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Ausgabe 2001/01

Januar/Februar

Josef Gabriel Rheinberger


Ein Lebensbild zu seinem 100. Todestag

Oft steht am Beginn des Lebens eines großen Menschen der Zufall oder eine glückliche
Fügung. So war es Zufall, dass der Südtiroler Unterlehrer Sebastian Pöhly 1844 nach Schaan in
Liechtenstein verschlagen wurde.

Ebenso ein Zufall war es, dass ihn der fürstliche Rentmeister Johann Peter Rheinberger ins
benachbarte Vaduz holte, damit er seinen Töchtern Hanni (Johanna) und Lisi (Elisabeth) „ein
wenig singen und Gitarre spielen lernen“ (1) sollte. Zufall war es auch, dass er dabei schon früh
das außergewöhnliche musikalische Talent des am 17. März 1839 geborenen Gabriel Josef (2)
entdeckte und derart zu fördern wusste, dass der Siebenjährige den Organistendienst in der dem
Elternhaus benachbarten Florinskapelle übernehmen konnte. – Vaduz, damals ein kleines Dorf mit
einem unbedeutenden Beamtenviertel, einer bäuerlichen Bevölkerung und einem Schloss, in dem
sich das liechtensteinische Militär eingenistet hatte (der regierende Fürst lebte in Wien), konnte
dem jungen Musiker bald nichts mehr bieten. Wieder war es ein Zufall oder eine Fügung, dass der
österreichische Kameralbeamte Schrammel die Musikalität des Knaben bemerkte und den Vater,
der im Künstlerberuf keine Zukunft sah, dazu bewegen konnte, seinen Sohn in das
vorarlbergische Feldkirch zum dortigen Chorregenten Philipp Schmutzer zu senden, nicht ohne
die Bedingung, dass Josef den Organistendienst in Vaduz weiter versehen musste. So kam der
Zehnjährige in die Hände eines tüchtigen Musikers, der ihn weiter zu bilden wusste. Dort
entdeckte ihn der Tiroler Komponist Mathäus Nagiller, der den Vater beschwor, Josef nach
München in die dortige Musikschule zu senden. Es war ohne Zweifel ein schwerer Entschluss für
Johann Peter Rheinberger und zeugt von der Großzügigkeit des Vaters, dass der Zwölfjährige
Ende August 1851 Vaduz verließ, um in der Weltstadt München Musik zu studieren.

Josef Gabriel Rheinberger

Dort war er der jüngste, aber auch der begabteste Eleve, und tüchtige Lehrer unterrichteten ihn:
Emil Leonhard in Klavier, Josef Julius Maier in Kontrapunkt und Komposition und Johann Georg
Herzog auf der Orgel. Was in Vaduz und Feldkirch begann, kam nun zu einer ersten Blüte; viele
Kompositionen entstanden, das meiste Übungsstücke, die er später nicht mehr beachtete, aber
auch das berühmte „Abendlied“ („Bleib’ bei uns, denn es will Abend werden“), das er mit 16 Jahren
schrieb und das er 1873 in den „Drei geistlichen Gesängen“ op. 69 veröffentlichte.
Organistendienste in den Münchner Hauptkirchen, vermittelt durch seinen Lehrer Herzog, erst
„natürlich ohne Gehalt und blos der Übung wegen“ (3), führten unmerklich in die katholische
Kirchenmusik ein und erhöhten später bald einmal das karge Taschengeld.
Auch an der Musikschule gab es einen Zufall oder eine Fügung, die weit reichende Folgen für ihn
hatte; Ende Mai 1853 überprüfte eine königliche Kommission die Zustände, welche zu Klagen
Anlass gegeben hatten. An der Spitze des prüfenden Gremiums stand der Arzt, Geologe und
Musikwissenschaftler Professor Dr. Karl Emil von Schafhäutl (4), der bald einmal das
außergewöhnliche Talent des jungen Rheinberger erkannte, ihn zu sich einlud und bis an sein
Lebensende Mentor und Freund blieb. Diese lebenslange Freundschaft mit dem vielseitigen
Schafhäutl war prägend für die musikalische und allgemeine Erziehung des aufnahmefähigen
Schülers. Durch diese Bekanntschaft wurde er in die auf Orlando di Lasso zurückgehende
Chortradition, aber auch in die von Caspar Ett begonnenen kirchenmusikalischen
Reformbestrebungen in München eingeführt. Unter den Augen seines Mentors vergrößerte sich
seine Schaffensfreude, und vermehrt schuf er Kompositionen, Motetten, Messen, Symphonien,
Quartette, Sonaten, Klavierwerke; auch drei Opernversuche wurden unternommen.

