Sie sind auf Seite 1von 50

SYLVIA HAHN

ANDREA KOMLOSY
QUERSCHNITTE ILSE REITER (HG.)
BAND 20

E I N F Ü H R U N G S T E X T E ZUR SOZIAL-,
WIRTSCHAFTS- UND KULTURGESCHICHTE
Ausweisung - Abschiebung
Vertreibung in Europa
Herausgegeben von
16.-20. Jahrhundert
Birgit BOLOGNESE-LEUCHTENMÜLLER, Wien
Markus CERMAN, Wien
Friedrich EDELMAYER, Wien
Franz X. EDER, Wien
Peter EIGNER, Wien (geschäftsführend)
Peter FELDBAUER, Wien
Eduard FUCHS, Wien
Johanna GEHMACHER, Wien
Margarete GRANDNER, Wien
Sylvia HAHN, Salzburg
Gernot HEISS, Wien
Reinhold REITH, Salzburg
Martin SCHEUTZ, Wien
Wolfgang SCHMALE, Wien
Andrea SCHNÖLLER, Wien (Lektorat)
Eduard STAUDINGER, Graz
Heidemarie UHL, Graz
Marija WAKOUNIG, Wien
StudienVerlag
für den Verein für Geschichte und Sozialkunde (VGS) Innsbruck
c/o Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Wien
Universität Wien, Dr. Karl Lueger-Ring 1, A-1010 Wien Bozen
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Bildung,
Wissenschaft und Kultur, des Kulturamtes des Stadt Wien/Abteilung
Wissenschaft und Forschungsförderung, der Stiftungs- und För-
derungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg sowie der
Universität Wien. INHALT

DV
StaDtVVW'en ^ m
AV SYLVIA HAHN - ANDREA KOMLOSY -
ILSE REITER
5006
Universität Einführung 7

Wien HANS-HEINRICH NOLTE


Zwischen Duldung und Vertreibung
(Ethno-)religiöse Minderheiten im europäischen Vergleich 26

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der deut-


GERD SCHWERHOFF
schen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind
Vertreibung als Strafe
im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
Der Stadt- und Landesverweis im Ancien Regime 48

ERNST WANGERMANN
© 2006. Verein für Geschichte und Sozialkunde
Emigration und Transmigration österreichischer Protestanten
StudienVerlag
im 18. Jahrhundert 73
www.studienverlag.at

ANDREA KOMLOSY
Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich ge- Der Staat schiebt ab. Zur nationalstaatlichen Konsolidierung von
schützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts- Heimat und Fremde im 18. und 19. Jahrhundert 87
gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro- SYLVIA HAHN
verfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektroni- „... über die Grenze getrieben"
schen Systemen. Politische Emigration und Exil im 19. Jahrhundert 115

HANNS HAAS
Lektorat: Andrea Schnöller Ethnische Homogenisierung unter Zwang
Layout/Satz: Marianne Oppel Experimente im 20. Jahrhundert 140
Umschlaggestaltung: Jarmila Böhm
Druck: Interpress, Budapest FİKRET ADANIR
Bevölkerungsverschiebungen, Siedlungspolitik
ISBN-10: 3-7065-4301-X und ethnisch-kulturelle Homogenisierung
TSRM-1 V q 7 8 - V 7 f t t S - 4 3 n i - Q Nationsbildung auf dem Balkan und in Kleinasien, 1878-1923 172
UNIVERSITY
OF
PENNSYLVANIA
LIBRARIES
ILSE REITER
Nationalstaat und Staatsbürgerschaft in der Zwischenkriegszeit
Ausländerinnenausweisung und politische Ausbürgerung
in Österreich vor dem Hintergrund des Völkerrechts und
EINFÜHRUNG
der europäischen Staatenpraxis 193

HELGA EMBACHER
„Plötzlich war man vogelfrei"
Flucht und Vertreibung europäischer Juden 219
SYLVIA HAHN - ANDREA KOMLOSY - ILSE REITER

BEAT LEUTHARDT
Von Menschenfreunden zu dezenten Despoten
30 Jahre europäische Fremdenpolitik 241
Es vergeht kaum ein Tag, an dem in den Medien nicht von Ausweisun-
gen, Abschiebungen oder Vertreibungen berichtet wird. Die augen-
Die Autorinnen und Autoren 266
scheinlichsten Fälle finden derzeit in Afrika und Asien statt, wo Zwangs-
mobilisierungen aus politischen und wirtschaftlichen Gründen, im
Verein mit ethnischen und religiösen Differenzen, beinahe schon all-
täglich sind. Erinnert sei an die „Stammeskriege" in Ruanda und Burun-
di, im Sudan oder am Horn von Afrika, an die Vertreibung der Palästi-
nenser, die Kriegsflüchtlinge aus Zentralasien, Afghanistan oder Kasch-
mir. Was ist der Grund, dass sich dieser Band dennoch auf Europa
konzentriert?
• Ausweisung, Abschiebung und Vertreibung haben auf dem europäi-
schen Kontinent eine lange historische Tradition. Ausschlaggebend
dafür waren je nach Region und Zeitepoche unterschiedliche wirt-
schaftliche, soziale, politische und/oder religiöse Interessen.
"P* Das europäische Beispiel zeigt, wie Ausweisung und Vertreibung im
Laufe der Neuzeit systematisiert und radikalisiert wurden, um im
20. Jahrhundert zur Perfektion gesteigert zu werden.
• Mithilfe des Kolonialismus haben europäische Mächte ihre Konflikte
in die Welt getragen: Händler und Pflanzer haben die einheimische
Bevölkerung von Grund und Boden vertrieben, Siedler beanspruch-
ten das beste Land, Siedlerstaaten drängten die ansässige Bevölke-
rung aus dem Land oder deklarierten sie als „Eingeborene" zu Men-
schen zweiter Klasse, Kolonialgrenzen schnitten in gewachsene Le-
bens- und Wirtschaftsräume ein, die koloniale Wirtschaft wurde auf
das Mutterland ausgerichtet. Die historische Expansion europäischer
Mächte im Rahmen von Kolonialismus und Imperialismus, aber auch
die fortgesetzte westliche Beherrschung der Weltwirtschaft durch
multinationale Konzerne und internationale Finanzorganisationen
10
Sylvia Hahn - Andrea Komlosy - Ilse Reiter Einführung 9

bilden die Wurzel vieler aktueller Konflikte, die Flucht und Vertrei- der Stadt abgeschafft. Vielfach genügte bei Fremden schon der Ver-
bung auslösen. dacht auf eine Straftat, um sie vor die Tore zu schicken. Einfache Hand-
• Das Zustandekommen des homogenen europäischen Nationalstaates, werksmeister wiederum konnten derart hohe Geldstrafen für kleine
der durch die westeuropäischen Industrienationen des 19. Jahrhun- Delikte verordnet bekommen, dass sie kaum in der Lage waren, diese
derts repräsentiert wird, ist das Ergebnis mannigfaltiger Assimilati- zu bezahlen und daher ständig am Rande der Verweisung aus der Stadt
on und Homogenisierungen, einer immer wieder neuen Auflage von standen. Ein weiteres Motiv der Ausweisung stellte seit dem 16. Jahr-
In- und Exklusionen. Das europäische Modell der Nation, das als hundert die Verarmung immer größerer Bevölkerungsgruppen dar, die
Vorbild für Nationalstaatsbildungen in anderen Teilen der Welt dien- auf der Suche nach Almosen oder Arbeit indie Städte strömten. Durch
te, führte dort erneut zum Ausschluss von religiösen und ethnischen das Heimatprinzip, das mit dem Aufenthaltsrecht auch den Anspruch!
Minderheiten. auf Alters- und Armenversorgung regelte, wurde die Abschiebung bzwy
• Die Integration EU-Europas löst auch heute an ihren Rändern Des- Ausweisung insbesondere der in einem Ort nicht heimatberechtigten
integration aus. Die Sogwirkung des EU-Beitritts war und ist maß- Bevölkerung in den west- und zentraleuropäischen Staaten auf eine
geblich dafür verantwortlich, dass Randstaaten entlang ihrer sozia- rechtliche Basis gesetzt. Das heißt, eine Stadt oder ein Gemeindever-
len und ökonomischen Voraussetzungen zur Integration in reiche band war berechtigt, jede(n), der an diesem Ort lebte, ohne dort „zu-
und arme Regionen zerfallen, als Staaten auseinander brechen. Die ständig" zu sein und ohne eine materielle Basis für den Lebensunter-
Ethnisierung der sozialen Disparität nährt Nationalbewegungen, halt nachweisen zu können, in den jeweiligen Zuständigkeitsort abzu-
Sezessionswünsche und belastet die aus den multinationalen Staa- schieben.
ten hervorgegangenen neuen Nationalstaaten mit der Hypothek eth- Neben den strafrechtlich oder heimatrechtlich motivierten Auswei-
nisch-sprachlicher Homogenisierung. sungen aus den frühneuzeitlichen Städten kam es in dieser Zeitepoche
• Da die europäische Nation nach (west-)europäischem Vorbild bis aber auch zu Verfolgungen und Ausweisungen von religiösen und/oder
heute einen Bezugspunkt für Nationalbewegungen und Regierun- ethnischen Minderheiten. Diesem Aspekt widmen sich die Ausführun-
gen überall auf der Welt darstellt, wenn diese die Homogenisierung gen von Hans-Heinrich Nolte. Durch den gesamten Zeitraum zieht sich
ihrer Territorien vorantreiben, ist ein historischer Rückblick not- die Verfolgung und Ausweisung von Juden und Jüdinnen, wobei sich
wendig. Phasen der Anwerbung, des Schutzes, der Vertreibungen und Ermor-
dung abwechselten. Innerhalb des Christentums wiederum führte der
Anspruch auf den „rechten Glauben" zur Ächtung und Ausweisung
DIE T H E M E N IM ÜBERBLICK
anderer Strömungen, die als „Ketzer" oder „Häretiker" bezeichnet
Ausweisung im späten Mittelalter und
wurden. Auch Protestanten und Hugenotten - sowie im russisch-or-
in der frühen Neuzeit (16.-17. Jahrhundert)
thodoxen Bereich die Altgläubigen - wurden als Abweichende wahrge-
Blicken wir in der Geschichte zurück, so lassen sich über die Jahrhun- nommen, die in Gebieten mit katholischer Landesherrschaft nicht ge-
derte hinweg die unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen ausmachen, duldet wurden. Der unterschiedliche Umgang mit religiösen Minder-
die abgeschoben, ausgewiesen und/oder vertrieben wurden. Die Band- heiten kommt ebenfalls in der Behandlung von Muslimen zum Aus
breite reichte dabei in der frühen Neuzeit von nicht konform handeln- druck: Während im Zuge der Reconquista Juden und Muslime glei-
den Bürgern und Handwerkern, über Bettler, Arme und Vaganten bis chermaßen aus Spanien vertrieben wurden, zielte der zeitgleich statt-
hin zu ethnischen und/oder religiösen Minderheiten. Von der Auswei- findende russische Vorstoß in die Khanate an der Wolga nur auf die
sung aus der Stadt konnten, wie Gerd Schwerhoff in seinem Beitrag Beherrschung, nicht aber auf die Bekehrung der Tataren ab, die im
ausführt, einheimische Bürger ebenso getroffen werden wie zugewan- russischen Staat auch als Muslime Karriere machen konnten.
derte Fremde, wobei die feinen Unterschiede entlang der sozialen Zu- Vom ökonomischen Aspekt aus betrachtet konnten einige von den
gehörigkeit verliefen. So wurden etwa für Delikte wie Ehebruch, Klein- Ausweisungen und Vertreibungen der jüdischen, muslimischen und
diebstähle und Körperverletzungen einheimische Stadtbürger zumeist diversen christlichen Glaubensangehörigen wirtschaftlich profitieren,
nur zu einer Geldstrafe verurteilt, zugewanderte Fremde hingegen aus langfristig gesehen bedeuteten Vertreibungen jedoch ökonomische
10 Sylvia Hahn - Andrea Komlosy - Ilse Reiter Einführung 11

Verluste. Auch in demographischer Hinsicht stellten Ausweisungen und Revolution, die fast hysterischen Ängste vor zugewanderten Fremden
Vertreibungen einen massiven Verlust an Humankapital dar. Vor dem und allem nur in Ansätzen „französisch" Klingenden oder Aussehen-
Hintergrund der merkantilistischen Wirtschaftspolitik des 17. und 18. den. Neben den Fremden begann man auch mit der intensiven Beob-
Jahrhunderts galt es daher, diese Bevölkerungsverluste, die durch die achtung von eventuell politisch verdächtigen Personen, Klubs und (Ge-
Ausweisungen und Vertreibungen religiöser und ethnischer Minder- heim-)Logen. In der Folge waren davon zahlreiche Künstler und Intel-1
heiten und Andersdenkender geschaffen wurden, durch eine gezielte lektuelle betroffen, die auf staatlichen Druck hin ihre Arbeitsorte und
Populationspolitik wettzumachen. Zur Bevölkerungspolitik des 18. ihre Heimat verlassen und jenseits der eigenstaatlichen Territorial-
Jahrhunderts zählten auch Transmigrationen, denen sich Ernst Wan- grenzen ein neues Leben im Exil beginnen mussten, wie Sylvia Hahn
germann in seinem Beitrag widmet. ausführt. Neben den Anhängern der Französischen Revolution im aus-
gehenden 18. Jahrhundert waren im 19. Jahrhundert zunächst die bür-
gerlich-liberalen Sympathisanten der 1848er Revolution und später
Staatsbildung, Heimatrecht, Schub und Vertreibung
diejenigen der Arbeiterbewegung, insbesondere der anarchistischen
(18./19. Jahrhundert)
Strömungen, davon betroffen. Zahlreiche Intellektuelle und engagier-
Das 18. Jahrhundert stellte, wie Andrea Komlosy herausarbeitet, im te Aktivistinnen der Arbeiterschaft entschlossen sich im Laufe des 19.
Hinblick auf den Staatsbildungsprozess in vieler Hinsicht eine Zäsur Jahrhunderts aus politischen Gründen, ihr Herkunftsland - vielfach in
/ dar: Das Heimatrecht, das die Kommunen bis dahin nutzten, um sich Richtung der Vereinigten Staaten von Amerika - zu verlassen.
(^unerwünschter Bettlerinnen zu entledigen, wurde zu einem Instrument
für die Territorialisierung der staatlichen Macht. Jeder Untertan sollte
Nationalisierung, Staatsbürgerschaft und der Zwang
von der staatlichen Bürokratie erfasst werden; seine Verortung in der
zur Homogenisierung (20. Jahrhundert)
Heimatgemeinde bildete dafür die Voraussetzung. Gleichzeitig wan-
delte sich die Einstellung zur Armut. Zählten Almosengeben und Mild- Alle diese Ausweisungen und Vertreibungen fanden eine Fortsetzung
tätigkeit gegenüber Armen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit in den massiven Menschenverschiebungen des 20. Jahrhunderts, die
noch zur (christlichen) Bürgerpflicht, so brachten Merkantilismus und sich quer über den europäischen Kontinent wie über die Weltmeere
Staatsausbau neue Formen der Sozialdisziplinierung mit sich, die auf hinweg bewegten. Die politischen Veränderungen und Neuzeichnungen
die Ausrottung des „Müßiggangs" abzielten. Die Kriminalisierung von der Landkarten nach dem Ersten Weltkrieg führten neben den zahlrei-
Umherziehenden, die Abschiebung oder die Internierung von Bettlern chen Ausweisungen und Rückwanderungen auch zu weiteren Vertrei-
in Armen- und Arbeitshäusern wurde zum sozialpolitischen Programm. bungen und Umsiedelungsprogrammen, die die ethnische Homogeni-
Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden weitere gesetzliche Rahmen- sierung der aus dem Habsburgerreich und dem Osmanischen Reich
bedingungen geschaffen, welche die Instrumentarien von Ausweisung hervorgegangenen Nationalstaaten zum Ziel hatten. Diesen Bevölke-
und Abschiebung verfeinerten. In der Habsburgermonarchie dienten rungsverschiebungen widmen sich die Beiträge von Fikret Adanir und
dazu Reformen des Heimatrechts, die den Migrantinnen den Erwerb Hanns Haas.
der Zuständigkeit erschwerten, so dass diesen als rechtlich „Fremden" Die Staatsangehörigkeit, die schon während des Ersten Weltkrieges
im Verarmungsfall die Abschiebung in ihre Heimatgemeinden drohte. massiv an Bedeutung gewonnen hatte, wurde nun verstärkt als Mittel
In den meisten westeuropäischen Staaten sorgte der Übergang der Ar- der In- und Exklusion eingesetzt. Dazu kamen Ausweisungen aus poli-
menversorgung vom Heimat- auf das Wohnsitzprinzip dafür, dass die tischen Gründen, die einerseits auf Revolutionen und revolutionäre
Anspruchsberechtigung nunmehr unabhängig von der Zuständigkeit Aufstände der unmittelbaren Nachkriegszeit zurückgingen, anderer-
galt, was zu einer deutlichen Verringerung (armenpolizeilicher) Aus- seits die politische Radikalisierung der Zwischenkriegszeit widerspie-
weisungen bzw. Abschiebungen führte; „fremd" war in diesem Fall, geln, die in den meisten Staaten Zentral- und Osteuropas autoritäre
wer keine Staatsbürgerschaft besaß. Regierungen an die Macht brachte. Ilse Reiter zeigt auf, dass in Öster-
Zu den Veränderungen in der Armen- und Sozialpolitik kamen in reich die Zerschlagung der demokratischen Strukturen durch den
den meisten europäischen Staaten, spätestens seit der Französischen Austrofaschismus 1933 eine Welle von Inhaftierungen, Ausweisungen
10 12
Sylvia Hahn - Andrea Komlosy - Ilse Reiter Einführung

und Ausbürgerungen politisch Andersdenkender nach sich zog, wobei formationen - die massenhafte Zwangsmobilisierung breiter Bevölke-
Ausweisung und Entzug der Staatsangehörigkeit als ein Mittel der po- rungsgruppen, wobei politische und ökonomische Gründe für Flucht
litischen Stabilisierung und Homogenisierung eingesetzt wurden. Un- und Migration oft nicht voneinander zu trennen sind. Hier stehen in-
ter dem nationalsozialistischen Regime, das die Staatsangehörigkeit des nicht die Gründe der Zwangsmobilisierung im Vordergrund, son-
zur rassischen Zuordnung pervertierte, kam es in weiterer Folge zur dern die Art und Weise, wie europäische Regierungen diese Menschen -
Vertreibung und Ermordung von Oppositionellen, eines großen Teils je nach Konjunktur und politischer Erfordernis - durch Asyl- und
der jüdischen Bevölkerung sowie zur Emigration der intellektuellen Fremdenpolitik in Erwünschte und Unerwünschte einteilen. Der Auf-
Elite. bau der Festung Europa bedeutet erneut massenhafte Ausweisung und
Nach der Machtergreifung von Mussolini und Hitler sowie der In- Abschiebung.
stallierung von Verbündeten in Ost- und Südosteuropa erreichte die
Vorstellung, die ethnisch-sprachlichen Grenzen eines Staates hätten
TYPOLOGIE
mit den politischen Grenzen übereinzustimmen, ihren Höhepunkt und
führte zu zahlreichen bevölkerungspolitischen Experimenten, worüber Wenn in diesem Band über einen Zeitraum von fünf Jahrhunderten
Hanns Haas in seinem Artikel einen ausführlichen Überblick gibt. Der von Ausweisung, Abschiebung und Vertreibung die Rede ist, sind da-
Krieg beschleunigte die Bevölkerungsverschiebungen und ethno- mit höchst unterschiedliche Sachverhalte angesprochen. Dies bezieht
politischen Ordnungskonzepte. Er zielte von Seiten der Nationalsozia- sich erstens auf die davon jeweils betroffenen Gruppen und das Schick-
listen darauf ab, eroberte Gebiete von „minderwertiger" Bevölkerung sal, das diese konkret erleiden; zweitens auf die politischen, wirtschaft-
zu räumen: In weiten weißrussischen, russischen und ukrainischen Land- lichen und sozialen Bereiche, die Anlass und Ursache für Ausweisung
strichen wurde die dort lebende Bevölkerung ausgerottet. Der Wahn, und Vertreibung sind; sowie drittens auf den rechtlichen Begründungs-
Platz und Raum für die Um- und Neubesiedlung zu schaffen, kulminier- zusammenhang.
te in der Ghettoisierung und schließlich Ermordung und Vertreibung
der jüdischen Bevölkerung, wovon Helga Embacher in ihrem Beitrag
Betroffene, Motive, Dimensionen
berichtet.
Mit dem Vormarsch der Deutschen Wehrmacht in die Sowjetunion Vertreibung, Ausweisung und Abschiebung trifft bestimmte religiöse,
entstand ein weiteres Motiv für die Massendeportation: Betroffen wa- ethnische und politische Gruppen; deren Exklusion verbindet sich in
ren all jene Volksgruppen, die - wegen tatsächlicher oder nur befürch- der Regel mit politischem Machterhalt bzw. Machterwerb, mit Klas-
teter Kollaboration mit der Wehrmacht - aus ihren Siedlungsgebieten sen- und Verteilungskonflikten. Als Auslöser fungieren Fürsten, Staa-
in Wolhynien, Bessarabien, auf der Krim oder im Kaukasus nach Mittel- ten, Regierungen sowie ökonomische Pressure Groups, die ihre je spe-
asien und Sibirien umgesiedelt wurden. zifischen Interessen durchsetzen möchten; oft gelingt es diesen, große
Das Ziel ethnischer Homogenisierung setzte sich auch in der Nach- Gruppen der Bevölkerung bzw. Mehrheiten für ihre Belange zu gewin-
kriegszeit fort. Sowohl die spontanen, oft rachegeleiteten wilden Ver- nen. Akteure einer Vertreibung können aber auch radikale Minderhei-
treibungen als auch die geordneten Bevölkerungstransfers waren von ten sein. In engem Zusammenhang damit stehen die Motive. Diese rei-
der Vorstellung getragen, dass durch Herstellung einer ethnisch mög- chen von Strafe (aufgrund von Gesetzen), Rache (aufgrund von Selbst-
lichst homogenen Bevölkerung die Grundlage für zukünftige ethnische justiz) und Bereicherung über das Loswerden von Sozialfällen bzw.
Konflikte unterbunden werden könne. Dies setzte erneut Flüchtlings- Personen, die über kein Recht auf Aufenthalt und/oder keine sozialen
wellen, Vertreibungen und Zwangswanderungen in Gang, von denen Rechte verfügen, bis hin zu staatspolitischen Maßnahmen, die der
die Deutschen im Osten Europas am stärksten betroffen waren. Herausbildung staatsbürgerlicher Homogenität innerhalb eines - be-
Schlussendlich wird von Beat Leuthardt die aktuelle Situation von stehenden oder aber auf Expansion angelegten - Staatsgebietes die-
Flucht und Vertreibung in Europa angesprochen. Die aktuelle Durch- nen. In der konkreten Praxis können sich diese Motive bündeln. Die
setzung neoliberaler Wettbewerbsregeln in allen Teilen der Welt be- Dimension von Ausweisung, Abschiebung und Vertreibung reicht vom
wirkt - im Verein mit den Erblasten kolonialer und neokolonialer De- Einzelfall über kleine Gruppen bis hin zum Massenphänomen. Auch
10 Sylvia Hahn - Andrea Komlosy - Ilse Reiter Einführung 15

die Systematik der Umsetzung zeigt ein breites Spektrum, von anlass- hung der Staatsbürgerschaft für Inländer ab. Zum einen setzte sich die
bezogenen bis geplanten Aktionen, von kontinuierlichen zu eska- Ansicht durch, dass unerwünschte Inländer aus völkerrechtlichen Ge-
lierenden Aktionen, von mehr oder weniger geringer Konsequenz in sichtspunkten nicht dem Nachbarstaat aufgehalst werden dürften, zum
der Auswahl der Personen und in der Durchsetzung des Transfers. anderen widersprach dies auch den bevölkerungspolitischen und wirt-
schaftspolitischen Zielvorstellungen. Man vertrieb daher in Österreich
unter Karl VI. Protestantinnen nicht mehr über die Staatsgrenze, son-
Gesellschaftlicher Kontext
dern griff zur Transmigration. In gleicher Weise wurden nun Bettler,
Ausweisung, Abschiebung und Vertreibung sind Symptome gesellschaft- Prostituierte etc. mit dem so genannten Temesvarer Wasserschub in
licher Konflikte. Diese finden in ganz unterschiedlichen Bereichen der den Osten der Monarchie deportiert. Als mit den Verfassungsstaaten
Gesellschaft statt. Um Anlass und Ursache zu erforschen, müssen Ent- des 19. Jahrhunderts das Aufenthaltsrecht im Staat zu einem der we-
wicklungen in folgenden Bereichen in Betracht gezogen werden: sentlichsten Grundrechte des Staatsbürgers geworden war, standen der
Ausweisung von Inländern über die Staatsgrenzen verfassungsrechtli-
Politik Wirtschaft Gesellschaft/Kultur che Schranken entgegen. Als politische Maßnahme kam es freilich auch
Staatsbildung Ökonomische Religion im 19. und 20. Jahrhundert vereinzelt zu Ausweisungen (einstmals)
Konkurrenz eigener Staatsangehöriger, insbesondere dadurch, dass verschiedene
Nationswerdung Entwicklungsgefälle Sprache, Ethnizität, Nationalität Staaten sich im Wege einer gesetzlichen Ausweisung der jeweils ent-
Nationalitätenpolitik und regionale
thronten monarchischen Dynastie entledigten, wie dies in Frankreich
Untertanenverfassung Disparität zwischen Minderheiten, Fremde
mehrfach, aber auch z.B. in Dänemark 1852 und in Österreich 1919
Regionen/Staaten
der Fall war. Die Ausweisung von Inländern aus Gebieten innerhalb
Staatsbürgerschaft Straf- und Verwaltungsrecht
der Staatsgrenzen blieb allerdings noch längere Zeit bestehen, in Öster-
Armen- und Sozialpolitik
reich sogar bis 1938.
Migration und Umgang
mit Fremden Die Ausweisung von Ausländern aus dem gesamten Staatsgebiet war
als Ausdruck staatlicher Souveränität stets anerkannt. Völkerrechtlich
umstritten war nur, ob dieses Recht schrankenlos oder nur bei Vorlie-
Recht
gen bestimmter sachlicher Gründe ausgeübt werden dürfe. Die konkre-
Ausweisung, Abschiebung und Vertreibung können spontan und punk- ten Gründe gemäß Staatenpraxis sind äußerst vielfältig, beruhen aber in
tuell erfolgen; in der Regel spielen Legislative und Exekutive dabei eine der Regel stets auf einer Staatsgefährdung durch den Ausländer.
Rolle, indem sie die Exklusion selbst organisieren, sie dulden oder för- An Varianten der Ausweisung kann man nach der Art des Verfah-
dern, oder aber dieser mit ihren Machtmitteln entgegentreten. Im Laufe rens, das zu ihrer Anordnung führt, die (straf)gerichtliche von der po-
des 18. Jahrhunderts ist generell ein Bedeutungsverlust lokaler und lizeilichen bzw. verwaltungsbehördlichen Ausweisung unterscheiden.
regionaler Körperschaften (Magistrate, Herrschaften/Landgerichte, Bei der Ausweisung als Strafe tritt die Ausweisung wiederum entwe-
Stände) zugunsten zentraler staatlicher Instanzen zu beobachten. Wenn der als Haupt- oder Nebenstrafe sowie als Strafverschärfung auf. Vom
ein Ausweisungsakt nicht gegen den Willen der Regierung vorgenom- Gesichtspunkt einer sachlichen Gruppierung der Ausweisungsgründe
men wurde, bestand für diesen in der Regel eine bestimmte Rechts- lassen sich sowohl bei der strafgerichtlichen als auch polizeilichen
grundlage. Diese lässt sich nicht verallgemeinern; je nach Zeit und Raum Ausweisung als Typen für Ausweisungen etwa herausdifferenzieren:
können Ausweisung und Vertreibung aber immer auch nach rechtli- staatspolizeilich (Bekämpfung von politischen Gegnern) oder allgemein
chen Aspekten typisiert werden. sicherheitspolizeilich sowie armen- oder sittlichkeitspolizeilich (Vaga-
Grundsätzlich ist zunächst die Ausweisung aus dem gesamten Staats- bunden, Prostituierte, Bettler etc.) motivierte Ausweisung.
gebiet von Ausweisungen aus bestimmten Gebieten innerhalb des Staa- Darüber hinaus kann die Ausweisung entweder zeitlich befristet oder
tes zu unterscheiden. Von einem derartigen Gebietsverbot für den zeitlich unbefristet sein, kleinere oder größere Gebiete umfassen. Sie
Gesamtstaat kam man seit dem 18. Jahrhundert parallel zur Entste- kann, muss aber nicht, mit einem strafrechtlich zu ahndenden Rück-
10 16
Sylvia Hahn - Andrea Komlosy - Ilse Reiter Einführung

kehrverbot ausgestattet sein. Weiters kann mit der Ausweisung auch dein sich zwar, dennoch lässt sich die Wiederkehr von Grundmustern
entweder die Verweisung an den Heimatort oder an einen anderen und der Verquickung zu konkreten Ausweisungs- bzw. Vertreibungs-
Zwangsaufenthaltsort verbunden sein. So kannten etwa England, szenarios beobachten. Auch wenn Ausweisung und Vertreibung reli-
Frankreich und Russland, aber auch andere europäische Staaten wie giösen und/oder ethnischen Linien folgen, liegt diesen immer auch ein
Spanien und Portugal im 18. bzw. 19. Jahrhundert neben verschiede- Verteilungskonflikt zwischen sozialen Gruppen/Klassen (um Ressour-
nen anderen Ausweisungsformen auch die Deportation bzw. Transpor- cen) oder politischen Gruppen/Parteien (um politische Macht) zugrun-
tation von gewöhnlichen Kriminalsträflingen und politischen Straftä- de. Auch überlebten Einstellungen zum Anderen, zum Fremden, die
tern in Straf- bzw. Überseekolonien und nutzten diese wirtschaftlich auf den Fundamenten von Religionen entwickelt wurden, in den säku-
und/oder kriminalpolitisch. Mittels zwischenstaatlicher Verträge mit laren Formen, die durch Aufklärung und moderne Staatsbildung be-
deportierenden Staaten versuchten in dieser Zeit auch verschiedene gründet wurden. Die Konstanz von Ausweisung, Abschiebung und Ver-
deutsche Staaten derartige Maßnahmen einzuführen. Davon abgese- treibung lässt sich freilich nicht nur durch Vielfalt belegen und illus-
hen war es auch in der Praxis einiger deutscher Staaten seit Mitte des trieren. Das breite Anschauungsmaterial, das die vorliegenden Beiträ-
18. Jahrhunderts immer wieder zu Transportationen oder behördlich ge bieten, erlaubt anhand der Vergleiche, die innerhalb und zwischen
gesteuerten Auswanderungen unerwünschter Personen, vor allem in diesen gezogen werden können, Hypothesenbildung und Schlussfol-
die Vereinigten Staaten, aber auch nach Brasilien gekommen, die sich gerungen.
kaum von Deportationen bzw. Verbannungen unterschieden. Vielfach
wurde auch Verurteilten eine Begnadigung unter der Bedingung der
Regionale Unterschiede
Auswanderung zuteil.
Während diese Ausweisungsvarianten in der praktischen Anwendung Es zeigt sich, dass sich bei einer Reihe von zentralen Fragen regionale
eher auf Individuen oder kleinere Gruppen von Personen zielten, so Bruchlinien auftun, die zu einer unterschiedlichen Entwicklung in ver-
waren von den auf völkerrechtlichen Verträgen beruhenden Zwangs- schiedenen europäischen Staaten und Regionen geführt haben. Dies
umsiedlungen oder Vertreibungen (Umsiedlungsverträge) umfangrei- wird im Folgenden anhand des Umgangs mit Minderheiten, mit ethni-
chere Personengruppen betroffen. Daneben gab es aber auch wilde scher und religiöser Vielfalt, dem Staatsbildungsprozess sowie der
Vertreibungen, die jeder Rechtsgrundlage entbehrten. Was die völker- Konzeption von Nation und Staatsbürgerschaft angesprochen.
rechtliche Zulässigkeit von Vertreibungen anbelangt, so ließ sich ein Wie Hans-Heinrich Nolte in seinem Beitrag nahe legt, sei eine zen-
Vertreibungsverbot schon aus der Haager Landkriegsordnung von 1907 trale Bruchlinie auf den Wirkungsbereich des westlichen, also des rö-
ableiten. Nachdem das Statut des Nürnberger Militärgerichtshofes von misch-katholischen Christentums zurückzuführen, das den In- und
1943 bereits explizit Vertreibungen der Zivilbevölkerung unter Strafe Exklusionsgedanken - im Sinne der Einheit von Hirt und Herde - sys-
verbot, verfestigte sich das völkerrechtliche Vertreibungsverbot erst tematisierte und universalisierte; die Schwertmission im 12. und 13.
nach dem Zweiten Weltkrieg (Genfer Abkommen 1949 und Menschen- Jahrhundert setzte diesen Anspruch in den Kreuzzügen gegen Muslime,
rechtskonventionen). „heidnische" Slawen und die griechisch-orthodoxen Christen des ost-
römisch-byzantinischen Reiches konkret in die Praxis um. Das Ver-
hältnis zwischen Gläubigen und Ungläubigen war jedoch soweit durch-
VERGLEICHE UND SCHLUSSFOLGERUNGEN
lässig, als Bekehrung zum Einschluss führen konnte und auch führte.
In gewissem Sinn können Ausweisung, Abschiebung und Vertreibung Abweichende Strömungen innerhalb der Westkirche wurden zunächst
als ein Phänomen betrachtet werden, das zwar in sich wandelnden als „Häresie" verfolgt; in dem Maße jedoch, wie das national- oder
Erscheinungsformen auftritt, insgesamt jedoch permanenten, ja uni- landeskirchliche Bekenntnis zu einer protestantischen Kirche militä-
versellen Charakter hat. Die Aufgabe läge in diesem Fall vorrangig dar- risch nicht zu verhindern war, wurde den Landesfürsten nach dem
in, die Vielfalt und Varianz dieser Akte aufzuzeigen. Tatsächlich spricht Grundsatz cuius regio eius religio freie Religionswahl (für ihre Unter-
einiges für die Universalität von Exklusionsakten, die anhand von eu- tanen) zugestanden. Juden konnten überall nur mit Duldung des Fürs-
ropäischen Beispielen aufgearbeitet werden: Motive und Formen wan- ten existieren, wobei Duldung und Ausweisung zeitlich und regional
10 18
Sylvia Hahn - Andrea Komlosy - Ilse Reiter Einführung

