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espero Forum für libertäre Gesellschafts- und

Wirtschaftsordnung
5. Jhrg., Nummer 13, Februar 1998

INHALT:

Paul Avrich:
Benjamin Tucker und seine Tochter Oriole
Übersetzung: Hans Nowicki

Uwe Timm:
Die Quadratur des Kreises
(Politiker, Arbeitslosigkeit & Staatsschulden)

Jochen Knoblauch:
„Wir geloben...Krieg dem Staat“
(über die geplante Gelöbnisfeier in Berlin)

Buchrezensionen
von Hanns Schaub und Thorsten Znih

Mitteilungen

Espero im Internet:
http://www.berlinet.de/trend/espero

Achtung! Der Provider der Berliner Internetzeitung „trend“ hat alle Beilagen also
auch „Espero“ aus dem Netz geschmissen. Diese politische Zensur verurteilen wir
aufs Schärfste. Die Presseerklärung von „trend“ ist über die Espero-Redaktion er-
hältlich. Für InternetbenutzerInnen gibt es eine Nothomepage: http://our-
world.compuserve.com/homepages/trend
Editorial

Berlin / Neu Wulmstorf, Februar ‘98 längerfristige Zielsetzungen und


Veränderungen. Menschen, die keine
Liebe Freunde & Freundinnen, Hoffnungen, Visionen und Utopien
hier ist die Nr. 13 unserer kleinen Zeit- mehr besitzen, sich von der bestehen-
schrift und wir hoffen, daß uns wieder den Realität völlig vereinnahmen
eine vielseitige und inhaltsreiche Aus- lassen, begehen ihren eigenen psychis-
gabe gelungen ist. Die Herausgabe chen Selbstmord. Nur wer die Hoff-
einer kleinen unkonventionellen Zeit- nung bewahrt, bleibt aktiv, bewältigt
schrift erfordert die Motivation von die Gegenwart, besitzt eine Zukunft.
Menschen, die bereit sind für eine Wir sind zuversichtlich, daß wir für die
solche organisatorisch / publizistisch Existenz unserer alternativen Zeit-
zu arbeiten, ehrenamtlich, wie es so schrift ESPERO weiter das Interesse
schön heißt, und damit für jede Edi- unserer LeserInnen / BezieherInnen
tion auch die erforderlichen Mittel zur finden und sie uns bei der Verbreitung
Verfügung stehen, sind wir auf die Sol- von libertären Anschauungen unter-
idarität von interessierten LeserInnen/ stützen. Der konservative Journalist
BezieherInnen angewiesen. Paul Sethe formulierte einmal sehr tre-
Beiträge und Artikel aus ESPERO ffend:
finden auch in anderen Publikationen "Pressefreiheit ist die Freiheit von 200
und im Internet Beachtung. Das ist er- Leuten, ihre Meinung zu verbreiten".
freulich, geht es uns doch um die Ver- Es liegt an uns selbst, Alternativen zu
breitung von kritischen-antistaatlichen nutzen, unabhängige Publikationen zu
Ideen. Notwendig erscheint uns aber fördern, zu verbreiten.
die Edition einer eigenständigen lib- Wer uns behilflich sein will, sollte un-
ertären Zeitschrift. Nicht verpflichtet sere Literatur-Anbebote beachten, dazu
