennen wir: unzuver-
lässige Sinneswahrnehmung, verursacht durch einen gewohnheitsbedingten Umgang mit dem Körper beim
Musizieren.

Es ist hilfreich, den Unterschied zwischen normal und natürlich zu klären. Normal ist, was wir
gewohnheitsbedingt immer tun. Natürlich ist eine Qualität jenseits der Störung und Kontrolle.
Wenn sich eine Körperhaltung oder Bewegung normal anfühlt, heißt es bei Weitem nicht, dass
sie natürlich ist.

Ich zitiere von einem Kollegen:


„Der Fehlgebrauch des Selbst muss behoben werden, bevor es sinnvoll ist, etwas aufzubauen...,
die Richtung des Körpers, die Koordination und das Gleichgewicht müssen bewahrt bleiben,
während neue Fertigkeiten erlernt werden. Eine umfassende und bewusste Reaktion auf den
Reiz jeder neuen Anforderung ist der Weg von Gewohnheit hin zum ganzheitlichem Musizie-
ren“.

Ich möchte noch einige kurze Berichte von MusikerInnen und MusiklehrerInnen vorlesen. Sie
verdeutlichen die Einsichten, die ich beschrieben habe, auf wunderbare Art und Weise.
„Am Ende war es ein Problem mit meinem kleinen Finger, welches mich zu Einzelstunden in
der Alexander Technik, also zum Körperbewusstsein, gebracht hat. Schon vorher aber, sieben
Jahre lang, konnte ich meinen Klang am Klavier nicht verbessern. Ich hörte genau den Klang
meines Lehrers, aber ich bekam es nicht hin. Ich wusste, es liegt nicht an meiner Begabung...,
ich hörte den Klang, aber ich konnte ihn nicht selber erzeugen. Als ich anfing, Stunden zu
nehmen, wusste ich nicht, dass diese Arbeit das Hören beeinflusst und verbessert. Physiologisch
gesehen, wenn Verspannungen im Nacken und Halsbereich bestehen, liegt das dem Hörappa-

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rat sehr nahe. Aber auch das innere Hören, das Hören in meinem Kopf, meine musikalische
Vorstellung, verändern sich durch die Arbeit, es wird viel deutlicher durch meinen bewussten
Umgang mit dem Körper. In der westlichen Welt gibt es nicht viel Interesse an dem Gebrauch
des Körpers beim Musizieren. Hier ist das Interesse an der Musik immer im Vordergrund, aber
wenn man wüsste, dass der Gebrauch des Körpers das eigene Hören und das innere Hören so
stark verbessert, wäre es vielleicht anders. Nicht nur der Klang, auch das polyphone, mehr-
stimmige Hören, geht leichter. Diese Körperbewusstseinsarbeit verbessert das Gefühl für
Rhythmus, Pulse, und Tempo. Wenn ich meinen Körper beim Musizieren nicht störe, kommt
die musikalische Vorstellung auf eine natürliche Art und Weise in mich hinein und kommt aus
mir als reiner Ausdruck heraus. Längere Phrasen sind möglich, die Musik wird fließender, Übe-
zeit wird reduziert und Mittel von Außen z. B. ein Metronom werden überflüssig. Für mich ist
Musizieren dieses: Inneres Hören, Hören und bewusster Gebrauch des Körpers. Das innere
Hören ist die Kreativität, die erst dann zum Ausdruck kommen kann, wenn der Körper nicht
im Wege ist.“

„Wenn ich Kindern Klavierunterricht gebe, benutze ich die zentralen Aspekte der Alexande-
Technik, die ich in meiner Ausbildung als Lehrerin für Körperbewusstsein gelernt habe. Häufig
ist die direkte Reaktion der Kinder „Hey, das ist klasse!“ oder „ Das ist gar nicht so schwierig,
wie ich mir gedacht habe“ und „Es geht doch ganz einfach!“ Ich bin immer erstaunt, wie ein-
fach es für die jungen Kinder ist, diese Herangehensweise umzusetzen. Inzwischen fangen sie
erst zu spielen an, wenn sie wirklich gut und bequem sitzen. Sie bitten sogar nach einem ande-
ren Stuhl oder verändern die Höhe des Klavierhockers, weil sie inzwischen spüren, wenn es
stimmt. Die Jugendlichen sind an dem Gebrauch ihres Körpers sehr interessiert, sie fragen viel,
wie sie ihren Umgang mit ihrem Körper beim Klavierspielen verbessern können, sie möchten
lernen“.