sehr unterschiedlich gehandhabt wurden. Das griechisch-orthodoxe verlangt; einzig diese versprach sozialen Aufstieg und die Teilhabe an
Christentum hingegen, das mit der Eroberung Konstantinopels durch den Privilegien, welche die Exklusion der kolonialen Untertanen aus
die Osmanen (1453) die politische Hoheit eines islamischen Herrschers der Nation ermöglichte.
anerkennen musste und in seinem Herrschaftsbereich neben Juden Östlich des Rheins existierten zwei verschiedene Reichsmodelle.
und Armeniern als millet anerkannt war, verfolgte den In- und Ex- Russland und das Osmanische Reich repräsentierten die zentralisti-
klusionsgedanken nicht zuletzt aufgrund dieser Machtverhältnisse sche Vielvölkermonarchie, die politische Führungspositionen aus-
weniger konsequent. Auch die russisch-orthodoxe Kirche orientierte schließlich Angehörigen der herrschenden Ethnie (Russen) bzw. der
sich, obwohl sie Staatskirche war, am griechischen Patriarchat von herrschenden Religion (Islam) vorbehielt, gleichzeitig jedoch ethnische
Konstantinopel. und religiöse Minderheiten keinem Assimilationsdruck aussetzte. Da-
Eine Radikalisierung der Bruchlinie zwischen westlichem Christen- von unterschied sich das Heilige Römische Reich durch die geringe
tum auf der einen Seite, östlichem Christentum und Islam auf der an- politische Zentralisierung und die Autonomie der Fürstenstaaten, die
deren Seite setzte mit dem „langen 16. Jahrhundert" ein, das mit dem auch die Festsetzung des religiösen Bekenntnisses ihrer Untertanen
Kapitalismus eine neue Logik des Wirtschaftens in Gang setzte. Diese beinhaltete. In ethnisch-sprachlicher Hinsicht bestand für die meisten
basierte aufgrund des Aufbruchs nach Übersee von Anbeginn an auf kein Assimilierungsdruck, sprachen die Reichsangehörigen doch zum
weltweiter Ungleichheit. Auch wenn das zaristische Russland und das Großteil verschiedenste Varianten von Deutsch. Einzig die Habsbur-
Osmanische Reich ihren Einfluss in Ost- und Südosteuropa und Zentral- germonarchie wies seit der Ost- und Südostexpansion des 18. Jahr-
asien erweitern konnten, war damit keine mit dem europäischen Wes- hunderts ständig wachsende Bevölkerungen auf, die nicht deutsch spra-
ten vergleichbare Dynamisierung der Wirtschaft verbunden. Die Bruch- chen und nicht katholisch waren: Während Ungarn im Umgang mit
linie zwischen West- und Osteuropa wäre demnach durch die Kombi- seinen ethnischen Minderheiten Assimilationsdruck nach westeuropäi-
nation des Universalitätsanspruchs des westlichen Christentums und schem Vorbild ausübte, akzeptierte die Nationalitäten- und Religions-
der überseeischen Expansion begründet. Für den Westen ergab sich politik der österreichischen Reichshälfte weitgehend die ethnische und
daraus ein stärkerer Zwang zur religiösen Vereinheitlichung, der auf- religiöse Vielfalt. Im Gegensatz zu den westeuropäischen Kolonialrei-
grund der Staatsbildungen nationalen Charakter annahm; im Osten chen schlössen die zentral- und osteuropäischen Monarchien die Be-
tolerierte die politische Macht (Sultan, Zar) religiöse Minderheiten, wohner der von ihnen annektierten Gebiete, die als innere Peripherien
sofern diese die politische Oberhoheit anerkannten. Im Überlappungs- auch als Ersatz für äußere Kolonien angesehen werden können, als
bereich der beiden Kulturen bildete sich in Ostmitteleuropa eine Zone Staatsuntertanen ein; sie genossen im Wesentlichen ebenso viele oder
heraus - Jenö Szücs bezeichnet sie als „dritte historische Region Euro- wenige Rechte wie alle anderen Bewohner auch. Die Vielfalt ergab sich
pas" - , in der phasenweise die eine oder die andere Prägung überwog. also nicht nur aus einer anderen Einstellung zu ethnischen und reli-
Mit der Verwestlichung Russlands und - später - des Osmanischen giösen Minderheiten, sondern auch aus einem anderen Verständnis
Reichs begann der exklusive Umgang mit den „Andersgläubigen" die der Zugehörigkeit zum Staat. Die Französische Revolution war für das
regionalen Inklusionstraditionen zu verdrängen. restliche Europa der Auftakt für die Formierung von Nationalbewe-
Regionale Strukturunterschiede lassen sich auch vom Nationsbil- gungen. In den deutschen Staaten berief sich die Nationalbewegung
dungsprozess her beobachten, wobei aus dieser Perspektive Zentra- auf die ethnisch-sprachliche Gemeinsamkeit und definierte von daher
leuropa im Osten nicht von der Elbe, sondern vom Rhein begrenzt die Grenzen der modernen Nation; dies kollidierte hauptsächlich mit
wird, also das Heilige Römische Reich mit einschließt. In der frühen dem Vielvölkerprinzip der Habsburger, die gleichermaßen deutschspra-
Neuzeit formieren sich im europäischen Westen moderne Nationen, chige wie nichtdeutschsprachige Gebiete beherrschten, und endete in
welche die Zugehörigkeit ihrer Untertanen bzw. Bürger nicht ethnisch der militärischen Konfrontation mit anschließender Grenzziehung
oder religiös definieren, sondern über die territoriale Grenze. Ethni- zwischen Deutschland und Österreich-Ungarn mit ihren unterschied-
sche und religiöse Toleranz bedeutete dies damit noch keineswegs, denn lichen Staatskonzeptionen. Ost- und Südosteuropa bildeten aufgrund
von den Untertanen/Bürgern wurde in jeder Hinsicht Assimilation mit von ethnisch-religiöser Toleranz, der mehrfachen Überlappung von
der Sprache und Religion des Herrschers und politische Unterwerfung Kolonisationsbewegungen sowie der Abfolge mehrerer Fremdherrschaf-
10 20
Sylvia Hahn - Andrea Komlosy - Ilse Reiter Einführung

ten in weiten Teilen eine Gemengelage vieler Ethnien und Religionen. nelle sozialistische Strömungen sowie ganze Bevölkerungsgruppen, wie
Als innere Peripherien oder Kolonien waren diese Regionen in politi- die mittelbäuerlichen Kulaken, die der Sozialisierung negativ gegen-
scher, wirtschaftlicher und/oder kultureller Hinsicht vielfach von den überstanden. Ethnisch motivierte Umsiedlungsaktionen setzten erst
Herrschaftszentren des zaristischen, osmanischen oder habsburgischen dann ein, als sich eine Reihe von Nationalbewegungen von der vorrü-
Reiches abhängig; die Vorstellungen der Nationalbewegungen, die sich ckenden Wehrmacht Hilfe bei der Durchsetzung ihrer Ziele erhoffte;
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierten, beriefen sich die Massendeportation traf - wie in allen Krieg führenden Staaten -
vor diesem Hintergrund auf den Nationsbegriff der ethnisch-kulturel- der Kollaboration verdächtigte Volksgruppen jedoch unabhängig da-
len Gemeinsamkeit: Die Grenzen der von ihnen angestrebten Autono- von, ob dieser Vorwurf tatsächlich zutraf. Ein Blick auf die Zusam-
mien bzw. Nationalstaaten ließen sich nur auf dieser Basis festmachen - mensetzung der Nationalitäten in der Sowjetunion kurz vor ihrer Auf-
sofern sie sich nicht, was ebenfalls der Fall war (und in den Pariser lösung 1991 macht deutlich, dass die Sowjetunion die ethnische Ho-
Friedensverträgen 1919 auch teilweise durchgesetzt wurde), auf die mogenisierung nur bedingt - über die Durchsetzung des Russischen
weitergehenden Grenzen mittelalterlicher Reiche bezogen. Als Leitstern als zentrale Verkehrssprache - auf ihre Fahnen geschrieben hatte;
diente dennoch das französische Beispiel. gleichzeitig fanden auch kleine regionale Sprachen und Kulturen güns-
Der Vorsprung der westeuropäischen Nationen im Hinblick auf wirt- tige Bedingungen für ihr Überleben vor. Der Zerfall der Sowjetunion
schaftliche Entwicklung und nationalstaatliche Konsolidierung gewähr- hingegen leitete auch hier die ethnische Homogenisierung der neuen
leistete, dass diese Staaten am Beginn des 20. Jahrhunderts bereits Nationalstaaten ein - mit allen Konsequenzen von Assimilationsdruck,
über Assimilation und die führende Stellung in der Weltwirtschaft Umsiedlung und Vertreibung, die aus dem Zerfall der multiethnischen
weitgehend homogenisierte Bevölkerungen hergestellt hatten. In den Reiche an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert hinlänglich be-
jungen Nationalstaaten, die aus den zentraleuropäischen Reichen her- kannt sind.
vorgegangen waren, wurde diese Homogenität nicht als Ergebnis ei- Das unterschiedliche Verständnis von Nation - in den westlichen
nes historischen Prozesses erkannt, sondern als Modell, das es im ei- Nationalstaaten und in den multiethnischen Reichen vom Territorium
genen Nationsbildungsprozess nachzuahmen galt. Die Folge ist ein bis her bestimmt, in den nachholenden Nationalstaaten in Deutschland
heute währendes - lediglich über das geopolitische Patt der Blockbil- und in Ost- und Südosteuropa von der Sprache her bestimmt - war für
dung nach dem Zweiten Weltkrieg stabilisiertes - Ringen um nationa- die Frage der Zugehörigkeit zu einem Staat von entscheidender Be-
le Grenzziehungen, die sowohl der territorialen ethnischen Homoge- deutung. Es bestimmte die Kriterien, nach denen Staatsbürgerschaft
nität als auch der historischen Reichweite gerecht werden sollen - was verliehen wurde, und stellte die Weichen für den Ein- und Ausschluss
Grenzkriege, Vertreibungen und Umsiedlungen zur Folge hat(te). Das von Bewohnerinnen vom Recht auf Aufenthalt und Zugang zu politi-
Bündnis mit dem nationalsozialistischen Deutschland, das in zahlrei- schen Rechten und staatlichen Leistungen. Ausweisung und Abschie-
chen Fällen von den nationalen Eliten in der Hoffnung auf eine Durch- bung sind direkte Konsequenzen des nationalstaatlichen Selbstver-
setzung ihrer territorialen Ansprüche eingegangen wurde, erwies sich ständnisses und in ihrer unterschiedlichen Handhabung nur über die-
als Fehlschlag. Die deutschen Expansionsinteressen, auch wenn sie ses zu erfassen.
ethnisch-nationale Homogenisierung auf ihre Fahnen geschrieben hat- Die Bruchlinien, die für die unterschiedlichen regionalen Entwick-
ten, waren mit den nationalen Aspirationen der ost- und südosteuro- lungen verantwortlich sind, könnten an weiteren Fragenkomplexen auf-
päischen Staaten nicht vereinbar. gezeigt werden: Zu nennen wären im Kontext dieses Bandes u.a. Rechts-
Im Gegensatz zum Osmanischen und zum Habsburgerreich blieb und Strafsysteme, Untertanenverfassungen sowie Zuständigkeit für
Russland nach dem Sturz des Zaren ein Vielvölkerreich - zusammen- Armenversorgung. Aus Platzgründen muss dies hier unterbleiben.
gehalten durch den revolutionären Anspruch des Rätesozialismus, der
die nationalen Kulturen dem Russischen zwar unterordnete, die eth-
nische Vielfalt allerdings keineswegs unterdrückte. Die Umsiedlungen Zeitliche Entwicklungslinien
und Deportationen der Zwischenkriegszeit hatten keinen ethnischen Der Untersuchungszeitraum wurde mit dem 16. bis 20. Jahrhundert
Charakter, sondern richteten sich gegen politische Gegner, oppositio- festgelegt: Das 16. Jahrhundert wird dabei als Zeitenschwelle angese-
10 22
Sylvia Hahn - Andrea Komlosy - Ilse Reiter Einführung

hen, die eine Intensivierung von Ausweisungen und Vertreibung ein- traf zunächst vor allem die Städte, in denen verarmte ländliche Unter-
leitete. Die Untergliederung in drei Perioden ist nicht bloß als Wandel, tanen Zuflucht suchten. Mit Hilfe des „Heimatrechts" oder „politischen
sondern als Steigerungsform von Exklusion und ihrer Umsetzung zu Domizils" konnten Berechtigte von Unberechtigten unterschieden wer-
lesen. Innerhalb der letzten 500 Jahre kann eine zunehmende Radika- den; erst im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die heimatrechtliche
lisierung und Systematisierung von In- und Exklusion festgestellt wer- Bindung durch die Staatsbürgerschaft abgelöst, die die lokale durch
den. Einen konzertierten Anfang, der Juden, Muslime und im Zuge der die nationale Berechtigung ersetzte.
Inquisition auch christliche „Häretiker" gleichermaßen der Verfolgung Die Säkularisierung an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert
und Vertreibung aussetzte, bildete die spanische Reconquista. Als Auf- ließ religiöse Differenz als Verfolgungs- und Ausweisungsgrund in den
takt zur Conquista und zum transkontinentalen Seehandel der euro- Hintergrund treten. Das Prinzip der religiösen Einheit wurde durch
päischen Mächte kam es in der Folge zu einer Konsolidierung von staat- nationale Homogenität und politische Konformität ersetzt. Während
licher Macht und zu wirtschaftlicher Expansion, die - in zeitlicher und die Kombination von Unterdrückung, Emigration und sozialem Auf-
regionaler Staffelung - im 19. Jahrhundert schließlich die Dominanz stieg in Westeuropa bereits im 19. Jahrhundert zur weitgehenden Assi-
der westeuropäischen Industrienationen über die Weltwirtschaft be- milation von ethnischen Minderheiten geführt hatte, waren die Nach-
gründete. Dieser Prozess ist untrennbar mit Homogenisierungen auf folgestaaten der multiethnischen Reiche in Ost- und Südosteuropa vom
ganz unterschiedlichen Gebieten verbunden, bei denen es einerseits Ziel ethnisch-nationaler Reinheit weit entfernt. Die Unzufriedenheit
um die Festschreibung von Herrschaftsrechten über Territorien und mit den Grenzziehungen der Pariser Friedensverträge wurde durch die
Untertanen/Staatsbürger, andererseits um die Herausbildung von recht- Weltwirtschaftskrise der 1930er-Jahre angeheizt. Dies nahm das natio-
lichen wie auch emotionalen Zugehörigkeiten ging, in denen Unterta- nalsozialistische Deutschland - in Kooperation mit den nationalen Eli-
nen sich mit einem Staat identifizierten und die Grenzen zwischen ten vieler Nachfolgestaaten - zum Anlass, ein Homogenisierungstreiben
dem Eigenen und dem Fremden internalisierten. ungekannten Ausmaßes in Gang zu setzen, das durch den Eroberungs-
In Bezug auf die Überseeterritorien konnte an ältere Vorstellungen krieg und die deutschen Besiedlungspläne jedoch lediglich der Erwei-
von „Barbaren" und „Wilden" angeknüpft werden, die sich im Zusam- terung des deutschen Einflussbereichs diente. Die jüdische Bevölke-
menhang mit der kolonialen Durchdringung zum modernen Rassis- rung in Deutschland sowie den von Deutschland besetzten Gebieten
mus entwickelten. Das westeuropäische Erfolgsmodell blieb nicht ohne wurde, wenn sie nicht flüchten konnte, fast zur Gänze vernichtet. Die
Vorbildwirkung auf konkurrierende Mächte: In Russland bewirkte die Deutschen im Osten Europas hatten dafür nach dem verlorenen Krieg -
Westorientierung unter Peter dem Großen vermehrte Konsequenz in sanktioniert von den Beschlüssen der Alliierten - die Konsequenz der
der Durchsetzung von Ausschlüssen, was Andersgläubige, politische Aussiedlung zu tragen. Eng mit dem Vertreibungs- und Vernichtungs-
Gegner, Arme und Vagabunden anbelangt; die Oktoberrevolution stell- geschehen des Zweiten Weltkriegs verbunden war das Schicksal der
te sich in die Kontinuität der Verwestlichung, die nunmehr mit Hilfe Palästinenser, die angesichts der - ebenfalls von den Alliierten sanktio-
des Sozialismus als Instrument der nachholenden Modernisierung nierten - Staatsgründung Israels mit ihrer Vertreibung Platz für die
bewerkstelligt werden sollte. Im Osmanischen Reich setzten die Refor- jüdische Besiedlung machen mussten.
mer des 19. Jahrhunderts auf Osmanisierung bzw. Türkisierung als Man mag sich fragen, ob die Allgemeine Deklaration der Menschen-
Instrument des staatlichen Zusammenhalts; die ethno-religiösen Min- rechte, die Gründung der Vereinten Nationen und die Konsolidierung
derheiten verloren damit ihre geschützten Rechte und Aufgabenberei- völkerrechtlicher Prinzipien den kriegs- und krisenbedingten Vertreibun-
che, ihr Wunsch nach territorialer Autonomie endete im Zuge des Ers- gen der 1930er- bis 1950er-Jahre ein Ende gesetzt hat. Ein Blick auf die
ten Weltkrieges in ihrer Eliminierung aus dem Konzept einer „türki- neuen Staatsgründungen, die dem Zerfall der multiethnischen Staaten
schen" Nation. Sowjetunion, Tschechoslowakei und Jugoslawien folgten und neuen
Die Trennlinien von Ein- und Ausschluss beschränkten sich nicht Homogenisierungsdruck erzeugten, lässt nichts Gutes erwarten.
auf religiöse Gruppen. Der soziale Differenzierungsprozess, der West- Der Schlusspunkt wird durch die Beschäftigung mit der In- und
europa seit dem 16. Jahrhundert erfasste, erforderte es, den Anspruch Exklusionspraxis der Europäischen Union gesetzt, die Menschen- und
der Menschen auf Aufenthalt und soziale Rechte festzulegen. Dies be- Minderheitenrechte auf ihre Fahnen geschrieben hat, den Integra-
10 24
Sylvia Hahn - Andrea Komlosy - Ilse Reiter Einführung

tionsprozess innerhalb der Union jedoch mit der konsequenten Selek- Hanns Haas (Salzburg) zeigt in einem vergleichenden Überblick über
tion von so genannten Drittstaatsangehörigen in „legale" und „illega- das 20. Jahrhundert die verschiedenen Instrumente nationalstaatlicher
le", also erwünschte und unerwünschte Anwesende verbindet - mit der Homogenisierung auf - von der Assimilation über Option, Bevölke-
Konsequenz der Ausgrenzung und Abschiebung der letzteren. rungsaustausch bis zu Vertreibung, Deportation und Völkermord - , die
in den Bevölkerungsexperimenten vor, während und nach dem Zwei-
ten Weltkrieg eine nie gekannte Zuspitzung erfuhren. Haas leistet da-
DIE BEITRÄGE
mit eine völlig neuartige Verknüpfung verschiedenster Homogeni-
Der Band bietet eine Mischung aus Überblicks-, Vergleichs- und Fall- sierungsphänomene, die die Ambitionen von Kriegsverlierern und jun-
studien mit unterschiedlichen räumlichen Schwerpunkten, Typen, gen Nationalstaaten, des nationalsozialistischen Deutschland und des
Rechtsformen sowie Ursachen- und Motivbündeln von Ausweisung, Stalinismus sowie die internationalen Bemühungen um völkerrechtli-
Abschiebung und Vertreibung. Die zahlreichen Querverbindungen und che Lösungen miteinander in eine - typologisch-vergleichende sowie
Anschlussstellen zwischen den Beiträgen wollen dazu einladen, Ver- in den historischen Ablauf eingebettete - Beziehung setzt.
gleiche zu ziehen und die eingangs vorgestellten Hypothesen zu den Fikret Adanir (Bochum) geht der Frage nach, inwieweit Vertreibung
regionalen Bruchlinien und den historischen Entwicklungslinien zu und Bevölkerungstransfer im Bereich des Osmanischen Reiches am
überprüfen, zu verwerfen oder weiter zu entwickeln. Der Aufbau ent- Balkan und in Kleinasien eine „orientalische" Besonderheit dargestellt
spricht der Gliederung in drei historische Phasen, die durch je spezifi- haben: In seinem Beitrag über die Zeit zwischen dem Berliner Kongress
sche Ausprägungen von Ausweisung, Abschiebung und Vertreibung und 1878 und der Gründung der Türkei 1923 zeigt er auf, dass Bevölkerungs-
gleichzeitig eine Zunahme von deren Konsequenz - was Zielsetzung und Siedlungspolitik in diesem Raum an dem - vom westlichen Ideal
und Umsetzung anlangt - gekennzeichnet waren. geprägten - homogenen Nationalstaat orientiert war. Ilse Reiter (Wien)
Den Band eröffnet Hans-Heinrich Nolte (Hannover) mit einem Bei- greift mit der Staatsbürgerschaft ein Instrument auf, das mit der Zu-
trag über Duldung und Vertreibung (ethno-)religiöser Minderheiten in ordnung von Menschen zu einem Staat und den damit verbundenen
der frühen Neuzeit, in dem Gemeinsamkeiten und Unterschiede der politischen und sozialen Rechten immer auch den Ausschluss der Nicht-
verschiedenen Religionsgemeinschaften im Umgang mit Abtrünnigen staatsbürger - und damit die Möglichkeit von Ausweisung und Aus-
und Andersgläubigen herausgearbeitet werden. Gerd Schwerhoff (Dres- bürgerung - beinhaltet; in ihrem Beitrag wird diese Frage am Beispiel
den) greift an zahlreichen Beispielen aus dem Heiligen Römischen der österreichischen Staatsbürgerschaftspraxis nach dem Zerfall der
Reich das Phänomen des Stadt- und Landesverweises als eine Form Monarchie sowie der weiteren Entwicklung im Austrofaschismus, die
der strafrechtlichen Praxis auf und zeigt deren Stellenwert in der Ent- von politisch motivierten Ausbürgerungen bei gleichzeitiger Erschwe-
wicklung des Umgangs von Gesellschaften mit Kriminalität. Ernst rung der Einbürgerung gekennzeichnet ist, aufgezeigt. Der Flucht und
Wangermann (Salzburg) zeigt am Beispiel der großen Ausweisung der Vertreibung der europäischen Juden während und im Gefolge der na-
Salzburger Protestanten 1731/32 das Interesse des modernen Staates, tionalsozialistischen Herrschaft ist der Beitrag von Helga Embacher
religiöse Vertreibung mit einer Siedlungspolitik im Interesse der (Salzburg) gewidmet.
Territorialisierung der staatlichen Macht zu verbinden. Abgeschlossen wird der Band durch einen aktuellen Beitrag über
Andrea Komlosy (Wien) konzentriert sich auf Abschiebungen aus den zunehmenden Exklusionscharakter der Fremdenpolitik der Euro-
armenpolizeilichen Gründen, die dem sich formierenden Staat im 18. päischen Union in den vergangenen 30 Jahren: die Aktualität des The-
und 19. Jahrhundert administrativen Zugriff, Kontrolle der Mobilität mas ließ es hier geboten erscheinen, mit Beat Leuthardt (Basel) einen
und soziale Disziplinierung erlaubten. Sylvia Hahn (Salzburg) beschäf- Journalisten zu Wort kommen zu lassen.
tigt sich mit dem Umgang der Staaten mit revolutionären und opposi-
tionellen politischen Strömungen: Deren Angehörige wurden im 19.
Jahrhundert einerseits durch Einreiseverbote in ihrer Bewegungsfrei-
heit eingeschränkt, andererseits durch politischen Druck - bis hin zu
aktiver Ausweisungspolitik - zur Flucht gezwungen.
86 Ernst Wangermann

dieser Zeit betrugen sie sich nach Hays Zeugnis ruhig und sittsam
(Wolny 1973: Dok. 6, 128).
So endete diese letzte Episode in der Geschichte der Transmigration
für die Opfer ziemlich glimpflich. In den Genuss vollständiger Religi-
DER STAAT S C H I E B T AB
onsfreiheit und Gleichheit aller Konfessionen kamen die Bürger der
Habsburgermonarchie erst durch die Grundgesetze von 1867. Zur n a t i o n a l s t a a t l i c h e n K o n s o l i d i e r u n g von Heimat
und F r e m d e im 18. und 19. J a h r h u n d e r t

QUELLEN UND LITERATUR

Arneth, Alfred Ritter von (1879): Geschichte Maria Theresias, 10. Band. Wien
Beer, Mathias (2002): Die Landler. Versuch eines geschichtlichen Überblicks. In:
Bottesch, Martin u.a. (Hg.): Die Siebenbürgischen Landler. Eine Spurensicherung.
ANDREA KOMLOSY
Wien/Köln/Weimar
Buchinger, Erich (1980): Die „Landler" in Siebenbürgen. Vorgeschichte, Durchfüh-
rung und Ergebnis einer Zwangsumsiedlung im 18. Jahrhundert. Wien
Cornova, Ignaz (1801): Leben Josephs des Zweyten. Prag
Dedic, Paul (1940): Der Geheimprotestantismus in Kärnten während der Regierung Von der Öffentlichkeit unbemerkt erging am 4. August 1911 am Be-
Karls VI. (1711-1740) (= Archiv für vaterländische Geschichte und Topographie
zirksgericht Weitra, Niederösterreich, ein unspektakuläres Urteil:
26). Klagenfurt
Peter Leopold Kugler, geboren in Modes/Mutten (Mähren), 22 Jahre
Florey, Gerhard (1981): Die „Große Emigration". In: Amt der Salzburger Landesregie-
rung (Hg.): Reformation, Emigration: Protestanten in Salzburg (Katalog der Aus- alt, wurde schuldig gesprochen, „daß er in der Zeit vom 26. Mai bis 18.
stellung im Schloss Goldegg 1981). Salzburg Juli 1911 in Niederösterreich, Mähren, Oberösterreich und Steiermark
Karniel, Joseph (1986): Die Toleranzpolitik Kaiser Josephs II. (= Schriftenreihe des geschäfts- und arbeitslos herumgezogen sei und nicht nachzuweisen
Instituts für Deutsche Geschichte Universität Tel Aviv 9). Gerlingen vermöge, daß er Mittel zu seinem Unterhalt besitze oder redlich zu
Maaß, Ferdinand (1953): Der Josephinismus. Quellen zu seiner Geschichte in Öster-
erwerben versuchte, an öffentlichen Orten, von Haus zu Haus bettelte,
reich (= Fontes Rerum Austriacarum, II. Abt./ 72). Wien
Preidel, Fr. (1880): Bericht Hays über die Unruhen in der mährischen Walachei vom aus Arbeitsscheu die öffentliche Mildtätigkeit in Anspruch nahm, habe
3. September 1777. In: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protes- hierdurch die Uebertretung der Landstreicherei und des Bettels (...)
tantismus in Österreich, 1. Jahrgang. Wien/Leipzig begangen und wird (...) zu 14 Tagen strengen Arrest sowie zum Ersatz
Wangermann, Ernst (2004): Die Waffen der Publizität. Zum Funktionswandel der der Kosten des Strafverfahrens und Vollzuges verurteilt. (...) Wird nach
politischen Literatur unter Joseph II. Wien/München
der Strafverbüßung zur Abschiebung überstellt." (BG Weitra 1911)
Winter, Eduard (1955): Die tschechische und slowakische Emigration in Deutschland
im 17. und 18. Jahrhundert (= Deutsche Akademie der Wissenschaften: Veröffent- Der Fall zeigt einen Routinevorgang österreichischer Sozialpolitik.
lichung des Instituts für Slawistik 7). Berlin Nach Abspulung von rund 15, vom Gesetz klar geregelten Amtshand-
Wolny, Reinhold (1973): Die josephinische Toleranz unter besonderer Berücksichti- lungen, in denen der Wachtmeister, der Kugler am 18. Juli „wegen sei-
gung ihres geistlichen Wegbereiters Johann Leopold Hay (= Wissenschaftliche
nes bedenklichen Aussehens" angehalten und kontrolliert hat, das
Materialien und Beiträge zur Geschichte und Landeskunde der böhmischen Län-
Landesinfanterieregiment, das Kugler vom 7. Oktober 1910 bis zum
der 15). München
25. Mai 1911 beim Militärdienst in Bosnien-Herzegowina einsetzte,
das Landesgendarmeriekommando, die Heimatgemeinde, die Staats-
anwaltschaft sowie der Amtsarzt mit der Klärung der Hintergründe
und der Bereitstellung von Informationen befasst wurden, konnten Ver-
gehen wie Urteil bei der Hauptverhandlung auf einem vorgedruckten
Urteilsformular eingetragen werden.
Kugler hatte laut Strafregister seit seinem 15. Lebensjahr 13 Haft-
strafen, die längste zwei Monate schweren Kerkers, verbüßt; die Orte
100
Andrea Komlosy Der Staat schiebt ab 89

seiner Haft reichten von Wien über Südböhmen nach Tirol und Bay- ten keine administrative Barriere dar, an der unerwünschte von er-
ern. Rechtsgrund bildeten Landstreicherei, Arbeitsscheu und Diebstahl. wünschten Reisenden getrennt wurden. Das passlose Reisen endete
Wir können uns Kugler als einen ungelernten Arbeiter vorstellen, der allerdings an den Grenzen Russlands und des Osmanischen Reiches.
auf der Suche nach Arbeit durch die Lande zog, und sich in Zeiten," wo Die Habsburgermonarchie gehörte dem westeuropäischen Reiseraum
er arbeitslos war, durch Betteln und Kleinkriminalität durchbrachte. seit 1865 an (Burger 2000:23). Gleichzeitig erlebten fremdenpolizeiliche
Dabei kam er immer wieder - ob freiwillig oder aufgrund der Abschie- Überwachung und Abschiebung überall eine Ausweitung. In den meis-
bung nach verbüßter Strafe - in seine südmährische Heimat zurück. ten Staaten handelte es sich hierbei um Ausländer: Galten diese als
Familiäre Bindungen dürften dabei keine Rolle gespielt haben, denn politisch unerwünscht oder sozial bedürftig, wurden sie des Landes
die Mutter war 1897 verstorben, der Vater fühlte sich für den unehe- verwiesen. Binnenmigranten hingegen wurden in dem Maße, wie So-
lich geborenen Sohn nicht verantwortlich. Nach der Entlassung vom zialpolitik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer gesamt-
siebenmonatigen Militärdienst hatte sich Kuglers Existenzgrundlage staatlichen Angelegenheit wurde, auf die jeder Staatsbürger Anspruch
nicht verbessert. Anlässlich seiner Verhaftung gab er an: „Nach der hatte, an der Bewegungsfreiheit im Lande nicht mehr gehindert.
Entlassung vom Militär habe ich durch 14 Tage in Eisenerz in Steier- Die Habsburgermonarchie vollzog die westeuropäischen Liberali-
mark bei einem Eisenbahnbau als Arbeiter gearbeitet, wurde aber die sierungen im Reiseverkehr, nicht aber die Einschränkungen des Auf-
Arbeit wegen großer Regengüsse eingestellt. Von Steiermark bin ich enthalts im Staate selbst. Zwar gewährte das Staatsgrundgesetz von
dann zu Fuß nach O.Ö. gereist und wurde in Ternberg bei Steyr in Ö.Ö. 1867 Bewegungsfreiheit und freie Wahl des Aufenthaltsortes, allerdings
aufgegriffen und vermittelst Schubes in meine Zuständigkeitsgemeinde schränkte das Heimatgesetz von 1863 den Aufenthaltsort im Falle der
Mutten befördert, wo ich am 16. Juli angekommen bin." Er machte sozialen Bedürftigkeit auf die Heimatgemeinde ein. Für Menschen, die
sich bereits am folgenden Tag auf den Weg, drei Tage später wurde er außerhalb ihrer Heimatgemeinde lebten und dort Arbeit oder Unter-
in Weitra, zirka 80 Kilometer von Mutten entfernt, angehalten. Weil er halt verloren, bedeutete dies die zwangsweise Abschiebung in die Hei-
bereits wusste, dass ihm Arbeits- und Mittellosigkeit eine Verurteilung matgemeinde, die allein für Armenhilfe zuständig war. Während in den
wegen Landstreicherei und Bettelei einbringen würden, gab er sich als meisten westeuropäischen Staaten Ausweisung und Abschiebung im
einen anderen aus, hielt eine Reihe von fremden Dokumenten zum Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer nationalen Angelegenheit wurden,
Beweis von Identität und Beschäftigung bereit und gab verschiedene die gegen unerwünschte Ausländer gerichtet war, betrafen sie in der
Versionen seiner Heimreise aus der Herzegowina zum Besten. Das österreichischen Monarchie auch die Staatsbürger.
Gericht rekonstruierte daraus mithilfe von genau dokumentierten Nach-
forschungen den obigen Sachverhalt. Welche Version auch immer als
die wahre beglaubigt worden wäre: Die - im Urteilsvordruck bereits ARMENPOLITIK IM ÜBERGANG VON LOKALER
vorweggenommene - Kategorisierung als Landstreicher und Bettler EXKLUSION ZU S T A A T S B Ü R G E R L I C H E R INKLUSION
konnte er nicht entkräften. Das Urteil erwies sich als self-fulfilling Abschiebung und Ausweisung sind Anfang des 21. Jahrhunderts ein
prophecy und zog die zeitgemäße Problemlösung nach sich: Wegsper- Phänomen, das ausschließlich mit unerwünschter Einwanderung und
ren aufgrund von Antivagabundagegesetzen und armenpolizeiliche Ab- unerlaubtem Aufenthalt von Ausländern in Verbindung steht. Während
schiebung in die Heimatgemeinde. „Abschiebung" in der Europäischen Union massenhaft gegenüber Dritt-
Während das Wegsperren sowie die zwangsweise Abschiebung von staatsangehörigen zum Einsatz kommt, droht „Ausweisung" - nach
Arbeits- und Mittellosen in die Heimatgemeinde bis zum Zusammen- österreichischem Recht - jenen ausländischen EU-Bürgern, die nicht
bruch der Habsburgermonarchie Grundpfeiler von Sozialpolitik dar- über ausreichendes Einkommen oder Unterhalt verfügen, nicht kran-
stellten, gehörten Reiserestriktionen zunehmend der Vergangenheit an. kenversichert sind oder eine Gefahr für Ordnung, Sicherheit und Ge-
Seit den 1860er-Jahren entfiel die bis dahin vorherrschende Verpflich- sundheit darstellen.
tung, Reisen durch den Vörweis von Passdokumenten legitimieren zu Vor dem Zeitalter des Nationalstaats waren Abschiebung und Aus-
müssen (Torpey 2003: 78ff.). Dies galt gleichermaßen für Binnen- wie weisung hingegen ein lokales bzw. regionales Phänomen (vgl. Schwer-
für Auslandsreisen. Die Grenzen der westeuropäischen Staaten stell- hoff in diesem Band). Im Mittelalter entledigten sich damit Städte und
100 90
Andrea Komlosy Der Staat schiebt ab

Obrigkeiten unerwünschter Anwesender: Die Ursachen für die Auswei- aussetzung, um administrativen Zugriff, Steuer- und Rekrutierungs-
sung konnten politisch, ethnisch oder religiös bedingt sein (vgl. Nolte in hoheit sowie politische Kontrolle gegenüber den Staatsuntertanen her-
diesem Band); in der Mehrzahl der Fälle waren sie auch ökonomischer zustellen, war die Bevölkerungsevidenz. Unter dem Motto der „Staats-
Natur. Die Städte wollten nicht für fremde Bettler aufkommen und ver- reform" machten sich die modernen Herrscher an Volkszählungen,
anstalteten - wenn auch mit zweifelhaftem Erfolg - Bettelschübe zu deren Melderegister, Einwohner- und Fremdenlisten sowie Hausnumerierung.
Entfernung. Gleichzeitig gab es eine Reihe von karitativen Einrichtun- Ein zentrales Instrument, um Übersicht zu gewinnen und Zugehörig-
gen, und die Bevölkerung war Almosen gegenüber positiv eingestellt - keit zu klären, bildete die Zuordnung jedes Staatsuntertanen zu einer
freilich ohne jede Anspruchsberechtigung für die Armen. bestimmten Gemeinde. In dieser genoss der Untertan „politisches Do-
In der frühen Neuzeit führte die Zunahme des Pauperismus zu ei- mizil" und die - je zeitlich und räumlich - damit verbundenen sozia-
nem Andrang verarmter, Arbeit suchender ländlicher Unterschichten len und politischen Rechte. Das kommunale Heimatrecht hatte mit
in die Städte. Die Magistrate begegneten dem Andrang mit der Organi- der staatsbürgerlichen Verortung seinen Stellenwert geändert. Es re-
sation der Fürsorge für Bedürftige; gleichzeitig galt es jedoch, die Stadt gelte zwar weiterhin die armenrechtliche Zuständigkeit, allerdings fügte
als einen Ort, wo jeder mit Unterstützung rechnen konnte, weniger sich diese in den Territorialisierungsprozess des modernen Staates ein.
attraktiv zu machen (Geremek 1988: 158f.). Es wurde von staatlicher Die heimatrechtliche Verortung der (auf diesem Weg zu Staatsbürgern
Seite die Zuständigkeit der Heimatgemeinde als soziales Auffangnetz mutierenden) Staatsuntertanen bildete in Hinkunft die Grundlage für
festgelegt (Gemeindeprinzip). Diese Grundkonstruktion wurde zu Be- alle Rechte und Pflichten, und ganz besonders für die Administrations-
ginn des 16. Jahrhunderts in allen Staaten West- und Zentraleuropas und Kontrollkompetenz, die von den Herrschaften an die Staatsmacht
umgesetzt (Jütte 1995: 65; Lucassen 1997: 229f.; Schubert 1988: 115- übergingen. Ausgehend von der Frage, wo jemand zuständig war, konnte
17). Einzelne Gesetze legten einerseits die Verantwortlichkeit der Hei- nicht nur über soziale Subsiduen, sondern gleichermaßen über die
matgemeinde für subsidiäre Hilfe fest und legitimierten gleichzeitig Legitimität des Aufenthalts einer Person, über Passerteilung, Übersied-
die Abschiebung von Nichtanspruchsberechtigten in deren Heimatge- lung, Konskription und Verehelichung entschieden werden. Im Falle
meinde. Das Heimatprinzip gründete, je nach regionalen Traditionen, von Gesetzesübertretung oder Zuwiderhandlung gegen Aufenthalts- und
einmal stärker auf der Pfarrgemeinde, ein andermal stärker auf der - Reisebestimmungen wurden die Konsequenzen festgelegt, die sowohl
mit autonomen Gemeinderechten ausgestatteten, oder aber herrschaft- Strafen als auch die - nicht als Strafe aufgefasste - Abschiebung be-
lich dominierten - Dorf- oder Stadtgemeinde. Das Heimatrecht resul- inhalteten. Schub entwickelte sich auf diese Art und Weise von einer
tierte im Prinzip aus der Geburt, Frauen übernahmen bei der Heirat Sonderbehandlung für besondere soziale und politische Fälle zu ei-
das Heimatrecht des Ehemannes, eheliche Kinder jenes des Vaters. Im nem normalen Verwaltungsakt (Komlosy 2003: 85f.). Wo sich keine
Falle eines Ortswechsels konnte das Heimatrecht durch Besitz sowie staatliche Zentralgewalt etablierte, wie in den Generalstaaten der Nie-
den dauerhaften Aufenthalt in einer Gemeinde erworben werden. Ab- derlande, blieb das Heimatrecht allerdings eine lokale Angelegenheit.
schiebung richtete sich in erster Linie gegen mittellose Zugezogene Behördliche Maßnahmen zur Herstellung von Übersicht, Kontrolle
und Nichtsesshafte; durch die Zuschreibung von „Landstreicherei" und und territorialer Zuordnung zielten auf die gesamte Bevölkerung.
„Müßiggang" an fahrende Berufsgruppen kam es jedoch auch zur Ausländerinnen waren davon nicht ausgenommen, sie stellten aber als
Ethnisierung der Abschiebung. Herausragendstes Beispiel stellten die kleine Minderheit nirgends eine besondere Zielgruppe dar. Vielmehr
Zigeuner dar (Lucassen 1997: 232). wurden die Gesetze, die Aufenthalt und Bewegungsfreiheit regelten,
Im 18. Jahrhundert verwendeten die sich formierenden Staaten das nach Rang, Beruf und wirtschaftlicher Nützlichkeit einer Berufsgrup-
Heimatrecht, um direkten Zugriff auf die, bislang in multiple Abhän- pe bzw. ganz allgemein einer hohen Bevölkerungszahl für die Volks-
gigkeiten von mehreren Herrschaftsträgern eingebundenen Unterta- wirtschaft formuliert. Auf diese Art und Weise fiel die Regulation für
nen herzustellen. Die Hauptkonfliktlinie hierbei verlief zwischen den Adelige, Beamte, Studenten oder - im Bild des Zigeuners versinnbild-
intermediären Herrschaften, die ihre alten Rechte verteidigten, und lichte - Landstreicher höchst unterschiedlich aus. Ausländer wurden
dem modernen Staat, der zur Ausübung seiner Zentralgewalt eine von nur anlassbezogen zur Bedrohung, zum Beispiel Franzosen oder
der Regierung eingesetzte Bürokratie aufbaute. Eine wesentliche Vor- Schweizer in England sowie in deutschen Staaten zur Zeit der Franzö-
100 Der Staat schiebt ab 92
Andrea Komlosy

