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Carl-Christian Buhr

Die französische Kriegsentschädigung und die


Nachkriegskonjunktur 1871-1873

ABSTRACT
Im wirtschaftswissenschaftlichen und im wirtschaftshistorischen Schrifttum
werden die Auswirkungen der Kriegsentschädigungszahlungen, die Frankreich
nach 1871 an das Deutsche Reich leistete, sehr unterschiedlich bewertet. Mit
Blick auf die nach dem Gründerboom bald einsetzende Wirtschafts- und
Börsenkrise wird sogar teilweise die Meinung vertreten, bei dem Geld habe es
sich um ein ‚vergiftetes‘ Geschenk gehandelt, das besser nicht hätte angenommen
werden sollen. Der vorliegende Beitrag unternimmt es, nach einer Darstellung des
historischen Geschehens und der unterschiedlichen Literaturmeinungen,
vorhandene theoretische Versuche zur Erklärung der Auswirkungen von
Zahlungsmittelübertragungen zwischen Volkswirtschaften auf den Fall der
französischen Kriegsentschädigung anzuwenden. Insgesamt ergibt sich, dass
tatsächliche negative Auswirkungen zwar auf eine suboptimale Verwendung der
Zahlungen zurückgeführt werden können, nicht aber auf die Zahlungen selbst.
Eine abschließende Entscheidung darüber, welche Ansätze der Transfertheorie
anderen vorzuziehen sind, kann aufgrund des vorliegenden Datenmaterials indes
nicht getroffen werden.
2

1 Grundlegung

1.1 Problemstellung

Die Kriegsentschädigungszahlung von fünf Milliarden französischen Franken, die


Frankreich nach dem verlorenen Krieg 1870-71 an das neu gegründete Deutsche
Reich leistete, war die bis dahin „größte Finanzoperation, welche je seit
Menschengedenken vorgekommen ist“.1

Neuere Autoren kommen ebenso wie auch schon einige zeitgenössische


Kommentatoren zu dem Ergebnis, dass sich der Transfer bei weitem nicht in dem
Umfang, den die hohe Summe erwarten ließe, positiv auf die
Wirtschaftsentwicklung2 im Deutschen Reich ausgewirkt hat. Die konkreten
Urteile fallen dabei allerdings sehr unterschiedlich aus.

Bamberger fordert schon während der noch laufenden Zahlungen, angesichts der
problematischen Wirtschaftsentwicklung im Deutschen Reich, eine sofortige
Verlangsamung des Geldzustroms.3 Dem schließt sich Soetbeer rückblickend zwar
an. Er kann aber direkt nach Beendigung der Zahlungen nach strengem Abwägen
der Vor- und Nachteile noch ein kleines Übergewicht auf Seiten der Vorteile
konstatieren.4

Während Samhaber sich zu der Feststellung versteigt, dass es zu den


„unausweichlichen Folgen“ jeder Kriegsentschädigung gehöre, den Sieger bald
„unvermutet von einer Krise überrascht“ 5 zu sehen, kann Mackscheidt lediglich
„keinen eindeutig positiven Effekt auf die gesamtwirtschaftliche Entwicklung“6
erkennen.

1 Adolf Soetbeer: Die fünf Milliarden. Betrachtungen über die Folgen der großen
Kriegsentschädigung für die Wirthschaftsverhältnisse Frankreichs und Deutschlands
(Deutsche Zeit- und Streitfragen, Heft 33), Berlin 1874, S. 3.
2 Vgl. zur näheren Kennzeichnung dieser und ähnlicher Umschreibungen Abschnitt 1.3
dieses Beitrages.
3 Vgl. Ludwig Bamberger: Die fünf Milliarden, in: Politische Schriften. Von 1868 bis 1878
(Gesammelte Schriften von Ludwig Bamberger, Bd. 4), Berlin 1913, S. 219-251, hierS.
248 f. (Der Text wurde erstmals bereits 1873 publiziert. Preußische Jahrbücher 31 (1873),
S. 441-460.)
4 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 55.
5 Ernst Samhaber: Die Kriegsentschädigung, in: Wolfgang v. Groote/Ursula v. Gersdorff
(Hg.), Entscheidung 1870. Der deutsch-französische Krieg, Stuttgart 1970, S. 256-289,
hier S. 288.
6 Vgl. Klaus Mackscheidt: Einkünfte aus fremden öffentlichen Finanzwirtschaften, in: Fritz
Neumark (Hg.), Handbuch der Finanzwissenschaft, Bd. 2, 3., gänzlich neubearbeitete
Auflage, Tübingen 1980, S. 949-986, hier S. 969.
3

Bei dieser Vielfalt mehr oder weniger entschiedener Urteile drängt sich ebenso
die Frage auf, was die einzelnen Autoren zu ihren Schlussfolgerungen bewogen
hat, wie diejenige nach Stichhaltigkeit und Überzeugungskraft der jeweils
vorgebrachten Argumente.

Daraus ergeben sich die in dieser Untersuchung zu behandelnden Fragestellungen:


Welche Einzelaspekte der deutschen Wirtschaftsentwicklung ab 1871 lassen sich
direkt oder indirekt der französischen Kriegsentschädigungszahlung zurechnen?
Wie muss ein Gesamturteil anhand vorliegender Daten- und Literaturquellen
ausfallen?

1.2 Gang der Untersuchung

Abschnitt 2 beschreibt die verschiedenen vertraglichen Festlegungen über die


genauen Termine, Summen und Modalitäten der Zahlungen (Abschnitt 2.1). Dies
geschieht anhand einer Zweiteilung in die weitgehend deckungsgleichen
Bestimmungen des Vorfriedensvertrages und des Friedensvertrages von Frankfurt
einerseits (Abschnitt 2.1.1), sowie in die nach dem eigentlichen Friedensschluss
notwendig gewordenen Zusatzabkommen andererseits (Abschnitt 2.1.2). Danach
geht es um die Aufbringung des Geldes in Frankreich (Abschnitt 2.2). Der letzte
Unterabschnitt gibt Antwort auf die Frage, welche Zahlungsmittel tatsächlich zur
Übergabe kamen (Abschnitt 2.3). Die Darstellung dieser weitgehend unstreitigen
Fakten erscheint sinnvoll, insoweit schon ihre konkreten Ausprägungen die
spätere Verwendung und vor allem die zu untersuchende Wirkung der Zahlungen
im Deutschen Reich beeinflussten.

In Abschnitt 3 erfolgt zunächst eine Aufschlüsselung über die Benutzung des


zufließenden Geldes im Deutschen Reich im Einzelnen (Abschnitt 3.1). Dies soll
geschehen, um die anschließend zu analysierenden Zusammenhänge zwischen der
Art ihrer Verwendung und der Wirkung der Mittel (Abschnitt 3.2) anschaulicher
zu machen. Abschnitt 3.3 enthält den Versuch, die modelltheoretischen
Schlussfolgerungen der Transfertheorie für den zu betrachtenden Zeitraum
nachzuvollziehen. Zu diesem Zweck geht ein Überblick über Prämissen und
Modelle der Transfertheorie (Abschnitte 3.3.1-3.3.1) ihrer Anwendung auf den
konkreten Fall (Abschnitt 3.3.2) voraus.

Abschnitt 4 führt die zuvor herausgearbeiteten Teilergebnisse zusammen und


versucht eine Gesamtbewertung.
4

Eine Würdigung des Untersuchungsergebnisses findet sich abschließend in


Abschnitt 5.

1.3 Begriffskennzeichnung

Von einem positiven Effekt, einem Nutzen oder Vorteil wird im Gegensatz zu
einem negativen Effekt, einem Schaden oder einem Nachteil dann gesprochen,
wenn die Aussage zulässig erscheint, dass sich der betrachtete Tatbestand der
Realität ab 1871 besser entwickelt hat, als es ohne Zahlungen aus Frankreich der
Fall gewesen wäre. Dabei soll der Begriff „besser“ neben laufenden Indikatoren
(z.B. wachsendes Volkseinkommen, stabile Preise, höhere Reallöhne, niedrigere
Steuern) auch die ebenfalls beeinflussten Zukunftsmöglichkeiten einschließen.

Eine derartige Aussage ist in jedem Fall problematisch, was sich, neben dem
grundlegenden Hinweis auf die Interdependenz aller Faktoren, etwa auch daran
ablesen lässt, wie schwierig es ist, die nationale Begeisterung über den Sieg der
deutschen Staaten gegen Frankreich und eine daraus folgende gesteigerte
Motivation bei jedem Einzelnen zu quantifizieren. Wenn man sich ein
Gesamturteil über die Kriegsentschädigung erlauben will, dürfen diese
Phänomene jedoch nicht zu gering geschätzt werden.7

2 Vertragliche Bestimmungen und


Zahlungsablauf

2.1 Verträge

2.1.1 Vorfrieden und Frankfurter Frieden

Nach dem Waffenstillstand unterzeichneten der deutsche Reichskanzler Bismarck


und die französischen Verhandlungsführer am 26. Februar 1871 in Versailles den
Präliminarfriedensvertrag.8 Dieser bestimmte in Artikel II, dass Frankreich dem
deutschen Kaiser fünf Milliarden Franken innerhalb von drei Jahren zu zahlen
hatte, wobei die erste Milliarde bis Ende 1871 übergeben werden sollte. Artikel III
7 Vgl. Reinhard Spree: Die Wachstumszyklen der deutschen Wirtschaft von 1840 bis 1880.
Mit einem konjunkturstatistischen Anhang (Schriften zur Wirtschafts- und
Sozialgeschichte, Bd. 29), Berlin 1977, S. 354.
8 Vgl. Hans Dollinger (Hg.): Das Kaiserreich. Seine Geschichte in Texten, Bildern und
Dokumenten, München 1966, S. 100.
5

verknüpfte den schrittweisen Abzug der deutschen Truppen mit der


fortschreitenden Abzahlung der Summe.9

Der endgültige Friedensvertrag, geschlossen am 10. Mai 1871 in Frankfurt am


Main, legte genaueres bezüglich der Zahlungen fest. Die ersten 500 Millionen
Franken sollten 30 Tage nach Wiederherstellung der französischen
Regierungsautorität gezahlt werden, denn zur Zeit des Vertragsschlusses war in
Paris noch der Kommune-Aufstand im Gange.10 Die nächsten 1000 Millionen
Franken waren bis Ende 1871 zu zahlen, von denen die von Frankreich
abgegebenen Eisenbahnen in Elsaß-Lothringen zum Preis von 325 Millionen
Franken abgezogen wurden. Weitere 500 Millionen Franken mussten am 1. Mai
1872 übergeben sein, während der Restbetrag von 3000 Millionen Franken ab
dem 2. März 1871 jährlich mit 5% verzinst werden musste und insgesamt am 2.
März 1874 fällig wurde.11