Als Rheinberger 1854 die Musikschule mit einer glänzenden Prüfung abschloss, war es wiederum
Schafhäutl, der zusammen mit Josef Julius Maier eine Reihe von Subskribenten
zusammenbrachte, die es ermöglichten, dass Josef ohne Belastung seines Vaters in München
bleiben und bei Franz Lachner weiterstudieren konnte.

Der Komponist im Jahre 1851 Fotos: Rheinberger-Archiv Liechtenstein

Das Jahr 1859 brachte eine Wende zum Besseren: Der Zwanzigjährige wurde als Klavierlehrer
und ein Jahr später als Kontrapunkt- und Kompositionslehrer an jenes Institut berufen, das er fünf
Jahre zuvor mit besten Zeugnissen verlassen hatte. 1865 bewarb er sich zusätzlich erfolgreich um
die Stelle eines Solorepetitors an der Hofoper, lernte dort Richard Wagner kennen und geriet in die
heftigen und nicht immer mit anständigen Mitteln geführten Kämpfe für und wider diesen Neuerer
der Musik. Durch seine auf den Traditionen der Klassik erfolgte Ausbildung und seine ausgeprägte
Persönlichkeit ließ er sich nicht in das Fahrwasser der Wagnerianer ziehen. Trotzdem schrieb
Wagner an König Ludwig II., als Rheinberger 1867 dem Theater den Rücken kehrte, um an der
nun neu gegründeten „Königlichen Musikschule“ eine Professur zu übernehmen, dass er „die
Wahl des Herrn Professor Rheinberger, als wirklich ausübenden Musiker und Künstler für eine
Bereicherung“ (5) ansehe.

Im selben Jahr fand im Wallfahrtskirchlein von Harlaching in aller Stille die Hochzeit mit der
verwitweten Franziska von Hoffnaaß, geborener Jägerhuber, statt. Sie war eine außerordentlich
gebildete Frau, beherrschte mehrere Sprachen, musizierte und zeichnete. Ihre künstlerische
Begabung äußerte sich aber vor allem literarisch, indem sie Gedichte, aber auch einen
ausgezeichneten Reiseführer „Jenseits des Brenners“ veröffentlichte. Auf ihren Gatten übte sie
einen großen Einfluss aus, beriet ihn in literarischen Fragen, schrieb ihm Texte zur Vertonung, aus
heutiger Sicht oft zwar etwas zweifelhafte, und führte gewissenhaft die Tagebücher sowie die
Korrespondenz und schickte die Kompositionen ihres Gatten an die Verleger. Es war eine
glückliche Ehe, die von Fanny als acht Jahre ältere diskret dominiert wurde.

Die weiteren Jahre waren geprägt durch Erfolge und Ehrungen, aber auch durch Krankheit.
Rheinbergers pädagogisches Geschick wie auch sein wachsender Ruhm als Komponist zog
Musikstudenten aus aller Welt nach München. Seine Werke erklangen in Kirchen und
Konzertsälen, gleichzeitig aber machte ihm seine labile Gesundheit zu schaffen, und an der
rechten Hand zeigte sich ein Leiden, das drei operative Eingriffe notwendig machte, die nur
teilweise erfolgreich waren. Die Hand blieb geschwächt, so dass an eine weitere Tätigkeit als
Pianist und Organist nicht mehr zu denken war. Obwohl ihm auch das Schreiben Schwierigkeiten
bereitete, entstanden immer neue Werke: Messen, Oratorien, Instrumentalkompositionen, und vor
allem 20 Orgelsonaten, mit denen Rheinberger bahnbrechend wirkte, war er doch der einzige
namhafte Komponist der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, der sich ernsthaft der Orgel
widmete und mit Erfolg versuchte, die Errungenschaften der romantischen Tonsprache auf jenes
Instrument zu übertragen.