Die Migrationskontrolle veränderte sich erst, als die Mobilität im


sischen Revolution und während des Vormärz. Die in einem österrei-
Gefolge von Industrialisierung, Urbanisierung, infrastruktureller Er-
chischen Polizeihandbuch entwickelte Liste von „Menschen-Classen,
schließung und Massenmigration neue Formen annahm. Nicht zuletzt
die der Landessicherheit bereits gefährlich sind" (1) Müssiggänger,
die Verbreitung der Eisenbahnreise machte die Kontrolle der Bewe-
Landstreicher, Raubgesindel; 2) Bettler; 3) Inquisiten und Verbrecher;
gung durch Reisepässe obsolet.
4) Aus dem Arbeitshause getretene Leute; 5) Ausreißer) und solchen,
Statt dessen wurde Migration in Hinkunft über den Zugang zu Sozi-
„die der Landessicherheit gefährlich werden könnten" (Müssige a) Kin-
alleistungen kontrollierbar gemacht. Wie diese Kontrolle aussah, hing
der und Knaben; b) Studenten; c) Handwerksgesellen; d) Bräuknechte;
maßgeblich vom sozialpolitischen Versorgungskonzept ab, das in ein-
e) Dienstloses Gesindel; f) Hausierer, Strazzensammler, herumziehen-
zelnen Staaten praktiziert wurde. Im vorliegenden Zusammenhang geht
de Musikanten; g) im Lande herumziehende Israeliten; h) Bärenführer
es in dabei nicht um das Ausmaß und die Qualität der Leistungen,
u. dgl., i) vacirende Comödianten; k) Tabakschwärzer; 1) Zigeuner; m)
sondern um die Zugangsberechtigung. Es handelte sich zunächst aus-
Raubgesindel u. dgl.), zeigt keinerlei systematisches Interesse für Aus-
schließlich um soziale Unterstützung bei Verarmung im Falle, dass keine
länder (Barth-Barthenheim 1829, 1: 281, 289). Zu bedenken ist, dass
Angehörigen Sorge leisten konnten, also um Armenhilfe. Wo der Zu-
der Kontroll- und Regulierungswut der staatlichen Behörden in dieser
gang zu karitativen Leistungen wie in Großbritannien, Österreich oder
Zeit nirgends ein adäquater Polizeiapparat zur Verfügung stand. Und
Ungarn das Heimatprinzip fortschrieb, wurde die Erlangung des Hei-
lokale Behörden, die mit der örtlichen Umsetzung betraut waren, ver-
matrechts zur entscheidenden Voraussetzung - bzw. Blockade - nicht
folgten häufig Interessen, die den Zentralisierungsbemühungen der
nur von sozialer, sondern auch von Aufenthaltssicherheit. Verlagerte
Zentralbehörden diametral entgegenstanden.
sich die sozialpolitische Versorgung auf gesamtstaatliche Einrichtun-
Die systematische Unterscheidung zwischen In- und Ausländern war
gen, die allen Staatsbürgern unabhängig vom Aufenthaltsort zur Ver-
ein Resultat der staatsbürgerlichen Emanzipation, wie sie am radikals-
fügung standen, wie in Frankreich, Deutschland in den Niederlanden,
ten in der Französischen Revolution formuliert wurde. Der Ausbau
wurde die Staatsbürgerschaft zum ausschlaggebenden Zugangskri-
und die Angleichung der staatsbürgerlichen Rechte waren mit dem
terium. Je höher das effektive Leistungsniveau - und dieses stieg mit
Ausschluss derer verbunden, die keine Staatsbürger waren. Demokra-
der Industrialisierung und Urbanisierung und dem Verlust an traditio-
tie zu verwirklichen, bedeutete daher stets die Errichtung einer neuen
nellen Versorgungszusammenhängen, desto größer der Verteilungs-
Grenzlinie: jener zwischen Teilhabenden und nicht Teilhabenden und -
konflikt.
wenn es um den Zugang zu öffentlichen Leistungen ging - Anspruchs-
Unterschiede in den kulturellen und sozialen Traditionen, von Staats-
berechtigten und nicht Anspruchsberechtigten. Zunächst bewirkte die
werdung und politischer Verfasstheit, von Größe, wirtschaftlichem Ent-
staatsbürgerliche Transformation der Herrschaft, die die politische
wicklungsstand und Stellung innerhalb der internationalen Arbeitstei-
Landschaft Westeuropas in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
lung bewirkten eine große Vielfalt der Formen und Mittel sozialer Ab-
massiv in Bewegung brachte, keine staatlichen Einwanderungs-
sicherung in Europa. Wer war zugangsberechtigt und wer nicht? Un-
beschränkungen. In vielen Fällen wurde aktive Anwerbepolitik für In-
ter welchen Bedingungen konnte ein Fremder anspruchsberechtigtes
vestoren und Facharbeiter betrieben. Der Großteil der Migration voll-
Mitglied der Gemeinde werden? Welche Konsequenzen hatte der
zog sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts jedoch in Form von
Ausschluss? Nach der Vorstellung der sozialen Grundsicherungssysteme
Handwerkerwanderungen sowie saisonaler und zirkulärer Arbeitsmi-
im Vergleich ausgewählter europäischer Staaten, die sich der Heraus-
gration. Außer in den Niederlanden bzw. Belgien, die als hoch entwi-
forderung der nationalstaatlichen Territorialisierung im 19. Jahrhun-
ckelte Kleinstaaten die (Saison-)Wanderung keinerlei Beschränkungen
dert in unterschiedlicher Weise stellten, wird in einem zweiten Durch-
unterzogen und keine armenpolizeiliche Abschiebung praktizierten,
gang die jeweils damit verbundene Abschiebungspraxis herausgearbei-
wurden diese Arbeitswanderungen durch eine Kombination von Bin-
tet werden: Wer wurde in welchem System als fremd wahrgenommen,
nen- und Auslandspässen, Reise- und Aufenthaltsregeln, Schuban-
was bedeutete dies für die Aufenthaltssicherheit von Fremden, und
drohung und tatsächlicher Abschiebung politisch und sozial kontrol-
warum wurden Fremde abgeschoben? Im Mittelpunkt der vergleichen-
liert und mit der Nachfrageentwicklung auf den Arbeitsmärkten abge-
den Betrachtung steht also eine spezifische Form der Abschiebung,
stimmt (Moch 1992; Lucassen 1997: 229f.).
100 94
Andrea Komlosy Der Staat schiebt ab

nämlich jene, die durch mangelnde soziale sowie aufenthaltsrechtliche Wander- und Gelegenheitsarbeit aufbesserten und im Falle der Verar-
Verankerung am Wohnort hervorgerufen wurde. mung Zuflucht bei den sozialen Institutionen der Städte suchten. Sie
wurden mit ihren sozialen Ansprüchen per Fürstenerlass an die Ge-
meinden verwiesen, die bei Verarmung für ihre Unterstützung aufzu-
ARMENHILFE IM VERGLEICH
kommen hatten. Da diesen dafür meist die Mittel fehlten, spielte der
Die wirtschaftliche Expansion des „langen 16. Jahrhunderts" war von Ausschluss derer, die nicht anspruchsberechtigt waren, hier eine grö-
Bevölkerungszunahme und Besitzzersplitterung, Inflation, Reallohn- ßere Rolle als in Großbritannien. Gleichzeitig entstand eine Flut von
verlusten und sozialer Differenzierung begleitet. Die massenhafte Gesetzen, die die Bewegung und den Aufenthalt der umherziehenden
Pauperisierung erforderte neue Systeme der sozialen Kontrolle und und Arbeit suchenden Bevölkerung in obrigkeitlich kontrollierte Bah-
der sozialpolitischen Intervention (Geremek 1988: 114-119; 153f.). Leo nen zu lenken versuchten. Die Macht der Zentralgewalt gab Frank-
Lucassen führt die Unterschiede in der Armen- und Fremdenpolitik reich dafür in Form der Marechaussee, einer armenpolizeilichen Trup-
auf die Wirtschaftskraft und Kapitalausstattung der Staaten zurück. pe, die stärksten Mittel in die Hand; die deutschen Staaten hingegen
Dabei beschränkt er sich auf das westliche Europa, wo die adeligen waren aufgrund ihrer räumlichen Zersplitterung weniger durchset-
Grundherren der spätmittelalterlichen Krise durch die Kommerziali- zungsfähig und durch den Kompetenzkonflikt zwischen Fürst und Stän-
sierung der Landwirtschaft begegneten. Durch Vertreibung der Bau- den eingeschränkt.
ern vom Land (Einhegungen) und Besitzzersplitterung wurden ländli- Die Gebiete östlich von Elbe und - aus österreichischer Perspekti-
che Arbeitskräfte für industriell-gewerbliche Lohnarbeit freigesetzt ve - Leitha wurden die längste Zeit aus der Betrachtung ausgeklam-
(Lucassen 1997: 229f.). So basierte etwa der Erfolg der Niederlande mert (so auch bei Lucassen 1997). Da hier die Herrschenden auf die
auf städtischen Exportgewerben sowie einer spezialisierten Landwirt- spätmittelalterliche Krise - nicht zuletzt wegen der geringeren Bevöl-
schaft, die auf Migrantinnen angewiesen war. Diese kamen aus den kerungsdichte - mit einer verschärften Bindung der Untertanen an die
östlichen Provinzen sowie aus peripheren Regionen Norddeutschlands, Scholle („zweite Leibeigenschaft") reagierten, schien die Frage der so-
um mit ihrem Verdienst die Familie daheim zu unterstützen (Diederiks zialpolitischen Zuständigkeit von vornherein geklärt: diese lag beim
1996; Bölsker-Schlicht 1996). Die Haushalte der Daheimgebliebenen Gutsherrn. Genauere Untersuchungen zeigen freilich ein differenzier-
wiederum bildeten ein soziales Auffangbecken, sodass die Wanderar- teres Bild. So gab es zwischen dem westlichen Modell des agrarischen
beiter nicht auf Unterstützungsleistungen an ihren Arbeitsorten ange- Unternehmertums und dem östlichen Modell der Gutswirtschaft, die
wiesen waren. Für die einheimische Bevölkerung hingegen gab es ein mit Leibeigenen operierte, zahlreiche Zwischenformen, bei denen
System der sozialen Unterstützung am Geburtsort, das von lokalen Erbuntertänigkeit keineswegs mit Hörigkeit gleichgesetzt werden darf.
kirchlichen und privaten Einrichtungen getragen war. In Großbritan- Diese gemäßigten Formen waren in weiten Teilen der Habsburger-
nien, wo die Einhegungen am stärksten waren, lag es im Interesse des monarchie anzutreffen; sie reichten aber auch in die deutschen Staa-
Staates und der Unternehmer, die proletarisierten Unterschichten mit ten und nach Frankreich, wo es zahlreiche Einschränkungen der bäu-
Hilfe einer gezielten Armenpolitik vor Verarmung zu schützen und in erlichen Freiheit gab. Umgekehrt dürfen aber auch die Bewegungs-
geregelte Arbeitsverhältnisse überzuführen: Mit dem auf kommunaler spielräume von Leibeigenen nicht unterschätzt werden. In Russland
Unterstützungsleistung und Arbeitsbeschaffung beruhenden Poor Law- erfüllten Leibeigene als Händler, fahrende Handwerker, später auch
System entwickelte sich das erste, staatlich koordinierte, flächende- als Industrieunternehmer wichtige Funktionen. Zudem gelang es den
ckende Wohlfahrtsprogramm in Europa. In Frankreich und den deut- Herren beileibe nicht immer, die Flucht ihrer Hörigen zu unterbinden;
schen Staaten war der Kuchen, der für Arme zur Verfügung stand, nicht die Verschärfung des Steuerdrucks auf die Bauern unter Peter dem
so groß und die staatliche Zentralgewalt zu schwach, um eine Armen- Großen verlieh diesen Fluchtbewegungen neuen Auftrieb (Nolte 2004:
unterstützung nach englischem Muster zu verordnen. Da die große Mas- 3). Als Neusiedler, als Grenzer der russischen Peripherie, als von Almo-
se der Bauern im Rahmen der Rentengrundherrschaft stärker ans Land sen lebende Bettler in den Städten waren die entlaufenen Leibeigenen
gebunden war, beschränkte sich der Kreis der Bedürftigen zudem auf Teil einer mobilisierten, oft auch pauperisierten Bevölkerung. Sie wa-
Kleinbauern und ländliche Unterschichten, die ihr Einkommen durch ren auf Unterstützung außerhalb ihrer familiären, berufsspezifischen,
100
Andrea Komlosy Der Staat schiebt ab 97

über die Dorfgemeinde oder die Obrigkeit vermittelten sozialen Netze ner immer offeneren Spaltung der Gesellschaft Platz; die primäre sozi-
angewiesen. Von Staats wegen wurden seit Peter dem Großen zwar alpolitische Verantwortung sollte in Großbritannien jedoch bis 1948 in
Maßnahmen gesetzt, der Bettelei in Moskau und Sankt Petersburg Herr der Gemeinde bleiben.
zu werden, insbesondere durch Internierung oder Ausweisung von ver-
armten Zugezogenen. Die Armenvorsorge hingegen wurde als Angele-
Heiliges Römisches Reich
genheit der Gutsherrn und der Dorfgemeinden betrachtet. Umso mehr
entwickelten betroffene Landflüchtige zahlreiche Formen praktischer In Frankreich und in den Staaten des Heiligen Römischen Reichs, also
Selbstorganisation. auch in den Niederlanden, basierte die Armenunterstützung ebenfalls
auf dem Gemeindeprinzip. Die Grundlage bildete im Reich die Reichs-
polizeiordnung Ferdinands I. von 1530, die die Verantwortlichkeit der
England
Gemeinden für die Versorgung der einheimischen Armen festschrieb
Den Inbegriff staatlicher Armenpolitik stellte das englische Poor Law (Jütte 1995: 64; Lucassen 1997: 231). In Frankreich konzentrierte sich
dar, ein Komplex von Gesetzen, die zwischen 1601 und 1834 erlassen der Staat auf die Hauptstadt, wo einerseits die kirchlichen Armenspi-
wurden (Feldman 2003; Lees 1998). Die Krone legte fest, dass jede Ge- täler unter staatliche Aufsicht gestellt, andererseits die Entfernung von
meinde (parish) ihren berechtigten Mitgliedern im Notfall Unterstüt- Bettlern und Vagabunden aus der Stadt angeordnet wurde (Geremek
zung oder ATfcfeit zur Verfügung zu stellen habe; diese Verpflichtung 1988: 159-161). Die Armenversorgung am flachen Land hingegen blieb
war subsidiär gemeint, also nur, wenn sonst keine Verantwortlichen in den Händen der Pfarren (Dictionnaire 1996: „Paroisse"). Es galt auch
vorhanden waren, und sie galt nur für jene, die dem Gemeindeverband hier das Prinzip der Subsidiarität. Im Gegensatz zu England war mit
angehörten. Die Anspruchsberechtigung wurde 1662 im Act for the Better der Zuweisung der Verantwortlichkeit an die Gemeinden allerdings
Relief of the Poor geregelt, auch Settlement Act genannt. Man genoss keine verbindliche Finanzierungsstrategie verbunden, sodass die Leis-
Anspruch, wenn man in der Gemeinde geboren war oder eine bestimmte tungen höchst uneinheitlich und allenfalls in größeren Städten ein ge-
Zeit unbescholten hier gelebt hatte; alle anderen galten als Fremde, wisses Niveau erreichten. War eine Gemeinde nicht in der Lage, ihre
die - sobald sie der Armenhilfe bedurften - in ihre Zuständigkeits- Armen zu versorgen, stellte sie diesen Erlaubnisscheine für das Betteln
gemeinde abgeschoben wurden. Die gut funktionierende Armenpolitik, außerhalb ihres Territoriums aus - ein Recht, das von anderen Herr-
die die Gemeinden über eigene Armensteuern finanzierten, hatte also schaftsinhabern freilich nicht notwendigerweise anerkannt wurde. Die
ihre Kehrseite: den Ausschluss der nicht Anspruchsberechtigten. Da gesetzliche Festschreibung des Heimatprinzips bewirkte die Verlagerung
die englischen Armengesetze auch nach der Aufnahme Irlands in die der Armenkompetenz von privaten und kirchlichen Organisationen an
Union (1801) nur für England und Wales Gültigkeit besaßen, waren die Gemeinde. Was darunter konkret zu verstehen war, unterlag gro-
Iren - ebenso wie Schotten, die ein eigenes Poor Law hatten - davon ßen Unterschieden und umfasste - je nach Lage, Zeit und örtlicher Tra-
ausgeschlossen und sie hatten große Mühe, die Bedingungen für das dition - Untertanengemeinden mit Selbstverwaltungsrechten, grund-
Settlement in einer englischen Gemeinde zu erfüllen. Die englische obrigkeitliche Dorfgemeinden, städtische Magistrate, staatliche Steuer-
Armenpolitik hatte fremden- und sicherheitspolitischen Charakter und gemeinden oder - mit obigen nicht immer idente - Pfarrgemeinden.
sie diente der Sozialdisziplinierung; umgekehrt war sie aufgrund der Fest stand: Wer einer solchen Gemeinde nicht angehörte, hatte auch
effektiven Leistungen bei Armen gut akzeptiert. Als sich das Bild der kein Recht auf Versorgung, fiel er oder sie der Gemeinde zur Last, drohte
Armut im Gefolge von Napoleonischen Kriegen und Industrieller Re- die Abschiebung. Die Bedingungen für die Erlangung des politischen
volution in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts änderte, wurde das Domizils, die die kommunalen Rechte begründeten, bildeten daher eine
Poor Law den geänderten Bedingungen angepasst (1834 Poor Law zentrale und heftig umstrittene Frage. In der Praxis setzte sich in der
Amendment Bill). Das Settlement war immer schwerer zu erreichen, Regel das Prinzip des Dezenniums als Voraussetzung für die Erlan-
die offene Armenpflege in der Gemeinde wich einer disziplinierenden gung von Heimatrecht für Zugezogene durch.
Absonderung in geschlossene Anstalten, die die Armen zunehmend stig- Die unterschiedlichen Wege der staatlichen Konsolidierung ließen
matisierte und marginalisierte. Die soziale Integration machte so ei- im 17. und 18. Jahrhundert in Frankreich und in den deutschen Staa-
100
Andrea Komlosy Der Staat schiebt ab 99

ten unterschiedliche Tendenzen in den Vordergrund treten. Innerhalb antwortlichkeit nicht zuletzt gegenüber Kriegsheimkehrern -, nicht
des Reiches wiederum nahm die Habsburgermonarchie als zunehmend Heimatberechtigte abzuschieben (Dross 2002: 72f.). Das Ende des
vereinheitlichter Flächenstaat eine Sonderrolle ein (Komlosy 2003; Heimatprinzips brachten schließlich die Gesetze „über die Aufnahme
Melinz/Zimmermann 1991,1996; Stekl 1978). Heimatrecht und Armen- neu anziehender Personen" (1842) sowie über die „Verpflichtung zur
politik stellten zentrale Instrumente dar, um die Staatswerdung im Sin- Armenhilfe" (1843), die die Zuständigkeit der Gemeinden für die an-
ne der Errichtung direkter staatlicher Verfügungsgewalt voranzutrei- wesenden Bedürftigen festlegten. In Hinkunft entschied die Staatsbür-
ben. Einen Dreh- und Angelpunkt bildete die Bettlerschub- und Ver- gerschaft über den Anspruch auf - im Laufe der zweiten Hälfte des 19.
pflegsverordnung vom 16. November 1754, die die Bestimmungen für Jahrhunderts im Umfang zunehmende - Sozialleistungen. Weiter rei-
das politische Domizil genau regelte (Mayrhofer/Pace 1896, 2: 1087- chende Bedeutung erlangte dieser Schritt freilich erst, als das Wohnsitz-
1093). Mit der Anspruchsberechtigung wurde auch festgelegt, wie mit prinzip 1871 im Deutschen Reich verankert wurde, das damit dem
den nicht berechtigten Armen zu verfahren sei. Gleichzeitig wurden westeuropäischen - wenn auch nicht dem britischen Trend - folgte.
Verbote zur Erteilung von BettelberechTigungen und Bettelpässen er- Bayern sollte sich 1916 als letzter deutscher Staat anschließen.
lassen. Dienten die Verortungsbemühungen zunächst vor allem der
Festigung der staatlichen Kontrollgewalt, traten mit der Pfarrarmen-
Habsburgermonarchie
politik Josefs II. auch konkrete sozialpolitische Reformbemühungen
in Kraft (Stekl 1978: 35-40). Ähnlich wie in Großbritannien sollten die Als das provisorische Gemeindegesetz (1849) nach der Revolution von
Pfarrarmeninstitute anstelle von Bettelermächtigungen regelmäßige 1848 in Österreich die Ersitzungsdauer für das Heimatrecht von zehn
Sammlungen veranstalten und bei der Ausschüttung verbindliche Kri- auf vier Jahre herabsetzte, schien sich ebenfalls eine schrittweise Auf-
terien berücksichtigen: Die Unterstützung habe sich auf „wahrhaft weichung des Heimatprinzips abzuzeichnen (Mayrhofer/Pace 1896, 2:
Arme" zu beschränken, während Arbeitsunwillige in Arbeitshäusern 1061-74). Das Gemeindegesetz 1862 und das Heimatgesetz 1863 in-
zum Einsatz kommen sollten. Als Träger für die Armenreform erkor des wiesen in eine andere Richtung (ebd.: 980-1055; vgl. auch Reiter
Josef II. die in ihren Grenzen vom Staat neu festgelegte Pfarrgemein- 2000: 34-52): Sie reaktivierten das Heimatprinzip als Zugangsvoraus-
de, mit deren Hilfe gleichzeitig die nach Rom orientierte Kirchen- setzung für Armenhilfe, und zwar mit einer wesentlich engeren Ausle-
autonomie untergraben werden sollte. Im Endeffekt gelang es nicht, gung des politischen Domizils als sämtliche früheren Armengesetze.
das Leistungsniveau tatsächlich anzuheben und dem Problem der Das Heimatrecht konnte ein neu Zugezogener in Hinkunft nur erlan-
umherziehenden Massenarmut Herr zu werden. Da die zentralen Ar- gen, wenn er Grundbesitz oder Bürgerrecht erwarb, Staatsdiener war
beits- und Armenhäuser nur geringe Kapazitäten hatten, blieb Schub oder ausdrücklich in den Gemeindeverband aufgenommen wurde. Die
für die Gemeinden die einzig praktikable Strategie zur Lösung des Pro- Möglichkeit, das Heimatrecht nach einer gewissen Dauer des Aufent-
blems. Die Organisation von immer größeren Massen von Abzuschie- halts zu „ersitzen", gab es nicht mehr. Dies galt nicht nur für den Zu-
benden stellte die Behörden in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandernden, sondern auch für seine Ehefrau und für seine Nachkom-
vor schier unlösbare Probleme (Wendelin 2000: 254-276; vgl. auch men. Damit wurde bewusst in Kauf genommen, dass im Zeitalter der
Komlosy 2003: 322-330). massenhaften Zuwanderung in die Städte und Ballungszentren ein
großer und immer größerer Teil der anwesenden Bevölkerung vom Hei-
matrecht ausgeschlossen wurde (Hahn 2005: 27; Komlosy 2003: 100).
Preußen
Eine Abkehr von dieser scharfen Exklusionspraxis, die in Ungarn libe-
Im 19. Jahrhundert schieden sich der preußische/deutsche und der raler gehandhabt wurde als in der österreichischen Reichshälfte, brach-
österreichische Weg. Preußen sah im Allgemeinen Landrecht von 1894 te erst die Heimatgesetznovelle von 1896; diese führte in Österreich
eine erste Aufweichung des Heimatprinzips (Dross 2002; Jütte 1995: erneut das Dezennium als Voraussetzung für den Erwerb des Heimat-
71; Sachße/Tennstedt 1980) vor. Das Landrecht regelte einerseits die rechts am Zuwanderungsort ein; in Ungarn betrug diese Frist seit 1876/
Verantwortlichkeit der Gemeinden für die Armenversorgung, untersagte 1886 nur mehr vier Jahre - wobei das Niveau der Versorgung aller-
ihnen aber andererseits in einer Reihe von Fällen - aus nationaler Ver- dings viel geringer war und die Ausgrenzung von Nichtberechtigten
100 Andrea Komlosy
Der Staat schiebt ab 101

viel schärfer gehandhabt wurde als in Österreich (Melinz/Zimmermann dem guten Abschneiden der österreichischen Zentralräume im euro-
1991: 12, 108). päischen Vergleich war dieses Ungleichgewicht jedoch höchst förder-
Sieht man ein funktionierendes öffentliches Sozialsystem als Vor- lich (Komlosy 2003: 144).
aussetzung wie Begleiterscheinung erfolgreicher wirtschaftlicher Mo-
dernisierung, mag man - wie viele Zeitgenossen (vgl. Reiter 2000: 765-
79) und spätere Kritiker dies taten - das österreichische und das unga- Frankreich
rische Modell als Ausdruck wirtschaftlicher Rückständigkeit begrei- Das französische Modell der Armenversorgung wies zahlreiche Paral-
fen. In sozialpolitischer Hinsicht traf dies zweifellos zu, denn die Ver- lelen auf, so die grundsätzliche Zuständigkeit der Pfarre, wobei neben
sorgung der Armen in den ländlichen Gemeinden, in die die Zuwan- die privaten und kirchlichen Wohltätigkeitsorganisationen seit dem 16.
dernden abgeschoben wurden, ging häufig über die zwangsweise Reih- Jahrhundert zunehmend städtische Institutionen traten (Geremek 1988:
um-Einquartierung bei Gemeindemitgliedern nicht hinaus; wer in die 154; Dictionnaire 1996: „Paroisse"). Im Gegensatz zum Heiligen Rö-
Heimatgemeinde abgeschoben wurde, trachtete daher meist danach, mischen Reich, wo die fremden Armen in erster Linie durch Abschie-
diese sobald wie möglich wieder zu verlassen. Zwar entwickelten sich bung abgewehrt wurden, stand in Frankreich die Internierung von un-
unter dem Druck des Pauperismus seit den 1880er-Jahren Einrichtun- befugt Umherziehenden, ihr Einsatz im Kriegsdienst bzw. ihre Ein-
gen von Ländern und Kommunen, die Erwerbs- und Mittellosen unab- weisung in Armen- und Arbeitshäuser im Vordergrund. Zunächst war
hängig vom Zuständigkeitsprinzip offen standen (Melinz/Zimmermann die „große Einschließung" (Geremek 1988:274) auf das Hopitalgeneral
1996: 140-176). Die „Lösung" der Armenfrage beruhte jedoch weiter- (1665) von Paris beschränkt, 1767 hingegen wurde in allen Generalites
hin auf dem Schub sowie auf der Kriminalisierung der „Arbeitsscheu- die Einrichtung von staatlichen Depots de mendicite angeordnet (Dic-
en", die Internierung und Abschiebung rechtfertigte. Trotz alledem kann tionnaire 1996: „Mendiants"; „Depots de mendicite"). Zwecks Säube-
der restriktiven Fassung des Heimatrechts nicht ohne weiteres jede rung der Straßen von „Vagabunden, Bettlern, öffentlichen Dirnen und
Rationalität abgesprochen werden. Wenn in Wien 30 Jahre nach sei- allgemein die Sicherheit Störenden und Gefährdenden" wurde kurz
ner Einführung über 65 Prozent der anwesenden Bevölkerung, da sie darauf die Marechaussee geschaffen, die erste staatliche Polizeitruppe
kein Heimatrecht am Aufenthaltsort hatten, Bürger zweiter Klasse in Europa. Was in England der Poor Law Inspector darstellte, verkör-
darstellten (Komlosy 2003: 464) und im Verarmungsfalle von Abschie- perten in Frankreich Polizei und Zwangsarmenanstalt. Die Französi-
bung bedroht waren, stellten sie genau jene, gleichzeitig willige, billige sche Revolution veränderte an der staatlichen Disziplinierungspolitik
und gehorsame Arbeitskraft, die man sich von rechtlosen Migrantinnen nur wenig, die Verbannung der Armut blieb ein zentrales Anliegen. Die
erwarten kann. Das Heimatrecht eignete sich durch die Zugangs- Pfarre wurde 1792 als Träger der dörflichen Armenfürsorge abgeschafft
beschränkungen der Zuwanderer zu Sozialleistungen auch dafür, die und durch die politische Gemeinde ersetzt, der Anspruch auf Versor-
Migration in die Großstädte zu steuern: Zwar wurde wegen der im gungsleistung beruhte weiterhin auf der Domizilierung in einer Ge-
Grundgesetz verankerten Freizügigkeit niemand - auch wenn er aus meinde. Das domicile de droit wurde in seiner Bedeutung allerdings im
dem letzten Winkel des Reiches kam - daran gehindert, sein Glück als Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend durch die Staatsbürgerschaft
Migrant zu versuchen; bleiben konnten jedoch nur die, die sich erfolg- ersetzt und das Recht auf Armenunterstützung verwandelte sich von
reich auf dem Arbeitsmarkt der Zentralräume verankern konnten. Die einem lokal gebundenen zu einem landesweiten Anspruch, der jedem
Verlagerung der sozialen Verantwortlichkeit in die Herkunftsgemein- Staatsbürger zustand. Seit den 1840er-Jahren spielte der Unterschied
den, die als Abwanderungsgemeinden nicht über das politische Ge- zwischen dem domicile de droit und dem tatsächlichen Wohnsitz prak-
wicht verfügten, die Zuwanderungsgemeinden in die Verantwortung tisch keine Rolle mehr (Rosental 2003: 15f.).
zu nehmen, stellte für letztere schließlich eine große finanzielle Entlas-
tung dar. Dies trug dazu bei, dass der wirtschaftliche und gesellschaft-
liche Nutzen und die Kosten höchst ungleich auf die Regionen bzw. Niederlande
Gemeinden verteilt waren. Einer gesamtstaatlichen Angleichung von Einen Kontrast zur den absolutistischen Staaten stellten die Nieder-
Lebensniveaus und Entwicklungsbedingungen stand dies entgegen, lande dar, die sich von der habsburgischen Herrschaft befreiten und
Andrea Komlosy Der Staat schiebt ab 103
100

Bereich der Religionsgeschichte, denn die Bauern, die sich in diesem


1581 als Republik der Vereinigten Niederlande zwar eine moderne
Fall aus ihren Dörfern nach Moskau absetzten, gehörten der religiösen
Nation wurden, die allerdings keine starke staatliche Zentralgewalt
Gruppe der Altgläubigen an, die von der russisch-orthodoxen Hauptkir-
herausbildete (Gouda 1995). Armenunterstützung beruhte hier bis zur
che als Schismatiker - Raskolniki - angesehen wurden (vgl. Nolte in die-
Gründung des Königreichs 1815 ausschließlich auf dem Heimatprinzip
sem Band). Dies erklärt, warum sich in dieser Gruppe eine besondere
(Leeuwen 2000: 50). Träger der karitativen Einrichtungen waren in
Form von sozialer Verantwortlichkeit herausbildete.
erster Linie Kirchen und Private, daneben auch die Kommunen selbst.
Um - als Leibeigner - offiziell vom Land in die Stadt zu ziehen, war
Wer außerhalb seines Geburtsort bedürftig wurde, konnte dort unter
die Erlaubnis des Gutsherrn einzuholen und ein Abfahrtsgeld zu ent-
bestimmten Voraussetzungen zwar Fürsorge erhalten, für die Kosten
richten. Damit suchte man um den „Stand des Städters" an und bezahl-
hatte allerdings die Herkunftsgemeinde aufzukommen. Eine erste
te bis zur nächsten Volkszählung eine erhöhte Steuer. Wer sich das nicht
gesamtstaatliche Regulierung dieses strikt kommunalen Systems stell-
leisten konnte, musste jemanden finden, der ihn freikaufte und ihm er-
te das Gesetz über die Unterstützungsgemeinde von 1818 dar, das die
möglichte, den Betrag abzuarbeiten. Oder er floh illegal in die Stadt,
Verantwortung für die Armenversorgung nach vierjährigem Aufenthalt
benötigte in diesem Fall aber Schutz vor der Polizei, um der Abschie-
der Zuwanderungsgemeinde zuschrieb. Dies setzte nun auch in den
bung zu entgehen, sowie Unterstützung beim Neubeginn. Eine Reihe
Niederlanden langwierige Abklärungen über die Zuständigkeit in Gang.
von Altgläubigen war, nachdem sie ihre Dörfer freiwillig oder in Folge
Das Rückerstattungssystem durch die Heimatgemeinde wurde erst 1870
religiöser Verfolgung verlassen hatten, in Moskau seit dem 18. Jahrhun-
abgeschafft; damit hatte sich auch in den Niederlanden das Wohnsitz-
dert als erfolgreiche Händler und Unternehmer tätig. Die Staatskirche
gegenüber dem Heimatprinzip durchgesetzt.
gestand den Altgläubigen keine eigenen Kirchen zu; allerdings durften
sie „Friedhöfe" errichten. Diese fungierten als Pfarrgemeinden, die ih-
Russland ren Mitgliedern nicht nur geistigen, sondern auch materiellen Rückhalt
boten. Die altgläubigen Unternehmer, die insbesondere in der Baum-
Seit sich Russland unter Peter dem Großen der Modernisierung nach
wollindustrie aktiv waren, nahmen freigekaufte oder entlaufene Bauern
westlichem Vorbild verschrieben hatte, wurde die massenhafte Anwe-
gerne als Arbeitskräfte auf. Gleichzeitig fanden diese in der „Friedhofe-
senheit von Bettlern in den Städten als Problem wahrgenommen. In
gemeinde" Schutz, soziale Unterstützung und Unterkunft. Eine solche
den Antworten spiegelt sich das gesamte Spektrum westeuropäischer
Friedhofsgemeinde, das Rogozhskoe kladbishhe in Moskau, erreichte 1825
Armenpolitik: Vom Verbot des Betteins und des Müßiggangs (1691,1694),
fast 70.000 Mitglieder. Neben leibeigenen Bauern nahmen die altgläu-
der Unterscheidung unterstützungswürdiger von nicht unterstützungs-
bigen Unternehmer auch Deserteure sowie Frauen auf, die ohne Ehe-
würdigen Armen (1718) über die Schaffung von geschlossenen Armen-
mann aus dem Dorf geflohen waren. Ob es sich bei diesem Migra-
und Arbeitsanstalten (die Begriffe „Spinnhaus" und „Zuchthaus" wur-
tionsnetzwerk um pure Ausbeutung oder um ein kommunitaristisches
den einfach ins Russische übernommen), Wohlfahrtsreform und
Projekt handelte, steht hier nicht zur Debatte. In gewissem Sinn über-
Wohlfahrtsbürokratie (1767) bis hin zu einer Kaiserlichen Philan-
trugen die „Friedhofsgemeinden" die solidarischen Strukturen der rus-
tropischen Gesellschaft (1816) reichte das Repertoire (Jahn 2002;
sischen Dorfgemeinde in die Großstadt. Durch die Beschränkung auf
Schmidt 1996). Mangels administrativer Infrastruktur beschränkten sich
eine geschlossene religiöse Gruppe macht das Beispiel deutlich, dass
die staatlichen karitativen und Zwangseinrichtungen jedoch auf die Städ-
der russische Staat jenseits der gutsherrschaftlichen Zuständigkeit und
te, besonders Moskau und Sankt Petersburg. Im Wesentlichen versuch-
trotz Vorschriften für eine „gute Polizei" (Jahn 2002:160f.; Schmidt 1996)
te der absolutistische Staat, der Armen und der Bettler Herr zu werden,
nur über sehr geringe sozialpolitische Kompetenz verfügte.
indem er sie aus den großen Städten verbannte und in ihre Dörfer bzw.
zu ihren Herren zurückschickte. Der Flucht der Leibeigenen von ihren
Gutsherrschaften konnte damit kein Einhalt geboten werden. Am Bei- ABSCHIEBUNG IM VERGLEICH
spiel der Raskolniki soll illustriert werden, welche Formen die soziale
Versorgung freigekaufter oder entlaufener Leibeigener im Russland des Die politische Domizilierung in einer bestimmten Gemeinde hat jene,
18. und 19. Jahrhunderts annehmen konnte (Nolte 2004). Es fällt in den die vor Ort über kein Heimatrecht verfügten, zu „Fremden" gemacht.
100 104
Andrea Komlosy Der Staat schiebt ab

