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Geschichte

Ende des Osmanischen Reichs

Sendemanuskript

Zitator 3:
„An der feuchten Wand, von der die Tünche bröckelte, ein unbeholfener Öldruck
des Sultans und ein paar gerahmte Koransprüche. Fast alle Fensterscheiben
zerbrochen und mit Spannleiste verklebt. Die schmutzstarrende Holzdiele
vollgespuckt und mit Zigarettenresten übersät. …“ – Beschreibung einer
Amtsstube in: Franz Werfel – „Die 40 Tage des Mussa Dagh“.

Zitator 1:
„Seit einem halben Jahr bin ich Tag und Nacht in fast allen denkbaren Lagen des
Lebens mit den Türken zusammen… ich habe keine Gelegenheit versäumt, mich
zu orientieren… Von Tag zu Tag ist mein Pessimismus in Bezug auf die Zukunft
der Türkei gewachsen.“ – Brief des bayerischen Majors Otto v. Lossow an seine
Mutter, Juli 1913.

Erzählerin:
Zwei Beschreibungen von Verfall, Niedergang, Staatsversagen - Beschreibungen
des „Osmanischen Reiches“, aus dessen Trümmern nach dem 1. Weltkrieg die
Türkei entstehen wird. In beiden Zitaten geht es um die „Endzeit“ dieses
Vielvölker-Imperiums. Sowohl der Romanautor Werfel wie auch der Offizier
glauben: mit dem Osmanischen Reich ist kein Staat mehr zu machen – eine
Meinung, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert weit verbreitet ist.
Heutige Wissenschaftler stellen diese Herablassung jedoch in einen größeren
geschichtlichen Zusammenhang. So spricht der Orientalist Professor Maurus
Reinkowski von der Universität Freiburg von einem sich wandelnden Selbst-Bild
Europas ab dem frühen 19. Jahrhundert. Von da an habe sich der Kontinent
stärker abgegrenzt von Kulturen und Völkern an seinen Rändern.

O-Ton 2: (Reinkowski 06/7) – „Davon war natürlich auch das osmanische Reich
betroffen. Und in solcher Weise wurde auch das Bild des Osmanischen Reiches
immer düsterer eingefärbt. Zugleich natürlich sahen die Europäer, dass sie
weitaus erfolgreicher waren, auf politischer Ebene, militärischer Ebene,
wirtschaftlicher Ebene. So dass das Osmanische Reich als ernsthafter Gegner
nicht mehr betrachtet wurde. Und es gibt natürlich noch eine dritte Komponente,
die darin besteht, dass das Osmanische Reich zu seiner Zeit natürlich das
bestimmende islamische Reich war. Also in einem religiösen Bild“

Erzählerin:
Diese ‚Vogelperspektive’ auf langfristige Entwicklungen in Orient wie Okzident
hat sich in der breiten Öffentlichkeit jedoch bis heute wenig durchgesetzt. Dort
gilt für das Osmanische Reich der Ära vor dem Ersten Weltkrieg immer noch,
was der deutsche Botschafter Rudolf Nadolny in einem Rundfunk-Vortrag im Jahr
1930 skizzierte:
O-Ton 3: (Nadolny) – „Das alte Osmanische Reich mit seinen ausgedehnten,
vom Schwarzen bis zum Roten Meere und zum Indischen Ozean reichenden
Besitzungen, die an der Peripherie kaum noch der Gewalt des Sultans
unterstanden, mit seinen mannigfaltigen Völkerschaften und bei seiner
notorischen militärischen und politischen Schwäche, die ihm den bekannten
Namen des „Kranken Mannes am Bosporus“ eintrugen, war nur noch ein Objekt
in der großen Politik der europäischen Mächte.“

Erzählerin:
Das Bild der industriellen Rückständigkeit, der Muezzine auf Minaretten, der
Bakschisch fordernden Fes-Träger ist nicht ganz falsch - aber einseitig. Was die
meisten Beobachter aus dem Westen nämlich übersehen ist, dass die
Machthaber in der Hauptstadt Istanbul, vormals Konstantinopel, die eigene
Schwäche erkennen. Maurus Reinkowski:

O-Ton 5: (Reinkowski - Niedergang) - Im Osmanischen Reich selbst beginnt


eine solche Diskussion von Niedergang bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts.
Also: schon ab diesem Zeitraum gab es Beobachter im Osmanischen Reich
selbst, die von einem Niedergang sprachen, die also die Zeit des 17. und des 18.
Jahrhunderts mit der glorreichen Zeit des Osmanischen Reichs im 15.
Jahrhundert, also unter Mehmed „Fatih“, dem Eroberer von Konstantinopel oder
mit der Zeit von „Suleyman dem Prächtigen“ im 16. Jahrhundert verglichen.

Erzählerin:
Vorbei die Zeiten, als das Osmanische Reich ganz Europa in Atem hält, weil
dessen Armeen unter dem dröhnenden Spiel der Janitscharen-Kapellen Wien und
Budapest belagern und die Staaten des Kontinents zu erobern drohen. Geblieben
sind aus dieser Epoche der Kaffee als Importgetränk – oder mythisch verbrämte
Begriffe wie „Serail“ oder „Sultan“.

Zitator 2:
„Sultan – arabisch: „Herrschaft“, „Herrscher“. In den islamischen Staaten wird
mit diesem Titel seit dem 10. Jahrhundert der Inhaber der Regierungsgewalt
bezeichnet. Ein Sultan beansprucht nicht nur die weltliche, sondern auch die
religiöse Autorität: er ist zugleich oberster Beschützer der Heiligen Stätten und
des Glaubens. Im Osmanischen Reich bedeutet der Rang „Sultan“ ab dem 15.
Jahrhundert soviel wie „Kaiser“.

Erzählerin:
Anfang des 19. Jahrhunderts ist das Osmanische Reich immer noch riesig: fast
der gesamte Balkan, Irak, Syrien, Ägypten, die arabische Halbinsel, große Teile
Nordafrikas, Zypern und Kreta stehen unter der Oberhoheit des Sultans.
Allerdings werden viele weit von Istanbul entfernt liegende Gebiete oft nicht mit
Truppen in großer Zahl kontrolliert, sondern man begnügt sich mit jährlichen
Steuerzahlungen der Regionalfürsten und Stammesführer. Dieses
;dezentralisierte Herrschaftssystem’ habe sich historisch bewährt, meint der
Orientalist Professor Reinkowski:

O-Ton 7: (Reinkowski – Herrschaft & Reform) – „Es hatte etwas zu tun mit einer
langen Erfahrung, wie man mit einem multi-ethnischen Imperium umgeht. Also:
der Versuch eines Interessenausgleiches, der Versuch, verschiedenste Regionen,
die sehr unterschiedlicher Natur waren, zusammen zu behalten. Und diese Politik
der Osmanen, die man vielleicht auch als eine sehr geschickte Herrschaftspolitik
beschreiben kann, wird natürlich durch diese Reformmaßnahmen bis zu einem
gewissen Grade konterkariert.“

Erzählerin:
Dies bedeutet aber auch: das Osmanische Reich kann die Modernisierung, durch
die Westeuropas Staaten Militär, Bürokratie und Wirtschaft effektiver machen im
19. Jahrhundert nicht einfach kopieren. Das würde das Gleichgewicht des
Gebildes aushebeln. Doch gibt es, gleichwohl, viele kleine Maßnahmen, die
westlichen Vorbildern geschuldet sind:

Zitator 2:
1818: Abschaffung des Frondiensts; 1827 erste Reformen beim Militär; 1830:
erstmals werden Studenten ins Ausland geschickt; November 1839: Sultan
Abdülmecit veröffentlicht ein Handschreiben – es läutet das Zeitalter der
„Tanzimat-Reformen“ ein.
Eine Verfassung garantiert erstmals Sicherheit des Lebens, Ehre und Privat-
Eigentum. Eine öffentliche Rechsprechung wird eingeführt, die Religionen
werden gleichgestellt.