1877 übernahm er als Königlicher Hofkapellmeister die Leitung der Kirchenmusik an der
Allerheiligen-Hofkirche. Dieses bedeutende Amt zeitigte eine ganze Anzahl weiterer Werke für den
Gottesdienst, darunter den Papst Leo XIII. gewidmeten „Cantus missae“, die „schönste reine
Vokalmesse des 19. Jahrhunderts“ (6). Sie brachte ihm die Ernennung zum Ritter des päpstlichen
Gregoriusordens und damit eine Anerkennung seiner Kirchenmusik von allerhöchster Stelle. Das
war deshalb von Bedeutung, weil die damals bestimmenden Cäcilianer die kirchlichen Werke, vor
allem seine Messen, als zu weltlich ablehnten. (An dieser Haltung des ACV vermochten allerdings
diese und auch weitere Ehrungen nichts zu ändern.)

Erholung von Arbeit und Verpflichtungen wie auch von gesundheitlichen Problemen brachten
Ferienaufenthalte in Vaduz und dem oberbayerischen Wildbad Kreuth. Doch auch dort
entstanden, fernab des Alltags, neue Werke, denn das Komponieren war ihm „ein wundervolles
Mittel, sich über den Zwang des Körpers zu erheben: ein Symbol des Lebens.“ (7)

Ein schwerer Schlag traf den früh Gealterten, als er am 31. Dezember 1892 seine Gattin Fanny
nach schwerer Krankheit verlor. Er überwand diesen Verlust nie ganz. Immer mehr zog er sich aus
der Öffentlichkeit zurück, und lebte neben dem Unterricht einzig für seine Kunst. Ehrungen, die
Verleihung hoher Orden oder des Titels „Geheimrat“, selbst die Erhebung in den persönlichen
Adelsstand ließen ihn gleichgültig. Einzig die Promovierung zum Dr. h.c. der Philosophischen
Fakultät der Universität München zu seinem 60. Geburtstag vermochte noch etwas Freude zu
spenden. Für diese Ehrung bedankte er sich mit einer Festouvertüre in Form einer Fuge zu sechs
Themen, einer „gelahrten Arbeit“ (8), wie er einer jungen Freundin nach Berlin schrieb.
Diese Freundin, Henriette Hecker, die er in Wildbad Kreuth kennen gelernt hatte, war in seinem
letzten Lebensjahr Anlass für eine lange Reihe bedeutender Briefe, in welchen der an sich nicht
sehr mitteilsame Komponist seine Lebensphilosophie zu Papier brachte, zarte Zeugnisse eines
tiefen Lebens.

Am 25. November 1901 starb Geheimrat Professor Dr. Josef Gabriel Ritter von Rheinberger in
seinem Haus an der Fürstenstraße in München im Bewusstsein, sich selber überlebt zu haben.
Immer mehr hatte er sich, angeekelt durch den modernen Kunstbetrieb, zurückgezogen. „Man ist
jetzt überhaupt schnell todt; Mancher ist es schon längst und merkt es nur nicht“ (9) hatte er ein
Jahr vor seinem Hinschied an Henriette Hecker geschrieben. – Auf dem Südlichen Friedhof in
München fand er neben seiner Gattin eine Ruhestätte. Als im 2. Weltkrieg das Grab durch
Bomben zerstört worden war, erfolgte 1949 die Überführung der Gebeine nach Vaduz, wo er,
seinem eigenen Wunsche gemäß, auf dem Friedhof beigesetzt wurde. Dort liegen nun er und
seine Gattin seit 1989 in einem Ehrengrab.
Anmerkungen

