Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Das vorliegende Werk ist Teil einer Reihe von Publikationen eines rnehrjahrigen Forschungsprojekrs »Sigmund Freud
in den Tropen «, das die Entwicklung der Psychoanalyse in der portugiesischsprachigen Welt (Portugal, Mosarnbik,
Goa, Brasilien etc.) zum Gegenstand hat. Das erste Mal im deutschsprachigen Raum und rnôglicherweise weltweir wird
hier die l Oü-jãhrige Geschichte der Psychoanalyse in Brasilien in Form von Beitragen bekannter WissenschaftlerInnen
dargestellt. Die unterschiedlichen Perspektiven der Beitrage geben Einblick in die Vielfalt dieses
Forschungsgegenstandes. Wir danken dem Psychosozial-Verlag, vor allem Frau Vogr, für die sorgfaltige Betreuung
dieses Buches.
Niterâi, Berlin, Kõln imJuni 2014
Chirly dos Santos-Stubbe, Peter Theiss-Abendroth, Hannes Stubbe
CAP 1.
Genserico Aragäo de Souza Pinto - ein vergessener Pionier der Psychoanalyse in Brasilien
Die Psychiater Juliano Moreira (1873-1933) und Antönio R.L. Austregesilo (1876-1961) interessierten sich schon relativ
früh für die Psychoanalyse. So kam es schließlich dazu, dass sie die medizinische Doktorarbeit des cearenser Arztes
Genserico Aragäo de Souza Pinro über Da Psicoanalise {a sexualidade nas neuroses]? anregten und betreuten. Diese
(äußerst schwierig aufzufindende) Dissertation aus der Anfangszeit des Ersten Weltkrieges (1914-1918) gilt als die
erste publizierte Arbeit über die Psychoanalyse in der portugiesischsprachigen Welt (vgl. Stubbe, 2011). Loureneo
Filho!? betont zu Recht, dass Pintos Arbeit »foi 0 primeiro trabalho a versar as ideias de Freud, näo so no Brasil, rnas,
em lingua portuguesa« 11 (0. J., S. 269). Damit war Brasilien das erste portugiesischsprachige Land der Welt, das die
Psychoanalyse offiziell in die Medizin einführte: Eine erstaunliche Reise vom schneebedeckten kaiserlichen Österreich
in das tropisch republikanische Brasilien.
Die für das damalige Brasilien ausgesprochen innovative medizinische Doktorarbeit des aus Sobral in Ceara
stammenden Pinto (geboren 1888; Todesjahr unbekannt) 12,also eines »nordestino«~Binnenmigranten, umfasst
insgesamt 129 Seiten. Seine Arbeit enthält gleich zu Anfang eine Übersicht über die damaligen Mitglieder der»
Faculdade de Medicina do Rio de Janeiro«, in der sich bekannte brasilianische Psychiater wie Brandäo+', Austregesilo
und Roxo befanden. Es folgen Seiten mit einer Widmung an den verstorbenen Vater Guilhermino Augusto de Souza
Pinto, dem Bildl4 Prrf. Dr. Sigmund Freud. Fundador da »Psicoanalise« und einem eineinhalbseitigen Text mit
Danksagungen (vor allem an Austrogesilo und Moreira):
»A idea de escrever a nossa rese de doutoramento sobre a Psicoanalise foi-nos sugerida
pelo prof. Ausrregesilo, nosso eminente mestre, a cujo lado trabalharnos sem
descontinuar durarite os trez ultirnos anos de nosso curso. (... ] A ele devemos a parte
principal na confeccäo d'esre trabalho, ja nos mostrando a verdadeira orienracäo
sientifica, ja nos franqueando a sua biblioteca [... [« (Die Idee, unsere Doktorarbeit
über die Psychoanalyse zu schreiben, stammt von Prof. Austregesilo, unserem herausragenden
Meister, an desssen Seite wir ununterbrochen während der letzten drei
Jahre unserer Ausbildung gearbeitet haben. (... ] Ihm verdanken wir den Hauptanteil
an der Ausführung dieser Arbeit; er zeigte uns die wahre wissenschaftliche Orientierung
und ermöglichte uns den freien Zugang zu seiner Bibliothek [... ]).
»Ao notavel psiquiatra e psicoanalisra (sie! Anm. des Verf.) prof. Juliano Moreira
somos irnensarnenre gratos pelo grande interesse que tornou pelo presente
trabalho« (Dem bedeurenden Psychiater und Psychoanalytiker Prof. Juliano Moreira
sind wir außerordentlich dankbar für sein großes Interesse, das er an der
vorliegenden Arbeit hatte) (Pinto, 1914, S. I).
Es folgt das Inhaltsverzeichnis (» Indice«) (S. IV) mit folgender Gliederung der Arbeit:
Proemio (S. V) (Vorwort), Consideracöes geraes - Sintese e evolucäo das ideas de
Freud (S. 5ff.), Asexualidade infantil (5. 18ff.), Os desvios da sexualidade (5. 33ff.),
Da eriologia das nevroses (S. 39ff.), Das »nevroses atuaes « (S. 46ff.), Das psiconevroses
- 0 recalcamento das tendencias sexuaes (S. 59ff.), Da histeria (S. 64ff.), Das
obsessöes e fobias - Da cpilepsia (5. 74ff.), A psicoanalise corno rnerodo
cerapeutico
(5. 87ff.), Observacöes (5. 97), Proposicöes (5. 113-128), Errata (5. 129).
Im Vorwort stellt Pinto fest, dass die Psychoanalyse Freuds 15 um 1905 ihren definitiven Charakter als Forschungs-
und therapeutische Methode erlangt habe. Er zählt kurz ihre Rezeption in allen »kultivierren Ländern« (»paizes cultos «]
auf: Österreich, Deutschland, die Schweiz (hier erschienen die ersten kritischen Arbeiten), England und die USA (er
nennt in diesem Zusammenhang: jenes, Gordon, Scott, Williams, Fraser, Eder, Frink, Waterman, Brill) , Russland,
Italien, Ungarn und die Niederlande-'', Es hätten auch Kongresse stattgefunden und Gesellschaften 17 sowie
Zeitschriften seien gegründet worden. Frankreich!" sei das letzte Land gewesen, dass seine Neugier manifestiert habe
und lange Zeit im Hinblick auf die »revolucäo sienrifica de Freud« 19 (wissenschaftliche Revolution Freuds) indifferent
gewesen sei. Es gebe aber bereits Arbeiten von Ladame, Regis und anderen-", In Brasilien existiere laut Pinto keine
publizierte Arbeit über die Psychoanalyse, denn »0 desconhecimento da psicoanalise e aqui quasi total« (die
Unkenntnis über die Psychoanalyse sei hier gleichsam total) (Pinto, 1914, S. VI). Das Interesse für die Freud'sche
Lehre sei aber bei einigen brasilianischen Psychiatern wie Moreira, Austregesilo und Rox021 geweckt worden. Moreira
habe verschiedene Konferenzen für die »Sociedade de Neurologia e Psiquiatria do Rio de Janeiro« vorbereitet, aber
nur eine sei realisiert worden.P Auch Austrogesilo sei trotz seiner umfangreichen wissenschaftlichen Interessen noch
kein »adepto incondicional e absolutista da teoria de Freud «, habe aber klinische Erfahrungen mit »neuropathischen
von psychosexuellen Störungen abhängigen Zuständen«. Der Pädiater Figueira23 sei jedoch auch hinsichtlich der
infantilen Sexualität von der Freud'schen Lehre überzeugt.
Es folgt die wichtige Feststellung, die Pintos Erstlingsanspruch klar dokumentiert:
»Näo ha, entretanto, d'esscs ilustres sientistas nacionaes nenhum estudo impresso
sobre 0 assunto; assim a nossa rese representa 0 primeiro trabalho dado a publicidade
no Brasil« (Esgibt, unterdessen, von diesen bekannten nationalen Wissenschaftlern
keine gedruckte Untersuchung über diesen Gegenstand; so stellt unsere Doktorarbeit
die erste Arbeit dar, die in Brasilien der Öffentlichkeit übergeben wird) (Pinte,
1914, S. VII).
Pinto betont anschließend, er habe keine perfekte und komplette Arbeit vorgelegt, sondern mit seiner Schrift den
Zugang zu den Freud'schen Theorien im Lande erleichtern wollen. Die Traumdeutung, Assoziationen, Handlungen und
Gesten des Alltagslebens habe er nicht minutiös behandeln können, da er sich auf die Neurosen und ihre Symptomatik
sowie die sich daraus ergebenden psychischen Behandlungen konzentriert habe.
Im ersten Kapitel (Allgemeine Betrachtungen) über die »Synrhese und Entwicklung der Freudschen Ideen« referiert
Pinto kurz die Vorstellungen hinsichtlich des Sexualinstinkts-? seit GaIFS, mit dem eine neue physiologische
»Gehirnrheorie « (» teoria cerebral «) beginne. Bereits Hippokrates (ca. 430- 360 v.Chr.)26 habe in seinen
Ausführungen über die Hysterie sexualätiologische Vorstellungen geäußert. Es sei dann aber Freud (als »psicologo e
neuriatra-s F? gewesen, der im Zeitraum von 1894-1914 eine wissenschaftliche Grundlage für die Sexualität als
ätiologischen Faktor der Neurosen geschaffen und den ausdrucksstarken Begriff
»Psicoanalise-e-" als Psychologie und Methode mit vielerlei Aspekten kreiert habe. Die Theorie von Freud stellt Pinto
anhand der Ausführungen Regis'29 dar.
Joseph Breuer (1842-1925)30 wird aufgrund seiner kathartischen Methode als »precursor« (Vorläufer) der
Psychoanalyse" bezeichnet. Pinto geht in diesem Zusammenhang auf die gemeinsame Schrift Ȇber den psychischen
Mechanismus hysterischer Phänomene« (1893) von Freud und Breuer sowie auf das Konzept der »traumatischen
Hysterie « von jean Martin Charcot (1825-1893)32 ein. Die Vorstellung, dass die» Hysteriker an ihren Erin nerungen
leidcn «, finde sich schon in den Arbeiten der »Würzburger Schule-x-", zum Beispiel bei Frank-", Forej35 sowie Charcot,
aber erst Breuer habe daraus eine therapeutische Methode gemacht.
Freud habe anschließend die Bedeutung der Sexualität im Ursprung und Verlauf der hysterischen Symptome erkannt.
Die Hysterie, die Zwangsvorstellungen und die Phobien seien Abwehrneurosen (» nevroses de 'defesa«), über die
Freud 1894 publiziert habe. 1895 habe er dann die Neurasthenie und Angstneurose ohne sexu elles Kindheitstrauma
sowie die Neuropathien mit einer psychogenen Geschichte und solche ohne herausgearbeitet. Zwei Prinzipien in
Freuds Lehre seien dabei hervorgehoben worden: das totale Vergessen der sexuellen Gründe und die unbewussten
sexuellen Tendenzen/Triebe. Freud habe sich anfänglich der Hypnose= bedient bis er die Mängel dieser Methode
erkannt und ein neues Verfahren entwickelt habe: »interrogatorio minucioso e paciente, destinado a arrancar do seio do
psiquismo inconsciente as reminiscencias que ai se fixaram« (Eine minutiöse und geduldige Befragung, die darauf
abzielt, dem Unbewussten die dort fixierten Erinnerungen zu entreißen) (PintO, 1914, S. 15). Seine Theorie habe er
schließlich
mit der Traumdeutung, der Assoziationsmethode und den Handlungen und Gesten des Alltagslebens vervollständigt.
Nach einer kurzen Zusammenfassung der Freud'schen Lehre hebt Pinto noch einmal die zentrale Rolle der Sexualität
hervor und weist darauf hin, dass Freud die Psychoanalyse auch auf die Religion, Soziologie, Moral, Justiz, Literatur,
Metaphysik und sogar auf die Psychosen angewandt habe. In den letzten Jahren (1911-1913) seines Studiums des
Unbewussten habe sich Freud mit der Assoziationsrnerhode '? und der Struktur der Träume befasst38.
Im zweiten Kapitel beschäftigt sich Pinto mit der infantilen Sexualität. Die zentrale Rolle der Sexualität sei von Bleuler
als »Pansexualismus-s " bezeichnet worden. In der Darstellung der Freud'schen Lehre der i~fantilen Sexualität folgt
Pinro wiederum den Ausführungen Regis'. Die Sexualität äußere sich beim Menschen bereits nach der Geburt, ein
Phänomen, das Henry Havelock Ellis (1859-1939) als »Auto-Erotismus« (1898)40 bezeichnet habe. Der zentrale
Freud'sche Begriff »Libido-x+' finde sich bereits 1895 im Neurologischen Centralblatt unter der Bezeichnung »gozo
sexual psiquico« (psychischer Sexualgenuss). Nach den Ausführungen
von Regis, Monter, Ladame und anderen habe Freud diesen Begriff Jedoch allgerneiner gefasst. Es folgt eine Definition
der Libido aus den Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905, Kap. 1). Für Carl Gustav Jung (1875-1961) sei
Libido42 die Grundlage all unserer Lieben und Wünsche, eine vitale Kraft, deren Grundlage die sexuelle Attraktion sei.
Körscherv spreche von einem »fome
sexual ingenua (sern mallcia)« und Bleuler von einem genitalen Appetit mit allen positiven Trieben. Löwenfeld+'
verstehe darunter einen »rnornentanen sexuellen Appetit«, den man vom Sexualinstinkt unterscheiden müsse. Die
sexuelle Qualität komme in »erogenen Zonen«45 zum Ausdruck. Pinto zählt einige Manifestationen der kindlichen
Sexualität auf wie Daumenlutschen. kindliche Masturbation, manuelle Erregung des Anus etc. und geht dann in der
individuellen sexuellen Entwicklung auf die »Latenzperiode « oder »Aufschubperiode« sowie auf die »Sublirnation der
Libido « ein. Darauf folgte eine Periode der Regression mit Erscheinungen wie onanistische Praktiken, Pollutionen,
nächtliches Bettnässen, aber auch Verführungen. Das Kind sei »polyrnorph pervers«. Pinto stellt danach die ödipalen
Liebesbeziehungen und den Ödipuskomplex in der Kindheit dar sowie die verschiedenen Formen der Partial triebe wie
»Schaurrieb«, Bemächtigungstrieb etc. und gibt Beispiele der infantilen Sexual theorien. In seinem jüngsten Werk
Sammlung kleiner Schriften zur Neurosenlehre (1913) habe Freud den interessanten Fall des »kleinen Hans«46
geschildert. Aus »nervösen« Kindern würden später Neuropatherr'? mit einer Vielzahl an perversen Symptomen. Es
folgt eine Beschreibung der weiteren psychosexuellen Entwicklung von der Pubertät mit ihrer noch indifferenten
sexuellen Orientierung bis zur ziel- und objektgebundenen Erwachsenensexualität. Die kolossale Bedeutung und
Wichtigkeit, die Freud und seine Schule der infantilen Sexualität einräume, aber bisher von der klassischen Psychologie
ignoriert worden sei, wird von Pinto hervorgehoben.
Im dritten Kapitel werden die Abweichungen von der normalen Sexualität bearbeitet. Die normale sexuelle Entwicklung
sei störungsanfällig. So würden die Keime zweier pathologischer Zustände bereits in der Kindheit angelegt: der
Psychoneurose und der sexuellen Perversion (auf die sich Pinte hier beschränkt). Diese basierten nach Freud auf
Störungen der sexuellen Entwicklung. Perversionen seien Zustände eines psychosexuellen Infantilismust'', der im
Erwachsenenalrer zum Ausdruck komme. Perverse seien weder degenerierte'? noch erblich vorbelastete Menschen.
Man könne die Perversionen je nach Objekt oder Ziel einteilen, bezüglich des Objekts zum Beispiel in Inversion
(Homosexualität), Narzissmus>", Pädophilie und Animalität (»animalidade«, Sex mit Tieren), deren Psychogenese im
Weiteren dargestellt wird. Perversionen bezüglich des Ziels kämen häufiger als zum Beispiel die anatomische
Transgression, der sexuelle Fetischismus>', der Sadismus 52 oder der Masochismus (s, unten) vor.
Im vierten Kapitel behandelt Pinto die Ätiologie der Neurosen und beginnt mit einem Zitat Anseregesilos (»Debilidade
nervosa «, 1914) über die Problematik der unklaren Ätiopathogenese der Neurosen. Am Anfang seiner Darstellung
nimmt er Bezug auf Charcot, der die Ursachen psychonervöser Zustände in zwei Gruppen einteile: Heredität und»
agents provocateurs« (wie zum Beispiel Traumatismen, Unfälle, Erschäpfungen etc.). Freud, ein Schüler von Charcot,
habe sich später hiervon distanziert und eine pansexualistische Konzeption entwickelt.
Ausgehend von den Arbeiten Heinrich Wilhelm Erbs (1840-1921)S3 und Jean- Alfred Fourniers (1832-1914)S4 habe
Freud vier Gruppen ätiologischer Faktoren unterschieden:
1. Die Heredität,
2. die spezifische Ursache,
3. die konkurrierenden Ursachen und
4. die zufälligen Ursachen, die am Beispiel der Tuberkulose exemplifiziert werden.
Die Heredität spiele für Freud mit Ausnahme vielleicht der Angstneurose, wie er sie im Jahre 1895 dargestellt habe,
kaum eine Rolle. Ladame habe festgestellt, dass Freud niemals eine hereditäre Neurose dargestellt habe. Am Ende
des Kapitels findet sich bei Pinto eine übersichtliche schematische Abbildung der Aktualneurosen und Psychoneurosen
mit ihren jeweiligen Unterformen. Im fünften Kapitel widmet sich Pinto den Akrualneurosen=, die aufgrund ihrer gleichen
Ätiologie häufig miteinander verbunden seien. So sei der Neurastheniker zwar nicht selten ein ängstlicher Mensch, aber
auch eine Verbindung mit den Psychoneurosen sei häufig. Zum Beispiel werde die Angstneurose oftmals mit der
Hysterie assoziiert (Angsrhysrene). Die entscheidende Ursache der Neurasthenie nach Freud sei die Masturbation. Die
moderat nach der Pubertät ausgeübte Onanie habe nach psychoanalytischer Auffassung keine pathogene Wirkung, sie
könne aber eine Tendenz zur Hypochondrie, übertriebenen Skrupeln, sozialen Schüchternheit, Unentschlossenheit etc.
bewirken. Bezüglich der unterschiedlichen medizinischen Auffassungen über die Masrurbarion/Onanie= weist Pinto in
der Fußnote auf das Werk von Forel La question sexuelle (1905) und die sexologischen Schriften von Erb, Ellis,
Oppenheirn, Bloch, Moll, Marcuse etc, (ohne Titelnennungen)S7 hin. Ebenfalls in portugiesischer Sprache liege ein
Werk von Monizs8 vor: A vida sexual. Val. JI (1901102). Im Weiteren behandelt Pinto die Diagnose der »eigentlichen
Neurasthenie « nach Freud. Als Neurastheniker würden auch die Hypochonder, die Zyklothymen und Cenestopathen>?
bezeichnet, wie sie von Duprc=' und Camus sowie jüngst von Austregesilo und seinem Assistenten Esposel (»Les
Ccnesthopaties « in L'Encepbnle, 1914) dargestellt worden seien. Pinto wendet sich dann der Symptomatik und
Ätiologie der Angstneurose und ihren verschiedenen Unterformen nach Freud zu, wie zum Beispiel der virginalen
Angst, der Angst der Witwen etc. Anschließend nimmt er Bezug auf dessen Publikation im Neurologischen Zentralblatt
(1895)61. Im sechsten Kapitel werden die Psychoneurosen und die Verdrängung (»recalcarnenro «)62 der sexuellen
»Tendenzen« (gemeint sind wohl Triebe, s. oben) als ein Grundprinzip der Psychoanalyse thematisiert. Zu Anfang hebt
Pinto die Rolle der Zensur (»censura«)63 und die sich hieraus ergebenden Konflikte hervor. Der Widerstand (»
resisrencia e.P" setze sich hartnäckig dem Aufsteigen unbewusster, schmerzhafter Vorstellungen beziehungsweise
früherer traumatischer Erfahrungen ins Bewusstsein entgegen. Wenn sie ihre Rolle nicht erfülle, spreche Freud von
einer misslungenen (»falhado«) ·Verdrängung. Dies wird
an hand des Modells eines Überdrucktopfes exemplifiziert. Die verdrängten Tendenzen könnten nicht über natürliche,
sondern nur über abnorme (die Krankheit, das heißt die Psychoneurose) Wege abgeleitet werden. Die Psychoneurosen
seien demnach verdrängte infantile sexuelle Tendenzen. Mit der Verdrängung hänge auch die infantile Amnesie
zusammen. Allein die Psychoanalyse mit ihren» perfekten Methoden und ihrer außerordentlichen Scharfsinnigkeit«
könne diese verdrängten »Tendenzen« wieder ins Bewusstsein bringen. Die Psychoneurosen würden auch
Abwehrneurosen (»nevroses de defesa« )65 genannt, da sie das Individuum mithilfe von Fantasien und Imaginationen
von einer grausamen und harten Realität distanzierten. Da die infantile Emotionalität in all ihren Modalitäten erscheine,
handele es sich bei der Psychoneurose um eine Regression in die Kindheit. Das Verdrängungsprinzip lasse sich
sowohl auf krankhafte Erscheinungen wie Zwangserscheinungen, Phobien, Hysterie, Halluzinationen, Delirien etc, als
auch auf normal-psychische Erscheinungen wie den Traum, Stimmungsschwankungen etc. anwenden.
Im siebten Kapitel behandelt Pinto die Hysterie=, die als die wichtigste und häufigste Neurose eine zentrale Rolle in der
»Neuriatria« spiele. Von ihr hätten auch die Freudschen Studien ihren Ausgang genommen. Die »kathartische Merhode
«, das »Ernbryo der Psychoanalyse«, sei aus den Untersuchungen Breuers geboren worden. Im Krankheitsbild der
Hysterie habe Freud ebenfalls das Prinzip der Verdrängung vorgefunden. Als Ursache hierfür habe Freud in seinen
ersten Psychoanalysen gezwungenermaßen ein durch Erwachsene bedingtes sexuelles Trauma in der Kindheit
(hauptsächlich zwischen dem vierten und sechsten Lebensjahr) konstatiert. Zum Beispiel würden manche Ammen-? die
Kinder sexuell stimulieren oder Pädophile würden sie verführen. Später habe Freud diese Trauma- Konzeption jedoch
aufgegeben und sie als reine Imagination der Patienten erklärt.68 Die Hysterie sei die Resultante eines Kampfes
zwischen der Macht der Libido und der erotischen Verdrängung. Die somatischen Symptome bestünden aus Paralysen,
Anästhesien, Kontrakturen etc. und würden von Freud durch die Konversion (»conversäo«)69 erklärt. Andere Autoren
interpretierten diese Störungen durch einen Mangel an Synthese der verschiedenen Persönlichkeirskomponenten/". Für
Freud korrespondiere das betroffene Organ beim Erwachsenen mit einer erogenen Zone des Kindes (»teoria da dupla
funcräo« (alle Organe besitzen eine organische und eine erogene Funktion; Letztere falle häufig der Verdrängung
anheim)). Insbesondere der Mund (» boca« ) (Essen, Kauen, Küssen?", Saugen, Sprechen erc.) und das Auge
(»olho«)72 (»Schaulust«) könnten als Beispiele dienen. Anorexia, Mutismus, Erbrechen, Pharyngospasmus
(Schlundkrampf) sowie Arnblyopie (Schwachsichtigkeit ohne organische Ursache) etc, seien solche pathologischen
Erscheinungen. Freud habe zwei erklärende Prinzipien geschaffen: »transporte« (die Verschiebung auf ein anderes
Organ)73 und »subdeterminismo« (die Überdeterminierungder hysterischen Symptome). Die Suggestibilität, die
Unstetigkeit des Charakters (»versatilidade«) und der sexuelle Widerwille (» repulsao sexual «] charakterisierten den
mentalen Zustand der Hysteriker. Ferenczi?? habe die Suggestibilität mit dem Masochismus/> und den affektiven
väterlichen Tendenzen in Verbindung gebracht. Den hysterischen Anfall habe Freud als Coitusäquivalent (»equivalente
do coito «) interpretiert. Dieser entwickele sich durch physische (organische Zunahme der Libido) und psychische
Faktoren (Erinnerungsassoziationen). Der Anfall habe wegen seiner fantastischen Imaginationen eine große Ähnlichkeit
mit dem Traum und werde von einer entsprechenden Mimik und Gestik begleitet. Diese der Zensur unterworfenen
Fantasien folgten verschiedenen Prinzipien wie der Verdichtung (» condensacäo « ), der Identifikation (» idenrificacäo
«},der Verkehrung von Vorstellungen in das Gegenteil (»deslocamento antagonista das represenracöes «) und der
»Verkehrung des Zeitpunkres« der Mimik (»deslocamento dos tempos da rnirnica «}, Das hysterische Delirium." sei das
Resultat einer Explosion der unbewussten Tendenzen und die hysterische Amnesie sowie die hysterischen Stigmata
seien das Resultat der Verdrängung (der Erinnerungen). So blieben sie für den Patienten, seine Familienangehörigen
und den Arzt zunächst unverständlich.
Im achten Kapitel beschäftigt sich Pinto mit Zwangsvorstellungen", Phobien78 und der Epilepsie/".
Zwangsvorstellungen und Phobien würden dabei eine zweite Gruppe der Psychoneurosen darstellen und oftmals
verwechselt oder zusammengefasst werden. Bei den Phobien handele es sich nicht um unabhängige neuropathische
Zustände, vielmehr seien sie oftmals mit anderen Zuständen verbunden, wie zum Beispiel der Angstneurose, der
Aktualneurose oder den hysterischen Zuständen. Freud habe die Phobien früher in zwei Gruppen eingeteilt:
allgemeine/alltägliche Phobien (»fobias cornuns «) und Gelegenheitsphobien (» fobias de ocasiäo «). Später habe er
ihnen eine größere Bedeutung eingeräum t, indem er sie als Psychoneurosen beziehungsweise als Neuropathien mit
einer Geschichte oder einem psychischen Inhalt (» nevropatias de historia ou conreudo psiquico «), ausgestattet mit
einem einfachen Mechanismus der unbewussten Symbolisierung, verstanden habe. Phobien seien nicht nur Ausdruck
eines banalen Angstzustandes, sondern auch verdranzter erotischer Triebe (inzestuöser I:> , sadistischer,
masochistischer) sowie einer Regression. In Bezug auf die Zwangsvorstellungen betont Pinro, dass sich die Originalität
der Freud'schen Konzeption in fast all ihren Punkten von der Majorität der Autoren unterscheiden würde. Regis und
Pieres zum Beispiel verstünden hierunter »Empfindungen oder parasitäre Gedanken, die sich dem Ich aufdrängten und
sich an seiner Seite entwickelten, und trotz der Anstrengungen sie zurückzudrängen, eine Vielfalt der psychischen
Dissoziation schaffen «80. Den von Freud geschaffenen Begriff der »Zwangsneurose « (»nevrose de obsessäo «)
müsse man zudem von der »Psychasthenie-x''!
Janers unterscheiden. Die Freud'sche Zwangsvorstellung (»obsessäo«) finde sich bei sexuell frühreifen Personen (mit
ihrer größeren Intcnsitar der Libido) mir einer ausgeprägten Emotionalität gegenüber den Eltern. Die Charakteristika der
»obsessäo « wie zögerliches Verhalten, Gefühle der Minderwertigkeit, Abscheu gegen sich selbst ete. seien Folgen der
Zensurtätigkeit in ihrem Kampf gegen die Libido. Als Hauptmechanismus der »obsessäo « stellt Pinto das Prinzip der
(psychisierenden) »substiruicäo « (Ersatzbildung)82 heraus, analog zur (somatisierenden) Konversion bei der Hysterie.