einer bestimmten Richtung, sondern gehören insbesondere unsere aktuellen
offen für eine Diskussion unter- Sonderhefte. Verschiedene Publizisten
schiedlicher Positionen. Dieses Ange- behandelten in ESPERO aktuelle The-
bot, meinen wir, sollte und verdiente men, stellten ihre Auffassungen zur
mehr genutzt zu werden. Diskussion. Wir wünschen uns auch
Die Entwicklung des Kapitalismus, eine Mitarbeit von Autorinnen!
Verarmung und Ausgrenzung von im- In dieser Ausgabe können wir, dank
mer mehr Menschen, gleichzeitig unseren Freunden Hans Nowicki und
wachsender Reichtum für die Nutz- Paul Jordens, die uns ihre Übersetzun-
nießer der wirtschaftlichen / staatlichen gen aus dem Englischen zur Verfügung
Monopole, Privilegien der "Regieren- stellten, informative Artikel über B.R.-
den", das erfordert wohl den täglichen Tucker und Emile Armand veröf-
Protest, aber nicht den Verzicht auf fentlichen.*
-2-
Dies für die HistorikerInnen, und für die
AnarchistInnen gegen Por-
aktuellen Themen sorgen die Beiträge
zur geplanten „öffentlichen“ Soldaten- tospende bei:
vereidigung in Berlin, sowie zu den all-
gemeinen Bereichen Politiker, Staats-
schulden und Arbeitslosigkeit. Diese Solidaritätskommitee Italien
Themen werden mit aller Voraussicht c/o Infoladen
auch für den Wahlkampf an allen Ecken
und Enden der Republik mißbraucht wer- Breisacher Str. 12
den. Die anstehenden Kommunal- und 81677 München
Landtagswahlen, sowie die Bundestags-
wahl werden uns einige Versprechen Impressum
bringen, die - wie der Blödsinn von der
Halbierung der Arbeitslosenzahlen - Redaktion:
nicht ihr Papier wert sein werden, auf Uwe Timm
dem sie notiert sind. Wulmstorfer Moor 34 b
Es liegt bei uns, dem Schwindel der Poli- 21629 Neu Wulmstorf
tikerInnen Einhalt zu gebieten, ihnen ge-
nau auf’s Maul zu schauen und sie zu
entlarven. Sie können uns doch nicht Postbank Hamburg
ewig belügen und betrügen. Kto.Nr. 0253827-207
Wir werden auch weiterhin mit unserer BLZ 200 100 20
kleinen Zeitschrift versuchen, libertäre (Uwe Timm)
Inhalte zu vermitteln und Alternativen
aufzuzeigen, die unsere Gesellschaft vom
Endredaktion und V.i.S.d.P.:
Staat befreien könnten.
JochenKnoblauch
Ferner möchten wir noch auf unsere, bis- Knobelsdorffstr.8
her noch nicht erschienenen Espero-Son- 14059 Berlin
derhefte aufmerksam machen, für die wir
gerne jetzt schon Vorbestellungen ent- Redaktion in der Schweiz:
gegen nehmen (siehe letzte Seite). Dazu André Siegenthaler
kommt ca. Februar/März 98 ein Text von
c/o Anares
Dr. Rolf Engert „Wohlauf Ich!“ mit Vor-
und Nachwort, sowie Textanmerkungen. Postfach
(ca. 60 Seiten / ca. 10,--DM). CH-3000 Bern 8

