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Psychotherapie: Praxis

Elisabeth Wagner
Sigrid Binnenstein Hrsg.

Wie systemische
Kinder- und
Jugendlichen-
psychotherapie wirkt
Prozessgestaltung in 10 Fallbeispielen
Psychotherapie: Praxis
Die Reihe Psychotherapie: Praxis unterstützt Sie in Ihrer täglichen Arbeit – praxisorientiert, gut
lesbar, mit klarem Konzept und auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand.

Weitere Bände in der Reihe: http://www.springer.com/series/13540


Elisabeth Wagner
Sigrid Binnenstein
Hrsg.

Wie systemische
Kinder- und
Jugendlichen-
psychotherapie
wirkt
Prozessgestaltung in 10 Fallbeispielen

Mit einem Geleitwort von Dr. Wilhelm Rotthaus


Mit 7 Abbildungen
Herausgeber
Elisabeth Wagner Sigrid Binnenstein
Baden, Österreich Wien, Österreich

Psychotherapie: Praxis
ISBN 978-3-662-55546-0    ISBN 978-3-662-55547-7 (eBook)
https://doi.org/10.1007/978-3-662-55547-7

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V

Geleitwort

Nichts ist so spannend und so lehrreich, als Einblick zu bekommen in die kon-
krete Arbeit erfahrener Therapeutinnen. Die Herausgeberinnen, die in diesem
Buch zusammen mit sieben weiteren Kolleginnen zehn Behandlungsverläufe
schildern und kommentieren, sprechen denn auch von einem Lernbuch. Sie
wollen das fachliche Denken fördern und zugleich aufzeigen, wie systemische
Kinder- und Jugendlichentherapie ihre hohe Wirksamkeit entfaltet.

Systemische Kinder- und Jugendlichentherapie wäre grundlegend missver-


standen, wenn man sie als systemtherapeutisch geprägte Einzeltherapie ansähe.
Natürlich ist sie das auch. Doch vor allem zeichnet sie sich dadurch aus, dass
die Therapeutin zu jedem Zeitpunkt des Therapieprozesses wohlüberlegt den
oder die Adressaten auswählt, mit denen der nächste therapeutische Schritt am
ehesten zu gehen ist. Das konkretisiert sich in der Wahl des jeweils am geeig-
netsten erscheinenden Settings; man könnte fast sagen: Systemische Kinder-
und Jugendlichentherapie „lebt“ unter anderem von den gut begründeten
Settingentscheidungen. In diesem Buch machen das die Falldarstellungen
Jakob, Michelle, Lukas und Bahira sehr deutlich. Sie zeigen, welche Chancen
sich eröffnen, wenn die Vielzahl der Setting-Möglichkeiten – Familientherapie,
Einzeltherapie, Elternberatung, Paargespräche/Paartherapie, Einzeltherapie
mit dem Kind oder Jugendlichen vor den Augen und Ohren der Eltern (um nur
einige der Settingvarianten zu nennen) – genutzt werden.

Mir hat beispielsweise die Anregung gut gefallen, vor der ersten Begegnung mit
dem Klientensystem Informationen aus dem Anmeldegespräch  – eventuell
ergänzt durch die Klärung einiger Fragen in einem Telefonat – zu bedenken und
zu entscheiden, in welchem Setting das Erstgespräch durchgeführt werden soll.
So ist es eine gute Idee, Eltern, die ihr Kind „zur Reparatur abliefern“ möchten
(was man ihnen prinzipiell nicht verübeln kann, ist ihnen dieses Vorgehen doch
aus der somatischen Medizin vertraut), zunächst ohne das „Problemkind“ zu
Elterngesprächen einzuladen. Die vielfältigen Belastungen der Eltern über lange
Zeit können dann hinreichend gewürdigt und die Themen und Ziele der Eltern
für das Kind sowie – ein ganz entscheidender Faktor gleich am Anfang der The-
rapie – die Ziele für sich selber können in aller wünschenswerten Genauigkeit
erarbeitet werden, wobei dann häufig schon erste Hinweise auf die Wechselwir-
kung zwischen beidem aufscheinen. Die nach ggf. mehreren Elterngesprächen
folgende Erstsitzung mit Eltern und Kind oder Jugendlichen verläuft dann
zumeist weniger konflikthaft und damit therapeutisch fruchtbarer. Aber auch
nach jeder Therapiesitzung sollte im Sinne eines möglichst wirkungsvollen The-
rapieverlaufs die Frage neu gestellt werden, wen die Therapeutin zur nächsten
Therapiestunde einladen sollte.
VI
Geleitwort

Ähnlich wie bezüglich des Settings muss die Therapeutin bei der Methoden-
wahl ihre Prozessverantwortung wahrnehmen. Jeder neue Therapieschritt wird
abgewogen, um aus dem großen systemischen Methodenpool immer das aus-
zuwählen, was den Klienten am ehesten den nächsten Entwicklungsschritt
ermöglichen könnte. Dabei werden weniger die Inhalte als entscheidendes Kri-
terium herangezogen, sondern vielmehr die aktuelle Motivationslage und
Affektdynamik. Welcher Entwicklungs- und Veränderungsschritt scheint zur
Zeit emotional noch nicht möglich zu sein, welche Stärken und Ressourcen
müssen zunächst noch im Erleben der Klienten gefestigt werden, wie kann ein
Blick in die gelingende Zukunft die Zuversicht und Arbeitsmotivation bekräf-
tigen?  – dies nur einige wenige Überlegungen, die ein planvolles Vorgehen
ermöglichen.

Natürlich entscheiden die Klienten darüber, welche Anregungen der Therapeu-


tin für sie passend sind, so dass sie sie aufgreifen können. Das entbindet die
Therapeutin aber nicht von der Notwendigkeit, ihr Vorgehen überlegt zu kon-
zipieren, nämlich ein professionelles Fallverständnis zu entwickeln, daraus eine
therapeutische Absicht abzuleiten und so den jeweils nächsten methodischen
Schritt zu wählen. Letztlich geht es darum, das Nicht-Planbare in jedem Augen-
blick des therapeutischen Prozesses neu zu planen.

Eine sehr bemerkenswerte Besonderheit dieses „Lernbuches“ liegt darin, dass


die Herausgeberinnen jeder Fallverlaufsdarstellung eine Reflexion des jeweili-
gen Fall- und Wirkverständnisses folgen lassen, um deutlich werden zu lassen,
welche Überlegungen den Prozess bestimmt haben, welche therapeutischen
Vorgehensweisen mit welcher Absicht, aber auch mit welchen Zweifeln gewählt
wurden. Sie veranschaulichen damit „die Architektur“ des jeweiligen Therapie-
verlaufs, ohne ihn als den einzig richtigen charakterisieren zu wollen. Diese
von den Herausgeberinnen gewählte Metapher der Architektur trifft das
Gesagte, als  – nach Wikipedia  – die zentralen Inhalte von Architektur das
„planvolle Entwerfen, Gestalten und Konstruieren“ sind. Diese Analogie lässt
sich noch vertiefen, wenn man heranzieht, dass  – nach derselben Quelle  –
Architektur im klassischen Verständnis nach Vitruvs Werk „de architectura“
(entstanden 22 bis 14 v. Chr.) auf den Prinzipien Stabilität (firmitas), Nützlich-
keit (utilitas) und Anmut/Schönheit (venustas) beruht. Stabilität, d. h. in der
Analogie: die Sicherheit in einer guten Therapiebeziehung, ist ohne Zweifel die
Basis des Therapieerfolgs und Nützlichkeit das entscheidende Merkmal im
Hinblick auf das Therapieziel des Klienten, das letztlich dieser selbst nur beur-
teilen kann. Das Kriterium der Anmut bzw. Schönheit erinnert an eine der drei
Grundkategorien von Kurt Ludewig für die Evaluation von Therapie, zu dem er
formuliert: „Wir betrachten einzelne Interventionen, ganze Sitzungen bzw.
Therapieverläufe dann als schön, wenn die Beteiligten im Zusammenpassen
der Aktivitäten des Therapeuten mit den Möglichkeiten seiner Kunden eine
derartige Korrespondenz gemessen an ihren Vorstellungen und Erwartungen
VII
Geleitwort

erkennen, dass sie sich veranlasst sehen, es als schön zu bewerten. Im Hinblick
auf das Therapieergebnis bezieht sich diese Bewertung auf das Passen zwischen
Mittel und Ergebnis“ (Ludewig K [1988] Nutzen, Schönheit, Respekt. Drei
Grundkategorien für die Evaluation von Therapien. System Familie 1:111).

Fallverlaufsdarstellungen müssen einen hochkomplexen, über die Zeit sich


ständig wandelnden Prozess notwendigerweise auf wenige Seiten komprimie-
ren. Das hat in diesem Buch dazu geführt, dass zu einigen Darstellungen von
Einzeltherapien meine Neugierde auf die Arbeit mit dem erweiterten Kontext
nur bedingt befriedigt wurde. Das gilt beispielsweise für die eindrucksvolle
Darstellung der Einzeltherapie der vierjährigen Julia, wo ich gerne noch erfah-
ren hätte, wie die teilstationäre Aufnahme des Mädchens konzipiert und die
Arbeit mit den Eltern trotz des Sorgerechtsentzugs sowie die Zusammenarbeit
mit dem Jugendamt gestaltet worden ist. Entsprechend hätte ich auch gerne
mehr darüber erfahren, wie in der zu einem Kollegen ausgelagerten Paarthera-
pie der Eltern von Ellie die notwendigen Entwicklungsschritte der Eltern selbst
thematisiert und bearbeitet wurden und wie in der Therapie mit Catrin die
Stieffamiliensituation Berücksichtigung gefunden hat.

Aber auch in einem so anregenden Buch wie diesem können nicht alle Wün-
sche in Erfüllung gehen. Ich habe beim Lesen viel gelernt und danke allen
beteiligten Autorinnen für dieses schöne Buch. Ich hoffe, dass zahlreiche The-
rapeutinnen  – nicht nur Vertreterinnen der systemischen Therapie, sondern
auch solche anderer Verfahren – das Buch in die Hand nehmen und ihr fachli-
ches Handeln in vielfältiger Weise bereichern lassen.

Wilhelm Rotthaus
Arzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie

Bergheim bei Köln im August 2017


Vorwort

Im vorliegenden Buch wird die Vielfalt der systemischen Zugänge zur Kinder-
und Jugendlichen-Therapie anhand von zehn vollständigen Fallverläufen ver-
schiedener Therapeutinnen dargestellt. Die Fälle wurden so gewählt, dass eine
möglichst große Bandbreite an Altersgruppen, Störungsbildern und Interven-
tionsschwerpunkten exemplarisch abgebildet wird. Durch die Darstellung des
jeweils gesamten Fallverlaufs sollen die Lesenden einen Einblick in die thera-
peutische Praxis und Anregungen für die eigene therapeutische Arbeit gewin-
nen. Während üblicherweise einzelne Interventionen und deren Wirksamkeit
beschrieben werden, wollen wir zeigen, wie mögliche Architekturen von
gesamten Therapieprozessen aussehen können. Welche Überlegungen steuern
den Prozess? Welche Interventionen werden mit welcher Absicht aber auch mit
welchen Zweifeln eingesetzt? Den Autorinnen ist bewusst, dass dies jeweils nur
mögliche, aber nicht einzigrichtige Architekturen sind. Jeder Fall benötigt eine
individuelle Herangehensweise und ist auch von der Person, dem Methoden-
repertoire und der Herangehensweise der Therapeutin, sowie von den Struktu-
ren, in denen psychotherapeutische Behandlung in Anspruch genommen wird
(Praxis, Beratungsstelle, im stationären Kontext) und den sich daraus ergeben-
den Möglichkeiten beeinflusst.

Besonders wichtig war den Herausgeberinnen bei der Auswahl der Fälle, dass
das Familiensetting nicht zugunsten der einzeltherapeutischen Arbeit mit Kin-
dern und Jugendlichen marginalisiert wird. Die Bearbeitung von Problemen
von Kindern und Jugendlichen im Familiensetting entspricht nicht nur deren
Lebenssituation (Gesundheit und Wohlbefinden von Kindern und Jugendli-
chen werden ganz maßgeblich durch ihre familiäre Lebenswelt bestimmt), son-
dern ermöglicht auch „mehrpersonale Veränderungsimpulse im System“ (vgl.
Rotthaus 2001, S. 9). Da Eltern in der Regel in hohem Maße für die Erfüllung
zentraler Bedürfnisse verantwortlich sind, können sie auch zur Überwindung/
Besserung kindlicher Leidenszustände beitragen, die sie nicht selbst verursacht
haben. Darüber hinaus war das interaktionelle Verständnis psychischer Pro­
bleme im Unterschied zur individualisierten Betrachtungsweise identitätsstif-
tendes Element früherer systemischer Psychotherapie. Warum also überhaupt
eine Fokussierung systemischer Kinder- und Jugendlichen- Psychotherapie
(KiJu-Therapie)? Warum reicht das bewährte familientherapeutische Vorgehen
nicht aus? In der einschlägigen Fachliteratur werden folgende Argumente
gebracht: Da Kinder ihrem Alter entsprechend anders als Erwachsene denken
und fühlen, braucht es neben entwicklungspsycho(patho)logischen Kenntnis-
sen oft auch spezielle therapeutische Techniken und Vorgehensweisen, um
Kinder und Jugendliche gut in den therapeutischen Prozess miteinzubeziehen.
Kinder (ca. bis zum 12. Lebensjahr) sind weniger sprachorientiert, ihr Denken
ist weniger komplex und abstrakt, weniger realitätsbezogen und rational, wes-
halb Kinder in diesem Alter nur selten auf Anhieb ein konkretes Therapieziel
IX
Vorwort

formulieren können. Dies kann dazu führen, dass die Therapiegespräche von
den Eltern dominiert werden und die Kinder auf die Rolle von Zuhörern redu-
ziert werden, die wenig Möglichkeiten haben, ihre Anliegen, Sichtweisen und
Probleme einzubringen (vgl. Wilson 2003, Schmitt u. Weckenmann 2009).
Kinder sind in der Psychotherapie durch Sprache allein oft schwer zu errei-
chen. Dafür sind sie in der Regel phantasievoll, verfügen über eine hohe Imagi-
nationsfähigkeit und können sich gut nonverbal ausdrücken, sei es über
Zeichnungen, Handpuppen oder (Rollen-)Spiele. Je nach Entwicklungsstand
kann das magische Denken, die Suggestibilität, die Phantasietätigkeit oder das
symbolisierende Spiel therapeutisch genutzt werden. Aufgrund der kürzeren
Aufmerksamkeitsspannen ist darüber hinaus mehr an Abwechslung nötig, als
wir es aus Therapien mit Jugendlichen und Erwachsenen gewöhnt sind.

Unabhängig vom Setting, also sowohl in Einzel-, wie auch in Familienthera-


pien mit jüngeren Kindern bedarf es daher gewisser Modifikationen der thera-
peutischen Vorgehensweise, um Kinder zu erreichen. All diese Modifikationen
können mühelos in ein systemisches Verständnis von Therapieprozessen inte-
griert werden, erfordern aber zusätzliche Schulung und auch eine entspre-
chende Ausstattung der Therapieräume. Therapeutinnen, die mit Kindern
arbeiten wollen, sollten eine Vielzahl von Objekten und Materialien zur Verfü-
gung stellen, um die Ausdrucksmöglichkeit der Kinder zu ermöglichen und sie
sollten bereit sein, durch entsprechende spielerische Angebote den Kontakt zu
Kindern zu fördern. Dementsprechend haben sich neben dem klassischen
familientherapeutischen Vorgehen unterschiedliche Ansätze der systemischen
KiJu-Therapie entwickelt: neben den spezialisierten Therapieangeboten für
Kinder wurde auch eine Vielzahl an Methoden publiziert, mit denen Kinder
besser in Familientherapieprozesse einbezogen werden können. Um den
Lesenden die theoretische Zuordnung der einzelnen Fallbeispiele zu erleich-
tern, werden diese Ansätze im Einführungskapitel kurz vorgestellt, für eine
vertiefende Auseinandersetzung werden Hinweise auf die weiterführende
Fachliteratur gegeben.

Die hohe „Binnendifferenzierung“ systemischer KiJu-Therapie stellt gleicher-


maßen ein großes Potenzial wie auch eine große Herausforderung dar: Syste-
mische Therapeutinnen können nicht nur  – sie müssen sich zwischen einer
Vielzahl von therapeutischen Herangehensweisen entscheiden. Dabei stellt die
Wahl des Settings – Familientherapie, Einzeltherapie mit dem Kind oder (Paar)
Arbeit mit den Eltern, bzw. eine Kombination dieser Settings – eine der zentra-
len Entscheidungen dar, in die viele Überlegungen einfließen müssen: Wo ist
der größte Bedarf? Welches Setting bietet die meisten Chancen auf Verände-
rung, verhindert Loyalitätskonflikte und fördert „bezogene Individuation“?
Was muss in diesem Zusammenhang in den verschiedenen Altersstufen und
familiären Konstellationen beachtet werden?
X
Vorwort

Diese Settingentscheidungen werden daher in den Falldarstellungen besonders


fokussiert und – eingebettet in ein professionelles Fallverständnis – nachvoll-
ziehbar dargestellt. Aber auch jenseits der Settingentscheidung wird versucht,
die konkrete therapeutische Vorgehensweise jeweils vor dem Hintergrund des
aktuellen Fallverständnisses zu begründen und ein „Wirkverständnis“ der
angewandten Techniken zu explizieren: In welcher Art soll das jeweils gewählte
therapeutische Vorgehen wirken? Auf welchen problematischen Aspekt im Kli-
entinnenensystem bezieht es sich? In welchem Ausmaß müssen interaktionelle
und intrapsychische Phänomene berücksichtigt werden? Sollte zunächst das pro-
blemaufrechterhaltende Verhalten mehrerer Beteiligter fokussiert werden („Tanz
um das Problem“) oder haben sich stabile dysfunktionale Fühl-Denk-Verhal-
tensmuster etabliert, die die Fokussierung der intrapsychischen Selbstorganisa-
tion erfordern? Welche Muster der Bedeutungsgebung, der Realitätskonstruktion
oder der Emotionsverarbeitung sind am leidvollen Erleben zentral beteiligt und
müssen daher gezielt adressiert werden, um die gewünschte Veränderung zu
erzielen (vgl. Wagner u. Russinger 2016, S. 111)? Müssen – speziell bei Kindern
und Jugendlichen – spezifische Entwicklungsleistungen gefördert werden oder
geht es um Bewältigung belastender Erfahrung? Welches therapeutische Vorge-
hen ist geeignet, diese Veränderungen zu fördern? Dabei ist zu berücksichtigen,
dass die für systemische Therapie zentrale Annahme des Fehlens starker Kausa-
lität hinsichtlich der Genese und Aufrechterhaltung biopsychosozialer Leidens-
zustände auch für deren Auflösung gilt (vgl. Grossmann in press). Psychosoziale
Prozesse, egal ob sie mit Problemen und Symptomen oder mit deren Auflösung
assoziiert sind, können immer unterschiedlich interpretiert werden. Eine ent-
sprechend erkenntniskritische Haltung verlangt von der systemischen Therapeu-
tin ein Bewusstsein dafür, dass es zu keinem Zeitpunkt eine „vollständig erfassbare
Wirklichkeit der Familie“ geben kann (vgl. Wirsching 2002, S. 164), dass klini-
sche Konzepte der Komplexitätsreduktion dienen und hilfreiches Intervenieren
ermöglichen sollen und daher nicht am Wahrheitskriterium, sondern an ihrer
Nützlichkeit gemessen werden müssen. Die „angemessen erkenntniskritische
Haltung“ definiert sich dadurch, dass wir unsere theoretischen Konzepte aber
auch unsere Interventionen unter dem Aspekt der „Realitätserzeugung“ reflek-
tieren (welches theoretische Konzept macht welche Phänomene und Zusam-
menhänge sichtbar?) und eher durch Multiperspektivität als durch Verzicht auf
klinische Konzepte, den Anspruch auf „bescheidene Expertenschaft“ realisieren
(vgl. Wagner u. Russinger 2016). Professionalität bedeutet, einen Zusammen-
hang zwischen dem Fallverständnis, dem therapeutischen Vorgehen und der
erwarteten Wirkung („therapeutische Absicht“) herstellen zu können. Hier
befinden wir uns in Übereinstimmung mit Tom Levold, der als Grundregel für
die Anwendung spezifischer Interventionen formuliert, „dass man jederzeit
ihre Funktion für den Therapieverlauf begründen können sollte ... Die supervi-
sorische Arbeit mit Anfängern zeigt, dass stattdessen oft Methoden gerade des-
halb eingesetzt werden, weil man keine Vorstellung vom eigenen therapeutischen
Vorgehen hat“ (Levold 2014, S. 222).
XI
Vorwort

Das vorliegende Buch ist ein „Lernbuch“, das systemische Therapeuten dabei
unterstützen soll, fachliches Wissen fallbezogen anzuwenden. Nicht die ein-
zelne Technik, deren Durchführung in der Literatur üblicherweise anhand von
Fallvignetten erläutert wird, sondern das „fachliche Denken“, der eben ausge-
führte Zusammenhang zwischen professionellem Fallverständnis und Wirkver-
ständnis, soll durch die exemplarische Darstellung ganzer Behandlungsverläufe
gefördert werden. Die Fälle unterscheiden sich h
­ insichtlich der therapeutischen
Vorgehensweise: In einem gemeinsamen Suchprozess zwischen den Herausge-
berinnen und den Autorinnen wurde versucht, eine Auswahl zu treffen, die eine
große Bandbreite therapeutischer Arbeitsweisen (in Abhängigkeit von den
jeweils unterschiedlichen Erfordernissen der Fälle) abbildet. Nach Einstim-
mung der Autorinnen/Therapeutinnen auf die „Absicht“ dieses Buches  – die
Darstellung von Fallverläufen zur Annäherung an die Frage „Wie wirkt systemi-
sche KiJu-Therapie?“– verfassten Letztere die Fallverlaufsdarstellungen. Die
Namen und anderen Details wurden in allen Fallbeispielen geändert, sodass
eine Identifizierung der Klientinnen und Klienten ausgeschlossen werden kann.

Die „Reflexion von Fall- und Wirkverständnis“ im Anschluss an die jeweilige


Fallverlaufsdarstellung wurde im Wesentlichen von E. Wagner und S. Binnen-
stein formuliert und mit den Autorinnen/Therapeutinnen abgestimmt, wes-
halb die Herausgeberinnen als Koautorinnen der einzelnen Kapitel erscheinen.

Aufgrund der ganz unterschiedlich dimensionierten Therapien (die kürzeste


dauerte sechs Sitzungen in drei Monaten, die längste über 100 Sitzungen in drei
Jahren) erfolgt diese Reflexion natürlich auf unterschiedlichen Abstraktionsni-
veaus. Während bei den kurzen Therapien jede einzelne Sitzung, evtl. sogar die
einzelnen Interventionen bezüglich Fall- und Wirkverständnis dargestellt wer-
den, muss bei den langen Therapien diese Reflexion ganze Phasen betreffen
und kann daher durch die notwendige Selektion der Information nie im selben
Ausmaß stringent sein. Die Herausgeberinnen sind dennoch der Überzeu-
gung, dass für eine umfassende Darstellung von Systemischer KiJu-Therapie
diese Fälle unverzichtbar sind, da sonst der Eindruck entstünde, dass systemi-
sches Arbeiten nur bei relativ unkomplizierten Fällen, die kurztherapeutisch zu
behandeln sind, indiziert ist.

zz Berufspolitischer Hintergrund
Zwischen Deutschland und Österreich bestehen große Unterschiede in den
gesetzlichen Regelungen, die die Ausführung von Psychotherapie betreffen.
Während in Österreich 23 Methoden als wissenschaftlich anerkannt gelten und
es bislang keine Sonderstellung der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
gab, sind in Deutschland nur vier bzw. fünf Methoden (Verhaltenstherapie,
Gesprächspsychotherapie, systemische Therapie sowie tiefenpsychologisch
fundierte Psychotherapie und analytische Psychotherapie als psychoanalytisch
begründete Verfahren) für die Psychotherapie mit Erwachsenen anerkannt.
Für die Kinder- und Jugendlichentherapie sind hingegen nur Verhaltensthera-
pie und systemische Therapie wissenschaftlich anerkannt. Auch der Zugang
XII
Vorwort

zur Psychotherapieausbildung ist in Deutschland viel enger: Nur Ärzte,


­Psychologen und Heilpraktiker sind zur Ausübung von Psychotherapie berech-
tigt. Seit 1999 gibt es in Deutschland darüber hinaus die gesetzlich geschützte
Berufsbezeichnung des Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten. Voraus-
setzung für diese Ausbildung ist ein abgeschlossenes Studium (Diplom bzw.
Master) im Studiengang Psychologie, Pädagogik oder Sozialpädagogik, in man-
chen Bundesländern auch Musiktherapie, Sozialarbeit, Heilpädagogik oder
Lehramt.

In Österreich gab es bislang zwar spezifische Weiterbildungsangebote für Kin-


der- und Jugendlichenpsychotherapie, diese waren aber nicht verpflichtende
Voraussetzung für die psychotherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendli-
chen. Daher war auch der Titel „Kinder-und Jugendlichenpsychotherapeut“ in
Österreich bislang nicht geschützt. Im Sinne der Qualitätssicherung wurde im
Dezember 2014 vom Psychotherapiebeirat eine „Richtlinie Kinder- und
Jugendpsychotherapie“ beschlossen, die vorsieht, dass es zukünftig österreich-
weit Listen für spezialisierte Kinder- und Jugendpsychotherapeuten geben
wird. Zugangskriterien für diese Listen sind nachzuweisende vertiefende Kom-
petenzen bzw. eine entsprechende einschlägige Fort- und Weiterbildung in
Kinder- und Jugendpsychotherapie. Diese muss in einer vom Bundesministe-
rium für Gesundheit genehmigten Weiterbildungsreinrichtung erfolgen und
400 Stunden Weiterbildung umfassen: 150 Stunden Theorie, 50 Stunden
Supervision und 200 Stunden Praxis. Diese Weiterbildung ist für eingetragene
Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten vorgesehen, die den Arbeits-
schwerpunkt Kinder- und Jugendliche wählen, wobei eine Anrechnung von 50
Prozent gleichzuhaltender Ausbildungsinhalte der Fachspezifika ab Status in
Ausbildung unter Supervision erfolgen kann. Allerdings: Auch diese Richtlinie
ist als Empfehlung zu verstehen, die Weiterbildungen erfolgen derzeit freiwillig
und sollen eine Vertiefung und Schwerpunktsetzung ermöglichen, denn die
Eintragung in die Psychotherapeuten-Liste berechtigt weiterhin generell zur
psychotherapeutischen Tätigkeit mit Kindern und Jugendlichen. Wie zu erwar-
ten, haben einschlägige Behandlungseinrichtungen allerdings schon begonnen,
diese Weiterbildungen als Voraussetzung für die Anstellung von Psychothera-
peuten zu definieren, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten sollen. Des
Weiteren ist damit zu rechnen, dass die Sozialversicherungsträger die Refun-
dierung von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie ebenfalls an den Nach-
weis dieser Weiterbildung binden, sodass in den nächsten Jahren mit einer
verstärkten Inanspruchnahme dieser Weiterbildungen zu rechnen ist.

Die Haltung der systemischen Ausbildungseinrichtungen zu dieser Richtlinie


war und ist kritisch: Als Familientherapeutinnen sind wir der Überzeugung,
dass das Familiensetting in den meisten Fällen geeignet ist, um problematisches
Erleben und Verhalten von Kindern und Jugendlichen zu behandeln. In diesem
Sinne wollen wir auch mittels der dargestellten Fallverläufe veranschaulichen,
dass systemische Familientherapie in vielen Fällen ein hilfreiches Therapieange-
bot für Kinder, Jugendliche und ihre Familien darstellt. Zusatzqualifizierungen
XIII
Vorwort

für systemische KiJu-Therapie sollten nicht dazu führen, dass wir die Kernkom-
petenz familientherapeutischen Arbeitens zugunsten einer automatisierten
Anwendung von Einzeltherapie mit Kindern und Jugendlichen vernachlässigen.
Dies nicht zuletzt deshalb, weil Familientherapie im Zusammenhang von Pro­
blemen, Symptomen und Störungen bei Kindern und Jugendlichen nachweis-
lich wirksam ist (vgl. Retzlaff et al. 2013, Sydow et al. 2013), was nicht von allen
Ansätzen, die im Kinder- und Jugendbereich beworben werden, mit derselben
empirischen Sicherheit belegt werden kann. Auch seitens der empirischen Psy-
chotherapieforschung spricht daher viel dafür, einzeltherapeutische Kompetenz
mit Kindern und Jugendlichen zu entwickeln, ohne familientherapeutische
Kernkompetenzen zu verlieren. Dazu soll dieses Buch einen Beitrag leisten.

Elisabeth Wagner und Sigrid Binnenstein


Baden und Wien im August 2017
XV

Inhaltsverzeichnis

1 Einführung��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  1
Sigrid Binnenstein und Elisabeth Wagner

1.1 
Settingfragen in der systemischen Therapie mit Kindern und
Jugendlichen�����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  2
1.2 Methoden und Ansätze in der systemischen Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapie���������������������������������������������������������������������������������������  4
1.2.1 Kreative lösungsorientierte und hypnosystemische Techniken��������������������������  5
1.2.2 Kindzentrierte Ansätze mit dem Schwerpunkt auf der Veränderung der
familiären Interaktion��������������������������������������������������������������������������������������������������������  6
1.2.3 Narrative systemische Spieltherapie����������������������������������������������������������������������������  8
1.2.4 Systemische Konzepte, die sich auf die Arbeit mit Eltern beziehen�������������������  9
Literatur���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  9

2 Jakob und die Wuthöhle���������������������������������������������������������������������������������������������  11


Claudia Bernt und Sigrid Binnenstein

2.1 Fallverlauf����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  12


2.1.1 Erstkontakt���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  12
2.1.2 Zweites Gespräch: Familienbrett mit Tieren��������������������������������������������������������������  14
2.1.3 Drittes Gespräch – mit den Eltern��������������������������������������������������������������������������������  16
2.1.4 Viertes Gespräch: Verstehen und Nicht-Verstehen dürfen�����������������������������������  17
2.1.5 Fünftes Gespräch: Die Wuthöhle����������������������������������������������������������������������������������  18
2.1.6 Sechstes Gespräch: Der Löwe und die Schildkröte�������������������������������������������������  19
2.1.7 Abschluss������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  20
2.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis�����������������������������������������������������������������  20
Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  21

3 Michelle: Es könnte zum Kotzen sein�������������������������������������������������������������������  23


Katharina Henz-Hölzl und Elisabeth Wagner

3.1 Fallverlauf����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  24


3.1.1 Das Vorgespräch mit der Mutter: Problembeschreibung,
Lösungsversuche und Zieldefinition���������������������������������������������������������������������������  24
3.1.2 Die erste Stunde: Über das Schlechtsein��������������������������������������������������������������������  26
3.1.3 Die zweite Stunde: Die Wurzeln des Übels(eins) – Hypothesen zur
Funktionalität des Symptoms����������������������������������������������������������������������������������������  27
3.1.4 Die dritte Stunde: Kunibert, das Symptom����������������������������������������������������������������  28
3.1.5 Die vierte Stunde: Das Symptom verabschieden����������������������������������������������������  30
3.1.6 Die fünfte Stunde: Das Familienbrett und die gute Zukunft�������������������������������  32
3.1.7 Die sechste Stunde: Alice im Wunderland�����������������������������������������������������������������  33
3.1.8 Was offen bleibt (und vielleicht auch nie aufgegriffen wird ...)���������������������������  35
3.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis�����������������������������������������������������������������  35
Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  36
XVI
Inhaltsverzeichnis

4 Lukas: Dir gehört mein Herz!������������������������������������������������������������������������������������  37


Sigrid Binnenstein und Elisabeth Wagner

4.1 Fallverlauf����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  38


4.1.1 Erstgespräch������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  38
4.1.2 Zweites Gespräch: Erarbeiten von einem gemeinsamen Verständnis der
Problemzusammenhänge�����������������������������������������������������������������������������������������������  41
4.1.3 Drittes Gespräch mit der KM������������������������������������������������������������������������������������������  42
4.1.4 Viertes Gespräch mit der KM������������������������������������������������������������������������������������������  44
4.1.5 Das erste Mutter-Sohn-Gespräch: Kennenlernen, Klärung der
Veränderungsmotivation und Externalisieren���������������������������������������������������������  45
4.1.6 Das zweite Mutter-Sohn-Gespräch: Schöne Erinnerungen���������������������������������  47
4.1.7 Das dritte Mutter-Sohn Gespräch: Das Lied��������������������������������������������������������������  48
4.1.8 Das vierte Mutter-Sohn-Gespräch: Das hat nichts mit dir zu tun!����������������������  49
4.1.9 Das fünfte Mutter-Sohn-Gespräch: Malen eines Herzens�������������������������������������  50
4.1.10 Das sechste Mutter-Sohn-Gespräch: Die ­Unzertrennlichen – ein
Beziehungsdenkmal���������������������������������������������������������������������������������������������������������  51
4.1.11 Abschlussgespräch������������������������������������������������������������������������������������������������������������  52
4.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis�����������������������������������������������������������������  52
Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  55

5 Catrin: Auf Messers Schneide�����������������������������������������������������������������������������������  57


Claudia Bernt und Elisabeth Wagner

5.1 Fallverlauf����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  58


5.1.1 Erstkontakt: Lebenskontext und Problembeschreibung��������������������������������������  58
5.1.2 Krisenintervention�������������������������������������������������������������������������������������������������������������  60
5.1.3 Therapievereinbarung, Kontraktverhandlung���������������������������������������������������������  61
5.1.4 Ressourcenarbeit, Kontextualisierung, Familienbrett��������������������������������������������  61
5.1.5 Arbeit mit dem Stimmungstagebuch�������������������������������������������������������������������������  63
5.1.6 Vierte bis achte Stunde: Skillstraining bei selbstschädigenden
Verhaltensweisen���������������������������������������������������������������������������������������������������������������  64
5.1.7 Abschluss������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  67
5.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis�����������������������������������������������������������������  68
Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  70

6 Hannah: Ein Krug voller Tränen�������������������������������������������������������������������������������  71


Nina Schebeczek und Elisabeth Wagner

6.1 Fallverlauf����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  72


6.1.1 Erstkontakt���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  72
6.1.2 Therapiebeginn mit Hannah������������������������������������������������������������������������������������������  74
6.1.3 Arbeit mit Gefühlen und Körperempfindungen������������������������������������������������������  75
6.1.4 Arbeit mit dem Familienbrett����������������������������������������������������������������������������������������  77
6.1.5 Gespräch mit Mutter und Hannah�������������������������������������������������������������������������������  78
6.1.6 Externalisieren der Trauer�����������������������������������������������������������������������������������������������  78
6.1.7 Externalisieren der Lebensfreude/des Glücks und Positiv-Tagebuch���������������  80
XVII
Inhaltsverzeichnis

6.1.8 Arbeit mit der Timeline����������������������������������������������������������������������������������������������������  81


6.1.9 Weiterer Verlauf������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  82
6.1.10 Therapieende����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  83
6.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis�����������������������������������������������������������������  84
Literatur��������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  86

7 Elli: Ihr Weg zu sich selbst�������������������������������������������������������������������������������������������  87


Christina Lenz und Elisabeth Wagner

7.1 Fallverlauf����������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  88


7.1.1 Erstes Gespräch: Zwei Eltern, ein Tagebuch, einige Befunde,
eine Therapeutin����������������������������������������������������������������������������������������������������������������  88
7.1.2 Therapieanbahnung mit Elli�������������������������������������������������������������������������������������������  89
7.1.3 Beginnt jetzt die Therapie?���������������������������������������������������������������������������������������������  91
7.1.4 Erstes Familiengespräch: Eine Mutter, ein Vater, eine Tochter,
zwei Therapeuten��������������������������������������������������������������������������������������������������������������  93
7.1.5 Turbulenzen�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  93
7.1.6 Ein Neubeginn?������������������������������������������������������������������������������������������������������������������  97
7.1.7 Klassenwechsel, Ausflug und Sommerferien������������������������������������������������������������  99
7.1.8 Schulbeginn, Geburtstag und Therapie-Jahrestag������������������������������������������������� 100
7.1.9 Das Ende zeichnet sich ab����������������������������������������������������������������������������������������������� 101
7.1.10 Rückfall? Vorfall?���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 101
7.1.11 Stabilisierung���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 102
7.1.12 Letztes Gespräch: Ein Tag vor Schulschluss, Elli, ich����������������������������������������������� 103
7.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis����������������������������������������������������������������� 104
Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 106

8 Tobias: Hilfreiche Zutaten für einen guten Familienkuchen��������������������� 107


Sigrid Binnenstein und Elisabeth Wagner
8.1 Fallverlauf���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 108
8.1.1 Telefonischer Erstkontakt������������������������������������������������������������������������������������������������ 108
8.1.2 Erstgespräch (zwei EH)����������������������������������������������������������������������������������������������������� 108
8.1.3 Die erste Spielsequenz: Tobias und Therapeutin, Eltern als
Beobachter (2. Termin)����������������������������������������������������������������������������������������������������� 111
8.1.4 Das erste Reflexionsgespräch mit den Eltern (3. Termin)�������������������������������������� 112
8.1.5 Das erste Familienspiel (4. Termin)������������������������������������������������������������������������������� 113
8.1.6 Das zweite Reflexionsgespräch (5. Termin)��������������������������������������������������������������� 114
8.1.7 Das zweite Familienspiel (6. Termin)���������������������������������������������������������������������������� 115
8.1.8 Das dritte Reflexionsgespräch (7. Termin)����������������������������������������������������������������� 116
8.1.9 Elterngespräch (8. Termin)���������������������������������������������������������������������������������������������� 116
8.1.10 Elterngespräch (9. Termin)���������������������������������������������������������������������������������������������� 117
8.1.11 Elterngespräch (10. Termin)�������������������������������������������������������������������������������������������� 118
8.1.12 Elterngespräch (11. Termin)�������������������������������������������������������������������������������������������� 118
8.1.13 Abschluss (12. Termin)������������������������������������������������������������������������������������������������������ 119
8.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis����������������������������������������������������������������� 119
Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 121
XVIII
Inhaltsverzeichnis

9 Frau Doktor Lilly�������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 123


Andrea Zach und Sigrid Binnenstein

9.1 Fallverlauf���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 124


9.1.1 Erstkontakte mit den Pflegeeltern������������������������������������������������������������������������������� 124
9.1.2 Die erste Therapiestunde mit Lilly und ihren Pflegeeltern����������������������������������� 126
9.1.3 Die erste Therapiestunde mit Lilly�������������������������������������������������������������������������������� 127
9.1.4 Die zweite Therapiestunde mit Lilly���������������������������������������������������������������������������� 127
9.1.5 Elterngespräch�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 129
9.1.6 Dritte und vierte Therapiestunde mit Lilly����������������������������������������������������������������� 129
9.1.7 Fünfte bis achte Therapiestunde mit Lilly������������������������������������������������������������������ 130
9.1.8 Therapiestunde neun und zehn������������������������������������������������������������������������������������ 131
9.1.9 Elterngespräch�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 131
9.1.10 Die elfte Therapiestunde und die Sommerferien���������������������������������������������������� 131
9.1.11 Therapiestunden nach der Sommerpause���������������������������������������������������������������� 132
9.1.12 Therapiestunden 14 bis 20��������������������������������������������������������������������������������������������� 133
9.1.13 Therapiestunden 21 bis 29��������������������������������������������������������������������������������������������� 134
9.1.14 Therapiestunden 30 bis 39��������������������������������������������������������������������������������������������� 134
9.1.15 Abschiedsstunde��������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 135
9.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis����������������������������������������������������������������� 135
Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 137

10 Bahira: Wer kontrolliert die Kontrolle?���������������������������������������������������������������� 139


Kornelia Kofler und Elisabeth Wagner

10.1 Fallverlauf���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 140


10.1.1 Erstgespräch������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������ 140
10.1.2 Die erste Therapiephase mit den Eltern bzw. der Kindesmutter
(2. bis 7. Sitzung)���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 141
10.1.3 Die erste Phase der Familientherapie (8. bis 20. Sitzung)������������������������������������� 145
10.1.4 Die erste Phase der Einzeltherapie mit Bahira: In Kontakt kommen und
begleitende Elternarbeit������������������������������������������������������������������������������������������������� 145
10.1.5 Die zweite Phase der Einzeltherapie mit Bahira (magisches Denken,
Externalisieren) und begleitende Elternarbeit��������������������������������������������������������� 148
10.1.6 Die dritte Phase der Einzeltherapie mit Bahira (Arbeit an den Gefühlen)
und begleitende Elternarbeit���������������������������������������������������������������������������������������� 150
10.1.7 Annäherungsphase, Zusammenführung zu Familiengesprächen
(51. bis 62. Sitzung)����������������������������������������������������������������������������������������������������������� 153
10.1.8 Hausbesuche (90. bis 101. Sitzung)����������������������������������������������������������������������������� 154
10.1.9 Therapieende (102. bis 115. Sitzung)�������������������������������������������������������������������������� 155
10.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis����������������������������������������������������������������� 156
Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 159
XIX
Inhaltsverzeichnis

11 Julia: Durch schwierige Zeiten��������������������������������������������������������������������������������� 161


Ursula Armster und Sigrid Binnenstein

11.1 Fallverlauf���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 162


11.1.1 Arbeitskontext und Vorinformationen������������������������������������������������������������������������ 162
11.1.2 Therapiestunden 1 bis 5: Phase des Kennenlernens���������������������������������������������� 163
11.1.3 Therapiestunden 6 bis 14������������������������������������������������������������������������������������������������ 166
11.1.4 Therapiestunden 15 bis 19: Die ersten Stunden nach der
Fremdunterbringung�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 172
11.1.5 Therapiestunden 20 bis 32��������������������������������������������������������������������������������������������� 174
11.1.6 Therapiestunden 33 bis 57��������������������������������������������������������������������������������������������� 176
11.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis����������������������������������������������������������������� 178
Literatur�������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 182

Serviceteil......................................................................................................................... 183
Stichwortverzeichnis�������������������������������������������������������������������������������������������������������� 185
Die Herausgeberinnen

Dr. Elisabeth Wagner
hat in Wien Medizin studiert und an der Universitätsklinik für Psychiatrie in Wien ihre
Facharztausbildung absolviert. Seit 2006 ist sie Lehrtherapeutin für Systemische Famili-
entherapie, seit 2008 leitet sie auch systemische Lehrgänge für Psychotherapeutische
Medizin, die vor allem von Fachärzten für Psychiatrie und Psychotherapeutische Medi-
zin sowie von Fachärzten für Kinder- Jugendpsychiatrie absolviert werden. Als Ausbil-
dungsleiterin war es ihr immer wichtig, ein systemisches Therapieverständnis zu
vermitteln, das im klinischen Kontext der (Kinder- und Jugend-)Psychiatrie anwendbar
ist. Statt radikalkonstruktivistischer Ablehnung von Expertenschaft fordert sie „beschei-
dene Expertenschaft“, die auf einer angemessen erkenntniskritischen Haltung basiert
und ermutigt gleichzeitig zu einem reflektierten Einsatz von theoretischen Konzepten,
die ein Verständnis intrapsychischer Prozesse erlauben (vgl. Wagner E, Russinger U
[2016] Emotionsbasierte systemische Therapie. Intrapsychische Prozesse verstehen und
behandeln, Klett-Cotta, Stuttgart). Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt liegt in der
Auseinandersetzung mit Persönlichkeitsstörungen aus systemischer Perspektive (vgl.
Wagner E, Henz K, Kilian H [2016] Persönlichkeitsstörungen, Carl Auer, Heidelberg). In
diesen Publikationen wie auch in der Seminar- und Vortragstätigkeit ist es ihr ein
besonderes Anliegen, systemische Therapeuten dabei zu unterstützen, ihr therapeuti-
sches Handelns auf der Basis eines professionellen Fall- und Wirkverständnisses zu
begründen.

Mag. Sigrid Binnenstein
ist Klinische Psychologin, Gesundheitspsychologin und Systemische Psychotherapeu-
tin, Weiterbildung in hypnosystemischen Konzepten für Kinder und Jugendliche. Seit
Beginn ihrer beruflichen Tätigkeit arbeitet sie mit Kindern, Jugendlichen und deren
Bezugspersonen in unterschiedlichen Kontexten (Frauenhaus, Beratungsstelle, freizeit-
pädagogische Projekte). Derzeit tätig in freier Praxis und in der Aus- und Weiterbildung
an der Lehranstalt für Systemische Familientherapie in Wien. Besonderes Interesse gilt
der Verbindung von spieltherapeutischen Ansätzen und systemischer Psychotherapie.
1 1

Einführung
Sigrid Binnenstein und Elisabeth Wagner

1.1  ettingfragen in der systemischen Therapie mit


S
Kindern und Jugendlichen – 2

1.2  ethoden und Ansätze in der systemischen


M
Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie – 4
1.2.1  reative lösungsorientierte und hypnosystemische
K
Techniken – 5
1.2.2 Kindzentrierte Ansätze mit dem Schwerpunkt auf der
Veränderung der familiären Interaktion – 6
1.2.3 Narrative systemische Spieltherapie – 8
1.2.4 Systemische Konzepte, die sich auf die Arbeit mit
Eltern beziehen – 9

Literatur – 9

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


E. Wagner, S. Binnenstein (Hrsg.), Wie systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
wirkt, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55547-7_1
2 S. Binnenstein und E. Wagner

Im Einführungskapitel wird zunächst die Bedeutung reflektierter und individualisierter


1 Settingentscheidungen dargelegt. Danach werden die verschiedenen Ansätze systemi-
scher Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie vorgestellt. Neben den kreativ lösungs­
orientierten und hypnosystemischen Methoden, die man als kindgerechte Modifikationen
des typisch systemischen kurztherapeutischen Vorgehens verstehen kann, wird ein Über-
blick über kindzentrierte Ansätze mit dem Schwerpunkt auf der Veränderung der familiä-
ren Interaktion und über systemische Konzepte, die sich auf die Arbeit mit Eltern
beziehen, gegeben. Als einzig systemischer Ansatz, der primär das freie Spiel im Thera-
pieprozess nutzt, wird die narrative systemische Spieltherapie nach Wiltrud Brächter
genauer vorgestellt.

1.1  ettingfragen in der systemischen Therapie mit Kindern


S
und Jugendlichen

„Traditionell wurden Familien als Entstehungsort von Pathologie (miss)verstanden. Die


vermeintlich prägende Wirkung der Familie auf die Entwicklung von Kindern ist jedoch
keine hinreichende Erklärung für das Auftreten von psychischen Störungen. Zwar las­
sen sich Problemmuster beschreiben, die Familien anfälliger für das Auftreten von psy­
chischen Störungen machen. Es gibt jedoch keinen linearen Zusammenhang zwischen
familiären Beziehungsmustern und spezifischen Störungen“ (Retzlaff 2008, S. 20). Die
Priorisierung des Familiensettings verweist daher nicht auf eine Kausalitätsannahme:
Man muss nicht glauben, dass interaktionelle Probleme in der Familie kausal verant­
wortlich sind für die Probleme/Symptome eines Kindes/Jugendlichen, um die Arbeit im
Familiensetting für sinnvoll zu halten. Häufig leiden die Eltern am meisten unter dem
Problem/Symptom des Kindes (z.B. Bettnässen, Schulverweigerung) und haben daher
die höchste Veränderungsmotivation, sie sind daher eine Ressource für den Verände­
rungsprozess. In einem kybernetischen Verständnis von Problemen, geht man darüber
hinaus davon aus, dass Probleme/Symptome nicht als Folge von eindeutig identifizier­
baren „Ursachen“ entstehen, sondern als Resultat vielfältiger zirkulärer Prozesse in bio­
logischen, psychischen und sozialen Systemen. Im Laufe der Zeit können sich so stabile
psychosoziale Muster ergeben, die die Freiheitsgrade der Beteiligten massiv einschrän­
ken und zur Aufrechterhaltung der Störung beitragen, ohne dass das Resultat dieser
Wechselwirkungen auf eine bestimmte, eindeutig zuzuordnenbare Ursache zurückzu­
führen ist (vgl. Wagner u. Russinger 2016). In diesem Verständnis muss ein vom Kind
präsentiertes Symptom nicht durch eine Störung in der familiären Interaktion „erklärt“
werden, die interaktionellen Muster müssen nicht für die Ursache des kindlichen Symp­
toms gehalten werden, sie können ebenso als Folge des Problems klassifiziert werden
(„Wechselwirkungswirklichkeit“). Dennoch kann es sinnvoll sein, an familiären Inter­
aktionsmustern, an der familiären Bedeutungskonstruktion oder den familiären Bezie­
hungen anzusetzen, um die Entwicklung neuer Erlebens- und Verhaltensmuster zu
fördern. „Hin- und hergerissen zwischen ungeduldigen Ansprüchen, Mitleid und nar­
zisstischen Kränkungen müssen sich die Mitglieder einer Familie mit der Störung ihres
Kindes auseinandersetzen. Dabei können wir ihnen helfen“ (Mrochen 2001, S. 104).
Durch Metaanalysen von Therapieverläufen, die sich mit Problemstellungen von
­Kindern und Jugendlichen befassen (Schmitt u. Weckenmann 2009a) wird bestätigt,
Einführung
3 1
dass der systematische Einbezug der Familie die Effizienz und Effektivität von Kin­
dertherapien aller Therapiemethoden erheblich steigert. Die Studienautoren fordern
daher ein „multisystemisches“ Vorgehen:
»» Wir sind überzeugt, dass es aus der Sicht von Qualitätssicherung indiziert und
dringend an der Zeit ist, über alle Richtungen hinweg eine good multy-systemic
practise im klinischen Alltag von Therapie mit Kindern zu etablieren, die Gegensätze
und Konflikte zwischen individuumzentrierten und kontext- und systemorientierten
Modellen überwindet. Leitideen könnten sein: (i) Es gibt eine wechselseitige
komplexe Beeinflussung zwischen äußerem und innerem Leben: Was in einem
Individuum vorgeht, verhält sich zu dem und ist bezogen auf das, was zwischen
Menschen passiert; was zwischen Menschen ist, bewegt das individuelle Innere.
(ii) Die allermeisten klinisch relevanten Veränderungen bei Kindern haben sowohl
innerpsychische als auch zwischenmenschliche Bedingungen, Folgen und
Lösungen. (iii) Für TherapeutInnen heißt das, zu überlegen, welche Zentrierung ihrer
Interventionen am meisten und nachhaltigsten zur Lösung beiträgt: auf Individuen
wie Kind, Vater oder Mutter, auf Teilsysteme wie Eltern, Familie, Geschwister, Lehrer,
auf ganze Systeme und die interfaces ihrer Teile, auf mehrere oder auf alle
gleichzeitig. ... Im Rahmen einer good systemic practise sollten das Setting und seine
Gestaltung als lang wirkende Interventionen gesehen und genutzt werden (Schmitt
u. Weckenmann 2009a, S. 86).

In die Settingentscheidung fließen daher immer verschiedenste Überlegungen ein.


Wenn etwa das Fallverständnis nahelegt, dass sich Veränderungen elterlichen Verhal­
tens oder elterlicher Einstellungen günstig auf das Problemverhalten oder das proble­
matische Erleben von Kindern und Jugendlichen auswirken könnten, sollte jedenfalls
versucht werden, Eltern zu dieser Veränderungsarbeit einzuladen. Unter welchen Vor­
aussetzungen Eltern zu dieser Arbeit bereit sind, hängt unter anderem davon ab, ob es
gelingt, dass die elterlichen Schuldgefühle, die rund um das Problemverhalten entstan­
den sind, durch die Settingentscheidung nicht noch weiter verstärkt werden. Werden
Kinder/Jugendliche in den Therapieprozess einbezogen und wird mit ihnen an der
Symptombewältigung gearbeitet, bedeutet dies in vielen Fällen eine Entlastung für die
Eltern, die in der Folge ihre Bereitschaft, nach ihrem Beitrag für Lösungen zu suchen,
erhöht. Um allerdings zu verhindern, dass ein „Reparaturauftrag“ des Kindes übernom­
men wird, ist eine Einschätzung über die Motivation zur Mitarbeit der Eltern/Bezugs­
personen empfehlenswert, bevor ein Kind / eine Jugendliche in den Therapieprozess
miteinbezogen wird (Schmitt u. Weckenmann 2009) Ein Beispiel dafür wird im Fall
Lukas dargestellt. Manchmal ist eine Phase der Beziehungsstärkung notwendig, bevor
auf der Elternebene an weiteren Veränderungen gearbeitet werden kann. Wie im Fall
Tobias gezeigt, gelingt durch das Einbeziehen des Kindes eine Beruhigung der Sorgen
der Eltern in Bezug auf die Beziehungsqualität zu ihrem Sohn und ermöglicht damit
eine gute Kooperation mit den Eltern für weitere Gespräche auf der Elternebene. Wenn
sowohl auf der Elternebene, als auch beim Kind und darüberhinaus auf interaktioneller
Ebene Veränderungen angestoßen werden sollen, empfiehlt sich eine Kombination von
familientherapeutischen Sitzungen, elterntherapeutischen Gesprächen und einzelthera­
peutischen Sitzungen mit dem Kind/Jugendlichen (vgl. Fall Jakob und Bahira), um das
Veränderungspotenzial optimal zu nützen. Dabei werden zum einen inhaltliche Foki
4 S. Binnenstein und E. Wagner

berücksichtigt, andererseits aber auch die Phasen des Therapieprozesses und des
1 ­Beziehungsaufbaues. Während Kinder häufig die Anwesenheit der Eltern oder einer
elterlichen Bezugsperson benötigen, um die initiale Ängstlichkeit abzubauen und
implizit Erlaubnis zu erhalten, über Probleme in der Familie zu sprechen, ist die Arbeit
im Familiensetting bei Jugendlichen, die gerade um ihre Abgrenzung kämpfen, häufig
schwierig. Fallweise verhindern stabile Konfliktmuster eine konstruktive Bearbeitung
von relevanten Themen (vgl. Fall Elli), fallweise ist es der explizite Wunsch des/der
Jugendlichen, den therapeutischen Raum nur für sich selbst zu nützen (vgl. Fall Hannah
und Fall Catrin). In manchen Fällen sind Eltern – die aus Sicht der Therapeutin für eine
Lösungsentwicklung notwendig wären – nicht bereit, sich am Therapieprozess aktiv zu
beteiligen und es gelingt trotz vieler Bemühungen nicht, sie zu einer tragfähigen Koope­
ration einzuladen. Obwohl sie durchaus Interesse an einer Veränderung der Symptoma­
tik haben und hohe Erwartungen an das psychotherapeutische Angebot bzw. die
Therapeutin haben. Das sind sehr herausfordernde Fälle, da sie Therapeutinnen vor die
nur im Einzelfall zu entscheidende Frage stellen, ob es in diesen Fällen sinnvoll/vertret­
bar ist, mit dem Kind / dem Jugendlichen zu arbeiten. Abzuwägen ist, ob durch das
therapeutische Angebot eine Verbesserung eines kindlichen Leidenszustandes erreicht
werden kann oder die Therapie eher zur Stabilisierung eines dysfunktionalen Systems
beiträgt. Je älter die Kinder, desto mehr Spielraum haben sie für ihre Entwicklung, auch
wenn Eltern(teile) nicht zu einer Mitarbeit motiviert werden können. Manchmal sind
die Eltern auch schlicht nicht verfügbar, diese Tatsache betrifft vor allem fremdunterge­
brachte Kinder und Jugendliche oder vermehrt auch unbegleitete minderjährige Flücht­
lingskinder. In diesen Fällen kann die Therapie ein wichtiges stabilisierendes Angebot
für Kinder in einer schwierigen Lebenssituation sein, wie im Fall Julia gezeigt wird.
„Kindern angesichts emotional belastender Lebensumstände emotional beizustehen,
sehe ich als Kernstück der protektiven Rolle, die ein außenstehender Erwachsener in
der Therapie übernehmen kann“ (Brächter, S. 45). Und nicht für alle Themen braucht es
alle Familienmitglieder: Es gibt therapeutische Ziele, die im Einzelsetting mit dem
Kind/Jugendlichen besser realisierbar sind und Themen, die besser auf Elternebene
besprochen werden sollten. Wie im Fall Lilly beschrieben, wird mit den Pflegeeltern
erarbeitet, auf welche Art sie Lilly unterstützen können, um Lilly nach vielen Lebensver­
änderungen und traumatischen Erfahrungen zu stabilisieren: Aspekte der Alltagsgestal­
tung, ein passenderes Verständnis ihrer Leistungsfähigkeit als Schutz vor Überforderung,
Formen der Kommunikation mit anderen Eltern im Schulkontext u.a. Für bestimmte
Aspekte der Traumabearbeitung ist das Einzelsetting aber der passendere Rahmen: für
das Entwickeln neuer innerer Bilder, für korrigierende Erfahrungen, für das Ordnen
und Verstehen der eigenen Geschichte im Spiel u.a.

1.2  ethoden und Ansätze in der systemischen Kinder- und


M
Jugendlichenpsychotherapie

Einige allgemeine Merkmale systemischen Arbeitens kommen den Bedürfnissen von


Kindern und Jugendlichen entgegen: Ressourcenorientierung statt Defizitorientierung
fördert die Kontaktaufnahme, den Beziehungsaufbau und den Glauben an die Möglich­
keit von Veränderung. Auch Zukunfts- und Zielorientierung und die Anwendung
Einführung
5 1
visualisierender Verfahren entsprechen dem kindlichen Denken, Skalierungsfragen
werden schon im Volksschulalter (in Deutschland: Grundschulalter) meist sehr präzise
beantwortet, während zirkuläre Fragen speziell bei Kindern häufig überfordernd wir­
ken. Je nach Alter des Kindes sind daher bestimmte Modifikationen des therapeuti­
schen Vorgehens nötig. Im Allgemeinen kann davon ausgegangen werden, dass die
Standardtechniken lösungsorientierter Therapie ca. ab dem 12. bis 14. Lebensjahr ange­
wandt werden können (vgl. Burr 1993), vorher müssen vermehrt nicht-sprachliche
Medien, visualisierende Verfahren und spielerische Elemente eingesetzt werden. Um
diesem Anspruch gerecht zu werden, hat sich ein breites Spektrum an unterschiedli­
chen Ansätzen und Methoden in der systemischen Kinder- und Jugendlichentherapie
entwickelt. Ähnlich wie in Bezug auf das Setting liegt es auch hier in der Verantwortung
der Therapeutin, ein individuell passendes Vorgehen zu wählen. Ohne Anspruch auf
Vollständigkeit sollen hier die wichtigsten Ansätze in aller Kürze dargestellt werden.
Umfassende Übersichten finden sich beispielsweise im Handbuch systemische Kinder-
und Jugendlichenpsychotherapie (Hanswille 2015) oder in Spielräume. Lehrbuch der
systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen (Retzlaff 2008).

1.2.1  reative lösungsorientierte und hypnosystemische


K
Techniken

Um speziell Kinder besser zu erreichen und für gezielte Veränderungsprozesse zu moti­


vieren, wurde eine Reihe an kreativen lösungsorientierten und hypnosystemischen
Methoden entwickelt. In den entsprechenden Publikationen finden sich unzählige Anre­
gungen auch für die einzeltherapeutische Arbeit mit Kindern, beispielsweise in: „Kinder­
leichte Lösungen. Lösungsorientierte kreative Kindertherapie“ (Vogt-Hillmann u. Burr
1993) oder: „Lösungen im Jugendstil. Systemisch-lösungsorientierte kreative Kinder-
und Jugendlichentherapie“ (Vogt-Hilmann u. Burr 2002). Die hypnosystemische Arbeit
mit Kindern wird unter anderem in den Standardwerken „Die Pupille des Bettnässers.
Hypnotherapeutische Arbeit mit Kindern und Jugendlichen“ (Mrochen et al. 1993) und
„Neugierig aufs Großwerden. Praxis der Hypnotherapie mit Kindern und Jugendlichen“
(Holtz et al. 2000) dargestellt. Auch im vorliegenden Buch kommen kreativ-lösungsori­
entierte und hypnosystemische Interventionen in vielen Fallverlaufsdarstellungen vor:
Dabei geht es in den meisten Fällen darum, die Anforderung an sprachliche Ausdrucks­
fähigkeit durch das Angebot kreativen Gestaltens, durch Visualisierungen, durch Hand­
lungsorientierung oder spielerische Elemente zu reduzieren. Im Fall Hannah werden
Gefühlskarten angeboten, um das Benennen von Gefühlen zu erleichtern, es wird eine
Zeichnung angefertigt, um Wahrnehmung und Ausdruck von Gefühlen zu fördern. Im
Fall Jakob wird eine „Wuthöhle“ gebaut, im Fall Lilly und Fall Julia ein „sicherer Ort“, was
als altersgerechte Abwandlung der Imagination eines „inneren sicheren Ortes“ in einer
geleiteten Trance zu verstehen ist. Auch die klassische Arbeit mit dem Familienbrett kann
durch den Einsatz von Tierfiguren abgewandelt werden (vgl. Fall Jakob), wodurch sich
auf den ersten Blick der Informationsgehalt ändert. Allerdings sollte der „diagnostische“
Gehalt dieser Symbolisierungen nicht überschätzt werden. Häufig ist die Wahl für ein
bestimmtes Tier eher situationsabhängig oder auch von „nicht-psychologischen“ Fakto­
ren bestimmt („mein kleiner Bruder ist der Löwe, weil er hat einen Löwen als Schmuse­
6 S. Binnenstein und E. Wagner

tier“) und sollte daher nicht „still interpretiert“ werden. Der wesentliche Vorteil des
1 Familienbrettes mit Tieren ist damit nicht der „diagnostische Gehalt“ („er erlebt seinen
Bruder als bedrohlich“), sondern die Erleichterung des Sprechens über nahe Beziehun­
gen. Wie auch bei der Arbeit mit dem klassischen Familienbrett, gehen explorierende
und veränderungsorientierte Fragen ineinander über: Aus der Darstellung des momen­
tan Erlebten, welches auch der Information der Therapeutin dient, wird durch die Frage
„Wie wäre es denn besser?“ die Annäherung an ein „Lösungsbild“ erreicht. Während bei
der Arbeit mit dem klassischen Familienbrett die Lösung nur durch eine Positionsverän­
derung der Figuren dargestellt werden kann, lädt die Arbeit mit Tieren am Familienbrett
häufig auch zu anderen Änderungen ein. Es kann das gewählte Symbol verändert wer­
den, ein Helfer hinzugefügt werden oder mit der Frage „Was bräuchte denn der Hase, um
sich in seiner Familie wohler zu fühlen?“ der Wechsel auf die Ebene konkreten Verhal­
tens vollzogen werden. Die Einführung eines symbolisierenden Elementes erleichtert
ganz allgemein die kindliche Ausdruckfähigkeit: Immer wieder können kleine Gegen­
stände wie Fingerpuppen, Plastikfiguren, aber auch Steine, Muscheln, Seile gesprächsbe­
gleitend dafür genützt werden, das Gesagte zu veranschaulichen und dann gemeinsam zu
betrachten. Es können aber auch einzelne Gesprächssequenzen quasi „stellvertretend“
über Handpuppen erfolgen. Vor allem im Vorschulalter, oft aber bis zum 8. oder 9.
Lebensjahr ist diese Art der Kommunikation oft passend, um gut in Kontakt zu kommen.
Ein Beispiel dafür findet sich im Fall Julia, wo die Therapeutin für die Erstkontakte mit
einem stationär aufgenommenen vierjährigen Kind die Handpuppe Rudi Ratte nützt.

1.2.2  indzentrierte Ansätze mit dem Schwerpunkt auf der


K
Veränderung der familiären Interaktion

Um zu verhindern, dass familientherapeutische Sitzungen durch eine hauptsächliche


Orientierung an Sprache von den Eltern dominiert werden, wurden eine Reihe von
Ansätzen entwickelt, um vor allem jüngere Kinder besser einbeziehen zu können.
Gemeinsam ist diesen Ansätzen, dass durch das (spielerische) Geschehen im Therapie­
raum Veränderungen der familiären Interaktion angeregt werden, um ein unterstüt­
zendes Miteinander zu etablieren. So begründet Pleyer (2005, S. 129 ff.) die von ihm
entwickelte systemische Spieltherapie folgendermaßen: „Um Kindern gerecht zu wer­
den, brauchen wir eine deutliche Handlungsorientierung. Um Eltern gerecht zu wer­
den, brauchen wir eine Unterstützung und aktive Förderung ihrer Handlungskompetenz.
Systemische Spieltherapie versucht über den Weg gemeinsamen Spielens bei Eltern und
Kind gleichermaßen eine Haltung der Kooperation zu entwickeln Kooperation konkret
einzuüben, in Kooperation Problemlösungsmuster zu entwickeln und im Prozess des
Kooperierens eine neue Eltern-Kind-Beziehung zu gestalten“. Systemische Spielthera­
pie soll parentale Selbstwirksamkeit stärken. Eine ähnliche Zielsetzung verfolgt auch
die Familienspielpsychotherapie (Schimpl 2010). Gammer (2009) beschreibt viele
Ideen für kindzentrierte Familiensitzungen und betont die Wichtigkeit des gemeinsa­
men Spiels der ganzen Familie in der Therapie, wobei sie vor allem die bindungs­
stärkende Wirkung des gemeinsamen Spiels betont. Eine der von ihr publizierten
Interventionen ist die Dramatisierung, bei der familiäre Interaktionssequenzen in der
Therapiestunde in Szene gesetzt werden (vgl. Fall Lukas). Mrochen (2001) arbeitet mit
Einführung
7 1
Kindern in einem „Innenkreis“, während sich im „Außenkreis“, zunächst als Zuschauer,
die Familienangehörigen befinden, die jedoch, dem Prozess entsprechend, auch in das
therapeutische Geschehen einbezogen werden. Dieses Setting soll dabei helfen, Einstel­
lungen und Haltungen der Familienmitglieder untereinander zu verändern, um „mehr
Hoffnung auf Besserung und Energie zur Umsetzung im System zu etablieren“ (S. 104).
Marte Meo, von Maria Aarts ursprünglich aus der Arbeit mit autistischen Kindern ent­
wickelt, ist ein videogestütztes Verfahren, in dem gemeinsame Spielsituationen zwi­
schen Eltern und Kind als Grundlage für die Gespräche mit den Eltern verwendet
werden, um Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen und die Elternkompetenz zu stär­
ken. Dieser Ansatz wird heute bei einem breiten Spektrum unterschiedlicher kindlicher
Probleme angewandt (vgl. Retzlaff 2009) Ähnliches gilt für die kinderorientierte Fami­
lientherapie (KOF), auf die wir an dieser Stelle etwas näher eingehen wollen, da sie im
Fall Tobias dargestellt wird. KOF ist von dem norwegischen Psychologen Martin Solt­
vedt entwickelt und von Bernd Reiners (2013) im deutschen Sprachraum verbreitet
worden. Sie basiert auf theoretischen Grundlagen der Entwicklungspsychologie, der
systemischen Therapie und der Verhaltenstherapie und ist besonders für Familien mit
Kindern von 4–10 Jahren geeignet. Nach einem oder mehreren Vorgesprächen mit den
Eltern wird das Kind zu einem Spiel – meist im Sandkasten – mit der Therapeutin ein­
geladen. Die Eltern sind während dieser ersten Spielsequenz in einer beobachtenden
Position. Für die anschließende Reflexion mit den Eltern wird die Spielsequenz gefilmt.
Wenn das Zusammenspiel in dieser Sequenz gelingt, wird als nächster Schritt ein Fami­
lienspiel vereinbart. Darauf folgt wieder ein Reflexionsgespräch mit den Eltern. Spielse­
quenzen und Reflexionsgespräche folgen aufeinander, solange dies als sinnvoll erachtet
wird. Im Unterschied zu anderen Methoden, die auf die Veränderung der familiären
Interaktion abzielen, nimmt die Therapeutin aktiv als Mitspielerin an den Spielsequen­
zen teil. Dadurch kann die Therapeutin ihre eigene Spielerfahrung als Referenz nutzen,
sie kann aktiv steuernd ins Spiel eingreifen und in ihrer Kontaktgestaltung mit dem
Kind ein Modell für die Eltern bieten. Die Videoaufnahme der Spielsequenzen wird mit
den Eltern betrachtet und analysiert, dabei wirkt auch die Kraft des Bildes. Vieles muss
nicht von der Therapeutin problematisiert werden, weil es beim gemeinsamen Betrach­
ten des Videos den Eltern selbst auffällt. Da im Spiel sowohl Aspekte des Innenlebens
des Kindes als auch der Beziehungsmuster der Familie sichtbar werden, kann mit den
Eltern entweder mehr der eine oder der andere Aspekt – beziehungsweise auch deren
Wechselwirkungen – fokussiert werden. In Bezug auf das kindliche Verhalten kann mit
den Eltern nach passenderen Bedeutungsgebungen gesucht oder eine ressourcenorien­
tierte Perspektive eingebracht werden. Bei der Reflexion der Beziehungsmuster kann
überlegt werden, welche Formen der Kontaktgestaltung hilfreich sind oder welche Art
von Unterstützung das Kind braucht. Für das jeweils nächste Spiel können mit den
Eltern konkrete Veränderungsideen überlegt werden. Der spielerische Rahmen erleich­
tert zumeist das Ausprobieren neuer Verhaltensweisen. Das Ziel ist es, förderliche
Interaktionsstrategien zu entwickeln und eine Verbindung zum Alltagsleben der Fami­
lie herzustellen. Ein bedeutender Wirkfaktor von KOF ist die beziehungs- und bin­
dungsfördernde Wirkung des gemeinsamen Spiels, wenn es gelingt, dass es für alle
Beteiligten in einer guten Atmosphäre stattfindet. KOF kann eine passende Methode
für einen gesamten Therapieverlauf sein, kann aber auch mit anderen Settings kombi­
niert werden (vgl. Fall Tobias).
8 S. Binnenstein und E. Wagner

1.2.3 Narrative systemische Spieltherapie


1
Der einzige systemisch begründete Ansatz, der die Nutzung des freien Spiels im Therapie­
prozess konzeptualisiert, ist die narrative systemische Spieltherapie (Brächter 2010). Bei
dieser Form der Spieltherapie überlässt die Therapeutin dem Kind die Führung des Spielver­
laufs und schließt sich diesem Spiel an. Beispiele für spieltherapeutische Prozesse sind im
Fall Lilli und Julia dargestellt. Während lösungsorientierte und interventionszentrierte
Ansätze häufig die Definition eines Problems, für das eine Lösung gesucht werden soll, vor­
aussetzen, geht man in der narrativen Spieltherapie davon aus, dass Kinder die Themen, die
sie beschäftigen und beeinflussen, im Spielverlauf zeigen werden. Dadurch stellt dieser The­
rapieansatz eine deutliche Erweiterung einer „nur auf Symptombehandlung orientierten
Psychotherapie“ (vgl. Rotthaus 2010, S. 10) dar. „Narrative Therapie (White) versucht, Pro­
blemgeschichten aufzulösen, die den Handlungsspielraum von Menschen einschränken
können. Spieltherapie überträgt dieses Vorgehen auf die Ebene des Spiels“ (Brächter 2015,
S. 484). Narrative Spieltherapie ist in der Regel keine Kurztherapie: „Manche Entwicklungs­
schritte brauchen Zeit, Lösungen stellen sich längst nicht immer kinderleicht oder spiele­
risch wie durch ein Wunder ein, Kinder benötigen angemessenen Rückhalt, auch bei der
Lösung von Problemen. Beharrlichkeit und die Bereitschaft, Ziele mit viel Ausdauer zu ver­
folgen, sind wichtige Qualitäten der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen“
(Retzlaff, 2008, S. 29). Brächter verweist auch auf den Wert der therapeutischen Beziehung,
deren Qualität nachgewiesenermaßen ein bedeutsamer Wirkfaktor für den Therapieerfolg
darstellt. Für systemische Spieltherapie formuliert Brächter folgende Prämissen, bei denen
auch die Unterschiede zu anderen spieltherapeutischen Ansätzen deutlich werden.
»» Sie verwendet keine Deutungen, sondern orientiert sich an den theoretischen
Konzepten des Konstruktivismus und der therapeutischen Position des
‚Nicht-Wissens‘.
»» Sie verzichtet auf Konzepte zur Verhaltenssteuerung, da sie von der Nicht-­Instru-
ierbarkeit menschlicher Systeme ausgeht und anderen ethischen Werten folgt.
»» Sie beschränkt sich nicht auf ein Zurückspiegeln der Aktivitäten des Kindes, sondern
gestaltet den Kontakt aktiv als dialogischen Prozess.
»» Sie setzt nicht auf ein gefühlsintensivierendes ‚Durcharbeiten‘ von Problemen,
sondern legt den Fokus auf eine Anregung neuer Sichtweisen und Perspektivener-
weiterung.
»» Sie verortet Spieltherapie nicht in einem nach außen abgeschlossenen Einzelsetting,
sondern versteht sie als Teil der Arbeit mit der Familie (Brächter 2010, S. 23 f.).

Um sich im Spiel des Kindes zu orientieren, greift Brächter die Unterscheidung von
Grossmann (2003 S. 61) in „Erzählungen der Progression“ und „Überlebenserzählun­
gen“ auf, die ein unterschiedliches therapeutisches Vorgehen erfordern. Erstere „han­
deln von Problemen, die überwunden und Fortschritten, die erzielt werden können“.
Zweitere „thematisieren den Umgang mit schwierigen Lebenssituationen“ (Brächter
2015, S. 484). Bei Erzählungen der Progression sucht die Therapeutin im Spiel
gemeinsam mit dem Kind nach „Öffnungen“: Sie stellt Fragen danach, wie die
Geschichte weitergehen könnte, und impliziert damit, dass Schwierigkeiten überwun­
den werden können. Indem sie den Spielprozess kommentierend begleitet, kann sie
neue Ideen als Angebote einbringen. Handlungsalternativen werden so vorstellbar und
können ­zunehmend in das Verhaltensrepertoire des Kindes aufgenommen werden
Einführung
9 1
(Brächter 2010, S. 133). Werden auf der Spielebene Veränderungen vorgenommen, wir­
ken sie zurück auf das Selbstbild: Im spielerischen Dialog entstehen Erzählungen, durch
die das Kind sich und sein Leben auf neue Art betrachten kann; aus veränderten Selbst­
konzepten ergeben sich erweiterte Handlungsoptionen (ebd., S. 28 f.). Brächter warnt
davor, das Spiel nur reflektierend nachzuvollziehen, ohne Ideen zu einer Perspektive­
nerweiterung einzustreuen, da dies Kinder in alten Denkbahnen festhalte (ebd., S. 31).
Setzen Kinder allerdings „Überlebenserzählungen“ in Szene, ist es wichtig, nicht zu
schnell einen Lösungsvorschlag einzubringen. „Gibt ein Kind Einblick in seinen Alltag
mit einem suchtabhängigen oder psychisch kranken Elternteil, ginge ein schneller
Lösungsvorschlag auf der Spielebene an seiner Realität vorbei. Therapeutisch ist hier
zunächst ein emotionaler Beistand im Mitaushalten des Gespielten gefordert. „Ein
‚Re-telling‘ bzw. ‚Re-playing‘ schwieriger Lebensgeschichten kann es anschließend
ermöglichen, die Vergangenheit neu zu erzählen und Resilienzfaktoren sichtbar werden
zu lassen“ (Brächter 2015, S. 485). Ein Beispiel dafür finden wir im Fall Julia: Julia spielt
in unterschiedlichen Variationen „gerettet werden“ nach. Brächter weist darauf hin,
dass Irritation, Angst und Unsicherheit angesichts nicht nachvollziehbarer Handlungen
von Elternteilen für Kinder innerfamiliär meist nicht kommunizierbar sind. Solche
Gefühle mit einer außenstehenden Person teilen zu können gilt in der Resilienzfor­
schung jedoch als wichtiger protektiver Faktor (Brächter 2010, S. 205).

1.2.4  ystemische Konzepte, die sich auf die Arbeit mit Eltern
S
beziehen

Als hilfreiche Ansätze für die Arbeit mit Eltern, die sich angesichts der Schwierigkeiten
ihrer Kinder ohnmächtig erleben, haben sich in den letzten Jahren das Konzept der
parentalen Hilflosigkeit (Pleyer 2003, 2004) und das der neuen Autorität (Omer u. v.
Schlippe, 2016, 2017) im systemischen Feld etabliert. Beide Konzepte erweitern das Ver­
ständnis rund um familiäre Problemdynamiken, helfen zu verstehen, wie sich die elterli­
che Ohnmacht entwickelt hat und bieten Ideen, wie elterliche Selbstwirksamkeit gestärkt
und eine verantwortungsvolle konstruktive Beziehung zu den Kindern gefördert werden
kann. Ein wichtiger Punkt ist hier häufig die Unterbrechung der Geheimhaltung – die
Eltern werden konsequent ermutigt, weitere soziale Unterstützung in Anspruch zu neh­
men. Bereichernd sind diese Konzepte sowohl für ausschließliche Elterntherapie (etwa,
wenn sich Jugendliche weigern, an der Therapie teilzunehmen) oder für Elterngesprä­
che, die begleitend zu Einzelsitzungen des Kindes – und/oder Familiensitzungen statt­
finden. Wenn Therapeutinnen mit diesen Konzepten vertraut sind, unterstützt dies eine
optimistische, respektvolle, ermutigende und engagierte Haltung gegenüber den Eltern.
In den dargestellten Fallgeschichten wird auf diese Konzepte direkt im Fall Bahira und
eher indirekt im Fall Lukas und im Fall Tobias Bezug genommen.

Literatur
Brächter W (2010) Geschichten im Sand. Grundlagen und Praxis einer narrativen systemischen Spielthe-
rapie. Carl Auer, Heidelberg
Brächter W (2015) Sandspiel und Spieltherapie. In: Hanswille R (Hrsg) Handbuch systemische Kinder-­
und Jugendlichenpsychotherapie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen, S 483–491
10 S. Binnenstein und E. Wagner

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11 2

Jakob und die Wuthöhle


Unterstützung der Trauerverarbeitung bei einem
elfjährigen Jungen in einem variablen Setting

Claudia Bernt und Sigrid Binnenstein

2.1 Fallverlauf – 12
2.1.1 E rstkontakt – 12
2.1.2 Zweites Gespräch: Familienbrett mit Tieren – 14
2.1.3 Drittes Gespräch – mit den Eltern – 16
2.1.4 Viertes Gespräch: Verstehen und Nicht-Verstehen
dürfen – 17
2.1.5 Fünftes Gespräch: Die Wuthöhle – 18
2.1.6 Sechstes Gespräch: Der Löwe und die
Schildkröte – 19
2.1.7 Abschluss – 20

2.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis – 20

Literatur – 21

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


E. Wagner, S. Binnenstein (Hrsg.), Wie systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
wirkt, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55547-7_2
12 C. Bernt und S. Binnenstein

Der elfjährige Jakob kommt zwei Tage nach dem Suizid seines Halbbruders mit seiner
Mutter in Therapie. In den folgenden Sitzungen begleitet die Therapeutin die Familie
durch die Krise, indem sie in variablem Setting (zunächst Mutter-Sohn, dann Einzelsitzun-
2 gen mit dem Sohn, Familiensitzung und Elternarbeit) die Trauerverarbeitung unterstützt.
Während in den Einzelsitzungen mit Jakob vor allem sein Umgang mit der Wut bearbeitet
wird, wird das Mehrpersonensetting dafür genützt, den Eltern dabei zu helfen, für Jakob
ein förderliches Umfeld zu bieten. Dies beinhaltet neben den typischen familienthera-
peutischen Interventionen auch Informationen über die Unterschiede zwischen erwach-
senen und kindlichen Trauerreaktionen. Es wird gezeigt, wie das fallweise Einnehmen
einer haltgebenden Expertenposition in einer ressourcen- und lösungsorientierten
Kurztherapie zur Stabilisierung des Elternsystems beitragen kann.

2.1 Fallverlauf

Jakobs Mutter vereinbart in meiner psychotherapeutischen Praxis am Rande von Wien


einen Termin. Aufgelöst und mit den Tränen kämpfend berichtet sie, dass sich ihr
Stiefsohn zwei Tage zuvor das Leben genommen habe. Die ganze Familie stehe unter
Schock – besondere Sorgen aber mache sie sich um ihren jüngsten Sohn Jakob, der vor
zwei Monaten elf Jahre alt geworden ist. Mit ihm möchte sie gerne zu mir zu einem
ersten Gespräch kommen.

2.1.1 Erstkontakt

Frau K. kommt gemeinsam mit ihrem Sohn Jakob zum Erstgespräch. Sie sind ein paar
Minuten zu spät, da der Nachmittagsverkehr dicht war. Frau K. wirkt dadurch leicht
gestresst und entschuldigt sich mehrmals. Jakob fällt es schwer, Blickkontakt herzustel-
len. Er versteckt sich fast hinter dem Körper seiner Mutter, als ich ihm im Wartebereich
die Hand reiche. Nur einen kurzen scheuen Blick wirft er mir zu. Ich bitte die beiden in
meinen Therapieraum und fordere sie auf, sich einen guten Platz zu suchen, während
ich Gläser und Wasser für uns hole. Als ich zurück in den Raum komme, sitzt Jakob
dicht gedrängt an seine Mutter und hält ihre Hand. Beide wirken auf mich traurig und
verunsichert. Tiefe Augenringe sind in beiden Gesichtern zu erkennen. Wie sich später
herausstellt, waren die letzten Nächte kurz und von Schlaflosigkeit dominiert. Da Jakob
auch auf meine ersten Fragen sehr wortkarg antwortet und dabei immer wieder starr
auf seine Mutter oder auf meinen weißen Couchtisch blickt, wende ich mich vorerst
mehr an seine Mutter, um mit ihr das Gespräch zu beginnen. Jakob lebt gemeinsam
mit seinen Eltern, die seit zwölf Jahren ein Paar sind, in einem Einfamilienhaus im 13.
Wiener Gemeindebezirk. Er wird von seinen drei Halbgeschwistern als der „kleine
Nachzügler“ bezeichnet. Aus der ersten Ehe seiner Mutter stammt sein 22-jähriger
Halbbruder Thomas, der im Familienunternehmen seines verstorbenen Vaters mitar-
beitet. Aus der ersten Ehe seines Vaters stammt seine 24-jährige Halbschwester Alessa,
die seit einigen Wochen in Heidelberg ein Auslandssemester absolviert und der
27-­jährige Halbbruder Tino, der bei einem großen Elektrofachhandel als Verkäufer
arbeitete. Die großen Halbgeschwister haben bis vor ein paar Jahren gemeinsam mit
Jakob und die Wuthöhle
13 2
Jakob und seinen Eltern in einem Haus gewohnt. Seit zwei Jahren leben sie „nur“ mehr
zu dritt. Daniele, Jakobs Vater, stammt aus Italien so wie auch seine erste Frau. Gemein-
sam mit ihr kam er vor 30 Jahren nach Österreich. Alessa und Tino wurden bereits in
Kärnten geboren und sind zweisprachig aufgewachsen. Nach der Scheidung lebten sie
kurze Zeit mit ihrer Mutter in einem Ort in der Nähe von Venedig, gemeinsam im Haus
mit den mütterlichen Großeltern, zu denen bis zum heutigen Tag ein sehr inniger Kon-
takt besteht. Nachdem Martina (die Mutter der beiden und Ex-Frau von Jakobs Vater)
schwer erkrankt sei, mussten sie zum Vater ziehen. Schon vor der Scheidung habe Mar-
tina phasenweise an einer schweren Depression gelitten, als dann auch psychotische
Symptome dazukamen, konnte sie sich nicht mehr ausreichend um die Teenager küm-
mern. Kurz vor Jakobs Geburt übersiedelten Alessa und Tino von Italien nach Wien, wo
ihr Vater gemeinsam mit der mittlerweile hochschwangeren Tamara und ihrem Sohn
Thomas lebte. Die Mutter von Alessa und Tino sei mittlerweile in einem sehr schlechten
gesundheitlichen Zustand. Sie erkenne teilweise ihre Eltern und auch Kinder nicht
mehr, sodass es in den letzten Jahren keinerlei Kontakt mehr mit ihr gab. Jakob besucht
die zweite Klasse eines Wiener Gymnasiums. Er fühlt sich sehr wohl in der Gemein-
schaft und ist ein guter Schüler. Sein Vater leitet eine Abteilung mit über 30 Mitarbeitern
in einem internationalen Konzern und arbeitet sehr viel. Seine Mutter ist Kinder­
gärtnerin und arbeitet Teilzeit, um sich am Nachmittag um Jakob zu kümmern. Während
die Mutter über die einzelnen Familienmitglieder und deren Verbindung erzählt,
zeichne ich auf einem Blatt das Genogramm auf. Ich erkläre den beiden, dass für Frauen
und Mädchen Kreise und für Männer und Jungen Vierecke verwendet werden. Jakob
beugt sich neugierig weiter nach vorne. Ich frage ihn, ob er mir helfen möchte. Er nickt
schüchtern. Gemeinsam beschriften wir die Kreise und Vierecke mit den Namen und
dem Alter der verschiedenen Familienmitglieder. Das macht er sehr genau und selbst-
sicher. Es ist ihm wichtig, dass alle eine unterschiedliche Farbe bekommen und die
Namen gerade und gut leserlich aufgeschrieben werden. Wir rechnen gemeinsam auf-
grund der Geburtsjahre, wie alt die Personen sind, und Jakob ist stolz, dass er schneller
rechnen kann als ich. Das gemeinsame Arbeiten am Genogramm lässt seine Schüch-
ternheit schwinden und er kann mehr und mehr mit mir in Kontakt kommen, Fragen
selber beantworten und auch Blickkontakt mit mir halten.
Als wir zu seinem Bruder Tino kommen und sein Alter eintragen, hält er inne und
schlüpft zurück in die enge Sitzhaltung dicht bei seiner Mutter. Mir war es wichtig, mir
zuerst ein Bild von der Familiensituation zu verschaffen und mit Jakob und seiner Mut-
ter über eher „neutrale“ Themen in Kontakt zu kommen. Deshalb habe ich die Geno-
grammarbeit so gelenkt, dass wir erst gegen Ende zu Tino kommen, dessen Suizid auch
der Anlass war, weshalb Frau K. therapeutische Unterstützung in Anspruch nahm. Die
Mutter schluckt und ringt um Fassung. Sie legt den Arm um Jakob, als sie erzählt, dass
Tino sich vor sieben Tagen das Leben genommen hat. Er sei mit einem Auto gegen
einen Brückenpfeiler gerast. In der Wohnung habe die Polizei einen Abschiedsbrief
gefunden. Niemand könne sich erklären, warum er das getan habe. Diese Frage des
„Warum?“ quält die Familie. Besonders ihr Mann leide sehr und mache sich große Vor-
würfe. In dieser Mischung aus Trauer, Hilflosigkeit und vielen offenen Fragen mache sie
sich große Sorgen um Jakob. Sie wendet sich zu ihm und spricht ihn direkt an: „Ich
möchte, dass wir uns hier Zeit nehmen, um das, was uns bewegt, auszusprechen.
­Vielleicht lernen wir zu verstehen, was da gerade mit uns allen passiert und weshalb
14 C. Bernt und S. Binnenstein

Tino nicht mehr leben wollte.“ Jakob starrt auf das Genogramm, dann zieht er die Beine
an und verschränkt sie mit den Händen. Ein Zeichen der Abwehr? Sein Gesicht verfins-
tert sich. „Ich verstehe nicht, wie er das nur tun konnte,“ sagt er vorwurfsvoll. „Er hatte
2 mir versprochen, dass wir am Samstag gemeinsam zum Fußball gehen.“ Jakob verspürt
Wut, wenn er an den Bruder denkt. Er erzählt mir, dass der große Bruder „immer“ mit
dem Papa unterwegs war zum Radfahren, Surfen, Fußballspielen. Oft habe er sich aus-
geschlossen gefühlt. Jakob beschreibt, dass er seit dem Tod des Bruders viel Wut spüre,
manchmal auch Traurigkeit  – aber mehr deswegen, weil seine Eltern so weinen und
seine große Schwester nun extra aus Heidelberg zurückkommen müsse, wo sie doch
gerade erst nach den Ferien hingeflogen sei. An manchen Tagen vergesse er aber auch
fast, was passiert sei, dann könne er auch ausgelassen lachen und Spaß haben. Die Mut-
ter meint, dass Jakob die Wut zu Hause nicht explizit zeige und in den letzten zwei
Nächten von Albträumen geplagt wurde. Einerseits glaubt sie, dass es gut wäre, wenn er
seine Gefühle rund um das tragische Ereignis ausleben könne. Andererseits habe sie
Angst, dass ihr Mann damit nicht umgehen könne. Zu sehr sei ihr Mann mit seinem
eigenen Trauerprozess beschäftigt. Sie wünsche sich aber einen Platz wo Jakob gut
begleitet wird, sodass er möglichst „unbeschadet“ dieses schwere Schicksal verkraften
kann – eine Begleitung in dieser Krisenphase und eine Unterstützung im Trauerprozess.
Während sie spricht, kuschelt sich Jakob wieder an sie und meint, er würde gerne wie-
derkommen, aber nur mit der Mama gemeinsam. Auf Nachfrage, ob er sich auch den
Papa dabei wünsche, verneint er und meint dann, vielleicht später mal. „Jetzt kommen
mal Mama und ich!“ Ich erkläre ihm, dass es sein könnte, dass ich auch einmal mit sei-
nem Papa und der Mama ein Gespräch führen würde, sollte ich das Gefühl haben, es
wäre für mich wichtig. Darüber würde ich ihn informieren. Zum Abschluss spreche ich
noch ganz allgemein über das Verarbeiten von Verlusten. Dies ist bei Kindern und
Erwachsenen ein sehr individueller Prozess, wobei Kinder meist anders als Erwachsene
trauern. Ich verwende an dieser Stelle folgende Metapher: Die Trauer von Erwachsenen
wird oft mit dem Waten durch einen Fluss verglichen, dessen Ufer nicht zu sehen ist.
Kinder stolpern in Pfützen der Trauer hinein und springen wieder weiter. Manchmal ist
die Pfütze groß und tief, dann wieder klein und flach. Kinder können in einem Moment
furchtbar traurig sein und im nächsten wieder ganz fröhlich, so als hätte man einen
Schalter betätigt. Längere Trauerzustände sind untypisch, wären vielleicht eine zu große
Bedrohung (vgl. Fleck-Bohaumilitzky 2003), Kinder sollten von Erwachsenen nicht zur
Auseinandersetzung mit Trauer und Tod gedrängt werden, da sie sich schützen, wenn
sie etwas nicht verarbeiten können oder wollen. Eine adäquate Unterstützung des Kin-
des besteht in liebevoller Zuwendung und dem Schaffen von Situationen, in denen das
Kind über die verstorbene Person sprechen und dabei seine Gefühle ausdrücken kann.