Der Artikel VII des Frankfurter Friedensvertrages bestimmte außerdem, in


welcher Form die Zahlungen erfolgen durften. Akzeptiert wurden Edelmetall,
Noten der englischen, preußischen, niederländischen und belgischen Banken,
sowie erstklassige Wechsel.12 Hintergrund dieser Forderung waren Befürchtungen,
Frankreich könnte sich bei Zahlung in Form eigener Banknoten oder Staatspapiere
zu Lasten des Deutschen Reiches durch einen künstlich herbeigeführten
Staatsbankrott schnell von der Schuldenlast befreien.13

2.1.2 Zusatzabkommen

In der Zeit von Mai 1871 bis März 1873 wurden drei zusätzliche Abkommen
zwischen der deutschen und der französischen Regierung geschlossen, die die
weitere Konkretisierung der Zahlungsvereinbarungen zum Gegenstand hatten.
Diese drei Verträge wurden notwendig, da sich die innerfranzösischen Zustände
auch nach der Niederschlagung des Kommune-Aufstands nicht soweit beruhigt
hatten, dass die deutsche Seite der ursprünglichen Intention folgen zu können
9 Vgl. Johannes Hohlfeld: Deutsche Reichsgeschichte in Dokumenten 1849-1926, 1.
Halbband, Berlin 1927, S. 83 f.
10 Vgl. Klaus Malettke: Deutsche Besatzung in Frankreich und französische
Kriegsentschädigung aus der Sicht der deutschen Forschung, in: Philippe Levillain/Rainer
Riemenschneider (Hg.), La Guerre de 1870/71 et ses consequences (Pariser Historische
Studien, Bd. 29), Bonn 1990, S. 249-283, hier S. 259.
11 Vgl. Wilhelm Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte Preussens (Veröffentlichungen
der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 56), Berlin/New York 1984, S. 590.
12 Vgl. Hans Herzfeld: Deutschland und das geschlagene Frankreich 1871-1873.
Friedensschluß, Kriegsentschädigung, Besatzungszeit, Berlin 1924, S. 46.
13 Vgl. Ursula E. Koch: Berliner Presse und europäisches Geschehen 1871. Eine
Untersuchung über die Rezeption der großen Ereignisse im ersten Halbjahr 1871 in den
politischen Tageszeitungen der deutschen Reichshauptstadt (Einzelveröffentlichungen der
Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 22), Berlin 1978, S. 344.
6

glaubte, schon nach der Zahlung von zwei Milliarden eine vorzeitige Räumung
des besetzten französischen Staatsgebiets im Austausch gegen Finanzgarantien
über die noch ausstehende Summe durchzuführen.14

Die Konvention vom 12. Oktober 1871 vereinbarte die Zahlungstermine der
vierten halben Milliarde Franken, sowie der ersten Zinsrate von 150 Millionen
Franken. Die Zahlungen erfolgten ab dem 15. Januar 1872 jeweils am 1. und 15.
jedes Monats bis einschließlich April in Raten à 80 Millionen Franken. Die letzten
90 Millionen Franken wurden am 1. Mai 1872 fällig.15

Die Konvention vom 29. Juni 1872 verlängerte im Hinblick auf französische
Schwierigkeiten den Zahlungszeitraum bis zum 1. März 1875.16

Die Konvention vom 15. März 1873 stand hingegen schon unter dem Einfluss der
gelungenen zweiten französischen Staatsanleihe zur Aufbringung des Geldes 17 und
legte den letzten Zahlungstermin für den 5. September 1873 fest.18

Allen Vertragsbedingungen war gemeinsam, dass sie zur schnellen Zahlung


anreizten und Frankreich auch ein Vorziehen der Termine gestattet wurde. Es
wurde kein Zweifel daran gelassen, dass die schrittweise Rückgabe des besetzten
Gebietes mit dem Fortgang der Zahlungen stattfinden, sowie der endgültige
Abzug der deutschen Truppen nach der letzten Zahlungsrate ohne weitere
Komplikationen erfolgen würde.19

Die in allen Vertragsabschlüssen erkennbare Rücksichtnahme auf die politische


Lage in Frankreich lässt die Zielsetzung der deutschen Regierung klar
hervortreten. Eine vollständige Zahlung durch Frankreich sollte auf jeden Fall
sichergestellt werden, weshalb ein vorzeitiger Truppenabzug nicht in Betracht
kam. Weil man an dieser Priorität durchgängig festhielt, wurde die französische
Regierung faktisch gezwungen, die Zahlungen soweit wie möglich zu
beschleunigen, da das schnelle Ende des Besatzungszustands ihr vordringlichstes
Ziel war.

Die Analyse der Auswirkungen des Geldzustroms im Deutschen Reich in


Abschnitt 3 wird zeigen, ob die erzwungene Bezahlung der deutschen Wirtschaft
14 Vgl. Herzfeld: Das geschlagene Frankreich (wie Anm. 5), S. 265.
15 Vgl. Johannes Lepsius u. a. (Hg.): Der Frankfurter Friede und seine Nachwirkungen
1871-1877 (Die Große Politik der Europäischen Kabinette 1871-1914. Sammlung der
Diplomatischen Akten des Auswärtigen Amtes, Bd. 1), Berlin 1922,S. 95.
16 Vgl. ebenda, S. 144.
17 Zu dieser Anleihe vgl. Abschnitt 2.2 des vorliegenden Beitrages.
18 Vgl. Lepsius: Die große Politik, (wie Anm. 6) S. 187.
19 Vgl. Karl Linnebach: Deutschland als Sieger im besetzten Frankreich 1871-1873. Auf
Grund der deutschen Akten dargestellt, Berlin/Leipzig 1924, S. 45.
7

mehr Nutzen brachte, als es ein früherer Truppenabzug gegen längerfristige


Finanzgarantien und ein damit verbundenes Zahlungsausfallrisiko vermocht hätte.

2.2 Aufbringung der Summe in Frankreich

Die zu zahlende Summe verschaffte sich Frankreich mit zwei Staatsanleihen. Die
erste wurde im Juni 1871 von den Pariser Privatbankiers Rothschild über ganz
Europa verteilt. Aus diesem Grund bekamen deutsche Zeichner nicht im
gewünschten Umfang Papiere zugeteilt.20

Die Anleihe im Umfang von 2 Milliarden war mit 4,8 Milliarden Franken deutlich
überzeichnet und damit ein unerwarteter Erfolg für die junge französische
Regierung Thiers, der erheblich zu deren Stabilisierung beitrug.21

Die zweite Anleihe vom Juli 1872 verlief für Frankreich noch besser. Statt der
ausgeschriebenen 3 Milliarden wurden 43 Milliarden Franken gezeichnet, 26
Milliarden davon aus dem Ausland, wobei Belgien und England mit 9 bzw. 7
Milliarden die größten Anteile stellten. Alle Zeichner bekamen entsprechend der
Überzeichnungsquote Papiere zugeteilt. Für deutsche Anleger ergab das eine
Gesamtsumme für die zweite Anleihe von etwa 350 Millionen Franken.22

Frankreich hatte fortan das benötigte Geld zur Verfügung. Die Verhandlungen
über einen vorgezogenen deutschen Truppenabzug gegen Finanzgarantien blieben
erfolglos, woraufhin man in Paris auf das Recht zu vorgezogener Zahlung
zurückgriff und die oben beschriebene dritte Konvention aushandelte.23

Interessanterweise waren beide Anleihen als „Ewig-Renten“ ausgestaltet, d. h. als


Schuldpapiere, bei denen es zwar permanente Zinszahlungen aber keine Tilgung
gab.24 Während die deutsche Regierung die Bezahlung durch solche französischen
20 Vgl. Fritz Stern: Gold and Iron. Bismarck, Bleichröder, and the Building of the German
Empire, London, 1977,S. 320.
21 Vgl. Vgl. Herzfeld: Das geschlagene Frankreich (wie Anm. 5), S. 59.
22 Vgl. Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 592.; anders Samhaber:
Kriegsentschädigung (wie Anm. 2), S. 265. Für diesen „[trugen] [a]lle Länder [..] zu
dieser Anleihe bei und an der Spitze zweifellos die deutschen Banken.“ Außerdem spricht
er durchgehend nur von einer Anleihe. Da er keine Quellen offen legt, ist man allein auf
sein Argument im Text angewiesen, das aus der Vermutung, dass die tatsächliche
Zahlung zu einem sehr hohen Anteil aus deutschen Währungen bestanden habe, die
zitierte Aussage herleitet. Eine andere Deutung erscheint aber stimmiger. Vgl. dazu
Abschnitt 2.3.
23 Vgl. Karl Helfferich: Ludwig Bamberger als Währungspolitiker, in: Karl Helfferich
(Hg.), Ausgewählte Reden und Aufsätze über Geld- und Bankwesen von Ludwig
Bamberger (Schriften des Vereins zum Schutz der deutschen Goldwährung, Bd. 1), ,
Berlin 1900, S. 1-160, hier S. 83. Vgl. dazu auch Abschnitt 2.1.2 des vorliegenden
Beitrages.
24 Vgl. Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S. 275.
8

Staatspapiere schon im Friedensvertrag von Frankfurt unterbunden hatte, kamen


diese auf dem Umweg über die Privatanleger nun doch zum Einsatz.