*Der Beitrag über Armand erscheint aus ABO für 5 Ausgaben:


technischen Gründen in der nächsten 20,00 DM incl. Versand.
Ausgabe.
Informationen über die Re- Einzelpreis (incl. Porto)
pressionen gegen italienische 4,50 DM (in Briefmarken)

- 32 -
WiederverkäuferInnen ab 4 Ex./pro
Ausgabe 2,50 DM/Stck. gegen Voraus- © liegt bei den AutorInnen
kasse (incl. Versand). Auf die Espero- Nachdruck nur mit Genehmigung der
Sonderhefte gewähren wir 30% Rabatt. Redaktion bzw. der AutorInnen.
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PAUL AVRICH:

BENJAMIN TUCKER UND SEINE TOCHTER


Aus dem Amerikanischen übersetzt von Hans Nowicki

(...)Als führender Vertreter des individua- ski und Tolstoi zu reden) einen Ehren-
listischen Anarchismus machte Tucker platz in der Reihe der Anarchisten ver-
die Ideen von Proudhon, Bakunin, Stirner diente. Darüber hinaus war er ein erst-
und anderen Anarchisten und dem Anar- klassiger Redakteur und Schreiber, einer
chismus Nahestehenden einer wißbegieri- der besten Journalisten, die der amerika-
gen Leserschaft zugänglich. Sein Haupt- nische Radikalismus hervorgebracht hat.
werk bestand in der Herausgabe seiner Auf Liberty hatte er besonderen Grund,
Zeitschrift Liberty, des besten anarchisti- stolz zu sein. Sie war peinlich genau ge-
schen Periodikums in englischer Sprache, staltet und redigiert und hatte hervorra-
wie Joseph Ishill richtig urteilte.1 Anders gende Mitarbeiter, nicht zuletzt Tucker
als Alexander Berkman, dessen Gefäng- selbst. Ihr Debüt im Jahre 1881 war ein
niserinnerungen eines Anarchisten ein Meilenstein in der Geschichte der anar-
Klassiker wurden, schrieb Tucker nie ein chistischen Bewegung, und sie erwarb
großes Buch. Und im Gegensatz zu sich einen Leserkreis überall da, wo Eng-
Emma Goldman oder Johann Most er- lisch gelesen wurde. Außerdem veröffent-
warb er sich auch kein Ansehen als Red- lichte Tucker als Verleger über einen
ner. (Nur wenn es die Situation erforder- Zeitraum von nahezu dreißig Jahren kon-
te, hielt er Reden und fühlte sich „niemals tinuierlich Bücher und Broschüren über
so unbehaglich und verlegen“, wie er be- Anarchismus und verwandte Themen.
kannte, wenn er vor einem Auditorium Damit, schrieb ein Verehrer, leistete er
stand.)2 „mehr praktische Arbeit für die Förde-
Aber Tucker war ein ausgezeichneter rung der Freiheit als irgendjemand an-
Übersetzer, der sich allein mit der Wie- ders, Proudhon möglicherweise ausge-
dergabe von Proudhon und Bakunin (um nommen.“3
nicht von Victor Hugo, Tschernyschew- Dies schrieb Laurance Labadie 1935. Zu
dieser Zeit war Tucker praktisch verges-
1
Joseph Ishill an Pearl Johnson Tucker, 7. Septem-
ber 1938, Tucker Papers, New York Public Library. 3
Laurance Labadie an Joseph Ishill, 7. Mai 1935,
2
Liberty, Januar 1897. Ishill Collection, Harvard University.
- 42 -
sen, ein Mann, der, wie H. L. Mencken 75 Kilogramm schwer, hatte durchdrin-
sagte, „sehr viel mehr Berühmtheit“ ver- gende dunkle Augen, dunkelbraunes Haar
diente, „als er erlangte“. 4 Und wenn man und einen ordentlich zurechtgeschnitte-
sich heute bis zu einem gewissen Grad nen Bart und Schnurrbart. (In den späte-
überhaupt an ihn erinnert, dann nicht we- ren Jahren rasierte er den Bart ab, behielt
gen irgendeiner sensationellen Tat, ver- den Schnurrbart aber bis zum Ende.) Im-
gleichbar mit Berkmans Angriff auf Hen- mer tadellos gekleidet, war er nur selten
ry Clay Flick, sondern wegen dem, was er in Hemdsärmeln zu sehen oder anderwei-
schrieb und veröffentlichte, davon fast al- tig zwanglos angezogen.
les in seiner Zeitschrift Liberty. Sein Le- Um seine gepflegte Erscheinung zu erhal-
