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Manuskript

Kultur und Gesellschaft

Reihe : Forschung und Gesellschaft

Titel : Fremd in der globalisierten Welt. Neue


Aufgaben für die Ethnologie

Autor : Hans-Jürgen Heinrichs

Redakteur : René Aguigah

Sendung : 03.02. 2010 / 19:30 Uhr

Regie : Beate Ziegs

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Musik (atmosphärisch) – darüber:

Sprecher 3:
Wir jungen Ethnologen schauen auf die Arbeit unserer Vorgänger, auf
all die berühmten Vertreter früherer Generationen ziemlich distanziert
und kritisch.

Sprecher 2:
Inwiefern?

Sprecher 3:
Ihr Exotismus, ihre Sehnsucht nach dem ganz Anderen, ist uns eher
fremd geworden.

Sprecher 1 – trocken:
Ein fiktiver Dialog zwischen zwei Ethnologen…

Musik – darüber:

Sprecher 2:
Was meinen Sie damit: Die Sehnsucht nach dem Anderen ist Ihnen
fremd geworden?

Sprecher 3:
Wissen Sie, früher ging man in außereuropäische Kulturen, sog das
vermeintlich Exotische in sich auf, kehrte zurück und beschrieb, mit
sehr viel Phantasie und Projektionen aufgeladen, die anderen
Lebensformen, sozialen und gesellschaftlichen Verhältnisse, die
Mythen, Riten und die Kunst.

Sprecher 2:
Und heute?

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Sprecher 3:
Unser Ausgangspunkt ist ein anderer. Um Fremdheit zu erfahren,
müssen wir nicht nach Afrika, Asien oder Südamerika gehen. Heute
beginnt der Exotismus in der eigenen Kultur: ob im Kindergarten, der
Schule, der Universität, im Berufs- und Alltagsleben, wir leben
unmittelbar in größtmöglicher kultureller Vielfalt.

Sprecher 2:
Aber warum studieren Sie dann noch Ethnologie und gehen auf Reisen,
wenn Sie doch so viel Fremdheit zuhause haben?

Sprecher 3:
Auch für das Verstehen und die Erforschung der eigenen Kultur bedarf
es des ethnologischen Blicks. Wir sind Ethnologen, auch ohne dass wir
unsere Kultur verlassen.

Sprecher 2:
Aber die Frage bleibt trotzdem: Gibt es nicht doch einen ganz tiefen
Wunsch nach der Erfahrung einer Fremdheit, außerhalb unserer
westlichen Gesellschaften? Und ist das Fremdverstehen nicht weiterhin
ein grundsätzliches Problem, auch wenn wir tagtäglich in einer mit so
viel Unvertrautem aufgeladenen Gesellschaft leben und eigentlich damit
vertraut sein müssten? Und gibt es nicht auch heute, so wie für die
Ethnologen früherer Generationen, ein Spannungsverhältnis von eigener
und fremder Kultur, und eine Sehnsucht nach echten Gegenwelten, die
uns aufbrechen lässt, und zwar mit vollem Risiko?

Musik allmählich weg

Sprecher 1:
Dies ist ein fiktiver Dialog, wie gesagt. Dennoch zeigt er: Die
Globalisierung verändert die Ethnologie. Die Differenzen zwischen den
Gesellschaften sind – im Zeichen weltpolitischer, weltökonomischer und

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technologischer Entwicklungen – geringer geworden. Und doch bleiben
grundsätzliche Fragen der Ethnologie bestehen, etwa die Frage nach
dem Verhältniss von Selbst- und Fremdverstehen.