1 Brief Sebastian Pöhlys an Franziska Rheinberger vom 3. Juli 1876. [zurück]


2 Das Taufbuch der Pfarrei Vaduz nennt den Namen „Gabriel Josef“, später wurde „Josef Gabriel“
oder einfach „Josef“ daraus. [zurück]
3 Brief an die Eltern vom 1. Februar 1853. [zurück]
4 Vgl. Wilhelm Ernst „Karl Emil von Schafhäutl (1803–1890). Ein bayerisches Universalgenie des
19. Jahrhunderts“. Ingolstadt 1994. [zurück]
5 Brief vom April 1865 an König Ludwig II. [zurück]
6 Otto Ursprung „Die katholische Kirchenmusik“, Potsdam 1931, S. 274. [zurück]
7 Otto Ursprung a.a.O. [zurück]
8 Brief an Henriette Hecker vom 1. Januar 1901.[zurück]
9 Brief an Henriette Hecker vom 9. Dezember 1900 [zurück]

Harald Wanger

Der Autor
Harald Wanger, geboren 1933 in Schaan/Liechtenstein. Lehrer, ab 1960 auch Archivar des Josef-
Rheinberger-Archivs in Vaduz, seit 1989 vollamtlich. Seit 1998 im Ruhestand. Zahlreiche Arbeiten
über Josef Rheinberger, unter anderem „Josef Gabriel Rheinberger und die Kammermusik“ (St.
Gallen 1978), „Josef Gabriel Rheinberger – Briefe und Dokumente seines Lebens“ (zusammen mit
H. J. Irmen, 9 Bände, Vaduz 1982–1986), „Josef Gabriel Rheinberger – Leben und Werk in
Bildern“ Stuttgart 1998, sowie über Geschichte und Landeskunde des Fürstentums Liechtenstein.

Ausgabe 2001/02
März/April

„Musik steht über dem Wort“


Gedanken zu Rheinbergers Gesamtwerk (II. Teil)
(Teil I )

Im Dezember 1853 schrieb der vierzehnjährige Josef Rheinberger als Eleve der Hauser’schen
Musikschule in München in einem Brief nach Hause: „...überhaupt habe ich zu kirchlichen
Kompositionen mehr Lust und Talent als zu anderen.“ (1) Dies mag aus der damaligen Situation
durchaus zutreffend gewesen sein; übersieht man jedoch sein gesamtes Werk, so wird man bald
einmal feststellen, dass die geistlichen Werke zwar einen gewichtigen Teil davon ausmachen,
keinesfalls jedoch gegenüber anderen Kompositionen überwiegen. Dies gilt für die damaligen
Jugendwerke, welche Rheinberger später großenteils nicht mehr zählte, wie auch für seine
veröffentlichten Arbeiten. Unter den letzteren befinden sich außer 14 Messen, Motetten, Hymnen,
Oratorien und so weiter zwei Opern, begleitete und unbegleitete Chorwerke, aber auch zwei
Sinfonien, Ouvertüren, Solokonzerte, Kammermusik in jeglicher Besetzung, Klaviermusik und
Orgelkompositionen, darunter die zwanzig bedeutenden Orgelsonaten, mit denen er in einer Zeit,
in welcher die Orgel nicht viel bedeutete, Neuland betreten hatte. 197 mit Opuszahlen versehene
Kompositionen verzeichnet der Werkkatalog, eine große Zahl, vor allem, wenn man bedenkt, dass
ihr Urheber fast ein Leben lang mit gesundheitlichen Problemen zu kämpfen hatte.

Josef Gabriel Rheinberger und seine Gattin Fanny von Hoffnaaß.