2.3 Übergebene Zahlungsmittel

Über die Art der Zahlungsmittel, die tatsächlich übergeben wurden, besteht
zumindest hinsichtlich der Darstellung eine gewisse Uneinigkeit unter den
Autoren.

Samhaber zählt bis zur Gesamtsumme von knapp unter 5.000 Millionen Franken
(die sich aus den fünf Milliarden Franken zuzüglich Zinsen nach Gegenrechnung
des Preises für die Eisenbahnen Elsaß-Lothringens ergibt) verschiedene
europäische Währungen und die jeweils in ihnen entrichteten absoluten Summen
auf, wonach der größte Anteil mit mehr als drei Milliarden Franken auf deutsche
Silbermünzen entfallen sei.25 Als wahrscheinlicher ist es nach der vorliegenden
Literatur jedoch anzusehen, dass die Zahlungen zum überwiegenden Teil in
Wechseln erfolgten.26

Die französische Regierung bezahlte z.B. französischen Exporteuren ins Deutsche


Reich ihre Waren und übergab die geschuldete Zahlung des deutschen

25 Vgl. Samhaber: Kriegsentschädigung (wie Anm. 2), S. 265. Hier mag bereits eine
Umschreibung der Wechsel in die jeweiligen Landeswährungen stattgefunden haben,
über die der Leser aufgrund eines fehlenden Hinweises keine Kenntnis erhält. Samhabers
gesamte weitere Argumentation, die schließlich auch zu seiner negativen Einschätzung
der Kriegsentschädigung führt, baut allerdings schwerpunktmäßig darauf auf, daß sich
durch den mit Paris noch lohnenden Silberhandel (denn in Frankreich gab es zum einen
noch keine reine Goldwährung und zum anderen gerade wegen der
Kriegsentschädigungszahlungen einen gesteigerten Bedarf an Silber) in Frankreich große
Guthaben in der Landeswährung gebildet hätten, die deutschen Banken und deutschen
Ländern gehörten. (S. 261-265) Seine Vermutung, der größte Anteil der zweiten Anleihe
sei von Deutschen gezeichnet worden (vgl. dazu Anm. 7), stützt sich damit auf folgende
Argumentationskette: Da die tatsächliche Zahlung der Kriegsentschädigung zu über 60%
in deutschen Silbermünzen erfolgt sei, müsse es entsprechend hohe französische
Guthaben in deutschem Besitz gegeben haben, die aus dem Silberhandel herrührten.
Deren Besitzer wären dann gezwungen gewesen, die „Guthaben in Paris stehen zu lassen
oder eben französische Staatsanleihe[n] zu erwerben“ (S. 265). Die Basis dieser
Argumentation, und damit der Schlussfolgerungen Samhabers, wird jedoch erschüttert,
wenn man, der Literatur folgend, davon ausgeht, dass tatsächlich überwiegend Wechsel
transferiert wurden.
26 Vgl. August Sartorius von Waltershausen: Deutsche Wirtschaftsgeschichte 1815-1914, 2.
ergänzte Auflage, Jena 1923, S. 273.; übereinstimmend Bamberger: Die fünf Milliarden
(wie Anm. 2), S. 223 f.; übereinstimmend Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S.
277; übereinstimmend Karl Erich Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Deutschen
Kaiserreichs (1867/71-1914), Stuttgart 1985, S. 52; übereinstimmend Helfferich:
Bamberger als Währungspolitiker (wie Anm. 7), S. 83; übereinstimmend Joseph A.
Schumpeter: Konjunkturzyklen. Eine theoretische, historische und statistische Analyse
des kapitalistischen Prozesses, Bd. 1, Göttingen 1961, S. 324, der eine Unterscheidung in
Bargeld und Devisen vornimmt, was auch wegen der genannten absoluten Zahlen darauf
hindeutet, daß Samhaber bereits eine Umschreibung in die jeweiligen Landeswährung
vorgenommen haben könnte, ohne darauf hinzuweisen. (Vgl. auch Anm. 8.)
9

Empfängers in Form eines Wechsels an die deutsche Regierung. 27 Außerdem


erwarb sie Wechsel, die im normalen Handelsverkehr im Deutschen Reich oder in
dritten Ländern entstanden waren. Um störende Kursausschläge an den
internationalen Finanzmärkten zu unterbinden, die sie durch „überstürzte Käufe“
zu Beginn selbst verursacht hatte, ging die französische Regierung im weiteren
Verlauf der Transferoperationen dazu über, „einem Bankensyndikat Bestellungen
auf Wechsellieferungen“28 zu erteilen.

Folgt man dieser Darstellung, so ist es einsichtig, dass Wechsel auf das Deutsche
Reich (also in deutscher Währung) den größten Anteil der französischen
Kriegsentschädigungszahlung ausmachten. Das Geld wechselte somit nur
innerhalb Deutschlands den Besitzer, nämlich von den Wechselschuldnern zur
Regierung. Dafür spricht auch von Waltershausens Hinweis auf die Verwendung
von „105 Millionen in deutschem Geld, das während der Okkupation in
Frankreich von deutschen Truppen ausgegeben worden war.“29 Dies waren danach
die einzigen deutschen Münzen, die direkt als Teil der
Kriegsentschädigungszahlungen übergeben wurden und physisch die Grenze
überquerten.

Gesichert, und für den Fortgang der Untersuchung bedeutsam, scheinen weiterhin
zwei Größen zu sein: Es kamen etwa 270 Mio. Franken in Form von
französischen Goldmünzen, sowie mehr als eine halbe Milliarde Franken in
englischen Wechseln (Pfund Sterling) zur Übergabe.30

Darüber hinaus ist der technische Ablauf der Zahlungen bis zu dem Zeitpunkt, ab
dem der Deutschen Regierung das Geld zur Verfügung stand, für den Zweck
dieser Untersuchung von untergeordneter Bedeutung.31

27 Vgl. Bamberger: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 242 f.


28 Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S. 277.
29 Von Waltershausen: Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 273.
30 Vgl. Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 8), S. 52. Vgl. auch Abschnitt
3.2.2 des vorliegenden Beitrages.
31 Es überrascht allerdings, dass sowohl Samhaber (Kriegsentschädigung (wie Anm. 2),
z. B. S. 267) als auch Mackscheidt (Einkünfte (wie Anm. 2), S. 966) von der
„Reichsbank“ und ihrer Beteiligung an den Transaktionen sprechen. Die Reichsbank
wurde auf Betreiben der liberalen Reichstagsfraktionen gegen den Widerstand Preußens
und Süddeutschlands erst durch das Bankgesetz 1875 gegründet und ging aus der
Preußischen Bank hervor, vgl. z. B. Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm.
8), S. 52.
10

3 Verwendung und Wirkung des Geldes im


Deutschen Reich

3.1 Die Ausgaben im Einzelnen

Darst. 1: Abrechnung über die französische Kriegsentschädigung

1 in Talern In Mark
2 Kriegsentschädigung +1.333.333.333 +4.000.000.000
3 Zinsen +80.317.856 +240.953.568
4 Pariser Kontribution +53.505.865 +160.517.595
5 Überschüsse der in Frankreich erhobenen Steuern und +17.600.000 +52.800.000
örtlichen Kontributionen
6 Abzüglich Wert der Eisenbahn Elsaß-Lothringens -86.666.666 -260.000.000
7 1.398.090.388 4.194.271.163
8 1.Reichsinvalidenfonds -187.000.000 -561.000.000
9 2.Kriegsinvalidenpensionen vor Bildung des Fonds -16.196.674 -48.590.022
10 3.Ersatz von Kriegsschäden und Kriegsleistungen -38.800.000 -116.400.000
11 4.Entschädigung der deutschen Reederei -5.600.000 -16.800.000
12 5.Umgestaltung und Ausrüstung der deutschen Festungen -72.000.000 -216.000.000
13 6.Umgestaltung und Ausrüstung der Festungen in Elsaß- -43.280.950 -129.842.850
Lothringen
14 7.Erweiterung der Eisenbahnen in Elsaß-Lothringen -57.205.887 -171.617.661
15 8.Reichskriegsschatz -40.000.000 -120.000.000
16 9.Ersatz von Reichsausgaben zur Kriegführung, -43.120.793 -129.362.379
Entschädigung an Eisenbahnverwaltungen, Erneuerung von
Kriegskarten, Kriegsgedenkmünzen
17 10.Okkupationskosten -21.815.000 -65.445.000
18 11.Mehrkosten der Truppenbesatzung in Elsaß-Lothringen -4.581.938 -13.745.814
19 12.Erweiterung der Kriegsmarine -31.949.890 -95.849.670
20 13.Schießplatz der Artillerieprüfungskommission -1.618.267 -4.854.801
21 14.Zum Betriebsfonds der Reichskasse und zu den eisernen -8.270.000 -24.810.000
Vorschüssen für die Verwaltung des Reichsheeres
22 15.Übernahme der von den Bundesstaaten gewährten Zoll- -19.792.719 -59.378.157
und Steuerkredite
23 16.Errichtung des Reichstagsgebäudes -8.000.000 -24.000.000
24 17.Beihilfe an die aus Frankreich ausgewiesenen Deutschen -2.000.000 -6.000.000
25 18.Dotationen -4.000.000 -12.000.000
26 19.Erwerb des Radziwillschen Palais an der Wilhelmstraße -2.011.328 -6.033.984
27 790.846.942 2.372.540.825
28 Zuzüglich Zinsen für vorübergehende Anlage +6.459.175 +6.459.175
29 An Bayern -90.200.411 -270.601.233
30 Gemeinsame Rechnung (übrige Staaten): Abtragung der -6.119.000 -18.357.000
Reichsschuld für die Küstenbefestigung, Erweiterung von
Dienstgebäuden
31 An Württemberg -28.500.870 -85.502.610
32 Gemeinsame Rechnung (übrige Staaten)
33 Betriebsfonds der Postverwaltung -1.750.000 -5.250.000
34 Reorganisation des Heeres -106.846.810 -320.540.430
35 An den Norddeutschen Bund -530.116.053 -1.590.348.159
36 An Baden -20.133.182 -60.399.546
37 An Südhessen -9.333.674 -28.001.022
38 0 0
Werte nach Hohlfeld: Deutsche Reichsgeschichte (wie Anm. 5), S. 85 f. Darstellung in Anlehnung
an Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 964. Die Wertangaben in Mark sind im Verhältnis 1
Taler = 3 Mark errechnet und stimmen mit geringfügigen Abweichungen mit den von Cohn:
Finanzen (wie Anm. 11), S. 154-159 angegeben Werten überein.
11

Über die konkrete Verwendung des Geldes aus der französischen


Kriegsentschädigungszahlung im Deutschen Reich sind detaillierte Aufstellungen
vorhanden. Diese stimmen in den verschiedenen Quellen nicht immer auf Mark
oder Taler überein, was angesichts unterschiedlicher Aufstellungsgrundsätze nicht
verwundert. Entscheidend und unstreitig sind aber Struktur und Größenordnung
der Ausgaben. Darstellung 1 gibt einen Überblick.