Das Internet nährt die Illusion, alles sei uns zugänglich, die ganze
Welt könne man von zuhause aus erleben. In Wahrheit aber ist die “terra
incognita”, von der frühere Reisende sprachen, für die eigene Erfahrung
keineswegs verschwunden. Und es bedarf mehr denn je des
ethnologischen Blicks, um die eigene Kultur und fremde Gesellschaften
zu verstehen. Es bleibt die Aufgabe der Ethnologen, fremde Traditionen
und Lebensformen, gesellschaftliche, soziale und kulturelle Strukturen
nahe zu bringen. Der amerikanische Ethnologe Clifford Geertz hat eine
sehr einfache Formel für diesen Prozess gefunden.

Sprecher 2:
“Das Verstehen der Kultur eines Volkes führt dazu, seine Normalität zu
enthüllen, ohne daß seine Besonderheit dabei zu kurz käme.”

Sprecher 1:
Mark Münzel, der bis 2009 Völkerkunde an der Universität Marburg
lehrte, beschreibt die Besonderheit der ethnologischen Zugangsweise
zur Gesellschaft, zur Kultur und zur Zivilisation so:

O-Ton (Münzel):
“Das Besondere der Ethnologie ist, dass sie eigentlich immer nur
versucht zu verstehen, nicht aber zu korrigieren. Sie beobachtet, sie hört
zu, sie versucht sich einzuleben, einzufühlen, aber sie will nicht
unbedingt, wie etwa die Soziologie, verändern. Die Soziologie hat viel
zu tun mit Planung, auch viel zu tun mit der Moderne, die
Altersstrukturen aufbrechen will. Das lehnt die Ethnologie nicht ab, aber
es ist nicht so sehr das Geschäft der Ethnologie. Wir verändern ständig
durch unsere Existenz etwas, und Wissenschaft auch, aber die Absicht
ist nicht so sehr die der Veränderung. Sie ist nicht die der Verbesserung

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oder die der Planung. Es ist eher ein Hinweis darauf, dass Planung
meistens scheitert.” (0,52 min.)

Sprecher 1:
Was wir von anderen Menschen und Kulturen wissen, wird uns stets
durch eine bestimmte Form der Darstellung vermittelt – zum Beispiel
durch eine Erzählung, eine Reportage oder eine wissenschaftliche
Untersuchung. Unser Verständnis oder Unverständnis fremden
Gesellschaften gegenüber hängt vom Aufbau der Texte, der gewählten
Diskurse ab. Angesichts der weltweiten multi-ethnischen Gesellschaften
in einer globalisierten Welt stellt sich diese Frage bereits unmittelbar
vor der eigenen Haustür. Noch einmal Clifford Geertz:

Sprecher 2:
“Nicht die seltsamen Fakten und auch nicht die noch seltsameren
Erklärungen, die ein Autor vorbringt, machen ihn zu einem
intellektuellen Helden. Es ist die besondere Form des Diskurses, die
einer erfindet, um diese Fakten zu entfalten und diese Erklärungen zu
entwerfen.”

Sprecher 1:
Der Blick des Ethnologen von seinem Standpunkt auf die andere Kultur
schien lange Zeit ausreichend durch das Forschungssetting beschrieben
und in seiner einseitigen Zielrichtung eindeutig zu sein: wir blicken von
hier auf die anderen dort. Aber wer über “die anderen” schreibt, liefert
zugleich einen Kommentar zur eigenen Gesellschaft. Claude Lévi-
Strauss, der große französische Ethnologe, hat in seinem Buch Traurige
Tropen von einem “ethnographischen Dilemma” gesprochen:

Sprecher 2:
“Welche Wahl der Ethnograph für seine Untersuchungen trifft, ist eng
mit der Haltung seiner eigenen Gesellschaft gegenüber verbunden. Er
kann ihr weiterhin verpflichtet bleiben oder sich von ihr lösen und seine

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Unangepaßtheit nun vollenden. In beiden Fällen steht seine Objektivität
in Frage: im ersten Fall unterwirft er die beobachtete Kultur den
Normen, Auffassungsweisen und Begriffen seiner eigenen Gesellschaft;
im zweiten Fall glaubt er weitgehend ohne diese auszukommen und in
der Identifikation mit der fremden Kultur die richtige, die angemessene
Darstellungsform zu finden.”