Auch im Englischen und im Französischen bringt die Sprache, selbst sische Staatswissenschaft spielte bei der Konstruktion des unerwünsch-
wenn die Übergänge oft fließend sind, den Unterschied zwischen „Aus- ten Fremden eine zentrale Rolle, die aus der Fremdenüberwachung
länder" und „Fremdem" zum Ausdruck: dem alien steht der foreigner hervorgehende Polizei war jedoch nicht auf die Abwicklung des Schubs,
gegenüber, dem etranger der forain. Heimatberechtigung, domicile de sondern die Internierung der zu Vagabunden Erklärten konzentriert.
droit, domiciliation und settlement verweisen auf lokal begründete Rechts- Das russische Modell zur Lösung des Pauperismus in Moskau und Sankt
ansprüche; Staatsbürgerschaft, citizenship und citoyenete auf allgemei- Petersburg wies große Ähnlichkeiten auf. Aufgegriffene Bettler und
ne Bürgerrechte, die unabhängig von Wohnsitz, place of residence oder „Müßiggänger" wurden - wenn sie nicht wegen unerlaubter Rückkehr
domicile de fait gelten. Worauf immer der Einschluss begründet ist, er ins sibirische Exil verbannt wurden - in die Obhut ihrer Gutsherren
konstituiert Fremde, deren Aufenthalt und Unterhalt besonderen Re- oder Dorfgemeinden abgeschoben, ohne eine funktionierende Schub-
geln unterliegt und die im Falle, dass sie dem Kollektiv der Einheimi- organisation geschweige denn Richtlinien für die herrschaftliche Ar-
schen zur Last fallen, mit Ausweisung zu rechnen haben. Es wurde menfürsorge zu etablieren (Jahn 2002: 159).
aufgezeigt, dass diese Ausweisungen mit den sozialen Differenzierungs- Mit der Kodifizierung der Staatsbürgerschaft im Gefolge der Fran-
prozessen der frühneuzeitlichen Wirtschaftsexpansion zunahmen. Eine zösischen Revolution nahm Abschiebung im 19. Jahrhundert zwei
Systematisierung der Abschiebung brachte dann aber erst die Konso- grundsätzlich verschiedene Ausformungen und Entwicklungsrich-
lidierung staatlicher Zentralgewalt im 18. Jahrhundert. In dem Maße, tungen an. Staaten, die das politische Domizil zur Voraussetzung poli-
wie die Mobilisierung der Unterklassen in der ländlichen Gesellschaft tischer und sozialer Berechtigung erklärten, hielten den kommunal
zunahm, stiegen Wanderarbeit und Bettelwanderung. Einzig in den definierten Fremdenbegriff aufrecht. Da Binnenmigranten den über-
Niederlanden wurden Bedürftige, die außerhalb ihrer Heimatgemein- wiegenden Teil der armutsgefährdeten Bevölkerung ausmachten, traf
de Unterstützung beanspruchten, nicht abgeschoben: Die unterstüt- Schub als armenpolizeiliche Maßnahme in erster Linie Staatsangehö-
zende Gemeinde holte sich die Kosten für verabreichte Sozialleistun- rige - außer in den Niederlanden, wo anstellte des Schubs die Versor-
gen in Form eines „Boagbriefes" von der Geburtsgemeinde zurück. In gungskosten mit der Domizilsgemeinde verrechnet wurden. Im öster-
England und in den deutschen Staaten bedeutete die verstärkte Unter- reichischen Kaiserstaat spielte die Nationalität für den Abschiebungs-
schichtenmobilität eine Zunahme der Abschiebungen; die Chance, dass tatbestand überhaupt keine Rolle; ob im Land oder über die Staats-
die Bedürftigen in ihrer Heimatgemeinde tatsächlich Abhilfe fanden, grenze abgeschoben wurde, machte keinen prinzipiellen Unterschied
war in England größer als im Heiligen Römischen Reich, wo die Ab- (Reiter 2000: 157). In England wiederum lagen Ausländer außerhalb
schiebungen hauptsächlich repressiven, disziplinierenden und sicher- des Anwendungsbereichs des Poor Law (Feldman 2003: 170; vgl. auch
heitspolitischen Charakter hatten. Das Schubverfahren wurde, selbst Fahrmeir 2000). Im zaristischen Russland basierte die Abschiebung
wenn es weiterhin durch die adeligen Herrschaften besorgt wurde, die nicht auf Heimatrecht, sondern auf der Bindung der Leibeigenen an
die unterste Ebene der staatlichen Verwaltung einnahmen, zunehmend ihre Gutsherrschaft; im Zuge der Abschaffung der Leibeigenschaft im
durch Gesetze und Verordnungen geregelt und der Aufsicht staatlicher Jahr 1861 wurden die bäuerlichen Gemeinden für die Ablösezahlungen
Behörden unterstellt. Abschiebungen unterlagen einem zunehmend an die Gutsherren, Kredite und Steuern haftbar gemacht, sodass sie in
standardisierten Ablauf, der Aufspürung und Aufgreifung, Verhör, Ent- Hinblick auf Passerteilung wie Armenhilfe für ihre Angehörigen deren
scheid und Einspruch, Internierung, Transport und Begleitung genau Funktion übernahmen (Nolte 2003:139 f). Während der Fremde in Eng-
regelte; dem „Schübling" wurde mit dem Schubpass ein Begleitdoku- land, Österreich, Ungarn, Russland und Bayern also weiterhin ein Staats-
ment mitgegeben, das gleich einem Reisepass sämtliche Angaben zur angehöriger sein konnte - und in der überwiegenden Zahl der Fälle auch
Person enthielt und die Stationen der Reise genau dokumentierte war -, wurden in jenen Staaten, die die Staatsbürgerschaft zur Voraus-
(Ammerer 2003: 201-220; Caplan/Torpey 1999; Reiter 2000: 526-614). setzung der sozialen Berechtigung erklärten, nur mehr Ausländer abge-
Dabei veränderte sich auch das Bild des Schubadressaten weg vom schoben. Schub wurde vom innerstaatlichen zum zwischenstaatlichen
hilfsbedürftigen Fremden hin zum Arbeitsscheuen, Vagabundierenden, Ereignis. Dieser Weg wurde, mit unterschiedlichem Einsatzdatum, in
dem Ideal der Arbeitsgesellschaft nicht Entsprechenden und der Si- den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Preußen bzw. ab 1871 - mit
cherheit tendenziell Gefährlichen (Lucassen 1997: 238f.). Die franzö- Ausnahme von Bayern - im Deutschen Reich beschritten.
100 Andrea Komlosy Der Staat schiebt ab 107

Großbritannien mischen Reich eskortiert. Die Überhandnähme des Betteins im Gefol-


ge der Napoleonischen Kriege, Inflation und Pauperisierung der Land-
In England und Wales waren im 19. Jahrhundert in immer stärkerem bevölkerung führte 1817 zur Verstärkung des Hauptschubs: Die Trans-
Maße Iren und Irinnen von Abschiebung betroffen. Ihr Zugang zum porte gingen nun auch nach Innerösterreich und nach Mähren, seit
Settlement wurde, da in Irland das englische Poor Law nicht galt, be- 1827/1828 zusätzlich nach Böhmen. Niederösterreichische Schüblinge
sonders restriktiv gehandhabt (Feldman 2003; Lees 1998:217-30). Um- wurden in ihre Kreishauptstädte befördert und von dort an ihren Be-
gekehrt wuchs die Zahl der irischen Arbeitsmigrantlnnen in der ersten stimmungsort weitergeleitet. Die Häufigkeit der Transporte stieg auf
Hälfte des 19. Jahrhunderts und ganz besonders nach der Hungersnot zwei Mal monatlich. Rechtlich gesehen, war „die zwangsweise Entfer-
der 1840er-Jahre enorm an. 1841 wurden in Britannien 400.000 Irinnen nung aus polizeilichen Rücksichten" keine Strafe, sondern eine
gezählt, 1861 bereits 806.000. Wurde ein Ire als Landstreicher aufge- „Vorkehrungsmaßregel zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicher-
griffen oder stellte er einen Antrag auf Sozialhilfe, folgte die Abschie- heit und Säuberung des Landes von verdächtigen und bestimmungs-
bung nach Irland. Die großen Schubtransporte gingen von Liverpool losen Vagabunden" (Mayerhofer 1856: 484-95). Sie erfolgte entweder
und Bristol ab, den Zentren der irischen Zuwanderung. Im Zeitraum mittels Wegweisung oder eben Schub. Die Wegweisung, die nur bei
1824-1831 wurden über 50.000 Irinnen abgeschoben, 1845-1849 30.000, „unbedenklichen Individuen" in Frage kam und voraussetzte, dass die-
1849-1854 erneut mehr als 50.000 (Feldman 2003: 170). Ein Rückgang se über Mittel zur Heimreise verfügten, schrieb dem Betroffenen per
der Irenabschiebung trat erst ein, nachdem der Poor Law Removal Act Zwangspass eine „gebundene Marschroute" vor. Die Abschiebung hin-
von 1861 nun auch für zugewanderte Iren nach einem Jahr Aufenthalt gegen, die bei schwierigeren Fällen zur Anwendung kam, bedeutete
das Bleiberecht einführte. Für die Abschiebung von Ausländern gab die zwangsweise Beförderung unter Begleitung von Wachorganen. Eine
es, unterbrochen durch das Einwanderungsgesetz während der Kriege verschärfte Variante von Schub und Wegweisung stellte die Abschaf-
mit Frankreich (1793-1826), bis zur Verabschiedung des Alien Act von fung dar, die als Strafe verhängt wurde und dem Betroffenen auf be-
1905 nur eine schwache Rechtsgrundlage. Wenn von den nach 1880 stimmte oder unbestimmte Zeit die Rückkehr verbot. Die aufgrund
nach Großbritannien eingewanderten 120.000 osteuropäischen Juden der Verfassungsänderungen aktualisierte Basis bildete in Cisleithanien
über 30.000 repatriiert wurden, handelte es sich um „freiwillige Rück- das Reichsschubgesetz von 1871, in Ungarn die Schubvorschrift von
kehr", die auf Druck und mit Hilfe jüdischer Organisationen in Eng- 1885; in beiden Staaten war die Armen- und Schubpolitik von Vaga-
land zustande gekommen war (Feldman 2003: 170f.). bunden* und Zwangsarbeitsgesetzen eskortiert (Reiter 2000: 207, 257;
Melinz/Zimmermann 1991: 20-23, 113f.; Stekl 1978: 47f.).
Als Gründe für Abschiebung und Wegweisung scheinen Mitte des
Habsburgermonarchie
19. Jahrhunderts in den Schubakten auf: „Bestimmungslosigkeit, Be-
In der Habsburgermonarchie blieb die praktische Schubabwicklung trug, Betteln, Conskriptionsflüchtling, Diebstahl, Exceß, Körperliche
trotz der Verdichtung der staatlichen Regelung von Armenversorgung Verletzung, Liederlicher Lebenswandel, Mangel an Ausweis, Mangel
und Abschiebung sowie der Einsetzung der Kreisämter als Kontroll- an Erwerb, Subsistenzlosigkeit, Ungültiger Ausweis, Unterstands-
und Berufungsinstanzen bis 1848 in den Kompetenzbereichen von losigkeit, Verbotenes Spielen, Veruntreuung, verbotene Reversion bzw.
Grundherrschaften und städtischen Magistraten; in der Folge ging sie Rückkehr" (Wendelin 2000: 303). Die Gesamtzahl der von Haupt- und
an die politische Gemeinde, die Bezirkshauptmannschaft und die Gen- Partikularschüben Betroffenen lässt sich nicht abschätzen; in den Jah-
darmerie über. Seit dem frühen 18. Jahrhundert gesellte sich zu dem - ren 1846-1849, die aufgrund der Revolutionsereignisse als besonders
von den an der Schubroute liegenden Herrschaften betreuten - Parti- turbulente Schubjahre gelten, wurden zu jedem Hauptschubtermin 150
kularschub von Einzelpersonen der von Wien unter staatlicher Beglei- bis 200 Personen abgeschoben, insgesamt verzeichneten die Polizeiak-
tung abgehende Wiener Hauptschub hinzu (Komlosy 1996: 579-582; ten 12.072 „Schüblinge". Davon gingen über 50 Prozent in die böhmi-
Wendelin 2000: 284-86). Die zum Abschub Bestimmten wurden im schen Länder und 22 Prozent nach Ungarn, das in Pass- und Schub-
Polizeigefangenenhaus gesammelt und zwei Mal pro Jahr, im Früh- sachen als Ausland gehandhabt wurde; das übrige Ausland war mit
jahr und im Herbst, an die Grenze zu Ungarn bzw. zum Heiligen Rö- 1.123 Fällen (9,3%) am Hauptschub vertreten (ebd.: 300). Im Jahr 1867
108
100 Der Staat schiebt ab
Andrea Komlosy

Westeuropa
lag die Zahl der per Hauptschub aus Wien Abgeschobenen über 10.000
(ebd.: 286). Ein Gesamtüberblick liegt erst für die Jahre 1880-1910
Ein gänzlich anderes Bild von Abschiebung vermitteln die westeuro-
vor. In diesem Zeitraum wurden geschätzte 150.000 Personen von Wien
päischen Staaten Niederlande, Belgien und Frankreich, zu denen sich -
an den Ort ihrer Heimatberechtigung abgeschoben, also durchschnitt-
mit fließendem Übergang - auch Preußen gesellte. Abschiebungen aus
lich 5.000 pro Jahr (Komlosy 1996: 567); in Budapest lag die Zahl bei
armen-, fremden- oder sicherheitspolizeilichen Gründen betrafen hier
7.500 bis 9.000 (Melinz/Zimmermann 1991:35). 1890 entfielen in Wien
im 19. Jahrhundert grundsätzlich nur Ausländer. Wer abzuschieben
auf 1.000 Einwohner 7,0 Abschiebungen, in Budapest 13,6, in P r a g -
sei, wurde in diesen Staaten nicht über das Heimatrecht, sondern über
aufgrund einer besonders engen Festlegung der Stadtgrenzen, die die
Fremdengesetze geregelt. Diese wurden von einem zunehmend ausge-
unmittelbaren Vorstädte vom eigentlichen Stadtgebiet ausschloss -18,7
feilteren Korpus von Vagabundengesetzen flankiert. Obwohl ausländi-
(Melinz/Zimmermann 1996: 165). Die zahllosen Partikularschübe, die
sche Vagabunden anderen Bestimmungen unterlagen als einheimische,
nach der Abschaffung der Herrschaften von den Gemeinden, Magi-
ebnete sich in der Beschreibung dieser Bevölkerungsgruppe die Unter-
straten und Bezirksgerichten verfügt wurden, sind nur partiell bekannt.
scheidung zwischen Staatsangehörigen und Ausländern wieder ein:
Erst mit dem Ausbau staatlicher und kommunaler Wohlfahrtspolitik,
Vagabunden haftete unterschiedslos das Stigma des Fremden weil
der im Zusammenhang mit wirtschaftlichen Expansionsphase der
Heimatlosen an. Auch zu „Landstreichern", „Vagabunden" und damit
„Gründerzeit" ab 1896 stand, waren die Schubzahlen rückläufig. Der
häufig gleich zu „Zigeunern" erklärte Staatsbürger wurden durch be-
Übergang zu einer Sozialpolitik, die die Zuwanderung in die großen
sondere Kontrollen schikaniert und zunehmend aus der Öffentlichkeit
Städte und Ballungsräume als Ergebnis von Industrialisierung und
weggesperrt (Lucassen 1997: 244-246).
Urbanisierung zur Kenntnis nahm, indem sie vor Ort Fürsorgeinsti-
Als besonders liberal werden gerne die Niederlande und Belgien
tutionen für Alte, Kinder und Jugendliche, Arbeitslose und Obdachlo-
dargestellt (Caestecker 2003; Lucassen 2003). Ihre Pass- und Fremden-
se sowie soziale Problemfälle bereitstellte, war in der österreichischen
gesetze folgten im 19. Jahrhundert dem Prinzip der Staatsbürgerschaft,
Reichshälfte - und hier insbesondere in Wien - stärker ausgeprägt als
das sich am französischen Modell orientierte. Dazu kommt, dass in
in Ungarn, wo die soziale Polarisierung stark, die öffentliche Fürsorge
den Niederlanden auch in der frühen Neuzeit das Heimatprinzip in
schwach entwickelt und die Ausgrenzung der Armen weit restriktiver
der Armenhilfe nicht mit Schub, sondern mit interkommunalem Kos-
gehandhabt wurde. Ein deutlicher Ausdruck des sozialpolitischen Um-
tenausgleich verbunden war (Leeuwen 2000: 49f.). Es war allerdings
denkens in Cisleithanien war die Heimatgesetznovelle von 1896, die
üblich, fremde Bettierund Umherziehende mittels Almosenzahlungen
Zugezogene - wie vor 1863 - berechtigte, nach zehnjährigem ununter-
zum Weiterziehen zu verpflichten. Nach dem Ende der Napoleonischen
brochenen Aufenthalt das Heimatrecht zu erlangen. In den Jahren nach
Kriege und der Spannungen im Zuge der Abtrennung des belgischen
In-Kraft-Treten der Novelle (1901) bekam eine große Zahl von zuge-
Staates von den Niederlanden (1831), als jede Bewegung genau regis-
wanderten Personen, die oft schon jahrzehntelang am Ort gelebt hat-
triert wurde, herrschte ein offenes Klima gegenüber Fremden. Auslän-
ten, das Heimatrecht zugesprochen (Hahn 2005: 39). Im Gefolge der
der, die ihren Wohnsitz im Land hatten, genossen weitreichende
Aufnahme der ansässig gewordenen Migranten in den Gemeindever-
Aufenthaltsrechte. Nach einigen Jahren erhielten sie eine dauerhafte
band erhielten auch deren Gattinnen und Nachfahren, die ja vielfach
Aufenthaltsgenehmigung, das heißt sie konnten nicht mehr abgescho-
bereits am Aufenthaltsort geboren waren, das Heimatrecht. Kleinere
ben werden. Die Fremdengesetze von 1839 (Belgien) und 1840 ( N L )
Städte, die über geringeren finanziellen Handlungsspielraum verfüg-
legten die Gründe fest, die zur Ausweisung führten, und regelten deren
ten, handhabten die Aufnahme in den Gemeindeverband restriktiver
Ablauf (Caestecker 2003: 122; Lucassen 2003: 187). Mit Abschiebung
als die Metropole Wien (ebd.; Melinz/Zimmermann 1996: 170f.).
mussten nicht nur straffällig gewordene Ausländer rechnen, sondern
Ein ähnliches Bild wie der österreichische Kaiserstaat zeigt das Kö-
auch verarmte. Allerdings wurde den Betroffenen freigestellt, die Gren-
nigreich Bayern - hier war die Binnenwanderung auf die Hauptstadt
ze, über die sie abgeschoben wurden, frei zu wählen. Das Gesetz folgte
München konzentriert, die auch im Mittelpunkt der Überwachungsmaß-
damit nicht dem Heimatprinzip, sondern dem nationalen Anliegen,
nahmen und Abschiebungen in die überwiegend in der bayerischen Pro-
Ausländer, die dem Land zur Last fielen, los zu werden. Seit den 1880er-
vinz gelegenen Heimatgemeinden stand (Carpenter 2003).
100 110
Andrea Komlosy Der Staat schiebt ab

Jahren stieg die Zahl der Ausweisungen sprunghaft an und überstieg in entspricht der unterschiedlichen staatsrechtlichen Legitimation von
Belgien in Spitzenjahren die 10.000er-Marke (Caestecker 2003:125). Die- nationalem Einheitsstaat und Vielvölkerreich. Das Bestreben nach na-
ser Anstieg kam zustande, weil der Arbeitsmarkt für Saisonarbeitskräfte, tionaler Homogenisierung führte im Deutschen Reich 1885 zu einer
die traditionell aus dem Ausland kamen, großen Veränderungen unter- Ausweisungswelle von polnischen Arbeitsmigranten, die mögliche ar-
lag, andererseits die Anhebung des Leistungsniveaus bei der sozialen men- und sicherheitspolitische Motivationen in ethnisch-nationale
Absicherung deren Nationalisierung beförderte. Auch in Frankreich er- Kategorien überführte. Binnen Jahres wurden 30-40.000 polnische
reichte die Abschiebung von Ausländern im letzten Viertel des 19. Jahr- Arbeitsmigrantlnnen, die aus Galizien oder Russisch-Polen kamen,
hunderts mit 3.000 bis 4.000 Abschiebungen pro Jahr bisher ungekannte unter Berufung auf Aufenthaltsgesetze des Landes verwiesen. Dahin-
Ausmaße (Caestecker 2003: 133). Gleichzeitig kam es zur Verschärfung ter stand das Bemühen, die angebliche Polonisierung Deutschlands zu
der Fremden- und Vagabundengesetze, die sich gleichermaßen gegen verhindern und insbesondere den Verkauf von Land an Polen zu unter-
In- und Ausländer richteten, Ausländer dabei jedoch besonderen Regis- binden (Olsson 1996: 879f.). Obwohl Polen in Deutschland weiterhin
trierungs- und Kontrollmaßnahmen unterwarfen (Caestecker 2003:129). als „Polacken" stigmatisiert wurden, konnten ostelbische Großgrund-
besitzer und rheinische Industrielle, die mit polnischen Arbeitsmigrant-
lnnen produzierten, diese Abschiebungen stoppen, und Bismarck
Preußen/Deutsches Reich musste abdanken. Für landwirtschaftliche Saisonarbeitskräfte aus
Wenn auch unter gänzlich anderen ökonomischen Voraussetzungen und Galizien und Russisch-Polen wurde in der Folge ein Saisonniermodell
mit einem anderen Verständnis vom Nationsbegriff, vollzog Preußen den entwickelt, das jede Aufenthaltsverfestigung verhinderte, denn es wur-
Übergang zum staatsbürgerschaftlichen Modell (Dross 2002). Einen den nur Einzelpersonen ohne Familienangehörige akzeptiert, ihr Auf-
vollständigen Durchbruch der Unterstützung am Wohnsitz darf man sich enthalt war auf zehn Monate im Jahr beschränkt, um die jährliche
durch die Reformen der Armenhilfe 1842/1843 allerdings nicht vorstel- Rückkehr zur Familie daheim zu gewährleisten (Olsson 1996: 881).
len. Denn einerseits konnten die Gemeinden eine Reihe von Einschrän- Gleichzeitig wurde Deutschland mit seiner nationalen Handhabung
kungen durchsetzen, etwa die Bindung des Anspruchs an eine gewisse des Schubs in Westeuropa zum Trendsetter (Caestecker 2003: 126f.).
Dauer des Aufenthalts; wer noch keine drei Jahre (1842, 1855 auf ein Schon seit längerer Zeit machten die deutschen Staaten auf die westli-
Jahr herabgesetzt) im Ort lebte, dessen Versorgungskosten wurden der chen Nachbarn Druck, nur mehr deutsche Staatsbürger über ihre Gren-
Herkunftsgemeinde in Rechnung gestellt (Dross 2002: 78). Zudem ging zen auszuweisen. Ab 1884 verweigerten deutsche Grenzer Abgescho-
die Einführung des Wohnsitzprinzips mit der Verabschiedung eines neu- benen ohne deutsche Staatsbürgerschaft die Einreise. Unter diesem
en Vagabundengesetzes einher (1843), das erlaubte, unerwünschte Arme Druck konnten die Niederlande und Belgien die freie Wahl der Ab-
als „Landstreicher" oder „Bettler" zu kriminalisieren und sich ihrer un- schiebungsgrenze nicht länger aufrechterhalten. In der Folge entwi-
ter diesem Rechtstitel zu entledigen. Solange die deutschen Staaten zer- ckelte sich ein System zwischenstaatlicher Abkommen zwischen sämt-
splittert waren, bedeutete die Beschränkung der Abschiebung auf Aus- lichen westeuropäischen Staaten, die die gegenseitige Übernahme von
länder keine allzu große Entspannung im Schubgeschehen. Sobald die Staatsbürgern sowie die Modalitäten für Transitschübe festlegten. Aus-
Unterstützung am Ort der Niederlassung jedoch auch im Norddeutschen weisung war damit zu einem multilateralen Akt geworden, der auf der
Bund (1870) und im Deutschen Reich (1871) übernommen worden war, Inklusion der Staatsbürger im Nationalstaat beruhte. Je stärker dieser
hatte die nationale Zugehörigkeit den Sieg über das Heimatrecht errun- das soziale Netz ausbaute und vereinheitlichte, desto schärfer wurde
gen (Sachße/Tennstedt 1980: 199f.). Der föderale Aufbau des Deutschen die Exklusion gehandhabt.
Reichs bedingte allerdings die Unterscheidung zwischen der „Reichs- In Russland kam es unter der Zarenherrschaft nur ansatzweise zur
verweisung", die nur Kriminellen galt, und der „Landesverweisung". Aus Ausbildung staatsbürgerlicher Rechte. Nach der Abschaffung der Leib-
Preußen wurden im Jahrzehnt vor dem Ersten Weltkrieg zirka 3.000 bis eigenschaft sorgten Staat und adelige Landbesitzer dafür, dass die
4.000 Fremde pro Jahr abgeschoben (Caestecker 2003: 133). patriarchale Bindung an die Scholle an die Dorfgemeinde überging
Dass Preußen und das Deutsche Reich dem nationalen Prinzip folg- (Nolte 2003: 97, 139). Diese bekam die finanzielle Gesamthaftung für
ten, Österreich und Ungarn hingegen das Heimatrecht beibehielten, ihre Mitglieder aufgebürdet und stand daher deren Abwanderung in
100 112
Andrea Komlosy Der Staat schiebt ab

die Städte negativ gegenüber; gleichzeitig war sie die einzige Einrich- Geremek, Bronislaw (1988): Geschichte der Armut. Elend und Barmherzigkeit in
tung, die sozialpolitische Aufgaben am Land erfüllte: Auf diese Art und Europa. München/Zürich
Gouda, Frances (1995): Poverty and Political Culture. The Rhetoric of Social Welfare
Weise wurde in Russland das Prinzip der Heimatgemeinde, auch wenn
in the Netherlands and France, 1815-1854. Lanham
diese Bezeichnung nicht vorkam, mit der Auflösung der Leibeigenschaft Grell, Ole Peter/Cunningham, Andrew/Jütte, Robert, Hg. (2002): Health Care and Poor
eingeführt. Ein Austritt aus der Kollektivhaftung der Dorfgemeinde Relief in 18lh and 19lh Century Northern Europe. Aldershot
und damit die individuelle Freizügigkeit der Bauern wurde erst durch Hahn, Sylvia (2005): Fremd im eigenen Land. Zuwanderung und Heimatrecht im 19.
die Agrarreform von Ministerpräsident Stolypin (1906) ermöglicht Jahrhundert. In: Pro Civitate Austriae. Informationen zur Stadtgeschichtsforschung
in Österreich, NF 10: 23-44
(Nolte 2003: 157).
Jahn, Hubertus (2002): Health Care and Poor Relief in Russia, 1700-1865. In: Grell,
Ole Peter/Cunningham, Andrew/Jütte, Robert (Hg.): Health Care and Poor Relief
in 18th and 19th Century Northern Europe. Aldershot: 157-171
LITERATUR
Jütte, Robert (1995): Bettlerschübe in der frühen Neuzeit. In: Gestrich, Andreas/Hirsch-
Ammerer, Gerhard (2003): Heimat Straße. Vaganten im Österreich des Ancien Regime feld, Gerhard/Sonnabend, Holger (Hg.): Ausweisung und Deportation. Formen
(= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien 29). Wien/München der Zwangsmigration in der Geschichte. Stuttgart: 61-71
Barth-Bartenheim, J. L. E. (1829): System der österreichischen administrativen Polizey Komlosy, Andrea (1996): „Zur Belassung am hiesigen Platze nicht geeignet...". Selek-
mit vorzüglicher Rücksicht auf das Erzherzogthum Oesterreich unter der Enns, 2 tion und Kontrolle der Zuwanderung ins Kernland der Habsburgermonarchie.
Bde. Wien In: Jahrbuch für Landeskunde von NÖ, NF Bd. 62, 2. Teil. Wien: 555-584
Bezirksgericht Weitra (1911): Akte Peter Leopold Kugler. Dokumentationsarchiv für Komlosy, Andrea (2003): Grenze und ungleiche regionale Entwicklung. Binnenmarkt
das Obere Waldviertel Gmünd: Sammlung Drach und Migration in der Habsburgermonarchie. Wien
Bölkser-Schlicht, Franz (1996): Deutsche Saisonarbeiter in den Niederlanden. In: Nolte, Lees, Lynn Hollen (1998): The Solidarities of Strangers. The English Poor Laws and
Hans-Heinrich (Hg.): Deutsche Migrationen. Münster: 41-66 the People, 1700-1948. Cambridge
Burger, Hannelore (2000): Paßwesen und Staatsbürgerschaft. In: Heindl, Waltraud/ Leeuwen, Marco H. D. van (2000): The Logic of Charity. Amsterdam, 1800-1850. Lon-
Saurer, Edith (Hg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimat- don u.a.
recht und Fremdengesetzgebung in der österreichischen Monarchie (1750-1867). Lucassen, Leo (1997): Eternal Vagrants? State Formation, Migration, and Travelling
Wien/Köln/Weimar: 3-172 Groups in Western Europe, 1350-1914. In: Lucassen, Jan/Lucassen, Leo (Hg.):
Caestecker, Frank (2003): The Transformation of Nineteenth-Century West European Migration, Migration History, History: Old Paradigms and New Perspectives. Bern
Expulsion Policy, 1880-1914. In: Fahrmeir/Farn/Weil (Hg.): 120-137 u.a.: 225-252
Caplan, Jane/Torpey, John, Hg. (1999): Documenting Individual Identity: The Deve- Lucassen, Leo (2003): Revolutionaries into Beggars: Alien Policy in the Netherlands
lopment of State Practises in the Modern World. Princeton 1814-1914. In: Fahrmeir/Faron/Weil (Hg.): 178-194
Carpenter, Kim M. N. (2003): .Beggars appear everywhere': Changing Approaches to Mayrhofer, Ernst (1856): Handbuch für den politischen Verwaltungsdienst bei den
Migration Control in Mid-Nineteenth Century Munich. In: Fahrmeir/Farn/Weil Landes-, Kreis- und Bezirksbehörden im Kaiserthum Oesterreich. Wien
(Hg.): 92-105 Mayrhofer, Ernst/Pace, Anton (1896): Handbuch für den politischen Verwaltungsdienst
Dictionnaire de 1'Ancien Regime. Royaume de France XVI-XVIIIe siecle (1996): „De- in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern, 8 Bde (Wien 1895-
pots de Mendicite": 396f.; „Mendiants": 815f.; „Paroisse": 965-968. Paris 1903), 2 Ergänzungsbände (Wien 1909/1913)
Diederiks, Herman (1996): Deutsche Arbeitsmigranten in den Niederlanden. In: Nolte, Melinz, Gerhard/Zimmermann, Susan (1991): Über die Grenzen der Armenhilfe. Kom-
Hans-Heinrich (Hg.): Deutsche Migrationen. Münster: 41-66 munale und staatliche Sozialpolitik in Wien und Budapest in der Doppelmonarchie.
Dross, Fritz (2002): Health Care Provision and Poor Relief in Enlightment and 19th Wien/Zürich
Century Prussia. In: Grell, Ole Peter/Cunningham, Andrew/Jütte, Robert (Hg.): Melinz, Gerhard/Zimmermann, Susan (1996): Die aktive Stadt. Kommunale Politik
Health Care and Poor Relief in 18th and 19th Century Northern Europe. Aldershot: zur Gestaltung städtischer Lebensbedingungen in Budapest, Prag und Wien (1867—
69-111 1914). In: dies. (Hg.): Wien - Prag - Budapest. Urbanisierung, Kommunalpolitik,
Fahrmeir, Andreas (2000): Citizens and Aliens. Foreigners and the Law in Britain and gesellschaftliche Konflikte (1867 - 1918). Wien: 140-177
the German States, 1789-1870. New York Moch, Leslie Page (1992): Moving Europeans. Migration in Western Europe since
Fahrmeir, Andreas/Faron, Olivier/Weil, Patrick, Hg. (2003): Migration Control in the 1650. Bloomington
North Atlantic World. The Evolution of State Practices in Europe and the United Nolte, Hans-Heinrich (2004): Religion and Industrial Development in 19th Century
States form the French Revolution to the Inter-War Period. New York/Oxford Russia: The Raskolniki. Vortrag auf der Tagung „World Views, Values, Rules, and
Feldman, David (2003): Was the Nineteenth Century a Golden Age for Immigrants? Economic Change", Global Economic History Network, 3.-6. Juni 2004, Konstanz,
The Changing Articulation of National, Local and Voluntary Controls. In: Fahrmeir/ unveröff. Manuskript
Fara/Weil (Hg.): 167-177 Nolte, Hans-Heinrich (2003): Kleine Geschichte Russlands. Stuttgart
114 Andrea Komlosy