Bedeutsam sei auch ein wichtiges Gesetz der Psychoanalyse: die »deslocamento afetivo« (affektive Verschiebungs").
Freud habe die kindlichen Ursprünge der »obsessäo « herausgearbeitet (aggressive, sadistische sexuelle Handlungen
stehen hierbei im Vordergrund) und die Schwierigkei ten der Zensur, die frühen sexuellen Tendenzen durch Sublimation
zu zähmen, beschrieben. Nach einer ruhigen Latenzperiode würden sich dann in der Pubertät die Zwangssymptome
definitiv herausbilden. Der Ödipuskornplex'" (» ocdipus-cornplex «), zusammengesetzt aus Liebe und Hass85, sei das
prinzipielle ätiologische Element der »obsessäo «. Hieraus gehe auch die Ambivalenz (» ambivalencia« )86 hervor, die
sich jedoch mehr oder minder stark bei allen Neuropathien finde. Die »rransfiguracäo « (Umwandlung) und die
Verdrängung der kindlichen sexuellen Instinkte bis hin zur Neurose sei ein langwieriger Prozess. Hierbei spielten
weitere Mechanismen wie die Generalisierung (» generalisac;äo«), Verschiebung, Intervall (»intervalo«), Ersatzbildung
und »elipse « (Auslassung, Mangel) eine Rolle. Um diese besser zu verstehen, führt Pinto ein Fallbeispiel von Freud
an, das Regis in der Zeitschrift L'Encephale (1913, S. 467) zitiert habe: Eine junge Frau ist von der zwanghaften Angst
befallen, ihrem verstorbenen Vater im Jenseits Unglück zu bringen, würde sie einen gewissen Herrn X heiraten. Pinto
stellt dann die Klasse der gemischten Neurosen (» nevroses rnixtas «) vor, die hinsichtlich ihrer Pathogenie ein
organisches und ein neuropathisches Element (aktuelle Störungen des Sexualapparates. psychogenetisch: kindliche
sexuelle Traumen beziehungsweise Verdrängungen) enthalten. Die wichtigste unter ihnen sei die Epilepsie, bei der
einstimmig eine organische Verletzung diagnostiziert wurde. So hätten die Untersuchungen von Chaslin''? eine
Sklerose im Kortex als Ursache ergeben. Dubois88 habe aus diesem Grund vorgeschlagen, die Epilepsie ganz von der
Liste der Neurosen zu streichen. Einige Schüler Freuds hätten darüber hinaus den Versuch unternommen, die
Psychoanalyse auf den psychischen Inhalt der Epilepsie, des »rnorbus sacer « (hippocraticus)89, anzuwenden. Die
interessantesten Studien bezüglich der (intensiven und kaum verdrängten) Sexualität bei Epileptikern stammten von
Maeder?? und Morichau-Beauchanr?'. Stekel'" und Sadger93 hatten ebenfalls psychoanalytische Studien über
epileptiforme Krisen vorgelegt und eine Ähnlichkeit mit der Hysterie festgestellt. Viele andere Neurosenformen seien
von Freuds Schülern studiert worden, die aber in Pintos »einfachen« (»simples «] Arbeit nicht betrachtet werden
konnten. Nur die »sexuelle Anasthesie« (» anestesia sexual« )94 als typisch weibliche Neurosenform sei isoliert
worden. Diese stehe in Zusammenhang mit masturbatorischen Praktiken und werde im Allgemeinen mit der Hysterie
assoziiert. Pinto hält sie jedoch eher für ein psychasthenisches Symptom und nicht für ein eigenes Krankheitsbild. Die
sexuelle Impotenz (» impotencia sexual« ), eine typisch männliche Psychoneurose, sei vor allem von Steiner'" bei
Psychasthenikern und »emotiven« Menschen untersucht worden. Ihre Psychogenese sei der »obsessäo« völlig ähnlich,
sodass die Impotenz
vielleicht sogar eine Form der» obsessäo« darstelle. Im neunten Kapitel behandelt Pinto die Psychoanalyse als
therapeutische Methode.
Er beginnt mit der Feststellung:
»0 metodo de Freud s6 dara bons resultados nas rnäos de um especialisra completo,
e cujas qualidades moraes Ihe emprestem a calma, a paciencia e a dedicacäo indispensaveis
ao tratarnento da doente, que em geral dura longos mezes e mesmo anos
inteiros « (Pinto, 1914, S. 93).
Am Ende dieses Kapitels stellt Pinto fest, dass sich alles bisher Gesagte ausschließlich auf die Anwendungen der
Freud'schen Lehre hinsichtlich der Behandlung von »Neuroparhien psychischen Inhalts « oder »Psychoneurosen «
beziehe, und dabei die »Akrualneurosen « vernachlässigt worden seien. Die Therapie dieser Klasse von Neuropathien
sei viel einfacher und gründe auf dem Prinzip der normalen sexuellen Praxis. Wir wüßten bereits, dass die
Neurasthenie und die Angstneurose ein Resultat anormaler sexueller Gewohnheiten wie »ejaculatio praecox«, häufiger
Pollutionen, sexueller Schwierigkeiten etc, seien. Aber auch andere wichtige Faktoren moralischer und gefühlsmäßiger
Art müssten hierbei beachtet werden, was die Behandlung der Aktualneurosen trotz ihrer Einfachheit erschwere.
Im letzten nicht nummerierten (zehnten) Kapitel widmet sich Pinto den »Observacöes « (den klinischen
Beobachtungen) beziehungsweise fünf Fallgeschichten- den ersten psychoanalytischen Krankengeschichten in
Brasilien.
Das Krankengut entstammt vor allem dem »Hospital da Misericordia«?? (200 enferm.). Er beschreibt die
Krankengeschichten einer 30-jährigen spanischen Einwanderin und Witwe sowie einer 32-jährigen portugiesischen
Einwanderin und Witwe (beide leiden unter Hysterie und beklemmender Angst, »histeria e angusria «}, einer
Hysterikerirr (eine Krankengeschichte, die der» psicoanalista «(Pinto, 1914, S. 104) Moreira beisteuerte) mit positiver
Wassermann-Reaktion 100, einer 28-jährigen verheirateten französischen Einwanderin (Angstneurose) und eines 24-
jährigen strenggläubigen Studenten (Neurasthenie) 101. Aufschlussreich ist auch die geschilderte Symptomatik: );0>
Hysterie und ängstliche Beklemmungen (x-Histeria e angustia «): unregelmäßige Atmung (teilweise Dyspnoe),
Hitzewallungen, Leere im Kopf, leichter halluzinatorischer Zustand, unruhiger Schlaf mit vielen ängstlichen Träumen,
die zum Aufwachen und Aufstehen führen, ständige Unruhe, Schmerzen an verschiedenen Körperteilen, Anorexie,
Amnesien, hysterische
Attacken, ängstlicher Gesichtsausdruck, Sehstörungen, Herzsensationen, Koordinationsstörungen, gas tri tische
Schmerzen, Amaurose etc.; );0> Angstneurose (» Neurose de angustia «): übertriebene Erregbarkeit, Melancholie,
Lebensüberdruss, unerklärliche Schuldgefühle und Schlaflosigkeic'P-,);0> Neurasthenie (»Neurastenia«): nächtliche
Pollutionen, Schwäche- und Erschöpfungszustand, Überarbeitung, Blähungen, Dyspepsie, Onanie.
Auffällig ist die Anzahl der Immigrantinnen und Verwitweten 103. Interessant ist auch, dass bei allen Patientinnen eine
biografische Anamnese und täglich längere Gespräche durchgeführt wurden, wobei der Sexualität (als dem
entscheidenden ätiologischen Faktor) eine hervorragende Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Die Behandlung der
Patientinnen wird als »rratamento psicoterapeutico « (5. 100), als Herstellung eines »transporte afetivo positivo « (5. 10
1), als »rraramento psicoanalitico « (5. 105) und als informative Sexualberatung (auch des Ehemanns) charakterisiert.
Ihr Ziel ist die Aufgabe der Masturbation beziehungsweise die Aufnahme einer »normalen« nicht frustrierenden
genitalen Betätigung mit einern Partner (5. 107, 109). Von freien Assoziationen oder Traumberichten beziehungsweise
-deutungen und dem Liegen auf dem» divä «104 ist nicht die Rede.
Auch wurden keine langfristigen Katamnesen durchgeführt. Am Ende seiner Dissertation (5. 113ff.) Iistet Pinto
Prüfungsthemenvorschläge
für die einzelnen medizinischen Fachgebiete auf" wie zum Beispiel für die Bereiche Medizinische Naturgeschichte,
Medizinische Chemie, Deskriptive Anatomie, Histologie, Physiologie, Mikrobiologie, Pharmakologie, Materia Medica,
Klinik etc., die Dr. Brito e Silva, der Untersekretär der Medizinischen Fakultät Rio de Janeiros am 16.12.1914 prüfte. Im
Zusammenhang mit dem Disserrationsthema sind hier vor allem drei Kategorien interessant.
1. »Terapeutica«, die Pinto wie folgt beschreibt: »die klassischen Hauptmethoden der Psychotherapie sind die
Persuasion, Suggestion und Hypnose. Freud betrachtet alle drei wegen ihrer Oberflächlichkeit für unwirksam. Die
psychoanalytische Methode scheint gegenwärtig als einzige fahig zu einer definitiven und radikalen Heilung zu sein «
(Pinte, 1914, S. 120).
2. »Clinica de Doencas Nervosas«: »Nach dem Konzept von Freud sind die Neurosen immer Ausdruck von sexuellen
Trumatismen. Diese Traumatisrnen können aus der Kindheit stammen und in das Unbewußte verdrängt werden, oder
aktuelle Funktionsstörungen des Genitalapparates
sein. Im ersten Fall nennen wir sie -Psychoneurosen e oder Neuropathien »psychischen Inhalts c, im zweiten Fall,
-Akrualneurosen- oder Neuroparhien ohne >psychischen Inhalt<<< (ebd., S. 127f.).
3. »Clinica psiquiatrica«:
»Die Anwendung der Psychoanalyse bei Psychosen bedeutet eine sehr wichtige und relativ neue Erweiterung der
Freud'schen Lehre. Ihre Prozesse unterscheiden sich in gewisser Weise, von der Anwendung der Analyse der
Mentalität der Neuroparheu. Die Dementia praecox'P>, die Paranoia106 und die manisch-depressive Psychose'v? sind
bisher das hauptsächliche Beobachtungsfeld Freuds und seiner Schüler« (ebd., S. 128).
Diskussion
Es ist wirklich überraschend, bereits zu Beginn des Ersten Weltkrieges (1914) 108 der Zeit des grausamsten Auswuchs
des »imperialen Zeitalrers « (Hobsbawn, 1989) und der »Urkatastrophe des XX. Jahrhunderts« (Kennan, 1990) – eine
solch umfangreiche und systematische Darstellung der im europäischen »Zentrum « Wiens (vgl. Zweig, 1996; Tögel,
1997; Piramo-Orrega, 2006, 5. 337ff.)
entstandenen Psychoanalyse in der ca. 10.000 km entfernten damaligen südamerikanischen »Peripherie «, Rio
de]aneiro, vorzufinden: aus der »Welt von
Cesrem-s-?? in die »Neue Welt«ll0 der Zukunft (»Brasil pais do Iuturo «).
Im Großen und Ganzen werden die klinischen Erkenntnisse, die Begrifflichkeit (vgl. Laplanche & Pontalis, 1983
[französisch 1967]; Perers, 1997; Roudinesco & PIon, 2004) und theoretischen Gedankengänge Freuds (bis ca. 1914)
von Pinro korrekt widergegeben. Da dies manchmal aus der (kritischen) Sicht französischer Ärzte wie zum Beispiel
Regis, Hesnard, Pi tres, Janet erc.!!' geschieht,
wird nicht immer ersichtlich, welche Originalwerke Freuds (seine Titel werden oftmals in deutscher Sprache zitiert) Pinro
wirklich zurate zog. Aufgrund der prekären Situation der damaligen Bibliotheken in Brasilien liefert vielleicht eine
Bestandsanalyse der Privatbibliothek Ausrregesilos (die von Pinro genutzt wurde) mehr Klarheit (vgl. Pinto, 1914, S.
1).112Pinto konzentriert sich in seiner Doktorarbeit auf die klinisch relevanten Aspekte der psychoanalytischen
Neurosenlehre und versucht, eine Ordnung (»ordem «) in das Chaos und Labyrinth der psychischen Störungen zu
bringen. Mit seiner Arbeit, die im Dienst des Fortschritts (»progresso«) der brasilianischen Medizin stand, legte er die
damals modernste dynamische Psychopathologie 113vor. Das war in der »Kraepelinschen Ära der Psychiatrie (1899-
1920)« (Menninger, 1968, S. 439) eine wirkliche Pioniertat.
Wie war es möglich, dass die Wiener Psychoanalyse Eingang in diese tropische Gesellschaft Südamerikas fand, die
erst am l3. Mai 1888 die Sklaverei abgeschafft hatte und zu einer Republik (1889) geworden war? Positiv und fördernd
wirkte sich vor allem die wissenschaftlich-kulturelle und ökonomische »dependencia« 114Brasiliens auf die Rezeption
der Psychoanalyse aus (s. oben). Die brasilianischen wissenschaftlich-kulturellen und medizinischen Eliten um 1900/14
lassen sich dementsprechend durch folgende Eigenschaften charakterisieren: Herodianismus 115,Xenophilie,
Philoneisrnus und Transozeanismus (der ständige Blick nach Europa).116 Wie Herodes geistig in Rom und im
Hellenismus und physisch inJudäa lebte, so lebten auch die brasilianischen Eliten geistig-bewusst in den Metropolen
der herrschenden europäischen Weltzivilisationen (vor allem in der französischsprachigen Welt Europas). Der
brasilianische Philosoph joäo Cruz Costa (1953, 1956) vertrat sogar die Ansicht, dass die übermäßige Bewunderung für
das Fremde (Philoneismus) sowie das bestehen de Desinteresse der führenden Eliten für die brennenden Probleme
des eigenen Landes möglicherweise das Resultat einer Art Minderwerrigkeirskornplex'J? sei. Joaquim Aurelio Barreto
Nabuco de Araujo (1849-1910), einer der brillantesten brasilianischen Intellektuellen seiner Zeitl18, schreibt in seiner
Autobiografie Minha formarao (1900):
»Das Gefühl in uns ist brasilianisch, die Imagination europäisch. Alle Landschaften der Neuen Welt, der Urwald
Amazoniens, die argentinische Pampa sind für mich wertlos gegenüber einer Wegstrecke auf der Via Appia, einer
Wanderung auf der Straße von Salerno nach Amalfi, einem Stück des Seine-Ufers im Schatten des alten Louvre« (zit.
nach Stubbe, 1987, S. 111f.)119.
Die Rezeption der Psychoanalyse wurde seit dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und besonders im 20.
Jahrhundert durch die starke europäische Einwanderungl20 begünstigt, die das geistige Klima Brasiliens für neue
europäische Ideen sowie für neue kulturelle und wissenschaftliche Bewegungen öffnete.121 Auch die Psychoanalyse
war eine solche neue und moderne wissenschaftliche Lehre (»psicanalise modernista «] (vgl. Facchinetti, 2003).
Andererseits standen Widerstände und beträchtliche Schwierigkeiten der Aufnahme der Psychoanalyse in Brasilien im
Weg. So erschwerte die deutsche Sprache den Zugang zu den Schriften Freuds erheblich, vor allem da die erste
Überserzung'P ins Spanische im Jahre 1923 erschien. Einige Lateinamerikanisten und Brasilianisten sprechen in
diesem Zusammenhang von einer sogenannten lateinischen Mauer (vgl. Stubbe, 1997, S. 23), einer kulturellen Barriere
zwischen
der deutschsprachigen und der hispanoamerikanischen beziehungsweise portugiesischsprachigen Welt. Der
wissenschaftlich-kulturelle Import aus Europa verlief in Brasilien zur Zeit Pintos fast ausschließlich über die französische
Sprache (vgl. Garraux, 1962; Araujo, 1973)123, das heißt im Falle der Psychoanalyse über einen komplexen
Übersetzungsprozess von Wien via Paris nach Rio de Janeiro/Säo Paulo.
In seiner Schrift »Die Widerstände gegen die Psychoanalyse« (1925) macht Freud auf verschiedene
Widerstandsfaktoren aufmerksam, wie zum Beispiel auf die Angst vor dem Neuen, den Begriff des »Unbewussten «, die
Ablehnung der Psychogenese durch die traditionelle Medizin/Psychiatrie, die Ablehnung der (Sexual- )Trieblehre, die
Lehre vom Ödipuskomplex, den wachsenden Antisemitismus und die beträchtliche Selbstkränkung des Menschen
(nach der Kopernikanischen und Darwinschen Kränkung), nicht mehr »Herr im eigenen Haus« zu sein. Alle diese
Widerstände lassen sich mehr oder minder in der Geschichte der Psychoanalyse in Brasilien nachweisen (vgl. Rocha,
1989, S. 37ff.). Auch die wichtige Rolle der römisch-katholischen Kirchel24 in Brasilien muss in diesem Zusammenhang
hervorgehoben werden. Die bemerkbare kritische Haltung Pintos gegenüber der Psychoanalyse, die an einigen Stellen
seiner Dissertation sichtbar wird, könnte ein Zugeständnis an seine Lehrer (zum Beispiel an Austregesilo), die
französischen Autoren oder an die Lehre der katholischen Kirche bezüglich der menschlichen Sexualität sein. Der
Vorwurf des sogenannten Pansexualismus ist bereits in nuce bei ihm erkennbar. Die bewundernde Verehrung und
Akzeptanz der Lehre Freuds iiberwiegr jedoch in seiner Dissertation, denn von den oben genannten Widerständen ist
kaum etwas zu bemerken.
Diese Widerstände gegen Freuds Theorien und seine Person sollten jedoch nicht mit einigen ökonomischen, kulturellen
und sozialen Gegebenheiten Brasiliens, die eine behindernde Wirkung besaßen, verwechselt werden. Zunächst
müssen wir uns verdeutlichen, dass noch im Jahre 1920 bei einer Gesamtbevölkerung von 17,5 Millionen Einwohnern
11,5 Millionen (das heißt 64% der Bevölkerung, darunter insbesondere Frauen) nicht lesen und schreiben konnten (vgL
IBGE, 1958, 1987). Dieser Anteil lag in ländlichen Regionen, in denen 1914 die überwiegende Mehrheit der
Bevölkerung lebte, noch höher. Aber auch unter den alphabetisierten Bürgern war nur ein sehr geringer Prozentsatz in
der Lage, akademische Bücher zu lesen. Bloß eine kleine (vor allem großstädtische) Minderheit von Medizinern,
Juristen, Pädagogen, Theologen, Militärs und Ingenieuren, für die eigene Hochschulen (» Faculdades «) existierten,
konnte solche anspruchsvollen (oftmals französischen) Bücher erwerben, studieren und verstehen. Ein zweites
Charakteristikum war die außerordentliche Jugendlichkeit der brasilianischen Bevölkerung, das Resultat einer hohen
Geburtenrate sowie einer geringen Lebenserwartung. So waren im Jahre 1920 ca. 50% der Bevölkerungjünger als 16
Jahre und kamen dahe als potenzielle Psychoanalyse-Leser kaum infrage Brasilien war und ist ein multiethnisches
Land mit einem enormen afrikanischen, »indianischen« und gemischten (»pardo«) Bevölkerungsanteil.ln diesem
Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die aus Wien importierte Psychoanalyse überhaupt der kulturellen, religiösen,
ökonomischen, sozialen und psychischen Realität dieser Gruppen entsprach.
»Dies bedeutet, daß die Geschichte der Gruppierungen, die im Zeitabschnitt von 1899 bis 1937 die Rezeption der
Psychoanalyse in Brasilien betrieben, - dies lässt sich ganz allgemein für die Durchsetzung aller wesentlichen
Transformationen in der sogenannten Dritten Welt im 20. Jahrhundert sagen (vgl. Hobsbawn, 1995, S. 256) - die
Geschichte einer winzigen großstädtischen Elite in Brasilien ist « (Stubbe, 1997, S. 25).
Erst die spätere Ethnopsychoanalyse und kulturvergleichende (transkulturelle) Psychiatrie'F' stellte sich diesen Fragen
ernsthaftl26• Roudinesco & PIon (2004), sich auf Gilberto Freyre (1900-1987) berufend, heben mit Recht hervor, dass
Brasilien (und dies gilt insbesondere für die Jahre 1900-1914) unter der rigiden patriarchalischen Ordnung zwei
antagonistische Gesichter besaß. So blühte einerseits das humanistische Ideal einer positiven Kirche (» igreja
posirivista «) 127, die alle wichtigen Reformen inspirierte (Abolition, Republik etc.), während auf der anderen Seite eine
Kultur weiterlebte. die aus der Verbindung zwischen der afrikanischen Sklavin - der Konkubine (» escrava« ) - und
ihrem Besitzer _dem »Senhor« - hervorgegangen war. Diese Vermischung erklärt die besondere
Bedeutung der Sexualität und später der Bisexualität in der brasilianischen Gesellshaft, »in .der die Anziehungskraft
schwarzer Frauen auf die Söhne guter Familien auf die enge Beziehung des weißen Kindes zu seiner schwarzen
Arnme zurückgeht: eine körperliche und sinnliche Sexualität« (Roudinesco & PIon, 2004, S. 129). Die Vermutung von
Roudinesco und PIon, Polygamie sei in Brasilien
verbrei~eter als in Europa, scheint ein exotisierendes Vorurteil zu sein. Richtigrst dagegen Ihre Feststellung bezüglich
der besonderen Religiosität der Brasilianer und des grassierenden Polytheismus, übrigens auch innerhalb des
»carolicismo popular«. Die alten therapeutischen Traditionen der Trance und der Besessenheit, wie sie zum Beispiel in
den indigenen Religionen (Kosmotheismus), im Candornbie oder in der Umbanda verbreitet sind, konnte die
Psychoanalyse jedoch nicht verdrängen. Es wäre aus diesem Grund sinnvoll, in Zukunft eine»I~terk~lturelle
Psychoanalyse« (vgl. z.B. Reichmayr et al., 2003) oder allgemeiner eine »Interkulturelle Psychotherapie«, wie ich sie
bereits 1980 forderte (Stubbe, 1980, S. 89, 1995a), zu entwickeln 128.
Bisher existiert noch keine quellen kritische Geschichte der Psychoanalyse beziehungsweise dynamischen Psychiatrie
in Brasilien, die den modernen Anforderungen der Wissenschaftshistorik gerecht würde. Ökonomische, kulturelle und
soziale Aspekte bleiben bei den bisherigen Darstellungen im Allgemeinen unberücksichtigt. Die Vorliebe für eine »Big-
rnan-x-Historiografie führte oftmals zur Vernachlässigung der Sozial- und Institutionsgeschichte (vgl. z. B.Levine, 1983).
Frauen scheinen in der psychoanalytischen Bewegung der Frühzeit in Brasilien überhaupt keine Rolle gespielt zu
haben. War der selegierende machistische Blick der Historiker hierfür veranrwortlichtt '? Datierungen eines
Frauenstudiums. zum Beispiel der Medizin, gibt es erst seit 1930 (vgl. Azevedo, 1963, S. 639f.).130 Lernten die
Psychiater und Psychoanalytiker das Wichtigste nicht von ihren Patientinnen und Patienten? Erst in den InOer Jahren
nahm das Interesse für die Psychoanalyse in Brasilien zu. Freud korrespondierte in dieser Zeit mit einigen
Intellektuellen (vgl. Stubbe, 1997, S. 26[' 51; Stubbe, 1998c) - zunächst vor allem mit Medizinern (Psychiatern,
Neurologen, Kinderärzten) -, die gerade die Psychoanalyse rezipierten. Die Aufnahme der Psychoanalyse muss vor
dem Hintergrund großer sozialer, politischer und geistiger Transformationen sowie (katholischer, pädagogischer etc.)
Reformbewegungen beziehungsweise Revolutionen in der brasilianischen Gesellschaft betrachtet werden (vgl.Stubbe,
1997). Die Historiografie der Psychiatrie und Psychoanalyse muss dies
berücksichtigen.
Pintos Arbeit ist ein bisher kaum beachteter'>' wichtiger Markstein in der Geschichte der dynamischen Psychiatrie und
Psychoanalyse in Brasilien. Diese Arbeit befand sich bisher schwer auffindbar in einem dunklen Archiv der
Medizinischen Fakultät in Rio de Janeiro, das heißt gleichsam in einem unbewussten Bezirk der brasilianischen
Medizin-, Psychologie- und Psychoanalysegeschichte.
Wir sind froh, sie wieder an das Tageslicht des Bewusstseins gebracht zu haben (vgl. Stubbe, 2011).
CAP. 2
Der Einfluss der deutschsprachigen Psychoanalyse und Psychoanalytiker auf die Psychoanalyse in Brasilien
Hans Füchtner
Bei diesem Thema Freud an erster Stelle zu nennen, ist heutzutage gar nicht so selbstverständlich, wie man annehmen
könnte. Die Sprachbarriere ist dafür nicht der einzige Grund. Seit Lacan zu Beginn der 1970er Jahre von brasilianischen
Psychoanalytikern zur Kenntnis genommen wurde, wuchs sein Einfluss sehr rasch und führte zur Gründung einer
Vielzahllacanianischer Gruppierungen. Unter der Losung »Zurück zu Freud« lasen ihre Mitglieder, überwiegend
Psychologen, meist nur noch Lacan, Für Interessenten war in diesen Kreisen eine psychoanalytische Ausbildung (»
modo lacaniano «) relativ leicht zugänglich. Das bedeutete eine Verbreitung der Psychoanalyse in weiten Bereichen
Brasiliens.' Von der Mitte der 1930er bis zum Ende der l%Oer Jahre blieb die Entwicklung der Psychoanalyse auf kleine
Gruppierungen in den Städten Rio de Janeiro, Säo Paulo und Porto Alegre beschränkt. Neben den Gesellschaften der
Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPA) gab es nur ganz wenige andere psychoanalytische
Gesellschaften. So existierten in Rio seit 1953 die »Sociedade Psicanalicica Iracy Doyle« (SPID) und ebenfalls seit den
1950er Jahren einige Tiefenpsychologische Kreise (» Circulos Psicanalicicos «), die Ableger von Igor Carusos Wiener
Arbeitskreis für Tiefenpsychologie waren.? . Man kann in Bezug auf die 1970er Jahre geradezu von einem
»Lacanfieber « sprechen. Der nüchtern trockene Freud galt vielen als veraltet. Und bis heute interessieren sich die
brasilianischen Lacanianer kaum für die Geschichte der Psychoanalyse in ihrem Land. Für sie ist es wohl im
Wesentlichen nur die Geschichte der IPA-Analytiker, von der sie sich distanzieren. Aber auch die mehr oder weniger
orthodox gebliebenen Analytiker zeigen kein großes Interesse an ihr.' Dabei würde ihnen die Geschichte einige
Anregungen für ihre eigene Sicht der Psychoanalyse in der heutigen Gesellschaft bieten.