Foto: Josef Rheinberger-Archiv, Vaduz

Die Reihe beginnt mit vier kleinen Klavierstücken (2), harmlose Tanzsätzchen im Dreiertakt, und
endet mit dem Fragment einer Messe in a-Moll (3), die nach Ausweis der Skizzen „Missa omnium
sanctorum“ heißen sollte. Sie bricht im Credo mit den Worten „Et resurrexit tertia die secundum
scripturas“ ab, während die Skizzen bis zum Sanctus gediehen sind und mit einem
Auflösungszeichen ohne nachfolgende Note enden.
Dazwischen liegen eine große Zahl von Kompositionen, in denen sich vokale und instrumentale
Werke ungefähr die Waage halten. Einiges davon scheint seiner Zeit verhaftet, anderes – im
vokalen Bereich – krankt an den Texten, doch Mittelmäßiges oder gar Schlechtes findet man nicht;
Rheinbergers Größe beruht auf der Selbstverständlichkeit, mit der er die kompositorischen Mittel
einsetzte, in seinem absoluten Musikertum, dem er verhaftet war. Seine Wurzeln reichten zu
Mozart, den er besonders liebte, zu Beethoven und Schubert und vor allem zu Johann Sebastian
Bach. In ihnen sah er seine Vorbilder. Komponieren war für ihn nicht Warten auf eine Eingebung,
sondern Arbeit, die auch dann getan werden muss, wenn der Körper durch Krankheit behindert ist.
Aus demselben Grund stellte er auch die Musik über das Wort. Obwohl sehr belesen, war er nicht
der literarische Musiker, der sich dem Wort fügte. Daraus resultiert letztlich auch seine relative
Unbekümmertheit liturgischen Texten – vor allem in Messen – gegenüber, die ihm (wie auch seine
zu „moderne“ Art der Komposition) von den Cäcilianern zum Vorwurf gemacht wurde. (Sein
Schüler Josef Renner jun. wollte diesem Umstand abhelfen. Er bereinigte und ergänzte die
Messen, indem er Intonationen einfach wegließ, vergessene Wörter einfügte und sie chromatisch
anreicherte, was die von Rheinberger sorgfältig gestalteten Proportionen zerstörte.) In 14 Messen
zeigt sich das Bild eines tiefreligiösen und strenggläubigen Meisters, der sich als polyphoner
Gestalter und absoluter Musiker durch das Gezänk der damaligen Cäcilianer nicht beeindrucken
ließ. Vor allem die doppelchörige Messe in Es-Dur, die ihm eine päpstliche Anerkennung
einbrachte, oder die Orchestermesse in C-Dur sind schönste Beispiele seiner tiefen Frömmigkeit,
aber auch seiner wohlausgewogenen Ökonomie, sprengen sie doch nie die liturgischen
Anforderungen in Aufbau und Länge.
Subjektive Religiosität und mangelnde Kirchlichkeit, die man ihm vorwarf, haben in seinen
oratorischen Werken keine Bedeutung. So ist das große Requiem in b-Moll op. 60 eine der
bedeutendsten Vertonungen der Totenmesse im 19. Jahrhundert, getragen vom Geiste der
Zuversicht und der Hoffnung, während die Weihnachtskantate „Der Stern von Bethlehem“ auf
einen Text seiner Gattin Fanny von Hoffnaaß sich als eines seiner volkstümlichsten Werke zeigt.
Sie sind, wie auch das Oratorium „Christoforus“, für den Konzertsaal geschrieben, und es macht
den Anschein, dass vor allem die beiden ersten dort bald wieder heimisch werden.

„Dass alle Stimmen singen sollen, lernte man bei ihm ganz besonders“, schreibt einer seiner
prominentesten Schüler, Ermanno Wolf-Ferrari(4). Diese Forderung finden wir in allen seinen
Werken, nicht zuletzt auch in den geistlichen und weltlichen Chorwerken bestätigt. Auch im
Bereiche der profanen Chormusik findet sich manches, dessen Belebung (oder Wiederbelebung)
längst überfällig ist, so etwa jene glücklichen Eingebungen der Ballade für Männerchor und
Orchester „Das Tal des Espingo“ op. 50 oder das türkische Liederspiel „Vom goldenen Horn“ op.
182 für gemischten Chor und Klavier. Aber auch unter den übrigen Chorwerken finden sich Perlen
romantischer Musik, die nur darauf warten, gehoben zu werden. In diesen Bereich gehören auch
seine Lieder für Singstimme und Klavier. Mögen die Texte hie und da dem Zeitgeschmack
entsprechen, so spricht das Herz Rheinbergers in diesen kleinen Werken, und oft sind sie von
einer Schönheit, die sie den Großen des Liedgesanges, Schubert, Schumann, Brahms, zur Seite
stellt. In ihnen ist, vielleicht mehr noch als in seinen anderen Werken, der Bewahrer der Tradition
fühlbar, der im Zeitalter Richard Wagners bewusst in der Vergangenheit lebte und wirkte, bis er,
vom Neueren übertönt, als beinahe Vergessener resigniert starb.