Diese Zahlen ergaben sich entsprechend der Vereinbarung, dass nach Bestreiten
der gemeinsamen Reichs- und Kriegsausgaben der deutschen Staaten das restliche
Geld zu drei Vierteln im Verhältnis der militärischen Inanspruchnahme und zu
einem Viertel im Verhältnis der Bevölkerungszahlen an die Einzelstaaten verteilt
werden sollte.32

Ein großer Teil der den Einzelstaaten zugekommenen Summen wurde zur
Rückzahlung aufgelaufener Staatsschulden verwendet, die sich 1871 für alle
Teilstaaten des Deutschen Reiches insgesamt auf etwa eine halbe Milliarde Taler
beliefen.33 Der Norddeutsche Bund tilgte innerhalb von zwei Jahren seine
Kriegsanleihen im Wert von mehr als 200 Millionen Talern 34 und „[d]ie Bundes-
staaten verhielten sich nicht anders.“35 Daraus ergibt sich eine Summe von etwa
270 Millionen Talern, die der Volkswirtschaft bis 1873 zuströmten.36

Auf einzelne Posten von Abbildung 1 wird im folgenden Abschnitt näher


eingegangen, da ihre spezifischen Ausprägungen im direkten Zusammenhang mit
ihrer wirtschaftlichen Wirkung zu sehen sind.

3.2 Folgen der Ausgabepolitik für die Wirtschaft

3.2.1 Börse

Am 11. Juni 1870 wurde in Deutschland ein Bundesgesetz erlassen, das die
Bestimmungen zur Gründung von Aktiengesellschaften lockerte. Fortan war zu
diesem Zweck keine Genehmigung durch den jeweiligen Einzelstaat mehr
notwendig.37 Dieses Gesetz, das seinem Anspruch, Gläubiger und Schuldner
besser zu schützen, nicht gerecht wurde und im Gegenteil zu hemmungslosen

32 Vgl. S. Cohn: Die Finanzen des Deutschen Reiches seit seiner Begründung, unveränderter
Nachdruck der Ausgabe Berlin 1899, Glashütten im Taunus 1972, S. 159.
33 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 8.
34 Vgl. Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 586.
35 Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S. 279.
36 Vgl. Von Waltershausen: Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 273.
37 Vgl. ebenda, S. 275.
12

Gründungsabenteuern einlud38, „bildete ein ungeheures Stimulans“39 für die


Kapitalmärkte.

Ähnlich mussten die großen Summen wirken, die durch die Rückzahlung der
Staatsschulden zurück in die Hände der Anleger gelangten. Auch die 561
Millionen Mark des neu aufgelegten Reichsinvalidenfonds (siehe Darstellung 1,
Zeile 8) und andere Mittel des Reiches flossen dem Kapitalmarkt zu.40

Weitgehend unstreitig ist deshalb die Annahme, dass die erhöhte Liquidität sich
auf die Entwicklung am Aktienmarkt unterstützend und verstärkend auswirkte.
Wie groß ihre tatsächliche und direkte Verantwortung für den Börsenboom (und
den anschließenden Börsenkrach) der ersten Nachkriegsjahre gewesen ist, wird
jedoch in der Literatur unterschiedlich eingeschätzt.

Nach Soetbeer sind die enormen Kurssteigerungen bestehender und der Ansturm
auf neue Aktiengesellschaften nur durch das durch Rückzahlung der sicheren
Staatsanleihen auf der Suche nach neuen Anlagen befindliche Geld möglich
gewesen. Im Zuge dieser Entwicklung sei es dann soweit gekommen, dass
Anlagen von sicheren in riskantere Papiere der Industrie umgeschichtet wurden.41

Für Böhme war es hingegen die höhere Renditeerwartung der


Industrieunternehmen im Vergleich zu festverzinslichen Wertpapieren, die das
flüssige Geld angelockt hat.42

Nach der erstgenannten Deutung wäre das vorhandene Kapital durch die
Rückzahlung der Staatsschulden praktisch gezwungen worden, sich
spekulativeren Anlagen zuzuwenden, während gemäß der zweiten Deutung eine
Tendenz zu riskanteren Beteiligungen schon vorher vorhanden gewesen sein
müsste.

Einiges spricht dafür, dass bereits vor dem Zufluss der französischen Milliarden
eine solche spekulative Grundeinstellung die Kapitalmärkte beherrschte. So
wurden zwar insgesamt im Deutschen Reich in den Jahren 1871 bis 1873 viermal
mehr Aktiengesellschaften als seit Beginn des Jahrhunderts gegründet.43 Schon im
38 Vgl. Max Wirth: Geschichte der Handelskrisen, 2., vervollständigte und verbesserte
Auflage, Frankfurt a. M. 1874, S. 434.
39 Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 497.
40 Vgl. Helmut Böhme: Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von
Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881, Köln/Berlin 1966,. S.
325 f.
41 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 43.
42 Vgl. Böhme: Großmacht (wie Anm. 12), S. 326.
43 Vgl. Karl Erich Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (1871-1918), in: Theodor
Schieder (Hg.), Europa im Zeitalter der Nationalstaaten und europäische Weltpolitik bis
zum Ersten Weltkrieg (Handbuch der europäischen Geschichte, Bd. 6), Stuttgart 1968, S.
13

Jahr 1871 verdoppelte sich allerdings die Anzahl der preußischen


Aktiengesellschaften, wobei die neuere Hälfte ein Kapital von 800 Millionen
Mark aufwies.44 Der größte Teil der französischen Zahlung, 3 Milliarden Franken,
kam jedoch erst nach der Jahresmitte 1872 zur Übergabe. Von Mitte bis Ende
1871 wurde hingegen nur etwas mehr als der Gegenwert von 1 Milliarde Mark
gezahlt.45 Es wäre unrealistisch, die genannten neuen Aktiengesellschaften
allesamt direkt mit diesem Geld in Verbindung zu bringen, zumal die
Gründungswelle schon vor dem ersten Zahlungstermin begonnen hatte.

Ein weiterer Anhaltspunkt ergibt sich aus dem unerwarteten Erfolg der ersten
französischen Staatsanleihe über 2 Milliarden Franken. Einem geschlagenen und
besetzten Land, das überdies schwere Verwüstungen erlitten hatte, Kapital in
solchem Umfang zur Verfügung zu stellen, spricht ebenfalls nicht für eine
zurückhaltende Stimmung an den Kapitalmärkten.

Ähnliche Schlüsse lassen sich mit Blick auf die Umstände der zweiten
französischen Staatsanleihe ziehen. Gegenüber dem Ausgabekurs von 84,5%
gewann das Papier innerhalb von nur zwei Tagen fünf Prozentpunkte hinzu.46 Dies
ist ein deutlicher Hinweis auf die „internationale Spekulation“, die dafür sorgte,
dass die Rententitel erst nach Jahren „eine dauerhafte Unterbringung fanden.“47

Dass es nicht die französischen Milliarden allein gewesen sein können, die die
Spekulationswelle am deutschen Kapitalmarkt auslösten und ermöglichten, wird
auch offensichtlich, wenn man sich das Verhalten der deutschen Anleger bei den
französischen Anleihen vor Augen führt.

Die deutschen Zeichnungen bei beiden Platzierungen entsprachen zusammen in


etwa der Summe, die Frankreich insgesamt schuldig war – und gerade mit diesen
Anleihen aufzubringen suchte.48 Daraus wird ersichtlich, dass die
Spekulationsneigung schon vorhanden gewesen sein muss, bevor das Geld aus
Frankreich tatsächlich floss.

Auch die in Darstellung 2 gezeigte Entwicklung verschiedener Kennziffern des


Kapitalmarktes legt eine derartige Deutung nahe.

198-230, hier S. 207.


44 Vgl. Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 497.
45 Vgl. dazu die Abschnitte 2.1.1 und 2.1.2 des vorliegenden Beitrages.
46 Vgl. Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 592.
47 Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S. 275.
48 Vgl. Treue: Wirtschafts- und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 592.
14

Darst. 2 Entwicklung am deutschen Kapitalmarkt 1866-1875

170
160 Index der Durchschnittskurse
150 festverzinslicher Papiere an
140
den deutschen Börsen
130 Index der durchschnittlichen
120 Effektivverzinsung der
%

110 preußischen Staatsanleihen


100 Index der durchschnittlichen
90 Aktienkurse an den
80 deutschen Börsen
70
1866 1867 1868 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875
Jahr

Absolute Werte nach Spree: Wachstumszyklen (wie Anm. 4), S. 377 f. Die Indexziffern wurden
daraus berechnet und auf das Jahr 1866 normiert.
So verringerte sich die Effektivverzinsung der preußischen Staatsanleihen am
stärksten bereits zwischen 1870 und 1871 (was gleichbedeutend mit einer
Kurssteigerung dieser Anleihen war), während die Aktienkurse im gleichen
Zeitraum ihre erste große Steigerung erfuhren.