2.1.2 Zweites Gespräch: Familienbrett mit Tieren

In der Folgewoche kommt Jakob wieder mit seiner Mutter. Diesmal erlebe ich ihn von
Beginn an als offener und weniger auf seine Mutter fokussiert. Er sucht zwar ab und zu
noch Schutz, indem er sich körperlich sehr nahe bei ihr aufhält, kann aber mehr und
mehr mit mir im Kontakt sein und seine Mutter als Zuhörerin im Raum belassen. Ich
habe das Familienbrett vorbereitet und biete ihm an, dass wir seine Familie mithilfe von
Jakob und die Wuthöhle
15 2
Tieren darstellen, dazu verwende ich eine kleine Auswahl an Plastiktieren. Jakob ist
sofort bei der Sache und kramt im roten Plastikkoffer, in dem die Tiere liegen, um wel-
che für die Familienmitglieder auszusuchen. Ich möchte gerne mehr über die von ihm
erlebten Beziehungen zu den einzelnen Personen erfahren. Aufgrund des Erstgesprächs
hatte ich den Eindruck, dass er den verstorbenen Bruder als Konkurrenten wahrgenom-
men hat. Seit seinem Tod könnte er ein Spannungsfeld zwischen Wut, Trauer und
Erleichterung erleben. Jakob wählt folgende Tiere aus: eine Schildkröte für sich selber –
denn das ist sein Lieblingstier, einen Löwen für seinen Bruder Tino, ein Pferd für seinen
Bruder Thomas, ein kleines Schaf für seine Schwester, einen Adler für seine Mutter und
einen Tiger für seinen Vater. Er stellt die beiden Raubkatzen Schulter an Schulter
zusammen und meint, die waren immer gemeinsam. Der Adler und die Schildkröte
stehen den beiden gegenüber, während das Schaf und das Pferd an den Ecken weiter
weg platziert werden. „Der Adler (Mutter) mag den Löwen (Tino) eigentlich gar nicht
so gerne“, meint er als erstes, als ich ihn nach den Beziehungen der Tiere untereinander
frage. „Die hatten einen Riesenstreit und seither sind wir zwei gegen zwei“, fügt er hinzu.
Er starrt auf die Tiere während mein Blick zur Mutter wandert, die ansetzt, um etwas zu
sagen. Ich deute ihr mit einer Handbewegung, dass sie noch kurz warten soll. Sie hält
sich daran. Jakob bewegt die Tiere auf dem Feld, sodass sich Adler (Mutter) und Schild-
kröte (Jakob) ein Küsschen geben. „Die sind ein Herz und eine Seele“, kommentiert er
dazu. „Und was sagt der Tiger (Vater) dazu?“ frage ich. Dem wäre das eigentlich nicht
so recht, der hätte den Adler (Mutter) lieber an seiner Seite, aber da stehe ja der Löwe
(Tino). Ich frage nach den anderen beiden Tieren, die bisher unkommentiert geblieben
sind. Das Lamm (Alessa) nehme er als „seltsam“ war. Einerseits sei es manchmal flau-
schig und lieb und dann wieder so in sich gekehrt. Das mache immer sein eigenes Ding
und würde sich nicht in die Herde integrieren wollen. Und das Pferd (Thomas)? Das
möge er eigentlich sehr. Das ist ein sehr kraftvolles und schönes Tier, meinte er. Aber es
wäre auch traurig, dass es da draußen stehe. So alleine und verlassen. Es komme manch-
mal nahe und dann würde es wieder weggehen, weil es keinen Platz mehr habe – er
erklärt mir, dass Thomas Zimmer seit einem Jahr nun Papas neues Büro im Haus sei. Er
kramt in der Kiste und holt einen Hund heraus. Das Pferd (Thomas) habe nun eine
Freundin, „Sanja“. Dem gehe es nun besser, weil es nicht mehr so alleine ist. Dann
nimmt er den Löwen (Tino) und stellt ihn vom Brett hinunter. Eigentlich ist der Löwe
nicht mehr da. „Und was macht das mit der Schildkröte (Jakob)?“, frage ich. Die findet
es gut, sagt er bitter. „Das war so eine ‚Scheißidee‘ von ihm, mit dem Auto gegen den
Pfeiler zu fahren“, platzt es aus ihm heraus und: „Jetzt ist er nicht mehr da und trotzdem
dreht sich alles nur um ihn.“ „Die Schildkröte (Jakob) ist richtig sauer auf den Löwen
(Tino)“, sage ich mitfühlend und frage dann: „Was sagen denn die anderen Tiere zu der
Riesenwut?“ „Die verstehen mich nicht“, antwortet Jakob und beginnt zu weinen. „Die
weinen alle nur und jetzt weine ich auch. Die sehen mich gar nicht,“ meint er unter
Tränen. „Wer sieht dich nicht?“, versuche ich zu konkretisieren. „Der Tiger (Vater) sieht
mich nicht und das Lamm (Alessa) auch nicht. Und das Pferd (Thomas) hat auch eine
neue Freundin“. Jakob berührt die Tiere am Brett während er unter Tränen spricht.
Jakob beschreibt einen Mehrfachverlust. Er hat nicht nur seinen großen Bruder ver-
loren, sondern in seinen Augen auch seinen Vater und die anderen Geschwister. Oft sind
Eltern, wenn sie ein Kind verlieren, so sehr mit der eigenen Trauer beschäftigt, dass sie
dem lebenden Kind nicht mehr genug Aufmerksamkeit geben können. Das lebende
16 C. Bernt und S. Binnenstein

Kind verliert also nicht nur ein Geschwister, sondern auch einen Teil der elterlichen
Zuwendung. Bleiben mehrere Kinder in einer Familie am Leben, so ist nicht einfach
davon auszugehen, dass diese sich gegenseitig ausreichend stärken und unterstützen
2 können. Oft trauert jedes Kind für sich allein. Jakob und seine (Halb-)Geschwister trennt
noch dazu ein sehr großer Altersunterschied. Hinzu kommt, dass in den verschiedenen
Altersstufen der Ausdruck der Trauer und die Bedürfnisse im Trauerprozess sehr ver-
schieden und oft nicht kompatibel sind (vgl. http://www.diakonie.de/media/kinder-trau-
ern_2010.pdf).
„Und der Adler (Mutter)?“ frage ich nach, da ich vermute, dass seine Mutter ihm in
dieser schweren Zeit ein stabiler, zuverlässiger Halt sein kann. Er blickt zu seiner Mut-
ter. „Der Adler (Mutter) ist immer an meiner Seite. Die Mama sieht mich schon, aber
die möchte nicht, dass ich die Wut zu Hause zeige“, sagt Jakob nun leise, aber dennoch
deutlich.
Seine Mutter zeigt sich sehr berührt von seiner Ehrlichkeit. Sie rutscht zu ihm und
streichelt vorsichtig seine Wange. Sie spricht aus, dass es ihr schwer falle, mit der aktuel-
len Situation umzugehen. Auf der einen Seite sehe sie Jakobs Gefühle von Trauer aber
auch Wut und auf der anderen Seite habe sie das Gefühl, ihren Mann schützen zu wol-
len. Sie hat Sorge, dass der Vater Jakobs Wut nicht verstehen könne. Dass er dadurch
womöglich noch mehr verletzt werde. Der Verlust sei ohnehin schon kaum zu ertragen
für ihn. Ich erkläre, dass ich ihre Sorge gut verstehen könne, da gibt es zwei wichtige
Menschen in ihrem Leben, die ein und denselben Verlust im Moment ganz unterschied-
lich verarbeiten. Da gibt es kein richtig oder falsch, sondern nur ein individuell passend.
Was würde ihr denn dabei helfen, dass sowohl ihr Mann als auch Jakob ihre Gefühle
zeigen können, ohne dass sie die Idee habe, sie müsse den Mann vor dem Sohn schützen
und den Sohn vor dem Mann? Frau K. wünscht sich ein gemeinsames Gespräch mit
Vater und Sohn. Vielleicht auch hier in der Therapie. Jakob willigt ein. Gemeinsam über-
legen wir noch, wie Jakob mit der Wut umgehen kann, wie er sie aus sich rausbringt.
Zunächst fällt ihm nichts ein, dann meint er, wild im Trampolin springen könne helfen.
Das würde er das nächste Mal, wenn es ihn so überkommt, ausprobieren.Da wir in den
nächsten Wochen keinen Termin finden, zu dem alle drei kommen können, findet ein
paar Tage später kein Familiengespräch, sondern ein Elterngespräch statt. Dieses Setting
ist allerdings passend, da Jakob bereits formulieren konnte, was für ihn wichtig ist und
es nun Aufgabe der Eltern ist, zu überlegen, wie sie mit den Bedürfnissen von Jakob
umgehen können.

2.1.3 Drittes Gespräch – mit den Eltern

Im Elterngespräch thematisieren wir die unterschiedlichen Aspekte von Trauer, auch


Jakobs wütenden Anteil auf den verstorbenen Bruder und die Angst der Mutter, dies könne
ihren Mann/Jakobs Vater noch mehr verletzen. Dieser nimmt ihr die Angst. Er könne
Jakobs Wut verstehen, auch er fühle neben all dem Schmerz und den tiefen Schuldgefühlen
manchmal auch ein wenig Wut auf Tino, weshalb er diesen Weg gewählt habe – den Weg
in den Tod. Ich ermutige den Vater, sein Verständnis für die Wut auch gegenüber Jakob
auszusprechen. Er will versuchen, dies zu tun. Die Mutter zeigt ­Erleichterung und spricht
Jakob und die Wuthöhle
17 2
dadurch ermutigt auch an, dass sie das Gefühl habe, Jakob würde gerne mehr Kontakt mit
dem Vater haben. Gemeinsam überlegen wir, wie dies in den nächsten Wochen aussehen
könne und welche gemeinsamen Aktivitäten für Vater und Sohn vorstellbar wären.

2.1.4 Viertes Gespräch: Verstehen und Nicht-Verstehen dürfen


In der Folgewoche kommt Jakob wieder mit seiner Mutter zur Therapie. Zunächst spre-
chen wir zu dritt über das Elterngespräch und ich frage nach, was Jakob über unser
Gespräch erfahren hat. Zuerst Jakob: „Was hast du gehört?“ Dann Frau K.: „Gibt es noch
was, was sie mit Jakob besprochen haben?“ Jakob erzählt, dass er mit seinem Vater Fuß-
ballspielen war und dass dieser ihm gesagt habe, dass alle seine Gefühle, die er im
Moment empfindet, „okay“ sind. Er fühle sich noch immer hin- und hergerissen zwi-
schen tiefer Traurigkeit und großer Wut. Die Mutter erzählt, dass Jakob viel im Tram-
polin im Garten springt  – sie sieht dies als eine Möglichkeit seine Anspannung
abzubauen. Dann zieht sie einen Brief aus der Tasche. Es ist der Abschiedsbrief von
Tino. Sie kenne ihn bereits und Jakob wolle ihn auch lesen. Sie habe ihm versprochen,
dass sie ihn heute in der Therapiestunde vorliest. Der Brief umfasst zwei Seiten und ist
mit wilder Schrift verfasst. Er ist an den gemeinsamen Vater von Tino und Jakob gerich-
tet. Es geht darin um die schwierige Kindheit, die Tino erlebt hat. Den Verlust der Mut-
ter, die durch ihre Krankheit eine starke Veränderung der Persönlichkeit „durchwandert“
hat und den Schmerz über den Verlust ihrer liebenden, fürsorglichen Seite. Dann appel-
liert er sehr allgemein und wirr an die Menschen, die Kinder in die Welt setzen und
endet mit einem Abschied und einer Bitte um Verzeihung, dass er so nicht weiterleben
könne. Jakob sitzt ganz ruhig während die Mutter vorliest. Er bewegt sich nicht und
atmet kaum. Als sie zu Ende gelesen hat, blickt er mich fragend an. „Das verstehe ich
nicht. Wieso will man deshalb nicht mehr leben? Wir hatten es doch trotz allem schön.“
Er schüttelt den Kopf. Ich frage die Mutter, ob sie mit der Botschaft etwas anfangen
kann. Sie erzählt aus der Vergangenheit, dass Tino sehr darunter gelitten hatte, dass sich
seine Eltern getrennt hatten, dass er zuerst nach Italien umziehen und dann wieder
nach Österreich zurückkehren musste. Sie habe sich gemeinsam mit ihrem Mann sehr
um die beiden großen Kinder bemüht, aber es sei nicht einfach gewesen, die verschreck-
ten Teenager gut aufzufangen, nachdem deren leibliche Mutter so schwer krank und
verwirrt war. Jakob selber war ein Säugling gewesen. Sie habe ihr Bestes getan, aber
immer das Gefühl gehabt, es hätte nicht gereicht. Tino hat immer wieder unter depres-
siven Einbrüchen gelitten. Ein paar Monate zuvor hatte seine Freundin ihn verlassen.
Sie glaube, dass erneut Verlusterinnerungen hochgekommen sind. Aber sie könne auch
nicht nachvollziehen, wieso er sich das Leben genommen habe. Es gab keinerlei Anzei-
chen in die Richtung. Diese Frage beschäftige die ganze Familie. Alle wollten Tinos
Entscheidung gegen das Weiterleben verstehen. Aber sie stoßen hier an ihre Grenzen.
Jakob rutscht, während die Mutter erzählt, wieder ganz dicht an ihre Seite. Zunächst
hört er aufmerksam zu, dann zieht er ihre Strickjacke zur Seite, sodass er sich ebenfalls
damit einwickeln kann. Irritiert blickt sie ihn an. Er zieht die Beine auf das Sofa und
versucht auf diese Weise, ganz unter dem Kleidungsstück zu verschwinden. Es ist ihr
sichtlich unangenehm, und sie versucht, ihn vorsichtig aber dennoch bestimmt wieder
18 C. Bernt und S. Binnenstein

auszuwickeln. Er reißt zornig die Jacke zurück um sich. Während ich Jakobs Versuch,
sich eine Schutzzone zu bauen, beobachte, äußere ich nachdenklich, dass ich einerseits
den Wunsch des Verstehens nachvollziehen kann. Andererseits habe ich das Gefühl,
2 dass es keine befriedigende Antwort auf die Frage nach dem „Warum?“ geben kann.
Nur Tino könne es wahrscheinlich ausreichend beantworten, aber er kann nicht mehr
Rede und Antwort stehen. Und ich füge hinzu, dass wir manchmal bestimmte Gedan-
ken und Handlungen einfach nicht verstehen können. Vielleicht sogar aus Selbstschutz,
denn wenn wir dies könnten, würden wir uns eventuell nicht mehr ausreichend von
ebendiesen Gedanken und Handlungen entfernen können. Vielleicht könnten wir es
erst verstehen, wenn auch wir uns in einer solch schwierigen Situationen wie Tino
befinden, wo wir überlegen uns das Leben zu nehmen. „Das will ich aber nicht,“ sagt
Jakob bestimmt, der die Herrschaft über das Stück mütterliche Jacke gewonnen hat. Ich
kommentiere den Kampf um die Jacke augenzwinkernd mit: „Gut, dass die Jacke so
elastisch ist, es scheint mir, du suchst unter dem Stoff ein wenig Schutz und Sicherheit.“

2.1.5 Fünftes Gespräch: Die Wuthöhle

In der nächsten Stunde eine Woche später entscheidet sich Jakob, ohne Mutter zu mir in
den Therapieraum zu kommen. Er hat mittlerweile genug Vertrauen gewonnen, bittet sie
aber im Warteraum Platz zu nehmen. Jakob erzählt, dass er eine Schildkröte bekommt.
Er ist deshalb sehr aufgeregt und baut zurzeit mit seinem Vater an einem passenden
Gehege. Wir plaudern ein wenig über Schildkröten und wie diese zu versorgen sind.
Welche Aufgaben er zu übernehmen hat, wenn er ein Haustier bekommt. Er erzählt, was
er gemeinsam mit seinem Vater unternommen hat und dass die Familie am Wochenende
einen Ausflug an den Neusiedlersee gemacht habe und er die ganze Zeit das Elektroboot
lenken durfte. Dann frage ich ihn, wie es ihm mit der Wut geht. Sie würde weniger wer-
den, aber dennoch manchmal sehr intensiv über ihn herfallen. Auch wenn der Vater
gesagt hat, dass er kein Problem damit hat, möchte Jakob ihm nicht zeigen, wie es ihm
dann geht. Während Jakob spricht, zieht er seinen Kapuzenpulli über seine Knie und
zieht auch den Kopf ein, sodass er kaum mehr zu sehen ist. „Du bist ja auch wie eine
Schildkröte“, versuche ich ihn liebevoll zu necken, „jetzt hast du dich auch ganz in deinen
Panzer zurückgezogen.“ Jakob steckt den Kopf wieder heraus und grinst mich frech an.
Ich frage ihn, ob er zu Hause einen Platz hat, an dem er sich so zurückziehen kann, wenn
er wütend oder traurig ist? Er schüttelt den Kopf. Ich erzähle ihm, dass ich als Kind gerne
kleine „Häuser“ oder „Höhlen“ gebaut habe, um mich darin zu verstecken, wenn ich die
Welt um mich herum vergessen wolle. Er blickt mich ungläubig an. Doch als ich ihn
frage, ob er Lust hätte, eine Wuthöhle (. Abb. 2.1) mit mir im Therapieraum zu bauen,

schlupft er sofort aus seinem Kapuzenpulli-Zelt heraus und ist dabei. Ich hole zwei große
Decken aus meiner Kommode und Jakob schiebt schon meine großen Ohrensessel durch
die Gegend. Er baut mit sehr viel Geschick und Fantasie eine tolle Höhle und schlüpft
begeistert hinein. „So eine Wuthöhle brauche ich auch zu Hause,“ meint er, als er drinnen
sitzt und durch einen Schlitz schaut, wo ich bleibe. „Magst du auch reinkommen?“ fragt
er dann. Ich äußere meine Bedenken, dass ich beim Einstieg wohl sein Werk zerstören
würde. Das sieht er auch so. „Dann hol doch die Mama, damit sie es sehen kann. Sie soll
mir helfen, zu Hause auch eine zu bauen,“ meint er selbstbewusst.
Jakob und die Wuthöhle
19 2

..      Abb. 2.1  Jakobs Wuthöhle

2.1.6 Sechstes Gespräch: Der Löwe und die Schildkröte

Als wir uns das nächste Mal sehen, erzählt mir Jakob, dass er zu Hause eine Wut-
höhle gebaut hat; aus einer rot-schwarzen Decke, die das Zelt bildet. Am Boden
liegt eine alte Matratze aus einem Kinderbett und kleine Kissen, die er aus dem
Arbeitszimmer leihen durfte. An zwei Tagen sei er bei großer innerer Wut hinein-
gestiegen und hat in eines der Kissen gebissen. An einem anderen Tag sei er so
traurig gewesen, da sei er auch hineingestiegen. „Auch wenn es eine Wuthöhle ist,
hat es mir gut getan.“
In ein paar Tagen findet Tinos Begräbnis statt. Ich frage Jakob, ob er an ein Leben
nach dem Tod glaubt. Ja, sicher. Tino ist im Himmel, bei Gott und bei seiner Oma. Er
habe sich entschieden, nicht bei der offiziellen Begräbnis-Zeremonie dabei zu sein,
weil da über 100 Menschen kommen und er wolle nicht sehen, wie alle weinen. Er
war erst vor einem halben Jahr beim Begräbnis seiner Oma gewesen. Das reiche ihm
für den Moment. Er stellt viele kritische Fragen zum Ablauf von einem Begräbnis und
ich versuche, sie so gut wie möglich zu beantworten. Wozu Beerdigungen überhaupt
gut sein, wollte er auch wissen und ich erkläre, dass sie ein Ritual sind, bei dem sich
die Menschen vom Verstorbenen verabschieden können. Wie wolle er denn den
Abschied von Tino haben? Jakob meint, Mama hat ihm versprochen, am Wochen-
ende zum Grab zu fahren. Aber er wisse nicht genau, was er da tun soll. Ich erkläre,
dass man manchmal noch ein paar Worte spricht zum Abschied – bei einer spirituel-
len Feier macht dies der Priester. Aber jeder könne am Grab noch einmal Worte,
Wünsche oder auch Fragen in den Himmel schicken. Manchmal geben Menschen
auch etwas mit ins Grab oder gestalten etwas Schönes für das Grab. Die Idee gefällt
Jakob. Er möchte etwas für das Grab basteln und es Tino dort schenken. Wir überle-
gen gemeinsam, was es denn sein könnte. Jakob entscheidet sich für zwei Steine, die
er bemalen will. Es soll ein Löwe für Tino und eine Schildkröte für sich sein. „Die
sollen am Grab nebeneinander liegen zwischen all den Blumen, die der Papa dort
sicher einsetzen wird,“ sagt Jakob und erzählt dann schmunzelnd, dass sein Vater ein
großer Hobbygärtner sei.
20 C. Bernt und S. Binnenstein

2.1.7 Abschluss

Jakob kommt noch zwei weitere Male ohne seine Mama zur Therapie. Seine Wut und
2 Traurigkeit spürt er in manchen Momenten weiterhin stark, insgesamt aber fühlt er sich
geborgen und gut aufgehoben bei seiner Mutter und auch immer mehr bei seinem Vater
und gelegentlich auch in seiner Wuthöhle. Er beschreibt, dass er keine Albträume mehr
hat. Gemeinsam unternehmen Vater und Sohn sportliche Aktivitäten und kümmern
sich intensiv um die Schildkröte und ihr Gehege. Seine Beziehung zu den großen
Geschwistern bleibt unverändert distanziert, was er einerseits bedauert, andererseits
aber mit abwertenden Bemerkungen kommentiert. Am Ende der achten Therapiesit-
zung meint Jakob, dass er nun genug über seine Wut und seine Trauer mit mir gespro-
chen habe. Wir holen die Mutter dazu und besprechen gemeinsam, dass Jakob jederzeit
wieder zu einem Gespräch kommen kann, wir aber derzeit keinen weiteren Termin fix
vereinbaren. Sie beschreibt, dass sie sich nun weniger Sorgen über Jakobs „gesunde Ent-
wicklung“ trotz dieses Schicksalsschlags mache. Ein wenig Skepsis bleibt ihr aber. Kurze
Zeit später findet Jakob in einer Rainbows-Gruppe (der Verein RAINBOWS unterstützt
Kinder und Jugendliche mit einem Gruppenangebot bei der Bewältigung ihrer Trauer
und hilft ihnen, mit ihrer neuen Familiensituation besser zurecht zu kommen) noch
weitere Unterstützung und Austausch mit anderen Kindern, die ähnliche Verlusterfah-
rungen gemacht haben. Seine Eltern begleite ich im Anschluss für fünf weitere Eltern-/
Paargespräche in dieser Krisenzeit. In diesen reflektieren wir einerseits wie Vater und
Mutter gemeinsam, aber auch jeder für sich Jakob weiterhin im Trauerprozess unter-
stützen können. Auch Schuldgefühle in Bezug auf den Suizid des älteren Sohnes sind
Thema. Diese belasten vor allem den Vater, der sich viele Fragen stellt, wie er diesen
erkennen und womöglich sogar verhindern hätte können. Es geht außerdem um den
Umgang mit dem Verlustschmerz, aber auch um organisatorische Dinge wie das Gestal-
ten des Grabsteins oder das Räumen der Wohnung, die von vielen ambivalenten Gefüh-
len und Gedanken begleitet sind. Das letzte Gespräch mit den beiden findet vier Monate
nach dem Sterbetag statt.

2.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis

Anlass für die Inanspruchnahme von Therapie ist in diesem Fall kein symptomatisches
Verhalten, sondern eine Reaktion auf ein belastendes Lebensereignis. Ein insgesamt
ressourcenreiches Elternpaar möchte dem gemeinsamen Sohn die bestmögliche Unter-
stützung für die Bewältigung des Selbstmordes seines Halbbruders bieten. Jakob kann
von Anfang an seine Gefühle und Gedanken differenziert wahrnehmen und ausdrü-
cken. Auch die Auswirkungen des Suizids des Halbbruders auf das familiäre System
kann er gut beschreiben, was insgesamt auf eine weitgehend ungestörte emotionale
Entwicklung und damit auf ein ausreichend unterstützendes familiäres Klima trotz der
berichteten Belastungen verweist. Diese Einschätzung lässt von Anfang an ein kurzthe-
rapeutisches Vorgehen realistisch erscheinen, das heißt: solange wie nötig und so kurz
wie möglich. Das Normalisieren von Wut und Aggression als Teil der Trauerbewälti-
gung war ein wichtiger Teil der gemeinsamen Arbeit. Zusätzlich wurde auch nach Mög-
lichkeiten gesucht, diesen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Mit der Idee, sich eine
Jakob und die Wuthöhle
21 2
Höhle zu bauen, die Jakob dann selbst als Wuthöhle bezeichnet hat, wurde seine Selbst-
wirksamkeit bezüglich Gefühlsausdruck aber auch -regulation bestärkt. Die Arbeit mit
den Eltern zielte zunächst darauf ab, ihr Potenzial, Jakob in seinem Trauerprozess zu
unterstützen, optimal zu nützen. Zunächst wurde versucht, konkrete Bedingungen zu
schaffen, die Jakobs Bedürfnis vor allem nach der väterlichen Aufmerksamkeit erfüllen,
damit die Wut nicht immer wieder aufs neue ausgelöst wird. Mehr gemeinsame Zeit mit
dem Papa zu verbringen, half gegen die Sorge „jetzt ist mein Bruder tot und trotzdem
hat er die ganze Aufmerksamkeit“. Die Therapeutin nahm in den verschiedenen Set-
tings die Rolle als „Expertin für Trauerprozesse“ ein, erklärte den Eltern, wie unter-
schiedlich Trauerprozesse von Kindern zu denen Erwachsener sein können und bot
dafür eine passende Metapher an. Sie verhindert damit, dass die Eltern, v.a. der Vater,
sich aus Enttäuschung über die irritierende Reaktion Jakobs sich von diesem (noch
mehr) abwenden. Als Expertin für Trauerprozesse weiß die Therapeutin, dass die Frage,
ob Kinder zum Begräbnis mitgehen, gut überlegt sein will. Sie weiß, dass es für Kinder
hilfreich ist, einen Handlungsplan zu haben, wenn sie das Grab eines nahestehenden
Menschen besuchen. Sie kann verschiedene, erprobte Vorschläge beim Entwickeln
eines Abschiedsrituals machen. Sie signalisiert damit auch: „Mit mir kannst du über
alles sprechen, auch über so erschreckende Dinge wie den Tod!“ Eine wichtige Funktion
in der Trauerbegleitung für Kinder besteht darin, dass die Therapeutin als unbeteiligte
Person die Bedürfnisse des Kindes evtl. leichter wahrnehmen kann als die Eltern, die
aktuell mit ihrer eigenen Verzweiflung zu kämpfen haben. Dennoch sollte aus einer
systemischen Perspektive die emotionale Begleitung des Kindes nicht gänzlich und vor
allem nicht langfristig von der Therapeutin übernommen werden. Im Unterschied zu
anderen Therapiemethoden, die in ähnlichen Fällen mit einem längerfristigen, ein-
zeltherapeutischen Angebot die emotionale Verarbeitungskompetenz des Kindes för-
dern wollen, zielt systemische Therapie darauf ab, so schnell wie möglich die Eltern
darin zu unterstützen, diese Aufgabe der kindgerechten emotionalen Begleitung wieder
selbst zu übernehmen. In diesem Fall war es möglich, mit nur wenig therapeutischer
Unterstützung die Beziehung zwischen Jakob und seinem Vater zu festigen. Wäre Jakobs
Vater dazu nicht in der Lage gewesen, hätte die Therapie vielleicht länger dauern müs-
sen. So konnte man die Familie gut mit einer zuversichtlichen Einschätzung verabschie-
den, die ungefähr so klingen könnte: „Ihr kommt jetzt gut mit der Situation zurecht. Ich
traue euch zu, das auch in Zukunft gut zu schaffen. Und wenn irgendwann wieder Pro-
bleme auftauchen, können Sie entscheiden, ob Sie wieder Unterstützung in Anspruch
nehmen. Das wäre dann kein Hinweis auf ein Scheitern, denn man kann immer nur die
Anforderungen meistern, die sich einem gerade stellen. Für den Moment haben Sie all
diese Anforderungen gut gemeistert, dafür möchte ich Ihnen meine Anerkennung aus-
sprechen.“

Literatur
Fleck-Bohaumilitzky C (2003) Wenn Kinder trauern. Südwest-Verlag, München
Diakonie (2003) Wie Kinder trauern. http://www.diakonie.de/media/kinder-trauern_2010.pdf. Zuge-
griffen: 10. Juli 2017
23 3

Michelle: Es könnte zum


Kotzen sein
Familientherapie bei einem zwölfjährigen Mädchen mit
Emetophobie

Katharina Henz-Hölzl und Elisabeth Wagner

3.1 Fallverlauf – 24
3.1.1  as Vorgespräch mit der Mutter: Problembeschrei-
D
bung, Lösungsversuche und Zieldefinition – 24
3.1.2 Die erste Stunde: Über das Schlechtsein – 26
3.1.3 Die zweite Stunde: Die Wurzeln des Übels(eins) –
Hypothesen zur Funktionalität des Symptoms – 27
3.1.4 Die dritte Stunde: Kunibert, das Symptom – 28
3.1.5 Die vierte Stunde: Das Symptom verabschieden – 30
3.1.6 Die fünfte Stunde: Das Familienbrett und die gute
Zukunft – 32
3.1.7 Die sechste Stunde: Alice im Wunderland – 33
3.1.8 Was offen bleibt (und vielleicht auch nie aufgegriffen
wird ...) – 35

3.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis – 35

Literatur – 36

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


E. Wagner, S. Binnenstein (Hrsg.), Wie systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
wirkt, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55547-7_3
24 K. Henz-Hölzl und E. Wagner

Die zwölfjährige Michelle kommt mit ihrer Mutter gemeinsam zur Therapie, weil sie auf-
grund der Angst ihrer Tochter, sich zu übergeben, viele Stunden täglich mit ihr auf der
Toilette verbringen müsse. Da das Symptom durch die bereitwillig gewährte Unterstüt-
zung der Mutter aufrechterhalten wurde und aufgrund der innerfamiliären Funktionalität
chronifizieren konnte, wurde konsequent im Familiensetting gearbeitet. Während
zunächst durch ein strategisches Vorgehen und durch die lösungsorientierte Suche nach
3 Ausnahmen eine Symptomabschwächung erreicht wird, wird eine Hypothese über die
interaktionelle Funktionalität des Symptoms formuliert und auf dieser Basis an den anste-
henden Entwicklungsschritten in der Familie (Verantwortungsübernahme durch die
Mutter, Förderung der Außenorientierung) gearbeitet.

3.1 Fallverlauf

Aufgrund einer Empfehlung eines Kinder- und Jugendpsychiaters meldet sich Frau U.
kurz nach Schulbeginn erstmals telefonisch bei mir. Ihre jüngste Tochter Michelle,
zwölf Jahre alt, leide seit vielen Jahren an einer „Emetophobie“ – dieses Wort habe sie
allerdings erst kürzlich gegoogelt und sei deshalb in der Ordination von Dr. A. vorstellig
geworden. Vorwiegend abends überkomme Michelle fast täglich eine Riesenangst, sich
übergeben zu müssen. Sie müsse dann stundenlang mit ihrer Tochter auf der Toilette
verbringen, bis es Zeit sei, schlafen zu gehen. Aufgrund der Empfehlung des Kinderpsy-
chiaters zur Familientherapie sei auch sie nun geneigt zu glauben, „das mit der Familie
und der Angst könnte doch miteinander zu tun haben“. Da sie ein wenig zögerlich wirkt,
vereinbaren wir ein 30-minütiges kostenfreies Kennenlerngespräch noch ohne Michelle,
um die weitere Vorgehensweise zu besprechen.

3.1.1  as Vorgespräch mit der Mutter: Problembeschreibung,


D
Lösungsversuche und Zieldefinition

Frau U. betritt ein wenig scheu die Praxis, sie wirkt wie eine vorsichtige „Besucherin“.
Meine Frage, ob sie denn das erste Mal mit einer Psychotherapeutin Kontakt habe, ver-
neint sie: Mit ihrer zweitjüngsten Tochter Verena (mittlerweile 16 Jahre alt) habe sie vor
etwa sieben Jahren schon einmal eine Familientherapie begonnen, auch damals sei es
um das Thema Angst gegangen. Diese Therapie habe die Familie aber abgebrochen. Ich
hake nach: Was müsste denn hier passieren, damit es wieder zu einem Therapieabbruch
käme? Frau U.s Antwort kommt überraschend schnell: „Wenn sich nix tut!“ Den Rest
der Sitzung besprechen wir etwaige positive und negative Auswirkungen einer (neuer-
lichen) Familientherapie: Was genau bedeutet „Es tut sich etwas“? Und wer würde das
konkret woran merken? Was darf sich keinesfalls ändern? Und welche „Nebenwirkun-
gen“ könnte Familientherapie haben?
Therapeutin (im Folgenden mit Th. abgekürzt): Es muss sich also etwas tun, das
verstehe ich. Helfen Sie mir ein wenig – was genau sollte sich denn tun?
Frau U.: Naja, Michelle ist ihre Angst los und wir wissen, woher das kommt.
Th.: Das heißt, sie hatten bisher keinerlei Idee, woher das kommen könnte?
Frau U.: Ich hab gedacht, das ist ein Gendefekt – das ist halt so.
Michelle: Es könnte zum Kotzen sein
25 3
Th.: Wie lange dachten Sie das denn, Frau U.?
Frau U.: Seit sie fünf ist, hat sie das ...
Th.: Also Sie haben sieben Jahre lang gedacht, Sie müssten sich damit abfinden?
Frau U.: Ja, schon irgendwie. Ich hab halt gedacht, vielleicht wächst sich das aus. Aber
jetzt hab ich das gegoogelt und das mit der Emetophobie herausgefunden. Und da sind
wird dann zum Dr. A. gegangen.
Th.: Was hat der denn gemeint?
Frau U.: Er hat gemeint ... [sie kramt umständlich in ihren mitgebrachten Unterlagen]
... sie hat eine leichte generalisierte Angststörung und eine somatoforme Störung.
Th.: Und Sie möchten wissen, woher das kommt?
Frau U.: Ja, genau!
Th.: Angenommen, es gelingt, wir finden das raus. Was würde das für einen Unterschied
machen?
Frau U.: Naja, es könnte schon was mit der Familie zu tun haben ... Dann könnten wir
vielleicht was tun?
Th.: Und wenn Sie dann etwas tun könnten ... und es wäre etwas Sinnvolles ... was wäre
Michelle dann möglich? Was würde sich für Ihre Tochter ändern? Woran würden Sie
„Es tut sich etwas“ merken?
Frau U.: Sie ist kreativ, zeichnet gern, vielleicht würde sie das öfter tun. Und mit ihren
Freundinnen mehr unternehmen, wahrscheinlich. Obwohl ... wenn sie außer Haus ist,
passiert es eh weniger, wenn ich dabei bin, dann passiert es.
Th.: Das heißt, Michelle würde öfter weggehen, mehr mit Freundinnen unternehmen
und sich mehr ihren Hobbys widmen? Auch dann, wenn Sie dabei sind?
Frau U.: Ja, ich glaube schon.
Th.: Was wäre Ihnen denn möglich, wenn das Symptom sich verabschiedet?
Frau U.: Ich könnte vielleicht auch mal weggehen ... obwohl, da hab ich eigentlich
wenig Lust dazu. Aber eventuell einen Kurs besuchen, so was Regelmäßiges ...
Th.: Was darf sich denn keinesfalls ändern?
Frau U.: Naja, es ist so ein Minus von mir, dass ich zu überprotektiv bin, ich trau der
Umwelt halt oft zu wenig zu, das sind meine Ängste. Aber ich will schon ein wenig die
Kontrolle behalten.
Th.: Also wenn Sie das Gefühl hätten, gar keine Kontrolle mehr über ihre Mädels zu
haben, dann würden Sie hier auch schnell einen Schlussstrich ziehen?
Frau U.: Wahrscheinlich, ja ...

Am Ende des Gespräches vereinbaren wir zunächst zwei Familiensitzungen im Abstand


von 14 Tagen mit Mutter und Tochter zu „versuchen“. Sollte sich dann „gar nix tun“,
müssten wir über die Sinnhaftigkeit von Familientherapie eben neu verhandeln. Frau U.
willigt ein. Die erste Settingentscheidung betrifft die Frage: Mit wem führt man das
Erstgespräch? In diesem Fall entschied ich mich, das Erstgepräch nur mit der Mutter zu
führen, da diese am Telefon sehr zögerlich wirkte. Hätte ich Michelle zum ersten
Gespräch gleich mit eingeladen, wäre diese Unsicherheit für sie spürbar geworden und
hätte den Aufbau einer vertrauensvollen Beziehung zusätzlich erschwert. Es braucht das
Vertrauen der „Auftraggeberin“, um auch dem Kind einen sicheren Rahmen bieten zu
können. Der zweite Grund ist, dass Eltern ohne das Beisein ihrer Kinder eventuell Ideen
formulieren können, die sie vor diesen nicht sagen können oder wollen.
26 K. Henz-Hölzl und E. Wagner

3.1.2 Die erste Stunde: Über das Schlechtsein

In der ersten gemeinsamen Stunde hole ich Michelle zunächst ins Boot: Was sie glaube,
worüber ich mit der Mama bisher geredet habe? Und wie sie selbst das Problem benen-
nen würde? „Schlecht-Sein“ lautet Michelles Antwort, die sich im Erstkontakt erstaun-
lich wach und offen zeigt und sehr „erwachsene“ Antworten gibt. So meint sie auf die
3 Frage, wofür das Symptom gut sein könnte, dass dieses ihr die Mama sichere. Ich eröffne
eine erste Ambivalenz: Das Symptom sei also wie eine „Fernbedienung“ und garantiere
ihr die 100 %ige Aufmerksamkeit der Mama, habe also einen Nutzen. Gleichzeitig sei es
auch lästig und hindere Michelle an unbeschwerten Abenden. Sie bejaht und fügt hinzu,
dass das Symptom erst dann verschwinden könnte, wenn es „auch der Mama besser-
geht.“ Hieraus ergibt sich eine erste Hypothese für das Fallverständnis: Michelle
schwankt zwischen Regression – Kind sein dürfen – und Parentifizierung – erwachsen
sein und der Mama helfen müssen. Ich beschließe aber, meiner ersten Hypothese noch
nicht nachzugehen, sondern stattdessen zuerst in die strategische „Trickkiste“ (vgl. Nar-
done 2007) zu greifen, um unmittelbar Einfluss auf das Symptom zu gewinnen: Michelle
ist eine begnadete Selbstbeobachterin. Dieses Beobachten zu verschreiben, könnte
bereits eine erste Unterbrechung des Musters darstellen. Dies vor allem in der Hoff-
nung, dass sich dadurch das Symptom bereits leicht verbessern könnte, was wiederum
das Joining mit der Mutter stärken würde. Ich exploriere also bisherige Lösungsver­
suche und Problemausnahmen („keine Ahnung ...“) und versuche vor allem das
„Schlechtsein“ zu konkretisieren: Wie genau fühle sich das an? Michelle kann kaum
Auskunft über das genaue Zustandsbild geben – ich zeige mich erstaunt: Obwohl das
Symptom doch schon so lange bei ihr sei, könne sie gar nicht genau sagen, wie es sich
anfühlt? Es gäbe doch immerhin viele Arten von „Schlechtsein“ ... mir z.B. sei oft
schlecht, wenn ich Hunger habe oder sehr aufgeregt sei.
Wir entwickeln gemeinsam ein Diagramm (. Tab. 3.1), und ich bitte Michelle, bis

zur nächsten Stunde genau zu beobachten, in welcher Form sich das „Schlechtsein“
konkret zeige. Das Diagramm solle sie auf den Kühlschrank hängen, nicht ins Klo. Sie
ist einverstanden.
Nachdem die „Funktionalität des Symptoms“ von Michelle bereits formuliert und von
mir mit der Metapher der „Fernbedienung“ gesichert worden ist, war der nächste Schritt
das Einführen der Ambivalenz – das Symptom würde zwar die Aufmerksamkeit sichern
(und evtl. die Mama von anderen Problemen ablenken), aber eben auch daran hindern,

..      Tab. 3.1  Differenzierung des „Schlechtseins“

Gar nicht Etwas Mittel Sehr Erbrechen

Wie wenn man zu viel gegessen hat

Wie wenn man Hunger hat

Wie wenn man aufgeregt ist

Wie eine Darmgrippe


Michelle: Es könnte zum Kotzen sein
27 3
unbeschwerte Abende zu erleben. Statt sofort an dieser Ambivalenz weiterzuarbeiten, ver-
suchte ich mit der Beobachtungs- und Differenzierungsaufgabe die Wahrscheinlichkeit
einer schnellen Musterunterbrechung zu erhöhen und damit sicherzustellen, „dass sich
etwas tut“.

3.1.3  ie zweite Stunde: Die Wurzeln des Übels(eins) – Hypothesen


D
zur Funktionalität des Symptoms

Michelle berichtet, dass sie die Liste ganz genau ausgefüllt hätte und die meisten Kreuze
habe sie bei „Wie wenn man aufgeregt ist / Etwas schlecht“ eingetragen. Auch habe sich
eine leichte Besserung eingestellt, es sei jetzt eher ein „Bauchgrummeln“ und weniger
ein echtes „Schlechtsein“. Ebenso stellt sich heraus, dass Michelle in den letzten Jahren
kein einziges Mal tatsächlich erbrochen hat. Nachdem Frau U. auf Nachfrage nun über-
zeugt ist, dass „sich etwas tut“, widme ich mich dem Genogramm. Frau U., 51 Jahre alt,
lebt mit ihren drei Töchtern im gemeinsamen Haushalt. Die Älteste, Sonja, ist 22 und
studiert Lehramt. Die Mittlere, Verena, ist 16 und besucht die höhere Schule, Michelle,
zwölf Jahre alt, besucht ebenfalls die dritte Klasse einer allgemeinbildenden höheren
Schule. In erster Ehe war Frau U. mit dem Vater der Ältesten verheiratet, man hätte sich
„auseinandergelebt“. Bereits während der Trennung begann Frau U. eine Affäre mit
dem Vater ihrer beiden Jüngsten; mit diesem Mann sei sie zwar noch zusammen, hätte
aber nie in einem gemeinsamen Haushalt gelebt. Der Kindsvater ist seit Jahren prekär
beschäftigt, zwischendurch auch immer wieder ohne Einkommen. Die Beziehung
beschreibt Frau U. als ambivalent. Die Familie lebt im Nachbarhaus der mütterlichen
Großeltern. Die eigene Mutter beschreibt Frau U. als „Übermutter“. Diese habe die
Trennung von ihrem Mann (also Frau U.s Vater) „nie verkraftet“. Frau U. ist seit vielen
Jahren Hausfrau, würde jetzt aber erwägen, wieder arbeiten zu gehen. Die Beziehung zu
ihrem Partner beschreibt sie folgendermaßen: „Ich kann nicht mit, aber auch nicht
ohne ihn.“ Er besuche die Familie fast täglich, jedoch nicht am Wochenende. Frau U.
leide seit vielen Jahren immer wieder sowohl an depressiven Episoden als auch an Mi­
gräne (mit Erbrechen) und werde seit Jahren medikamentös behandelt. Zwischen
Michelle und ihrer Schwester Verena gäbe es massive Konflikte, auch Verena sei „keine
Einfache“, wie Frau U. betont, schließlich sei man mit ihr ja auch schon einmal bei einer
Familientherapeutin vorstellig geworden, die Gründe dafür lässt Frau U. allerdings im
Dunkeln. Michelle habe bis vor zwei Jahren auch noch mit Verena in einem Zimmer
gewohnt, obwohl Platz genug gewesen sei, „… weil sie ja so Angst hatte und vielleicht
weil ich zu bequem war, das alles zu ändern.“ Nun schlafe die Mutter immer bei Michelle
im Zimmer „… weil ihr ja so schlecht ist.“
Aus dem Genogramm und aus der bisherigen Kontaktaufnahme heraus entwickeln
sich bei mir mehrere Hypothesen zur Funktionalität des Symptoms:
55 Frau U. ist eine sehr liebevolle Mutter, trifft aber nicht gerne Entscheidungen. Sie
hat sich von ihrer Ursprungsfamilie (v.a. der Mutter) nie wirklich abgelöst und
damit eine wichtige Entwicklungsaufgabe (noch) nicht erfüllt. Michelle parentifi-
ziert und übernimmt immer wieder Verantwortung für die Mutter, die ihr nicht
„gehört“. Das Symptom hilft ihr, wenigstens einige Stunden am Tag, die Mutter in
28 K. Henz-Hölzl und E. Wagner

eine gänzlich umsorgende, erwachsene Rolle zu bringen: „Wenn mir schlecht ist
und ich neben der Toilettenschlüssel hänge, bin ich die Kleine und du die Große.“
55 Michelle ist mit zwölf Jahren die Jüngste im System. Ihre Pubertät und damit ihre
Ablösung stehen unmittelbar bevor – eine Entwicklungsaufgabe, die auch die
Mutter herausfordern wird. Was wird sie mit ihrem Leben anfangen, wenn das
Nest „empty“ sein wird? Das Symptom verschiebt die Ablösung – solange Michelle
3 die Abende auf der Toilette verbringt, kommt sie gar nicht auf die Idee, mit ihren
Freundinnen ins Kino zu gehen.
55 Michelle hat auch andere Gründe, noch kein pubertäres Verhalten zu zeigen (und
damit in Richtung Ablösung zu handeln): Im Vergleich mit ihrer Schwester erlebt
sie sich als „Goldmarie“ – als die eigentlich „Unschwierige“. So lange sie „arm“ ist
und ihre Schwester „schwierig“, sichert sie sich das Wohlwollen der Mutter.
55 Das Symptom hilft aber auch von einem anderen Thema abzulenken: Die Bezie-
hung zwischen den Eltern ist voller unausgesprochener Konflikte. Die Klärung
dieser Beziehungsebene kann aber nicht stattfinden, solange die Mutter ihre
Aufmerksamkeit vor allem auf die Symptome der Tochter richtet. Da diese Klärung
aber auch gefährlich ist (schließlich könnte dies auch zu einer Trennung führen),
mag es (un)ausgesprochen nützlich sein, die Klärung zu vermeiden. Dies umso
mehr, als Frau U. die Trennung der eigenen Eltern als sehr negativ in Erinnerung
hat, ihre eigene Mutter habe das „nie verkraftet“.
55 Da die Mutter regelmäßig Migräneattacken mit Erbrechen hat, ist das Symptom
hoch anschlussfähig: Erbrechen alarmiert offenbar das System.
55 Das Symptom hat also nicht nur eine, sondern mehrere „gute Absichten“, es ist
sozusagen multifunktional. Dies erklärt auch die Chronifizierung über viele Jahre.
Die Ambivalenz zwischen „Loswerden“ und „Behalten“ ist offensichtlich groß.

3.1.4 Die dritte Stunde: Kunibert, das Symptom

Die Besserung hielt an. Ich würdige diese positive Veränderung ausreichend und be­
schließe, lösungsorientiert weiterzuarbeiten und weitere Ausnahmen des Problems zu
explorieren, da mir die therapeutische Beziehung noch zu unsicher erscheint, um meine
weiteren Hypothesen ins Spiel zu bringen.
Th.: Das ist ja toll, Michelle, dass es jetzt eher ein Bauchgrummeln ist und kein
Schlechtsein! Das heißt, das Symptom ist gar nicht so hartnäckig, wie wir befürchtet
haben?
Michelle (im Folgenden mit Mi. abgekürzt): Stimmt ...
Th.: Naja, vielleicht war es in den letzten Jahren eh‘ auch nicht immer hartnäckig und
du hast das gar nicht so bemerkt?
Mi.: Wie meinst du das?
Th.: Ach, auch Symptome brauchen manchmal eine Pause, das ist ja anstrengend, so
ohne Urlaub, jahrelang beim selben Kind Dienst zu machen ... Ich bin mir sicher, auch
dein Symptom hat sich Pausen gegönnt ... Überleg einmal, wann waren solche Pausen?
Wann kommt dein Symptom nicht zu Besuch?
Mi.: Naja, wenn die Sonja da ist (Anm.: die älteste Schwester). Wenn sie zum Poké-
monspielen da ist.
Michelle: Es könnte zum Kotzen sein
29 3
Frau U.: Das stimmt wirklich ... das ist mir gar nicht aufgefallen ...
Th.: Wann kommt denn die Sonja vorbei?
Mi.: Wenn die Mama weggeht, aber das tut sie selten. Und auch so manchmal.
Th.: Und wenn die Mama ausgeht und die Sonja kommt vorbei – was macht ihr dann
genau? Woran merkt das Symptom, dass du jetzt gut versorgt bist und dass es sich eine
kleine Pause gönnen darf?
Mi.: Naja, wir blödeln dann so ... Die Sonja erzählt immer lustige Geschichten, die
erfindet sie für mich.
Th.: Was denn für Geschichten zum Beispiel?
Mi.: (blockt zur Mutter) Soll ich das echt erzählen? (die Mutter nickt aufmunternd) So
Furz-Kacka-Geschichten (sie kichert).
Th.: Aha, wenn du ganz kindisch sein darfst und blödeln ... so?
Mi.: Ja ...
In weiterer Folge explorieren wir noch eine ganze Menge weitere Ausnahmen
(„Pausen, die sich das Symptom gönnt“):
55 wenn Michelle eingeladen ist (z.B. bei ihrer besten Freundin),
55 wenn sie sich auf etwas ganz Besonderes freut (z.B. Halloween),
55 wenn sie mutig ist (Beispiel Kletterpark),
55 wenn sie wandern ist in Oberösterreich (die Familie hat dort ein Ferienhaus),
55 wenn sie tief ins Spiel versunken ist (z.B. Wii).
Th.: Aha, dein Symptom ist aber klug! Das weiß offenbar genau, wann es nicht
gebraucht wird!
Mi.: Ja, das stimmt ...
Th.: Wie heißt denn dein Symptom übrigens? Hat das einen Namen?
Mi.: (sehr spontan) Kunibert!
Th.: (lachend) Kunibert, der Schlingel! Der ist ja ein ganz ein Kluger! Nicht nur, dass
er sich gut verkleidet (Anm.: als Bauchgrummeln oder Hungerübelkeit), der weiß
offenbar ganz genau, wann er einen Auftritt hat und wann er eher faul sein kann ...
Mi.: (kichernd) Der Schlingel!
Th.: Was müsstest du denn tun, um den Kunibert öfter einzuladen? Damit er richtig
ins Schwitzen kommt, weil er gar keine Pause mehr hat ...?
Mi.: Ich müsste keine Freunde mehr haben und nicht mehr hingehen, wenn ich
eingeladen bin. Und ich müsste ein Wii-Verbot kriegen.
Th.: Und sonst?
Mi.: Die Sonja müsste ernst werden und nicht mehr diese Geschichten erzählen. Und
mir müsste oft fad sein.
Th.: Ahhh ... damit könntest du den Kunibert öfter einladen?!
Mi.: Mhm!
Th.: Und ausladen könntest du ihn, wenn du oft blödelst, wenn du oft mutig bist, wenn
du oft abgelenkt bist, wenn du dich oft auf etwas Besonderes freust, wenn du oft in
Oberösterreich bist und wenn du gute Spiele spielst?
Mi.: Ja, dann kann der Kunibert weggehen!

Am Ende der Stunde erfahre ich übrigens, dass „Kunibert“ der Held eines Kinderbu-
ches von Michelle war – ein frecher kleiner Geist, der ein ganzes Schloss in Aufregung
versetzen kann ...
30 K. Henz-Hölzl und E. Wagner

Die Mutter sitzt während dieser Sequenz selber wie eine Zwölfjährige daneben und
schüttelt fortwährend staunend den Kopf. Um auch Frau U. wieder in eine erwach-
sene, angemessene Rolle zu bringen, hole ich sie am Ende dieser Stunde erneut ins
Boot und frage sie nach den Ressourcen ihrer Tochter: „Jenseits des Symptoms – wor-
auf sind Sie stolz bei Michelle? Was gelingt ihr schon gut?“ Frau U. listet eine ganze
Menge Dinge auf:
3 55 Michelle hat viel „Hausverstand“.
55 Sie ist technisch begabt.
55 Sie kann wunderbar zeichnen.
55 Sie hat einen enormen Gerechtigkeitssinn.
55 Sie überrascht Frau U. immer wieder, z.B. mit ihrer Leistung beim Kindermarathon.
55 Sie hat ihr eigenes Zimmer tatsächlich in Beschlag genommen.
55 Sie ist relativ selbstständig bei Schuldingen.
55 Sie weiß, was sie will und ist entscheidungsfreudig.

Durch das genauere Erfragen von Ausnahmen (wann tritt das Symptom nicht auf), wer-
den auch Möglichkeiten der Einflussnahme sichtbar. Es ist immer wieder erstaunlich,
wie viel implizites Wissen diesbezüglich in einem System vorhanden ist, ohne dass dies
explizit zur Verbesserung der Situation genützt wird. In diesem Fall war besonders
bemerkenswert, dass alle relevanten Beiträge von Michelle und nicht von ihrer Mutter
gekommen sind. Dies könnte man als Hinweis darauf werten, dass die Ambivalenz
bezüglich Veränderung auf Seiten der Mutter sogar noch größer ist als bei Michelle. Um
diesen Unterschied nicht allzu deutlich werden zu lassen, habe ich in der abschließen-
den Intervention die Mutter in eine aktive Rolle gebracht, indem ich sie aufgefordert
habe, Michelles Stärken und Kompetenzen zu nennen. Damit wurde der Mutter die
Möglichkeit gegeben, sich in einer wohlwollend-liebevollen Haltung zu zeigen. Die
Externalisierung des Symptoms (Kunibert) sollte zum einen die Distanzierung erleich-
tern, zum anderen einen kreativ-spielerischen Umgang mit dem Symptom fördern (vgl.
White u. Epston 2006)

3.1.5 Die vierte Stunde: Das Symptom verabschieden

Auch in Stunde vier wird berichtet, dass das Symptom weiter abgeklungen ist. Michelle
meint dazu: „Es war eher der kleine Bruder vom Kunibert da“. Auf Nachfragen erzählt
sie, es sei ihr kaum schlecht gewesen, sie hätte eher so ein komisches Gefühl gehabt,
„wie ein Faden, der sich um den Finger wickelt“. Wieder würdigen wir Kuniberts
Klugheit: „Der kann sich aber echt gut verkleiden!“, woraufhin Michelle erklärt: „Ja
eh, aber dann weiß ich schon, dass es nicht echt ist!“ Wir befragen Kunibert dazu
zirkulär:
Th.: Aha, du nimmst den Kunibert gar nicht mehr so ernst?
Mi.: Nein, gar nicht mehr! (lacht)
Th.: Was sagt denn der Kunibert dazu? Ich mein, der war ja viele Jahre urwichtig, und
plötzlich wird er fast ausgelacht ...
Mi.: Ja, der ist schon sauer.
Michelle: Es könnte zum Kotzen sein
31 3
Th.: Mhm ... Oje ... weißt du, manchmal sind solche Kuniberts dann SO sauer, dass sie
sich was Neues einfallen lassen. Was denkst du, Michelle, wenn du ihn nicht aus-
lachst – weil das hat ja niemand gern das Auslachen – wie könnte man denn anders
mit ihm „Schluss machen“. Wie könnte man ihn eleganter wegschicken?
Mi.: Vielleicht muss man ihm sagen, dass er sich ein anderes Zuhause suchen soll?
Th.: Gute Idee, aber vielleicht ist er trotzdem beleidigt?
Frau U.: (schaltet sich lachend ein): Beim Schlussmachen sind wir alle nicht so gut ...
Th.: Wie darf ich das verstehen, Frau U.?
Frau U.: Na, das können wir alle nicht so gut ... Auch die Sonja tut sich da schwer ...
Und meine Mutter ... Und ich ja auch ...
Th.: Familie U. hat also eigentlich viel Erfahrung im Schlussmachen, kann das aber
trotzdem noch nicht so gut?
Frau U.: Ja, so in etwa ...
Th.: Mit dieser vielen Erfahrung ... jetzt so im Rückblick ... wie hätte man denn gut
Schluss machen können?
Frau U.: Vielleicht muss man jemandem sagen, dass er für etwas gut war und auch ein
wenig dankbar sein ...
Th.: Angenommen, Michelle, du würdest das so versuchen: Statt den Kunibert
auszulachen, würdest du ihm sagen, dass du ihm dankbar bist und dass er für etwas
gut war. Was wäre das denn?
Mi.: (denkt lange nach) Ich weiß nicht ...
Th.: Also mir fällt da schon etwas ein! Der Kunibert, der hat ja dafür gesorgt, dass du
nicht sauer, oder dich langweilst oder du traurig warst ... weil du so abgelenkt warst
mit der Übelkeit. Also wenn dir was Unangenehmes zu viel war, dann war der
Kunibert zur Stelle!
Mi.: Ja, aber das braucht er jetzt nicht mehr!
Th.: Da hast du recht! Aber wenn du ihm das so sagen könntest – dass er sich so
bemüht hat und dich eigentlich beschützen wollte, und dass das auch sehr nett von
ihm war, aber dass du ihn trotzdem jetzt nicht mehr brauchst, weil du besser auf dich
schauen kannst – wäre er dann weniger sauer?
Mi.: Wahrscheinlich schon ...
Th.: Wie würdest du ihm das sagen, Michelle?
Mi.: Danke, dass du gut auf mich geschaut hast, Kunibert, aber das musst du jetzt nicht
mehr.
Th.: Kann er das hören?
Mi.: Ich glaub schon ...
Frau U.: Ich glaub, ich hatte als Kind auch so einen Kunibert ... Aber der hat sich als
Panikattacke verkleidet ...

Da das Symptom für die Familie auch hoch funktionale Auswirkungen hatte, war es mir
wichtig, dieses noch einmal „zu würdigen“, um sichtbar zu machen, was Michelle (bzw.
die Mutter) auch aufgeben, wenn Kunibert das System verlassen haben wird. So kann
eventuellen Rückfällen vorgebeugt werden.
Die weitere Stunde verbringen wir damit, Michelles Essgewohnheiten zu explorie-
ren. Es stellt sich heraus, dass Michelle sehr unregelmäßig isst und das gemeinsame
32 K. Henz-Hölzl und E. Wagner

Abendessen vor dem Fernseher stattfindet („TV-Dinner“ nennt Frau U. das). Gemein-
sam mit der Mutter werden neue Ideen kreiert:
55 regelmäßiger frühstücken, Cornflakes zum Frühstück,
55 zwischendurch weniger Süßes auf einmal essen (z.B. Berliner oder Krapfen),
55 weniger Schokolade (max. eine kleine Tafel),
55 mehr Obst und Gemüse,
3 55 erst essen (selbstgekocht von Frau U.), dann fernsehen.

„Über die Bande“ wird Frau U. so eingeladen, ihr erwachsenes, mütterliches V


­ erhalten
(Ich bin die Große) zu „verschieben“: für Michelle kochen bzw. sie bei ihrem Ernäh-
rungsverhalten unterstützen, statt händchenhaltend bei Michelle am WC zu sitzen.

3.1.6  ie fünfte Stunde: Das Familienbrett und die gute


D
Zukunft

Aufgrund der oben beschriebenen Hypothesen entschließe ich mich in der fünften
Stunde, mit dem Familienbrett zu arbeiten, in der Hoffnung, dass so die Beziehungs-
themen/Verstrickungen sichtbar werden, ohne dass ich sie direkt benennen muss.
Michelle stellt die aktuelle Situation auf: Sie steht sehr nah an der Mutter, im nahen
Umfeld Sonja, die älteste Tochter. Michelle gegenüber Verena, der mittleren. Direkt
hinter der Mutter die Großmutter. Der Vater steht weit draußen, fast schon am Rand.
Wir besprechen das Bild gemeinsam. Folgende Ideen werden von Mutter und Tochter
entwickelt:
55 Die Großmutter ist eigentlich die talentierteste Sorgenmacherin von allen und
klebt beinahe direkt an der Mutter.
55 Die Mutter möchte den Vater näher in den Kreis holen, die Töchter Michelle und
Verena opponieren dagegen.
55 Michelle muss bei der Mama stehen, weil diese „nicht allein sein kann“.
55 Michelle und Verena haben einen heftigen Dauerkonflikt. Die Mutter fühlt sich
diesem „Dauerstreiten“ ausgeliefert und hat (noch) keine Idee, wie sie hier interve-
nieren könnte.
55 Sonja ist immer „die Gute“.
55 „Abgrenzung“ ist bei Familie U. ein schwieriges Thema.
55 Wut ebenfalls (Michelle: „Du hast Migräne, weil du nie wütend bist!“).

Ich bitte Michelle, „die gute Zukunft“ aufzustellen, also ein verändertes Bild, in dem „es
allen gut geht“. Die Großmutter hat sich jetzt etwas zurückgezogen, auch Sonja steht
etwas weiter weg. Der Vater rückt ein klein wenig näher, Verena auch. Michelle steht
nicht mehr so nah bei ihrer Mama, sondern näher bei ihren Geschwistern.
Wir fotografieren „die gute Zukunft“ und bauen dann das Bild zurück in die
Ursprungsvariante. Was wäre der erste Schritt in die gute Zukunft? Michelle antwortet
spontan: „Ein bisschen von der Mama weg.“ Wie könnte das gelingen? Folgende Verein-
barungen werden dazu getroffen:
55 - Frau U. geht einmal in der Woche weg und tut sich dabei was Gutes (z.B. Sauna).
55 - Michelle beginnt ein neues Hobby, z.B. Kampfsport.
Michelle: Es könnte zum Kotzen sein
33 3
Ich bitte die beiden bis zur nächsten Stunde zu recherchieren, wo Michelle einen ent-
sprechenden Verein finden könnte. Außerdem erkunden wir die gute Zukunft anhand
konkreter Bilder: In einem Jahr sieht Michelle sich mit Freundinnen shoppen gehen, sie
will auch auf eine „Ani-Night“ (Anm.: ein Event für Fans japanischer Anime-­Comics).
Kunibert kommt nur noch ein- bis zweimal pro Jahr zu Besuch, aber sie nimmt ihn
dann nicht mehr ernst. Die Mutter hat eventuell auch ein Hobby bzw. macht einen Fort-
bildungskurs. Frau U. macht in dieser Stunde einen merklich anderen Eindruck: sie
kichert weniger, wirkt ernster und interessierter.
Mittels Visualisierung der familiären Beziehungen am Familienbrett können „nie-
derschwellig“ problematische Aspekte sichtbar gemacht und Lösungsideen entwickelt
werden. Wenn das „Lösungsbild“ konsensualisiert ist, besteht die wesentliche thera-
peutische Herausforderung darin, die für die Annäherung an das Lösungsbild notwen-
digen und zeitnah möglichen konkreten Schritte festzulegen: „Was wäre der erste
Schritt in die gute Zukunft?“ Auf diese Weise wird die „positive Energie“ des Lösungs-
bildes („Lösungstrance“) genützt, um konkrete Veränderungsschritte zu entwickeln,
was für den Transfer ins „echte Leben“ oft unerlässlich ist.

3.1.7 Die sechste Stunde: Alice im Wunderland

In der sechsten Stunde hat sich das Symptom eigentlich zurückgezogen. Bis auf eine
Ausnahme (Opas 75. Geburtstag), war Kunibert nie zu Besuch. Und auch dieses „Bauch-
grummeln“ lässt sich schnell mit „Aufregung“ reframen, schließlich hatte Michelle dort
eine wichtige Aufgabe (die Torte zum richtigen Zeitpunkt reinschieben). Michelle ist
dabei, sich zwischen zwei Sportangeboten zu entscheiden (Schnupperstunden wurden
vereinbart) und Frau U. war ebenso einmal in einem nahen Fitnesscenter mit Sauna
schnuppern. Also eröffne ich einen Meta-Diskurs über die bisher erreichten und even-
tuell noch offene Therapieziele. Gelungen ist aus Sicht der Familie Folgendes:
55 Das Symptom ist eigentlich weg.
55 Michelle hat mehr Selbstständigkeit gewonnen und mehr Selbstvertrauen entwickelt.
55 Sie kann auch besser Grenzen setzen.
55 Auch die Mutter schaut besser auf sich.

Wir vereinbaren, die Therapiesitzungen nicht mehr alle 14 Tage, sondern nur mehr alle
sechs Wochen abzuhalten. Ich frage die beiden, worüber wir denn hier noch reden soll-
ten, damit es auch „wirklich nützlich ist“. Beide thematisieren Verena  – „die ist so
schwierig“. Ich bleibe eher abwehrend: Ob das wirklich klug sei, über abwesende Dritte
zu sprechen? Ob die Mutter stattdessen nicht Verena fragen könnte, ob sie Lust hat,
einmal mitzukommen? Zögerlich stimmt sie zu. Ein anderer abwesender Dritter jedoch
wird in dieser Stunde „unabsichtlich“ sehr sichtbar: der Vater.
Michelles Vater kommt über die Hintertür herein, bei einem Thema, das ich von mir
aus anspreche: die Wut. Schließlich könnte das Symptom auch eine Art „Wut im Bauch“
sein ...
Th.: „Das hat irgendwie in mir gearbeitet, wisst ihr, und ich hab mir gedacht, ich sprech´s
einfach an – ok? Ich hab mich gefragt, wie das in Eurer Familie genau ist mit der
Wut. Irgendwie bin ich da neugierig geworden letzte Stunde ...“
34 K. Henz-Hölzl und E. Wagner

Beide stimmen zu, darüber zu reden. Ich eröffne den Dialog mit einer Normalisierung:
Wut sei etwas „ganz Normales“, das komme in allen Familien vor, dass jemand mal
wütend sei auf wen anderen. Das wäre sogar sehr komisch, wenn man nie wütend wäre
aufeinander. Beide nicken. Ich frage weiter: Wer in der Familie sei denn auf wen „am
liebsten wütend“? Michelle meint, sie sei oft auf ihre Schwester Verena wütend und auf
den Vater. Und die Mama sei oft auf die Oma wütend und auf Verena und auch auf den
3 Vater. Und Verena sei auf Michelle wütend und auf die Mama und auf den Vater. Ich
hake nach: „Oje, der Papa, auf den sind ja alle irgendwie wütend, oder?“ Wieder nicken
beide. „Aber keiner zeigt´s, oder wie?“ „Ich schon!“ kommt es wie aus der Pistole
geschossen von Michelle. Frau U. lächelt etwas verschämt und meint „Ich kann das nicht
so gut, glaub ich ...“ Da der Vater also offenbar als „anwesender Abwesender“ (er wohnt
nicht regulär bei der Familie und kommt nur „zu Besuch“) viel Aggression im System
erzeugt (und eine meiner Hypothesen ja ist, dass der (anstehende) Beziehungskonflikt
der Eltern durch das Symptom in den Hintergrund getreten ist) exploriere ich die Rolle
von Herrn U. Warum Michelle denn so sauer sei auf ihren Vater? Er sei tatsächlich ein
„abwesender Anwesender“, er habe sich nie mit den Kindern auseinandergesetzt, wenn
er da sei, schaue er fern oder beschäftige sich mit dem Computer, er sei eher „wie ein
lästiger kleiner Bruder, oder?“ sagt Michelle und wendet sich dabei der Mutter zu. Diese
nickt stumm und lächelt hilflos. Es wirkt so, als ob Michelle die „Deutungsmacht“ über
den Vater hat, denn sie fährt fort: „Er hat keine Logik, er nervt halt und er müsste mehr
machen, z.B. arbeiten gehen!“ Das sage sie der Mama auch oft, diese nehme den Vater
aber in Schutz. Bei dieser Beschreibung schaltet sich die Mutter lächelnd ein und ergänzt:
„Ja, das stimmt, das tut sie oft. Ich nenne sie dann immer ‚mein Liebesorakel’.“
Ich zeige mich erstaunt: Ob das was ich gerade gesehen hätte, öfter vorkomme in der
Familie U.? Dass nämlich Michelle so tue, als ob sie die Erziehungsberechtigte sei?
Th.: Wie alt wirkt Michelle denn, wenn sie da so als Liebesorakel auftritt?
Frau U.: Naja, so ca. 22 Jahre alt ... wie die Sonja ...
Th.: Aha, und damals, als der Kunibert noch zu Besuch kam, wie alt war sie da?
Frau U.: Jedenfalls jünger, so um die fünf ...
Th.: Das klingt ja, als ob Michelle Zauberkräfte hätte wie Alice im Wunderland? Die
kann ja auch mithilfe von Zauberpilzen mal größer, mal kleiner werden ...?
Frau U.: Ja, stimmt irgendwie ...
Th.: Aber dazwischen ist Michelle schon die meiste Zeit zwölf, oder?
Frau U.: Ja, schon!
Mi.: Glaub schon!

Ich bitte die Mutter, diese Hypothese beobachtend zu überprüfen. Sie ist einverstanden.
Auch biete ich an, den Papa einmal hierhin mitzubringen. Beide sind skeptisch, ob die-
ser das wolle, stimmen aber zu, ihn zu fragen. Auch meine Einladung an Verena bleibt
aufrecht. Da das Symptom mittlerweile vollständig verschwunden ist, schlage ich vor,
die nächste Stunde nur mit der Mutter (am besten mit den Eltern), aber ohne Michelle
abzuhalten, diese könne dann danach eventuell noch einmal vorbeischauen. Obwohl
das Symptom verschwunden war, hatte ich doch Sorge, dass es sich (eventuell in abge-
wandelter Gestalt) wieder einstellen könnte, sollte es nicht gelingen, die Vermeidung
der notwendigen Klärung der Paarbeziehung aufzugeben. Da dies ein Thema auf der
Elternebene war, sollte Michelle bei diesem Gespräch nicht dabei sein.
Michelle: Es könnte zum Kotzen sein
35 3
3.1.8  as offen bleibt (und vielleicht auch nie aufgegriffen
W
wird ...)

Die siebte Stunde sagt Frau U. telefonisch ab. Sie habe jetzt nicht mehr so viel Zeit, weil
sie seit Neuestem einen Job habe, das sei ganz spontan passiert über eine Bekannte, sie
habe da gar nicht lange überlegt ... Allen gehe es gut, vor allem Michelle, und sie glaube,
dass Familientherapie jetzt nicht mehr so notwendig sei. Sollte es „noch etwas geben“,
würde sie sich rühren. Ich gratuliere herzlich und stimme zu. Frau U. hat sich bis heute
nicht mehr bei mir gemeldet.

3.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis

Michelle ist eine sprachlich und bezüglich Selbstwahrnehmung gut entwickelte Zwölfäh-
rige, die Mutter grundsätzlich liebevoll, aber  – so die Hypothese  – aufgrund eigener
Konflikte zum einen mit ihrer Mutter, von der sie sich nie richtig abgelöst hat, zum ande-
ren mit ihrem Mann, ihrer Tochter gegenüber in einem hohen Ausmaß gewährend und
gewisse mütterliche Verantwortungsbereiche vernachlässigend. Da das Symptom durch
die bereitwillig gewährte Unterstützung der Mutter aufrechterhalten wurde und auf-
grund der innerfamiliären Funktionalität chronifizieren konnte, war das Familiensetting
dem Einzelsetting vorzuziehen. Lösungsorientierte Familientherapie erfordert nicht die
vollständige Anwesenheit der ganzen Familie: Nicht alle am Problem Beteiligten müssen
teilnehmen, es genügt die Beteiligung derer, die etwas zur Lösung beitragen wollen.
Methodisch wurde dabei großteils „Einzeltherapie in Anwesenheit des anderen“ (vgl.
Hinsch u. Hinsch 2010) durchgeführt, wodurch die Mutter viel Neues über ihre Tochter
erfahren hat. Darüber hinaus lernt die Mutter so nebenbei eine andere, erwachsenere
Art des Umgangs mit ihrer Tochter kennen: „Aha, so kann man auch mit einem Kind
reden ...“ (Lernen am Modell). Beides wäre in einer Einzeltherapie nicht möglich. Sonst
wurden in dieser Therapie die „klassischen“ systemischen Interventionen eingesetzt:
55 Auftragsklärung (Was müsste/darf keinesfalls passieren?)
55 Genogramm (Wer gehört alles zum System?)
55 Metaphern-Arbeit (das Symptom als Fernbedienung, um mütterliche Aufmerk-
samkeit zu sichern; Alice im Wunderland)
55 Ressourcenorientierung (Was sind Michelles Stärken?)
55 Reframing (Aufgeregtheit statt Übelkeit)
55 Externalisieren und Symbolisieren des Symptoms sowie „Verabschiedung des
Symptoms“ („Kunibert nicht verärgern“, würdigen der Funktionalität)
55 Fragen nach Ausnahmen und Unterschieden (Wann tritt Kunibert nicht in
Erscheinung?)
55 Familienbrett (Wer steht wem nahe, Arbeit am Lösungsbild)
55 Zielarbeit: Was ist in einem Jahr möglich?

Bezüglich Auftragsorientierung interessiert sich die Therapeutin natürlich für die kon-
kreten Erwartungen („Das Symptom soll verschwinden und wir wollen wissen, woher
das kommt!“), entwickelt darüberhinaus aber auch Hypothesen, z.B. bezüglich Paarkon-
flikt der Eltern und Parentifizierung von Michelle, die sie der Familie nicht zwingend
36 K. Henz-Hölzl und E. Wagner

mitteilen muss (vgl. „dosierte Selbstbeauftragung“ in Wagner et al. 2016). Ein einziges
Mal bietet sie ihre Sichtweise von sich aus an („Wie ist das eigentlich genau mit der
Wut?“), ohne einen direkten Auftrag dazu erhalten zu haben. Wie vorsichtig („fein
dosiert“) mit Hypothesen umzugehen ist, die von den Betroffenen nicht selber ange-
sprochen werden, zeigt sich in der Reaktion der Mutter – sie beendet die Familienthera-
pie, als ihr Partner konkret eingeladen wird und zeigt der Therapeutin damit klar ihre
3 Grenzen auf („Dazu bin ich noch nicht bereit!“)
Was also ist eigentlich genau gelungen? Michelle konnte sich von ihrem Symptom
distanzieren, indem ihr statt der Rolle der leidenden Beobachteten die der kompetenten
Beobachterin angeboten wurde. Die Aufgabe, im gemeinsam erstellten Diagramm das
Übelsein genau zu differenzieren, dient nicht nur der Dekonstruktion der generalisier-
ten Beschreibung, sondern ist auch im strategischen Sinn als Musterunterbrechung zu
verstehen, da Michelle nun vom Problemopfer („Es passiert mir“) zur Lösungstäterin
(„Ich habe Einfluss darauf “) werden konnte. Da mit diesem Wechsel ein Verlust der
Kleinkindrolle verbunden war, musste ein anderer Kontext geschaffen werden, in dem
Michelle um- und versorgt wird: Die Mutter wird darin unterstützt, neue „mütterliche“
Aufgaben zu erfüllen, wie Frühstück machen, gesundes Essen zuzubereiten und ein
Hobby für ihr Kind finden. Gleichzeitig wird Frau U. motiviert, ihren eigenen Aktions-
radius zu erweitern, was Michelle ebenfalls entlasten sollte. Ablösung und Autonomie-
entwicklung gelingen so anders und neu. Die Hypothesen zur Funktionalität des
Symptoms waren damit nützlich, um der Therapeutin eine Landkarte zu verschaffen.
Sie müssen aber nicht explizit ausgesprochen werden, um wirksam zu sein. Paradoxer-
weise tut die Mutter am Ende genau das, was die Therapeutin günstig finden würde, um
nicht tun zu müssen, was die Therapeutin günstig finden würde: Sie sucht sich einen Job
(= sie löst sich aus der Verstrickung mit ihrem eigenen System) und kann daher keine
weiteren Sitzungen wahrnehmen, in denen sie sich mit der Verstrickung auseinander-
setzen müsste.

Literatur
Hinsch J, Hinsch K (2010) Vom Pendeln zwischen Autonomie und Bezogenheit. In: Brandl-Nebehay A,
Hinsch J (Hrsg) Paartherapie und Identität – Denkansätze für die Praxis. Carl Auer, Heidelberg
Nardone G (2007) Pirouetten im Supermarkt – Strategische Interventionen für Therapie und Selbsthilfe.
Carl Auer, Heidelberg
Wagner E, Henz K, Kilian H (2016) Störungen systemisch behandeln: Persönlichkeitsstörungen. Carl
Auer, Heidelberg
White M, Epston D (2006) Die Zähmung der Monster. 5.Aufl. Carl Auer, Heidelberg
37 4

Lukas: Dir gehört mein


Herz!
Therapie eines zehnjährigen Jungen mit der Diagnose
„Störung des Sozialverhaltens“ und seiner Mutter

Sigrid Binnenstein und Elisabeth Wagner

4.1 Fallverlauf – 38
4.1.1 E rstgespräch – 38
4.1.2 Zweites Gespräch: Erarbeiten von einem gemeinsa-
men Verständnis der Problemzusammenhänge – 41
4.1.3 Drittes Gespräch mit der KM – 42
4.1.4 Viertes Gespräch mit der KM – 44
4.1.5 Das erste Mutter-Sohn-Gespräch: Kennenlernen,
Klärung der Veränderungsmotivation und
Externalisieren – 45
4.1.6 Das zweite Mutter-Sohn-Gespräch: Schöne
Erinnerungen – 47
4.1.7 Das dritte Mutter-Sohn Gespräch: Das Lied – 48
4.1.8 Das vierte Mutter-Sohn-Gespräch: Das hat nichts mit
dir zu tun! – 49
4.1.9 Das fünfte Mutter-Sohn-Gespräch: Malen eines
Herzens – 50
4.1.10 Das sechste Mutter-Sohn-Gespräch:
Die Unzertrennlichen – ein Beziehungsdenkmal – 51
4.1.11 Abschlussgespräch – 52

4.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis – 52

Literatur – 55

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


E. Wagner, S. Binnenstein (Hrsg.), Wie systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
wirkt, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55547-7_4
38 S. Binnenstein und E. Wagner

Die Kindesmutter wendet sich wegen bereits langer Zeit anhaltender Verhaltensprobleme
ihres zehnjährigen Sohnes Lukas an die Beratungsstelle. Eine klinisch-­psychologische Dia-
gnostik wurde vor Kurzem durchgeführt, Diagnose: Störung des Sozialverhaltens. Die Kin-
desmutter hat bereits eine Vielzahl an Hilfsangeboten in Anspruch genommen. Um das
Risiko eines neuerlichen Scheiterns zu minimieren, wurde der Auftragsklärung besonders
viel Aufmerksamkeit geschenkt. Nachdem mit der Kindesmutter ein Verständnismodell
der Problemdynamik entwickelt wurde, folgte eine Einbeziehung von Lukas in die Thera-
pie. Im Familiensetting wurden lösungsorientierte und erlebnisorientiere Interventionen
4 mit dem Fokus der Beziehungsstärkung angewandt. Die Therapie erstreckte sich über elf
Termine in einem Zeitraum von acht Monaten.

4.1 Fallverlauf

Frau M. wendet sich an die Beratungsstelle auf der Suche nach einer Gruppentherapie
für ihren zehnjährigen Sohn Lukas. Da aktuell an der Beratungsstelle keine passenden
Therapiegruppen angeboten werden, biete ich Frau M. ein Erstgespräch an, in dem wir
klären können, ob auch ein anderes therapeutisches Angebot hilfreich sein könnte. Da
Frau M. bereits am Telefon eine lange Problemgeschichte andeutet und das Anliegen
noch unklar ist, lade ich Lukas zu diesem Gespräch noch nicht ein.

4.1.1 Erstgespräch

Im Erstgespräch berichtet Frau M., dass Lukas vor einem Monat zum wiederholten Mal
und auf ihren Wunsch klinisch-psychologisch getestet wurde. Der Psychologe hat eine
Gruppenteilnahme für Lukas empfohlen mit der Idee, seine sozialen Fähigkeiten im
Umgang mit Gleichaltrigen, zu verbessern. Im Verlauf des Gesprächs sind aber weniger
die Schwierigkeiten mit Gleichaltrigen als vielmehr Schwierigkeiten zwischen der Mut-
ter und Lukas Thema. Lukas habe häufige Wutanfälle, er beschimpfe seine Mutter, hält
sich oft nicht an Regeln und relativ unbedeutende Meinungsverschiedenheiten eskalie-
ren schnell. Auch im schulischen Bereich gibrt es immer wieder Verhaltensprobleme
von Lukas. Frau M. beschreibt Lukas als „immer schon schwierig“, wobei sie aber auch
betont, dass er „schon viel mitgemacht“ hat und sie als Mutter sicher auch viele Fehler
gemacht habe. Frau M. lebt gemeinsam mit Lukas (zehn Jahre) und seinem Halbbruder
Daniel (fünf Jahre). Sie arbeitet halbtags in einer Steuerberatungskanzlei im Sekretariat.
Lukas besucht die 4. Klasse einer Volksschule (in Deutschland: Grundschule), Daniel
den Kindergarten. Mit dem leiblichen Vater von Lukas hatte Frau M. nur eine kurze
Beziehung, das Paar hat nie gemeinsam gelebt. Lukas hat seinen Vater erst im 5. Lebens-
jahr kennengelernt. In Folge gab es ca. zwei Jahre lang regelmäßigen Kontakt. Als der
Kindesvater sich von seiner damaligen Lebensgefährtin getrennt hat, ist er in ein ande-
res Bundesland gezogen und hält seither kaum Kontakt zu Lukas. Frau M. berichtet,
dass sie sich eine Zeit lang sehr um den Kontakt bemüht habe und sie Lukas auch wün-
schen würde, dass sich sein Vater wieder mehr für ihn interessiere. Nachdem Lukas
häufig enttäuscht wurde, weil vereinbarte Treffen vom Vater kurzfristig abgesagt wur-
den, hat sie ihre Bemühungen reduziert. Als Lukas drei Jahre alt war, lernte sie Herrn K.,
Lukas: Dir gehört mein Herz!
39 4
den Vater von Daniel, kennen. Mit ihm lebte sie fünf Jahre zusammen. Vor zwei Jahren
kam es zur Trennung. Herr K. kümmert sich regelmäßig um Daniel, aber auch um
Lukas. Er sei eindeutig eine wichtige Vaterfigur für Lukas. Eine weitere wichtige Bezugs-
person für Lukas ist der mütterliche Großvater. Aktuell hat Frau M. eine Beziehung mit
Herrn T., die sie als schwierig erlebt, da sie sich zwischen den Aufgaben als Mutter, ihrer
beruflichen Tätigkeit und den Ansprüchen des Partners zerrissen fühlt. Er verbringe
auch nicht so gerne Zeit mit den Kindern, wenn sie zusammen sind, kommt es häufig
zu Konflikten zwischen Herrn T. und Lukas. Herr T. kritisiere Lukas Verhalten und auch
Frau M., weil diese ihn seiner Meinung nach nicht richtig erziehe. Frau M. selbst ist die
jüngste von insgesamt fünf Geschwistern. Ihre Eltern haben sich getrennt, als sie neun
Jahre alt war. Sie habe sich damals entschieden, bei ihrem Vater zu bleiben. Sie beschreibt
die Zeit als sehr schwierig, da sie vor und nach der Trennung viele Konflikte der Eltern
mitbekommen habe. Der Vater habe sehr viel gearbeitet und wenig Zeit für die Kinder
gehabt. Der Kontakt zur Mutter habe nach der Trennung kaum mehr bestanden. Mit
ihren Geschwistern und ihrem Vater hat Frau M. bis heute viel Kontakt. Sie fühle sich
aber vor allem von ihren Geschwistern nicht ernst genommen. Bei ihren Problemen mit
Lukas mischen sich alle ein und geben ihr das Gefühl, nichts richtig zu machen. Mit
ihrem Vater, der auch immer wieder die Betreuung von Lukas und Daniel übernimmt,
habe sie auch immer wieder unterschiedliche Meinungen in Erziehungsfragen. Nach
mehreren klärenden Gesprächen in den letzten Monaten habe sie nun den Eindruck,
dass sie mehr an einem Strang ziehen.
Problembeschreibung und Lösungsversuche: Frau M. berichtet, dass bereits die
Neugeborenenzeit mit Lukas sehr schwierig gewesen sei. Er war als Baby sehr unruhig
und hat viel geschrien. Frau M. führt dies auf die schwierige Geburt zurück. Damals half
Craniosacraltherapie. Doch seine Unruhe blieb. Seine Kleinkindzeit erlebte Frau M.
insgesamt als sehr anstrengend. Lukas sei sehr gerne in den Kindergarten gegangen. Die
Pädagoginnen hätten ihr aber häufig rückgemeldet, dass sein Sozialverhalten unange-
messen sei. Mit Beginn der Schulzeit bekam sein unangemessenes Verhalten eine neue
Bedeutung. Es fiel ihm sehr schwer, sich an die Regeln in der Schule zu halten, sich zu
konzentrieren, seine Dinge in Ordnung zu halten. Die Nachmittage zu Hause sind oft
mit Kämpfen und Diskussionen zwischen Frau M. und Lukas rund um die Hausaufga-
ben „vergiftet“. Erschwerend erlebt Frau M., dass Lukas eine Lehrerin habe, die nach
ihrem Empfinden viel besser mit den ruhigen Mädchen zurechtkomme. Seit Beginn der
2. Schulklasse wird Lukas auch regelmäßig von einer Beratungslehrerin betreut. Im letz-
ten Schuljahr war Lukas häufiger in Raufereien und Streitereien mit Mitschülerinnen
verwickelt. Dann gab es einen Vorfall, der damit geendet hat, dass sich Lukas im WC
eingesperrt hat, er hat geschrien, geschimpft, mit Sachen um sich geschmissen. Die
Direktorin hat ihn daraufhin für sechs Wochen von der Schule suspendiert, er ver-
brachte diese Wochen in einer Sondererziehungsklasse in einer anderen Schule. Dies
war für Lukas eine extrem schwierige Situation. Frau M. berichtet, dass er zu dieser Zeit
auch mehrmals geäußert hätte, dass er nicht mehr leben will.
„Was ist nur los mit meinem Kind? Warum ist er so zappelig? Warum so aggressiv?
So weinerlich? So widerständig? So leicht aus der Bahn zu bringen? Hat er ADHS?“
Das sind Fragen, die sich Frau M. immer wieder stellt. Um Antworten zu bekommen,
hat sie Lukas schon dreimal psychologisch testen lassen. Wirklich hilfreich waren die
Rückmeldungen für sie nicht. Die von ihr vermutete ADHS-Diagnose wurde zweimal
40 S. Binnenstein und E. Wagner

ausgeschlossen. Über einen längeren Zeitraum bekam Lukas unterstützend Bachblü-


ten und andere Tropfen sowie Globuli. Lukas nahm an einem Aufmerksamkeitstrai-
ning teil. Es gab Termine bei einer Mentaltrainerin, bei einer Bioresonanztherapeutin,
einer Psychotherapeutin, in einer Erziehungsberatungsstelle. Manches hat ein biss-
chen geholfen, aber nichts wirklich. Ein weiteres Thema, das Frau M. erst gegen Ende
des Gesprächs erwähnt, ist, dass sie mit Lukas häufig ins Spital fahre, da er heftig
erbricht. Die Ärzte haben keine Erklärung dafür. Frau M. formuliert, dass sie wirklich
nicht mehr weiterweiß. Sie habe das Gefühl, schon alles probiert zu haben. Zusam-
4 menfassend meint sie zu den Rückmeldungen aller Expertinnen und Experten: „Sie
vermitteln mir, dass Lukas ein ganz normaler Junge ist und dass ich selbst Unterstüt-
zung brauche.“ Aber, so meint sie, das habe sie mit der Erziehungsberatung ja auch
schon probiert. Sie habe schon so viele verschiedene Ratschläge und Erziehungstipps
bekommen. Sie wisse jetzt erst recht nicht mehr, was richtig sei.
Wir sammeln, welche Themen möglicherweise belastend für Lukas sein könnten, da
sie ja zu Beginn des Gesprächs davon gesprochen hat, dass er „schon viel mitgemacht
habe“:
55 Er war ein nicht geplantes Kind: „ … ich habe mich noch zu jung für ein Kind
gefühlt!“
55 Die Tatsache, dass sie selbst oft überfordert ist und dann unpassend reagiert
(zu aggressiv, zu inkonsequent)
55 Mehrere Umzüge/Wechsel für Lukas
55 Miterleben der Trennungen/neuen Beziehungen
55 Mögliche Trauer/Wut von Lukas darüber, dass sich sein Vater nicht um ihn
kümmert
55 Eifersucht auf den Bruder, dessen leiblicher Vater sich regelmäßig um ihn
kümmert

Obwohl sie selbst also viele Erklärungen für Lukas Verhalten formuliert und auch
Zusammenhänge zu ihrem eigenen Erziehungsverhalten herstellt, scheint sie weiter auf
der Suche nach etwas, das mit Lukas „nicht in Ordnung ist“. Ihr Anliegen ist, dass Lukas
ein Therapieangebot bekommt. Sie möchte, dass er einen Raum bekommt, in dem ihm
wer anderer dabei helfen kann, besser mit sich zurechtzukommen. Welche weitere Vor-
gehensweise ist hier sinnvoll? Folgende Überlegungen gehen mir durch den Kopf:
Würde ich Frau M. ein Angebot zur Erziehungsberatung machen, würde ich verstärken,
was sie bisher von vielen Fachleuten gehört hat und bis jetzt aber leider keine Verbesse-
rung gebracht hat. Daher ist das Risiko, dass dieses Angebot ihre Hilflosigkeit verstärkt,
anstatt ihr im Umgang damit hilft, groß. Würde ich an dieser Stelle ein Therapieangebot
für Lukas machen, würde ich zwar ihrem Wunsch entsprechen, und vielleicht wäre dies
auch hilfreich und würde von Lukas gerne angenommen, es birgt aber die Gefahr, dass
sich erstmals an den wahrscheinlich aufrechterhaltenden Bedingungen (Drohungen,
Eskalation, Aggression etc.) und somit auch an der Symptomatik nichts ändert. Ich
brauche mehr Zeit: Zeit, um ihr Anliegen wirklich zu verstehen, um all ihre Bemühun-
gen zu würdigen, um ein passendes Angebot zu finden. Mein Vorschlag an Frau M.
nach dem Erstgespräch ist daher, dass wir uns noch ein bisschen Zeit nehmen, um
gemeinsam zu überlegen, wann und mit welcher Idee wir Lukas in den therapeutischen
Prozess einladen. Frau M. ist damit einverstanden. Es folgen insgesamt drei weitere
Gespräche mit Frau M.
Lukas: Dir gehört mein Herz!
41 4
4.1.2  weites Gespräch: Erarbeiten von einem gemeinsamen
Z
Verständnis der Problemzusammenhänge

zz Zwei Wochen nach dem Erstgespräch


Frau M. kommt heute recht ruhig zum Termin. Es gab keine Eskalation in der letzten
Woche. Eine gute Voraussetzung, um sich in Ruhe den möglichen Problemzusammen-
hängen zu widmen. Ich erkläre Frau M., dass ich sichergehen will, dass ich sie bisher
richtig verstanden habe und dass ich daher gerne mit ihr gemeinsam aufzeichnen
würde, welche Themen sie eingebracht hat und wie die Zusammenhänge sein könnten.
Ich lade sie ein, mich zu korrigieren, falls ich etwas falsch verstanden habe. Und: wir
sind nicht auf der Suche nach einer Wahrheit, sondern nach möglichen Zusammenhän-
gen. Ich zeichne eine Skizze auf (. Abb. 4.1).

