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Carl-Christian Buhr
ABSTRACT
Im wirtschaftswissenschaftlichen und im wirtschaftshistorischen Schrifttum
werden die Auswirkungen der Kriegsentschädigungszahlungen, die Frankreich
nach 1871 an das Deutsche Reich leistete, sehr unterschiedlich bewertet. Mit
Blick auf die nach dem Gründerboom bald einsetzende Wirtschafts- und
Börsenkrise wird sogar teilweise die Meinung vertreten, bei dem Geld habe es
sich um ein ‚vergiftetes‘ Geschenk gehandelt, das besser nicht hätte angenommen
werden sollen. Der vorliegende Beitrag unternimmt es, nach einer Darstellung des
historischen Geschehens und der unterschiedlichen Literaturmeinungen,
vorhandene theoretische Versuche zur Erklärung der Auswirkungen von
Zahlungsmittelübertragungen zwischen Volkswirtschaften auf den Fall der
französischen Kriegsentschädigung anzuwenden. Insgesamt ergibt sich, dass
tatsächliche negative Auswirkungen zwar auf eine suboptimale Verwendung der
Zahlungen zurückgeführt werden können, nicht aber auf die Zahlungen selbst.
Eine abschließende Entscheidung darüber, welche Ansätze der Transfertheorie
anderen vorzuziehen sind, kann aufgrund des vorliegenden Datenmaterials indes
nicht getroffen werden.
2
1 Grundlegung
1.1 Problemstellung
Bamberger fordert schon während der noch laufenden Zahlungen, angesichts der
problematischen Wirtschaftsentwicklung im Deutschen Reich, eine sofortige
Verlangsamung des Geldzustroms.3 Dem schließt sich Soetbeer rückblickend zwar
an. Er kann aber direkt nach Beendigung der Zahlungen nach strengem Abwägen
der Vor- und Nachteile noch ein kleines Übergewicht auf Seiten der Vorteile
konstatieren.4
1 Adolf Soetbeer: Die fünf Milliarden. Betrachtungen über die Folgen der großen
Kriegsentschädigung für die Wirthschaftsverhältnisse Frankreichs und Deutschlands
(Deutsche Zeit- und Streitfragen, Heft 33), Berlin 1874, S. 3.
2 Vgl. zur näheren Kennzeichnung dieser und ähnlicher Umschreibungen Abschnitt 1.3
dieses Beitrages.
3 Vgl. Ludwig Bamberger: Die fünf Milliarden, in: Politische Schriften. Von 1868 bis 1878
(Gesammelte Schriften von Ludwig Bamberger, Bd. 4), Berlin 1913, S. 219-251, hierS.
248 f. (Der Text wurde erstmals bereits 1873 publiziert. Preußische Jahrbücher 31 (1873),
S. 441-460.)
4 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 55.
5 Ernst Samhaber: Die Kriegsentschädigung, in: Wolfgang v. Groote/Ursula v. Gersdorff
(Hg.), Entscheidung 1870. Der deutsch-französische Krieg, Stuttgart 1970, S. 256-289,
hier S. 288.
6 Vgl. Klaus Mackscheidt: Einkünfte aus fremden öffentlichen Finanzwirtschaften, in: Fritz
Neumark (Hg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 2, 3., gänzlich neubearbeitete
Auflage, Tübingen 1980, S. 949-986, hier S. 969.
3
Bei dieser Vielfalt mehr oder weniger entschiedener Urteile drängt sich ebenso
die Frage auf, was die einzelnen Autoren zu ihren Schlussfolgerungen bewogen
hat, wie diejenige nach Stichhaltigkeit und Überzeugungskraft der jeweils
vorgebrachten Argumente.
1.3 Begriffskennzeichnung
Von einem positiven Effekt, einem Nutzen oder Vorteil wird im Gegensatz zu
einem negativen Effekt, einem Schaden oder einem Nachteil dann gesprochen,
wenn die Aussage zulässig erscheint, dass sich der betrachtete Tatbestand der
Realität ab 1871 besser entwickelt hat, als es ohne Zahlungen aus Frankreich der
Fall gewesen wäre. Dabei soll der Begriff „besser“ neben laufenden Indikatoren
(z.B. wachsendes Volkseinkommen, stabile Preise, höhere Reallöhne, niedrigere
Steuern) auch die ebenfalls beeinflussten Zukunftsmöglichkeiten einschließen.
Eine derartige Aussage ist in jedem Fall problematisch, was sich, neben dem
grundlegenden Hinweis auf die Interdependenz aller Faktoren, etwa auch daran
ablesen lässt, wie schwierig es ist, die nationale Begeisterung über den Sieg der
deutschen Staaten gegen Frankreich und eine daraus folgende gesteigerte
Motivation bei jedem Einzelnen zu quantifizieren. Wenn man sich ein
Gesamturteil über die Kriegsentschädigung erlauben will, dürfen diese
Phänomene jedoch nicht zu gering geschätzt werden.7
2.1 Verträge
2.1.2 Zusatzabkommen
In der Zeit von Mai 1871 bis März 1873 wurden drei zusätzliche Abkommen
zwischen der deutschen und der französischen Regierung geschlossen, die die
weitere Konkretisierung der Zahlungsvereinbarungen zum Gegenstand hatten.