Eine ganze Reihe von deutschsprachigen Psychoanalytikern hielt sich mehr oder
weniger lange in Brasilien auf. Einige von ihnen spielten als Lehranalytiker und beim Aufbau der institutionalisierten
Psychoanalyse eine zentrale Rolle. Durch ihre praktische Tätigkeit übten sie einen erheblichen Einfluss auf die
Entwicklung der Psychoanalyse in Brasilien aus. Ich gehe darauf nur am Rande ein, da ich in meinen weiteren
Ausführungen vor allem den folgenden Aspekt berücksichtige: Inwieweit beeinflussten diese Analytiker die Theorie der
Psychoanalyse in Brasilien? Das ist allerdings nur in wenigen Fällen klar erkennbar. Wilhe1m Stekel (1868-1940) war
der einzige aus der ersten Generation der Freud-Schüler, der Brasilien im Jahre 1936 aufgrund einer Vorrragsreise
besuchte (Mühlleitner, 1992).34 Es gibt zahlreiche portugiesische Übersetzungen seiner Werke. Darüber hinaus
nahmen ihn die Pioniere der Psychoanalyse in Brasilien zur Kenntnis und zitierten ihn. Adelheid Koch (1896 1980)
arbeitete in Säo Paulo ab 1937 zwar mehrere Jahre als einzige Lehranalytikerin und baute die psychoanalytische
Gesellschaft auf, aber zu Beginn ihrer Arbeit war sie noch sehr jung und im Grunde nicht ausreichend qualifiziert.t>
Während ihrer Ausbildung am Berliner Institut ab 1929 stellten Otto Fenichel als ihr Lehranalytiker sowie Therese
Benedek und Salomea Kempner als Kontrollanalytiker die für sie zentralen Persönlichkeiten dar. Ob sie bereits damals
von Melanie Klein beeinflusst wurde, die ab 1926 nicht mehr dem Berliner Institut angehörte, ist nicht erkennbar.
Dagegen wurde dieser Einfluss im Laufe der Jahre in Säo Paulo ganz deutlich. Koch reiste 1948 nach London, um an
Seminaren von Klein teilzunehmen und sich von ihr supervidieren zu lassen. Diese Orientierung war der Leitung der
IPA suspekt. Als sie im Jahre 1950 den griechischen, von August Aichhorn ausgebildeten Psychoanalytiker Theon
Spanudis (1922-1986) nach Säo Paulo vermittelte, spielte auch eine Rolle, dass dieser die Klein'schen Theorien sehr
skeptisch beurteilte.V Spanudis hat sich jedoch schon 1957 ganz aus der Psychoanalyse zurückgezogen und als
Kunstkritiker gearbeitet. Von da an dominierten in der SBPSP die Kleinianer uneingeschränkt. In späteren Jahren kam
noch der Einfluss von Wilfred Bion hinzu. Diese theoretische Orientierung teilte auch Hans Thorner (1905-1991), der
häufig als Lehranalytiker in der SBPSP gastierte, lehrte und super vidierte. Thorner wurde in Meissen geboren. Er verlor
1933 seine Stelle als Neurologe in Berlin und floh nach London. Dort machte er zunächst eine Analyse bei Frieda
Fromm- Reichmann und wurde 1938 Mitglied der »British Psychoanalytical Society «. Später unterzog er sich selbst
einer Analyse bei Klein und BionY Er arbeitete zudem in privater Praxis und als Lehranalytiker. Nach seinem
Ruhestand zog er in die USA, wo er 1991 starb. In der ersten Hälfte der 1950er Jahre arbeitete auch Gertrude Ticho
(1920-2004), geborene Höllwarth, zunächst als Analyrikerin und ab 1953 als Lehranaly.tikerin in der SBPSP (Oliveira,
2006, S. 230).38 Sie machte ihre psychoanalytische Ausbildung in Wien bei Otto Fleischmann und nach dessen
Emigration in die USA bei Alfred Winterstein. 1951 wurde Höllwarrh Mitglied der WPV und gmg nach Säo Paulo. Mitte
der 1950er Jahre zog sie nach Topeka in den USA. Dort heiratete sie 1956 den Wiener Juristen und Psychoanalytiker
Ernst Ticho (1915-1997), mit dem sie ihre Ausbildung bei der WPV absolviert ~atte. Sie arbeitete gemeinsam mit ihrem
Mann an der Menninger-Klinik. Daruber hinaus war sie als Lehranalytikerin tätig und von 1969 bis 1974 Direktorin des»
Topeka Institute for Psychoanalysis«. Nach ihrem Umzug nach Washingron lehrte sie 20 Jahre lang an der »George
Washingron Universiry« und arbeitete als Lehranalytikerin am »Washingron Psychoanalytic Institute«. Mit ihrer
theoretischen Auffassung passte sie nicht nach Säo Paulo, da sie keine Kleinianerin, sondern eine Vertreterin der Ich-
Psychologie und der Objektbeziehungstheorie war.39 Koch nahm es beim Aufbau ihrer psychoanalytischen
Gesellschaft mit denfo~malen bürokratischen Vorschriften sehr genau. Da sie zu Beginn ihrer Arbeit als Analytikerin
und Lehranalytikerin noch sehr jung und unerfahren war, bemühte sie sich, Fehler zu vermeiden. Allerdings befolgte
auch der psychoanalytisch erfahrenere Werner Kemper (1999-1975), der 1948 nach Rio de Janeiro kam, um dort eine
IPA-Gesellschaft aufzubauen, oft penibel die Vorschriften der Internationalen Vereinigung. Andererseits setzte er immer
wieder seine persönlichen Interessen und die seiner Frau ohne Rücksicht aufberufsspeZifische ethische Aspekte durch.
In seiner theoretischen Orientierung blieb er im Wesentlichen ein orthodoxer Freudianer, der andere Auffassungen als
Anregungen und Ergänzungen schärzte.4o I:> Zu Beginn des Aufbaus der Psychoanalyrischen Gesellschaft von Rio de
janeiro (SPR]) bekam Kemper, der zu diesem Zeitpunkt die portugiesische Sprache kaum beherrschte, Unterstützung
von Luiz Guimaräes Dahlheim (I908-1988).41 Dahlheim wurde in Brasilien als Sohn einer brasilianischen Mutter und
eines deutschen Vaters geboren, wuchs aber ab dem vierten Lebensjahr in Deutschlan auf. In Berlin ging er zur Schule
und er schloss hier seine medizinische Ausbildung ab. Da sein Großvater Jude war, wurde ihm die Niederlassung in
eigener Praxis verboten. Aus diesem Grund entschloss er sich 1935 trotz fehlender Sprachkenntnisse dazu, nach
Brasilien zurückzukehren. Als Kemper 13 Jahre später nach Rio kam, sprach Dahlheim bereits sehr gut Portugiesisch,
auch wenn er seinen starken deutschen Akzent sein Leben lang behielt. Als Dolmetscher und Übersetzer wurde er
zunächst zu Kempers wichtigstem Mitarbeiter. Bevor Dahlheim bei ihm in die Analyse ging, ließ er sich von dessen
Ehefrau analysieren. Es heißt, er habe sich Jahre später für die Verbreitung von Heinz Kohuts Selbstpsychologie
engagiert. Anna Kamin Kemper (1905-1979), die ihren Gatten Werner Kemper nach Brasilien begleitete, vertrat im
Gegensatz zu ihrem Mann in ihrer Praxis keine orthodoxe Haltung. Ausschlaggebend war für sie die therapeutische
Wirkung. Ihr Werdegang als Analytikerin war ohnehin sehr ungewöhnlich.P Ohne eine abgeschlossene Schulbildung
machte sie eine Ausbildung zur Grafologin und arbeitete als solche einige Zeit im Reichsinstitut für psychologische
Forschung und Psychotherapie in Berlin. Sie eignete sich einige Psychoanalysekenntnisse an und knüpfte mithilfe ihres
Ehemanns gute Kontakte zu mehreren Psychoanalytikern. Ihr Wunsch, Psychoanalytikerin zu werden, wurde von ihrem
Gatten in Brasilien tatkräftig unterstützt, sodass sie ihr Ziel schließlich erreichte. Das gelang ihr dann in Brasilien mit
massiver Unterstützung ihres Mannes und wenig skrupulösen Manövern. In ihrer theoretischen Orientierung ist ein
gewisser Einfluss von Schulrz-Hencke erkennbar, mit dem die Familie Kemper eng befreundet war. So teilte sie
beispielsweise seine Geringschätzung bezüglich der Libidotheorie. In den von ihr verwendeten Termini wird Schultz-
Henckes Einfluss ebenfalls deutlich. So sprach sie von »Gehemmtheit« und »inrentionalem Verhalren« und nahm eine
frühe »intentionale präorale Phase« an. Da Kamin Kemper in der IPA-Gesellschaft als sehr umstritten galt, verließ sie,
bald nachdem ihr Mann 1967 allein nach Deutschland zurückgekehrt war, die Gesellschaft. Sie tat sich mit Igor Caruso
zusammen, der 1968 einmal mehr zu Besuch nach Brasilien gekommen war. Caruso gründete 1947 in Wien einen
Tiefenpsychologischen Arbeitskreis, von dem es später in mehreren Ländern Ableger gab. 1966 schlossen sie sich in
der Internationalen Föderation Tiefenpsychologischer Arbeitskreise zusammen. Carusos theoretische Orientierung
weist erhebliche Wandlungen auf Im katholischen Brasilien interessierte man sich zeitweise für ihn, weil er
Psychoanalyse und christliche Religion miteinander zu vereinbaren versuchte. Diese Auffassungwurde allerdings 1968
nicht von Katrrin Kernper geteilt. In den 1960er Jahren wandte sich Caruso freudomarxisrische Auffassungen und den
sozialen Aspekten der Psychoanalyse zu. Besonders sein Interesse für Letzteres kam Kempers Einstellung entgegen.
Sie brauchte Unterstützung, um eine eigene Gesellschaft aufbauen zu können. In Zusammenarbeit mit Caruso und
Malomar Lund Edelweiss (1917-2010), dem Präsidenten des Tiefenpsychologischen Arbeitskreises in Belo Horizonte,
sowie einigen ihrer Schüler initiierte sie 1969 die Gründung eines Tiefenpsychologischen Arbeitskreises in Rio, des
»Circulo Psicanalitico do Rio de Janeiro«.43 Im März 1970 verließ sie offiziell die SPRJ. Kattrin Kernper wusste damals
zweifellos nicht, dass Caruso in der Nazizeit als psychologischer Gutachter an der Ermordung von Kindern im Rahmen
eines Kinder-Euthanasieprogramms beteiligt war. Mittlerweile ist dieser schreckliche Tatbestand einigen Mitgliedern des
existierenden Circulos bekannt, auch wenn er von ihnen nicht thematisiert wird. Caruso gilt im Gegenteil noch immer als
Psychoanalytiker, der auch während der NS-Zei't der Psychoanalyse treu geblieben ist. Seine falschen Angaben
bezüglich seines psychoanalytischen Werdegangs werden noch heute verbreirer.+' Die meisten Mitglieder des Cfrculos
gehen diesem Problem aus dem Weg, indem sie auf ihren Homepages nicht mehr auf die Geschichte ihrer Gesellschaft
eingehen." Kar! Edelweiss (1911-1981), der sich bei Caruso in Wien einer Analyse unterzog, widmete sich später
wieder ganz der Hypnose. Obwohl Kar! Weissmann in der Geschichte der brasilianischen Psychoanalyse nur eine
unhdeutende Rolle spielte, muss er hier erwähnt werden, denn Freud schickte kurz vor seinem Tod seinen letzten Brief
an ihn nach Brasilien. In diesem bedankte er sich für die Zusendung von Weissmanns Buch 0 Dinbeiro na VidaEr6tica
(abgedruckt inJones, 1953/1984, Bd. 3, S. 537; Weissmann, 1937). Einmal mehr konstatierte Freud, dass ihm die
Lektüre portugiesischer Werkeschwer falle. Während er Texte auf Spanisch leicht lesen könne, verwirre ihn die
portugiesische Sprache gerade aufgrund ihrer Ähnlichkeit. Seine Versuche seien stets erfolglos geblieben. In seinem
Brief erwähnte Freud auch da Silva, mit dem sich Weissmann gemeinsam für die Psychoanalyse einsetzte. Da Silva
bezeichnete Wei~smann gelegentlich als seinen Schüler. Als junger Mensch wanderte dieser aus Osterreich nach
Brasilien ein und nahm später die brasilianische Staatsbürgerschaft an. Bevor er mit der Psychoanalyse in Berührung
kam, war er als Sprachlehrer für Deutsch und Englisch tätig. In einem langen Vorwort zu Weissmanns Buch Das Geld
im erotischen Leben beschreibt da Silva seine Faszination für die Psychoanalyse, wegen der er Psychoanalytiker
wurde. Er publizierte weitere psychoanalytisch orientierte Bücher, interessierte sich aber gleichzeitig und später
ausschließlich für die Hypnose. Von verschiedenen Autoren wird er als Pionier der wissenschaftlichen Hypnose in
Brasilien bezeichnet. 1953 ernanntman ihn zum Psychologen an einer der wichtigsten Strafanstalten Brasiliens in Belo
Horizonte. Sein Umgang mit der psychoanalytischen Theorie war stets problematisch. Als 1964 in Brasilien das Militär
mit Unterstützung der USA putschte und unter dem Vorwand, eine kommunistische Gefahr zu beseitigen, eine lange
andauernde Diktatur errichtete, veröffentlichte Weissmann ein Buch mit dem Titel Masoquismo e Comunismo (1964). Er
legt hierin dar, wie der Kommunismus den Masochismus stimuliert, ausnutzt und künstlich perpetuiert. Im
Kommunismus sieht er die soziale Form des Masochismus, den institutionalisierten Masochismus. Jeder Kommunist ist
demnach ein sozialer Masochist. Auch wenn der» Psychoanalyseboom « in Brasilien längst vorbei ist, blieb sie stets in
den Köpfen der Menschen präsent. So gehören noch immer einige psychoanalytische Begriffe zum Allgemeinwissen
der Brasilianer. »Freud explica« ist in Brasilien ein »geflügeltes Wort«. Während der anfänglichen Verbreitung von
psychoanalytischem Wissen fiel es aber selbst interessierten Ärzten und antellektuellen schwer, zwischen seriösen und
unseriösen Publikationen und Propagandisten der Psychoanalyse zu unterscheiden. Sogar Freud war in den Augen
seiner Gegner ein Scharlatan. Aus diesem Grund erregte im Jahre 1931 in Säo Paulo ein gewisser Maximilian
Langsner Aufsehen, der vorgab, ein aus Wien kommender Psychoanalytiker zu sein. Er arbeitete als Psychotherapeut
und kündigte die Gründung eines Sanatoriums an. Gleichzeitig trat er bei publikumswirksamen Spektakeln auf, um hier
seine außerordentlichen telepathischen, magnetistischen, autosuggestiven und »langneristischen« Fähigkeiten zu
demonstrieren. So bewies er, dass er ein Auto mit verbundenen Augen steuern konnte. Er bezeichnete sich selbst als
intimen Freund Freuds, der in ihm einen der machtvollsten Vertreter der Psychoanalyse sehe. Diese direkte Berufung
auf Freud gab den Ausschlag für die Entscheidung Marcondes' - der seine Bemühungen gefährdet sah, der
Psychoanalyse wenigstens unter den Ärzten Anerkennung zu verschaffen – sich im Oktober 1931 in einem Brief an
Freud zu wenden.w Nach der Schilderung des Sachverhalts, bat er ihn ..um eine Stellungnahme, damit er
gegebenenfalls falsche Behauptungen in der Offentlichkeit klarstellen könne. Freuds Antwort war knapp, aber deutlich.
Er ermächtigte Marcondes, der Öffentlichkeit in einer ihm b~liebigen Form zu erklären, dass er einen Dr. Maximilian
Langsner aus Wien nicht kenne und erst aus Marcondes' Brief von dessen Existenz erfahren habe.
Übersetzungen
In der Geschichte der Psychoanalyse in Brasilien war es offensichtlich besonders in den Anfängen für ihre Verbreitung
sehr wichtig, dass es brasilianische Fachle.ute gab, die Deutsch lesen konnten, und dass deutschsprachige
Psychoanalytiker am Aufbau der psychoanalytischen Institutionen einen wesentlichen Anteil hatten. Die Tendenz, die
Psychoanalyse für gesellschaftshygienische Ziele zu Insrrumenralisieren, spielt heute keine Rolle mehr und
deutschsprachige Psychoanalytiker werden nicht mehr gebraucht. Aufgrund zahlreicher Veröffentlichungen der
internationalisierten Psychoanalyse besitzen deutsche Texte mittlerweile einen unbedeutenden Stellenwert.
Kandidaten, die sich für eine psychoanalytische Ausbildung interessieren, müssen in der Regel Englischkenntnisse
nachweisen. Nach wie vor ist es jedoch von großer Wichtigkeit, Freuds Werke möglichst exakt kennenzulernen.
Dementsprechend soll hier zum Schluss die Frage berücksichtigt werden, ob dies auch ausschließlich
portugiesischsprachigen Menschen ermöglicht wird. Die erste veröffentlichte Übersetzung eines Freud-Textes erschien
1926 in der modernistischen Zeitschrift ARevista. Hierbei handelte es sich um die ersten viereinhalb Seiten der
Vorlesung »Über Psychoanalyse« (Freud, 1909), die in Brasilien meist mit dem Untertitel »Fünf Vorlesungen« zitiert
wird. Der Übersetzer dieses Textes ist der Arzt lago Pimenrel.F Sein Vorhaben, die gesamten Vorlesungen in den
folgenden Ausgaben abzudrucken, scheiterte an der Auflösung der Zeitschrift. Die erste vollständige Übersetzung eines
Freud-Textes ist somit die bereits erwähnte der Fünf Vorlesungen von Marcondes und Correa aus dem Jahre 1931. In.
Den folgenden Jahren erschienen weitere Übersetzungen von Freuds Publikationen. Einige von ihnen wurden direkt
aus dem Deutschen übersetzt, zum Beispiel von Porro-Carrero48, andere wiederum aus dem Französischen. Im Jahre
1950 veröffentlichte der Verlag Delta diese und weitere Übersetzungen aus dem Spanischen als »vollständige
Werksausgabe« in 18 Banden.t? Diese Ausgabe fand jedoch keinen großen Zuspruch.P 1974, also in der Zeit des
»Psychobooms«, brachte der Verlag Imago die brasilianische Standard Edition der Freud'schen Werke auf den Markt.
Sie wurde 1987 leicht überarbeitet. Lange Zeit galt sie als die portugiesische Standardausgabe von Freuds Schriften.
Dies war und ist zum Teil noch heute problematisch, da es sich hierbei um eine Übersetzung der englischen Standard
Edition handelt, die darüber hinaus ebenfalls Übersetzungsfehler aufweist. Zu den Mängeln der englischen Ausgabe,
die schon Bruno Bettelheim kritisierte, kommen noch erhebliche sprachliche Unzulänglichkeiten der portugiesischen
Übersetzung (Bettelheirn, 1983/1986) hinzu.>' Für Brasilianer, die sich mit Freuds Werken vertraut machen wollten, gab
es neben spanischen und französischen Übersetzungen bis vor Kurzem keine portugiesischsprachige Alremative.
Inzwischen hat sich die Situation etwas verändert, denn gegenwärtig wird andrei Übersetzungen aus dem Deutschen
gearbeitet. Der Imago Verlag in Rio de Janeiro hat seit 2004 drei Bände mit Schriften von Freud herausgebracht, die
von Luiz Alberto Hanns übersetzt wurden. In Säo Paulo übersetzt gerade Paulo Cesar de Souza für den Verlag
Companhia das Letras die Werke Freuds. Seit 2010 sind bereits sieben Bände erschienen. Auch in Porto Alegre
veröffentlichte der Verlag L&PM seit 2010 zwei Bände mit Freud-Texten, die von Renato Zwick übersetzt wurden. Um
ein größeres Publikum zu erreichen, wurden diese Bände als Taschenbuchausgaben erausgegeben. Darüber hinaus
gibt es im Verlag Autenrica die Absicht, ausgewählte Werke Freuds zu veröffentlichen. Es Iiezen bisher zwei Bände vor.
Bei dem ersten As pidsäcs e seus destinos (Triebe und ~riebschicksale) handelt es sich um ei zweisprachige Ausgabe.
Übersetzter ist hier Pedro Heliodoro Tavares. Der zweite Band Sobre a concepoio das aJasias (Zur Au./fossung der
Aphaszen) wurde von Brirro Rossi übersetzt. Alle diese Übersetzungsvorhaben sind seriös und lösen als
konkurrierende Unternehmungen, angesichts der großen Schwierigkeiten, Freud zu übersetzen, interessante
Diskussionen aus. Die Sprachbarriere, das heißt die Schwierigkeit, ICh die deutsche Sprache anzueignen, um Freud im
Original lesen zu können, hat somit eine positive Auswirkung, denn sie führt zu nützlichen Debatten darüber, was Freud
gemeint haben könnte und wie es sich am besten übersetzen lässt.
CAP 3.,
Die Psychoanalyse als psychiatrisches Werkzeug
Die Rolle Juliano Moreiras (1900-1930)
Cristiana Facchinetti & Rafael Dias de Castro
Die Arbeit des Arztes Juliano Moreira (1873-1933) nimmt in der Historiografie der brasilianischen Psychiatrie eine
hervorragende Stellung ein (vgl. Pacheco e Silva, 1940; Leme Lopes, 1965; Porto-Carrero, 2002; Uchöa, 1981; Engel,
2001; Vasconcelos, 1998; Oda & Dalgalarrondo, 2000; Oda, 2011; Venancio, 2005; Jacobina & Gelman, 2008), In
diesen Werken wird vor allem seine Bedeutung in Bezug auf die Einführung des deutschen Organiszismus in Brasilien,
die Entwicklung sowie die nationale und internationale Anerkennung, die die lokale Psychiatrie erreichte,
hervorgehoben. Unser Artikel versucht jedoch einen anderen wichtigen BeitragJuliano Moreiras zu beschreiben, der in
der Historiografie bisher wenig bearbeitet wurde, nämlich seine Rolle im Prozess der Insriturionalisierung' der
Psychoanalyse in Brasilien. Unser Beitrag besteht aus zwei Teilen: Im ersten Teil geben wir in einer knappen Übersicht
den Institutionalisierungsprozess der seelischen Medizin (»medicina rnenral «] im Laufe des 19. Jahrhunderts wieder,
der sich in dem ersten spezialisierten Asyl im Land konkretisierte. In der Folge beschreiben wir die Rolle Moreiras in der
Umgestaltung der lokalen Psychiatrie und seine Förderung neuer (neuro-) psychiatrischer Theorien, insbesondere
solcher aus dem deutschsprachigen Raum. So verstehen wir, dass diese theoretische Kursschwenkung und seine
Offenheit gegenüber deutschen Novitäten auf dem medizinisch-seelischen Felde (» medico-mental «) auch für das
Interesse Moreiras an der Psychoanalyse verantwortlich waren. Abschließend behandeln wir seine Beteiligung bei der
Einführung und Institutionalisierung der Psychoanalyse in Rio de Janeiro.
Die Institutionalisierung der Psychiatrie in Brasilien im 19. Jahrhundert Der Prozess der Medikalisierung des
Irrsinns/Wahnsinns (» loucura «] begann in Brasilien in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts und konkretisierte sich
in einem kaiserlichen Dekret, das die Errichtung eines spezialisierten Asyls in Rio deJaneiro, der damaligen Hauptstadt
Brasiliens, vorsah (Brasil, 1841). Im Jahre 1852 wurde ein solches als »Hospicio Pedro II« eingeweiht (Teixeira, 1997).2
Dieser Prozess konsolidierte sich aber insbesondere ab 1881 mit der Errichtung des Lehrstuhls für Klinische Psychiatrie
und psychische Erkrankungen (» Clinica Psiquiatrica e Molestias Menrais« ) an der Medizinischen Fakulruat in Rio de
Janeiro (Jac6-Vilela er al., 2004) und mit dem Beginn der eigentlichen Versorgung der psychiatrisch Kranken im Jahre
1890 kurz nach Gründung der Republik.' Rio de Janeiro wurde zu einem Epizentrum des Wissens und der Diffusion des
»lrrenwesens « (» alienismo«) im Lande. Aber trotz zahlreicher Anstrengungen behielt das Asyl gegen Ende des
19.Jahrhunderts seine weniger medikalisierte Struktur: Seine Räumlichkeiten blieben außerhalb der medizinischen
Notwendigkeiten und seine hygienischen Bedingungen ließen stets zu wünschen übrig. Außerdem erreichte das
theoretische und therapeutische Gerüst der »psychologischen Medizin« (» medicina psicologica«) nicht den
erforderlichen Stand, un1 als Spezialität innerhalb der medizinischen Fachgebiete Anerkennung zu finden. Stattdessen
wurde sie immer stärker wegen ihres Mangels an Wissenschaftlichkeit kritisiert (Castel, 1976, S. 27Sf.;Messas, 2008,
S. 66f.). Die Kritik an dem neuen Wissen entwickelte sich zunehmend dramatischer, sodass man sich am Ende des
19.jahrhunderts in dieser Gesellschaft, die von Pessimismus gekennzeichnet war, für dringliche strukturelle
Veränderungen aussprach. Seit der Dekade ab 1880 erreichte die Theorie der Degeneration eine beherrschende
Stellung im Land als Metapher für die Erklärung der Gesellschaft (Schwarcz, 2004, S. 61). In Verbindung mit der
Theorie der Polygenie, die von verschiedenen menschlichen »Rassen« W1 terschiedlicher evolutionarer Stufen
ausgeht, bildete das Konzept der Degeneration den Schlüssel für die Diagnostik und die Vorausschau der Risiken für
den zivilisatorischen Prozess der »Mestizen« und »barbarischen« Bevölkerung und zeigte ernsthaft die Grenzen für die
Modernisation der Nation auf (Oda, 2000, S. 139f.). Inmitten der pessimistischen Einstellung der Intellektuellen begann
man im Laufe der ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts, nach neuen Lösungen zu suchen." Unterstützt durch die
neuen Entdeckungen von Louis Pasteur und experimentellen Forschungen in Verbindung mit einem erzieherischen und
prophylaktischen Projekt, entwickelten sich Antworten für eine Regeneration der Bevölkerung (Lima & Hochman, 1996,
S. 506). Durch die Erweiterung des medizinischen Blickwinkels> begann ein Teil der Psychiater das' Rassenkonzept
der Degeneration zu hinterfragen und nach neuen Lösungen für die Behandlung der Kranken zu suchen sowie sich für
die Suche nach einer Prophylaxe der »Geisteskrankheit« (»doen~a menral «) zu öffnen.
Juliano Moreira und das neue Werkzeug der psychiatrie: die psychoanalyse
In der Historiografie wird Moreira traditionell als der erste Propagandist der Psychoanalyse in Brasilien16
hervorgehoben. Gemäß den Autoren verschiedener Zeitperioden, wie zum Beispiel Porto-Carrero17, Perestrello18,
Ponte (1999) und Stubbe (2011), »beschäftigte er sich seit 1899 mit dieser Materie an seinem Lehrstuhl in Bahia« (.
Porto-Carrero ' 1928 , 1934 ,.S 26) . vwvzas wi.r aurCgrun d d0- kumentarischer Quellen nachweisen können, ist, dass
Moreira tatsächlich einer der ersten brasilianischen Psychiater gewesen ist, der sich mit der Psychoanalyse'? befasste,
denn sie war seit 1910 Gegenstand von Studien und Debatten in der von Ihm gegründeten Gesellschaft. Die Dekade ab
1910 war auch der Zeitraum in dem die psycho.analytische Technik im »Hospital Nacional« eingeführt wurde und als
rhcorerisch-merhodologische Grundlage für die Thesen (x-reses «, dr. Doktorarbeiten) der Medizinstudenten diente. . In
Übereinstimmun.g mit Moreir~ gewann die Psychoanalyse »ganz allmählieh neue Anhanger, nicht nur in Osterreich,
sondern auch in Deutschland England und vor a.llem in den USA« (Moreira ' 1920 ,.S 366) . D ementsprec h en d
behauptete ~orelra, ~ass auch Brasilien nicht außerhalb dieser Bewegung stehen bleiben konne. Semen anfänglichen
Bemühungen schlossen sich zunächst die Psychiater Antönio Austregesilo (1876-1960)20 und Henrique ROX021an. .