Bevor ich die Worte hinschreibe, fasse ich immer kurz zusammen, welche ihrer Mit-
teilungen mich zu diesem Verständnis bringt – und versuche dabei, ihre Worte zu ver-
wenden. So würde ich z.B. von mir aus nicht den Ausdruck „schwache Nerven“
wählen  – wenn es aber die Worte der Klientin sind, dann übernehme ich sie, um
Anschlussfähigkeit zu erzeugen. Gemeinsam entwickeln wir folgendes Problemver-
ständnis: Ein vom Temperament her unruhiges Kind, in der Sprache der Entwicklungs-
psychologie ein „difficult baby“. Ich erzähle so nebenbei über Babys mit unruhigem
Temperament, die die kompetentesten Eltern mit allen Ressourcen an den Rand der
Verzweiflung bringen können. Die Botschaft soll eine Normalisierung sein: Da gibt es
sogar einen Forschungszweig, es gibt Fachbegriffe – nicht nur mein Baby/Kind ist so.
Eigene Belastungen, die dazu führen, dass es so was wie schwache Nerven gibt. Als
eigene Belastung empfindet Frau M., dass ihr ihre Mutter als Kind sehr gefehlt hat, sie
habe starke Verlustängste, sie grüble zu viel, sie binde sich zu stark an einen Partner, ...
sie hat deswegen auch schon Antidepressiva genommen. Sie beschreibt, dass sie als
Kind genau so war wie Lukas, sie seien sich sehr ähnlich.
Drohungen werden seitens Frau M. dann ausgesprochen, wenn sie nicht mehr wei-
terweiß. Im Nachhinein gesehen überzogene Verbote, deren Einhaltung ihr dann wieder

..      Abb. 4.1  Skizze zu möglichen Problemzusammenhängen


42 S. Binnenstein und E. Wagner

zu anstrengend ist. Oder im schlimmsten Fall die Drohung, dass Lukas nicht in der
Familie bleiben kann, wenn er sich weiter so benimmt.
Unsicherheit, über die Frau M. auf mehreren Seiten berichtet. Wie soll ich richtig
erziehen? Welche Regeln soll ich aufstellen? Wie soll ich konsequent bleiben? Für Lukas:
was gilt zu Hause? Worauf kann ich mich verlassen? Was ist wirklich wichtig? Und vor
allem: habe ich hier wirklich meinen Platz? Bin ich hier erwünscht?
In der Interaktion kommt es daher zu häufigen Eskalationen. Diese sind aufseiten der
Kindesmutter (KM) manchmal mit Drohungen verbunden, was wiederum die Unsicher-
4 heit und somit auch die Unruhe von Lukas verstärkt und die Nerven der KM wiederum
schwächt. Die Liebe und Zuneigung haben immer weniger Chancen. Frau M. stimmt
diesen möglichen skizzierten Zusammenhängen und Wechselwirkungen zu. Meine
Absicht war, mit Frau M. eine für sie nützlichere Sichtweise der Schwierigkeiten zu entwi-
ckeln. Statt sich durch Grübeleien über die Ursachen des Problems und Schuldgefühle
schwächen zu lassen, wollte ich Frau M. dabei unterstützen, Verantwortung für ihr Erzie-
hungsverhalten zu übernehmen. Darauf hat sie Einfluss, auch wenn Erziehung manchmal
ganz schön schwierig ist, und es ihr die Umstände (Alleinerziehende) noch schwerer
machen. Wir besprechen, welche möglichen Auswirkungen es haben könnte, wenn sie
selbst mehr Gelassenheit hätte und es schaffen würde, auf Drohungen in Zukunft zu ver-
zichten. Als Ziele für die nächsten Gespräche vereinbaren wir folgende Themen:
55 Suche nach Möglichkeiten zur Stärkung ihres „Nervenkostüms“
55 Überlegungen zur Schaffung von mehr Ruhe für alle in der Familie
55 Klärung von Rollen und der damit verbundenen Rechte und Pflichten (Mama
und Kind)

Wir besprechen, dass, selbst wenn sie etwas ändert, Lukas möglicherweise erst einmal
unruhig und unsicher bleiben wird. Aber die Chance auf Veränderung wird größer. Und
auch in die Therapie können wir ihn dann besser einbeziehen. Frau M. wirkt hoffnungsvol-
ler. Ich mache mir Sorgen, dass die Worte „weniger Zuneigung“, die auf der Skizze stehen,
die Schuldgefühle von Frau M. noch verstärken könnten: Schuld, ihr Kind anfangs nicht
gewollt zu haben und dann nicht genug lieben zu können. Um dieser Dynamik entgegen-
zuwirken, nehme ich am Ende der Stunde ein Steinherz aus meiner Symbolkiste und lege
es neben die Skizze. „Frau M., ich möchte dieses Herz hier als Zeichen ihrer Liebe zu
Lukas – die für mich aus ihren Erzählungen ganz deutlich wird – herlegen. Ich möchte,
dass Sie sicher sind, dass ich diese Liebe nicht anzweifle. Ihre Liebe zu Lukas ist auch der
Grund, weshalb Sie hier sitzen und versuchen, die Situation zu verbessern. Weil Sie dieser
Liebe mehr Chance geben wollen, ... Vielleicht hilft es Ihnen auch zwischendurch, sich an
diese Liebe zu erinnern, selbst wenn wir gerade über schwierige Konfliktsituationen
reden.“ – In den nächsten Stunden lege ich das Herz immer wieder auf den Tisch.

4.1.3 Drittes Gespräch mit der KM

zz Zwei Wochen nach dem letzten Gespräch


Frau M. berichtet stolz, dass es einige Situationen gegeben hat, in denen es ihr gelungen
ist, konsequent zu bleiben. Die Beziehung zu ihrem Freund hilft ihr indirekt dabei. Sie
merkt, dass sie wieder eine Beziehung will. Und damit das funktionieren kann, muss sie
Lukas: Dir gehört mein Herz!
43 4
eben konsequenter sein. Über den Satz, „Nur wenn es mir selbst gut geht, kann es auch
meinem Kind gut gehen!“, der in der letzten Stunde formuliert wurde, hat sie viel nach-
gedacht. Irgendwie denkt sie, dass da was dran sein könnte. Sie hat beobachtet, dass sie
ruhiger und besser mit den Kindern spielen kann, wenn es ihr selbst gut geht. Aber der
Satz löst auch schlechtes Gewissen aus: „Darf ich es mir als Mutter erlauben, dass ich auf
mich schaue?“ Das schlechte Gewissen wird vom sozialen Umfeld noch verstärkt. Etwa
dadurch, dass ihre Schwester ihr vorwirft, dass sie ein Wochenende ohne die Kinder
verbringt. Die Schwester hätte sich diese Freiheit noch nie genommen, seit sie Mutter
sei. Im Zusammenhang mit dem Thema Rechte und Pflichten erfahre ich, dass Lukas
bereits sehr selbstständig ist. Da Frau M. sehr früh zu arbeiten beginnt, erledigt er seine
Morgenroutine beinahe ohne Unterstützung. Er steht mithilfe eines Weckers auf, berei-
tet sich sein Frühstück selbst zu, packt sein Pausenbrot ein, zieht sich an und geht dann
zur Schule. Am Nachmittag ist er viel mit Freunden draußen unterwegs. Insgesamt ist
die Bewegungsmöglichkeit im Freien sehr wichtig für ihn. Frau M. ist überrascht, dass
ich vieles von dem, was sie beschreibt, als Kompetenzen von Lukas bezeichne: sie hat
das bislang nicht so gesehen. Er tut eben das, was notwendig ist. Ich melde ihr zurück,
dass ihr da scheinbar ganz viel in der Erziehung gelungen ist, dass sie Lukas viel bei-
gebracht hat, sodass er schon so selbstständig sein kann. Ich erzähle, dass bei neuen
Entwicklungsschritten der Kinder in einem Bereich manchmal auch Rückschritte in
anderen Bereichen zu beobachten sind. Und auch wenn sie das von Lukas nicht berich-
tet – was könnte er denn möglicherweise als Ausgleich für seine schnelle Selbstständig-
keitsentwicklung brauchen? Was könnte ihm die Sicherheit geben, dass Selbstständigsein
nicht heißt, nichts mehr brauchen zu dürfen? Frau M. meint, dass Kuscheln am Abend
eine Möglichkeit wäre. Sie wird es einmal ausprobieren, sich Zeit dafür zu nehmen und
schauen, ob Lukas das möchte. Frau M. hat noch etwas Neues eingeführt: Lukas
bekommt jetzt Taschengeld, auch das bringt sie mit unserem Gespräch über „Rechte
und Pflichten“ in Zusammenhang. Sie hat kurz darauf gehört, wie sich andere Mütter
über den Umgang mit dem Taschengeld ihrer Kinder unterhalten haben. Sie hat sich
dann überlegt, wieviel Taschengeld sie Lukas geben möchte und wofür er es ausgeben
darf. Lukas hat sich sehr über diese Neuerung gefreut. Frau M. erhofft sich, jetzt keine
Diskussionen über die kleinen Wünsche des Alltags mehr führen zu müssen. Oder
zumindest weniger. Frau M. überlegt auch, ob Lukas noch ein zusätzliches sportliches
Angebot (Karate oder Judo) bräuchte, das seinem Bewegungsdrang Rechnung trägt.
Wir besprechen dann auch noch einige Konfliktsituationen. Während eines Streits
macht Lukas manchmal Aussagen, die Frau M. sehr treffen und ohnmächtig machen.
Zum Beispiel: „Du hast mich sowieso immer nur gehauen!“ oder „Du willst mich eh‘
nicht haben!“ Mit großer Scham meint sie, dass er damit ja auch recht hat oder zumin-
dest recht hatte. Wir überlegen, was ihr helfen könnte, damit diese Aussagen sie nicht
immer wieder handlungsunfähig und ohnmächtig werden lassen. Sie ist mit der Unter-
scheidung zufrieden: Manches was ich früher gemacht und gesagt habe, tut mir leid,
aber jetzt ist es anders. Die Sicherheit zu gewinnen, dass die Vorwürfe jetzt nicht mehr
stimmen, könnte ihr helfen. Am Ende der Stunde formuliert Frau M. die Frage, ob
Lukas das nächste Mal denn nicht mitkommen könnte, denn immerhin braucht er ja
auch Unterstützung. Ich verweise darauf, dass ich mit ihr wirklich gut vorbesprechen
möchte, mit welcher Idee wir ihn einladen. Und dass wir uns dafür beim nächsten Ter-
min Zeit nehmen können.
44 S. Binnenstein und E. Wagner

4.1.4 Viertes Gespräch mit der KM

zz Zwei Wochen nach dem letzten Termin


Frau M. wirkt heute sehr verzweifelt. Die Stimmung zu Hause ist wieder einmal am
Nullpunkt. Es gibt sehr viele Streitereien wegen schulischer Angelegenheiten, Haus-
aufgaben bzw. nicht gemachten Hausaufgaben. Und eine neuerliche Vorladung zur
Lehrerin. Frau M. kann nicht mehr. Lukas wohnt für eine Woche beim Opa. „Damit er
sieht, dass bei ihm auch nicht alles so lustig ist.“ Ich höre zunächst nur aufmerksam zu
4 und versuche zu verstehen, wie verzweifelt sie war, als sie diesen Schritt gesetzt hat. Ich
beschließe, die möglichen Auswirkungen dieser Entscheidung jetzt nicht anzuspre-
chen. Denn dann müsste ich formulieren, dass sie mit dieser Entscheidung Lukas
Sorge („du willst mich ja eh‘ nicht!“) wahrscheinlich noch verstärkt und damit die Pro-
blemdynamik „befeuert“ hat. Diese Überlegungen könnten wiederum ihre Schuldge-
fühle verstärken und sie damit schwächen. Für den Moment erscheint es mir hilfreicher,
an Lösungsideen für die Problematik zu arbeiten, die zu dieser Entscheidung geführt
haben. Ich mache deshalb den Vorschlag, dass wir uns heute – trotz der aktuellen Situ-
ation  – mit dem Thema der schwierigen Hausaufgabensituation beschäftigen. Rund
um dieses Thema sind ja die letzten Konflikte eskaliert. Als eine Möglichkeit, den Teu-
felskreis bezüglich der schulischen Anforderungen zu unterbrechen, erzähle ich von
einer anderen Familie, die ähnliche Schwierigkeiten folgendermaßen gelöst haben: Die
Eltern wussten, dass ihre Tochter prinzipiell über alle notwendigen Fähigkeiten verfügt
und kamen zu der Einschätzung, dass für ein Kind in der 4. Klasse Volksschule
(in  Deutschland: Grundschule) eine Stunde am Tag für Hausaufgaben ausreichen
sollte. Deshalb haben sie die Zeit, die für die Erledigung der schulischen Angelegen-
heiten zur Verfügung steht (oder besser gesagt, in der sie als Eltern dafür zur Verfü-
gung stehen) auf eine Stunde am Tag begrenzt. Sie haben damit auch vermittelt: Schule
ist wichtig, aber andere Dinge sind auch wichtig! (Zeit für Hobbies, Freunde und Zeit
als Familie). Frau M. hört sich die Möglichkeit an und meint, dass sie darüber nach-
denken wird. Eventuell möchte sie diesbezüglich auch noch mit der Lehrerin sprechen,
damit sie selbst es aushalten kann, wenn Lukas ohne oder mit unvollständigen Haus-
aufgaben in die Schule kommt. Ich biete ihr an, dass ich auch (zusätzlich) mit der
Lehrerin telefonieren könnte, wenn sie das möchte. Wir überlegen noch, welche Rah-
menbedingungen sich als günstig für die Hausaufgabensituation erwiesen haben und
worauf Frau M. noch achten könnte: der Schreibtisch soll aufgeräumt sein, Lukas soll
vorher gegessen und nachher noch Zeit zum Spielen haben. Zur Motivationsförderung
könnte man vorher besprechen, was er noch machen kann, wenn er fertig ist. Daniel
sollte nicht Fernsehen oder Nintendo spielen dürfen, während Lukas seine Hausübun-
gen macht. All das sind keine Garantien, aber es macht vieles einfacher. Und Frau M.
könnte es ein bisschen Sicherheit geben, wenn sie weiß, dass sie auf die wesentlichen
Dinge achtet. Ob Lukas seine Hausaufgaben dann wirklich macht oder schneller
macht, unterliegt nicht ganz ihrer Kon­trolle. Ich versuche wieder auseinanderzuhalten:
Sie als Mama ist verantwortlich für gute Rahmenbedingen, Lukas für seine Hausaufga-
ben. Und dann bemühe ich mich, die Aufmerksamkeit wieder auf Gelungenes zu rich-
ten und frage, welche Situationen es vor dem Anruf der Schule, vor dem letzten Streit
gab, die in die gewünschte Richtung deuteten? Ich versuche, den kleinen positiven
Ausnahmen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Auch wenn Frau M. einige Situationen
Lukas: Dir gehört mein Herz!
45 4
einfallen, wird durch ihre Ausführungen deutlich, wie belastet die Mutter-Kind-Bezie-
hung ist. Es gibt kaum gemeinsame Zeit, die Frau M. als angenehm beschreibt oder bei
der sie nicht eine Eskalation befürchtet. Gemeinsames Spielen ist schwierig, da Lukas
nicht verlieren kann. Gemeinsam spazieren gehen ist mühsam, weil es ihm zu lang-
weilig ist. Ein Besuch im Indoor-Spielplatz nervenaufreibend, weil er ständig etwas
vom Buffet will und kein „Nein“ akzeptieren kann. Jede gemeinsame Aktivität  – so
befürchtet Frau M. – endet in einem Streit und/oder Schreianfall. Das führt dazu, dass
Frau M. fast keine gemeinsame Zeit mit Lukas einplant und die Zeiten, die sie
­gemeinsam haben, immer voll von Verpflichtungen sind. Es scheint mir dringend not-
wendig, dieses Muster zu unterbrechen. Deshalb mache ich folgenden Vorschlag:
Einen Tag in der Woche soll Frau M. für drei Stunden etwas gemeinsam mit Lukas
unternehmen, vorerst nicht mit der Idee, dass es ein entspannter, lustiger Nachmittag
wird, sondern in dem Bewusstsein, dass die Zeit anstrengend wird. Das könnte dabei
helfen, die Unsicherheit von Lukas zu verringern. Die Botschaft könnte sein: „Ich bin
für dich da! Ich möchte gerne Zeit mit dir verbringen!“ Es könnte die Wahrscheinlich-
keit erhöhen, dass es zwischendurch auch gute Momente gibt. Wir überlegen, welche
Aktivitäten da am besten infrage kommen und stellen sicher, dass es organisatorisch
mit der Betreuung von Daniel gut machbar wäre. Frau M. thematisiert auch ihre eigene
schlechte Befindlichkeit, sie fühlt sich erschöpft und niedergeschlagen. Sie überlegt,
sich wieder medikamentöse Unterstützung (Antidepressiva) zu organisieren. Das hat
schon einmal über eine schwierige Phase geholfen. Und sie überlegt, ob sie nicht eine
Einzeltherapie für eigene Themen beginnen soll.
Der nächste Termin ist urlaubsbedingt erst in vier Wochen möglich. Wir vereinba-
ren ein Telefonat in der Zeit dazwischen. Dabei erzählt sie, dass die gemeinsamen
Unternehmungen ganz gut klappen: „Besser als erwartet“. Da Frau M. also bereit war,
einige Veränderungen auszuprobieren und ich mir damit sicher sein kann, dass ich bei
der Einbeziehung von Lukas keinen Reparaturauftrag übernehme, scheint mir jetzt ein
passender Zeitpunkt, Lukas zum nächsten Gespräch einzuladen. Als Zielsetzung für
gemeinsame Gespräche besprechen wir „ein besseres Miteinander“.

4.1.5  as erste Mutter-Sohn-Gespräch: Kennenlernen, Klärung


D
der Veränderungsmotivation und Externalisieren

zz Doppeleinheit, drei Monate nach dem Erstgespräch


Lukas begrüßt mich freundlich und offen im Wartezimmer. Er macht es mir leicht, mit
ihm in Kontakt und ins Gespräch zu kommen. Ich erzähle ihm, dass die Mama schon
zu einigen Gesprächen da war, ich von ihr schon viel gehört habe und ich mir heute vor
allem Zeit nehmen möchte, ihn selbst ein bisschen kennenzulernen. Bevor ich ihm
erzähle, worüber ich mit seiner Mama schon gesprochen habe, frage ich ihn danach, ob
er weiß, weshalb die Mama hierher in die Beratungsstelle gekommen ist. Sofort sagt er:
„Wegen dem Streit!“ Ich antworte, dass das genau das Thema ist, worüber die Mama mit
mir schon viel gesprochen hat und nutze das gleich, um eine Gemeinsamkeit herzustel-
len: „Ah, das ist sehr, sehr günstig, wenn ihr beide das gleiche meint ... das ist eine sehr
wichtige Voraussetzung, um gemeinsam etwas zu verändern ... ich hoffe, dass ich euch
beiden dabei helfen kann ...“. Bevor wir über die problembehafteten Themen reden,
46 S. Binnenstein und E. Wagner

nehme ich mir Zeit für ein ausführliches ressourcenorientiertes Joining. Ich frage, was
er an und in der Schule mag, was weniger, was er außerhalb der Schule gerne macht und
spielt. Ich erfahre unter anderem, was er besonders gut kann: schnell rennen, schön
malen und Sandburgen bauen. Beim „schön malen“ fügt Lukas spontan hinzu, dass er
„das von der Mama hat!“ Eine kleine positive Gemeinsamkeit, die ich aufgreife und
genauer nachfrage. Frau M. lächelt und ist vielleicht ein kleines bisschen stolz. „Noch-
mal zum Thema wieso ihr beide hier seid. Ich möchte gerne besser verstehen, wie das
mit dem Streit für euch ist. Und für wen von euch das schlimmer ist. Ich möchte euch
4 vorschlagen, dass ihr jeweils zwei Kugeln aus Plastilin formt – eine dafür, wie schlimm
der Streit für dich ist, Lukas, und eine dafür, was du glaubst, wie schwer es für die Mama
ist und Sie, Frau M., eine dafür, wie schwer sie die Belastung bei sich selbst einschätzen
und eine dafür, wie sehr sie denken, dass Lukas unter dem Streit leidet ...“. Ich gebe
beiden Plastilin und bitte sie, sich voneinander wegzudrehen, sodass sie nicht sehen
können, was die oder der andere jeweils formt. Beide nehmen sich Zeit, überlegen, rol-
len, formen. Dann bitte ich sie, zu erklären, welche Kugel was genau bedeutet, wobei ich
Lukas bitte zu beginnen. Beide denken, dass Frau M. mehr unter dem Streit leidet. „Ah,
ihr scheint euch beide gut zu kennen ... !“ Schon wieder eine Gemeinsamkeit. Dann
bitte ich sie, eine neue Kugel zu formen: „Wie hättet ihr es denn lieber? Wie groß wäre
die Kugel denn dann?“ Beide formen eine deutlich kleinere Kugel. Damit zeigt Lukas
auch, dass er Interesse daran hat, dass sich etwas verändert. Es ist nicht nur die Mama,
die etwas anders haben will. Ich frage, was dann anders wäre? Lukas wünscht sich, dass
er mehr mit der Mama machen möchte, zum Beispiel am Abend spielen oder auch
spazieren gehen. Frau M. kann das an dieser Stelle noch nicht ernst nehmen. Zu oft hat
sie schon erlebt, dass genau diese Dinge im Alltag nicht funktionieren. Diese Lösungs-
idee jetzt schon aufzugreifen, scheint also zu früh. Deshalb lade ich die beiden zu einer
Externalisierung ein. „Jetzt weiß ich schon, dass der Streit für die Mama belastender ist
und dass ihr euch beide wünscht, dass es weniger Streit gibt ... Und es klingt für mich so,
als ob es da viele Momente gibt, in denen der Streit da einfach zu euch kommt, auf
Besuch, und euch stört und so richtig Unruhe stiftet. Fast so wie ein ganz unliebsamer
Besucher ... Und ich frage mich, wie dieser Besucher aussehen könnte ... wie könnte
man sich diesen Besucher denn vorstellen, wenn man den sehen könnte, was hätte der
denn für eine Gestalt? ... Ich möchte euch vorschlagen, dass ihr das gemeinsam überlegt
und dann eine Zeichnung davon macht, so dass man einmal ein Bild von ihm hat ...“.
Eine Überlegung zu dieser Aufgabe war auch, dass ich beiden eine Möglichkeit gebe,
etwas gemeinsam zu tun. Das Externalisieren soll also nicht nur die Haltung verändern
(„wir beide gegen das Problem“), sondern durch das gemeinsame Überlegen und Zeich-
nen soll auch die Erfahrung gelingender Kooperation vermittelt werden: „Wir tun
bereits etwas gegen das Problem, und zwar gemeinsam!“ Da das Zeichnen von Lukas als
Ressource genannt worden war und er diese Kompetenz auch seiner Mama zuschrieb
(„Das hab ich von ihr“), wählte ich diese Form der Externalisierung. Erfreulicherweise
gelingt es: Frau M. und Lukas überlegen gemeinsam, malen sich aus, wie genau die
Gestalt aussehen könnte, was sie alles braucht, um auch wirklich schrecklich auszuse-
hen, welche Farben sie dafür nehmen wollen, sie zeigen sich kooperativ im Aushandeln,
wer was zeichnet oder aussucht. Beide sind zufrieden mit dem Ergebnis. Und sie finden
spontan einen Namen für die Gestalt, „Bad Ghost“, den Lukas anschließend folgender-
maßen beschreibt: „‚Bad Ghost‘ ist ein schwarzer Geist, der mit sehr vielen zackigen
Lukas: Dir gehört mein Herz!
47 4
Linien gezeichnet ist. Er hat Zornesfalten und weint zornige Tränen. Er hat eine Waffe
in der Hand. Um ihn herum gibt es auch viel zackiges Gestrüpp. Ein Schreibtisch steht
in seiner Nähe und in einer Sprechblase steht: „unendlicher Aufsatz.“ Lukas hat nach
dieser Beschreibung eine Idee, die seiner Mama gleich gut gefällt. Er meint, dass sie
einen anderen Geist brauchen könnten. Sie kreieren und zeichnen den „Happy Ghost“.
Einen gelben, lachenden Geist, der voller roter Herzen ist und über dem die Sonne
scheint. Im Anschluss reden wir darüber, wie es wäre, wenn der „Happy Ghost“ öfter zu
Besuch wäre und darüber, ob die beiden Ideen haben, was denn die Besuchshäufigkeit
des „Bad Ghost“ verringern könnte? Welches Verhalten könnte ihn auf Distanz halten?
Und was möchten sie vielleicht schon ausprobieren? Ohne die Anwesenheit vom „Bad
Ghost“ wäre es laut Lukas ruhiger und schöner. Er würde mehr mit der Mama spielen
oder auch spazieren gehen. Frau M. meint, dass sie viel besser gelaunt wäre, es wäre
lustiger, sie würde Lukas weniger verbieten, lieber mit ihm kuscheln und vielleicht wür-
den sie auch mehr miteinander reden. Ich kommentiere dies mit: „Aha, meinen Sie ein
bisschen so, wie sie jetzt gerade so gut zusammengearbeitet und geredet haben?“ Ich
frage, ob sie da gleich bis zum nächsten Termin was ausprobieren wollen? Zurückgrei-
fend auf die schon zuvor besprochenen Ideen vereinbaren wir konkrete Vorhaben, die
dabei helfen könnten, „Bad Ghost“ auf Abstand zu halten beziehungsweise „Happy
Ghost“ einzuladen. Lukas möchte versuchen, sein Hausaufgabenheft vollständig zu
führen und selbstständig vorzuzeigen. Das wäre für Frau M. ein Zeichen ganz großen
Willens. Frau M. wird versuchen, jeden Abend 10 Minuten Zeit für Lukas beim Schla-
fengehen einzuplanen, zum Vorlesen und Reden, wie Lukas sich das zuvor gewünscht
hatte. Wir vereinbaren den nächsten Termin in zwei Wochen. Beide sollen jeweils ver-
suchen, ihre Vorhaben umzusetzen und beobachten, welche Auswirkungen das hat.

4.1.6 Das zweite Mutter-Sohn-Gespräch: Schöne Erinnerungen

zz Zwei Wochen nach dem letzten Termin


Den nächsten Termin beginnt Frau M. mit den Worten: „Er hat sich wirklich bemüht in
den letzten zwei Wochen.“ Lukas freut sich sichtlich über dieses seltene Lob. Dann
erzählt sie Beispiele, woran sie das bemerkt hat. Auch Lukas meint, dass die Mama sich
bemüht hat. Es ist nicht immer gelungen, die Vorhaben umzusetzen (vor allem seitens
Frau M.), die Stimmung scheint sich jedoch verändert zu haben. Wir sammeln und
besprechen, welches Verhalten von wem welchen Einfluss auf „Happy Ghost“ oder „Bad
Ghost“ gehabt hat. Wem fällt was dazu ein oder auf? Wie haben sie es geschafft, den
„Bad Ghost“ noch zu vertreiben, wenn er schon nähergekommen ist? Und wie oft haben
sie es geschafft, den „Happy Ghost“ einzuladen? Und wie war das dann? Die Fragen
sollen weiter dabei helfen, die Einflussmöglichkeiten bewusster zu machen. Sie sollten
vermitteln: Ihr seid ein Team und wollt gemeinsam was erreichen. Es ist ein angeneh-
mes Gespräch, über einige beschriebene Situationen müssen wir alle lachen. Da die
beiden viele Ideen entwickelt haben und es Zeit braucht, diese im Alltag umzusetzen,
entscheide ich mich dafür, kein neues Thema für diese Stunde zu suchen, sondern for-
muliere einen Vorschlag, der den Fokus auf gemeinsame angenehme Erinnerungen
lenkt: „Ihr habt ja die Aufgabe mit den Plastilinkugeln so gut gelöst und auch gleich
erraten, was der und die andere gemeint hat. Heute möchte ich euch ein noch schwieri-
48 S. Binnenstein und E. Wagner

geres Rätsel vorschlagen. Die Idee ist, dass ihr euch heimlich, jeder für sich, an eine
Situation aus dem letzten Jahr erinnert, wo ihr zusammen etwas gemacht habt, und die
ihr in guter Erinnerung habt. Und dann eine Zeichnung von dieser Situation macht.
Das traue ich euch zu, weil ich ja weiß, dass ihr beide so schön zeichnen könnt! Ist das
ok?“ Beide zeichnen an unterschiedlichen Plätzen im Raum, sodass sie die Zeichnung
des anderen nicht sehen können. Nachdem die Zeichnungen fertig sind, bitte ich sie,
diese vorerst noch zu verdecken und wieder in die gemeinsame Runde zu kommen.
Dann frage ich zuerst Frau M., was sie denkt, welche Situation Lukas gezeichnet hat? Sie
4 hat nach drei Versuchen die von Lukas ausgewählte Situation nicht erraten, dafür sind
aber drei weitere gute Erinnerungen präsent geworden. Lukas hat das Picknick bei einer
gemeinsamen Wanderung mit den Geschwistern der KM gezeichnet. Ich bitte ihn,
­ausführlich zu beschreiben, was auf der Zeichnung zu sehen ist und was genau ihm an
diesem Tag alles gefallen hat. Frau M. ist überrascht, dass Lukas diesen Tag in guter
Erinnerung hat. In ihrer Erinnerung hat Lukas eher über das Wandern gejammert.
Dann ist Lukas mit dem Raten dran, beim zweiten Versuch errät er die von Frau M.
gewählte Situation: „Ein Besuch in der Therme an Mamas Geburtstag.“ Auch diesen Tag
versuche ich durch ausführliches Nachfragen wieder präsent werden zu lassen. Zum
Abschluss gebe ich ihnen die Aufgabe, bis zum nächsten Termin weiter auf ihre Ein-
flussmöglichkeiten auf die beiden Geister zu achten und zu versuchen, sich weiter an
ihre zwei Vereinbarungen zu halten. Ich bin beeindruckt, wie gut Lukas mitarbeiten
kann. Er scheint sich hier sehr wohl zu fühlen. Er bedauert es, wenn die Zeit vorbei ist
und fragt, wann der nächste Termin ist.

4.1.7 Das dritte Mutter-Sohn Gespräch: Das Lied

zz Zwei Wochen nach dem letzten Termin


Frau M. wirkt zu Beginn des Gesprächs sehr angespannt und vorwurfsvoll. Sie berichtet
über einige Situationen, in denen sie das Verhalten von Lukas sehr geärgert hat. Es gab
wieder viel Streit beziehungsweise „Bad Ghost Time“. Lukas sei nicht zur vereinbarten
Zeit nach Hause gekommen, er habe sein neues, teures Fußballdress verloren, er habe
vergessen, dass er für eine Gedächtnisübung lernen sollte, seine Hausaufgabenhefte in
der Schule vergessen. Lukas hört zu, verkriecht sich im Sessel, schweigt. Einerseits wäre
es naheliegend gewesen, hier mit der Externalisierung weiter zu arbeiten. Allerdings
hätte dies mit großer Wahrscheinlichkeit dazu geführt, dass besprochen wird, wie Lukas
mit seinem Verhalten den „Bad Ghost“ eingeladen hat. Bei dieser verbalen Auseinan-
dersetzung wäre es zu Vorwürfen gekommen  – und das wäre ein „mehr desselben“.
Über die Schwierigkeiten zu reden, schien mir daher nicht hilfreich. „Etwas gemeinsam
tun“ sollte für Lukas die Situation erleichtern und auch für Frau M. die Möglichkeit
bieten, sich von ihrem Ärger zu lösen: ich schlage eine Dramatisierung mit Stellvertre-
tern (vgl. Gammer 2009) vor. Ich lade sie dazu ein, mir eine typische Konfliktszene
vorzuspielen und sich dazu jeweils ein Tier für sich selbst auszusuchen. Weil: „Ich kann
mir das gar nicht so genau vorstellen, wie das dann wirklich so ist zwischen euch bei-
den, wenn ihr streitet. Manchmal wird bei so einem Spiel, irgendetwas, das davor noch
gar nicht aufgefallen ist, sichtbar. Und manchmal kann man auch gleich ausprobieren,
wie es besser funktionieren könnte. Ist das ok für euch? Seid ihr dazu bereit?“ Frau M.
Lukas: Dir gehört mein Herz!
49 4
wählt eine Schildkröte, Lukas einen Biber. Ich nutze diese Auswahl für einen beiläufigen
Kommentar: „... ah, das sind ja beides Tiere, die sich im Wasser wohlfühlen ... wieder
eine Gemeinsamkeit ...“. Sie spielen die davor vereinbarte Szene. In der ersten Version
ist es ein noch sehr verhaltenes Spiel, ich rahme ich es als Aufwärmspiel und bitte sie die
Szene ein zweites Mal zu spielen, sodass deutlicher wird, welche Gefühle da im Spiel
sind. Beim zweiten Versuch wird es ein intensiveres Spiel, gegen Ende der Szene schreien
sich der Biber und die Schildkröte an, der Biber kriegt dann eine Strafe und muss in sein
Zimmer gehen. Was er auch tut, aber er ist dabei richtig wütend.
Ich lasse sie in Zeitlupe nochmal die Sequenz vor den Beschimpfungen spielen.
Mein Eindruck ist, dass der Biber sich da sehr in die Enge getrieben fühlt. „Lukas, jetzt
weiß ich nicht genau, weil du bist ja der Schauspieler – wie ist das in dem Moment für
den Biber – Aha, nicht gut, da mag er irgendwie gar nicht da sein – mmh ich habe auch
das Gefühl, da ist grade alles zu viel für ihn ... Frau M., was denken Sie, wie es dem Biber
da in dieser Situation geht?“ Und dann frage ich, was in diesem Moment helfen könnte,
dass es besser weitergeht, dass die beiden nicht beginnen müssen, so heftig zu streiten.
Lukas überlegt, zuckt mit den Schultern. Auch Frau M. überlegt. Dann meint sie
zögernd und schaut Lukas dabei an: „Vielleicht das Lied?“ Und sie fragt ihn, ob er sich
noch an das Lied erinnern könne, das sie ihm früher, als er noch kleiner war, so oft
vorgesungen hat. Lukas erinnert sich. Und er erklärt mir, um welches Lied es sich han-
delt „Das vom Tarzan!“ Bei beiden scheinen Erinnerungen aufzutauchen, die Stimmung
wird ruhiger. Ich warte ein wenig ab und frage dann Frau M., ob sie gleich ausprobieren
mag, ob das Lied hilft, ob sie es hier singen will. Sie fragt Lukas „Sollen wir?“ Er stimmt
zu. Frau M. beginnt zu singen, sie kann den Text noch auswendig. Hier einige Textzei-
len: „Wir sind verschieden, doch unsre Herzen sind nicht verschieden, sondern eins. ...
Jawohl, wir schaffen zusammen, denn dir gehört mein Herz. Ja glaub mir, dir gehört
mein Herz. Ich bin da, von heute an für alle Ewigkeit ...“. Das Lied heißt „Dir gehört
mein Herz!“ (Phil Collins), Lukas kann zumindest einzelne Textzeilen und singt manch-
mal mit. Lukas kuschelt sich an seine Mama. Beiden rinnen die Tränen über die Wan-
gen. Dieser Moment ist sehr berührend, auch mir stehen die Tränen in den Augen. Es
scheint mir unpassend, jetzt nochmal zur Szene zurückzugehen. Ich frage nur nochmal
nach, wie das für den Biber war. Und dann frage ich noch kurz, weil die Stunde eigent-
lich schon zu Ende ist, nach weiteren Erinnerungen an das gemeinsame Singen des
Liedes. Und ich lade sie ein, darauf zu achten, ob das Lied oder die Erinnerung an das
Lied vielleicht eine weitere Hilfe dabei sein kann, ihr Ziel – dass „Bad Ghost“ keinen
Einfluss mehr hat – schneller zu erreichen.

4.1.8  as vierte Mutter-Sohn-Gespräch: Das hat nichts mit dir


D
zu tun!

zz Dazwischen ein Termin aus Krankheitsgründen entschuldigt, insgesamt vier


Wochen nach dem letzten Termin
Lukas erzählt sichtlich stolz von einer Schulveranstaltung, bei der seine Klasse ein
Theaterstück aufgeführt hat. Es war seine erste Erfahrung auf einer Bühne und er hat
sich sehr viel Mühe gegeben und seine Rolle mit Bravour gespielt. Seine Lehrerin hat
ihn gelobt. Frau M. freut sich, dass Lukas einmal so viel positive Aufmerksamkeit
50 S. Binnenstein und E. Wagner

bekommen hat. In den letzten Wochen ist es auch ganz gut gelungen, den „Bad Ghost“
auf Abstand zu halten. Ich erkundige mich wieder danach, welches Verhalten von
wem dazu beigetragen hat. Trotz der vielen positiven Beispiele, die ausführlich berich-
tet werden, erlebe ich Frau M. heute angespannt, gereizt und auch vorwurfsvoll Lukas
­gegenüber. Sie beschwert sich beispielsweise über seine Sitzhaltung und über sein
Zappeln mit den Beinen. Ich entschließe mich, meinen Eindruck anzusprechen: „Ich
bin ein bisschen verwundert – trotz der vielen positiven Erlebnisse und Veränderun-
gen, über die sie berichten, scheinen Sie im Moment gar nicht so zufrieden. Woran
4 könnte denn das liegen?“ Frau M. ist das gar nicht so aufgefallen. Im weiteren
Gespräch wird deutlich, dass sie sich wegen Beziehungsproblemen mit Herrn T. der-
zeit sehr belastet fühlt. „Ah, das ist ganz wichtig, dass sie das jetzt so erzählen. Es ist
also gar nicht Lukas Verhalten, das sie im Moment so belastet – Ich könnte mir vor-
stellen, das ist für ihn ganz wichtig zu hören.“ Frau M. formuliert ganz deutlich an
Lukas: „Das hat nichts mit dir zu tun!“ Ich frage nach, ob sie bereits einen Termin für
eine Psychotherapie für sich ausgemacht hat, denn das wäre ja dann ein passender
Ort, um über ihre Themen zu reden. Nochmal zurück zu den Erfahrungen der letzen
Wochen. Ich frage Lukas, ob es aus seiner Sicht noch eine weitere „Waffe“ gegen den
„Bad Ghost“ braucht oder ob es schon ausreicht, was sie bereits ausprobiert haben.
Lukas meint ganz spontan: „Ein Herz!“ Wir überlegen, wie das aussehen könnte. Wie
groß es sein müsste und welche Farben dabei wären? Wir verbleiben so: Falls es eine
gute Möglichkeit gibt, malen die beiden das Herz zu Hause, falls nicht, können sie das
in der nächsten Stunde hier tun.

4.1.9 Das fünfte Mutter-Sohn-Gespräch: Malen eines Herzens

zz Vier Wochen nach dem letzten Termin


Die letzten Wochen waren ruhig, nicht unbedingt so, dass immer „Happy Ghost“-
Time war, aber vermehrt. Und vor allem: wenige bzw. kaum Besuche von „Bad Ghost“.
Frau M. und Lukas haben vereinbart, dass sie heute das Herz malen wollen. Es gab zu
Hause keine Gelegenheit, das zu tun. Lukas wollte vor allem auch seinen Bruder nicht
dabeihaben, sondern das alleine mit seiner Mama machen. Frau M. hat das gut nach-
vollziehen können. Ich mache ihnen ein Kompliment, wie gut sie diese Vereinbarung
getroffen haben, und frage nach weiteren Beispielen für gute Absprachen im Alltag.
Dann wiederhole ich nochmals die Beschreibung des Herzens von Lukas beim letzten
Termin und rege an, gemeinsam nochmal zu überprüfen, ob es so oder ein bisschen
anders aussehen soll. Es gibt noch kleine Veränderungsideen, die Lukas und Frau M.
miteinander besprechen. Ich richte in der Zwischenzeit die Malutensilien (ein großes
Packpapier mit Unterlage am Boden und Acrylfarben und Pinsel) her  – auch um
deutlich zu machen – ihr beide könnte das gut alleine klären! Dann frage ich noch-
mals nach, ob ihr Plan so für beide passt. Die schwierige Aufgabe der Vorlage, d.h. der
Form des Herzens bitte ich Frau M. zu übernehmen. Schließlich sind die Erwachse-
nen für „den Rahmen“ zuständig. Es wird eine sehr ruhige und konzentrierte Stunde.
Die Kooperation beim Malen funktioniert gut. Beide sind zufrieden mit dem Ergeb-
nis. Wir verstauen es zum Trocknen und reden dann noch darüber, was sie dann mit
dem Bild zu Hause machen wollen. Wo kann es einen guten Platz bekommen?
Lukas: Dir gehört mein Herz!
51 4
4.1.10  as sechste Mutter-Sohn-Gespräch: Die
D
­Unzertrennlichen – ein Beziehungsdenkmal

zz Drei Wochen nach dem letzten Termin


Ich habe das Bild bereitgelegt. Wir nehmen uns noch mal Zeit, es zu bewundern. Ich
betone nochmals die gute Zusammenarbeit beim Malen. Über die letzte Zeit berich-
ten beide, dass es weiter ganz gut gelaufen ist. Frau M. meint, dass sie natürlich
manchmal „über Kleinigkeiten“ streiten, aber das sei ja normal. Um diese gute Stim-
mung und das Gefühl des Miteinander noch weiter zu stärken, aber eben nicht nur
darüber zu reden, schlage ich vor, ein Beziehungsdenkmal zu gestalten, bei dem ihre
aktuelle Beziehungsqualität deutlich und sichtbar wird: „Wenn ihr Lust dazu habt,
könntet ihr das, wie es jetzt gerade zwischen euch ist, so wie ihr das gerade beschrie-
ben habt, in einem Denkmal verewigen. Bei dem Denkmal seid ihr die lebenden Figu-
ren. Ich würde sehr gerne sehen, wie dieses Denkmal aussieht, so dass ein Betrachter
gleich erkennen kann, wie euer Miteinander im Moment gerade ist. Ihr wisst ja, Sta-
tuen oder Denkmäler sollen immer was Bestimmtes ausdrücken. Und ihr könnt euch
hier im Raum einen Platz aussuchen und einmal überlegen, wie das aussehen könnte
... und ihr könnt auch die Sesseln oder den Tisch oder den Teppich einbauen ... wenn
ihr das braucht ... probiert einfach einmal aus, was euch einfällt ...“. Im Therapiezim-
mer liegt ein runder Teppich, der als Sockel verwendet wird. Sie probieren ein paar
Variationen, einigen sich dann schnell auf eine Position. Bevor ich nachfrage, was die
Position für sie bedeutet, hole ich mir die Erlaubnis, ein Foto zu machen (wenn ja,
dann frage ich immer nach, ob ich mit dem Handy der Klientin ein Foto machen soll,
erst danach mache ich selbst ein Foto). Ich schlüpfe in die Rolle einer Touristin, die
auf ihrem Stadtrundgang fotografiert. Dann frage ich genau nach, was das Denkmal
ausdrücken soll, und wie es sich anfühlt, in der jeweiligen Position zu sein. „Wie ist
das für Sie, wenn Sie Lukas genau auf diese Art umarmen?“ „Und für dich Lukas, wie
ist das für dich, dass du jetzt in diese Richtung schaust?“ Ich bitte sie, sich auch noch
einen Namen für ihr Denkmal zu überlegen, schließlich hätte jedes Denkmal auch so
eine kleine Tafel dabei, wo der Name des Werkes und des Künstlers draufsteht. Den
passenden Namen zu finden, braucht einige Zeit und Diskussion. Die Namen der
„Künstler“ und die Jahreszahl der Entstehung des Kunstwerkes schreibe ich dann mit
Goldstift auf schwarzen Karton: Die Unzertrennlichen. Anna M. und Lukas M. 2013.
Nachdem sie sich aus der Skulptur gelöst haben und wir wieder auf unseren Sesseln
sitzen, mache ich Komplimente über das Denkmal „Dieses Denkmal würden sich
sicher viele Leute gerne anschauen und könnten sich dann sicher mitfreuen!“ Ich
frage, wie das Denkmal wohl ausgesehen hätte, wenn sie es vor einem halben Jahr
(das war etwa der Zeitpunkt der Erstgesprächs) geformt hätten. Mit dieser Frage
beabsichtige ich, dass es eine Wahrnehmung der positiven Veränderung gibt. Über
die Vorstellung, wie das Denkmal DAMALS ausgesehen hätte und die spontane Dar-
stellung von Lukas (er zeigt mimisch, wie er zornig schreien würde  – dazwischen
schaut er beleidigt auf den Boden, dreht sich weg und zeigt die Zunge) müssen beide
lachen. Ein gutes Anzeichen dafür, dass sie sich vom Problemzustand distanziert füh-
len. Frau M. meint, dass es damals sehr schwer gewesen wäre, ihn zu umarmen, auch
wenn sie das vielleicht versucht hätte. Die Fokussierung des Problemzustandes diente
52 S. Binnenstein und E. Wagner

nur zur Verdeutlichung des Unterschiedes. Ich beende ihn dann auch schnell wieder,
um zu verhindern, dass die Gefühle von damals wieder auftauchen. Zum Abschluss
der Stunde reden wir noch über die Pläne für die kommende Woche.

4.1.11 Abschlussgespräch
Der nächste vereinbarte Termin wird von Frau M. wegen eines Arzttermins abgesagt.
4 Beim Telefonat berichtet Frau M., dass es ihnen sehr gut geht und sie derzeit keinen Bedarf
mehr für weitere Termine sieht. Wir vereinbaren ein Abschlussgespräch. Ich erzähle Lukas
von dem Telefonat mit seiner Mama und fasse zusammen: „Die Mama hat den Eindruck,
dass ihr keine Hilfe mehr braucht. Sie meint, dass ihr jetzt viele Dinge gemeinsam gut
hinkriegt und dass das mit dem Streiten gar nicht mehr schlimm ist.“ Lukas stimmt dem
Eindruck seiner Mama zu. „Ok, wunderbar! Dann wird das heute unsere Abschluss-
stunde. Es ist mir nämlich sehr wichtig, mich von euch zu verabschieden. Und außerdem
finde ich, sollten wir das, was ihr gemeinsam geschafft habt, ein bisschen feiern!“
Ich hole Orangensaft und Kekse für unsere kleine Feier und bitte Lukas, eine Kerze
anzuzünden. Ich habe eine Karte geschrieben, die ich den beiden vorlese und dann
gemeinsam mit dem Foto des Beziehungsdenkmals und dem Denkmal-­Beschriftungsschild
übergebe:

„Liebe Frau M., lieber Lukas,


Ich möchte Ihnen, Frau M., und dir, Lukas, noch mal sagen, wie beeindruckt ich bin,
mit welchem Bemühen ihr versucht habt, den „Bad Ghost“ aus eurem Leben zu vertrei-
ben und so euer Ziel erreicht habt, dass es angenehmer, ruhiger und lustiger geworden
ist. Ich finde es großartig, dass ihr in so kurzer Zeit so viele hilfreiche „Waffen“ entwi-
ckelt habt: Gelassenheit, Humor, Zutrauen, das Herz, „das Lied“, Verständnis ...
Ich wünsche euch beiden einen wunderschönen Sommer und viel gute gemeinsame
Zeit! Und dir, lieber Lukas, einen guten Start in deiner neuen Schule im Herbst!“

Den Rest der Stunde reden wir dann noch über die Sommerpläne der Familie, Lukas‘
Abschied von der Volksschule (in Deutschland: Grundschule) und darüber, was ihn in
der neuen Schule erwarten wird.

4.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis

Die Mutter von Lukas sucht zum wiederholten Mal Unterstützung für ihren Sohn, den
sie bereits seit langer Zeit als auffällig und schwierig erlebt, die Diagnose einer kürzlich
durchgeführten psychologischen Testung lautet: Störung des Sozialverhaltens. Da die
bisherigen Behandlungsversuche nicht den erhofften Erfolg brachten, wurde ausführ-
lich exploriert, was bislang als mehr, weniger oder gar nicht hilfreich erlebt wurde. Die
kritische Würdigung früherer Lösungsversuche („Was haben Sie schon alles versucht,
um das Problem zu lösen?“) gehört zum Standardrepertoire systemischer Therapie. Das
genaue Erfragen früherer Behandlungsversuche dient der Orientierung der Therapeu-
tin und enthält wichtige Informationen über die „Reagibilität“ des Klientensystems. Auf
Lukas: Dir gehört mein Herz!
53 4
welche Aspekte eines Behandlungsangebotes wird wie reagiert? Welche Bedeutungen
werden geschaffen, welche Auswirkungen auf Selbstwirksamkeit sind zu beobachten,
wie werden die Beziehungsangebote erlebt? In diesem Fall entstand der Eindruck, dass
die bisherigen Therapieversuche allein schon durch ihre Struktur die Suche nach einer
Ursache verstärkt haben. Wenn Konzentrationstraining helfen könnte, dann ist im
Umkehrschluss die mangelnde Konzentration des Kindes „schuld“ an den Schwierig-
keiten. Wenn Erziehungsberatung helfen könnte, dann heißt das vielleicht auch: Das
Erziehungsverhalten der Mutter ist „schuld“ an den Problemen. Das spricht nicht
grundsätzlich gegen Erziehungsberatung, Konzentrationstraining etc., im Falle von
Frau M. schien es aber dazu beizutragen, Veränderungen zu blockieren. Frau M. war
bislang mit zwei Erklärungsansätzen konfrontiert: Wenn die psychologische Diagnostik
eine Störung des Sozialverhaltens erbrachte, lag das Problem bei Lukas und sollte dort
behoben werden (Gruppentherapie für den Jungen). Andererseits wurde Frau M. in die
Erziehungsberatung geschickt, weil man ihr vermitteln wollte, dass das Problem an ihr
lag und sie für die Lösung verantwortlich sei. Auf diese Weise gab es zwar eine lange
Problemgeschichte und viele professionelle Kontakte, aber kein kontinuierliches
Hilfsangebot, das einen Veränderungsprozess unterstützen und befördern hätte kön-
nen. Dies ist kein seltenes Phänomen: Immer wieder treffen wir auf Klientinnen und
Klienten, die glauben, dass zunächst die „Ursachen“ des Problems gefunden werden
müssen, bevor effektiv an einer Veränderung gearbeitet werden kann. Wenn in diesen
Fällen keine Einigkeit über die „Ursachen“ besteht, wie das in Familien häufig der Fall
ist, kann der Streit um die „richtige Ursache“ den Veränderungsprozess blockieren. Die
für systemische Therapie typische Infragestellung starker Kausalität für biopsychosozi-
ale Problemstellungen ist hier hilfreich: Da Probleme zumeist multifaktoriell bedingt
sind und sich durch nicht-lineare Wechselwirkungen auch von den auslösenden Bedin-
gungen verselbständigen können, wird zunächst ein Problemverständnis erarbeitet, das
vor allem auf die wechselseitige Bedingtheit des Verhaltens fokussiert und damit die
Bedeutung der Frage „Wer ist schuld?“ relativiert. Danach richtet sich der Fokus auf die
gewünschte Veränderung – und das ist in diesem Fall die Stärkung der Mutter-Kind-­
Beziehung. Im Gespräch mit Frau M. bestätigte sich, was für Störungen des Sozialver-
haltens in der Literatur beschrieben wird: „Was ODD (oppositional deviant disorder)
angeht, so gelten – auch bloß von einer Seite so empfundene – mangelnde Nähe/Liebe
oder zu große emotionale Distanz zwischen Kind und Eltern und inkonsistente Erzie-
hung als Bedingung, Ursachen oder Aufrechterhalter. Der Erziehungsstil pendelt zwi-
schen Ausstoßung/Vernachlässigung und Kontrolle/Verstrickung hin- und her, Lob
und Anerkennung fehlen oft, durch Feedbackschleifen, bei denen Druck und Gegen-
druck aller Beteiligten sich zu wechselseitigen Bedrohungen aufschaukeln, entstehen
Beziehungs- und Bindungsschwächen“ (Schmitt u. Weckenmann, 2009a, S. 84). In den
ersten Einzelgesprächen ging es daher darum, Frau M. darin zu unterstützen, Verant-
wortung für die Beziehung zu Lukas zu übernehmen. Dabei war die Unterscheidung
von Dingen, die ihrer Kontrolle unterliegen (z.B. günstige Rahmenbedingungen für die
Hausaufgabensituation zu schaffen), von jenen, die sie nicht direkt kontrollieren kann
und die Förderung von Situationen, die zumindest potenziell positive Erfahrungen des
Miteinanders ermöglichen, von besonderer Bedeutung. Was das Setting betrifft, folgte
die Therapeutin einer Empfehlung von Schmitt und Weckenmann: Um zu verdeutli-
chen, dass keine „Reparaturaufträge“ übernommen werden können, empfehlen diese
„die Idee, dass Eltern essentieller Teil der Lösung sind, in die Gespräche einzubringen
54 S. Binnenstein und E. Wagner

und im Setting sichtbar zu machen. Mitunter heißt dies, das Kind erst dann in den
Therapieprozess einzubeziehen, wenn kein Zweifel mehr an der Bereitschaft der Eltern
besteht, mitzumachen“ (2009b, S. 190). Daher wurde Lukas erst eingeladen, nachdem in
den ersten Gesprächen mit der Mutter ein adäquates Problemverständnis erarbeitet
worden war, und die Kooperation der Mutter sichergestellt werden konnte. Als Lukas
dann in die Therapie einbezogen wurde, überraschte seine Kooperation und seine Ver-
änderungsmotivation, die im Verlauf aller Termine aufrecht erhalten blieb, seine
Schwierigkeiten im Sozialverhalten wurden im therapeutischen Rahmen nicht sichtbar.
4 Bei den darauf folgenden Mutter-Kind-Gesprächen ging es der Therapeutin vor allem
darum, Gelegenheiten für gemeinsames positiv-getöntes Erleben zu schaffen, dafür
wurde immer wieder gemeinsames Gestalten (Plastilin-Kugeln, Zeichnungen, Skultpur,
Singen) angeleitet. „Bestimmte Affektlagen und Aktivierungszustände wirken lähmend,
hemmen den Zugang zu Lösungsideen, eigenen Kompetenzen und kreativem Potenzial.
Als Therapeut versuche ich, die vorherrschende Affektlage der Familie zu beeinflussen,
und lade dazu ein, andere Grundmelodien, die den Ton im Alltag bestimmen, zu erkun-
den und in das eigene Repertoire aufzunehmen. Der Vorgang, Familien affektiv auf eine
andere ‚Wellenlänge‘ zu bringen, ist weniger verbal vermittelt, sondern primär ein
affektiv-­physiologisches Geschehen“ (Retzlaff 2008, S. 23). Des Weiteren kam eine
Externalisierung in Form des „Bad Ghost“ und des „Happy Ghost“ zum Einsatz. In
jeder Stunde wurde konsequent nachgefragt, durch welche konkreten Verhaltensweisen
wer darauf Einfluss nehmen kann, ob sich das gewünschte oder das leidvolle Erleben
einstellt. In diesem Fall ging es der Therapeutin nicht um das Erfragen einer möglichen
Funktionalität im Sinne einer „positiven Externalisierung“ (vgl. Fallbeispiel Hannah)
sondern ausschließlich um das Sichtbarmachen von Einflussmöglichkeiten. Diese Form
der Externalisierung und die damit verbundenen konkreten Aufgaben wirkten sich
zunächst positiv aus. Als im dritten Mutter-Kind-Gespräch wieder vermehrt Vorwürfe
geäußert wurden, wählte die Therapeutin eine andere Methode, um eine neue Erfah-
rung zu ermöglichen. Frau M. und Lukas wurden aufgefordert, die vorher beschriebene
Konfliktszene wie in einem Schauspiel darzustellen. „Durch die Dramatisierung [...]
wächst neues Verständnis für die Gedanken und Gefühle, die sie in der Situation hatten.
Weil die Wiederholungsdramatisierung Schritt für Schritt vonstattengeht, haben die
Beteiligten in stärkerem Maße die Möglichkeit zu registrieren, was parallel zum äuße-
ren Geschehen im Inneren vor sich geht“ (Gammer 2009, S. 30 ff.). Bei einer Dramati-
sierung können die Klientinnen selbst ihre Rollen spielen oder sie mit Stellvertretern
(Puppen oder Stofftieren) darstellen. Meist sind Klientinnen dazu leichter motivierbar,
weil die Dramatisierung mit Stellvertretern mehr Distanz zum Geschehen ermöglicht
und dadurch weniger angstbesetzt ist. Die Therapeutin realisiert ihre Prozessverant-
wortung, indem sie versucht, aus einem großen Methodenpotenzial immer das auszu-
wählen, was einen konstruktiven nächsten Verarbeitungsschritt ermöglicht. Der
therapeutische Prozess wird dabei weniger durch die zu besprechenden Inhalte als
durch die Affektdynamik bestimmt. Dem Fallverständnis entsprechend, wonach die
Verunsicherung der Mutter-Kind-Beziehung ein wichtiger problemkonstituierender
Faktor ist, geht es dabei vor allem um eine Stärkung dieser Beziehung. Mit diversen
Aufgaben wird die Möglichkeit geschaffen, Liebe und Verbundenheit zwischen Mutter
und Sohn erlebbar zu machen. Dabei kommen einige Anregungen von der Therapeutin
(Aktivierung von positiv besetzten Erinnerungen an gemeinsam verbrachte Zeit, das
Lukas: Dir gehört mein Herz!
55 4
Malen eines Herzens, die Beziehungsskulptur), eine andere von der Kindesmutter
selbst. Als die Therapeutin im Zuge der Dramatisierung fragt, was helfen könnte, damit
es besser weitergeht, fällt ihr ein Lied ein, das mit vielen positiven Erinnerungen in
Lukas Kleinkindzeit verbunden ist. Das gemeinsame Singen von „Dir gehört mein
Herz“ ist nicht nur der berührendste Moment der Therapie, sondern markiert auch
einen Wendepunkt. Ab dieser Erfahrung dominiert in den Darstellungen der beiden
das Verbindende und der Optimismus. Die weiteren drei Sitzungen werden zur Siche-
rung des Erreichten und zur multimodalen Verankerung genützt, die Therapie wird mit
einer Urkunde und einer „Abschiedsfeier“ beendet.

Literatur
Gammer C (2009) Die Stimme des Kindes in der Familientherapie. Carl Auer, Heidelberg
Retzlaff R (2008) Spiel-Räume. Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen.
Klett-Cotta, Stuttgart
Schmitt A, Weckenmann M (2009a) Settingdesign in der (systemischen) Therapie mit Kindern. Teil
I. Familiendynamik, 1(34):S 74–91
Schmitt A, Weckenmann M (2009b) Settingdesign in der (systemischen) Therapie mit Kindern. Teil
II. Familiendynamik, 2(34):S 182–192
57 5

Catrin: Auf Messers


Schneide
Therapie einer 13-jährigen Klientin mit bulimischer und
selbstverletzender Symptomatik

Claudia Bernt und Elisabeth Wagner

5.1 Fallverlauf – 58
5.1.1 E rstkontakt: Lebenskontext und
Problembeschreibung – 58
5.1.2 Krisenintervention – 60
5.1.3 Therapievereinbarung, Kontraktverhandlung – 61
5.1.4 Ressourcenarbeit, Kontextualisierung,
Familienbrett – 61
5.1.5 Arbeit mit dem Stimmungstagebuch – 63
5.1.6 Vierte bis achte Stunde: Skillstraining bei
selbstschädigenden Verhaltensweisen – 64
5.1.7 Abschluss – 67

5.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis – 68


Literatur – 70

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


E. Wagner, S. Binnenstein (Hrsg.), Wie systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
wirkt, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55547-7_5
58 C. Bernt und E. Wagner

Die 13-jährige Klientin kommt unbegleitet in die Beratungsstelle und berichtet nicht nur
von Ess-, Brechanfällen und selbstverletzendem Verhalten, sondern auch von konkreten
Selbstmordideen. In der Fallgeschichte wird gezeigt, wie sich trotz anfänglich nötiger
Öffnung des therapeutischen Rahmens (Kontaktaufnahme mit der Mutter und kinder-­
jugendpsychiatrischer Abklärung der Suizidalität) eine gute therapeutische Beziehung
etablieren lässt und vertrauensvoll an der Symptomatik gearbeitet werden kann. Dabei
kommt neben den typischen familientherapeutischen und lösungsorientierten Interven-
tionen auch das der dialektisch-behavioralen Therapie (DBT) entlehnte interaktive Skills-
training zum Einsatz.

5 5.1 Fallverlauf

Die Mutter der 13-jährigen Catrin stellt mit einer Wiener Beratungsstelle, für die ich
tätig bin, den Erstkontakt her. Eine Kollegin nimmt das Gespräch an der Anmeldung
entgegen. Sie berichtet mir später, dass sich die Mutter große Sorgen um ihre Tochter
mache, da diese sich mehr und mehr zurückziehe und depressiv wirke. Da die Tochter
gerne alleine zum Erstgespräch kommen möchte, wurde vereinbart, dass die Mutter
das Mädchen in die Beratungsstelle begleitet und eventuell im Wartebereich Platz
nimmt.

5.1.1 Erstkontakt: Lebenskontext und Problembeschreibung

Als ich Catrin und ihre Mutter im Wartebereich abholen und begrüßen möchte, ist
das Mädchen bereits alleine. Sie erklärt mir, ohne dass ich danach frage, dass die Mut-
ter ein paar Erledigungen mache und sie später wieder abholen werde. Catrin trägt
eine Legging und einen weiten Pullover, der ihr Untergewicht kaschieren soll und,
wie sich später herausstellt, auch ihre Narben an den Unterarmen. Sie wirkt für ihre
13 Jahre wesentlich älter, sodass ich sie zunächst mit Sie anspreche. Erst als ich ihr
gegenübersitze und auf das Datenblatt blicke, fällt mir wieder ein, dass sie ein drei-
zehnjähriges Mädchen ist und keine 18-jährige junge Frau, für die ich sie zunächst
gehalten habe. Ich frage nach, wie sie gerne angesprochen werden möchte und zu
meinem Erstaunen, sagt sie, dass es für sie passend ist, wenn ich per Sie bleibe und
ihren Vornamen verwende. Ich interpretiere dies zunächst als ein Zeichen von Distan-
ziertheit.
Das Mädchen lebt gemeinsam mit ihrer Mutter und deren neuem Lebensgefährten,
ihrer älteren Schwester Bianca und ihrem jüngeren Bruder Moritz in einer Wohnung in
der Wiener Innenstadt. Sie besucht die 4. Klasse eines Gymnasiums und beschreibt sich
als ganz gute Schülerin. Sie habe eine sehr gute Beziehung zu ihrer Schwester und auch
ihr Bruder sei ihr wichtig. Die Eltern sind seit vier Jahren geschieden. Seither habe sie
kaum Kontakt zum Vater.
Catrin erzählt zuerst zögerlich, gewinnt dann aber Vertrauen und erklärt, weshalb
sie der Aufforderung der Mutter nachgekommen ist, eine Therapie zu beginnen. Die
Mutter mache sich Sorgen, da sich Catrin mehr und mehr zurückzieht, viel Zeit im
Catrin: Auf Messers Schneide
59 5
abgedunkelten Zimmer verbringt, kaum mehr soziale Kontakte pflegt und wenig mit
der Familie spricht. Sie beschreibt ein schwieriges Verhältnis zum neuen L­ ebensgefährten
der Mutter, den unzuverlässigen Kontakt zum Vater, der an Depressionen leide. Die
ältere Schwester sei bereits als Kind an Diabetes erkrankt und es kommt immer wieder
zu Problemen mit der Erkrankung, was allen Familienmitgliedern viel Sorgen bereitet.
Da Bianca seit einigen Monaten in psychotherapeutische Einzeltherapie geht und sehr
positiv darüber erzählt, wolle Catrin auch ausprobieren, ob Gespräche ihr helfen könn-
ten. Der Gedanke, jemanden „ganz für sich alleine“ zu haben, hat sie am meisten
angesprochen. Sie selber leide an einer Essstörung. Sie beschreibt Essattacken und selbst­
induziertes Erbrechen, die Sorge davor zu dick zu sein und gelegentlich auch über
selbstverletzendes Verhalten in Form von Ritzen. Davon wisse ihre Mutter aber nichts.
Sie kann die Sorge und Sichtweise der Mutter teilen, dass sie womöglich Hilfe benötige,
und habe sich deshalb entschieden, in die Beratungsstelle zu kommen. Ich hole mir
explizit Catrins Einverständnis, genauer nachzufragen. Sie willigt ein. So erfahre ich auf
Nachfrage, dass sich Catrins Essverhalten vor ca. einem Jahr massiv verändert hat. Seit-
her isst sie kaum mehr in der Öffentlichkeit. Sie verspürt dabei Scham und denkt, die
Blicke aller Menschen würden auf ihr lasten. Manchmal fühlt sie sich unglaublich leer
und traurig. Dieses Gefühl führt sie entweder direkt zum Kühlschrank, in die nächste
Essattacke und danach auf die Toilette, wo sie alles wieder erbricht oder manchmal in
ihr Zimmer, wo sie mit der Spitze eines Zirkels entlang ihres Unterarms ritzt. „Der
Schmerz ist so klar und schrill. Da spüre ich mich endlich wieder. In aller Deutlichkeit.“
Was sie bisher ausprobiert hat, um das beschriebene Problem zu lösen? Anfangs hat sie
versucht, Gitarre zu spielen, wenn es ihr nicht gut ging. Das hat lange Zeit auch gut
geholfen. Oder sie ist mit Freundinnen samstags am Abend ausgegangen. Dann hat es
aber viel Stress in der Schule und besonders mit einer Lehrerin gegeben. Gleichzeitig
wurde Bianca wieder im Krankenhaus aufgenommen. Seither schaffe sie weder das eine
noch das andere. Immer öfter ist sie einfach im Zimmer gesessen und wollte nieman-
den sehen oder hören. Da hat die Mutter angefangen nachzufragen. Auf Drängen hat
sie sich ihr anvertraut und vage Andeutungen über die Leere und Hoffnungslosigkeit
gemacht, die sich so oft in den letzten Wochen einstellt. Gemeinsam waren sie letzte
Woche auch auf der Kinder- und Jugendpsychiatrie, wo eine stationäre Aufnahme
erwogen wurde. Sie hat sich dagegen entschieden und man ließ sie gehen. Gegen Ende
des Gesprächs spricht Catrin aus, dass sie nicht mehr so weiterleben möchte. Sie denke
daran, sich das Leben zu nehmen. Sie wolle der Familie weiteres Leid einer zweiten
„kranken“ Tochter ersparen. Zu sehr hat die Krankheitsgeschichte der Schwester die
Mutter gefordert und belastet. Sie fühlt sich vernachlässigt, hat aber die Idee, dass die
Mutter ihr nicht auch noch Aufmerksamkeit für ihre Probleme geben kann. Auch
durch zirkuläres Fragen und Reframen lässt sich diese Einschätzung für mich nicht
merkbar aufweichen. Zudem zeigt sich auf Nachfrage eine sehr konkrete Suizidabsicht.
Catrin weiß genau, wann und wie sie sich das Leben nehmen möchte. Sie hat ein schar-
fes Küchenmesser bereits im Zimmer versteckt und will sich die Pulsadern aufschnei-
den. Es soll an einem Tag sein, wo die Mutter als erste heimkommt. Auf keinen Fall will
sie, dass der kleine Bruder sie findet. Sie kann mir nicht zusagen, dass sie sich bis zu
einem weiteren Gespräch von diesen Absichten gut distanzieren kann. Sie schätzt die
Chance auf 50:50 ein.
60 C. Bernt und E. Wagner

5.1.2 Krisenintervention

An diesem Punkt ist die Grenze meiner Neutralität erreicht. Ich kann sie mit einer
50:50-Chance, dass sie bis zur nächsten Therapiestunde in der Folgewoche noch am
Leben ist, nicht gehen lassen. Ich markiere den Übergang auch für Catrin, indem ich dies
ausspreche. Ich erkläre ihr, dass ich gemeinsam mit ihr und ihrer Mutter besprechen
möchte, was wir nun tun können, um vorübergehend einen schützenden Rahmen zu
bieten, der Catrin am Leben hält. Catrin stimmt zu meiner Erleichterung zu. Wir rufen
ihre Mutter an, die zu unserem Gespräch dazukommt. Sie erzählt, sie wisse von den
Suizidgedanken. Vor einer Woche waren Sie schon auf der Ambulanz einer Kinder- und
5 Jugendpsychiatrie. Wir besprechen, dass aus meiner Sicht eine neuerliche Konsultation
notwendig ist, da Catrin sich derzeit nicht ausreichend von den Suizidgedanken distan-
zieren kann, dies aber eine Grundbedingung für eine ambulante Psychotherapie darstellt.
Die Mutter und Catrin willigen ein. Wir vereinbaren, dass mich Catrin und ihre Mutter
in den nächsten Tagen anrufen, um mich über eine eventuelle stationäre Aufnahme oder
doch eine ambulante Behandlung zu informieren und wir dann über einen Folgetermin
sprechen können. Beim Abschied legt die Mutter den Arm um Catrins Schulter und
drückt sie sanft an sich. Eine Träne rinnt dem Mädchen über die Wange. Ein erstes Zei-
chen von Emotionalität in den letzten Minuten dieser Stunde. Die mütterliche Präsenz
und Anteilnahme, die in dieser Geste zum Ausdruck kam, scheint sie berührt zu haben.
Nicht immer müssen Suizidideen sofort psychiatrisch abgeklärt werden. Flüchtige
Suizidideen hat wahrscheinlich jeder Mensch im Laufe seines Lebens kennengelernt,
wobei hier zwischen einem „allgemeinen Nachdenken“ über die Möglichkeit, seinem
Leben ein Ende zu bereiten und den konkreten Überlegungen zur Ausführung unter-
schieden werden muss. Suizidideen können fallweise als Wünsche nach Pause oder
Ruhe von den Anstrengungen des Lebens verstanden werden. Dieser Wunsch nach
Unterbrechung vom Leben kann mit bewusst eingegangenen Risiken einer möglichen
Todesgefahr angereichert werden. Von vagen Suizidideen muss die Suizidabsicht unter-
schieden werden. Während die Betroffenen bei Suizidideen die Handlung als Möglich-
keit meinen, jedoch die Distanzierung vor der Durchführung aufrechterhalten können,
wird dies bei der Suizidabsicht unsicher. In Catrins Beschreibung, war die Absicht deut-
lich spürbar, da sie bereits genau wusste, wann, wo und wie sie sich das Leben nehmen
will und bereits Vorbereitungen dazu getroffen hatte. Umso genauer die suizidale Hand-
lung geplant ist und beschrieben werden kann, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit,
dass sie auch durchgeführt wird.
Für die therapeutische Beziehung stellt das Aufgeben der Neutralität und der Ver-
schwiegenheit eine Belastung dar. Es hätte gut sein können, dass Catrin dies als Vertrau-
ensbruch wertet und daher weitere Gespräche bei mir ablehnt. Ich sah jedoch angesichts
der Konkretheit der Pläne keine andere Möglichkeit, Catrins Leben zu schützen. Mein
therapeutisches Handeln musste in diesem Moment dazu beitragen, einen sicheren
äußeren Rahmen herzustellen, innerhalb dessen wir gegebenenfalls (an den Pros und
Contras des Lebens) weiterarbeiten können. In Catrins Fall war es nicht nur eine Not-
wendigkeit, die von ihr akzeptiert wurde, sondern es hat eine heilsame Beziehungser-
fahrung zu ihrer Mutter ermöglicht, die nun an ihrer Seite stand und ihr dadurch gezeigt
hat „ich bin für dich da“ – genau das, was sie bisher so in Frage gestellt hat.
Catrin: Auf Messers Schneide
61 5
5.1.3 Therapievereinbarung, Kontraktverhandlung

In der Folgewoche erscheint Catrin pünktlich zur Therapiestunde. Zwei Tage davor
hatte mich ihre Mutter wie vereinbart angerufen und mir folgende Informationen
zukommen lassen: Noch am Tag unseres Erstgesprächs ist Catrin in ihrer Begleitung in
die Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychiatrie gefahren. Dort konnte das Mädchen
zusagen, sich bei aufdrängenden Suizidabsichten an die Mutter oder an die Ambulanz
der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu wenden. Eine stationäre Aufnahme sei aus
fachärztlicher Sicht daher nicht notwendig gewesen. Allerdings wurden wöchentliche
Telefontermine mit der behandelnden Kinder- und Jugendpsychiaterin vereinbart und
eine wöchentliche Psychotherapie empfohlen. Im Folgegespräch mit Catrin berichte ich
genau und detailliert vom Telefonat mit ihrer Mutter und betone, dass die Fortführung
der psychiatrischen Behandlung eine Bedingung für weitere Gespräche bei mir sei. Es
ist mir wichtig, dass die Gespräche mit der Mutter in ihrer Abwesenheit so transparent
wie möglich für sie sind. Ich möchte vermeiden, dass der Eindruck entsteht, zwischen
mir und der Mutter gebe es womöglich „geheime“ Absprachen oder Koalitionen. Ich
spreche dies auch vor Catrin aus, die erwidert, dass es für sie im Moment in Ordnung
sei, dass ich mit der Mutter telefoniert habe. Auch die Mutter habe mit ihr über das
Telefonat gesprochen und sie wisse bereits, dass ich gerne mit der behandelnden Ärztin
Kontakt aufnehmen möchte. Das wäre auch okay für sie. Sie unterschreibt mir die Ein-
verständniserklärung und nimmt ein zweites Exemplar für ihre Mutter mit nach Hause,
die es in den Folgetagen an die Beratungsstelle faxt. Ein weiteres Thema, das ich mit
Catrin bereits jetzt zu Therapiebeginn bespreche, ist, dass ich selbst nur mehr drei
Monate lang in der Beratungsstelle tätig sein werde. Dies ist eine Gratwanderung: Wir
beginnen gerade und gleichzeitig thematisiere ich schon das Ende der therapeutischen
Beziehung. Mit dieser Information gehe ich das Risiko ein, dass sich Catrin nicht für
eine Weiterführung der Therapie entscheidet oder aber zwar kommt, sie die Stunden
aber möglicherweise nicht gut für sich nutzen kann, da im Zusammenhang mit meinem
Abschied auch Gefühle wie Enttäuschung, Wut und Verlassenwerden auftreten könn-
ten. Dennoch ist mir diese Transparenz der Begrenztheit meines Angebots wichtig. Ich
erkläre ihr auch, dass sie, falls sie darüber hinaus ein Therapieangebot möchte, dann zu
einer Kollegin wechseln kann.

5.1.4 Ressourcenarbeit, Kontextualisierung, Familienbrett

Im nächsten Gespräch berichtet Catrin, dass es ihr bessergehe als letzte Woche. Die mas-
siven Suizidgedanken haben sich zurückgezogen. Auf Nachfrage wann und wodurch
sich die Stimmung verbessert habe, erzählt sie, dass sie wieder begonnen habe, ihr Tage-
buch zu schreiben und dass sie zwei Mal mit Freundinnen etwas unternommen habe.
Außerdem war sie wieder in der Schule und Mittwochvormittag sei immer freie Unter-
richtsphase und da hatte sie es schon fast lustig gehabt mit Schulkolleginnen beim Ler-
nen. Nachdem wir zu Beginn viel über Rahmenbedingungen und Vereinbarungen
gesprochen haben, versuche ich nun weiter über das Gelungene in der letzten Woche zu
sprechen, um den Gesprächsfluss in Gang zu halten und eine angenehme Atmosphäre
62 C. Bernt und E. Wagner

entstehen zu lassen. Ich interessiere mich für ihre Freundinnen, wie sie heißen, wie lange
sie sie kennt, was sie verbindet, um dann nach einiger Zeit anerkennend auf das Tage-
buchschreiben zurückzukommen. Mittlerweile erzählt Catrin sehr flüssig und hat auch
eine entspannte Körperhaltung eingenommen. In ihr Tagebuch schreibt sie ihre Sorgen
und auch alle Gedanken und Themen, die die negative Stimmung, die Hoffnungslosig-
keiten in ihrem Leben begünstigen. Sie skizziert drei immer wiederkehrende belastende
Ideen: das fehlende Verständnis der Mutter für ihre Bedürfnisse und ihre Sichtweise der
Dinge, das Gefühl „alleine“ zu sein in der fünfköpfigen Familie und es niemals irgendje-
manden Recht machen zu können. Auf Nachfrage sind das ihre Mutter, ihr Vater und
Hans, der Lebensgefährte der Mutter. Ich frage Catrin, ob sie Lust habe, dem Erzählten
5 ein Bild zu geben, ob sie mir zeigen wolle, wo ihre Position in der Familie sei, an der sie
sich oft „alleine“ fühle. Sie willigt ein und so hole ich das Familienbrett und erkläre ihr,
dass sie zunächst für jedes Familienmitglied eine Figur auswählen soll. In der Familien-
beratungsstelle gibt es nur die klassischen Holzfiguren mit Blickrichtung ohne jegliche
Mimik. Da Catrin teilweise sehr reif wirkt, erscheint mir diese Variante allerdings pas-
send. Bei jüngeren Kindern kann statt der simplen Holzfiguren auch mit Fingerpuppen
oder Tieren gearbeitet werden. Ich hoffe, durch die Arbeit mit dem Familienbrett mehr
von der Familiendynamik zu erfahren, v.a. wie die Beziehungen zwischen den Familien-
mitgliedern von Catrin wahrgenommen werden, da ich annehme, dass sich das Mäd-
chen durch die Fokussierung der Familienmitglieder auf die kranke Schwester an den
Rand gedrängt fühlt und sie unter der fehlenden Aufmerksamkeit der Mutter leidet. Bei
der Nutzung des Familienbrettes wird der Ansicht über die familiären Beziehungen eine
konkrete Gestalt verliehen, was das Einnehmen einer Beobachterperspektive und Meta-
kommunikation erleichtert. Dieses einfache Hilfsmittel erlaubt die unmittelbare Beob-
achtung des Familienprozesses sowie das Dokumentieren des dabei sichtbar gewordenen
„Familienbildes“. Zudem wirkt dieses Bild im Sinne einer neuen „Realität“ auf die Fami-
lie rekursiv zurück und stößt mithin ihre weitere Evolution an (Ludewig et  al. 1983).
Catrin wählt zuerst eine Figur für Hans, dann für ihre Mutter, ihren Vater, ihrer Schwes-
ter Bianca, eine Figur für sich selber und zuletzt eine für den Bruder Moritz. Ich lade sie
ein, die Figuren so anzuordnen, wie sie zueinander stehen. Es gehe hier um kein richtig
oder falsch, sondern um ein für sie im Moment passendes Bild, das Nähe und Distanz
der einzelnen Familienmitglieder darstellt. Während Erwachsene oft ermutigende Worte
benötigen, um mit dem Stellen der Figuren anzufangen, ist Catrin schon mitten im Tun,
bevor ich den Satz noch zu Ende gesprochen habe. Es fällt ihr leicht, den Figuren ihren
Platz zu geben. Das Bild scheint ganz klar für sie zu sein. Zügig stellt sie zuerst den Vater
auf mit Blickrichtung zu allen danach aufgestellten Figuren, vis a vis von ihm Bianca, die
aber nach rechts blickt. Danach folgen Hans und die Mutter, die nebeneinander stehen
und zur älteren Schwester ausgerichtet sind. Dahinter folgt Moritz und am Ende der
Reihe stellt Catrin ihre eigene Figur auf. Sie dreht sie hin und her, so dass sie einmal zu
den anderen Figuren hinblickt und dann wieder wegschaut. „Ich kann mich nicht ent-
scheiden, mit welcher Blickrichtung ich sie stellen soll. Ich hab das Gefühl, ich schau
manchmal hin und manchmal weg,“ sagt sie nachdenklich. Der Vater kann Catrin nicht
wahrnehmen. Er sieht sie gar nicht. Bianca habe gelegentlich mit ihm Kontakt. Er besu-
che sie immer, wenn sie im Krankenhaus aufgenommen ist. Das reiche ihm auch. Das
wäre anstrengend genug für ihn. Die Schwester fühle sich von den vielen Blicken genervt.
Sie würde gerne raus aus der Position. Wenn Catrins Figur zugewandt steht, blickt sie
Catrin: Auf Messers Schneide
63 5
direkt auf die Schwester mit sehr ambivalenten Gefühlen: Einerseits sehnt sie sich nach
ihr, sie würde gerne wieder mehr mit ihr sprechen. Andererseits wäre es vor einem hal-
ben Jahr zu einem bitteren Streit mit einer tiefen Enttäuschung gekommen und seither
spüre sie Eifersucht und Neid, dass sich immer alles um sie drehe. Der Blick auf Moritz
sei gut. Da fühle sie sich verantwortlich. Oft passe sie nachmittags auf ihn auf, wärme das
Mittagessen für sich und ihn. Manchmal sei ihr das aber auch alles zu viel. Sie dreht bei
der Erzählung die Figur um, sodass sie weg von der Familie blickt. Was verändert das?
Für sie wäre es ein angenehmer Rückzug. Sie müsse sich nicht mehr kränken, bekäme
von den anderen nichts mehr mit. Und wie geht es den anderen Familienmitgliedern
damit? Der Vater bekomme es nicht mit. Die Schwester fühle sich erleichtert, weil nun
die Mutter unruhig auf ihrem Platz werden würde. Die würde sich dann umdrehen wol-
len. Ich zeige mich erstaunt. Da wolle Catrin Ruhe von der Familie und ziehe sich zurück,
doch das würde ihre Mutter beunruhigend finden. Das Mädchen erzählt, dass die Mutter
sie oft zwinge, mehr mit ihr zu sprechen. Oft in Situationen, wo sie überhaupt keine Lust
dazu hätte und nicht wisse, was sie ihr sagen solle. Die gewünschte Aufmerksamkeit
käme nie zum richtigen Zeitpunkt. Ich bitte Catrin ein Lösungsbild aufzustellen. Wo
wäre denn ein besserer Platz für sie? Wo würde sie stehen wollen? Ihr erster Impuls lässt
sie zur Figur von Bianca greifen. Sie verstellt die Schwester und platziert sie neben sich.
Dadurch entsteht die Konstellation, dass die Elternfiguren gleichzeitig alle drei Kinder
im Blick haben. Ich fasse meine Wahrnehmung dieser Verschiebungen dahingehend
zusammen, dass Catrin sich wünschen würde, die Schwester wäre wieder an ihrer Seite
und würde die Aufmerksamkeit der Eltern, die ihr ohnehin zu viel ist, mit den anderen
teilen. Da die Stunde dem Ende zugeht, bitte ich Catrin, mit ihrem Smartphone ein Foto
vom Lösungsbild zu machen. Sie erhält drei Aufgaben von mir:
1. ein Stimmungstagebuch zu führen – sie bekommt eine Vorlage und eine entspre-
chende Erklärung dazu von mir mit (diese finden sich in verschiedenen Versionen
frei verfügbar im Internet);
2. das Foto vom Lösungsbild auszudrucken und jeden Tag zu überlegen, ob es
vielleicht schon eine Situation gegeben hat, die dem entspricht – dann solle sie
einen Punkt am unteren Rand malen;
3. sich mit der Mutter zusammensetzen und gemeinsam festlegen, wann es
„Gesprächszeiten“ in der Woche gibt.