Sprecher 1:
Das an der anderen Kultur festgestellte Fremdartige gibt immer auch
Aufschluss über unsere Kultur und darüber, was wir als “fremdartig”
verstehen. Mark Münzel beschreibt diesen wechselseitigen Prozess so:

O-Ton (Münzel):
“Oft ist es so, das gilt nicht nur für die Ethnologie, dass wir dann, wenn
wir mit etwas Fremden konfrontiert werden, gar nicht so sehr das
Fremde sehen wollen, sondern das, was uns irgendwie verwandt ist. Ich
war mal mit Studierenden in Spanien und jeder Studierende, jede
Studentin konnte sich ein Thema auswählen zur Beobachtung. Und es
war interessant, dass zum Beispiel Themen ausgewählt wurden wie
“Radfahrer in der Stadt”, was in Spanien eigentlich ziemlich abwegig
ist. Im Grunde sucht sich jeder ein Thema aus, das ihm gefällt, und das
Fremdartige, das wir zu erkennen versuchen, ist immer das, was uns
irgendwie schon anspricht. Es gibt Ethnologen, die befassen sich mit
Religion, vielleicht weil sie auch Interesse für Religion haben, andere
mit gesellschaftlichen Konflikten, vielleicht weil Konflikte sie
überhaupt beschäftigen. Insofern ist das Thema, mit dem wir uns
befassen im Fremden, meistens ein Thema, das auf uns selber
Rückschlüsse erlaubt.”

Sprecher 1:
Das gesellschaftliche und politische Geschehen bietet ständig neue
Gelegenheiten für die ethnologische Tätigkeit, für den ethnologisch
forschenden Blick aufs Fremde. Ein letztes Großereignis, bei dem

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plötzlich auch die Journalisten, zu Hobbyethnologen wurden, war die
Fußballweltmeisterschaft im vergangenen Jahr. Mit Freude darüber, dass
Südafrika, dass ein anderer Kontinent und dessen Kulturen unsere
Aufmerksamkeit auf sich zogen, und mit Enttäuschung darüber, wie dies
geschah, sah man einen klischeehaften bunten Bildermix aus wilden
Tieren, wilden (tanzenden und seltsame Rituale praktizierenden)
Menschen, Szenen traumhaft schöner Landschaft und bitterster Armut
an sich vorüberflimmern.

Wie soll daraus ein Bewusstsein von der komplexen Realität der
südafrikanischen Kulturen und Gesellschaften entstehen? Hat es am
Ende eher schädliche Auswirkungen auf unser Verständnis für andere
Ethnien, deren Sozialstrukturen, Mythen, Künste und Rituale, wenn man
etwa einen Schamanen zu einer Witzfigur degradiert und wir fortan
afrikanische Lebensfreude nur noch mit dem Blasen von Vuvuzelas
verbinden?

Der ethnologische Blick, der bei solchen globalen Ereignissen


geschärft werden könnte, wird völlig verfehlt. Das Verständnis für das
Fremde und so genannte “Fremdartige” wird so nicht größer.
Nachhaltige Ansatzpunkte für Empathie und intellektuelle oder
emotionale Partizipation werden nicht geliefert. Bezeichnenderweise trat
ja auch in keiner der ungezählten Sendungen aus Südafrika ein
Ethnologe auf.