ben, so bewundernswert es war, war nicht ten, entfaltete Tucker eine peinliche Ge-
von aufregender Natur. In Hinblick auf nauigkeit in Einstellung und Verhalten
Aufregung, Farbe oder Spannung kann es während seines langen Lebens. In den
nicht mit dem von Bakunin, Kropotkin letzten Jahren war er zurückhaltend und
oder Malatesta verglichen werden, noch verschlossen. Er war ohne jeden Snobis-
weniger mit dem von Durruti, Vanzetti mus oder Rassen- und Klassenvorurteile,
oder Machno. Sicherlich gab es erwäh- aber er legte immer die aristokratische
nenswerte Begebenheiten in seinem Le- Haltung eines Mitglieds des gebildeten
ben: Tuckers früher Verkehr mit dem An- Standes Neu-Englands an den Tag. Ob-
archismus, seine Verführung durch Victo- wohl er einen großen Bekanntenkreis hat-
ria Woodhull, seine Kontroverse mit Jo- te, ging er nicht leicht Freundschaften ein,
hann Most, um nur einige zu erwähnen. und nur wenige standen mit ihm auf ver-
Doch das waren nur kleine Wellen in ei- trautem Fuß. George Schumm, William
ner ansonsten ununterbrochenen Strö- Bailie und andere nahe Mitarbeiter von
mung. Tucker war eher ein Mann des Liberty sprachen ihn in ihren Briefen im-
Geistes als der Tat. Seine Monate und mer als „Mr. Tucker“ an.
Jahre waren meistens mit der Ausarbei- Diese Eigenschaften spiegelten sich deut-
tung seiner Ideen ausgefüllt sowie mit der lich in Tuckers Schriften wider. Er besaß
Veröffentlichung seiner Bücher und Zeit- die Vorzüge von Disziplin, Beständigkeit
schriften, vor allem Liberty. Deshalb leg- und hohen Ansprüchen. Er arbeitete mit
ten Historiker unter Vernachlässigung großer Konzentration, Genauigkeit und
seines Privatlebens Nachdruck auf Tu- Aufmerksamkeit für das Detail. Seine
ckers Rolle als Publizist. Wenig wurde Verstandesschärfe, Klarheit des Stils und
über den Menschen Tucker geschrieben. sein Festhalten am Grundsatz waren
Beim Studium der verfügbaren Quellen sprichwörtlich. Er hatte nicht nur einen
können wir sehr viel über die menschli- scharfen analytischen Verstand und eine
che Seite Tuckers lernen, vieles davon wahre Begabung literarischer Kunstfertig-
von beträchtlichem Interesse. In seiner keit, sondern er war auch äußerst gewis-
körperlichen Erscheinung war er ein statt- senhaft in dem, was er dachte und wie er
licher Mann, 1,76 Meter groß und über es ausdrückte. Und er war allzusehr kon-
sequent. (Tuckers große Schwäche, beob-
4
H. L. Mencken an Joseph Ishill, 18. Mai 1935, in
The Oriole Press: A Bibliography, herausgegeben
von Joseph Ishill (Berkeley Heights, N.J. 1953),
S.332.
- 52 -
achtete ein Mitarbeiter, war seine „Angst, spruch oder Ablehnung. Beißender Sar-
widersprüchlich zu sein.“)5 kasmus, ätzende Verachtung, Schmähun-
gen, die manchmal beinahe tatsächlich
Beleidigungen waren, wurden über jeden
Neuerscheinung ausgegossen, der es wagte, Kritik zu üben
oder zu opponieren.“7
Denn Tucker war, wie seine Gefährtin
Erich Mühsam Pearl Johnson von ihm sagte, „zuerst, zu-
Der Humbug der Wahlen letzt und immer ein Polemiker, und darin
lag seine Stärke.“8 Ständig wies er seine
Widersacher zurecht, stellte sie richtig
Klaus Guhl Verlag Berlin und machte auf Irrtümer in ihrer Logik
aufmerksam. Freund wie Feind gleicher-
56 Seiten / 6,--DM maßen müssen mit zitternden Fingern
jede neue Ausgabe von Liberty in Furcht
Bemerkenswert ist, wie wenig Tuckers vor diesem „scharfen, klaren Stil“ geöff-
Ideen und Prosa sich im Laufe seines Le- net haben, wie es C. L. Swartz beschrieb,
bens änderten, das sich vom Vorkriegs- „der die Freude seiner Anhänger und die
Massachusetts6 bis an die Riviera am Verzweiflung seiner Gegner war.“9 Nicht