Erzählerin:
Die Reformversuche genügen jedoch nicht, um mit Briten, Franzosen oder
Deutschen Schritt zu halten. Wie andere Nationen – zum Beispiel China – muss
der Sultan feststellen: Europa enteilt technisch, wirtschaftlich, politisch immer
weiter. Orientalisten erklären sich den „relativen Niedergang“ heute anders als
früher. Statt auf den Einfluss des Harems oder schlechter Ratgeber zu
verweisen, deutet Professor Reinkowski auf die Ökonomie:

O-Ton 6: (Reinkowski – Wirtschaft) - „So war es eben ein Wirtschaftssystem,


das vor allem auf die Versorgung von Istanbul und der gesamten Bevölkerung
abzielte und weniger auf einen wirtschaftlichen Erfolg. Eine andere Beobachtung,
die man gemacht war die, dass während der Kriegszeiten die gesamte Wirtschaft
auf eine Kriegswirtschaft umstellte. Also: den Produzenten …die Produktion von
Gütern zu sehr geringen Preisen abverlangte. Das ruinierte natürlich die
Produzenten, das ruinierte die Wirtschaft.“

Erzählerin:
Gleichwohl ist über das ganze 19. Jahrhundert zu beobachten: die europäischen
Großmächte behalten das Osmanische Reich, ungeachtet seiner Schwächen,
stets im Blick. Um es in der Sprache jener Jahre auszudrücken: man diskutiert
die „Orientalische Frage“. Sie lautet, verkürzt:

Zitator 2:
Ist es für Europa besser, wenn das Osmanische Reich fortbesteht, oder wenn es
gänzlich zerfällt?

Erzählerin:
Die Antwort gibt der „Friede von Paris“, der 1856 den von Russland provozierten
„Krimkrieg“ beendet. Russlands Zar Nikolaus der Erste – ihm wird die
Formulierung vom „kranken Mann am Bosporus“ zugeschrieben – will einen
freien Zugang zum Mittelmeer – Russlands beste Häfen liegen im Schwarzen
Meer, Schiffe können nur mit Zustimmung der osmanischen Behörden die
Meerengen des Bosporus und der Dardanellen durchfahren. Doch der Feldzug
des Zaren wird von einer französisch-britisch-osmanischen Allianz auf der Krim
blutig erstickt. In Paris garantieren die Europäer dem Sultan die Unversehrtheit
seines Staates, was auch bedeutet: das Osmanische Reich wird anerkannt. Das
sei ein Kompromiss gewesen, meint Professor Reinkowski:

O-Ton 7: (Reinkowski 008/9) - „Das Interesse Russlands war natürlich, über die
Kontrolle von Istanbul auch direkte Kontrolle zum Zugang zum Mittelmeer zu er-
halten. Das Interesse etwa Englands war: über die Kontrolle der Kerngebiete des
Osmanischen Reiches seine strategischen Wege nach Indien vollkommen zu
sichern. Der Konsens, der aus diesem Patt entstand war der, dass man keiner
der europäischen Mächte die Kontrolle über das Osmanische Reich zugestehen
wollte, dass aber dennoch an den Rändern … Einflussbereiche entstehen
konnten.“

Erzählerin:
In der 2.Hälfte des 19. Jahrhunderts wird das Osmanische Reich „europäischer“:
westliche Kleidung, westliches Mobiliar, westliche Baustile kommen in Mode;
Istanbul erhält eine erste Telegrafen-Leitung Richtung Europa. Auch gibt der
Sultan den mittelalterlichen Topkapi-Palast auf und bezieht den neuen
Dolmabahce-Palast. Doch ist das – im Nachhinein betrachtet – kaum mehr als
Fassade. Am Verfall der Staatsautorität an den ‚Rändern’ des Reiches ändert die
Verwestlichung nämlich nichts:

Zitator 2:
1857 rebellieren christliche Bauern in Bosnien und der Herzegowina. 1866 wird
der bisherige Statthalter von Ägypten zum „Khedive“ – Vizekönig erhoben –
Anzeichen steigender Eigenständigkeit. 1867 zieht der Sultan seine Truppen aus
Serbien zurück. 1873 erhält Ägypten das Recht, eigene Auslandsanleihen
aufzunehmen. 1875 ist der Osmanische Staat bankrott. Fortan kontrolliert eine
Schuldenverwaltung mit französischen und britischen Banken an der Spitze die
Finanzen; die Steuern fließen großteils in den ausländischen Schuldendienst.