Olsson, Lars (1996): Labor Migration as a Prelude to World War I. In: International
Migration Review 30: 875-900
Reiter, Ilse (2000): Ausgewiesen, abgeschoben. Eine Geschichte des Ausweisungsrechts
in Österreich vom ausgehenden 18. bis ins 20. Jahrhundert. Wien
Rosental, Paul-Andre (2003): Les Senders Invisibles. Espace, families et migrations ... Ü B E R D I E GRENZE GETRIEBEN
dans la France du 19e siecle. Paris
Sachße, Christoph/Tennstedt, Florian (1980): Geschichte der Armenfürsorge in
P o l i t i s c h e E m i g r a t i o n aus Z e n t r a l e u r o p a
Deutschland. Vom Spätmittelalter bis zum Ersten Weltkrieg. Stuttgart und E x i l im 19. J a h r h u n d e r t
Schmidt, Christoph (1996): Sozialkontrolle in Moskau. Justiz, Kriminalität und Leib-
eigenschaft 1649-1785. Stuttgart
Schubert, Ernst (1988): Mobilität ohne Chance: Die Ausgrenzung des fahrenden Vol-
kes. In: Winfried Schulze (Hg.): Ständische Gesellschaft und soziale Mobilität.
München: 113-164
Stekl, Hannes (1978): Österreichische Zucht- und Arbeitshäuser 1671-1920, Institu-
SYLVIA HAHN
tionen zwischen Fürsorge und Strafvollzug. Wien
Torpey, John (2003): Passports and the Development of Immigration Controls in the
North Atlantic World during the long 19lh Century. In: Fahrmeier/Faron/Weil (Hg.):
73-91
Wendelin, Harald (2000): Schub und Heimatrecht. In: Waltraud Heindl/Edith Saurer Die Zahl der politischen Flüchtlinge vor dem 19. und 20. Jahrhundert
(Hg.): Grenze und Staat. Paßwesen, Staatsbürgerschaft, Heimatrecht und Fremden- war gering, da die Jahrhunderte davor hauptsächlich von religiös-eth-
gesetzgebung in der österreichischen Monarchie (1750-1867). Wien/Köln/Weimar: nischen Verfolgungen und Vertreibungen geprägt waren. Dies änderte
173-346 sich mit den aufkeimenden revolutionären Strömungen im 18. Jahr-
hundert. In Frankreich hatte die Revolution zur Folge, dass Adelige
und Royalisten über die Grenze in benachbarte Länder flüchteten; in
mittel-, süd- und osteuropäischen Ländern (Deutschland, Österreich,
Italien, Polen, Russland) war es umgekehrt: Hier mussten demokra-
tisch und revolutionär Gesinnte den Weg ins Exil antreten. Auf diese
Gruppe der (radikal) demokratisch gesinnten politischen Flüchtlinge
werden sich die folgenden Ausführungen konzentrieren. Obwohl diese
Emigranten innerhalb der großen Anzahl der Migrantinnen des 19.
Jahrhunderts bzw. unter den Ausländern in den jeweiligen Exilländern
nur einen kleinen Teil, meist rund zwei Prozent ausmachten, kam ih-
nen im Hinblick auf die Verbreitung eines egalitären Staatsbürgertums
und einer demokratisch-republikanischen Verfassung in Europa eine
wichtige Funktion zu. Insgesamt lassen sich vom ausgehenden 18. bis
zum beginnenden 20. Jahrhundert grob vier politische Verfolgungs-
wellen ausmachen: Erstens, die Verfolgung, Verurteilung und Vertrei-
bung der Jakobiner in den Jahren unmittelbar nach Ausbruch der Fran-
zösischen Revolution; zweitens, die Vormärzemigration der 1820er- und
1830er-Jahre; drittens, die Verfolgung und Vertreibung der Revolutio-
näre im und nach dem 1848er-Jahr und in der daran anschließenden
Phase des Neoabsolutismus; viertens, die Ausweisungen und Verfol-
gungen von Sozialrevolutionär und anarchistisch Gesinnten in der zwei-
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zu den wichtigsten Aufnahmeländern
116 Sylvia Hahn „... über die Grenze getrieben" 117

der politischen Flüchtlinge zählten Frankreich, die Schweiz, Belgien, gen gelieferten Berichte, wonach „französische Agenten eifrig am Werk
Großbritannien und die USA. Obwohl diese Länder die Türen für die seien, um Revolutionen in anderen Ländern anzustiften" (Wangermann
Emigranten aus Mittel-, Ost- und Südeuropa offen hielten und diese 1966: 77). Dies führte dazu, dass die Einreise von Ausländern genau
nicht an ihre Herkunftsländer auslieferten, waren die Flüchtlinge selbst kontrolliert und die Überwachungspraxis sukzessive ausgedehnt wur-
in diesen Ländern keineswegs vor Ausweisungen oder Abschiebungen de. So sollten die Ankunft und der Aufenthalt von „merkwürdigen"
sicher. Auch wenn die westeuropäischen Länder - mit Ausnahme von Fremden ausspioniert und „Kaffeehäuser und Gaststätten, die von
Großbritannien und den USA - ab den 1830er-Jahren sukzessive eine Fremden besucht wurden, von der Polizei genau beobachtet werden"
restriktivere Flüchtlingspolitik betrieben, legten sie wichtige Grund- (Wangermann 1966: 77). In einem Circulare von 1790 erhielten die
steine für die Asylpolitik des 20. Jahrhunderts. Landesbehörden die Anweisung, „alle Ausländer, die in ihre Provinzen
einreisten oder sich dort aufhielten, ohne bestimmten Geschäften nach-
zugehen, sorgsam zu überwachen" (Wangermann 1966: 76); 1791 er-
VERFOLGUNG DER JAKOBINER
teilte man der Polizei den Auftrag zur Aushorchung und Bespitzelung
Die revolutionären Bewegungen im ausgehenden 18. Jahrhundert hat- der Bevölkerung, damit man jederzeit über „sich ergebenden merk-
ten in Europa zu verstärkten Beobachtungen, Kontrollen und Bespit- würdigen Vorfällenheiten unterrichtet (...) sey(n)" (Oberhummer 1938/
zelungen von politisch Verdächtigen geführt. Selbst aufgeklärte Herr- 1: 75). Nach Ernst Wangermann bedeuteten diese Maßnahmen „das
scher, wie Joseph II. oder Leopold II., waren nicht gefeit vor der Angst Ende jener Zeit, während der sich Ausländer in Wien wegen der ver-
vor dem „französischen Fieber", wie die aus Frankreich kommende hältnismäßigen Freiheit und Sicherheit, deren sie sich hier erfreuten,
revolutionäre Strömung genannt wurde. So wurde 1786, unter der besser fühlten als anderswo. Ihre Sicherheit", wie Wangermann kon-
Regierungsphase Josephs II., eine Instruktion erlassen, mit der die statiert, „war zu Ende. Eine Anzahl von Franzosen und Italienern, die
Beobachtung und Bespitzelung der Bevölkerung erstmals festgelegt unvorsichtig genug gewesen waren, den Argwohn Leopolds zu erwek-
wurde. Demnach sollte das „obachtsame Auge" der (geheimen) Polizei ken, wurden aus allen seinen Ländern verbannt, ohne je den Grund zu
„insgeheim nachforschen, was im Publikum von dem Monarchen und erfahren" (Wangermann 1966: 77). Auch Da Ponte war einer von ih-
seiner Regierung gesprochen werde; wie das Publikum in diesem Punkt nen. Nach seiner Ausweisung aus Wien sollte ihn seine Emigration
von Zeit zu Zeit gestimmt sey; ob nicht (...) gar Aufwickler sich äu- über Paris und London schließlich 1805 in die Vereinigten Staaten von
ßern" (zit. n. Wangermann 1966: 50). Amerika führen, wo er 1838 in New York verstarb.
Zunächst konzentrierte sich das Interesse der Obrigkeit vorrangig Neben den Fremden wurden Klubs und (Geheim-)Logen, die Frei-
auf Reisende und Migranten aus Frankreich und Italien. Lorenzo Da maurer und andere geheime Verbindungen und Vereinigungen obser-
Ponte, der damalige Direktor des italienischen Theaters in Wien, be- viert. Die obrigkeitliche Furcht vor politischen Diskussionszirkeln und
kannt auch als Librettist Mozarts, berichtete in seinen Lebenserinne- einer möglichen Revolution führte fast zur gänzlichen Unterdrückung
rungen in amüsant spöttischer Weise über diese Hysterie gegenüber einer offenen intellektuellen Vereins- und Gesellschaftskultur. Das Aus-
allem „Französischen" oder nur annähernd französisch Klingenden. spionieren erstreckte sich neben den Fremden, Intellektuellen und
So sei bei einer der zahlreichen und wiederholt auf den Straßen durch- Künstlern auch auf die Beamten, das Militär und den Klerus. Bezüg-
geführten Passkontrollen, seine Frau, eine Engländerin, von den öster- lich der Beobachtung über „das Thun und Lassen der Beamten" erfah-
reichischen Offizieren sofort „beim ersten Anblick als Fremde erkannt ren wir aus der „Geheimen Instrukzion" von 1786, dass nachgeforscht
und für eine französische Spionin gehalten" worden (Da Ponte 1991: werden sollte „wie man mit diesem oder jenem im Publikum zufrieden
245). sey; ob derselbe [der Beamte, S.H.] Bestechungen annehme; ob er An-
Die von Joseph II. in Angriff genommenen Maßnahmen für den verwandte in Auslanden habe und mit solchen besonderen Briefwech-
Aufbau einer Geheimpolizei und einem dichten Netz von Spitzeln zur sel unterhalte; ob er mit bedenklichen Fremden vertraut umgehe oder
Ausforschung politisch verdächtiger Personen wurden unter Leopold er gar denselben Amtsschriften mittheile; kurz, daß die Polizey bey
II. und seinem Nachfolger Franz I. fortgesetzt und intensiviert. Aus- jedem Meyneidsverdacht gegen Beamte auf vollen Grund zu kommen
schlaggebend dafür waren vor allem die vom Polizeiminister Graf Per- ihre erste Sorge seyn lasse (...)" (zit.n. Oberhummer 1938/2: 189).
116 118
Sylvia Hahn „... über die Grenze getrieben"

Die „Beobachtung" der Beamten war nicht ganz unbegründet: Tat- dauerlied von Franz Hebenstreit von Streitenfeld (Körner 1972: 12).
sächlich stellten Beamte den Großteil der in den frühen 1790er- Jahren Neben Hebenstreit, der 1747 in Prag geboren worden war und im Mi-
festgenommenen österreichischen Jakobiner. Ein Grund dafür, dass in litärdienst stand, zählten noch Leopold Billeck von Billenberg, Rech-
Österreich gerade Beamte zu Revolutionären wurden, mag darin be- nungsoffizier, dessen Bruder Wasgottwill Billeck von Billenberg, Pro-
gründet gewesen sein, „daß sie an den Reformen Josephs und Leo- fessor an der Wiener Neustädter Militärakademie, Kajetan Gilowsky
polds mitgearbeitet hatten, deren Erfolge erkannten und sich von der von Urazewa, Kriegsgerichtsaktuar, Georg Ruszistska, Diener in der
Politik Franz tief enttäuscht distanzierten" (Körner 1972: 7). Oder wie Ungarischen Hofkanzlei, der Hofmeister Heinrich Jelline und der
es ein Betroffener, Heinrich Jelline, einige Jahre später vor Gericht selbst Magistratsrat Martin Prandstätter zu den engeren Vertrauten von Riedel
formulierte: „Kaiser Josephs Aufklärungseifer zündete vollends ein (Körner 1972: 9). Mit Ausnahme von Jelline und Hebenstreit waren
helles Feuer in mir an; ich fiel mit unersättlicher Begierde über die alle beamtete Staatsdiener auf unterschiedlichen hierarchischen Ebe-
politischen und Reformationsbücher her und wurde ganz republika- nen. Festgenommen und des Hochverrats angeklagt wurden die Wie-
nisch gesinnt." (zit. n. Wangermann 1966: 192) ner Jakobiner schließlich mit Hilfe eines Vertrauten von Hebenstreit,
dem Buchhändler Joseph Vinzenz Degen, der, wie sich herausstellte,
Politisch-ideologisch verstanden sich die Jakobiner als Demokraten,
einer der wichtigsten Polizeiagenten war. Die Prozesse endeten mit
waren antiklerikal bzw. religionskritisch eingestellt und wünschten sich
harten Strafen für die Angeklagten: Hebenstreit und Gilovsky wurden
einen Staat, der dem Einzelnen das Recht auf Arbeit garantieren, die
als Militärangehörige vom Militärgericht zum Tode durch den Strang
Armen unterstützen und Bildungsmöglichkeiten für alle Schichten si-
verurteilt; Gilovsky beging noch während der Voruntersuchungen
cherstellen sollte (Grab 1972: XXVI). Die Verbreitung von demokrati-
Selbstmord, Hebenstreit wurde am 8. Jänner 1795 öffentlich durch
schen Ideen mithilfe von Pamphleten, Flugschriften, Liedern oder der
den Strang hingerichtet. Die Übrigen wurden zu schwerer Festungs-
satirischen Pasquill (Schmähschrift, Spottschrift) wurde von Seiten des
haft (Gotthardi und Ruzistska 35 Jahre, Jelline, Prandstätter, Leopold
feudalabsolutistischen Staates durch eine strenge Pressezensur und
Billek 20 Jahre) verurteilt; einige erhielten einen „zeitlich gelinden Ar-
andere Machtmittel erschwert bzw. gänzlich zu verhindern versucht.
rest" (Jutz, Troll, Franzi und Wipplinger), weitere sechs wurden freige-
So ergingen 1792 und 1793 Hofdekrete, in denen die Bestrafung des
sprochen (Wangermann 1966: 189). Andreas Riedel, der ebenfalls zu
Besitzes und der Verteilung von Aufrufen und Manifesten angedroht
„langwierig schweren Festungsarrest" vom 60 Jahren verurteilt wurde,
und Bücher verboten wurden, die von der französischen Revolution
war bis 1806 in Munkacz in Festungshaft; anschließend wurde er bis
eine günstige Schilderung" brachten (Körner 1972: 10-11).
1809 im Minoritenkloster in Brünn gefangen gehalten. Von dort ließen
Einer der wichtigsten Vertreter des österreichischen Jakobinerzirkels
ihn im Juli 1809 die Franzosen frei und er konnte nach Frankreich
war der aus Wien stammende und 1748 geborene Andreas Riedel, der
flüchten, „wo er in kümmerlichen Verhältnissen, stets in Furcht vor
als „Kopf und Herz der Wiener Jakobiner" bezeichnet wird. Riedel war
Auslieferung nach Österreich, zurückgezogen lebte. Er starb 89jährig
zunächst als Mathematikprofessor an der Wiener Neustädter Militär-
am 15. Februar 1837 in Paris" (Körner 1972: 15).
akademie und, nachdem er in den Adelsstand erhoben worden war, als
Mathematiklehrer von Franz I. tätig. Er gehörte zum engsten Ver- Riedel war demnach einer der frühen österreichischen politischen
trautenkreis von Leopold II. und entwarf 1790/91 ein Reformprogramm, Emigranten, der in Folge seiner demokratischen Gesinnung zu Beginn
„als dessen Endziel die republikanische Verfassungsform mit parla- des 19. Jahrhunderts das Land verlassen musste. Im Gegensatz zu den
mentarischer Volksvertretung" vorgesehen war (Körner 1972: 8). Zu österreichischen Jakobinern konnten deutsche Demokraten weit eher
Franz I., dem Nachfolger Leopolds II., konnte Riedel keine Beziehung emigrieren oder zogen sich in die „innere Emigration" zurück. Ähn-
aufbauen. Ab dem Herbst 1792 fanden in Riedels Wohnung regelmä- lich den Jakobinern in Wien mussten sich auch die deutschen vor al-
ßig Treffen von rund 30 Sympathisanten statt. Zu diesem Demokraten- lem auf journalistische Weise bemerkbar machen. Allerdings verhin-
zirkel, der nur ein loser Verband ohne straffe Organisation war, gehör- derte die konfessionelle und territoriale Aufteilung in Kleinstaaten mit
ten Ärzte, Studenten, Pfarrer, Hofmeister, Kaufleute, Handwerker und unterschiedlichen Regierungsformen, „dass sich die revolutionären
Schriftsteller. Bei diesen Zusammenkünften wurden revolutionäre Lie- Demokraten von einem anerkannten Forum an die Öffentlichkeit wen-
der mit Klavierbegleitung gesungen, wie beispielsweise das Eipel- den und gemeingültige, überall anwendbare Losungen aufstellen konn-
116 Sylvia Hahn „... über die Grenze getrieben" 121

ten" (Grab 1972: XIX). Gleich den österreichischen Jakobinern bestand 1794 wurde sie abermals aus politischen Gründen gezwungen, Neu-
das Ziel in der Erreichung der politischen Gleichheit für alle Gesell- chätel, das zum preußischen Besitz gehörte, zu verlassen. Dieser Aus-
schaftsschichten, wodurch „der neue Mensch", wie das Journal des weisung folgten allein zwischen 1794 bis 1807 insgesamt sechs weitere
Flensburger Jakobiners Georg Conrad Meyer hieß, hervorgebracht Umzüge. Nach Aufenthalten in Günzburg (1807) und Stuttgart (1816)
werden könne (Grab 1972: XXV). Wichtige Vertreter der revolutionä- konnte sich Therese 1823 schließlich in Augsburg niederlassen, wo sie
ren Demokraten waren etwa G.C. Meyer, Georg Friedrich Rebmann, 1829 verstarb (Hahn 1998: 114).
der Hamburger Friedrich Wilhelm von Schütz oder Georg Forster, der
als der „bedeutendste" deutsche Jakobiner angesehen wird. Georg
REVOLUTIONÄRE U N D D E M A G O G E N DES VORMÄRZ
Forster (1754-1794), geboren bei Danzig, aufgewachsen in Russland
und England, Teilnehmer an der dreijährigen Weltreise von James Cook, Nach der Französischen Revolution, dem Ende der Napoleonischen
war sowohl ein Kosmopolit wie „ein eifriger Freund der Freiheit und Kriege und dem Wiener Kongress von 1815 folgten in der ersten Hälfte
Republik", wie er sich selbst 1793 in einem Brief an seine Ehefrau The- des 19. Jahrhunderts eine Reihe von Revolutionen, nationalen Bewe-
rese Heyne bezeichnete (zit.n. Enzensberger 2004: 275). 1792 gehörte gungen und Nationalstaatsgründungen, die die „innerstaatlichen Ord-
er dem engen Kreis der revolutionären Verwaltung in Mainz an, als nungen und die Struktur der europäischen Staatenwelt aufzulösen
deren Abgesandter des Rheinlandes er nach Paris reiste, von wo er (drohten)" (Langewiesche 1985: 6). Den politischen Emanzipations-
nach der Niederschlagung der republikanischen Mainzer Verwaltung bestrebungen verschiedener Gruppierungen standen die auf Stabilität
nicht mehr zurückkehren konnte. Im Pariser Exil traf er neben franzö- pochenden staatlichen Herrschaftsordnungen gegenüber. Dieser Wi-
sischen Revolutionären auch mit zahlreichen polnischen Emigranten derspruch zwischen den „Kräften der .Bewegung' und den Kräften der
und Intellektuellen aus Großbritannien und Amerika zusammen. Dar- Verteidigung traditional legitimierter staatlicher Herrschaft" wird als
unter waren beispielsweise der schottische Schriftsteller Thomas Chris- das „Signum der Epoche zwischen 1815 und 1848" bezeichnet (Lange-
tie, die (schottische) Dichterin Mary Williams, Mary Wollstonecraft und wiesche 1982: 3). Die revolutionär-demokratischen Bewegungen und
ihr späterer Ehemann, der amerikanische Hauptmann Gilbert Imlay, gesellschaftspolitischen Konflikte traten jedoch in den einzelnen Län-
und Thomas Paine, der Verfasser des Buches „The Rights of Man", an dern in unterschiedlicher Weise und Form auf; das gleiche gilt für die
dessen Übersetzung ins Deutsche Forster maßgeblich beteiligt war Reaktionen seitens der herrschenden Eliten. So reagierten England und
(Enzensberger 2004: 254ff.). Trotz der Eingebundenheit in ein interna- Frankreich auf die gesellschaftlichen Herausforderungen relativ rasch
tionales Emigrantennetzwerk bedeutete das unfreiwillige Exil in Paris mit politischen Reformen sowie einer Annäherung an eine parlamen-
auch große Einsamkeit, wie aus den Briefen an seine Frau hervorgeht. tarische Monarchie und wurden zu den „Vormächten des liberalen
So schrieb er etwa am 4. Mai 1793 an Therese: „Wie ich heute einsam Europa" (Langewiesche 1982:4). In Mitteleuropa hingegen „überlapp-
im Palais Royal auf und ab ging, kamen mir unwillkürlich die Thränen ten sich die liberal-reformerische und die konservativ-monarchische
in die Augen, daß ich nun auf mein Zimmer zurückkehren sollte und in Einflußsphäre" (Langewiesche 1982: 4). Insbesondere die habsburgi-
der unendlich großen Stadt keinen Menschen hätte, der sich im minde- sche Vielvölkermonarchie und Russland versperrten sich weitgehend
sten um mich bekümmerte, keinen, der Anteil an mir nähme, und dem den politischen Forderungen nach einem Wandel und wurden zum
es nicht völlig gleichgiltig wäre, wenn ich morgen verschwände! (...) Ich „konservativen Gewissen" Europas.
fühle dies alles jetzt schmerzlicher, weil ich krank bin, in einem trauri- Als eine Reaktion gegen die „Reaktion" können die Gründungen von
gen Hotel Garni ohne Bedienung und ohne eines Menschen Theil- oppositionellen Studenten-, Presse-, Vaterlands- und Handwerkerver-
nahme." (zit.n. Enzensberger 2004: 261) einen sowie von Burschenschaften angesehen werden. Letztere zähl-
Aber nicht nur Forster allein musste in Paris im Exil bleiben, wo er ten zu den aktivsten politischen Gruppen, wurden jedoch aufgrund der
im Dezember 1793 verstarb, sondern auch seine Familie sah sich zur Karlsbader Beschlüsse von 1819, die einen „ersten Höhepunkt im Kampf
Emigration gezwungen. Seine Frau Therese musste mit ihren Kindern gegen oppositionelle nationale und liberale Strömungen" (Langewiesche
ebenfalls Mainz verlassen und ging 1792 zunächst nach Straßburg und 1982: 61) darstellten, in die Illegalität gedrängt. Bis 1827 war es den
1793 dann nach Neuchätel in die Schweiz. Weitere Stationen folgten: politischen Aktivisten nur möglich, in streng geheimen „engeren" Ver-
116 122
Sylvia Hahn „... über die Grenze getrieben"

einen tätig zu sein. Die zunächst durch die bayrische Regierung, dann Aufnahmeländer und Asylpolitik
in Hannover, Baden und einigen anderen Ländern durchgesetzte poli-
tische Lockerung ermöglichte zumindest die Gründung unpolitischer In der Schweiz, die zum Sammelpunkt vor allem von politischen Flücht-
Studentenverbindungen. Darüber hinaus wurde am Bamberger Bur- lingen aus Südwestdeutschland, Österreich, Italien und Polen gewor-
schentag 1827 die „allgemeine Deutsche Burschenschaft" als nationa- den war, waren die Asylgewährung und die Agenden der politischen
ler Verband gegründet (Eschen 2004: 17). Fremdenpolizei bis 1848 Kantonsangelegenheiten. Erst in der Verfas- U
Neben dem Verbot der Burschenschaften hatten die Karlsbader Be- sung von 1848 wurde im Artikel 70 dem Bund das Recht zugestanden,
schlüsse auch eine strenge Pressezensur und die Überwachung der Uni- Fremde, welche die äußere oder innere Sicherheit gefährdeten, auszu-
versitäten zum Inhalt. Die ebenfalls 1819 in Mainz eingesetzte „Centrai- weisen (Reiter 1992: 32). Die gewöhnliche Fremdenpolizei und somit
Untersuchungskommission" fungierte als zentrale Untersuchungs- die Zuerkennung des Aufenthalts- und Asylrechts blieb aber weiterhin
behörde für die in den verschiedenen Bundesstaaten entdeckten „revo- Kantonssache. Allerdings übten die Großmächte, insbesondere Metter-
lutionären" Umtriebe (Siemann 1985: 76ff.). Gemeinsam mit dem Poli- nich, mehrmals massiven Druck im Hinblick auf die Asylpolitik und
zeiapparat gelang es dieser Stelle, die demokratische Bewegung zu läh- Auslieferung von politisch Oppositionellen aus. Dies führte zum Ver-
men und die Aktivisten ins Exil zu treiben (Schraepler 1975: 55). such, die organisations- und publizistischen Tätigkeiten der Flüchtlinge
Zu den wichtigsten politischen Ereignissen, die die Regierungen in zu verhindern bzw. ganz einzuschränken.
diesen Jahrzehnten vor 1848 in Nervosität versetzten und zu verstärk- 1833 zählte man offiziell insgesamt 209 politische Flüchtlinge, wo-
ten Kontrollmaßnahmen, Bespitzelung, Verfolgung und Ausweisung von 107 Studenten, 67 bürgerliche Mitglieder, 26 Handwerker, 9 Solda-
führten, zählten das Wartburgfest (1817), die Ermordung von Kotzebue ten waren. In einem Verzeichnis der Schweizer Behörden aus dem Jahr
(1819), das Hambacher Fest (1832) und der Frankfurter Wachensturm 1836 wurden 139 deutsche Flüchtlinge angeführt, von denen 19 Studen-
(1833). So wurde beispielsweise am Hambacher Fest, das auf die In- ten, 99 Handwerker und 21 Angehörige eines bürgerlichen Berufes wa-
itiative der Juristen Johann Georg August Wirth, Philipp Jakob Sieben- ren. Großteils gehörten die Flüchtlinge der deutschen Intelligenz und
pfeiffer, Joseph Savoye und Friedrich Schüler zurückging und an dem den radikal-politischen Lagern der Burschenschaften und bürgerlichen
rund 300 Burschenschaften teilnahmen, von J.G.A. Wirth die Errich- Oppositionsgruppen an (Eschen 2004: 19). Von den deutschen Flüchtlin-
tung einer Republik als Ziel proklamiert und das „conföderierte repu- gen war die bekannteste Gruppe jene des „Jungen Deutschland", das 1834
blikanische Europa" beschworen (Eschen 2004: 22). Nach dem Ende als Sektion des „Jungen Europa" gegründet worden war und über (gehei-
des Festes setzten massive staatliche Maßnahmen und Repressionen me) Klubs in Genf, Zürich, Biel, Bern, Lausanne und St. Gallen verfügte.
gegen die Beteiligten, die Burschenschaften sowie gegen „Vereine, wel- Das „Junge Deutschland" unterhielt sehr enge Verbindungen zu den
che politische Ziele haben," ein. Selbst Volksfeste und -Versammlungen zahlreichen deutschen Handwerkern in der Schweiz. Die Handwerks-
wurden verboten. Dadurch wurde der radikale Teil der liberalen Bewe- gesellen stellten aufgrund ihrer Wanderungen quer durch Europa eine
gung in die Konspiration bzw. zur Emigration gedrängt. Im Juli 1832 wichtige „strategische Gruppe" dar - oder, wie es 1837 Ernst Schüler,
wurde das „Maßregeln-Gesetz" zur Verfolgung der Oppositionellen er- ein Angehöriger des „Jungen Deutschland", beschrieb: „Der deutsche
lassen. Zahlreiche Betroffene wurden dadurch zur Flucht ins Ausland patriotische Handwerker ist eine Propaganda zu Fuß, das Felleisen auf
gezwungen. „Dieser Flüchtlingsschub", wie Peter Wende feststellte, dem Rücken, ein paar Batzen in der Tasche, den Knotenstock in der
„führte der politischen Emigration neue Impulse zu; die Emigranten Hand, wandernd von Berlin nach Konstanz, von Wien nach Hamburg,
bemühten sich nun um die organisierte Aktion" (Wende 1975: 25). verbreiten sie in ihren Kreisen den Glauben an die Zukunft der Völker-
Noch massiver waren die Repressionen nach dem Frankfurter Wachen- freiheit und die Überzeugung, dass gründliche Reformen nötig seien"
sturm 1833, der für 1.200 Personen mit einer Anklage wegen Hochver- (zit. n. Eschen 2004: 50). Die Handwerksgesellen fungierten als Vertei-
rats endete. Ein Teil der Betroffenen versuchte durch Flucht und Emi- ler von Flugschriften, die sie „im Hutfutter, in der Krawatte bis auf
gration der Anklage zu entkommen. Bevorzugte Exilländer waren die dem bloße Leib" über die Grenzen schmuggelten (Eschen 2004: 56).
Schweiz, Frankreich, Belgien, England und Amerika, da diese eine rela- Das 1835 in der Schweiz erlassene Wanderverbot für deutsche Hand-
tiv großzügige Asylpolitik gegenüber politischen Flüchtlingen vertraten. werker stand damit in Zusammenhang.
116 124
Sylvia Hahn „... über die Grenze getrieben"

In den Jahren 1835 und 1836 vermehrte sich die Zahl der Handwer- Savoyer-Zuges, an dem auch rund 22 deutsche Studenten und Flücht-
kervereine und der Klubs des „Jungen Deutschland": So wurden Klubs linge aus Zürich teilgenommen hatten (Lenherr 1991: 194).
in Liestal, Vivis und Luzern gegründet; auch in Genf bestanden im Juli Bei den polnischen Flüchtlingen, die 1833 nach ihrer Ausweisung
1835 zwei Vereine; weitere Gründungen erfolgten in Nancy und Lyon aus Frankreich in die Schweiz gekommen waren, handelte es sich zum
in Frankreich; in Zürich kam es zur Neugründung eines Vereines. Laut überwiegenden Teil um Angehörige des Militärs, meist Offiziere, viel-
eines Geschäftsberichts vom August 1835 bestanden insgesamt 20 Klubs fach aristokratischer Herkunft. Im Gegensatz zu den deutschen Flücht-
in 15 Städten mit rund 250 Mitgliedern (Eschen 2004: 46). Das Junge lingen wird über die polnischen berichtet, dass sie - obwohl „jung und
Deutschland stand in Briefkontakt mit den Emigranten in Paris, wo- zum Teil sehr gebildet" - kaum versuchten, eine Beschäftigung zu er-
hin ein Teil der Aktivisten nach deren Ausweisung aus der Schweiz halten bzw. einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Dafür ausschlagge-
1836 geflüchtet war. bend mag ihre soziale Herkunft gewesen sein sowie die Tatsache, dass
Den Großteil der deutschen politischen Emigranten in der Schweiz sie die Schweiz nur als „Transitland" betrachteten. Dazu kam, dass sie
stellten Intellektuelle, von denen es vielen gelang, beruflich im Exil zuvor in ihrem Exil in Frankreich stets eine staatliche Unterstützung
wieder Fuß zu fassen. Die Schweiz war, im Gegensatz zu Frankreich erhalten hatten (Lenherr 1991: 165). Angeregt von Mazzini gründeten
oder England, relativ freizügig mit der Anstellung von intellektuellen die polnischen Flüchtlinge einen Klub der „Jungen Polen". Ein Teil
Flüchtlingen im Schuldienst, bei der Presse, in der Verwaltung oder an nahm auch an Mazzinis Savoyer-Zug teil; nach dessen Scheitern wur-
den Universitäten in Bern und Zürich. An der Berner Universkät etwa den sie nach Frankreich abgeschoben. Der kleine Rest der polnischen
waren 1834 von den 35 Professoren 17 Deutsche, die zum überwiegen- Emigranten, der „harte Kern", der in der Schweiz verblieb, war weiter-
den Teil politisch aktiv waren; ähnlich war das Verhältnis bei den Pro- hin mit Mazzini und mit deutschen Flüchtlingen in Kontakt. Sowohl
fessoren an der Züricher Universität (Lenherr 1991: 187). Für derarti- für die polnischen wie auch für die politischen Flüchtlinge aus ande-
ge berufliche Integrationen waren Empfehlungsschreiben notwendig, ren Ländern bedeutete die 1836 einsetzende „Flüchtlingshatz" das Ende
wie sie etwa der Rechtswissenschafter und spätere Rektor der Züri- ihres Exil in der Schweiz; der Großteil emigrierte nach Frankreich,
cher Universität Johann Wilhelm Snell für die Flüchtlinge Adolf Barth England oder in die USA.
und Wilhelm Chr. Glück ausstellte, in denen „ihr ruhiges Betragen" als In Frankreich, das im Vormärz zum wichtigsten Asylland in Europa
Nachweis eines „unklagbaren Benehmens" bestätigt wurde (Eschen wurde und wo sich zu Beginn der 1830er-Jahre rund 10.000 politische
2004: 45; Lenherr 1991: 187). Flüchtlinge aufhielten, ging das Recht auf Asyl bereits auf die (nie ver-
Im Unterschied zu den deutschen Flüchtlingen, die sich in der Haupt- wirklichte) Jakobinische Verfassung von 1793 zurück, worin das indi-
sache in den deutschsprachigen Teilen der Schweiz, hauptsächlich im viduelle Recht auf Asyl proklamiert worden war. Das Revolutionsjahr
Züricher und Berner, einige wenige im Genfer Raum aufhielten, wa- 1830 führte zur „festen Verankerung des politischen Asyls" in Frank-
ren die bevorzugten Aufenthaltsorte der rund 100 bis 200 italienischen reich und in anderen westlichen Staaten Europas (Reiter 1992: 28).
Flüchtlinge der Tessin, die Waadt (Nyon und Lausanne) und vor allem Die französische Regierung sprach sich in den folgenden Jahren dezi-
Genf. Der „Drahtzieher" der revolutionären Bewegung, Gründer des diert gegen die Auslieferung von politischen Flüchtlingen aus. Selbst
„Jungen Europa" und ehemaliger Angehöriger (des Geheimbundes) der die bestehenden befristeten Abkommen zur Auslieferung von Deser-
„Carbonaria" war Giuseppe Mazzini, der von Metternich 1833 als „Dem- teuren ließ man auslaufen, da man befürchtete, dass unter dem „Deck-
agoge höherer Art" bezeichnet wurde (zit. n. Lenherr 1991: 175). Von mantel angeblicher Militärdelikte eine politisch motivierte Ausliefe-
der sozialen Zusammensetzung her stammten die italienischen Flücht- rung" stecken könnte (Reiter 1992: 28). Dafür ausschlaggebend war
linge aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten: Mazzini selbst die Affäre um den napoleonischen Offizier Galotti, der von der franzö-
war Advokat und relativ wohlhabend, Usiglio war ebenfalls Advokat, sischen Regierung wegen „gemeiner Verbrechen" an Neapel ausgelie-
Gidoni und Melegari Lehrer bzw. Professor, Vämillo Ugoni wiederum fert und dort wegen politischer Delikte verurteilt worden war. Dieses
war Schriftsteller und die Mailänder Flüchtlinge Belgioisosi, Pepoli, Ereignis löste in Frankreich einen Sturm der Entrüstung und eine starke
Bossi und Rosales waren adeliger Herkunft. Diese waren die Haupt- Pressekampagne zugunsten der politischen Flüchtlinge aus (Reiter
finanziers des im Februar 1834 durchgeführten (und gescheiterten) 1992: 25).
116 126
Sylvia Hahn „... über die Grenze getrieben"