Dass sich Rheinberger zweimal mit der Oper befasste, ist heute weitgehend vergessen. Trotz
schöner Melodien in den „Sieben Raben“ und in „Türmers Töchterlein“ und trotz mehrfacher
Aufführungen konnten sich die Werke nicht halten. Es fehlt die Dramatik und damit das
Wesentliche der Oper.

Wesentlich glücklicher war Rheinberger auf dem Gebiet der Instrumentalmusik, auch wenn seine
beiden Sinfonien, die Wallenstein-Sinfonie in d-Moll op. 10 und die Florentiner-Sinfonie in F-Dur
op. 87, heute kaum mehr aufgeführt werden. Es ist vor allem die Kammermusik, die besticht. Fast
jede Gattung hat er bearbeitet, vom Nonett bis zum Duo. Natürlich ist nicht alles auf der gleichen
Höhe der Erfindung, aber immer wieder überrascht die natürliche Frische und der kunstvolle
Kontrapunkt, die Rheinberger glücklich zu verbinden wusste, und man fragt sich oft, wo denn die
Trockenheit sein soll, die man seinen Werken vorwirft. „Akademisch“ soll seine Musik sein (ein
Vorwurf, dem vor Jahren auch Brahms nicht entgangen ist), was immer dies auch heißen mag.
Sind die Themen oft kurzatmig und wenig originell, so ist die Harmonik umso reicher und farbiger.
Dazu weiß er jedem Instrument seine Eigenheit zu entlocken, etwa in der Hornsonate op. 178
oder in den Violinsonaten, von denen die zweite, von e-Moll nach es-Moll transponiert, auch für
Klarinette bearbeitet wurde. Erwähnt werden müssen auch die vier Klaviertrios, das Klavierquartett
und -quintett, wie auch die drei Streichquartette mit einem dicht gearbeiteten 1. Satz im zweiten
(F-Dur op. 147) und eines in Form einer Passacaglia, ein Variationensatz, dessen Thema er auch
seinen Schülern als Aufgabe stellte, ohne ihnen zu sagen, dass er am selben Stoff arbeitete.

Groß ist die Zahl der Klavierwerke, wobei die vier Sonaten aus der Reihe der vielen anderen
Stücke herausragen. In der Regel sind sie technisch anspruchsvoll, doch in einem Klaviersatz
geschrieben, der zeigt, dass der Komponist als ehemaliger Klavierlehrer am Konservatorium sein
Handwerk versteht. „Vorzüglich und unbekannt“ hat August Schmid-Lindner die Klaviermusik
seines Lehrers genannt, ohne jedoch die Konsequenzen daraus zu ziehen und seine eigenen
Schüler Stücke von Rheinberger spielen zu lassen. Dabei gibt es nebst den Sonaten unter den
kleineren Werken, vor allem der mittleren und späteren Zeit, manches, das wert wäre, wieder
hervorgezogen zu werden, zu nennen wären beispielsweise verschiedene Stücke aus den
„Präludien in Etudenform“ op. 14, die Rheinberger seinem Institut gewidmet hat, die Toccaten, die
Brahms gewidmeten „Zwei Klaviervorträge“, die „Sechs Tonstücke in fugierter Form“ op. 68 oder –
als Spezielles – die Pianofortestudien für die linke Hand op. 113. Auch im vierhändigen Bereich
findet sich Ausgezeichnetes: das von Brahms geschätzte Duo op. 15, die Fantasie op. 79, die
auch in instrumentierter Gestalt zu überzeugen weiß, oder die „Große Sonate“ in c-Moll op. 122.
Zu nennen ist hier auch die Bearbeitung der Goldberg-Variationen von J. S.Bach für zwei Klaviere,
ein Werk, das Max Reger fast dreißig Jahre später nochmals überarbeitet herausgab. Das
Problem bei Rheinberger ist, dass sich seine Musik beim ersten Hören kaum erschließt, es
braucht die Wiederholung, das Studium.