Diese drei Verträge wurden notwendig, da sich die innerfranzösischen Zustände
auch nach der Niederschlagung des Kommune-Aufstands nicht soweit beruhigt
hatten, dass die deutsche Seite der ursprünglichen Intention folgen zu können
9 Vgl. Johannes Hohlfeld: Deutsche Reichsgeschichte in Dokumenten 1849-1926, 1.
Halbband, Berlin 1927, S. 83 f.
10 Vgl. Klaus Malettke: Deutsche Besatzung in Frankreich und französische
Kriegsentschädigung aus der Sicht der deutschen Forschung, in: Philippe Levillain/Rainer
Riemenschneider (Hg.), La Guerre de 1870/71 et ses consequences (Pariser Historische
Studien, Bd. 29), Bonn 1990, S. 249-283, hier S. 259.
11 Vgl. Wilhelm Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte Preussens (Veröffentlichungen
der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 56), Berlin/New York 1984, S. 590.
12 Vgl. Hans Herzfeld: Deutschland und das geschlagene Frankreich 1871-1873.
Friedensschluß, Kriegsentschädigung, Besatzungszeit, Berlin 1924, S. 46.
13 Vgl. Ursula E. Koch: Berliner Presse und europäisches Geschehen 1871. Eine
Untersuchung über die Rezeption der großen Ereignisse im ersten Halbjahr 1871 in den
politischen Tageszeitungen der deutschen Reichshauptstadt (Einzelveröffentlichungen der
Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 22), Berlin 1978, S. 344.
6
glaubte, schon nach der Zahlung von zwei Milliarden eine vorzeitige Räumung
des besetzten französischen Staatsgebiets im Austausch gegen Finanzgarantien
über die noch ausstehende Summe durchzuführen.14
Die Konvention vom 12. Oktober 1871 vereinbarte die Zahlungstermine der
vierten halben Milliarde Franken, sowie der ersten Zinsrate von 150 Millionen
Franken. Die Zahlungen erfolgten ab dem 15. Januar 1872 jeweils am 1. und 15.
jedes Monats bis einschließlich April in Raten à 80 Millionen Franken. Die letzten
90 Millionen Franken wurden am 1. Mai 1872 fällig.15
Die Konvention vom 29. Juni 1872 verlängerte im Hinblick auf französische
Schwierigkeiten den Zahlungszeitraum bis zum 1. März 1875.16
Die Konvention vom 15. März 1873 stand hingegen schon unter dem Einfluss der
gelungenen zweiten französischen Staatsanleihe zur Aufbringung des Geldes 17 und
legte den letzten Zahlungstermin für den 5. September 1873 fest.18
Die zu zahlende Summe verschaffte sich Frankreich mit zwei Staatsanleihen. Die
erste wurde im Juni 1871 von den Pariser Privatbankiers Rothschild über ganz
Europa verteilt. Aus diesem Grund bekamen deutsche Zeichner nicht im
gewünschten Umfang Papiere zugeteilt.20
Die Anleihe im Umfang von 2 Milliarden war mit 4,8 Milliarden Franken deutlich
überzeichnet und damit ein unerwarteter Erfolg für die junge französische
Regierung Thiers, der erheblich zu deren Stabilisierung beitrug.21
Die zweite Anleihe vom Juli 1872 verlief für Frankreich noch besser. Statt der
ausgeschriebenen 3 Milliarden wurden 43 Milliarden Franken gezeichnet, 26
Milliarden davon aus dem Ausland, wobei Belgien und England mit 9 bzw. 7
Milliarden die größten Anteile stellten. Alle Zeichner bekamen entsprechend der
Überzeichnungsquote Papiere zugeteilt. Für deutsche Anleger ergab das eine
Gesamtsumme für die zweite Anleihe von etwa 350 Millionen Franken.22
Frankreich hatte fortan das benötigte Geld zur Verfügung. Die Verhandlungen
über einen vorgezogenen deutschen Truppenabzug gegen Finanzgarantien blieben
erfolglos, woraufhin man in Paris auf das Recht zu vorgezogener Zahlung
zurückgriff und die oben beschriebene dritte Konvention aushandelte.23
Über die Art der Zahlungsmittel, die tatsächlich übergeben wurden, besteht
zumindest hinsichtlich der Darstellung eine gewisse Uneinigkeit unter den
Autoren.
Samhaber zählt bis zur Gesamtsumme von knapp unter 5.000 Millionen Franken
(die sich aus den fünf Milliarden Franken zuzüglich Zinsen nach Gegenrechnung
des Preises für die Eisenbahnen Elsaß-Lothringens ergibt) verschiedene
europäische Währungen und die jeweils in ihnen entrichteten absoluten Summen
auf, wonach der größte Anteil mit mehr als drei Milliarden Franken auf deutsche
Silbermünzen entfallen sei.25 Als wahrscheinlicher ist es nach der vorliegenden
Literatur jedoch anzusehen, dass die Zahlungen zum überwiegenden Teil in
Wechseln erfolgten.26
25 Vgl. Samhaber: Kriegsentschädigung (wie Anm. 2), S. 265. Hier mag bereits eine
Umschreibung der Wechsel in die jeweiligen Landeswährungen stattgefunden haben,
über die der Leser aufgrund eines fehlenden Hinweises keine Kenntnis erhält. Samhabers
gesamte weitere Argumentation, die schließlich auch zu seiner negativen Einschätzung
der Kriegsentschädigung führt, baut allerdings schwerpunktmäßig darauf auf, daß sich
durch den mit Paris noch lohnenden Silberhandel (denn in Frankreich gab es zum einen
noch keine reine Goldwährung und zum anderen gerade wegen der
Kriegsentschädigungszahlungen einen gesteigerten Bedarf an Silber) in Frankreich große
Guthaben in der Landeswährung gebildet hätten, die deutschen Banken und deutschen
Ländern gehörten. (S. 261-265) Seine Vermutung, der größte Anteil der zweiten Anleihe
sei von Deutschen gezeichnet worden (vgl. dazu Anm. 7), stützt sich damit auf folgende
Argumentationskette: Da die tatsächliche Zahlung der Kriegsentschädigung zu über 60%
in deutschen Silbermünzen erfolgt sei, müsse es entsprechend hohe französische
Guthaben in deutschem Besitz gegeben haben, die aus dem Silberhandel herrührten.