5.1.5 Arbeit mit dem Stimmungstagebuch

Catrin wirkt beim nächsten Kontakt deutlich besser affizierbar und aufgeweckter als
zuvor. Sie trägt ihre Haare das erste Mal zu einer Frisur zusammengesteckt und lange,
verspielte Ohrringe baumeln an ihren Ohren. Stolz holt sie das Stimmungstagebuch aus
der Schultasche. Zunächst hätte sie nicht genau gewusst, was diese Aufgabe bringen solle,
aber schon am zweiten Tag habe es ihr Spaß gemacht, sich selbst genau zu beobachten
und Unterschiede zu erkennen. Am Wochenende habe sie mit einer Freundin gemein-
sam für eine andere Freundin eine Torte gebacken und dabei sehr viel Spaß gehabt, da
hat sie das strahlende Smiley mit den Sternenaugen angemalt. Auch ihre Mutter habe ihr
rückgemeldet, wie glücklich sie ist, dass Catrin und ihre Freundin beim gemeinsamen
Backen so viel gelacht haben. Zwei Tage später ist ein trauriger Smiley angemalt, da habe
64 C. Bernt und E. Wagner

sie sich im Zimmer eingeschlossen. Ihre Mathematik-Schularbeit war negativ beurteilt


worden. Das habe ihr sehr viel Druck und ein ungutes Gefühl im Magen gemacht. Am
nächsten Tag sei es ihr aber schon wieder bessergegangen, nachdem ihre beste Freundin
sie überreden konnte, mit zum Eislaufen zu gehen. Der Einsatz des Stimmungstagebuchs
eignet sich besonders in der Eingangsphase der Therapie. Die Selbsteinschätzung erfolgt
in den ersten drei Wochen morgens, mittags und abends. Besonders wichtig ist diese
häufige Skalierung zu Beginn einer Therapie bei depressiver Verstimmung, da Depressi-
onen häufig durch ein Morgentief gekennzeichnet sind. Durch das mehrmals tägliche
Ausfüllen erkennen die Betroffenen jedoch, dass es auch bessere Phasen gibt, die evtl. auf
konkrete Aktivitäten zurückzuführen sind. Diese Zusammenhänge werden zu Beginn
5 der Folgestunde besprochen, wodurch die Möglichkeiten, auf die Stimmung Einfluss zu
nehmen, zunehmend ins Bewusstsein rücken. Bei Kindern und Jugendlichen kann statt
einer Skalierung mit Zahlen auch der Einsatz von unterschiedlichen Emoticons, die
angemalt werden können (☺, ☹, ...), sinnvoll sein. Ich frage Catrin auch nach den
anderen beiden Aufgaben, die ich ihr gegeben habe. Stolz berichtet sie, dass sie nach der
letzten Therapiestunde mit der Mutter über die gemeinsamen Gespräche folgende
Abmachung getroffen hat: Zweimal die Woche setzen sich Mutter und Tochter am Abend
im Wohnzimmer bei einer Tasse Tee zusammen. Da darf die Mutter Fragen stellen, wie
es Catrin geht, was sie beobachtet. Da die Mutter unregelmäßige Arbeitszeiten hat, ver-
einbaren die beiden von Woche zu Woche neue Termine. Einen solchen Gesprächster-
min habe es schon gegeben und Catrin ist es auch gelungen, wie vereinbart aus dem
Zimmer hinunter zu kommen. Dadurch, dass sie sich auf das Gespräch einstellen kann
und den Termin mit der Mutter gemeinsam festlegt, fällt es ihr leichter, sich darauf ein-
zulassen. Auch in den folgenden Wochen berichtet Catrin, dass diese Vereinbarung gut
hält und es ihr gut tue, mit der Mutter Zweisamkeit zu verbringen. Es gelingt dieser auch,
die Fortschritte und Veränderungen zu sehen und auszusprechen, sodass die Gespräche
für Catrin weniger als lästige Pflicht, sondern mehr und mehr auch motivierend und
angenehm erlebt werden. Zu diesem Zeitpunkt und Thema hätte es sich zwar angeboten,
die Mutter zu gemeinsamen Gesprächen einzuladen, allerdings betonte Catrin immer
wieder, wie wichtig es ihr war, die Einzeltherapie für sich exklusiv zu nutzen. Da die
beiden auch ohne gemeinsames therapeutisches Gespräch wieder gut in den Dialog
gekommen sind, war es auch nicht weiter notwendig, diese Idee zu verfolgen.

5.1.6  ierte bis achte Stunde: Skillstraining bei selbstschädi-


V
genden Verhaltensweisen

In den nächsten Stunden zeigt sich aufgrund des Stimmungstagebuchs, dass Catrin kei-
nerlei suizidale Einbrüche mehr hat. Sie zeigt sich sehr erleichtert über die Verbesserung
und dass eine stationäre Aufnahme nun nicht notwendig ist. Auch die Essattacken seien
weniger geworden. Mit der Mutter konnte sie weiterhin regelmäßige Gespräche verein-
baren. Nun fällt es ihr leichter, auch mal „Rede und Antwort zu stehen“, weil sie sich im
Vorfeld schon darauf einstellen kann. An manchen Tagen erlebt sie ihre Schwester wie-
der greifbarer und mehr an ihrer Seite. Dann klebe sie einen blauen Punkt auf „unser“
Lösungsbild. Aber an anderen Tagen gehe es ihr nach wie vor schlecht. Sie weiß selber
nicht, was dann mit ihr passiert. Sie fühle sich plötzlich wieder so leer und einsam, dass
Catrin: Auf Messers Schneide
65 5
das einzige, was dann noch helfe, Schmerz sei. Catrin berichtet in Folge von den bereits
im Erstgespräch angedeuteten selbstverletzenden Handlungen. Nach diesen Handlun-
gen hatte ich bisher nicht aktiv nachgefragt, da mir ihre Stabilisierung und die Unter-
stützung bei der Distanzierung von den Suizidideen vorrangig erschienen. Meist ritze
sie mit der Zirkelspitze an der Innenseite des linken Unterarms entlang, manchmal auch
am Schenkel. Erst wenn das Blut zu sehen sei, wäre es gut und sie könne davon ablassen.
Ihre Unterarme sind stets gut bedeckt mit langärmeligen Shirts und Jacken. Die Jahres-
zeit für solche Kleidung ist jedoch angemessen und so bedanke ich mich bei Catrin für
ihren Mut und für die Ehrlichkeit, über das Ritzen zu erzählen. In den nächsten Stunden
geht es darum, das selbstverletzende Verhalten besser zu verstehen. Wie kommt es dazu,
dass Catrin den Wunsch verspürt sich zu schneiden? Welche Gedanken, Emotionen und
Handlungen führen eher zu einer Entscheidung für oder gegen das Verhalten? Wann
wird Selbstverletzung von Catrin eingesetzt und welchen Nutzen sieht sie darin? Das
genaue Besprechen und Erforschen erlebe ich ambivalent. Catrin ist einerseits bemüht,
an dem Thema zu arbeiten, sie beschreibt, punktuell in Spannungszustände zu kommen.
Andererseits verstummt sie immer wieder und äußert verzweifelt, sie wisse selber nicht
so genau, warum und wann das eigentlich mit ihr passiere. Genau hinzuschauen, scheint
ihr auch Angst zu machen. Als ich diese Vermutung ausspreche, korrigiert sie mich –
nein, es mache sie eher wütend und verzweifelt. Was sollte sie denn stattdessen machen?
Sie sehe keinen anderen Weg als entweder zu „fressen“ und anschließend zu erbrechen
oder sich selber zu verletzen. Sie spüre den Druck, dass alle wollen, dass es ihr besser-
gehe, dass sie das nicht mehr tue – auch von mir. Und sie sei sich nicht sicher, ob sie es
schaffen könne. An diesem Tag endet für uns beide die Therapiestunde mit einem bitte-
ren Nachgeschmack. Sie hat sich ausgekotzt, auf patzige aber ehrliche Art. Ihre Aussage,
ich wolle die Veränderung womöglich mehr als sie selber, machte mich nachdenklich.
Da könnte was Wahres dran sein. Natürlich war mein Interesse groß, das destruktive
Verhalten zu reduzieren. Durch die schnellen Erfolge zu Beginn der Therapie war ich
vielleicht zu ungeduldig gewesen. Vielleicht brauchte „das Problem“ noch mehr Würdi-
gung. Es war ihr Lösungsversuch, um mit der Anspannung zurecht zu kommen. Bei
Catrin war der Eindruck entstanden, ich wolle es ihr ausreden, ohne eine Alternative
anbieten zu können.
Ich schlage Catrin daher vor, mit Teilen des „interaktiven Skillstraining“ von Bohus
und Wolf (2009) weiterzuarbeiten. Es basiert im Wesentlichen auf dem von Marsha
Linehan in den 1980er-Jahren entwickelten Trainingsprogramm für Klientinnen mit
einer Borderlinestörung, einer wichtigen Komponente der dialektisch-behavioralen
Therapie (DBT). Ich habe das Skillstraining bei einem klinischen Praktikum in einer
psychiatrischen Klinik kennengelernt. Skillsgruppen werden nicht nur für Menschen
mit emotional-­instabiler Persönlichkeitsstörung angewendet, sondern u.a. auch bei Ess-
störungen, posttraumatischer Belastungsstörung, Störung der Aufmerksamkeit und
Hyperaktivität sowie bei Störung der Impulskontrolle und Emotionsregulation. Marsha
Linehan definiert Skills als Fertigkeiten, die für die erfolgreiche Bewältigung unter-
schiedlichster Anforderungen nötig sind. Besonders wichtig sind die Fähigkeiten zur
Selbstberuhigung, zur Emotionswahrnehmung und -regulation aber auch basale soziale
Kompetenzen, wie das Vertreten eigener Interessen. Im Verständnis der DBT ist das zen-
trale Merkmal der Borderline-Persönlichkeitsstörung die Emotionsregulationsstörung,
wodurch bei emotionaler Belastung dysfunktionale Reaktions- und Bewältigungsmuster
66 C. Bernt und E. Wagner

beispielsweise Essattacken oder selbstverletzendes Verhalten aktiviert werden. Die


unterschiedlichen Gefühle werden von den Klientinnen meist nicht differenziert wahr-
genommen, sie erleben sie als quälende, diffuse Spannungszustände, die sich dann in
Selbstverletzungen, Substanzkonsum, Essanfällen oder aggressiven Durchbrüchen ent-
laden. Das Ziel des Skillstrainings ist daher zum einen die Förderung einer differenzier-
ten Gefühlswahrnehmung durch systematische Situationsanalysen (Was ist geschehen,
was habe ich gefühlt, was habe ich gedacht, wie habe ich reagiert? Was hatte das für
Folgen? Wie hätte ich anders reagieren können?), zum anderen der Aufbau und das Ein-
üben der Skills, damit diese auch in Krisensituationen zugänglich bleiben und eingesetzt
werden können (vgl. Bohus u. Wolf 2009). Die dialektische Betrachtungsweise nach
5 Linehan erlaubt auch – systemisch formuliert –, die zwei Seiten/Anteile anzuerkennen:
Ich würdige einerseits die schwierige Situation und betone, dass ich versuche zu verste-
hen, dass Catrin denkt, dass sie nicht anders damit umgehen kann. Andererseits merke
ich an, wie wichtig Catrin die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leid und Schmerz
ist, dass sie die Verantwortung für die Änderung schwieriger oder belastender Situatio-
nen übernehmen kann und will. Catrin nickt und sagt, dass sie diese beiden Seiten in
sich spürt. Ich habe Catrin die Arbeitsblätter aus dem interaktiven Skillstraining von
Bohus und Wolf kopiert und frage sie, ob sie Lust hat, sie mit mir gemeinsam durchzu-
schauen. Sie willigt ein und so beginnen wir mit der Spannungskurve.
DBT versteht Anspannung als einen allgemeinen Erregungszustand einer Person.
Wenn eine Veränderung der Anspannung auftritt, verändern sich auch die Körperreak-
tion, Gedanken, Gefühle und Verhalten. Die Einschätzung der Anspannung kann zwi-
schen 0 und 100 % liegen, wobei 0 % einen Zustand ohne Anspannung und 100 % einen
Zustand extrem hoher Anspannung beschreiben. Ab einer Anspannung von 70 % kön-
nen die meisten Menschen nur noch daran denken, wie sie den Spannungszustand wie-
der beenden können, konstruktive Problemlösungen werden in diesem Zustand nicht
mehr gefunden. Das zweite Arbeitsblatt beschreibt die Frühwarnzeichen und wie sich
Anspannung verändert. Viele Betroffene erzählen zunächst, dass die Anspannung plötz-
lich aus dem Nichts von 0 % auf 100 % gestiegen ist. Bei genauerer Beobachtung wird
jedoch deutlich, dass es meistens zu einer stufenweisen Veränderung kommt und es
Frühwarnzeichen dafür gibt. Gemeinsam erarbeiten wir Catrins Anspannungszustände
auf der Skala von 0–100 % auf den vier Ebenen: Gedanken, Gefühle, körperliche Merk-
male und Verhalten. Catrin hört interessiert zu. Ja, das komme ihr logisch vor. Und sie
äußert erleichtert, dass sie wohl nicht alleine ist mit diesen diffusen Wahrnehmungen,
wenn es ein ganzes Übungsbuch dazu gebe. Ich bin froh, dass sie sich nun wieder offener
und zugewandt in die Therapie einbringen kann. Nach der letzten Stunde war ich mir
nicht sicher gewesen, ob ich den kooperativen Anteil in ihr wieder gut aktivieren kön-
nen würde. Catrin arbeitet in den nächsten drei Wochen mit dem Spannungsprotokoll.
Dies ist vom Aufbau ähnlich wie das Stimmungstagebuch. Die Arbeit damit ist ihr ver-
traut. Sie zeichnet täglich auf und kann erste Muster gemeinsam mit mir in den Gesprä-
chen erkennen. Natürlich gibt es Tage, an denen Catrin hoch skaliert und auch noch
ritzt. Ich nehme diese Erzählungen ernst aber unaufgeregt zur Kenntnis und betone eher
die positiven Seiten, d.h., dass die Verletzungen schon weniger werden, dass sie weniger
tief schneidet etc., aber dass es wahrscheinlich noch etwas Zeit braucht, um das Schnei-
den ganz sein lassen zu können. Da ist sie ja dran, das finde ich gut. Ich bestärke sie, an
der Erarbeitung einer Alternative weiter zu arbeiten, sich nicht entmutigen zu lassen.
Catrin: Auf Messers Schneide
67 5

..      Tab. 5.1  Catrins Skillskette

Anspannung „Im Nebel sein“

Skill 1 Kaltes Wasser/Coolpack Duft Pfefferminzöl

Skill 2 Igelball kneten Gummiring schnippen

Skill 3 Stufensteigen, schnell spazieren gehen Scharfes Bonbon lutschen

Skill 4 Musik hören (am Smartphone eigener Ball gegen die Wand werfen und wieder
Ordner) auffangen

Die Ermutigung zur Veränderung muss ich vorsichtig dosieren, denn wenn ich die Ver-
änderungsmotivation überstrapaziere, scheint sie sich zurückzulehnen und trotzig über
das Gute der Selbstverletzung zu sprechen. Dann erinnere ich mich wieder daran, dass
ich die Veränderung nicht dringender wollen darf, als sie selber. Parallel zu den Span-
nungsprotokollen erarbeiten wir persönliche Skills, die für die Spannungsregulation
nützlich sind und die helfen sollen, Catrin aus den immer wieder auftretenden leicht
dissoziativen Zuständen herauszuführen. Als Unterstützung erzähle ich ihr, was andere
Menschen diesbezüglich als hilfreich empfinden wie beispielsweise: scharfe Bonbons
lutschen, auf Chili beißen, einen Igelball kneten, eine spezielle Musik hören, einen Duft
verwenden, Treppen steigen, einen Gummiring schnippen lassen etc. Ich habe eine
kleine Liste mit den Vorschlägen zusammengestellt, die ich ihr mit nach Hause gebe. Sie
bekommt die Aufgabe, diese Dinge auszuprobieren und festzustellen, was mehr oder
weniger hilft. Dazu soll sie einfach die Skills auf der Liste nach dem Schulnotensystem
bewerten. In einem weiteren Schritt ordnet Catrin wirksame Skills den unterschiedli-
chen Anspannungsphasen zu. Nachdem Catrin die unterschiedlichen Skills in ihrer
Wirkung erprobt hat, erstellen wir eine Skillskette (. Tab. 5.1), die bei Spannung über

70 % eingesetzt werden kann. Dazu bedienen wir uns der persönlichen Skills-Favoriten
und unterscheiden die beiden Zustände in Anspannung und Dissoziation, was Catrin
als „da bin ich wie im Nebel“ beschreibt. Die Skillskette soll mit einem starken Reiz
beginnen und dann durchgearbeitet werden, bis die Anspannung oder das dissoziative
Gefühl deutlich abfallen. Manchmal kann es auch notwendig sein, die Skillskette mehr-
mals hintereinander zu wiederholen.

5.1.7 Abschluss

Catrin konnte mithilfe des Skillstrainings lernen, ihre belastenden Zustände anders
zu regulieren. Erfolge zeigten sich langsam und schrittweise vor allem was das selbst-
verletzende Verhalten betraf. Als sie ihren ersten Freund Andi kennen lernte, stieg die
­Motivation nochmals weiter an. Mit der Beziehung zu ihm kam auch das Gefühl der
Leere nicht mehr so häufig. Sie wollte in dieser Zeit keine unschönen Narben an den
Händen haben und „peinlichen“ Fragen ausgesetzt sein. Außerdem erlebt sie sich
wieder mehr als Teil ihrer Familie. Ihre Mutter zeigte durch die regelmäßigen Gesprä-
che, durch ihre Unterstützung in der suizidalen Phase, dass sie wieder vermehrt ihre
68 C. Bernt und E. Wagner

elterliche Fürsorge aufgenommen hatte. Die Beziehung zur Schwester Bianca blieb
während der neun Therapiegespräche, die in einem Zeitraum von drei Monaten statt-
fanden, insgesamt noch distanziert. Das gewünschte Gefühl des Schulter-an-Schul-
ter-Stehens konnte sich noch nicht einstellen. Bianca war durch ihre Erkrankung
immer wieder stationär aufgenommen worden und stark mit sich selbst beschäftigt.
Catrin konnte aber einzelne „nahe Momente“ mit ihr erleben, diese auch wahrneh-
men und als Minierfolge wertschätzen. Als meine Tätigkeit in der Beratungsstelle zu
Ende ging, entschied sich Catrin, bei einer meiner Kolleginnen in der Beratungsstelle
die Therapie fortzusetzen. Zum Abschied stand sie mit Tränen in den Augen vor mir
und ich kämpfte auch mit der Traurigkeit des Abschieds. Als sie mir um den Hals fiel
5 und „Danke“ flüsterte, war nichts mehr von der ersten Distanziertheit zu spüren.

5.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis

Bei Catrin hatte sich im Jahr vor Therapiebeginn eine Bulimie und selbstverletzendes
Verhalten in Form von Ritzen etabliert. In den letzten Monaten war es darüber hinaus
zu einem deutlich depressiv getönten Rückzug, häufigen Stimmungseinbrüchen mit
zunehmend konkreten Suizidabsichten und leichten dissoziativen Zuständen („wie im
Nebel“) gekommen. Vor allem die Suizidalität erforderte eine psychiatrische Abklärung,
auch im Sinne der geteilten Verantwortungsübernahme. Subjektiv erlebt sich Catrin in
ihrer Familie als unverstanden und einsam, der Kontakt zum geschiedenen, depressiven
Vater ist nahezu abgebrochen und die Beziehung zur älteren Schwester aufgrund deren
Diabeteserkrankung weniger intensiv als gewünscht. Es ließe sich vermuten, dass es
neben der Sehnsucht nach der großen Schwester auch Wut auf sie oder Neid geben
könnte, da ihre Erkrankung soviel Aufmerksamkeit bindet. Da dies aber von der Klien-
tin nicht geäußert wird und sich auch ohne das Einführen dieser Hypothese die famili-
ären Beziehungen (v.a. die zur Mutter) bessern, ist es aus systemischer Perspektive
legitim, diesen Aspekt unberücksichtigt zu lassen. Neben den „typisch“ systemischen
Methoden und Haltungen, die anhand anderer Fallverläufe schon bezüglich ihres Wirk-
mechanismus reflektiert worden sind, wollen wir an dieser Stelle etwas grundsätzlicher
auf die Integration von Interventionen aus anderen Therapieschulen, in diesem Fall das
Skillstraining als Teil der dialektisch-behavioralen Therapie von M. Linehan eingehen.
Pleyer (2001, S. 126 f.) ermutigt diesbezüglich zur Methodenintegration: „Zeitgemäße
Vorgehensweisen verknüpfen bewährte herkömmliche Methoden der Kinderpsycho-
therapie mit dem Inventar eines systemischen Denkansatzes. Aus der ethischen Hal-
tung eines systemischen Menschenbildes heraus lassen sich eine konstruktivistische
Epistemologie, eine lösungs- und ressourcengerichtete Grundorientierung, narrative
Ansätze und hypnotherapeutische Vorgehensweisen mit bewährten Arbeitstechniken
aus der Gestalttherapie oder etwa mit verhaltenstherapeutischen Desensibilisierungs-
methoden ... mühelos verknüpfen“. Und auch Kurt Ludewig meinte in diesem
­Zusammenhang „Systemisch kann man alles tun, solange man es systemisch tut“
(mündliche Mitteilung, 1999). Wie aber „tut man ein Skillstraining systemisch“? Was
eine systemisch-­konstruktivistische Haltung auszeichnet, ist der Verzicht auf alleinige
Catrin: Auf Messers Schneide
69 5
Definitionsgewalt psychosozialer Probleme („bescheidene Expertenschaft“) und der
daraus abgeleitete Anspruch auf „Psychoedukation“, nicht aber der radikale Verzicht auf
Erklärungsmodelle und die Konzeptualisierung von Wirkprinzipien spezifischer
Methoden. Eine dogmatische Auslegung von Goolishians Position des „Nicht-Wissens“
(Goolishian u. Anderson 1988) erscheint uns gerade im Bereich der Kinder- und
Jugendlichenpsychotherapie besonders fragwürdig. Auch als „bescheidene Expertin-
nen“ sollten wir vielmehr über Erklärungmodelle verfügen, die uns handlungsfähig
machen, damit wir unsere Klienten nicht nur als wohlwollende Zuhörer begleiten, son-
dern auch spezifische Unterstützung bei der Problembewältigung anbieten können. Das
Konzept der Emotionsregulationsstörung (Erklärungsmodell) stellt uns mit dem Skills-
training eine bewährte und wirksame Interventionsmöglichkeit zur Verfügung, die,
wenn sie für die Klientin anschlussfähig ist, selbstverletzendes Verhalten verlässlich
reduziert. „Systemische Professionalität“ besteht darin, dieses Behandlungselement
gezielt einzusetzen – nämlich dann, wenn z.B. keine interpersonelle Funktionalität des
Symptoms besteht und sich das Symptomverhalten von den auslösenden Bedingungen
gleichsam abgelöst hat. Bei einem „symptomatischen Verhalten“, egal ob Bulimie,
Selbstverletzungen oder Panikattacken sind damit grundsätzlich verschiedene Heran-
gehensweisen möglich: Wenn das Fallverständnis die Aufrechterhaltung des Symptoms
durch interpersonelle Funktionalität nahelegt (ein Symptom wird aufrechterhalten, weil
es in den familiären Beziehungen einen Zweck erfüllt), sollten die Beziehungen in der
Familie den Fokus bilden (vgl. Fallbeispiel Michelle), was in der Regel durch ein famili-
entherapeutisches Vorgehen am besten erreicht wird. Wenn das Symptom auf eine
anstehende Entwicklungsaufgabe oder ein verletztes Grundbedürfnis verweist, sollte
dieses fokussiert werden. Im Fall von Catrin könnte man annehmen, dass das Bedürfnis
nach Zugehörigkeit, ihre Sehnsucht danach, gesehen und geschätzt zu werden, durch
die Scheidung, den fast völligen Kontaktabbruch zum Vater und die schwere Diabetes­
erkrankung der Schwester, nicht ausreichend erfüllt wurde. Gleichzeitig muss man
aber berücksichtigen, dass realistischer Weise nur in der Beziehung zur Mutter eine
Verbesserung herbeizuführen ist. Diese wurde auch realisiert, ohne dafür das von der
Klientin gewünschte Einzelsetting aufzulösen. Neben der interpersonellen Funktionali-
tät und dem Verweis auf einen anstehenden Entwicklungsschritt oder ein nichterfülltes
Bedürfnis kann aber auch ein dritter Aspekt im Fallverständnis in den Vordergrund
rücken: „In einer kybernetischen Sichtweise entstehen Symptome nicht als Folge von
eindeutig identifizierbaren Ursachen, sondern als Resultat vielfältiger zirkulärer Pro-
zesse in biologischen, psychischen und sozialen Systemen. Im Laufe der Zeit können
sich stabile psychosoziale Muster ergeben, die die Freiheitsgrade der Beteiligten massiv
einschränken und zur Aufrechterhaltung der Störung beitragen, ohne dass das Resultat
dieser Wechselwirkungen auf eine bestimmte eindeutig zuordenbare Ursache zurück-
zuführen ist“ (Wagner u. Russinger 2016). In solchen Fällen kann es sinnvoll sein, alle
Hypothesen über ursächliche oder aufrechterhaltende Mechanismen auf die Seite zu
schieben und sich ganz der Unterbrechung des Symptommusters zu widmen. Dafür
können strategische Verschreibungen oder verhaltenstherapeutische Übungen, z.B. das
Skillstraining, angewandt werden, in jedem Fall geht es darum, neue Erfahrungen im
Umgang mit dem Symptom zu machen.
70 C. Bernt und E. Wagner

Literatur
Bohus M, Wolf M (2009) Interaktives Skills-Training für Borderline-Patienten. Manual zur CD-ROM für die
therapeutische Arbeit. Schattauer, Stuttgart
Goolishian H, Anderson H (1988) Menschliche Systeme. Vor welche Probleme sie uns stellen und wie
wir mit ihnen arbeiten. In: Reiter L, Brunner EJ, Reiter-Theil S (Hrsg) Von der Familientherapie zur
systemischen Perspektive. Springer, Heidelberg
Ludewig K, Pflieger K, Wilken U, Jakobsgötter G (1983) Entwicklung eines Verfahrens zur Darstellung
von Familienbeziehungen: Das Familienbrett. In: Familiendynamik 8:235–251
Pleyer KL (2001): Systemische Spieltherapie - Kooperationswerkstatt für Eltern und Kinder. In: Rotthaus
W Systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie. Carl Auer, Heidelberg
Wagner E, Russinger U (2016) Emotionsbasierte Systemische Therapie. Intrapsychische Prozesse verste-
5 hen und behandeln. Klett-Cotta, Stuttgart
71 6

Hannah: Ein Krug voller


Tränen
Einzeltherapie mit einer 15-jährigen Jugendlichen mit
depressiver Symptomatik

Nina Schebeczek und Elisabeth Wagner

6.1 Fallverlauf – 72
6.1.1 E rstkontakt – 72
6.1.2 Therapiebeginn mit Hannah – 74
6.1.3 Arbeit mit Gefühlen und Körperempfindungen – 75
6.1.4 Arbeit mit dem Familienbrett – 77
6.1.5 Gespräch mit Mutter und Hannah – 78
6.1.6 Externalisieren der Trauer – 78
6.1.7 Externalisieren der Lebensfreude/des Glücks und
Positiv-Tagebuch – 80
6.1.8 Arbeit mit der Timeline – 81
6.1.9 Weiterer Verlauf – 82
6.1.10 Therapieende – 83

6.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis – 84


Literatur – 86

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


E. Wagner, S. Binnenstein (Hrsg.), Wie systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
wirkt, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55547-7_6
72 N. Schebeczek und E. Wagner

Die 15-jährige Hannah kommt mit ihrer Mutter zum Erstgespräch, weil sie sich seit Mona-
ten zunehmend zurückzieht und immer wieder sehr traurig ist. Unmittelbarer Therapie-
anlass ist die Sorge der Tochter, wie ihr Vater an einer Borderlinepersönlichkeitsstörung
zu erkranken. Nachdem die Klientin in Bezug auf diese Sorge beruhigt werden kann, wird
in der darauffolgenden Einzeltherapie mit diversen kreativen und visualisierenden Ver-
fahren zum einen ihre Gefühlswahrnehmung und -verarbeitung gefördert, zum anderen
wird die Klientin dabei unterstützt, den Kontaktabbruch mit dem Vater unbeschadet zu
bewältigen.

6.1 Fallverlauf

Die Mutter der 15-jährigen Hannah stellt telefonisch den Erstkontakt her und berichtet
6 im Telefonat von Ängsten ihrer Tochter, eine psychische Erkrankung zu entwickeln. Sie
berichtet im Weiteren, dass Hannahs Vater an einer Persönlichkeitsstörung sowie Such-
terkrankung leiden würde. Nach dieser kurzen Problemschilderung und Klärung der
Rahmenbedingungen vereinbaren wir einen gemeinsamen Ersttermin für Mutter und
Tochter.

6.1.1 Erstkontakt

Bei der ersten persönlichen Begegnung erlebe ich Hannah als sehr introvertierte
Jugendliche, die sich wenig ins Gespräch einbringt. Hauptgesprächspartnerin ist die
Mutter. Wenn ich Hannah Fragen stelle, blickt sie meist zur Mutter und bittet diese
direkt oder indirekt, für sie zu antworten. Hannah ist im ersten Kontakt wenig greifbar.
Angesichts dieser offensichtlichen Schwierigkeiten Hannahs, sich im Gespräch zu öff-
nen, bemühe ich mich ganz besonders darum, Hannah „ankommen zu lassen“ und
keinen Druck aufzubauen. Um Hannah zu entlasten, formuliere ich explizit meinen
Eindruck, dass es ihr erstmals angenehmer zu sein scheint, wenn die Mutter spricht
(„normalisieren“). Gleichzeitig versuche ich aber immer wieder, Hannah durch Blick-
kontakt oder direkte Ansprache ins Gespräch einzubinden. Auftrags- und Zielorientie-
rung dürfen in einem systemischen Erstgespräch mit Kindern und Jugendlichen nicht
forciert werden, wenn dies auf Kosten des Aufbaus einer positiven Beziehung geschieht.
Gemäß der therapeutischen Wirkforschung ist eine positive Therapiebeziehung der
wichtigste Prädiktor für eine erfolgreiche Therapie. Besonders in den ersten Gesprä-
chen muss daher in den Aufbau einer vertrauensvollen Therapiebeziehung investiert
werden, was gerade im Gespräch mit Kindern und Jugendlichen, die ja im Sinne von de
Shazer häufig zunächst „Besucher“ sind, weil sie von ihren Eltern in die Therapie mitge-
nommen werden, ein besonders behutsames Vorgehen erfordert. Die Phase des Bezie-
hungsaufbaus wird auch zur Problemexploration genützt. Ich fasse nochmal kurz
zusammen, was ich vom Telefonat mit der Mutter weiß und interessiere mich im weite-
ren Gesprächsverlauf genauer für die Sorgen, Ideen zur Entstehung des Problems, frü-
here Lösungsansätze, Hoffnungen, Erwartungen etc. und natürlich auch für den
Kontext, in dem Hannah lebt. Ich erfahre, dass Hannah gemeinsam mit ihrer Mutter,
einer Büroangestellten, in einem Haushalt lebt. Die Mutter hat derzeit keinen Partner.
Hannah: Ein Krug voller Tränen
73 6
Wichtige Bezugspersonen stellen die Großeltern und der Onkel (plus Gattin und Sohn)
mütterlicherseits, sowie auch die Tante väterlicherseits dar, zu welchen regelmäßiger
Kontakt bestehe. Die Trennung vom Kindesvater erfolgte, als Hannah fünf Jahre alt war.
Die Trennung ging von der Mutter aus, als Grund nennt sie die Schwierigkeiten, die mit
der Erkrankung des Vaters verbunden waren. Die Kindesmutter berichtet von einer dia-
gnostizierten Borderlinepersönlichkeitsstörung des Vaters, seinem sehr aufbrausenden
Verhalten sowie Alkohol/Drogenkonsum (insbesondere Marihuana), welcher zu Füh-
rerscheinentzügen und auch einem kurzen Gefängnisaufenthalt geführt habe. Es habe
in der Vergangenheit mehrere Psychiatrieaufenthalte gegeben, mittlerweile sei der
44-jährige gelernte Tischler und ehemaliger Produktionsleiter Frühpensionist und lebe
in einem Wohnwagen. Bis vor sechs Monaten bestand regelmäßiger Kontakt zwischen
Hannah und ihrem Vater (etwa zweimal im Monat), und auch das Weihnachtsfest wurde
immer gemeinsam verbracht. Zum letzten Weihnachtsfest sei der Vater aber unter Sub-
stanzeinfluss erschienen, woraufhin es zu einem Streit zwischen ihm, der Mutter und
Hannah gekommen sei, der damit geendet habe, dass der Onkel mütterlicherseits den
Vater „aus dem Haus geworfen“ habe. Seither verweigere Hannah jeglichen Kontakt
zum Vater, auch auf Anrufe oder SMS reagiere sie nicht mehr. Zum aktuellen Verhältnis
zwischen den Kindeseltern befragt, gibt die Mutter an, dass sie seit dem Vorfall keinen
Kontakt mehr zum Kindesvater habe. Sie habe sehr wohl versucht, über den Vorfall mit
ihm zu sprechen, er habe aber keine Einsicht gezeigt und gebe ihr die Schuld daran, dass
Hannah den Kontakt mit ihm verweigere. Bis zu dem Vorfall habe die Mutter einen
guten Kontakt zum Kindesvater gehabt und habe auch viel Verantwortung für ihn über-
nommen (ihn beispielsweise des Öfteren in einer Krise ins Krankenhaus gebracht und
sich um ihn gekümmert, wenn es ihm aufgrund seiner psychischen Verfassung schlecht
gegangen sei). Sie empfinde vor allem Mitleid mit dem Vater ihrer Tochter.

zz Problembeschreibung und Lösungsversuche, Ressourcensuche


Seit Hannah vor ca. zwei Monaten ein Referat über Borderlineerkrankungen gehalten
hat, haben sich ausgeprägte Ängste entwickelt, einmal selbst eine psychische Erkran-
kung zu bekommen. Der Mutter falle außerdem auf, dass Hannah sich in der letzten Zeit
immer mehr zurückziehe, Kontakt zu ihren Freundinnen vernachlässige und täglich um
die vor einigen Monaten verstorbene Katze weine. Die Mutter habe in vielen Gesprä-
chen versucht, Hannah die Ängste zu nehmen und sie zu beruhigen. Schließlich habe sie
den Vorschlag gemacht, eine Therapeutin aufzusuchen, worauf Hannah sehr positiv
reagiert habe. In diesem ersten Gespräch bemühe ich mich um eine ressourcenorien-
tierte Grundhaltung, um Potenzial und Stärken des Systems zu entdecken. Neben einem
sorgsamen Umgang der Mutter mit ihrer Tochter und dem Bemühen, diese zu unter-
stützen, können die gute Einbettung Hannahs im Familiensystem, die Zufriedenheit mit
der Schulwahl (Modeschule), Reiten als wichtige Freizeitbeschäftigung und der eigene
Wunsch nach Unterstützung, aufgezählt werden, um nur einige zu nennen. Hannah und
ihre Mutter haben übereinstimmende Erklärungen zur Entstehung von Hannahs Ängs-
ten und der damit einhergehenden sehr gedrückten, auch gereizten Stimmungslage,
nämlich den Streit mit dem Vater und den Kontaktabbruch sowie Hannahs verstärktes
Interesse an psychischen Erkrankungen und Auseinandersetzung mit der Thematik. Als
Therapieziel geben sowohl die Mutter als auch Hannah an, dass es Hannah wieder besser
gehen sollte. Auf konkretere Nachfrage („Was wäre dann möglich, woran würden Sie das
74 N. Schebeczek und E. Wagner

merken?“) formulieren die beiden eine Reduktion der Sorge um die eigene psychische
Entwicklung, mehr Freude am Leben und mehr Spaß mit Freundinnen. Die Mutter
wünsche sich außerdem, dass Hannah wieder Kontakt mit dem Vater zulasse. Dies lehnt
Hannah vehement ab, aus Angst, wieder vom Vater enttäuscht zu werden. Da der Ver-
änderungswunsch ganz klar Hannahs Befindlichkeit betrifft, vereinbaren wir eine
einzeltherapeutische Begleitung. In größeren Abständen sollen auch gemeinsame
Gespräche mit der Mutter stattfinden. Die Entscheidung für das Einzelsetting schien
mir auch deshalb sinnvoll, weil Hannah in Anwesenheit der Mutter wenig von sich
preisgibt und ich hoffe, dass sie sich im Einzelsetting mehr öffnen kann. Hinzu kommt,
dass Hannah selbst ein Anliegen äußert (das ganz zentral ihre Identitätsfragen betrifft)
und primär nicht Themen zwischen Mutter und Tochter im Vordergrund stehen. Die
Mutter soll anlassbedingt in die Therapie eingebunden werden. Wichtig im Erstgespräch
war aus diesem Grund auch, die Verschwiegenheit gegenüber der Mutter klar zu bespre-
6 chen (mit Ausnahme von Selbst- und Fremdgefährdung). Bezüglich der Frequenz eini-
gen wir uns auf 14-tägige Termine.

6.1.2 Therapiebeginn mit Hannah

Beim ersten Gespräch, das ich mit Hannah alleine führe, wirkt sie wieder sehr unsi-
cher und zurückhaltend. Um das Joining zu erleichtern, wähle ich zunächst ein
Thema, das es Hannah erlaubt, in einen „ressourcenreichen Zustand“ zu gelangen –
ich spreche mit ihr über Pferde und ihr Hobby, das Reiten. Nachdem Hannah „etwas
aufgetaut“ ist, interessiere ich mich für ihre Befindlichkeit. Die Frage „Wie geht es
dir?“ beantwortet Hannah mit: „Normal, weiß nicht genau.“ Ich versuche zu konkre-
tisieren, was es bedeutet, wenn es Hannah „normal geht“. Ist das ein angenehmer oder
unangenehmer Zustand? Ich merke, dass es der Jugendlichen sehr schwer fällt, ihren
Gefühlszustand wahrzunehmen und zu benennen, was ich in den nächsten Thera-
piestunden weiter aufgreifen möchte. Da die Thematisierung ihrer Befindlichkeit kei-
nen weiteren Ansatzpunkt ergibt, entscheide ich mich, jenes Thema aufzugreifen, das
Hannah aktuell die größten Sorgen macht, nämlich die Angst, das gleiche Schicksal
wie ihr Vater zu erleiden. Ich frage daher konkret nach dem Vater und dessen Krank-
heitsbild. Hannah berichtet von seinen heftigen Stimmungsschwankungen und
Gefühlsausbrüchen, Selbstverletzungen, Selbstmordversuchen, seinem Alkohol- und
Drogenkonsum. Bei Hannah wird eine große Enttäuschung spürbar. Ihr sei in den
letzten Monaten immer mehr bewusst geworden, dass der Vater nicht der sei, für den
sie ihn immer gehalten habe. Sie erinnert sich an Wochenenden beim Vater in dessen
alter Wohnung, wo sie Pflanzen entdeckt habe und nun retrospektiv weiß, dass es sich
um eine Cannabisaufzucht handelte, weswegen der Vater auch verurteilt wurde. Sie
artikuliert auch die Enttäuschung darüber, dass der Vater psychisch krank sei, die
Schuld an seinem Scheitern anderen zuschreibe und sogar kriminell geworden sei. In
diesem ersten Gespräch geht es mir vor allem darum, herauszufinden, was Hannah
über die Erkrankung des Vaters weiß und ob sie Parallelen zu sich selbst wahrnimmt,
und wenn ja, welche. Hannah berichtet von eigenen Gefühlsschwankungen, die ich
mir genau erklären lasse. Die Stimmungsschwankungen würden im Rahmen von
Konflikten mit der Mutter auftreten. Ich suche gemeinsam mit Hannah nach alternativen
Hannah: Ein Krug voller Tränen
75 6
Erklärungsmodellen (pubertäre Stimmungsschwankungen, wie Hannah sie auch von
Freundinnen kennt), um die bei sich selbst wahrgenommenen Phänomene zu norma-
lisieren. Ich frage auch, warum Hannah glaube, die gleiche Erkrankung wie ihr Vater
zu entwickeln. Sie habe beim Recherchieren für das Referat von Vererbung gelesen
und seither habe sie Angst, „das auch zu bekommen“. Ich frage einige Symptome spe-
zifisch nach, denn auch wenn eine Persönlichkeitsstörung in diesem Alter nur mit
Vorbehalt diagnostiziert wird, so gibt es dennoch Risikofaktoren. Hannah verneint
aber jegliche Selbstverletzung, Alkohol oder anderen Konsum von Substanzen, was
ich therapeutisch dahingehend nütze, die von der Klientin beschriebenen Stim-
mungsschwankungen als alters- und situationsadäquat zu normalisieren und explizit
vom Krankheitsbild des Vaters abzugrenzen bzw. zu unterscheiden. Ich stelle mein
Fachwissen zur Verfügung und erkläre Hannah die Symptome und Diagnosemög-
lichkeiten einer Borderlinestörung und melde ihr auch zurück, dass ich zum aktuel-
len Zeitpunkt keinen Anhaltspunkt dafür sehe, dass Hannah den gleichen Weg
einschlagen wird wie der Vater. Auch wenn wir uns in systemischen Therapien ent-
sprechend einer konstruktivistischen Grundhaltung zu bescheidener Expertenschaft
bekennen, kann es in manchen Situationen sinnvoll sein, die Expertenposition expli-
zit zu nutzen, um, wie z.B. in diesem Fall, durch „Aufklärung“ die Distanzierung von
Ängsten zu fördern. Meine Einschätzung scheint Hannah zu entlasten. Ich bespreche
mit ihr die multifaktorielle Entstehung von psychischen Erkrankungen, wobei die
genetische Veranlagung zwar als ein Risikofaktor zu betrachten ist, dem aber auf der
anderen Seite die Schutzfaktoren gegenübergestellt werden können. Hier nütze ich
die Gelegenheit, ausführlich über ihre Resilienzfaktoren (z.B. Hannahs Zielorientie-
rung bezüglich ihres beruflichen Werdegangs, ihre persönliche negative Einstellung
Alkohol und Drogen gegenüber) zu sprechen und diese so mehr in ihrer Wahrneh-
mung zu verankern. Ich erarbeite mit Hannah auch, dass sie ein selbstbestimmter
Mensch ist, der eigene Entscheidungen treffen kann und eine Suchterkrankung nicht
einfach so über sie hereinbricht, wie sie das befürchtet. Auf diesem Weg versuche ich,
Hannah in ihrer Selbstwirksamkeit zu bestärken. Auch in den weiteren Therapieein-
heiten achte ich darauf, Hannah immer wieder Entscheidungsmöglichkeiten anzubie-
ten, um das Erleben von Selbstwirksamkeit zu fördern. Denn das Vertrauen in die
eigenen Handlungen und das Gefühl, Einfluss auf den Verlauf der Ereignisse zu haben
und nicht hilflos ausgeliefert zu sein, stellt ebenfalls einen bedeutenden Schutzfaktor
dar. Auf diesem Weg gelingt es Hannah im Laufe der ersten Therapieeinheiten zuneh-
mend, sich von der Angst, psychisch zu erkranken und damit wie ihr Vater zu wer-
den, zu distanzieren.

6.1.3 Arbeit mit Gefühlen und Körperempfindungen

Da mir weiterhin auffällt, dass Hannah Gefühle kaum benennen kann und wenig
Zugang zu ihrem Innenleben und ihrem eigenen Körper hat, biete ich ihr in den nächs-
ten Therapieeinheiten Möglichkeiten für die Differenzierung der Gefühlswahrnehmung
an. In den nächsten fünf Therapieeinheiten arbeiten wir daher vor allem mit Gefühlen
und Körperempfindungen, mit dem Ziel, ein Bewusstsein für eine „gesunde und nor-
male“ Gefühlswelt zu entwickeln. Um Hannah beim Beschreiben ihrer Befindlichkeit
76 N. Schebeczek und E. Wagner

zu unterstützen, stelle ich ihr jeweils zu Beginn der Stunde verschiedene B


­ ildmaterialien
zum Ausdruck von Gefühlen zur Verfügung, anhand derer sie sich einen Gefühlszu-
stand aussucht, der ihrem aktuellen am besten entspricht. So entwickelt sich aus dem
anfänglichen „normal/ich weiß nicht“ eine differenziertere Wahrnehmung, z.B. be­
zeichnet sich Hannah mal als bedrückt, dann wieder als unsicher. Auch biete ich ihr
durch Skalierungen die Möglichkeit, die Intensität ihrer Emotionen zu verdeutlichen.
Einen guten Zugang zu ihren aktuellen Emotionen kann Hannah im Rahmen folgender
Intervention herstellen: Wir malen ihren Körperumriss auf einem Flipchart nach und
Hannah zeichnet in diesen ihre vorherrschenden Gefühle ein. Vorher überlegen wir uns
gemeinsam wichtige Gefühle und Hannah ordnet diesen Farben zu. In der anschließen-
den Reflexion über die Zeichnung besprechen wir z.B., wie sich Glücklichsein für Han-
nah anfühlt, wo sie Trauer im Körper spürt, was es für einen Unterschied macht, wenn
sie wütend ist usw. Am häufigsten sei das Gefühl Traurigkeit vorhanden, welche durch
6 Gedanken an den Tod der Katze ausgelöst werde. Hannah beginnt beim Gespräch
über die Katze wieder zu weinen. Ich lasse diesen Gefühlsausdruck einige Zeit lang
zu und frage dann, was ihr normalerweise bei ihrer Trauer helfe. Hannah könne nur
warten, bis diese wieder vorbeigehe, was oft Stunden dauere. Ich verstehe dies als Hin-
weis darauf, dass Hannah wenig konstruktive Emotionsregulationsstrategien zur Verfü-
gung stehen, weshalb sie sich der Trauer ausgeliefert fühlt. Ängste seien auch ein
vorherrschendes Gefühl: Hannah fürchte sich, jemanden zu verlieren, auf Nachfrage,
nennt sie ihre zweite Katze. Zornig sei Hannah auf sich selbst, da sie oft wegen ihrer
gereizten Stimmung Streit beginne, welcher zu 80 % grund- und sinnlos sei. Sie ärgere
sich über ihre negative Stimmung. Zornig sei sie außerdem auf ihren Vater und zwar
seit dem letzten Weihnachtsfest. Auf die Frage, ob sie ihrem Vater gerne etwas mitteilen
würde, meint Hannah, sie würde ihm gerne sagen, dass er endlich normal sein soll.
Gleichzeitig könne sie sich keine Konfrontation mit ihm vorstellen. Hannah hat auch
Glücklichsein als wichtiges Gefühl eingezeichnet. Dies trete bei gemeinsamen Unter-
nehmungen mit ihrer Mutter oder mit Freundinnen auf. Die Gefühls- und Körperarbeit
begleitet uns auch noch in den weiteren Therapiestunden in Form von imaginativen
Körperreisen und beim Einsatz von konkreten Materialien (z.B. mit Igelbällen: Emp-
finde ich es als angenehm, wenn ich meinen Körper mit Igelbällen abrolle und mas-
siere? Mag ich es, wenn ich barfuß im Sand bin?); Hannah soll anhand der Übungen
herausfinden, was ihr guttut und was nicht. Mit diesen Interventionen soll Hannah die
Erfahrung ermöglicht werden, dass sie durch körperbezogene Übungen Einfluss auf ihr
Befinden nehmen kann. Außerdem erarbeiten wir eine Ressourcenbox, in welcher wir
alle Strategien sammeln, welche Hannah bereits zur Bewältigung negativer Gefühle zur
Verfügung stehen (z.B. Gespräche mit einer Freundin, Kuscheln mit der Katze, Reiten
gehen) und fügen immer wieder neue hinzu, die wir im Laufe der Therapiesitzungen
erarbeiten. Ich begebe mich also gemeinsam mit der Klientin auf die Suche nach bereits
gelungenen Erfahrungen in der Emotionsbewältigung und fördere die Entwicklung von
neuen. Wichtig ist dabei, dass Gefühle wie beispielsweise Trauer, nicht „entfernt“ oder
strikt vermieden werden müssen oder sollen, sondern dass es das Ziel ist, funktionale
Strategien zum Umgang mit solchen Gefühlen zu entwickeln bzw. wieder zu entdecken
(„Was hat dir denn früher, in einer anderen Situation, schon einmal geholfen, wenn du
traurig warst?“). Die Trauer soll nicht pathologisiert werden, sondern im Gegenteil, ihr
soll ein wichtiger Stellenwert bei der Bewältigung eines Verlusts eingeräumt werden.
Hannah: Ein Krug voller Tränen
77 6
6.1.4 Arbeit mit dem Familienbrett

Geleitet durch die Hypothese, dass in der ausgeprägten Trauer um die verstorbene Katze
auch Trauer um den „Verlust“ des Vaters steckt, schlage ich Hannah in der 6. Stunde die
Arbeit mit dem Familienbrett vor. Die Trauer um die Katze kann Hannah zum Aus-
druck bringen. Trauer um den Vater wurde bis dato nicht verbalisiert (eher Wut), und
ich erhoffe mir, durch die Visualisierung von Hannahs innerem Familienbild, auch die
Trauer um den Vater besprechbar zu machen. Dieser war scheinbar lange Zeit positiv
besetzt und scheint seit dem letzten Weihnachtsfest von Hannah nun ganz anders wahr-
genommen zu werden (Verlust des idealen Vaters, des Helden vs. Wahrnehmung des
Vaters als psychisch kranke Person). Weiter nütze ich das Familienbrett als Möglichkeit,
lösungs- und ressourcenorientiert zu arbeiten, indem ich Hannah auffordere, ihre
Familie bzw. die für sie wichtigen Bezugspersonen aufzustellen und mithilfe dieser
Visualisierung ein Lösungsbild zu erarbeiten. Anstatt der herkömmlichen Holzfiguren
entscheide ich mich für Tierfiguren. Sie haben einen höheren Symbolgehalt und eignen
sich in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen vor allem wegen ihres hohen Auffor-
derungscharakters und der vielfältigen Differenzierungsmöglichkeiten. Hannah wählt
sofort Tiere für die Mutter (Mammut), sich selbst (Katze) und den Vater (Löwe) aus. Die
Wahl der Tiere begründet sie so: Die Mutter sei lustig wie ein Mammut, Hannah selbst
möge gerne Katzen und habe daher eine Katze für sich gewählt. Die Wahl des Löwen für
den Vater kann sie nicht erklären. Hannah stellt dann noch weitere wichtige Familien-
mitglieder auf und wählt ihren Onkel mütterlicherseits als Ameise (da er geschickt sei),
dessen Lebensgefährtin als Fledermaus (weil sie als Flugbegleiterin arbeite) und ihren
13-jährigen Cousin als Schäferhund, da dieser Hunde möge. Der Vater steht im Abseits.
Auf die Frage, wem es am schlechtesten gehe, meint Hannah: „Wahrscheinlich dem
Papa.“ Der Mutter könnte es bessergehen, wenn sie einen Partner hätte, dann wäre sie
wohl weniger genervt. Die Mutter sei seit drei Jahren Single, auch vorher habe es keine
längere Partnerschaft gegeben und Hannah hätte zu keinem Freund der Mutter eine
engere Beziehung aufgebaut. Am besten gehe es der Lebensgefährtin des Onkels, die als
immer gut gelaunt beschrieben wird. Die Frage nach einem Veränderungswunsch ver-
neint Hannah vorerst. Auf konkretere Nachfrage meint Hannah, dass sie die Distanz
zum Vater zwar verringern wolle, dies aber unmöglich sei. Dazu müsste er sich kom-
plett verändern und sie wechselt ihn am Brett in ein Schaf aus. Auf die Frage, was dann
anders wäre, gibt Hannah an, dass der Vater dann „normal“ wäre. Dies würde bedeuten,
dass der Vater anrufen und sich für das Weihnachtsfest entschuldigen würde. Das würde
aber nie passieren, da er keine Einsicht zeige. Hannah äußert den Wunsch, irgendwann
den Vater wieder zu sehen, aber nicht so, wie er ist. Hannah scheint in einem großen
Dilemma zu stecken. Es gibt derzeit nicht die ideale Lösung, da man den Vater nicht
ändern könne. Da die diesbezügliche Ambivalenz sichtbar wurde, zeichnen wir auf
einer Waage die Faktoren auf, die für ein Wiedersehen sprechen und jene, die derzeit
dagegensprechen. Die Angst, vom Vater wieder enttäuscht zu werden, ist stärker. Als ich
meine Wahrnehmung des Familienbildes zusammenfasse („Der Vater als Löwe wirkt
stark aber auch aggressiv, ein Schaf strahlt für mich Sanftmut aus, von welchem keiner-
lei Gefahr ausgeht“), beginnt Hannah wieder zu weinen. Ich nutze die Gelegenheit mit-
hilfe der Metapher eines Kruges, der voller Tränen ist, zu fragen, wie viele Tränen der
Katze gelten, und wie viele dem Verlust des Vaters bzw. des Vaterbildes, so wie Hannah
78 N. Schebeczek und E. Wagner

ihn noch bis vor einigen Monaten wahrgenommen hat. Hannah zeichnet die Verteilung
auf (50 % Katze, 50 % Vater). Hier zeigt sich auch wieder, wie wichtig es ist, das thera-
peutische Medium der Klientin anzupassen. Das Zeichnen eröffnete Hannah größere
Ausdrucksmöglichkeiten. In der anschließenden Reflexion zeige ich Verständnis für
Hannahs Haltung, indem ich ihre Trauer darüber, dass ihr Vater nicht so sei, wie sie es
sich wünschen würde, validiere. Ich äußere meine Anerkennung dafür, dass sie gut
wahrnehmen kann, was ihr guttut und respektiere ihre derzeitige Entscheidung, den
Vater nicht zu sehen. Dabei erwähne ich aber auch, dass es sein kann, dass sie ihre
Entscheidung einmal ändert. In diesem Zusammenhang äußert Hannah, dass sie sich
von ihrer Mutter genervt fühle, da diese sie motivieren will, wieder mit ihrem Vater
Kontakt aufzunehmen. Wir vereinbaren, dass dieses Thema in einem gemeinsamen
Gespräch mit der Mutter besprochen wird.

6
6.1.5 Gespräch mit Mutter und Hannah

Das Familiengespräch findet in der 7. Therapiesitzung statt. Die Mutter berichtet, dass
sie das Gefühl habe, dass es Hannah bessergehe. Hannah treffe sich wieder häufiger mit
Freundinnen und wirke auch zu Hause besser gelaunt und offener. Der Fokus der
Stunde wird auf den Kontakt zum Vater gelegt. Die Mutter habe einerseits Mitleid mit
dem Vater, der gerne wieder Kontakt mit Hannah hätte und glaubt, dass auch für Han-
nah eine Wiederaufnahme des Kontakts gut wäre. Hannah äußert der Mutter gegenüber
jedoch klar, dass sie derzeit keinen Kontakt möchte und von der Mutter damit nicht
mehr genervt werden wolle. Ich frage bei der Mutter nach, ob sie hören kann, was ihre
Tochter ihr vermittelt. Der Mutter fällt es schwer, dies zu akzeptieren, da sich der Vater
sehr um Hannah bemühe. Ich bestärke die Mutter darin, dass sie die Entscheidung ihrer
Tochter respektieren kann. Um sicherzugehen, dass Hannahs Mutter auf weiteres Drän-
gen in Richtung Kontaktaufnahme verzichten kann, frage ich nach: „Was glauben Sie,
könnte passieren, wenn Hannah noch eine Zeitlang keinen Kontakt zu ihrem Vater
hat?“ Eigentlich könne laut Mutter nichts passieren, außer dass sich die beiden fremd
werden. Aber auch das sei zu akzeptieren, da Hannah alt genug ist, in dieser Hinsicht
eigene Entscheidungen zu treffen. Wir vereinbaren in diesem zweiten gemeinsamen
Gespräch, dass die Einzeltherapie bis auf weiteres fortgesetzt werden soll. Für weitere
Familiensitzungen sehe ich derzeit keinen Auftrag, da das Verhältnis zwischen Mutter
und Tochter als insgesamt positiv beschrieben wird.

6.1.6 Externalisieren der Trauer

Hannah hat in den letzten gemeinsamen Stunden Traurigkeit als vorherrschendes


Gefühl thematisiert. Der Trauer wurde bereits in der Arbeit mit Gefühlen und Ent-
wicklung von Bewältigungsstrategien sowie in der Arbeit mit dem Familienbrett Raum
gegeben. Die im Folgenden dargestellte Intervention der Externalisierung dient der
weiteren vertiefenden Auseinandersetzung mit dem Thema sowie der absichtsvollen
Trennung von der Person Hannah und ihrer Trauer. In der 8. Stunde schlage ich Han-
nah daher vor, dass wir uns nochmals genauer mit ihrer Traurigkeit beschäftigen und
Hannah: Ein Krug voller Tränen
79 6
bitte sie, ihr eine Gestalt zu verleihen. Hannah beschreibt die Traurigkeit als weibliche
Gestalt mit einem langen schwarzen Kleid. Einen Gesichtsausdruck kann man nicht
erkennen, da die Frau ein schwarzes Gesicht hat. Sie ist ca. 27 Jahre und spricht mit
einer durchdringenden klaren Stimme, hat einen langsamen Gang und ist sehr dünn,
außerdem sehr groß (wie der Türstock). Sie trägt einen Ring. Hannah nennt sie Frau
Trauer. Nach einer kurzen Erklärung der folgenden Intervention, beginne ich damit,
ein Interview mit Frau Trauer zu führen, der Hannah ihre Stimme leiht. Externalisieren
bedeutet, Problemen oder inneren Prozessen eine symbolische Form zu geben. Exter-
nalisierungen ermöglichen die Betrachtung aus einem anderen Blickwinkel und stellen
eine Distanz zu Problemstellungen her (vgl. Schwing u. Fryszer 2009). Grossman
(2011) entwickelt in Abwandlung der von den narrativen Therapeuten beschriebenen
Externalisierung (vgl. „Wutteufel“ oder ähnliche eindeutig negative Bezeichnungen, die
zum gemeinsamen Kampf gegen das Problem mobilisieren sollen) die so genannte
„positive Externalisierung“. Nach der Externalisierung des Symptoms tritt er mit die-
sem in einen Dialog und interessiert sich vor allem für das Zustandekommen des Kon-
takts zwischen Symptom und Klientin, der Entwicklung der gemeinsamen Beziehung
und insbesondere für die mögliche positive Funktion des Symptoms. Auszüge aus dem
Dialog:
55 Seit wann kennen Sie Hannah? – Seit sie ein kleines Kind ist.
55 Seit wann kommen Sie häufiger bei ihr vorbei? – Seit dem Tag, an dem ihre Katze
gestorben ist.
55 Setzt sich Hannah gegen Sie zur Wehr bzw. wann haben Sie weniger Chance, bei
ihr zu bleiben? – Wenn jemand bei ihr ist, oder wenn sie müde ist.
55 Das heißt, Alleinsein ist eine gute Möglichkeit für Sie, sich bei Hannah einzunis-
ten? – Ja.
55 Wie ist Ihre Beziehung zu Hannah? – Ich mag sie, weil sie so leicht traurig wird,
aber sie mag mich nicht.
55 Wie groß ist derzeit Ihr Einfluss auf Hannah, auf einer Skala von eins bis zehn? –
Derzeit bei mindestens acht.
55 Was würde denn Hannah als passenden Einfluss bezeichnen? – Vermutlich so vier.
55 Sie haben mir ja gesagt, dass Sie Hannah mögen. Also unterstelle ich Ihnen einmal
eine positive Absicht Hannah gegenüber. Was wollen Sie ihr denn mit Ihren
Besuchen vermitteln oder was wollen Sie bewirken? – Dass sie ihre Trauer nicht in
sich hineinfrisst.

Wir reflektieren anschließend das Gespräch mit Frau Trauer. Hannah fühlt sich von
der Trauer übermannt und wünscht sich einen geringeren Einfluss. Wir sprechen über
die wichtige Funktion des Trauerns und dass die Aufforderung „Trauer nicht in sich
hineinfressen“ durchaus ihre Berechtigung hat, dass es aber dann problematisch wird,
wenn die Trauer das Leben bestimmt und dass es wichtig wäre, diese auf ein gesundes
Maß einzugrenzen. Hannah soll sich beim nächsten Mal, wenn die Trauer vorbei-
kommt, das Bild der Frau vorstellen und sie bewusst bitten zu gehen, wenn es ihr zu viel
wird (im Sinne der Selbstwirksamkeit: Hannah lässt die Trauer zu, aber bestimmt wann
und in welchem Ausmaß). Nach Grossmann und Russinger (2011) trägt die Erfahrung,
Belastendes in autonomer Weise assoziieren aber auch dissoziieren zu können zur
Selbstwirksamkeit bei.
80 N. Schebeczek und E. Wagner

6.1.7  xternalisieren der Lebensfreude/des Glücks und


E
Positiv-Tagebuch

Im folgenden Gespräch berichtet Hannah, dass es ihr öfters gelungen sei, die Trauer auf
einen späteren Zeitpunkt zu vertrösten und skaliert den aktuellen Einfluss der Trauer
auf sieben. Da Hannah die Intervention des Externalisierens sehr gut getan hat, ich aber
immer noch den Eindruck habe, als wäre die An-/Abwesenheit negativer Gefühle zen­
tral in Hannahs Denken, entscheide ich mich für eine weitere Externalisierung, diesmal
des Wunschzustandes. Hannah bezeichnet es als Glück. Wie in der letzten Stunde lasse
ich Hannah dem Glück eine Gestalt verleihen. Sie beschreibt das Glück als kleines,
dickes Einhorn, das sich rollend fortbewegt. Es hat helle Farben, Flügel und große
leuchtende Augen. Ich fordere Hannah auf, eine Zeichnung anzufertigen. Auszüge aus
dem Dialog:
6 55 Wie ist dein Kontakt zu Hannah? – Ich habe schon lange nichts mehr von ihr
gehört.
55 Wie lange denn? – Seit Monaten.
55 Wie kam es dazu? – Ich geh nicht mehr zu ihr, weil ich sie nicht mag.
55 Was magst du nicht an ihr? – Das kann ich nicht sagen, ich mag sie einfach nicht.
55 War das früher anders? – Weiß ich nicht, aber ich war früher öfter dort.
55 Was müsste sich verändern, dass du Hannah mehr magst? – Sie müsste sich
weniger Sorgen machen und nicht immer so negativ denken.
55 Wie wirkt sich das aus, dass du sie nicht mehr besuchst? – Sie ist nicht mehr
glücklich, sondern traurig, aber das ist mir egal.
55 Aha, wen besuchst du denn jetzt, wenn du Hannah nicht mehr besuchst? – Andere
Menschen, z.B. Hannahs Firmpatin, die mag ich gerne, denn die ist immer gut drauf.
55 Aber soweit ich Hannah kenne, ist auch sie manchmal gut drauf, bist du dann bei
ihr? – Ja bei Urlauben und beim Reiten; bei Freunden klappt das nicht immer.
55 Wo bist du denn, wenn du bei Hannah bist? – Dann sitze ich bei ihr im Bauch.
So wie ich das jetzt gehört habe, habt ihr euch früher besser verstanden. Damals
warst du gern bei Hannah zu Besuch. In der letzten Zeit ist der Kontakt abgerissen,
aber ich habe gehört, dass sich Hannah nach dir sehnt und dich gerne wieder öfter
auf Besuch hätte. Was hältst du davon, einfach mal wieder bei ihr vorbeizu-
schauen? – Ich kann es ja mal versuchen.

Ich gehe nachher die Situationen, in denen Hannah Glück verspürt, genau mit ihr durch
und lasse sie beschreiben, wie es sich anfühlt. Sie benennt ein warmes Gefühl im Bauch
und ein Gefühl von Leichtigkeit, Freiheit und Unbeschwertheit. Wir besprechen auch
Hannahs eigene Unzufriedenheit mit sich selbst, sie wünsche sich eine positivere
Grundstimmung und wolle weniger nachdenklich sein. Ich frage nach, womit Hannah
das Glücksgefühl vergrault haben könnte und wie sie signalisieren könnte, dass sie sich
nun wieder öfter Besuch wünscht. Ich begebe mich mit Hannah weiter auf die Suche
nach Situationen, in denen sie sich frei und unbeschwert fühlt oder einmal so gefühlt
hat und ermutige sie auch, aktiv Situationen herzustellen, die dieses Gefühl bei ihr her-
vorrufen (z.B. beim Klettern auf einen Baum, was Hannah als Kind gerne gemacht hat),
auf diese Weise könne sie das Glücksgefühl einladen. Die Zeichnung vom Glück nimmt
Hannah sich mit nach Hause und hängt sie in ihrem Zimmer auf. Nachdem mittels
Hannah: Ein Krug voller Tränen
81 6
positiver Externalisierung der „Kontakt“ zum Glücksgefühl gefördert wurde und so
„der Boden aufbereitet“ worden ist, schlage ich Hannah vor, ein „Positiv-Tagebuch“ zu
führen. Hannah darf sich einen kleinen Block aus meiner Praxis mit einem Motiv ihrer
Wahl aussuchen und soll jeden Tag im Schnitt drei, mindestens aber ein positives Erleb-
nis aufschreiben. Dies kann ein schöner Moment mit einer Freundin sein, ein gutes
Essen oder ein schönes Lied. Da Hannah im Moment sehr auf ihre Trauer fokussiert
scheint, soll ihr dies dabei helfen, ihren Blick auch auf Positives zu lenken und sie mehr
dafür zu sensibilisieren (Wirkprinzip Aufmerksamkeitsfokussierung). Darüber hinaus
soll mit dieser Übung der Transfer des in der Therapiesitzung Erarbeiteten in den Alltag
abgesichert werden. Nach Forschungsergebnissen von Seligman (2005, zit. nach Frank
2011) bewirkt eine solche stärkenorientierte, positive Intervention einen deutlichen
Anstieg in der Lebenszufriedenheit und eine Reduktion der depressiven Symptome.

6.1.8 Arbeit mit der Timeline

Die Arbeit mit der Timeline erfolgt in der elften Stunde, nachdem Hannah in Folge der
Externalisierungen und mithilfe des „Positiv-Tagebuches“ neben der Trauer auch wie-
der vermehrt positive Momente in ihrem Leben wahrnehmen kann. Das Ziel dieser
Intervention ist, in Hannah Hoffnung zu wecken, dass sie die schwierige Lebensphase,
die sie gerade erlebt, einmal bewältigt haben wird. Dazu wird eine positive Entwicklung
in der Zukunft imaginiert und die Stärke aus dem Lösungszustand in der Zukunft für
die Gegenwart genützt.
Ich lade Hannah ein, das Seil am Boden so aufzulegen, dass es ihren Lebensweg
darstellt. Im Anschluss bitte ich sie, den gegenwärtigen Zeitpunkt sowie einen Zeit-
punkt in fünf Jahren zu bestimmen. Für die Markierung dieser beiden Zeitpunkte biete
ich ihr Bildkarten (Inspirationskarten) an, Hannah wählt zunächst ein Bild mit einer
„Baustelle“ für die Gegenwart. In einem nächsten Schritt bitte ich sie, sich vorzustellen,
wie ihr Leben in fünf Jahren aussehen könnte, wenn sich die Dinge gut entwickeln und
die Probleme, die sie jetzt belasten, gelöst sind und lasse sie auch dafür ein Bild aussu-
chen. Hannah wählt ein Bild mit einer Blume, die man unter einer Lupe gut erkennen
kann. Hannah soll ihre Zeitlinie beschreiben, ist diese kurvig oder gerade etc. Danach
soll Hannah an den Zukunftspunkt gehen und ich stelle dazu Fragen: „Wie schaut dein
Leben aus, wenn in fünf Jahren die Probleme, die dich jetzt so belasten, gelöst sind? Was
machst du?“ Hannah sei dann 20 Jahre, würde im Modebereich arbeiten und in einer
eigenen Wohnung leben. „Wie geht es dir, Hannah, jetzt, mit 20 Jahren, wenn du an den
Verlust deiner Katze denkst?“ Hannah antwortet, sie würde zwar noch etwas traurig
sein, wenn sie an die Katze denke, aber sie müsste nicht mehr weinen. Auf die Frage, wie
sich dann die Situation mit dem Vater entwickelt haben werde, meint sie: „Vielleicht
haben wir wieder Kontakt, zwar nicht zu intensiv, aber doch regelmäßig.“ Ich fasse noch
einmal zusammen. „Du, als 20-jährige Hannah, die selbstständig lebt und ihrem
Traumberuf nachgeht, hast es nun geschafft, mit angemessener, aber nicht überwälti-
gender Trauer an deine Katze zu denken und hast einen passenden Kontakt mit deinem
Vater hergestellt, wie auch immer der genau aussieht.“ Nach dieser Aktualisierung des
Lösungszustandes („Wie fühlt sich das an, wo im Körper spürst du das?“) lautet die
nächste Frage: „Was hat es dir ermöglicht, hierher zu gelangen?“ Hannah nennt u.a. die
82 N. Schebeczek und E. Wagner

verstrichene Zeit, ihre Familie, Freunde und Aktivitäten wie Reiten als Unterstützungs-
faktoren, die ich auf Post-its notiere. Bezüglich des Vaters meint sie, dass dieser sich
eventuell verändert haben werde. Ich stimme ihr zu, aber weise auch darauf hin, dass
das nicht von ihr beeinflussbar ist. Beeinflussen kann sie nur ihre Einstellung gegenüber
dem Vater. Sie kann versuchen, ihn so zu akzeptieren wie er ist und Abschied nehmen
von dem „idealen Vater“, den sie sich wünsche, Grenzen ziehen, wie sie ihr gut tun, aber
dabei das anerkennen, was er ihr entgegenbringt und das ist aus meiner Sicht viel Liebe
und Interesse. Hannah soll das Zukunftsbild auf sich wirken lassen und körperlich
nachspüren und nachher in die Gegenwart zurückkehren. „Gehe nun zurück in die
Jetzt-Zeit, in dem Wissen, dass du die Möglichkeit hast, Schritte in eine gute Richtung
zu tun.“ Wir besprechen noch nach, wie Hannah diese Intervention erlebt hat. Sie sagt,
dass es ihr in der Zukunftssituation gut gegangen sei und dass diese Erfahrung sie hoff-
nungsvoller macht. Sie macht ein Foto von der Timeline auf ihrem Handy. Anschlie-
6 ßend möchte sie sich noch die von ihr ausgewählten Karten genauer ansehen, dreht
diese um und liest die Anregungstexte auf der Rückseite:
55 Baustelle: In welchen Lebensbereichen gibt es für dich so etwas wie Baustellen,
unfertige Projekte, offene Fragen, ungeklärte Situationen?
55 Blume: Schau genau! Nimm dein Leben unter die Lupe: Was gibt es alles Schönes
und Positives in deinem Leben?

Hannah ist erstaunt, dass sie so passende Karten ausgewählt hat, scheint zum Nachden-
ken angeregt und möchte sich die Fragen mitnehmen, um diese in ihrem Tagebuch zu
beantworten. So beenden wir diese Stunde. Therapeutische Absicht bei der Timeline-­
Arbeit war es, Hannah in einen Zustand der „gefühlten Lösung“ zu begleiten („Lösungs-
trance“), ein künftiges, reifes Ich zu spüren, das die aktuellen Probleme überwunden
hat. Auf diese Weise soll die aktuelle Trauer und Belastung als bewältigbar wahrgenom-
men und Zugang zu aktuell verfügbaren Copingstrategien geschaffen werden.

6.1.9 Weiterer Verlauf

Die Therapie mit Hannah dauerte noch über ein weiteres Jahr an. In dieser Zeit erfolgte
die Absicherung der „Errungenschaften“ der ersten Therapiephase im Lebensalltag der
Jugendlichen. Immer wieder tauchten die bekannten Themen in abgeschwächter Form
auf und wir griffen auf bewährte Strategien zurück. Hannah wurde immer kompetenter
und gelassener im Umgang mit negativen Gefühlen, die Besuche der Trauer wurden
weniger bedrohlich, das Glückstagebuch wurde weitergeführt. Im weiteren Therapie-
verlauf wechselten Phasen, in denen Hannah wieder mehr Spaß am Leben hatte, mit
solchen der Traurigkeit und des Rückzugs, in denen es Hannah schwer fiel, die Schule
zu besuchen. In dieser Zeit der Erschöpfung suchten wir nach Wegen um, „Hannahs
Akku wieder aufzuladen“. Dabei erwies sich vor allem Hannahs Kampfgeist als hilfreich,
um sich nach einem Tag „zu Hause verkriechen“ wieder in die Schule zu zwingen. Posi-
tive Veränderung brachte überdies ein von mir „verordneter Aktivitätenplan“ für die
Ferienzeiten, der als „Durchhäng-Prophylaxe“ fungierte. Es war hilfreich in dieser Zeit,
mit Hannah gemeinsam einen Plan zu entwickeln, wie sie ihre Zeit verbringen könnte,
da sie nach einem Tag im Bett meist das schlechte Gewissen plagte und sie gleichzeitig
Hannah: Ein Krug voller Tränen
83 6
merkte, dass ihr zuviel Zeit zum Nachdenken nicht guttat. Somit wurden Aktivitäten,
die Hannah in der Vergangenheit immer gutgetan haben, wie Reiten und Spazierenge-
hen, verordnet. Auch in dieser Therapiephase fand wieder eine Externalisierung statt.
Da sich bereits in der ersten Therapiephase diese Intervention als äußerst hilfreich
erwiesen hat, entwickelten wir für die Antriebslosigkeit das Bild des inneren Schweine-
hundes und Möglichkeiten, diesen zu überlisten. Immer wieder dachte Hannah auch
über eine Annäherung zu ihrem Vater nach, der Mutter gelang es nun nachhaltig, diese
Entscheidung ihrer Tochter zu überlassen. Eine weitere Entlastung für das Mutter-­
Tochter-­Verhältnis brachte die neue Beziehung der Mutter mit sich. Der Kontakt zwi-
schen Hannah und dem neuen Lebensgefährten der Mutter kann als wohlwollend und
freundschaftlich beschrieben werden, womit es der Mutter wiederum möglich war, sich
weniger auf ihre Tochter zu fokussieren. Mittlerweile lebt der Partner der Mutter auch
im gemeinsamen Haushalt. Kontakt zum leiblichen Vater besteht weiterhin nicht, wobei
Hannah mittlerweile zu der Überzeugung gelangt ist: „Der Kontaktabbruch hat mich
soviel Kraft gekostet, das schaffe ich nicht noch einmal. Ich bin traurig, aber ich hatte
gute Gründe.“ Der Vater hat sich bis dato nicht mehr gemeldet, es weiß auch niemand,
wo er sich gerade aufhält.

6.1.10 Therapieende

Das Therapieende wurde mehrfach thematisiert und anvisiert, löste bei der Jugendli-
chen allerdings die Angst vor einem „Rückfall“ aus bzw. die Sorge, sich ohne Therapie
nicht entsprechend auf Unvorhersehbarkeiten vorbereiten zu können. In diesem
Zusammenhang tauchte ein bisher ausgespartes Thema auf, welches sowohl die Mutter
als auch Hannah selbst beschäftigte: Was, wenn der Vater, dessen Gesundheitszustand
nicht der Beste war, plötzlich versterben würde? Es erschien mir wichtig, sie diesen
Gedanken aussprechen zu lassen und ein solches Szenario im Kontext der therapeuti-
schen Gespräche „durchzuspielen“. In diesem Zusammenhang gingen wir auch der
Frage nach, ob es noch etwas gäbe, das Hannah ihrem Vater mitteilen wolle. Doch für
sie sei der Vater bereits wie „tot“, sie habe sich längst von ihm verabschiedet. Ein mög-
liches Ableben des Vaters löse zwar schon etwas Angst aus, allerdings würde sich an
Hannahs Leben real nichts verändern.
Das tatsächliche Therapieende wurde von Hannah immer wieder verschoben und
hinausgezögert, kündigte sich aber meines Erachtens durch häufigere Absagen oder
aber auch Vergessen von bereits vereinbarten Terminen an. Ich kenne dieses Verhalten
junger Klientinnen und interpretiere es als gutes Zeichen, da die Jugendliche offensicht-
lich angefangen hat, andere Prioritäten zu setzen. Durch ihr vermehrtes Interesse an
Freizeitaktivitäten, (angemessenem) Feiern, Konzerten und ähnlichem durfte meine
therapeutische Unterstützung zunehmend an Bedeutung verlieren. Mittlerweile hat
Hannah einen Freund, bei dem sie sich wohlfühlt und dem sie ihr Vertrauen schenkt. In
der vereinbarten Abschlussstunde gestalteten wir noch eine Schatzkiste für Hannah, in
die wir alles hineinpackten, was für Hannah in der Therapie nützlich war sowie alle
Ressourcen, über die sie verfügt. Weiters erarbeiteten wir einen Notfallplan, da Hannahs
Angst vor einem Rückfall nach wie vor vorhanden war. Dieser beinhaltete mehrere Stu-
fen. Hilfreiche Fragen dabei waren, woran Hannah es merken würde, dass es ihr wieder
84 N. Schebeczek und E. Wagner

schlechter gehe und sie Unterstützung brauche. In der ersten Stufe könnte ein Gespräch
mit einer Freundin helfen, in der zweiten Phase würde Hannah sich Unterstützung
durch ihren Freund holen, in der dritten Phase würde sie sich die Schatzkiste, die auch
ihr Glückstagebuch enthält, holen, in der nächsten Phase sich der Mutter anvertrauen
und in der letzten würde sie Kontakt mit mir aufnehmen. Es war mir wichtig, Hannah
zu vermitteln, dass ihr meine Tür immer offen steht, ob für ein einzelnes Gespräch oder
mehrere. Gleichzeitig war mir auch wichtig, nicht an erster Stelle zu stehen, da Hannah
ihre eigenen zahlreichen Ressourcen und Kompetenzen ausschöpfen sollte.

6.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis

Zusammenfassend handelte es sich bei diesem Fall um eine grundsätzlich gesunde


6 Jugendliche, die, ausgelöst durch die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Thema
Borderlinestörung und belastet durch die Enttäuschungen mit ihrem Vater, der im
Zusammenhang mit der bei ihm diagnostizierten Borderlinestörung dabei ist, an sei-
nem Leben zu scheitern (Konsum illegaler Drogen, Haft, Arbeitsplatzverlust, im Wohn-
wagen lebend) sowie den Tod ihrer Katze eine vermehrt traurig-gereizte Stimmungslage
beschreibt und zuletzt die massive Angst entwickelte, ebenfalls an einer Borderlinestö-
rung zu „erkranken“. An Ressourcen fand sich die gute Beziehung zur Mutter und eine
stabile Einbindung in das größere Familiensystem, ein stabiler Freundeskreis sowie
einige Hobbies, vor allem das Reiten. Die grundsätzliche Therapiemotivation war von
Anfang an gut: Es bestand eine positive Einstellung zur Psychotherapie (Hannah
reagierte erfreut auf den diesbezüglichen Vorschlag der Mutter), die Klientin konnte ein
Therapieziel nennen, das in ihrem Einflussbereich liegt („… dass es mir wieder besser
geht“) und dieses Therapieziel wurde auch vom engsten Bezugssystem unterstützt. Den-
noch war die Kooperationsfähigkeit der Klientin anfänglich durch ihre Schüchternheit
und die Schwierigkeiten, ihre Befindlichkeit differenziert zu beschreiben („Es geht mir
normal“), eingeschränkt. Die Kontaktaufnahme musste daher durch ein besonders
behutsames Vorgehen seitens der Therapeutin gefördert werden. Die für systemische
Therapie typische Ressourcenorientierung und der Verzicht auf eine umfassende psy-
chotherapeutische Diagnostik erleichtern in diesen Fällen den Aufbau einer positiven
Therapiebeziehung. In der ersten Therapiephase geht es also neben der Problemexplo-
ration und der Zieldefinition um das Herstellen einer vertrauensvollen, ermutigenden
therapeutischen Beziehung. Der nächste Schritt ist dann die Entscheidung für einen
ersten „Therapiefokus“ („Womit fangen wir an?“). Während in der Erwachsenenthera-
pie im Sinne der Auftragsorientierung diese Frage primär an die Klientinnen gerichtet
wird, ist in der Kinder- und Jugendlichentherapie häufig die Einschätzung der Thera-
peutin gefragt: Welches Thema kann im Moment mit der größten Aussicht auf Erfolg
fokussiert werden? Im vorliegenden Fall gelang die erste Entlastung durch Dekonstruk-
tion der Idee, „genetisch belastet“ zu sein und daher auch an einer Borderlinepersön-
lichkeitsstörung zu erkranken. In diesem Zusammenhang nahm die Therapeutin
absichtsvoll eine Expertenhaltung ein, informierte über Symptome, Verlauf und „Patho-
genese“. Nachdem diese akute Angst, die auch Anlass für den Therapiebeginn war, redu-
ziert wurde, wandte sich die Therapeutin den von ihr wahrgenommenen Schwierigkeiten
bei der differenzierten Gefühlswahrnehmung und beim Umgang mit belastenden
Hannah: Ein Krug voller Tränen
85 6
Gefühlen zu. Hier wird die strikte Auftragsorientierung verlassen, denn natürlich gab
Hannah diesbezüglich keinen expliziten Auftrag im Sinne von „Helfen Sie mir, meine
Gefühle besser wahrnehmen und ausdrücken zu können“. Wenn aus der klinischen
Erfahrung jedoch die Überzeugung entsteht, dass für die Erreichung des Therapiezie-
les („… dass es mir besser geht, dass ich nicht so oft traurig bin“) bestimmte Fähigkei-
ten gefördert werden müssen, kann dies auch ohne expliziten Auftrag fokussiert
werden. Je jünger das Kind, desto häufiger sind solche „Expertentscheidungen“ nötig.
In Übereinstimmung mit den Grundprinzipien emotionsfokussierter Psychotherapie
(vgl. Greenberg 2011) geht es in dieser Therapiephase darum, die differenzierte
Gefühlswahrnehmung und den Ausdruck von Gefühlen zu fördern (hier vor allem
durch den Einsatz visualisierender Verfahren), Emotionen als Hinweise auf wichtige
Grundbedürfnisse ernst zu nehmen und die Klientin dabei zu unterstützen, auch nega-
tive Gefühle aushalten und regulieren zu können (z.B. durch Entwicklung einer „Res-
sourcenbox“). Das Familienbrett wurde eingesetzt, um die negativen Emotionen in
ihrem Lebenskontext verständlich zu machen (Beziehung zum Vater) und die Entwick-
lung von Lösungsideen zu erleichtern. Die „positive Externalisierung“ von Trauer und
Glück sollten einen kon­struktiven Umgang mit diesen Gefühlszuständen fördern, es
wurde die Idee eingeführt, die Trauer wegzuschicken, „wenn´s zu viel wird“ und das
Glück „einzuladen“ – das „Positiv-Tagebuch“ sollte die Aufmerksamkeitsfokussierung
auf positive Ereignisse weiter absichern. Die zuletzt beschriebene Timeline-Arbeit soll
zum einen eine konkret spürbare Erfahrung eines Lösungsbildes vermitteln („Wie fühlt
es sich an, wenn das Problem gelöst ist?“), zum anderen soll die „Energie des Lösungs-
zustandes“ für die Benennung der erforderlichen Schritte („Was wird dir geholfen
haben?“ – Wirkprinzip: Futur II) genützt werden.
Abschließend noch eine Zusammenfassung der für das Gelingen dieser Therapie
wichtigsten „Wirkprinzipien“:
55 Unterstützung des Selbstwirksamkeitserlebens: vom Gefühl der Unveränderbarkeit
und Hilflosigkeit in einen Zustand von Handlungsmöglichkeit und Entwicklungs-
möglichkeit kommen.
55 Fördern der Gefühlswahrnehmung, des emotionalen Ausdrucks sowie der Emo­
tionsregulation.
55 Verbesserung der Körperwahrnehmung.
55 Entwicklung eines optimistischen Zukunftsbildes: die gute Zukunft in die Gegen-
wart holen und dadurch Hoffnung wecken.
55 Ressourcenorientierte Haltung statt Problemtrance: Blick für das Positive im Leben
schärfen, aufzeigen, was alles gut läuft.
55 Anpassen der Therapiegeschwindigkeit und der Methoden an die Klientin; wenn
der sprachliche Ausdruck schwierig ist, dann mehr Einsatz von kreativen Medien
oder Zeichnen …

Hinzu kommt ein flexibler Umgang mit dem Therapieende. Auch wenn die erste inten-
sive Arbeitsphase mit der Timeline in der elften Stunde beendet war, brauchte es fast ein
weiteres Jahr der Stabilisierung, in dem zwar keine grundsätzlich neuen Themen mehr
zur Sprache kamen, aber die neu entwickelten Strategien gefestigt und abgesichert wer-
den mussten. Ganz nach dem Motto „Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer“
brauchen auch jugendliche Klientinnen und Klienten oft länger, bis sie darauf vertrauen,
86 N. Schebeczek und E. Wagner

dass sie keine regelmäßigen Therapiesitzungen mehr benötigen, um sich gegen die
Belastungen des Lebens wappnen zu können. Die Rolle der Therapeutin besteht nun
nicht darin, unaufgefordert die Auseinandersetzung mit neuen Themen zu forcieren,
sondern bescheiden und unterstützend die Entwicklung zu begleiten. Vor allem bei
unvermeidlichen Rückschlägen ist es wichtig, vor aufkommender Verzweiflung zu
schützen und an alle Kompetenzen zu erinnern, die diesbezüglich schon erarbeitet wor-
den sind. Zwischendurch – in den guten Phasen – darf man sich gemeinsam über das
Erreichte freuen und der Klientin großzügig Komplimente über alles Gelingende
machen. Dass der Erfolg dabei der Klientin und nicht der Therapeutin zugeschrieben
wird, versteht sich von selbst.

Literatur
6
Frank R (2011) Therapieziel Wohlbefinden. Springer, Heidelberg
Greenberg LS (2011) Emotionsfokussierte Therapie. Reinhardt, München
Grossmann K, Russinger U (2011) Verwandlung der Selbstbeziehung. Therapeutische Wege zur Freund-
schaft mit sich selbst. Carl Auer, Heidelberg
Jacobi M, Meyer D (2014) Aufräumen, Klar sehen, Durchstarten! Inspirationskarten für Jugendarbeit
und Schule. Don Bosco Medien, München
Van Hout M (2012) Heute bin ich. Aracari, Zürich
87 7

Elli: Ihr Weg zu sich selbst


Einzeltherapie mit einem zwölfjährigen Mädchen mit
anorektischer und selbstverletzender Symptomatik
und Schulverweigerung

Christina Lenz und Elisabeth Wagner

7.1 Fallverlauf – 88
7.1.1 E rstes Gespräch: Zwei Eltern, ein Tagebuch, einige
Befunde, eine Therapeutin – 88
7.1.2 Therapieanbahnung mit Elli – 89
7.1.3 Beginnt jetzt die Therapie? – 91
7.1.4 Erstes Familiengespräch: Eine Mutter, ein
Vater, eine Tochter, zwei Therapeuten – 93
7.1.5 Turbulenzen – 93
7.1.6 Ein Neubeginn? – 97
7.1.7 Klassenwechsel, Ausflug und Sommerferien – 99
7.1.8 Schulbeginn, Geburtstag und
Therapie-Jahrestag – 100
7.1.9 Das Ende zeichnet sich ab – 101
7.1.10 Rückfall? Vorfall? – 101
7.1.11 Stabilisierung – 102
7.1.12 Letztes Gespräch: Ein Tag vor
Schulschluss, Elli, ich – 103

7.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis – 104

Literatur – 106

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


E. Wagner, S. Binnenstein (Hrsg.), Wie systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
wirkt, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55547-7_7
88 C. Lenz und E. Wagner

Die zwölfjährige Elli kommt nach einer stationären jugendpsychiatrischen Behandlung


wegen einer anorektischen Störung auf Wunsch der Eltern in Therapie. Der Therapiebe-
ginn wird durch das Misstrauen des jungen Mädchens erschwert. Im Fallverlauf wird
gezeigt, wie trotz eskalierender Konflikte mit den Eltern, selbstverletzendem und opposi-
tionellem Verhalten, phasenweiser Schulverweigerung und wiederholtem Ausreißen
eine ressourcenorientierte systemische Therapie gelingen kann. Die Therapeutin stellt
sich Elli in einer wohlwollend reflexiven Haltung zur Verfügung, respektiert ihre Autono-
miebestrebungen, egal wie sie sich äußern und ermöglicht es Elli damit zunehmend, die
trotzige Verweigerungshaltung aufzugeben und Schritt für Schritt Verantwortung für ihr
Leben zu übernehmen.

7.1 Fallverlauf

Die testende Psychologin der Beratungsstelle, an der ich tätig bin, überweist: Geordnete
7 Familienverhältnisse. Schwieriges Kind. Mädchen, zwölf Jahre. Probleme. Kranken-
hausaufenthalt zur Verbesserung der Situation. Danach soll Psychotherapie weiterhel-
fen. Die Mutter telefoniert. Ein Gespräch. Nur sie und ihr Mann. Das Kind kommt ein
andermal. Ich stimme zu.