Erzählerin:
Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts schließt der Sultan zunehmend enge
Freundschaft mit Deutschland. Der „gute Draht“ von Istanbul nach Berlin hat
zwar Tradition: Feldmarschall von Moltke zum Beispiel hat als junger Offizier von
1835 bis ’39 am Bosporus die Sultansarmee beraten. Diesmal aber wird der
Draht rasch immer dicker. Denn aus osmanischer Sicht hat das Deutsche Reich
als einzige europäische Großmacht keine direkten Interessen in der Krisenregion
Balkan, wo das Sultan-Reich am schnellsten bröckelt. Reichskanzler Otto von
Bismarck nutzt das aus: 1878, nach einem weiteren Krieg des Sultans gegen
Russland, leitet er beim „Berliner Kongress“ die Verhandlungen zwischen
Istanbul und den Großmächten als ‚ehrlicher Makler’. Maurus Reinkowski zweifelt
jedoch am Wahrheitsgehalt der berühmten Formulierung:

O-Ton 9: (Reinkowski – Berliner Kongress) - „Faktisch war es so, dass das


Osmanische Reich keinen Verbündeten hatte auf dem Berliner Kongress. … Es
musste größte territoriale Zugeständnisse machen, also nicht der Verlust von
Zypern an Großbritannien, sondern auch der Verlust großer Teile Südost-
Europas. Und auch eine Behandlung …die nicht einmal formal einer
Gleichberechtigung entsprach.“
Erzählerin:
Aus deutscher Sicht ist der Sultan nämlich kaum mehr als ein Mittel zum Zweck.
Und der heißt: keiner anderen Nation in Europa mehr Macht zu verschaffen – vor
allem nicht Frankreich. Das zeigt ein geheimes Positionspapier über die Ziele
deutscher Außenpolitik, das „Kissinger Diktat“. Bismarck verfasst es 1877
während eines Kuraufenthalts in Bad Kissingen – Zitat:

Zitator 1:
„Wenn ich arbeitsfähig wäre, könnte ich das Bild vervollständigen, welches mir
vorschwebt: nicht das irgendeines Ländererwerbes, sondern das einer
politischen Gesamtsituation, in welcher alle Mächte außer Frankreich uns
bedürfen und von Koalitionen gegen uns durch ihre Beziehungen zueinander
nach Möglichkeit abgehalten werden.“

Erzählerin:
Diese Hintergedanken zeigen: alle europäischen Großmächte des späten 19.
Jahrhunderts wollen von der Schwäche des Osmanischen Reichs profitieren –
auch das Deutsche Reich. Orient-Historiker wie Maurus Reinkowski neigen daher
heute zu der Ansicht:

O-Ton 10: (Reinkowski – Konflikt-Vertreter) – „Dass eben die europäischen


Staaten das Osmanische Reich zum einen künstlich schwach hielten, und zum
anderen das Osmanische Reich auch als eine Art „Ausgleichsgefäß“ für eigene
Konflikte verwendete. Also: jeder europäische Staat konnte im Osmanischen
Reich verwirklichen, was ihm notwendig schien, um seine eigenen Konflikte nach
außen zu verlagern.

Zitator 2:
1877 und 78: Serbien, Montenegro und Rumänien werden unabhängig, 1881:
Frankreich besetzt Tunis, im Jahr darauf Großbritannien Ägypten. Auch um
Bulgarien, das formell zum Osmanischen Reich gehört, aber stark beeinflusst
wird von Russland, kommt es zu Krisen und Kriegen. 1888: Aufstand auf Kreta,
den der Sultan blutig niederschlagen lässt.