Wirth konstatiert denn auch, dass der Einfluss der


Kriegsentschädigungszahlungen auf die Börse von den Marktteilnehmern „um
mehr als ein Jahr zum Voraus escomptirt 49 und überdies noch überschätzt“50
worden war.

Es wird deutlich, dass die fünf Milliarden nicht direkt für den Beginn des
Börsenbooms verantwortlich gemacht werden können. Inwieweit die Spekulation
allein schon von der Aussicht auf die französischen Zahlungen getrieben war,
muss jedoch dahingestellt bleiben. Es liegt nahe, hier mit Stern von einem
Zusammenspiel mehrerer Faktoren auszugehen, die sich nicht losgelöst
voneinander betrachten lassen. Zu nennen ist hier neben dem neuen Aktiengesetz,
einer aufgrund hoher Liquidität erleichterten Kreditvergabe durch die Banken und
der Aussicht auf das dem Kapitalmarkt in naher Zukunft voraussichtlich
zufließende Geld auch die allgemein positive Stimmung in Deutschland nach der
Reichsgründung.51

Es bleibt deshalb eine offene Frage, wie die Entwicklung an der Börse weiter
verlaufen wäre, wenn anders mit dem französischen Geld umgegangen und
beispielsweise der Forderung nachgekommen worden wäre, die Mittel zunächst

49 Das französische Wort escompter bedeutet soviel wie ‚erwarten‘, ‚rechnen mit‘.
50 Wirth: Handelskrisen (wie Anm. 12), S. 434.
51 Vgl. Stern: Gold and Iron (wie Anm. 7), S. 181.
15

zinstragend im Ausland anzulegen und nur auf lange Zeit verteilt dem deutschen
Kapitalmarkt zuzuführen.52

3.2.2 Goldwährung

Beginnend mit dem Münzgesetz vom 4. Dezember 1871 führte das Deutsche
Reich den Übergang zum Goldstandard durch. Es wurden Reichsgoldmünzen im
Wert von 20, zehn und anfangs auch fünf Mark geprägt, während die Herstellung
weiterer Silbermünzen unterbunden wurde. Eine Mark entsprach dabei dem
Drittel eines Talers53, der zuvor in Preußen gegolten hatte und damit die
bestimmende Währung Norddeutschlands gewesen war.

Auf die kontroversen Diskussionen54 über die Einführung der Goldwährung und
die genaue gesetzliche Ausgestaltung dieses Vorhabens kann an dieser Stelle nicht
eingegangen werden.

Verschiedene Argumente sprachen für die Umstellung auf den Goldstandard.


Zusätzlich zu der Vereinheitlichung der zerstückelten Währungslandschaft des
Deutschen Reiches, auf dessen Gebiet es zur Zeit seiner Gründung insgesamt
sieben verschiedene Währungseinheiten gegeben hatte55, wurde mit der Goldmark
auch ein vereinfachtes System von Nennwerten (1 Mark = 100 Pfennige)
eingeführt, das eine einfachere Handhabung des Bargeldes im Geschäftsverkehr
versprach. Ein gewichtiger Grund lag weiter in der „Erleichterung und Sicherung
des internationalen Geschäfts.“56 Das Projekt Goldwährung hatte damit einen
hohen wirtschaftspolitischen Stellenwert.

Für das Gelingen der Währungsumstellung war es unumgänglich, „eine


entsprechende Quantität Silber gegen das auszuprägende und in Umlauf zu
setzende Gold einzuziehen.“57 Da zeitgleich weitere Länder mit der Einführung
der Goldwährung beschäftigt waren, zeichnete sich ein Verfall des Silberpreises
ab. Zusätzliche Kosten wurden wegen starker Abnutzung einiger Münzsorten
erwartet. Zusammen mit den Herstellungskosten der Goldmünzen, für die auch
das Prägematerial erst noch beschafft werden musste, wurden Umstellungskosten

52 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 46 f.


53 Vgl. Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 8), S. 52.
54 Vgl. Michael North: Das Geld und seine Geschichte. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart,
München 1984, S. 149 f.
55 Vgl. Ludwig Bamberger: Zur deutschen Münzgesetzgebung. Vortrag, 1871 im Berliner
Handwerkerverein gehalten, in: Karl Helfferich (Hg.), Ausgewählte Reden und Aufsätze
über Geld- und Bankwesen von Ludwig Bamberger (Schriften des Vereins zum Schutz
der deutschen Goldwährung, Bd. 1), Berlin 1900, S. 219-244, hier S. 240.
56 Hermann Kellenbenz: Vom Ausgang des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Zweiten
Weltkriegs (Deutsche Wirtschaftsgeschichte, Bd. 2), München 1981, S. 287.
57 Helfferich: Bamberger als Währungspolitiker (wie Anm. 7), S. 41.
16

bis zu 15 Millionen Talern veranschlagt. Aus diesem Grund hätte es bei


„normalem“ Verlauf der Dinge wohl viel länger bis zur Umsetzung des Projekts
gedauert.58

Die außergewöhnlichen Geldzuflüsse aus Frankreich veränderten die Lage jedoch


drastisch. Die Beschaffung des Prägematerials war nun kein Problem mehr. Der
kleine Teil der Kriegsentschädigung, den Frankreich in Goldmünzen leistete, fand
teilweise als Reichskriegsschatz (siehe Darstellung 1, Zeile 15) Verwendung, der
bar gelagert wurde.59 Der Rest diente der Herstellung deutscher Goldmünzen. Auf
Pfund Sterling lautende Wechsel aus den französischen Zahlungen wurden dafür
benutzt, am Londoner Edelmetallmarkt weiteres Prägematerial zu kaufen.
Insgesamt stand so für etwa 600 Millionen Mark Gold zur Verfügung 60, ohne dass
dieses Geld erst durch den mühsamen Verkauf von Silber hätte aufgebracht
werden müssen.

Die Leichtigkeit, mit der das benötigte Gold aufgrund der


Entschädigungszahlungen beschafft werden konnte, war jedoch mit der
nachteiligen Tatsache verknüpft, dass durch diese Zahlungen auch das Problem
der Silberabstoßung noch verschärft wurde, weil Teile davon aus Silbermünzen
bestanden.61 Zudem wurde die Bedeutung dieser aufgrund der zu erwartenden
Verluste relativ unpopulären Maßnahme von Seiten einiger Politiker
unterschätzt.62

Als am 1. Januar 1876 die alten Währungen außer Kraft gesetzt wurden, waren
noch immer Silbermünzen im Umlauf, die ihren Wert behielten. 63 Die deutsche
Goldwährung blieb deshalb noch lange eine „hinkende“64, d.h. es waren neben
Gold- und Scheidemünzen65 auch noch die alten Silbertaler im Umlauf.

Das Ende des Wirtschaftsaufschwungs fiel in etwa mit den letzten französischen
Zahlungen zusammen. Die starke Geldvermehrung, die während der ersten
Nachkriegsjahre die Hochkonjunktur mit angetrieben hatte, trat nun offen zu

58 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 28 f.


59 Diese „häufig als veraltet und überholt“ bezeichnete Vorgehensweise hatte sich auch bei
der Mobilmachung 1870 als Übergangslösung wieder als „sehr nützlich“ erwiesen, bis die
Finanzierung des Militärs anderweitig sichergestellt werden konnte (Treue: Wirtschafts-
und Technikgeschichte (wie Anm. 5), S. 585).
60 Vgl. Schumpeter: Konjunkturzyklen (wie Anm. 8), S. 324.
61 Vgl. Helfferich: Bamberger als Währungspolitiker (wie Anm. 7), S. 79.
62 Vgl. ebenda, S. 47.
63 Vgl. North: Geld (wie Anm. Error: Reference source not found), S. 149.
64 Born: Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 8), S. 52.
65 Scheidemünzen enthielten weniger Metall als es ihrem Nominalwert entsprach. Sie
dienten der Erleichterung des Zahlungsverkehrs, da sie kleinere Stückelungen der
Währungseinheit ermöglichten. Sie mussten meist nur bis zu einem bestimmten
Höchstbetrag angenommen werden.
17

Tage. Tatsächlich verkehrten sich die Wechselkursverhältnisse so sehr


zuungunsten des Deutschen Reiches, dass es zu starken Goldabflüssen kam „und
sich im inneren deutschen Verkehr ein Agio auf Goldgeld [bildete]“ 66, was den
Kritikern der Goldwährung neuen Aufschwung gab.

Die Einflüsse der französischen Kriegsentschädigungszahlung auf die


Entwicklung der deutschen Goldwährung sind unübersehbar. Eine Bewertung fällt
indes nicht leicht. Man darf davon ausgehen, dass auch ohne das Geld aus
Frankreich die Goldwährung eingeführt worden wäre, denn dieses Projekt war
schon lange vor der Reichsgründung in Deutschland diskutiert worden. 67 Wann
dies aber bei einem anderen Verlauf der Geschichte geschehen, und ob es dabei in
vergleichbarem Umfang zu einem Problem mit der Einziehung des Silbers
gekommen wäre, kann nicht beantwortet werden.

Für Soetbeer war es letztlich die einfacher ermöglichte Durchführung der


Münzreform, die ihn trotz der ungesunden Entwicklungen in Kapital- und
Realwirtschaft noch von einem insgesamt kleinen Vorteil der
Kriegsentschädigung für Deutschland sprechen ließ.68

3.2.3 Sonstiges

Dieser Unterabschnitt soll weitere Zusammenhänge knapp beleuchten, die mit


dem Zufluss des Geldes aus Frankreich in Verbindung gebracht werden können.