7.1.1  rstes Gespräch: Zwei Eltern, ein Tagebuch, einige


E
Befunde, eine Therapeutin

An einem Abend im November kommen ein schweigsamer, besorgter Vater und eine
laute, aufgeregte Mutter in meine Praxis. Sie wollen mich briefen, mich informieren,
mich vorbereiten auf die Arbeit mit ihrer Tochter Elisabeth. Die Mutter liest aus ihren
Unterlagen die täglichen Aufzeichnungen über die Konflikte mit Elisabeth. Einträge
über viele Konflikte und minutiöse Notizen über die Nahrungsaufnahme der Tochter.
Oder sollte ich besser sagen Nahrungsverweigerungen? Sie hatte schon seit zwei Jahren
Probleme mit dem Essen. Seit Frühling dieses Jahres nimmt sie stark ab, die Konflikte
zu Hause nehmen zu. Im Sommerurlaub in Italien hat sie sich im Bikini gesehen und
erkannt: Sie ist zu fett! Und hört noch am selben Tag auf zu essen. Die Konflikte werden
unerträglich, sie reißt aus, verletzt sich selbst und wird noch verschlossener, als sie
ohnehin schon war. Kein Vergleich zu ihrer offenen, lebensfrohen, älteren Schwester
Julia. Diese hat im Jahr davor mit Bravour ihr Matura (in Deutschland: Abitur) bestan-
den, machte danach ein „soziales Jahr“ in Graz und ist vor wenigen Monaten ganz aus
dem elterlichen Haus in eine Wohnung in die Großstadt gezogen. Sie absolviert die
Ausbildung zur Volksschullehrerin (in Deutschland: Grundschullehrerin). Seit dem
Auszug der älteren Schwester scheint die jüngere noch bedrückter zu sein. Die Eltern
setzen Grenzen, bestrafen, schreien, schweigen und sind schließlich mit ihrem Latein
am Ende. Sie holen sich Hilfe in der Beratungsstelle. Über die Familiensituation erfahre
ich Folgendes: Der Vater ist Banker, die Mutter arbeitet in einem Büro. Die Eltern sind
seit mehr als zwanzig Jahren verheiratet. Sie leben mit ihrer Familie in einem Haus in
einem kleinen Ort östlich der großen Stadt. Ihre ältere Tochter Julia ist zwanzig Jahre,
ihre jüngere Tochter Elisabeth gerade zwölf geworden. Zu der Mutter des Vaters hat die
Elli: Ihr Weg zu sich selbst
89 7
Familie einen engen, vertrauten Kontakt. Während ich zuhöre und zu verstehen versu-
che, ist die jüngere Tochter dieser Eltern im Krankenhaus. Die letzten Tage des sieben-
wöchigen Aufenthalts an der Abteilung für Psychosomatik sind noch zu bestehen. Der
BMI (Body Mass Index) als Zeichen eines Kooperationsangebots der Tochter lässt die
Entlassung real erscheinen. Nun wollen die Eltern alles für „nachher“ vorbereiten, den
Weg ebnen, die Situation, alles, was in den Monaten davor aus dem Ruder gelaufen ist,
kontrollieren, das wäre am besten. Die neun Kilo, die in den letzten sechs Monaten
abgenommen und im Spital wieder fast zugenommen wurden behalten, festhalten. Die
Selbstverletzungen der Tochter mit dem Teppichmesser wieder der Vergangenheit
angehören lassen, die Fluchtversuche zur Oma, weg von zu Hause, wieder verhindern,
die guten Schulnoten wieder Realität werden lassen. Ihre Tochter soll wieder glücklich
gemacht werden. Die Eltern sollen wieder glücklich gemacht werden. Sie versuchen,
mich ins Boot zu holen. Ich versuche, mich dem raschen Tempo der Mutter anzu-
schließen, versuche mir zu merken, will ihren Erwartungen entsprechen, es mit der
Tochter schaffen – und das schon nach einem Gespräch! Wie muss es da erst der Toch-
ter gehen? Anorexie als Lösungsversuch? Verständlich. Zumindest zu diesem Zeit-
punkt. Die Spannung steigt. Ich erwarte das Gespräch in der nächsten Woche mit
Ungeduld.

7.1.2 Therapieanbahnung mit Elli

zz Erstes Gespräch: Eine Mutter, eine Tochter, eine Therapeutin, hohe Spannung,
großer Stress, Schweigen, Beziehungsaufbau
Ich begrüße die beiden und versuche, die angespannte Stimmung zu entladen. Die Mut-
ter beginnt zu reden. Die Tochter ist eigentlich noch im Spital, aber für das Therapiege-
spräch hat sie Ausgang. Die Tochter schweigt verbissen. Ich arbeite hart. Elisabeth stellt
klar: „Ich heiße nicht Elli. Ich heiße ab jetzt Livia!“ Sie spricht den neuen Namen eng-
lisch aus. Die Mutter verdreht die Augen. Ich reagiere schnell und versuche Livia zum
Gespräch einzuladen. Sie erbarmt sich und klärt mich auf: „Ich spreche nicht, solange
die Mama da ist!“ Das hat gesessen. Ich schwitze und versuche, mein Bestes zu geben.
Die Mutter in Sicherheit zu wiegen, meine Loyalität zu den Eltern in wenigen Augenbli-
cken zu versichern, gleichzeitig Livia meiner Zuneigung und meines vollsten Verständ-
nisses sicher sein zu lassen. Ein Drahtseilakt. Ohne Probe, ohne Netz, live. Eine Chance.
Irgendetwas gelingt. Die Mutter geht. Die Tochter bleibt. Eine Tür. Ein Abstand. Ausat-
men. Livia sagt ihren dritten Satz: „Ich mag die Mama nicht. Sie behandelt mich wie
eine Puppe!“ Das war’s. Jetzt bin ich am Zug. Ich versuche zu reden. Ins Gespräch zu
kommen – nicht so viel wie die Mutter, aber mehr als die Tochter. Ich versuche, mit ihr
einen Kontrakt zu vereinbaren. Eine Zustimmung zum gemeinsamen Arbeiten zu
bekommen. Doch so leicht macht sie es auch mir nicht. Satz vier: „Ich weiß nicht, was
ich hier tun soll – das macht ja eh‘ keinen Sinn!“ Ich verstehe die Sätze als Kooperations-
angebot. Nicht ihren Inhalt, sondern die Bereitschaft, diese zu formulieren. Ich versu-
che es weiter. Rede, schweige, zeige, warte, versuche, frage, rede. Sie lässt mich tun.
Wartet ab, beobachtet. Und kontrolliert somit die gesamte Situation. Ich verstehe und
lasse sie machen. Sie wagt es und stimmt zu. Wir werden uns einig. „Ja, probieren wir es
zwei Mal pro Woche.“ Fünfter Satz. Schluss.
90 C. Lenz und E. Wagner

zz Zweites Gespräch: Eine Klientin, eine Therapeutin, Schweigen, ein mütterlicher


Bericht, Settingklärung
Die Mutter kommt mit und redet. Livia schweigt, ihren Blick auf den Boden geheftet.
Die Tagebucheintragungen der letzten Tage ergeben zusammengefasst: Die Tochter ist
aus dem Spital entlassen, die 41  kg sind erreicht. Sie ist noch immer von der Schule
befreit. Gleich am Abend nach der Entlassung ging sie mit Freundinnen auf eine Party
im Ort. Viel Alkohol, viel gebrochen. Mutter ist stolz: Die Eltern haben nicht geschimpft.
Sie sind jedoch sehr enttäuscht! Verbesserung? Eisiges Schweigen im Therapieraum.
Livia kocht. Wechselbad der Gefühle. Wut und Trauer. Angst und Zorn. Ihre Wut
berührt mich. Die Mutter stört. Rasch bringe ich mich wieder in Fassung und balan-
ciere zwischen Mutter und Tochter. Nächster Test. Wiedermal eine Chance. Gut
gemeinte Übergriffe zu Hause, bemühte Übergriffe im Setting. Ich will versuchen, Livia
einen anderen Weg zu zeigen, ohne Essstörung, ohne selbstverletzendes Verhalten. Ich
versuche es mit Verständnis, Verständnis und Diplomatie, mein Handwerkszeug. Die
Mutter stimmt zu, dass sie auch jemanden „zum Reden“ braucht. Verständnis für sich
7 und ihre Situation und ihren Mann. Ich vermittle die Eltern zum Kollegen. Ein Thera-
peut für die Eltern, eine Therapeutin für die Tochter. Entlastung für alle. Bei Bedarf
dürfen wir sie einladen. Sie vertraut. Die Grenzen sind gezogen, niemand ist verletzt. Es
kann weitergehen. Die Mutter geht. Livias Blick hebt sich. Sie fühlt sich unverstanden
von ihrer Mutter, schlecht behandelt. Ich frage. Sie stimmt zu oder lehnt ab. Mit stum-
men Kopfbewegungen macht sie sich verständlich. Ich lerne die Zeichen zu lesen. Am
Ende des zweiten Gesprächs weiß ich: Das Essen ist nicht das Problem, das Ritzen ist
das Problem. Und Punkt.

zz Drittes Gespräch: Zukunftsbild, Bild der Grenzen, Livia, ich


Es gibt schon so etwas wie Routine. Livia sitzt und schaut, ich versuche und frage. Sie
nickt, wenn es ihr passt. Auf diese mühevolle Weise gelingt es, ein Zukunftsbild zu ent-
werfen. Sie will so sein, wie es ihr passt, sich in ihrer Haut wohl fühlen, in Ruhe gelassen
von den Eltern, der Mutter. Sie spricht! Ich bin vorsichtig erleichtert und versuche es
gleich weiter. Was wäre dann anders? Sie würden nicht mehr an mir herummeckern. Ich
bleibe dran: Sondern? Mich akzeptieren, wie ich bin. Es geht weiter: Wie meinst du
das?  – Na meine Schminke, mein Gewand, meine Art. Dass sie akzeptieren, wie ich
meinen Weg gehe. Ich verstehe und nicke, frage nicht mehr, doch da: „Ich würde alle
meine Entscheidungen treffen und wenn ich Hilfe brauche, sie fragen.“ Mehr gibt es
dazu nicht zu sagen. Wie fühlt sich diese Vorstellung an? – Gut, erleichternd, Ritzen
wäre dann kein Thema mehr. Ich bin ermutigt und frage weiter. Zu schnell, zu viel. Bei
der Frage, wie sich diese Vorstellung auf ihr Essen auswirken würde, rutscht die Stim-
mung in den Keller. Aus. Schluss. Ich bin zu weit gegangen. Sie bestimmt die Fragen.
Schauen und schweigen. Ich versuche noch ein bisschen, sage ihr, wie hübsch ich ihren
Minirock und die gelockten Haare heute finde, sie ist verblüfft, dass ich es erwähne und
gibt mir noch eine minimale Chance, indem sie ihren Kopf wenige Millimeter in meine
Richtung wendet. Zum Glück bemerke ich diese Geste. Ich hole Stifte und Papier auf das
Tischchen vor uns. Sie hebt den Kopf. Ich erzähle ihr von mir, dass mir auffällt, dass ihre
Grenzen ziemlich eng sind. Dass der Bereich, den sie mir für die gemeinsame Arbeit in
der Therapie zugesteht, klein ist. Dass ich versuchen will, das zu akzeptieren, dass ich
mich entschuldige, wenn ich ihre Grenzen überschreite, dass ich versuchen will, diese
Elli: Ihr Weg zu sich selbst
91 7

..      Abb. 7.1  Livias Bild: Grenzen mit Feuer

genauer wahrzunehmen. Sie hört und nickt. Ich frage sie, ob sie dazu ein Bild machen
mag, damit ich mich besser zurechtfinde. Sie beginnt (. Abb. 7.1). Danach erklärt sie

mir in knappen Worten: Innerhalb der beiden Flüsse darf ich mich aufhalten, sollte ich
diese überschreiten, brenne ich lichterloh! Ich verstehe.

7.1.3 Beginnt jetzt die Therapie?

zz Viertes Gespräch: Unterschiedsbildung, Livia, ich


Heute ist es anders. Livia erzählt. Von den zwei weiteren Schulen, die sie sich angeschaut
haben, von der einen, die bescheuert war, davon, dass sie sich bis nächste Woche für eine
Schule entscheiden muss. Von ihrem Ausraster vor zwei Tagen wegen ihrer Unzufrie-
denheit mit ihren Haaren und dem Kommentar der Mutter „ist doch eh schön!“ und
davon, dass dem Ausraster, anders als sonst, kein Ritzen folgte. Ich lobe verhalten, nur
nicht zu viel, ich denke an das Feuer. Doch keine Sorge. Heute brennt nichts. Wir spre-
chen über die Vor- und Nachteile ihrer alten und einer neuen Schule. Sie macht mit, eine
kurze Weile und kommt dann zu dem Schluss, dass das eh alles bescheuert ist. Schwei-
gen. Ich überlege. Spüre, was ich wahrnehme und versuche. Die Angst vor der Schule
wird zur Hürde. Diesmal muss alles klappen. Alles. Angst und Unsicherheit lassen sie
verächtlich werden, abwertend. Alles eh‘ nur bescheuert. Ich versuche einen Ausweg aus
den hohen Ansprüchen zu finden, hin zu aushaltbareren Sichtweisen und sie dorthin
mitzunehmen. Ich biete ihr meine Gedanken an: Möglicherweise hat der von dir ersehnte
Neuanfang weniger mit einem Schulwechsel, als mit einem Wechsel der Einstellung und
Veränderungen der Rahmenbedingungen zu tun? Hören. Blick. Ausatmen. Satz. „Das ist
eine beruhigende Vorstellung.“ Alte Schule. Die Entscheidung ist gefallen. Punkt.

zz Am folgenden Tag: Eine Mutter, ein Telefon, eine Therapeutin


Die Mutter ist aufgeregt. Warum jetzt wieder die alte Schule? Sie hat jetzt so viel Auf-
wand betrieben, um eine bessere Schule zu finden. Wieso? Ich versuche zu beruhigen
und zu erklären. Im Sinne der Hypothese signalisiere ich Respekt vor der eigenen Ent-
scheidung der Tochter und versuche ganz vorsichtig, im vollen Bewusstsein der schwe-
ren Zeit, die diese Familie in den letzten Monaten durchgemacht hat, der vielen
Hoffnungen und der vielen Vertrauensbrüche, sie zu ein wenig Vertrauen der Entschei-
dung der Tochter gegenüber zu ermutigen. Wir sprechen über die Möglichkeit des
Scheiterns und die Möglichkeit des Bestehens. Langsam kehrt Ruhe ein.

zz Fünftes Gespräch: Wunderfragenvariation I, Livia, ich


Sie berichtet: Seit heute geht sie wieder in die alte Schule. Sie ist sauer auf die Eltern, weil
die sie zwingen, wieder in die Schule zu gehen. Zum Glück besinne ich mich rasch und
92 C. Lenz und E. Wagner

gebe meinem kurzen Impuls, ihr von Schulpflicht und dem Glück, lernen zu dürfen zu
berichten, nicht nach. Sie erzählt, dass sie laut Spitalskontrolle zugenommen hat. Sie hat
sich nicht geritzt, aber nur, damit ich es weiß, sie ist knapp davor. Ich habe eine Idee und
schaue, was geht. Ich kriege die Eintrittskarte: Ja, sauer zu sein, ist eigentlich ein unan-
genehmes Gefühl. Angenommen eine Fee könnte kommen, und du dürftest dir dein
Lieblingsgefühl von ihr wünschen … ein gutes. – Welches? – Freiheit! Es ist geschafft,
sie kann erzählen: Mama hängt die ganz Zeit an mir dran. Sie hängt mir am Hals und
nimmt mir die Luft zum Atmen. Sie hängt an mir dran und versperrt mir so meinen
Weg. Seit wann ist das so?  – Seit einem Jahr. Da habe ich begonnen, in der Schule
schlecht zu sein. Ich forsche weiter. Seit damals gibt es so etwas wie einen unausgespro-
chenen Vorwurf. Ich mache meine Sache nicht gut! Die Eltern sehen nur die Mauer um
mich: die schlechten Schulnoten, die falschen Freundinnen, das Spital. Sie sehen alles,
nur nicht mich. Das kann ich nur noch ein bis zwei Monate ertragen! Ich bin beein-
druckt. Die Offenheit, das Vertrauen, die Sichtweise, die Klarheit, die Reflexionsfähig-
keit. Jetzt zeigt sie plötzlich viel. Und erschrickt nicht darüber. Sie wirkt stärker und
7 sicherer. Nach einer kurzen Pause versuche ich, mein Bedürfnis nach einem Familien-
gespräch mit guten, für sie hoffentlich anschlussfähigen Gründen zu artikulieren. Es
wäre einen Versuch wert, ein friedliches Gespräch mit den Eltern zu führen. Sich zu
verständigen, sich zuzuhören, sich anzunehmen, Vereinbarungen zu treffen, die Bezie-
hung wieder zu pflegen. Sie schluckt, aber vertraut mir. Und willigt ein, wenn sie ihre
Regeln aufstellen darf. Sie sitzt nicht zwischen den Eltern und die Eltern dürfen nicht für
sie antworten. So machen wir es. Verschnaufpause. In drei Wochen.
Die nächsten Gespräche drehen sich um ihre Anstrengungen in der Schule, ihre
Anstrengungen in der Familie, ihre zufriedenstellenden Spitalskontrollen und den
Wunsch, das Gegenteil von der Mama, die ein Familienmensch ist, nämlich eine Einzel-
gängerin zu sein. Sie ringt um Verständnis, das ihr zu Hause, auf Grund der geplagten
Eltern, ihrer aggressiven Art, ihrer niedrigen Toleranzgrenze, den Vertrauensbrüchen
den Eltern gegenüber und der schlimmen, letzten Monate verwehrt bleibt. Das Essen
bleibt ein Tabuthema. Trotzdem lässt sie sich das Familiengespräch ein wenig schmack-
haft machen.

zz Achtes Gespräch: Teilearbeit Variation I, Livia, ich


Sie ist müde, weiß, dass es wegen der Medikamente ist, die sie nehmen muss. Sie ist lust-
los, weiß, dass es wegen der Schule ist, für die sie lernen muss. Sie ist sauer, weiß, dass es
wegen der Konsequenzen ist, die ihr die Eltern bei Schulversagen androhen. Und dann
hellt sich ihr Gesicht auf: Nach der letzten Sitzung hat sie zu ihrem Papa im Auto gesagt:
„Du willst sicher wieder reden, aber ich will nicht!“ Und er hat es akzeptiert. Wohlwol-
lend. Ein Meilenstein? Ein Kieselsteinchen? Aber auf jeden Fall ein bisschen Akzeptanz
ihren Wünschen gegenüber. Ihre Miene hellt sich auf. Wir sprechen weiter. Mit Papa ist
das leichter als mit Mama. Mit Mama ist es schwer. Sie erzählt von der „kleinen Elli“. Die
ist jetzt gestorben. Es gibt nur mehr „Liv“. Was ist mit Elli passiert? – Sie ist ein kleines
Mädchen aus der Vergangenheit, verletzt, weil die Eltern sie nie verstanden haben, konnte
nie sagen, dass ihr etwas nicht passt, ging immer nur in ihr Zimmer und weinte, schluckte
alles und war brav. Vor der Zimmertür. Liv hingegen traut sich mehr, ist eine viel stärkere
Persönlichkeit, erwachsener, lustig, Sprüche machend, weiß zwar nicht immer, was sie
will, aber im Bezug auf die Wahl der Freundinnen, das Geigenspielen, Haare waschen,
Elli: Ihr Weg zu sich selbst
93 7
anziehen, schminken und essen schon. Sie erwähnt das Essen. Von sich aus. Sie findet
Gefallen an der Beschreibung, spricht über Details. Ich frage, sie erzählt. Doch dann
stutzt sie. Nein, ihre Eltern kennen Liv noch nicht. Nein, sie hat sie ihnen noch nie vor-
gestellt. Ja, das will sie tun. „Als Ausdruck meiner Veränderung.“ Ich staune. In Ruhe,
gemeinsam am Esstisch, Julia soll dabei sein. Dann, wenn Liv bereit ist. In einer Woche,
präzisiert sie.

7.1.4  rstes Familiengespräch: Eine Mutter, ein Vater, eine


E
Tochter, zwei Therapeuten

Die Sitzordnung ist so, wie Liv sie sich gewünscht hat. Autonomie. Die Eltern lernen
dazu. Der Therapeut der Eltern ist auch dabei. Liv mag ihn nicht. Seine Rolle. Seine
Fragen. Ihr Blick sucht Halt am Boden. Wir versuchen: Wenn es in ihrer Familie besser
gehen würde miteinander, was wäre dann anders? Der Vater, die Mutter und schließlich
auch Liv erzählen von ihren Hoffnungen. Sie hören einander zu. Die Sprache ist fried-
lich. Jeder erzählt von sich. Dann beginnen die Verhandlungen. Vereinbarungen wollen
getroffen werden. Liv versichert, dass sie sich nichts antun würde, allein in ihrem Zim-
mer. Die Eltern versprechen als Gegenzug, immer anzuklopfen und ihr „Herein“ abzu-
warten. Liv will eigene Entscheidungen treffen: Schminken, Frisur, Outfit, Freunde,
Schule, Handy, Ausgehen, Geigenspielen, Kickboxen. Und ausziehen will sie auch. Zu
ihrer Freundin, zu ihrer Schwester. Und das Handy nur dann beantworten, wenn sie
will. Der Friede beginnt zu kippen. Zwei Therapeuten. Die Eltern bemühen sich. Sie
sprechen über ihre finanziellen Möglichkeiten und gesundheitlichen Bedenken und
erwähnen legale Grenzen. Sie versuchen, sich verständlich zu machen. Livs Blick sucht
den Boden. Die Verhandlungen sind zu Ende. Nichts geht mehr. Keine Vereinbarungen.
Wir versuchen, die Aufmerksamkeit auf den Zeitpunkt nach dem Gespräch zu lenken.
Wie soll die Autofahrt gestaltet werden? Der Therapeut macht einen Vorschlag: Falls
irgendjemand von der Therapie zu sprechen anfängt, muss der Vater das Auto parken,
alle müssen aussteigen und einmal rund ums Auto gehen. Liv würdigt ihn eines Blickes.
Die Eltern sind erschöpft. Die Therapeuten auch. Wir vereinbaren einen neuen Famili-
entermin in drei Wochen.

7.1.5 Turbulenzen

zz Zehntes Gespräch: Ein Bilderbuch, Livia, ich


Sie sind ohne stehen zu bleiben nach Hause gekommen. Das Familiengespräch war
anstrengend für sie. Zu Hause hat sie sich dann selber ein Piercing in die Unterlippe
gestochen. Die Mutter war wütend, enttäuscht, hilflos. Liv war heute nicht in der Schule
wegen Migräne. Jetzt geht es ihr aber wieder gut. Wir sprechen über den Geigenunter-
richt, zu dem sie ja eigentlich gehen würde, wenn die Eltern nicht … Wir überlegen, was
sie an guten Bedingungen für den Geigenunterricht brauchen könnte. Regeln für die
Eltern! Ich mache mir alles alleine mit meinem Lehrer aus. Die Mama soll mich nicht
daran erinnern, höflich zu ihm zu sein, und die Eltern dürfen die Wörter Geige, Geige
spielen und Musikschule zu Hause nicht verwenden. Ihr Bedürfnis nach Kontrolle ist
94 C. Lenz und E. Wagner

nach wie vor groß. Ganz vorsichtig versuche ich, sie weg von den Eltern, hin zu sich zu
locken. Angenommen, es würde irgendetwas geben, was du tun könntest, damit dir
deine Eltern mehr vertrauen und du die Freiheit hast, deine Sachen so zu tun, wie du sie
tun möchtest. Was wäre das am ehesten? Sie hört und schaut und schweigt. Ich erzähle
von mir. Ich denke, wenn sich deine Mutter auf dich und das, was ihr vereinbart, verlas-
sen kann, kann sie dir vertrauen, dir mehr Freiraum lassen. Was meinst du dazu? Hören,
schauen, schweigen. Ich bleibe dran. Ich habe ein Buch, wo es um dieses Thema geht.
Soll ich es dir vorlesen? Hören, blicken, nicken. Ich lese das Bilderbuch „Vertrau mir
Mama“ und versuche, ihr die Unterschiede und die Gemeinsamkeiten zu verdeutlichen.
Es ist ein lustiges Buch, abstrakt, weit genug weg von ihrer Realität, sie schmunzelt und
hört zu. Es geht darum, dass ein Junge das erste Mal alleine einkaufen gehen darf. Die
Mutter versorgt ihn mit unzähligen Verhaltensregeln. Er löst die Dinge auf seine Art,
ohne das Vertrauen der Mutter zu missbrauchen. Eine Gratwanderung, eine Herausfor-
derung für kreative Menschen. Liv hält viel auf ihre Kreativität.

7 zz Einige Tage später: Eine Mutter, ein Telefon, eine Therapeutin


Die Mutter informiert mich über ein Gespräch, das sie mit der Internistin und der Psy-
chiaterin bei der Gewichtskontrolle geführt hat. Liv wird keine positive Entwicklung
zugetraut. Die Essstörung stünde nicht mehr im Vordergrund, es wäre ihr massives
oppositionelles, unkooperatives Verhalten zu Hause. Wenn sie die Grundregeln des
Zusammenlebens nicht einhalten würde, müsste sie zu ihrem eigenen Schutz auf der
Kinder- und Jugendpsychiatrie aufgenommen werden. Jetzt schweige ich. Mir bleibt,
ein zeitnahes Familiengespräch zu vereinbaren.

zz Zweites Familiengespräch: Eine Mutter, ein Vater, eine Tochter, viel Verzweif-
lung, zwei Therapeuten
Nachdem die Mutter Liv von dem Gespräch mit den beiden Ärztinnen erzählt hat, hat
sie während einer Fahrt mit dem Vater auf der Autobahn unangekündigt die Autotür
aufgerissen und wollte damit den Vater zwingen, sie auf der Stelle zu einem Freund zu
bringen, wo sie bleiben wollte. Sie verweigert außerdem den Schulbesuch. Die Eltern
sprechen von einer Situation, die eskaliert. Liv kratzt sich während des Gesprächs mit
den Fingernägeln die Narben am Unterarm auf. Die Eltern bleiben stumm. Egal wie sehr
Liv provoziert, mit welchen noch so unglücklichen Mitteln sie auf sich und ihre Bedürf-
nisse aufmerksam machen will, die Eltern können sie nicht verstehen. Funkstille. Wir
klammern uns an den gelungenen Geigenunterricht. Wie ist es da der Familie gelungen,
sich auf Liv zu verlassen, ihr die Autonomie zu gewähren, selber zu entscheiden. Die
Vereinbarung einzuhalten. Von Vertrauen zu sprechen, ist nach der Autobahnaktion
eine Zerreißprobe für die Eltern. Wir versuchen es trotzdem. Könnte man dieses Vorge-
hen auch auf den Schulunterricht umlegen? Vorschussvertrauen. Ein weiteres Mal? Der
Vorschlag ist zu groß, zu optimistisch, da können die Eltern nicht mit. Liv ist sauer. Sie
hat sich hinter „Ich will nicht antworten“ und „Ich weiß es nicht“ verschanzt. Erst meiner
Bitte, dass sie doch mithelfen solle auf der Suche nach einer guten gemeinsamen Lösung,
weil sie damit meine Arbeit erleichtern würde, kommt sie augenblicklich nach. Mir zu
Liebe? Sich selbst zu Liebe? Erstmaligkeit. Wieder ein Kieselsteinchen. Ein weiterer
Schritt in Richtung Mut und Selbstbewusstsein? Friedliche Gesprächsführung, Ver-
ständnis, hören, annehmen, Vereinbarungen treffen, Beziehungspflege. Zumindest mal
Elli: Ihr Weg zu sich selbst
95 7
zwischen ihr und mir. Unmerklich für alle anderen juble ich innerlich. Die bedrückende
Stimmung dieses Krisengesprächs hat alle angestrengt. Die Eltern konnten sich ausspre-
chen, das lösungsfokussierte Arbeiten wird vertagt. Die Zeit ist vorbei. Erleichterung.

zz Nächster Tag: Ein Telefonat, eine Mutter, drei leere Flaschen Alkohol im Kinder-
zimmer, eine Therapeutin
Zwölftes Gespräch: Livia, ich
Es ist soweit. Die Traurigkeit ist da. Livia ist enttäuscht und traurig. Ihre Eltern haben
versagt. Sie verstehen sie nicht. „Jetzt ist der Rollladen unten.“ Wir reden über die Ver-
gangenheit, die Gegenwart und darüber, was ich über die Kinder- und Jugendpsychi­
atrie weiß. Sie ist offen.

zz Dreizehntes Gespräch: Livia, ich, Mutter später


Es wird um die drei Flaschen gehen. Es soll darüber nur in meiner Gegenwart gespro-
chen werden, zu groß ist die Angst vor den gegenseitigen Gefühlsausbrüchen. Liv weiß,
„Alkohol ist keine Kleinigkeit.“ Liv wünscht sich ein ruhiges Gesprächsklima – und ist
erstmals bereit nachzudenken, was sie dazu beitragen könnte. Liv bittet ihre Mutter
selber in den Therapieraum. Lässt sie ein. Spricht offen und vermeidet Sätze, von denen
sie weiß, dass sie die Mutter zum Explodieren bringen. Die Mutter macht mit und bleibt
ruhig. Beide probieren vorsichtig, ob das dünne Eis eines friedlichen Gesprächs über
das aufwühlende Thema sie hält. Es gelingt.

zz Vierzehntes Gespräch: Teilearbeit Variation II, Livia, ich


Liv ist guter Dinge. Die Woche ist gut gelaufen. Sie hat gute Nachrichten: Sie hat heute
im Büro der Mutter 100 Seiten geordnet, war zur Kontrolle im Spital, die Psychiaterin ist
zufrieden. Morgen führt sie die Mutter zu Bobby, er ist auf der psychiatrischen Station.
Es läuft. Sie ist offen. Erzählt. Spricht über die Jahre, die sie im Schatten ihrer großen
Schwester verbracht hat. Und dass sie nie gut genug für ihre Eltern war. Immer nur Julia.
Die kleine Elli war hilflos, wusste nicht, wie sie ihre Eltern erreichen konnte. Jetzt hat sie
den Spieß umgedreht. Dank Liv. Sie rächt sich an ihren Eltern, macht sie hilflos. Ich
ahne, dass die Rolle der Liv an Attraktivität verliert, langsam, aber sicher. Ich versuche
einen neuen Gedanken. Was hätte denn die kleine Elli damals gebraucht? Zuwendung,
Liebe, Aufmerksamkeit. Nun stehen sich die kämpferische Liv und die liebesbedürftige
Elli erstmals gegenüber. Die nächsten Gespräche werden wieder mühsamer. Liv ist ver-
schlossen, genervt, aggressiv. Sie muss gerade wieder in die Schule gehen. Sie hat mit
ihrer Freundin eine Ratte gefunden und will sie als Haustier mit in ihr Zimmer nehmen.
Da gerät sie mit ihrem Vater aneinander. Sie flucht. Er schlägt. Zwei Ohrfeigen. Danach
findet sie die Therapie sinnvoller. „Hier kann ich wenigstens über den Scheiß reden. Mit
den Eltern geht es nicht und mit meinen Freunden will ich Spaß haben.“ Wir arbeiten
weiter.

zz Achtzehntes Gespräch: Stationärer Aufenthalt Kinder- und Jugendpsychiatrie,


Elli, ich
Ich soll sie Elli nennen. Das ist ihr Name. Seit einigen Tagen ist sie gegen ihren Willen
auf der Akutpsychiatrie stationär aufgenommen. Sie wollte nach einem Besuch ihres
Freundes von dort nicht mehr weg. Die Eltern waren hilflos. Die Ärzte haben ­entschieden.
96 C. Lenz und E. Wagner

Sie bekommt Ausgang für die Therapiestunde. Sie spricht über ihre Strategie. Darüber,
dass sie ihre Eltern und das Team der Akutpsychiatrie benutzt, um Lenny, ihren neuen
Schwarm, der an derselben Station ist wie sie, zu gefallen. Wir sprechen Klartext. Entwe-
der hält sie die Regeln zu Hause ein und findet einen lebbaren Weg mit ihren Eltern,
oder sie muss weg von zu Hause, in eine Wohngemeinschaft.

zz Neunzehntes Gespräch: Elli, ich


Nach der Entlassung von der Psychiatrie hat der Vater zu Hause Verhaltensregeln auf-
geschrieben. Elli hat sie teilweise angenommen und ihre Anforderungen dazugefügt.
Elli fühlt sich unverstanden. Überall geht es nur um die Probleme mit ihr. Zu Hause, im
Krankenhaus, in der Schule. Sie fühlt sich erschöpft und am Ende ihrer Kraft. Sie sehnt
sich danach, zu Hause wieder willkommen zu sein, aber sagen kann sie das dort nicht.
Sie wünscht sich, dass ich sie aufmuntere. Ich gratuliere ihr zum Weltfrauentag, dessen
Datum auf heute fällt und wir spielen wieder einmal „Hangman“. So wie ganz am
Anfang, als das Sprechen noch schwer war. Sie lacht.
7
zz Zwanzigstes Gespräch: Elli, ich
Elli hat sich ein „A“ in den Unterarm geritzt. A für Anarchie. A wie Angst? Sie fürchtet,
dass das A bei der heutigen Kontrolle auf der Psychiatrie entdeckt werden könnte und
man sie aufnimmt. Wir versuchen das „Zauberwort Anarchie“ (. Abb. 7.2) zu entzau-

bern. Gehen auf ihre Bedürfnisse ein. Zuerst klären wir die Rechtschreibung, dann die
Bedeutung, schließlich all das, was sie damit verbindet.

..      Abb. 7.2  Zauberwort Anarchie


Elli: Ihr Weg zu sich selbst
97 7
zz Drittes Familiengespräch: Eine Mutter, ein Vater, eine Tochter, zwei Therapeuten
Der Therapeut der Eltern lädt die Familie zu einem Spiel aus dem Bereich der Teament-
wicklung ein. „Regle mir, so regle ich dir!“ Ziel des Spieles ist es, ein gemeinsames Spiel
mit Regeln zu entwickeln. In Frieden verständigen, zuhören, annehmen, Vereinbarun-
gen treffen. Dabei darf alles verändert und alles neu konstruiert werden. Die Familie
hört. Es scheint, als würde allein schon das Wort „Spiel“ die angespannte Atmosphäre
lockern, Ellis Blick ein wenig erhellen. Endlich mal etwas Anderes. Etwas, das zumin-
dest leicht klingt. Die Eltern wollen mit Elan erfolgreich sein, Elli weiß diesen Plan zu
verhindern … Die Evaluation des Spieles erfolgt getrennt. Der Therapeut mit den
Eltern. Elli und ich. Es ist deutlich geworden, dass Elli jede Regel, die von den Eltern
aufgestellt wird, verweigert. Die Eltern versuchen ihr mit allen Mitteln, das Vernünftige
an diesen Regeln nahezubringen. Elli ist nur dann interessiert, wenn sie nicht direkt
angesprochen wird, sondern selber entscheiden kann, wann sie sich einbringt. Sie hört
und sagt nichts dagegen. Fühlt sie sich wieder einmal ein wenig verstanden?

zz Zweiundzwanzigstes Gespräch: Elli, ich


So, wie die beiden Male davor, gibt es auch nach diesem Familiengespräch eine Eskala-
tion. Diesmal ist Elli mit einer Freundin mit dem Zug nach Wels ausgerissen. Eigentlich
wollten sie nach Bregenz einen Freund besuchen, aber das Geld hat nicht gereicht. Die
Mutter der Freundin holt sie aus Wels ab. Seit zwei Tagen geht sie nicht mehr in die
Schule. Sie fühlt sich von den Mitschülern nicht ernstgenommen und ausgelacht. Dem
geht sie aus dem Weg. Und sprechen will sie heute sowieso nicht. Wir beenden das
Gespräch etwas früher als sonst.

zz Vier Tage später: Ein Telefonat, eine ratlose Mutter, eine verschwundene
Tochter, eine ratlose Therapeutin
Elli und ihre Freundin sind wieder verschwunden. Die Mutter weiß nicht, wo sie sein
könnten, hat alles versucht. Die Überlegungen für eine Fremdunterbringung werden
lauter. Schulpflicht und Aufsichtspflicht sind verletzt, es gibt keine ausreichend stabile,
vertrauensvolle Verhandlungsbasis zwischen Eltern und Tochter.

zz Dreiundzwanzigstes Gespräch: Wunderfragenvariation II, Elli, ich


Sie geht nicht mehr in die Schule. „Alle sind blöd! Dort gehe ich nicht mehr hin!“ Sie
verbringt die Tage bei ihrer Oma und will dort einziehen, nicht mehr zu den Eltern
zurück. Nie mehr. Sie entwertet alles. Alles und jeden. Ich versuche wieder einmal die
Wunderfrage.  – Drei Wünsche? „Dass die Eltern weg sind, dass ich ihr ganzes Geld
bekomme und dass ich bei der Oma lebe.“ – Sackgasse. Ich lasse das für heute. Perspek-
tivenlosigkeit, Hilflosigkeit und Verzweiflung haben sich Aggression und Ablehnung
zur Tarnung genommen.

7.1.6 Ein Neubeginn?

zz Vierundzwanzigstes Gespräch: Problembewusstsein, Hausaufgabe, Elli, ich


Sie ist wütend. Wütend auf die Frisörin, die ihr die Haare zu dunkel gefärbt hat. Und
irritiert, denn schon bald kommt regelmäßig einmal pro Woche ein Beamter und eine
98 C. Lenz und E. Wagner

Psychologin vom Jugendamt zu ihnen nach Hause, wegen der Schule und überhaupt.
Und dann ist sie auch noch erleichtert. Erleichtert, weil nun endlich offiziell krankge-
schrieben von der Schule. Kein tägliches Verhandeln mehr. Insgesamt ist sie viel besser
gelaunt als letztes Mal, sie redet und lacht, ab und zu. Es ist möglich, über Verantwor-
tung zu sprechen, ihre Verantwortung sich und ihrem Leben gegenüber. Wir sammeln
die Bereiche, in denen sie sich selbstverantwortlich fühlt: Gewand, Hygiene, Freunde,
Essen, Auswahl nach Geschmack und nach Menge, die Beziehung zu ihrer Oma. Und
plötzlich vermutet sie: „Alleine werde ich mir wahrscheinlich alles verbauen!“ Ich
staune, sie auch. Wer könnte sie unterstützen? Die Oma! Wir vereinbaren eine thera-
peutische Hausaufgabe, die erste. Elli wird ein Gespräch mit ihrer Oma führen, bei dem
sie diese um Unterstützung auf ihrem Weg bitten will. Damit er gelingen möge. Ohne
Verbauen.

zz Fünfundzwanzigstes Gespräch: Julia, Elli, ich


Elli hat sich nicht getraut, Oma zu bitten. Dafür bringt sie Julia mit, mit der sie heute
7 den Tag verbracht hat. Wir reden über die Situation zu Hause. Julia sagt, dass alle von
ihr Unterstützung erwarten und dass ihr das aber zu viel ist. Sie kann Elli unterstützen,
wenn diese konkret etwas braucht, mehr nicht. Grenze. Klarheit. Das tut gut. Julia
erzählt von ihrer Pubertät, ihren Problemen mit der Mutter, einem Brief, den sie in
dieser Zeit geschrieben hat. Elli hört und schaut. Sie ist interessiert. Die beiden
Schwestern vereinbaren einen gemeinsamen DVD-Abend mit Horrorfilmen und
­
Übernachtung in Julias Wohnung. Bei der ambulanten Kontrolle in der Kinder- und
Jugendpsychiatrie zeigt sich „Elisabeth in depressiver Stimmungslage, antriebsarm,
vorwiegend verweigernd, trotzig. Wirkt gespannt, im Affekt verflacht.“ Die Einnahme
der Medikamente hat eine starke Gewichtszunahme zur Folge, unter der Elli leidet.
„Aufgrund des oppositionellen, verweigernden aber auch depressiv aggressiv gespann-
ten Verhaltens ist zurzeit ein regelmäßiger Schulbesuch nicht in Sichtweite und wird
von der Patientin vehement abgelehnt – was als Ausdruck einer psychischen Krise und
psychischer Entwicklungsstörung anzusehen ist. Derzeit halten wir es für sinnvoll den
Krankenstand weiter zu verlängern.“ So ist es im Befund zu lesen. Die Therapiegesprä-
che werden neben den Besuchen bei der Oma ein fixer Bestandteil ihrer nahezu struk-
turlosen Wochen. Wir beschäftigen uns mit Ellis Wohlbefinden, ihrem Einfluss auf die
Geschehnisse, ihrer Verantwortung für sich selbst, und darum, „das Beste“ aus der
Situation zu machen, im Gegensatz zu der Suche nach einem „Ding“, wie ein Wohnge-
meinschaftsaufenthalt, der alles zum Bessern verändern könnte. Mit den Besuchen
vom Jugendamt ist sie mittlerweile einverstanden. Sie akzeptiert die beiden. Nun arbei-
ten wir bereits seit einem halben Jahr miteinander. Das Schuljahr neigt sich seinem
Ende zu. Die innerfamiliären Wogen scheinen sich zwischen dem hohen Wellengang
immer wieder zu glätten, was insgesamt gesehen zu einer vorsichtigen Entspannung
der Situation führt.

zz Achtundzwanzigstes Gespräch: Planung, Reframing, Hausaufgabe, Elli, ich


Elli spricht offen über ihr geringes Selbstbewusstsein. Das macht den Schulbesuch
schwierig. Bis jetzt unmöglich. Mit einer Vertrauten an ihrer Seite ist es in der Vorstellung
leichter. Einer Freundin. Wir sprechen darüber, wie sie ihr Leben positiv beeinflussen
Elli: Ihr Weg zu sich selbst
99 7
kann. Ein lustbetontes Gesellschaftsspiel rundet diese Überlegungen ab. Und dann
beginnt sie plötzlich, die Dinge in die Hand zu nehmen. Sie übernimmt Verantwortung
zu ihren Gunsten, versucht, ihren Wünschen gerecht zu werden. „Können wir nicht
einmal etwas unternehmen? Rausgehen?“ Naja, also, warum eigentlich nicht? Ich
reframe: Es ist bald Schulschluss, du hast ein hartes Jahr hinter dir. Sie hört und nickt.
Das wollen wir feiern, mit einer besonderen Unternehmung. Sie schaut und nickt. Die
Hausaufgabe soll sie anleiten, mehr desselben zu tun. Mehr Sorge für sich und ihre
Bedürfnisse zu tragen, konstruktiv, nicht destruktiv zu sein. Sie soll bis zum nächsten
Termin weiterüberlegen, was sie gerne unternehmen würde.
Auszüge aus dem nächsten ambulanten Kontrolltermin: „Auf Grund der ablehnen-
den Haltung dem Untersucher gegenüber, dem trotzig oppositionellen Verhalten in
jeder ambulanten Begutachtung, ist eine Einschätzung durch eine weibliche Kollegin
erforderlich.“ Und weiter: „Beim Scheitern des Schulbesuchs im September ist eine
rasche stationäre Aufnahme auf der Jugendabteilung notwendig.“

zz Neunundzwanzigstes Gespräch: Mutter, Elli, ich


Es geht um die schulische Zukunft. Es geht um Elli. In diesem Gesprächssetting wird es
für mich sehr deutlich, dass Elli weicher geworden ist, offener, selbstbewusster, sie
erträgt ihre Mutter nicht mehr so schwer, wie es zu früheren Zeiten den Anschein
gemacht hat. Die Mutter hat sich auch verändert, geduldiger, hofft, dass alles vielleicht
doch gut werden könnte, klarer, dass mit elterlichem Druck gar nichts geht. Die beiden
nähern sich an. Und Elli beginnt für sich zu sorgen, ihren Wünschen treu zu bleiben:
55 Autonomie. Die Anarchie ist gut verpackt und in der Vergangenheit verstaut.
55 Bildung. Schulverweigerung war gestern.
55 Einen Platz in der Gruppe der Gleichaltrigen. Außenseiterin war sie lange genug.
55 Zu Hause wohnen. Im Haus der Oma soll nicht länger ihr Alltag sein.

Sie will in ihr Gymnasium zurück, die Klasse wiederholen und zwar in „der B“, nicht in
der A, wo sie eigentlich hinsollte. In die B zu ihrer Freundin Klara. Und ja, das wird sie
dem Direktor selber sagen, ja, sie geht zum gemeinsamen Gespräch mit der Mutter in
die Direktion. Die Mutter schluckt noch ein bisschen, wird sie aber unterstützen, natür-
lich. Fast natürlich.

7.1.7 Klassenwechsel, Ausflug und Sommerferien

zz Dreißigstes Gespräch: Elli. Ich


Der Direktor hat zugestimmt. Elisabeth wird im Herbst in der Klasse 3B sein. Sie ist
zufrieden, ich bin stolz. Wir planen die Unternehmung.

zz Einunddreißigstes Gespräch: Ein Ausflug, Elli, ich


Elli will mir ihre Stadt zeigen. Sie trägt die Verantwortung für die Gestaltung des
Ausflugs, ich achte nur auf die Zeit. Wir nehmen uns eine Doppeleinheit. Sie führt
mich in den Park, zeigt mir ihren Kindergarten und das Gymnasium, sie erzählt von
ihren Haustieren, von sich, von ihren Freunden, im Eissalon lassen wir uns nieder.
100 C. Lenz und E. Wagner

Ich sage ihr, wie sehr ich bewundere, wie sie dieses harte Jahr geschafft hat. Wie sie es
geschafft hat, dass es ihr jetzt viel bessergeht als vor wenigen Wochen und wie sie es
schafft, dass sie sich in ihrem Umfeld, mit den Menschen, die ihr wichtig sind, viel
besser fühlt. Ich gratuliere ihr zu diesem lehrreichen Jahr. Wir genießen das Eis. Essen
geht auch besser. Viel besser. Nur reden sollte man nicht zu deutlich darüber. Einfach
Eis essen.

zz Zweiunddreißigstes Gespräch: Marvin, Elli, ich


Elli kommt gemeinsam mit einem Freund, Marvin, zur Therapie. Er kann bleiben. Elli
ist motiviert und arbeitet produktiv. Marvin wird gleich als Ressource eingebunden. So
schnell kann er gar nicht schauen. Das Thema ist geblieben: Verantwortung für mein
Leben übernehmen. Elli und Marvin stellen jeweils auf einem Blatt ihrer Wahl dar,
wodurch sie im Alltag die Verantwortung für ihr Leben übernehmen könnten. Woran
würden sie erkennen, dass sie verantwortlich mit sich umgehen? Sie denken und schrei-
ben und arbeiten emsig.
7 Die Sommerferien haben begonnen und die Ruhe um und in Elli wird immer deut-
licher. Unsere Gespräche kreisen um die Themen Selbstbewusstsein und Verantwor-
tung übernehmen und um alles das, was in Ellis Alltag passiert und ihr wichtig ist. Elli
entdeckt sich als emotionalen, sensiblen Menschen. Sie entdeckt ihre Besonderheiten
im Umgang mit sich, ihre Bedürfnisse. Entdeckt, dass sie sich auch Kleinigkeiten sehr
zu Herzen nimmt und deutlich darauf reagiert. Das kostet sie Kraft, die ihr dann bei den
„Großigkeiten“ fehlt. Sie reflektiert, an welchen Merkmalen sie ihr eigenes Selbstbe-
wusstsein an sich erkennt. Ich bitte sie, diese auf ein Blatt zu schreiben. Ein Anfang. Sie
mag es, wenn die Gespräche durch kreative Darstellungen unterbrochen werden. Sie
wünscht sich, dass sie sich „selber vertrauen kann, dass ich den Weg schaffe!“ Ich will sie
dabei unterstützen.

7.1.8 Schulbeginn, Geburtstag und Therapie-Jahrestag

zz Sechsunddreißigstes Gespräch: Suche nach Ausnahmen, Skalierung, Elli, ich


Elli geht seit drei Tagen in die Schule. Alle kennen sie als „die Magersüchtige“. Sie ist
verärgert und wirkt gleichzeitig geschmeichelt. Sie wirkt hübsch und zufrieden. Ein
neues Selbstbewusstsein. Im Gespräch suchen wir nach fünf Episoden, in denen sie
sich etwas Konstruktives vorgenommen hat und dieses Ziel auch erreichen konnte.
Aus dem Vollen schöpfen wäre übertrieben, aber sie findet fünf Geschichten und ist
beruhigt. Sie erklärt sich bereit, ihr Selbstbewusstsein an eine Skala anzupassen. Der-
zeit ist es bei fünf bis sechs, vor einem Jahr beschreibt sie es bei null. Na, wenn das kein
Fortschritt ist!

zz Siebenunddreißigstes Gespräch: Geburtstag, Elli, ich


Heute wird sie 13! Der Termin am Geburtstag war ihr Wunsch. Sie geht täglich zur
Schule und wöchentlich zum Geigenunterricht. Wir feiern ein bisschen und sie formu-
liert und schreibt ihre Ziele und Wünsche für das neue Lebensjahr auf. Sie nimmt das
Plakat nach Hause – falls noch etwas dazu kommt.
Elli: Ihr Weg zu sich selbst
101 7
zz Achtunddreißigstes Gespräch: Ein Jahr Therapie, ein neuer Kontrakt, Elli, ich
Wir vertiefen die Idee, sich das Leben nicht schwerer als nötig zu machen, und sie
überlegt, wie sie diese in ihren Alltag, in ihr Denken und Fühlen einflechten kann und
will. Wir arbeiten seit einem knappen Jahr miteinander. Das Schwierigste scheint über-
standen. Wir planen die Zukunft. Elli will bis zum Sommer jede Woche kommen, um
von ihren Freunden zu erzählen, zu berichten, wie es ihr mit ihrer Selbstständigkeit
geht und lernen, wie sie lockerer werden kann. Sie will jede Stunde sagen, worüber sie
sprechen mag. Verantwortung. Verantwortung und Autonomie. Der Kontrakt steht.

7.1.9 Das Ende zeichnet sich ab

zz Vierzigstes Gespräch: Ich


Elli kommt nicht. Sie ist mit ihrer Freundin Sheila verschwunden.

zz Einundvierzigstes Gespräch: Elli, ich


Sheila hat es zu Hause einfach nicht mehr ausgehalten. Elli weiß ja wie das ist und wollte
sie nicht alleine lassen. Sie ist bereit, kritisch über die Geschehnisse nachzudenken. Sie
erkennt Fehler und weiß Alternativen. Beim nächsten Mal werde ich...?
Meistens kommt sie. Zweimal sagt sie ab. Fortschritt? Rückschritt? Veränderung!
Die Schule läuft, der Alltag läuft. Die Gespräche haben ihre anfängliche Exklusivität,
den Anschein eines Rettungsankers verloren. Sie sind Teil ihres Alltags. Mal wichtiger,
mal unwichtiger, aber noch von Bedeutung. Rettungsankerbackup.

zz Dreiundvierzigstes Gespräch: Elli, verliebt, ich


Elli ist verliebt! Michi, Fünftklässler. Keine Psychiatrieerfahrung. Sie schwebt. Alles
andere liegt unter ihr.

7.1.10 Rückfall? Vorfall?

zz Fünfundvierzigstes Gespräch: Elli, ich


Elli ist verliebt. Michi ist ein guter Schüler. Er ist cool und beliebt. Von vielen Mädchen
wird sie um ihn beneidet. Sie weiß, sie muss sich anstrengen, um ihn zu halten. Sie
lernt für die Physikprüfung, um sich die Fünf zu ersparen. Sie bemüht sich, sozial
angepasst zu sein, auch wenn es ihr manchmal gegen den Strich geht. Sie versucht, ihre
alten Probleme hinter sich zu lassen. Und plötzlich kommt das Brechen wieder. Aus
einem Hinterhalt. Aber es erleichtert Elli, macht sie für den Moment freier, wieder sie
selbst. Sicher. Vielleicht könnte es damit gehen. Das Brechen als Ausweg aus dem
Schuldruck? Aber die Mama bleibt hart. Kein Krankenstand. Nein. Brechen und
Schule. Elli ist verwirrt.

zz Sechsundvierzigstes Gespräch: Brechen, Elli, ich


Elli hat Angst. Sie will nicht, dass alles wieder von vorne beginnt. Sie war doch schon so
weit. Aber diesmal ist es anders: Das Nichtessen war ihr Verbündeter. Verbündet gegen
102 C. Lenz und E. Wagner

die Eltern, die Gesellschaft, das Leben. Das Brechen ist ihr Gegner. Gegen Michi, gegen
den Schulerfolg, gegen ihre neuen Ziele. In den folgenden Gesprächen ist es Elli mög-
lich, sich mit ihrem Selbstbewusstsein, ihrer Stärke, ihrem Selbstvertrauen und ihren
Zielen und Wünschen zu verbinden. Wieder die Füße auf den Boden zu kriegen. Nach
der Verwirrung wieder durchzuatmen. Und endlich auch ganz vorsichtig über das
Essen zu sprechen. Welche Nahrungsmittel ihr guttun, welche ihren Geschmack treffen,
welche sie mag. Michi hat für den Teil, den er erfährt, Verständnis. Die Schule läuft. Elli
weiß, dass sie leiser treten muss. Sich vertrauen, geduldig bleiben und die Ansprüche an
die Realität, ihre Realität anpassen. Sie beginnt, Sorge für sich zu tragen.

zz Fünfzigstes Gespräch: Michi, Elli, ich


Elli bringt Michi mit. Ich möge ihm doch erklären, wie das mit der Essstörung so ist.
Was willst du, dass er weiß? Ich möchte, dass er mich nicht so viel fragt, über das Bre-
chen und das Essen. Ich möchte so sein können, wie ich bin, ich möchte mich nicht
verstellen müssen. Die beiden sind sehr verliebt. Er will es richtig machen für Elli. Wir
7 finden eine Metapher, die die momentane Situation beschreibt. Sich mit der Essstö-
rung, mit Elli auseinandersetzten, ist wie eine neue Sprache lernen, eine neue Kultur.
Sie nähern sich auch in dieser Thematik an. Und sie vereinbaren gemeinsame Spielre-
geln: Elli gibt Michi zu Beginn jedes ihrer Treffen eine kurze Orientierung über ihr
Befinden. Michi fragt nur jedes zweite Mal, ob es Elli eh gut geht und nicht jedes Mal,
wenn er sich unsicher ist. Die beiden sind zufrieden. Fürs Erste. Und verlassen händ-
chenhaltend den Raum.

zz Einundfünfzigstes Gespräch: Lösungsbild, Elli, ich


Sie hat weniger gebrochen, die Englischschularbeit ist gut gelaufen, es läuft besser zwi-
schen ihr und Michi, beide halten sich an die Regeln. Die Mutter hat ein Gespräch mit
dem behandelnden Psychiater wegen der Medikamenteneinstellung vereinbart. Sie hat
Angst davor, weil sie sich beim letzten Mal nicht so gut benommen hat. Wir skizzieren
ein „Lösungsbild“. Wieder einmal. Angenommen, du hättest das nötige Selbstbewusst-
sein, wie würdest du dann zu diesem Gespräch hingehen? Mit welchen Gefühlen? Mit
welcher Körperhaltung? Mit welchen Erzählungen? In welchem Gewand? ... Es gelingt,
sie wieder näher dem Zustand zu bringen, in dem sie sein möchte. Sie hat bereits
Übung.

7.1.11 Stabilisierung

zz Zweiundfünfzigstes Gespräch: Elli, ich


Der Termin mit dem Arzt ist gut gelaufen. Erstmaligkeit. Ihr ist ein ruhiges Gespräch
gelungen. Überhaupt läuft alles soweit gut. Bald gibt es das Halbjahreszeugnis. Sie hat
zwei Fünfen: in Deutsch und in Englisch. Diese Noten will sie bis zum Sommer verbes-
sern. Sie wirkt sicher. Mit Michi ist sie bereits drei Monate zusammen. Und glücklich.
Zu Hause ist es ruhig. Tage, an denen sie bricht, sind die Ausnahme. Gemeinsam erwei-
tern wir den Abstand der Gespräche auf zwei Wochen.
Sommersemester: Mit Michi geht es ihr nach wie vor gut. Auf die erste Deutsch-
schularbeit schreibt sie eine Drei. Die Fünf ist Geschichte. Und immer wieder ziehen
Elli: Ihr Weg zu sich selbst
103 7
wir Kreise um ihre Eigenverantwortung, ihr Selbstbewusstsein, das, was sich noch
ändern soll, und das, was gut ist, so, wie es ist. Wenn es schwierig ist zwischen Elli
und Michi, kommen sie gemeinsam. Eine neue Lektion in der Sprache des jeweils
anderen. So überstehen sie ihre erste Krise. Ellis Zufriedenheit wächst zusehends. Sie
ist noch stärker und selbstbewusster. Ein schöner Anblick. Bald feiern die beiden
ihren ersten Halbjahrestag. Sie hat die Bulimie im Griff, weiß um die Zusammen-
hänge. Wir vergrößern die Abstände zwischen den Gesprächen auf drei bis vier
Wochen.

7.1.12 Letztes Gespräch: Ein Tag vor Schulschluss, Elli, ich

Elli schließt das Schuljahr positiv ab. Keine Fünf. Aufstieg in die vierte Klasse (das ent-
spricht in Deutschland der 8. Klasse auf dem Gymnasium), aber zuerst Sommer und
Ferien und Michi. Mit dem seltenen Brechen kann sie umgehen. Autonomie. Verant-
wortung. Selbstbewusstsein. Eineinhalb Jahre nach ihrem stationären Aufenthalt wegen
Magersucht. Neuer Lebensabschnitt. Definitiv. Elli wünscht sich, dass wir in der letzten
Stunde wieder „Hangman“ spielen. So wie ganz am Anfang, als das Sprechen noch
schwer war.
Und dann, zum Schluss, wird das Sprechen wieder schwer, und sie lässt mich raten.
Nach einer kurzen Umarmung verlässt sie den Therapieraum. Der Sommer kann kom-
men (. Abb. 7.3).

Fünf Monate später werden wir uns für sieben weitere Gespräche wiedersehen, aber
das ist eine andere Geschichte.

..      Abb. 7.3  Hangmann: Abschluss


104 C. Lenz und E. Wagner

7.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis

Elli begann die Therapie unmittelbar nach einem mehrwöchigen stationären Aufent-
halt. Im Entlassungsbrief waren die Diagnosen Anorexia Nervosa und schwere depres-
sive Episode genannt. Im Erstgespräch mit den Eltern wurden neben der massiven
Gewichtsabnahme auch Selbstverletzungen und oppositionelles Verhalten mit Ausrei-
ßen und Schulverweigerung zu Hause berichtet. Die Eltern versuchten, ihre Erzie-
hungsverantwortung wahrzunehmen, was zu eskalierenden Konflikten führte. Es war
ihnen nicht möglich, vernünftiges Verhalten zu erzwingen. Die Eltern waren nach der
komplikationsfreien Pubertät ihrer erstgeborenen Tochter nicht auf derartige Heraus-
forderungen vorbereitet. Sie dachten, dass sie ihre jüngere Tochter mit Methoden der
Erpressung und Bestrafung zu einer angepassten Entwicklung bringen könnten. Diese
Versuche eskalierten jedoch immer mehr. Die Eltern wurden hilfloser und hilfloser und
als ihre Tochter dann auch noch aufhörte zu essen und begann, sich selbst zu verletzen,
suchten sie verzweifelt Hilfe. Es dauerte lange, bis die Eltern, vor allem die Mutter, von
7 ihren Ideen, wie ihre jüngere Tochter sich zu entwickeln hätte, ablassen konnten. Dazu
nutzten sie die Eltern-/Paargespräche mit dem Therapeuten. Die Mutter nahm darüber
hinaus alle Einladungen wahr, bei Gesprächen mit Elli und ihrer Therapeutin dabei zu
sein. Es war schwierig, nach all den Verletzungen, Enttäuschungen und Eskalationen
wieder Vertrauen in Elli zu finden und ihren Wünschen nach Autonomie zustimmen zu
können. Die Kontaktaufnahme mit Elli gestaltete sich dementsprechend schwierig: In
den ersten Sitzungen verhielt sich Elli auch in der Therapie misstrauisch, ablehnend und
teilweise provokant. Wie konnte es gelingen, zu ihr eine vertrauensvolle Beziehung auf-
zubauen? „Contact before contract“ war hier das Motto. Eine rasche Auftragsorientie-
rung wäre hier völlig fehl am Platz gewesen. Elli war in dieser Phase ihrer Entwicklung
in eine Sackgasse geraten. In ihrem Bemühen um Selbstbestimmung hatte sie Mittel
gewählt (Schul- und Essensverweigerung sowie selbstverletzendes Verhalten), die nicht
nur bei den Eltern noch mehr Kontrolle auslösten, sondern aufgrund der damit verbun-
denen Selbstgefährdung auch weitere gesellschaftliche Kontrollinstanzen auf den Plan
gerufen haben: die Psychiatrie und später das Jugendamt. Natürlich war es Ziel der The-
rapeutin, Elli auf der Suche nach ihrem Weg so zu unterstützen, dass sie die gewünschte
Autonomie erreichte – aber wie konnte die Therapeutin Elli unterstützen, wenn diese
weit davon entfernt war, ihr einen diesbezüglichen Auftrag zu geben? „Verständnis und
Diplomatie“ waren das Handwerkszeug der Therapeutin und radikale Akzeptanz der
engen Kooperationsbereitschaft der Klientin: „Ich will versuchen, genau wahrzuneh-
men, innerhalb welcher Grenzen du bereit bist, mit mir zu kooperieren“. Erst nach die-
ser expliziten Versicherung in der dritten Stunde begann Elli zu vertrauen und
schließlich zu erzählen: über ihre Schwierigkeiten in der Schule, über ihre Position in
der Familie, über die Wut auf ihre Eltern, über ihre Unsicherheit. Erst jetzt konnte sie
offenlegen, welche Verletzungen hinter ihrem provokanten und abweisenden Verhalten
standen, jetzt erst wurde der Entschluss, die verletzte Elli hinter sich zu lassen und den
Eltern die kämpferische Livia zu präsentieren, besprechbar. Trotz dieser Fortschritte in
der Therapie blieb das Zusammenleben mit den Eltern hochproblematisch. Während
die Essensverweigerung und die Selbstverletzungen in den Hintergrund traten, wurde
das oppositionelle Verhalten immer deutlicher. Auch die psychiatrischen Kontrollen
waren davon betroffen: Elli erzwang eine stationäre Aufnahme, um ihrem Schwarm
Elli: Ihr Weg zu sich selbst
105 7
Lenny nahe zu sein. Die Entlassungsdiagnose lautete diesmal „Anpassungsstörung mit
gemischter Störung von Gefühlen und Sozialverhalten“, „Bulimia nervosa“ und Ver-
dacht auf „emotional instabile Persönlichkeitsentwicklungsstörung“. So unerlässlich bei
selbstgefährdendem Verhalten Jugendlicher die Kooperation mit der Psychiatrie ist, so
deutlich wurde hier auch die Hilflosigkeit der Behandlungseinrichtungen, die fallweise
nur zur Schadensbegrenzung in besonders krisenhaften Situationen, aber nicht zur
dauerhaften Stabilisierung beitragen können. Hier ist zu bedenken, dass der stationäre
Kontext häufig eine Bühne darstellt, auf der sich dysfunktionale Verhaltensauffälligkei-
ten ungehemmt entfalten und es daher eher zu einer Aggravierung der Symptomatik
kommen kann. Um zu verhindern, dass das regressionsfördernde Klima einer stationä-
ren Abteilung und der Resonanzraum der mitagierenden Mitpatienten zu einer weite-
ren Verschlechterung beitragen, werden die Betroffenen fallweise sehr schnell wieder
entlassen. Die Hoffnung auf eine nachhaltige Stabilisierung oder Verbesserung können
bei weitem nicht immer erfüllt werden (vgl. Wagner et al. 2016) In dieser Therapiephase
nutzte Elli die Gespräche dafür, ihr inneres Erleben und ihre Not auszudrücken. Nach-
dem der Beziehungsaufbau mit der Therapeutin gelungen war, ging es nun schrittweise
weiter, um den Kontakt zu den eigenen Konflikten herzustellen. Diese beginnende Aus-
einandersetzung war als ein weiterer Therapieerfolg zu sehen, auch wenn sie noch nicht
mit einem „adäquaten Problembewusstsein“ und einer damit verbundenen Verände-
rungsmotivation einherging. In dem Vertrauen darauf, dass das bislang Erreichte ein
notwendiges Etappenziel für weitere Veränderungen darstellte, begleitete die Therapeu-
tin Elli in dieser langen und belastenden Phase, ohne eindeutig Position zu beziehen,
wohl in der Überzeugung, dass es genügend Erwachsene rund um Elli gab, die ihr sag-
ten, was sie zu tun hat. Die Therapie sollte ein Raum bleiben, wo Elli ihr Erleben (mit)
teilen kann. Während also im „Leben draußen“ die Wogen immer wieder hoch hergin-
gen – es wird Alkohol gefunden, Elli bringt eine Ratte nach Hause und bekommt eine
Ohrfeige, Elli reißt nach Wels aus – und dadurch kein deutlicher „Therapieerfolg“ im
Außen sichtbar wurde, blieb die Therapeutin ihrer Strategie treu: Sie stellte sich Elli in
einer wohlwollend reflexiven Haltung zur Verfügung, respektierte ihre Autonomiebe-
strebungen, egal wie sie sich äußerten, mutete Elli aber zunehmend die Auseinanderset-
zung mit den absehbaren Folgen (in diesem Fall die Fremdunterbringung) zu. Diese
Therapiephase dauerte lange: ein halbes Jahr, mehr als 20 Sitzungen, in denen die The-
rapeutin wohl oft der Versuchung widerstehen musste, Elli zuzurufen „so sei doch end-
lich vernünftig“ und sich damit in den Chor der anderen Erwachsenen einzureihen. Im
24. Gespräch äußerte Elli erstmals die Einschätzung: „Allein werde ich mir alles ver-
bauen“, und lässt damit zum ersten Mal eine Ambivalenz bezüglich ihrer Lösungsversu-
che erkennen. Die verweigernd trotzige Haltung zeigte sie in dieser Phase vor allem im
psychiatrischen Kontrollsetting, was zu einer längeren Krankschreibung führte. Man
kann spekulieren, ob oder inwieweit die Entlastung durch die erreichte Befreiung vom
Schulbesuch, das Wegfallen der täglichen Verhandlungen zu Hause, es Elli erst ermög-
lichte, sich selbst über eine für sie passende Lösung Gedanken zu machen. Erst ab die-
sem Zeitpunkt begann Elli, sich in der Therapie mit ihren Wünschen und Vorstellungen
jenseits der „Verweigerung“ auseinanderzusetzen. Sie traf die Entscheidung, das nächste
Schuljahr in der alten Schule fortzusetzen, das diesbezügliche Gespräch mit der Mutter
verlief erstmals ohne Eskalation. Nachdem lange Zeit Ellis Blick nur auf das gerichtet
war, was schlecht läuft und wo sie sich unverstanden erlebte, gelang es nun zunehmend,
106 C. Lenz und E. Wagner

anstehende Aufgaben konstruktiv zu bewältigen. Elli verzichtete im Gespräch mit der


Mutter auf Abwertungen und Provokationen, auch die Mutter war weicher geworden
und bemühte sich um Kooperation. Dies mag (unter anderem) ein Effekt der empfoh-
lenen Elternberatung gewesen sein, die Ellis Eltern seit dem ersten eskalierenden Fami-
liengespräch in Anspruch nahmen. Elli war bereit, die Forderung der Mutter – sie selber
müsse das Gespräch mit dem Direktor führen – zu erfüllen. Und sie war erfolgreich:
Das Gespräch mit dem Direktor verlief gut, sie durfte die Schulstufe in der Klasse ihrer
Freundin wiederholen. Nachdem Elli lange Zeit Lösungsversuche gewählt hatte, die ihr
körperlich und sozial geschadet haben, erlebte sie nun erstmals, wie es sich anfühlt, für
sich eine Entscheidung zu treffen und diese durch entschlossenes, aber konstruktives
Verhalten zu realisieren. In weiterer Folge konnte die Therapie für ziel- und auftragsori-
entiertes Arbeiten genützt werden – es folgte „Business as usual“. Die besonderen Her-
ausforderungen der beschriebenen Therapie bestanden in der Ermöglichung dieser
„Arbeitsphase“, die nötigen Voraussetzungen dafür: Geduld, Feinfühligkeit und thera-
peutischer Optimismus, der Glaube an einen positiven Ausgang – zumindest aber die
7 feste und handlungsleitende Überzeugung, dass das Einstimmen in den Chor der for-
dernden Erwachsenen zum Scheitern verurteilt war. Wenn wir davon ausgehen, dass
Therapie das jeweils Notwendige ergänzen soll, das es im Außen gerade nicht gibt
(„Ergänze, was fehlt“), was aber für eine gedeihliche Entwicklung, für das Bewältigen
von Lebensaufgaben unerlässlich ist, war es in diesem Fall Aufgabe der Therapeutin, die
Rolle der wohlwollenden, interessierten und zuversichtlichen Bezugsperson einzuneh-
men und konsequent durchzuhalten, bis Elli ihre Verweigerungshaltung aufgab. Ziel
der begleitenden Elterngespräche durch einen anderen Therapeuten war es, die Eltern
darin zu unterstützen, jene Verhaltensweisen aufzugeben, die unnötigen Widerstand
provozierten und sensibel für positive Veränderungen zu bleiben. Auch die Eltern hat-
ten Bedarf nach einer wohlwollenden Begleitung. Jede Art von Unterstützung, die ihnen
half, aus den alten Konfliktmustern auszusteigen, die belastende Situation zu Hause zu
ertragen und die damit die Wahrscheinlichkeit erhöhte, dass Mutter, Vater und Tochter
wieder zusammenfinden konnten, war sinnvoll.

Literatur
McAllister A, Collins R (Illustrationen) (2006) Vertrau mir Mama! Bloomsbury, Berlin
Wagner E, Henz K, Kilian H (2016) Persönlichkeitsstörungen. Störungen systemisch behandeln, Carl
Auer, Heidelberg
107 8

Tobias: Hilfreiche Zutaten


für einen guten
Familienkuchen
Kinderorientierte Familientherapie wegen familiärer
Konflikte. Therapiedauer: Vier Monate, zu Beginn
wöchentliche Abstände

Sigrid Binnenstein und Elisabeth Wagner

8.1 Fallverlauf – 108


8.1.1 T elefonischer Erstkontakt – 108
8.1.2 Erstgespräch (zwei EH) – 108
8.1.3 Die erste Spielsequenz: Tobias und Therapeutin,
Eltern als Beobachter (2. Termin) – 111
8.1.4 Das erste Reflexionsgespräch mit den Eltern
(3. Termin) – 112
8.1.5 Das erste Familienspiel (4. Termin) – 113
8.1.6 Das zweite Reflexionsgespräch (5. Termin) – 114
8.1.7 Das zweite Familienspiel (6. Termin) – 115
8.1.8 Das dritte Reflexionsgespräch (7. Termin) – 116
8.1.9 Elterngespräch (8. Termin) – 116
8.1.10 Elterngespräch (9. Termin) – 117
8.1.11 Elterngespräch (10. Termin) – 118
8.1.12 Elterngespräch (11. Termin) – 118
8.1.13 Abschluss (12. Termin) – 119

8.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis – 119

Literatur – 121

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


E. Wagner, S. Binnenstein (Hrsg.), Wie systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
wirkt, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55547-7_8
108 S. Binnenstein und E. Wagner

Die Eltern des neunjährigen Tobias melden sich aufgrund häufiger Konflikte mit ihrem
Sohn, die das Familienklima und die Beziehung belasten. In diesem Fall wird gezeigt, wie
mit der Methode der kinderorientierten Familientherapie ein Einstieg unter Einbezug des
Kindes in einen therapeutischen Prozess gelingt, der in Folge auf der Elternebene fortge-
setzt wird. In den gemeinsamen Spielsequenzen und den darauffolgenden Reflexionsge-
sprächen mit den Eltern entstehen für diese neue Sichtweisen auf das als schwierig
erlebte Verhalten von Tobias sowie Ideen für hilfreiche Veränderungen im Erziehungsver-
halten.

8.1 Fallverlauf

8.1.1 Telefonischer Erstkontakt

Frau S. meldet sich im Sekretariat der Beratungsstelle mit dem Wunsch nach einem
Kindertherapieplatz für ihren neunjährigen Sohn Tobias. Um ein bisschen mehr zu
erfahren und um entscheiden zu können, wen ich zum ersten Termin einlade, telefo-
niere ich selbst mit Frau S. Sie erzählt kurz, was sie und ihren Mann belastet. Tobias sei
8 eher ein Einzelgänger, es habe einige Konflikte mit Mitschülern gegeben, sie mache sich
Sorgen, dass ihn das belaste. Innerhalb der Familie gebe es häufig Streit, sie verstehe
nicht, weshalb Tobias oft so bockig sei. Frau S. leidet unter den Konflikten und macht
sich Sorgen, dass sie den Kontakt zu ihrem Sohn verliert. Nach der Anmeldung in der
Beratungsstelle habe sie mit Tobias über die Idee gesprochen, eine Therapie zu machen.
Seine erste Reaktion war sehr abwehrend: „Ich will das sicher nicht, und wenn ich mit-
kommen muss, dann sag‘ ich nichts!“. Aus seiner Sicht sei alles in Ordnung, er brauche
keine Hilfe. Wir vereinbaren ein Erstgespräch für die Eltern, damit sie ausführlich über
die Situation berichten können und wir dann gemeinsam überlegen, was passende
nächste Schritte wären.

8.1.2 Erstgespräch (zwei EH)

Im Erstgespräch berichten die Eltern von ihrer als sehr belastet erlebten Familiensitua-
tion. Tobias sei ihr Sorgenkind, sie erleben ihr Miteinander häufig sehr spannungsgela-
den, unangenehm und anstrengend und machen sich Sorgen um Tobias Entwicklung.
Im gemeinsamen Haushalt leben Frau S. und Herr S., die elfjährige Melanie und der
neunjährige Tobias. Frau S. ist als selbstständige Fotografin tätig, Herr S. ist Inhaber
einer Papierfachhandlung. Er ist in Deutschland aufgewachsen und lebt seit 20 Jahren
in Wien, seine Herkunftsfamilie lebt weiterhin in Deutschland.
Als sehr herausfordernd beschreiben die Eltern den Umgang mit Tobias starkem
Willen. Die Eltern führen aus, dass Tobias fast immer seinen Willen durchsetzt und es
ihnen kaum gelingt, die angekündigten Konsequenzen durchzusetzen, obwohl sie das
eigentlich wichtig finden würden. Dabei wird Tobias´ Verhalten sehr anklagend
beschrieben: „Er manipuliert uns!“ oder „Er erpresst uns!“. Gleichzeitig beklagen sie,
dass sie Tobias nie zufriedenstellen können. Obwohl er fast alles bekomme, was er
Tobias: Hilfreiche Zutaten für einen guten Familienkuchen
109 8
möchte, sei es laut Wahrnehmung der Eltern nie genug. Er sei auch sehr eifersüchtig auf
seine ältere Schwester und fühle sich ihr gegenüber immer benachteiligt, was er auch
deutlich äußert: „Du magst die Melanie eh‘ viel lieber! Du hältst immer zu ihr!“ Melanie
kritisiere die Eltern, dass sie zu Tobias viel weniger streng seien als zu ihr. Auch zwi-
schen den Geschwistern gebe es viel Streit. Die Eltern erzählen auch, dass es viele
anstrengende Diskussionen und Konflikte um ganz alltägliche Situationen, wie bei-
spielsweise den Zeitpunkt des Zähneputzens oder die Dauer des Medienkonsums, gibt.
Tobias Verhalten ihnen gegenüber während dieser Diskussionen erleben sie teilweise als
sehr aggressiv. Zusätzlich zu der Belastung im Miteinander formulieren die Eltern auch
ihre Sorge um Tobias soziale Entwicklung. Er habe nämlich kaum Freunde. Frau S.
erklärt sich das damit, dass er auch im Zusammensein mit Freunden immer alles
bestimmen wolle, und das lassen sich eben nur wenige gefallen. Es sei auch schwierig,
Tobias für ein Hobby zu begeistern, er habe mehrere begonnene Sportkurse wieder
abgebrochen. Die Eltern fragen sich auch, ob der häufige Rückzug Tobias in seine Fan-
tasiewelt (beim Lesen und mit seinen Stofftieren) noch normal ist. Sie haben manchmal
den Eindruck, als wäre ihm diese Fantasiewelt wichtiger als die reale Welt mit realen
Menschen. Tobias nässt nachts auch manchmal ein, dies bringen die Eltern mit Stress in
Zusammenhang. Aus der Kleinkindzeit mit Tobias berichten die Eltern noch, dass der
Kindergartenbesuch für Tobias mit sehr viel Trennungsschmerz verbunden war. Er habe
während der gesamten Kindergartenzeit oft in der Früh geweint und auch in der Volks-
schulzeit (in Deutschland: Grundschulzeit) war das Weggehen von zu Hause noch längere
Zeit schwierig. Trotz der vielen Anstrengungen und Sorgen erzählen die Eltern insge-
samt liebevoll über Tobias und sehen auch viele seiner Stärken und Fähigkeiten. Selbst
seinen starken Willen bezeichnen sie als potenziell positive Eigenschaft. Frau S. lobt,
dass Tobias seine Hausaufgaben sehr selbstständig macht, gute schulische Leistungen
erbringt und sich gut alleine beschäftigen kann.
Da die Eltern während des Gesprächs immer wieder betonen, dass sie ja schon „alte
Eltern“ seien, frage ich zur Familiengeschichte nach. Frau S. hatte gedacht, dass sie
keine Kinder bekommen könne und habe sich damit abgefunden. Die Schwangerschaft
mit Melanie war eine große Überraschung und auch eine riesige Freude. Die Schwan-
gerschaft mit Tobias war dann sehnlichst gewünscht. Frau S. formuliert: „Wir haben
sehr lange auf unsere Kinder warten müssen!“ Herr S. bezeichnet sich und seine Frau
als „atypische“ Eltern: „Wir haben keine eigenen Hobbies, alles ist auf Familie konzen-
triert.“
Als bisherige Lösungsversuche beschreiben die Eltern viele Gespräche, sowohl mit
Tobias als auch untereinander, die sie jedoch als nicht sehr hilfreich erleben. Frau S.
meint, dass sie beide im Umgang mit Tobias an ihre Grenzen stoßen. Sie erlebt sich hin-
und hergerissen zwischen toben-schreien-drohen und nachgeben, was in ihr ein Gefühl
von hilfloser Wut entstehen lässt. Als Anliegen für die Therapie formulieren die Eltern:
55 Eine bessere Gesprächsbasis mit Tobias finden: Es gibt die Sorge, dass er nicht
mehr erzählt, was ihn belastet. Ein „guter Zugang“ wäre ihnen auch wichtig als
Basis für die erwarteten Konflikte in der Pubertät.
55 Einen anderen „Tonfall“ in der Familie.
55 Frau S. möchte für sich Alternativen zur Hilflosigkeit entwickeln.
110 S. Binnenstein und E. Wagner

Die genannten Ziele betreffen sowohl eine Veränderung im familiären Miteinander als
auch eine gewünschte Veränderung auf der Elternebene. In solchen Situationen könnte
man auch Erziehungsberatung anbieten, um beispielsweise den Umgang mit Konse-
quenzen zu verbessern. Dagegen spricht die deutliche Erwartung, dass Tobias einbezo-
gen wird, aber auch mein Interesse daran, Tobias kennenzulernen, um die familiäre
Dynamik besser einschätzen zu können. Mir ist in diesem Moment noch nicht klar, ob
es eher darum geht, die Eltern zu beruhigen oder ob die aktuelle Konfliktdynamik tat-
sächlich ein bedrohliches Ausmaß angenommen hat. Deshalb entscheide ich mich dafür,
ein Familiensetting anzubieten. Wie aber gut gemeinsam arbeiten? Ich erinnere mich
daran, wie mir Frau S. Tobias Reaktion auf den angekündigten Besuch bei einer Thera-
peutin geschildert hat („sinnlos, es ist eh‘ alles ok, ich komm sicher nicht mit, wenn ich
muss, dann sag‘ ich nichts“). Bei einem Familiengespräch habe ich also zumindest mit
einem Anfangswiderstand zu rechnen. Kinderorientierte Familientherapie könnte hier
die passende Methode sein: Tobias müsste nicht viel sagen, zumindest nicht über seine
Probleme reden. Dennoch könnte ich ihn und die familiäre Interaktion kennenlernen.
Ich schlage den Eltern daher vor, mit einer Methode zu arbeiten, „bei der die Familie zu
gemeinsamen Spielsequenzen eingeladen wird“. Ich erkläre, dass man im Spiel häufig
gut erkennen kann, was die Kinder beschäftigt, dass viele Themen sichtbar werden, die
8 Kinder im Gespräch nicht ausdrücken können. Ich frage sie nach ihrer Einschätzung,
ob Tobias leichter zur Therapie zu motivieren wäre, wenn sie ihm sagen, dass wir hier
gemeinsam spielen werden. Die Eltern denken, dass das gelingen könnte. Ich erkundige
mich, ob sie selbst auch zum Spielen bereit wären, was sie bejahen.
Ich erkläre die genaue Vorgehensweise. Beim ersten Termin werde ich mit Tobias
spielen und sie als Eltern zusehen. Dabei sollen sie genau beobachten, was ihnen an
Tobias während des Spiels auffällt. Das Spiel wird gefilmt. Beim darauffolgenden Ter-
min, zu dem nur die Eltern eingeladen sind, sehen wir uns das Spiel noch einmal
gemeinsam an. Wenn die Methode für Tobias und für sie passt, würden wir in Folge
weitere Sitzungen vereinbaren, in denen wir zu viert (Eltern, Tobias und ich) spielen.
Nach jeder Spielsequenz folgt ein Elterngespräch, in dem reflektiert wird, welche For-
men des Miteinanders hilfreich sind. Die Beobachtung von Tobias Verhalten im Spiel
könnte helfen, ihn besser zu verstehen. In diesem Zusammenhang erkläre ich noch,
dass die Videoaufnahme sehr nützlich ist, um einzelne Spielsequenzen genauer zu ana-
lysieren und dabei auch das eigene Verhalten von außen betrachten zu können und hole
eine schriftliche Einverständniserklärung der Eltern zu den Videoaufnahmen ein. Diese
ist „aus Transparenzgründen, zur Vertrauensbildung und aus rechtlichen Gründen“
(Reiners 2013, S. 21) sinnvoll und notwendig. Wir besprechen noch, wie sie Tobias auf
den nächsten Termin vorbereiten können.
Zum beschriebenen Thema der mangelnden Konsequenz in ihrem Erziehungsver-
halten, gebe ich den Eltern am Ende des Gesprächs noch eine Anregung mit: Sie sollen
sich an Situationen erinnern, in denen es ihnen gelungen ist, konsequent zu bleiben und
miteinander überlegen, was in diesen Situationen anders war.
Tobias: Hilfreiche Zutaten für einen guten Familienkuchen
111 8
8.1.3  ie erste Spielsequenz: Tobias und Therapeutin, Eltern als
D
Beobachter (2. Termin)

Die Sandkiste steht in der Mitte des Raumes, die Sesseln sind rundum gruppiert. Ich
wende mich vor allem an Tobias. Ich erzähle ihm, dass seine Eltern schon einmal da
waren und einiges von dem, was ich schon von ihm und seiner Familie weiß: „Ich habe
gehört, dass du schon neun Jahre alt bist, in die dritte Klasse gehst und ein sehr guter
Schüler bist. Ich habe auch gehört, dass du eine riesige Leseratte und ein guter Gitarren-
spieler bist und ein Kuscheltierliebhaber ... und der Grund dafür, dass deine Eltern hier-
her gekommen sind ist, dass es bei euch zu Hause oft so richtig laut zugeht, da werden
dann Türen geschlagen, die Mama und der Papa sind dann manchmal total grantig, und
du dann wütend ... Glaubst du, hab‘ ich das so richtig verstanden? Weißt du, was deine
Eltern da meinen?“ Tobias nickt. „Und deine Eltern wünschen sich, dass das wieder
anders wird. Vielleicht kann ich euch dabei ja helfen. Zuerst möchte ich dich aber ken-
nenlernen. Am liebsten und am besten lerne ich Kinder immer beim Spielen kennen.
Deine Eltern haben mir erzählt, dass du auch gerne spielst. Stimmt das? Ich habe die
Sandkiste für unser gemeinsames Spiel vorbereitet! Deine Eltern schauen heute einfach
mal zu.“ Nachdem ich Tobias auch noch erklärt habe, dass unser Spiel gefilmt wird und
ich die Eltern gebeten habe, sich ein Stück wegzusetzen, stelle ich Tobias meine Spielfi-
guren vor: Tina (eine Frauenfigur) und Timi (meinen Hund). Ich zeige ihm, welche
Materialen für das Spiel in der Sandkiste verwendet werden können. Ich beginne zu
bauen und erkläre ihm, dass ich mir zuerst einmal ein Haus mit Garten baue und dass
er sich auch eine oder mehrere Figuren aussuchen kann und er auch etwas bauen kann,
wenn er möchte. Tobias schaut einmal zu, sieht sich die Materialien an und beginnt
dann auch zu spielen, wobei er sich sehr an dem orientiert, was ich baue. Er sucht sich
eine Jungenfigur und ein Pferd aus und nennt die beiden Florian und Ares. Tobias
reagiert offen auf Kontaktangebote meiner Figuren. Es gelingt ganz unkompliziert, mit
ihm in einen spielerischen Kontakt zu kommen. Wir besichtigen gegenseitig unsere
Häuser, schwimmen in einem Teich, essen Kuchen, spielen Verstecken mit Timi und
meine Figur darf sogar auf Ares reiten. Tobias zeigt sich im Spiel sehr kooperativ, seine
von den Eltern beschriebene dominante Seite macht sich nicht bemerkbar.
Das Spielende bei Spielsequenzen im Rahmen der kinderorientierten Familienthe-
rapie ist jeweils ein Telefonat, das meine Figur im Spiel mit einer fiktiven Freundin
führt. Dieses Telefonat ist eine Gelegenheit wertschätzende Rückmeldungen über das
Verhalten des Kindes im Spiel zu geben oder auch Reframings und Hypothesen einzu-
führen. Die Rückmeldungen sind dabei sowohl für das Kind als auch für die Eltern
gedacht. Im Telefonat berichtet meine Figur über den aufregenden Tag: dass sie sich
sehr gefreut hat, so einen netten neuen Nachbarn kennenzulernen, dass dieser ein ganz
besonderes Haustier hat, wie viel Spaß das gemeinsame Schwimmen gemacht hat, wie
mutig Florian war, dass er sich einen Kopfsprung getraut hat, und wie freundlich es von
Florian war, sie auf seinem Pferd reiten zu lassen. Zusammengefasst: „Das war heute
ein wirklich toller Tag!“ Tobias hört scheinbar interessiert zu, während er sein Pferd im
Stall noch füttert. Dann bitte ich die Eltern zur Sandkiste, damit sie sich die Szene
genau anschauen können, wenn sie möchten. Tobias erklärt seinen Eltern genau, was
er gebaut hat. Besonders Frau S. interessiert sich für alle Details und bewundert die
112 S. Binnenstein und E. Wagner

Einzelheiten. In dieser Sequenz herrscht eine ganz besondere behutsame Atmosphäre


von wohlwollendem Interesse und genauem Wahrnehmen. Ich bedanke mich bei
Tobias für das schöne Spiel und dafür, dass ich ihn kennenlernen durfte und erkläre
ihm, dass seine Eltern zum nächsten Termin kommen und wir uns das Video vom Spiel
anschauen werden. Seine Eltern werden ihn dann informieren, ob und wann er wieder
mitkommt.
Vor einem Folgetermin nehme ich mir immer Zeit, die jeweilige Spielsequenz
­nochmal anzuschauen, um zu sammeln, was ich den Eltern gerne rückmelden oder
zeigen möchte.

8.1.4 Das erste Reflexionsgespräch mit den Eltern (3. Termin)

Auf meine Frage, ob Tobias etwas zur Spielsequenz gesagt hat, erzählen die Eltern, dass
ihm das Spielen sehr gefallen hat und er gerne wiederkommen möchte. Sie haben mit
ihm im Anschluss an den letzten Termin auch nochmal versucht, über die Schwierig-
keiten zu reden, was bei ihm allerdings erneut Abwehr ausgelöst hat: „Lasst mich in
Ruhe! Es ist eh‘ alles in Ordnung!“
8 In einem ersten Schritt bitte ich die Eltern, mir ihre Eindrücke von der Spielsequenz
zu erzählen. Frau S. hatte den Eindruck, dass Tobias sehr nervös war. Es war überra-
schend für sie, ihn im Spiel so zurückhaltend zu erleben, ansonsten erlebt sie ihn for-
dernder und bestimmender. Sie beschreibt es als „irgendwie berührend“ ihn so im
spielerischen Kontakt gesehen zu haben, und: „Was mir so besonders aufgefallen ist ...
er ist ja noch ein Kind! ... das ist mir so richtig bewusst geworden.“ Herr S. äußert sich
anerkennend darüber, wie gut sich Tobias auf das Spiel konzentrieren konnte, obwohl
die Situation für ihn ja neu und herausfordernd war: „Hut ab vor ihm!“ Herr S. hat
Tobias Verhalten im Spiel als sehr sozial erlebt. Das Miteinander war Tobias aus Sicht
des Vaters scheinbar wichtig, das hat ihn überrascht, da er sonst sehr bestimmend ist.
Auch die fantasiereiche Seite von Tobias ist ihm sehr aufgefallen. Es scheint den Vater
zu freuen, diese Seite von Tobias gesehen zu haben. Er zweifelt insgesamt aber, ob sich
Tobias so von seiner „wahren Seite“ gezeigt hat, oder sich vor allem bemüht hat, in
dieser neuen Situation einen guten Eindruck zu machen.
In meiner Rückmeldung formuliere ich folgende Eindrücke: „Ich war besonders
überrascht, dass es mir Tobias sehr leicht gemacht hat, mit ihm in Kontakt zu kommen –
nachdem sie ja erzählt haben, dass er nicht gerade erfreut darüber war, zur Therapie zu
kommen – habe ich erwartet, dass er nicht so gerne mitmacht. Mein Eindruck war, dass
er zu Beginn vorsichtig war und sich bemüht hat, alles richtig zu machen – vielleicht
war das das, was sie als nervös wahrgenommen haben – trotzdem hat er nach kurzer
Zeit aber sehr sicher und aufs Spiel konzentriert gewirkt. Und ich habe den gleichen
Eindruck wie Sie, dass ihm das Miteinander wichtig war, ich habe ihn wirklich sehr
kooperativ erlebt. Und zu Ihrem Einwand, ob das seine wahre Seite ist, denke ich mir, es
ist wahrscheinlich eine seiner Seiten.“ Besonders Frau S. wirkt sehr nachdenklich und
berührt bei meinen Rückmeldungen.
Im Anschluss schauen wir uns das Video gemeinsam an. Die Vereinbarung ist, dass wir
die Aufnahme jederzeit stoppen, wann immer wer zu einer Sequenz etwas sagen möchte
oder etwas nochmal anschauen mag. Ich fokussiere vor allem auf Szenen, in denen sich
Tobias: Hilfreiche Zutaten für einen guten Familienkuchen
113 8
Tobias kooperativ, offen und unbeschwert gezeigt hat. Die Eltern stimmen meiner Wahr-
nehmung dieser Eigenschaften zu und wir sammeln, wo Tobias diese auch im Alltag zeigt.
Der nächste Termin wird als gemeinsame Spielsequenz (Eltern, Tobias und ich)
geplant. Als Ziel des Spiels wird ein „angenehmes Miteinander“ vereinbart.
Abschließend nehmen wir uns noch Zeit, um über die Beobachtungsaufgabe zum
Thema Konsequenzen zu sprechen. Die Eltern haben den Eindruck, dass es ihnen nie
gelungen ist, konsequent zu bleiben, sie erleben sich bei diesem Thema „hoffnungslos
gescheitert“. Es ist ihnen durch die in den letzten zwei Wochen geführten Gespräche
deutlich geworden, dass sie sich auch manchmal „gegenseitig in den Rücken fallen“, und
dass sie sich dadurch gegenseitig schwächen beziehungsweise Tobias in der Durchset-
zung seiner Wünsche stärken; „er weiß, dass das ein wunder Punkt ist und er spielt
damit“. Herr S. formuliert: „Wir ziehen schon an einem Strang, aber ziemlich hilflos!“
Auch wenn wir sonst im Wesentlichen ein gutes Team sind!“ Im weiteren Gesprächsver-
lauf kommen folgende Fragen auf: Wieso schaffen wir es nicht, konsequent zu bleiben,
obwohl wir vom Verstand her wissen, wie wichtig das wäre? Aber auch: Ist es wirklich
so wichtig, konsequent zu sein? Was würde es denn genau bringen? Frau S. überlegt, ob
sie zu viel von Tobias erwartet; „vielleicht ist es ja viel zu früh oder viel zu viel, was wir
von ihm erwarten – so wie ich ihn im Spiel letztes Mal gesehen habe – wie kindlich er
da war – da ist mir bewusst geworden, dass ich ihn manchmal vielleicht überfordere,
Herr S. überlegt in diesem Zusammenhang auch, ob sie dazu neigen, die Kinder in zu
viele Entscheidungen miteinzubeziehen. Dies würde dann dazu führen, dass die Kinder
bei allen Themen mitentscheiden wollen. Abschließend meinen die Eltern, dass sie über
diese Themen noch nie so bewusst nachgedacht und gesprochen hätten.