(((Hat die Ethnologie überhaupt einen Einfluss auf die


Berichterstattung über außereuropäische Kulturen? Mark Münzel, der
unter anderem Probleme von ethnischen Minderheiten erforschte,
schätzt den Einfluss der Ethnologie eher skeptisch ein:

O-Ton (Münzel):
“Natürlich folgen Medien anderen Gesetzen als Wissenschaft. Insofern
ist es außerordentlich schwierig, auf die Medien Einfluss zu nehmen,

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beziehungsweise was immer wir den Medien sagen, wird von denen
aufgenommen auf eine andere Weise. Und das Publikum nimmt es dann
noch einmal anders auf. Deshalb ist natürlich der Einfluss relativ gering.
Aber ich glaube schon, dass es möglich ist, manchmal Themen
hineinzubringen, die dann allerdings verändert werden, also der Weg
von der wissenschaftlichen Meinung zur Umsetzung in der Meinung des
Medienpublikums ist natürlich sehr lang und es gibt immer
Verzerrungen. Und wenn eine Meinung andocken kann an das, was
Ethnologen oder Religionswissenschaftler oder Islamkundler sagen,
dann kann das einen Erfolg haben.”)))

Sprecher 1:
Auch bei politischen Ereignissen werden Ethnologen nur in
Ausnahmefällen zu Rate gezogen. Es war eine Besonderheit, dass der
Kulturanthropologe Constantin von Barloewen kontinuierlich mit den
früheren Bundespräsidenten Johannes Rau, Roman Herzog und Richard
von Weizsäcker über das Projekt eines “Europäischen Parlaments der
Kulturen” sprach und den ehemaligen Außenminister Klaus Kinkel auf
einer Südamerika-Reise begleitete. Bei den Auslandsreisen von Guido
Westerwelle scheinen wirtschaftliche Interessen so ausschließlich im
Vordergrund zu stehen, dass die Delegationen von Ethnologen nur
irritiert würden. Auch für die Beurteilung von gesellschaftlichen
Situationen und Konflikten, in die Deutschland nicht unmittelbar
involviert ist, werden Spezialisten der daran beteiligten Gesellschaften,
Kulturen und Ethnien selten um Rat gefragt.

Aber kann man eine derart gewalttätige Auseinandersetzung wie die


zwischen Kirgisen und Usbeken in Kirgistan im Juni 2010, bei der die
im Lande lebende ethnische Minderheit der Usbeken praktisch
ausgerottet wurde, ohne ethnologische Kenntnisse wirklich verstehen?
Das Gleiche gilt für die ethnisch und religiös geprägten Konflikte etwa
in Afghanistan. Warum spielen die Ethnologen in der Politik und in den
Medien eine so geringe Rolle?

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1.O-Ton (Münzel):
“Es gibt manchmal durchaus Politiker, die sich ethnologischer
Erkenntnisse bedienen. Der Punkt ist nur, dass ist das Gleiche wie mit
den Medien: Die Politik hat ihre eigenen Gesetze. Und die Politik greift
eigentlich nie direkt im O-Ton auf Wissenschaft zurück, sondern sie
bedient sich der Wissenschaft, wenn das ihr irgendwie passt. Sie holt
sich Gutachter, die im Allgemeinen natürlich so ausgewählt werden,
dass sie den Ansichten der Politiker entsprechen. Und ganz allgemein -
das gilt nun allerdings genauso für die Soziologie, für die
Politikwissenschaft, ganz allgemein werden wissenschaftliche
Erkenntnisse eigentlich in der Politik nicht direkt angehört. Es gibt
bestimmte langfristige Einflüsse, die eher indirekt laufen. Zum Beispiel
hat sich in der Politik die Bedeutung des kulturellen Faktors, etwa in der
Entwicklungskooperation, durchaus durchgesetzt. Man weiß, das ist
wichtig, und das kommt zum Teil auch - nicht nur, aber zum Teil auch
von der Ethnologie.”