Deren Besitzer wären dann gezwungen gewesen, die „Guthaben in Paris stehen zu lassen
oder eben französische Staatsanleihe[n] zu erwerben“ (S. 265). Die Basis dieser
Argumentation, und damit der Schlussfolgerungen Samhabers, wird jedoch erschüttert,
wenn man, der Literatur folgend, davon ausgeht, dass tatsächlich überwiegend Wechsel
transferiert wurden.
26 Vgl. August Sartorius von Waltershausen: Deutsche Wirtschaftsgeschichte 1815-1914, 2.
ergänzte Auflage, Jena 1923, S. 273.; übereinstimmend Bamberger: Die fünf Milliarden
(wie Anm. 2), S. 223 f.; übereinstimmend Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S.
277; übereinstimmend Karl Erich Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Deutschen
Kaiserreichs (1867/71-1914), Stuttgart 1985, S. 52; übereinstimmend Helfferich:
Bamberger als Währungspolitiker (wie Anm. 7), S. 83; übereinstimmend Joseph A.
Schumpeter: Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse
des kapitalistischen Prozesses, Bd. 1, Göttingen 1961, S. 324, der eine Unterscheidung in
Bargeld und Devisen vornimmt, was auch wegen der genannten absoluten Zahlen darauf
hindeutet, daß Samhaber bereits eine Umschreibung in die jeweiligen Landeswährung
vorgenommen haben könnte, ohne darauf hinzuweisen. (Vgl. auch Anm. 8.)
9
Folgt man dieser Darstellung, so ist es einsichtig, dass Wechsel auf das Deutsche
Reich (also in deutscher Währung) den größten Anteil der französischen
Kriegsentschädigungszahlung ausmachten. Das Geld wechselte somit nur
innerhalb Deutschlands den Besitzer, nämlich von den Wechselschuldnern zur
Regierung. Dafür spricht auch von Waltershausens Hinweis auf die Verwendung
von „105 Millionen in deutschem Geld, das während der Okkupation in
Frankreich von deutschen Truppen ausgegeben worden war.“29 Dies waren danach
die einzigen deutschen Münzen, die direkt als Teil der
Kriegsentschädigungszahlungen übergeben wurden und physisch die Grenze
überquerten.
Gesichert, und für den Fortgang der Untersuchung bedeutsam, scheinen weiterhin
zwei Größen zu sein: Es kamen etwa 270 Mio. Franken in Form von
französischen Goldmünzen, sowie mehr als eine halbe Milliarde Franken in
englischen Wechseln (Pfund Sterling) zur Übergabe.30
Darüber hinaus ist der technische Ablauf der Zahlungen bis zu dem Zeitpunkt, ab
dem der Deutschen Regierung das Geld zur Verfügung stand, für den Zweck
dieser Untersuchung von untergeordneter Bedeutung.31
1 in Talern In Mark
2 Kriegsentschädigung +1.333.333.333 +4.000.000.000
3 Zinsen +80.317.856 +240.953.568
4 Pariser Kontribution +53.505.865 +160.517.595
5 Überschüsse der in Frankreich erhobenen Steuern und +17.600.000 +52.800.000
örtlichen Kontributionen
6 Abzüglich Wert der Eisenbahn Elsaß-Lothringens -86.666.666 -260.000.000
7 1.398.090.388 4.194.271.163
8 1.Reichsinvalidenfonds -187.000.000 -561.000.000
9 2.Kriegsinvalidenpensionen vor Bildung des Fonds -16.196.674 -48.590.022
10 3.Ersatz von Kriegsschäden und Kriegsleistungen -38.800.000 -116.400.000
11 4.Entschädigung der deutschen Reederei -5.600.000 -16.800.000
12 5.Umgestaltung und Ausrüstung der deutschen Festungen -72.000.000 -216.000.000
13 6.Umgestaltung und Ausrüstung der Festungen in Elsaß- -43.280.950 -129.842.850
Lothringen
14 7.Erweiterung der Eisenbahnen in Elsaß-Lothringen -57.205.887 -171.617.661
15 8.Reichskriegsschatz -40.000.000 -120.000.000
16 9.Ersatz von Reichsausgaben zur Kriegführung, -43.120.793 -129.362.379
Entschädigung an Eisenbahnverwaltungen, Erneuerung von
Kriegskarten, Kriegsgedenkmünzen
17 10.Okkupationskosten -21.815.000 -65.445.000
18 11.Mehrkosten der Truppenbesatzung in Elsaß-Lothringen -4.581.938 -13.745.814
19 12.Erweiterung der Kriegsmarine -31.949.890 -95.849.670
20 13.Schießplatz der Artillerieprüfungskommission -1.618.267 -4.854.801
21 14.Zum Betriebsfonds der Reichskasse und zu den eisernen -8.270.000 -24.810.000
Vorschüssen für die Verwaltung des Reichsheeres
22 15.Übernahme der von den Bundesstaaten gewährten Zoll- -19.792.719 -59.378.157
und Steuerkredite
23 16.Errichtung des Reichstagsgebäudes -8.000.000 -24.000.000
24 17.Beihilfe an die aus Frankreich ausgewiesenen Deutschen -2.000.000 -6.000.000