Vorabend des 2. Weltkriegs spannte. Was einmal seine engsten Mitarbeiter entgin-
er zu sagen hatte, das sagte er gerade her- gen seinen Angriffen („Wie Du Dich auf
aus, überzeugt und gut begründet. Seine einen Gefährten stürzt!“ protestierte J. B.
Offenheit wurde jedoch selten durch Robinson).10 Tucker stellte Stephen Pearl
Taktgefühl gebremst. Er war ein aufbrau- Andrews, seinen Seniorpartner seit 42
sender, angriffslustiger Polemiker, fein- Jahren, wegen der Verzerrung der An-
fühlig gegen Kritik und sich seines eige- sichten Proudhons zur Rede. Andrews Er-
nen hohen Wertes sicher. Ebenso über- widerung war ein Muster an Schlichtung:
zeugt von der Richtigkeit seiner Ansich- “Du sprichst von meiner falschen Darstel-
ten, wich er seinen Gegenspielern nur sel- lung Proudhons. Du wirst mir das Recht
ten einen Fußbreit. In seiner Schreibwei- widerfahren lassen, mir zu glauben, daß,
se, bemerkte J. William Lloyd, ein ehe- wenn ich das so in irgendeiner Einzelheit
maliger Mitarbeiter von Liberty, war Tu- getan habe, es deshalb war, weil ich ihn
cker „rechthaberisch bis zum Extrem, mißverstanden habe. Das ist durchaus
ausgesprochen überheblich, einschüch- möglich, denn meine Untersuchung war
ternd und dominierend, seiner ‘Richt- bekanntlich hastig. Aber Du sagst mir
schnur’ treu, gleichgültig, wer abge- nicht, an welchem Punkt oder welchen
schlachtet wurde, und duldete weder Mei- 7
Free Vistas: An Anthology of Life and Letters,
nungsverschiedenheiten noch Wider- herausgegeben von Joseph Ishill, 2 Bde. (Berkeley
5 Heights, N.J. 1933-1937), II, S.281.
Henry Appleton in The Truth Seeker, 2. April 8
1887. Siehe Joseph Ishill an Pearl Johnson Tucker, 26.
6 Dezember 1938, Ishill Collection.
Gemeint ist der Sezessionskrieg (Amerikanischer 9
Bürgerkrieg) von 1861-1865. Benjamin Ricketson Vorwort zu Individual Liberty: Selections from
Tucker wurde am 17.4.1854 bei New Bedford the Writings of Benjamin R. Tucker, herausgegeben
(Mass.) geboren und starb am 22.6.1939 in von C. L. Swartz (New York 1926), S.V.
10
Monaco, [Anmerkung des Übersetzers]. Liberty, 27. Juni 1896.
- 62 -
Punkten. Wenn Du es vorziehst, dies zu Daß eine Kälte, um nicht zu sagen Seich-
tun und ich es dann genauso sehe wie du, tigkeit, des Geistes viel von Tuckers ge-
dann bin ich durchaus gewillt und verlan- schriebener Arbeit durchdrang, läßt sich
ge auch danach, es in Übereinstimmung kaum bestreiten. Obwohl er eine „mächti-
mit der Wahrheit abzuändern. Was wir ge Feder“ führte, wie Emma Goldman
beide wollen, ist die Wahrheit.“11 schrieb, war er weit davon entfernt, ein
Für Schlichtung jedweder Art hatte Tu- „großer Charakter“ zu sein, und seine
cker nichts übrig. Ein „glänzender Eis- Einstellung gegenüber den kommunisti-
zapfen an Logik,“ charakterisierte ihn ein schen Anarchisten, zu denen sie sich zähl-
Freund,12 der an Beweisführung seine te, war „mit beleidigendem Haß belastet.“
Freude fand, wobei er übermäßige Ener- „Nein, ich sah Tucker nie,“ schrieb sie
gie in Haarspaltereien und fruchtlosen 1930, als sie beide an der Riviera weilten.
Debatten verbrauchte. Er schoß seine „Ich würde nicht um die Ecke gehen, um
„spitzen Pfeile mit eiskalter Unparteilich- ihn zu treffen. Er war ein komischer alter
keit gegen Feind und Freund,“ bemerkte Kauz, bevor er alt wurde, und ist kleinlich
Voltairine de Cleyre, „traf schnell und in seiner Haltung gegenüber anderen so-
scharf schneidend - und war jederzeit be- zialen Schulen.“15 Die Antipathie, das
reit, einen Verräter festzunageln.“ Lizzie sollte festgehalten werden, beruhte auf
M. Holmes beklagte sich über den Geist Gegenseitigkeit. Es hat „nie viel Liebe