8.1.5 Das erste Familienspiel (4. Termin)

zz Tobias, Kindesmutter und Therapeutin


Zum heutigen Termin kommen Frau S. und Tobias, Herr S. kann krankheitsbedingt
nicht dabei sein. Die Stunde beginnt mit einer Diskussion zwischen der Mutter und
Tobias über die Frage, ob Tobias vom Vorhaben des gemeinsamen Spiels informiert war.
Frau S. versichert, dass sie das besprochen hätten, Tobias verneint das. Ich unterbreche
die Diskussion und schlage vor, mit dem Spiel zu beginnen, auch wenn dieses Missver-
ständnis jetzt nicht geklärt werden kann.
Tobias nimmt sich die gleichen Figuren wie beim letzten Spiel. Frau S. greift spontan
und lächelnd zu einer Elfenfigur, stellt die Figur aber gleich wieder zurück und ent-
scheidet sich dann für eine Mädchenfigur. Das Aufbauen der Häuser und die Gestal-
tung der Gärten passiert in einer sehr angenehmen Atmosphäre, in der auch gut
kooperiert wird, beispielsweise beim Aushandeln der Gartengrenzen. Nachdem beide
signalisiert haben, dass sie mit dem Bauen fertig sind, frage ich Tobias, ob er beim letz-
ten Spiel anknüpfen mag oder ein neues Spiel beginnen. Es scheint ihm schwer zu fal-
len, darauf eine Antwort zu finden: Es ist ihm egal, er wünscht sich, dass die Mama das
entscheidet. Diese fragt ihn dann erneut, was ihm lieber ist. Wir einigen uns dann
darauf, dass wir beim letzten Spiel fortsetzen: Tina und Timi kennen Florian und Ares
schon, die Figur von Frau S. ist eine neue, noch unbekannte Nachbarin. Frau S. stellt
ihre Figur als Sara vor, sie hat mehrere Haustiere: eine Robbe, einen Delfin und einen
114 S. Binnenstein und E. Wagner

Hasen. Die Kontaktaufnahme der Figuren untereinander gelingt leicht. Zu Beginn gibt
es ein Vorstellen der Personen, Tiere und Behausungen, bei dem sich alle sehr interes-
siert zeigen. Florian (die Figur von Tobias) lädt Sara (die Figur von Frau S.) ein, auf
seinem Pferd zu reiten und schlüpft in die Rolle eines sehr kompetenten Reitlehrers.
Zum Dank lädt Sara Florian und Tina (meine Figur) ein, in ihrem Teich zu schwimmen.
Wir überlegen, ob und was wir gemeinsam unternehmen wollen und entscheiden uns
für eine Wanderung auf einen Berg. Am Berg entdecken wir einen Gebirgssee und
springen in das eiskalte Wasser. Auf dem Rückweg machen wir auf Tobias´ Vorschlag
ein Lagerfeuer.
Im Telefonat am Spielende berichte ich ausführlich über Einzelheiten des insgesamt
schönen und aufregenden Tages. In einer Abschlussrunde frage ich Tobias und Frau S.,
was ihnen jeweils am besten gefallen hat. Tobias hat es gut gefallen, dass wir alle zusam-
men gespielt haben und er wünscht sich, dass die Mama für zu Hause auch ganz viel
Sand zum Spielen kauft. Frau S. hat gefallen, was sich aus dem Spiel ergeben hat, sie
wirkt sehr zufrieden. Im Spiel zeigt sich eine sehr gelungene Interaktion, Tobias verhält
sich so kooperativ wie auch in der ersten gemeinsamen Spielsequenz.

8 8.1.6 Das zweite Reflexionsgespräch (5. Termin)

zz Eltern und Therapeutin


Frau S. berichtet erfreut, dass es ihr jetzt einmal gelungen ist, konsequent zu bleiben. Sie
schildert eine Situation, in der sie eine mit Tobias vereinbarte Unternehmung, auf die er
sich sehr gefreut hat, kurzfristig abgesagt hat, weil er sich davor „unmöglich“ benom-
men habe. Zu ihrer großen Überraschung hat Tobias diese Entscheidung einfach akzep-
tiert. Diese Situation hat für sie eine große Bedeutung. Ein Gefühl von „angenehmer
und spürbarer Leichtigkeit“ taucht auf, wenn sie sich vorstellt, dass sie sich in Zukunft
viele Endlosdiskussionen ersparen kann. Sie meint, dass sich in Bezug auf die Schwie-
rigkeiten „schon was getan hat“.
Ich frage, wie Frau S. das Spiel in Erinnerung hat. Sie meint, dass es für sie eine sehr
angenehme Erfahrung war und ist erstaunt, dass es so gut gelaufen ist, obwohl sie sich
gar nicht vorbereitet hat. Und sie ergänzt, dass es auch zu Hause in letzter Zeit mit
Tobias sehr viel angenehmer geworden ist, vielleicht auch, weil sie selbst klarer gewor-
den ist. Sie sieht es als weitere positive Auswirkung der Spiele hier, dass Tobias zu
Hause wieder mehr Lego spielt und öfters auch seinen Vater gebeten hat, gemeinsam
zu spielen.
Wir beginnen mit dem Anschauen des Videos, wobei ich Herrn S. einlade, auch
seine Sichtweisen einzubringen. Ich beginne mit der Szene, in der ich Tobias gefragt
habe, ob er weiterspielen oder ein neues Spiel beginnen will. „Ich habe mir ja das Video
in der Zwischenzeit nochmal angeschaut. Und da hat mich besonders eine Szene
beschäftigt, in der ich ihm offenbar zu viel zugemutet habe. Diese Frage: weiterspielen
oder neu anfangen? ... ich glaube das war ihm unangenehm ... “ Ich fasse zusammen, wie
ich zu diesem Eindruck gekommen bin: sein hilfesuchender Blick zur Mama, seine Kör-
perhaltung, die sich leicht verkrampft, seine Mimik, ... Frau S. bestätigt meinen Ein-
druck, es sei ihr zwar in der Situation gar nicht aufgefallen, aber jetzt, beim nochmaligen
Anschauen würde sie das auch so sehen. Sie meint, dass ihr das sicher auch ganz häufig
Tobias: Hilfreiche Zutaten für einen guten Familienkuchen
115 8
„passiert“. Sie möchte, dass ihre Kinder bei vielen Dingen mitentscheiden, das könnte
Tobias auch manchmal überfordern. Ich stelle einen Zusammenhang mit Tobias´
Sprachgewandtheit her, es könnte auch an dieser speziellen Kompetenz liegen, dass man
ihn überfordert. Das ist naheliegend und „passiert“ sogar der Therapeutin.
Mit dem Fokus auf die Entscheidungsprozesse im Spiel schauen wir das Video wei-
ter an. In welchen Situationen werden passende Fragen gestellt, wann sind sie eher
irritierend? Bei der Vorbereitung des Lagerfeuers ist Tobias beispielsweise intensiv
beschäftigt, da scheinen ihn die vielen Fragen der Mutter eher zu stören. Tobias zeigt
dies, indem er sagt: „Mama, frag mich nicht immer!“ Die Eltern können viele Brücken
zum Alltag herstellen.
Es wird deutlich, dass Klarheit für Tobias sehr haltgebend ist. „Wenn das Gewand
oder die Jause in der Früh bereits vorbereitet sind, gibt es keine Probleme. Wenn man
anfängt zu fragen, dann wird es schwierig.“ Frau S. meint, dass sie das vielleicht
„irgendwo im Unterbewusstsein schon lange gewusst hat.“ Während Melanie in einer
Montessori-Grundschule war, hat sie sich bei Tobias für eine Regelschule entschieden.
Und Tobias kommt vielleicht deswegen mit seiner Lehrerin so gut aus, weil diese ganz
klare Vorgaben macht.
Insgesamt scheint sich Frau S. darüber zu freuen, das Spiel noch einmal zu sehen. Sie
bemerkt viele Situationen, in denen Tobias sehr aufmerksam war. Eine Szene kommen-
tiert sie mit: „Ja, genauso sollte es immer sein!“ Für das nächste Spiel nimmt sich Frau
S. vor, weniger zu fragen und für den Alltag genauer zu überlegen, welche Entscheidun-
gen sie Tobias überlässt.

8.1.7 Das zweite Familienspiel (6. Termin)

zz Tobias, Eltern, Therapeutin


Nach einer kurzen Begrüßung beginnen wir mit dem Spiel. Alle suchen sich zügig ihre
Figuren aus und beginnen mit dem Aufbau. Tobias bleibt bei seinen Figuren aus den
letzten zwei Spielen (Florian und Ares) und nimmt auch noch einige Robben dazu. Frau
S. entscheidet sich diesmal für eine schwarze Hexenfigur, die sie als: „Lara, die fliegen
kann“ vorstellt. Herr S. wählt als Figur „Tom, den knorrigen Wurzelmann“ und als Tier
einen Wolf, den er als „sehr besonders, aber nicht gefährlich“ beschreibt. Bei der Vor-
stellung der Figuren wird in einer entspannten Atmosphäre auch viel gelacht. Da der
Sand sehr trocken und schwer formbar ist, hole ich Wasser. Währenddessen beschlie-
ßen die Eltern mit Tobias einige Umbauarbeiten: Der gemeinsam verfügbare Raum soll
größer werden und ein großes Schwimmbad für alle soll gebaut werden. Beim Umbau
wird gut zusammengearbeitet, Tobias baut einen Sprungturm. Die Hexe ist traurig, weil
sie wegen ihrer Flügel nicht schwimmen kann, Florian hat eine Idee, wie sie die Flügel
für das Schwimmen abnehmen kann. Tom, der Wurzelmann sorgt mit seinen Kom-
mentaren für viel Spaß. Alle schwimmen gemeinsam und es ergibt sich eine Wasser-
schlacht. Der Abschluss ist ein Picknick auf der Wiese neben dem Teich.
Nach dem Telefonat, in dem ich die Spielbeiträge aller würdige, frage ich wieder
nach dem, was jedem am Spiel am meisten gefallen hat. Alle nennen die gemeinsame
­Wasserschlacht.
116 S. Binnenstein und E. Wagner

8.1.8 Das dritte Reflexionsgespräch (7. Termin)

Wir sammeln die Eindrücke des letzten Spiels. Herr S. meint, dass es für ihn unterhalt-
sam, und schon irgendwie ein gutes Miteinander war, aber seine Hoffnung, dass es zu
„irgendeiner speziellen Erkenntnis“ kommt, wurde nicht erfüllt. Für Frau S. war es
lustig und lustvoll, sie ergänzt: „Ich glaube, es hat deshalb so gut funktioniert, weil ich
weniger gefragt und mehr gemacht habe“ ... Tobias habe das Spiel auch gefallen und er
habe sich im Vorfeld auch schon drauf gefreut. Das Ziel eines guten Miteinanders
haben die Eltern ihrer Einschätzung nach im Spiel erreicht. Herr S. fragt sich jedoch,
wie ihm das für den Alltag helfen soll. Wir wenden uns dem Video zu. Ich stoppe bei
mehreren Sequenzen, in denen ich den Eindruck habe, dass es viel Hilfsbereitschaft,
Interesse aneinander, gute Absprachen und Entscheidungsprozesse gibt und kommen-
tiere dies entsprechend. Wie schon beim letzten Spiel wird auch diesmal die Aufmerk-
samkeit von Tobias deutlich, er geht häufig darauf ein, was von jemand anderem davor
im Spiel gesagt wurde. Ich greife die im Erstgespräch formulierte Sorge der Eltern „es
wirkt manchmal als seien Tobias andere Menschen gleichgültig“ auf und frage nach,
wie sich das aufmerksame und kooperative Spielverhalten von Tobias auf diese Sorge
8 auswirkt. Im weiteren Gespräch kommt es zu einer Differenzierung ihrer Sichtweise:
Es gibt auch im Alltag genügend Bezogenheit, nur bei Konflikten ziehe sich Tobias
deutlich zurück. Und das ist möglicherweise ein Anzeichen von Überforderung oder
Ausdruck dafür, dass er Konflikte nicht nachbesprechen will. Die Eltern wollen ergrün-
den, weshalb Tobias etwas Bestimmtes gemacht oder gesagt hat. Zudem möchten sie
ihr eigenes Verhalten erklären und sich entschuldigen. Beides blockt Tobias ab. Frau S.
überlegt, dass sie zukünftig ausprobieren möchte, sich nicht immer zu erklären – und
wenn doch, dann zumindest nicht in der Erwartung, dass Tobias sie verstehen müsse.
Als weitere Ressource wird beim Betrachten des Videos der familiäre Humor deut-
lich. Bei einer Sequenz, in der im Spiel alle über eine Wortmeldung von Tom (der Figur
von Herrn S.) lachen, sagt Frau S. zu ihrem Mann: „Du warst derjenige, der den Spaß
eingebracht hat, so wie zu Hause auch immer!“
Wir haben nur einen Teil des Videos angeschaut, deshalb vereinbaren wir den
nächsten Termin als neuerliches Reflexionsgespräch und nehmen uns vor, das Video
dann fertig anzuschauen.

8.1.9 Elterngespräch (8. Termin)

Wegen einer Familienangelegenheit musste Frau S. am vorigen Wochenende zu ihren


Eltern fahren. Tobias habe durchgesetzt, dass er mit der Mama mitfahren darf. Frau S.
war erst nicht einverstanden und hat sich über sich geärgert, weil sie wieder nachgege-
ben haben. Aber dann war sie erfreut, wie angenehm das Wochenende mit Tobias war.
Tobias habe sich ganz vorbildlich verhalten. Herr S. hat mit Melanie ebenfalls ein schö-
nes Wochenende verbracht. Die Eltern sind sich einig, dass das Konfliktpotenzial gerin-
ger ist, wenn sie als Familie nicht immer alle zusammen sind. Sie nehmen sich vor, öfter
Zeit in unterschiedlichen „Konstellationen“ zu verbringen.
Tobias: Hilfreiche Zutaten für einen guten Familienkuchen
117 8
Wir wenden uns nochmal dem Video der letzten gemeinsamen Spielsequenz zu.
Alle sind sich einig, dass das gemeinsame Spiel sehr gut funktioniert habe. Während
Frau S. meint, dass ihr das Spiel geholfen habe, einiges zu erkennen und zu verändern,
weist Herr S. darauf hin, dass die typische Konfliktdynamik, die Anlass für die Therapie
war, im Spiel nicht zu bemerken war. Er habe schon überlegt, ob er nicht eine Konfliktsi-
tuation zu Hause auf Video aufnehmen solle. Auf meine Frage, warum die Kooperation
im Spiel so gut funktioniert (Spiel als positive Ausnahme) antwortet Herr S: „Im Spiel
bin ich erwartungsfrei, das ist im Alltag nicht so. Daher funktioniert im Spiel, was im
Alltag nicht funktioniert“. Ihm sei klar geworden, dass Tobias ihn als Spielpartner wirk-
lich braucht und schätzt und er denkt nun auch viel darüber nach, dass er mehr Geduld
mit Tobias haben sollte und dass er zu schnell eingeschnappt und beleidigt ist. Im
Unterschied zum Spiel falle es ihm im „echten Leben“ schwer, manches Verhalten oder
manche Äußerungen von Tobias mit gelassener Distanz zu sehen.
Ich schlage vor, dass wir mit der Zielsetzung „Wie können wir als Eltern gute Bedin-
gungen für das das Miteinander und für Tobias schaffen?“ auf der Elternebene weiterar-
beiten. Inhaltlich sind die Eltern damit einverstanden. Es ergibt sich aber eine
organisatorische Schwierigkeit bezüglich des nächsten Termins. Aufgrund einer Ände-
rung im Nachmittagsunterricht müsste Tobias, wenn die Eltern den Termin alleine
wahrnehmen, eine Stunde alleine zu Hause bleiben. Das wäre etwas Neues. Die Eltern
überlegen, ob sie ihm das zutrauen können und entscheiden sich dafür, es zu versuchen.

8.1.10 Elterngespräch (9. Termin)

In diesem Gespräch möchte Herr S. nochmal über die Konfliktdynamik zwischen ihm und
Tobias reden, die sich häufig aus dem gemeinsamen Spiel zu Hause entwickelt. Wir analy-
sieren eine typische Situation. Dabei wird deutlich, dass Herr S. seine Grenzen, vor allem
wenn ihm ein Spiel zu wild wird oder den Zeitpunkt, an dem er ein Spiel beenden will, zu
spät und zu wenig deutlich kommuniziert. Er nimmt sich vor, darauf mehr zu achten.
Auch die Erwartungen an das Familienleben werden thematisiert. Vor allem Frau S.
fühle sich häufig erschöpft trotz der positiven Veränderungen in den letzten Wochen. Der
Zusammenhang von viel Engagement und eigenen hohen Erwartungen, deren Erfüllung
jedoch nicht nur im eigenen Einflussbereich liegt, wird dabei deutlich: „Wir glauben, wir
müssen den Kindern immer alles recht machen, es kracht ständig, den Kindern ist die
Harmonie egal. Ich fühle mich wie im Hamsterrad – und weil ich mich so bemühe, würde
ich erwarten, dass es konfliktfreier wäre.“ Die hohen Erwartungen werden auch mit dem
über viele Jahre bestehenden Kinderwunsch in Zusammenhang gebracht.
Während bisher die Konflikte mit und die Sorgen um Tobias im Vordergrund stan-
den, ist es in dieser Stunde möglich, mit den Eltern auch über ihre eigenen Bedürfnisse
und Kraftquellen zu reden. Bisher waren meine Fragen in diese Richtung von den Eltern
eher abgewehrt worden. Nun wird deutlich, wie sehr und mit welcher Selbstverständ-
lichkeit Frau S. seit Beginn der Mutterschaft ihre anderen Bedürfnisse zurückgestellt
hat. Anhand der Figurenauswahl im Spiel (Elfe, Mädchen, Hexe) sprechen wir über ihre
verschiedenen Anteile und deren Bedeutung.
118 S. Binnenstein und E. Wagner

8.1.11 Elterngespräch (10. Termin)

Zunächst berichten die Eltern, dass sie sehr stolz auf Tobias sind, weil es keinerlei Pro­
bleme gab, als Tobias während der letzten Therapiesitzung erstmals alleine zu Hause war.
Auch Tobias war sehr zufrieden mit dieser neuen Erfahrung.
Dann berichtet Frau S. über ein aktuelles Thema in ihrer Herkunftsfamilie – ihre Halb-
schwester, die seit vielen Jahren unter einer sehr beeinträchtigenden Zwangserkrankung
leidet, wurde erneut stationär aufgenommen. Die Erkrankung der Schwester beschäftigt
Frau S. schon lange. Sie stellt folgende Zusammenhänge her: Aufgrund der bislang nicht
kommunizierten Sorge, Tobias könne auch an einer Zwangsstörung erkranken, hat sie
die durchaus altersadäquate Beliebtheit beziehungsweise Notwendigkeit von Ritualen
(die Tobias ihrer Einschätzung nach besonders braucht) mit Zwangssymptomen assozi-
iert und daher sehr kritisch gesehen. Aus Angst vor einer „schweren psychischen
Erkrankung“ habe sie manch andere „Erziehungsziele“ möglicherweise nicht so wichtig
genommen: eine Stunde mehr Fernsehen oder ein Eis mehr, ... alles nicht so schlimm
wie bei ihrer Schwester ... Dies könnte der Grund für ihre fehlende Konsequenz sein,
aber auch ein Grund dafür, weshalb sie ihren Kindern nichts zutraut. Ich erzähle von
8 den „drei großen Zs“ in der Erziehung: Zumuten, Zutrauen, Zulassen (Thoma 2007).
Wie sich beim Alleine-zu-Hause-Bleiben gezeigt hat, könnte sie ihren Kindern durch-
aus mehr zutrauen. In weiterer Folge überlegen wir, was alles möglich wäre, wenn sie
ihren Kindern z.B. zumuten würden, bei Freunden zu übernachten oder einen Abend
mit einer Babysitterin zu verbringen? Herr und Frau S. finden Gefallen an der Idee,
wieder mehr Zeit für sich als Paar zu finden und es fallen ihnen auch einige Aktivitäten
ein, für die sie sich gerne Zeit nehmen würden. Ich empfehle ihnen das Buch „Wege aus
der Elternfalle“.

8.1.12 Elterngespräch (11. Termin)

Frau und Herr S. wirken sehr entspannt, sie meinen lachend, es sei gerade familiärer
„Vorweihnachtsfrieden“. Sie hätten oft viel Spaß miteinander und es gab schon länger
keine Situation mehr, die „sich hochgeschaukelt hat“. Sie waren einmal gemeinsam im
Theater, die Kinder haben bei einer Bekannten übernachtet. Frau S. hat das empfohlene
Buch bereits zur Hälfte gelesen und empfindet es als Bestärkung. Seitens der Eltern gibt
es erstmals keinen Gesprächsbedarf zu einem aktuellen Thema. Ich schlage eine Samm-
lung der Dinge vor, worauf sie als Eltern weiterhin achten wollen. Unter der Metapher
„Was sind denn alles gute Zutaten für ihren Familienkuchen?“ sammeln wir folgende
„Zutaten“:
55 Klarheit: Auf klare Formulierungen achten. Sich öfter vergewissern, dass es keine
Missverständnisse oder Missinterpretationen in der Kommunikation gibt.
55 Coolness: Als Eltern drüberstehen. Eine Metaposition einnehmen und sich nicht
so reinziehen lassen. Nicht beleidigt reagieren.
55 Humor: Gemeinsam lachen und blödeln tut gut.
55 Immer wieder daran denken, dass sie die Eltern und Tobias und Melanie Kinder
sind.
Tobias: Hilfreiche Zutaten für einen guten Familienkuchen
119 8
55 Konsequenter sein. Frau S. sagt: „Da beiß‘ ich mir jetzt lieber auf die Zunge, bevor
ich was sage, was ich dann nicht durchhalten kann“ und fügt hinzu, dass das
leichter gelingt, wenn es ihr selbst gut geht.
55 Mehr Zeit als Paar verbringen.
55 Auf eigene Entspannung und Energie achten; mit Freundinnen weggehen; etwas
nur für sich selbst machen.
55 Unternehmungen in unterschiedlichen Familienkonstellationen. Nicht immer alle
„unter eine Decke stecken!“

Frau und Herr S. sind zufrieden über die „Zutaten“, die wir gesammelt haben. Die
Umsetzung werde nicht einfach, aber vielleicht hilft Zeit und Übung. Wir vereinbaren
einen Termin in sechs Wochen.

8.1.13 Abschluss (12. Termin)

Frau und Herr S. finden beide, dass es ihnen als Familie deutlich besser geht. Sie bekom-
men immer mehr Übung darin, auf die guten Zutaten zu ihrem Familienkuchen zu
achten. Sie sind sich einig, dass sie derzeit keine weitere Unterstützung brauchen und
haben das Gefühl, eine „gute Basis“ mit Tobias zu haben. Hr. S. erzählt, dass sie gemein-
sam manchmal über das gemeinsame Spiel mit dem Picknick und dem Schwimmen
reden – dies ist eine schöne Erinnerung.

8.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis

Zu Therapiebeginn beschreiben die Eltern eine deutlich belastete Beziehung zu ihrem


Sohn, unter der sie selbst am meisten leiden. Um einen Einblick in die familiäre Dyna-
mik zu erhalten und die „Störungswertigkeit“ von Tobias Verhalten besser einschätzen
zu können, entschied sich die Therapeutin dafür, Tobias in die Therapie einzubeziehen,
statt nur mit den Eltern zu arbeiten. Da die Eltern befürchteten, dass Tobias seine Mit-
arbeit in der Therapie verweigern würde, wurde mit kinderorientierter Familienthera-
pie eine Methode gewählt, bei der am wahrscheinlichsten mit seiner Kooperation zu
rechnen war. Bei der ersten Spielsequenz, in der die Therapeutin mit Tobias spielt und
die Eltern in einer beobachtenden Position sind, präsentiert sich Tobias als sehr koope-
rativ. Das von den Eltern problematisierte dominante Verhalten, sein Drang, allen sei-
nen Willen aufzuzwängen, zeigte sich in dieser Spielsequenz nicht. In dieser Phase hatte
das Spiel auch eine diagnostische Funktion: Die Therapeutin wollte u.a. abklären, ob die
Schwierigkeiten kontextabhängig sind oder auf ein grundlegendes situationsunabhän-
giges Defizit an sozialen Kompetenzen verweisen. Wie in der Literatur zur Kinderorien-
tierten Familientherapie wiederholt beschrieben, können schon beim ersten Beobachten
des kindlichen Spieles bei den Eltern neue Sichtweisen entstehen. Die Kindesmutter, die
in den Konflikten ihren Sohn als übermächtig und sich selbst als hilflos erlebt, nimmt
ihn nun wieder deutlicher als Kind war: „Er ist ja erst neun Jahre“. „Seeing ist believing“
zitiert Reiners (2013, S. 111) einen Ausspruch, der diese Qualität beschreibt. Diese ver-
120 S. Binnenstein und E. Wagner

änderte Wahrnehmung erlaubt in weiterer Folge auch eine konstruktive Auseinander-


setzung mit eigenem Erziehungs- oder Beziehungsverhalten.
Bereits in der ersten Spielsequenz mit der Therapeutin beobachten die Eltern Tobias´
hohe Kooperationsbereitschaft und seine gut ausgeprägten sozialen Fähigkeiten. Im
Reflexionsgespräch werden die positiven Eigenschaften des Kindes fokussiert, die Eltern
werden darin unterstützt, diese auch bei ihrem Kind wahrzunehmen. „Wenn die Thera-
peutin das Kind mag und schätzt, fällt dies zugleich positiv auf die Eltern zurück“ (Rei-
ners 2013, S. 49). In den nächsten beiden Spielsequenzen sammeln alle Beteiligten
positive Erfahrung im gemeinsamen Spiel. Das macht den Eltern Hoffnung, ihr Thera-
pieziel „einen besseren Zugang zueinander zu finden“ zu erreichen. „Ist eine
Eltern-Kind-Beziehung stark von Konflikten bestimmt, leidet sie gewöhnlich darunter.
In solchen Fällen reicht es nicht, den Eltern zu helfen, bessere Grenzen zu setzten. Viel-
mehr muss auch etwas getan werden, das es Eltern und Kindern ermöglicht, bessere
Formen des In-Beziehung-Seins aufzubauen. Es ist ein Irrtum anzunehmen, eine posi-
tive Beziehung stelle sich von selbst ein, sobald das Setzen von Grenzen problemloser
verläuft.“ (Gammer 2009, S. 146) Herrn S. wird zunehmend bewusst, wie wichtig er als
Vater ist, wie sehr Tobias diese Form des Kontaktes mit ihm genießt. Sein Humor wird
als wichtige Ressource im Spiel sichtbar, darauf kann auch bei den Überlegungen bezüg-
8 lich Veränderungen im Alltag immer wieder zurückgegriffen werden. Obwohl sich die
beklagten Interaktionsschwierigkeiten in den Spielsequenzen nicht zeigten, wurde das
gemeinsame Spiel zur positiven Referenzerfahrung – ein Unterschied, der einen Unter-
schied macht – und erlaubte damit, den Blick auf die familiären Ressourcen zu lenken.
In Übereinstimmung mit dem Wirkverständnis lösungsorientierter Therapie zeigt sich
auch hier, dass die detaillierte Analyse des Problems nicht Voraussetzung für die Verän-
derung ist. Es musste nicht die eskalierende Konfliktsituation bearbeitet werden, um
konstruktive Veränderungsprozesse in Gang zu setzen, die zeitnah zu einer Reduktion
der familiären Konfliktanfällligkeit führten. Die „Wirkprinzipien“ lassen sich wie folgt
beschreiben: In der ersten Sequenz wird für die Eltern eine Beobachtungssituation
geschaffen, die den Blick auf die Ressourcen und Kompetenzen des Kindes ermöglicht,
was zu einer initialen Beruhigung führt. In den beiden gemeinsamen Spielsequenzen
wird eine positive Erfahrung des Miteinanders gefördert – alle Beteiligten genießen das
konfliktfreie Spiel. Die nachfolgende Reflexion beim Wiederbetrachten des Videos
erlaubt den Eltern die genaue Beobachtung ihrer Interaktionsbeiträge. Zusammen-
hänge mit dem Alltagsleben können hergestellt werden. So beginnt die Mutter z.B.
ihren Umgang mit Entscheidungen kritisch zu reflektieren. Aus der Beobachtung einer
Spielsequenz entsteht die Hypothese, dass Tobias damit überfordert wird, dass er in zu
viele Entscheidungen miteingebunden wird. In Abwesenheit des Kindes können solche
Überlegungen in Ruhe reflektiert und sinnvolle Veränderungen erwogen werden.
Nachdem durch das gemeinsame Spiel eine Erfahrung von „gelingendem Miteinan-
der“ ermöglicht wurde und damit nicht nur der Zugang zu den Ressourcen der Familie
eröffnet, sondern auch ein konstruktiver Reflexionsprozess bei den Eltern in Gang
gesetzt worden ist, konnte Tobias aus der Therapie verabschiedet werden. Die Eltern
nutzen weitere Gespräche dafür, sich mit ihrem Erziehungsverhalten und ihren Erzie-
hungsvorstellungen auseinanderzusetzen. Während es dem Vater vor allem darum
ging, konkrete Ideen bezüglich seines Beitrages zu einem unbeschwerteren Miteinander
Tobias: Hilfreiche Zutaten für einen guten Familienkuchen
121 8
zu entwickeln, war für die Mutter wichtig zu verstehen, weshalb ihre Erwartungen so
hoch waren und womit ihre Ängste verbunden waren.
In diesem Zusammenhang wurde deutlich, dass beide Eltern sehr hohe Ansprüche
an das Gelingen ihrer Elternschaft hatten. Aufgrund des lange unerfüllten Kinderwun-
sches, waren auch ihre Erwartungen an ein glückliches Familienleben sehr hoch.
Dementsprechend hoch war auch ihr Einsatz. Durch die starke Familienzentriertheit
gab es wenig „natürliche“ Grenzen also beispielsweise Zeit im Hort, notwendige Über-
nachtungen bei Freunden oder den Großeltern. Dies entspricht einer allgemein zu
beobachtenden Tendenz in unserer Gesellschaft: „Immer weniger Kinder bekommen
immer mehr Aufmerksamkeit, es besteht eine Tendenz zur allgemeinen Demokratisie-
rung der Eltern-Kind-Beziehung, sodass Kinder mehr denn je mitbestimmen und
mitentscheiden dürfen. Dies steht allerdings oft im Widerspruch zu den aktuellen
Fähigkeiten der Kinder, wodurch es regelmäßig zu Überforderungssituationen kommt“
(Natho 2009). Die Reflexion der familiären Entscheidungsprozesse führten bei Familie
S. zu der Erkenntnis, dass viele Konflikte daraus resultieren, dass die Eltern zu viele
Entscheidungen mit Tobias diskutieren. In dem Bedürfnis, ihm alles recht zu machen,
schwächen sie sich in ihrer Elternrolle.
Ein weiterer problemaufrechterhaltender Faktor dürfte die Sorge der Mutter gewesen
sein, dass Tobias eine ähnliche Erkrankung wie ihre Schwester entwickeln könnte. Die
vermutete „Ähnlichkeit“ mit einer als schwierig erlebten Person aus der Familie kann die
Sicht darauf, wie das Kind „eigentlich“ ist, erschweren und einen problematischen Kreis-
lauf auslösen und aufrechterhalten. Bei der Arbeit mit solch „einschränkenden Überzeu-
gungen“ ist neben der Dekonstruktion und Normalisierung auch die Förderung von
Hoffnung wichtig: „Wenn Eltern negative Folgen für das Leben ihres Kindes befürchten,
können ihre Ängste den Entwicklungsraum zum Teil stärker einschränken als es die
vergangenen Ereignisse selbst vermocht hätten“ (Brächter 2010, S. 212).
Abschließend wurden die positiven Auswirkungen der neuen Verhaltensweisen
noch einmal zusammengefasst, um diese zu sichern und damit die Selbstwirksamkeits-
überzeugungen der Eltern zu verbessern.

Literatur
Brächter W (2010) Geschichten im Sand. Grundlagen und Praxis einer narrativen Spieltherapie. Carl
Auer, Heidelberg
De Waal H, Thoma C (2003) Wege aus der Elternfalle. Was in der Erziehung wirklich getan werden kann.
Ennsthaler Verlag, Steyr
Gamer C (2009) Die Stimme des Kindes in der Familientherapie. Carl Auer, Heidelberg
Natho F (2009) Autorität durch Beziehung. Gewaltloser Widerstand in der Erziehung. https://www.
hs-magdeburg.de/fileadmin/user_upload/Fachbereiche/AHW/files/ringvorlesungen/natho.pdf
Zugriff: 19.09.2017
Reiners B (2013) Kinderorientierte Familientherapie. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
Thoma C (2007) Systemische Kurztherapie mit Kindern, Jugendlichen & Eltern, ISKAM-Eigenverlag,
Amstetten
123 9

Frau Doktor Lilly


Einzeltherapie eines neunjährigen Mädchens nach
Missbrauch und Fremdunterbringung und begleitende
Gespräche mit Bezugspersonen

Andrea Zach und Sigrid Binnenstein

9.1 Fallverlauf – 124


9.1.1 E rstkontakte mit den Pflegeeltern – 124
9.1.2 Die erste Therapiestunde mit Lilly und ihren
Pflegeeltern – 126
9.1.3 Die erste Therapiestunde mit Lilly – 127
9.1.4 Die zweite Therapiestunde mit Lilly – 127
9.1.5 Elterngespräch – 129
9.1.6 Dritte und vierte Therapiestunde mit Lilly – 129
9.1.7 Fünfte bis achte Therapiestunde mit Lilly – 130
9.1.8 Therapiestunde neun und zehn – 131
9.1.9 Elterngespräch – 131
9.1.10 Die elfte Therapiestunde und die Sommerferien – 131
9.1.11 Therapiestunden nach der Sommerpause – 132
9.1.12 Therapiestunden 14 bis 20 – 133
9.1.13 Therapiestunden 21 bis 29 – 134
9.1.14 Therapiestunden 30 bis 39 – 134
9.1.15 Abschiedsstunde – 135

9.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis – 135

Literatur – 137

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


E. Wagner, S. Binnenstein (Hrsg.), Wie systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
wirkt, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55547-7_9
124 A. Zach und S. Binnenstein

Als die neunjährige Lilly mit ihren Pflegeeltern in Therapie kommt, hat sie schon einen
langen Leidensweg hinter sich: Kindesabnahme mit zweieinhalb Jahren, später sexuel-
ler Missbrauch durch einen Cousin, der einen neuerlichen Wechsel der Pflegefamilie
erforderlich machte. Die Therapie beginnt auf Anraten einer Kinderschutzeinrichtung,
da Lilly neben häufigem Einnässen auch massive Schwierigkeiten in der Schule zeigt. In
einem vorwiegend einzeltherapeutischen Setting (30 Sitzungen) wird durch verschie-
dene Varianten symbolisierenden Spiels die Bewältigung der Missbrauchserfahrung
und der Enttäuschung über den mehrfachen Verlust wichtiger Bezugspersonen geför-
dert. Begleitende Gespräche mit den Pflegeeltern sollen den Prozess des „Heilwerdens“
unterstützen.

9.1 Fallverlauf

9.1.1 Erstkontakte mit den Pflegeeltern

Ich lerne Lilly (neun Jahre) und ihre Pflegeeltern in meiner Praxis kennen, nachdem
vom Verein Möwe (Anm.: der Verein Möwe bietet ein umfassendes Angebot für Kin-
der, die Opfer von physischer, psychischer oder sexueller Gewalt wurden, u.a. auch
Krisenintervention und Prozessbegleitung) die Empfehlung für eine Kinderpsycho-
9 therapie ausgesprochen wurde. Herr und Frau L. sind auch Lillys Tante und Onkel. Zu
diesem Zeitpunkt hat es bereits ein Jahr Vorarbeit mit den Pflegeeltern und der Groß-
mutter beim Verein Möwe gegeben. Im Erstgespräch, bei dem Lilly nicht dabei ist,
erzählen mir die Pflegeeltern Lillys Geschichte. Lilly ist die Tochter von Frau L.s jün-
gerem Bruder und seiner ersten Frau. Lilly hat nach ihrer Geburt zunächst mit ihren
Eltern bei der väterlichen Großmutter in der Steiermark gelebt. Es hat sehr viele
Schwierigkeiten im Zusammenleben gegeben, sodass die Kindesmutter (KM) das
Haus der Großmutter mit Lilly verlassen hat, als diese neun Monate alt war. Sie ist in
einem Mutter-Kind-Heim in Wien untergekommen. Mit knapp zweieinhalb Jahren
wurde Lilly von der Jugendwohlfahrt (entspricht in Deutschland dem Jugendamt) auf-
grund kindeswohlgefährdender Umstände der Mutter abgenommen. Die väterliche
Großmutter hat Lilly daraufhin „in Pflege und Erziehung übernommen“ und hat nach
einem dreijährigen Obsorgestreit auch die alleinige Obsorge (Sorgerecht) Lillys zuge-
sprochen bekommen. In dieser Zeit hatte Lilly keinen Kontakt mehr zur Kindesmutter
und nur sehr selten Kontakt zu ihrem Vater. Dieser hat wieder geheiratet und hat in
zweiter Ehe einen Sohn. Frau L., Lillys Tante, und ihre Familie hatten während der
ganzen Jahre engen Kontakt mit Lilly und ihrer Großmutter. Frau L. hat ihre Mutter in
der Pflege mit Lilly auch immer sehr unterstützt. Im gemeinsamen Großfamilienur-
laub in Italien vertraut Lilly ihrer Cousine (24) an, dass sie über längere Zeit von ihrem
Cousin Peter, der ebenfalls in der Steiermark lebt, sexuell missbraucht wird. Peter wird
mit Lillys Äußerungen konfrontiert. Als er diese bestreitet, berichtet auch ein anderer
Cousin von einem Missbrauch durch Peter, von dem er bislang niemandem erzählt
hatte. Die Erzählungen werden sehr ernst genommen und bringen große Veränderun-
gen in der Familie mit sich. Peter kann zu einer Selbstanzeige ermutigt werden. Das
Verfahren, den sexuellen Missbrauch Cousin L. betreffend, wird eingestellt, da der
Täter zum Tatzeitpunkt noch nicht strafmündig war. Lilly betreffend kommt es zu
Frau Doktor Lilly
125 9
einem rechtskräftigen Urteil. Im Zuge dieses Verfahrens stellt sich heraus, dass Peter
auch selbst Opfer sexueller Übergriffe gewesen ist. Der Täter hatte sich erschossen.
Das Urteil hält unter anderem fest, dass Peter in den nächsten Jahren zu Lilly keinen
Kontakt haben darf.
Diese dramatische Entwicklung in der Familie hat nicht zuletzt dazu geführt, dass
Lillys Großmutter zunehmend mit Lillys Betreuung und Erziehung überfordert war.
Die Familie hatte weiter Sorge, dass Lillys Schutz im Haus der Großmutter nicht aus-
reichend gegeben sein könnte. Lilly war häufig unbeaufsichtigt und viel allein in der
Nachbarschaft unterwegs. Das hat Frau L. veranlasst, das Sorgerecht für Lilly zu bean-
tragen, was ihr auch zugesprochen wird. Lilly übersiedelt nach Niederösterreich. Sie
lebt nun mit ihrer Tante, ihrem Onkel und ihrem Cousin L. (17) zusammen. Die zwei
älteren Kinder ihrer Tante sind schon ausgezogen, kommen aber immer wieder zu
Besuch. Für Lilly war der Umzug von der Steiermark zu ihrer Tante nach Niederöster-
reich ein gravierender Einschnitt. Sie hat ihre Großmutter anfangs sehr vermisst. Lilly
telefoniert täglich mit ihrer Großmutter und wann immer es der Familie möglich ist,
darf Lilly sie besuchen. Zu beiden leiblichen Elternteilen gab es schon die letzten
Jahre keinen Kontakt mehr. Im neuen Wohnort hat Lilly auch mit der Volksschule
(in Deutschland: Grundschule) begonnen. Der Schulbesuch gestaltet sich schwierig.
Lilly hat große Leistungsschwierigkeiten und kann sich sehr schwer konzentrieren. Im
Rahmen einer kinderpsychologischen Diagnostik wird eine deutliche Entwicklungs-
verzögerung festgestellt, die zum Teil auf mangelnde Förderung und zum Teil auf
Teilleistungsprobleme zurückzuführen ist. Lilly wird wieder in den Kindergarten
zurückgestellt. Lilly zeigt zu diesem Zeitpunkt auch noch die Symptome von Einnäs-
sen und Einkoten. Die Begleitung der Familie durch den Verein Möwe erfolgt ab dem
Zeitpunkt, als klargeworden ist, dass sowohl Lilly als auch ihr Cousin sexuellen Miss-
brauch durch ihren Cousin P. erlebt haben. Die Familie nimmt sowohl Prozessbeglei-
tung in Anspruch als auch Beratung für den Umgang mit dieser traumatischen
Erfahrung. Die Termine erstrecken sich über ein Jahr.
Im Gespräch mit der Psychologin des Vereins Möwe gibt Lilly auch Details des
Missbrauchs preis. Sie erzählt, dass der Missbrauch über einen langen Zeitraum, oft und
auch an vielen verschiedenen Orten stattgefunden habe. So auch in dem Zimmer, das
jetzt bei ihrer Großmutter ihr Spielzimmer ist. Auch hier werden von der Möwe die
notwendigen Schritte angeregt, damit Lilly sich sicher und geschützt fühlen kann.
Nachdem sich das Familiensystem durch die unterstützende Beratung des Vereins
Möwe neu geordnet hat, und alle notwendigen Maßnahmen zu Lillys Schutz und
Sicherheit eingeleitet worden sind, wurde der Familie Psychotherapie für Lilly empfoh-
len. Und hier beginnt mein Weg mit Lilly.
Die ersten beiden Sitzungen finden mit den Pflegeeltern statt. Wir tragen die kom-
plexe Hintergrundgeschichte zusammen und schauen uns die aktuelle Familiensitua-
tion an. Die Pflegeeltern beschäftigen vor allem folgende Themen:
55 Für Lilly stellen die schulischen Anforderungen trotz Rückstellung und Förderhil-
fen eine große Herausforderung dar. Sie ist extrem langsam und kann sich sehr
schwer konzentrieren. Die Hausaufgabensituation ist konfliktreich und erschöp-
fend und zehrt an Lillys Selbstwert.
55 Lilly hat große Sehnsucht nach ihrem leiblichen Vater, nach ihrem Halbbruder D.
und großes Heimweh nach ihrer Großmutter.
126 A. Zach und S. Binnenstein

55 Es gibt eine Reihe von Erziehungsfragen. Die Pflegeeltern erleben die neue
­Situation als große Herausforderung für sie alle. Auch ihre großen Kinder reagie-
ren darauf. Sie suchen nach guten Wegen zwischen Verständnis und Konsequenz.

Herr und Frau L. wünschen sich für Lilly einen therapeutischen Rahmen, der es ihr
ermöglicht, das Erlebte gut zu verarbeiten und auch Unterstützung für die aktuellen
Herausforderungen zu bekommen. Für sich selbst hätten sie gerne Raum für Fragen, die
sie in der Begleitung von Lilly beschäftigen. Wir vereinbaren wöchentliche Kinderthe-
rapiestunden für Lilly und begleitende Elterngespräche in 4-wöchigen Abständen. Bei
Bedarf wird es Familiengespräche geben.

9.1.2 Die erste Therapiestunde mit Lilly und ihren Pflegeeltern

Zur ersten Therapiestunde lade ich Lilly gemeinsam mit ihren Pflegeeltern ein. Wir
haben im Elterngespräch vorher besprochen, wie sie Lilly das Therapieangebot erklären
können. Lilly ist ein sehr kontaktfreudiges, offenes Mädchen. Sie gibt sich recht mutig
und forsch und kann sich sehr gut auf die Situation einstellen. Wir tragen zusammen,
was sie an Erklärungen für ihr Kommen von den Pflegeeltern gehört hat. Gemeinsam
entwickeln wir das Bild einer Wunde, die noch Unterstützung beim Heilen braucht,
9 damit auch sie wieder ganz heil wird. Hier können wir gemeinsam das tun, was sie
braucht, damit ihre Wunde besser verheilen kann. Jeder von uns kann einen Beitrag
dazu leisten. Wir besprechen auch, dass das hier ein Raum für sie werden kann, in dem
alles Platz hat, was sie beschäftigt und ihr wichtig ist. All das bleibt auch hier in diesem
Raum. Wenn ihre Pflegeeltern zu Gesprächen kommen, bespreche ich vorher mit ihr,
was sie möchte, dass sie erfahren sollen, und was auch ganz hierbleiben soll. In den
Gesprächen mit ihren Pflegeeltern wird es darum gehen, wie sie sie bestmöglich unter-
stützen können. Nach der Klärung des Settings biete ich Lilly das Familienbrett an, und
bitte sie all die Menschen aufzustellen, die ihr wichtig sind. Die Pflegeeltern schauen ihr
dabei zu. Wir suchen zuerst einen Platz für Lilly. Die ersten Figuren, die sie aufstellt,
stellen ihre Tante und ihren Onkel dar, dann kommt gleich ihre Großmutter. Lilly hat
einen sehr guten Überblick über ihre große Familie. Es macht ihr große Freude, sie alle
rund um sich aufzustellen. Beim Aufstellen ihres Vaters und ihres Halbbruders D. for-
muliert sie große Sehnsucht nach ihnen. Sie weiß nicht genau, warum der Kontakt abge-
brochen ist, vermutet, dass es mit seiner neuen Frau zu tun hat. Auch für ihre Pflegeeltern
ist der Kontaktabbruch des leiblichen Vaters nicht nachvollziehbar. Mit großer Enttäu-
schung spricht Lilly über ihre leibliche Mutter. Sie möchte sie gar nicht dazustellen.
Ihrer älteren Halbschwester N., die auch nicht bei ihrer Mutter leben kann, möchte sie
gerne einen Platz geben. Es ist ihr wichtig, möglichst alle Kusinen, Cousins, Tanten und
Onkeln aufzustellen und auch all die Katzen und Hunde, die es in der Familie gibt. Lilly
macht es große Freude zu sehen, wie viele Menschen es rund um sie gibt. Sie sind ihr
alle wichtig. Nur Cousin Peter kommt nicht aufs Brett. Sie drückt diese Entscheidung
auch ganz bewusst und stolz aus. Die Pflegeeltern folgen Lillys Aufstellung ruhig und
mit großer innerer Anteilnahme. Es ist schön für sie zu sehen, dass sich Lilly in der
Großfamilie gut eingebettet fühlt. Sie sehen auch, wie wichtig es Lilly ist, einen guten
Platz im Familiensystem zu haben und gesehen zu werden.
Frau Doktor Lilly
127 9
9.1.3 Die erste Therapiestunde mit Lilly

Lilly kann sich sehr gut auf mein Kontaktangebot einlassen. Ich beziehe mich noch
einmal darauf, dass ihr die Therapie helfen möge, ihre „Wunde“ zu heilen. Wir erkun-
den gemeinsam, auf welche Weise sie die Wunde spürt: Lilly erzählt, dass in ihr immer
wieder Bilder und Erinnerungen auftauchen, die ihr das mit Peter Erlebte wieder ganz
nah sein lassen. Sie bekommt dann ein komisches Gefühl im Bauch, es ist aber nicht
Angst. Wenn das komische Gefühl kommt, sagt sie es niemandem, sondern versucht,
selbst damit zurechtzukommen. Sie spielt dann z.B. Barbie oder Lehrerin und schreibt
etwas. Dann geht es auch wieder. Ich schlage ihr vor, einen Tresor zu entwickeln, in den
sie all die Bilder und schlimmen Erinnerungen zwischenlagern und verschließen kann,
damit sie nicht immer wieder durch sie gestört wird. Und nur sie darf entscheiden,
wenn sie etwas davon herausnehmen möchte, um es noch einmal anzuschauen, jeman-
den zu erzählen und neu einzuordnen. Lilly steigt gut auf dieses Angebot ein: Es muss
ein riesiger Tresor sein, er braucht ein spezielles Sicherheitsschloss mit einem Passwort
und einem Augencode. Und wenn beispielsweise eine Freundin von ihr etwas wissen
möchte, dann geht er keinesfalls auf, weil der Tresor nur durch Lillys Augen zu öffnen
ist. Wir verstauen Lillys Bilder und Erinnerungen in dem Tresor und schließen ihn gut
ab. Lilly weiß, dass sie die Möglichkeit hat, wann auch immer es für sie gut ist, hier in
den Stunden etwas aus dem Tresor zu holen und gemeinsam mit mir anzuschauen. So
werden wir versuchen, das Erlebte in ihr zu beruhigen und ihre Wunde immer ein
Stückchen heiler zu machen. Lilly soll das Gefühl bekommen, das Auftauchen der Erin-
nerungen mehr unter Kontrolle zu haben, selbstbestimmter damit umgehen zu können.
Es entsteht noch eine Zeichnung: Lilly, wie sie jetzt aussieht, und Lilly, wie sie wieder
ganz heil ist (. Abb. 9.1). Es ist ihr wichtig, dass ihre Tante die Zeichnung nicht sieht.

Lilly erkundet dann das Spielmaterial im Raum. Sie ordnet die Kuscheltiere nach
denen, die ihr gefallen und denen, die ihr nicht gefallen. Handpuppen mag sie nicht,
weil es ihr unangenehm ist, in sie hineinzugreifen. Lilly beeindruckt mich durch ihre
große Offenheit. Sie ist ein vitales Kind mit großer Lebensfreude und Begeisterungsfä-
higkeit. Es ist ihr sehr gut möglich, ihre Gefühle auszudrücken.

9.1.4 Die zweite Therapiestunde mit Lilly

Bei unserer Begrüßung drückt Frau L. im Wartezimmer ihre Sorge in Bezug auf die
Schule aus. Wir vereinbaren ein Elterngespräch in den nächsten Tagen. Da es ihr wichtig
ist, auch jetzt kurz über die aktuellen Sorgen zu sprechen, beginnen wir die Stunde zu
dritt. Lilly kommt ihr derzeit sehr bedrückt vor. Sie hat den Eindruck, dass sie ganz viel
mit sich herumschleppt. Ihr Bett ist in der Früh fast immer nass. Nachdem wir Frau. L.
nach einigen Minuten wieder verabschiedet haben, frage ich Lilly, ob sie sich die Beob-
achtungen ihrer Tante erklären kann. Das kann sie. Der Verlust ihres Vaters beschäftigt
sie so. Sie vermisst ihn so und kann sich sein Verschwinden auch nicht erklären. Wenn
Bilder und Erinnerungen an die Erlebnisse mit Peter aufgetaucht sind, hat sie die Tre-
sor-Übung probiert. Es hat gut funktioniert. Bei der Trauer um den Papa geht es nicht.
Um Lilly eine Möglichkeit zu geben, ihren Gefühlen, die sie im ­Zusammenhang mit
ihrem Papa beschäftigen, Ausdruck zu verleihen, hole ich die große Kiste mit den
128 A. Zach und S. Binnenstein

9 ..      Abb. 9.1  Zeichnung von Lilly

S­ tofftieren. Ich entscheide mich dafür, ihr dieses Material anzubieten, da sie bereits in
der letzten Therapiestunde mit großem Interesse begonnen hat, den Inhalt dieser Kiste
zu erkunden. Ich bitte sie, ein Tier auszusuchen, das zum Papa passt. Lilly nimmt zwei
Tiere, die sie an ihn erinnern: den Pfau und das Pferd. Der Pfau passt zum Papa, weil er
sehr schön ist. Das Pferd passt zu ihm, weil der Papa und D., ihr Halbbruder, ihr vorkom-
men, wie Pferd und Fohlen. Dann entdeckt sie die Schlange und ordnet sie der zweiten
Frau ihres Vaters zu. Die Schlange ist sehr böse. Lilly glaubt, dass sie daran schuld sein
muss, dass ihr Vater sich nicht mehr um sie kümmert. Sie glaubt, dass sie ihn sehr
schlecht beeinflusst. Lilly beginnt folgendes Spiel: Sie ersetzt die Schlange mit einem für
sie noch böseren Tier, dem Krokodil, und beginnt Murmeln auf das Krokodil zuzurol-
len. Mit immer größerer Kraft rollt sie die Murmeln auf das Krokodil zu. Lilly möchte,
dass ich es auch tue und das Krokodil auch beschimpfe. Um einerseits ihrem Wunsch zu
entsprechen, andererseits aber nicht eine abwertende Beschimpfung zu wiederholen,
versuche ich, in meinen Äußerungen klar eine Trennung von Person und Verhalten zu
äußern. „Wenn das stimmt, dass du verhinderst, dass Lilly ihren Papa sehen kann, dann
ist das nicht in Ordnung … das darf man nicht tun,“ … „man darf einem Kind seinen
Vater nicht wegnehmen.“ Meine intendierte Botschaft ist: Deine Gefühle sind in Ord-
nung und verstehbar. Und es ist nicht in Ordnung, wie sie von deinem Vater ignoriert
werden. Lilly tut es gut, das zu hören. Sie macht selbst weiter mit Murmeln rollen, schie-
ßen und Sätze formulieren. Sie hat die Idee, einmal einfach bei ihrem Vater aufzutauchen
und ihn zur Rede zu stellen. In dieser Stunde hat eine sehr intensive Auseinandersetzung
mit Lillys Verlusten begonnen. Ein Anfang eines langen Prozesses. Das innere belastende
Chaos kann gezeigt werden. Dadurch wird es möglich, Bedeutungsgebungen für das
Gefühlschaos zu finden, die Gefühle zu ordnen, auch zu benennen und zu verstehen.
Frau Doktor Lilly
129 9
Ihre Situation ist nicht nur „irgendwie schwer“, sondern Auslöser für heftige Gefühle.
Und es ist ganz normal, mit Wut und Traurigkeit zu reagieren, wenn ein Elternteil den
Kontakt abbricht. In diesem Zusammenhang entstehen auch erste Ideen, bei denen es
um aktive Bewältigungsstrategien geht, wenn auch vorerst nur in der Vorstellung.

9.1.5 Elterngespräch
Die Pflegeeltern machen sich große Sorgen, weil sich Lilly in der Schule sehr schwer tut.
Ihr Arbeitstempo ist unglaublich langsam, es gibt Tage, an denen sie kaum etwas schafft.
Es gelingt ganz gut, den Pflegeeltern zu verdeutlichen, dass Lilly derzeit „nicht kann“
und nicht „nicht will“. Sie bemerken selbst, wie stark Lilly innerlich beschäftigt ist. Sie
fragt sehr viel nach ihrem Vater, und es ist ganz deutlich zu sehen, wie Lilly leidet. Sie
nässt fast täglich ein. Auch die Pflegeeltern wissen nicht, warum der Kindesvater den
Kontakt zu Lilly und auch zu ihnen abgebrochen hat. Sie gehen aber, ebenso wie Lilly
davon aus, dass seine neue Frau dafür verantwortlich ist. Beide versuchen immer wie-
der, Kontakt zum Kindesvater herzustellen. Derzeit gelingt es leider nicht. Dem Pflege-
vater tut es sehr weh, Lilly so leiden zu sehen. Er hätte sich nicht gedacht, dass es
emotional so anstrengend ist, Lilly gut zu begleiten. Ich versuche immer wieder meine
Anerkennung für ihre vielfältigen Bemühungen auszusprechen.

9.1.6 Dritte und vierte Therapiestunde mit Lilly

Lilly zeigt mir auf meiner Befindlichkeitsscheibe, dass es ihr gut geht. Sie hat sich in der
Schule heute gut gefühlt: Beim Fußballmatch konnte sie sehr gut ihre Kraft spüren und
dann hat sie mit einem Mädchen gerauft. Sie hat im Selbstverteidigungskurs gelernt, sich
zu wehren. Das fühlt sich sehr gut an. Sie möchte das Murmel-Krokodil-Spiel vom letz-
ten Mal wieder fortsetzen: Die zweite Frau des Vaters ist wieder das Krokodil und wird
beschossen. Sie möchte, dass ich es immer wieder für sie tue und ihre Wut und ihre
Enttäuschung für sie in Worte fasse. Dann wird auch ihr Vater unter Beschuss genom-
men. Heute hat sie für ihn einen Frosch gewählt. Beim Ausdrücken ihrer Gefühle wird
Lilly immer ruhiger. Lilly findet zu einem neuen Spiel, das sich auch über die Zeit der
Therapie immer wieder wiederholen wird und in dem sie sich mit ihren verschiedenen
„Müttern“ beschäftigt und wie es dazu kommen kann, dass man seine Mutter verliert.
Lilly wählt dafür die Holzfiguren und agiert mit ihnen auf einer Bodenlandschaft, die wir
nach ihren Anweisungen gestalten: Es gibt eine Oma und eine Königin und zwei Töchter.
Die Oma redet der Königin immer bei der Erziehung der Töchter dazwischen. Sie ist
sehr streng. In einer anderen Szene stellt sie zwei Mädchen dar. Das gute Mädchen kann
sich sehr gut um Tiere kümmern und sie versorgen. Das böse Mädchen vernachlässigt
ihre Tiere, sorgt nicht für sie. Dem bösen Mädchen werden die Tiere dann weggenom-
men. Lilly spielt alle Rollen selbst. Manchmal übergibt sie mir eine der Figuren, wobei sie
mir sehr genaue Anweisungen gibt, was diese zu sagen hat und wie sie sich verhalten soll.
In der nächsten Stunde möchte Lilly das Spiel vom letzten Mal gleich fortsetzen: Es gibt
eine gute und eine böse Schwester. Sie streiten viel miteinander. Die Gute darf sich um
viele Tiere kümmern, die Böse schafft es nicht, die Tiere gut zu versorgen. Sie werden ihr
130 A. Zach und S. Binnenstein

weggenommen. Die Gute findet ein Baby auf der Straße und nimmt es mit, um sich um
das Baby zu kümmern. Parallel dazu gibt es eine Oma und eine Mutter, die sehr viel
darüber streiten, wie die beiden Töchter erzogen werden sollen. Nach vielen Jahren
kommt der Vater zurück. Er ist sehr streng, möchte Vieles nicht so, wie es läuft. Die
Eltern streiten sich darüber, was man den Töchtern erlauben kann und was nicht. Das
Spiel gibt Lilly die Gelegenheit, ihre Erlebnisse darzustellen: Sie hat viel Streit zwischen
ihrer Oma und ihrer Tante (Pflegemutter) mitbekommen, was ihre Erziehung und
Betreuung betrifft. Und sie musste zweimal erleben, was passieren kann, wenn Mütter
ihre Kinder nicht gut versorgen können. Die Symbolisierung der Erlebnisse im Spiel gibt
mir die Gelegenheit, Lillys Gefühle zu verbalisieren, zu erklären und sie somit für Lilly
verstehbarer zu machen. In den einzelnen Spielsequenzen wird deutlich, dass durch
diese Kommentare, die für Lilly die eigenen Gefühle verständlich machen und ihr die
Sicherheit geben, in ihrer Not gesehen und verstanden zu werden, die Spielsequenzen
weniger aggressiv und verzweifelt werden, was als Ausdruck zunehmender Bewältigung
und affektiver Regulation verstanden werden kann.

9.1.7 Fünfte bis achte Therapiestunde mit Lilly

Lilly hat einen guten Urlaub bei ihrer Oma verbracht. Es hat ihr gutgetan, wieder in
9 ihrer „alten Heimat“ zu sein und auch den Menschen zu begegnen, die in der Zeit bei
der Oma für sie wichtig waren. Lilly betont, dass sie unter den Kindern auch sogenannte
Beschützer hatte. Heute setzt sie sich mit ihrer leiblichen Mutter auseinander. Sie sagt:
„Es gibt Vögel, die ihre Eier in ein anderes Nest legen  – ein Kuckuck zum Beispiel.
Meine Mama ist ein Kuckuck!“ Dann wird ihre Mama mit Murmeln abgeschossen. Lilly
hat viel Wut auf sie, die aber wenig konkret ist, da sie keine verbalisierbaren Erinnerun-
gen an die Zeit, in der sie bei ihr gelebt hat, hat. Sie kennt ihre Geschichte mit ihrer
leiblichen Mutter aus Erzählungen, weiß vom Mutter-Kind-Heim und von der Abnahme
(Inobhutnahme) durch das Jugendamt. Es scheint einen Teil in ihr zu geben, der auch
froh darüber ist. Froh, bei der Oma gelebt zu haben. Aus dem Schießen wird dann mehr
Spaß – sich messen – Kraft messen – Kraft zeigen! Daran knüpft Lilly in der nächsten
Stunde wieder an. Sie zeigt ihre Kraft, boxt auf die Polster und freut sich über die Kraft,
die in ihr steckt. Sie wiederholt wieder das Spiel mit guter und böser Schwester und der
Versorgung der Tiere. Auch durch das Spiel mit Oma und Königin und deren Streit
muss sie eine Runde drehen. Dann erweitert sie das Spiel durch ihr Vaterthema. Sie
verwendet wieder die Holztiere und die Holzfiguren und gestaltet die Szene am Boden.
Die Tiere werden in Familien angeordnet. Alle verstehen sich gut miteinander. Nur der
Hengst hat ein Problem mit den Tieren. Lilly erzählt mir, dass sich Tiere totstellen kön-
nen, wenn sie in Gefahr sind. Ich erzähle ihr, dass Menschen das in Gefahrensituationen
auch können, und dass ihr Körper das vielleicht auch gemacht hat, als sie die schlimmen
Sachen mit Peter erlebt hat. Lilly hält sich die Ohren zu. Sie möchte, den Namen ihres
Cousins keinesfalls hören. Sie möchte, dass derzeit alles im Tresor bleibt. Ich bestärke
sie darin, das selbst zu bestimmen. In den beiden darauffolgenden Stunden beschäftigt
Lilly sich im Spiel mit den Holzfiguren immer wieder mit dem Leben in einer Familie,
vor allem mit den Positionen, Gefühlen und Meinungsverschiedenheiten zwischen den
Eltern. Die Kinder beginnen im Spiel, um Mitbestimmung und um ihre Rechte zu
Frau Doktor Lilly
131 9
kämpfen. Lilly sagt, dass sie das Haus und den Ort ihrer Pflegefamilie mittlerweile als
ihr neues Zuhause erlebt. Ihre Tante und ihr Onkel haben es dazu gemacht. Und mit
sehr viel Mut und Kraft formuliert sie dann noch den Satz: „Ich bin abgenommen wor-
den“. Eine Form, sich dieser schwierigen Tatsache zu stellen. Der Tresor hilft gut.

9.1.8 Therapiestunde neun und zehn


„Mein Herz ist aufgesprungen!“ Lilly strahlt. Sie hat mit ihrem Papa telefoniert. Ihre
Pflegeeltern haben anlässlich seines Geburtstags wieder einen Versuch unternommen,
ihn zu erreichen und diesmal ist es gelungen. Lilly ist überglücklich, sie spürt ihre Freude
im ganzen Körper. Sie zeichnet ein Bild von ihrem vor Freude aufgesprungenen Herzen.
Lilly hat im Vorgarten unsere vier Meerschweinchen entdeckt. Sie möchte sie gerne in
die Stunde hereinholen. Lilly ist sehr geschickt und einfühlsam mit ihnen. Sie spürt
genau, was sie brauchen und wie es ihnen geht. Damit beginnt ein neuer Weg der Verar-
beitung. Auch in der nächsten Stunde geht es Lilly gut. „Mein Herz ist frei und groß!“ -
dieses wird auch gezeichnet. Die „Meerschweinchentherapie“ nimmt ihren Lauf. Lilly
spielt, die Meerschweinchen gefunden zu haben. Sie wurden von einem Hund gebissen.
Lilly bringt sie zur Tierärztin. Lilly nimmt die Rolle der Tierärztin ein und braucht mich
als ihre Assistentin. Gemeinsam versorgen wir die Wunden der Meerschweinchen. Die
Wunden befinden sich im Blasenbereich und in der Höhe des Halses. Lilly verarztet sie
sehr zärtlich und einfühlsam. Sie spielt, dass sie die Tiere zu sich mit nach Hause nimmt.
Wir versichern den Tieren, dass sie nun in Sicherheit sind und ihre Wunden wieder heil
werden. Für Lilly ist es ganz wichtig, auf dieser stellvertretenden Ebene zu bleiben.

9.1.9 Elterngespräch

Es geht wieder einmal darum, den Pflegeeltern in Bezug auf die Schule Druck zu neh-
men. Sowohl die Schulpsychologin, als auch die Lehrerin und die Nachhilfelehrerin
empfehlen eine Wiederholung der zweiten Klasse. Es braucht viel Erklärung darüber,
dass Lilly in ihrer jetzigen inneren Situation ihre Fähigkeiten nicht ausschöpfen kann.
Sie ist innerlich zu beschäftigt mit den traumatischen Erfahrungen, den Beziehungsab-
brüchen und dem Bewältigen ihrer aktuellen Lebenssituation. Den Pflegeeltern fällt es
sehr schwer, zu glauben, dass ein Wiederholungsjahr Lilly gut entlasten und ihr Zeit
geben könnte, sich auch den schulischen Anforderungen zu widmen. Die Situation mit
dem Kindesvater ist noch immer schwierig. Es gibt immer wieder Versprechungen,
Lilly zu besuchen, die dann nicht eingehalten werden. Die Pflegeeltern versuchen so gut
es geht, Lilly vor Enttäuschungen zu schützen.

9.1.10 Die elfte Therapiestunde und die Sommerferien

Lilly kommt über das Verarzten der Stofftiere zu dem Moment, als es ihr gelungen ist,
den Missbrauch ihrer Kusine anzuvertrauen. Sie inszeniert folgendes Spiel: Sie gibt mir
die Rolle des Kindes, das große Angst hat. Dem Kind ist etwas Schlimmes widerfahren,
132 A. Zach und S. Binnenstein

es traut sich aber nicht, etwas zu sagen, aus Angst vor den „schlimmen Buben“, die es ihr
angetan haben. Lilly schlüpft in die Rolle der Lehrerin, die das Kind sehr ermutigt, ihr
anzuvertrauen, was passiert ist. Sie versichert dem Kind ihren Schutz. Lilly ist in der
Rolle der Lehrerin beeindruckend haltgebend, schützend, sichernd und vermittelt viel
Respekt. Es stehen zwei Monate Sommerferien bevor, in denen Lilly viel bei ihrer Oma
sein möchte und auch an den Ort zurückkehren möchte, wo sie ihr schweres Geheimnis
ihrer Kusine anvertraut hat.

9.1.11 Therapiestunden nach der Sommerpause

Nach der Sommerpause bitte ich Lilly gemeinsam mit Frau L. ins Therapiezimmer. Lilly
hat einen schönen Sommer verbracht. Die Rückkehr zu ihren Pflegeeltern war nicht
ganz leicht für sie. Sie hat einer befreundeten Familie gegenüber ausgedrückt, sich bei
ihren Pflegeeltern wie ein Störenfried zu fühlen. Frau L. macht das sehr betroffen. Sie
möchte alles tun, damit Lilly sich bei ihnen zuhause und sicher fühlen kann. Wir
besprechen gemeinsam mit Lilly, was sie noch brauchen könnte. Im Anschluss, als Frau
L. dann draußen wartet, muss Lilly sehr dringend die Meerschweinchen versorgen und
verarzten. In der nächsten Stunde wollen Lilly und ihre Tante dringend über ein Ereig-
nis im Hort sprechen, das zu großer Aufregung geführt hat. Vorher ist es Lilly aber
9 wichtig, noch etwas zu spielen. Ich bitte Frau L. daher, zunächst noch im Wartezimmer
Platz zu nehmen. Das Baby ist sehr verletzt. Die große Schwester kommt mit dem Baby
zur Ärztin. Lilly möchte, dass ich die Rolle der Ärztin übernehme. Das Baby muss sehr
ausführlich verarztet werden. Die Mutter des Babys ist tot, der Vater ist weg. Lilly ist in
der Rolle der großen Schwester. Sie ist sehr sicher und kompetent und kümmert sich
sehr gut um das Baby. Kraft bekommt die große Schwester bei ihren Haustieren. Nach-
dem sich Lilly in dem Spiel beruhigt hat und wieder in einem ressourcenreichen
Zustand ist, holen wir die Tante und besprechen, was vorgefallen ist. Als Lilly gestern im
Hort von ihren Freundinnen gefragt wurde, warum sie in Therapie geht, hat sie ihnen
die ganze Geschichte von Peter erzählt. Das hat zu sehr großer Aufregung der Eltern
dieser Mädchen geführt, die gedacht haben, dass diese Situation noch immer bestehe.
In der ersten Aufregung war Frau L. auch recht ungehalten zu Lilly, was sie mit ihrer
Geschichte jetzt im Hort alles ausgelöst hat. Wir versuchen, alles gut zu ordnen:
55 Lilly darf alles erzählen, wenn sie das möchte und es ihr gut dabei geht. Sie soll
keinesfalls wieder ins „Geheimhalten“ gedrängt werden.
55 Frau L. wird mit den Müttern Kontakt aufnehmen und die Geschichte klarstellen.
55 Die Pädagogin im Hort weiß Bescheid. Sie stärkt Lilly den Rücken.
55 Zur Verwirrung hat auch geführt, dass Lilly drei verschiedene Frauen mit „Mama“
bezeichnet.

Sie sagt es zu ihrer Oma, ihrer Tante und ihrer leiblichen Mutter. Wir überlegen, ob sie
ihre „Mamas“, die alle in einer Weise „Mamas“ sind, vielleicht schon unterscheiden
möchte. Lilly kommt dann auf Mama für ihre leibliche Mama, „Elli-Mama“ für ihre
Tante und „Helga-Mama“ für ihre Oma. Sie wird schauen, ob das für sie passt.
Wir versichern Lilly noch, dass sie alles richtig gemacht hat. Und dass bald wieder
alle beruhigt sein werden.
Frau Doktor Lilly
133 9
9.1.12 Therapiestunden 14 bis 20

Es ist Frau L. gelungen, die Mütter der Schulkolleginnen zu beruhigen. Lilly wirkt
erleichtert. Die nächste emotionale Herausforderung hat begonnen. Lillys leiblicher
Vater ist aufgetaucht. Seine Frau möchte sich von ihm scheiden lassen. Er kommt recht
oft, meist unangekündigt. Lilly freut sich einerseits ihn zu sehen, sie ist aber auch sehr
irritiert und verwirrt. Es ist deutlich spürbar, dass sie nicht all ihre Hoffnung an diesen
Zustand hängt. Sie wirkt abwartend. In dieser Stunde haben die Meerschweinchen eine
sehr große Operation vor sich. Lilly ist eine sehr resolute Frau Doktor. Die Meer-
schweinchen haben Würmer im Bauch, die sehr gefährlich sind und den Magen auffres-
sen können. In einer aufwendigen Operation befreit sie die Tiere von ihrer gefährlichen
Last. Auch die nächste Stunde konzentriert sich Lilly aufs Versorgen und Heilen der
Tiere durch komplizierte Operationen. Lilly ist durch das häufige Auf- und Abtauchen
ihres Vaters emotional sehr gefordert. Sie versucht ihr Herz zu schützen, indem sie ver-
sucht, sich wenig auf ihn einzulassen. Die Tante meint, dass Lilly spürt, dass er nicht
wegen ihr kommt, sondern weil er es gerade braucht, irgendwo unterzukommen. Ihre
innere Auseinandersetzung mit ihren Hoffnungen an ihren Vater und der enttäuschen-
den Realität beschäftigt sie die nächsten Wochen.
In dieser Zeit entdeckt Lilly bei mir eine kleine Kiste, die innen wie ein Raum gestal-
tet ist. Sie gefällt ihr sehr. Wir beschließen, für sie auch so eine kleine Kiste zu einem
„inneren, sicheren Ort“ zu gestalten. Es wird ein kleiner Kistenraum, den Lilly ganz
klar nach ihren Vorstellungen gestaltet. Wichtig ist ihr, dass es ganz kuschlig und weich
ist. Glitzer braucht es auch. Und ganz wichtig ist, dass man ihn gut verschließen kann,
und niemand ohne ihre Erlaubnis hineinschauen kann und darf. Wir stellen uns vor,
wie sie sich an ihren kleinen, sicheren Ort zurückziehen kann, wenn sie es braucht. Wie
es sich darin anfühlt, wie es darin riecht, wie genau man da drin kuscheln kann. Lilly hat
Freude an dieser Vorstellung und eine weitere Möglichkeit zur Selbstberuhigung. In
einer dieser Stunden erzählt sie auch, dass das Thema Peter abgehakt ist. Den hat sie in
die Wüste geschickt. Sie wirkt sehr kraftvoll, als sie das sagt. Parallel zu der Auseinan-
dersetzung mit ihrem Vater, beschäftigt sich Lilly auch ganz stark mit unterschiedlichen
Mutterbildern. Die „Mütter“, die sie spielt, sind sehr unterschiedlich. Sie zeigen manch-
mal ganz liebevolle, fürsorgliche Züge. Dann kann es sehr plötzlich umschlagen, und
die Mutter wird sehr böse, sehr streng, manchmal grausam.
Als Lillys Gegenüber in der Rolle des Kindes fühle ich mich oft verwirrt, hilflos und
durcheinander. Lilly lässt mich sehr deutlich spüren, wie es ihr oft gehen muss mit ihren
unterschiedlichen Mutterfiguren. Ich versuche wieder, meine Gefühle und Gedanken in
der Rolle für Lilly zu verbalisieren. Ich hoffe, dass das ihr Verstehen fördert und sie ein
wenig beruhigt. Gleichzeitig versuche ich, in meine Formulierungen mögliche Erweite-
rungen einfließen zu lassen. „Ich überlege mir, was ich tun kann … vielleicht besuche ich
eine Freundin? Wenn ich mit der Anna im Baumhaus spiele, ist das lustig …“ Kleine und
konsequente Versuche, andere innere Anteile als die der Opferrolle zu stärken. Ein weite-
res Thema, das in dieser Zeit für Lilly sehr wichtig wird, ist, „sich zu messen“. Lilly kämpft
ums Gewinnen, sie kämpft um Erfolge. In den Stunden inszeniert sie die unterschied-
lichsten Wettkämpfe: etwas Zerlegen, etwas Zusammensetzen, verschiedene Schrittfolgen
machen. Und alles wird mit der Stoppuhr gemessen. Besondere Bedeutung bekommt das
Luftanhalten. Lilly möchte Rekorde im Luftanhalten aufstellen. Dieser Kampf berührt
134 A. Zach und S. Binnenstein

mich sehr. Es ist anzunehmen, dass Lilly in ihrem Leben schon viele Situationen mittels
„Luftanhalten“ geschafft hat. Ich anerkenne sie wiederholt als große Kämpferin. Und ver-
mittle ihr immer wieder, welche besonderen Fähigkeiten sie im Durchhalten hat.

9.1.13 Therapiestunden 21 bis 29


Mittlerweile ist es Ende Oktober, und es zeigt sich schon sehr deutlich, dass die Ent-
scheidung, Lilly die Klasse wiederholen zu lassen, sehr gut war. Lilly ist in der Schule
sehr motiviert, sehr fleißig und ehrgeizig. Sie freut sich sehr an ihren Erfolgen und die
Stimmung in ihrer Pflegefamilie hat sich dadurch auch sehr entspannt. Die Hoffnung,
dass Lillys Vater wieder ein fixer Teil ihres Lebens wird, muss Lilly leider aufgeben. Er
wird zu seiner Familie zurückkehren, und es ist nicht zu erwarten, dass er Besuchskon-
takte einhalten wird. Lilly wirkt bei diesem Thema resigniert, enttäuscht, verärgert und
hoffnungslos. Aber es ist ihr jetzt möglich, es auszudrücken. Dieses Wechselbad der
Gefühle zeigt sich auch in ihren Rollenspielen sehr deutlich. Ich als Lillys Gegenüber, in
den verschiedensten Rollen, die sie mir gibt, kenne mich oft gar nicht aus, fühle mich
hilflos, weiß nicht, wie ich es recht machen kann, bekomme Angst … und plötzlich ist
wieder alles ganz gut. Skepsis und große Verunsicherung bleiben. Ich versuche, meine
Gefühle zu formulieren, und Lilly zu zeigen, wie man sich da fühlen könnte, wie sie sich
9 vielleicht fühlt. Lilly braucht es in dieser Zeit besonders, die Kontrolle behalten zu kön-
nen. Das Verarzten der Meerschweinchen ist immer wieder wichtig. Da lebt sie ihren
sehr einfühlsamen und fürsorglichen Teil. Sonst ist sie die strenge Frau Doktor, die
strenge Frau Lehrerin oder die strenge Mutter. In den nächsten Stunden taucht Lilly
auch wieder tief in ihr „Generationen-Spiel“ ein, das sie mit Holzfiguren darstellt. Sie ist
eine Prinzessin, die vier eigene Töchter hat und eine Schwester. Im Schloss gibt es noch
die Königin, den König und die Oma. Es herrschen große Schwierigkeiten zwischen den
Generationen. Die Prinzessin kämpft sehr gegen ihre Eltern: Sehr frech, sehr heftig, …
auch mit Kanonen wird auf den Vater geschossen. Sobald sich die Prinzessin ungerecht
behandelt fühlt oder in ihren Bedürfnissen als nicht gesehen erlebt, geht der Kampf los.
Sie kämpft auch darum, ihre Kinder so erziehen zu können, wie sie das möchte. Letztlich
verlässt die Prinzessin mit ihren Kindern das Schloss, es reicht ihr. Lilly hat in ihrer
Großfamilie sehr viel an Auseinandersetzung rund um Kinder und Erziehung mitbe-
kommen. Für sie ist es sehr wichtig, in diesen Rollen ihre Kraft und ihre Selbstbestim-
mung zu spüren und zu leben. In diesen Darstellungen nutzt mich Lilly vor allem als
Begleiterin. Ich bin dabei, versuche zu formulieren, wie sich die Figuren fühlen könnten,
probiere manchmal auch vorsichtig eine Verbindung zu Lillys Erlebtem herzustellen
und bestärke Lilly in wichtigen Schritten, die sie die Figuren machen lässt.

9.1.14 Therapiestunden 30 bis 39

Nach Weihnachten sind die Stunden sehr vom anstehenden Semesterzeugnis geprägt. Lilly
darf im Sommer nur aufs Reitercamp fahren, wenn das Zeugnis gut ist. Sie hat große Angst
davor, ob sie das schaffen wird, denn das Reitercamp ist ihr unglaublich wichtig. Lilly wird
zur strengen Sporttrainerin, die mich, ihre Schülerin, trainiert. Es geht ganz stark um
Noten und um die Angst davor. Lilly hat Angst, was die Lehrerin ihren Pflegeeltern sagen
Frau Doktor Lilly
135 9
wird. Nach den strengen, harten Wettkampfspielen, die Lilly veranstaltet, ist es dann immer
noch ganz wichtig, die Meerschweinchen zu verarzten. In das Verarzten legt sie ihre ganze
Zärtlichkeit und Fürsorge. Das Zeugnis ist gut ausgefallen. Lilly darf auf ihr Reitercamp
fahren und ist unglaublich erleichtert. Die Pflegemutter kündigt an, dass sie die Therapie
langsam beenden möchten. Das Miteinander in der Familie hat sich sehr entspannt, die
Schul- und Leistungssituation ist viel besser geworden, und Lilly macht auf sie einen recht
ausgeglichenen Eindruck. Einnässen ist schon lange kein Thema mehr.
Für sie als Familie ist das Bringen und Holen von Lilly neben der vollen Berufstätigkeit
eine sehr große Belastung, und es ist unwahrscheinlich, dass das Jugendamt eine weitere
Stundenaufstockung finanzieren würde. Lilly ist darüber recht traurig, sie wäre sehr gern
noch weitergekommen. Wir vereinbaren eine Abschiedsphase von einem Monat. In den
nun folgenden Stunden steht das Verarzten der Meerschweinchen an oberster Stelle. Es geht
um Bissverletzungen, die sie heilen muss. Die Spiele sind ruhiger, weniger dramatisch. Lilly
legt ganz viel Behutsamkeit in die Wundversorgung und Heilung der Tiere. Wichtig ist ihr
auch, dass sie selbstbestimmt entscheiden darf, was für ihre Tiere gut ist. Lilly betont in all
diesen letzten Stunden, dass es ihr sehr leid tut, dass die Therapie zu Ende geht. Gleichzeitig
kann sie selbst auch formulieren, dass es ihr in ihrem Leben gut geht. Die Sache mit Peter
ist im Tresor und ganz weit weg. Das ist gut so. Bei ihrer Tante und ihrem Onkel ist es auch
gut. Es ist für sie jetzt leichter möglich, dass sie in ihrem neuen Zuhause all ihre Gefühle
zeigen kann, im Gegensatz zur anstrengenden Anpassung in der ersten Zeit.

9.1.15 Abschiedsstunde

Lilly kommt recht gedrückt. Ich habe ihr ein kleines Fotoalbum mit Fotos der Meer-
schweinchen vorbereitet. Das freut sie sehr. Sie möchte sie auch ein letztes Mal holen
und sich von jedem verabschieden. Dann bitten wir ihre Tante und ihren Onkel in
unsere Stunde dazu. Wir tragen gemeinsam zusammen, was sich in diesem Jahr verän-
dert hat. Die Pflegeeltern sind vor allem sehr erleichtert, dass die Schule so gut läuft.
Lilly kann ihre Fähigkeiten jetzt gut zum Ausdruck bringen und hat Freude daran. Das
entlastet sie sehr. Sie erleben sie auch sonst viel ausgeglichener. Ich betone, dass sich
Lilly sehr mutig mit ihren schmerzlichen Lebensthemen auseinandergesetzt hat. Lilly
wirkt beruhigter und geordneter. Ihr Leben verläuft jetzt in geordneten Bahnen. Sie
hört von uns allen, dass wir ihre große Kraft und ihre Lebensfreude sehr bewundern.
Große Anerkennung gebührt auch den Pflegeeltern für ihre engagierte Begleitung
durch alle Höhen und Tiefen, die Lilly im letzten Jahr erlebt hat. Die Familie hat das
Angebot, sich jederzeit wieder melden zu können, wenn sie Unterstützung braucht. Ich
bin dankbar für die feine Beziehung mit Lilly und für die neuen, therapeutischen Erfah-
rungen, die ich durch sie und ihre Familie machen durfte.

9.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis

Die Therapie hat zu einem sehr günstigen Zeitpunkt beginnen können. Es ist sehr viel
gute Vorarbeit durch das Kinderschutzzentrum Möwe geschehen. Lillys Lebenssitua-
tion war zwar neu, aber sicher. Sie hat gespürt, dass sie einen haltgebenden Lebensrah-
men in der Familie von Tante und Onkel hat, und konnte sich daher sehr gut auf den
136 A. Zach und S. Binnenstein

therapeutischen Prozess einlassen. Durch die Gespräche bei der Möwe hat Lilly auch
erlebt, dass es entlastend ist, Unterstützung zu bekommen. Es wurde ihr klar vermittelt,
dass sie für das, was sie erlebt hat, Hilfe braucht, um es gut verarbeiten zu können.
Daran konnte im therapeutischen Prozess gut angeknüpft werden. Für das therapeuti-
sche Bündnis mit Lilly war die Formulierung der Wunde sehr hilfreich. Unter dem
Begriff Wunde können sich auch schon kleine Kinder etwas vorstellen. Und jedem noch
so kleinen Kind ist es wichtig, dass seine Wunde gut versorgt wird und wieder heilt. Das
Bild der Wunde ist im gesamten therapeutischen Prozess immer wieder präsent. Lilly
versorgt und heilt ihre Wunde beispielsweise auf Stellvertreter-Ebene, indem sie die
Meerschweinchen behandelt. Es stellvertretend an den Meerschweinchen zu tun, lässt
ihr auch die Möglichkeit, selbstbestimmt zu bleiben und den Prozess selbst unter Kon-
trolle zu haben. Das ist für Kinder und Jugendliche, die traumatische Erfahrungen
gemacht haben, und damit ein Gefühl von großer Ohnmacht und Hilflosigkeit erleben
mussten, besonders wichtig. Auch die hypnotherapeutische Intervention der Tresor-­
Übung dient dazu, aktiv Einfluss auf innere Prozesse zu nehmen. Indem explizit die
Erlaubnis erteilt wird, belastende Erfahrungen wegzuschließen und selbst zu entschei-
den, wann und in welchem Rahmen man sich ihnen widmen mag, wird implizit die
Fähigkeit der Distanzierung gefördert. Jedes „Du darfst“ enthält auch die Botschaft „Du
kannst“. Auch wenn das „Wegsperren“ in der Realität nicht lückenlos funktioniert, weil
verschiedene Auslöser unerwartet alles hervorholen können, so bietet doch die Idee
9 und das Bild des Tresors ein Mittel zur Bewältigung. Sie war durch ihre aktuelle, neue
Lebenssituation sehr herausgefordert und es erforderte große Anstrengungen, dass das
Aufflackern der Missbrauchsbilder sie emotional nicht überfordert. Lilly konnte den
Tresor gut nützen, und die Erlaubnis, die Erfahrungen vorerst immer wieder wegzupa-
cken, hat sie entlastet. Man kann davon ausgehen, dass sie sich diesen Erfahrungen in
späteren Phasen ihres Lebens wahrscheinlich irgendwann wird stellen müssen, um sie
gut in ihr Bewusstsein von sich selbst zu integrieren. Zu diesem Zeitpunkt werden ihr
dann aber auch schon andere Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen. Die Ausei-
nandersetzung mit ihren familiären Verlusterfahrungen hat im therapeutischen Prozess
sehr viel Raum eingenommen. In der zwar sehr haltgebenden, aber doch recht strengen,
konsequenten Atmosphäre der Pflegefamilie, war es wichtig, sich gut zu integrieren und
auch zu funktionieren. Im therapeutischen Rahmen war es für sie möglich, belastende
Gefühle auszudrücken. Oft hat sie im Rollenspiel die Therapeutin das spüren lassen,
was sie selbst gespürt haben könnte. Die Therapeutin hat konsequent versucht, die
Gefühle zu verbalisieren, zu erklären und sie somit für Lilly verstehbarer zu machen.
Auffällig war, wie das Ausdrücken von Gefühlen und das damit wachsende Verständnis
für emotionale Zustände Lilly immer wieder in verschiedenen Spielsequenzen beruhigt
hat. Wie Brächter (2010) beschreibt, ist es in einem systemisch-narrativen Verständnis
von Spieltherapie wichtig, über das reflektierende Nachvollziehen des Spiels hinauszu-
gehen und neue Fühl- und Wahrnehmungsmöglichkeiten anzustoßen. „Geschichten im
Spiel neu zu konstruieren, bietet Möglichkeiten zu affektiver Regulation und zu korri-
gierenden Erfahrungen“ (Brächter 2010, S. 31). Lilly wird ermutigt, unterschiedliche
Rollen einzunehmen und auszuprobieren. Intendiert ist dabei die Stärkung jener inne-
ren Anteile, die mit Selbstwirksamkeitserleben in Verbindung stehen. Somit wird sie im
Bewältigen ihrer zahlreichen Hilflosigkeitserfahrungen unterstützt, was Pleyer und
Korritko als eine zentrale Aufgabe der Traumatherapie beschreiben: „... Klienten darin
Frau Doktor Lilly
137 9
zu stärken, sich als aktive Gestalter ihres erlebten Schicksals und als Autoren ihrer
(Trauma-)Biografie zu begreifen, und sie nicht darin zu fördern, ein Selbstbild vom
hilflosen Opfer zu stabilisieren“ (2016, S. 20). Während des gesamten therapeutischen
Prozesses hat die Therapeutin auch versucht, auf verschiedenen Ebenen Sicherheit her-
zustellen, beispielsweise durch verlässliche Rituale in den Therapiestunden (die Befind-
lichkeitsskala am Anfang der Stunde, das gemeinsame Aufräumen am Ende) und auch
durch die Interventionswahl. Mit dem Gestalten der kleinen, sicheren, inneren „Ort-­
Kiste“ hat Lilly die Idee mitgenommen, wie sie sich in sich selbst in Sicherheit bringen
kann. Durch die gute Planung und Klarheit des Abschiedes wird eine neue Erfahrung
des Abschiednehmens ermöglicht. Das Abschiedsgeschenk, das Album mit Fotos der
Meerschweinchen, soll dazu beitragen, dass Lilly sich an einen für sie besonders hilfrei-
chen Aspekt im therapeutischen Prozess mit Freude erinnern kann.
Wichtig waren auch die begleitenden Gespräche mit den Pflegeeltern, in denen es
vor allem darum ging, Verständnis für Lillys Schwierigkeiten zu schaffen, damit die
Pflegeeltern ihr mit mehr Geduld und Zuversicht begegnen konnten.