Moreira stellte fest, dass die Verzögerung, mit der sich die »Pest«22 in Brasilien ausgebreitet hatte, der Tatsache
zuzuschreiben war, dass »die Kollegen, dem Gesetz des geringsten Widerstandes folgend, abgewartet hatten, bis die
Ideen und Lehren zuerst durch den französischen Filter geflossen waren, ehe wir uns anschließend dazu herabließen,
sie gegen das Licht zu betrachten « (Moreira, 1920, S. 365). Auf diese Weise betonte er den starken Einfluss der
wissenschaftlichen Kultur, den Frankreich im Land noch immer ausübte, gleichzeitig erlaubt es uns aber auch einen der
Gründe wahrzunehmen, weshalb die Psychiatrie in Brasilien den psychoanalytischen Ideen so lange Widerstand
geleistet hatte, genauso wie es mit ihren französischen Kommentatoren+' geschehen war. Um die Widerstände der
lokalen Psychiatrie zu überwinden, die bis zu diesem Zeitpunkt nur sehr selten und meist kritisch auf Freud und seine
Arbeiten hingewiesen hatte, ergriff Moreira die Initiative und führte diese Debatte in die Versammlungen der
»Sociedade Brasileira de Psiquiatria, Neurologia e Medicina Legal« ein. So begann man das Freud'sche Werk zu
studieren (Atas de reuniao,1914, S. 243). Die Versammlungen dieser Gesellschaft fanden seit ihrer Gründung unter der
Präsidentschaft von Moreira im »Hospfcio Nacional de Alienados« statt. Und an gerade diesem Ort konnte man auch
die ersten Kennzeichen dieser Neueinführung beobachten. Zum Beispiel trug in der Sitzung vom 25. April 1914 der
Pädiater Fernandes Figueira-" eine Arbeit vor, die die tiefen Gefühle behandelte, jene halberloschenen im tiefsten
Inneren seiner kleinen Patienten schlummernden, um dann festzustellen, dass diese sich nur mithilfe der »Laterne des
Minenarbeiters der Psychoanalyse« (ebd.) offenbaren würden. Scheinbar verbreitete sich so ein Bild von der Theorie
Freuds als ein wichtiges und erfolgreiches Werkzeug, mit dem sich tiefere Geheimnisse - unbewusst oder bewusst von
den Patienten verborgen - erkunden und entdecken ließen. Seine Darstellung wurde bereitwillig aufgenommen und von
den anwesenden Mitgliedern, unter ihnen Moreira, Roxo und Ausrregesilo, diskutiert. Vier Monate später, in der Sitzung
der Gesellschaft am 13. August 1914, war es an Austregesilo sich zu äußern,
»indem er argumentierte, dass die Psychoanalyse ein Gegenstand von höchster Wichtigkeit sei, der unter uns diskutiert
werden müsse. Er schlug vor, dass in einer der nächsten Sitzungen der Gesellschaft jeder, der sich mit ihr befasse,
über seine Beobachtungsfälle, die gebrauchte Methode und die erhaltenen Resultate berichten solle« (Aras de
reuniiio,1914, S. 268f.).
Bei dieser Gelegenheit informierte Moreira die Gruppe darüber, dass er eine Arbeit über dieses Thema verfasst habe
und dass er sie in einer der nächsten Versammlungen vortragen wolle, »in der von der Gesellschaft veranstalteten
Serie « (ebd.). Daraufhin wurde er inständig von Professor Anseregesilo dazu gedrängt, der Gruppe seine Arbeit
vorzustellen, um eine Debatte über das Thema unter den Mitgliedern der Gesellschaft in Gang zu setzen (ebd.), Der
Vortrag Moreiras fand in der nächsten Sitzung am 24. September 1914 statt (Aras de reuniäo, 1914, S. 275).
Unglücklicherweise wurde dieser Essay nicht publiziert, sondern nur in der Versammlung verlesen.ö Sechs Jahre nach
diesem Ereignis - infolge einer kritischen Rezension zu Rochas Artikel »0 pansexualismo na Doutrina de Freud« (1920),
der in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht worden war, war ein regelrechter Tunmit unter den Medizinem=
entstanden - gab Moreira bekannt, die Gesellschaft dächte daran, »eine kritische Zeitschrift herauszugeben, die sich
nur darauf beschränken sollte, die Ideen des verehrten Wien er Professors zu verbreiten « (Moreira, 1920: S. 366).
Aufgrund der finanziellen Kürzungen der damaligen Regierung, die ein Ende der finanziellen Unterstützung für
wissenschaftliche Zeitschriften, die wie die Archivos Brasileiros de Neuriatria e Psiquiatria/? in der Psychiatrie bereits
institutionalisiert waren, bedeutete, kam man unterdessen zu dem Enrschluss, dieses Unternehmen sei nicht
realisierbar. Dabei stellte man zudem fest, dass »der Internatsjahr-Student Professor Anseregesilos die Psychoanalyse
zum Thema seiner Inauguraldissertation gemacht hatte« (ebd., S. 367).28 Moreira bezieht sich hier auf die
medizinische Doktorarbeit von Genserico Aragäo de Souza Pinto mit dem Titel Da psicandlise: a sexualidade nas
nevroses, die im Dezember 1914 verteidigt und mit Auszeichnung beurteilt wurde.t? Diese Arbeit, die auf der Seite nach
der Danksagung ein Foto von Freud zeigt (mit der Beschreibung »Prof. Dr. Sigmund Freud - Fundader da Psicanalise:
Sigmund Freud – Begründer der Psychoanalyse), wurde von Antönio Austrogesilo betreut. Pinto dankte diesem für
»den mächtigen intellektuellen Einfluss und für die erhaltene moralische Stärkung während der glücklichen drei Jahre«
(Pinto, 1914, S. I). Seit 1911 widmete Pinto demnach seine Studien unter der Betreuung (»orienta~ao«) von
Ausrregesilo der Psychoanalyse. Im selben Teil seiner Arbeit dankte Pinto »dern bekannten Psychiater und
Psychoanalytiker Professor Juliano Moreira für das große Interesse, das er an der Arbeit hatte « (ebd.). Die ersten
Seiten der in zehn Abschnitte gegliederten Doktorarbeit sind, so Pinto, denjenigen gewidmet, die die Methoden Freuds
in Brasilien zur Anwendung gebracht hatten: Juliano Moreira, Henrique Roxo, Antonio Austregesilo und Fernandes
Figueira. Und es ist Pinto selbst, der uns darüber informiert, dass »vonseiten dieser berühmten Wissenschaftler, kein
gedrucktes Werk über das Thema vorliegt, sodass unsere Doktorarbeit die erste Arbeit ist, die der Öffentlichkeit
übergeben wird« (ebd., S. 7). Für die Ziele dieses Beitrages ist das letzte Kapitel dieser Doktorarbeit mit dem Titel
»Beobachtungen« (»observa~öes«) noch relevant: Hier präsentiert nämlich der Forscher klinische Fallstudien auf der
Basis der Freud'schen Theorie aus dem »Hospital Nacional de Alienados «. Unter diesen befindet sich auch ein
klinischer Fall Moreiras, den wir später darstellen werden.
Im Jahre 1922 diskutierte dann Ausrrcgesilo das Thema in einer wiss;= senschaftlichen Zeitschrift. Mit dem Titel
»Psychoanalyse bei den Nerven- ~nd Ceisreskrankheiren , (»Psicanalise nas doencas mentais e nervosas« ) sprach d
Aufsatz wiederum den Widerstand der lokalen Psychiater gegenüber der Psyc~=~ analyse an. Nach dem Autor habe
die Psychoanalyse »weder Ausübung n~ch Sanktion durch die brasilianischen Kliniker erfahren, denn diese empfinden
. natu.r. l'1Ch es H emmnis, sich d ie psychoanalytische Praxis anzueignen« (Austre ~e1e1- 1 silo: 1922, S. 87). Für ihn
liegt es daran, dass »die Dinge hier weniger leicht s'!d als 111den ang~lsächsischen Ländern, in denen sexuelle Fragen
nicht einen sO~ch pejorativen WIderhall 111den Sitten und Vorstellungen der Individuen haben \.y' bei uns« (ebd., S.
105) .30 ie Bereits zu diesem Zeitpunkt war es möglich, die teilweise Ausbreitung ~er Psychoanalyse in der
»psychischen Medizin« (?medicina menral «) zu erk~n_ nen: Austregesilo lässt uns zum einen wissen, dass die
brasilianischen Klini~er zunehmend die psychoanalytischen Studien und die Methode Freuds akzeptier~ Zum anderen
zeigten die gemachten Mitteilungen und organisierten Konfer~~~ zen »von Juliano Moreira, Henrique Roxo, Genserico
Pinto und dem Au~ dieser Arbeir «, die das neue Wissen propagierten, dass sie »die Akzeptanz ~r .' '::1- nIger der
bedeutendsten neuropsychiatrischen Praktiker des Landes gewonn hatre , (Ausrregesilo, 1922, S. 87). Aber wie sehr
Ausrregesilo auch die Psycihoanalyse als Instrumentdes Zuganges zu den »abnormen Zuständen« lobt, c{iendurch das
Unbewusste des Patienten (ebd., S. 90) aufrechterhalten werden u'l.d die Ihre Wurzeln in der Sexualität haben (ebd., S.
87), er stellt dennoch fest, d,\ die Freud-Studiengruppe der »Sociedade de Neurologia, Psiquiatria e MediciLegal- sich
noch einige Vorbehalte bezüglich der Freud'schen Methode bewah habe. Gemäß des Autors besteht das Übel der
Lehre in den persönlichen u~~ exklusiven Formeln, mit denen Freud »die klassischen Konzepte bezüglichd~r
Psychoneurosen reformieren« wollte (ebd., S.l11). Die Arbeit von Austrogesilo wurde von Moreira kommentiert, der die
Psyhoanalyse »verteidigte«, indem er sagte, dass Freud in einigen Arbeiten :(\1 ~elgenversuchte, dass »in der antiken
wie auch modernen Literatur offenkundig; übere111StImmungen mit seinen Ideen bestehen « (Moreira zit. nach
Austregesil\j 1922, S. 114). Er betonte außerdem noch, dass der große Verdienst von Freud i~ der Systematisierung
eines Apparates von Techniken und Theorien in einer eil)_ 'I.igartigen und in sich kohärenten Perspektive bestehe.
Aber er hob auch hervot , dass es nicht »unbedingt notwendig ist, ein orthodoxer Parteigänger der Ideen Freuds zu
sein, um sich ihrer vorteilhaft zu bedienen « (ebd., S. 113). Und so wurde die Psychoanalyse - unter der teilweisen
Nutzung ihres theoretischen Apparats - als Werkzeug allmählich in die Praxis des »Hospicio Nacional« integriert.
Die Psychoanalyse in der klinischen Praxis Ein von Moreira behandelter Fall
In seiner Doktorarbeit beschreibt Pinto die Fallgeschichte der Mme. X, die von Moreira behandelt worden war. Laut ihm
»fühlte sich die Paticntin schwer krank« und präsentierte »unvermeidbares Erbrechen, intensive Schwindelzustände,
absolute Anorexie, Kopfschmerzen etc, Es ergab sich das perfekte klinische Bild eines Gehirntumors und eine solche
Diagnose wurde noch gestützt durch die positive >Wassermann-Reaktion< ihres Blutes«. Aber Moreira, »mit dem
Scharfsinn eines Psychoanalytikers, misstraute dem funktionalen Charakter der Krankheit, und mit großer Geduld und
viel Geschick, gelang es ihm die wahre Realität aufzudecken« (Pinte, 1914, S. 104ff). »[H]ier die Fakten: Madame X
reiste zum Zwecke einer Behandlung mit ihrem Mann auf einem Schiff nach Europa. Dort angekommen, wurde Mme. In
einem Krankenhaus aufgenommen, um eine wichtige Operation an ihren Genitalien durchführen zu lassen. Der
Ehemann, befreit von dem Zusammenleben mit seiner Garrin, kam zu dem Entschluss, sich eine Geliebte zu nehmen,
was nach einer gewissen Zeit auch zur Kenntnis von Mme. X kam. Sie entschloss sich natürlich, auf die baldige
Rückreise nach Rio de Janeiro zu drängen, um den Kummer, den ihr der untreue Ehemann verursacht hatte, zu
vermeiden. Ihre Rivalin hatte unterdessen Instruktionen erhalten mit dem nächsten Schiff in die Hauptstadt Brasiliens
nachzufolgen, wo der Ehemann von Mme. X sie erwarten wollte, um sein illegitimes Liebesverhältnis wieder
aufzunehmen. Das unheilvolle Ergebnis des Abenteuers ließ nicht auf sich warten; eines Tages, als sie mit dem Auto
durch eine der Straßen der Stadt fuhr, sah sie, zu ihrer schrecklichen Überraschung, ihren Ehemann, wie er sich an
einer Ecke mit genau derselben Frau, die er aus Europa kannte, unterhielt, was seiner Ehefrau einen großen Schmerz
bereitete. Man kann sich die Intensität des Traumas (traumatisrno) vorstellen; sie hatte gerade noch die Kraft dem
Chauffeur zu befehlen, sie nach Hause zu fahren. Dort angekommen, habe sie sich elend ins Bett zurückgezogen, und
von da an die o. g. Symptome gezeigt. Der Professor Juliano Moreira begann mit einer psychoanalytischen Behandlung
und die Kranke befindet sich nun auf dem Wege der Besserung. Der vorliegende Fall, in dem auch eine hysterische
Blindheit (» amaurose cegueira «) in Erscheinung trat, ist wirklich interessant und zeigt den großen Wert der
Psychoanalyse. In der Tat, wenn es nicht die Feeudsehe Orientierung von Prof. Moreira gegeben hätte, hätte er
niemals mit solcher Schnelligkeit und Sicherheit, die Ursache und Natur des Leidens offenlegen können, besonders in
Fällen wie diesem, in dem es (ich vergaß es zu sagen) keine hysterische Vorgeschichte gab« (ebd.). Der Fall betont
einige fundamentale Elemente der Aneignung der Psychoanalyse, wie sie in der Institution durchgeführt wurde: Bei der
Kranken handelte es sich um eine vornehme Frau der Gesellschaft, die ein gehobenes kulturelles und intellektuelles
Niveau besaß, das damals für grundlegend gehalten wurde, um eine »tiefe Analyse« (»analise profunda«) (Pinte, 1914,
S. 90) zu erlauben. Außerdem wies der Bericht gehäuft die klassischen Elemente der Hysterie auf, was uns an die
ersten klassischen Fälle der Hysterie, die im 19. Jahrhundert noch von Freud (1896, 1975) analysiert wurden, erinnert:
Ein traumatisches Ereignis, das körperliche Symptome verursacht, ohne dass irgendeine organische Läsion vorliegt,
wie zum Beispiel die Blindheit im oben genannten Fall. Der hysterische Globus (» bolo histerico «, »globus hysrericus
«), der die Nahrungsaufnahme verhindert und sogar der chirurgische Eingriff an den Genitalorganen, obwohl nicht im
Einzelnen geschildert, suggeriert ein sexuelles Unbefriedigtsein seitens der Frau. Es handelt sich also um eine Lektüre,
der das erste topische Modell Freuds-" zugrunde liegt und die durch die Vorstellung einer Auseinandersetzung
zwischen dem Bewusstsein und der verdrängten Libido gekennzeichnet ist (Pinro, 1914, nach tubbe, 2011, S. 36).
Nach Pinto ist es mithilfe der freien Assoziation möglich, latente Inhalte in das Bewusstsein zu bringen, die es ihm
erlauben, diese zu beurteilen und dem Leiden somit ein anderes Ziel als die Kranheitssyrnpromatik zu bieten. Es bleibt
nur der Zweifel bestehen, ob solche Inhalte verdrängt wurden oder un ter Zensur standen, insbesondere weil viele
dieser damaligen Autoren annahmen, dass die Methode der freien Assoziation dazu dienen würde, den Patienten dazu
zu bringen, die Geheimnisse, die er verbirgt, freizügig zu bekennen (Ponte, 1999, S. SM). Aber die Methode der freien
Assoziation war nicht der einzige durch die Brasilianer der damaligen Zeit angeignete Ausschnitt (» recorte« ). Speziell
im Laufe der 20er-Jahre des 20. Jahrhunderts gewann die psychoanalytische Theorie, mit der wachsenden Bedeutung,
die der Erziehung und Gesundheit beigemessen wurde, einen immer größeren Raum auf dem Felde der Prävention,
und sie ging dazu über, an der Modernisierung der Nation mitzuarbeiten. Und über eben diese neue Einbeziehung (»
enquadre«) werden wir im Folgenden sprechen.
Die Psychoanalyse als Werkzeug zur Heilung der Nation
Die Liga Brasileira de Higiene Mental
Seit ihrer Gründung32 nahmen wichtige Leser Freuds an der »Liga Brasileira de Higiene Mental«33 (1923-1947) teil:
Moreira, Roxo und Austregesilo, alle in den Statuten der Institution zu »Ehrenpräsidenten« erklärt. Die Psychoanalyse
der Liga war anfänglich auf die »Abnormen« (»anormaes«) ausgerichtet. Um diese zu behandeln, wurde arn Sitz der
Gesellschaft im Oktober 1926 ein psychoanalytischer Dienst (» servico de psicanälise.«) eingerichtet: Die Einrichtung
des psychoanalytischen Behandlungsraumes der Liga wurde mit größter Sorgfalt vorgenommen, um ihm dem Aspekt
eines medizinischen Behandlungszimmers zu nehmen. Sogar die Ornamente und Farben wurden danach ausgesucht,
ob sie schwerlich gefühlmäßige Situationen suggerieren, diesich in den assoziativen Fluss einflechten könnten (Porto-
Carrero, 1926, 1929, S.27E). Diese Sorgfaltigkeit war nicht allein ästhetischer Art, denn» allein schon der Blick auf eine
Wand mit Rissen reicht aus, um den Vorstellungsfluss eines mit wenig Abstraktionsvermögen ausgestatteten Kranken
abzulenken« (ebd., S. 29). Mit dem Ziel ihre Pläne vorzubereiten und in die Praxis umzusetzen, unterhielt die Liga
ungefähr seit 1925 auch in ihren Filialen »Studien-Sektionen«, die ab 1929 dazu übergingen, »das Studium und die
Entwicklung der neuen Verfahren der Angewandten Psychologie und Psychoanalyse voranzutreiben« (Estarutos da
Liga Brasileira de Higiene Mental, 1929, S. 40). Aber die Psychoanalyse erlangte noch einen anderen Platz in der Liga:
als Instrument für die Diagnose und Behandlung der eigenen Nation, die als primitiv und unfähig erachtet wurde, sich in
das »Konzerr der Nationen« emporzuheben. In Übereinstimmung mit dem Forscher jose Franco Reis ist die
Psychoanalyse tatsächlich einer der Diskurse, die mit den Programmen der Liga präzise abgestimmt war. Sie wurde
als eine der mächtigsten technischen Lösungen angesehen, als grundlegend, um die Rolle der Psychiater zusammen
mit der des interventionistischen Staates in Position zu bringen (Reis, 1994, S.237). In diesem Prozess begann man die
Psychoanalyse auch als Methode zur Diagnostik der Realität des Landes und mittels der wissenschaftlichen Erziehung
als eine Therapie für seine Entwicklung zu benutzen, die man für fähig hielt, »abnorme« Inhalte zu verdrängen und
Triebe (»impulsos«) mithilfe der Sublimation auf idealisierte kulturelle Ziele zu richten (Facchinetti, 2012, S.46ff). Es
verstärkte sich die Vorstellung, dass die Psychoanalyse den Psychiatern der Liga bei ihrem prophylaktischen Projekt
mittels der Erziehung insbesondere bei den Kindern helfen könnte, die Entstehung zukünftiger Gesetzesbrecher
und/oder Abweichler (»desviantes«) zu vermeiden. Außerdem könnte sie auch bei der größeren Kenntnis über das
Milieu und die Gesellschaft behilflich sein die man intervenieren wollte, was die Möglichkeit der Interpretation der
Kollektiv- Psychologie des brasilianischen Menschen, ihre »Toterns und Tabus« und ihre eigentümlichen
Charakteristiken, mit sich brachte: alles dies unter der Perspektive eines prophylaktischen Programms der psychischen
Hygiene (» higiene rnental «). Das Programm der Integration der Psychoanalyse in dieser Mission richtete sich an
Schulen, um dort eine wissenschaftlich begründete Sexualerziehu~gzu entwickeln, an Institutionen für Straffällige und
Kriminelle zur Besserung »dieser kleinen Unglücklichen«, an die Sexualerziehunp der Masse durch die Psychoanalyse
über Zeitungen und Radios sowie an Toxikomane, sexuell Perverse, Suizidanten und Neurotiker im Allgemeinen. Es
diente darüber hinaus zu Experimenten im experimentalpsychologischen Laboratorium der Liga34 (Porto- Carrero,
1929[1926], S. 39f.). In diesem gesamten Prozess erlangte die Psychoanalyse eine größere Akzeptanz. Dergestalt war
in der zweiten Hälfte der 20er Jahre des 20. jahrhunderrs das Statut der Psychoanalyse für die »Seelenärzte«
(»medicos mentais «) bereits ein anderes, indem ihre bedeutendere Wichtigkeit an der Seite des Staates
begrüßtwurde, wie uns Porto-Carrero bestätigt: Indem die Psychoanalye verdrängte Komplexe erforscht, die die kleinen
Neurotiker, die Drogensüchtigen, die Ängstlichen, die »Eigenrurnlichkeiten« des Charakters etc, hervorbringen, kehrt
sie sozusagen an den Grenzen des Wahnsinns (»loucura«). Wenn wir auf das achrgeben, was die Liga durch die
Psychoanalyse in der Erziehung in den Primärschulen, der Arbeitgeberschaft der Minderjährigen, der kleinen
Gesetzesübertreter - die heute einem speziellen Tribunal übergeben werden - beeinflussen kann, sehen wir, dass
bereits eine breite Aktionssphäre existiert, in der wir handeln können (Porto-Carrero, 1929[ 1926], S.27f.).
Das Vorkämpfertum Juliano Moreiras bei der Gründung der Sociedade Brasileira de Psicanalise in der Sektion
Rio de Janeiro
Nach einer Periode größeren Misstrauens gegenüber der Psychoanalyse schien sich schließlich der Widerstand der
Psychiater innerhalb des »Hospicio Nacional « und der »Liga Brasileira « (die im Inneren der »Colönia de Alienados
Gustavo Riedel« untergebracht war), der größten damaligen Institutionen für »Geisteskranke« (»alienados«) im
»Distrito Federal«, aufzulösen. Genau in diesem Moment entstand die Möglichkeit, einen neuen Schritt hin zur
Institutionalisierung der ·Psychoanalyse in Rio de Janeiro zu machen, wie wir aus einer Zeitungsnachricht des Correio
da Manhti vom 6. Juni 1928 aus Rio de Janeiro erfahren: »Auf Einladung der Sociedade Brasileira de Psychanalyse de
Säo Paulo versammelten sich im Hospital Nacional de Psicoparas einige Psychoanalytiker dieser Hauptstadt, unter
dem Vorsitz Prof. Juliano Moreiras, um in Verbindung mit jener Gesellschaft einen Nukleus für das Studium der
Psychoanalyse zu gründen« (Editorial, 1928, S. 5). Mit der Gründung des Nukleus in Rio de Janeiro wurden auf
Vorschlaz von Marbcondes und Rocha " folgende Grundsätze für das Funktionieren der Gesellschaft als Ganzes
festgelegt:
»1. Die Sociedade Brasileira de Psychanalyse wird ihren Hauptsitz in Rio de Janeiro haben und in verschiedenen
Bundesstaaten Brasiliens Sektionen unterhalten.
2. Als Bindeglied wird sie einen allgemeinen Präsidenten besitzen, alle zwei Jahre wieder wählbar, eine regelmäßig
erscheinende Fachzeitschrift, die Revista Brasileira de Psychanalyse, deren erste Nummer bereits durch die genannte
Gesellschaft in Säo Paulo publiziert wurde. 3. Jede Sektion wird einen regionalen Präsidenten haben und in ihrer
Organisation und internen Führung autonom sein.
4. Die Organisation der Fachzeitschrift wird an ihrem Hauptsitz gestaltet, zu dem alles Publikationsmaterial gesandt
werden sol!.
5. Im Falle, dass die Fachzeitschrift außerhalb des Hauptsitzes gedruckt wird, soll der Sekretär der Sektion, wo der
Druck geschieht, mit der Drucklegung beauftragt werden.
6. Von dem Monatsbeitrag soll jede Sektion einen gewissen Anteil, für alle Sektionen den gleichen, für die Kosten der
Publikation der Fachzeitschrift tragen« (Editorial, 1928, S. 5). . Wie man bemerkt, wurde die im Jahre 192736 in Säo
Paulo gegründete »Sociedade Brasileira de Psychanalyse« »mit großer Freude« von Moreira aufgenommen.
Er »versammelte das gesamte klinische Personal des Hospitals « (Marcondes zir. nach Sagawa, 1992, S. 89), indem er
in Rio de Janeiro nicht nur im Jahre 1928 einen Nukleus schuf, sondern auch den Hauptsitz der Gesellschaft in diese
Stadt verlegte. Trotz des Hauptsitzes in Rio de Janeiro »bestand Moreira darauf, dass Franeo da Rocha als allgemeiner
Präsident der Gesellschaft weitermachen sollte. Und er, Juliano selbst, bleibt als Präsident der Sektion dort in Rio«
(Marcondes zir. nach Sagawa, 1992, S. 89), während Porto-Carrero als Vizepräsident fungierte (Editorial, 1928, S. 5).
Eine der ersten Inititiariven der gerade gebildeten Gesellschaft war es, Freud ihre Gründung mitzuteilen. Als Anwort
aufMarcondes Schreiben schrieb Freud einen Brief mit folgendem Inhalt: »Sehr geehrter Kollege, ich danke Ihnen
immens für Ihren minutiösen Bericht über die hoffnungsvollen Ereignisse in Ihrem Land. Dr. Porto-Carrero hat mir auch
diesbezüglich geschrieben und ich wiederhole Ihnen die Bitte, die ich an ihn gerichtet habe. Ich würde es schätzen,
wenn die Herren zusammen eine Darstellung über diese Ereignisse erarbeiten und sie an die -Internar. Zeitschrift für
Psychoanalyse- (Revista Internacional de Psicanalise) und an den Präsidenten Dr. Max Eitingon richten würden, damit
so das Interesse für die neue brasilianische Gruppe geweckt werden kann« (Freud, 1994 [1928], S. 90). Der Brief
Freuds an Porto-Carrero enthielt tatsächlich die gleiche Bitte mit noch mehr Details: »Wie merkwürdig dass im fernen
Brasilien eine psychoanalytische Bewegung mit einem Male fertig dasteht wie Athene aus dem Haupt des Zeus, mit
gesellschaftlicher Propaganda und natürlich auch Opposition. Letztere darf nicht fehlen, es freut mich dass Sie ihre
Notwendigkeit einsehen. Es ist wie in der analytischen Technik. Ohne Überwindung von Widerständen giebt [sicl] es
keinen Erfolg. Und nun eine grosse Bitte. Es liegt mir viel daran dass Ihre Gesellschaft sich bald innerhalb der
Internationalen heimisch fühle und diese ebenso vertraut mit den Vorgängen werde. Zu diesem Zwecke kann nichts
mehr beitragen alswenn Sie für die Zeitschrift einen Bericht abfassen, der ungefähr das enthält, was in Ihren u [sicl] Dr
Durval Marcondes Briefen an mich enthalten ist, die Geschichte der Gründung Ihrer Gesellschaft, dasVerhältnis der
beiden Gruppen in Rio und S. Paulo u [sicl] Ihr Bemühungen in der Sociedadc de Educacao. [...] Der Bericht soll an
unseren Präsidenten Dr M. Eitingon geschickt werden, natürlich in französ. wenn es Ihnen am bequemsten ist« (Freud,
1928).