an „Intoleranz, Heftigkeit und Beschimp- zwischen uns gegeben“, bemerkte Tucker
fung“, von dem Tuckers Äußerungen über Goldman, „obwohl sie über einige
durchtränkt waren. Warum, so fragte sie, ausgezeichnete Qualitäten verfügt und es
sollte ein Liebhaber der Freiheit eine mir leidtut, daß sie so schlecht behandelt
solch streitsüchtige Neigung zeigen? 13 W. worden ist. Auf Umwegen hörte ich eines
C. Owen sah Tucker als einen dieser „kal- Tages, daß sie bei ihrer Rückkehr an die
ten Enthusiasten“, die ihr Ziel stets vor Riviera beabsichtigte, bei mir hereinzu-
Augen haben und direkt daraufzuma- schauen!! (Wo bloß verstecken? das ist
schieren, ohne sich dabei um den Beifall die Frage. ‘Alles für eine Hütte in irgend-
der Menge oder Geldgewinn zu küm- einer weiten Wildnis!’)“16
mern. Tucker konnte nicht widerspre- Denjenigen, die Tucker nur aus seinen
chen. „Das ist das erste Mal, daß ich als Schriften kannten, mußte er arrogant,
ein ‘kalter Enthusiast’ bezeichnet werde,“ rachsüchtig und grausam erscheinen.
schrieb er an Owen, „aber ich stelle fest, Nach J. William Lloyd konnte man keine
daß die Charakterisierung ins Schwarze Ausgabe von Liberty lesen, ohne den Ein-
trifft. Um die Wahrheit zu sagen, ich bin druck zu gewinnen, daß er „ein die meiste
ein klein wenig stolz auf meine Frostig- Zeit zorniger Feuerfresser“ war. Doch
keit.“14 nichts könnte weiter von der Wahrheit
entfernt sein. Denn entgegen all seiner
11 Schärfe in der Schrift war Tucker gleich-
Andrews an Tucker, 7. Mai 1876, Tucker Papers.
12
William W. Gordak an George Schumm, 31. Juli
1898, Labadie Collection, University of Michigan. 15
Emma Goldman, Living My Life (New York
13
Voltairine de Cleyre, Selected Works (New York 1931), S.232; Goldman an Agnes Inglis, 11. April
1914), S.115f.; Liberty, 26. Juli 1890 1930, Labadie Collection.
14 16
Freedom, Juni 1927; Tucker an Owen, 22. Juni Tucker an Joseph Ishill, 27. Oktober 1934, Ishill
1927, Ishill Collection. Collection.
- 72 -
bleibend herzlich im privaten Umgang. „abgeneigt, Kraftakte zu vollbringen,
Dies war für Leser von Liberty überra- ängstlich bis zum Extrem in allen Kraft-
schend, wenn sie ihn das erste Mal trafen. sportarten und plärrend beim geringsten
„Von Angesicht zu Angesicht war dieser Anlaß. Ich bin immer noch derselbe Feig-
Tiger eine Taube,“ bemerkte Lloyd. Al- ling, und ich schäme mich heute noch ge-
bert Chavannes hielt ihn für „den sanft- nauso wie ich mich damals dafür ge-
mütigsten Piraten, der jemals eine Kehle schämt habe.“21
durchgeschnitten oder ein Schiff versenkt Reserviert, wie er war, gab es auch eine
hatte“; für C. L. Swartz war er „der um- unbeschwertere Seite in Tuckers Persön-
gänglichste und höflichste Gentleman und lichkeit. Er war weit davon entfernt, ein
wärmste Freund.“17 Asket zu sein, beschrieb ihn Victor S.
Was erklärt dann den Eindruck von Kälte Yarros.22 Er genoß Spiele und Konzerte.
oder Zurückhaltung, den er bei so vielen Er kannte und schätzte gutes Essen. „Ich
anderen hinterließ? Laut seiner Schwäge- war immer ein Feinschmecker,“ schrieb
rin Dr. Bertha F. Johnson wurde dies le- er 1936, „und auch ein Gourmand bis zu
diglich durch Tuckers Schüchternheit dem Maß, wie ich es mir leisten konnte,
verursacht.18 Schüchternheit könnte auch und manchmal auch bis zu einem Maß, in
als Erklärung für Tuckers Unzulänglich- dem ich es mir nicht mehr leisten konn-
keit als Volksredner dienen, ebensogut te.“23 Darüber hinaus hatte Tucker entge-
wie sein häufiges „leicht nervöses“ La- gen all seiner Schüchternheit mehrere
chen.19 Tucker selbst gab in einem Brief Liebesaffären - z.B. mit Victoria Wood-