Literatur
Brächter W (2010) Geschichten im Sand. Grundlagen und Praxis einer narrativen systemischen Spielthe-
rapie. Carl Auer, Heidelberg
Korittko A, Pleyer KH (2016) Traumatischer Stress in der Familie. Systemtherapeutische Lösungswege,
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen
139 10

Bahira: Wer kontrolliert


die Kontrolle?
Einzel- und Familientherapie eines Mädchens mit
dekompensierter Zwangsstörung

Kornelia Kofler und Elisabeth Wagner

10.1 Fallverlauf – 140


10.1.1 E rstgespräch – 140
10.1.2 Die erste Therapiephase mit den Eltern bzw. der
Kindesmutter (2. bis 7. Sitzung) – 141
10.1.3 Die erste Phase der Familientherapie (8. bis 20.
Sitzung) – 145
10.1.4 Die erste Phase der Einzeltherapie mit Bahira: In
­Kontakt kommen und begleitende Elternarbeit – 145
10.1.5 Die zweite Phase der Einzeltherapie mit Bahira
(magisches Denken, Externalisieren) und begleitende
Elternarbeit – 148
10.1.6 Die dritte Phase der Einzeltherapie mit Bahira (Arbeit
an den Gefühlen) und begleitende Elternarbeit – 150
10.1.7 Annäherungsphase, Zusammenführung zu Familien-
gesprächen (51. bis 62. Sitzung) – 153
10.1.8 Hausbesuche (90. bis 101. Sitzung) – 154
10.1.9 Therapieende (102. bis 115. Sitzung) – 155

10.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis – 156

Literatur – 159

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


E. Wagner, S. Binnenstein (Hrsg.), Wie systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
wirkt, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55547-7_10
140 K. Kofler und E. Wagner

Die zehnjährige Bahira kommt gemeinsam mit ihrer Mutter wegen einer seit Jahren
bestehenden und nun dekompensierten Zwangssymptomatik auf Empfehlung der Kin-
derärztin in Therapie. Anfänglich wird auch die therapeutische Situation von den Zwän-
gen des Mädchens beherrscht, die Mutter kann sich gegen die Befehle ihrer Tochter nicht
zur Wehr setzen. In einem fast dreijährigen Prozess mit über hundert Therapiesitzungen
in den verschiedensten Settings (Familientherapie, Elterngespräche, Einzelgespräche mit
der Mutter, Einzeltherapie mit der Tochter und Hausbesuche) wird nicht nur ein großes
Spektrum systemischer Interventionsmethoden angewandt, vor allem wird gezeigt, wie
beharrliche Ressourcenorientierung, Respekt vor den aktuellen Lösungsversuchen und
ein unerschütterlicher Glaube an die Veränderungsfähigkeit auch in schwierigsten Kon­
stellationen Entwicklung ermöglicht.

10.1 Fallverlauf

»» Man wird nicht aufbrechen ohne Not. Aber wenn man aufbricht, dann stellen sich
zwar Angst, Orientierungslosigkeit und Verzweiflung aber auch Vertrauen, neue
Einfälle und Hoffnung ein. (Kast 2012, S. 125)

Diese Fallbeschreibung schildert meine therapeutische Arbeit mit der Familie M., die
mich wegen der Zwangssymptomatik ihrer Tochter Bahira kontaktierte. Das Mädchen
Bahira und ihre Eltern wurden in einem Zeitraum von drei Jahren im Ausmaß von 115
Stunden von mir begleitet und stellten mich dabei vor zahlreiche Fragen und Heraus-
10 forderungen. Metaphorisch gesprochen, kann man es als Drahtseilakt zwischen thera-
peutischem Absturz und Neubeginn beschreiben. Der therapeutische Prozess entsprach
dem gemeinsamen Weg am Drahtseil. Meine therapeutische Haltung, wie in der Meta-
pher als Balancierstange verbildlicht, sowie die Methodenvielfalt vermittelte der Familie
Hoffnung und Zuversicht. Unterschiedliche Interventionsschritte, die hier nur zum Teil
beschrieben werden können, sind ausprobiert worden. Eine Intervention (Wege durch
den Nebel) habe ich für diese Familie neu entwickelt und seitdem auch für andere Fami-
lien gut nützen können.

10.1.1 Erstgespräch

Frau M. kontaktierte mich telefonisch und erzählte, dass sie und ihr Mann seit einiger
Zeit Probleme mit ihrer Tochter Bahira hätten. Ihre Tochter sei in Zwangsrituale ver-
strickt und wird aggressiv, wenn sie dabei unterbrochen wird. Sie wandte sich an ihre
Kinderärztin, die systemische Familientherapie empfahl und die Familie M. in meine
Praxis überwies. Die Mutter wirkte am Telefon extrem belastet, sodass wir ein Erstge-
spräch vereinbarten, obwohl der Kindesvater sich gerade auf einer längeren Geschäfts-
reise im Ausland aufhielt. Ein Aufschieben des Erstgepräches um mehrere Wochen bis
zur Rückkehr des Vaters schien angesichts der Krisenhaftigkeit der Situation nicht sinn-
voll. Als ich zu Bahira und ihrer Mutter ins Wartezimmer meiner Praxis kam, bot sich
mir ein überraschender Anblick: Frau M. (31 Jahre) saß weinend auf dem Ohrensessel
und Bahira (10 Jahre) lief an der Wand entlang durch das Wartezimmer, tippte jeweils
drei Mal auf jedes Möbelstück und schob dazwischen sechs Mal ihr Kleid auf und ab.
Bahira: Wer kontrolliert die Kontrolle?
141 10
Bahira ignorierte mich zu Beginn völlig. Ich setzte mich bei offener Zimmertür in den
Wartebereich und nahm vorsichtig Kontakt auf. Die Kindesmutter begrüßte mich
erschöpft und klagte weinend: „Ich kann nicht mehr.“ Das Mädchen wirkte nervös, auf-
geregt und war in ihre Zwangsrituale vertieft. Sie versuchte angestrengt, sich die Rei-
henfolge der angetippten Möbelstücke zu merken und erweiterte nur langsam das Areal
bis zu meinem Zimmer. Schon in diesem Augenblick war klar, dass dies kein klassisches
Erstgespräch werden und die Kontaktaufnahme mehr Zeit als üblich in Anspruch neh-
men würde. Bahira brauchte 20 Minuten, bis sie auf meiner Couch Platz nehmen
konnte. Sie versteckte ihr Gesicht hinter ihren Haaren und zog die Kapuze über den
Kopf. Sie blickte zu ihrer Mutter und gab ihr Kommandos, wie sie ihre Mimik und ihre
Körperhaltung verändern sollte. Die Kindesmutter führte jeden Befehl aus und sagte
immer wieder, dass sie Angst vor Bahiras Aggression hätte, wenn sie nicht alle Befehle
befolgte. Es fiel mir sehr schwer, mich auf die Gesprächsführung zu konzentrieren, da
mich Bahiras Rituale und der Befehlston gegenüber der Mutter irritierten. Mein erster
Impuls war, eine pädagogische Haltung einzunehmen. Ich fühlte mich eingeladen, die
fehlende Klarheit und Orientierung zu kompensieren und für Ordnung zu sorgen.
Doch ich entschied, diesem Impuls nicht zu folgen und die Regulierungsaufgabe bei der
Mutter zu belassen. In der ersten Stunde schilderte die Kindesmutter die Entstehungs-
geschichte von Bahiras Symptomen und ihrem Verhalten. Sie wurde immer wieder
durch Zwangsrituale und Befehle von ihrer Tochter unterbrochen. Es war in dieser ers-
ten Stunde nicht möglich, mit Bahira ins Gespräch zu kommen, sie ignorierte alle meine
Fragen. Im Laufe der Stunde war jedoch eine kleine Veränderung in ihrem nonverbalen
Verhalten bemerkbar: Sie wurde scheinbar neugierig, beobachtete mich immer wieder
und schenkte mir sogar ein Lächeln, als ich mich bei der Verabschiedung hinunter-
beugte, unter ihre Kapuze schaute und dabei einen Blick von ihr erhaschte. Ein kleiner
Vertrauensvorschuss wurde mir somit gewährt. Dennoch war ich unsicher, ob ein
ambulantes Therapieangebot in dieser Situation erfolgsversprechend sein könnte und
ob ich mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln angesichts der Chronizität und
Intensität der Zwangssymptomatik hilfreich sein könnte. Auch die Verabschiedung
dauerte lange, da Bahira den gleichen Ablauf wie zu Beginn wiederholen musste. Ich lud
zu den nächsten Terminen beide Eltern ein, um mir ein Gesamtbild der Familienge-
schichte und der aktuellen Situation machen zu können. Die Mutter-/Kind-Interaktion
beschäftigte mich noch lange nach dem Erstgespräch. Wie können sich Zwangsrituale
so massiv ausweiten? Was macht die Mutter so gefügig? Weitere Fragen, die mich nach
dem Erstgespräch beschäftigten, waren folgende: Wie kann ich eine tragfähige thera-
peutische Beziehung zu allen Familienmitgliedern herstellen? Wie kann ich überhaupt
mit Bahira in Kontakt kommen? Wie kann es gelingen, eine Veränderungsmotivation
bei Bahira aufzubauen? Wie kann es gelingen, dass Bahira aus den Zwangsritualen aus-
steigt und wie können sie die Eltern dabei unterstützen?

10.1.2  ie erste Therapiephase mit den Eltern bzw. der


D
Kindesmutter (2. bis 7. Sitzung)

Da Bahiras Zwangssymptome während des Erstgespräches sehr belastend waren und


ich den Eltern die Möglichkeit geben wollte, ungestört zu sprechen, lud ich für die
nächsten Gespräche, in denen es vor allem um die Anamnese ging, nur die Eltern ein.
142 K. Kofler und E. Wagner

Aufgrund der Geschäftsreisen des Vaters war dieser nicht bei allen Gesprächen anwe-
send. In den folgenden Gesprächen erfuhr ich, dass Bahira schon immer ein ängstliches
Kind war und sich wenig zutraute. Bahira spielte am liebsten alleine. Sobald Menschen
in der Nähe waren, versteckte sie sich schüchtern und ängstlich hinter ihrer Mutter,
sogar im innerfamiliären Rahmen. Bahira liebte gleichförmige Abläufe und Rituale,
sobald sich etwas änderte, begann sie zu weinen und zu schreien. Die ersten Zwangs-
symptome zeigten sich mit sieben Jahren und breiteten sich im häuslichen Umfeld
immer weiter aus. Bahira begann mit Ein- und Ausschaltritualen von Lichtschaltern
und der Kontrolle von Türen. Wie üblich, zeigten sich die Symptome zu Beginn aus-
schließlich im häuslichen Bereich. Als ich Bahira kennenlernte, betrat sie nur mehr den
Vorraum, das Wohnzimmer und das elterliche Schlafzimmer ohne Begleitung. Die
Küche war der erste Ort, den Bahira, aus Angst ihre Eltern mit den dort befindlichen
Messern zu verletzen, nicht mehr betreten konnte. Auf die Toilette und ins Badezimmer
ging sie nur in Begleitung ihrer Mutter. Das Badezimmer konnte sie aufgrund ihrer
Waschrituale und Zwangshandlungen kaum mehr verlassen. Die Kindesmutter wurde
in alle Rituale eingebaut und ständig kontrolliert, ob sie die richtige Reihenfolge ein-
hielt. Wenn Bahira einen Fehler bemerkte, musste das Ritual von Anfang an wiederholt
werden. Wenn Frau M. aus Zeitdruck genervt reagierte oder die Anweisungen nicht
befolgte, eskalierte die Situation. Nach der Küche wurde das Kinderzimmer, welches
neu umgebaut worden war, in den Zwang eingebaut. Bahira konnte keine Kleidungstü-
cke tragen, welche in diesem Zimmer waren und keine Gegenstände aus diesem Zim-
mer benützen. Bahiras magische Vorstellung war, dass sofort ein schreckliches Unglück
10 über die Familie herein bricht, wenn sie nicht ihren Zwangsgedanken folgte.
Nach der Einteilung von Jänsch zählt Bahira zu den Early-onset-­Zwangserkrankungen,
da sie bei Erkrankungsbeginn jünger als 12 bis 15 Jahre war. Diese Gruppe weist eine
größere Symptomvielfalt auf, hat ein höheres Chronifizierungsrisiko und bildet häufig
massive Zwangssymptome aus (Tominschek u. Schiepek 2007, Jänsch 2004). Nach dem
Wechsel ins Gymnasium breiteten sich die Zwangsrituale auch auf die Schule aus.
Bahira hatte Probleme mit ihren Schulkolleginnen, es entwickelte sich ein Teufelskreis
von Grübelzwängen, magischem Denken und Zwangsritualen. Die Kindesmutter
schaffte es lange, geduldig und einfühlsam zu bleiben, trotz massiver Ablehnung, Kon­
trolle und Gewalttätigkeiten ihrer Tochter. In den Monaten vor Therapiebeginn kam
allerdings auch die Mutter an ihre Grenzen und erwiderte die Aggression mit Gegenag-
gression. Dies war der Auslöser für die Suche nach professioneller Hilfe. Über die
Geschichte der Familie erfuhr ich in diesen Gesprächen folgendes: Herr und Frau M.
haben sich nach ihrer Zuwanderung aus Aserbaidschan ein erfolgreiches Leben aufge-
baut. Herr M. (35 Jahre) sorgte mit viel Engagement für die finanzielle Sicherheit seiner
Familie, der Lebensstandard der Familie war angenehm hoch. Allerdings gab es zahlrei-
che Ängste, dass diese Sicherheit wieder zerbrechen könnte. Bahiras Eltern lebten iso-
liert und hatten kaum Anschluss in Österreich. Die Eltern wirkten nach außen sehr
kontrolliert und überangepasst. Bahira bekam mit vier Jahren einen jüngeren Bruder
Yusuf, wodurch aus Sicht der Eltern die Familie komplett war. Sie entschieden sich
bewusst für zwei Kinder, da es ihnen wichtig war, den beiden eine gute Zukunft und
eine gute Schulausbildung zu ermöglichen. Die Beziehung zwischen Bahira und Yusuf
beschrieben die Eltern als unauffällig. Bahira freute sich nach der Geburt auf ihren Bru-
der und beim Spielen mit ihm vergaß sie ihre Zwangsrituale. Yusuf war in den Momenten
Bahira: Wer kontrolliert die Kontrolle?
143 10
von Bahiras Wutausbrüchen überfordert. Er zog sich dann in sein Zimmer zurück. In
der Genogrammarbeit wurde eine Häufung von Angst- und Zwangserkrankungen
deutlich: Neben der subklinisch ausgeprägten Angstsymptomatik bei Frau M. und
anderen Mitgliedern ihrer Herkunftsfamilie besteht bei beiden Großeltern väterlicher-
seits wie auch beim Kindesvater eine deutliche Zwangssymptomatik. Der Großvater
agierte im Familienverband mit religiös motiviertem, indoktrinierendem Zwangsver-
halten, die Großmutter unterzog sich stundenlangen Wasch- und Reinigungsritualen.
Niemand durfte sich, ohne die Kleidung gewechselt zu haben auf die Couch setzen oder
Lebensmittel ungewaschen in die Küche legen. Der Kindesvater setzt das Erlebte fort,
verlangt akribische Ordnung und macht wie seine Mutter extreme Hygienevorschriften
im Alltag. Ich musste an der Familienanamnese sehr beharrlich „dranbleiben“, da die
Familie gewohnt war, sich Fremden gegenüber zu verschließen und sehr lange brauchte,
um sich zu öffnen. Dies machte die Arbeit mit dieser Familie besonders herausfordernd.
So blieb z.B. lange unter Verschluss, dass es aufgrund der Überforderung Gewalt in der
Familie gab (beide Elternteile gegenüber der Tochter sowie die Tochter gegenüber der
Mutter), die Ehe kurz vor der Trennung stand und der Kindesvater missbräuchlichen
Umgang mit Alkohol pflegte. Allerdings: Bei jedem kleinen Gewinn des Vertrauens öff-
nete sich ein neues Türchen und ich erhielt zusätzliche Informationen, die mein Fallver-
ständnis anreicherten. Obwohl sich Zusammenhänge zwischen der Zwangsstörung des
Vaters, seinem Erziehungsverhalten, der Paardynamik der Eltern und der Symptomatik
von Bahira aufdrängen, gelang es nicht, den Vater kontinuierlich in die Therapie mitein-
zubinden. An einigen Elterngesprächen nahm Herr M. zwar teil, doch waren seine Pro-
blemeinsicht und sein Veränderungswille zunächst gering. Vielmehr suchte er die
Schuld für Bahiras Symptome bei seiner Frau, indem er ihr vorwarf, keine Grenzen zu
setzen und die Kinder zu sehr an sich zu binden. Herr M. warf seiner Frau vor, kein
eigenständiges Leben zu führen und sich in der Mutterrolle vor der Welt zu verstecken.
Er wollte ein Kindermädchen engagieren und seine Frau wieder an seiner Seite sehen.
Diese Forderungen erlebte Frau M. als massiv bedrohlich. Trotz oder wegen aller
Schwierigkeiten mit Bahira war es für sie undenkbar, die Erziehungsaufgaben an jemand
anderen abzutreten. In der Folge war Herr M. aufgrund von zahlreichen Geschäftster-
minen trotz zahlreicher Einladungen nur mehr selten in den Therapiestunden anwe-
send. Die weitgehend fehlende Kooperationsbereitschaft des Vaters war ein weiterer
komplizierender Faktor dieser Therapie. Immer wieder stiegen Zweifel in mir auf: Ein
Kind, das nicht nur in seinem Alltag, sondern auch in der therapeutischen Situation von
Zwangsritualen beherrscht wird und nicht mit mir spricht, eine Mutter, die sich gegen
die Zwangsrituale der Tochter nicht zur Wehr setzen kann und ein Vater, dessen eigene
Zwangsstörung und die daraus resultierenden familiären Regeln offensichtlich zur Auf-
rechterhaltung der Störung beitragen, aber nicht zur regelmäßigen Teilnahme an der
Therapie motiviert werden kann – wie kann diese Therapie gelingen? Als weitere Unter-
stützung empfahl ich den Eltern auch, eine auf die Behandlung von Zwangsstörungen
spezialisierte Verhaltenstherapeutin oder die Ambulanz der Kinder- und Jugendpsychi­
atrie zu konsultieren, doch die Familie war nicht bereit, sich neuen Personen gegenüber
zu öffnen und andere Helfer in ihr System zu lassen. So blieb mir nichts Anderes übrig:
Im Vertrauen auf menschliche Ressourcen und meinen Handwerkskoffer setzte ich den
Drahtseilakt ohne weitere professionelle Unterstützung fort. In dieser ersten Thera-
piephase mit den Eltern entstanden folgende Hypothesen: Die Eltern-Kind-Interaktion
144 K. Kofler und E. Wagner

war aus familientherapeutischer Sicht sehr interessant und deckte sich mit meinen
Erfahrungen mit Kindern mit Zwangsstörungen. In den meisten „Zwangsfamilien“
unterstützt ein Elternteil durch eine aktive Teilnahme an den Ritualen die Symptome
und der zweite Elternteil setzt das Kind durch komplette Verweigerung und Ablehnung
der Symptome unter Druck. Obwohl selber an einer Zwangsstörung leidend, war der
Kindesvater in diesem Fall der Kritiker im System. Scheinbar bedrohte es ihn, seine
eigenen Symptome im Spiegelbild sehen zu müssen. Er versuchte mit erzieherischem
Druck und Aggression, auf Bahiras Verhalten Einfluss zu nehmen, allerdings ohne
Erfolg. Bahira versuchte immer wieder, ihn am Abend in die stundenlangen Abläufe
einzubauen, worauf Herr M. zunehmend gereizt reagierte und schimpfend den Raum
verließ, unabhängig davon wie massiv die Zwangshandlungen von Bahira wurden. Die
Kindesmutter hingegen konnte sich Bahiras Forderungen nicht widersetzen, wodurch
das abendliche Schlafengehen zu einem zweistündigen Ritual wurde. Schon vor Aus-
bruch der Zwangsstörung, als Bahira vor allem durch ihre soziale Ängstlichkeit und die
Verweigerung von irgendwelchen Veränderungen auffiel, zeigte Frau M. ein ambivalen-
tes Verhalten: Auf der einen Seite fühlte sie sich in ihrer Rolle als Mutter bestätigt und
anerkannt, wenn Bahira sie häufig brauchte. Auf der anderen Seite wurde ihr diese
Abhängigkeit zu eng und sie reagierte genervt. Das ängstliche, zurückgezogene Verhal-
ten von ihrer Tochter war förderlich für das Aufrechterhalten ihrer Wichtigkeit als Mut-
ter und bestärkte sie in ihrem Glaubenssatz: „Außerhalb der Wohnung lauern Gefahren
und nur in meiner Nähe ist meine Tochter sicher“. Damals begann ein circulus vitiosus.
Die Mutter schützte das Kind vor Veränderungen, damit es unter keinen Umständen zu
10 Schreianfällen kam. Indem Bahira kaum etwas zugemutet oder zugetraut wurde, ver-
stärkten sich die Angstsymptome durch zunehmendes Vermeidungsverhalten. Die
Familie holte erst Hilfe, als die Zwangsrituale in zahlreiche Lebensbereiche hineinreich-
ten und der Alltag (Schule, Einkauf, Arztbesuche, Reisen usw.) nicht mehr zu bewälti-
gen war. In den fallweise stattfindenden Einzelgesprächen beklagte Frau M. immer
wieder, dass es wenig gemeinsame Elternschaft gab, da ihr Mann häufig im Ausland war
und sie sich eigentlich scheiden lassen möchte, ihr dazu aber der Mut fehlte. Meiner
Empfehlung einer externen Paartherapie folgten die Eltern nicht. Eine weitere Hypo-
these war daher, dass die Kindesmutter durch die Eheprobleme und ihren kulturellen
Hintergrund eine eher symbiotische Beziehung zu Bahira und Yusuf pflegte und sie
aufgrund von Angst vor Ablehnung bei den Kindern keine Grenzen setzte. Aufgrund
der sozialen Ängstlichkeit und der Rückzugstendenz der Mutter war Bahira die „beste
Freundin“ geworden, die auch in alle Eheprobleme eingeweiht war und in dieser Rolle
zu viel Macht bekam. Die Kindesmutter war sehr kritisch Bahiras Freundinnen gegen-
über. Sie sorgte sich, ob andere Kinder „gut genug“ für Bahira seien und brach zahlrei-
che Kontakte zu anderen Kindern und Familien ab. In den ersten Gesprächen mit den
Eltern war es diesen vor allem ein Anliegen, über die Symptome von Bahira zu spre-
chen. Sie waren Klagende im Sinne von de Shazer. Trotz der offensichtlichen Probleme
auf der Paarebene und den gegenseitigen Anschuldigungen, gelang es mir in den Eltern-
gesprächen nicht, sie zu einer Paartherapie zu motivieren. Dennoch kam es im Verlauf
der weiteren Gespräche zu einer gewissen Entspannung zwischen den beiden. Sie hat-
ten im geschützten therapeutischen Rahmen ihre unterschiedlichen Sichtweisen,
Bedürfnisse und Sorgen geäußert, sie wollten den Ehekonflikten keine Priorität einräu-
men und drängten auf Therapie für ihre Tochter. In dem Wissen um die innerfamiliäre
Dynamik hielt ich zunächst ein familientherapeutisches Vorgehen für sinnvoll.
Bahira: Wer kontrolliert die Kontrolle?
145 10
10.1.3 Die erste Phase der Familientherapie (8. bis 20. Sitzung)

In den darauffolgenden familientherapeutischen Sitzungen war es mir wichtig, dass die


Eltern zwar Platz für ihre Sorgen bekamen, jedoch nicht in einer Problemtrance ver-
harrten. Die Sitzungen sollten dazu beitragen, das Problem zu defokussieren und die
Aufmerksamkeit auf „normale“ Erfahrungen zu richten. Dabei halfen zum einen res-
sourcenaktivierende und unterschiedserzeugende Fragen nach Ausnahmen (Welche
Momente kennen/kannten Sie ohne Zwangsrituale ihrer Tochter? Wann haben Sie
unbeschwerte und einfache Zeiten miteinander? Welche Aktivitäten haben Ihnen frü-
her Freude bereitet, welche heute?), zum anderen versuchte ich aber auch, durch
gemeinsames Spielen (Brettspiele) konkrete Erlebnisse des unbelasteten Miteinanders
zu vermitteln. Nachdem durch die ersten Gespräche mit den Eltern bzw. der Mutter
eine gewisse Entspannung zwischen den Ehepartnern eingetreten war und diese sich
nicht mehr in jeder einzelnen Interaktion bekämpften, konnte in dieser Phase der Fami-
lientherapie auch eine Abnahme der aggressiven Stimmung in der Familie erreicht wer-
den. Die Eltern konnten motiviert werden, mit aller Entschlossenheit auf Gewalt zu
verzichten, dies war in den Elterngesprächen auch ganz klar als Bedingung für die wei-
tere Zusammenarbeit definiert worden. Obwohl sich an Bahiras Zwangssymptomatik
zu Hause und in der Schule kaum etwas änderte, kam es zu keiner körperlichen Gewalt
mehr, den Eltern gelang es besser, sich aus der Situation zu entfernen, wenn sie zu eska-
lieren drohte. Mutter und Vater konnten sich in heiklen Momenten ablösen, statt durch
gegenseitige Vorwürfe die Aggression noch zu verstärken. Wenn auch in den Spielsitu-
ationen das Zwangsverhalten Bahiras kurzfristig abnahm und sie sich beinahe unbeein-
trächtigt am Spiel mit den Eltern beteiligen konnte, trat die Symptomatik sofort auch im
Therapiekontext wieder auf, sobald die Zwangsstörung und die daraus resultierenden
Probleme von den Eltern thematisiert wurden. Ich musste in den gemeinsamen Gesprä-
chen mit Bahira und Frau M. mehrfach unterbrechen und Pausen einlegen, da Bahira
ihrer Mutter ständig Befehle erteilte und sie auch körperlich attackierte. In weiterer
Folge schien es daher sinnvoll, die Familie zu trennen, da die therapeutische Arbeit
durch Bahiras Anspannung und Aggression der Mutter gegenüber blockiert wurde und
sich trotz Entspannung des familiären Klimas nicht die gewünschte Verbesserung der
Symptomatik einstellte.

10.1.4  ie erste Phase der Einzeltherapie mit Bahira: In Kontakt


D
kommen und begleitende Elternarbeit

Da im Familiensetting keine weiteren Erfolge zu erwarten waren, entschied ich mich für
Einzelstunden mit Bahira und begleitender Elternarbeit. In der ersten Therapiephase
(1. bis 20. Sitzung), die sich über gut vier Monate erstreckt hatte, war es zwar zu keiner deut-
lichen Abnahme der Symptomatik gekommen, aber zumindest war eine vertrauensvolle
Beziehung zu allen Beteiligten angebahnt worden. Ich hatte Grund zur Hoffnung, dass
Bahira das Einzelsetting nun für sich nützen könnte – sicher konnte ich mir diesbezüg-
lich aber keineswegs sein. Manchmal braucht es auch den „Mut der Verzweiflung“, um
den therapeutischen Drahtseilakt fortzusetzen. Mein therapeutisches Motiv für die Ein-
zelarbeit mit Bahira war, dass ich ihr die Chance geben wollte, in einem affektiv neutralen
Raum ohne Problemtrance der Eltern auf kreativ-spielerische Art Erfahrungen zu
146 K. Kofler und E. Wagner

sammeln und sich mit ihren Bedürfnissen jenseits der Zwangsrituale zu beschäftigen. Zu
Beginn befürchtete ich, dass Bahira möglicherweise das Angebot verweigern und mich
als von der Kindesmutter ausgewählte Person ablehnen könnte. Doch ich wurde von
einer Kollegin bestärkt: „Bei Kindern mit Zwangsstörungen ist es wichtig, dass der The-
rapieraum nicht immer mit den Eltern kontaminiert ist, da Eltern in Zwangssystemen
häufig übergriffiges, kontrollierendes Verhalten zeigen.“ Tatsächlich fiel es Bahiras Mut-
ter am Anfang schwer, die Praxis während der Einzelstunden mit Bahira zu verlassen, sie
bestand darauf, im Vorzimmer zu warten. Als sie meiner Bitte endlich doch Folge leistete,
konnte sich Bahira deutlich besser entspannen und beginnen, sich mitzuteilen. Wenn ich
mit Bahira alleine im Zimmer war, wirkte sie zwar schüchtern, aber ohne Anspannung
und Aggression. Ich versuchte das Vertrauen von Bahira zu gewinnen, indem ich ihr zu
verstehen gab, dass ich ihr nichts an Ritualen und Zwängen wegnehmen wollte, was ihr
derzeit hilft, den Alltag zu bewältigen. Sie überprüfte mich häufig skeptisch, ob ich nicht
doch wie ihre Eltern Veränderungsdruck aufbauen würde. Anfänglich war Bahira im
Einzelkontakt noch sehr unsicher, sie nahm wenig Blickkontakt auf und sprach kaum. Da
die meisten Kinder in diesem Alter gerne Uno und Skip Bo spielen, legte ich diese zwei
Spiele vor sie hin und wartete auf ihre Reaktion. Sie blickte mich irritiert an und meinte:
„Du willst nix von mir und wir spielen jetzt?“ Worauf ich bestätigte: „Das ist heute deine
Stunde und du darfst sie gestalten, wie du möchtest. Ich möchte dich gerne noch besser
kennenlernen.“ Verunsichert griff Bahira zu Uno und wir spielten eine Zeit wortlos.
Immer wieder beobachtete sie meinen Blick und meine Haltung. Für kurze Momente sah
ich ein fröhliches und entspanntes Kind. Wenn sie gewann, entkam ihr ein kurzes
10 Lächeln, das sie sofort wieder kontrollierend zu einem ernsten Gesicht veränderte. Nach
ein paar Runden Uno konnte ich sie dazu bewegen, in meinem Zimmer alle Spielbereiche
und Spielmaterialen zu besichtigten, um so mehr über ihre Vorlieben zu erfahren. Wir
sichteten alle Materialen und sie signalisierte mir nonverbal, dass sie gerne zeichnet und
Gesellschaftsspiele mag. Da sie noch immer Schwierigkeiten hatte, ihre Wünsche auszu-
sprechen, gab ich ihr ein paar Klebepunkte, damit sie die passenden Spiele markieren
konnte. So konnten wir ohne Sprache auf ihre Bedürfnisse eingehen. Ich war überrascht,
dass sie bei diesem Prozess keine Zwänge zeigte und relativ rasch ohne große Ambivalenz
Spiele aussuchen konnte. Immer wieder verspürte ich den Drang, mehr zu fragen oder zu
sprechen, aber ich entschied, Bahira die Initiative zu überlassen, damit sie sich nicht neu-
erlich wie ein stacheliger Igel zeigen musste und sich langsam in ihrem Tempo öffnen
konnte. Erste Schritte des Vertrauens konnte ich daran erkennen, dass Bahira am Ende
der Stunde zaghaft zu sprechen begann und meinem Blick nicht mehr auswich. Dies
ermutigte mich, parallel zur begleitenden Elternarbeit diese Spieleinheiten zu wiederho-
len. Nebenbei erzählte ich immer wieder von anderen fiktiven Kindern, wofür sie die
Therapie nützen und wobei ich ihnen helfen konnte. Als Therapeutin vermittelte ich
durch diese Erzählungen, dass es in diesem Bereich Hilfe gibt und Bahira in ihrer Situa-
tion nicht alleine ist. In den weiteren Einzelstunden begann Bahira langsam aus ihrem
Schulalltag zu erzählen, wobei sie vor allem die Konflikte mit ihren Freundinnen sehr
beschäftigten. Da Bahira selber ihre Zwangssymptome nicht ansprach, nützte ich
zunächst die durch die Abwesenheit der Mutter geschaffene Gelegenheit, mich anderen
Themen zuzuwenden, den „normalen Sorgen“ einer Elfjährigen. Bahira verfolgte das
Ziel, angstfrei in die Schule zu gehen. Sie fragte mich z.B.: „Weißt Du wie man Freundin-
nen bekommt und man sich nicht sofort zerstreitet?“ Im Zusammenhang mit diesem
Bahira: Wer kontrolliert die Kontrolle?
147 10
ersten von Bahira geäußertem Anliegen kamen Rollenspiele mit Handpuppen, Playmo-
bil-Figuren, Puppenhaus-Figuren und Übungsdialoge mit mir als Therapeutin zur
Anwendung. Im geschützten therapeutischen Rahmen konnte Bahira lernen, eine
Außenperspektive einzunehmen und sich in andere hineinzuversetzen. Neue Verhal-
tensweisen konnten erprobt und in ihren Auswirkungen reflektiert werden. Zusätzlich zu
den wöchentlichen Einzelsitzungen mit Bahira fanden in dieser Zeit ebenfalls ca. einmal
wöchentlich Elterngespräche statt. Die Themen waren so vielfältig, dass ich mich immer
wieder auf das Wesentliche konzentrieren musste, um das gemeinsame Ziel der Stabili-
sierung nicht aus den Augen zu verlieren. Das formulierte Ziel der Eltern war: Sie wollen
ruhiger und gelassener mit Bahira umgehen und ihre Fähigkeiten und Talente wiederent-
decken. Für die begleitende Elternarbeit war für mich eine Sichtweise von Omer und
Lebowitz (2012, S. 152) hilfreich: „Das Leid des zwanghaften Kindes ist nicht wichtiger
oder bedeutsamer als das Leid seines Umfeldes. Tatsächlich liegt die einzige Hoffnung
des zwanghaften Kindes und seiner Familie auf einer Veränderung der Situation im
Widerstand der Eltern gegen die Kontrollherrschaft.“ Diese Sichtweise ermöglicht einen
nicht konfrontativen, achtsamen, verständnisvollen Blick sowohl auf die Eltern als auch
auf das Kind. Und sie ermutigt die Eltern, sich nicht von den Zwangssymptomen des
Kindes tyrannisieren zu lassen. Eltern von zwangserkrankten Kindern sind häufig
gelähmt durch Schuldgefühle, sie machen sich zahlreiche Vorwürfe, statt sich mit Ent-
schlossenheit an die Seite des Kindes gegen den Zwang zu stellen. Ich sah die Überforde-
rung der Eltern und kommentierte: „Ich sehe, dass sie ihr Kind lieben und nehme an,
dass Ihr Verhalten aufgrund von Hilflosigkeit passiert!“ Diese wertschätzende Haltung
ermöglichte den Eltern zunehmend, offen über ihre Überforderung zu reden und wir
entwickelten gemeinsame Ideen, wie sie aus dem Gewaltkreislauf aussteigen konnten.
Die Eltern vereinbarten Zeichen, wie sie in kritischen Situationen Erziehungsaufgaben
bei eigener Erschöpfung übergeben bzw. von dem anderen Elternteil übernehmen konn-
ten. Bei der Kindesmutter entwickelten wir Methoden rund um die Metapher „Notaus-
gang“, damit sie sich gelassener und geduldiger in den angespannten Situationen zeigte.
Frau M. beschrieb häufig, dass ihr die Imagination des Notausgang-­Schildes half, eine
Beobachterinnenposition einzunehmen und die Situation vor der Eskalation zu verlas-
sen. Ein wesentlicher Schritt war, die Idee zu etablieren, dass die Eltern und Bahira
gemeinsam gegen den Zwang angingen und nicht mehr die Eltern gegen das Kind und
umgekehrt. Die Eltern wurden dabei unterstützt, folgende Haltung gegenüber ihrer
Tochter und deren Zwangsstörung einzunehmen: „Wir kämpfen gemeinsam gegen den
Zwang an und nicht gegen Dich. Dich als Kind lieben wir, aber so manches Verhalten/
Ritual werden wir gemeinsam verändern! Wir sehen Deine Not und stehen Dir bei.“ Die
Eltern übernahmen wieder Führungskompetenz und zeigten durch ihr Verhalten, dass
sie sich nicht mehr Bahiras Ängsten und Zwängen unterordnen wollten. Zur Veran-
schaulichung dieser Arbeit sei hier eine Gesprächssequenz zwischen der Kindesmutter
(im Folgenden mit KM abgekürzt) und der Therapeutin (im Folgenden mit Th. abge-
kürzt) wörtlich wiedergegeben:
KM: „Jeden Abend, wenn wir zu Bett gehen, brauchen wir zwei bis drei Stunden.
Bahira muss mehrfach die Lichtschalter in allen Zimmern auf- und abdrehen, sich
immer wieder im Spiegel betrachten und in ihrem Zimmer alles verschieben. Sie
kann schon lange nicht mehr in ihrem Zimmer schlafen, da es dort böse Geister
gibt.“
148 K. Kofler und E. Wagner

Th.: (mitfühlend, verstärkend): „Gut, ich höre aus Ihrer Schilderung, dass es viele
einzelne Schritte am Abend braucht, bis sie gemeinsam schlafen gehen können.“
KM: (erschöpft): „Ja, es ist aber leider noch nicht fertig, denn wenn Bahira endlich im
Bett liegt, fordert sie von mir die gleichen Abläufe. Sie gibt mir ständig Kommandos
und Befehle aus dem Bett. Wenn ich nicht mache, was sie will, beginnt sie zu schreien
und versucht mich zu schlagen.“
Th.: (verwundert): „Verstehe ich Sie richtig, dass Sie von Bahira aufgefordert werden,
alle Abläufe zu wiederholen? Welche Fähigkeiten bringt Ihre Tochter mit, dass es ihr
gelingt Sie zu kommandieren und sich so zu verhalten?“ (positive Konnotation)
KM: (irritiert): „Ich konnte noch nie sehen, dass dies Fähigkeiten sind. Aber wenn
ich darüber nachdenke, kann sie sicher einmal Chefin werden (lacht). Im Alltag zeigt
sie oft, dass sie ihre Meinung gut vertreten kann und sich nicht so leicht manipulie-
ren lässt. Sie kann sich auf ihre Dinge gut konzentrieren und ist nicht so leicht
ablenkbar. Ich bewundere sie oft dafür, da mir das nicht gelingt. Ich weiß nur nicht,
welcher Mitarbeiter sich von seiner Chefin schlagen ließe.“ (traurig)
Th.: (lässt Raum und Zeit zum Nachdenken): „Worüber denken Sie gerade nach? Sie
machen einen traurigen Eindruck, ist meine Beobachtung richtig?“

Nach längerer Pause:


KM: (traurig): „Wieso lasse ich mich von ihr schlagen? Ich arbeite ja auch die ganze
Woche für sie und versuche mein Bestes. Ich fürchte mich vor meiner eigenen Tochter
und das möchte ich nicht mehr. Ich glaube nicht, dass sie es absichtlich macht. Der
Zwang hat sie im Griff und sie schafft es allein nicht heraus …“. .
10
Für Frau M. wurde es durch Gespräche wie diese möglich, eine andere Sichtweise ein-
zunehmen und einen klaren Blick zu bekommen. Sie schaffte es, das Verhalten von sich
und ihrer Tochter differenziert zu betrachten und ihre eigenen Bedürfnisse wahrzu-
nehmen. Sie erkannte, dass nicht das gesamte Verhalten von Bahira schlecht war, son-
dern dass sie gewisse Anteile und Muster ablehnt. Nach dieser Sitzung konnte die KM
wieder die Stärken ihrer Tochter wahrnehmen und ließ sich nicht mehr in alle Rituale
einbauen. Sie schaffte es, aufgrund der therapeutischen Gespräche mit mehr Humor aus
den Situationen auszusteigen, und teilte ihrer Tochter öfters mit, was sie Positives für sie
empfand.

10.1.5  ie zweite Phase der Einzeltherapie mit Bahira


D
(magisches Denken, Externalisieren) und begleitende
Elternarbeit

In späteren Einzelgesprächen erzählte mir Bahira immer offener über ihre magischen
Vorstellungen und Ängste: So berichtete sie von dem Gedanken, dass sie Gegenstände
in einer bestimmten Art und Reihenfolge berühren müsse, damit sich ihre soziale
Position in der Klasse verändere und sie von ihren Schulkolleginnen mehr geschätzt
würde. Je mehr sie zur Außenseiterin wurde, desto mehr intensivierte sie die Rituale.
Sie ärgerte sich schrecklich, wenn sie jemand dabei unterbrach und sie wieder von
vorne anfangen musste. Da die Rituale bereits den ganzen Tag beanspruchten, war
Bahira: Wer kontrolliert die Kontrolle?
149 10
natürlich keine Zeit mehr für normale Erfahrungen gegeben. Bahira äußerte häufig
die Sorge, dass ihre Mutter oder Großeltern sterben könnten und sie durch ihre
Gedanken Unglück abwenden könne. Sie hatte die Vorstellung, dass das Schicksal
durch ihre Gedanken kontrollierbar wäre. Dies vermittelte ihr ein scheinbares Gefühl
der Sicherheit. Hilfreich war in diesem Zusammenhang eine Externalisierung: Bahira
entwickelte das Bild eines „Zwangs- und Angst-Teufelchens“, welches in ihr wütet
und tobt. Dieses Teufelchen wurde in weiterer Folge nicht nur gezeichnet und gemalt,
wir gestalteten diesen inneren Begleiter auch mit Ton und Knetmasse. Im Laufe der
Zeit führte Bahira eine Gegenspielerin, „die Glückskatze“ ein, die sich mit schlauen
Tricks gegen den tobenden Anteil in ihr wehrte. Aus diesem inneren Bild entstanden
schöne Sequenzen, in denen Bahira Comics mit beiden Figuren zeichnete und
Geschichten dazu erfand. Sie hängte sich zu Hause ein Teufelchen und eine Katze ins
Badezimmer, diese Symbole erinnerten sie daran: Nicht „es“ (Teufelchen) kommt
über mich, sondern ich habe Einfluss auf meine Gedanken und Handlungen. Diese
Arbeit war auch Voraussetzung dafür, die Verflechtungen von Fantasie, Zwangsge-
danken, magischem Denken und Wirklichkeit zu bearbeiten. Bahira wurde zuneh-
mend bewusst, welche Gedanken in ihrem Kopf entsprangen und sie konnte sich
schrittweise von der Überzeugung, großes Unheil durch banale Alltagshandlungen
auszulösen, distanzieren. Zumindest erkannte sie, „dass diese Gedanken das Problem
waren“ und die Zwangshandlungen, die sie entsprechend vollzog eine höchstproble-
matische Lösung. In der begleitenden Elternarbeit kam es in dieser Phase wegen aus-
gedehnter Auslandsaufenthalte des Vaters zu mehreren Einzelgesprächen mit der
Mutter. Die Verbesserung ihrer sozialen und beruflichen Situation schien dringend
nötig, doch war Frau M. in dieser Phase zu deutlichen Veränderungen noch nicht
bereit. Immerhin konnte sie motiviert werden, ein früheres Hobby wieder aufzugrei-
fen (sie begann wieder zu malen), bewusster zu essen und mehr Bewegung zu machen.
Im Laufe der Therapie wurde Frau M. selbstbewusster und stellte sich im Alltag
zunehmend hinter Bahira und Yusuf und gegen die Anforderungen ihrer und seiner
Familie. Sie lernte zunehmend, ihrem Mann gegenüber ihre Meinung zu vertreten,
das anfänglich zu beobachtende, auffällig inkongruente Verhalten nahm ab. In einem
Gespräch mit beiden Eltern gestaltete ich eine „Ressourcen-Landkarte“ mit famili­
ären Stärken. Ich nannte diese Intervention „Wege durch den Nebel“, weil „Zwangsfa-
milien“ häufig aufgrund all ihrer Probleme die Orientierung verlieren und das Gefühl
haben, wie in einem Nebelzustand durch die Welt zu irren. Für „Wege durch den
Nebel“ benutzte ich ein großes, weißes Blatt Papier, welches eine weiße Schneeland-
schaft voller Nebel symbolisiert. Danach fordere ich die Beteiligten auf, Orientie-
rungsfahnen einzuzeichnen und in jede Fahne ein Symbol zu malen für die Dinge, die
ihnen derzeit in ihrem Leben Halt geben und für Situationen, die gut funktionieren.
Bahiras Eltern fanden auf diesem Weg heraus, dass sie nicht alles falsch gemacht
haben und dass es noch Bereiche gibt, wo sie kompetent und handlungsfähig sind.
Jede Stunde erzählten sie von neuen Kompetenzen und guten Erlebnissen, die ihnen
zwischenzeitlich eingefallen sind und die sie dann in der Stunde als Fähnchen auf ihre
Karte malten. So entstanden Fähnchen für gemeinsame Situationen bei Tisch, die gut
funktionierten, oder die Zusammenarbeit mit der Schule und so mancher Ausflug mit
der Familie.
150 K. Kofler und E. Wagner

10.1.6  ie dritte Phase der Einzeltherapie mit Bahira (Arbeit


D
an den Gefühlen) und begleitende Elternarbeit

Bahira begann in weiterer Folge in der Therapie auch, ihre Verhaltensweisen und
Gefühle zu hinterfragen. Hatte sie am Anfang noch erklärt: „Die Kraft in meinem Kopf
hat die Macht. Meine Mama muss alles tun, was die Kraft sagt, sonst muss ich sie schla-
gen!“. fragte sie mich nun: „Warum bin ich so wütend auf meine Mama, ich will ihr doch
nicht weh tun! Kannst Du mir helfen?“ Wir erarbeiteten die Zusammenhänge zwischen
Ängsten, Zwangsverhalten und dem Entstehen von Wutgefühlen. Wenn andere Men-
schen nicht so handeln, wie es der Zwang im Kopf vorgab, brach das Wutgefühl bei
Bahira durch. Es war nun möglich, klassische Elemente lösungsorientierter und narra-
tiver Therapie zu nützen: Wir skalierten die Wut, wir kontextualisierten (welches Ver-
halten ihrer Mutter löst besonders starke Wutgefühle aus?) und erzeugten Unterschiede
(wann war Bahira mehr wütend, wann weniger, wann kann sie ihre Wut besser steuern,
wann nicht?) und wir förderten die Wahrnehmung für besonders heikle Momente
(„Meine Wut steigt auf bis zur Explosion.“) Bahira erzählte mir, dass Mama und Papa
auch sehr wütend werden können und sie nicht versteht, warum sie das nicht zeigen
darf. Die Kindeseltern und die Umgebung erwarteten von ihr als Mädchen eine überan-
gepasste, ruhige, fröhliche Haltung. Wir überlegten uns, in welchem Lebensbereich Wut
Vor- oder Nachteile hatte. Bahira überraschte mich damit, wie gut sie diese Bereiche
beschreiben konnte. Von der Idee ausgehend, dass Gefühle steuerbar sind, versuchten
wir, einen neuen Umgang damit zu erarbeiten. In diesem Zusammenhang war die
10 Arbeit mit dem „Gefühlefilter“ besonders hilfreich. Für diese Aufgabe verwende ich
gerne ein rechteckiges Schaumstoffteil, dem ein Kind den Namen „Gefühlefilter“ gege-
ben hat. Zuvor frage ich die Kinder, wo sich das Gefühl in ihrem Körper entwickelt und
sie dieses Gefühl als erstes spüren. Wenn dieser Körperteil benannt ist, legen sich die
Kinder auf eine Decke und bekommen das Schaumstoffteil aufgelegt. Bahira beschrieb,
dass ihr Bauch zu brennen beginnt, wenn sie wütend ist, daher legten wir das Schaum-
stoffteil auf ihren Bauch. Jetzt überlege ich gemeinsam mit den Kindern, wie es gelingen
kann, dass das Gefühl zwar auftaucht, aber nicht durch das Schaumstoffteil durchbricht
und alles zerstört. Ich zeigte Bahira z.B. ein paar Atemübungen, damit sie die Wut
„wegatmen“ kann und wir überlegten uns hilfreiche Imaginationen, um vor der Wutex-
plosion aussteigen zu können. In der Folge gelang es auch, im Rahmen von Rollenspie-
len Bahiras Fähigkeit, in angemessener Form der Mutter zu signalisieren, dass ihre
Grenzen überschritten werden und sie wütend wird, zu verbessern. Ich ließ mir von
Bahira das Verhalten ihrer Mutter beschreiben und übernahm deren Rolle. Am Ende
jeder Stunde vereinbarte ich mit Bahira einen bestimmten Tag (Geheimtag), an dem sie
dieses neu gelernte Verhalten ausprobierte. Die Woche darauf befragten wir die Eltern,
ob ihnen etwas aufgefallen sei. Dadurch wurde die Aufmerksamkeit der Eltern auf posi-
tive Veränderungen gelenkt und Bahiras Wutausbrüche wurden seltener. Sehr häufig
erkannten die Eltern den Tag, was Bahira weiter bestärkte, da sie von ihnen und mir viel
Anerkennung für ihre Anstrengungen erhielt. Eine weitere hilfreiche Intervention in
dieser Therapiephase war der „Gefühle-Joystick“: Bei unserer gemeinsamen Suche nach
Möglichkeiten, wie Bahira lernen könnte, ihre Ängste und Fantasien zu steuern,
erwähnte sie plötzlich, dass es gut wäre, wenn sie einen „Gefühle-Joystick“ in ihrem
Bauch hätte: Dann hätte sie die Kontrolle über ihre Emotionen und nicht mehr das
Bahira: Wer kontrolliert die Kontrolle?
151 10
Umfeld. Da sie sehr gerne zeichnete, überlegten wir uns, wie so ein „Gefühle-Joystick“
ausschauen könnte. Sie malte einen bunten Joystick und beschrieb, dass er die Gefühle
böse, lieb, traurig, wütend und aggressiv auslösen kann (. Abb. 10.1). Er ist in alle Rich-

tungen lenkbar und es war ihr besonders wichtig, dass nur sie dieses Gerät bedienen
konnte. Keine andere Person durfte den Joystick in die Hand nehmen. Jede Stunde
erzählte sie, wie es ihr gelang, die negativen Gefühle in positive zu verändern. Eines
Tages meinte sie: „Leider wurde ich wieder wütend, und ich muss noch Ventilatoren
dazu malen, damit sich der Joystick abkühlt, wenn er zu heiß wird.“ Sie nahm ihre
Zeichnung und malte zwei Ventilatoren dazu. In den folgenden Wochen war sie sehr
stolz, dass sie immer öfter den Joystick in eine positive Richtung bewegen konnte und
es dadurch kaum noch zu Eskalationen gekommen war.
Da die Gefühlssteuerung zumindest in der Schule immer besser gelang und Bahira
zunehmend die Bedürfnisse anderer wahrnehmen konnte, fand sie einige Freundinnen
und fühlte sich nicht mehr ausgeschlossen. Bahira berichtete mir eines Tages freu-
destrahlend: „Ich drehe nicht mehr durch, wenn mich andere Kinder berühren und ich
muss danach nicht mehr meine Kleidung auf- und abschieben.“ Sie war in den Pausen

..      Abb. 10.1  Bahiras „Gefühle-Joystick“


152 K. Kofler und E. Wagner

mit den Freundinnen beschäftigt und dachte nicht mehr an ihre Zwänge. Die Selbst-
und Fremdwahrnehmung pendelte in einer natürlichen Bewegung hin und her und es
gelang ihr, die Körpersprache und Mimik des Umfeldes besser zu deuten. Dennoch
schilderte Bahira immer wieder die Sorge, dass sie in der Schule nicht akzeptiert wird,
weil sie so anders ist und nicht zu Freundinnen gehen darf. Ich kaufte daher ein paar
Mädchenzeitschriften, um gemeinsam mit Bahira eine kreative Collage mit „Mädchen-­
Themen“ zu gestalten. Auch hier versuchte ich, eine Zielfokussierung einzuführen,
indem ich Bahira aufforderte, alles, was sie sich von ihrer zukünftigen Identität als Mäd-
chen wünscht, im Zentrum der Collage anzuordnen und die problematischen Aspekte,
die sie zu überwinden hofft, an den Rand zu platzieren. In dieser Stunde war Bahira sehr
locker und gelöst, sie plauderte und erzählte erleichtert aus der Schule. Es gab sogar ein
paar Momente, in denen Bahira fröhlich war und wir gemeinsam lachten. Bahira wollte
auf keinen Fall, dass ihre Mutter diese Collage sieht, da sie mit Kritik rechnete. Diesen
Wunsch respektierte ich und wir suchten gemeinsam ein gutes Versteck für das Plakat.
Wichtig war ihr hingegen der Transfer dieser Arbeit in den Schulalltag. Sie wollte ein
Foto vom Plakat machen und mit ihren Schulkolleginnen darüber reden, um sie dann
auch nach deren Interessen zu fragen. Eine Zeitschrift zerschnitt sie nicht und fragte
mich, ob sie diese für die Schule haben könne. Wir überlegten gemeinsam, mit welchem
Mädchen sie zuerst diese Zeitschrift betrachten wollte. Aufgrund ihrer großen Unsi-
cherheit war es Bahira wichtig, konkrete Schritte genau vorzubereiten, da sie sonst den
Übergang in den Alltag nicht schaffte. Wenn sie sich zu viel vornahm, geriet sie unter
Druck und die Zwänge erhöhten sich wieder. Beim nächsten Gespräch erzählte sie mir,
10 dass sie sehr glücklich sei, weil das gewünschte Mädchen in der Pause wirklich Interesse
an der Zeitschrift gezeigt hatte und sie jetzt schon häufiger miteinander sprachen und
spielten. Für meine Beziehung zu Bahira war es wichtig, jeden Entwicklungsschritt inte-
ressiert aufzugreifen. Daher gibt es in meinen Aufzeichnungen immer einen Hinweis,
wonach ich beim nächsten Mal fragen sollte. Kinder beobachten uns sehr genau, was
wir wertschätzen und achtsam wahrnehmen. In den Elterngesprächen griff ich das
Thema auf und versuchte zu klären, warum die Eltern Sozialkontakte unterbinden. Wir
besprachen die Auswirkungen dieses Verbots auf Bahiras Stellung in der Klasse, das Ziel
war, Frau M. zu ermutigen, ihrer Tochter mehr Freiräume zu gewähren. Frau M. konnte
sich in der Folge dazu entschließen, Bahira mit den Freundinnen alleine in die Schule
fahren zu lassen und ihr zu erlauben, an einem Nachmittag pro Woche drei Stunden bei
einer Freundin zu bleiben. Bahira war sehr glücklich über diesen Freiraum, was sich
wiederum sehr förderlich auf die Beziehung zwischen den beiden auswirkte. Sequenzen
wie diese machen deutlich, wie hilfreich es sein kann, wenn in unterschiedlichen Set-
tings an denselben Themen gearbeitet wird. Frau M. fiel es zu Beginn noch schwer, ihre
Tochter „loszulassen“, aber nach einigen Gesprächen über die damit verbundenen
Ängste konnte sie Bahira immer mehr zutrauen. In dieser Therapiephase entschied sich
Frau M. für eine Weiterbildung, um einen Einstieg ins Berufsleben vorzubereiten. Sie
erlaubte sich ein wenig mehr, sich mit eigenen Interessen zu beschäftigen. Bis dahin war
mir lange Zeit nicht klar gewesen, ob die Eltern überhaupt wollten, dass Bahiras Symp-
tome ganz verschwinden. Bahira als Symptomträgerin ersparte es den Eltern, sich mit
ihrer Paarproblematik und den eigenen Lebensthemen zu beschäftigen. Daher bedurfte
es vieler Anläufe und wohldosierter kleiner Schritte, um die elterlichen Beiträge zur
Aufrechterhaltung und Chronifizierung der Zwangssymptomatik zu reduzieren. Omer
Bahira: Wer kontrolliert die Kontrolle?
153 10
und Schlippe weisen darauf hin, dass Eltern ihr Kind am besten unterstützen, wenn sie
auf altersangemessene Forderungen nicht verzichten. Sie nennen dies die Ankerfunk-
tion. Eltern fungieren demzufolge als Anker, wenn sie dem Kind einerseits eine sichere
und stabile Beziehung ermöglichen und ihm andererseits zeigen, dass sie imstande sind,
problematische Reaktionen seitens des Kindes aufzufangen (Omer u. von Schlippe
2011). Bahiras Eltern lernten, Sicherheit und Stabilität zu vermitteln, unter anderem
auch dadurch, dass sie Bahira Einhalt gebieten, wenn sie ein vermeidendes oder selbst-
gefährdendes Verhalten an den Tag legte. Hinzu kam, dass sie Bahira mehr zutrauten
und sie altersadäquat in die Selbstständigkeit entließen. Ängstliche Kinder brauchen
das Wechselspiel zwischen einer fordernden und haltgebenden Umgebung. Bahiras
Eltern stellen die Forderung, dass sie alleine in die Schule fährt, sich aktiv an der Haus-
arbeit beteiligt und stundenweise alleine zu Hause bleibt, dafür trauten sie ihr zu, Zeit
bei Freundlinnen zu verbringen und altersadäquate Sozialkontakte zu pflegen.

10.1.7 Annäherungsphase, Zusammenführung zu


Familiengesprächen (51. bis 62. Sitzung)

Nachdem ich mehrere Monate mit Bahira einzeln und den Eltern bzw. der Mutter pa­ral-
lel gearbeitet habe, hat sich die familiäre Interaktion soweit beruhigt, dass auch wieder
eine Arbeit im Familiensetting möglich schien. Ich lud die Eltern jeweils zum Stunde-
nende der Sitzungen mit Bahira ein, wobei wir die gemeinsame Zeit schrittweise auf 20
bis 30 Minuten steigerten und die Zeit dafür nutzten, gemeinsame Strategien gegen die
Zwangssymptomatik zu entwickeln. Dieses Setting erlaubte mir, zuerst mit Bahira kon-
krete Ziele zu erarbeiten (z.B., dass Bahira an jedem Abend versucht, für zehn Minuten
ihr Zimmer zu betreten und in ihrem Bett zu liegen, oder eine Frage nur dreimal stellte
und nicht uneingeschränkt), diese dann den Eltern zu präsentieren und deren Möglich-
keiten, diese Vorhaben zu unterstützen, zu verhandeln. Das förderte die Formulierung
realistischer Ziele und durch die Kooperation aller Beteiligten erhöhte es die Erfolgs-
wahrscheinlichkeit. Darüber hinaus stärkte dieses Vorgehen Bahiras Selbstwirksam-
keitsüberzeugungen und mobilisierte die „konstruktiven Kräfte“ im System: Wer kann
was dazu beitragen, dass die von Bahira definierten Zwischenziele der Zwangsreduktion
erreicht werden? Im Sinne der gemeinsamen Kontraktschließung hielten wir diese Ver-
einbarungen schriftlich fest. Ich überreichte dazu am Anfang dieser Therapiephase der
Familie ein Buch mit einem Kartoneinband. Die erste Familienaufgabe bestand darin,
das Cover gemeinsam zu gestalten und einen positiven Buchtitel für das Buch zu finden.
In weiterer Folge wurde in jeder Sitzung bestimmt, welches Ritual bis zum Wiedersehen
beendet wird. Die entsprechenden Vereinbarungen wurden im Buch festgehalten und
konnten damit jederzeit überprüft werden. Wenn es Bahira besonders schlecht ging,
waren solche Vereinbarungen nicht möglich. In diesen Situationen hatte sie panische
Angst, dass ihr jemand ihren scheinbaren Stabilitätsfaktor „Zwang“ wegnehmen könnte
und sie so keine Kontrolle mehr über ihre Eltern hätte. Die Strategie in diesen Stunden
war dann nicht, ihr was „wegzunehmen“, sondern andere Dinge, Aktivitäten und Inte­
ressen zu stärken. Durch die Förderung von anderen Lebensinhalten (Mädchen sein,
Kontakte zu Freundinnen verbessern, mehr Miteinander im familiären Kontext)
gewann Bahira wieder an Stabilität und Zuversicht, sodass in weiterer Folge wieder an
154 K. Kofler und E. Wagner

der Zwangsreduktion gearbeitet werden konnte. Meine Aufgabe bestand darin, den
Prozess zu begleiten und darauf zu achten, dass keine Problemtrance entstand. Am
positiven Verhalten und der Entwicklung von Bahira dranzubleiben war für die Ent-
wicklung absolut förderlich. Die Familie plante viele Erlebnisse außerhalb der Woh-
nung, da es dadurch leichter war, nicht in gewohnte Muster zurück zu fallen. Der größte
Erfolg zeigte sich bei gemeinsamen Schwimmaktivitäten. Beim wöchentlichen „Famili-
enschwimmen“ traten kaum Zwangssymptome auf, die Stimmung war bei dieser Fami-
lienaktivität entspannt und fröhlich. Zu diesem Zeitpunkt war einiges erreicht: Bahira
konnte die Therapie für ihre Anliegen nützen, die Eltern kooperierten einigermaßen gut
im Umgang mit den verbleibenden Zwangssymptomen, in der Schule traten keine Symp­
tome mehr auf, Bahiras Stellung in der Klasse hat sich verbessert, die symbiotische
Verbindung zur Mutter gelockert. Die Mutter hat begonnen, sich auch wieder um ihr
eigenes Leben zu kümmern und konnte Bahira altersentsprechende Freiräume gewäh-
ren. Bahira hat gelernt, Bedürfnisse wahrzunehmen und ihre Wut in Zaum zu halten.
Dennoch  – die Zwangssymptome im häuslichen Umfeld haben sich kaum gebessert.
Nach wie vor konnte Bahira ihr Kinderzimmer und die Küche nicht betreten und sich
im Badezimmer und auf der Toilette nur im Beisein ihrer Mutter aufhalten.

10.1.8 Hausbesuche (90. bis 101. Sitzung)

Nach langem Abwägen entschloss ich mich daher, einige Hausbesuche anzubieten, um
10 mir die Situation vor Ort anzusehen. Ich wollte einfach besser verstehen, was zu Hause
genau passiert und wo die Schwierigkeiten im Alltag auftauchten. Zunächst waren Frau
M. und Bahira eher ablehnend, beide hatten Schwierigkeiten, mir Zutritt zu ihrem Ter-
ritorium zu gewähren. Indem ich Bahira als „Expertin für Zwänge“ bezeichnete und sie
bat, mir alle Bereiche zu zeigen und zu schildern, was jeweils in ihrem Kopf vorgeht, um
durch sie für andere Kinder zu lernen, erlangte ich ihr Einverständnis. Im Vertrauen auf
unsere bisherigen Erfolge und die dadurch gefestigte Beziehung riskierte ich diesen
Schritt in das private Umfeld von Bahira. Als ich dort ankam, öffnete sie mir nicht und
ich wartete gespannt vor der Tür. Sie schimpfte laut mit ihrer Mutter. Ich hörte, wie die
Kindesmutter versuchte, die Situation zu deeskalieren und mit beruhigenden Worten
Einfluss zu nehmen. Diese Entwicklung freute mich sehr. Plötzlich öffnete mir Bahira
die Tür und gewährte mir Einlass. Wir alle nahmen zunächst in einem „zwangsfreien“
Raum Platz und erzählten uns alltägliche Dinge. Ich zeigte Interesse an Bahiras Wohn-
situation. Ich bat die Kindesmutter, im Wohnzimmer zu bleiben und ließ mir von
Bahira die anderen Räumlichkeiten zeigen. Das Schlafzimmer, Bad und Kinderzimmer
betrat sie nicht. Zuerst zeichnete ich mit Bahira eine Skalierung von 1–10 zur Einstu-
fung ihrer emotionalen Belastung. Wir ordneten der Skalierung Ampelfarben zu: 1–3
ist grün/kein Stress, 4–7 ist gelb/mehr Stress, 8–10 ist rot/Megastress. Ziel dieser Skalie-
rung war es, Bahiras Belastung im Auge zu behalten und ihre Grenzen zu respektieren.
Wir überlegten uns, welche der gelernten Atemtechniken ihr bei der Konfrontation
in vivo helfen würden. Ich hatte drei kleine Bälle in den Farben rot, gelb, grün mitge-
bracht und erklärte ihr, dass dies den Farben ihrer Ampel entsprach. Die Aufgabe
bestand darin, dass sie immer den Ball nahm, welcher gerade ihrem Stressniveau ent-
sprach. Die Metapher der Gefühlsampel war schon früher einmal in der Einzelarbeit
Bahira: Wer kontrolliert die Kontrolle?
155 10
entwickelt worden. Bahira wurde aufgefordert, aus der Situation auszusteigen, bevor
der rote Ball nötig wird. Nach etwa 15 Minuten Einführungsphase übergab ich die
Expertenrolle an Bahira und ließ mir detailliert erzählen, welche Stelle in der Wohnung
mit welchen Zwangsgedanken, Verboten und Ängsten behaftet war. Ich achtete darauf,
dass Bahira an die Bälle dachte und überprüfte immer wieder, ob es für sie noch aus-
haltbar war. Das breite Spektrum der Zwangsbereiche von Bahira wurde mir in dieser
Einheit erst bewusst. Ihr Kinderzimmer hatte sie vor unserem Treffen nicht mehr betre-
ten, da jeder Gegenstand laut ihrer Meinung „verseucht“ war und durch Berührung ein
Unglück auslösen konnte. Die Absicht war, Bahira vom Zwangshandeln und Zwangs-
grübeln auf eine Metaebene einzuladen: Sprechen über den Zwang sollte das „Zwangs-
handeln“ und „Zwangsdenken“ ablösen. Tatsächlich passierte es, dass Bahira beim
Zeigen und Erklären fallweise vergaß, die vom Zwang aufgestellten Verbote zu befolgen:
Sie begann jene Gegenstände zu berühren, die sie eigentlich nicht berühren durfte. Der
Problemraum verwandelte sich Schritt für Schritt in einen Lösungsraum. Für diesen
Termin hatte ich drei Stunden reserviert, damit wir nicht unter Zeitdruck gerieten. Das
vorsichtige Vorgehen und der Respekt für ihre Grenzen zahlte sich aus: Bahira gewann
an Sicherheit und kam durch die Rolle als „Expertin für Zwangsrituale“ aus dem Agie-
ren ins Reflektieren. Sie erlebte, dass sie Einflussmöglichkeiten hatte und sich ihre
Unglücksfantasien nicht verwirklichten. Im Gespräch bemerkte Bahira, dass sie schon
lange nicht mehr so unbeschwert in ihrem Zimmer gewesen war. Auch Frau M. war
angesichts der raschen Veränderung überrascht und freute sich über diesen Erfolg, da
Bahira das Kinderzimmer seit langer Zeit nicht mehr gerne betreten hatte und auch sie
das Zimmer seit langem nur in Abwesenheit ihrer Tochter betreten durfte. Am Ende
dieser Einheit saßen wir entspannt auf Bahiras Bett und sie erzählte mir, warum sie
welche Gegenstände gekauft hat und wieso ihr Zimmer so eingerichtet war. In der Zwi-
schenzeit vergaß sie die Bälle und konnte entspannt alles angreifen. Ich bekam die
Erlaubnis, ihre Gegenstände zu berühren. Zum Schluss sagte sie erleichtert: „Es sind
nur Dinge und keine Geister!“ In der nächsten Stunde erzählte die Kindesmutter, dass
Bahira an diesem Abend erstmals ohne Lichtschalter-Rituale schlafen gehen konnte.
Die Arbeitshaltung von Bahira in der Wohnungs-Therapiesequenz hat mich sehr beein-
druckt: Obwohl es sie sehr viel Überwindung kostete, vollzog sie Schritt für Schritt die
Veränderung. Im Anschluss an diesen Hausbesuch folgten noch acht weitere. Wir voll-
zogen im Bad, in der Küche und im Elternschlafzimmer die gleichen therapeutischen
Rituale, wodurch endlich die Macht der Zwangsgedanken gebrochen werden konnte.
Beim letzten Hausbesuch erzählte mir Bahira stolz, dass sie zum ersten Mal wieder
alleine am Nachmittag in ihrem Zimmer gewesen war und keine Angst mehr gehabt
hatte. Diese für alle überraschende Wendung erlaubte es, den Abschluss der Therapie
ins Auge zu fassen.

10.1.9 Therapieende (102. bis 115. Sitzung)

In dieser abschließenden Therapiephase konnten wir langsam zu längeren Intervallen


und zum Schluss zu vereinzelten Kontrollterminen übergehen. Nicht ganz überra-
schend vollzogen die Eltern die Trennung, nachdem Bahiras Symptome abgeklungen
waren. Die Kindesmutter war sorgeberechtigt, der Kindesvater kam in der Trennungsphase
156 K. Kofler und E. Wagner

und danach aber regelmäßig zu den familientherapeutischen Sitzungen, hielt regelmä-


ßigen Kontakt mit Bahira und bemühte sich um eine liebevolle Beziehung zu seinen
Kindern. In dieser Phase gab es ein paar kleinere Rückfälle. Diese wurden von mir als
erwartbare „Vorfälle“ normalisiert. Wir schauten regelmäßig gemeinsam zurück und
erinnerten uns an die erworbenen Fähigkeiten und Erfolge, um deren Internalisierung
zu stärken. Bahira pflegte weiterhin altersadäquaten Umgang mit ihren Freundinnen,
wurde sogar zu einer Party eingeladen und traute sich, auswärts zu übernachten. Die
Zwangssymptomatik trat nur mehr sporadisch auf, vor allem, wenn Frau M. inkongru-
entes Verhalten zeigte und gestresst war. Sonst konnte sich Bahira in allen Zimmern
ohne Begleitung aufhalten, sie konnte alle Gegenstände in der Wohnung berühren und
ohne ausgedehnte Rituale in ihrem Zimmer einschlafen. Sowohl der Waschzwang als
auch die vom Anblick von Messern ausgelösten Zwangsgedanken waren verschwunden.
Die neu erworbene Selbstsicherheit und der humorvollere Zugang zu den innerfamili-
ären Schwierigkeiten ermöglichten es Bahira und ihrer Familie, auftauchende Belastun-
gen eigenständig zu bewältigen. Die Befürchtung der Kindeseltern, dass Bahira kein
eigenständiges, selbstständiges Leben würde führen könnte, war entkräftet. Zu unser
aller Erleichterung begann Bahira (mittlerweile pubertierend) Zukunftspläne zu
schmieden und Ablösungs- und Autonomiewünsche zu äußern. Als Bahira äußerte:
„Mit 18 kann ich alleine mit meinen Freundinnen auf Reisen gehen und mir die Welt
anschauen!“ wussten wir: Wir waren gemeinsam am Ende des Drahtseils angekommen,
das Sicherheitsnetz war stabil geknüpft und wir konnten den Balancestab ablegen und
vom Hochseil heruntersteigen.
10
10.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis

Systemische Therapie wird oftmals mit Kurztherapie gleichgesetzt. Wir wählten diesen
Fall aus, um junge Kolleginnen zu ermutigen, sich vom Anspruch der Kurztherapie
nicht unter Druck setzen zu lassen, wenn ein kleinschrittiger, langwieriger therapeuti-
scher Prozess nötig ist, um die gewünschten Veränderungen zu erreichen. Die Aus-
gangslage war denkbar schwierig: Ein Kind, das nicht nur in seinem Alltag sondern
auch in der therapeutischen Situation von Zwangsritualen beherrscht wird und nicht
mit der Therapeutin spricht, eine Mutter am Ende ihrer Kräfte, weil sie sich gegen die
ausufernden Zwangsrituale der Tochter nicht zur Wehr setzen kann, da jede Nichtbefol-
gung der Anweisungen der Tochter aggressive Handlungen hervorruft, ein Vater, der
die Mutter wegen ihrer fehlenden Abgrenzung für die Symptomatik der Tochter verant-
wortlich macht, selber an einer Zwangsstörung leidet (wie schon seine Eltern), aber
nicht zur regelmäßigen Teilnahme an der Therapie motiviert werden kann. Es wäre
naheliegend, diesen Fall als unbehandelbar im ambulanten Setting einzuschätzen und
auf eine stationäre Aufnahme zu drängen. Aber was tun, wenn die Familie dazu nicht
bereit ist? Ist es vertretbar, ein ambulantes Behandlungsangebot wegen zu geringer
Erfolgswahrscheinlichkeit vorzuenthalten und darauf zu setzen, dass die Familie dann –
früher oder später – doch zu einem stationären Aufenthalt bereit ist? Bei ausreichender
klinischer Erfahrung wird man sich in solchen Fällen wohl eher für einen Therapiebe-
ginn entscheiden und für den Fall ausbleibenden Erfolges zu einem späteren Zeitpunkt
weiter in Richtung Aufnahme drängen. Unerfahrene KollegInnen sollten sich solchen
Bahira: Wer kontrolliert die Kontrolle?
157 10
Herausforderungen jedenfalls eher nicht stellen. Zu Beginn einer Therapie sind die Set-
tingentscheidungen von größter Bedeutung. Es geht jeweils darum, das Setting zu wäh-
len, in dem man am ehesten arbeitsfähig ist. Für den Anfang hieß das in diesem Fall, die
Eltern ohne Bahira einzuladen. Da Bahiras Zwangssymptomatik im Therapieraum  –
ihre ständigen Kommandos an die Mutter – anfänglich kein therapeutisches Gespräch
zuließen, fand die initiale Therapiephase ohne Bahira statt. In diesen ersten Gesprächen
ging es zum einen um die Exploration der Problemzusammenhänge, der Anamnese
und der familiären Situation, wodurch erste Hypothesen über die interpersonelle Funk-
tionalität der „Wehrlosigkeit“ der Mutter entstanden. Zum anderen gelang es, schritt-
weise das Vertrauen der Eltern zu gewinnen, die zunehmend von ihrer Überforderung
und den daraus resultierenden Gewaltdurchbrüchen berichteten. In dieser Phase ging
es auch um Kinderschutz – um die Abklärung, ob Bahira gefährdet ist oder ob die Situ-
ation in der Familie eskaliert. In der darauffolgenden Phase der Familientherapie ver-
suchte die Therapeutin, durch Ressourcenorientierung und Unterschiedserzeugung die
„Problemtrance“ zu durchbrechen und die Aufmerksamkeit auf das Gelingende zu
­richten. In diesem Zusammenhang wurde auch gemeinsam gespielt, um konkrete
Erlebnisse von „normalem Funktionieren“ zu vermitteln. Auf diese Weise kam es zwar
zu einer Reduktion der Anspannung in der Familie, was den Eltern ermöglichte, gewalt-
tätige Übergriffe konsequent zu vermeiden, aber die Zwangssymptomatik bestand wei-
ter. Daher wurde eine neuerlicher Settingwechsel nötig: Über viele Monate sah nun die
Therapeutin Bahira im Einzelkontakt und die Mutter bzw. die Eltern zu begleitenden
Elternberatungen. In der ersten Phase der Einzeltherapie musste die Therapeutin auf
jeden Änderungswunsch völlig verzichten: Sie bot Bahira die Therapiestunden an als
„Zeit für dich“, in der Bahira selbst entscheiden konnte, womit sie sich beschäftigen
mag. Das Spiel war in dieser Therapiephase wohl vor allem Träger des Beziehungsge-
schehens (vgl. Behr 2012). Bahira konnte durch das erwartungsfreie gemeinsame Spiel
Vertrauen in die Therapeutin gewinnen und machte eine für sie nicht selbstverständli-
che positive Beziehungserfahrung. Auf dieser Basis begann Bahira langsam zu erzählen,
was sie bewegt – und dies war in der ersten Phase der Einzelarbeit vor allem die Frage,
wie man Freundinnen gewinnt. Diese Frage markierte einen Übergang – während bis
dahin die psychische Aktivität völlig vom Attraktor der Zwangsstörung „versklavt“ war
(vgl. Grawe 2004), kam es nun erstmals zur Thematisierung eines Anliegens. In der
daran anschließenden Therapiephase spricht Bahira immer offener über ihre Zwangs-
gedanken. Die Externalisierung des Zwangs- und Angstteufelchens und seines Gegen-
spielers, des Glückskaters, mobilisierte Veränderungsideen – zuerst auf der Ebene der
Zeichnung, dann in Geschichten, schrittweise aber auch im „echten Leben“. Erst jetzt
war es Bahira ansatzweise möglich, eine kritische Distanz zu ihrer Symptomatik aufzu-
bauen und ihr mit eigener Willenskraft entgegenzutreten. Bis zu diesem Zeitpunkt
waren die Zwangsrituale unhinterfragbar, weil sie ja Schutz vor befürchteten Katastro-
phen boten. In der parallel verlaufenden Elternarbeit gelang im Sinne der narrativen
Therapie die Etablierung einer therapeutischen Allianz: „Wir kämpfen gemeinsam
gegen den Zwang, nicht gegen Bahira“. Dies führte zu einer weiteren Entspannung des
Familienklimas. Die Begleitung der Eltern erfolgte weiterhin ressourcenorientiert, mit
den „Wegen aus dem Nebel“ wurde eine Landkarte von allen gelingenden Bereichen
und Sequenzen im Leben der Familie erstellt. Auf überfordernde Konfrontationen
wurde verzichtet, die noch vorhandenen Limitierungen der Veränderungsbereitschaft
158 K. Kofler und E. Wagner

wurden respektiert. Die Mutter wurde langsam gestärkt, wenn auch die eindeutigen
Schritte in die Selbständigkeit noch auf sich warten ließen. Bahira konnte die Therapie
in der Folge immer besser nützen, um die Zusammenhänge von katastrophisierenden
Zwangsgedanken, Zwangsverhalten und aufkommender Wut zu verstehen. Interventio-
nen wie der Gefühlefilter oder der Entwurf eines Joysticks dienten dazu, die Emotions-
kontrolle zu verbessern. Gleichzeitig wollte Bahira in der Therapie in durchaus
altersadäquater Art „Mädchenthemen“ besprechen. Da dies offensichtlich mit der Mut-
ter nicht möglich war, bot die Therapeutin an, eine Collage aus Mädchenzeitschriften zu
gestalten. Die Tatsache, dass Bahira die gestaltete Collage nicht nach Hause mitnehmen
wollte, galt der Therapeutin als Hinweis, dass altersentsprechende Entwicklungsschritte
von der Mutter noch immer nicht toleriert wurden. Dies wurde in weiterer Folge Thema
bei den Elterngesprächen. Gerade in dieser Sequenz zeigte sich, wie nützlich es sein
kann, wenn die Einzeltherapie mit dem Kind und die Elternarbeit eng verzahnt sind.
Nachdem sowohl in der Einzeltherapie als auch in den Elterngesprächen deutliche Fort-
schritte erzielt und die therapeutische Beziehung gefestigt war, wurde neuerlich das
Familiensetting etabliert, um nun gezielt die im häuslichen Umfeld noch immer beste-
henden Zwangsrituale zu reduzieren. Der Boden war aufbereitet: Bei Bahira hatte sich
zu diesem Zeitpunkt bereits Problembewusstsein und Veränderungsbereitschaft entwi-
ckelt, in der Schule waren die Zwangssymptome abgeklungen und ihre Beziehungen zu
den Schulkolleginnen waren besser geworden. Die Eltern konnten bezüglich Bahiras
Zwangsritualen besser kooperieren, es kam nicht mehr zu gewalttätigen Eskalationen,
aber eben auch noch nicht zu einem effizienten Ausstieg. Es wurde daher in jeder The-
10 rapiesitzung zunächst mit Bahira besprochen, welches Ritual sie bis zum nächsten Ter-
min beenden will. In der anschließenden Sequenz wurde im Familiensetting geklärt,
wie die Eltern sie diesbezüglich konkret unterstützen können. Die entsprechenden Ver-
einbarungen wurden in ein Buch geschrieben, dessen Cover am Anfang dieser Thera-
piephase gemeinsam gestaltet wurde. Die Aufgabe, dass die Familie den Umschlag für
das Buch gemeinsam gestalten soll, kann als verbindendes, positiv getöntes Ritual
betrachtet werden – dies war sinnvoll und notwendig, weil damit zu rechnen war, dass
das geplante gemeinsame Vorgehen gegen die Zwangssymptomatik zwar konsensuell
vereinbart war aber trotzdem wieder zu einer Erhöhung der Anspannung in der Familie
hätte führen können. Deshalb wurde auch Bahira ganz explizit als Auftraggeberin posi-
tioniert: Sie hatte in dieser Phase die Aufgabe, die einzelnen Schritte zu bestimmen,
dafür wurde die Gesprächszeit mit ihr genutzt. Die Eltern wurden erst dazu eingeladen,
wenn Bahira sich für einen bestimmten Schritt, das heißt für die Aufgabe oder Verkür-
zung eines konkreten Rituals entschlossen hat. Dann wurde gemeinsam besprochen,
wie die Eltern Bahira diesbezüglich unterstützen könnten. In dem Wissen um die
Ambivalenz bezüglich der Zwangshandlungen – sie sind nicht nur Problem, sondern
auch ein Lösungsversuch – war es wichtig, die Eltern nicht als Auftraggeber der Verän-
derung zuzulassen, denn das hätte Bahira überfordert und eine destruktive Dynamik in
Gang gesetzt. Bahira musste lernen, „die Kontrolle zu kontrollieren“, ihre Eltern muss-
ten lernen, sie dabei zu unterstützen. Trotz guter Kooperation aller Beteiligten gelangen
in dieser Therapiephase nur kleine Veränderungen. Das eine oder andere Ritual wurde
aufgegeben oder abgeschwächt, aber es blieb dabei, dass Bahira viele Räume ihrer Woh-
nung nicht betreten konnte. Es bedurfte offensichtlich einer „Konfrontation in vivo“,
die aber, weil massiv angstbesetzt, nicht als solche angekündigt werden konnte.
Bahira: Wer kontrolliert die Kontrolle?
159 10
Die ­Therapeutin bediente sich hier eines „kind tricks“, sie nahm keine psychoedukative
Haltung ein und erklärte nicht die Notwendigkeit der „Exposition in vivo“, wie es Ver-
haltenstherapeuten in dieser Situation wohl gemacht hätten. Sie adressierte Bahira als
Expertin und sich selbst als Lernende – sie, die Therapeutin wolle etwas verstehen, was
nur Bahira ihr erklären könne, dafür müsse sie sich die Situation aus der Nähe anschauen.
Wie im Fallverlauf dargestellt, gelang auf diese Weise tatsächlich die Entmachtung der
Angstgedanken (welche Katasprophen eintreten würden, wenn bestimmte Zimmer
betreten, Gegenstände berührt werden etc.) und damit das Durchbrechen der Zwangs-
rituale. Das Vertrauen in die therapeutische Beziehung und in die eigene Emotionsre-
gulationsfähigkeit erlaubten dem Mädchen, sich mithilfe der Therapeutin auf die
reflexive Metaebene zu begeben und „über den Zwang zu reden“, statt ihm zu folgen. In
der Therapieabschlussphase ging es um Stabilisierung des Erreichten, „Ausschleichen“
des unmittelbaren Einflusses der Therapeutin und Begleitung der Familie durch die mit
der Trennung der Eltern verbundenen Veränderungen. Die Tatsache, dass die Eltern
sich nun „trennen können“, nachdem Bahiras Zwangsstörung nicht mehr alle
­Aufmerksamkeit auf sich zieht, sollte nicht im Sinne einer linearen Kausalität oder
Funktionalität verstanden werden (Bahira zeigte eine Symptomatik, „um die Eltern
zusammenzuhalten“ oder die Mutter setzte Bahiras Zwangssstörung nichts entgegen,
„weil diese die Familien zusammenhält“), vielmehr ist es ein Hinweis auf die „Wechsel-
wirkungswirklichkeit“ von individuellen und familiären Dynamiken. Jede Veränderung
in einem Bereich ermöglicht auch Veränderungen in einem anderen, genauso wie
Blockaden in einem System sich auf die jeweils anderen auswirken. Die Förderung kon-
struktiver Entwicklungsleistungen in allen Subsystemen hat in dieser langen und
anfänglich wenig aussichtsreichen Therapie letztendlich zu einem umfassenden Erfolg
geführt, dies ist neben dem Interventionsreichtum vor allem dem unerschütterlichen
Glauben der Therapeutin an das Entwicklungspotenzial ihrer Klienten geschuldet.

Literatur
Behr M (2012) Interaktionelle Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen. Hogrefe, Göttingen
Grawe K (2004) Neuropsychotherapie. Hogrefe, Göttingen
Omer H, Schlippe A von (2011) Die Ankerfunktion: Elterliche Autorität und Bindung. In: Schindler H,
Loth W, Schlippe J von (Hrsg), Systemische Horizonte (S. 119–130). Vandenhoeck & Ruprecht,
Göttingen
Omer, H, Lebowitz E von (2012) Ängstliche Kinder unterstützen, Die elterliche Ankerfunktion. Vanden-
hoeck & Ruprecht, Göttingen
Tominschek I, Schiepek G (2007) Zwangsstörungen. Hogrefe, Göttingen
Kast V (2012) Zuversicht: Wege aus der Resignation. Herder, München
Jänsch P (2004) Der frühe Beginn der Zwangsstörung: Einfluss auf Symptomatik, Schweregrad und
Komorbidität. Diplomarbeit an der Ludwig-Maximilian-Universität München
161 11

Julia: Durch schwierige


Zeiten
Therapie mit einem vierjährigen Mädchen im stationä-
ren Setting rund um die Fremdunterbringung

Ursula Armster und Sigrid Binnenstein

11.1 Fallverlauf – 162


11.1.1  rbeitskontext und Vorinformationen – 162
A
11.1.2 Therapiestunden 1 bis 5: Phase des Kennenlernens – 163
11.1.3 Therapiestunden 6 bis 14 – 166
11.1.4 Therapiestunden 15 bis 19: Die ersten Stunden nach
der Fremdunterbringung – 172
11.1.5 Therapiestunden 20 bis 32 – 174
11.1.6 Therapiestunden 33 bis 57 – 176

11.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis – 178

Literatur – 182

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


E. Wagner, S. Binnenstein (Hrsg.), Wie systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
wirkt, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55547-7_11
162 U. Armster und S. Binnenstein

In dieser Fallbeschreibung wird der Therapieverlauf von Julia, einem zu Therapiebeginn


vierjährigem Mädchen, beschrieben. Die Therapie, welche sich über einen Zeitraum von
neunzehn Monaten erstreckt, wurde im teilstationären Kontext einer kinder- und jugend-
psychiatrischen Station begonnen und nach einer Fremdunterbringung des Mädchens
aufgrund einer Kindeswohlgefährdung fortgesetzt. Julia litt zum Zeitpunkt der Aufnahme
unter zahlreichen Ängsten, sie zeigte ein auffälliges Essverhalten, diagnostiziert wurden
auch fein- und grobmotorische Auffälligkeiten sowie eine Sprachentwicklungsverzöge-
rung. Dargestellt wird das altersadäquate therapeutische Vorgehen in einer systemisch
orientierten Spieltherapie, die gleichermaßen auf Aspekte von Symptombewältigung
sowie emotionaler Entwicklungsförderung abzielt. Die Lesenden bekommen einen Ein-
blick in das vielfältige Geschehen in einem therapeutischen Prozess, der sich über 57
Therapiestunden erstreckt.