Große Summen aus der Kriegsentschädigung flossen direkt in die Rüstung (siehe
Darstellung 1, Zeilen 12, 13, 16-20, 34). Außerdem finanzierte das Deutsche
Reich einen Aufrüstungsplan, der über mehrere Jahre verteilt über eine Milliarde
Mark ausmachte und zumindest teilweise ohne die Kriegsentschädigung nicht
hätte verwirklicht werden können.69 Zusammen mit großen Summen, die für die
Erweiterung der Eisenbahnen vorgesehen waren70, ergaben sich daraus starke
Wachstumsimpulse vor allem für die Montanindustrie.

Bei der Interpretation dieser Vorgänge gibt es einander zuwiderlaufende


Positionen. Böhme bezeichnet besonders Festungsbau und Reorganisation des
Heeres als „unproduktive, geldaufwendige, konjunkturfördernde Anlagen“ 71. Nach
66 Helfferich: Bamberger als Währungspolitiker (wie Anm. 7), S. 84 f.
67 Vgl. North: Geld (wie Anm. Error: Reference source not found), S. 145.
68 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 55.
69 Vgl. Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 969.
70 Vgl. Malettke: Deutsche Besatzung (wie Anm. 5), S. 279 f.
71 Böhme: Großmacht (wie Anm. 12), S. 325. Daran ist zumindest die Wortwahl
fragwürdig, denn gemeinhin bezeichnet Produktivität das Verhältnis zwischen Output und
Input, über das in diesem Fall allein durch den Hinweis auf das Einsatzgebiet der Gelder
noch gar nichts ausgesagt ist. Offenbar hat der Autor eine Unterscheidung im Sinn, in der
18

seiner Deutung ging das Wachstum der Grundstoffindustrie allerdings einher mit
einem allgemeinen Produktionswachstum und den damit verbundenen Effekten
höheren Waren- und Geldumlaufs, sowie höherer Preise72 und Löhne. Insgesamt
habe sich eine „krasse Überhitzung der Konjunktur“73 eingestellt. Folgerichtig
musste die Wirtschaftsentwicklung nach dem erzwungenen Ende der expansiven
Finanzpolitik, nämlich infolge der abgeschlossenen Zahlungen aus Frankreich,
eine krisenhafte Wendung nehmen.

Mackscheidt rückt demgegenüber den Aspekt eines fehlenden Angebots in den


Mittelpunkt seiner Betrachtung. Die vom Staat verausgabten Mittel, sei es für das
Militär oder auch die direkten Transfers, etwa durch den Reichsinvalidenfonds,
landeten letztlich bei privaten Haushalten (in der Interpretation von Böhme
geschah dies indirekt über die steigenden Löhne der Baubranche ebenfalls). So sei
durch die Art der Verwendung des Geldes durch den Staat einerseits „eine
Steigerung des privaten Güterangebots“74 verhindert, andererseits gerade die
Nachfrage nach einem solchen erhöht worden. Angesichts der Übernachfrage
mussten die Preise steigen und damit einen Teil des Wohlfahrtszuwachses wieder
zunichte machen.

Unabhängig davon, wie man sie beurteilt, ist festzuhalten, dass die beschriebenen
Maßnahmen in den ersten Jahren des Deutschen Reiches nur deshalb ergriffen
werden konnten, weil der Staatshaushalt kaum mit Schulden belastet war.75 Dies
wird denn auch als einer der Hauptvorteile der französischen Zahlungen gesehen76.

Direkt anschließend an die Betrachtung der Staatsfinanzen folgt die des


Steuerrechts. Es gibt Berechnungen, wonach ohne Zahlungen aus Frankreich die
durchschnittliche Steuerlast pro Haushalt nach der Reichsgründung um fast ein
Viertel hätte ansteigen müssen.77 Obwohl angenommen werden kann, dass das
Ausbleiben einer negativen Folge weniger stark wirkt, als das Eintreten einer
positiven, so ist es doch offensichtlich, dass die wirtschaftliche Stimmung im
Lande und bei jedem einzelnen ungleich besser war, als sie es bei erhöhten
lediglich solche Anlageinvestitionen als „produktiv“ bezeichnet werden, die nach ihrer
Fertigstellung einem wirtschaftlichen Zweck dienen, z.B. Fabrikgebäude oder Straßen.
Die eigentliche Kritik bestünde dann darin, dass der Staat durch die Verwendung des
Geldes falsche Anreize gesetzt habe.
72 Während Böhme (Großmacht (wie Anm. 12), S. 326) vor allem auf höhere Preise für
Luxusgüter hinweist, spricht Soetbeer (Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 52) von
gesteigerten Mieten und erhöhten Preisen für Güter des täglichen Bedarfs.
73 Böhme: Großmacht (wie Anm. 12), S. 326.
74 Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 969. In diesem Punkt ähnelt Mackscheidts
Argumentation der von Böhme beklagten „Unproduktivität“ der staatlichen Anlagen. Vgl.
Anm. 17.
75 Vgl. Abschnitt 3.1.
76 Vgl. z.B. von Waltershausen: Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 8), S. 274.
77 Vgl. Soetbeer: Die fünf Milliarden (wie Anm. 2), S. 31.
19

Steuern gewesen wäre. Der Umfang und damit die Auswirkungen dieses
psychologischen Effekts lassen sich aber ebenso wenig quantifizieren, wie die
vorhandene Begeisterung über die nationale Einigung und die große „Geldstrafe“,
die Frankreich auferlegt wurde. Dass Stimmungen teilweise erhebliche
Auswirkungen auf das Wirtschaftsleben haben und hatten, darf hingegen als
gesichert bezeichnet werden.

3.3 Transfertheorie

3.3.1 Klassischer Transfermechanismus

Gegenstand der Transfertheorie (eines Bestandteils der Außenhandelstheorie) sind


die Wirkungen, die Kapitaltransfers zwischen Ländern auf deren
Volkswirtschaften haben. Solche Transfers können beispielsweise in
Entwicklungshilfe, internationalen Anleihen oder eben Reparationszahlungen
bestehen.

Untersucht werden dabei konkret die verschiedenen Positionen der


Zahlungsbilanzen der beteiligten Länder. Da die Zahlungsbilanz nach ihrer
Definition immer ausgeglichen ist, muss die Kapitalübertragung aus dem
Geberland entweder eine Kapitalrückübertragung aus dem Empfängerland zur
Folge haben, oder einen Überschuss in der Leistungsbilanz des Geberlandes, d. h.
eine gesteigerte Ausfuhr von Gütern in das Empfängerland.

Von Hauptinteresse für die Untersuchung ist dabei weniger der monetäre
Transfer, d. h. die tatsächliche Übertragung der Zahlungsmittel vom Geber- ins
Empfängerland, sondern vielmehr der reale Transfer, also genau die Frage
danach, wie sich die erfolgte Bezahlung real auf die Wohlstandssituation in den
beiden Ländern ausgewirkt hat.78 Nicht im Modell berücksichtigt sind deshalb
Änderungen der Geldmengen, Zinsen, Devisenreserven und -kurse, die je nach
Vorliegen fester oder flexibler Wechselkurse sowie bestimmter Voraussetzungen
durch den monetären Transfer hervorgerufen werden können. Es wird vielmehr
davon ausgegangen, dass der monetäre Transfer erfolgreich war und Kaufkraft

78 Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen bei Soetbeer (Die fünf
Milliarden (wie Anm. 2), S. 33), der mit Bamberger von „wirklicher Liquidation“ spricht
und damit den Sachverhalt meint, dass allein das zuströmende Geld noch keinen Vorteil
für das Empfängerland in sich trägt. Ein solcher stellt sich erst ein, wenn mit diesem Geld
der tatsächliche Güterbestand vermehrt werden kann, also gesteigerte Importe möglich
sind. Dies ist auch unmittelbar einsichtig, denn in einer geschlossenen Volkswirtschaft
würde etwa eine Verdoppelung der Geldmenge lediglich eine Zunahme aller Preise im
gleichen Umfang nach sich ziehen, nicht aber einen positiven Wohlfahrtseffekt.
20

entsprechend dem Nennwert der übertragenen Zahlungsmittel vom Geber- auf das
Empfängerland übergegangen ist.79

Das Modell des klassischen Transfermechanismus basiert auf folgenden


Annahmen: Die übertragenen Zahlungsmittel stammen weder im Geberland aus
einem gehorteten Vorrat, noch werden sie im Empfängerland einem solchen
zugeführt. Multiplikatoreffekte80 sind ausgeschlossen und die in beiden Ländern
herrschende Vollbeschäftigung wird durch die Kräfte des Marktes konstant
gehalten.