25 18.Dotationen -4.000.000 -12.000.000
26 19.Erwerb des Radziwillschen Palais an der Wilhelmstraße -2.011.328 -6.033.984
27 790.846.942 2.372.540.825
28 Zuzüglich Zinsen für vorübergehende Anlage +6.459.175 +6.459.175
29 An Bayern -90.200.411 -270.601.233
30 Gemeinsame Rechnung (übrige Staaten): Abtragung der -6.119.000 -18.357.000
Reichsschuld für die Küstenbefestigung, Erweiterung von
Dienstgebäuden
31 An Württemberg -28.500.870 -85.502.610
32 Gemeinsame Rechnung (übrige Staaten)
33 Betriebsfonds der Postverwaltung -1.750.000 -5.250.000
34 Reorganisation des Heeres -106.846.810 -320.540.430
35 An den Norddeutschen Bund -530.116.053 -1.590.348.159
36 An Baden -20.133.182 -60.399.546
37 An Südhessen -9.333.674 -28.001.022
38 0 0
Werte nach Hohlfeld: Deutsche Reichsgeschichte (wie Anm. 5), S. 85 f. Darstellung in Anlehnung
an Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 964. Die Wertangaben in Mark sind im Verhältnis 1
Taler = 3 Mark errechnet und stimmen mit geringfügigen Abweichungen mit den von Cohn:
Finanzen (wie Anm. 11), S. 154-159 angegeben Werten überein.
11
Diese Zahlen ergaben sich entsprechend der Vereinbarung, dass nach Bestreiten
der gemeinsamen Reichs- und Kriegsausgaben der deutschen Staaten das restliche
Geld zu drei Vierteln im Verhältnis der militärischen Inanspruchnahme und zu
einem Viertel im Verhältnis der Bevölkerungszahlen an die Einzelstaaten verteilt
werden sollte.32
Ein großer Teil der den Einzelstaaten zugekommenen Summen wurde zur
Rückzahlung aufgelaufener Staatsschulden verwendet, die sich 1871 für alle
Teilstaaten des Deutschen Reiches insgesamt auf etwa eine halbe Milliarde Taler
beliefen.33 Der Norddeutsche Bund tilgte innerhalb von zwei Jahren seine
Kriegsanleihen im Wert von mehr als 200 Millionen Talern 34 und „[d]ie Bundes-
staaten verhielten sich nicht anders.“35 Daraus ergibt sich eine Summe von etwa
270 Millionen Talern, die der Volkswirtschaft bis 1873 zuströmten.36
3.2.1 Börse
Am 11. Juni 1870 wurde in Deutschland ein Bundesgesetz erlassen, das die
Bestimmungen zur Gründung von Aktiengesellschaften lockerte. Fortan war zu
diesem Zweck keine Genehmigung durch den jeweiligen Einzelstaat mehr
notwendig.37 Dieses Gesetz, das seinem Anspruch, Gläubiger und Schuldner
besser zu schützen, nicht gerecht wurde und im Gegenteil zu hemmungslosen
32 Vgl. S. Cohn: Die Finanzen des Deutschen Reiches seit seiner Begründung, unveränderter
Nachdruck der Ausgabe Berlin 1899, Glashütten im Taunus 1972, S. 159.
33 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 8.
34 Vgl. Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 586.
35 Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S. 279.
36 Vgl. Von Waltershausen: Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 273.
37 Vgl. ebenda, S. 275.
12
Ähnlich mussten die großen Summen wirken, die durch die Rückzahlung der
Staatsschulden zurück in die Hände der Anleger gelangten. Auch die 561
Millionen Mark des neu aufgelegten Reichsinvalidenfonds (siehe Darstellung 1,
Zeile 8) und andere Mittel des Reiches flossen dem Kapitalmarkt zu.40
Weitgehend unstreitig ist deshalb die Annahme, dass die erhöhte Liquidität sich
auf die Entwicklung am Aktienmarkt unterstützend und verstärkend auswirkte.
Wie groß ihre tatsächliche und direkte Verantwortung für den Börsenboom (und
den anschließenden Börsenkrach) der ersten Nachkriegsjahre gewesen ist, wird
jedoch in der Literatur unterschiedlich eingeschätzt.
Nach Soetbeer sind die enormen Kurssteigerungen bestehender und der Ansturm
auf neue Aktiengesellschaften nur durch das durch Rückzahlung der sicheren
Staatsanleihen auf der Suche nach neuen Anlagen befindliche Geld möglich
gewesen. Im Zuge dieser Entwicklung sei es dann soweit gekommen, dass
Anlagen von sicheren in riskantere Papiere der Industrie umgeschichtet wurden.41
Nach der erstgenannten Deutung wäre das vorhandene Kapital durch die
Rückzahlung der Staatsschulden praktisch gezwungen worden, sich
spekulativeren Anlagen zuzuwenden, während gemäß der zweiten Deutung eine
Tendenz zu riskanteren Beteiligungen schon vorher vorhanden gewesen sein
müsste.