an Jo Labadie zu, daß „ich schüchtern hull und Sarah E. Holmes -, bevor er die
bin, sowohl im Vertrautwerden mit Kin- schöne junge Frau mit dem „klassischen
dern als auch mit Erwachsenen, was also Gesicht“ fand, die seine aufs innigste ge-
bedeutet, daß ich in der Tat sehr schüch- liebte Gefährtin wurde.24
tern bin.“20 Darüber hinaus ging mit sei- Sein alter Mitarbeiter George Schumm
ner Schüchternheit ein Mangel an körper- empfahl Pearl Johnson für die Arbeit in
licher Robustheit einher, der sich bis zu Tuckers Unique Book Shop in New York
seiner frühen Kindheit hin zurückverfol- City während der letzten zwei Jahre sei-
gen läßt. „Wahrscheinlich muß ich Dich nes Bestehens (von 1906 bis 1908). Sie
nicht an das Baby erinnern, daß ich in un- war 25 Jahre lang Tuckers Assistentin,
serem Jungenalter war,“ schrieb er an ei- und er kannte die Familie ihrer Mutter
nen Cousin gegen Ende seines Lebens, von seiner Jungenzeit in Massachusetts
17 21
Ishill (Hrsg.), Free Vistas, II, S.280f., 298. Ver- Benjamin R. Tucker an Charles Almy, 15. März
gleiche George Schumms Bemerkung, daß Tucker 1925, Tucker Papers.
„einer der freundlichsten Menschen“ war, „ohne, 22
Victor S. Yarros, „Philosophical Anarchism: Its
wie auch immer, das zu sein, was wir einen ‘guten Rise, Decline, and Eclipse,“ American Journal of
Kerl’ nennen.“ Schumm, „Benj. R. Tucker: A Brief Sociology 41, (January 1936): S.471. Yarros war
Sketch of His Life and Work,“ The Freethinkers während der späten 1880er und frühen 1890er
´Magazine, Juli 1893. Mitherausgeber von Liberty und einer ihrer produk-
18
Bertha F. Johnson an Agnes Inglis, 12. Februar tivsten Mitarbeiter.
1936, Labadie Collection. 23
Benjamin R. Tucker an den Herausgeber von
19
J. William Lloyd in Free Vistas, herausgegeben American Journal of Sociology, 11. April 1936,
von Ishill, II, S.280 Tucker Papers.
20 24
Benjamin R. Tucker an Joseph A. Labadie, 12 Die Beschreibung stammt aus J. William Lloyds
August 1888, Labadie Collection. Free Vistas, herausgegeben von Ishill, II, S.282f..
- 82 -
her. Zwei Jahre vor seinem Tod dankte bertären Prinzipien ihrer Eltern aufgezo-
Tucker Schumm dafür, sie zusammenge- gen. Sie hatte ihr eigenes Zimmer, sagte
bracht zu haben. „ Das war ohne Zweifel Tucker, „das beinahe ihre Burg ist und
der größte Glückstreffer, den ich jemals das ihr Vater selten betrat, außer unter
in meinem Leben hatte,“ schrieb er. „Ich dem Druck von Unumgänglichkeit. Es
erkenne es mehr und mehr, wo die Zeit gibt einen Vierzeiler von Emerson, den
voranschreitet. Wie wenig wir von der ich gerne zitiere: ‘Wenn die Kirche sozia-
Zukunft wissen, und die Überraschungen! len Wert hat, / Wenn das Parlament das
Ein Wort fällt, und ein Kind wird gebo- Heim ist, / Dann ist der vollkommene
ren. Ich danke Dir von ganzem Staat gekommen,- / Der Republikaner zu
Herzen!“25 Hause.’ In meinen späteren Jahren habe
Das Kind war Oriole Tucker, die im No- ich mich bemüht, Den Anarchisten zu
venber 1908 das Licht der Welt erblickte, Hause zu verwirklichen, und es scheint
zehn Monate nach dem Feuer, das das La- mir, daß meine Anstrengung in dieser Be-
gerhaus ihres Vaters auslöschte und sei- ziehung durchaus nicht vergeblich war.“27
ner dreißigjährigen publizistischen Tätig- Am 21. Januar 1973 besuchte ich Oriole
keit ein Ende setzte. Im Alter von 54 Jah- Tucker in ihrem Haus in Ossining, New
ren war Tuckers Laufbahn als Publizist York, mit der Absicht, sie über ihren Va-
beendet. Sechs Wochen nach Orioles Ge- ter zu interviewen, besonders über die
burt setzte die Familie nach Europa über. persönliche Seite seines Lebens. Sie war