Nach dem Frankfurter Wachensturm kam es allerdings auch in lingen die Überfahrt; die Kosten erhielten die Gemeinden anschließend
Frankreich zu zunehmend restriktiveren Maßnahmen: Die Grenzen am vom Innenministerium erstattet.
Oberrhein wurden militärisch überwacht, zahlreiche Flüchtlinge wur- Die liberalsten Aufnahmeländer waren England und die USA. Diese
den in die Schweiz abgeschoben, nur wenige erhielten eingeschränkte boten politischen Flüchtlingen „das sicherste Asyl" (Reiter 1992: 56).
Aufenthaltserlaubnis. Eine von Metternich forcierte engere Zusammen- In den USA war bereits 1792 unter Thomas Jefferson festgelegt wor-
arbeit der Polizeibehörden zwecks Informationsaustauschs über die den, keine Auslieferungspflicht für Länder, „die alleine tyrannische
politische Opposition scheiterte aber am Widerstand des französischen Gesetzte zu kriminellen Delikten machten", anzuerkennen. Darüber
Innenministers. Nach 1834 kam es zu einem Kurswechsel in der Flücht- hinaus vertrat Jefferson die Meinung, dass Exil bereits eine „ausrei-
lingspolitik: Keine weiteren Flüchtlinge sollten ins Land gelassen wer- chende Strafe" für politische Flüchtlinge sei (Reiter 1992: 23). Die Aus-
den; die 1836 aus der Schweiz ausgewiesenen deutschen Flüchtlinge lieferung von politischen Flüchtlingen kam für die USA ab 1830 nicht
wurden an der Grenze abgefangen und teilweise direkt nach England mehr in Frage; auch für andere Straftäter war Auslieferung eher die
gebracht (Richter 1992: 115-116). Ausnahme als die Regel. Ähnlich stellte sich die Situation in England
Das politische Asyl war in Frankreich, ähnlich wie in Belgien und dar, wo seit 1823 kein einziger Flüchtling mehr ausgewiesen worden
der Schweiz, mit dem Anspruch der politischen Enthaltsamkeit ver- war, und es dafür auch keine rechtlichen Grundlagen gab (Reiter 1992:
bunden; andernfalls drohte die Verhaftung, Ausweisung ode\^ Abschie- 56). Aufgrund des Grundsatzes der Territorialität des Rechts war in
bung. Die Weiterführung politischer Arbeit war den Emigranten nur Großbritannien „jeder Fremde, auch der politische Flüchtling", straf-
in der Konspiration möglich. Zu den wichtigsten deutschen politischen rechtlich dem eigenen Staatsbürger gleichgestellt. Die in England be-
Auslandsvereinen in Paris zählten der „Deutsche Volksverein", der 1832 stehende völlige Einwanderungs- und Niederlassungsfreiheit bedeute
(von Wolfrum und Garnier) gegründet worden war. 1834 wurde er in praktisch das Recht des Flüchtlings auf Asylgewährung. Dies änderte
den Geheimbund „Bund der Geächteten" umgewandelt, an dessen Spit- sich erst mit der Beschränkung der Einwanderungsfreiheit im Jahr
ze Jakob Venedey und Theodor Schuster standen (Schraepler 1975: 1905 (Reiter 1992: 56).
55). Ein Teil der Mitglieder spaltete sich 1836/37 ab und gründete den Obwohl England keine Ausweisungen oder Verhaftungen vornahm,
„Bund der Gerechten", dem Wilhelm Weitling - zunächst als Vorste- war nach Meinung von Herbert Reiter die asylfreundliche Politik kei-
her, später als Mitglied der Zentralbehörde - angehörte. Bis 1839 dürf- neswegs eine flüchtlingsfreundliche: So erhielten die Flüchtlinge kei-
te das „Junge Deutschland" neben dem Bund der Gerechten existiert nerlei finanzielle Unterstützung, wie dies etwa in Frankreich zunächst
haben (Eschen 2004:64). der Fall war; auch wurden sie nicht nur teilweise überwacht und kon-
In Belgien wurde am 1. Oktober 1833 ein für politische Flüchtlinge trolliert, sondern es kam manchmal auch zur Weitergabe von Infor-
wichtiges Gesetz verabschiedet, dessen Intention darin lag „jede politi- mationen, beispielsweise an Frankreich (Reiter 1992: 119). Im Gegen-
sche Auslieferung für immer zu verhindern" (Reiter 1992: 31). Belgien satz zu den anderen europäischen Aufnahmeländern, die den Flücht-
verstand sich als „Land der Freiheit", wie es der zu dieser Zeit amtie- lingen jegliche weitere politische (offizielle) Tätigkeit verboten, konn-
rende Justizminister formulierte, und sollte für Verfolgte und Unter- ten die Exilanten jedoch in Großbritannien weiter offen politisch aktiv
drückte „stets eine gesicherte Zufluchtsstätte" sein (zit. n. Reiter 1992: sein. Dies führte in der Folge zu einer Zusammenarbeit der Flüchtlin-
31). Diese liberale Haltung änderte sich allerdings sehr rasch: Bereits ge mit der englischen Arbeiterbewegung, den Chartisten. Insbesonde-
im April 1834 kam es zur Ausweisung von zahlreichen Ausländern, vor re die aus der Schweiz geflüchteten „Jungdeutschen" und die Angehö-
allem Franzosen und Polen; weiteren Flüchtlingen wurden „außerhalb rigen des „Bundes der Gerechten" unter Karl Schnapper waren an ei-
der Hauptstadt feste Wohnsitze angewiesen, aus denen sie sich nicht ner Verbindung zu den Chartisten sowie zu anderen nicht-deutschen
entfernen durften" (Richter 1992: 117). Die belgischen Behörden ver- Emigrantenorganisationen bemüht. Bei der von George Julian Harney
suchten in den Vörmärzjahren generell, politische Flüchtlinge vom Land 1846 gegründeten übernationalen Vereinigung „Society of Fraternal
fern zu halten bzw. scheint das „Weiterreichen von Flüchtlingen an Democrats" stellten neben den Chartisten die deutschen Handwerks-
England" eine „belgische Praxis" gewesen zu sein (Reiter 1992: 117). gesellen um Schnapper die wichtigste Gruppe. Das Ziel der „Fraternal
In Ostende beispielsweise bezahlten die lokalen Behörden den Flücht- Democrats" bestand in der Überwindung nationaler Interessen zuguns-
116 128
Sylvia Hahn „... über die Grenze getrieben"

ten eines Internationalismus - oder wie G. J. Harney schrieb: „Wir aner- nisten befanden; nur einige wenige kamen vom liberalen Flügel. Der
kennen unsere Mitmenschen ohne Rücksicht auf ihr Geburtsland als überwiegende Teil der Emigranten war männlich, jung, ledig und zu-
Mitglieder derselben Familie des Menschengeschlechts und als Bürger meist gut ausgebildet; Ehepaare, wie Gustav und Amalie Struve (Götz
desselben Gemeinwesens der Welt" (zit. n. Schraepler 1962: 19). von Olenhausen 1998: 63-80) oder Mathilde und Fritz Anneke (Kill
1998: 214-224), stellten eher die Ausnahme dar. Neben den intellektu-
ellen Revolutionären stellten die handwerklich Ausgebildeten die größte
DIE 1 8 4 8 E R - E M I G R A N T E N Gruppe unter den politischen 1848er-Flüchtlingen.
Nach den gescheiterten Revolutionen von 1848 und 1849 sahen sich Zahlreiche Emigranten ließen sich nach der Ankunft in Amerika in
zahlreiche an den Ereignissen direkt oder am Rande Beteiligte gezwun- den großen deutschen Ansiedlungen nieder, wozu New York City, das
gen, die Habsburgermonarchie und das Deutsche Reich zu verlassen. Dreieck Cincinnati, St. Louis und Chicago sowie die Ausdehnungen
Zahlreiche deutsche und österreichische Flüchtlinge, wie Moritz Hart- nach Norden und Westen, nach Wisconsin, Iowa und Minnesota zähl-
mann, Julius Joseph Elias Burian, Karl Tausenau, Leopold Häfner oder ten. Darüber hinaus zogen viele nach Philadelphia, Baltimore, Washing-
Gustav von Fran(c)k konnten nach Frankreich, in die Schweiz oder ton DC, Pittsburgh, Detroit oder nach Texas.
nach London ins Exil gehen. Im Gegensatz jedoch zu den politischen Aufgrund der guten Ausbildung des Großteils der politischen Emi-
Emigranten des Vormärz, die zum überwiegenden Teil in (w^t-)euro- granten, gelang es den meisten, beruflich im amerikanischen Exil Fuß
päischen Ländern Asyl fanden, verließen viele der 1848er-Revolutionä- zu fassen. Von den intellektuellen männlichen Flüchtlingen konnten
re, gemeinsam mit -zigtausend anderen Migranten und Migrantinnen etliche im Journalismus Karriere machen und die redaktionelle Lei-
die Heimat in Richtung Amerika. Insgesamt wanderten zwischen 1848 tung von deutschsprachigen Presseorganen übernehmen. Auch die
und 1859 knapp eine Million deutschsprachiger Männer und Frauen Gründung von rund hundert neuen Zeitungen, die von kleinen Pro-
aus; ein Großteil davon machte sich aus wirtschaftlichen und politi- vinzblättern bis hin zu wichtigen Tageszeitungen in den Metropolen
schen Gründen auf die Reise über den Atlantik. Es ist daher schwierig, reichten, ging auf das Konto der 1848er-Emigranten. Oswald Otten-
zwischen jenen Migranten, die aus „rein" politischen und/oder „wirt- dorfer beispielsweise, der beim Ausbruch der Revolution an den Uni-
schaftlichen" Gründen auswanderten, zu unterscheiden. Obwohl die versitäten Wien und Prag studierte und bei den Kämpfen in Sachsen
bisherigen Schätzungen zwischen 4.000 und 90.000 bis 100.000 variie- und Baden dabei war, fand bald nach seiner Ankunft Beschäftigung bei
ren, wird angenommen, dass die politischen Emigranten in den USA der New Yorker Staatszeitung; bereits nach kurzer Zeit übernahm er die
nicht mehr als rund 10.000 Personen ausmachten (Ferenczi/Willcox Leitung und wurde nach Heirat mit der Witwe des Zeitungsgründers
1929; Nadel 1990:18-21; Hammerow 1989:26-27; Zucker 1950; Hansen Miteigentümer. Daneben war er weiterhin politisch aktiv und entwickel-
1940: 272-78; Wittke 1952: 3-4). te sich zu einer der einflussreichsten Führungspersönlichkeiten im
Die nachrevolutionäre Emigrationswelle begann 1849, erreichte ei- deutschen Flügel der New Yorker Demokratischen Partei (Nadel 1989:
nen Höhepunkt zwischen 1852 und 1854 und dauerte ungefähr bis 1857/ 51-66). Oder Theodor Olshausen: Bevor er nach Amerika emigrierte,
58 an. Nur einigen wenigen gelang die Flucht, noch bevor sie von der war er Besitzer und Redakteur des Kieler Correspondenzblattes gewe-
Polizei verhaftet wurden, wie etwa Wilhelm Weitling, der 1849 aus sen und hatte eine wesentliche Rolle in der 1848er-Revolution in Schles-
Hamburg flüchtete; andere wiederum konnten erst nach ihrer Entlas- wig-Holstein gespielt. Nach seiner Ankunft in den USA nahm er seine
sung aus dem Polizeigewahrsam bzw. Gefängnis emigrieren. Für viele journalistischen Aktivitäten wieder auf und konnte bereits nach kur-
stand der Entschluss, ins Exil zu gehen, erst fest, als sich abzeichnete, zer Zeit die Herausgeberschaft der in St. Louis erscheinenden „Westli-
dass die politische Reaktion länger andauern würde. Diese Gruppe von chen Post" übernehmen, die eines der wichtigsten deutschsprachigen
Emigranten verließ erst in der Phase des Neoabsolutismus der 1850er- und mit der Republikanischen Partei verbundenen Massenblätter war.
Jahre den europäischen Kontinent. Olshausens Nachfolger als Redakteur bei der Westlichen Post wurde
Politisch gehörte der Großteil der US-Emigranten dem linken Spek- Carl Schurz, ein Freund von Friedrich Hecker, der den „Heckerzug"
trum der 1848er-Revolutionäre an, worunter sich neben den radikalen angeführt und am 12. April 1848 in Konstanz die Republik ausgerufen
Republikanern und Demokraten auch Sozialdemokraten und Kommu- hatte (Freitag 1998: 119). Schurz, der an der Revolution als Student
116 130
Sylvia Hahn „... über die Grenze getrieben"

und Leutnant der Revolutionsarmee in Rastatt teilgenommen hatte, bund, der eine sozialistische Linie vertrat und kurzfristig eine alterna-
konnte im amerikanischen Exil aufgrund seines Sprachentalentes rasch tive Wohnkolonie in Iowa finanzierte. Radikale Handwerker wie
eine Spitzenposition in der 1856 neu gegründeten Republikanischen Weitling gingen in den USA meist einer Beschäftigung als Facharbei-
Partei in Wisconsin erlangen. Diese damals noch junge Partei mit ih- ter nach, betätigten sich in den frühen 1850er-Jahren aktiv in der „Ame-
rem Programm einer „kleinbäuerlichen" Demokratie und der Ableh- rikanischen Turnerbewegung" gegen die Sklaverei und waren „Aboli-
nung der Sklaverei sprach vor allem jene Emigranten an, die in Euro- tionist Movement "-Anhänger. Da die Arbeiterturner oft militärische
pa dem republikanischen Flügel der Revolutionsbewegung angehört Übungen durchführten, wurden sie von der Republikanischen Partei
hatten. Darüber hinaus bot sie als „neue" Partei den „Neuankömmlin- um die Bereitstellung einer Verteidigungstruppe gegen die Ausdehnung
gen" eine Gelegenheit, sich politisch zu betätigen. Schurz sollte eine der Sklaverei ersucht. Die Turnerbewegung konnte auch, wie im Fall
der führenden Persönlichkeiten der Republikanischen Partei werden: des Joseph Weydemeyer, der ein enger Verbündeter von Karl Marx
So war er als Botschafter für Lincoln tätig, wurde US-Senator von Mis- während der Revolutionstage im Rheinland gewesen war, als politi-
souri und schlussendlich Staatssekretär für Innere Angelegenheiten sches Karrieresprungbrett dienen. Weydemeyers amerikanischer
(1878-82). Danach übersiedelte er nach New York und begann aber- Arbeiterbund erfuhr für eine kurze Zeit eine beachtliche Verbreitung.
mals als Journalist zu arbeiten. Mit seiner dabei zunehmend anti- Nachdem die Bewegung gescheitert war, ging Weydemeyer nach St.
imperialistischen Einstellung geriet er in einen scharfen Gegei/satz zur Louis, wo er sich einer Gruppe von Flüchtlingen anschloss, die eine
Regierungspolitik und knüpfte damit in gewisser Weise an seine ehe- militärische Verteidigungsgruppe mobilisierten, um Missouri aus der
malige revolutionäre Vergangenheit der 1848er-Tage an. Rebellion der Sklavenhalter 1861 herauszuhalten. Er wurde Offizier
Außer den Journalisten und Schriftstellern waren es vor allem die der Unionsarmee und diente unter General Franz Sigel, der ebenfalls
Mediziner unter den 1848er-Flüchtlingen, die ebenfalls in ihren frühe- ein Revolutionsflüchtling und einer der führenden Männer des Turn-
ren beruflichen Bereichen tätig sein konnten, da ihre europäische Aus- vereins war.
bildung zumeist weit besser war als diejenige ihrer amerikanischen Nicht allen Emigranten gelang die berufliche Eingliederung in die
Kollegen. Unter ihnen war der in Wien zum Tode verurteilte Hans amerikanische Gesellschaft. Der aus einer österreichischen verarmten
Kudlich, der in Hoboken/New York als Arzt lebte. Aus Deutschland Beamtenfamilie stammende Jurist Ernst Violand beispielsweise, der
stammte Dr. Abraham Jacobi, der 1851 einer der Angeklagten beim 1850 wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden und über Ham-
Kölner Kommunistenprozess gewesen war. Jacobi wurde nicht nur ein burg in die USA geflüchtet war, konnte nur eine Beschäftigung als
berühmter Mediziner, sondern 1912 auch zum Präsidenten der „Ame- Zigarrenmacher finden; 1875 verstarb er in armen Verhältnissen in
rican Medical Association" gewählt. Unter Jacobis Kollegen in der Peoria/Illinois.
Deutsch-Amerikanischen Medizinischen Gesellschaft fanden sich Ein kleiner Teil der politischen Flüchtlinge kehrte wieder nach Eu-
weiters die deutschen Emigranten Ernst Krakowitzer, Wilhelm Löwe, ropa zurück. Dazu zählte etwa der ehemalige Priester aus Wien Anton
John Mennniger, Friedrich Roessler und der aus Wien stammende Jo- Füster, der aufgrund seiner revolutionären Ideen aus der katholischen
seph Goldmark (Nadel 1990: 83, 102; Goldmark 1930). Für Juristen Kirche ausgeschlossen worden war. Seine Emigration führte ihn über
hingegen war es weit schwieriger, ihren Beruf auch in Amerika auszu- Leipzig und London 1849 nach Amerika, wo er bis zu seiner Rückkehr
üben. Nur wenigen gelang es, wie etwa Sigismund Kaufmann, der dem nach Wien 1876 als Lehrer tätig war. Auch Julius Fröbel, der gemein-
radikalen Flügel der 1848er angehört hatte, im Rechtsbereich tätig zu sam mit Robert Blum an der Wiener Oktoberrevolution teilgenommen
sein. Kaufmann war darüber hinaus der Gründer des „North Ameri- hatte, zunächst verurteilt, jedoch dann begnadigt worden war, kehrte
can Socialist Turnverein" und Redakteur der „Turnerzeitung". nach seinen Emigrationsjahren in den USA, von wo er Reisen an die
Die meisten Flüchtlinge waren, wie schon erwähnt, Handwerker bzw. Westküste der USA und nach Mexiko unternommen hatte, im Jahr 1857
gut ausgebildete Fachkräfte, wie Wilhelm Weitling, der zu den frühen nach Europa zurück. Fröbel gelang es nach kurzer Zeit, den „belasten-
kommunistischen Ideologen im deutschsprachigen Raum zu zählen den Rufeines Revolutionärs zu überwinden" und zunächst für die Stutt-
ist. Weitling publizierte in den 1850er-Jahren in New York „Die Repu- garter Regierung, dann als Unternehmer und schließlich als Konsul in
blik der Arbeiter" und war eine der führenden Figuren im Arbeiter- Smyrna und ab 1876 in Algier für die deutsche Regierung tätig zu sein;
116 Sylvia Hahn 132
„...über die Grenze getrieben"

1888 wurde er aus dem Reichsdienst entlassen und verstarb 1893 in der Gerechtigkeit durch die Flucht ins Ausland entzogen haben" (Sie-
der Schweiz (Koch 1998: 155ff.). mann 1985: 310). Ausführliche Verzeichnisse der politischen Emigran-
Der bereits einmal kurz erwähnte Friedrich Hecker hingegen war ein ten und Flüchtlinge wurden daraufhin angefertigt und regelmäßig ein
„return-return Migrant": Nach seiner Auswanderung in die USA im Sep- „Polizei-Wochen-Rapport" erstellt. Darin dokumentierte man neben den
tember 1848 siedelte er sich in Belleville im Mittleren Westen an, wohin Reiserouten die durchgeführten Durchsuchungen von verdächtigen
bereits in den 1830er-Jahren eine Anzahl gebildeter deutscher Republi- Personen sowie Berichte über ausländische Zeitungen, deren Beschlag-
kaner migriert war. Hecker kaufte sich eine Farm, kehrte jedoch im Früh- nahmungen u.ä.m. (Siemann 1985:314). Darüber hinaus wurden sämt-
jahr 1849 nach Europa zurück. Nach einem kurzen Aufenthalt beschloss liche Vereinsgründungen und -tätigkeiten verboten; Genehmigung er-
er jedoch, gemeinsam mit seiner Frau und den drei Kindern nach Ame- langten nur Vereine, die sich ausschließlich wohltätigen Zwecken wid-
rika zurückzukehren. In den ersten Jahren enthielt er sich in Amerika meten, wie beispielsweise die „Katholischen Gesellenvereine", die an
aller politischen Tätigkeiten. Die aufflammende Diskussion über die die Tradition der zünftischen Gesellenvereine anknüpften. Die Intenti-
Sklaverei bewog ihn jedoch, sich wieder politisch zu engagieren. Er war on der staatlichen Behörden war, sämtliche politischen Organisations-
ein vehementer Verfechter der Trennung von Kirche und Staat, und ge- versuche oder revolutionären Bewegungen im Keim zu ersticken.
meinsam mit Carl Schurz versuchte er eine Reform des amerikanischen Tatsächlich bedeutete die Zeit bis zum Beginn der 1860er-Jahre so-
Beamtentums durchzusetzen. Die dahinter stehende Idee war, flass eine wohl für das liberale Bürgertum, die demokratisch gesinnten Hand-
Republik nur mit einer gut organisierten und vor allem unkorrum- werker als auch für die sich allmählich organisierende Arbeiterschaft
pierbaren Verwaltung funktionsfähig sein könne. Die Emigration sah er eine Phase der völligen Unterdrückung. Aufgrund dieser Repressionen
als eine Konsequenz an, da er, wie er es selbst formulierte, „ein gläubi- des neoabsolutistischen Regimes kam es, anknüpfend an die 1848er-
ger, unverbesserlicher Anhänger der republikanischen Staatsform" war Tage, in den 1860er-Jahren zu einem neuerlichen Zusammengehen von
(zit. n. Freitag 1998: 62). Zwei Jahre vor seinem Tod schrieb er dazu an kleinbürgerlichen Demokraten und Handwerkern. Dafür waren meh-
seinen Freund Carl Schurz: „Ich habe es nie als ein Unglück betrachtet rere Gründe ausschlaggebend: Zum einen ermöglichte die gemeinsa-
an diese Küsten geworfen worden zu seyn. Drüben wäre ich bei meinem me Erfahrung politischer Rechtlosigkeit eine weitgehende ideologische
Unabhängigkeitssinne, stets vor, oder innerhalb der monarchischen Safe- Affinität; zum anderen brachten die handwerklich ausgebildeten Ge-
Keepings locale gewesen und zum Maulkorb war meine Schnautze zu sellen, von denen noch einige den Schritt zu „kleineren Handwerks-
ungestaltet" (zit. n. Freitag 1998: 62). meistern" schafften, von ihren ausgedehnten Arbeitswanderungen po-
litische Erfahrungen und Impulse aus dem Ausland mit. Die ideologi-
schen und personellen Überlappungen zwischen den liberalen Demo-
„GEFÄHRLICHE A G I T A T O R E N " UND ANARCHISTEN
kraten, den politisch aktiven Handwerkern und der sich formierenden
In den unmittelbaren Jahren und Jahrzehnten nach 1848 gewannen in (Fabrik-)Arbeiterschaft ergaben sich durch die gemeinsamen Forde-
Zentraleuropa die konservativen Kräfte wieder die Oberhand, und es rungen zur Durchsetzung liberaler Grundrechte und dem damit in
folgte eine „Phase der schärfsten Reaktion" (W. Siemann). In Öster- Zusammenhang stehenden ausgeprägten Antiklerikalismus. Die von
reich wurden während des neoabsolutistischen Regimes der Ausbau der „Bürgerregierung" durchgeführten Reformen, wie das Vereinsge-
und die Stärkung des Polizeiapparates, insbesondere der politischen setz, die Aufhebung des Konkordats, die Legalisierung der Ziviltrau-
(Staats-)Polizei, weiter vorangetrieben. Die Überwachung und Verfol- ung und das Reichsvolksschulgesetz, wurden von den Angehörigen der
gung von oppositionellen Bewegungen und politischen Flüchtlingen, Arbeiterklasse unterstützt. Aber wie in den 1848er-Tagen gingen auch
die bereits emigriert waren, erreichte „eine neue Effizienz" (Saurer 1986: diesmal die eigenständigen Forderungen der Handwerker und Arbei-
128). So ließ Innenminister Alexander Bach in einem Rundschreiben ter den liberalen Demokraten in manchen Bereichen zu weit. Vor al-
an die Länderchefs im April 1850 verlauten, dass er „behufs der Her- lem hinsichtlich der Frage des allgemeinen und gleichen Wahlrechts
stellung einer besseren Evidenz" die Namen all jener zu wissen wünsch- kam es zu unüberwindbaren Meinungsdifferenzen.
te, „welche sich bei den revolutionären Unternehmungen der letzten Die in den 1870er-Jahren erzielten Erfolge der frühen Arbeiterbewe-
Jahre am schwersten compromittirt und sohin dem strafenden Arme gung hatten zur Folge, dass die Regierung mit zunehmender Entschlos-
116 134
Sylvia Hahn „... über die Grenze getrieben"

senheit auf die Zerstörung der Bewegung hinarbeitete. Das liberale Bür- ausgestreut. In Wiener Neustadt beispielsweise wurden bei einer ein-
gertum und die staatlichen Behörden waren sich darüber einig, gemein- zigen Aktion im März 1883 von der Polizei 900 Stück aufgefunden,
sam gegen die organisierte Arbeiterschaft vorzugehen und ihre politi- einen Monat später „mehrere 1.000 Stück Schriftstücke confisziert"
sche Vereinigung zu zerschlagen. Die Auflösung von politischen Verei- (West 1967: 1).
nen folgte; Zeitungen mussten ihr Erscheinen einstellen. Unternehmer Die rigorosen Unterdrückungsmethoden der Behörden förderten wie-
trugen durch die Entlassung von organisierten Arbeitern und „Schwar- derum die Radikalisierung der Arbeiterschaft. Die radikal-anarchisti-
zen Listen" zur Zerschlagung der (lokalen) Arbeiterorganisationen bei. sche Richtung gruppierte sich um Josef Peukert und Johann Most. In
Den Tagebuchaufzeichnungen eines Polizeiadjunkts in Niederösterreich den Zentren der österreichischen Arbeiterbewegung, vor allem in Wien
ist zu entnehmen, dass er in den späten 1870er- und frühen 1880er-Jah- und Niederösterreich, war vor allem Most „der Liebling der Arbeiter-
ren alle Hände voll zu tun hatte: „Allwöchentlich die Confiszierung des schaft". Die von Most redigierte „Freiheit" wurde wiederholt illegal
Arbeiterblattes .Gleichheit', (...) Hausdurchsuchungen nach verbotenen verteilt und bei Arbeitern aufgefunden. Auch wurden, wie aus einem
Schriften (...)". „Nachforschungen nach Agitatoren" und „Socialisten" zeitgenössischen Bericht hervorgeht, mit Most „des öfteren bei Nacht-
standen, wie er festhielt, auf der Tagesordnung. Immer wieder sei es zeit Zusammenkünfte in der Kottingbrunner Remise [in der Nähe Wie-
dabei zu „heftigen Auftritten" zwischen den „Vertretern des Gesetzes" ner Neustadts, S.H.] und anderwärts veranstaltet. Nach vorangegan-
und den Arbeiterführern gekommen (West 1867: 1). gener Aufstellung von Wachposten wurde rasch eine Versammlung
Nächtliche Hausdurchsuchungen, Beobachtungen und Ausweisun- improvisiert und bei dem spärlichen Lichte einer Kerze oder eines
gen aus den Städten und Ländern zählten zu den Alltagserfahrungen Lagerfeuers lauschten die Anwesenden den feurigen Worten Mösts. Des
der politisch engagierten Handwerker- und Arbeiterelite. Die „gefähr- öfteren waren den Versammelten die Gendarmen hart auf der Spur,
lichen Agitatoren", wie die Polizeibehörde die politischen Aktivisten aber immer funktionierte die selbstgestellte Wache ausgezeichnet"
bezeichnete, mussten nach einer Verhaftung mit der Ausweisung rech- (Zentralverein 1910: 11). Mösts Schriften fanden selbst nach seiner
nen und zumeist innerhalb von 24 Stunden den Aufenthaltsort verlas- Emigration, die ihn zunächst nach England und danach in die USA
sen. Als Grund dafür wurde zumeist „der Verlust der Unbescholten- führte, weiterhin Verbreitung in den industriellen Zentren der Habs-
heit" angeführt, denn „Personen, welche keinen unbescholtenen Le- burgermonarchie.
benswandel führen, braucht die Gemeinde (...) nicht zu dulden, so- Neben Most sahen sich auch zahlreiche andere führende Agitatoren
bald sie Auswärtige sind" (zit. n. Staudacher 1988: 238). Eine uner- des linksliberalen und sozialdemokratischen Flügels in den späten
laubte Rückkehr in das Gebiet, aus dem jemand ausgewiesen worden 1870er- und frühen 1880er-Jahren zur Auswanderung gezwungen. Wie
war, wurde mit einer Gefängnisstrafe von bis zu sechs Monaten be- schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zählten zu den bevor-
straft. Einer der zahlreichen Betroffenen war der Tischlergehilfe Josef zugten Exilländern die Schweiz, Großbritannien und die USA. Der aus
Jackl, der 1880 aus Cisleithanien ausgewiesen worden war. Er gehörte dem handwerklichen Milieu stammende Arbeiterführer Andreas Scheu
zu einer Gruppe, die 1882 den Schmuggel des in Budapest erscheinen- etwa ging nach England, den Sozialrevolutionär Josef Peukert wieder-
den „Volkswillens" nach Cisleithanien organisierte. Dabei wurde er ein- um führten seine Migrationswege von Deutschland und Österreich über
mal festgenommen und in einer geheim geführten Verhandlung am Frankreich nach London und schließlich 1890 nach New York und
23. Jänner 1883 von den Geschworenen wegen verbotener Rückkehr Chicago, wo er 1910 55-jährig verstarb. Von den von Anna Staudacher
zu einer hohen Strafe verurteilt (Staudacher 1988: 238). in ihrer Publikation erfassten 93 radikalen Arbeiterführern wanderte
Die Zuspitzung des Konflikts zwischen Arbeiterschaft und repressi- ein Viertel nach Amerika aus (Staudacher 1988: 277ff.). Nur von zwei
ver Staatsverwaltung erreichte mit der Erlassung des Sozialisten- Personen ist bekannt, dass sie nach Europa zurückkehrten. Einer von
gesetzes 1878 in Deutschland und der Verhängung des Ausnahmezu- ihnen war Rudolf Schnaubelt, dessen Emigrationsrouten außerordent-
standes über einige Städte der Habsburgermonarchie 1884 ihren Hö- lich waren: 1859 in Schlesien geboren, hielt sich Schnaubelt zu Beginn
hepunkt. Dem in der Illegalität geführten Kampf der organisierten Ar- der 1880er-Jahre für einige Zeit in Salzburg auf, wo er im Ausschuss
beiterschaft wurde dadurch ein weiterer Schlag zugefügt. Trotz allem des „Allgemeinen Arbeitervereins" politisch aktiv war. 1881 zählte er
wurden weiterhin geheim Flugblätter gedruckt und in den Städten zu den Mitangeklagten im Salzburger Sozialistenprozess, bei dem er
116 136
Sylvia Hahn „... über die Grenze getrieben"

von den Geschworenen freigesprochen worden war. Daraufhin wan- LITERATUR


derte Schnaubelt 1884/85 in die USA aus, wo er in Chicago im Mai
1886 in die Haymarket-Affäre verwickelt wurde und daher über Kana- Botz, Gerhard/Brandstetter, Gerfried/Pollak Michael (1977): Im Schatten der Arbei-
terbewegung. Zur Geschichte des Anarchismus in Österreich und Deutschland.
da nach London fliehen musste, wo er mit Josef Peukert zusammen-
Wien
traf. Von London aus emigrierte Schnaubelt anschließend nach Argen- Brancaforte, Charlotte L., Hg. (1989): The German Forty-Eighters in the United States.
tinien (Staudacher 1988: 322). New York
Während der Phase des Ausnahmezustandes ließen die Behörden Brugger, Otto (1932): Geschichte der deutschen Handwerkervereine in der Schweiz
die politischen Aktivisten nicht nur emigrieren - vielfach „versorgte" 1836-1843. Die Wirksamkeit Weitlings (1841-43). Bern
Büsch, Otto/Herzfeld, Hans, Hg. (1975): Die frühsozialistischen Bünde in der Geschich-
man sie „mit einem Reisezuschuß" (Staudacher 1988: 237). So erhielt
te der deutschen Arbeiterbewegung. Vom „Bund der Gerechten" zum „Bund der
angeblich Franz Choura vom Bezirkshauptamnn 400 fl. für sich und Kommunisten" 1836-1847. Ein Tagungsbericht. Berlin
seine Familie zur Auswanderung in die USA. Um eine Rückwande- Da Ponte, Carlo (1991): Mein abenteuerliches Leben. Zürich
rung zu verhindern, nahmen sich österreichische Konsuln in den USA Enzensberger, Ulrich (2004): Georg Forster. Ein Leben in Scherben. Frankfurt am
der Emigranten in besonderer Weise an. Vom österreichischen Konsul Main
Eschen, Andreas (2004): Das Junge Deutschland in der Schweiz. Zur Vereins-
in Pittsburg ist überliefert, dass er sich um die Familie Choura küm-
organisation der frühdemokratischen Bewegung im Vormärz. Frankfurt am Main/
merte und darüber nach Wien schrieb: „Da ich den Eindruck hatte, Berlin/Bern/Bruxelles/New York/Oxford/Wien
dass Choura sonst nach Böhmen zurückkehren würde, bin ich ihm Ferenczi, Imre/Willcox, Walter F. (1929-1931): International Migrations. New York/
möglichst entgegen gekommen, damit seine Familie hierher kommt London/Paris
und er hier bleibt. Die Behörden werden ihn drüben gerne vermissen." Freitag, Sabine (1998): Friedrich Hecker. Biographie eines Republikaners. Stuttgart
Freitag, Sabine, Hg. (1998): Die 48-er. Lebensbilder aus der deutschen Revolution
(Staudacher 1988: 237)
1848/49. München
Während ein Teil der politisch aktiven Elite des linken Flügels die Fröhlich, Helgard/Grandner, Margarete/Weinzierl, Michael, Hg. (1999): 1848 im eu-
Monarchie und Europa verließ, wurde vor allem Wien gleichzeitig zu ropäischen Kontext. Wien
einem „kleinen" Zentrum von politischen Exilanten aus dem osteuro- Gebhardt, Manfred (1988): Mathilde Franziska Anneke. Madame, Soldat und Suffra-
päischen Raum. Insbesondere russische Staatsangehörige hielten sich gette. Biografie. Berlin
Goldmark, Josephine (1939): Pilgrims of 48'. One Man's Part in the Austrian Revolu-
zur Jahrhundertwende für einige Zeit in Österreich und der Schweiz
tion of 1848 and a Family Migration to America. New Haven
auf. Von österreichischer Seite wurden diese zwar nicht ausgeliefert, Götz von Olenhusen, Irmtraud (1998): Gustav Struve - Amalie Struve: Wohlstand,
aber sehr oft ausgewiesen und zur russischen Grenze gebracht, „wobei Bildung und Freiheit. In: Sabine Freitag (Hg.): Die 48-er. Lebensbilder aus der
die russischen Behörden zuvor genau über Ort und Zeit verständigt deutschen Revolution 1848/49. München: 63-80
wurden". Allein im Mai 1880 wurden auf diese Weise 30 russische Grab, Walter (1972): Die deutschen Jakobiner. In: Körner, Alfred: Die Wiener Jakobi-
ner. Tübingen: VII-XXVII
Staatsangehörige „abgeschafft" (Staudacher 1988: 239). Zu den pro-
Grandjonc, Jaques (1975): Die deutsche Binnenwanderung in Europa 1830 bis 1848.
minenten russischen Revolutionären, die sich zur Jahrhundertwende In: Otto Büsch u.a. (Hg.): Die frühsozialistischen Bünde in der Geschichte der
in Wien aufhielten, zählten Trotzki, Lenin und Stalin. Mit Ausbruch deutschen Arbeiterbeweung. Vom „Bund der Gerechten" zum „Bund der Kom-
des Krieges änderte sich die Situation der Emigranten von einem Tag munisten" 1836-1847.Berlin: 3-20
auf den anderen und die russischen Emigranten mussten als „feindli- Hahn, Andrea (1998): „Wie ein Mannskleid für den weiblichen Körper." Therese Hu-
ber (1764-1829). In: Karin Tebben (Hg.): Beruf: Schriftstellerin. Schreibende Frau-
che Ausländer" Österreich in Richtung Schweiz verlassen (Kutos 1993:
en im 18. und 19. Jahrhundert. Göttingen: 103-131
104). Dieses Schicksal sollte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts für Hamerow, Theodore S. (1989): The Two Worlds of the Forty-Eighters. In: Charlotte L.
zahlreiche Emigranten in unterschiedlicher Weise wiederholen. Brancaforte (Hg.): The German Forty-Eighters in the United States. New York:
19-35
Mein besonderer Dank gilt Stan Nadel, der sein umfangreiches Wissen Hansen, Marcus Lee (1940): The Atlantic Migration. Cambridge
Häusler, Wolfgang (1979): Von der Massenarmut zur Arbeiterbewegung. Demokratie
über die 1848er in den USA mit mir geteilt hat!
und soziale Frage in der Wiener Revolution von 1848. Wien/München
Heibich, Wolfgang (1997): Immigrant Adaptation at the Individual Level. The Evidence
of 19th Century German-American Letters. In: American Studies 42/3: 407-418
116 138
Sylvia Hahn „... über die Grenze getrieben"