Erzählerin:
Um den Schmelzungsprozess zu bremsen, setzt Sultan Abdülhamid, ein
prunksüchtiger Despot mit dem Spitznamen „Abdul der Verdammte“, immer
mehr auf die Deutschen als Partner. So kommen ab 1882 preußische
Militärberater ins Land: sie lehren an der Kriegsakademie, planen Befestigungen,
inspizieren osmanische Truppen. Einer von ihnen, der spätere Feldmarschall
Colmar von der Goltz bilanziert seine Arbeit in einem Brief im Oktober 1886:

Zitator 1:
„Ein krankhaft misstrauischer Souverän, der nicht Fachmann ist, eine Hofclique,
wie sie ränkevoller kaum gedacht werden kann, eine sehr komplizierte
militärische Routine, religiöses Vorurteil und die hunderterlei rein persönlichen
Gegnerschaften, das waren etwa die Bedingungen unter denen die Arbeit
geschah…“

Erzählerin:
Größte Gewinner der militärischen Zusammenarbeit sind, wie man heute weiß,
deutsche Rüstungsfirmen. Die kaiserlichen Offiziere am Bosporus empfehlen
Kanonen von Krupp, Gewehre Loewe und Mauser, oder Schiffe von Blohm &
Voss, Vulkan und Schichau für die Modernisierung der Sultans-Armee.
Deutschland profitiert also erheblich von „kranken Mann am Bosporus“ – und
schert sich wenig um dessen finanzielle Probleme. Mehr noch: Ende des
Jahrhunderts träumt die Führung in Berlin um Kaiser Wilhelm den Zweiten
davon, mithilfe des Osmanischen Reiches seinen Einflussbereich am
Schnittpunkt zwischen Europa und Asien vergrößern zu können.

Erzählerin:
Wilhelm der Zweite fährt selbst zweimal in den Orient; die Reisen werden in
Europa genau verfolgt. So zum Beispiel der Empfang in Istanbul 1898, bei dem
der Sultan alles an Prunk auffährt, was ihm zur Verfügung steht. Die
osmanischen Truppen hätten zuvor wochenlang den Parademarsch geübt,
meldet der gut informierte und sehr kritische Militärattaché Österreich-Ungarns
an den Hof in Wien:

Zitator 3:
„Die Truppen sahen in ihren neuen Uniformen, Pferderüstungen etc. im
Allgemeinen gut aus. Bemerkenswert scheint mir, dass der deutsche Kaiser, …
mit einem strengen Urteil über die inneren Verhältnisse ebenso wenig
zurückhielt wie mit jenem über die Armee. Über Erstere äußerte sich
Höchstderselbe beispielsweise dem K.u.K. Botschafter gegenüber, dass man
statt der Einführung von Reformen lieber ein paar Hundert Paschas aufhängen
sollte.“

Erzählerin:
Zum militärischen Einfluss gesellt sich der wirtschaftliche. Beispiel: Bagdad-
Bahn, ein gewaltiges Infrastruktur-Projekt des Osmanischen Reiches. Per
Schienenstrang soll Istanbul mit dem 2250 Kilometer entfernten Bagdad
verbunden werden – und damit die entlegenen und zuvor kaum erschlossenen
Ost-Provinzen besser an die Hauptstadt anbinden. Die Kredite gibt ein
Konsortium unter Führung der Deutschen Bank, die Bauarbeiten übernimmt der
Holzmann-Konzern. Sofort sind die anderen Europäer misstrauisch. So berichtet
der Orientalist und Beamte im Auswärtigen Amt Friedrich Rosen im Januar 1903
von einer Unterhaltung des Direktors der Deutschen Bank mit dem britischen
Außenminister:

Zitator 1:
Herr Gwinner fand den Minister stark gegen das Projekt eingenommen, welches
er als den britischen Interessen schädlich betrachtet. …Er glaube aber, der
vereinte Einfluss Englands und Russlands werde eventuell genügen, um den Bau
der Bagdadbahn zu hintertreiben.“

Erzählerin:
Eine Fehlkalkulation: die Bagdad-Bahn wird gebaut – viel langsamer zwar als
geplant. Doch selbst der anhaltende Machtverfall des Sultans im Innern und eine
radikale Veränderung der Staatsform können dem Vorhaben nichts anhaben.
1908 erlebt das Osmanische Reich nämlich eine Militärrevolte. Sie bringt einen
Kreis an Männern an die Macht, der in Wissenschaft wie Öffentlichkeit unter dem
Schlagwort „Jungtürken“ bekannt ist.