Einiges spricht dafür, dass bereits vor dem Zufluss der französischen Milliarden
eine solche spekulative Grundeinstellung die Kapitalmärkte beherrschte. So
wurden zwar insgesamt im Deutschen Reich in den Jahren 1871 bis 1873 viermal
mehr Aktiengesellschaften als seit Beginn des Jahrhunderts gegründet.43 Schon im
38 Vgl. Max Wirth: Geschichte der Handelskrisen, 2., vervollständigte und verbesserte
Auflage, Frankfurt a. M. 1874, S. 434.
39 Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 497.
40 Vgl. Helmut Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von
Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881, Köln/Berlin 1966,. S.
325 f.
41 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 43.
42 Vgl. Böhme: Großmacht (wie Anm. 12), S. 326.
43 Vgl. Karl Erich Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (1871-1918), in: Theodor
Schieder (Hg.), Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis
zum Ersten Weltkrieg (Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 6), Stuttgart 1968, S.
13
Ein weiterer Anhaltspunkt ergibt sich aus dem unerwarteten Erfolg der ersten
französischen Staatsanleihe über 2 Milliarden Franken. Einem geschlagenen und
besetzten Land, das überdies schwere Verwüstungen erlitten hatte, Kapital in
solchem Umfang zur Verfügung zu stellen, spricht ebenfalls nicht für eine
zurückhaltende Stimmung an den Kapitalmärkten.
Ähnliche Schlüsse lassen sich mit Blick auf die Umstände der zweiten
französischen Staatsanleihe ziehen. Gegenüber dem Ausgabekurs von 84,5%
gewann das Papier innerhalb von nur zwei Tagen fünf Prozentpunkte hinzu.46 Dies
ist ein deutlicher Hinweis auf die „internationale Spekulation“, die dafür sorgte,
dass die Rententitel erst nach Jahren „eine dauerhafte Unterbringung fanden.“47
Dass es nicht die französischen Milliarden allein gewesen sein können, die die
Spekulationswelle am deutschen Kapitalmarkt auslösten und ermöglichten, wird
auch offensichtlich, wenn man sich das Verhalten der deutschen Anleger bei den
französischen Anleihen vor Augen führt.
170
160 Index der Durchschnittskurse
150 festverzinslicher Papiere an
140
den deutschen Börsen
130 Index der durchschnittlichen
120 Effektivverzinsung der
%
Absolute Werte nach Spree: Wachstumszyklen (wie Anm. 4), S. 377 f. Die Indexziffern wurden
daraus berechnet und auf das Jahr 1866 normiert.
So verringerte sich die Effektivverzinsung der preußischen Staatsanleihen am
stärksten bereits zwischen 1870 und 1871 (was gleichbedeutend mit einer
Kurssteigerung dieser Anleihen war), während die Aktienkurse im gleichen
Zeitraum ihre erste große Steigerung erfuhren.
Es wird deutlich, dass die fünf Milliarden nicht direkt für den Beginn des
Börsenbooms verantwortlich gemacht werden können. Inwieweit die Spekulation
allein schon von der Aussicht auf die französischen Zahlungen getrieben war,
muss jedoch dahingestellt bleiben. Es liegt nahe, hier mit Stern von einem
Zusammenspiel mehrerer Faktoren auszugehen, die sich nicht losgelöst
voneinander betrachten lassen. Zu nennen ist hier neben dem neuen Aktiengesetz,
einer aufgrund hoher Liquidität erleichterten Kreditvergabe durch die Banken und
der Aussicht auf das dem Kapitalmarkt in naher Zukunft voraussichtlich
zufließende Geld auch die allgemein positive Stimmung in Deutschland nach der
Reichsgründung.51
Es bleibt deshalb eine offene Frage, wie die Entwicklung an der Börse weiter
verlaufen wäre, wenn anders mit dem französischen Geld umgegangen und
beispielsweise der Forderung nachgekommen worden wäre, die Mittel zunächst
49 Das französische Wort escompter bedeutet soviel wie ‚erwarten‘, ‚rechnen mit‘.
50 Wirth: Handelskrisen (wie Anm. 12), S. 434.
51 Vgl. Stern: Gold and Iron (wie Anm. 7), S. 181.
15
zinstragend im Ausland anzulegen und nur auf lange Zeit verteilt dem deutschen
Kapitalmarkt zuzuführen.52
3.2.2 Goldwährung
Beginnend mit dem Münzgesetz vom 4. Dezember 1871 führte das Deutsche
Reich den Übergang zum Goldstandard durch. Es wurden Reichsgoldmünzen im
Wert von 20, zehn und anfangs auch fünf Mark geprägt, während die Herstellung
weiterer Silbermünzen unterbunden wurde. Eine Mark entsprach dabei dem
Drittel eines Talers53, der zuvor in Preußen gegolten hatte und damit die
bestimmende Währung Norddeutschlands gewesen war.
Auf die kontroversen Diskussionen54 über die Einführung der Goldwährung und
die genaue gesetzliche Ausgestaltung dieses Vorhabens kann an dieser Stelle nicht
eingegangen werden.