Nach einem Briefwechsel von Freud und Eitingon wurde die »Sociedade Brasileira de Psicanalise « im Jahre 1929
durch die »International Psychoanalytic Association « (IPA) als »Study Group« anerkannt. Im folgenden Jahr schrieb
Max Eitingon wiederum an die Gruppe mit der Bitte, dass sie sich gemäß der durch den Kongress von Bad Homburg im
Jahre 192537 festgelegten Richtlinien organisieren möge. Diese Bitte fiel mit großen Strukturveränderungen im
damaligen Brasilien zusammen. Aus politischer Sicht waren die Machtkämpfe verschiedener dominanter 'ruppen im
Verlauf dieser Dekade die Regel. Die Meinungsverschiedenheiten lind Kämpfe wurden noch durch die
Weltwirtschaftkrise, verursacht durch den Zusammenbruch der New Yorker Börse im Oktober 1929, verschärft. Das
Ende dieser turbulenten Periode war durch einen Staatsstreich gekennzeichnet, der etulio Vargas38 im Oktober 1930
an die Präsidentschaft brachte und die traditionellen Oligarchen vom Epizentrum der Macht verlegte und eine neue
Phase der politischen und sozialen Geschichte Brasiliens einleitete (Ferreira & Pinto, 2006, S. llf). I Auf dem Felde der
»Assisrencia aos Psicopatas « (Versorgung der »Geisteskranken «) machten sich die Auswirkungen der Krise durch
den Verlust wichtiger Alliierter von Moreira wie zum Beispiel].]. Seabra bemerkbar. Mit der Regierung Vargas verlor
Moreira im Jahre 1930 selbst alle seine Ämter und wurde zwangspensioniert (Pacheco c Silva, 2009). Rocha war
ebenfalls bereits in Pension gegangen (Sagawa, 1992, S. 83). Durch die Veränderungen der politischen Richtung und
das Fehlen der Direktoren der beiden Sektionen der Gesellschaft entstand eine neue Krise in der jungen »Study
Group«.
Während die wenigen Mitglieder aus Säo Paulo davon ausgingen, dass die Anerkennung ihrer Gesellschaft durch die
IPA grundlegend für ihr Überlebensei, war die enger mit dem Staat verbundene Gruppe des »Distrito Federal«, die die
Psychoanalyse als Werkzeug ihrer Disziplin benutzte, wenig geneigt den Orientierungen der IPA zu folgen. Mitten im
Konflikt trennten sich die beiden Sessionen. Obwohl die Historiografie im Allgemeinen bestätigt, dass Marcondes die
Gesellschaft geschlossen und nach Mitteln gesucht habe, ausländische psychoanalytische Ausbilder herzubringen, um
sie nach den Richtlinien der IPA wieder zu eröffnen, sprechen wichtige Indizien dafür, dass der Sitz in Rio weiterhin
funktionierte: gemäß der anfänglichen Ziele zur Verbreitung der Psychoanalyse mittels Vorträgen und Kursen und dem
Ziel, die Übersetzungsarbeit der Gesammelten Werke von Freud zu leisten (Porto-Carrero, 1932).
Zusammenfassung
In seinem Nachruf für Moreira stellte der Psychiater Murillo de Campos fest, dass Moreira der Erste war, der im Jahre
1914 eine Konferenz zur Verbreitung der Psychoanalyse abhielt, »indem er zeigte, dass es dem Psychiater nicht
erlaubt sei, seine Ungewissheiten gering zu schätzen, wie groß auch die Kritiken seien, die ihnen gemacht würden. Die
Toleranz Juliano Moreiras der Psychoanalyse gegenüber beschränkte sich nicht au f ihre Verbreitung: Er ließ sie im
Hospital Nacional de Psicoparas zu, wie jede andere Methode der Diagnostik und Therapie« (Campos, 1933, S. 8). Wie
oben demonstriert, war Juliano Moreira ein wichtiger Verbreiter. eifrig Lernender und Erörterer der psychoanalytischen
klinischen Praxis im »Distrit Federal«. Außerdem war er sehr aktiv bei der Gründung der Sektion der »Sociedade
Brasileira de Psychanalyse« in Rio de Janeiro und konsolidierte so dieerste Verbreitung der Theorie Freuds im
medizinisch-mentalen (» rnedico-mental« ) Umfeld Brasiliens. An dieser Stelle lohnt es sich, daran zu erinnern, dasser
sich unabhängig von seinem Einsatz zugunsten der Verbreitung der Theorie und der psychoanalytischen Methoden im
Land selbst niemals als Psychoanalytiker bezeichnete. Somit wurden die Grenzen seines Interesses deutlich, narnli
hdie teilweise Anpassung ihres Inhalts. Die Psychoanalyse sollte nach seinem Y, rschlag verstanden werden, und zwar
als ein» sehr reicher Beitrag der zahlreich '11Schüler Freuds«, und dazu dienen, die Werkzeuge der Psychiatrie zu
erweitern.
Die Ärzte sollten sie studieren und in orthodoxer Weise oder gar nicht anwenden (Moreira, 1920, S. 366).
Übersetzung: H Stubbe
CAP. 4
Die Bedeutung der Psychoanalyse in der Geschichte der Psychologie in Brasilien
Marina Massimi
In diesem Artikel beleuchten wir die Einführung der psychoanalytischen Perspektive im Kontext der brasilianischen
Kultur des 20. Jahrhunderts in einer historischen Sicht, mit dem Versuch die Faktoren, die diesen Prozess ermöglicht,
vereinfacht und/ oder erschwert haben, darzustellen. Wir möchten in diesem Artikel der Hypothese nachgehen, ob die
Vereinnah- Illung der Psychoanalyse, wie sie in Brasilien durchgeführt wurde, im Rahmen eines bereits existierenden
Wissens geschah. Aus unserer Sicht war dieses Wissen durch einige Einzigartigkeiten gekennzeichnet, die sich
bezüglich der Art und Weise, wie sich das Verständnis der Psychoanalyse in Brasilien herausbildete, als entscheidend
erwiesen. Es handelte sich hierbei um ein therapeutisches Wissen, d,ISauf die Nutzung des Wortes zentriert war (und
das bereits in den indigenen Kulturen als auch den missionarischen Predigten vorhanden war). Im Hinblick IllIf die
Behandlung psychischer Erkrankungen stand dieses Wissensrepertoire 111der Tradition der »Medizin der Seele«, die
sich im Laufe der Kolonialzeit 111ILand verbreitet hatte und sich mit den Kenntnissen der »philosophischen Arzte« am
Ende des 18. Jahrhunderts verbunden hatte. Darüber hinaus soll It,rgehalten werden, dass im 19. Jahrhundert seitens
der Medizin der Versuch unrcrnornmen wurde, sich im soziokulturellen Kontext als die Wissenschaft des ~knschen zu
konstituieren. Dieser Versuch basierte auf philosophischen Aussa- II, die wesentlich durch deterministische Prozesse
auf einer organischen Basis I~~lgclelegt wurden. Aus unserer Perspektive bildeten diese Faktoren insgesamt einen
Rahmen Ir die bereits vorhandenen Ideen. Daraus entwickelten sich die Überschnei- ,1\llIgenund Interpretationen, die
im 20. Jahrhundert für die Einbeziehung der rcud'schen Psychoanalyse in Brasilien kennzeichnend waren.
1. Das Wort als Pharmakon in den kulturellen Traditionen des kolonialen Brasiliens
Die therapeutische Funktion des Wortes ist nach Sigmund Freud eine der Grundpfeiler der psychoanalytischen
Intervention: In dem Text »Psychische Behandlung (Seelenbehandlung) « aus dem Jahre 1905 behauptet er:
»Psychische Behandlung heißt demnach Seelenbehandlung. [... ] Behandlung von der Seele aus, Behandlung -
seelischer oder körperlicher Störungen - mit Mitteln, welche zunächst und unmittelbar auf das Seelische des Menschen
einwirken. Ein solches Mittel ist vor allem dasWort, und Worte sind auch das wesentliche Handwerkszeug der
Seelenbehandlung« (Freud, 1972[ 1905], S. 289). Die Entdeckung der therapeutischen Funktion des Wortes ist das
Ergebnis eines historischen Prozesses. In der Konzeption der Philosophen und Mediziner der klassischen Antike
bewirkt die seelische Heilung durch die Philosophie ihre Unterwerfung unter die Rationalität der Diskurse (das
griechische Wort »logos« bedeutet Vernunft sowie Rede und Wort). Die Heilung der Seele - im Sinne einer inneren
Bildung der Seele selbst – impliziert die Nutzung des Wortes, zum Beispiel wird in einem Dialog sowohl das eigene
Innere als auch das des externen Gesprächspartners reflektiert. Dies geschah, wie Augustinus es formuliert, mit dem
folgendenen Effekt: »[D [ie Wörter gewannen bei den Menschen den höchsten Stellenwert für den Ausdruck jeglicher
Gedanken, immer wenn jemand diese ausdrücken wollte « (1991, S. 96). Im modernen Zeitalter liegt das Vertrauen in
die Macht der Wörter als Instrument zur Persuasion und Verhaltens änderung in der Erkenntnis und der Anwendung der
Rhetorik und ihrer Einflüsse auf die psychische Dynamik – die durch die aristotelisch-thomistische philosophische
Psychologie sowie die nachfolgende Überprüfung der Lehre von Augustinus von Hippe ermöglicht wurde - begründet
(Massirni, 2005). Diese lange theoretische Aufwertungstradition des Wortes und der praktischen Überprüfung seiner
Macht bildete die Basis für die therapeutische Nutzun in der Psychiatrie, Psychoanalyse und Psychologie. Evident
wurde dies auch im Kontext der brasilianischen Kultur, da sie aufgrund der mündlichen Betonung der indigenen
Kulturen noch prägnanter und entscheidender war. Im kolonialen Brasilien, wo die Mehrheit der Bevölkerung illiterar
war, war der Rückgriff auf die orale Sprache als Vermittler von Ideen und als »rherapeu- tisches« Vehikel vorrangig.
Darüber hinaus wurde die Sprache als Hilfsmittel für Heilungen in der kulturellen Tradition der indigenen Bevölkerung
hoch bewertet. Seit dem 16. Jahrhundert schrieben Reisende und Missionare in ihren Berichten und Briefen den
Indigenen den dramaturgischen Umgang mit dem Wort zu.
Das Wort in der Predigt und die psychologischen Wurzeln der Rhetorik aus der Perspektive der Jesuiten
In der brasilianischen Kultur finden sich seit dem 16.Jahrhundert verschiedene Formen des Experimentierens mit der
Macht des WortesS, die eine Übertragung des Wissens, der Handlungen sowie der Überredung anstreben, mit dem Ziel
Glaubensinhalte und Verhaltensweisen zu verändern und so die einzelnen Personen und die Gesellschaft zu erreichen.
Unter diesen Formen spielte die Predigt (» pregacäo «) eine besonders wichtige Rolle. Im Kontext der kolonialen
Gesellschaft Brasiliens war die Predigt eine verbreitete und von der Bevölkerung sehr geschätzte Tätigkeit. Im sozialen
Umfeld finden sich seit der frühen Zeit der Kolonisierung in den Schreiben und Briefen der Reisenden und Missionare
Berichte und Beschreibungen von Predigten. Die Predigt erlangte eine sehr wichtige Funktion in der kulturellen
Übertragung von Konzepten, Tätigkeiten und Glaubensweisen der klassischen, mittelalterlichen und Renaissance-
Tradition des Okzidents und zugleich strebte sie durch die Macht des Wortes eine Veränderung des Habitus und der
Mentalität der Individuen und sozialen Gruppen an. Auf diese Weise wurde sie in Brasilien in einem zeitlichen
Kontinuum vom 16. bis ins 18.Jahrhwldert praktiziert und muss daher in einer Perspektive interpretiert werden, die die
dynamische Wechselbeziehung zwischen Predigern und Adressaten berücksichtigt: Tatsächlich nimmt die Predigt die
Charakteristiken einer »teilnehmenden Tätigkeit an, die die sozialen Horizonte durchquert« (Chartier, 1988, S. 134) und
in der die Volkskultur (» cultura popular «) mit der gelehrten Schriftkultur konvergiert. Eine solche Tätigkeit durchläuft
verschiedene Stufen der Aneignung - gemäß der Intervention der »schöpferischen Erfindung im eigentlichen Kern der
Rezeptionsprozesse« (cbd., S. 136) -, indem kulturelle Dinge, Texte und Ideen übermittelt und von den Zuhörern in
ihrer Gesamtheit oder von einzelnen Gruppen verschiedenen Interpretationen und Verwendungen unterworfen werden.
Neben der Funktion der kulturellen Übermittlung, stellt die Predigt eine Art Experimentallaboratorium der Macht des
Wortes dar - da sie mit dem psychoanalytischen und psychologischen Verständnis der therapeutischen Wirksamkeit
des Wortes in Beziehung steht und es sich um das moderne Zeitalter handelt, muss sie prinzipiell auf die Anwendung
der rhetorischen Kunst zurückgeführt werden: Denn das Wort sollte entweder hinsichtlich seiner Macht der kulturellen
Übertragung oder hinsichtlich seiner evokativen und kathartischen Fähigkeit der Affekte betrachtet werden. In diesem
Sinn ist das Wort ein Heilmittel zur Erlösung, enthalten in den Begriffen des allgemeinen Konzepts der Gesundheit, wie
es von der Medizin der Seele postuliert wird: Gesundheit des beseelten und geistigen Körpers des Individuums und
Gesundheit des politischen und sozialen Körpers. Das Wort – im Sinne seiner doktrinären, persuasiven, evokativen und
enthüllenden Dimensionen - wird als das wahre Pharmakon im Individuum begriffen, mithilfe dessen es lernt, gut zu
leben und zu sterben. Die Beharrlichkeit bezüglich des so konzipierten Sich-um-sich-selbst-Sorgen (»cuidado de si
rnesmo «] hat ihren Ursprung in der soktatischen Philosophie und wurde später durch den Stoizismus und die
christlichen Philosophien (Gilson, 1995) weitervererbt. Diese Art von Sorge geht auf spezifische Kompetenzbereiche
zurück: Anfänglich entstammte sie den beiden Wissensgebieten Philosophie und Medizin, und mit der Ankunft des
Christentums war sie später auch im Bereich der Theologie (und der Spiritualität) zu finden. Während das forschende
Interesse bezüglich der Totalität des Objektes auf der einen Seite der philosophischen Methode vorbehalten war, war
es andererseits in der klassischen und mittelalterlichen Tradition der Arzt, der das Universum als Ganzes kannte: die
Musik, die Astrologie, die Metereologie sowie die Beziehungen zwischen den Göttern und den Menschen. Indem man
diese allgemeine Sichtweise auf das Menschsein anwendet, wird offenkundig, dass das Um-sich-selbst-Sorgen gemäß
dem Ideal des Sokrates? alle Dimensionen der Existenz impliziert. In der gleichen Weise identifizierte Aristoreles die
Gesundheit oder Erlösung des Menschen mit der Realisation der Glückseligkeit7, da »die Glückseligkeit eine gewisse
Aktivität der Seele ist gemäß ihrer perfekten Exzellenz« (Aristoteles, 1, 13, 1l02a, S. 82, Anm. d. Übers.), die durch die
Tugend der Klugheit erreicht wird. Diese basiert auf der Erkenntnis und der Wahl des »richtigen Mittelmaßes«, ein
Prinzip, das die Aristotelische Ethik mit der Hippokratischen Medizin gemein hat. Die Tugend als Mittelmaß zwischen
den Lastern (Mangel oder Exzess) wird in der Praxis erworben. In der von Thomas von Aquin gegebenen Definition der
Person, die auch von Boetius wieder aufgenommen wurde, legt er fest, dass »diese Seele, dieses Fleisch und diese
Knochen zur Vernunft (razäo] dieses Menschen gehören« (Tomäs, 2001, I, Q. 29, Art. 2, S. 527). Im Hinblick auf den
therapeutischen Plan betont er die Wichtigkeit der Sorge für jedes Individuum nach dem individuellen Prinzip. Die
Bewahrung und Wiederherstellung der Gesundheit und schließlich die Heilung implizieren auch die Existenz eines
Agens, das heilt und das die Person beschützt beziehungsweise es setzt eine therapeutische Beziehung sowie einen
therapeutischen Ort voraus. Der Prediger vereinigt also in sich ein Spektrum von vielfältigen Kompetenzen, die auf die
Sorge und die Heilung ausgerichtet sind. Er handelt in einer vereinheitlichenden Weise und behält hier stets die Einheit
des subjektiven Trägers der Gesundheit und die Erfordernisse der Sorge im Auge, und zwar indem die Dimensionen
des Somatischen und des Seelischen, der physischen und der seelischen Gesundheit umfasst werden. Er hat es nicht
nur mit Seelen, sondern auch mit Körpern zu tun, die als in einem individuellen, sozialen und kosmischen Plan
eingebunden verstanden werden (Massimi, 2005). Dies erklärt die doppelte Funktion, die das exemplarische Modell der
heiligen luso-brasilianischen Rede besitzt, welche Pater Antönio Vieiraf dem Prediger zuschreibt. In seiner »Serrnäo da
Sexagesima«, die er im]ahre 1655 in der Königlichen Kapelle (»Capela Real« ) predigte, nachdem er von seiner
Mission in Säo Luls do Maranhäo zurückgekehrt war, definiert Vieira den Prediger einerseits als »einen Arzt der
Seelen« (»medico das almas «), denn die Wirkung der Predigt soll nicht dem Ergötzen der Zuhörer dienen, sondern
ihrer Heilung, »indem jedes WOrt des Predigers eine Ermutigung für das Herz des Zuhörers ist « (Vieira. 2001, S. 51).
In einer Predigt aus dem Jahre 1669, vorgetragen vor der Königlichen Kapelle in Lissabon am dritten Mittwoch der
Fastenzeit (» terceira quarta-feira da Quaresrna«}, stellt Vieira den Prediger andererseits als einen wahren Arzt der
Wunden des geistigen Körpers und auch des sozialen und politischen Körpers vor: »[Z]ur Verpflichtung dieses Stuhls
(das ist die Medizin der Seelen) soll er nur über die Krankheit disputieren und das Heilmittel verschreiben« (ebd., S.
101). In diesem Zusammenhang wird das Wort des Predigers als wirksames und für das Seelenheil – der durch eine
rationale Seele beseelten individuellen Körper - bestimmtes Pharmakon verstanden, wie auch für die durch den Geist
Gottes beseelte Gemeinschaft, die zugleich die kirchliche (den mystischen Leib) und die politische Gemeinschaft (die
Res-publica, den Leib des Königs und den Leib des Volkes) schafft. Diese therapeutische Verwendung des Wortes ist
das Ergebnis eines langen Prozesses des Experimentierens und der durch die Tradition festgelegten Form der Kunst
der in der Rhetorik kondensierten Rede. In der Neuzeit wurde die Ausübung der rhetorischen Kunst zu einem
Experimentierfeld für die Möglichkeiten des Wortes. Diese Entwicklung stellte auch eine Voraussetzung für ihren
Gebrauch innerhalb der Therapie dar. In diesem Kontext durchlaufen das Erlernen und die Ausübung der
kommunikativen, persuasiven und therapeutischen Funktionen des Wortes einen langen und sorgfältigen formativen
Prozess: Das Angebot der jesuitischen Rhetorikklassischen und mittelalterlichen Ursprungs fügt sich in das Bemühen
um eine Assimilation der humanistischen Kultur ein, verwirklicht in der scholastischen Philosophie des 16.Jahrhunderts.
Außerdem ist die Pädagogik des Wortes im Bereich der Gemeinschaft der Jesuiten in der Wertschätzung der
klassischen Wortkunst wie auch in den» Geistlichen Übungen« verankert, wo die Kraft des Wortes nicht nur in der
logischen Argumentation besteht, sondern auch in der Imagination, im Gedächtnis, in den Affekten, in den Sinnen und
im Körper. In Einklang mit dieser Tradition bildete sich die Verwendung des Wortes in der Predigt im kolonialen
Brasilien heraus, in einem fruchtbaren Feld des Experi mentierens mit der Macht des Verbums, sei es bezüglich des
beförderten Inhalts. sei es bezüglich der Form der Übertragung. Somit ist einer der relevanten Aspekte des
psychologischen Wissens in dci Neuzeit die Artikulation als Form der Selbsterkenntnis, funktional zur Kontrol le der
eigenen Handlungen, die sich in der Möglichkeit des Subjekts begründ 'l, seine innere Erfahrung zu repräsentieren:
Man setzt die Existenz einer tief gehen den Relation zwischen psychischen Phänomenen und Worten voraus. So betont
es der Prediger Mateus da Encarnacäo Pinna, der die Affekte und Leidenschal ten des menschlichen Herzens als
sprießenden Quellgrund der Worte auffasst,
Das experimentieren mit den therapeutischen möglichkeiten durch die Nutzung der Sprache im Kontexte der Mediz des
18. Und 19 Jahnhubderts...
Verbindung zwischen Seele und Körper und die daraus entstehende Korrelation zwischen beiden Funktionen: »[Ejs ist
unmöglich, einen Schnitt in einer Seele, die unabhängig von der Körperveränderungwäre«, zu tun (ebd., S. 12).
Seelische Störungen lassen sich nach Franeo »alle körperlich« (ebd., S. 22) begründen. In dieser Perspektive
übernimmt das Wort eine beschreibende Funktion der Symptome und der Verschreibung der Medikamente, mehr als
die Therapie von sich aus leisten kann. Die wissenschaftliche Medizin des 19. JahrhundertS entdeckte den Bereich
der» moralischen Therapie«, deren Zielsetzung die Behandlung der »Erkrankungen des Geistes« war (Massirni, 1990).
Sie nutzte hierbei sowohl pharmakologische Heilmittel als auch den Dialog und die sensible Nutzung des Wortes. Die
vorgelegten Thesen - die Voraussetzung für den Abschluss des medizinischen Studiums an den Fakultäten in Rio de
Janeiro und Salvador (ebd.) - deuten auf die sichtbaren Interessen einer Therapie hin, die auf die Anwendung des
Wortes hin ausgerichtet ist. Der Einfluss der deutschen Phrenologen Franz Joseph GaU (1758-1828) und Johann
Spurzheim (1776-1832) und der französischen Psychiater Philippe Pinel (1745-1832) und Jean Etienne Dominique
Esquirol (1772-1840) wird hier erkennbar. Besondere Bedeutung in der Ätiologie der »Erkrankungen des Geistes« ist
die Zuschreibung der affektiven Faktoren. Es handelt sich hierbei um ein häufig gewähltes Thema für verteidigte
»Thesen« (Abschlussarbeiten) an den Fakultäten in Bahia und in Rio de Janeiro. Die Verfasser dieser Arbeiten
erkennen, dass e - obwohl dieses Thema seit Langem Objekt der Erforschung in unterschiedlichen Disziplinen ist -
riesige Unterschiede zwischen den Konzepten einer traditionellen Sicht und einer Betrachtung der modernen
Wissenschaft gibt: »[W] ir als Ärzte verstehen die Leidenschaften nicht so, wie die Früheren sie verstanden haben [...]
hier folgen wir dem Verständnis von bekannten Ärzten und Philosephen « (]. L. Costa, 1848, S. 13). Sie beschreiben die
Dynamik der Emotionen im Gehirn, definieren sie als eine Irritation des Nervensystems und weisen auf analoge
Phänomene in der Tierwelt hin. La Cour betont, dass »dern erfahrenen Arzt die passende Regulierung d I' moralischen
Ebenen obliegt« (1863, S. 6). Nach Murtinho »kann nur der Einfluss eines direkten und klaren Verständnisses mit
Effizienz über einen unruhigen und irritierten Geist handeln« (1839, S. 38) und diesem so »eine Veränderung der
Empfindungen und Eindrücke « (ebd., S. 29) ermöglichen, die durch star ke Leidenschaften entstand. Der Arzt darf nie
»die Realität der Beschwerden verneinen, denn dies »wird nichts anderes hervorrufen, als die Verzweiflung d 'S
Leidenden noch mehr zu erregen und eine Antipathie [... ] und ein Misstrau '11 zu bewirken« (ebd., S. 36). Dem Arzt
wird eine Vorbereitung abverlangt, um der »Unruhe und den Schmerzen der Seele« zu begegnen (Camargo, 1845, S.