Sprecher 1:
Das klassische Studienobjekt der Ethnologie waren die früher so
genannten “primitiven” Gesellschaften. Viele der grundlegenden
Differenzen zu den westlichen Gesellschaften haben sich inzwischen
aber aufgelöst. Die Ethnologen werden also von der geschichtlichen
Entwicklung dazu gezwungen, sich neu zu orientieren. Nach einem
Vergleich von Claude Lévi-Strauss steht speziell der Ethnograph dem
Verfall alter Kulturen wie der Astronom den sich von uns entfernenden
Sternen gegenüber, deren schwindende Lichtkraft er mit Hilfe von
elektronischen Verstärkern auszugleichen sucht.
Die Verstärker und Apparaturen - die Verfahrensweisen -, mit denen
die Ethnologen operieren, bedürfen ständiger Überholung. Weltweite
Migrationsbewegungen erzwingen geradezu eine verstärkte
Aufmerksamkeit. Gleichzeitig beobachten wir die Zunahme ethnischer
Identitätsbestrebungen: Kulturen und auch regionale Ethnien beharren

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auf ihrer eigenen Identität. Wie weitgehend muss sich die Ethnologie
jenseits ihrer früheren kolonialistischen “Aufträge” erneut in fremde
Angelegenheiten einmischen?

2. O-Ton (Münzel):
“Ich glaube, leichter ist es, sich einzumischen in Fällen, die uns direkt
angehen in unserem Land. Ethnologen haben durchaus etwas zu sagen
zum Islam in unserem Land. Sie haben etwas zu sagen zum
Kopftuchstreit und sie haben etwas zu sagen zum sogenannten
Fundamentalismus.”

Sprecher 1:
Der Ethnologe Fritz Kramer, der bis 2009 Kunstethnologie in Hamburg
lehrte, bewertet die Situation so:

O-Ton (Kramer):
“Das wird man für jeden einzelnen Fall extra beantworten müssen
einerseits, und andererseits ist es für jeden einzelnen Ethnologen eine
Frage des persönlichen Gewissens. Wenn man etwa der Meinung ist,
dass der Bundeswehreinsatz in Afghanistan richtig ist oder jedenfalls
gerechtfertigt werden kann, dann muss man sich als Ethnologe
ehrlicherweise auch sagen, es ist besser, wenn dieser Einsatz kompetent
beraten ist als inkompetent beraten.”

Sprecher 1:
Zugleich entsteht damit ein neues Problem: Wenn der Ethnologe den
Einsatz für nicht gerechtfertigt oder für aussichtslos hält, könnte er sein
Engagement nur schwer rechtfertigen.

Fortsetzung 6. O-Ton:
“In jedem anderen Fall, etwa jetzt in den 90er Jahren bei dem Genozid
in Ruanda, sind die Wissensfragen sicher sehr viel leichter zu beurteilen.
Nur in dem Fall ist es offensichtlich nicht möglich gewesen, Politiker

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oder Militärs von der Richtigkeit und Notwendigkeit eines Einsatzes zu
überzeugen. Und selbst wenn es gelingt, Politiker von der
Notwendigkeit eines Einsatzes zu überzeugen, kann das den Politikern
sehr oft nicht gelingen, das ihrer Öffentlichkeit oder ihren Wählern zu
vermitteln. Insofern sehe ich die Möglichkeiten der Ethnologie, hier
tätig zu werden, potentiell sehr groß, realistisch eingeschätzt im
Moment aber relativ geringfügig.”

Sprecher 1:
Die Ethnologie mag sich durch ihr Engagement in ihrer
gesellschaftlichen Relevanz aufgewertet sehen. Und doch kann dieser
ihr mehr indirekt zugewachsene Stellenwert nicht darüber
hinwegtäuschen, dass sie für die Gesellschaft und die Politik ihres
eigenen Landes eine äußerst periphere Rolle spielt und wohl auch
spielen soll. Denn hätten die deutschen Politiker die Ethnologen gefragt,
ob sie etwa in Somalia oder Afghanistan eingreifen sollten, hätten diese
ihnen dringend, aus Kenntnis der Lage, davon abgeraten. Aber wäre dies
im Interesse der politischen Strategie gewesen? Fritz Kramer:

O-Ton (Kramer):
“Das kommt drauf an. ((Inter-ethnische oder inter-religiöse Konflikte
sind im Allgemeinen außerordentlich komplex und nicht in drei Worten
zu erklären. Politiker haben oft nicht die Geduld und auch oft nicht die
Voraussetzungen, das zu verstehen. Andererseits sind die Politiker
offenkundig lernfähig.)) In Afghanistan zum Beispiel dachten Politiker
zunächst, sie könnten dort einen Rechtsstaat mit Gleichberechtigung der
Frau und Demokratie und moderner Marktwirtschaft einführen.
Ethnologen haben das von Anfang an gewusst, dass es nicht geht. Aber
inzwischen haben die Politiker natürlich gelernt, dass ihre maximalen
Vorstellungen nicht durchsetzbar sind, und nun suchen sie nach
Auswegen, nach Rückzugsmöglichkeiten, um den größten Schaden
abzuwenden. Und da hätten die Ethnologen schon eher Chancen,

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beratend einzugreifen. Im Übrigen tun sie das auch im Zusammenhang
mit den Nachrichtendiensten und auch mit der Bundeswehr.” (1,05 min.)

Sprecher 1:
Politiker spüren, dass sie in kriegerischen Auseinandersetzungen ohne
einen verstehenden Blick auf die fremde Kultur auf verlorenem Posten
sind. So lautete bereits zu Ende der Bush-Ära das von der US-Armee für
den Irak und Afghanistan ausgegebene Motto: “Die Gastkultur
verstehen lernen”. Erst war es nur eine etwas halbherzige und noch nicht
von Erfahrungen und Erkenntnissen getragene Losung. Die US-Armee
war ja ganz auf die Zerstörung der sogenannten “Achse des Bösen”
fixiert und beherrscht von der Idee, sie könne durch Krieg Frieden
herstellen und so aus antidemokratischen Gesellschaften demokratische
machen. Eine Vorstellung von dem kulturellen Reichtum und der
ethnischen Vielfalt und Komplexität der Gesellschaften im Nahen und
im Fernen Osten hatte sie nicht.
Die in dieser Hinsicht wichtigste Erweiterung in der Ethnologie ist
die Ethnopsychoanalyse. Sie ist die bewusste Aufnahme affektiver,
gefühlsmäßiger Beziehungen mit Menschen anderer Kulturen, das
bewusste Erleben der sich dabei entwickelnden vielschichtigen Prozesse
und Verläufe. Ihr Ziel ist die Überwindung und Deutung von Konflikten
und das Erkennen eigener Verzerrungen und Projektionen.
Fritz Morgenthaler, Paul Parin und Goldy Parin-Matthèy schrieben in
den 1980er Jahren:
Sprecher 2:
“In den psychoanalytisch orientierten Gesprächen versucht man,
Schranken und Hindernisse in der Kommunikation wegzuräumen, indem
man sie zur Sprache bringt, Widerstände deutet, bewußt macht und so zu
ihrer Überwindung beiträgt.”
Sprecher 1:
Der psychoanalytisch geschulte Ethnologe versucht seine blinden
Flecken zu verkleinern, seine kulturspezifischen Einstellungen und
Beurteilungskriterien in ihrer verzerrenden Auswirkung so gering wie

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möglich zu halten. Seine Forschung wird nicht dadurch objektiv, dass er
sich als Teil der Beobachtungs- und Erkenntnissituation ignoriert,
sondern in dem Maße, wie er diese Abhängigkeiten thematisiert, sie
ausdrücklich mit in die Untersuchungen einbezieht. Haben wir es hier
mit einem der entscheidenden Paradigmenwechsel in der Ethnologie zu
tun? Fritz Kramer:

O-Ton (Kramer):
“Ich verstehe Ethnopsychoanalyse und Ethnopoesie als Teile der
Moderne, die wir heute die klassische nennen, und insofern ist sie mit
dieser Moderne jetzt eben auch ins Klassische entrückt, das heißt, sie hat
einerseits einen gesicherten Posten im Archiv unseres kulturellen
Wissens, und andererseits kann sie keine unmittelbare Aktualität
beanspruchen. Ganz ähnlich, aber auch wieder anders liegt die Frage,
wenn wir der Aktualität zum Beispiel der ethnologisch dokumentierten
Kunst und Literatur und Musik nachgehen. Die Musik aus Afrika hat
eine große Präsenz im Rahmen der sogenannten Weltmusik. Da ist sie
absolut öffentlich präsent. Die afrikanische Kunst in der klassischen
Moderne, die so bedeutsam war, ist sehr stark in den Hintergrund
getreten und wird nur noch von kleinen Fankreisen rezipiert.”

Sprecher 1:
Fachübergreifende wissenschaftliche Institutionen, die sich der
außereuropäischen Kunst öffnen, könnten ihr einen ganz neuen
Resonanzboden schaffen und sie wieder öffentlich zur Wirkung bringen.

Fortsetzung 8. O-Ton:
“Das Gleiche denke ich auch von der Dichtung, der mündlichen
Dichtung etwa Afrikas, Ozeaniens oder des indigenen Amerikas. Wenn
man den geeigneten Vermittlungsraum findet, das heißt sie nicht nur
einfach übersetzt, sondern zum Beispiel in Filmessays präsentiert, so
dass die visuellen, performativen und auditiven Elemente, die den Reiz

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dieser Dichtung ausmachen, mittransportiert werden, was sie bei
gedruckten Texten natürlich nicht können.”

Sprecher 1:
Auch dies verdeutlicht, wie stark unser Wissen vom Fremden auf
Vermittlung und Darstellung angewiesen ist. Der scheinbar so objektive,
ganz auf Fakten konzentrierte “Theoretiker” oder “Empiriker” erklärt
vor allem seine eigenen Erklärungen. Wir wissen heute: Aussagen, die
der Sozialwissenschaftler und der Ethnologe treffen, sind Aussagen, die
sie an sich selbst - an ihrer Position als Beobachter und Interpreten -
gemacht haben. Alles, was ihnen von Informanten zugetragen wird, ist
bereits für diese Situation bearbeitet, übersetzt, vernünftig formuliert
worden. Jedes allgemeine Wissen trägt die Spuren solcher
Veränderungen und verdeckter Daten. Fremderklärungen entstehen im
Spannungsfeld des Sprechens für andere und der Selbstverständigung.
In jedem und aus jedem Text sprechen viele Autoren. Jeder Text ist ein
dichtgewobenes Bündel von Perspektiven und Sprachen: ein Zentrum
vieler Blicke und Einstellungen. Noch einmal die Frage nach dem
Paradigmenwechsel. Waren der Einfluss der Linguistik und der
geschärfte Blick für die sprachliche Form eines ethnologischen Textes
Paradigmenwechsel?

O-Ton (Kramer):
“Die Linguistik war von Anfang an Teil der Ethnologie. Ich sehe da
nicht so sehr einen Paradigmenwechsel. In der öffentlichen
Wahrnehmung hat sich Folgendes meines Erachtens verändert: Die
Ethnographie der Moderne war nie auf das rein Faktische festgenagelt,
sondern sie hatte immer auch die Potenz, das Wirkungspotential, den
Leser an einen anderen Ort zu führen, zu versetzen und unter andere
Menschen; eine Funktion, die der des modernen Romans sehr ähnlich
ist, ja sehr nahe kommt. Diese Funktion haben im Bezug auf die
Gegenwart aber längst Schriftsteller aus Afrika, Ostasien, Indien
undsoweiter übernommen. In diesem Zusammenhang ist die Ethnologie

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obsolet geworden, kann man sagen. Sie erfüllt diese Aufgabe nicht mehr
und sie braucht sie auch nicht mehr zu erfüllen.” (0,55 min.)