11.1 Fallverlauf

11.1.1 Arbeitskontext und Vorinformationen

Die Psychotherapie begann im Rahmen eines teilstationären Aufenthaltes an einer kin-


der- und jugendpsychiatrischen Station. Für diese Station bin ich als externe Psy-
chotherapeutin tätig. In dieser Funktion nehme ich einmal im Monat an den
multiprofessionellen Teamsitzungen teil, in denen es einen ausführlichen Austausch
über die Entwicklung der behandelten Kinder gibt. Zusätzlich zu den Teamsitzungen
habe ich immer wieder Gespräche mit der fallführenden Psychologin geführt, um
Informationen über aktuelle Ereignisse einzuholen oder mit den Pädagoginnen des
11 Heilpädagogischen Kindergartens, um zu erfahren, wie sich Julia in anderen Kontexten
verhält. Julia wurde auf Wunsch der Kindesmutter (im Folgenden mit KM abgekürzt)
teilstationär zu einem diagnostischen Aufenthalt an der Kinder- und Jugendpsychiatrie
aufgenommen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme ist das Mädchen vier Jahre und vier
Monate alt. Die Vorstellung erfolgte auf Empfehlung der Kindergartenpädagogin Julias.
Mit Erlaubnis der KM nimmt die Kindergartenpädagogin Kontakt zur Psychologin auf
und schildert ihre Eindrücke von Julia: Sie wirke sehr traurig, ängstlich und zurückge-
zogen, zeige kaum Interesse am Spiel und es falle ihr sehr schwer, mit anderen Kindern
zu interagieren. Die Kindergartenpädagogin beschreibt auch grob- und feinmotorische
Auffälligkeiten, die sie daran hindern, Angebote im Kindergarten zu nutzen: Da ihr die
Stifthaltung sehr schwer falle, sei sie kaum dazu zu motivieren, zu malen oder zu zeich-
nen. Auch viele Bewegungsangebote verweigere sie. Auch die Mutter beschreibt Julia als
sehr ängstlich, ruhig und traurig, sie sei bezüglich ihres Essverhaltens schwer zu begren-
zen, sie horte und verstecke Essen oder nehme in der Nacht heimlich Essen aus der
Küche, sie reagiere zornig und trotzig, wenn die Mutter versucht, Grenzen zu setzen.
Die KM bestätigt die grob- und feinmotorischen Schwierigkeiten und vermutet eine
Sprachentwicklungsverzögerung. Das Anliegen der KM für den Aufenthalt war eine
Abklärung der beschriebenen Schwierigkeiten. Die Vermutungen der KM fokussierten
dabei stark auf körperliche Ursachen der beschriebenen Problematik, sie äußerte auch
die Vermutung, dass ihre Tochter an einer Autismusspektrumsstörung leide. Im
­Rahmen des Aufenthaltes wurde eine klinisch-psychologische Diagnostik durchge-
Julia: Durch schwierige Zeiten
163 11
führt, die sich aufgrund der Ängstlichkeit des Mädchens sehr schwierig gestaltete. Mit
folgendem Zuweisungsgrund wurde Julia an mich überwiesen: „Vorläufige Diagnose:
F83  – umschriebene Entwicklungsstörungen. Verängstigt wirkendes Kind, Hinweise
auf traumatische Beziehungserfahrungen, auffälliges Essverhalten (kann nicht genug
bekommen). Bitte um Einzelpsychotherapie (Spieltherapie) sobald wie möglich.“ Julia
besuchte im Rahmen des teilstationären Aufenthaltes auch den heilpädagogischen Kin-
dergarten. Eine Besonderheit bei Therapien im teilstationären Kontext ist, dass die KM
nicht direkte Auftraggeberin für die Psychotherapie ist. In diesem Fall ist es eine Ent-
scheidung der fallführenden Psychologin, die für Julia den gesamten Therapieplan
erstellt, der neben der geplanten Spieltherapie auch Logopädie, Ergotherapie, Heilpäda-
gogisches Voltigieren und Gruppenpsychotherapie enthält. Die fallführende Psycholo-
gin führt auch die regelmäßigen Gespräche mit der KM und dem Stiefvater. Die Sicht
der Eltern erfahre ich also über sie. Auch die Zielsetzungen für die Therapie werden in
diesem Kontext nicht direkt mit den Eltern vereinbart. Sie ergeben sich aus den Berich-
ten der Kolleginnen, den Beschreibungen der Mutter und den Ergebnissen und Hinwei-
sen der klinisch-psychologischen Diagnostik. Folgende Therapieziele wurden mir
mitgeteilt: Förderung der Kontaktfähigkeit, Förderung des Spielverhaltens, Förderung
der Selbstsicherheit. Achten auf Hinweise auf traumatische Erfahrungen, die im Zusam-
menhang mit den beschriebenen Schwierigkeiten stehen könnten. Einer der wesent-
lichsten Unterschiede in der Kindertherapie zur Erwachsenentherapie ist die Tatsache,
dass Kinder den Kontakt zur Therapeutin nicht selbstständig suchen oder abbrechen
können und dass Eltern immer eine wesentliche Rolle im Therapiegeschehen spielen.
Dies impliziert besondere Achtsamkeit in der Beziehungsgestaltung. Im diesem Fall
bedeutet das für mich vor allem, die Begrenzung unseres Kontaktes im Auge zu behal-
ten (solange Julia hier den Kindergarten besucht, haben wir einmal in der Woche eine
Therapiestunde) und ihr dies auch zu vermitteln. Für den Therapieverlauf waren viele
Faktoren beeinflussend, die in dieser Fallbeschreibung nicht im Detail wiedergegeben
werden können. Es wird allerdings versucht, die wesentlichen Themen und Ereignisse
zu berücksichtigen, die für das Fallverständnis notwendig erscheinen.

11.1.2 Therapiestunden 1 bis 5: Phase des Kennenlernens

Kontaktaufnahme und Kontextklärung


Die erste Kontaktaufnahme passiert, als ich Julia zu einem ersten Kennenlernen im
Heilpädagogischen Kindergarten besuche. Ich erzähle ihr, dass ich sie ab nächstem
Montag jede Woche einmal zum Spielen abholen werde, solange sie hier in den Kinder-
garten geht. Damit Julia weiß, an welchem Tag ich zu ihr komme, hat sie im Kindergar-
ten einen Wochenplan hängen, auf dem an „unserem“ Tag ein Foto von mir klebt, sodass
sie weiß: „Heute kommt die Ursi“. Sie wird im Kindergarten auch darauf vorbereitet.
Vereinbart ist, dass ich sie jeweils von der Kindergartengruppe abhole und sie nach der
Therapiestunde auch wieder zurückbringe. Das Therapiezimmer befindet sich zwei
Stockwerke unter dem Kindergarten. Zu Beginn nimmt sie vom Kindergarten gerne
Stofftiere als Übergangsobjekt mit in das Therapiezimmer – es scheint ihr dabei nicht
wichtig zu sein, welches Tier sie begleitet, Hauptsache sie hat etwas Vertrautes dabei, das
ihr Sicherheit vermitteln kann. Diese „Übergangsobjekte“ in die Kommunikation
164 U. Armster und S. Binnenstein

e­ inzubeziehen, erleichtert die ersten Kontakte. Dabei spreche ich vor allem die Tiere an,
da ich merke, dass Julia dieser indirekte Kontakt leichter fällt. In der ersten Stunde hat
sie einen Storch als Begleiter dabei. „Hallo Storch, schau mal, wir sind jetzt im Spielzim-
mer!“ ... „Ich frage mich, ob du einige Spielsachen, die es hier gibt, schon kennst?“ „Und
ich bin schon neugierig, was wir hier – du und ich – spielen werden.“ Das Kontaktver-
halten von Julia in den ersten Stunden lässt sich als insgesamt sehr zurückhaltend und
schüchtern beschreiben. Sie vermeidet Blickkontakt, indem sie stattdessen auf ihre
Schuhe oder auf einen Punkt an der Wand sieht. Sie ist aber durchaus interessiert an den
vielen Spielsachen, mit denen das Spieltherapiezimmer ausgestattet ist. Den Einstieg in
die Therapie erleichtern uns nicht nur die Stofftiere, die sie aus der Kindergartengruppe
mitnimmt, sondern auch meine Handpuppe „Rudi Ratte“. Ich entscheide mich dafür,
die weitere Kontaktaufnahme und die Kontextklärung mit ihr zu machen, da Julia der
indirekte Kontakt zu diesem Zeitpunkt noch leichter fällt. Ich stelle Rudi Julia vor, dann
lasse ich Rudi sich selbst beschreiben und die Dinge benennen, die er gerne macht und
die ihn auszeichnen. Rudi beschreibt sich als aufgeweckten, lebhaften und vor allem
neugierigen Burschen, der sehr daran interessiert ist, das neue Therapiekind kennen zu
lernen. Und er erzählt auch, was er schon über Julia gehört hat. In dieser Sequenz
beschreibt er einige Fakten und Beschreibungen von Julia, die mir laut Aufnahmege-
spräch bekannt sind. „Ich habe schon gehört dass heute eine JULIA zu uns kommt ... oh
Julia ist ein besonders schöner Name ... Ich habe gehört, dass du sehr gerne in den
Kindergarten gehst ... dass du eine außerordentliche Freundin von Geschichten bist ...
dass du besonders gerne schwimmen gehst und sogar schon untertauchen kannst ...“
Dann stellt Rudi mich als Person und in meiner Funktion als Therapeutin vor: „Und das
ist die Ursi. Die Ursi spielt sehr gerne und sie singt auch sehr gerne. Zur Ursi kommen
Kinder, denen es manchmal irgendwie nicht so ganz gut geht. Und die Ursi kann dann
11 oft helfen, dass es den Kindern wieder besser geht.“ Mit Kindern im Vorschulalter
bespreche ich den Therapieanlass meist nur ganz allgemein, da nicht zu erwarten ist,
dass sie selbst den Grund für die Therapie benennen oder angeben können, welche
Veränderungen sie selbst anstreben, welche Wünsche sie haben und welche Themen sie
beschäftigen. Allerdings können sie diese im Spielverlauf zeigen (vgl. Brächter 2010).
Rudi ist auch derjenige, der Julia den Rahmen der Therapiestunden erklärt: „… dass wir
uns jeden Montag um dieselbe Zeit sehen werden, dass wir hier gemeinsam spielen
können und dabei alles verwenden dürfen, was es in dem Raum an Materialien gibt.
Dass du entscheiden kannst, was und womit du hier spielen oder malen möchtest und
dass die Ursi vielleicht auch manchmal einen Vorschlag hat. Dass wir immer 50 Minu-
ten Zeit haben und du rechtzeitig erfährst, wann die Stunde zu Ende ist und dass wir am
Ende der Stunde gemeinsam wegräumen werden“. Julia hört zu und nickt.

Erstes Gestalten im Sand


Besonderes Interesse zeigt Julia von Beginn an am Gestalten in der Sandkiste. Kennzei-
chen der ersten Stunden sind beinahe stereotype Wiederholungen ihrer spielerischen
Aktivitäten: Matschen, Hochwerfen, Stauben. Sie genießt den trockenen Sand, den sie
durch ihre Finger rieseln lässt und auch den Matsch, den sie mit Verwendung von viel
Wasser produziert. Ich begleite dieses Spiel mit beschreibenden, wertschätzenden
­Kommentaren „Ah, da hast du ja wirklich einen ganz riesigen Matschsee gemacht!“,
oder „Mh, das macht ja eine riesige Staubwolke, wenn du den Sand so hoch wirfst!“
Julia: Durch schwierige Zeiten
165 11
Ich frage mich, was es bedeutet, dass Julia zunächst mehrere Stunden mit sensomotori-
schem Funktionsspiel verbringt. Greift sie in der neuen Therapiesituation im Sinne der
Suche nach Sicherheit auf eine frühere Spielform zurück? Stillt sie ein Bedürfnis nach
basalen sinnlichen Erfahrungen? Während ihres Spiels im Sand zeigt sich Julia entgegen
der Beschreibung einer möglichen Sprachentwicklungsverzögerung recht gesprächig
und ist gut zu verstehen. Julias Verhalten wirkt für mich so, als ob sie sich bemühen
würde, vieles alleine zu schaffen und nicht viel von mir zu brauchen. Ich vermute, dass
sie sich auf ihre Art bemüht, mir um jeden Preis zu gefallen. Sie nimmt beispielsweise
sofort Besen und Schaufel in die Hand, als Sand aus der Sandkiste auf den Boden fällt.
Ich frage mich, ob dies ein Hinweis darauf ist, dass sie daran gewöhnt ist, den „Schaden“,
den sie angerichtet hat, selbst wieder in Ordnung zu bringen. Oder ob dies ein Hinweis
auf ein zwängliches Verhalten in Bezug auf Sauberkeit und Ordnung ist? Oder ob es ein
normaler Schritt im Sinne ihrer Selbstständigkeitsentwicklung ist? An dieser Stelle
bleibt mir nur die Möglichkeit, weiterhin genau zu beobachten, was Julia mir noch
zeigen wird.
Eine weitere sinnliche Erfahrung, die Julia immer wieder sucht: Sie sitzt gerne im
Sitzsack und kuschelt sich in eine Decke. Sie hat es scheinbar gerne, wenn sie ihre kör-
perlichen Grenzen spürt. Sie setzt sich auch mit ihrem Gewand in die Sandwanne. Diese
Verhaltensweisen verstehe ich als ein Bedürfnis danach, ihren Körper und ihre (Kör-
per-)Grenzen zu spüren. In diesen ersten Stunden fällt mir auch auf, dass Julia bei
Berührungen mit mir, die sich zufällig im Spiel ereignen, regelrecht zusammenzuckt. In
diesem Zusammenhang fällt mir die Frage der Psychologin nach „Hinweisen auf trau-
matische Beziehungserfahrungen“ ein: Möglicherweise hat Julia die Erfahrung gemacht,
dass Berührungen auch unangenehm sein können? Für mich ist es ein Signal dafür,
besonders vorsichtig zu sein, zufällige Berührungen, wenn möglich zu vermeiden und
darauf zu achten, dass Julia Berührungen selbst aktiv mitsteuern kann. Das auffällige
Essverhalten und die übermäßige Beschäftigung mit dem Essen, das die KM im Auf-
nahmegespräch beschreibt, zeigt sich auch in der Therapie. So hat Julia beispielsweise
mehrmals in allen Kästen, Laden und anderen Stellen im Therapiezimmer nach etwas
Essbarem gesucht. Nach enttäuschender erfolgloser Suche hat sie mich dann direkt
nach Essen gefragt: „Hast du was zu essen? Vielleicht Soletti oder Gummibärli?“ Ich
habe überlegt, ob es hilfreich wäre, ein Essensritual in unsere Stunde einzubauen: Zum
Beispiel am Anfang oder Ende der Stunde Obst oder Kekse essen. Ich entschied mich
dann aber aus pragmatischen Gründen dagegen: Ich habe im Therapieraum keinen
Platz gehabt, um Lebensmittel sicher bis zur nächsten Stunde zu verstauen und es hätte
mich unter Druck gesetzt, wirklich jede Stunde etwas mitzunehmen. Denn wenn ich ein
neues Ritual einführe, muss ich sicherstellen können, dass es in jeder Therapiestunde
stattfindet. Diese Verlässlichkeit ist umso wichtiger, je jünger das Kind ist, da sonst die
zu erwartende Störung größer ist als der Gewinn.
Ich erkundige mich im Kindergarten über Julias Essverhalten und die Essenssituati-
onen und vergewissere mich, dass sie nicht hungrig zur Therapiestunde kommt. Ich
spreche mit ihr dann auch ausgiebig über das Essen im Kindergarten. Was es zum Früh-
stück, zur Pause, zum Mittagessen gegeben hat. Was ihr da jeweils besonders schmeckt
und was sie weniger gern mag.
Nach einigen Stunden fällt mir auf, dass Julia ihre Zurückhaltung immer öfter auf-
geben kann. Es gibt mehr und mehr Momente, in denen sie unbeschwert und fröhlich
166 U. Armster und S. Binnenstein

wirkt. Sie schaut mich manchmal kurz an. Sie kann meine lobenden Worte hören und
annehmen, sich darüber freuen. Sie wirkt am Ende der Stunde meist entspannter und
gelöster als zu Beginn.
Die Herausforderungen für mich waren zu Therapiebeginn: Wie komme ich gut in
Kontakt mit einem Mädchen, das derart verschlossen wirkt? Welche Angebote mache
ich ihr, sodass ich sie nicht überfordere? Wie gehe ich mit dem Thema Essen in der
Therapie um – soll ich Essen zur Verfügung stellen oder nicht? Und ich sammle eine
Reihe an Beobachtungen zu folgenden Themen: Wie nützt sie das Medium Sand? Wie
reguliert sie Nähe und Distanz? Wie reagiert sie auf Berührung? Welche Bedürfnisse
werden durch spezifisches Verhalten sichtbar? Was verändert sich diesbezüglich mit
zunehmender Vertrautheit?

11.1.3 Therapiestunden 6 bis 14

Spiel mit Handpuppen


Das Sandspiel in seinem immer gleichen Ablauf gibt Julia scheinbar Sicherheit, die sie
in den ersten Stunden dringend gebraucht hat. Da ich jetzt den Eindruck habe, dass sich
Julia ausreichend sicher fühlt, möchte ich sie zu einem neuen Spiel einladen. Ich bin
neugierig, welche Veränderungen ein neues Medium ermöglichen. Ich erinnere mich
an den Therapiebeginn und die gelungene Kontaktaufnahme über die Stofftiere. Ich
hole daher einige der großen Handpuppen von ihrem Platz hoch oben im Regal auf den
Boden. Da sind einige Menschenpuppen und einige Tiere dabei. Manche Handpuppen
sind so groß wie Julia selbst. Werden sie Julias Aufmerksamkeit bekommen? Ab dem
11 Zeitpunkt, als sie ins Therapiezimmer kommt und die Puppen sieht, ist sie nahezu
magisch von ihnen angezogen. Sie werden das Hauptmedium in den nächsten Thera-
piestunden sein. Julia inszeniert die unterschiedlichsten Themen mit ihnen. Ein Spiel,
das Julia in unterschiedlichen Variationen mit den Handpuppen spielt, ist „Familie“. Sie
sucht für sich und ihre jüngeren Geschwister passende Puppen aus, auch der Hund der
Familie bekommt eine entsprechende Zuordnung. Julia versorgt diesen liebevoll mit
Futter und Wasser. Möglicherweise ist sie es gewöhnt, den Hund zu versorgen und für
ihn Verantwortung zu übernehmen. Auch gegenüber ihren dargestellten jüngeren
Geschwistern zeigt sie sich ausgesprochen liebevoll. Kann man dies als Hinweis darauf
werten, dass die Babies in ihrer Familie liebevoll versorgt werden? In einer Fallsupervi-
sion erfahre ich von der Kollegin, die die Elterngespräche mit der KM führt, dass diese
ebenfalls den Eindruck hat, dass die KM, die insgesamt vier Kinder hat, ihre Kinder
sehr liebevoll umsorgt, solange sie Säuglinge sind. Sobald es aber Autonomiebestrebun-
gen der Kinder gibt, wird es problematisch. Für ihren liebevollen und fürsorglichen
Umgang mit den Kuscheltieren oder Puppen bekommt Julia von mir immer wertschät-
zende Komplimente und Anerkennung. Und wieder begleite ich ihr Spiel mit wohlwol-
lenden beschreibenden Kommentaren. Einmal erzählt sie einer der Puppen von ihrem
Leben zu Hause. Unter anderem, dass sie zu Hause immer alleine schlafen gehen muss.
Ihre Mutter würde sie nur daran erinnern, dass es Zeit wäre, um ins Bett zu gehen. Noch
nie habe sie eine Gute-Nacht-Geschichte vorgelesen bekommen, sie sei es gewöhnt, sich
selbst in den Schlaf zu reden. Dies ist eine Situation, in der ich mit meiner Betroffenheit
kämpfe, weil sie bei dieser Erzählung sehr traurig wirkt. Es ist für mich ein Hinweis,
Julia: Durch schwierige Zeiten
167 11
dass Julias Bedürfnisse in ihrer Familie nicht ausreichend wahrgenommen werden. Ich
wende mich dann wieder einmal an Rudi Ratte. Ich erzähle ihm, dass ich von Julia
gehört habe, dass sie sehr gerne Gute-Nacht-Geschichten am Abend hören würde. Und
ich frage ihn, ob er glaubt, dass Julia vielleicht hier im Therapieraum gerne „Schlafen-­
Gehen“ spielen würde, so wie sie es gerne hätte. Auf diese Weise mache ich Julia indirekt
einen Vorschlag: „Wir könnten das ja hier spielen, so als wäre es am Abend und Julia
oder eine der Puppen muss schlafen gehen! Und dann könnte ja jemand eine Geschichte
vorlesen!“ Ich verwende bewusst die Formulierung „Julia oder eine der Puppen“, weil
Julia dann entscheiden kann, in welcher Rolle sie an diesem Spiel teilnehmen möchte.
Julia gefällt diese Idee. Und wir spielen daraufhin verschiedene Versionen von Schlafen-­
Gehen. Julia gestaltet eine Schlafmöglichkeit mit Decken und Polstern. Sie sucht sich
Geschichten aus den Büchern aus, die es im Therapiezimmer gibt. Und sie wechselt die
Rollen. Manchmal ist sie einfach Julia und genießt es, eine Geschichte zu hören. Manch-
mal nimmt sie eine Puppe, bringt sie zu Bett, und wir erzählen ihr gemeinsam eine
Geschichte.
Mir fällt auf, dass es eine leichte Veränderung in ihrem Kontaktverhalten gibt. Sie
erwidert meinen Blickkontakt nicht nur, sie stellt ihn auch aktiv her. Merkbare Verän-
derungen gibt es auch, was den Körperkontakt betrifft: Es gibt Situationen, in denen wir
im Sitzsack nebeneinander sitzen und sich unsere Schultern berühren. Das scheint sie
nicht mehr zu stören. Sie macht sich beim Spielen das T-Shirt voller Sand und lässt sich
dann von mir beim Ausziehen helfen. Auch die Berührungen, die sich in dieser Situa-
tion ergeben, scheinen sie nicht mehr zu irritieren. Und es gibt immer mehr Situatio-
nen, in denen sie fröhlich wirkt und ich ihr ansteckendes Lachen kennenlerne. Vermehrt
bringt Julia Ereignisse, die sie im Kindergarten erlebt hat, auch in die Therapiestunden
ein. Die damit verbundenen Emotionen, die Julia bisher im Kindergarten und in den
Therapiestunden nicht gezeigt hat, beginnt sie nun zaghaft im Spiel auszudrücken.
Möglicherweise war es bisher eine Strategie, sie durch übermäßiges Essen „runter zu
schlucken“? So stand das Mädchen abends zu Hause auf, wenn sie eigentlich im Bett
bleiben sollte, um in der Küche nach Essen zu suchen. Auch im Kindergarten versucht
sie immer wieder, Essen außerhalb der regulären Essenszeiten zu bekommen. Mich
beschäftigt dabei die Frage „Was könnte denn ihr und ihrem Bauch so sehr fehlen, wenn
sie nach Essen sucht?“ und versuche daher, die Therapiestunden als Proberaum für das
Wahrnehmen von Bedürfnissen zu gestalten. Wer braucht was, um sich in der Thera-
piestunde wohl zu fühlen? Ein Beispiel: An einem heißen Sommertag, als selbst die Luft
im Raum zu flirren schien, holte ich Julia zur Therapiestunde ab. Da in unserem Raum
der Boden gefliest ist und ich den kühlen Boden gerne auf den nackten Füßen spüren
möchte, frage ich sie, ob es sie stören würde, wenn ich meine Hausschuhe ausziehen
würde. Ich gehe nicht davon aus, dass es sie stört, aber ich vermittle ihr: Du hast das
Recht mitzuentscheiden. Als sie verneint, ziehe ich meine Schuhe aus und genieße
sichtbar den kühlen Boden. Julia beobachtet mich aufmerksam, zieht dann ihrerseits
die Hausschuhe aus und stellt sie genau neben meine. Wir genießen beide den kühlen
Boden und beschreiben, wie sich das anfühlt. Indem sie ihre Schuhe genau neben meine
stellt, vermittelt sie mir „Ich fühle mich zu dir zugehörig  – wir gehören zusammen“,
jedenfalls teilen wir eine Erfahrung. Ich möchte ihr die Erfahrung ermöglichen, dass sie
selbst Einfluss auf das Miteinander hat. So erarbeiten wir auch einige Regeln gemein-
sam. Dies scheint ihr sehr zu gefallen. Auf dieser Basis ist es auch leichter, sich an Regeln
168 U. Armster und S. Binnenstein

zu halten und Begrenzungen zu akzeptieren. Wenn Julia etwas nicht verstanden hat,
zeigt sie sich immer mutiger und fragt auch nach.

Der sichere Ort


Aufgrund der anfänglich beschriebenen Reaktion auf Berührungen und ihrer initialen
großen Unsicherheit beschließe ich, Julia anzubieten, sich einen „sicheren Ort“ zu
schaffen. Dafür habe ich einige zusätzliche Materialien mitgebracht: Leintücher, Decken
und Wäscheklammern. Ich zeige ihr diese Materialien und frage sie, ob sie Lust hat,
einen besonderen Ort für sich ganz alleine zu bauen? „Eine Höhle oder eine Art Behau-
sung, ein Ort an dem es dir so richtig gut geht und du dich ganz sicher fühlst!“ Die Idee
gefällt ihr. Sie beginnt zu bauen, zu gestalten. Ihr sicherer Ort entsteht langsam aber
sorgfältig. Den Innenraum gestaltet sie ganz kuschelig mit Decken und Polstern. Für die
Gestaltung benötigt sie nahezu die ganze Therapiestunde. Während sie ihre schützende
Höhle genießt, erzählt sie mir freudig, was sie darin alles machen könne, nämlich
kuscheln, sich ausruhen, Stofftiere umarmen und Daumen lutschen. Also pure Ent-
spannung, die nur in Sicherheit möglich ist. Ich achte die Grenzen ihres Bereiches und
kommuniziere nur von außerhalb der Höhle mit ihr. Ich erzähle ihr beispielsweise von
Kindern, die es gerne haben, wenn sie beim Ausruhen ein Lied hören und frage sie, ob
sie auch eines hören möchte. Nach einem nonverbalen „Ja“ beginne ich ihr Lieder vor-
zusingen, was sie meinem Eindruck nach genießt. In den nachfolgenden Stunden
greift Julia immer wieder gerne auf ihren sicheren Ort zurück und baut ihn, zwar
deutlich flotter und weniger sorgsam, aber doch immer wieder nach. Im weiteren The-
rapieverlauf verbringe auch ich, auf Julias Einladung, Zeit mit ihr in ihrer schützenden
Höhle. Wichtig ist, dass für sie deutlich ist, dass sie über die Zutrittsmöglichkeiten
bestimmen darf.
11 Folgende Veränderung wird in dieser Therapiephase deutlich: Während Julia in den
ersten Stunden nach der Therapiezeit meiner Aufforderung wieder in den Kindergarten
zu gehen, ohne erkennbare Reaktion gefolgt ist, versucht sie nun, den Abschied hinaus-
zuzögern. Sie trödelt beim Aufräumen oder versucht, bei der Übergabe in die Kinder-
gartengruppe noch etwas Zeit von mir zu bekommen „Ursi, hilfst du mir noch beim
Schuhe anziehen? Gehst du noch mit mir aufs Klo?“ Oder es braucht sehr lange, bis wir
die zwei Stockwerke zurückgelegt haben. Ich verstehe dies als Ausdruck dafür, dass sie
sich bei zunehmendem Vertrauen auch vermehrt traut, ihre Wünsche auszudrücken
und möglicherweise mehr Hoffnung entwickelt hat, dass ihre Bedürfnisse erfüllt wer-
den könnten. Auch ihre Wünsche betreffend unserer gemeinsamen Spiele beginnt sie
deutlicher und mutiger auszudrücken: „Ursi, gibst du mir bitte die Puppe von da oben!“
ist eine der ersten direkten Aufforderungen an mich, über die ich mich sehr freue. Ich
merke, dass es ihr schwerfällt, einzuschätzen, wie viel Zeit wir miteinander haben. Je
mehr sie sich aufs Spiel einlässt, um so schwerer fällt es ihr, die Begrenzung der Zeit zu
akzeptieren. Als Hilfestellung dafür, dass sie vom jeweiligen Stundenende nicht so
schmerzhaft überrascht wird, nehme ich eine große Sanduhr mit, die 45 Minuten
anzeigt. Ich erkläre Julia, dass wir aufräumen müssen, wenn der Sand durchgerieselt ist.
Während der Therapiestunde zeige ich manchmal auf die Sanduhr und weise sie darauf
hin, wieviel Sand und Zeit noch vorhanden sind. Daran schließen sich manchmal Ver-
handlungen, wofür in der Stunde noch Platz ist, was ihr wichtig ist, was sie verschieben
möchte. Im Austausch mit dem Kindergartenteam wird deutlich, dass sich Julia in den
Julia: Durch schwierige Zeiten
169 11
Therapiestunden ganz anders zeigt als in der Gruppe. Die Pädagogin beschreibt sie wei-
terhin häufig weinerlich, verzweifelt oder erstarrt. So erlebe ich sie kaum. Es ist für mich
ein Zeichen dafür, dass sie den therapeutischen Raum nutzen kann, um Veränderungen
zu erproben. Häufig ist es so, dass Veränderungen erst einmal im geschützten Therapie-
raum sichtbar werden und der Transfer in andere Kontexte erst später folgt.

Trancegeschichten
Ich merke, dass ich nicht mehr so vorsichtig bin, was neue Angebote betrifft, da ich
mich zunehmend darauf verlassen kann, dass Julia mir mitteilen wird, ob sie einem
Vorschlag folgen will oder nicht. Einer von diesen Vorschlägen ist das Vorlesen von
Trancegeschichten. Diese Geschichten führen Zustände von Entspannung herbei und
lenken die Aufmerksamkeit gezielt auf Vorstellungen, die Kinder in ihrer gesunden
Entwicklung fördern. Durch die Fokussierung auf die Selbstwahrnehmung werden
innerliche Wachstumsprozesse angeregt. „Jede Entspannung hat neben ihren sonstigen
positiven Wirkungen einen reduzierenden Einfluss auf Ängste und die sie begleitenden
körperlichen Anspannungen“ (Wilk 2010, S. 12). Aufgrund der positiven Erfahrung mit
den Gute-Nacht-Geschichten nehme ich an, dass Julia Trancegeschichten mögen
könnte. Eine der ersten Geschichten, die ich ihr vorlese, heißt „Auf einen Punkt
schauen!“ und ist aus dem Buch „Ein Käfer schaukelt auf einem Blatt“ (Wilk 2010). Ich
habe mich als erstes für diese Geschichte entschieden, weil in ihr explizit die Aufforde-
rung enthalten ist, die Augen vorerst offen zu lassen. Dies kann vor allem ängstlichen
Kindern Sicherheit bieten. Zur Vorbereitung richteten wir gemeinsam eine für Julia
angenehme „Bettstatt“ mit Polstern und Decken her. Als Einleitung erkläre ich Julia,
wofür eine solche Übung gut sein könnte und fordere sie auf, genau zu schauen und zu
hören, was sie möglicherweise alles entdecken könne. Sie scheint neugierig und interes-
siert. Die Durchführung von Entspannungsübungen setzt voraus, dass das Kind gerade
nicht unruhig, nervös oder zappelig ist, in diesem Fall wäre es nahezu unmöglich, einen
Entspannungszustand zu induzieren. Ihrem Alter und ihrer Aufmerksamkeitsspanne
entsprechend, müssen die Geschichten wirklich kurz sein (5–10 Minuten). Julia macht
es sich gemütlich und legt sich hin. Sie hört genau zu. Im Anschluss nehmen wir uns
Zeit, um ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen zu besprechen. Was hat sie während
der Geschichte gehört? Welche Geräusche sind von außen in den Therapieraum einge-
drungen? Welche Wahrnehmung gehört zu ihr selbst, was kommt von außen? Welche
inneren Bilder sind aufgetaucht? War etwas dabei, was nicht so angenehm war? Julia
mag die Trancegeschichten gerne und wir haben im weiteren Therapieverlauf noch
mehrere gelesen. Erst sehr viel später hat Julia die Augen geschlossen, was ich auch als
Ausdruck dafür verstehe, dass sie noch mehr Vertrauen hatte und sich sicher fühlte.
Eine weitere Möglichkeit, zur Ruhe zu kommen, ist für Julia das Feuermachen im
Kamin (eine wunderbare, aber seltene Gelegenheit in einem Therapiezimmer). Wir
beobachten gemeinsam das Feuer, dabei können wir innehalten und die Stille spüren.
Es freut mich, dass ich Julias Neugier mehr und mehr kennenlernen kann. Neugier setzt
Sicherheit voraus. Sie fragt nun gerne Wissensdinge nach, die sie gerade beschäftigen –
seien es Erzählungen über Dinosaurier, wie der Wind entsteht, warum Feuer heiß ist
oder Ähnliches. Und noch eine Erstmaligkeit: Als Julia eines Tages einen Gummi­
frosch in die Therapie mitbringt, beginne ich, ihr ein Froschlied vorzusingen. Sie
lauscht andächtig eine ganze Weile, nach einiger Zeit beginnt sie leise mitzusingen,
170 U. Armster und S. Binnenstein

was ebenfalls auf ihre zunehmende Sicherheit verweist. Ich freue mich. „Singen akti-
viert emotionale Zentren und wird mit einem lustvollen, glücklichen, befreienden,
emotionalen Zustand gekoppelt“ (Hüther u. Hauser 2012, S. 105). Es ist ein besonderer
Moment.

Spielsituationen rund um das Thema Essen


Die getriebene Suche nach Essen erlebe ich im Therapieraum nicht mehr. Im Kinder-
garten ist Julia aber weiterhin damit beschäftigt, in übertriebenem Ausmaß nach Essen
zu suchen, mehr Essen zu verlangen, sich zu vergewissern, wann es die nächste Mahlzeit
gibt. In den Therapiestunden beschäftigt sich Julia mit dem Thema Essen in einer ande-
ren Qualität: Sie spielt kochen, essen, versorgen, Mahlzeiten austeilen. Sie kocht Essen
aus Sand oder Plastilin. Dieses serviert sie dann liebevoll den um einen Tisch gruppier-
ten Puppen und Stofftieren. Auch ich werde meist als Gast eingeladen und bekomme
immer reichlich zu essen. Dabei achtet sie genau darauf, dass alle ausreichend zu essen
bekommen. Wir reden darüber, welches Familienessen sie besonders gerne hat, wer in
ihrer Familie was am liebsten zubereitet und besonders gerne isst. Julia selbst nimmt
sich kaum Zeit um zu essen, sondern beschränkt sich auf die Versorgung der anderen.
Sie scheint in diesem Spiel eine erwünschte Version zu spielen, in der sie selbstbestimmt
und in einer aktiven Rolle dafür sorgen kann, dass alle genug zu essen bekommen. In
ihrem Spiel ist nie ein Konflikt rund um das Thema Essen angedeutet. In diesem Sinne
versuche ich, ihr Spiel zu begleiten: „Hm, das ist so fein, wenn man so richtig satt ist ...
und wenn es so richtig gut geschmeckt hat ...“ Ich versuche, den Zustand des Sattseins
und des Wohlfühlens, wenn man gut gegessen hat, zu verbalisieren. Im späteren Thera-
pieverlauf bittet mich Julia einmal, die mit Sandessen gefüllten Teller und Tassen, bis zu
unserer nächsten Stunde im „Backrohr“ stehen zu lassen. Ihre Werke bis zur nächsten
11 Stunde aufzubewahren ist ein häufig vorkommender Wunsch von Kindern im spielthe-
rapeutischen Kontext. Dieser Wunsch kann nur erfüllt werden, wenn man die sichere
Aufbewahrung bis zur nächsten Stunde garantieren kann. Ungünstig ist, wenn dabei
Materialien, die auch für andere Kinder zur Verfügung stehen sollen, blockiert werden.
Auch wenn man den Therapieraum – wie ich auf der Station – mit anderen Psychothe-
rapeutinnen teilt, ist es nicht möglich, diese Zusage zu machen. Ich habe Julia deshalb
erklärt, dass dies leider nicht möglich ist, da auch andere Kinder das Therapiezimmer
benutzen. Auf diese Begrenzung reagierte sie zunächst mit Erstaunen, konnte sie jedoch
gut akzeptieren.

Einbeziehen von Kinderbüchern


Zum Essensthema passend bringe ich das Buch „Die kleine Raupe Nimmersatt“ von
Eric Carle mit in die Therapie. Wir unterhalten uns darüber, wie es sich anfühlt, wenn
der Hunger kommt, wer sie zu Hause versorgt, was sie brauchen könnte, sich wünschen
würde und wer sie dabei unterstützen könnte. Weitere Themen im Zuge des Lesens sind
auch, wie es sich anfühlt, wenn man nicht satt wird, woran man erkennen kann, dass
man genug gegessen hat oder so viel gegessen hat bis man Bauchweh spürt – so wie die
kleine Raupe. Ausgehend von der Idee, dass der „Hunger“ von Julia auch auf ein unge-
stilltes Bedürfnis nach Nähe und Zärtlichkeit verweist, bringe ich auch zu diesem
Thema ein Kinderbuch mit. „Bitte nimm mich in die Arme!“ (Rowe 2010) erzählt die
Geschichte des kleinen Igel Elvis, der sich nichts sehnlicher wünscht als eine richtige
Julia: Durch schwierige Zeiten
171 11
Umarmung. Doch da er so stachelig ist, will ihm niemand zu nahekommen. Und das
macht den kleinen Igel sehr traurig. Eine Botschaft des Buches ist auch, dass jeder es
verdient hat, lieb gehabt zu werden, unabhängig davon, wie er aussieht und ohne dass
man dafür etwas Besonderes tun muss. Julia scheint sich sehr mit dem Protagonisten zu
identifizieren. Sie findet es total ungerecht und ist entsetzt, dass anfänglich niemand den
kleinen Elvis umarmen will. Wie schon früher in der Therapie, als wir die Schlafengehen-­
Situation nachspielten und Gute-Nacht-Geschichten erzählten, genießt Julia das
gemeinsame Lesen und Bücher anschauen. Sie sucht dabei jetzt auch aktiv Körperkon-
takt, indem sie sich beispielsweise im Sitzsack zu mir kuschelt. Eine Rückmeldung von
der Kindergartenpädagogin nach der zwölften Therapiestunde ist sehr erfreulich. Sie
berichtet, dass Julia weniger ängstlich wirkt und mutiger auf andere Kinder zugeht. Sie
probiert nun Neues aus, auch wenn es ihr noch etwas schwerfällt. Sie geht manchmal in
die Zeichenecke und malt. Darüber hinaus gibt es auch einen deutlichen Fortschritt in
der Selbstwahrnehmung: Sie merkt rechtzeitig, wenn sie aufs Klo muss. Ich selbst merke
Veränderungen beim Treppensteigen. Der Weg vom Kindergarten zum Therapieraum
und zurück führt ja über zwei Stockwerke  – die Stiegen, die auf diesem Weg dazwi-
schenliegen, waren anfangs ein großes Hindernis. Ich hatte manchmal Sorge, dass sie
hinfällt. Den Weg habe ich daher oft als Trainingseinheit verwendet, beispielsweise:
„Komm, wir schleichen hier wie Indianer!“ Jetzt merke ich, dass wir ganz unbeschwert
reden können und das Treppensteigen keine Aufmerksamkeit mehr fordert.

Fokussierung auf die Förderung des emotionalen Ausdrucks


In einer Fallbesprechung im Team wird die Hypothese formuliert, dass einige Verhal-
tensweisen von Julia auf unterdrückte Wut hinweisen könnten. Tatsächlich ist Wut eine
Emotion, die alle Beteiligten bei Julia selten wahrnehmen konnten. Ich habe daher
überlegt, wie ich ihr in den Therapiestunden verstärkt Angebote machen kann, die ihr
einen Zugang zu dieser Emotion und damit eine Erweiterung ihres emotionalen Aus-
drucks ermöglichen. Dies versuche ich einerseits dadurch, dass ich bewusst Spielsitua-
tionen herstelle, bei denen das Auftreten von Ärger wahrscheinlich ist, z.B. beim Spielen
von „Mensch-ärgere-dich-nicht“ oder beim Spiel „Hilfe Hai“, bei dem kleine Fische vor
dem riesigen Haimaul gerettet werden müssen. Des Weiteren biete ich Julia Ton zum
Kneten an und zeige ihr, dass man den Tonklumpen beispielsweise auch ganz fest auf
den Boden schmeißen und bei jedem Wurf etwas sagen kann, worüber man sich ärgert.
Ich zeige ihr, dass sie Papier auch zerknüllen und zerreißen darf. Und die kleinen Holz-
späne aus der Bastelecke darf man auch zerbrechen. Eine Situation, in der mir Julia
ihren Ärger zeigen kann, ist folgende: Wenn ich in der Garderobe des Kindergartens
beim Holen oder Bringen auch mit anderen Kindern rede, ist ihr das gar nicht recht.
Sehr bestimmt sagt sie: „Komm Ursi, wir gehen!“

Verdacht auf Misshandlung und Dynamik vor der


Fremdunterbringung
Im Zuge des bisherigen Aufenthaltes häufen sich die Verdachtsmomente, dass Julia in
ihrer Familie Misshandlung und Vernachlässigung erlebt. Ich wurde bei folgenden
Wahrnehmungen hellhörig: Für Julia scheint es selbstverständlich, alleine schlafen zu
gehen, es gibt kein gemeinsames Spiel oder andere Familienaktivitäten, nur manchmal
gemeinsames Essen. Dazu äußerte sie wiederholt, dass sie gar nicht mehr nach Hause
172 U. Armster und S. Binnenstein

mag, sondern lieber für immer im Kindergarten bleiben würde. Ihre anfänglich erschro-
ckene und abwehrende Reaktion auf Berührung kann als Hinweis gewertet werden,
dass sie mit Berührungen unangenehme Erinnerungen gekoppelt hat. Der fallführen-
den Psychologin fällt die mangelnde Kooperation der KM und das Misstrauen gegen-
über dem therapeutischen Angebot auf. Julia wurde ohne Erklärung an manchen Tagen
nicht in den Kindergarten gebracht. Vorschläge der Ergotherapeutin und der Logo-
pädin wurden von der KM nicht angenommen. Sie äußerte zunehmende Skepsis
bezüglich Behandlung, besonders gegenüber der Psychotherapie. Diese Skepsis wurde
dahingehend interpretiert, dass die KM Sorge hatte, dass in der PT etwas deutlich wer-
den könnte, was sie lieber verdeckt hätte. Die KM hatte vermutlich eher die Erwartung,
dass das Ärzteteam eine (organische) Störung von Julia diagnostiziert, welche die
beschriebenen Schwierigkeiten erklärt und sie selbst aus der Verantwortung entlässt.
Sie äußert in einem Gespräch mit der Psychologin, dass sie überlegt, den Aufenthalt
abzubrechen. Einer Ärztin fällt auf, dass sich Julia beim Behandeln einer Brandwunde
auffällig verhält: Sie wirkt extrem unterwürfig. Das Zustandekommen der Brandwunde
kann nicht geklärt werden. In der Therapiestunde nach der Behandlung der Brand-
wunde fällt das Thema „Zerstörung“ als zentrales Thema auf. Julia kommt in sehr
gedrückter Stimmung. Sie sucht im Therapieraum ganz offensichtlich Dinge, die
beschädigt sind und deren weitere Zerstörung nicht weiter schlimm wären. So findet sie
ein teilweise beschädigtes Auto, ein angekohltes Stück Holz aus unserer Feuerstelle, Zei-
tungspapier, das sie zerreißt und legt alles übereinander auf den Boden. Nach einem
Moment des Innehaltens und Betrachtens holt sie Besen und Schaufel, um wieder Ord-
nung zu schaffen. Mit ihrem Werk offenbar zufrieden, geht sie zum Sandspiel über. Das
ist auch der Zeitpunkt, als die KM überlegt, den Aufenthalt abzubrechen. Möglicher-
weise spürt Julia schon die Veränderungswünsche ihrer Mutter, die sie als Zerstörung
11 erlebt und reagiert entsprechend darauf? Oder es ist ein Ausdruck für die Emotionen,
die mit der Brandwunde in Verbindung stehen? Julia scheint die Spannung rund um
sich zu spüren. Das Team hat zunehmend Zweifel daran, dass es Julia zu Hause gut geht
und die Überlegungen betreffend Fremdunterbringung werden lauter. Julia reagiert
ihren Möglichkeiten entsprechend: Sie blockt ab. Wann immer ich versuche, mit ihr
über ihr Leben zu Hause zu sprechen, lässt sie mich spüren, dass ich jetzt eine Grenze
überschreite. Sie sagt: „Lass mich in Ruhe!“, presst die Lippen aufeinander, setzt sich in
den Sitzsack und geht aus dem Kontakt. Sie schützt sich damit vor zu großer Verantwor-
tung.

11.1.4  herapiestunden 15 bis 19: Die ersten Stunden nach der


T
Fremdunterbringung

Im Team verstärkt sich das Unbehagen aller Beteiligten bezüglich der familiären Bedin-
gungen weiter. Bei einem Kontakt mit dem Sozialarbeiter des Jugendamtes erfahren wir,
dass bereits aus dem familiären Umkreis der Kindesmutter eine Meldung wegen Ver-
dacht auf Kindeswohlgefährdung eingebracht worden ist. Bei einem darauffolgenden
nicht angekündigten Besuch durch das zuständige Jugendamt wird Julia in einem ver-
sperrten Hochbett aufgefunden, aus dem sie sich nicht selbst hätte befreien können.
Daraufhin kommt es zur sofortigen Kindesabnahme und zum Entzug der Obsorge
Julia: Durch schwierige Zeiten
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(des Sorgerechts) durch das Jugendamt und zur sofortigen Übersiedlung Julias in ein
Kinderheim. In einer Helferkonferenz wird entschieden, dass Julia den teilstationären
Aufenthalt fortsetzt. Das bedeutet, dass alle Therapien weitergeführt werden und Julia
weiterhin den Kindergarten im Haus besuchen kann. Das Jugendamt übernimmt die
Kosten für den Fahrtendienst zur Kinder-und Jugendpsychiatrie. Aus Termingründen
konnte ich an dieser Konferenz nicht teilnehmen und erfuhr daher von der Fremdun-
terbringung erst in einem „Tür-und-Angel-Gespräch“ direkt vor der darauffolgenden
Therapiestunde. Ich hätte mir mehr Informationen über die Ereignisse und mehr Zeit
gewünscht, um mich innerlich auf diese gravierende Veränderung einzustellen. Ich
hatte Sorge, ob ich unter diesen Umständen Julia mit der gerade in dieser Situation
notwendigen inneren Sicherheit begegnen konnte. In dieser Stunde erlebe ich Julia aus-
gesprochen unruhig – sie kann ihre Aufmerksamkeit kaum länger als einen Augenblick
auf eine Sache richten. Um sie in der Gegenwart gut zu verankern, mache ich den Vor-
schlag, einige Alltagsszenen aus dem Kinderheim nachzuspielen. „Julia, jetzt im Kin-
derheim, wie ist es denn da mit dem Schlafengehen ... magst du mir das vielleicht
zeigen? Vielleicht so mit den Puppen?“ Sie sucht sich Puppen und Stofftiere im Raum,
bereitet ihnen Bettchen vor und deckt sie liebevoll zu, streicht jedem einzelnen über den
Kopf, gibt jedem einen Kuss. Sie spielt auch die Situation am Morgen nach: Sie wünscht
den „Kindern“ einen guten Morgen und serviert ihnen Frühstück. In den folgenden
Stunden sind auch Rückschritte in ihrer Entwicklung zu beobachten, sie verhält sich
kleinkindhafter, ihre Sprache wird undeutlicher, sie gibt in den Stunden Verantwortung
ab, die sie längst für sich selbst übernommen hatte und kann wieder weniger Blickkon-
takt halten. Julia wirkt verwirrt und wäscht sich nun häufig die Hände. Es scheint ihr
wichtig zu sein, was draußen am Gang vor dem Therapiezimmer los ist, sie sucht nach
einem Bereich, in dem sie noch die Kontrolle behalten kann. Ich ermögliche ihr das,
indem ich mit ihr gemeinsam den Gang abgehe und wir beide ganz genau nachschauen,
ob da wirklich niemand ist, der vielleicht gefährlich für sie sein könnte. In der 16. The-
rapiestunde versuche ich, mithilfe einer Stofftier-Känguru-Mutter und deren Kind
Julias derzeitige Lebenssituation zu thematisieren. Dabei hält Julia das Känguru-Kind,
ich die Känguru-Mutter und wir sitzen so weit entfernt, wie es im Therapiezimmer
möglich ist. Die beiden unterhalten sich darüber, wie es sich anfühlt, getrennt zu sein.
Julia formuliert: „Mir fehlt meine Mama, die Mama weiß nicht, wo ich bin. Sie wird
mich nicht finden.“ Therapeutin: „Die Mama weiß, dass du jetzt im Kinderheim bist. Sie
weiß, wo du wohnst und wie sie dich finden kann. Sie kann dich dort auch besuchen
kommen.“ Julia spricht auch deutlich aus: „Meine Mama hat mich eingesperrt, das darf
sie doch nicht!“ Es scheint sie zu beruhigen, wenn ich das klar und verallgemeinernd
wiederhole: „Ja das stimmt! Eltern dürfen ihre Kinder nicht einsperren!“ Die Pädagogin
im Kindergarten berichtet mir, dass Julia bemüht ist, im Alltag des Kindergartenbetrie-
bes im Rahmen ihrer Möglichkeiten zu funktionieren. Folgende Veränderungen in
ihrem Verhalten fallen ihr auf: Sie sucht deutlich mehr nach Einzelkontakten, Zuwen-
dung und Nähe. Persönliche Besitztümer erlangen nun einen deutlich höheren Stellen-
wert, sie ist bemüht, ihre eigenen Sachen, wie Zeichnungen, Bastelarbeiten oder
hilfreiche Stofftiere immer in einen Plastiksack zu geben, „damit mir das keiner weg-
nimmt.“ Ich frage mich, ob es ein Ausdruck davon ist, dass es möglicherweise im Kin-
derheim schwer möglich ist, Eigentum zu besitzen oder zu verteidigen, oder aber,
dass sie ständig „abholbereit“ sein möchte, um wieder zurück nach Hause zu können.
174 U. Armster und S. Binnenstein

Hilfreich ist jedenfalls, dass die Pädagoginnen einfühlsam und unterstützend auf ihr
Verhalten eingehen. Bei der Verabschiedung nach der 17. Therapiestunde bittet mich
Julia, eine Babypuppe aus dem Kindergarten mitzunehmen, die sie in einen Puppenwa-
gen gelegt hat: „Ursi, du sollst das Baby mitnehmen! Es soll jetzt bei dir wohnen!“
Dadurch zeigt sie möglicherweise, was sie selbst erlebt hat: Kinder werden manchmal
von ihrer Mama plötzlich weggenommen und leben dann woanders. Eine große Trau-
rigkeit wird spürbar und sie sagt: „Ich mag nicht im Kinderheim sein, ich mag nach
Hause neben meine Mama!“ Als ich Julia zur 18. Therapiestunde abholen möchte, war-
tet sie nicht wie sonst üblich bereits in der Garderobe. Stattdessen begrüßt mich der
Kindergartenpädagoge und erzählt mir, dass es nicht möglich war, Julia dazu zu moti-
vieren, in die Garderobe zu kommen. Sie ist gerade im „Toberaum“ und hat einen
schlimmen Wutanfall: Sie verleiht dort mithilfe von Matratzen, Decken und Polstern,
auf die sie wild einschlägt, ihrer Wut und Enttäuschung Ausdruck. Der Kindergarten-
pädagoge und ich gehen gemeinsam zu ihr und versuchen, sie zum Mitkommen in den
Therapieraum einzuladen. Ihre Reaktion: „Geht weg!“ Wir gehen wieder und ich kläre
mit dem Pädagogen, ob es in Ordnung ist, wenn ich bleibe und ob es möglich ist, dass
keine anderen Kinder in der nächsten Stunde in den Toberaum kommen. Dann gehe
ich wieder zu Julia und setze mich vor den Eingang des Toberaums. Zunächst beobachte
ich sie einfach, dann beginne ich, ihr Verhalten in Worte zu fassen. Als sie ruhiger wird
und ich merke, dass ich ihre Aufmerksamkeit habe, erzähle ich ihr eine kurze Geschichte.
Diese handelt von einem Jungen, der ähnliche Dinge erlebt hat wie sie, der nicht bei
seinen Eltern bleiben konnte und dann im Kinderheim lebte, davon, wie er sich gefühlt
hat, davon, wie wütend und verzweifelt er manchmal war. Und auch davon, was in sei-
nem Leben dann doch noch Gutes passiert ist. Die Geschichte gibt ihr die Möglichkeit,
sich mit dem Kind zu identifizieren, sie enthält die Botschaft, dass ihre Gefühle versteh-
11 bar sind, bietet eine Möglichkeit, sie einzuordnen und vermittelt Hoffnung. Nach der
Geschichte warte ich ein wenig, dann mache ich ihr den Vorschlag, sich hier einen
Wohlfühlort zu gestalten. Im Toberaum gibt es genügend Material dazu. Diesen Vor-
schlag greift sie auf und baut sich ganz schnell eine Höhle, in die sie mich einlädt. Durch
die Anstrengungen während des Wutanfalles, dem Schreien, Toben und dem Bau ihrer
Höhle, ist Julia ziemlich erschöpft und scheint eine Phase des Ausruhens dringend zu
benötigen. Sie kuschelt sich an mich und ich singe ihr leise bekannte Lieder vor.

11.1.5 Therapiestunden 20 bis 32

Rettungsszenarien
In mehreren Spielen beschäftigt sich Julia mit dem Thema „gerettet werden“ und „in
Sicherheit bringen“. In einer Therapiestunde baut sie folgende Szene in der Sandwanne:
Zuerst arbeitet sie lange und ausdauernd daran, um einen tiefen See im Sand entstehen
zu lassen, dazu muss sie erst ein tiefes Loch graben und die begrenzenden „Mauern“
festdrücken, wobei sie hier aktiv meine Mithilfe einfordert. Unter sehr viel Mühe trägt
sie unzählige Kannen Wasser herbei, sie gießt und gießt, aber lange Zeit „verschwindet“
das Wasser wieder, bevor endlich ein guter See entstanden ist. In dem See schwimmt
ganz alleine ein Junge, der in dem trüben Wasser beinahe zu ertrinken droht. Ich
frage Julia, wie die Situation denn weitergehen könne, ob es denn vielleicht irgendeine
Julia: Durch schwierige Zeiten
175 11
Möglichkeit gibt, dass das Männchen dieser bedrohlichen Situation entkommt. Ob es
sich vielleicht selbst retten kann oder ob es jemand anderen gibt, der helfen könnte? „Es
könnte ja sein, dass es ein sehr guter Schwimmer oder Taucher ist ... oder es könnte sein,
dass jemand anders helfen kann...?“ Sie nimmt daraufhin ein Boot mit einer weiteren
Figur, die dem Jungen zu Hilfe kommt. Gemeinsam fahren sie zum Ufer. Besonders
eindrücklich stellt Julia in einer anderen Stunde eine waghalsige und halsbrecherische
Rettungsaktion mit einem großen Feuerwehrauto dar, das über eine lange Leiter ver-
fügt, wodurch viele Kinder aus dem obersten Stock eines brennenden Hauses gerettet
werden können. Für die vielen Kinder benützt Julia meine Fingerpuppen, der rettende
Feuerwehrmann ist eine Playmobil-Figur, die den Namen des Jugendamtmitarbeiters
trägt, der bei dem Hausbesuch die sofortige Abnahme (Inobhutnahme) Julias entschie-
den hat und sie persönlich ins Kinderheim gebracht hat. Alle Kinder können aus dem
brennenden Haus über die lange Leiter nach unten in Sicherheit gebracht werden.
Nachher sind alle in Sicherheit, aber durch diese dramatische Situation sehr erschöpft
und wissen zunächst noch nicht, wo sie nun leben werden. Julia: „Das Haus ist kaputt,
da können die nicht mehr wohnen!“ Therapeutin: „Ja genau, das Haus ist abgebrannt,
aber alle Kinder sind jetzt einmal in Sicherheit ... und die Feuerwehrleute könnten doch
jetzt jemand holen, der sich darum kümmert, dass alle Kinder ein neues Zuhause
bekommen.“ Und das ist auch das Thema, mit dem sie selbst am meisten beschäftigt
scheint: „Ich weiß noch nicht, wo ich jetzt hingehöre.“ Julia sieht ein gebasteltes Papier-
haus von einem anderen Kind im Therapiezimmer. Sie möchte auch eines machen. Mit
meiner Hilfe zeichnet sie die Häuser auf Papier vor, schneidet sie anschließend aus und
baut sie dann zusammen. Auf die Fassade der Häuser malt sie jeweils ein großes Herz.
Ein Haus ist für den Papa, eines für die Mama. Sie stellt sie weit weg nebeneinander auf
und gestaltet einen Verbindungsweg. „Die beiden wohnen nicht zusammen, aber sie
können sich immer besuchen.“ Da die Eltern in der Realität zusammenleben, hat sie mit
den Häusern wahrscheinlich ihre eigene Situation dargestellt: „Ich wohne nicht bei mei-
nen Eltern, aber sie können mich besuchen.“ Nach einigen Stunden, in denen sie sich
hauptsächlich mit den gerade beschriebenen Themen beschäftigt, ist eine neuerliche
Stabilisierung spürbar. Sie kann sich wieder mit mehr Ausdauer und Konzentration
spielerischen Prozessen widmen. Auch die Pädagogin im Kindergarten erlebt Julia wie-
der ruhiger.

Abschied von der Kinder- und Jugendpsychiatrie


Mit Beginn der Sommerferien endet Julias Betreuung im der Kinder- und Jugend-
psychiatrie. Sie wird in einen neuen Kindergarten wechseln und die Ergotherapie
und Logopädie werden beendet. Das heilpädagogische Voltigieren und die Gruppen­
psy­chotherapie wurden schon während des Aufenthaltes beendet. In einer Helfer-
konferenz mit dem Stationsteam, dem Leiter des Kinderheims und dem zuständigen
Mitarbeiter des Jugendamtes wird über die Möglichkeit der Fortführung der Ein-
zelpsychotherapie gesprochen. Inhaltlich sind sich alle Beteiligten einig, dass eine
Fortsetzung für die weitere Stabilisierung sinnvoll ist, die organisatorischen Fragen
können geklärt werden. Vereinbart wird, dass die Therapie in den Sommermonaten in
meiner Praxis stattfindet und ab Herbst im Therapieraum des Kinderheims. Es ist
geplant, die Therapie für die gesamte Dauer des Aufenthaltes im Kinderheim fortzuset-
zen, also bis maximal zum 6. Lebensjahr. In der Zwischenzeit ist vom Jugendamt auch
176 U. Armster und S. Binnenstein

die Entscheidung getroffen worden, dass es keine Rückführung in die Familie geben
wird. Mittelfristig wird ein Platz in einer Wohngemeinschaft für junge Kinder gesucht.
Im Sinne der Transparenz thematisiere ich die bevorstehendende Veränderung Julia
gegenüber rechtzeitig. Wir besprechen den anstehenden Abschied vom Kindergarten
und den bevorstehenden Urlaub mit dem Kinderheim und Ähnliches. Ich kündige Julia
an, dass unsere Stunden weiterhin regelmäßig stattfinden werden, aber an einem ande-
ren Ort. Nachdem Julia schon einen unangekündigten Abschied von ihrem Zuhause
verkraften musste, ist mir gerade in ihrem Fall die rechtzeitige Information und die
Begründung sehr wichtig. In meiner Praxis zeigt sie sich neugierig und interessiert,
gemeinsam sind wir Entdeckerinnen und Forscherinnen und erobern uns den für sie
neuen Raum. Thematisch beschäftigt sich Julia weiter mit dem Thema eingesperrt sein
und gerettet werden. Mit einem Geomag-Magnetspiel baut sie einen Käfig, in den sie
kleine Figuren einsperrt. Hier erscheint die Rettung zwar schwierig, aber dennoch mög-
lich zu sein. In einer anderen Stunde inszeniert sie eine Rettungsaktion mit einem
Playmobil-­Schiff, in dessen Boden ein Verlies eingebaut ist. Darin sind kleine Figuren
gefangen: „Meine Mama hat mich auch eingesperrt, das darf sie doch nicht!“ Schnell
befreit sie die kleinen Figuren aus ihrer misslichen Lage. Im Längsschnitt fällt auf, dass
sie sich in ihrer Symbolisierung immer mehr an die eigenen Erfahrungen annähert.

11.1.6 Therapiestunden 33 bis 57

Stabilisierung und Szenen aus dem neuen Alltag


Nach den Sommerferien findet die Therapie in einem Raum im Kinderheim statt. Dies-
11 mal muss auch ich mich mit dem neuen Raum vertraut machen. Julia kennt ihn schon:
Der Therapieraum des Kinderheimes wird außerhalb der Therapiezeiten auch für
Besuchskontakte genützt. Julia scheint den Raum zu mögen und hat offenbar einige
gelungene Besuche durch ihre Familie dort erlebt. An dieser Stelle ist es möglich, über
diese Besuche mit Julia ins Gespräch zu kommen. Wer hat dich denn besucht? Was habt
ihr gemeinsam unternommen? Was hat dir dabei Freude gemacht? Was hat dich viel-
leicht enttäuscht oder auch verärgert? Gibt es etwas, das als Ressource genutzt werden
kann? Es ist eine Erstmaligkeit, dass konkrete Erfahrungen mit der Herkunftsfamilie
mit Julia so zeitnah besprochen werden können. Zu Beginn des Aufenthaltes im Kin-
derheim haben die Familienbesuche mit einer gewissen Regelmäßigkeit stattgefunden.
Nach einigen Monaten werden sie weniger, ihre Eltern verschieben die Termine kurz-
fristig, sagen ab und manchmal fallen sie auch ohne Angabe von Gründen aus. Es ist
deutlich merkbar, dass Julia diese Absagen sehr irritieren. Eine Betreuerin des Kinder-
heims erzählt mir, dass Julia viel schimpft, mit Gegenständen um sich schmeißt und
sehr unruhig ist. Verhaltensweisen, die die Betreuerin mit den enttäuschten Erwartun-
gen in Zusammenhang bringt. Auch in den Therapiestunden verleiht Julia ihrer Enttäu-
schung Ausdruck, ich versuche, ihr zu vermitteln, dass ihre Enttäuschung verständlich
ist. Was ich noch im Austausch mit dem Leiter des Kinderheims erfahre: Julias Essver-
halten hat sich normalisiert. Sie beschäftigt sich nicht mehr in einem gesteigerten Aus-
maß mit Mahlzeiten und fragt nicht mehr zusätzlich nach Essen. Julia hat sich im neuen
Kindergarten gut eingelebt und hat bereits einige Freundschaften geschlossen. Auf die
Therapiestunden scheint sie sich jeweils sehr zu freuen, was sicher auch durch die
Julia: Durch schwierige Zeiten
177 11
Exklusivität des Beziehungsangebotes zu erklären ist: „Ich habe jemand ganz für mich
allein!“ ist eine Situation, die im Kinderheimalltag sonst kaum möglich ist. Wie schon
in einer früheren Phase versucht sie nun auch immer wieder, das Stundenende hinaus-
zuzögern. Ich verstehe es als Ausdruck für: „Bleib noch ein wenig bei mir!“ und viel-
leicht auch „Kommst du auch wieder?“ Ich versuche ihr deutlich zu vermitteln, dass ich
ganz bestimmt wieder in der nächsten Woche kommen werde – darauf könne sie sich
verlassen. Die Themen „Wo gehöre ich hin? Und was brauche ich, damit es mir gut
geht?“ sind in ihrem Spiel deutlich präsent. Besonders gerne baut Julia mithilfe von
großen Moosgummibuchstaben ein großes, stabiles Haus, in das sie hineinschlüpfen
kann. Als sie feststellt, dass es ein recht wackeliges Haus geworden ist, suchen wir
gemeinsam nach stützenden Gegenständen. Dabei besprechen wir, dass manchmal
nicht nur Häuser Unterstützung benötigen, sondern auch Kinder, wie Julia, wenn sie in
schwierigen Situationen sind. Was braucht denn dein Haus um für dich ein guter, siche-
rer Ort zu werden? „Da fehlen nur noch Decken und Polster, damit ich es gemütlich
habe!“ Dieses Haus baut Julia immer und immer wieder, den Rückzug nützt sie gerne
zur Entspannung. In einer späteren Stunde greift Julia den Hausbau wieder auf und baut
dieses Mal gleich zwei Häuser, sie wechselt zwischen den beiden hin und her und über-
prüft deren Wirkung auf sie. Ich verstehe dies als Ausdruck ihrer eigenen Zerrissenheit
und dem derzeitigen noch nicht wissen, wo sie hingehört. Einerseits gibt es das famili-
äre Umfeld, andererseits lebt sie nun im Kinderheim. Beiden Aufenthaltsorten kann sie
jedoch Gutes abgewinnen. Die Therapiestunden verbringen wir jetzt nicht nur im The-
rapieraum, manchmal gehen wir auch hinaus auf den Spielplatz oder in den Bewe-
gungsraum. Ich versuche, sie auch immer wieder zu neuen Bewegungserfahrungen
einzuladen, um ihre motorische Sicherheit zu verstärken, beispielsweise durch den
Umgang mit der schiefen Bahn. Ich hänge eine Langbank in der Sprossenwand ein und
lade Julia ein, die nun entstandene, schiefe Ebene als Rutsche zu benützen. Anfänglich
zögert sie und sagt auch, dass sie Angst hat. Ich vermittle ihr, dass sie sich darauf verlas-
sen könne, dass ich an ihrer Seite bin und sie unterstütze. Sie sitzt eine Zeit auf der Bank,
reicht mir dann die Hand und traut sich ganz vorsichtig zu rutschen, ich begleite sie
seitlich gehend. Julia strahlt über das ganze Gesicht, als es ihr einige Male gelingt, zu
rutschen und wird zunehmend mutiger und benötigt meine Unterstützung letztlich
nicht mehr. Sie bekommt Lob und anerkennende Worte von mir. Sie freut sich sichtlich
und strahlt vor Stolz.

Abschied
Der geplante Umzug in die Kinderwohngemeinschaft steht in einigen Wochen bevor.
Julia wurde darauf vom Betreuungspersonal vorbereitet und vom Mitarbeiter des
Jugendamtes informiert. Sie hat die Wohngemeinschaft bereits besucht. Sie setzt sich mit
dieser neuen Situation auch in den Therapiestunden auseinander. Wie wird es sein in der
Wohngemeinschaft? Welche Kinder sind dort? Wieder kommt viel Neues auf sie zu. Und
Abschiede stehen bevor: von den Betreuerinnen im Kinderheim, ihren Freundinnen und
Freunden aus dem Heim und aus dem Kindergarten, den Pädagoginnen und von mir. Mit
dem Umzug in die Wohngemeinschaft in ein anderes Bundesland wird auch die Therapie
beendet. Sobald ich von dem Umzug und dem damit verbundenen Therapieende infor-
miert bin, spreche ich mit Julia über den bevorstehenden Abschied. Dieser soll anders
verlaufen als der von der Familie: diesmal geplant, vorbereitet und mit der Möglichkeit,
178 U. Armster und S. Binnenstein

alle Gefühle, die mit dem Abschied verbunden sind, auch auszudrücken. Ich habe einen
Kalender für Julia mitgebracht, auf dem ich alle noch geplanten Termine eingetragen
habe. Am Anfang und am Ende jeder Stunde weise ich sie darauf hin, wie viele Stunden
wir noch haben werden. In den letzten Wochen, die Julia im Kinderheim verbringt, wird
ihre Zerrissenheit und Traurigkeit immer deutlicher. Sie möchte einerseits gerne die Zeit
mit mir im Therapieraum verbringen, andererseits mit ihren Freunden aus dem Kinder-
garten im Garten spielen. Einmal wirft sie sich weinend auf den Boden und kann sich nur
schwer wieder beruhigen. Gemeinsam lesen wir in dieser Abschlussphase das Buch „Die
Geggis“ von Mira Lobe, die sich mit der Annäherung Fremder beschäftigt und wie aus
Fremden Freunde werden. Wir thematisieren die anstehenden Veränderungen und Julia
stellt sehr konkrete Fragen. Die Geschichte ist dabei eine wertvolle Unterstützung – ich
beziehe sie immer wieder gerne in die Gespräche mit Julia ein und frage sie beispiels-
weise: „Wie ist es den Schlammwatschlern und den Schluchtenhaxlern gelungen, Freunde
zu werden? Wie könntest du das machen? Wie hast du die Kinder im Kinderheim und im
Kindergarten kennengelernt?“ Julia überlegt sich konkrete Schritte. Dabei kann ich einer-
seits ihre Sorge und Angst aufgreifen, andererseits einen neuen Möglichkeitsraum öff-
nen – beides zusammen ist ein wichtiger Beitrag für einen gelingenden Neubeginn. In der
vorletzten Stunde sagt Julia zu mir: „Ich werde dich vermissen, Ursi!“ „Ja, ich werde dich
auch vermissen!“ Wir haben lange Zeit miteinander gearbeitet, gespielt und eine intensive
Beziehung zueinander aufgebaut. Ich frage Julia, ob sie spezielle Wünsche für die letzte
Stunde hat, ob es vielleicht etwas gibt, das sie noch einmal machen möchte? Sie sagt, dass
sie gerne noch einmal in meinen Pantomimo schlüpfen würde und unbedingt ganz lange
„Mensch ärgere dich nicht“ spielen möchte. In der letzten Stunde genießt sie eine Zeit
lang den Pantomimo, eine Art Sack, in den sie mit ihrem ganzen Körper schlüpfen kann.
Ich kann sie zwar nicht sehen, aber das Material erlaubt ihr, dass sie hinausschauen kann.
11 Julia mag es, wenn ich zum Beispiel ihre Nasenspitze berühre oder ihre Schulter, was ihr
ein freudiges Kichern entlockt. Wir unterhalten uns über viele Dinge, die wir gemeinsam
in den vergangenen 19 Monaten erlebt haben, und an die sie sich noch erinnern kann. Ich
erzähle ihr, woran ich mich gerne erinnere und gebe ihr ausführliche Rückmeldung darü­
ber, was ihr alles gelungen ist, was sie gelernt hat, was mich gefreut oder auch überrascht
hat. Gemeinsam spannen wir einen Bogen von der Vergangenheit in eine gute Zukunft
und malen uns aus, was Julia möglicherweise in diesem Sommer alles erleben könnte und
auch wie der baldige Schulbeginn sein könnte. Zum Abschied schenke ich ihr eine Schatz-
kiste, in die ich ihr selbst genähte Geggis hineinlege, eine Tafel Schokolade und ein Foto
von uns beiden. Es soll sie an die gemeinsamen Stunden erinnern. Ich merke, dass auch
mich der Abschied sehr beschäftigt. Wenn ich mich als Therapeutin als Bezugsperson zur
Verfügung stelle, dann wird auch mir das Kind sehr wichtig. Und dieses Interesse am
Kind endet dann nicht mit der letzten Therapiestunde.

11.2 Reflexion von Fall- und Wirkverständnis

Wir haben uns für den Fall trotz der denkbar schwierigen Ausgangsbedingungen ent-
schieden, da er die vielen Herausforderungen, mit denen wir vor allem im institutionel-
len therapeutischen Alltag häufig konfrontiert sind, anschaulich macht. Wir wollen
zeigen, wie wir als systemische Therapeutinnen trotz widriger Voraussetzungen (keine
Julia: Durch schwierige Zeiten
179 11
eindeutige Zielvereinbarung, wenig Kooperation mit dem elterlichen System) thera-
peutisch hilfreich sein können, ohne dabei einen systemischen Bezugsrahmen zu ver-
lassen. Zudem werden anhand dieser Falldarstellung sehr viele typische Situationen
beschrieben, die in längerdauernden Kindertherapien häufig vorkommen. Dies betrifft
einerseits das Methodenrepertoire der Therapeutin (Einbeziehen von Stofftieren, For-
mulierungen zum Kontrakt, Sandspiel u.a.) andererseits die Dynamik der Beziehung
zwischen kindlichen Klienten und Therapeutin (Umgang mit Grenzen, Beziehungsge-
staltung, Gestaltung des Abschiedes u.a.).

zz Rahmenbedingungen
Eine der besonderen Herausforderungen stellte sich gleich zu Therapiebeginn. Die Eltern
waren nicht direkte Auftraggeber für die Psychotherapie, eine Situation, wie sie im stati-
onären Setting aber durchaus üblich ist. Es liegt bei der fallführenden Psychologin, den
Eltern die Indikation für eine Psychotherapie zu erklären und mit dem elterlichen Auf-
trag in Verbindung zu bringen. Die Zielvereinbarung ergab sich vor allem aufgrund der
Informationen der klinisch-psychologischen Diagnostik, der fallführenden Psychologin
und der eigenen diagnostischen Einschätzung der Therapeutin bzw. ihrem Dranbleiben
und Nachspüren „Was könnte Julia denn brauchen?“, was einem narrativen Therapiever-
ständnis entspricht. Brandl-Nebehay (2003) beschreibt dieses narrative Therapiever-
ständnis mit dem Bild einer Reise: „Während bei einem lösungsorientierten Vorgehen
schon von Beginn an klar ist, wohin die Reise geht, ergeben sich bei narrativen Verfahren
Ziele erst unterwegs oder können revidiert werden.“ Dies ist eine häufige Situation in
Kindertherapien: Wir wissen anfänglich oft nicht, worum es genau geht. Eine strikte
Lösungsorientierung ist dann nicht möglich bzw. fehl am Platz. Ein Setting, in dem Kin-
der die Möglichkeit haben, sich spielerisch auszudrücken, ist daher in vielen Fällen not-
wendig, um nicht verbalisierbares emotionales Erleben zum Ausdruck zu bringen. Innere
Prozesse und Fragen, mit denen Kinder befasst sind, lassen sich aus ihrem (symptomati-
schen) Verhalten nicht direkt ablesen, der „Umweg“ über das Spiel ist unverzichtbar (vgl.
Brächter 2010). Um das, was Julia in der Therapie tut, sagt und spielt, auch immer wieder
in einen sinnvollen Zusammenhang bringen zu können, ist im stationären Setting der
professionelle Austausch mit vielen anderen Personen notwendig, die mit Julia zu tun
haben. Dieser Austausch findet einerseits in den monatlichen Teambesprechungen statt.
Wichtig sind aber auch viele zusätzliche Gespräche mit der fallführenden Psychologin,
den Pädagoginnen aus dem Kindergarten etc. Nach der Fremdunterbringung ist der Aus-
tausch mit dem Personal des Kinderheims eine wichtige Informationsquelle. Ein Beispiel
dafür ist, dass die Therapeutin nach der Fremdunterbringung von der Pädagogin die
Information bekommt, dass Julia ihre persönlichen Sachen immer in einem Sackerl bei
sich haben möchte. Dadurch, dass die Therapeutin diese Information hat, kann sie dem-
entsprechend darauf reagieren und noch mehr auf Stabilität im Zusammenhang mit
Objekten achten. Es wird daraufhin genau überlegt und besprochen, wo die Werke Julias
(Bilder, Gebasteltes u.a.) bis zum nächsten Mal verstaut werden.

zz Therapiebeginn
Kontaktaufnahme und Kontextklärung: In diesem Fall wählt die Therapeutin ein indi-
rektes Vorgehen für die erste Kontaktgestaltung. Aufgrund der Beobachtung, dass Julia
die Stofftiere als Übergangsobjekte mitnimmt, entscheidet sie, mit ihnen zu sprechen.
180 U. Armster und S. Binnenstein

Durch spezifische sprachliche Formulierungen werden Ressourcen- und Zukunftsorien-


tierung aktiviert. Da Julia auf diese Art der Kontaktaufnahme gut reagiert, entscheidet
die Therapeutin auch mithilfe einer Handpuppe den Rahmen der Therapie (Dauer, Häu-
figkeit, Regeln, Anlass) altersgerecht zu erklären. In einem spieltherapeutischen Setting
folgt die Therapeutin dem Kind. Sie lässt Julia die Zeit, die sie braucht, um sich im thera-
peutischen Rahmen sicherer zu fühlen. Dazu dient auch die Begleitung des Spiels mit
beschreibender Sprache. Beschreibende Sprache fördert die Beziehung, indem sie das
Interesse der Therapeutin am Tun des Kindes deutlich macht. Sie bestätigt damit das
aktuelle Handeln und fördert die Sprachentwicklung durch das Anbieten des angemesse-
nen sprachlichen Ausdrucks. Gleichzeitig wird damit die Mentalisierungsfähigkeit
gefördert. Die Therapeutin achtet besonders darauf, dass Julia für sich passende Ent-
scheidungen treffen kann, um sie dadurch in ihrem Selbstwirsamkeitserleben zu stärken.
Daher stellt sie immer wieder Situationen her, die Julia eine Entscheidung abverlangen.
Therapie wird als Erprobungsraum für den Umgang mit eigenen Bedürfnissen gestaltet.
Was möchte ich  – jetzt im Moment? Besonders vorsichtig geht die Therapeutin mit
Berührungen und körperlichen Grenzen um – Julia soll nicht vereinnahmt werden, son-
dern den Kontakt mitgestalten können. Die Therapeutin schlägt die Gestaltung eines
sicheren Ortes vor. Auch hier geht es um die Förderung der Selbstwirksamkeitserfah-
rung: Ich kann selbst etwas Gutes für mich tun. Es ist mein Ort. Ich mache dort eine gute
Erfahrung. Das Vorlesen von Trancegeschichten soll zum einen Momente des entspann-
ten Miteinanders ermöglichen, zum anderen sollen sie dabei helfen, Zusammenhänge
zwischen schlechtem Befinden und äußeren wie inneren Einflüssen klarer zu erkennen
(Wilk 2005). Damit wird neben der Selbstberuhigungsfähigkeit auch Reflexionsfähigkeit
und Problemlöseverhalten gefördert. Diese Arbeit trägt dazu bei, dass Julia in den Thera-
piestunden offener, fröhlicher und sicherer wird und dass es ihr leichter fällt, bedürfnis-
11 konforme Entscheidungen zu treffen. Aber trotz dieser positiven Entwicklung und dem
offensichtlich guten Kontakt zur Therapeutin blockt sie Fragen zur realen familiären
Situation weiterhin ab. Wenn in einem längeren Therapieverlauf konkrete Erfahrungen
aus dem eigenen Leben nicht ausgedrückt werden, kann dies ein Hinweis auf etwas
„nicht Aussprechbares“ sein. Ähnliches ist zu beobachten, wenn Kinder spüren, dass
Eltern dem Therapieangebot skeptisch gegenüberstehen und Schilderungen familiärer
Erfahrungen damit zum Verrat werden könnten. Im Zuge des Aufenthaltes mehren sich
die Hinweise auf Misshandlung und Vernachlässigung. Nach einem Hausbesuch durch
das Jugendamt kommt es zu einer sofortigen Kindesabnahme. Nicht immer ist die Kin-
deswohlgefährdung so eindeutig gegeben wie bei Julia. Aber auch in weniger drastischen
Fällen darf Ressourcenorientierung und Veränderungsoptimismus systemischer Thera-
peutinnen nicht dazu führen, die realen Belastungen und Gefährdungsmomente in den
Lebensbedingungen zu unterschätzen. Retzlaff warnt diesbezüglich: „Eine allzu einseitige
Ressourcenorientierung birgt allerdings die Gefahr, soziale Benachteiligung, Ungerech-
tigkeit und Unterdrückungsverhältnisse zu ignorieren. Die Erwartung, Kinder sol­lten
ihre Probleme alleine mit ihren eigenen Ressourcen lösen, ist eine Überforderung.
Sie erinnert an die Legende des Barons von Münchhausen, der sich am eigenen Zopfe aus
dem Morast herauszuziehen vermochte“ (Retzlaff 2008, S. 25). Nach dem plötzlichen
Wechsel des Lebensumfeldes durch die Kindesabnahme ist die Therapeutin eine kon­
stante Bezugsperson. Die Therapie bietet einen Rahmen, in dem Julia sich mit dem Erleb-
ten, Erlittenen und der Verunsicherung auseinandersetzen kann. Die Therapeutin stellt
Julia: Durch schwierige Zeiten
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sich nicht nur als Person zur Verfügung, die auftauchende Emotionen verstehen und
aushalten kann, sie stellt auch kindgerechte Ausdrucks- und Verarbeitungsmöglichkeiten
zur Verfügung. Im symbolisierenden Spiel mit Handpuppen, Playmobil-Figuren etc.
nützt Julia die Therapiestunden, um ihre Geschichte in verschiedenen Aspekten spiele-
risch auszudrücken. Eingesperrt sein und gerettet werden ist das Thema, das sie viele
Stunden beschäftigt, wobei sie interessanterweise vor allem die Rettung und nicht das
Trauma davor inszeniert. Die Therapeutin begleitet das Spiel in einer aktiven Haltung,
um zu Sichtwechseln und experimentellem Handeln einzuladen (Brächter 2010, S. 31).
Gerade angesichts der Kindesabnahme wurde die exklusive Beziehung zur Therapeutin –
eine Person, die Julia ganz für sich hat – besonders wertvoll. „Kindern angesichts belas-
tender Lebensumstände emotional beizustehen, sehe ich als Kernstück der protektiven
Rolle, die ein außenstehender Erwachsener in der Therapie einnehmen kann“ (Brächter
2010, S. 45). Im Schutze dieser Beziehung konnte sich Julia mit ihrer Unsicherheit
beschäftigen – wo gehöre ich jetzt hin? Wie geht das jetzt weiter im Kinderheim? Neben
der Ermöglichung des Ausdrucks von Erlebtem und damit der Förderung von Verarbei-
tung und Beruhigung ist die Vermittlung positiver Erfahrungen ein weiteres wichtiges
Wirkprinzip. Dies kann durch heilsame Geschichten (Kernstock 2005) erfolgen, die
beruhigen und ermutigen sollen, durch das Bauen eines sicheren Ortes und dem gemein-
samen Aufenthalt darin, aber auch durch Outdoor-Aktivitäten sowie „Turnübungen“ am
Spielplatz oder im Bewegungsraum, die in dieser Therapiephase vermehrt zum Einsatz
kamen. Neben der positiven Beziehungserfahrung (ich werde gefördert, gesichert, gehal-
ten, ermutigt) ist auch der reale Kompetenzerwerb und der damit verbundene Zuwachs
an Selbstvertrauen ein gewünschter Effekt.
Julia entwickelte sich im Zuge der Therapie zu einem aufmerksamen, begeisterungs-
fähigen, neugierigen, kommunikativen und interessierten Mädchen. Ihr Essverhalten
hat sich normalisiert. Die Therapeutin hat dazu durch die konstante unterstützende
Beziehung, die Förderung von Ausdrucks- und Verarbeitungsmöglichkeiten und die
Vermittlung vieler positiver Erfahrungen beigetragen. Eine besondere Herausforderung
bei Therapien mit Kindern im Vorschulalter besteht darin, dass Therapeutinnen mit
wenigen Rückmeldungen auskommen müssen. In diesem Alter können Kinder noch
nicht formulieren, ob irgendetwas besser geworden ist oder die (Aus-)Wirkung einer
Intervention beschreiben. Nur genaues Beobachten und feinfühliges Nachspüren (wie
reagiert das Kind auf das konkrete therapeutische Angebot) hilft bei der Prozessgestal-
tung. Aber was von all dem war nun „systemisch“? Was macht eine systemische Therapie
aus, wenn das familiäre Bezugssystem nicht zur Verfügung steht und aufgrund organisa-
torischer Einschränkungen die Kooperation mit dem aktuellen Bezugssystem (Station
oder Kinderheim) auf minimalen Austausch beschränkt ist? Mit Daniel Stern können
zwei Prinzipien unterschieden werden, durch die Therapie wirksam sein kann: auf dem
Weg einer tatsächlichen Veränderung von Beziehungen und dem Weg einer Verände-
rung innerer Repräsentationen von Beziehungen, innerer Bilder der Realität. Wenn die
Ebene innerer Repräsentationen in eine systemische Therapiegestaltung miteinbezogen
wird, wie dies in der narrativen Spieltherapie erfolgt, wird ein Zugang zur innerpsychi-
schen Repräsentation von Erfahrungen geschaffen, ohne einen systemischen Bezugsrahmen
verlassen zu müssen. „Mit ihrer Nähe zu emotionalem Erleben trägt sie der Bedeutung
von Affekten Rechnung, deren denk- und handlungsleitende Funktion auch in systemi-
schen Konzepten zunehmend erfasst wird“ (Brächter 2010, S. 234).
182 U. Armster und S. Binnenstein

Literatur
Brächter W (2010) Geschichten im Sand. Narrative Spieltherapie, Carl Auer, Heidelberg
Gammer C (2009) Die Stimme des Kindes in der Familientherapie. Carl Auer, Heidelberg
Hüther G, Hauser U (2012) Jedes Kind ist hochbegabt. Die angeborenen Talente unserer Kinder und was
wir aus ihnen machen. Knaus, München
Kernstock-Redl H (2005) Heilsame Kindergeschichten. Beruhigende, tröstende und stärkende Storys
selbst erfinden. öbv&hpt, Wien
Retzlaff R (2008) Spielräume. Lehrbuch der systemischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen.
Klett-Cotta, Stuttgart
Wilk D (2010) Ein Käfer schaukelt auf einem Blatt. Entspannungs- und Wohlfühlgeschichten für Kinder
jeden Alters, Carl Auer, Heidelberg

Therapiematerial und Bilderbücher


Carle E (1994) Die kleine Raupe Nimmersatt. Gerstenberg, Hildesheim
Lobe M, Weigel S (1985) Die Geggis. Jungbrunnen, Wien
Rowe JA (2007) Bitte nimm mich in die Arme! Minedition, Bargteheide
Hilfe Hai [Spiel], Hasbro, Dreieich
Living Puppets, Matthies Spielprodukte, Hamburg

11
183

Serviceteil
Stichwortverzeichnis – 185

© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018


E. Wagner, S. Binnenstein (Hrsg.), Wie systemische Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie
wirkt, Psychotherapie: Praxis, https://doi.org/10.1007/978-3-662-55547-7
185 A–R

Stichwortverzeichnis

A
Genogrammarbeit 13, 27
Gewalt
–– Umgang mit sexueller 124
Affektdynamik 54
Akutpsychiatrie 95
Akzeptanz, radikale 104
Anorexia nervosa 104
H
Arbeit mit Gefühlen und Körperempfindungen 75 Handlungsorientierung 6
Auftragsorientierung 104 Handpuppe im Rollenspiel 147, 166
Hausbesuch 154

B
Hilflosigkeit, parentale 9

Beziehungsdenkmal 51
Beziehungskonflikt
K
–– der Eltern 34 Kausalität
Borderlineerkrankung 73 –– Infragestellung von 53
Borderlinestörung 75, 84 Kinderheim 173
Kindertherapieplatz 108

C
Kindeswohlgefährdung 172
Konfrontation in vivo 158
Kooperationsbereitschaft
Collage 152
–– der Eltern 143
Krisenintervention 60
D
Dramatisierung mit Stellvertretern 48 M
Magersucht 103
E Missbrauch 125
Mutter-Kind-Heim 130
Emetophobie 24

N
emotionsfokussierte Psychotherapie 85
Entwicklungsverzögerung 125
Essstörung 59, 88, 102
Narrative Therapie 8
Essverhalten 165, 167, 170
Externalisierung 46, 78, 149
Externalisierung, positive 81, 85
P
F Paartherapie 144
Parentale Hilflosigkeit 9
Familienbrett 6, 14, 32, 62, 77, 126 Parentifizierung 26
Familiensetting 110 Pflegeeltern 131
Familienspiel 113 Pflegefamilie 134
Familientherapie, kinderorientierte 107, 110 Problemtrance 157
Funktionalität eines Symptoms 26 Prozessverantwortung 54

G R
Gefühlefilter 150 Reframing 35
Gefühle-Joystick 150 Ressourcenarbeit 61
186
Stichwortverzeichnis

Ressourcenorientierung 4 Therapieprozess 54
Ritzen 90, 96 Timeline 81
Rollenspiel mit Handpuppen 147, 166 Trauer 85
Rückfall –– Funktion von 79
–– Angst vor 83 Trauerverarbeitung 16, 20

S U
Schulverweigerung 91, 99 Übergangsobjekte, Einbeziehung von 163
Selbst-und Fremdgefährdung
–– Umgang mit 74
Selbstwirksamkeit 153
Selbstwirksamkeitserfahrung 180
V
Setting, variables 12 Verhalten
Skillskette –– oppositionelles 104
–– Umgang mit 67 –– selbstverletzendes 58, 104
Skillstraining 64 Verlustschmerz 20
Spieltherapie 164 Videoaufnahme 110, 115
Stimmungstagebuch 63

W
Störung des Sozialverhaltens 38, 52
Suizidalität 68
Symbolisierung
Wohngemeinschaft
–– von Erlebnissen 130
–– für junge Kinder 176
Symptom
Wut 14, 32, 90, 129, 171
–– Funktionalität 26
–– Umgang mit 16, 33, 174
–– Suche nach Ausnahmen 30
Wuthöhle 18
–– Zwangssymptom 147
Systemische Aufstellung
–– Familienbrett 6, 14, 32, 62, 77, 126
Z
T Zielvereinbarung
–– nicht eindeutige 179
Teilearbeit 92 Zwangsgedanke 155
Therapiefokus 84 Zwangssymptom 118, 141, 147
Therapie, narrative 8 –– dekompensiertes 140

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