12). Die seelische Dynamik wird durch die tiefen Affekte determiniert. Aus diesem Grund soll der Arzt »in die Tiefe des
Herzens des Menschen sehen, um Erkenntnis zu gewinnen über die zahlreichen Leidenschaften, die ihn bewegen und
sich in ihm stauen, die Emotionen und diversen Impulse, die ihn bewegen und ausrichten, die Neigungen, die er mit
sich trägt, die unterschiedlichen Richtungen seines Willens und diejenigen, die sich von diesen lenken lassen und auf
alle Bedingungen des Lebens Einfluss nehmen « (Lapa, 1844, S. 136). Deshalb soll auf die» Therapie oder
Moralmedizin « rekurriert werden: »~rzt soll sich üben in der Kunst des Lesens auf dem Zifferblatt des geheimnissvollen
Herzens, in der Prüderie, in der Ehe oder suchen wo Verbrechen sich verstecken vor den wachen und versierten Augen
eines Physiognomikers« (Figueiredo, 1836). Im Laufe des 19.Jahrhunderts beobachtet man eine Veränderung im
Verstand- 111S der (Moral- )Behandlung. Zunächst verstand man darunter eine Therapie für Verha~tensstör.un~en mit
einer Vielzahl von physikalischen Behandlungsmöglichkeiten (beispielsweise die starke Stimulation der sensorischen
Organe, eine von Bontempo. der im Jahre 1815 als Dozent in Rio de Janeiro arbeitete, vorgeschlagene Methode) sowie
chemischen und pharmakologischen (der Begriff wird später verwendet, um therapeutische Methoden zu definieren, die
ausschließlich psychologischer Natur sind). Derselbe Bontempo betont, dass die Verfahren »glückliche Ergebnisse in
England und Frankreich« erbrachten (1815, S. 152). Der Arzt soll dennoch das Wort einsetzen, um den Kranken zu
befragen, und genau seine Antworten studieren. Nach einer gewissen Zeit »wird wieder über Themen gesprochen
werden, an die bereits erinnert wurde, mit der Intention zu sehen, ob die Antworten dieselben sind, ob diese sich
drehen, ob die Erinnerung beständig bleibt oder nicht; und letztendlich, um zu erkennen, ob es eine Ordnung oder
Verwirrung der Ideen gibt« (Ferreira Pacheco, 1834, S. 8). ~arüber hinaus soll der Arzt »den Habitus beobachten, die
Bewegungen studieren, den Ausdruck der Physiognomie; soll den Zustand des Pulses, den Herz- ~chlag, die
Atmungsbewegungen unrersuchen « (Araujo Ribeiro, 1842, S. 6). Die letzte Etappe der Diagnostik beinhaltet die
Nachforschung, das heißt die Rekonstruktion der Lebensgeschichte des Patienten anhand der Aussagen von
Verwandten, Freunden, Nachbarn und Bekannten. Camargo macht darauf aufmerksam, dass »alles, was den Geist der
Kranken verschlimmern kann, entfernt werden soll«. Dafür ist es notwendig, »das Vertrauen des Kranken zu gewinnen,
sich für seine Leiden zu interessieren und durch Ruhe seine Ängste zu verringern, das Gefühl einer sanften Freude
anstatt der Traurigkeit zu erwecken, die Hoffnung an statt der Verzweiflung« (Camargo, 1845, S. 43). »[Mjit seinen
subtilen Worten, mit seinem ruhigen Cesichtsausdruck « vermittelt der Arzt dem Patienten die Sicherheit, die er selbst
besitzt, und benutzt als Behandlungsmittel, um die Erkrankung zu heilen, »das genaue Wort, das gezeigte Talent bei
der Untersuchung und Gesprächsführung mit dem Kranken, die Genauigkeit, die er einsetzt, um die notwendigen
Aspekte zu ordnen, flößen Vertrauen in die Seele und in das Herz des Erkrankten [...] ein. Und gerade durch dieses
Verständnis wird der Arzt »die wahre Effizienz< seiner Behandlung gewahr« (La Cour, 1863, S. 15). Die Person des
Arztes ist in diesem Kontext vergleichbar mit der des Geistlichen: »[D]ie Bekundungen und der Umgang mit der
Autorität des Arztes und des Klerus [sind] von großem Wert, um schon in der Seele das Vertrauen hervorzurufen [...]
und so die Betroffenen zu beruhigen und zu errnuntern « (ebd., S. 9). Die folgende Aussage stammt ebenfalls von La
Cour: »[W]enn der Kranke sich der Traurigkeit und Verzweiflung hingibt, muss der Arzt in sich selbst die Wege zum
Trösten und zur Wiederherstellung der Hoffnung suchen. Immer wieder muss er die Last des Patienten mittragen und
die Wurzel seines Verdrusses - ohne Indiskretion - zu erfahren versuchen, durch das breite und offene Bekenntnis und
damit verbunden eine tiefe Freundschaft zeigen, die benutzt wird, um nützliche Ratschläge zu geben. Blickend auf die
moralischen Gründe, die den Kranken betreffen, ist es nicht unmöglich diese einzuschränken oder gar vollkommen zu
zerstören « (ebd., S. 9f.). Hierbei ist es wichtig, dass der Arzt »das vollkommene Vertrauen des Patienten für sich
einnimmt « (ebd.). So beispielsweise bei der Behandlung der Hipochrondrie. Leal schlägt vor, dass der Arzt »auf die
hervorgerufene gehobene Stimmung des Kranken zurückgreift, um ihn Schritt für Schritt zu einem angemessenen und
einem exakteren Bild seines Zustandes zu führen « (1848, S. 24). Macedo empfiehlt, dass der Arzt »alle Störungen und
alle Geheimnisse der Sensibilität seines Kranken lernt [... ] er soll das Stöhnen verstehen und vorhersagen, was dieses
ausdrücken will und aus welcher .Quelle es entspringr « (1844, S. 41). Einige Verfasser heben die Bedeutung der
Ubung dieser »Richtung der Seele« ab der ersten Lebensjahre hervor (Tavares de MeIlo, 1841). Nach Meinung des
baianischen philosophischen Arztes Eduardo Ferreira ~ran~a (1809-1857) steht die »moralische Behandlung« (»
terapia moral«) den Atzren zu, von denen auch die Vervollkommnung der menschlichen »Rasse « (»ra~a«) abhängt,
die ebenfalls als Philosophen agieren sollen (Franca, 1834). Gemäß Francs werden durch die Sprache »unsere
Gedanken durch Sizenale übermitteil', so wie die Signale die Gedanken interpretieren und anzeigen« (ebd., 1834,1973,
S. 467) und das WOrt macht so »die Duplizirär « des menschlichen Wesens offenkundig, indem die Signale dem
Körper (der Materie) zugehören und die Gedanken den Geist anzeigen. Wenn »natürlicherweise die verschiedenen
Zustände der Seele durch Signale des Körpers ausgedrückt werden und sich die Korrespondenz zwischen der Moral
und der Physis klar zeigr « (ebd., 1973 S. 463), dann dienen die Worte dazu, »um unsere Ideen zu fixieren «. und
fungieren zudem als »Stutze des Gedächtnisses« (ebd., S. 470). Dergestalt eröffneten sich auf dem fruchtbaren Terrain
der brasilianischen Medizin des 19.Jahrhunderts bedeutsame Wege zum therapeutischen Gebrauch des Wortes, die
von der Psychiatrie und Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts sowie der modernen Psychologie durchlaufen werden.
Bezüglich der Konzeption der Medizin, die den ganzen Menschen einschließlich der Kenntnis der mentalen Prozesse
umfasst, scheinen die Ärzte den Lektionen Pinels zu folgen, der das Prestige des Arztes in der Rolle »eines
Operateurs, gleichsam eines magisches Heilers, und die Figur des Wundertätigen hervorhebt« (Foucault, 1978, S.
499). Gleichzeitig forderte man vom Arzt die Kenntnis der inneren Welt seiner Patienten und suchte nach Mitteln, um
diese zu erhalten. Es ist somit evident, dass diese Suche sich auf einem für die Freud'sche Konzeption fruchtbaren
Boden abspielte, da sich gerade seine Theorie als wissenschaftlich begründeter und klinisch erprobter Ansatz anbot.
Außerdem müssen wir hervorheben, dass bereits einige Konzepte wie die der unbewussten psychischen Akrivirär? in
der brasilianischen Kultur des 19. Jahrhunderts vorhanden waren. Unter anderem weisenwir auf das Werk Machado de
Assis (1839-1908) hin. Peres und Massimi 2004 stellten auf grund einer Analyse verschiedener Erzählungen (»contos«)
Assis' Textpassagen heraus, in denen er »subjektive Zustände seiner Personen« beschreibt. So hebt er hervor, »dass
hinter verschiedenen bewussten Tendenzen verborgene unbewusste Zwecke existieren «. Tatsächlich stellt dieser
Schriftsteller »ständig Personen dar, die mit einem konflikrhaften, konfusen und für sie selbst wenig transparenten
Bewußtsein behaftet sind « (Peres &Massimi, 2004, S. 136) und an anderer Stelle bezieht er sich auf die »Konzeption
eines Unbewussten, das mit der musikalischen Inspiration « und der künstlerischen verbunden ist. Zusammenfassend
lässt sich festellen, dass »das Konzept des Unbewußten und der unbewußren Kräfte, die das Individuum bewegen, auf
brasilianischem Boden durch die Literatur verbreitet wurde, noch vor dem eigentlichen Erscheinen der Psychoanalyse«
(ebd.).
5. Die psychoanalytischeAusbildung der Brasilianer Eine entscheidende Veränderung ereignete sich 1930, als in
Brasilien ein Sys tern der psychoanalytischen Ausbildung geschaffen wurde. In den 1920er Jahr ·n schufMax Eitingon
(1881-1943) im Berliner Psychoanalytischen Institut (BI I) ein System der psychoanalytischen Ausbildung, das von der
»Internarional Psy choanalytic Association« (I PA) I? anerkannt wurde. Dieses System bestand nach Freuds Vorschlag
aus einer Lehranalyse, einer Supervision zweier klinischer Fälle sowie aus theoretischen und technischen Seminaren.
Diese Initiative definierte und regelte die Kriterien der Ausbildung der neuen Gesellschaft für Psychoanalyse und der
neuen Psychoanalytiker. So entstand das Institut für Psychoanalyse. Ab diesem Zei tpunkt unternahm Marcondes
verschiedene Versuche, um einen durch das Institut ausgebildeten Psychoanalytiker nach Brasilien zu holen. Dieser
sollte die Ausbildung der brasilianischen Psychoanalytiker in die Hände nehmen. Im Jahre 1936 gelang es Marcondes
schließlich durch die Hilfe von Ernest Jones mit Adelheid Koch 18 in Kontakt zu treten, die im September 1936 nach
Brasilien kam. Sie war von Otto Feniche!, einem Psychoanalytiker des Berliner Instituts, analysiert worden und ihre
ersten Schüler waren Flavio Dias, Darcy de Mendonca Uchoa, Virginia L. Bicudo und Durval Marcondes. Der
Anfangsgruppe schlossen sich in den 1940er Jahren Lygia Arnaral, Isaias Melsohn und Frank J Philips an. Die Gruppe
wurde 1944 offiziell durch die IPA als »Grupo Psicanalfrico de Säo Paulo« (Psychoanalytische Gruppe von Säo Paulo)
anerkannt. In den 1940er Jahren kamen noch zwei weitere europäische Psychoanalytiker nach Brasilien, Niels Hack
und Theon Spanudis (1915-1986)19, von denen nur Letzterer in Brasilien blieb. 1951 gelang auf dem Internationalen
Kongress in Amsrerdarn schließlich die definitive Anerkennung der Psychoanalytischen Gruppe als Niederlassung der
IPA: So wurde die »Sociedade Brasileira de Psicanalise de Säo Paulo« geboren. Ab den 1950er Jahren wuchs die
Nachfrage nach einer psychoanalytischen Ausbildung in Brasilien beträchtlich, sodass auch in anderen Städten die
Suche nach einer autochthonen psychoanalytischen Ausbildung begann. In Rio de Janeiro wurden mit der Ankunft von
Mark Burke (1900-1975) und Werner Kemper (1899-1976)20 im Jahre 1948 die ersten Lehranalysen durchgeführt.
Diese Anfänge wurden jedoch durch einen Streit zwischen den beiden Fachleuten gestört, der zur Spaltung der beiden
Psychoanalytikergruppen führte. In der Folgezeit machten deshalb einige »Cariocas« (Bewohner Rio de Janeiros) ihre
Analysen in Argentinien. 1954 kam Decio Soares de Souza nach Rio de Janeiro. Der Inhaber eines Lehrstuhls für
Psychiatrie in POrto Alegre war ein in der Psychoanalytischen Gesellschaft Englands ausgebildeter Analytiker und
Mitglied dieser Gesellschaft. (»Kleinianer«) in Rio deJaneiro eingeführt. In den 1930er Jahren hörte der Medizinstudent
Cyro Martins in Porto Alegre einen Vortrag über Psychoanalyse von Martins Gomes, einem Professors der
Medizinischen Fakultät. Aufgrund seines Interesses für die psychoanalytische Ausbildung initiierte er nach dem
medizinischen Examen im Jahre 1933 zusammen mit zwei anderen Kollegen (Mario Martins und Mello Silva) einen
psychoanalytischen Ausbildungsgang sowie die Gründung der »Sociedade de Psicanalise de Porto Alegre«. M. Martins
und seine Ehefrau Zaira absolvierten ihre Ausbildung in Buenos Aires, wo sie von 1944 bis 1947 blieben. 1951 ging
Cyro Martins ebenfalls nach Buenos Aires, um dort seine psychoanalytische Ausbildung zu machen, und kehrte im
Jahre 1955 nach Porto Alegre zurück mit einem Mitgliedstitel der Psychoanalytischen Gesellschaft Argentiniens
(»Asociaci6n Psicoanalirica Argentina «, APA). In diesem Sinn ist die Geschichte der Psychoanalytikergruppe inRio
Grande do Sul aufgrund ihrer Nähe zu Argentinien, wo sich die Psychoanalyse sehr schnell ausgebreitet hatte,
gekennzeichnet. Eine der wichtigen Initiativen, um diese Entwicklung zu konsolidieren, war der Besuch des
bedeutenden argentinischenPsychoanalytikers Pichon-Riviere (1907-1977) im Jahre 1953. Er war der erste
ausländische Psychoanalytiker, der diese Stadt besuchte. 1957 wurde das »Centro de Estudos Psicanaliticos de Porto
Alegre« mit dem Ziel gegründet von der IPA als Studiengruppe anerkannt zu werden. Das geschah schließlich
tatsächlich im August des Jahres 1961, nämlich unter dem Patronat der »Sociedade Psicanalitica do Rio de Janeiro«
auf dem 22. Internationalen Psychoanalytischen Kongress in Edinburg. Auf dem 23. Internationalen
Psychoanalytischen Kongress 1963 in Stockholm wurde die Gruppe als eine an die IPA angeschlossene Gesellschaft
anerkannt: die »Sociedade Psicanalitica de Porto Alegre«. Die ersten von Adelheld Koch ausgebildeten
Psychoanalytiker betätigten sich in verschiedenen Bereichen. Eine herausragende Rolle bezüglich der Verbreitung der
Psychoanalyse in der brasilianischen Gesellschaft spielte Virginia Bicudo, v r allem durch ihre Teilnahme an einem
Radioprogramm, durch Vorträge im Au ditorium der Zeitung Folha da Manhd und durch wöchentliche Artikel in eben
dieser Zeitung (in der Rubrik »Nosso Mundo Menta]« ) (Sagawa, 2004). So festigte sich in den 1950er Jahren die
Psychoanalyse hauptsächlich 1111 ter den Ärzten entsprechend der Ausbildung ihrer Adepten in der klinisch ·11
Freud'schen Methode. Weitere wichtige Faktoren, die zu einer Konsolidierung der Psychoanalyse im Lande führten,
waren die Gründung von Niederlassung ·11 der IPA und die berufliche Reglementierung der klinischen Praxis auf
nationaler
6. Die Institutionalisierung der Psychoanalyse in Brasilien Der Prozess der Konsolidierung der Psychoanalyse
erhielt einen starken Auftrieb durch die Gründung von psychoanalytischen Institutionen. Am 6. Mai 1967 wurde die
»Associacäo Brasileira de Psicanälise « gebildet, die sich mit den vorherigen Gesellschaften »Sociedade Psicanaliticas
de Säo Paulo, do Rio deJaneiro e de Porto Alegre« zusammenschloss. Seit dem Jahre 1967 wurden im Abstand von
zwei Jahren ein Brasilianischer Psychoanalytischer Kongress sowie ein Vor-Kongress abgehalten, die als
Diskussionsforum bezüglich der psychoanalytischen Ausbildung dienten. Nach 40-jähriger Unterbrechung erschien ab
1967 auch wieder die Revista Brasileira de Psicandlise, die 1927 erstmalig publiziert worden war. Die Fachzeitschrift
war dazu bestimmt, die nationale Produktion der Psychoanalyse zu verbreiten. Die »Associacäo Brasileira de
Psicanalise« unterhielt auch Verbindungen zu anderen Psychoanalytikern in Lateinamerika, und zwar über ihre
Teilnahme an der FEPAL (»Federacrao Psicanalitica da Arnerica Latina «), dem Assoziativorgan der
psychoanalytischen Gesellschaften Lateinamerikas Ab den 1960er Jahren war die Psychoanalyse weitläufig durch
Kultur und Gesellschaft Brasiliens dahingehend assimiliert, dass durch die Anerkennung des Berufes des Psychologen
im Jahre 1962 nun auch eine signifikante achfrage nach psychoanalytischer Ausbildung vonselten anderer
nichtärztlicher Berufsgruppen stattfand.
Zusammenfassung
Während der Militärdiktatur schlossen sich die Psychoanalytiker in ihren Sprechzimmern ein. So entstand das Bild des
Psychoanalytikers, der sich von jeglichem sozialen und politischen Kontext isoliert (vgl. Sagawa, 2004, S. 54). In allen
Tätigkeitsbereichen der Psychoanalyse, inklusive der Kinderpsychoanalyse, fand eine solche Ausrichtung auf die
Privatpraxis statt (vgl. Abräo, 2002, S. 221). Im Hinblick auf den gegenwärtigen Stand der Psychoanalyse, die sich
gegenüber der brasilianischen Gesellschaft und ihren Problemen verschließt, muss gemeinsam mit Sagawa (2004, S.
55f.) nach der Eigenart der brasilianischen Aneignung der Psychoanalyse gefragt werden. Dies betrifft insbesondere die
Frage, ob der Import der englischen, französischen und nordamerikanischen Psychoanalyse eine brasilianische
»Resultante« erzeugen kann. Zwar gibt es die Psychoanalyse be- reits in Brasilien, aber hat auch eine brasilianische
Psychoanalyse mit eigenen wissenschaftlichen und nationalen Werken Bestand? Wir sind davon überzeugt, dass zur
Beantwortung dieser Frage die Historiografie der Psychologie – beginnend bei den indigenen Kulturen bis hin zu den
Beiträgen der Vorläufer und der Institutionalisierung der Psychoanalyse - einen wesentlichen Beitrag leisten kann.
Tatsächlich versuchten diese Vorläufer Freuds Sichtweise in die Gesellschaft mit ihren Problemen und in die lokale
Kultur zu integrieren. Im Rahmen ihrer theoretischen und klinischen Untersuchungen und Experimente verwirklichten
sie eine aktive und synkretistische Aneignung der Psychoanalyse, und das in einer Form, die, wie wir sahen, sowohl in
Verbindung mit der Weltanschauung der damaligen Epoche als auch mit den traditionellen psychologischen
Kenntnissen der Kolonialzeit stand. Außerdem wurden neben der Assimilierung der Freud'schen Theorien noch andere
analytische und psychopathologische Ansätze (wie zum Beispiel von Jung oder Adler sowie die phänomenologisch-
existenzielle Psychiatrie von Jaspers, Minkowski und Binswanger) in die Betrachtung miteinbezogen - Ansätze, die
früher trotz ihres wissenschaftlichen und therapeutischen Wertes teilweise oder ganz missachtet wurden (wie im Fall
von Adler und anderen). Offensichtlich geht es hier nicht darum, den Weltanschauungen und der Wissenschaft der
Vorläufer beizustimmen (die, wie wir sahen, geprägt waren vonIdeologien, Menschenbildern und
Wissenschaftskonzepten, die heute hinterfragt werden), sondern die Fähigkeit zu einem offenen, kreativen und
kritischen Gespräch wiederzuerlangen. Darüber hinaus gilt es, das historische Bewusstsein für die Integration der
Psychoanalyse in den kulturellen Kontext, der vorausging und der die Formen prägte, die Ziele und die Grenzen ihrer
Aneignung in Brasilien, zu bewahren, wie wir in diesem Text offenzulegen versuchten. Wenn Sagawa mit seiner Ansicht
recht hat, dass der Prozess der Institutionalisierung der Psychoanalyse in Brasilien frühzeitig den Prozess ihrer
kreativen Assimilierung stabilisierte, so ist es jetzt wünschenswert, eine kulturelle und wis senschaftliche Offenheit und
intellektuelle Neugier einzunehmen. Cegenwartij; existieren positive Beispiele hierfür, wie die Debatten um den Prozess
der Mi gration im Lichte der psychoanalytischen Kategorien und um die kulturellen Herausforderungen der Gegenwart,
wie sie im Forschungszentrum für Psycheanalyse und Gesellschaft an der» Pontificia Universidade Cat6lica de Säo
Paulo « im Jahre 2002 befördert wurden (Carinhato et al., 2002). In diesem Rahmen schlug Pacheco Filho vor, den
Dialog und die Begegnung zwischen den versch i . denen Kulturen in Form des psychoanalytischen Prozesses zu
führen. Er ist d 'I' Meinung, dass die Stärke der kritischen Distanzierung der Personen von d 'li Werten, kristallisierten
Konzepten und abgewehrten, individuellen Erfahrungen anhaftenden rigiden Positionen, die durch eine analytische
Therapie ermöglicht wird, analog sei »zu einem Versuch, keine tabu la rasa des Schatzes der seit langen Zeiten
gemachten kulturellen Erwerbungen der Völker zu machen. Simultan solle man aber nicht ängstlich zurückschrecken
vor der Aufgabe, nach den Möglichkeiten der Erneuerungen und den Notwendigkeiten der Transformationen zu fragen«
(ebd., S. 264). Das Hinaustreten des brasilianischen Psychoanalytikers aus dem begrenzten Raum seines
Behandlungszimmers bietet ihm ohne Zweifel die Gelegenheit, die subjektiven Dynamiken seiner Patienten besser zu
verstehen, zugleich trägt es in einer signifikanten Weise zum Verständnis und zur Positionierung der gegenwärtigen
brasilianischen Realität bei. Es eröffnet sich ihm in dieser Weise der Weg zu einer kritischen und ursprünglich
brasilianischen Reinterprerarion des psychoanalytischen Ansatzes.
Übersetzung: Chirly dos Santos-Stubbe
CAP 5.
Aus der Anomie in die Richtlinienpsychotherapie
Brasilianische Identitäten auf der Couch eines deutschen Psychoanalytikers
Peter Theiss-Abendroth
Auf Spurensuche nach der brasilianischen Psychoanalyse in Deutschland
Der vom nationalsozialistischen Terror zerrissene Traditionszusammenhang der deutschsprachigen Psychoanalyse
konnte nach dem Zweiten Weltkrieg nur dadurch wiederhergestellt werden, dass die analytischen Diskurse anderer
Länder mit besonderer Intensität rezipiert wurden, Was noch vor einigen Jahrzehnten als eine gewisse Abhängigkeit
erschienen sein mag, lässt sich heute als eine besondere Offenheit der deutschen gegenüber der internationalen
Psychoanalyse nachvollziehen, Dabei geht der Horizont weit über den englischsprachigen Kulturkreis hinaus: Auch das
psychoanalytische Denken verschiedener romanischer Länder trifft hierzulande auf große Aufmerksamkeit und führte
teilweise zur Bildung besonderer Cornmunirys. Die Suche nach Spuren der brasilianischen Psychoanalyse im
deutschsprachigen Diskurs verläuft jedoch enttäuschend. Selten ist hierzulande von ihr die Rede, selbst kommt sie fast
nie zur Sprache.' Dies ist ein auffälliges Phänomen und widerspricht ihrer internationalen Bedeutung, der Reichweite
der Psychoanalyse innerhalb der brasilianischen Gesellschaft und auch den offenkundigen Kennziffern der
ökonomischen Potenz dieses Landes. Denn Brasilien verfügt heutzutage über die siebtgrößte Volkswirtschaft der Erde
(Deutschland über die viertgrößte) und Schätzungen zufolge über den 'lweitgrößten Psychotherapiemarkt (Deutschland
über den drittgrößten) (Alfred Pritz, Wien, rnündl. Mitteilung, April 2013). Der Psychotherapeut, häufig ein
Psychoanalytiker, gehört in Brasilien mit einer für deutsche Vorstellungen ungewöhnlichen Selbstverständlichkeit zum
Leben der urbanen Mittelschiehren. Diese soziologische Differenzierung ist allerdings bedeutsam. Denn die breite
Mehrheit der Bevölkerung gehört zu den unteren sozioökonomischen Schichten und kann sich eine Psychotherapie bei
psychischen Problemen nicht leisten. Sie erhält allenfalls Zugang zu einer psychiatrischen Basisversorgung im Rahmen
des»plano de saude e., des öffentlichen Gesundheitssystems. Die Suche nach der analytischen Psychotherapie führt in
Brasilien also unmittelbar zur sozialen Frage.
Zusammenfassung
Ausgehend von der Suche nach Berührungsflächen zwischen brasilianischer lmd deutscher Psychoanalyse habe ich
über einige Erfahrungen berichtet, die ich. I deutscher Psychoanalytiker mit brasilianischen Patienten gesammelt habe.
M ·1 ne Untersuchung wird von dem Anliegen getragen, die psychosoziale mit ell'l intrapsychischen Perspektive zu
verbinden. Sie geht von dem Begriffspaar d 'I Anomie und der Hypernomie aus. Mit Anomie beschreibe ich die
grundlegeIl den Beziehungserfahrungen brasilianischer Patienten aus der Unterschiehe 11I zugegebenermaßen
verkürzter Weise; die Hypernomie wird von den meisten ßril silianern als Charakteristikum der deutschen Gesellschaft
erlebt und benannt. SI wirkt in Form der Psychotherapierichtlinien unmittelbar in den Behandlunu raum hinein und wird
im Allgemeinen als störender und anti analytischer F~kl\11 des deutschen Behandlungssystems kritisiert. Das Über-Ich
gilt in der klassis ·111Ii Ich-Psychologie als »das Scharnier zwischen Innen- und Außenwelt«. Ihm habe ich in meiner
Darstellung eines prototypischen Behandlungsverlaufs meine besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Erkenntnis,
dass sowohl Therapeut als auch Kostenn'ager einem Normengerüst unterworfen sind, eröffnet dem Patienten einen
Ausweg aus seinen von Willkür und Unberechenbarkeit geprägten Erfahrungsmustern. DIe dyadische Position, in der
zwei Personen innerhalb eines extremen Machtgefälles etwas miteinander aushandeln, wird ersetzt durch eine von
apersonalen Normen triangulierte Situation. Diese neue Beziehungserfahrung kann den Ausgangspunkt für ein
Nachreifen innerer Strukturen bilden und zumindest einen ersten Raum für die SymboliSierung der präverbal
gespeicherten traumatischen Erlebnisse aufschließen. Allerdings ist dieser beschriebene Prozess nicht frei von
Ambivalenzen und kann auch als eine neue Anpassung an die kulturell bereitliegenden Wertvorstellungen des
aufnehmenden Landes wie überhöhte Autonomie und Individuation erlebt werden.
CAP 6.
Winnicott und die Psychoanalyse in der brasilianischen Kultur
Andre Martins
1. Einführung
Die Psychoanalyse setzte sich bei ihrer Ankunft in Brasilien als Theorie wie auch als klinische Lehre (zunächsr
Sigmund Freuds und spärer Melanie Kleins) nichr nur wegen ihres überraschenden und revolutionären Charakrers,
sondern auch auf grund ihrer »Wissenschafrlichkeir« durch. So harre Freud es sich vorgesrellr (Freud, 1933a, S. 35,
Vorlesung» Über eine Welranschauung«). Dieser Anspruch nahm jedoch pseudowissenschafrliche Züge an und
enrwickelre sich, ähnlich wie auf der ganzen Welr, zu einer zunehmend aurorirären klinischen Ausbildung. Die Folge
war eine Abhängigkeir des Analysanden vom Analyriker. Besondersdie analyrischen Ausbildungskandidaren sind
hiervon berroffen, da sie sich einer»Lehranalyse« unrerziehen müssen mir allen offenkundigen polirischen und
finanziellenImplikarionen (Kuperrnann, 1996).Lacans Ausrrirr aus der IPA rrug sicherlich dazu bei, die Psychoanalyse
aus ihrerVerflechrung mir einer gewissen institutionellen Machr zu befreien. Allerdingsprägren neben anderen Fakroren
die Anforderung, den Jargon seiner Theoriezu beherrschen, und die von Lacan vorgeschlagene, provokarive Beziehung
desAnalyrikers zum Parienren, in welcher der Analyriker sich in der Posirion vermeinrlichen Wissens befand, eine neue
Überrragungsbeziehung des Parienren aufden Analyriker mir ebenfalls verhängnisvollen Konsequenzen (Godin,
1990).Die Erablierung der Freud'schen Theorie und Behandlungsrechnik vollzogsich in Brasilien (ähnlich wie die von
Lacan und Klein) unrerdem Anspruchwahren Wissens. Dieser serzre sich mir derselben Autoritär von außen nach
innendurch, vom Ausland ins Landesinnere, mir der sich bereirs auf zahlreichen Gebierendas aus Europa Kommende
den Brasilianern aufgedrängr harre, und zwar alsetwas, das aus einer überlegenen Kultur und von einer höheren
Wahrheit stammt.Wie es für eine Beziehung zwischen Zentrum undPeripherie typisch ist, sollteBrasilien auf allen
symbolischen (kulturellen) Feldern und auch in der Psychoanalysedas lernen, was die Europäer lehrten. Apriori wurde
davon ausgegangen,dass das Wissen des Zentrums besser, entwickelter,vertrauenswürdiger,sichererund genauer sei
als das vor Ort erzeugte Wissen. Dabei muss man im Auge behalten,dass dieses Verhältnis nicht nur die Theorie selbst
betraf, sondern auch ihrenInhalt. Im Fall der Psychoanalyse ist damit eine Seinsweise gemeint, die sich derindividuellen
psychischen Verfassung des brasilianischen Patienten letztendlich in moralischer Form wie ein Ich-Ideal oktroyierte.