Sprecher 1:
Die ethnologische Erfahrung spielt sich im intellektuellen, vitalen und
emotionalen Zentrum des Beobachters, in seinen inneren Reaktionen ab.
Es besteht eine Resonanzbeziehung zwischen Beobachter und
Beobachtetem - der Ethnopsychoanalytiger Georges Devereux hat in
seiner Studie Angst und Methode in den Verhaltenswissenschaften dafür
die prägnante Formel gefunden:

Sprecher 2:
“Jede Beobachtung ist eine Beobachtung am Beobachter.”

Sprecher 1:
Die mit der psychoanalytischen Interviewtechnik arbeitende Ethnologie
zeigt, wie fruchtbar der auf die eigene Kultur angewandte Blick zur
Erkenntnis des scheinbar Selbstverständlichen und Normalen ist.
Kann die Ethnologie den Fremden und das Fremde in den westlichen
und in den außereuropäischen Gesellschaften deuten und dabei
behilflich sein, die Vorurteile, die rassischen, religiösen, ethnischen und
nationalen Ideologien aufzulösen?
Geht jemand in eine gänzlich fremde Kultur, erweitert sich in der
Regel sein Horizont. Aber zumeist behält er auch eine Reihe von
Klischees und alten Ansichten bei, ja, oft findet er sie sogar bestätigt.
Dies ändert sich schlagartig, wenn Menschen, bei denen er sich etwa in
Afrika, Polynesien oder Indonesien aufgehalten hat, zu ihm kommen
und nun ihm die Enge und Begrenztheit seiner Kultur widerspiegeln. So
schrieb Claude Lévi-Strauss in den 1960er Jahren:

Sprecher 2:
“Unsere Wissenschaft würde möglicherweise wieder Boden gewinnen,
wenn afrikanische oder melanesische Ethnologen, im Austausch gegen

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die Freiheit, die sie uns zugestehen, zu uns kämen und hier dasselbe
täten wie wir früher bei ihnen.”

Sprecher 1:
Claude Lévi-Strauss und Michel Leiris sprachen in diesem Sinn von der
Notwendigkeit einer “lokalen Ethnographie”.
Die Differenzen zwischen den Kulturen sind in einer globalisierten
Welt geringer geworden. Aber die Prozesse der Vereinheitlichung und
Transnationalisierung in der Ökonomie verschleiern auch viele der
komplexen Prozesse, die sich in den Lebensbezügen eines jeden
Einzelnen abspielen. Neben der beeindruckenden Übermacht
weltpolitischer und ökonomischer Vorgänge in dieser Welt des
Nützlichen und der scheinbar rational legitimierten Zwänge gibt es
immer auch eine Welt des Individuellen und Widerständigen.
Wie, auf welche Weise, kann eine moderne Ethnologie, im Verbund
mit Soziologie, Medientheorie, Philosophie, Geschichtswissenschaft
und Psychoanalyse uns dabei helfen, komplexe Vorgänge einer sich
verändernden Identität besser zu verstehen; zu verstehen, wie sich
ökonomische und medientechnische Entwicklungen verselbständigen
und sich auch von den Interessen und Wünschen der Menschen
abkoppeln können? Fritz Kramer:

O-Ton (Kramer):
“Auf die Globalisierung hat die Ethnologie bereits reagiert, und zwar
zeitgleich mit dem letzten großen Globalisierungsschub in den 90er
Jahren. Sie musste darauf reagieren, weil die Ethnologie definiert ist
durch ihre Methode, nämlich die teilnehmende Beobachtung in der
ethnographischen Feldforschung. Und die ist nur in der Gegenwart
möglich. Man kann mit der teilnehmenden Beobachtung keine
vergangenen Gesellschaften erforschen. Und gegenwärtig sind alle
Gesellschaften translokal, das heißt in irgendeiner Weise in die
Globalisierung einbezogen.”

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