Als am 1. Januar 1876 die alten Währungen außer Kraft gesetzt wurden, waren
noch immer Silbermünzen im Umlauf, die ihren Wert behielten. 63 Die deutsche
Goldwährung blieb deshalb noch lange eine „hinkende“64, d.h. es waren neben
Gold- und Scheidemünzen65 auch noch die alten Silbertaler im Umlauf.
Das Ende des Wirtschaftsaufschwungs fiel in etwa mit den letzten französischen
Zahlungen zusammen. Die starke Geldvermehrung, die während der ersten
Nachkriegsjahre die Hochkonjunktur mit angetrieben hatte, trat nun offen zu
3.2.3 Sonstiges
Große Summen aus der Kriegsentschädigung flossen direkt in die Rüstung (siehe
Darstellung 1, Zeilen 12, 13, 16-20, 34). Außerdem finanzierte das Deutsche
Reich einen Aufrüstungsplan, der über mehrere Jahre verteilt über eine Milliarde
Mark ausmachte und zumindest teilweise ohne die Kriegsentschädigung nicht
hätte verwirklicht werden können.69 Zusammen mit großen Summen, die für die
Erweiterung der Eisenbahnen vorgesehen waren70, ergaben sich daraus starke
Wachstumsimpulse vor allem für die Montanindustrie.
seiner Deutung ging das Wachstum der Grundstoffindustrie allerdings einher mit
einem allgemeinen Produktionswachstum und den damit verbundenen Effekten
höheren Waren- und Geldumlaufs, sowie höherer Preise72 und Löhne. Insgesamt
habe sich eine „krasse Überhitzung der Konjunktur“73 eingestellt. Folgerichtig
musste die Wirtschaftsentwicklung nach dem erzwungenen Ende der expansiven
Finanzpolitik, nämlich infolge der abgeschlossenen Zahlungen aus Frankreich,
eine krisenhafte Wendung nehmen.
Unabhängig davon, wie man sie beurteilt, ist festzuhalten, dass die beschriebenen
Maßnahmen in den ersten Jahren des Deutschen Reiches nur deshalb ergriffen
werden konnten, weil der Staatshaushalt kaum mit Schulden belastet war.75 Dies
wird denn auch als einer der Hauptvorteile der französischen Zahlungen gesehen76.
Steuern gewesen wäre. Der Umfang und damit die Auswirkungen dieses
psychologischen Effekts lassen sich aber ebenso wenig quantifizieren, wie die
vorhandene Begeisterung über die nationale Einigung und die große „Geldstrafe“,
die Frankreich auferlegt wurde. Dass Stimmungen teilweise erhebliche
Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben haben und hatten, darf hingegen als
gesichert bezeichnet werden.
3.3 Transfertheorie
Von Hauptinteresse für die Untersuchung ist dabei weniger der monetäre
Transfer, d. h. die tatsächliche Übertragung der Zahlungsmittel vom Geber- ins
Empfängerland, sondern vielmehr der reale Transfer, also genau die Frage
danach, wie sich die erfolgte Bezahlung real auf die Wohlstandssituation in den
beiden Ländern ausgewirkt hat.78 Nicht im Modell berücksichtigt sind deshalb
Änderungen der Geldmengen, Zinsen, Devisenreserven und -kurse, die je nach
Vorliegen fester oder flexibler Wechselkurse sowie bestimmter Voraussetzungen
durch den monetären Transfer hervorgerufen werden können. Es wird vielmehr
davon ausgegangen, dass der monetäre Transfer erfolgreich war und Kaufkraft
78 Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen bei Soetbeer (Die fünf
Milliarden (wie Anm. 2), S. 33), der mit Bamberger von „wirklicher Liquidation“ spricht
und damit den Sachverhalt meint, dass allein das zuströmende Geld noch keinen Vorteil
für das Empfängerland in sich trägt. Ein solcher stellt sich erst ein, wenn mit diesem Geld
der tatsächliche Güterbestand vermehrt werden kann, also gesteigerte Importe möglich
sind. Dies ist auch unmittelbar einsichtig, denn in einer geschlossenen Volkswirtschaft
würde etwa eine Verdoppelung der Geldmenge lediglich eine Zunahme aller Preise im
gleichen Umfang nach sich ziehen, nicht aber einen positiven Wohlfahrtseffekt.