Diese als Ideal vorgezeigte oderangenommene Seinsweise wurde als eine psychische »Wahrheit« dargestellt, die
behauptete, die Normalität sei neurotisch und für den zivilisatorischen Prozess erforderlich. »Ich bin so, wie von der
Autorität oder vom vermuteten Wissen beschrieben, und nicht so, wie ich bin.« - was praktisch bedeutete: »Ich bin, wie
ich bin, aber ich sollte so sein, wie diese wissenschaftliche Erkenntnis meint, dass ich sein sollte.« Ich kann nicht genau
bestimmen, inwieweit diese Lesart zutreffend ist, aber ich verstehe die Beziehung der Mehrheit der Analytiker zur
Theorie in dieser Weise. Die Folge ist, dass auch ein Großteil der Patienten diese Einstellung zur klinischen Praxis
einnimmt. Wahrscheinlich ist ein derartiges Verhältnis von Unterwerfung unter und Ehrfurcht vor solch einer Theorie in
jedem Land anzutreffen. Die historisch von Kolonisierung und Abgelegenheit geprägte Eigenart Brasiliens scheint die
Akzeptanz einer europäischen Theorie, die sich zutiefst von der existenziellen Realität vor Ort unterscheidet, jedoch zu
befördern und zu verstärken. Es muss betont werden, dass eine Überlagerung von Theorie und Kultur für jedes Land
Gültigkeit besitzt. Beispielsweise ist allgemein bekannt, dass Lacan gewiss durch die Betonung der Sprache und ihrer
Struktur einen enormen Beitrag zur Akzeptanz der Psychoanalyse in Frankreich leistete. Vor dem Hintergrund der
cartesianischen Logik sowie des Strukturalismus des 20. Jahrhunderts stieß sein Ansatz in der französischen Kultur auf
erhebliche Resonanz. Ich möchte behaupten, dass ganz im Gegensatz zur lacanianischen Theorie, die in Brasilien bloß
unterwürfig akzeptiert wurde, die theoretischen wie klinischen Überlegungen Winnicotts aufgrund ihrer starken Affinität
zur brasilianischen Kultur auf fruchtbaren Boden trafen. Vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der brasilianischen
Psychoanalyse eignete man sich eine Theorie und eine Behandlungstechnik nicht aus Ehrfurcht vor angeblich
überlegenen Kenntnissen aus dem Ausland an, sondern mittels Identifikation. Weder kam Winnicotts Theorie
überraschend, noch wurde sie aufgrund einer vermeintlichen Rärselhaf tigkeit akzeptiert. Ganz im Gegenteil: Sie war
intuitiv nachvollziehbar, erklärte, was wir empfanden, was uns sinnvoll erschien und was uns bisher noch keine Theorie
hatte aufzeigen können. So dient sie uns zur Lehre und zur Selbstvervollkommnung. Zugleich steht Winnicotts
Behandlungspraxis mit den spezifischen Eigenschaften der brasilianischen Kultur in offenbarer Übereinstimmung. In
diesem Aufsatz möchte ich dementsprechend meine Überlegungen dazu darstellen, wie sich die winnicottianische
Theorie und Praxis mit ihren paradigmatischen Unterschieden zu der freudianischen und der lacanianischen Theorie
auf die psychische Realität der brasilianischen Kultur auswirken.
3. InstinktundTrieb
Das gespaltene Subjekt oder das vielfältige Individuum Nach der Ansicht Freuds und Lacans sind Tiere nicht in der
Lage, etwas zu begehren, da sie nur ihren Instinkten folgen. Diese unterscheiden sich von den spezifisch menschlichen
Trieben dadurch, dass sie in der Begegnung mit dem Objekt Befriedigung finden. Die vom Mangel motivierten Triebe
werden hingegen niemals befriedigt und erzeugen einen Triebiiberschuss, der stets nach Entladung strebt. Wie wir
bereits sahen, besteht für Winnicott prinzipiell kein großer Unterschied zwischen menschlichen und tierischen
Instinkten, da auch die physiologischen Instinkte des Menschen sofortige Befriedigung finden'. Diese lassen sich auch
als Es-Triebe bezeichnen, die das Individuum mit symbolischer Bedeutung belegt -die Tiere tun dies wahrscheinlich
nicht. Sie werden also nicht durch den Mangel motiviert. Wenn wir in Zusammenhang mit Winnicott überhaupt von
einem Trieb sprechen können - obwohl er diesen Begriff selbst nie benutzt, da er sich auf Übersetzungen Freuds ins
Englische stützt, in denen »Trieb « als» instinct« wiedergeben wird -, dann wäre dies im Sinne eines einheitlichen
Triebs (im Gegensatz zum Triebdualismus würde Freud ihn als Triebmonismus bezeichnen) ein Lebensinstinkt, der
einen unausweichlichen und mehr oder weniger erfolgreichen emotionalen Reifungsprozess nach sich zieht. Freud
betrachtet den Triebdualismus als ein notwendiges Konzept, ohne das die im Seelenleben beobachtbaren triebhaften
Antagonismen sich nicht erklären ließen (Freud, 1914c, 1920g). Dieser Dualismus findet seinen Niederschlag in Lacans
Konzept des gespaltenen oder geteilten Subjekts. Generell können wir sagen, dass die verschiedenen Freud'schen
Dualismen im Kern eine Trennlinie ziehen zwischen der Natur und der Kultur, zwischen einer vermeintlich animalischen
und einer spezifisch menschlichen Seite, der wilden und der zivilisierten, zwischen dem Es und dem Ich und Über-Ich,
dem Lustprinzip und dem Realitätsprinzip, dem Todestrieb und dem Lebenstrieb. Nun bedürfen die psychischen
Antagonismen und Konflikte keineswegs des Dualismus zu ihrer Erklärung. In Freuds Epoche dachte man noch nicht
an Vielfalt oder Negentropie. In der Tat ließ Freud das Verhältnis der Psyche zu ihrer Umwelt außer Acht und auch, wie
daraus in Wechselwirkung mit Denkstilen oder Wertesystemen affektive Schwankungen entstehen. Denn er konzipierte
das menschliche Wesen nicht als vielfältig, relational und Resultat von Interaktionen. Vielmehr verstand er es noch als
psychischen Apparat beziehungsweise wie Claude Bernard (1984[1865]) als ein inneres Milieu (»milieu interieur «}, das
sich mit Macht in sich verschließt und mit dem anderen nur als etwas völlig außerhalb seiner selbst Liegendem in
Beziehung tritt. Die Identifikationsprozesse fänden demzufolge mit etwas Externem statt, wenngleich über Affinitäten
vermittelt, und nicht mit etwas konstitutiv Gemeinsamen. Statt menschliche Wesen als voneinander isoliert zu
betrachten, was die Frage aufwirft, wie sie sich vereinen, können wir sie als von Anfang an miteinander vereint denken -
schließlich stammt das Baby von der Mutter - und müssen uns umgekehrt die Frage nach einer guten Trennung stellen.
So zeigt uns die klinische Beobachtung, dass Hass und Groll dann auftreten, wenn die anfängliche symbiotische Einheit
verweigert wurde. Gerade dann verlaufen Trennungen besonders problematisch, weil für eine gute emotionale
Entwicklung des Kindes und zukünftigen Erwachsenen am Anfang eine Vereinigung mit der Umwelt-Mutter stehen
muss. Diese Vereinigung sollte allerdings in Richtung der Autonomieentwicklung und der gelingenden Trennung
hingeführt werden. Statt sich auf Dualismen zu stützen, konzeptualisiert Winnicott den psychischen Konflikt, indem er
von den Beziehungen des Babys - und später des Kindes und des Erwachsenen - mit der Umwelt ausgeht, in
Abhängigkeit davon, inwieweit das Baby seine grundlegenden Bedürfnisse erfüllt bekam und Vertrauen in sich und den
anderen aufbauen konnte. Im Leben des Kindes und auch des Erwachsenen entstehen Konflikte aus unserer größeren
oder kleineren Schwierigkeit, mit Widrigkeiten, Hindernissen und Begrenzungen umzugehen. Von einer einzigen
Lebenskraft ausgehend, die agiert und auf Interaktionen mit der Umwelt reagiert, entwickelt sich eine Psyche, die mehr
oder weniger ausgeprägte Abwehrmechanismen braucht. Das bedeutet zugleich: Sie ist auch mit mehr oder weniger
reichhaltigen Ressourcen zur Überwindung dessen ausgestattet, was sich unseren Wünschen und damit kreativen
Gesten in den Weg stellt. Eine einzige Lebenskraft, ein einziger Lebensimpuls: Gewiss würde Freud Winnicott
vorwerfen, einen Triebmonismus zu entwerfen und die Vielfalt der Realität und der Erfahrung nicht anzuerkennen.
Allerdings reduziert gerade der Dualismus die Vielfältigkeit auf ihren kleinsten Nenner, auf die Zahl zwei, und mündet so
in eine Vereinfachung von Komplexität. Gerade indem Winnicott von einer einzigen Lebenskraft ausgeht, die sich in
ständiger und konstitutiver Interaktion mit der Umwelt befindet, eröffnet er uns eine Verständnismöglichkeit für die
immense Komplexität des Psychischen, seiner Konflikte, seiner Abwehr und seines Begehrens. Wenn das Individuum
sich psychisch über seine Interaktion mit der Umwelt herausbildet, dann findet auch seine Eingliederung in die Kultur
von Geburt an statt. In dieser Perspektive stellt die Kultur nichts anderes als eine Modifikation der Natur dar. Es gibt
auch kein theoretisches Stadium, das durch einen Einschnitt - wie bei einer Kastration oder wie bei Ödipus - beendet
wird, was die Einfügung in das kulturelle Stadium markieren würde. Der in der Idee des gespaltenen Subjektes
implizierte Riss erweist sich demzufolge als Sonderfall, der nur die Erfahrung beziehungsweise die psychische Struktur
der Neurose reflektiert. Wir könnten uns an dieser Stelle fragen, warum wir überhaupt den Begriff des »Individuums «
benutzen, der etymologisch auf das Unteilbare zurückgeht, wenn der Mensch in dieser Konzeption doch ein
»Vielfältiger« ist? Warum bezeichnen wir ihn nicht wie Lacan als Subjekt? Nun, gerade weil seine Vielfalt seiner Einheit
nicht entgegensteht, im Sinne einer.komplexen Einheit, die in keinem Widerspruch mit der Tatsache steht, dass uns
sowohl unser Körper als auch unser Ich psychisch in der Interaktion mit dem anderen vereinen. Der Begriff des
»Subjektes «? gehört Lacans Theorie an, und zwar nicht im Sinne dessen, was »zugrunde liegt«, sondern dessen, was
sich »unterzieht « oder »unterwirft«; dies bezieht sich insbesondere auf die herrschende Welt der Symbole, auf das
Gefängnis der Sprache sowie den Referenzpunkt des Phallus.
5. Kreativität als Sublimation und Überschreitung oder als Spontanhandlung und Spiel Die neurotische
und die Borderline-Normalität
Von der Vorstellung eines isolierten Menschen, dem eine zerstörerische Triebkraft innewohnt, ausgehend, begreifen
Freud und Lacan die Kreativität als etwas Reaktives, als Sublimation sexueller Impulse oder auch als Überschreitung
ins Feld des Symbolischen. Für Winnicott bedeutet Kreativität etwas Spontanes, vorausgesetzt, die Umgebung erweist
sich als ausreichend aufnahmebereit und das Individuum unterdrückt seinen Ausdruckswunsch nicht (Souza, 2007).
Sein Verständnis beschreibt Kreativität nicht als Originalität in vergleichenden oder sozialen Begriffen, sondern als
kreative, spontane Geste. Im Neurosenmodell muss das Leben gewissen Regeln folgen, ohne die es vermeintlich gar
nicht möglich wäre. Im Gegensatz dazu geht Winnicott davon aus, dass sich die seelische Gesundheit des Menschen
aus der Fähigkeit ergibt, zu spielen und Übergangsphänomene zu erleben. Mit diesem Begriff bezeichnet Winnicott die
Tatsache, dass alles objektiv und zugleich subjektiv wahrgenommen werden kann. Eine objektive Wahrnehmung
resultiert aus dem Überschneidungsbereich subjektiver Wahrnehmungsakte. In diesem Sinne bezeichnen wir als
Realität, was de facto eine geteilte Realität ist. Eine neurotische Sichtweise interpretiert die Welt gefühlsmäßig so, als
ob sie, wie sie sich darbietet, die einzig mögliche wäre, die einzig gangbare Form menschlichen Zusammenlebens.
Seine Einmaligkeit und kreativen Impulse zu unterdrücken, heißt in winnicottianischer Perspektive zu vergessen, dass
die Objekte Übergangscharakter besitzen, dass das Leben ein Übergangsphänomen ist und dass alles Objektive aus
der Gemeinsamkeit von Subjektlvitaren und einzigartigen Kreationen entspringt. In anderen Worten: Unterwürfigkeit und
übertriebene Anpassung gegenüber der Realität in ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit, sei es im persönlichen oder im
sozialen Umfeld, hieße sozusagen nicht spielen zu können oder zu vergessen, dass leben spielen bedeutet, und zwar
nicht als Realitarsfluchr, sondern als spezifische Konstitution der Wirklichkeit (Winnicott, 2006b). Wenn wir
verstehe6,dass der Sinn, den wir der Welt verleihen, nur auf einer Vereinbarung beruht, dann gewinnt das Spiel eine
neue Bedeutung: Wir begreifen und empfinden, dass das wirklich Wertvolle außerhalb sozialer Regeln erlebt und
erfahren wird und dass diese Regeln es begünstigen oder behindern können: die Affekte, die Beziehungen, die
Fähigkeit, sich von etwas berühren zu lassen oder das Leben zu teilen, gute Momente zu erleben beziehungsweise in
Winnicotts Begrifflichkeit, sich lebendig, aktiv und kreativ zu fühlen. Immer wenn wir ein einziges aktuelles Kriterium als
ausschließlichen Wertmaßstab nehmen - seien dies die Schwankungen der Börse, die Produktivität eines Landes oder
einer Firma, die von irgendeiner Doktrin aufgestellten moralischen Prinzipien - akzeptieren wir eine Art des Spielens als
einzig mögliche, so als ob sie nichts Spielerisches sei, sondern eine ernste Angelegenheit der Unterdrückung des
Lebens, ohne welche dieses undurchführbar wäre und im Desaster endete. Wenn jemand nicht zu spielen vermag,
dann stellt sich ihm sein Spiel als absolute Realität dar und nicht nur als eine angenommene Fantasie. Winnicott betont
jedoch nicht die Fantasie, sondern die kreativen Freiräume, Beziehungen und Wertvorstellungen der Welt auf der Basis
individueller und kollektiver Beiträge neu zu erfinden. Diese entspringen dem wahren Selbst, der spontanen Geste und
der Freude daran, auf kreative Weise das umzuformen, was sich uns zeigt Neurotisches Spielen hingegen gibt es bloß
als Ausweichen und Ablenkung oder als Überschreitung einer gültigen Norm, die dadurch nur bestätigt und erträglich
gemacht wird. So wie ich Winnicott verstehe, umfasst die Beziehung zu Normen als momentan gültigen Spielregeln
auch die Fähigkeit, diese umzuformen, ohne sie im eigentlichen Sinne zu überschreiten. Das psychische Modell dieses
Konzeptes stammt weder von der Neurose noch von der Perversion oder gar der Psychose. Historisch betrachtet,
gewöhnte sich die Psychoanalyse daran, die Normalität als neurotisch zu begreifen, indem sie von einigen Stellen in
Freuds Werk (Freud, 1937c) und vor allem von Lacans Konzept vorbestehender psychischer Strukturen ausging. Diese
Idee der neurotischen Normalität wurde sogar zum Allgemeingut und als unumstößliche kulturelle Tatsache akzeptiert.
Schließlich lehrt Freud in seinen Texten für den Fall, dass wir die neurotische Kontrolle nicht akzeptieren und uns ihr
nicht unterwerfen, uns dann nur noch der gefährliche Pfad in Richtung der Psychose und des Kontrollverlustes bleibt,
von den Trieben zum Niedergang gebracht. Im Kontrast zu dieser Vorstellung stellt Winnicott in seinem Text
»Klassifikation: Gibt es einen psychoanalytischen Beitrag zur psychiatrischen Klassifikation?« couragiert fest, dass »von
der Normalität nicht nur eine Stufenleiter bis in die Psychoneurose, sondern auch bis in die Psychose besteht « und
weiter: »Es kann sein, daß zwischen Normalität und Psychose eine engere Verbindung besteht als zwischen Normalität
und Psychoneurose, das heißt, in bestimmten Hinsichten. Zum Beispiel hat der Künstler eine Fähigkeit und den Mut,
mit primitiven Prozessen in Kontakt zu sein, die zu berühren der Psychoneurotiker nicht ertragen kann, und die
gesunden Leuten zu ihrer eigenen Verarmung vielleicht entgehen« (Winnicott, 2006a, S. 171f). Damit verhalf er der
Psychoanalyse u einem bis dato unbekannten Konzept von Freiheit: eine kreative Normalität, die in radikaler Opposition
zur Neurose steht, und zwar in ihren merapsychologischen, klinischen und existenziellen Aspekten sowie sozialen und
politischen Irnplikarionen. Wenn wir davon ausgehen, wie unter Psychoanalytikern üblich, dass Freuds Psychoanalyse
auf dem Neurosenmodell beruht, während die lacanianische jenem der Perversion folgt, dann können wir behaupten,
Winnicotts Psychoanalyse basiere auf dem Borderline-Modell oder, in anderen Worten, auf den psychoseartigen
Elementen nicht-psychotischer Patienten. Nicht selten merkt Winnicott die psychischen Vorteile psychotischer Elemente
gegenüber jenen der Neurose an. So können wir mit ihm fesrhalren, dass sich die Normalität oder besser die seelische
Gesundheit in zahlreichen Aspekten und abhängig von ihrem Ausmaß von der Neurose unterscheidet. Wir wollen zwei
wichtige Punkte in Winnicotts Konzeption unterstreichen: Erstens hält er die Kunst und generell den Kontakt mit
primitiveren seelischen Vorgängen für existenziell bereichernd, viel mehr als die neurotischen Abwehrformationen. Und
zweitens sind für ihn Neurose und Psychose keine festen Strukturen, sondern Extrempunkte einer Abstufung, die von
einem zum anderen geht. Auch wenn die psychoanalytische Tradition sich die Idee, die Normalität sei neurotisch, zu
eigen machte, hatte doch Freud selbst diese Abstufung und Mischung zwischen den neurotischen und psychotischen
Anteilen der seelischen Verfassung des Menschen anerkannt. Er sah darüber hinaus, dass sich gerade in dieser
Mischung Normalität und psychische Gesundheit antreffen lassen, viel mehr als in einer akzentuierteren Neurose. In
»Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose« (Frcud, 1924e) hält Freud fest: »Norrnal oder »gesund , heißen wir
ein Verhalten, welches bestimmte Züge beider Reaktionen vereinigt, die Realität so wenigverleugnet wie die Neurose,
sich aber dann wie die Psychose um ihre Abänderung bernuhr « (ebd., S. 365) Und weiter: »Der scharfe Unterschied
zwischen Neuro~nd Psychose wird aber dadurch abgeschwächt, daß es auch bei der Neurose an Versuchen nicht fehlt,
die unerwünschte Realität durch eine wunschgerechtere zu ersetzen « (ebd., S. 367). In »Die endliche und die
unendliche Analyse« (Freud, 1937c) stellt Freudfolgende Betrachtungen an: »[E]in solches Normal-Ich ist,wie die
Normalität überhaupt, eine Idealfiktion. Das abnorme, für unsere bsichten unbrauchbare Ich ist leider keine. Jeder
Normale ist eben nur durchschnittlich normal, sein Ich nähere sich dem des sychotikers in dem oder jenem Stück, in
größerem oder geringerem Ausmaß, und der Betrag der Entfernung von dem einen und der Annäherung an das andere
Ende der Reihe wird uns vorläufig ein Maß für die so unbestimmt gekennzeichnete Ichveranderungsein « (ebd., S. 80).
Im Gegensatz zum strukturellen Konzept Lacans räumt nicht nur Winnicott, sondern auch Freud selbst ein, dass es sich
bei der Psychose und der Neurose um zwei Extreme handelt mit einer Abstufung zwischen ihnen. So können wir
seelische Gesundheit als eine Mischung neurose- und psychoseartiger Spuren betrachten, als eine bestimmte
Borderline- oder Übergangskonzeption. Der große brasilianische Psychoanalytiker Nahman Armony unterbreitet,
entwickelt und vertieft diese Konzeption in seinen Büchern Borderline, uma outra normalidade [BorderLine, eine andere
Normalität] (Armony, 2010) und 0 homem transicional [Der Übergangsmensch ] (Armony, 2013).
6. Der Geist des Kapitalismus, der hobbesianische Liberalismus und die negative Freiheit Oder: Die
positive Freiheit und das Gefühl, lebendig zu sein
Der Geist des Kapitalismus (Weber, 1905: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus) unter der Ägide
einer negativen Freiheit (Berlin, 2006) bedarf einer Moral, die die kreative Freiheit seiner Mitglieder reguliert, indem sie
deren Werte in eine einzige und hegemoniale Form des Begehrens kanalisiert und materielles Wohlergehen mit Glück
verwechselt. Dieser Geist vereint sich mit dem hobbesianischen Liberalismus, der wie dargestellt von einer Auffassung
desMenschen als eines von den anderen isolierten Wesens ausgeht. In dieser Betrachtungsweisemuss der Mensch
von einem souveränen Gesetz oder einem Leviathan zurückgehalten werden, um den Nächsten in seinem Anderssein
zu respektieren. Seine Wünsche einer Normalität und einem Schema zu unterwerfen, sie zugunsten der Bequemlichkeit
zu kanalisieren im Austausch für Arbeit, Produktivität und Leistung, das ist zu einer erfolgreichen Formel sozialer
Kontrolle geworden. Als die Freud'sche Psychoanalyse von den revolutionären Bewegungen der I%Oer Jahre
aufgenommen wurde, kam ihr eine befreiende Rolle zu, vor allem wenn sie als Anklage der sexuellen Unterdrückung
als Ursache der nervösen Zivilisationskrankheit gelesen wurde (Freud, 1908d). Lacan spielte die Bedeutung der
sozialen Bewegungen Frankreichs vom Mai 1968 herunter, indem er sie als Ruf nach Auferlegung eines väterlichen
Ge;etzes deutete." Mit ihm scheint die Psychoanalyse unserer Tage die gegenteilige Rolle eingenommen zu haben,
indem sie gerade das Fehlen von Normalität anklagt. Sie tut so, als ob diese fehlende Normalität nicht nur für den
Zusammenbruch der viktorianischen neurotischen Moral, sondern auch für die Perversion der Gegenwart verantwortlich
wäre, und ignoriert die Bedeutung, welche die Vergötterung des Marktes als einzigen Wertes besitzt (Dufour, 2007). Bei
Winnicott stellt eine positive existenzielle Freiheit als Grundlage seiner Theorie das Ziel der psychoanalytischen Kur
dar. Gemeint ist nicht eine Freiheit des Handelns, die das Gemeinwohl oder das Zusammenleben außer Acht lässt,
sondern eine innere Freiheit, die sich auf kreative Weise zum Wohl der Gemein- schaft ausdrückt, indem sie einen
Beitrag für ein besseres kollektives und soziales Leben leistet. Während Freud das Es als »Heimat« der Triebe ansieht,
die das Ich von der Realität und seiner Zentrierung abziehen, sodass die Psychoanalyse einen Kompromiss zwischen
dem vom Es repräsentierten Lustprinzip und dem vom Ich und vom Über-Ich repräsentierten Realitätsprinzip suchen
muss, schlägt Winnicott seinerseits als klinischen Horizont den wahrhaften Ausdruck des Selbst vor und verortet
seelische Krankheit in der unkreativen Unterwerfung unter die Wertvorstellungen der Kultur. Es ist nicht so, dass es für
Winnicott etwa eine kreative Unterwerfung gäbe, aber er kennt eine kreative Umwandlung der kulturellen Ideale. Wir
könnten diesen klinischen Horizont in die Nähe Lacans rücken, insofern dieser die Unterordnung des Begehrens unter
das Begehren des (kleinen) anderen kritisiert. Für Lacan handelt es sich bei dem, was sich dem Begehren des (kleinen)
anderen gegenüberstellt, allerdings nicht um Kreativität, eine Transformation oder einen individuellen Beitrag, sondern
um eine vorangegangene, erfolgreiche Anpassung - sei sie mit einem Übertritt (in die symbolische Ordnung im Sinne
Lacans) verbunden oder nicht - des Begehrens des Subjektes an jenes des (großen) Anderen, an das Gesetz.
Vielleicht könnte man folgende Überlegung anstellen: Während Lacan es sich zur Aufgabe macht, das Begehren des
(kleinen) anderen in sich selbst zu bekämpfen, ist Winnicott mehr daran gelegen, dem Ausdruck des eigenen
Begehrens Wert beizumessen, was unvermeidlicher Weise zur Entwertung des Begehrens des anderen führt - ein
Unterschied in der Betonung, aber vor allem eine Veränderung der metapsychologischen Grundlegung und ihrer
Implikationen. Anstelle einer Reaktion auf die Deutungen des von einem Standpunkt angeblichen Wissens
sprechenden Analytikers schlägt die Behandlungstechnik Winnicotts vor, den Boden psychischen Vertrauens
wiederherzustellen, um die Erfahrung einer Beständigkeit des Seins zu begünstigen. Bei Winnicott nimmt die
Psychoanalyse wieder gestärkt und auf neuer Basis ihre Rolle als immanente Praxis aktiven Widerstandes gegenüber
einer Vereinheitlichung von Wertvorstellungen und Affekten ein.
Auf den ersten Blick scheint die Beziehung zwischen der Psychoanalyse und dem brasilianischen Volk (»povo «)
irgendwie Nonsens zu sein, etwas, das sich weder zusammenfügt noch leicht verbinden lässt, etwas Bizarres bezüglich
der Erlesenheit oder in anderer Weise ausgedrückt: Die Notwendigkeit einer Psychoanalyse scheint für ein Volk, das
seine Sexualität frei und offen und ohne Verdrängung auslebt und den Karneval als größte Ausdrucksform der
Triebrealisation besitzt - wobei die Triebe eben keine Probleme für uns sind -, wenig Sinn zu machen. In diese
Kategorie gehören auch die Herzlichkeit und Höflichkeit, unbezweifelbare Kennzeichen eines Volkes, das bekannt dafür
ist, einen Fremden und Reisenden besser aufzunehmen als einen der Ihrigen. Und es nimmt ihn nicht in irgendeiner
Weise auf, sondern immer mit Freude. Das wird an dem Lachen der Gesichter in jeder möglichen Hautfarbe erkennbar,
die ein Ergebnis der paradiesischen Mischung der Leiber ohne Sünde und Schuld sind. Körper, von denen man sagt,
sie seien von Peitschenschlägen, Ketten, Handschellen und anderen Folterinstrumenten gekennzeichnet gewesen.
Dies ist aber eine andere Sache. Man erlaube mir von Wundern (»milagres«) meines Landes und Volkes zu sprechen.
