Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Stefan Huster
1 Zu Sinn und Unsinn dieser Formulierungen vgl. Huster, Solidarität und Eigenverant-
wortung – Spannung oder Gleichklang, Zeitschrift für Evidenz, Fortbildung und Qualität
im Gesundheitswesen (ZEFQ) 106 (2012:3), S. 195-198.
B. Schmitz-Luhn und A. Bohmeier (Hrsg.), Priorisierung in der Medizin, 193
Kölner Schriften zum Medizinrecht 11, DOI: 10.1007/978-3-642-35448-9_14,
© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013
194 Stefan Huster
II. Behandlungsverweigerung
An absolute grundrechtliche Grenzen stieße – jedenfalls in Fällen einer ernsthaften
Erkrankung − eine Behandlungsverweigerung aus Gründen des Selbstverschul-
dens. In Situationen der Not hat jeder einen Anspruch auf Hilfe – unabhängig da-
von, ob er mit seinem Verhalten zu dieser Situation beigetragen hat. Hier trifft
sich die grundrechtliche Wertung mit der Kritik an Ansätzen, die dem Kriterium
der Eigenverantwortung eine überragende Rolle einräumen und deshalb die „Op-
fer kalkulierten Pechs“ ignorieren.2
Denkbar ist daher lediglich eine finanzielle Beteiligung an den Kosten, die der
Solidargemeinschaft durch die Behandlung der selbst verschuldeten Krankheit
entstehen. Und selbst dies darf nicht dazu führen, dass der Versicherte die Be-
handlung aufgrund seiner fehlenden wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit gar nicht
oder nur mit unzumutbaren Einschränkungen erhalten kann. Soweit das Kranken-
versicherungsrecht − wie in § 52 Abs. 2 SGB V − Kostenfolgen an das Selbstver-
schulden knüpft, wird die Behandlung von der Krankenkasse zunächst übernom-
men; das Ob und Wie der Kostenbeteiligung des Versicherten ist dann ein
nachgelagertes Problem, das jedenfalls nicht zum Ausschluss der Behandlung
führt.
III. Willkürverbot
Die soeben erwähnte Norm weist allerdings auf ein weiteres Problem hin: Die ri-
siko- und kostenerhöhenden Tatbestände müssen willkürfrei ausgewählt werden.
Wie kompliziert das sein kann, zeigen die völlig verunglückten ersten gesetzgebe-
rischen Vorstöße: Nach § 52 Abs. 2 SGB V waren Versicherte zunächst an den
Behandlungskosten zu beteiligen, wenn sie sich „eine Krankheit durch eine medi-
zinisch nicht indizierte Maßnahme wie zum Beispiel eine ästhetische Operation,
eine Tätowierung oder ein Piercing zugezogen“ haben. Streng genommen waren
damit auch gesundheitliche Folgeprobleme z.B. des Durchstechens der Ohrläpp-
chen, um Ohrschmuck tragen zu können, kostenbeteiligungspflichtig. Das war
dem Gesetzgeber aber wohl zu viel des Guten, und so wurde durch das Pflege-
Weiterentwicklungsgesetz ab dem 1.7.2008 „klargestellt“ (so die Gesetzesbegrün-
dung), dass die Beteiligungspflicht auf die ausdrücklich genannten drei Maßnah-
men beschränkt ist, indem die Formulierung „Maßnahme wie zum Beispiel eine“
in § 52 Abs. 2 SGB V gestrichen wurde. Was soll aber nun das völlig willkürliche
Herausgreifen von ästhetischen Operationen, Tattoos und Piercings gegenüber
dem Branding und anderen nicht indizierten körperlichen Eingriffen vor dem
Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG rechtfertigen? Die Norm wird daher auch
verbreitet für gleichheits- und daher verfassungswidrig gehalten.3
2 Vgl. dazu Anderson, Warum eigentlich Gleichheit?, in: A. Krebs (Hrsg.), Gleichheit
oder Gerechtigkeit, 2000, S. 117, 128 ff.
3 Vgl. zur Diskussion Höfling, Recht auf Selbstbestimmung versus Pflicht zur Gesund-
heit, ZEFQ 103 (2009): 286-292; Wienke, Eigenverantwortung der Patienten/Kunden: Wo-
Selbstverschulden in der GKV 195
V. Fazit
So theoretisch überzeugend, aber praktisch zweifelhaft das Kostenargument auch
ist – vermutlich stehen hinter verhaltenslenkenden Maßnahmen auch noch andere
Motive: nämlich der Schutz der Gesundheit als solcher. Damit betritt die öffentli-
che Gewalt aber vermintes Gelände: Die Bürger in ihrem eigenen Interesse – und
nur darum kann es ja gehen, wenn wir uns in einer freiheitlichen Gesellschaft von
5 Vgl. dazu Huster, Die ethische Neutralität des Staates, Tübingen 2002.
6 Bundesverfassungsgericht (BVerfG) Urt. v. 30.7.2008 – 1 BvR 3262/07, 402/08 und
906/08.
7 Vgl. Huster, Eigenverantwortung im Gesundheitsrecht, Ethik in der Medizin 2010, S.
289 ff.