„Irgendwann in meinem Studium merkte ich, dass ich die Gewohnheit hatte, meine rechte
Beckenseite zu heben. Vorher habe ich mir überhaupt keine Gedanken über meine Körper-
wahrnehmung gemacht, aber irgendwann fragte ich mich, warum das Spielgefühl in meinen
Händen sehr verschieden war. Meine linke Hand war musikalischer und meine rechte Hand
angestrengter. Ich wusste damals nicht, dass es mit dem Becken zu tun hatte. Ich fing an, Ale-
xander-Stunden zu nehmen und fühlte mich insgesamt viel zentrierter und sicherer beim Sitzen.
Mit der Zeit hat sich mein Körpergefühl verändert, und ich muss mich nicht mehr so anstren-
gen beim Spielen, und noch dazu hat sich in mir ein Verständnis darüber entwickelt, dass es
darum geht, Musik zu erleben, anstatt sie zu machen. Ich erlebte, dass die Musik, oder eher
gesagt das musikalische Material, nicht etwas Fremdes oder Bedrohliches ist, sondern ein Teil
von mir selbst. Als Klavierlehrerin beobachte ich unterschiedliche Dinge: Bei Erwachsenen ist
es eindeutig, dass eine eingeschränkte Körperwahrnehmung ihre Lernfortschritte verhindert
und stört. Dann sprechen sie von einem ständigen Gefühl von Überforderung während einer
Aufführung oder des Spielens. Bei Kindern ist es anders: Ich sehe, wenn das Zusammenspiel
von Körper und ihrem Wunsch, sich musikalisch auszudrücken, da ist, dann erleben wir ein
völlig müheloses Spiel und eine Freiheit im Ausdruck. Wenn das harmonische Zusammenspiel
gestört ist, wird ihre Konzentrationsfähigkeit eingeschränkt, und auch die Fähigkeit, Informati-
on aufzunehmen, zu verarbeiten und umzusetzen. Ich sehe es an ihrem Körper, wenn es fehlt,
und ein „guter Gebrauch“ ergibt sofort eine wunderbare Lebendigkeit von Anfang an.“

Es ist ganz klar: Der Körper macht Musik möglich, und der bewusste Umgang mit sich selbst
macht ganzheitliches Musizieren möglich. Es geschieht durch mich.

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Das bringt mich zum letzten Thema meines Vortrags heute Morgen. Es gibt ein Organ im Kör-
per, das so kraftvoll und strahlend ist, es koordiniert allen anderen Aspekte eines musizieren-
den Menschen. Das ist unser Herz. Die Frequenzen, das magnetische Feld, die von einem posi-
tiv bewegten Herzen ausgehen, sind in der Lage, alle anderen Frequenzen von einem Menschen
zu „eichen“ und organisieren. Das Beispiel von einem Geiger aus Südafrika, das Herr Alten-
müller in seinem Vortrag heute beschrieben hat, zeigt dieses Phänomen sehr deutlich: Der jun-
ger Mann war von chronischen Schulterschmerzen und Depressionen geplagt. Schließlich fand
er heraus, dass sein Herz beim Geigespielen nicht voll dabei war („His heart was not in it“ sagen wir
auf Englisch), und so haben sein Körper und seine Seele nicht die Kraft, den Zusammenhalt,
noch die Ausdauer gehabt, um länger mitzumachen.