Betrachtet man nur zwei Länder, dann führt eine Kapitalübertragung, die im
Geberland gleichmäßig von allen privaten Haushalten aufgebracht (z.B. durch
eine Steuererhöhung) und im Empfängerland ebenso gleichmäßig an alle privaten
Haushalte verteilt wird (z.B. durch erhöhte Transferzahlungen oder
Steuersenkungen), im Geberland im kompletten Umfang des
Übertragungsnennwertes zu einer Verringerung der Ausgaben für einheimische
und auswärtige Güter, während im Empfängerland genau der umgekehrte Fall
eintritt. Die veränderten Nachfragebedingungen der jeweiligen Importgüter führen
auch zu einer Veränderung der Handelsbeziehung zwischen beiden Ländern. In
Abhängigkeit von den jeweiligen marginalen Importquoten ist dann eine Aussage
über den Umfang des realen Transfers möglich. Nur für den Fall, dass die
marginalen Importquoten beider Länder sich zu 1,0 addieren, entspräche der reale
dem monetären Transfer. Bei einer zu unterstellenden Summe der beiden
marginalen Importquoten von kleiner als 1,0, ist ein Ausgleich der Zahlungsbilanz
nur über sinkende Preise im Geberland möglich, die zu höheren Exporten führen
würden. Dies ist auch das bei einer in beiden Ländern funktionierenden
Goldwährung zu erwartende Ergebnis. Eine Verbesserung der „terms of trade“ 81
zum Vorteil des Empfangslandes hätte somit dort eine zusätzliche
Wohlfahrtssteigerung zur Folge.82

79 Zu grundlegenden Ausführungen zur Transfertheorie vgl. J. Schröder: Transfertheorie, in:


Willi Albers u. a. (Hg.), Handbuch der Wirtschaftswissenschaften, Bd. 8, Stuttgart u. a.
1980, S. 8-17, hier S. 8 f.
80 Multiplikatoren beschreiben in der Makroökonomie den Umfang, in dem sich die
Veränderung einer gesamtwirtschaftlichen Determinante auf das
Gleichgewichtseinkommen auswirkt. Z. B. gibt der Investitionsmultiplikator Auskunft
darüber, wie stark das Einkommen bei einer Erhöhung der autonomen
Investitionsausgaben um eine Einheit steigt. Vgl. etwa Rüdiger Dornbusch/Stanley
Fischer: Makroökonomik, München 1995, S. 77 ff.
81 Dieser Begriff bezeichnet das Verhältnis der Preise verschiedener Länder und ist damit
ein Bestimmungsgrund für die Entwicklung der jeweiligen Im- und Exporte.
82 Zum realen Transfermechanismus vgl. Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 957 f.
21

3.3.1 Modernere Modelle

Die Kritik am klassischen Transfermechanismus zielt sowohl auf die sehr


restriktiven Prämissen, die in der Realität kaum anzutreffen sein dürften, als auch
auf den nur geringen Erkenntniswert der damit vorgenommenen Analysen, da
wichtige ökonomische Zusammenhänge nicht in Ansatz gebracht werden.83

An der Diskussion über die deutschen Reparationszahlungen nach dem 1.


Weltkrieg lassen sich exemplarisch grundlegende Standpunkte darstellen.
Während Keynes annahm, dass nur eine deutliche Verschlechterung der „terms of
trade“ zuungunsten Deutschlands den notwendigen Realtransfer ermöglichen
könnte, und er deshalb eine stark steigende Arbeitslosigkeit in Deutschland
befürchtete, stand er den Reparationszahlungen kritisch gegenüber.

Im Gegensatz dazu war Ohlin davon überzeugt, dass es die


Kaufkraftveränderungen in den beteiligten Ländern erlaubten, einen Realtransfer
auch ohne große Verschiebungen in den Preisverhältnissen (und damit auch in
den Beschäftigungsraten) zu erreichen. Interessanterweise nahm er damit eine
Position ein, die später Bestandteil der Keynesschen Transfertheorie wurde.84

Der Keynessche Transfermechanismus geht von genereller Unterbeschäftigung in


den untersuchten Ländern aus, was Kapitalübertragungen ohne Veränderungen
der „terms of trade“, sowie Einkommensveränderungen über Multiplikatoreffekte
ermöglicht. Außerdem wird Horten und Enthorten berücksichtigt, was
Kaufkraftübertragungen ohne Nachfrageveränderungen vorstellbar macht.

Die auf dieser Vorstellung aufbauenden Analysen sind sehr kompliziert und für
das weitere Verständnis nicht im Einzelnen erforderlich, weshalb nur ein Beispiel
den Interpretationsunterschied im Vergleich zum klassischen
Transfermechanismus deutlich machen soll. Führt der monetäre Transfer im
Geberland zu einem Nachfragerückgang (z.B. weil er durch Steuererhöhungen
aufgebracht wird) und wird die zusätzliche Kaufkraft im Empfängerland gehortet,
so kann es zu Einkommensrückgängen in beiden Ländern kommen. Die
gesunkene Nachfrage im Geberland überträgt sich in Form niedrigerer Importe
aus dem Empfängerland auf dieses. Die dadurch hervorgerufene Verbesserung der
Leistungsbilanz des Geberlandes wird allerdings dadurch abgeschwächt, dass
geringeren Importen auch geringere Exporte gegenüberstehen, da ja im
Empfängerland ebenfalls ein Nachfragerückgang aufgetreten ist. Ein Realtransfer

83 Vgl. ebenda, S. 958.


84 Zur Keynes-Ohlin-Debatte vgl. Schröder: Transfertheorie (wie Anm. 20), S. 11.
22

bleibt somit zu erwarten, allerdings in geringerem Umfang als der vorangehende


monetäre Transfer.85

Als dritte Denkrichtung soll abschließend die neoklassische Transfertheorie


angeführt werden. Diese gibt die den beiden anderen Modellen implizit zugrunde
liegende Annahme auf, Kapital sei bezüglich seiner Natur als Produktionsfaktor
immobil.86 Somit müssen neben den Nachfrage- auch die Angebotswirkungen der
Kaufkraftübertragungen berücksichtigt werden. Beispielsweise hängen die
Veränderungen der „terms of trade“ zwischen Geber- und Empfängerland nun
davon ab, in welchen Sektoren der beiden Volkswirtschaften Ab- und Zunahmen
der Produktionsfaktoren auftreten.

3.3.2 Anwendung auf vorliegende Statistiken

Obwohl die Erkenntnisse zum monetären Transfer und auch zur Verwendung des
Geldes aus der französischen Kriegsentschädigung, wie in den vorherigen
Abschnitten dargestellt, überwiegend unstreitig sind, können die Daten die
Anforderungen einer modernen Transferanalyse nicht erfüllen. Multiplikator- und
Angebotswirkungen lassen sich anhand des vorliegenden empirischen Materials
nicht nachvollziehen und „in der Regel reichen die Fakten allenfalls aus, den
klassischen Transfermechanismus zu überprüfen.“87

Auch dies muss allerdings nicht bloß aufgrund häufig nur geschätzter Statistiken
problematisch bleiben, sondern auch wegen der vielfach nicht erfüllten
Modellprämissen.

So wurde das Geld für die Kriegsentschädigung in Frankreich durch die beiden
Anleihen nicht gleichmäßig von allen Haushalten aufgebracht. Geht man etwa
davon aus, dass wohlhabende Franzosen ihr Vermögen im Hinblick auf die guten
Renditeaussichten der Staatsanleihen lediglich umschichteten, so lag im Gegenteil

85 Vgl. ebenda, S. 12. Im Zusammenhang mit diesem Beispiel erscheint auch der Vorschlag,
das empfangene Geld zunächst im Ausland anzulegen und nur behutsam dem
Wirtschaftskreislauf des Deutschen Reiches zuzuführen, in einem neuen Licht (vgl.
Abschnitt 3.2.1 des vorliegenden Beitrages). Zweifellos würde es sich bei einem solchen
Vorgehen um ein Horten gehandelt haben, das eventuell die im Beispiel beschriebenen
negativen Folgen für beide Länder hervorgerufen hätte. Diese Einschätzung ist aber nicht
nur wegen mangelnder Überprüfbarkeit aufgrund fehlenden empirischen Materials,
sondern auch deshalb problematisch, weil ein solcher in sich suboptimaler Umgang mit
den Kriegsentschädigungszahlungen gesamtwirtschaftlich, mit Blick auf die sich
überhitzende Konjunktur, möglicherweise das geeignete Mittel für eine langfristige
Wohlstandsverbesserung gewesen wäre.
86 Die Demontagen durch die Sowjetunion in Ostdeutschland nach 1945 sind ebenso ein
Beispiel für internationale Transfers in Form von Produktionsfaktoren, wie solche
Entwicklungshilfezahlungen, die von den Empfängern zum Kauf von Maschinen im
Geberland genutzt werden.
87 Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 965.
23

ein Enthorten vor, dessen Wirkung auf die Nachfragestruktur in Frankreich


fraglich bleibt.88 Hinzu kommt die Tatsache, dass Teile der aufgenommenem
Mittel aus dem Ausland stammten, was unter Vernachlässigung der über einen
langen Zeitraum gestreckten Zinszahlungen als „Kriegsentschädigung mit
umgekehrtem Vorzeichen“ und damit als Kompensation für einen Teil der
französischen Transfers gesehen werden kann, die folglich real nicht die Höhe
von 5 Milliarden Franken erreichten.

Der Anteil von Gold an den übertragenden Zahlungsmitteln war relativ gering, so
dass auch der als „orthodoxe Lösung“89 bezeichnete Zahlungsbilanzausgleich über
veränderte Preise aufgrund der Goldströme zwischen den beteiligten Ländern
nicht vorgelegen haben kann.

Das Horten des Reichskriegsschatzes von 120 Millionen Mark und zumindest
anfangs auch des in England beschafften Prägegoldes 90 „wirkte wie eine
Geldvernichtung“91, da dieser große Teil der Kriegsentschädigungszahlung nicht
unmittelbar im Wirtschaftskreislauf wirksam werden konnte.

Trotz der genannten Probleme sollen im Folgenden einige ausgewählte Zeitreihen


im Hinblick auf die dargestellten Schlussfolgerungen der Transfertheorie
betrachtet werden.

Ein Teil der starken Preissteigerungen 92 im betrachteten Zeitraum ist zweifellos


auf die gute konjunkturelle Lage zurückzuführen. Dafür spricht auch, dass die
Preise bereits vor dem Beginn der französischen Zahlungen anzogen. Inflationäre
Einflüsse dürfen ebenfalls nicht vernachlässigt werden, aber auch ohne diese war
nach der klassischen Transfertheorie im Empfangsland des Kaufkrafttransfers eine
Preissteigerung zu erwarten.