20
entsprechend dem Nennwert der übertragenen Zahlungsmittel vom Geber- auf das
Empfängerland übergegangen ist.79
Betrachtet man nur zwei Länder, dann führt eine Kapitalübertragung, die im
Geberland gleichmäßig von allen privaten Haushalten aufgebracht (z.B. durch
eine Steuererhöhung) und im Empfängerland ebenso gleichmäßig an alle privaten
Haushalte verteilt wird (z.B. durch erhöhte Transferzahlungen oder
Steuersenkungen), im Geberland im kompletten Umfang des
Übertragungsnennwertes zu einer Verringerung der Ausgaben für einheimische
und auswärtige Güter, während im Empfängerland genau der umgekehrte Fall
eintritt. Die veränderten Nachfragebedingungen der jeweiligen Importgüter führen
auch zu einer Veränderung der Handelsbeziehung zwischen beiden Ländern. In
Abhängigkeit von den jeweiligen marginalen Importquoten ist dann eine Aussage
über den Umfang des realen Transfers möglich. Nur für den Fall, dass die
marginalen Importquoten beider Länder sich zu 1,0 addieren, entspräche der reale
dem monetären Transfer. Bei einer zu unterstellenden Summe der beiden
marginalen Importquoten von kleiner als 1,0, ist ein Ausgleich der Zahlungsbilanz
nur über sinkende Preise im Geberland möglich, die zu höheren Exporten führen
würden. Dies ist auch das bei einer in beiden Ländern funktionierenden
Goldwährung zu erwartende Ergebnis. Eine Verbesserung der „terms of trade“ 81
zum Vorteil des Empfangslandes hätte somit dort eine zusätzliche
Wohlfahrtssteigerung zur Folge.82
Die auf dieser Vorstellung aufbauenden Analysen sind sehr kompliziert und für
das weitere Verständnis nicht im Einzelnen erforderlich, weshalb nur ein Beispiel
den Interpretationsunterschied im Vergleich zum klassischen
Transfermechanismus deutlich machen soll. Führt der monetäre Transfer im
Geberland zu einem Nachfragerückgang (z.B. weil er durch Steuererhöhungen
aufgebracht wird) und wird die zusätzliche Kaufkraft im Empfängerland gehortet,
so kann es zu Einkommensrückgängen in beiden Ländern kommen. Die
gesunkene Nachfrage im Geberland überträgt sich in Form niedrigerer Importe
aus dem Empfängerland auf dieses. Die dadurch hervorgerufene Verbesserung der
Leistungsbilanz des Geberlandes wird allerdings dadurch abgeschwächt, dass
geringeren Importen auch geringere Exporte gegenüberstehen, da ja im
Empfängerland ebenfalls ein Nachfragerückgang aufgetreten ist. Ein Realtransfer
Obwohl die Erkenntnisse zum monetären Transfer und auch zur Verwendung des
Geldes aus der französischen Kriegsentschädigung, wie in den vorherigen
Abschnitten dargestellt, überwiegend unstreitig sind, können die Daten die
Anforderungen einer modernen Transferanalyse nicht erfüllen. Multiplikator- und
Angebotswirkungen lassen sich anhand des vorliegenden empirischen Materials
nicht nachvollziehen und „in der Regel reichen die Fakten allenfalls aus, den
klassischen Transfermechanismus zu überprüfen.“87
Auch dies muss allerdings nicht bloß aufgrund häufig nur geschätzter Statistiken
problematisch bleiben, sondern auch wegen der vielfach nicht erfüllten
Modellprämissen.
So wurde das Geld für die Kriegsentschädigung in Frankreich durch die beiden
Anleihen nicht gleichmäßig von allen Haushalten aufgebracht. Geht man etwa
davon aus, dass wohlhabende Franzosen ihr Vermögen im Hinblick auf die guten
Renditeaussichten der Staatsanleihen lediglich umschichteten, so lag im Gegenteil
85 Vgl. ebenda, S. 12. Im Zusammenhang mit diesem Beispiel erscheint auch der Vorschlag,
das empfangene Geld zunächst im Ausland anzulegen und nur behutsam dem
Wirtschaftskreislauf des Deutschen Reiches zuzuführen, in einem neuen Licht (vgl.
Abschnitt 3.2.1 des vorliegenden Beitrages). Zweifellos würde es sich bei einem solchen
Vorgehen um ein Horten gehandelt haben, das eventuell die im Beispiel beschriebenen
negativen Folgen für beide Länder hervorgerufen hätte. Diese Einschätzung ist aber nicht
nur wegen mangelnder Überprüfbarkeit aufgrund fehlenden empirischen Materials,
sondern auch deshalb problematisch, weil ein solcher in sich suboptimaler Umgang mit
den Kriegsentschädigungszahlungen gesamtwirtschaftlich, mit Blick auf die sich
überhitzende Konjunktur, möglicherweise das geeignete Mittel für eine langfristige
Wohlstandsverbesserung gewesen wäre.
86 Die Demontagen durch die Sowjetunion in Ostdeutschland nach 1945 sind ebenso ein
Beispiel für internationale Transfers in Form von Produktionsfaktoren, wie solche
Entwicklungshilfezahlungen, die von den Empfängern zum Kauf von Maschinen im
Geberland genutzt werden.
87 Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 965.
23
Der Anteil von Gold an den übertragenden Zahlungsmitteln war relativ gering, so
dass auch der als „orthodoxe Lösung“89 bezeichnete Zahlungsbilanzausgleich über
veränderte Preise aufgrund der Goldströme zwischen den beteiligten Ländern
nicht vorgelegen haben kann.
Das Horten des Reichskriegsschatzes von 120 Millionen Mark und zumindest
anfangs auch des in England beschafften Prägegoldes 90 „wirkte wie eine
Geldvernichtung“91, da dieser große Teil der Kriegsentschädigungszahlung nicht
unmittelbar im Wirtschaftskreislauf wirksam werden konnte.