Heibich, Wolfgang, Hg. (1985): „Amerika ist ein freies Land". Auswanderer schreiben Saurer, Edith (1986): Verfolgungen von Revolutionären und „Demagogen" im Vor-
nach Deutschland. Darmstadt märz und während des Neoabsolutismus. In: Erich Zöllner (Hg.): Wellen der Ver-
Herzberg, Wilhelm (1908): Hambacher Fest. Geschichte der revolutionären Bestre- folgung in der österreichischen Geschichte. Wien: 118-129
bungen in Rheinbayern um das Jahr 1832. Ludwigshafen Schieder, Wolfgang (1963): Anfänge der deutschen Arbeiterbewegung. Die Auslands-
Herzen, Alexander (1988): Die gescheiterte Revolution. Denkwürdigkeiten aus dem vereine im Jahrzehnt nach der Julirevolution von 1830. Stuttgart
19. Jahrhundert. Ausgewählt und herausgegeben von Hans Magnus Enzensberger. Schmidt, Heinrich (1899): Die deutschen Flüchtlinge in der Schweiz und die erste
Frankfurt am Mein deutsche Arbeiterbewegung 1933-36. Zürich
Huber, Therese (1989): Die reinste Freiheitsliebe, die reinste Männerliebe. Ein Le- Schraepler, Ernst (1962): Der Bund der Gerechten. Seine Tätigkeit in London 1840-
bensbild in Briefen und Erzählungen zwischen Aufklärung und Romantik, Hg. 1847. In: Archiv für Sozialgeschichte 2: 5-29
Andrea Hahn. Berlin Schraepler, Ernst (1972): Handwerkerbünde und Arbeitervereine 1830-1853. Die poli-
Kill, Susanne (1998): Mathilde Franziska Anneke: Die Vernunft gebietet uns frei zu tische Tätigkeit deutscher Sozialisten von Wilhelm Weitling bis Karl Marx. Berlin
sein. In: Sabine Freitag (Hg.): Die 48-er. Lebensbilder aus der deutschen Revoluti- Schraepler, Ernst (1975): Geheimbündelei und die Anfänge einer deutschen Arbeiter-
on 1848/49. München: 214-224 bewegung im Vormärz. In: Otto Büsch u.a. (Hg.): Die frühsozialistischen Bünde
Koch, Rainer (1998): Julius Fröbel: Demokratie und Staat. In: Sabine Freitag (Hg.): in der Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. Vom „Bund der Gerechten"
Die 48-er. Lebensbilder aus der deutschen Revolution 1848/49. München: 146- zum „Bund der Kommunisten" 1836-1847. Berlin: 51-60
159 Schütz, Hans J., Hg. (1978): Stephan Born. Erinnerungen eines Achtundvierzigers.
Körner, Alfred (1972): Die Wiener Jakobiner. Tübingen f t Berlin/Bonn
Kowalski, Werner (1962): Vorgeschichte und Entstehung des Bundes der Gerechten. Siemann, Wolfram (1985): „Deutschlands Ruhe, Sicherheit und Ordnung". Die An-
Berlin fänge der politischen Polizei 1806-1866. Tübingen
Kutos, Paul (1993): Russische Revolutionäre in Wien 1900-1917. Eine Fallstudie zur Siemann, Wolfram (1990): Gesellschaft im Aufbruch. Deutschland 1849-1871. Frank-
Geschichte der politischen Emigration. Wien: Passagen Verlag furt am Main
Langewiesche, Dieter (1985): Europa zwischen Restauration und Revolution 1815- Violand, Ernst (1984): Die soziale Geschichte der Revolution in Österreich 1848, hg.
1849. München von Wolfgang Häusler. Wien
Lenherr, Luzius (1991): Ultimatum an die Schweiz. Der politische Druck Metternichs Wagner, Maria (1980): Mathilde Franziska Anneke in Selbstzeugnissen und Doku-
auf die Eidgenossenschaft infolge ihrer Asylpolitik in der Regeneration (1833- menten. Frankfurt am Main
1836). Frankfurt am Main/New York/Paris Wangermann, Ernst (1966): Von Joseph II. zu den Jakobinerprozessen. Wien
Mania, Marino (1993): Deutsches Herz und amerikanischer Verstand. Die nationale Wende, Peter (1975): Radikalismus im Vormärz. Untersuchungen zur politischen
und kulturelle Identität der Achtundvierziger in den USA. Frankfurt am Main/ Theorie der frühen deutschen Demokraten. Wiesbaden
Berlin/Bern/New York/Paris7Wien West, Richard (1967): Aus dem Tagebuch des Herrn Polizei-Commissärs Wilhelm
Most, John (1978): Memoiren. Erlebtes, Erforschtes und Erdachtes. Hannover Przibul. In: Arbeiterzeitung vom 8. Oktober: 1
Most, John (1980): Revolutionäre Kriegswissenschaft. Ein Handbüchlein zur Anlei- Wittke, Car (1952): Refugees of Revolution. Philadelphia
tung betreffend Gebrauches und Herstellung von Nitro-Glycerin, Dynamit, Schieß- Zentralverein der Gießereiarbeiter Oesterreichs, Hg. (1910): Zwanzig Jahre Organisa-
baumwolle, Knallquecksilber, Bomben, u.s.w., u.s.w.. Neudruck nach der Ausga- tion der Gießereiarbeiter Oesterreichs 1890-1910. Wien
be New York 1885. Berlin Zucker, Adolf (1950): The Forty-Eighters. New York
Nadel, Stanley (1990): Little Germany: Ethnicity, Religion and Class in New York City,
1845-1880. Urbana and Chicago
Näf, Werner (1929): Die Schweiz in der deutschen Revolution. Ein Kapitel schweize-
risch-deutscher Beziehungen in den Jahren 1847-1849. Frauenfeld/Leipzig
Oberhummer, Hermann (1938): Die Wiener Polizei. Neue Beiträge zur Geschichte
des Sicherheitswesens in den Ländern der ehemaligen österreichisch-ungarischen
Monarchie. 2 Bände. Wien
Reiter, Herbert (1992): Politisches Asyl im 19. Jahrhundert. Die deutschen Flüchtlin-
ge des Vormärz und der Revolution von 1848/49 in Europa und den USA. Berlin
Sartorius, Francis (1975): Die politische, wirtschaftliche und soziale Tätigkeit der
Deutschen in Brüssel 1842 bis 1850. In: Otto Büsch u.a. (Hg.): Die frühsozialis-
tischen Bünde in der Geschichte der deutschen Arbeiterbeweung. Vom „Bund der
Gerechten" zum „Bund der Kommunisten" 1836-1847. Berlin: 20-31
Bevölkerungsverschiebungen, Siedlungspolitik und. 173

fifteenth century, mainly a product of Ottoman population policies and


of deferred counteraction to these policies." (Stoianovich 1994: 200)
Im Folgenden geht es zunächst darum, zu klären, ob es einen quali-
I
tativen Unterschied zwischen der Bevölkerungspolitik vormoderner
BEVÖLKERUNGSVERSCHIEBUNGEN,
Imperien und moderner Nationalstaaten gibt. Es ist unbestritten, dass
SIEDLUNGSPOLITIK UND ETHNISCH- das osmanische Reich ebenso wie sein Vorgänger, das oströmische
Reich, eine aktive Bevölkerungspolitik betrieben haben, die eine
KULTURELLE HOMOGENISIERUNG:
Zwangsumsiedlung ganzer Bevölkerungsgruppen nicht ausschloss. Für
N a t i o n s b i l d u n g auf dem B a l k a n und in K l e i n a s i e n ,
die imperialen Eliten ging es hierbei aber vorwiegend um Zweck-
1878-1923
dienlichkeiten, wie beispielsweise die Bestrafung rebellischer Elemen-
te, die Wiederbesiedlung entvölkerter Regionen oder die militärische
Sicherung strategisch exponierter Gebiete. Ethnisch oder religiös ho-
mogene Strukturen konnten schwerlich das Ziel imperialer Bevölke-
I * rungspolitik bilden. So ist es eine Tatsache, dass die osmanische Haupt-
FİKRET ADANIR stadt bis zur Auflösung des Vielvölkerreiches etwa zur Hälfte von
Nichtmuslimen bewohnt war. Die Balkanhalbinsel, obwohl für Jahr-
hunderte unter osmanisch-türkischer Herrschaft, hat ihren christlichen
Charakter bewahrt. In dem schon im Mittelalter weitgehend islami-
Angesichts der heute noch andauernden, zum Teil kriegerischen Aus- sierten Anatolien gab es bis 1923 kompakte christliche Bevölkerungen.
einandersetzungen auf dem Balkan hat sich im publizistischen wie fach- An der türkischen Ägäisküste nahm die Zahl der griechisch-orthodo-
wissenschaftlichen Diskurs die Frage herauskristallisiert, ob und in- xen Bevölkerung im Laufe des 19. Jahrhunderts erst richtig zu (Augus-
wiefern wir es in diesem Raum, also auf der Balkanhalbinsel und in tinos 1992: 11-32; Planhol 1997: 235-38). Dem vormodernen osmani-
Kleinasien, mit einer besonderen Ausprägung des Nationalismus zu schen Herrschaftssystem hat man eher vorgeworfen, die Herausbil-
tun haben. Viele Beobachter sehen die massenhafte Vertreibung von dung ethnisch-konfessioneller Gemengelagen gefördert zu haben.
Zivilbevölkerungen als die zentrale Komponente der nationalen Ent- Schon die Vorstellung von einem homogenen Staatsvolk war der im-
wicklung in Südosteuropa an. Man tendiert besonders angesichts des perialen Tradition fremd. Die Idee einer ethnisch-homogenen Bevöl-
Phänomens „ethnische Säuberung" dazu, diese Region insgesamt zu ei- kerung ist neuzeitlich-europäischen Ursprungs, wie auch die konfes-
ner Zone der Weltgeschichte umzudeuten, die schon immer durch Ge- sionelle Gleichschaltung der Untertanen im Sinne des Prinzips cuius
walt und Vertreibung gekennzeichnet gewesen wäre. So ordnet Traian regio eius religio auf die Epoche der Religionskriege in Europa zurück-
Stoianovich die „ethnischen Säuberungen" der 1990er-Jahre ausdrück- geht. Zwar lässt sich der Nationalgedanke auf dem Balkan auch mit
lich in die Tradition der imperialen Balkanpolitik der Römer, Byzanti- republikanischen Einflüssen aus Frankreich in Verbindung bringen.
ner und vor allem der Osmanen ein; die Serben, die Kroaten und die Griechische Intellektuelle wie Adamantios Korais oder Rhigas Veles-
muslimischen Bosnier unserer Tage wiederholten einfach das, was die tinlis hatten keine dynastisch geführten, ethnisch-homogenen Natio-
alten Imperien schon immer praktiziert hatten. Die Vertreibungen des nalstaaten im Sinn, sondern vielmehr die Schaffung multi-ethnischer
19. Jahrhunderts deutet er als eine verständliche „Vergeltung" der jun- Republiken, ausdrücklich auch unter Einbeziehung einheimischer
gen Nationen für das in der Vergangenheit erlittene Unrecht und er- muslimischer Gruppen (Botzaris 1962: 183-209). Im bulgarischen Fall
blickt folgerichtig auch in den Vertreibungen und Zwangsumsiedlungen lässt sich auf der Grundlage einer Formulierung Vasil Levskis aus dem
des 20. Jahrhunderts bloß „ethnische Korrekturen", die als verspätete Jahre 1872 konstatieren, dass man bestrebt war, „Bruderschaft mit al-
Reaktionen auf die Folgen der osmanischen Bevölkerungspolitik in der len, ohne Unterschied der Glaubens- und Volkszugehörigkeit" zu schlie-
Vergangenheit zu verstehen wären: „Such ethnic revisions were not ßen (Väzväzova-Karateodorova 1987: 65). Doch setzte sich auf dem
new [...] In the Balkans, they have been a constant factor since the Balkan im 19. Jahrhundert kein staatsnationales Republikkonzept,
174 Fikret Adanır t, Siedlungspolitik und 1 175

sondern eine romantische Auffassung durch, die Persönlichkeiten wie bisherigen Annahmen zu bestätigen: Wo immer die Osmanen geherrscht
Vasil Levski als „Macher der Geschichte" heroisierte (Todorova 2002), hatten, war allgemeine Verödung eingetreten (Ranke 1877: 82). Daher
gesellschaftliche Kollektive aber zur solidarischen Abstammungs- müssten sie den Balkan schleunigst räumen, und ein französischer
gemeinschaft verklärte. Eine solche fiktive Gemeinschaft war in Wirk- Ethnograph sagte schon 1846 voraus, dass der Prozess der Vertreibung
lichkeit nicht nachweisbar. So erhob man Sprache und Konfession - der Türken aus Europa bis zum Ende des 19. Jahrhunderts abgeschlos-
gleichsam als Ersatz - zu den entscheidenden „objektiven" Kriterien sen sein würde (Blanqui 1846: 38).
nationaler Gemeinsamkeit, und fortan erschien es dringend geboten, Dieser Hintergrund sollte bei einer Erörterung von Bevölkerungs-
entweder durch kulturelle Assimilation eine „Homophonie" der Bevöl- verschiebungen auf dem Balkan und in Kleinasien im Verlauf des 19.
kerung herbeizuführen oder jene Gruppen, die sich als resistent erwie- Jahrhunderts nicht unberücksichtigt bleiben. Autochthone muslimische
sen, durch Vertreibung oder Zwangsaustausch zu beseitigen (Sund- Völker wurden im Sinne des integralen Nationalismus, zugleich aber
haussen 1996:25-40). ı auch im Sinne der Beseitigung eines vermeintlichen Fortschritts-
Von dieser Politik der Homogenisierung waren im Verlauf des*l 9. hindernisses vertrieben (Höpken 1996: 11-15). Gerade das Zarenreich
Jahrhunderts zunächst nur Gruppen muslimischen Glaubens betrof- Russland, das eine emanzipatorische Rolle bei der Entstehung der
fen. Seit den Türkenkriegen gehörte der Hinauswurf des muslimischen Nationalstaaten auf dem Balkan spielte, übte Druck auf seine Muslime
Feindes zu den vorrangigen Zielen europäischer Politik. In der Epoche in den neu erworbenen Gebieten im Süden aus: Die Auswanderung
der Aufklärung setzte sich sodann die Ansicht durch, dass aller Despo- bzw. Vertreibung der Krimtataren sowie verschiedener Bergvölker des
tismus aus dem Orient stamme. Bezeichnenderweise war es Johann Kaukasus (Tscherkessen, Tschetschenen u.a.) gewann nach dem Krim-
Gottfried Herder, der Inspirator sprachnationalistischen Denkens in krieg an Schwung. Erst recht der russisch-türkische Krieg von 1877—
Südosteuropa, der das osmanische System gleichsam als die Urquelle 78 brachte eine Vertreibung bzw. Massenflucht der Muslime aus dem
der Unfreiheit mit den Worten charakterisierte: „Der Sultan ist Gott, Kaukasus und besonders aus den Ländern südlich der Donau mit sich,
sein Wille Gesetz, sein Wort Tod und Leben." (Herder 1988: 134) deren Ausmaße alles in dieser Hinsicht bis dahin Erlebte übertrafen
Das 19. Jahrhundert machte für die Europäer auf dem ökonomi- (McCarthy 1995: 109-34). Bezeichnenderweise wollte die russische
schen und politischen Feld einen neuen Umgang mit dem Orient not- Regierung „im Gleichklang mit den Führern der bulgarischen National-
wendig. Das Osmanenreich trat wiederholt als Partner in europäischen bewegung in den Vorverhandlungen zum Berliner Vertrag 1878 die
Koalitionen auf, sei es gegen Napoleon, sei es gegen das Zarenreich in Möglichkeit eines generellen Rückkehrverbotes für muslimische Kriegs-
der Zeit des Krimkrieges. Doch sah das 19. Jahrhundert zugleich den flüchtlinge und darüber hinaus einer Zwangsauswanderung der ge-
Sieg des bemerkenswerten Kulturphänomens Philhellenismus, und ein samten in Bulgarien verbliebenen Muslime friedensvertraglich fest-
wissbegieriges Bildungsbürgertum stellte mit Entsetzen fest, dass die schreiben lassen" (Höpken 1996: 7).
Zivilisation der Antike unter der Herrschaft der Osmanen zugrunde Dazu kam es nicht. Großmächte wie Großbritannien und Österreich-
gerichtet worden war. Auf philosophisch höherem Niveau schrieb He- Ungarn, die gerade im Jahre 1878 - quasi als Geschenk für ihre Unter-
gel in seinem universalgeschichtlichen Konzept Asien, dem Islam und stützung der osmanischen Position in Berlin - neue Territorien mit
dem Osmanischen Reich einen eindeutig inferioren Status zu (Schulin beträchtlicher muslimischer Bevölkerung, wie die Insel Zypern und
1958:139). Leopold von Ranke, Begründer des Historismus, wies zwar die Provinz Bosnien-Herzegowina, erworben hatten, vereitelten die
auch den Slawen einen Platz nur vor der Tür seiner romanisch-germa- russisch-bulgarischen Pläne. Bulgarien wurde auf dem Berliner Kon-
nischen Welt, doch galt für ihn der islamische Orient „gleichwohl als gress in territorial reduzierter Form und lediglich als autonomes Fürs-
Hauptgegensatz, als allgemeiner Hauptfeind der romanischen und ger- tentum unter osmanischer Oberhoheit anerkannt. Unter diesen Bedin-
manischen Völker", wie Ernst Schulin formulierte (Schulin 1958:157). gungen sah es sich gezwungen, einen Modus Vivendi für die zahlen-
In der Zeit, in der das Osmanenreich militärisch kein Gefahrenpotenzial mäßig immer noch bedeutende türkische Minderheit im Lande zu fin-
mehr für das Abendland darstellte, in der man begann, vom „Kranken den, zumal man auf die im Osmanischen Reich (in Makedonien und
Mann am Bosporus" zu reden, setzte auch die imperialistische Expan- Thrakien) verbliebenen Bulgaren Rücksicht zu nehmen hatte. Die all-
sion ein. Schon die technologische Zurückgebliebenheit schien alle mähliche Verdrängung muslimischer Bevölkerungen setzte sich aber
176 Fikret Adanır Bevölkerungsverschiebungen, Siedlungspolitik und. 177

in den letzten Dekaden des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts gisch sensiblen Regionen, wie etwa in Ostthrakien oder an den Meer-
trotzdem fort. So fanden immer mehr Muslime Kretas, die etwa ein engen, mit Blick auf ethnisch-konfessionelle Homogenisierung zu ver-
Drittel der Bewohner jener Insel ausmachten, Zuflucht an den Küsten ändern. Schon im Jahre 1877 begann man die Ansiedlung muslimischer
Kleinasiens. Der britische Historiker Arnold Toynbee, der zu Beginn Flüchtlinge aus dem Balkan unter diesem Gesichtspunkt zu steuern
des 20. Jahrhunderts die Küstenregionen Kleinasiens bereiste, konnte (İpek 1994: 156-59). In den 1880er-Jahren schickte man Experten-
verblüfft feststellen, dass die meisten Muslime nur Griechisch und die kommissionen nach Anatolien, um Gebiete inspizieren zu lassen, de-
meisten Griechen nur Türkisch sprachen - seiner Meinung nach ein ren Besiedlung durch solide muslimische Mehrheiten anstrebenswert
überzeugender Beleg für die Absurdität eines primär auf Sprache grün- war (Adamr/Kaiser 2000: 279).
denden Nationsverständnisses (Toynbee 21923: 18, 120). Neben dieser Sorge um die demographische Umgestaltung Klein-
Die Politik der Kabinette war einerseits von der Vorstellung geleitet, asiens war eine wirtschaftsnationalistische Grundhaltung für das Re-
man müsse die Völker nach ethnischer Zugehörigkeit säuberlich ent- gime Abdulhamids charakteristisch. Der Sultan betrachtete die nicht-
flechten. So schrieben die Großmächte in ihrem Mürzsteger Reform- muslimischen kommerziellen Schichten als „Kompradorbourgeoisie",
programm für Makedonien von 1903 zum Entsetzen aller Beteiligten die nicht dem osmanischen Vaterland, sondern den Interessen des
vor, die territorialen Grenzen der Verwaltungsbezirke in den Vilayets Auslands diente. Die Turkifizierung der Ökonomie gehörte daher zu
Saloniki, Monastir und Kosovo unter dem Gesichtspunkt einer ein- den Hauptsorgen des Herrschers. In dieser Hinsicht hat er den Natio-
heitlichen Gruppierung der einzelnen Ethnien neu festzulegen. Das nalismus der Jungtürken vorweggenommen: Diese haben wesentlich
war geradezu eine Einladung an die Konfliktparteien, ihre letzten Re- später, dafür aber umso rücksichtsloser eine Politik der wirtschaftli-
serven zu mobilisieren, um noch rechtzeitig die von ihnen beanspruch- chen Verdrängung der Nichtmuslime praktiziert, um der türkisch-„na-
ten Gebiete von fremden Elementen zu säubern (Adanır 1979: 204). tionalen Bourgeoisie" zum Aufstieg zu verhelfen. Wie Yusuf Akçura,
Andererseits aber ließ man ethnisch-konfessionelle Mehrheitsverhält- der Wortführer der Turkisten, schon 1904 betont hatte, war das Osma-
nisse völlig außer Acht, wann immer es um die Wahrung eigener Inter- nenreich ohne die Nationalisierung seiner Ökonomie nicht lebensfä-
essen ging. So wurde Westthrakien im Vertrag von Neuilly (1919) „on hig (Georgeon 1980: 42, 59; Göçek 1996: 110).
grounds of higher policy" von Bulgarien abgetrennt und Griechenland Eine solche Politik beschwor freilich neue Konflikte herauf, zumal
zugeschlagen, wobei allerdings weder das bulgarische noch das grie- die Armenier, die bis zum russisch-osmanischen Krieg von 1877/1878
chische Element die Mehrheit in der Region darstellte: „an absolute als „loyale" Untertanen gegolten hatten, in der Folgezeit mit immer
majority, indeed, is held only by Moslems as against Christians" (Tem- lauteren Forderungen nach Reformen auffielen. Der armenische Pa-
perley 1921:456). triarch von Konstantinopel hatte die armenische Frage erfolgreich
auf die Tagesordnung des Berliner Kongresses gebracht: Er behaup-
tete, die armenische Bevölkerung bilde die Mehrheit in Ostanatolien
KLEINASIEN: CHRISTEN UND MUSLIME
und verlangte von den Großmächten die Einführung einer autono-
IM S P Ä T E N 19. JAHRHUNDERT
men Verwaltung in den so genannten „Sechs Vilayets", die nun als
„Realpolitik" der geschilderten Art war osmanisch-türkischen Politi- „armenisch" bezeichnet wurden. Als Vorbild sollte u.a. die Entwick-
kern der Epoche keineswegs fremd. Diese fanden immer wieder Mittel lung im Berg Libanon dienen - einem Gebiet, das infolge interkonfes-
und Wege, die nichtmuslimischen Minderheiten besonders in Klein- sioneller Unruhen (und dank der Intervention europäischer Mächte)
asien unter Kontrolle zu halten. Gerade im Zuge der Liberalisierung im Jahre 1861 einen autonomen Status erhalten hatte. Durch beharrli-
des Wirtschaftslebens im 19. Jahrhundert kam es dort wiederholt zu che Bemühungen konnten die Armenier immerhin erreichen, dass ihre
Ausbrüchen des sozialen Neids, der sich gegen die Nichtmuslime rich- Interessen im Friedensvertrag von Berlin 1878 berücksichtigt wurden.
tete. Diese waren in Kriegszeiten ohnehin als potenzielle „Fünfte Ko- Artikel 61 verpflichtete die osmanische Regierung, „Verbesserungen und
lonnen" suspekt. Sultan Abdulhamid II. (1876-1909) initiierte als er- Reformen ins Leben zu rufen, welche die örtlichen Bedürfnisse in
ster osmanischer Herrscher eine Besiedlungspolitik, die darauf ange- den von den Armeniern bewohnten Provinzen erfordern, und für die
legt war, die demographischen Verhältnisse zumindest in den strate- Sicherheit derselben gegen die Tscherkessen und Kurden einzuste-
176 Fikret Adanır Bevölkerungsverschiebungen, Siedlungspolitik und. 179

hen", wobei die Mächte befugt sein sollten, die Ausführung solcher menische Führung zunächst auf die Einlösung des Reformversprechens
Reformen zu überwachen. Damit war die armenische Frage interna- gemäß Art. 61 des Berliner Vertrags. Die Umgestaltung der ostanato-
tionalisiert worden. lischen Vilayets in ein autonomes Armenien unter einem Armenier als
Trotzdem war die armenische öffentliche Meinung mit dem in Berlin Generalgouverneur - genau dies verlangte der armenische Patriarch von
Erreichten nicht zufrieden. Im Vergleich zu Unabhängigkeit oder Auto- Konstantinopel - war jedoch für den Sultan unannehmbar (Şimşir 1982a:
nomie, welche einige Balkanvölker dank der Gunst einiger Großmächte 673). Als es offensichtlich wurde, dass auch die Großmächte vorerst nicht
erlangt hatten, schien die europäische Diplomatie für die Armenier nur bereit waren, wirksam zugunsten der Armenier zu intervenieren, traten
Versprechungen bereitzuhalten. Man zog daraus die Lehre, dass man ab den 1880er-Jahren armenische revolutionäre Organisationen in Akti-
ohne bewaffneten Kampf nichts Substanzielles würde erreichen kön- on, deren Ziel es war, eben eine Intervention der Mächte zu erzwingen:
nen. Seit dem Berliner Kongress von 1878 hat es also eine armenische „It was on this fact that the revolutionary leadership gambled [...] Far
Nationalbewegung gegeben, die nach dem Vorbild d/r vorangegange- from being an adventure, the Armenian revolution, coordinated with
nen erfolgreichen Bewegungen der Griechen, der christlichen Libane- European attack, had every possibility for successfully culminating in
sen und der Bulgaren die Errichtung eines eigenen Staates auf einem the overthrow of Hamid and the establishing of Armenian independence"
historisch definierten und legitimierten Territorium anstrebte. (Atamian 1955: 143; Nalbandian 1963: 94-111; Dasnabedian 1988: 29-
Für das muslimische Empfinden in dieser Zeit war dagegen die kol- 44). Infolgedessen erlebte Anatolien in der letzten Dekade des 19. Jahr-
lektive Erfahrung des Flüchtlingsdaseins prägend: Das Flüchtlingswesen hunderts ethnisch-religiöse Auseinandersetzungen, die für viele Chris-
stellte die osmanische Regierung vor kaum lösbare Integrationsprobleme. ten Massaker, Vertreibung oder Zwangskonversion zum Islam brach-
Die Vertriebenen waren überwiegend keine Türken, sondern Angehöri- ten (Deringil 1998: 86-92).
ge islamisierter autochthoner Bevölkerungen, die mit großen Schwie- Mochten hierbei zunächst auch die sozialen Missstände wie Steuer-
rigkeiten der Anpassung an ihr neues kulturelles Milieu in Kleinasien zu druck, Korruption oder Enteignung eine maßgebende Rolle gespielt
kämpfen hatten. In ihren Augen wie in den Augen einheimischer Muslime haben, stellen die Ereignisse von Sassoun im Herbst 1894 eindeutig
war die bisherige Politik mit ihrer Betonung der staatsbürgerlichen einen qualitativen Umschlag in eine zunehmend nationalpolitisch be-
Gleichheit im Sinne der Ideologie des Osmanismus gründlich diskredi- stimmte Bürgerkriegssituation dar, die eindeutig mit Angriffen arme-
tiert (Karpat 2001:183-207). Abdulhamid II. trug nun dieser veränderten nischer Freischärler (fedais) gegen Kurden eingetreten war (Atamian
Stimmungslage dadurch Rechnung, dass er eine Versöhnungspolitik 1955: 139; Walker 1980: 152f.; Kieser 2000: 165-167). Die neuerlichen
gegenüber jenen Gruppen einleitete, die durch die Modernisierungs- „Greueltaten der Türken", wie die westliche Publizistik die Ereignisse
maßnahmen der Reformära Tanzimat (1839-1876) entfremdet worden übereinstimmend titulierte, riefen große Empörung vor allem in libe-
waren. Die integrative Kraft dieser neuen Politik lag in ihrer Betonung ral-protestantischen Kreisen in Europa und Amerika hervor. Die Folge
der islamischen Grundwerte. Gegenüber der christlich-abendländischen war eine Intervention der Großmächte unter der Führung Großbritan-
Zivilisation rückte man die großen Leistungen der islamischen Klassik niens. Man forderte die osmanische Regierung auf, eine Art Gebiets-
in den Vordergrund. Angesichts der Expansion imperialistischer Mäch- autonomie für die Armenier im Osten einzuführen, die von einer „re-
te in den muslimischen Gebieten Afrikas und Asiens versuchte man da- organisation along .ethnographical lines', which effectively meant
neben, den Sultan in seiner Kalifenrolle als Beschützer aller Muslime zu carving up the provinces into administrative districts separated by reli-
profilieren (Özcan 1997:23-62; Deringil 1998: 68-92; Karpat 2001: 155- gion", ausging (Salt 1993: 154).
182). So gelang es, die Loyalität jener Gruppen zu sichern, die während Obwohl der Sultan die Notwendigkeit von Reformen anerkannte,
der Tanzimat die staatliche Autorität herausgefordert hatten; vor allem lehnte er die Ernennung von christlichen Gouverneuren für die östli-
die Kurden im Osten Anatoliens sollten fortan eine Schlüsselrolle in der chen Provinzen entschieden ab. Er war höchstens bereit, christliche
Hamidschen Nationalitätenpolitik spielen. Vize-Gouverneure für jene Distrikte zu akzeptieren, in denen die Chris-
Die Mehrheitsgesellschaft, die sich auf diese Weise um den Sultan- ten die Mehrheit bildeten. Distrikte mit christlicher Mehrheit gab es
Kalifen scharte, empfand die Autonomie- und Unabhängigkeitsbestre- aber in ganz Kleinasien nur wenige. Dies wurde bald auch den euro-
bungen der Armenier nach 1878 als Provokation. Dabei setzte die ar- päischen Diplomaten klar, weshalb sie als Grundlage für die Gebiets-
176 Fikret Adanır Bevölkerungsverschiebungen, Siedlungspolitik und. 181

autonomie immer kleinere administrative Einheiten befürworteten. einzigen Nation, sondern zugunsten aller Osmanen, ob sie nun Juden,
Während das Reformprogramm gleichsam im Sande verlief, lässt sich Christen oder Muslime heißen mögen.
mit Loise Nalbandian konstatieren, dass im Zuge der gewaltsamen Wir wünschen uns Fortschritte auf dem Weg der Zivilisation, jedoch
Auseinandersetzungen mit kurdischen Stämmen und osmanischen erklären wir hiermit entschieden, dass wir keinen Fortschritt wünschen,
Behörden in den 1890er-Jahren ,,[b]loodshed became a more commonly der nicht dem Osmanentum dient und dessen Prestige erhöhen hilft."
acknowledged form of patriotic sacrifice" innerhalb der armenischen (Ramsaur 1957: 25)
revolutionären Kreise (Nalbandian 1963: 159). Den Unionisten sollte es Ende 1907 gelingen, die Dezentralisten Saba-
haddins, aber vor allem die Armenische Revolutionäre Föderation
(Dashnaktsutiun), auf ein gemeinsames Programm zu verpflichten. Der
JUNGTÜRKEN UND
Kern dieses Programms war die Wiedereinführung der 1878 außer Kraft
DIE A R M E N I S C H E N REVOLUTIONÄRE
gesetzten Verfassung und des parlamentarischen Systems (Dasnabedian
Die jungtürkische Opposition seit den 1890er-Jahren richtete sich in 1988: 86f.; Hanioğlu 2001: 107-09; Avagyan 2005: 22-26). So kam es
erster Linie gegen die Autokratie Sultan Abdulhamids. Eine darüber im Sommer 1908 zur jungtürkischen Revolution und der spektakulä-
hinausgehende Gemeinsamkeit politischer Zielsetzung ließ sich jedoch ren „Völkerverbrüderung" (Hacısalihoğlu 2003: 192-203).
vorerst nicht herstellen. Anlässlich der Ausschreitungen in Istanbul Die gegensätzlichen Interessen besonders in der nationalen Frage
gegen die demonstrierenden Armenier im Herbst 1895 trat man zum ließen sich jedoch nicht einfach übertünchen, zumal zahlreiche Unre-
ersten Mal mit einem Flugblatt an die Öffentlichkeit. Die Aktion war gelmäßigkeiten bei Parlamentswahlen im Spätherbst 1908 das Vertrau-
hauptsächlich von Ibrahim Temo, dem liberal gesinnten Gründer des en zum jungtürkischen Komitee bei allen nationalen Parteien unter-
Komitees, organisiert. Die „lieben Mitbürger" wurden aufgefordert, die höhlten (Kansu 1997:163-241; Hacısalihoğlu 2003:248-257). Die feind-
bedauernswerten Aktionen der Armenier nicht bloß zu verdammen, liche Haltung der Nachbarstaaten und einiger Großmächte - wie etwa
sondern auch nach den wahren Gründen solcher Aktionen zu fragen. die Annexion Bosniens und der Herzegowina durch Österreich-Un-
Denn „wie alle Osmanen fordern auch wir Türken Reformen und Frei- garn - war ein weiterer Faktor, der zur Diskreditierung des neuen Re-
heit von dieser despotischen Regierung. Unsere Organisation verfolgt gimes beitrug. Die islamistisch wie liberal-dezentralistisch denkenden
dieses Ziel. Anstatt gegen Armenier vorzugehen, sollten wir alle ge- Kräfte traten in der „gegenrevolutionären" Bewegung vom „31 März"
meinsam auf die Hohe Pforte, auf das Amt des Scheich ul-Islams, auf 1909 eindrucksvoll in Erscheinung und zwangen die Unionisten über-
den Yıldız Kiosk marschieren. Wir müssen der ganzen zivilisierten Welt all in die Defensive. Da es bald auch zu Massakern an den Armeniern
zeigen, dass auch wir die Freiheit lieben und es verdienen, frei zu le- in Adana (Kilikien) kam, schien die jungtürkisch-armenische Verstän-
ben" (Temo 1987: 42). digung endgültig verspielt zu sein (Atamian 1955: 159-75; Walker 1980:
In der Folgezeit entstand eine Jungtürkenbewegung im Exil. Um 186-188). Wenn auch die Unionisten die Kooperation mit der Dash-
den Prinzen Sabahaddin scharten sich die so genannten Dezentra- naktsutiun trotz Schwierigkeiten bis zum Balkankrieg fortsetzten, wa-
listen - darunter auch Armenier - , die nicht nur für regionale Autono- ren die Beziehungen nicht mehr vertrauensvoll (Dasnabedian 1988:
mie eintraten, sondern auch um dieses Zieles willen bereit waren, die 99ff.; Minassian 2005: 169-187).
europäischen Großmächte zur militärischen Intervention aufzufordern.
Demgegenüber pochte eine von Ahmed Riza angeführte Minderheit,
DIE B A L K A N K R I E G E VON 1912/13
die als „zentralistisch" galt, auf die Respektierung der osmanischen
ALS N A T I O N A L G E S C H I C H T L I C H E WENDE
Souveränität (Hanioğlu 2001: 82-129, 173-181). Der türkisch-nationa-
le Charakter der Zielvorstellungen dieser „Unionisten" bzw. „Ittihadis- Die Balkankriege von 1912/1913 entstanden aus Bestrebungen der aus
ten" ist bereits in einer 1895 veröffentlichten programmatischen Schrift dem Osmanischen Reich hervorgegangenen unabhängigen National-
Ahmed Rizas auffallend: staaten, ihr Territorium auf Kosten des geschwächten Reiches zu ver-
„Wir fordern Reformen, aber nicht spezielle Reformen für diese oder größern. Ideologisch wurde dabei der Kampf der Christenheit gegen
jene Provinz, sondern für das gesamte Reich, nicht zugunsten einer den Islam ebenso betont, wie die mission civilisatrice, die man als eu-
176 Fikret Adanır Bevölkerungsverschiebungen, Siedlungspolitik und. 183

ropäische Nation asiatischen Völkern gegenüber wahrnehmen zu kön- jungtürkische Komitee „Einheit und Forschritt", das durch den Staats-
nen glaubte. Im Manifest des bulgarischen Zaren Ferdinand anlässlich streich vom Januar 1913 zur allein regierenden Partei im Reich gewor-
der Kriegserklärung hieß es: „In diesem Kampfe des Kreuzes gegen den war, einen neuen Kurs zu steuern. Man war nunmehr entschlos-
den Halbmond, der Freiheit gegen die Tyrannei, werden wir die Sym- sen, eine Umgestaltung von Wirtschaft, Gesellschaft und Politik in na-
pathien aller jener haben, welche die Gerechtigkeit und den Fortschritt tionalem Sinn einzuleiten. Anstelle der „kosmopolitischen Gesinnung"
lieben." (Hemberger 1914: 43) Im Manifest des griechischen Königs des Osmanismus bekam die muslimische Bevölkerung fortan ein Lob-
war zu lesen: „Der Kreuzzug der Balkanstaaten ist ein Kreuzzug des lied auf populistisch-korporatistische Werte zu hören. Bestrebungen
Fortschrittes, der Zivilisation und der Freiheit gegen asiatische Erobe- um die „Sprach-, Idee- und Aktionseinheit" der Turkvölker, begleitet
rung." (Hemberger 1914: 46) Gewiss handelte es sich dabei auch um von sozialdarwinistischen Vorstellungen, gewannen in diesem Rahmen
Befreiungskriege. Serbien und Griechenland jedenfalls konnten ihre die Oberhand (Hanioğlu 1995: 208-212).
Staatsgebiete innerhalb weniger Monate etwa verdoppeln. Rund eine Nicht zuletzt unter dem Eindruck einer neuen Flüchtlingswelle aus
halbe Million Muslime - beileibe nicht alle Türken - suchten Nieder den von den Balkanbund-Armeen besetzten Gebieten war es mancher-
Hals über Kopf Zuflucht in Anatolien (Carnegie Endowment for Inter- orts schon zu christenfeindlichen Ausschreitungen gekommen. Auch
national Peace 1914: 148-207; McCarthy 1995: 135-77). unter den Flüchtlingen, die im Winter 1913/14 in größter Not in West-
Diesmal kam es aber zu beträchtlichen demographischen Verschie- anatolien lebten, war Bandenbildung zu beobachten, wobei vor allem
bungen auch zwischen den Balkanstaaten selbst. So entfaltete Minis- griechische Dörfer im Hinterland von Izmir (Smyrna) überfallen wur-
terpräsident Venizelos von Griechenland eine bis ins Detail durchdachte den. Infolgedessen setzte schon vor dem Ausbruch des Ersten Welt-
Politik ethnischer Homogenisierung. Einerseits betrieb er die Einwan- krieges ein Exodus kleinasiatischer und thrakischer Griechen zu den
derung griechisch-orthodoxer Einwohner aus jenen Gebieten wie vorgelagerten Inseln oder in das griechisch besetzte Gebiet in Makedo-
Strumica, Dojran und Melnik, die nun Bulgarien zugedacht waren. nien ein - eine Entwicklung, an welcher die regionalen jungtürkischen
Andererseits versuchte er mit allen Mitteln, die Einwanderung von Komitees nicht unbeteiligt waren (Şimşir 1982b: 530f.; Berber 1997:
Griechen aus dem bulgarisch besetzten Westthrakien zu stoppen. Er 57-61). Offensichtlich waren einige Unionisten schon zu dieser Zeit
unterstützte sogar die Autonomiebewegung dortiger Muslime in der innerlich bereit, drakonische Maßnahmen einschließlich „ethnischer
Absicht, die Konsolidierung der bulgarisch-nationalen Ansprüche an Säuberung" zu ergreifen, sollten die „nationalen Interessen" dies für
der nordägäischen Küste zu hintertreiben (Petsalis-Diomidis 1979:280- notwendig erscheinen lassen (Akçam 1996: 41; Dündar 2001: 64).
90). Denn Venizelos war überzeugt, dass ein autonomes Westthrakien Diese Radikalisierung setzte sich im Zuge der Verhandlungen über
„in 10 bis 15 Jahren Griechenland ganz von selbst wie ein reifer Apfel die Gewährung von Autonomie für die „armenischen Provinzen" Ost-
in den Schoß fallen" würde (Boeckh 1996: 261). anatoliens in den Jahren 1913 und 1914 fort. Gestritten wurde nicht
Die Jungtürken selbst führten die katastrophale Niederlage im Bal- zuletzt darüber, ob nur die sesshafte Bevölkerung in den künftigen auto-
kankrieg erstens auf das Fehlen eines ethnisch begründeten National- nomen Provinzen Bürgerrechte erhalten sollte, wie von den Armeniern
bewusstseins beim durchschnittlichen osmanischen Rekruten zurück. nachdrücklich verlangt, oder auch die nomadisierenden Kurden und
Sie wurden darin von deutschen Offizieren, die in osmanischen Rei- Turkmenen, worauf die Jungtürken bestanden. Die Armenier wollten
hen gekämpft und dadurch die Demoralisierung der Truppe in Thraki- außerdem erreichen, dass die muslimischen Flüchtlinge - in der Haupt-
en aus nächster Nähe erlebt hatten, bestärkt. Die Jungtürken schrie- sache Tscherkessen und Georgier - vom Territorium der künftigen auto-
ben das Debakel zweitens dem „Verrat" nichtmuslimischer Rekruten nomen Provinz ausgeschlossen wurden (Hovannisian 1967: 30-34;
in der osmanischen Armee zu, die schon während der ersten Gefechte Avagyan 2005: 122-130). Doch vorerst sollte es noch nicht so weit kom-
auf dem thrakischen Kriegsschauplatz zum Feind übergelaufen seien. men. Unter dem Druck der Großmächte willigten beide Seiten im Fe-
In der allgemeinen Orientierungslosigkeit in der osmanischen Haupt- bruar 1914 in einen Kompromiss ein, der weder die Armenier noch die
stadt gewann die kleine Gruppe der Turkisten, die seit 1911 mit eige- jungtürkische Führung zufrieden stellen konnte (Hovannisian 1967: 38-
nen Presseorganen den politischen Diskurs wesentlich geprägt hatte, 39; Minassian 2005: 197-205). Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrie-
beträchtlich an Bedeutung. Unter deren Einfluss begann auch das ges wurde auch diese vermittelte Lösung einfach ad acta gelegt.
176 184
Fikret Adanır Bevölkerungsverschiebungen, Siedlungspolitik und.