Rätselkanon zu vier Stimmen. Fotos: Josef Rheinberger-Archiv Vaduz

Dies gilt auch für jenes Gebiet, in dem Rheinberger – außer den Werken der Kirchenmusik – nie
ganz vergessen war: der Orgelmusik. Sind seine anderen Kompositionen bei aller Individualität
eher rückwärts gewandt, so war ihm auf der Orgel gegeben, Neues zu schaffen. Da die
katholische Liturgie kaum Raum für selbstständiges Orgelspiel bot, wich Rheinberger in den
Konzertsaal aus, für den er vor allem seine zwanzig Orgelsonaten schuf. Das war – mit Ausnahme
der ersten Sonate – wirklich Neuland, das er betrat. An Bach geschult und doch neu sind die
Ecksätze, ganz romantisch, doch nie sentimental die Mittelsätze und, in den viersätzigen Sonaten,
improvisatorisch und mit großer Geste die Überleitungen zu den Schlusssätzen.

Die Rheinberger eigene Synthese von Kontrapunkt und Poesie, die vor allem in den
Klavierwerken sichtbar wird, ist auch in den Orgelwerken wieder zu finden. Davon geben nicht nur
die zwanzig Orgelsonaten, sondern auch die kleineren Orgelwerke Zeugnis. In ihnen findet sich
manches, das Konzert und Unterricht zu beleben vermag, so etwa die wohltemperierte Zahl der
24 Fughetten, die, progressiv geordnet, eine Schule der Geläufigkeit für die Orgel ergeben, und
auch in den Monologen, Miscellaneen, Trios oder Charakterstücken findet sich vieles, das
überzeugt. (Man lasse sich nicht durch Titel wie „Abendruhe“, „Klage“ oder „Ernste Feier“
abhalten; es sind hervorragende Stücke!) – Dass Rheinberger gleich auch die Orgelkonzerte
wiedererweckte, scheint selbstverständlich. Die Orgel im Odeons-Saal musste dazu anregen,
ebenfalls auch zum Musizieren mit Streichinstrumenten, was sich in verschiedenen Besetzungen
zeigt.
Ohne Zweifel hat Rheinberger ein großartiges Werk hinterlassen, das zu heben Verpflichtung ist.
Er selbst starb allerdings im Bewusstsein, sich selbst überlebt zu haben. Eine neue Zeit verlangte
eine neue Musik. Fast trotzig schrieb er auf die erste Seite seines letzten Musikschultagebuches:
„Musik steht über dem Wort; sie beginnt, wo dieses nicht mehr ausreicht. Darum ist es eitles
Beginnen, sie durch Erläuterungen dem Verständniß des Hörers näher bringen zu wollen.“

Harald Wanger
Anmerkungen

1 Brief vom 14. Dezember 1853 an die Eltern. zurück


2 Vier Klavierstücke, op. 1, erschienen bei Peters in Leipzig zurück
3 Messe in a-Moll, op. 197, ergänzt von L.A.Coerne, erschienen ein Jahr nach Rheinbergers Tod
1902 bei F.E.C.Leuckart, Leipzig zurück
4 „Joseph Rheinberger – Gedenkschrift zu seinem 100. Geburtstag“, hrsg. von Hans-Walter
Kaufmann, Vaduz 1940, S. 110. zurück

Der Autor
Harald Wanger, geboren 1933 in Schaan/Liechtenstein. Lehrer, ab 1960 auch Archivar des Josef-
Rheinberger-Archivs in Vaduz, seit 1989 vollamtlich. Seit 1998 im Ruhestand. Zahlreiche Arbeiten
über Josef Rheinberger sowie über Geschichte und Landeskunde des Fürstentums Liechtenstein.

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