Das bewusste Denken ist wie eine Wasserwage im Kopf und sorgt dafür, dass das Luftblässchen
nicht zu weit zur Seite kippt, sondern in der Mitte bleibt. Die vitalen Kräfte und der Körper-
schwerpunkt liegen im Bauch des Menschen, aber das Herz ist das Zentrum der Ganzheit, und im
Herzen zu sein als MusikerIn ist der Weg dahin. Das Musizieren aus vollem Herzen - das ist es! -
die Zuschauer werden direkt erreicht und unvergesslich berührt.

Ein englischer Alexander-Lehrer spielt Cello in einem von den großen Orchestern Londons.
Vor einer Woche schrieb er: „Heutzutage haben die Orchestermitglieder kein Interesse mehr
an Körperbewusstsein. Sie wollen nur spielen, es geht viel um Geld und Karriere“. Dieses Phä-
nomen ist aber nicht neu. Alexander nannte es „Endgaining“ - eine eng machende Zielorien-
tiertheit. Bei ihnen ist in Vergessenheit geraten, dass der Weg, wie sie zum Ziel kommen, ent-
scheidend ist, um zu das zu erreichen, was sie höchstwahrscheinlich tief im Herzen suchen: Die
allumfassende Erfahrung, sich durch die Kraft der Musik mit dem Klang des Lebens verbunden
zu fühlen.

Es ist nie zu spät, einen bewussten Umgang mit sich selbst zu entwickeln. Ich wünsche Ihnen
viel Vertrauen und Freude dabei.
Ich bedanke mich sehr herzlich für das Zuhören!

Ich bedanke mich auch sehr herzlich bei allen, die mir auf diesem Weg begleitet und inspiriert
haben und bei meinen KollegInnen, (siehe unten) für ihre Mitarbeit bei der Vorbereitung, für
ihre Berichte und für ihre Unterstützung bei dem Workshop am heutigen Studientag.
(Copyright/alle Rechte dieses Vortrags bei Prof. Nadia Kevan)

Weitere Veröffentlichungen, die Sie vielleicht interessieren:


„Wissenschaftliche Aspekte der F. M. Alexander Technik und ihre Anwendung zur Prävention
und Behandlung von Bewegungsstörungen, bei Musikern“ N. Kevan und C. Stevens, Musik-
physiologie und Musiker Medizin, 2/95 (erhältlich per email von der Verfasserin)

„Born zu Sing“. Alexander Technik, Atem und Gesang von Ron Murdock, Mornum Time
Press, California (auf Englisch) Buchveröffentlichung/neu erschienen www.cursa-ur.com

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Kontakte:

Prof. Nadia Kevan, kevan@folkwang-uni.de Tel. 01795960695– Körperbewusstsein – Bewe-


gungslehre - Ganzheitliches Lernen -
Vorsitzende: Arbeitskreises Körperbewusstsein
Institut für Lebenslanges Lernen
Folkwang Universität der Künste
Ausbilderin in freischaffender Tätigkeit:
www.atcn.eu
www.dance-of-life-nadiakevan.eu
www.nadiakevan-onelife.eu

Initiative: Zur Psychologie des Künstlerischen Schaffens


Folkwang Universität der Künste
Dr. Daniela Schwarz - Konzertpianistin, Musikdidaktikerin und Klavierlehrerin
daniela.schwarz@folkwang-uni.de
Prof. Nadia Kevan - kevan@folkwang-uni.de

Anna Kopperschmidt – Klavier- und Cello Lehrerin und Lehrerin für Körperbewusstsein, Ale-
xander Technik. (Essen und Umgebung): anna.kopperschmidt@web.de

Asa Mori - Konzert Pianistin, Lehrerin für Körperbewusstsein, Alexander Technik


(Köln, Bergischgladbach, Japan): asamori1126@aol.com

Martina Pille, Lehrerin für Körperbewusstsein, Alexander Technik, Filmeditorin, Lehrerin für
Dance of Life nach Nadia Kevan
(Köln, und Umgebung): martinapille©gmail.com Tel. 0177 73 44 039

Petra Pollmann – Konzert Pianistin, Klavier Lehrerin und Lehrerin für Körperbewusstsein,
Alexander Technik, (Arnhem, Niederlande): pplpolman@hotmail.com
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