Die brasilianische Bevölkerung ist ein glückliches Volk und demonstriert dies geradezu mit seinen Füßen. Brasilien der
Sinhös, Peles, Cartolas, Noel Rosas, Garrinchas, Bete Carvalhos, Rivelinos, Ary Barrosos, Romarios, Ronaldos und
vieler anderer: Samba und Fußball, eine perfekte Mischung. Möglicherweise ist unsere Fußballtradition im Ausland
bekannter als der Samba, denn wir waren fünfmal Fußballweltmeister. Im Jahre 1958 gewannen wir in Stockholm das
erste Mal die Fußballweltmeisterschaft. Wir waren zu jenem Zeitpunkt und sind noch immer das erste Fußballteam, das
eine europäische Mannschaft auf europäischem Boden geschlagen hat. Ja, wir sind im wahrsten Sinne das Vaterland
der Fußballspieler. Auf meinen Reisen durch die Welt stellte ich immer wieder fest, dass man in Zusammenhang mi t
Brasilien und seiner Freude unausweichlich auch von Fußball spricht. Das ist berechtigt, denn der Fußball ist eine
nationale Leidenschaft, etwas, das man im Leib spürt, das jeden Brasilianer durchströmt, wie auch der Samba. Es ist
eine Kraft, die uns jeden Sonntag und auch an anderen Wochentagen zum heiligen Tempel des Fußballs trägt, in die
Stadien. Sei es durch das Fernsehen, sei es in loco, wir bewegen uns dort voller Begeisterung. Bei jedem Dribbling, bei
jedem Pass, bei jedem Abspiel, bei jedem Tor vibrieren wir in einer unerklärlichen Weise. Manchmal begeht eine
Minderheit wenig liebenswürdige Handlungen und dies kann einigen Streit in den Stadien und sogar auf den Straßen
auslösen. Aber dies ist ein anderes Thema. Wir können auch gut unsere Hände und Arme gebrauchen. Wir geben uns
die Hände in unserem religiösen Verhalten (»profissoes de fe«). Wir umarmen uns brüderlich in den Kirchen,
Kultzentren, während des Gottesdienstes, auf den Plätzen und in den Tempeln. Wir vermischen die Heiligen und die
»orixas «, die Trommel und die Gitarre, die Saite und die Kette, und beten alle gemeinsam ( an. Wo, mein Gott, ist dies
in dieser Welt möglich? Die Arme vereinigen sich ohne Vorurteile, alle mit Glauben und Glut im Herzen. Ein wirklicher
religiöser Synkretismus. Manchmal erheben sich jedoch einige (kleine) Stimmen mit der Absicht, diesen Typ des
Handelns anzuklagen. Da dies aber keine weitreichenden Konsequenzen hat, lassen wir dieses also problemlos
beiseite (»pra la «}, Wenn gewisse Engpässe und Probleme auftreten, erweist sich das brasilianische Volk im
Allgemeinen als sehr kreativ. Es erfindet innovative Lösungen für konflikthafte Situationen und für scheinbar unlösbare
Probleme. Es fällt ihm leicht, »sich zu drehen und wenden« (»se vira «), Die Menschen in Brasilien besitzen immer
»jeito «! (Geschick, Talent etc.) für alles, den berühmten »jeitinho brasileiro «. Ein gutes Beispiel dafür ist der Ausdruck
»para ingles ver«? (damit es der Engländer sehen kann, das heißt, sie wollen es dem Außenstehenden, dem Anderen
zeigen). Obwohl es keine offizielle Version über seinen Ursprung gibt, ist die des Philologen joäo Ribeiro (1860-1934)
die bekannteste, da sie sehr klar die Inkraftsetzung von etwas gemäß der äußeren Erscheinung, aber ohne völlige
Übereinstimmung damit hervorhebt, das heißt, dass man eine Situation tarnt, als ob alles in Ordnung wäre. Es ist wahr,
dass dies auch übertrieben werden kann, wie wir bei der Vorbereitung der Fußballweltmeisterschaft in Brasilien
beobachten können. Der» kleine« Fehler in der Planung des (Wieder- )Aufbaus der Stadien - in einer klaren und
objektiven Politik der Investierung in Bildung, Freizeit, Sport und Mobilität, durch die ein solches internationales Ereignis
entwickelt werden könnte - zeigt sich darin, dass strukturelle Veränderungen in den bestehenden Projekten, das heißt in
dem bereits errichteten Modell, vorgenommen werden, an die man zu Beginn der Planung dieses Ereignisses
überhaupt nicht gedacht hatte. So wird eine Reorganisation nach Art des »jeitinho brasileiro « durchgeführt - etwas, das
selbstverständlich von allen Brasilianern genutzt wird. Manchmal stellen einige Mitbürger dieses Prozedere, diese Form
der Zusammenhänge infrage, aber das ist nur jeder Fünfhundertste. Man kann stundenlang am Stück über die
verschiedenen Aspekte des brasilianischen Volkes schreiben. Es ist außerdem ein' freudiger Genuss, da es einige
angenehme Erinnerungen in mir hervorruft. Da hier aber wenig Platz zur Verfügung steht und der Zweck ein anderer ist,
möchte ich nur noch einen Punkt vorstellen: die Fähigkeit zu lachen. Das brasilianische Volk hat die Fähigkeit, über
seine Probleme zu lachen und Witze über das eigene Missgeschick sowie über das der Mitbürger zu machen, denn
schließlich ist GOtt ein Brasilianer und wird uns im letzten Moment retten. Wir sind ruhig, denn alles wird letztendlich gut
enden und zudem können wir spielen. Ich muss bekennen, dass mich diese Praktik schon oftmals gerettet hat. Über
mich selbst zu lachen, über meine eigenen Makel und Fähigkeiten, erscheint mir wie eine Erleichterung. Aber auch über
die anderen zu lachen, ist ein wesentlicher Teil dieses Themas. Dies ist bekanntlich sehr unterhaltsam und bewirkt,
dass wir uns näherkommen können. Da wir als Brasilianer unterhalb der Äquatorlinie leben, auf einer Erde, auf der alles
wächst, was man pflanzt, warum also nicht lachen? Außerdem besitzen wir die schönsten Frauen und die fesselndste
Musik und nicht zu vergessen, die paradiesischsten Landschaften, Strände, Gebirge, Landstriche etc. Das alles
wenigstens auf den ersten Blick. Man verzeihe mir diesen Exzess an Ironie, aber diese Ausdrucksweise ist auch ein
»jeito « des Brasilianers. Diese mythische Karikatur des brasilianischen Volkes findet man üblicherweise in kurzen
Unterhaltungen im Ausland und ich sage selbst in Brasilien. Ich erinnere mich an einen französischen Freund, der mir
kürzlich sagte, nachdem ich ihm von diesem Essay erzählt hatte, »dies ist der brasilianische Mythos«. Ich dachte sofort,
»ich stimme zu «. Die Menschen betrachten Brasilien und sein Volk im Allgemeinen aus der Sicht dieses anfänglichen
und konstituierenden Mythos. Dieser ist weder gänzlich wahr noch unwahr, denn man kann in ihm viele sehr lebendige
Elemente unserer brasilianischen Kultur vorfinden. Es existieren jedoch tiefer gehende Fragen, wenn wir uns
tatsächlich entscheiden, die Verfassung (» conscicuicäo« ) des brasilianischen Volkes zu erforschen, mit dem Ziel zu
enthüllen, was verborgen ist. Auf diese Weise ergibt sich die Möglichkeit einer neuen symbolischen und körperlichen
Ordnung, um in einem unabgeschlossenen Versuch die Verdrängung zu überwinden, die wir uns attribuieren. Es ist
überhaupt nicht leicht, zu diesen Fragen zu gelangen. Darcy Ribeiro (2008) hat bereits sehr klar darauf hingewiesen,
dass uns ein Verständnis für die Dimension der selbst erlebten Geschichte fehlte und noch fehlt beziehungsweise für
die sehr eigemümlichen Ereignisse sowie für das eigene Volk, das sie erlebte. Diese Aussage steht in völliger
Übereinstimmung mit seiner Position, wie sich das brasilianische Volk heraussgebildet hat. Es handelt sich um die in
Brasilien realisierte Mischung: Denn »wir sind hervorgegangen aus--d-e-m Zusammenfluss, aus dem Zusarnrnenprall,
aus der Verschmelzung«, um die Worte D. Ribeiros zu verwenden, »des portugiesischen Invasors mit den
waldbewohnenden und Landbau betreibenden Indigenen und den Afrikanern, von denen einige zur Sklaverei verführt
wurden« (Ribeiro, 2008, S. 17). Mischung (»mistura«) ist ein Schlüsselbegriff, um die Konstitution des brasilianischen
Volkes zu verstehen. Man kann dies auch im Denken Sergio Buarque de Holandas, in seinem Werk Ratzes do Brasil
(Wurzeln Brasiliens), beobachten. In der Auffassung Riberos können wir jedoch besser die funktionale Disposition jeder
einzelnen Person in diesem historischen Prozess verstehen. Dies führte ihn zu der Feststellung, dass das Ergebnis
einer solchen Konstitution eine einzigartige nationale Erhnie ist, differenziert durch die sich bildenden Matrizen und
reguliert durch einen einzigartigen kulturellen Synkretismus, der die kulturelle Vielfalt, die am Anfang dieses Prozesses
bestand, wiederspiegelt. In diesem Sinne scheint es, dass Gilberto Freyre den durch die Kolonisierung geprägten
Charakter des Brasilianers infrage stellt. In seinem Werk Casa Grande e senzala (1933,2003) sehen wir, dass Freyre
versucht, auf eine neue Konzeptionsweise die Erfahrung der Gewalt, durch die wir gebildet wurden, zu verteidigen. Die
Autokolonisation (» aucocolonizacäo« ) ist ein von ihm verwendeter Term inus, mit dem er zum Ausdruck bringen will,
dass sich die Art und Weise, die der Brasilianer fand, um diese Gewalt zu überwinden, in anderen Begriffen bewegt - in
sehr charakteristischen, wie man beiläufig sagt, und extrem mehrdeutigen. Unsere Sprache, die von unserem
Ausbeuter stammt, ist außerdem ein gutes Beispiel dafür. Wir eigneten uns die portugiesische Sprache an, ihre
grammatische Struktur und einen Großteil ihres Wortschatzes, der durch eine komplett andere den indigenen und
afrikanischen Sprachen und Dialekten entstammenden Lexik ergänzt wurde und den man auch nach besonders
eigentümlichen grammatischen Regeln verwendete. Dergestalt ist schließlich unsere Sprache eine andere, eben das
brasilianische Portugiesisch oder wie es die Vertreter der Avantgarde sagen, einfach die »brasilianische« Sprache. Das
Aushalten dieser Ambiguität beziehungsweise dieses unsicheren Lebens, das weder den auferlegten Prozess der
Kolonisation verneint noch bestätigt, reflektiert ein wenig die Art und Weise, wie das brasilianische Volk mit der gegen
sie gerichteten Gewalt fertig wurde und wird, oftmals eben diese gleichermaßen reproduzierend. Einen signifikanten
Teil dessen kann man im verschleierten Vorurteil gegenüber Afrobrasilianern (»negros«), Frauen und Homosexuellen
bei so vielen anderen Mitbürgern beobachten. Die Mühe ist es wert, diesen Sachverhalt ein anderes Mal ausführlich zu
besprechen. Was das physische Brasilien betrifft, das Gilberto das» richtige Brasilien« (»Brasil direto «] nannte
beziehungsweise das Brasilien der tropischen Urwälder, der sommerlichen Meere, der Wasserfälle, des
Mondenscheins im Serräo, das von nationalen Künstlern so sehr in ihren Liedern und Gedichten gepriesen wurde, so
kommt hier diese reale Brutalität wie ein fundamentales Element hinzu oder um es anders zu sagen: als
konstituierendes Element des Daseins des brasilianischen Volkes. Diese Denkrichtung findet sich auch bei D. Ribeiro.
In seinem Buch 0povo brasileiro (Das brasilianische Volk) heißt es nämlich, die zugrunde liegende ethnische Einheit
sei keinesfalls uniform, und zwar in dem Sinne, dass unterschiedliche Kräfte auf sie eingewirkt haben. Zudem ist die
Geografie Brasiliens unermesslich und sehr vielfältig und sie erfordert eine besondere regionale Anpassung durch die
Brasilianer, was wir die ökologische Macht (»forc,:a«) nennen können. Diese Macht lässt sich, so D. Ribeiro, in zwei
weitere Bereiche aufteilen, nämlich in den der Ökonomie, die sich gemäß der Eigenart und der typischen Lebensweise
jeder Region unterscheidet, und der Migration, die in diese strömende soziale Masse eintrat und einen Beitrag mit
neuen menschlichen Kontingenten lieferte. Diese ganzen spannungsreichen Kräfte erlauben schließlich keine
Einheitlichkeit und verhindern oftmals das Verständnis dafür, was das brasilianische Volk ausmacht. All diese
Gedanken erlauben uns sowohl den oben angeführten brasilianischen Mythos als auch das portugiesische und
allgemein das europäische Verständnis, das sie bezüglich des brasilianischen Volkes haben, infrage zu stellen. Da die
Besonderheiten von solch tiefem Format sind, übersteigern sie völlig das eurozentrische Verständnis für die Neuheit
der »Rassen« - und Kulturmischung. Doch gerade diese Mischungen könnten einen großen Beitrag Brasiliens für die
Welt bedeuten. Nichtsdestotrotz handelt dieser Essay weder von der Identität des brasilianischen Volkes, noch bestätigt
er, dass eine solche Identat wirklich existiert. Die hier angestellten Betrachtungen intendieren vor allem, den Kontext mit
einer wichtigen Diskussion, die gegenwärtig stark an Bedeutung gewinnt, herzustellen. Es geht nämlich darum, wie die
Psychoanalyse grosso modo in Brasilien und von den Brasilianern rezipiert wurde. So werden wir uns nicht mit den
Bedingungen ihres Erscheinens und ihrer Entwicklung in Europa aufhalten, sondern wir werden versuchen Fragen
aufzuzeigen, die wir in dem weiteren Verwirklichungsprozess eines Dokumentarfilmes über die Psychoanalyse in
Brasilien bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt für wichtiger erachten. Bevor ich Einzelheiten in Bezug auf die
Verwicklungen dieser Filmproduktion schildere, will ich noch einige kleine Gedanken äußern, die uns zu den
Hauptfragestellungen geführt und schließlich zu diesem in Brasilien noch nicht veröffentlichten Projekt ermuntert haben.
Einige brasilianische Autoren haben schon diese und andere Fragen bezüglich der Geschichte der Psychoanalyse in
Brasilien diskutiert. Viele bereits existierende Produktionen dienten uns zu Beginn als Material für dieses filmische
Forschungsprojekr. In diesem Sinne halten wir es für sinnvoll mit den Betrachtungen der französischen
Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesco über die Bedingungen der Durchsetzung der Psychoanalyse in einem Land
zu beginnen. Gemäß Roudinesco (1999) benötigt die Psychoanalyse hierfür wenigstens zwei wichtige
Voraussetzungen: erstens eine nicht totalitäre Gesellschaft, einen Rechtsstaat, der eine freie Assoziation des Bürgers
beziehungsweise der Worte garantieren kann, und zweitens die Substituierung der religiös geprägten Interpretationen
der »Verrücktheit « (»loucura«) durch eine psychiatrische Deutung. Diese beiden Bedingungen versuchen einem
gewissen Rigorismus zu folgen, um die Formen des Eindringens der Psychoanalyse in andere, nicht deutschsprachige
Kulturen aufzuhellen und zugleich ein Muster dafür zu bilden, wie ihre Entwicklung in einer neuen Kultur gemessen
werden kann. Wir müssen uns jedoch fragen, in welchem Maß diese Voraussetzungen als Parameter der Verifizierung
dienen können, damit wir uns in letzter Instanz Gewissheit verschaffen können - diese strebt man doch an, wenn man
Wissenschaft betreibt -, nämlich über die Wahrscheinlichkeit der Psychoanalysen in dieser Welt. Aber ist es möglich zu
verstehen, das gemäß der beiden oben genannten Bedingungen die Psychoanalyse in Brasilien existiert
beziehungsweise bereits existierte? Wenn wir zum Beispiel das Kriterium betrachten, das eine Substituierung des
Magisch-Religiösen durch einen psychiatrischen Bereich für die Interpretation der» Verrücktheit« (» loucura« ) verlangt,
gehen wir das Risiko folgender Behauptung ein: In Brasilien ist ein solcher Austausch niemals deutlich sichtbar und in
einer klaren Form geschehen, selbst in den heutigen Zeiten nicht, in denen die Wissenschaft zroße Fortschritte
zernacht und einen großen Raum in der Kultur durch die Kommunikationsmedien erlangt hat. Das bedeutet, die
Psychiatrie, die sich im vorigen Jahrhundert durch Juliano Moreira in Brasilien als eine unabhängige klinische Disziplin
etabliert hat, ist dennoch nicht mit der Aufgabe der religiösen Praktiken gleichzusetzen - die im Allgemeinen vom
Synkretismus durchdrungen sind -, um die wissenschaftlichen Erklärungen als wahrscheinlich anzunehmen. Auch hier
zeigt sich wieder eine besondere Art der Mischung, in der sich der Brasilianer aller Formen der Erklärung bedient, um
irgendwie sein Leiden oder das seiner Nächsten zu beenden oder wenigstens abzumildern. Die Menschen in Brasilien
sind nämlich in religiöses, mystisches und spirituelles Volk (Boff, 2014). An diesem Punkt müssen wir den
synkretistischen Charakter des brasilianischen Volkes hervorheben der nur die unterschiedlichsten
Glaubensrichtungen, sondern auch die verschjederisten und oftmals antagonistischen sozialen Positionen miteinander
verbindet, mit dem Ziel einen Glauben (»cren<;:a«) zu bilden, der zur gleichen Zeit geteilt, gemischt und kombiniert ist
(Dunker, 2008). Mit anderen Worten, das brasilianische Volk scheint sich der Wissenschaft in den vorschriftsmäßigen
Proportionen zu bedienen, wie es sich der Religionen bedient, denn die Wissenschaft verlangt auch Glauben (»fe«). Die
zweite Bedingung bezüglich der Notwendigkeit eines Rechtsstaates, der die freie Zirkulation der Worte garantiere,
scheint in ihrer Anwendung auf das brasilianische Volk ebenfalls etwas kompliziert zu sein, da im vorigen Jahrhundert
viele politische Dispute und Spannungen durch die Institutionen der Macht in Brasilien eröffnet wurden. Solche
Momente, in denen der Kongress geschlossen die Stimmen manchmal endgültig - zum Schweigen gebracht wurden,
diente der Demütigung eines Volkes, das Geringschätzung gewohnt ist. Wenn wir also diese zweite Bedingung als
zwingend anerkennen, gehen wir wiederum das Risiko ein, in Brasilien kein günstiges Terrain für die Entstehung der
Psychoanalyse vorzufinden. So kann man das Entstehen solchen Wissens im Laufe von mehr als einem Jahrhundert
dennoch nicht verifizieren. Es ist nicht gedankenlos, wenn uns Professor Dunker (2008) in seiner unermüdlichen Suche
nach einem Verständnis der psychoanalytischen Praxis in Brasilien, die er die Archäologie der Klinik nennt, die folgende
pertinenre Frage stellt: »Warum und wo scheint die Psychoanalyse [gemäß dieser Kriterien] zweifelhaft zu sein«, und
warum »hat [sie] sich dennoc so stark verbreitet?« Dieser Frage beabsichigen wir in der Präsentation des
kinematografischen Projektes zu folgen. Sie zeigt die Richtung, die die Psyche- analyse in ihrer besonderen
brasilianischen Aneignung genommen hat, und somit die unausweichlichen Spannungen auf, die darin konzentriert sind
und im gesamten Prozess der Filmdokumentation sichtbar wurden. In der Behandlung des Themas »die Psychoanalyse
und das brasilianische Volk« können viele Wege gewählt werden. Der Weg, den wir beschreiten wollen, begünstigt in
gewisser Weise die Differenzen zwischen der europäischen und brasilianischen Kultur, denn die klare Zielrichtung
besteht in einem nächsten Schritt darin, den Vergleich zugunsten des Prozesses der Konstitution des brasilianischen
Volkes zu vernachlässigen. Aus dieser Perspektive heraus stellen wir folgende Frage: Wie wurde die Psychoanalyse
von den Brasilianern im Laufe von mehr als einem Jahrhundert» aufgenommen «, »inrerpretierr « und» praktiziert«? Mit
anderen Worten: Es geht mir darum zu erforschen, wie eine Wissenschaft – geschmiedet von den gültigen
wissenschaftlichen Parametern und dem Wunsch SigmundFreuds, konstituiert in einer viktorianischen Kultur am Ende
des 19.Jahrhunderts mit all ihren puritanischen Eigenheiten und in Verbindung mit der Präsenz einer gefestigten
patriarchalen Autorität - ihren Ort in einer durch die »Mächtigen« vergewaltigten und von »Waisen« bevölkerten
Gesellschaft finden konnte? Von hier nehmen viele weitere, zum Teil entscheidende Fragen ihren Ausgang, um diesen
charakteristischen Prozess der Psychoanalyse in Brasilien zu verstehen. Hieraus wurde das kinematografische Projekt
Hestorias da psicandlise geboren, dessen Forschungsziel darin besteht, das Wort den Brasilianern selbst zu
überlassen,die Teil dieses Prozesses waren (oder noch sind) wie oftmals auch ihre ausländischen Brüder, die diesen
historischen Prozess begleiten oder fortsetzen. Was in letzter Instanz damit beabsichtigt wird, ist die Erforschung des
brasilianischen »jeito des Psychoanalysierens«. Unterdessen dürften sich einige Leser gefragt haben, warum es
»Hestorias « und nicht »Historias« heißt? Wir prägten den Terminus »Hestorias «, um die doppelte Dimension, die wir
mit diesem filmischen Projekt bezwecken, zum Ausdruck zu bringen, nämlich die Geschichte (» historia «) zu
diskutieren und darzustellen. Vorerst geschieht dies als eine systematische Studie der vergangenen Ereignisse sowie
als oral übermittelte Geschichten (»estorias«3), die sich ständig in einer charakteristischen und sich erneuernden Form
wiederholen und vielfältige Realitäten konstruieren. Außerdem liegt die Hervorhebung auf dem »Es «, das hier auf das
neutraledeutsche Pronomen »es«4 Bezug nimmt (das Freud gebrauchte, um das Unbewusste zu bezeichnen), was
dem neuen Terminus inen nz besonderen Charme verleiht. Es soll auch daran erinnert werden, dass die Mehrheit der
Linguisten der portugiesischen Sprache nur den Gebrauch des Wortes »hisrorla« empfiehlt.Dennoch Stützt sich der
Terminus »estoria «, der von joäo Ribeiro imJahre 1919geschaffen und durch Guimaraes Rosa im Jahre 1962
unsterblich gemacht wurde,auf einen Brasilianismus, den wir wieder erneuern wollen. Zum jetzigen Zeitpunkt unserer
kinematografischen Erfahrung besteht dieses Projekt aus drei Filmen mittlerer Länge Episoden), die zum Ziel eine
Untersuchung,vor allem der Eigentümlichkeiten der psychoanalytischen Praktik und Lektüre in Brasilien, haben werden.
In Anbetracht der schon genannten Fragestellungen wird versucht, die Zeugnisse der involvierten Personen zu hören
und in Umlauf zu bringen, und zwar in einem gewissen Rahmen des historischen Prozesses. Zur gleichen Zeit kann
man die Frage stellen: Gibt es eine brasilianische Psychoanalyse oder haben wir nur die europäischen Autoren
reproduziert? Ausgehend von solchen Fragen können wir bereits sehr interessante Antworten beobachten und im
Hinblick auf gewisse Strukturen des psychoanalytischen Denkens in Brasilien, die in gewisser Weise eine brasilianische
psychoanalytische Erfahrung signalisieren, sind diese manchmal sogar konflikrhafr. In1 Denken von Freyre zum
Beispiel finden wir eine bedeutende Manifestation dieser brasilianischen Eigentümlichkeit. Er stellt nämlich fest, dass
die brasilianische Psychoanalyse eine instinktive Psychoanalyse (»psicanalise instintiva «5) ist. Bevor Gegenstimmen
sich entschließen, jeglichen Typ von Kritik auf den Begriff »Instinktiv« abzufeuern, ist es notwendig, den großen
Stellenwert, den dieser Terminus in unserer brasilianischen Erfahrung einnimmt, zu verstehen. Der Begriff »Insrinkt «
(»instinto«) ist im Brasilianischen überfüllt mit Bedeutungen, die über eine Exklusivität biologischer Prägung
hinauslaufen. So erinnert Professor Andre Carone in seinem Interview zu Recht daran, dass Machado de Assiss sich
selbst dieses Begriffes in einer weiten und charakteristischen Weise in einem Essay mit dem Titel» Instinto de
nacionalidade« (»Nationalinstinkt «) bediente. Und mehr von dieser eigentümlichen Erfahrung der Aneignung können
wir den Worten Paulo Cesar de Souzas entnehmen, auch aus einem der schon realisierten Interviews für diese
Dokumentation. Hier stellt er folgende Behauptung auf: »Trieb (pulsao) haben die Engel, mein lieber, wir haben
Insrinkte « (zitiert aus seinem einem Freund gewidmeten Buch). Es ist evident, dass dieser Typ der Aneignung nicht die
anderen ausschließt, die sich auf das gleiche Objekt beziehen, zum Beispiel die Verwendung des Begriffes» pulsäo «7
(Trieb), der eine immense Verbreitung in der brasilianischen psychoanalytischen Tradition besitzt. Auf dieser Ebene der
Fragen versuchen wir in der ersten Episode »Leser Freuds « (»Leitores de Freud «), eine interessante Biskussion
bezüglich der Übersetzungen der Werke Freuds ins Brasilianische und die Konsequenzen einer solchen Lektüre sowie
die Art und Weise darzustellen, wie die Brasilianer das Freud'sche Denken in Anbetracht der großen durch
Synkretismus gemischten kulturellen Herausforderungen in Kunst und Wissenschaft verstanden. Einige
Psychoanalytiker und Spezialisten haben sich bereits geäußert und bereicherten mit ihren Aussagen die Debatte.
Leitores de Freud wurde im Juni 2013 aufgenommen und dauert durchschnittlich 50 Minuten. Die anderen beiden
Episoden sind bereits in Arbeit und beinhalten die Frage, in welcher Beziehung die Psychoanalyse zu den Künsten in
Brasilien steht, sowie ihre Rolle in den dunklen Kapiteln unserer politischen Geschichte, die von Gewalt und Diktaturen
durchdrungen war. Ich möchte diesen kurzen Essay mit einer Anspielung auf den Denker und auch Psychoanalytiker
Freyre beenden, der hier bereits oftmals zitiert wurde und der in der brasilianischen Psychoanalyse immer eine Art
großer Spionage (»espionagem «) sah. Solchgearteter Spionage, deren Rolle in einer Unbequemlichkeit und in einer
Beunruhigung liegt, die ausgehend von dem, was er Autokolonisation (»autocolonizas:ao«) genannt hat, die
Konstruktion einer neuen einzigartigen und pluralen Erfahrung innerhalb der geografischen und vielfältigen kulturellen
Dimensionen des brasilianischen Volkes erlaubt. In diesem Rahmen beabsichtigt dieses kinematografische Projekt
anhand der allgemeinen Voraussetzungen unseres Volkes vorzugehen, um den psychoanalytischen Prozess in
Brasilien zu verstehen. Wir sind der Meinung, dass die Rezeption der Psychoanalyse durch eine Kultur immer mit
Risiken und großen Transformationen verbunden ist, sodass die Psychoanalyse scheinbar immer stirbt, sobald sie in
eine neue Kultur eintritt und wieder aufersteht im Rahmen einer neuen Sprache, einer anderen Psychoanalyse. Oder
derselben? Aber dies ist eine andere »Iiestoria «.