88 Vorstellbar wäre es, dass Nachfragerückgänge in Frankreich hauptsächlich durch die


schlechte wirtschaftliche Stimmung angesichts des verlorenen Krieges und der
gespannten innenpolitischen Lage hervorgerufen wurden, und nicht bloß dadurch, dass
Geld nicht mehr zur Verfügung stand, das ohne die beiden Anleihen hätte ausgegeben
werden können.
89 Vgl. ebenda, S. 958.
90 Vgl. Abschnitt 3.2.2.
91 Mackscheidt: Einkünfte (wie Anm. 2), S. 966.
92 Interessant an den dargestellten Preisindizes ist auch die zeitliche Komponente. Den
prozentual stärksten Preissteigerungen bei den Rohstoffen folgt mit Verzögerung ein
Höhepunkt der Investitionsgüterpreise, der schon mit dem Beginn der Gründerkrise
zusammenfällt. Daran lässt sich die Längerfristigkeit der Kalkulationen in der
Schwerindustrie ablesen, die diese zu einem stabilisierenden Faktor in der schwankenden
Konjunkturentwicklung macht.
24

Darst. 3: Nettoinlandsprodukt, Preise, Außenhandel

1 1869 1870 1871 1872 1873 1874 1875

2 Nettoinlandsprodukt 14,19 14,17 14,65 15,68 16,45 17,55 17,65

3 Industrielle
83 88 99 129 145 121 101
Rohstoffpreise

4 Großhandelspreise 89 90 96 111 118 109 98

5 Investitionsgüterpreise 152,2 150,5 150,1 156,4 178,8 199,7 186

6 Volumen Exporte 2016 1972 2361 2276 2149 2233 2393

7 Volumen Importe 1719 1734 2232 2571 2470 2519 2604

8 Leistungsbilanzsaldo 297 238 129 -295 -321 -286 -211

Werte nach Spree 1977.


Zeile 2: Nettoinlandsprodukt (zu Faktorkosten) des Deutschen Reiches jeweiligen Gebietsstands in
Preisen von 1913 und Mrd. Mark, S. 370.
Zeile 3: Preisindex für industrielle Rohstoffe in Deutschland, 1913 = 100, S. 371.
Zeile 4: Index der Großhandelspreise in Deutschland, 1913 = 100, S. 372.
Zeile 5: Preisindex für Investitionsgüter in Deutschland, 1913 = 100, S. 496.
Zeile 6: Volumen der Exporte aus dem Zollverein/Deutschen Reich in konstanten Preise von
1837/41 und Mio. Mark, S. 385.
Zeile 7: Volumen der Importe in den Zollverein bzw. das Deutsche Reich in konstanten Preisen
von 1837/41 und Mio. Mark, S. 388.
Zeile 8: Leistungsbilanzsaldo in konstanten Preisen von 1837/41 und Mio. Mark, eigene
Berechnung aus den Werten der Zeilen 7 und 8.

Die Entwicklung der Im- und Exporte zeigt kein einheitliches Bild. Insgesamt
sind aber die Importe stärker gestiegen als die Exporte, was die Leistungsbilanz
des Deutschen Reiches in den Jahren der größten französischen Zahlungen, 1872
und 1873, passiv werden ließ. Auch wenn die beiden verwendeten
Zeitreihenreihen auf Preisen von 1837/41 beruhen und damit eine direkte Aussage
über den Umfang der Leistungsbilanzverschiebung im Vergleich zu dem
monetären Transfer der Kriegsentschädigung nicht erlauben, so ist doch die von
der klassischen Transfertheorie behauptete Tendenz dadurch bestätigt, dass sich
der Leistungsbilanzsaldo im Empfangsland, also im Deutschen Reich, verringert
hat.93

93 Vgl. ebenda, S. 966 f.


25

4 Zusammenführung und Bewertung der


Ergebnisse
In Deutschland herrschte nach gewonnenem Krieg und Reichsgründung allgemein
eine gute Stimmung. Der durch den Krieg unterbrochene Wirtschaftsaufschwung
setzte sich fort und an den Kapitalmärkten war die stimulierende Wirkung des
neuen Aktiengesetzes unübersehbar. In diese Situation fiel die Ankündigung, dass
Frankreich sich in den Friedensverhandlungen verpflichtet hatte, eine
Kriegsentschädigung von 5 Milliarden Franken zu bezahlen.

Die Folgen dieser Vereinbarung lassen sich ohne Berücksichtigung der deutschen
Regierungsentscheidungen nicht ermessen. Die Regierung war zunächst für die
Höhe der Summe verantwortlich, aber auch Auszahlungsarten und -zeiträume
lagen in ihrem Ermessens- und Verhandlungsspielraum. Obwohl sie sich des
außergewöhnlichen Umfangs der geplanten Finanztransaktion bewusst war,
unterschätzte sie offenbar die damit verbundenen Risiken und Schwierigkeiten. So
wurden die spekulativen Tendenzen an der Börse durch die sofortige Rückzahlung
der Staatsschulden verstärkt. Die eine möglichst schnelle Zahlung praktisch
erzwingende Besatzungspolitik in Frankreich und die Überführung großer
Summen in den ebenfalls am Kapitalmarkt aktiv werdenden Reichsinvalidenfonds
waren weitere Faktoren, die im Rückblick hauptsächlich die Art des Umgang mit
der Kriegsentschädigung für deren negative Auswirkungen verantwortlich
erscheinen lassen.

Der verzögerte Silbereinzug bei Einführung der Goldwährung ist ebenfalls ein
Beispiel für die Leichtfertigkeit, mit der von Seiten des Staates zu Werke
gegangen wurde. Es kann indes als erwiesen angesehen werden, dass sich der
frühzeitige Entschluss zur Währungsumstellung in hohem Maße den
außerordentlichen Einnahmen aus Frankreich verdankte.

Neben der indirekten Wirkung über die Börse, deren Höhenflüge nicht ohne
Wirkung auf Entscheidungen in der Realwirtschaft bleiben konnten (z.B. durch
erleichterte Kreditvergaberichtlinien bei den Banken), nahm die Regierung durch
ihre Aufrüstungs- und Bauprogramme (z.B. Eisenbahnen) auch direkten Einfluss
auf die reale Wirtschaftsentwicklung, der ohne Kriegsentschädigung sicherlich
von geringerem Umfang geblieben wäre. Dafür spricht auch die Tatsache, dass es
erst der für lange Zeit kaum verschuldete Haushalt dem Staat ermöglichte, in
seiner Ausgabenpolitik derart bestimmende Akzente zu setzen.
26

Zieht man für einen Wohlstandsvergleich die Situation jedes Einzelnen heran, so
darf auch die konkrete positive Folge der auf niedrigerem Niveau verbliebenen
Steuern nicht unterschätzt werden.

Die transfertheoretischen Überlegungen zeigen, dass der monetäre Transfer sehr


viel geringer war, als es die Summe von fünf Milliarden Franken suggerierte. Es
muss jedoch davon ausgegangen werden, dass nur diese allerorts genannte
Summe Stimmung und Bewusstsein der handelnden Menschen bestimmten,
während dem faktisch entgegen gesetzte Entwicklungen wie das Horten von
Zahlungsmitteln in Deutschland oder Kapitalrücktransfers nach Frankreich in der
öffentlichen Wahrnehmung weitgehend unberücksichtigt blieben. Legt man die
Einschätzung zugrunde, dass es nur zu einem vergleichsweise geringen
Realtransfer von Frankreich nach Deutschland gekommen ist, so ergibt sich eine
verblüffend einfache Erklärung für die als Auslöser der Gründerkrise
identifizierten Überkapazitäten des produzierenden Gewerbes: Wenn alle
Wirtschaftssubjekte falsche Erwartungen hegten, musste sich beim
Zusammentreffen der Ergebnisse ihres Handelns mit den realen Gegebenheiten
zwangsläufig eine Krise einstellen, in diesem Fall eine Wendung zum
Schlechteren.

Zweifellos verstärkte die Kriegsentschädigung den konjunkturellen Trend und


beschleunigte damit einen möglicherweise in jedem Fall bevorstehenden
Umschlag in eine Phase wirtschaftlicher Depression. Ganz anders hätte die
Bewertung allerdings wohl ausfallen müssen, wenn sich das Deutsche Reich
gerade in einer solchen Depression befunden hätte, als die Nachricht von der
Kriegsentschädigung bekannt wurde.94

5 Fazit
Letztlich ist es unmöglich, alle Einzelaspekte gegeneinander aufzurechnen und
damit eine sinnvolle Gesamtbewertung der Folgen der französischen
Kriegsentschädigung zu präsentieren. Aus welcher Sicht sollte dies auch
geschehen? Aus der eines Unternehmers oder der eines Arbeiters? Aus der Sicht
einer einzelnen Branche oder aus der des Finanzministers?

94 Vgl. ebenda, S. 969. Es ist in der Tat nicht zu sehen, wie eine solche Möglichkeit zu
„deficit spending“ ohne Defizit im Rückblick negativ beurteilt werden könnte.
27

So muss mit den herausgegriffenen Aspekten vorlieb genommen werden – auch


im Bewusstsein, dass diese streng genommen gar nicht unabhängig voneinander
betrachtet werden dürften.

Es gibt eine Indizienkette, die darauf hindeutet, dass Reichskanzler Bismarck im


Rückblick geäußert haben soll, er würde beim nächsten gewonnenen Krieg eher
dem Besiegten eine Entschädigung zahlen, statt umgekehrt. 95 Einer derart
drastischen Einschätzung kann man sich nach den vorliegenden Ergebnissen nicht
anschließen.

Die Bewertung eines so außergewöhnlichen Finanztransfers, wie es die


französischen Kriegsentschädigungszahlungen im Zeitraum von 1871 bis 1873
waren, kann weder unabhängig von der konkreten wirtschaftlichen Lage, noch
unbeachtet der genauen Verwendung des Geldes vorgenommen werden.

Als Fazit bietet sich deshalb vielmehr die Feststellung an, dass auch die
Verwendung großer Summen einer sorgfältigen Planung bedarf, um das ihnen
innewohnende Potenzial gesteigerten Wohlstands in der Realität freizusetzen.

95 Zu den Aktenvermerken, die ein solches Zitat nahe legen, vgl. Malettke: Deutsche
Besatzung (wie Anm. 5), S. 281.
28

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