Der Kriegsausbruch bedeutete für die Griechen im Westen Kleinasi- Enver Pascha, dem nun die Führung osmanischer Armeen oblag, ver-
ens eine weitere Verschlechterung ihrer Lage. Venizelos hatte im Juni band gerade mit der Kriegserklärung an Russland beträchtliche Hoff-
1914 überraschend vorgeschlagen, einen Bevölkerungsaustausch vor- nungen hinsichtlich der Realisierung panturkistischer Ziele (Tekin Alp
zunehmen, der die Muslime Makedoniens einerseits und die Griechen 1915: 53). Die Enttäuschung war daher groß, als die osmanische Ost-
Ostthrakiens und des Vilayets Izmir andererseits erfassen sollte (Şimşir armee Ende 1914 vernichtend geschlagen wurde und infolgedessen statt
1982b: 568). Eine ähnliche Lösung war bereits im türkisch-bulgari- der erhofften Befreiung von „Volksgenossen" in Transkaukasien das
schen Vertrag von Konstantinopel vom September 1913 vorgesehen: eigene Territorium unter russische Besatzung geriet. Nicht zuletzt un-
Die Einwohner aller Siedlungen innerhalb eines 15 km breiten Strei- ter dem Eindruck einer bevorstehenden Landung der Entente-Trup-
fens beiderseits der Grenze sollten ausgetauscht werden. Die betroffe- pen an den Dardanellen fasste die jungtürkische Führung im Frühjahr
nen Bevölkerungen - jeweils ca. 50.000 Menschen - waran jedoch be- 1915 den Beschluss, fast die gesamte armenische Bevölkerung Anato-
reits geflüchtet, so dass es nunmehr bloß um die nachtragliche Rege- liens in Gebiete im Süden (Syrien) umzusiedeln. Bis Ende 1915 wur-
lung von Besitzfragen ging (Psomiades 2000: 53f.). den praktisch alle armenischen Gemeinden, ausgenommen Izmir, Istan-
Durch den Ausbruch des Weltkrieges sollte freilich auch diese Ver- bul und Aleppo, deportiert. Unterwegs kam es wiederholt zu Massa-
einbarung bloß ein Stück Papier bleiben (Helmreich 1938: 409-413; kern, an denen sich neben kurdischen Stämmen sogar Soldaten betei-
Boeckh 1996:269f.), während die Spannungen im Westen wie im Osten ligten, die zum Schutz der Deportierten abkommandiert worden wa-
Kleinasiens auf die Spitze zutrieben. Die griechisch-orthodoxe Bevöl- ren. Die muslimische Zivilbevölkerung verhielt sich „von Gebiet zu
kerung der küstennahen Distrikte wurde in Gebiete im Landesinnern Gebiet unterschiedlich. An einigen Orten schützte die Bevölkerung die
umgesiedelt, so dass im Jahre 1916, als Griechenland schließlich in Armenier, nahm sie auf oder versteckte sie, woanders hingegen mussten
den Krieg hineingezogen wurde, kaum ein Grieche mehr in den Küsten- die Deportationskolonnen durch die Gendarmen vor den Angriffen der
städten lebte (Berber 1997: 57-72). Im Osten Anatoliens stellte sich die Bevölkerung geschützt werden" (Akçam 1996: 72). Kinder und junge
Lage noch gravierender dar. Sowohl Russland als auch das Osmani- Frauen entgingen der Deportation manchmal dadurch, dass sie zum
sche Reich warben dort um die Gunst der Armenier. Dass die Russen Islam konvertierten.
hieraus als Sieger hervorgehen würden, war von vornherein klar, denn Ein Großteil der zwangsweise umgesiedelten Bevölkerung kam da-
sie versprachen das ursprüngliche Autonomie-Projekt für Türkisch- bei um bzw. wurde umgebracht. Auf jeden Fall stellt diese Deportation
Armenien uneingeschränkt umzusetzen, während die Jungtürken eine ein schweres Verbrechen dar, wofür im heutigen Diskurs die Bezeich-
solche Autonomie in ihren wesentlichen Punkten in Frage stellten. nung „Völkermord" verwendet wird. Eine adäquate Aufarbeitung die-
Bereits in der Phase der osmanischen Neutralität von August bis No- ser Geschichte steht, zumindest in der Republik Türkei, noch aus. Dem-
vember 1914 wurde daher Tiflis, das wirtschaftlich-kulturelle Zentrum gegenüber kommt ihr in der armenischen (vor allem in der Diaspora
der Armenier Russlands, „the site of pronounced anti-Turkish agitation" entstandenen) Literatur, aber auch in der internationalen Genozid-
(Hovannisian 1967: 42). Hier wurde ein armenisches Freikorps aufge- forschung zentrale Bedeutung zu, wobei man sich dem Gegenstand
stellt, dessen Mitglieder mehrheitlich osmanische Staatsbürger waren; vornehmlich aus der Perspektive des historischen Erinnerns nähert.
Garegin Pasdermadjian (Armen Garo), ehemals Abgeordneter im os- Der Ansatz des vorliegenden Beitrags ist dagegen emphatisch histo-
manischen Parlament, führte eine der vier Abteilungen persönlich an. risch, d.h., es werden vor allem Sachverhalte thematisiert, die für den
Die jungtürkische Führung hegte vergleichbare Pläne. Gemäß dem historischen Kontext relevant erscheinen. Denn der Text der Erinne-
deutschen Konzept der „Revolutionierung der islamischen Gebiete rung entspricht selten dem historischen Kontext. Bezieht man diesen
unserer Feinde" hatte man die erst im Sommer 1914 entstandene Standpunkt, so erkennt man unschwer, dass in den Jahren 1914-1918
„Sonderorganisation" (Teşkilât-ı Mahsusa) beauftragt, ein „Revolutions- nicht nur Armenier deportiert wurden, sondern auch viele weiteren
komitee für Kaukasien" zu gründen, mit dem Ziel, Aufstände hinter Bevölkerungsgruppen, so die Kurden von Ost nach West, die Araber
der Front vorzubereiten, um die Okkupation Transkaukasiens durch von Süd nach Nord, die Albaner und die Bosniaken von West nach Ost,
die osmanische Armee im Falle eines Krieges mit Russland zu erleich- die Tscherkessen von Nord nach Süd, die Griechen von West nach Ost
tern (Bihl 1975: 40-47; Bloxham 2005: 71-78). Ein kleiner Kreis um bzw. von Nord nach Süd (Dündar 2005).
176 Fikret Adanır Bevölkerungsverschiebungen, Siedlungspolitik und.
187

Der Erste Weltkrieg wurde auch auf dem Balkan als Chance begrüßt, schlössen, die Frage der nichtmuslimischen Minderheiten ein für alle
um die alten Rechnungen, etwa in der Makedonischen Frage, zu be- Mal zu lösen.
gleichen. Hauptsächlich um den Besitz Makedoniens willen trat Bul- Das großgriechische Kleinasienprojekt endete mit der Katastrophe
garien im Herbst 1915 auf der Seite der Mittelmächte in den Krieg ein. des Spätsommers 1922. Die Rache der siegreichen Türken traf eine
Die Niederlage von 1918 war dann erneut mit großen Enttäuschungen zivile Bevölkerung, die zu Tausenden beraubt, vertrieben, und zum Teil
und Leid und Vertreibung verbunden. Nach den Bestimmungen des massakriert wurde. Der Norweger Fridtjof Nansen wurde vom Völker-
Vertrags von Neuilly vom November 1919 mussten bis zu 200.000 Sla- bund zum Hohen Kommissar ernannt, zuständig für die Koordinie-
wen Nordgriechenland verlassen. Sie wurden gegen ca. 170.000 Grie- rung der nunmehr anlaufenden internationalen Hilfsprogramme für
chen vor allem von der bulgarischen Schwarzmeerküste getauscht die griechischen Flüchtlinge. Nansen ließ sich schon im Oktober 1922
(Ladas 1932:27-331,591-617). Die aufkommende Regioniiimacht Grie- von Eleftherios Venizelos überzeugen, dass ein griechisch-türkischer
chenland unter der Führung von Venizelos konnte damit ihre neu er- Bevölkerungsaustausch unter den gegebenen Umständen die beste
worbenen Territorien in Makedonien und Thrakien auf der strategisch Lösfengsei (Ladas 1932: 336; Pentzopoulos 1962:104; Petropulos 1976:
entscheidenden Route nach Konstantinopel auch demographisch kon- 141 f.). Seine Sondierungen bei der Vertretung der Regierung von An-
solidieren. Der Hauptgewinn für Griechenland war aber weiter im kara ergaben, dass auch die Türken in dieselbe Richtung dachten; sie
Osten, in Kleinasien zu holen. hatten allerdings einen zusätzlichen Wunsch: Der anvisierte Bevölke-
Nach dem Willen der Siegermächte war die Zerschlagung der Viel- rungsaustausch müsse möglichst umfassend und vor allem zwingend
völkerreiche eine beschlossene Sache. Die Kategorie Nation sollte als angewandt werden, eine Forderung, die auch in die Instruktionen an
die Basis der neuen Weltordnung dienen und dabei auch die Nach- die türkische Delegation bei den Friedensverhandlungen in Lausanne
folgestaaten der Imperien legitimieren helfen. Vor allem Präsident Eingang fand (Aktar 2005). Die Türken rannten mit einer solchen For-
Wilson legte großen Wert darauf, dass die zu revidierenden Territorial- derung bei den in Lausanne versammelten Diplomaten gleichsam of-
grenzen den ethnisch-nationalen Gegebenheiten Rechnung trugen. fene Türen ein, denn zur Überraschung İsmets [İnönü] „a compulsory
So erlaubte man Griechenland schon im Mai 1919, das west- exchange was accepted by Lord Curzon and Venizelos [...], before İnönü
anatolische Izmir und dessen Hinterland militärisch zu besetzen. had even had a chance to speak on the subject" (Petropulos 1976: 142).
Rasch wurden alle während des Krieges geflohenen bzw. vertriebe- Den Wunsch der eigenen Regierung, einen Bevölkerungsaustausch auch
nen Griechen nach Kleinasien zurückgebracht. Parallel dazu übte man mit der Republik Armenien anzustreben, lehnte jedoch İsmet ab, da
Druck auf die einheimischen Muslime aus, um sie zum Abwandern Armenien in Lausanne offiziell nicht vertreten sei und man es vermei-
in das Landesinnere zu zwingen (Berber 1997: 230-237, 317-331). den wolle, die Sowjets in eine solch heikle Angelegenheit einzubezie-
Die ersten Abwehrerfolge der sich formierenden muslimischen Wi- hen (Şimşir 1990: 143, 172).
derstandsbewegung wurden aber von der griechischen Führung als Diese Sachlage erklärt weitgehend, warum die griechisch-türkische
eine Warnung wahrgenommen. Man zeigte sich sogar bereit, einen Konvention betreffend den Zwangsaustausch von Bevölkerungen schon
Bevölkerungsaustausch mit der Regierung von Ankara zu vereinba- am 30. Januar 1923 unterzeichnet werden konnte, während die übri-
ren. In einem Schreiben an Lloyd George vom 27. Oktober 1919 gab gen Verhandlungen in Lausanne noch bis Ende Juli andauerten. Vom
Venizelos seiner Überzeugung Ausdruck, „that only by the voluntary Zwangsaustausch aufgrund dieser Konvention wurden dabei lediglich
exchange of co-nations between Greece, Armenia and Turkey could 192.356 Griechisch-Orthodoxe und 354.647 Muslime erfasst; denn die
national minorities be saved from extermination, and the position of Mehrheit der Griechen Anatoliens war bereits in den Jahren 1913-1922
Greece and Armenia in Anatolia assured" (Psomiades 2000: 56). Kon- ausgewandert bzw. geflüchtet, wie auch viele Muslime schon vor 1923
kret dachte er dabei an einen Austausch der Muslime Westanatoliens ihre Heimatorte in Makedonien oder Kreta hatten verlassen müssen
gegen griechisch-orthodoxe Bevölkerungsgruppen aus Kappadokien (Kitsikis 1985: 232). Hier mag auch der Grund dafür liegen, warum
und dem Pontus-Gebiet (Smith 1973: 260). Beflügelt von militärischen Venizelos in eine für das Griechentum so schwerwiegende Abmachung
Erfolgen ließ sich jedoch Ankara auf einen solchen Handel nicht ein. scheinbar bereitwillig einwilligte. In einer Stellungnahme aus dem Jahre
Hier war man im Sinne des türkischen Nationalpaktes von 1920 ent- 1929 rechtfertigte er sein Handeln denn auch wie folgt: „The Lausanne
176 Fikret Adanır Bevölkerungsverschiebungen, Siedlungspolitik und. 189

Convention is not really a Convention for the exchange of Greek and kes „Gefühl der eigenen Schuldlosigkeit" eigentlich für alle Völker Ost-
Moslem populations and properties, but rather a Convention for the europas eigentümlich sei (Michnik 1999). Dass diese generalisierende
departure of the Moslem population from Greece because the Greeks Betrachtung auch ein Quäntchen Wahrheit enthält, ist schon zu kon-
were driven out from Turkey. That is the real fact" (Ladas 1932: 465, zedieren. So fühlen sich die Türken ebenfalls als Opfer und weigern
zit. in Petropulos 1976: 141). Mit anderen Worten: Man war in Grie- sich bis heute einzusehen, dass sie den Armeniern (Griechen und an-
chenland mit dem Ergebnis des Bevölkerungsaustausches durchaus deren Völkern) Unrecht getan haben, vom Eingestehen eines Genozids
zufrieden. Die Zahl aller Personen, die zwischen 1912 und 1930 aus ganz zu schweigen.
Kleinasien und Ostthrakien nach Griechenland kamen, betrug 1.065.759 Aus der Perspektive des Historikers ist jedoch zu berücksichtigen,
(Pentzopoulos 1962: 99; Sundhaussen 1987: 921). Annähernd die Hälf- dass auch die Völker Westeuropas selten bereit waren, die eigene Schuld
te dieser Flüchtlinge wurde in Makedonien und Westthrakien angesie- einzugestehen. Vielmehr dürften, wenn Vergleiche dieser Art überhaupt
delt (Dagkas 2003: 166 + Tab. 36, 171 + Tab. 47). So steht es außer sinnvoll sind, beträchtliche Phasenverschiebungen in der Herausbil-
Zweifel, dass man ohne die Austauschvereinbarungen mit der Türkei dung zivilgesellschaftlicher Strukturen in West und Ost als signifikant
(und mit Bulgarien) die weiten Ebenen des heutigen Nordgriechenland einzustufen sein. So hat man auf dem Balkan patriarchale Kultur-
schwerlich hätte hellenisieren können. Auch die neue Türkei war ein elemente nachgewiesen, die noch immer für die Herrschaft der Män-
vom Krieg gezeichnetes Land mit einer zahlenmäßig dezimierten und ner sorgen. Auch ein gewisser Hang zum Militarismus ist hier sicher-
materiell äußerst verarmten Bevölkerung. Daher hieß man jeden mus- lich prägend geblieben.
limischen Flüchtling grundsätzlich willkommen. Dennoch stand aber Dieser Beitrag sieht jedoch Bevölkerungsverschiebungen und Sied-
auch hier letztlich der Gesichtspunkt der ethnischen Homogenisierung lungspolitik in Südosteuropa in engem Zusammenhang mit national-
ganz im Vordergrund. staatlicher Formierung bzw. imperialem Reagieren auf die nationale
Herausforderung. Vertreibungen dienten hier eindeutig der ethnisch-
kulturellen Homogenisierung. Im Falle der Türkei erwies sich der Über-
* * *
gang vom osmanischen Vielvölkerreich zum Nationalstaat als ein be-
Im Lichte der Entwicklungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist die sonders langwieriger Prozess. Die Diskriminierung von Nichtmuslimen
eingangs angeschnittene Frage, ob der Nationalismus der Völker Süd- und nicht-türkischen muslimischen Ethnien setzte sich auch nach der
osteuropas und des Nahen Ostens nicht grundsätzlich anders geartet Gründung der Republik im Jahre 1923 fort. Obwohl der neue Staat
gewesen sei als die Nationalismen der Völker Westeuropas, eindeutig Griechen, Armeniern und Juden einen völkerrechtlich garantierten
zu verneinen. Zwar haben Publizistik wie die akademische Forschung Minderheitenstatus gewährt hatte, verfolgten die Regierungen von
der letzten zwei Jahrzehnte genug Anhaltspunkte für Mutmaßungen Ankara zeitweilig offen eine Politik der Assimilation. Dies alles vollzog
dieser Art geliefert. Herauskristallisiert hat sich das Bild von einer zi- sich dabei im Zeichen einer „Europäisierung", deren fortschrittlicher
vilisatorischen Grenze zwischen dem römisch-katholischen Westen und Charakter von zeitgenössischen Beobachtern aus dem Westen bereit-
dem griechisch-orthodoxen bzw. osmanisch-islamischen Osten - eine willig konzediert wurde.
Grenze, die sich auch mit den Hauptfrontlinien der Kriege der 1990er-
Jahre zu decken schien. Eine Stellungnahme des polnischen Publizi- LITERATUR
sten Adam Michnik zum Kosovokrieg aus dem Jahre 1999 kann als Adanır, Fikret (1979): Die Makedonische Frage. Ihre Entstehung und Entwicklung bis
exemplarisch für diese essenzialistische Sichtweise auf die Geschichte 1908. Wiesbaden
gelten. Michnik versucht, die Motive der Serben zu verstehen und für Adanır, Fikret/Kaiser, Hilmar (2000): Migration, Deportation, and Nation-Building:
andere verständlich zu machen. Seiner Meinung nach sind die Motive The Case of the Ottoman Empire. In: Leboutte, Rene (Hg.): Migrations and Mi-
grants in Historical Perspective. Permanencies and Innovations. Brussels: 273-92
der Serben in den „komplizierten Windungen ihrer Geschichte" zu su-
Akçam, Taner (1996): Armenien und der Völkermord: die Istanbuler Prozesse und die
chen, einer Geschichte übrigens, die vor allem von - neben Heroismus
türkische Nationalbewegung. Hamburg
und Mut - der Überzeugung geprägt sei, dass man nicht der Übeltäter Aktar, Ayhan (2005): Türk - Yunan Nüfus Mübadelesi'nin ilk yili: Eylül 1922 - Eylül
sei, sondern Unrecht erlitten habe. Michnik fügt hinzu, dass ein star- 1923 [ Das erste Jahr des griechisch-türkischen Bevölkerungsaustausches, Sep-
176 Fikret Adanır Bevölkerungsverschiebungen, Siedlungspolitik und. 191

tember 1922-September 1923]. In: Pekin, Müfide (Hg.): Yeniden kurulan yaşamlar: Hanioğlu, M. Şükrü (1995): The Young Turks in Opposition. New York/Oxford
1923 Türk-Yunan Zorunlu Nüfus Mübadelesi, istanbul: 41-74 Hanioğlu, M. Şükrü (2001): Preparation for a Revolution: The Young Turks, 1902-
Atamian, Sarkis (1955): The Armenian Community. The Historical Development of a 1908. Oxford/New York
Social and Ideological Conflict. New York Helmreich, Ernst Christian (1938): The Diplomacy of the Balkan Wars 1912-1913.
Augustinos, Gerasimos (1992): The Greeks of Asia Minor. Confession, Community, Cambridge, MA
and Ethnicity in the Nineteenth Century. Kent/OH-London Hemberger, Andreas (1914): Illilstrierte Geschichte des Balkankrieges 1912/13, Bd. 1.
Avagyan, Arsen (2005): İttihat ve Terakki Cemiyeti ile Ermeni siyasi partileri arasındaki Wien/Leipzig
ilişkiler [Die Beziehungen zwischen dem Komitee Einheit und Fortschritt und Herder, Johan Gottfried (1988): Vom Einfluss der Regierung auf die Wissenschaften
armenischen politischen Parteien]. In: Avagyan/Minassian (Hg.): 11-141 und der Wissenschaften auf die Regierung (1779). In: Herder, Johan Gottfried:
Avagyan, Arsen/Minassian, Gaidz F. (2005): Ermeniler ve İttihat ve Terakki. İşbirliğinden Über Literatur und Gesellschaft. Leipzig
çatışmaya [Armenier und das Komitee Einheit und Fortschritt. Von Kooperation Höpken, Wolfgang (1996): Flucht vor dem Kreuz? Muslimische Emigration aus Süd-
zu Konfrontation]. Istanbul I osteuropa nach dem Ende der osmanischen Herrschaft (19./20. Jahrhundert). In:
Berber, Engin (1997): Sancılı yıllar: İzmir 1918-1922. Mütareke ve Yunan işgali Höpken (Hg.): 1-24
döneminde İzmir Sancağı [Schwierige Jahre: Izmir 1918-1922. Der Sandschak Höpken, Wolfgang, Hg. (1996): Zwangsmigrationen in Mittel- und Südosteuropa.
von Izmir in der Periode des Waffenstillstands und der griechischen Besetzung], Leipzig
Ankara Hovannisian, Richard G. (1967): Armenia on the Road to Independence 1918. Berkeley,
Bihl, Wolfdieter (1975): Die Kaukasus-Politik der Mittelmächte, I: Ihre Basis in der CA
Orient-Politik und ihre Aktionen 1914-1917, Bd. 1. Köln İpek, Nedim (1994): Rumeli'den Anadolu'ya Türk göçleri (1877-1890) [Abwandern
Blanqui, Auguste (1846): Betrachtungen über den gesellschaftlichen Zustand der Eu- von Türken aus dem Balkan nach Anatolien (1877-1890)]. Ankara
ropäischen Türkei. Sudenburg-Magdeburg Kansu, Aykut (1997): The Revolution of 1908 in Turkey. Leiden
Bloxham, Donald (2005): The Great Game of Genocide. Imperialism, Nationalism, Karpat, Kemal H. (2001): The Politicization of Islam. Reconstructing Identity, State,
and the Destruction of the Ottoman Armenians. Oxford/New York Faith, and Community in the Late Ottoman State. New York
Boeckh, Katrin (1996): Von den Balkankriegen zum Ersten Weltkrieg. Kleinstaaten- Kieser, Hans-Lukas (2000): Der verpasste Friede. Mission, Ethnie und Staat in den
politik und ethnische Selbstbestimmung auf dem Balkan. München Ostprovinzen der Türkei, 1839-1938. Zürich
Botzaris, Notis (1962): Visions balkaniques dans la preparation de la revolution grecque Kitsikis, Dimitri (1985): Les refugies grecs d'Anatolie et le „Centre d'Etudes Micrasia-
(1789-1821). Geneve-Paris tique" d'Athenes. In: Turcica 17: 227-44
Carnegie Endowment for Internnational Peace (1914): Report of the International Ladas, Stephen P. (1932): The Exchange of Minorities: Bulgaria, Greece and Turkey.
Commission to Inquire into the Causes and Conduct of the Balkan Wars. Wa- New York
shington McCarthy, Justin (1995): Death and Exile. The Ethnic Cleansing of Ottoman Muslims
Dagkas, Alexandras (2003): Recherches sur l'histoire sociale de la Grece du Nord: Le 1821-1922. Princeton, N.J.
movement des ouvriers du tabac, 1918-1928. Paris Michnik, Adam (1999): Der böse Traum Grossserbiens. In: Frankfurter Allgemeine
Dasnabedian, Hratch (1988): Histoire de la Federation Revolutionnaire Armenienne Zeitung, 10. Mai: 51
Dachnaktsoutioun (1890-1924). Milano Minassian, Gaidz F. (2005): Birinci Dünya Savaşı öncesinde İttihat ve Terakki Cemiyeti
Deringil, Selim (1998): The Well-Protected Domains: Ideology and the Legitimation ile Ermeni Devrimci Federasyonu arasındaki ilişkiler [Ubers.: Les relations entre
of Power in the Ottoman Empire 1876-1909. London le Comite Union et Progres et la Federation Rćvolutionnaire Armenienne â la
Dündar, Fuat (2001): İttihat ve Terakkinin Müslümanları iskân politikası (1913-1918) veille de la Premiere Guerre mondiale d'apres les sources armeniennes. In: Revue
[Politik des Komites Einheit und Fortschritt hinsichtlich der Besiedlung mus- d'histoire armenienne contemporaine 1 (1995), 45-99]. In: Avagyan/Minassian:
limischer Flüchtlinge (1913-1918)]. Istanbul 143-208
Dündar, Fuat (2005): İttihat ve Terakkinin iskan politikasi (1913-1918) [Siedlungspo- Nalbandian, Loise (1963): The Armenian Revolutionary Movement. The Development
litik des Komitees Einheit und Fortschritt (1913-1918)]. Unveröffentlichter Bei- of Armenian Political Parties through the Nineteenth Century. Berkeley/Los Angeles
trag zu der Tagung: İmparatorluğun Çöküş Döneminde Osmanlı Ermenileri: Ozcan, Azmi (1997): Pan-Islamism: Indian Muslims, the Ottomans and Britain, 1877-
Bilimsel Sorumluluk ve Demokrasi Sorunları, istanbul Bilgi University, 24-25 1924. Leiden
September Pentzopoulos, Dimitri (1962): The Balkan Exchange of Minorities and Its Impact upon
Georgeon, François (1980): Aux origines du nationalisme ture. Yusuf Akçura (1876- Greece. Paris/The Hague
1935). Paris Petropulos, John A. (1976): The Compulsory Exchange of Populations: Greek-Turkish
Göçek, Fatma Müge (1996): Rise of the Bourgeoisie, Demise of Empire: Ottoman Peacemaking, 1922-1930. In: Byzantine and Modern Greek Studies 2: 135-60
Westernization and Social Change. New York Petsalis-Diomidis, N. (1979): Greece at the Paris Peace Conference, 1919. Thessalo-
Hacısalihoğlu, Mehmet (2003): Die Jungtürken und die Mazedonische Frage (1890- niki
1918). München Planhol, Xavier de (1997): Minorites en Islam. Geographie politique et sociale. Paris
192 Fikret Adanır

Psomiades, Harry J. (2000): The Eastern Question: the Last Phase. A Study in Greek-
Turkish Diplomacy. New York
Ramsaur, E.E. Jr. (1957): The Young Turks. Prelude to the Revolution of 1908. Prince-
ton
Ranke, Leopold von (1877): Die Osmanen und die spanische Monarchie im 16. und NATIONALSTAAT UND STAATSBÜRGER-
17. Jahrhundert (=Sämtliche Werke, Bd. 35/36). Leipzig
Salt, Jeremy (1993): Imperialism, Evangelism and the Ottoman Armenians 1878-1896.
SCHAFT IN DER ZWISCHENKRIEGSZEIT:
London A u s l ä n d e r i n n e n a u s W e i s u n g und politische
Schulin, Ernst (1958): Die weltgeschichtliche Erfassung des Orients bei Hegel und A u s b ü r g e r u n g in Ö s t e r r e i c h v o r d e m Hintergrund
Ranke. Göttingen des V ö l k e r r e c h t s und d e r e u r o p ä i s c h e n Staatenpraxis
Şimşir, Bilâl N., Hg. (1982a): British Documents on Ottoman Armenians, Bd. 1. Ankara
Şimşir, Bilâl N „ Hg. (1982b): Ege Sorunu, Belgeler [Die Ägäfsche Frage. Dokumente].
Bd. 2. Ankara
Şimşir, Bilâl N „ Hg. (1990): Lozan telgrafları, I. (1922-1923) [Telegramme aus Lau-
sanne, I. (1922-1923)]. Ankara
Smith, Michael Llewellyn (1973): Ionian Vision. Greece in Asia Minor, 1919-1922.
ILSE REITER
London
Stoianovich, Traian (1994): Balkan Worlds. The First and Last Europe. Armonk, NY/
London
Sundhaussen, Holm (1987): Griechenland von 1914 bis zur Gegenwart. In: Fischer,
W. u.a. (Hg.): Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Bd.
Moderne Nationalstaaten definieren einen bestimmten Personenkreis
6. Stuttgart: 916-945
Sundhaussen, Holm (1996): Bevölkerungsverschiebungen in Südosteuropa seit der
als Staatsangehörige bzw. Mitglieder im Staatsverband und alle ande-
Nationalstaatswerdung (19./20. Jahrhundert). In: Höpken (Hg.): 25-40 ren als Nichtbürgerlnnen bzw. Ausländerinnen. Die Staatsangehörig-
Tekin Alp (1915): Türkismus und Pantürkismus. Weimar keit fungiert somit traditionellerweise als formal-rechtliches Zuord-
Temo, Ibrahim (1987): Ibrahim Temo'nun İttihad ve Terakki anılan [İbrahim Temos nungskriterium von Individuen zum Staat und gleichzeitig als wirkungs-
Erinnerungen an das Komitee „Einheit und Fortschritt"]. (Neuausg.: Temo, volles Mittel sozialer Schließung nach innen. Freilich ist sie aber nicht
Ibrahim: ittihad ve Terakki Cemiyeti'nin teşekkülü ve hidemat-i vataniye ve inkılâb-
nur Einschluss-, sondern auch Ausschlussinstrument, und zwar nicht
1 milliye dair hatıratım. Medgidia, Rumänien, 1939). istanbul
Temperley, H.W.V., Hg. (1921): A History of the Peace Conference of Paris, Bd. 4. nur nach außen, sondern auch innerhalb des Staates selbst (interne
London Exklusion, Mackert 1999: 208). Der Staat differenziert nämlich hin-
Todorova, Maria (2002): Creating a National Hero: Vassil Levski in Bulgarian Public sichtlich seiner Wohnbevölkerung rechtlich zwischen Staatsangehöri-
Memory. In: Ramet, Sabrina P./Felak, James R./Ellison, Herbert J. (Hg.): Nations gen und im Staatsgebiet wohnhaften Ausländerinnen, womit die Fra-
and Nationalisms in East-Central Europe, 1806-1948: A Memorial to Peter F. Sugar.
ge der konkreten Rechte eines im Staatsgebiet wohnhaften Individu-
Bloomington, IN: 159-81
ums an dessen Staatsangehörigkeit bzw. Staatsbürgerschaft gekoppelt
Toynbee, Arnold J. (21923): The Western Question in Greece and Turkey. A Study in
the Contact of Civilisations. London erscheint.
Väzväzova-Karateodorova, K „ u.a., Hg. (1987): Levski väv vremeto. Dokumentalno Das Staatsvolk, die Staatsnation, wird somit nur von den Staatsan-
memoaren i literaturen sbornik, posveten na 150-godišninata ot roždenieto na
gehörigen gebildet. Diese sind dem Staat zu Gehorsam und Treue ver-
VasilChristopher
Walker, Levski. Sofija
J. (1980): Armenia. The Survival of a Nation. London/Sydney
pflichtet, genießen als Staatsbürgerinnen aber auch den Schutz des
Staates und (im Falle der Gleichheit aller Staatsbürgerinnen) auch die
vollen Bürgerrechte in demselben. Die Kriterien, wie dieses Staatsvolk
definiert wird, variieren allerdings sowohl von Staat zu Staat und auch
von Epoche zu Epoche durchaus erheblich. So war etwa das französi-
sche Verständnis von Staatsnation anfänglich auf den Staat und auf
Assimilation hin ausgerichtet, das deutsche hingegen lange Zeit stär-

Das könnte Ihnen auch gefallen