Zitator 2:
„Jungtürken“ – zunächst eine illegale Bewegung von Offizieren und
Intellektuellen. Kulturelles Ziel ist: eine ‚Befreiung’ der türkischen Sprache von
arabischen und persischen Einflüssen. Politisch streben die „Jungtürken“ eine
liberale, westliche Modernisierung des Landes an. 1908 zwingt eine Militärrevolte
unter Führung von Offizieren aus „Jungtürken-Kreisen“. Sultan Abdülhamid
dazu, die lange suspendierte Verfassung wieder in Kraft zu setzen.“

Erzählerin:
Die Staatskrise zwingt Abdülhamid dazu, die Sultanswürde seinem Bruder
Mehmet zu übertragen. Der ist lediglich noch Galionsfigur eines Regimes, vor
allem nach weiteren Balkanwirren und dem erfolglosen Versuch, die
„Jungtürken“ wieder aus der Regierung zu verdrängen. Im Zentrum des
Geschehens steht nun ein „Dreierrat“ von Politikern und Militärs, von denen der
wichtigste wiederum viel auf die Deutschen hält: Enver Pascha.

Zitator 2:
Ismail Enver, geboren 1881, Offizier. Seit Schülertagen Anhänger der
„Jungtürken“; wegen seiner Jugend zunächst nur in der zweiten Reihe der
Putschisten arbeitend, geht er 1909 als Militärattaché an die osmanische
Botschaft in Berlin. Kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs ist er in Istanbul
Kriegsminister.

Erzählerin:
Enver Paschas Werdegang zeigt: die Beziehung Istanbul-Berlin wirkt in beide
Richtungen. Orientalisten wie Maurus Reinkowski in Freiburg messen der
Tatsache, dass einige osmanische Militärs in Deutschland ausgebildet worden
sind oder längere Zeit dort gelebt haben, in der heraufziehenden Krise des
Jahres 1914 große Bedeutung bei:

O-Ton 11: (Reinkowski – Enver) – „Das hat dann in der Tat nachhaltige Folgen.
Die Führung der Jungtürken setzte sich ja zusammen aus drei Personen: Enver
Pascha Talat Pascha und Djemal Pascha. Und eigentlich der führende Kopf,
Enver Pascha, denk’ ich, war jetzt jemand, der nicht nur in strategischen
Begriffen dachte und eben im Deutschen Reich einen Verbündeten sah. Man
kann wohl sagen, dass Enver Pascha in der Tat germanophil war.“

Erzählerin:
Als 1914 der Erste Weltkrieg ausbricht, sorgt vor allem Enver Pascha dafür, dass
Istanbul an die Seite von Österreich-Ungarn und des Deutschen Reiches in den
Konflikt eintritt. Im Rückblick bemerkenswert: aus heutiger türkischer Sicht
beginnt die Weltkriegs-Verwicklung früher. Erläuterungen von Professor Maurus
Reinkowski:

O-Ton 14: (Reinkowski – Kriegsdauer): „“Es gibt einen großen, „langen“ Krieg,
der mit dem Balkankriegen 1912 beginnt, sich dann über den Ersten Weltkrieg
erstreckt und dann den Abschluss findet im Unabhängigkeitskrieg, also eben der
Befreiung türkischen Bodens von fremden Okkupationsmächten, also im Grunde
erst im Jahre 1922 endet. Also ein langer, 10-jähriger Krieg. Man könnte sagen:
den Geburtswehen des späteren türkischen Staates.

Erzählerin:
Die konkrete Geburtsstunde der Türkei von heute ist also ein
„Geburtsjahrzehnt“. Nach dem 1. Weltkrieg hat das Land, dessen Gebiet die
Gewinner des Konflikts stark beschneiden, zunächst noch einen Sultan. Dieser
stirbt jedoch im Exil: am 1. November 1922 setzt ihn das Parlament auf Drängen
des Generals Mustafa Kemal, der später den Ehrennamen „Atatürk“ erhält, ab.
Die Herrschaft der Osmanen ist nach über 600 Jahren beendet.

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