3 Industrielle
83 88 99 129 145 121 101
Rohstoffpreise
Die Entwicklung der Im- und Exporte zeigt kein einheitliches Bild. Insgesamt
sind aber die Importe stärker gestiegen als die Exporte, was die Leistungsbilanz
des Deutschen Reiches in den Jahren der größten französischen Zahlungen, 1872
und 1873, passiv werden ließ. Auch wenn die beiden verwendeten
Zeitreihenreihen auf Preisen von 1837/41 beruhen und damit eine direkte Aussage
über den Umfang der Leistungsbilanzverschiebung im Vergleich zu dem
monetären Transfer der Kriegsentschädigung nicht erlauben, so ist doch die von
der klassischen Transfertheorie behauptete Tendenz dadurch bestätigt, dass sich
der Leistungsbilanzsaldo im Empfangsland, also im Deutschen Reich, verringert
hat.93
Die Folgen dieser Vereinbarung lassen sich ohne Berücksichtigung der deutschen
Regierungsentscheidungen nicht ermessen. Die Regierung war zunächst für die
Höhe der Summe verantwortlich, aber auch Auszahlungsarten und -zeiträume
lagen in ihrem Ermessens- und Verhandlungsspielraum. Obwohl sie sich des
außergewöhnlichen Umfangs der geplanten Finanztransaktion bewusst war,
unterschätzte sie offenbar die damit verbundenen Risiken und Schwierigkeiten. So
wurden die spekulativen Tendenzen an der Börse durch die sofortige Rückzahlung
der Staatsschulden verstärkt. Die eine möglichst schnelle Zahlung praktisch
erzwingende Besatzungspolitik in Frankreich und die Überführung großer
Summen in den ebenfalls am Kapitalmarkt aktiv werdenden Reichsinvalidenfonds
waren weitere Faktoren, die im Rückblick hauptsächlich die Art des Umgang mit
der Kriegsentschädigung für deren negative Auswirkungen verantwortlich
erscheinen lassen.
Der verzögerte Silbereinzug bei Einführung der Goldwährung ist ebenfalls ein
Beispiel für die Leichtfertigkeit, mit der von Seiten des Staates zu Werke
gegangen wurde. Es kann indes als erwiesen angesehen werden, dass sich der
frühzeitige Entschluss zur Währungsumstellung in hohem Maße den
außerordentlichen Einnahmen aus Frankreich verdankte.
Neben der indirekten Wirkung über die Börse, deren Höhenflüge nicht ohne
Wirkung auf Entscheidungen in der Realwirtschaft bleiben konnten (z.B. durch
erleichterte Kreditvergaberichtlinien bei den Banken), nahm die Regierung durch
ihre Aufrüstungs- und Bauprogramme (z.B. Eisenbahnen) auch direkten Einfluss
auf die reale Wirtschaftsentwicklung, der ohne Kriegsentschädigung sicherlich
von geringerem Umfang geblieben wäre. Dafür spricht auch die Tatsache, dass es
erst der für lange Zeit kaum verschuldete Haushalt dem Staat ermöglichte, in
seiner Ausgabenpolitik derart bestimmende Akzente zu setzen.
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Zieht man für einen Wohlstandsvergleich die Situation jedes Einzelnen heran, so
darf auch die konkrete positive Folge der auf niedrigerem Niveau verbliebenen
Steuern nicht unterschätzt werden.
5 Fazit
Letztlich ist es unmöglich, alle Einzelaspekte gegeneinander aufzurechnen und
damit eine sinnvolle Gesamtbewertung der Folgen der französischen
Kriegsentschädigung zu präsentieren. Aus welcher Sicht sollte dies auch
geschehen? Aus der eines Unternehmers oder der eines Arbeiters? Aus der Sicht
einer einzelnen Branche oder aus der des Finanzministers?
94 Vgl. ebenda, S. 969. Es ist in der Tat nicht zu sehen, wie eine solche Möglichkeit zu
„deficit spending“ ohne Defizit im Rückblick negativ beurteilt werden könnte.
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Als Fazit bietet sich deshalb vielmehr die Feststellung an, dass auch die
Verwendung großer Summen einer sorgfältigen Planung bedarf, um das ihnen
innewohnende Potenzial gesteigerten Wohlstands in der Realität freizusetzen.
95 Zu den Aktenvermerken, die ein solches Zitat nahe legen, vgl. Malettke: Deutsche
Besatzung (wie Anm. 5), S. 281.
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Literatur
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Schriften. Von 1868 bis 1878 (Gesammelte Schriften von Ludwig
Bamberger, Bd. 4), Berlin 1913, S. 219-251.
Karl Erich Born: Deutschland als Kaiserreich (1871-1918), in: Theodor Schieder
(Hg.), Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische
Weltpolitik bis zum Ersten Weltkrieg (Handbuch der europäischen
Geschichte, Bd. 6), Stuttgart 1968, S. 198-230.
S. Cohn [Finanzen]: Die Finanzen des Deutschen Reiches seit seiner Begründung,
unveränderter Nachdruck der Ausgabe Berlin 1899, Glashütten im
Taunus 1972.
Hermann Kellenbenz: Vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des
Zweiten Weltkriegs (Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 2), München
1981.
Johannes Lepsius u. a. (Hg.) [Die Große Politik]: Der Frankfurter Friede und
seine Nachwirkungen 1871-1877 (Die Große Politik der Europäischen
Kabinette 1871-1914. Sammlung der Diplomatischen Akten des
Auswärtigen Amtes, Bd. 1), Berlin 1922.
Michael North [Geld]: Das Geld und seine Geschichte. Vom Mittelalter bis zur
Gegenwart, München 1984.
Adolf Soetbeer [Die fünf Milliarden]: Die fünf Milliarden. Betrachtungen über die
Folgen der großen Kriegsentschädigung für die Wirthschaftsverhältnisse
Frankreichs und Deutschlands (Deutsche Zeit- und Streitfragen, Heft 33),
Berlin 1874.
Fritz Stern [Gold and Iron]: Gold and Iron. Bismarck, Bleichröder, and the
Building of the German Empire, London 1977.