Tucker kehrte niemals mehr in die Verei- mit Jean Riché, einem französischen Kü-
nigten Staaten zurück. Oriole wurde in chenchef, verheiratet und unterrichtete
Frankreich und in Monaco großgezogen, Französisch an der ein paar Meilen ent-
wo sie bis zum Tod ihres Vaters 1939 fernten Dobbs Ferry Middle School. Ihr
lebte. Sie war Tuckers einziges Kind, und Haus befand sich an der Stelle der ehema-
er war ihr tief ergeben. 26 Aufgeweckt und ligen Stillwater-Kolonie, einer kurzlebi-
hübsch, sprach sie einwandfrei Franzö- gen Lebensgemeinschaftsschule, die von
sisch und Englisch und wurde eine ausge- Ralph Borsodi 1939 gegründet wurde.
zeichnete Pianistin. Bis zum Alter von Auf der anderen Seite der Straße lebte
fünfzehn Jahren besuchte sie keine Schu- Beatrice Schumm Fetz, die Tochter von
le. Ausgestattet mit Lehrbüchern der Cal- Tuckers langjährigen MitarbeiterInnen
vert School in Baltimore unterrichtete George und Emma Schumm, während am
ihre Mutter sie zu Hause. Als sie schließ- Fuß des Hügels das Haus von Margaret
lich doch zur Schule ging, erreichte sie Noyes Goldsmith stand, einer Enkelin
ein hervorragendes Zeugnis. Zu Hause von John Humphrey Noyes, dem berühm-
wurde sie in Übereinstimmung mit den li- ten Gründer der Oneida-Gemeinschaft.
Oriole war eine gutaussehende Frau mit
25
Benjamin R. Tucker an George Schumm, 28. bemerkenswerten Augen, eine jugendli-
Juni 1937, Tucker Papers. che Erscheinung mit einem klaren Erin-
26
Alexis Ferm, der anarchistische Lehrer,
27
beobachtete Tuckers „einfache Freude in allem, Tucker an Almy, 15. März 1925, Tucker Papers.
was das Kind betrifft, und wenn es irgendeine „Ich kenne keinen Menschen,“ schrieb C. L. Swartz
Beziehung zwischen Mann und Frau gibt, die über Tucker, „der näher daran herangekommen
würdevoller ist als die von Dir und Pearl, müssen wäre, gemäß seiner Philosophie und seiner Wün-
wir sie noch kennenlernen.“ Ferm an Tucker, 18. sche zu leben, als er.“ Ishill (Hrsg.), Free Vistas, II,
Dezember 1908, Tucker Papers. S.300.
- 92 -
nerungsvermögen, besonders, was ihre am Leben zu erhalten, aber mir erschie-
Eltern betraf. Ich freute mich darauf, in nen die ganzen Namen, die ich hörte, wie
einem fortgeschritteneren Stadium meiner Leute, die einer Mythologie entstiegen.
Forschung zurückzukehren, um mit ihr Mutter - Pearl Johnson - war die Tochter
wieder über ihren Vater zu sprechen. eines Neu-England-Paars, Horace John-
Aber sie starb plötzlich im Juni 1974 im son und Florence Hull, einer von vier
Alter von 65 Jahren. Deshalb wurde unse- Töchtern von Moses Hull, einem Pfarrer
re Unterhaltung nie vervollständigt. Was mit fortschrittlichen Ansichten, der ein
sie mir während unseres Treffens berich- weit bekannter Spiritualist wurde. Pearl
tete, ist dennoch sehr interessant. Sie er- ging zum Sunrise Club in New York und
zählte das Folgende. lernte Bea Schumm kennen. Es war Geor-
ge Schumm, der sie Vater ein paar Jahre,
Oriole Tucker bevor ich geboren wurde, als Mitarbeite-
Ich wurde am 9. November 1908 geboren rin für seinen Buchladen empfahl. Eine
und von Dr. E. B. Foote entbunden, ei- von Mutters Schwestern war Dr. Bertha
nem Freund und libertären Gefährten Va- Johnson. Fred Schuler, der als Hand-
ters. Ich wurde nach J. William Lloyds lungsreisender für Liberty arbeitete, war
Tochter Oriole Lloyd benannt. Meine El- Tantchen Berthas Freund. Er hatte einen
tern hatten gehofft, ich würde am 11. No- Sohn mit Adeline Champney, Horace
vember, dem Jahrestag der Haymarket- Champney, der der Quäker war, der vor
Hinrichtungen, auf die Welt kommen. ein paar Jahren mit einem Boot nach Vi-
Nach dem verheerenden Feuer im Januar etnam fuhr, um gegen den Krieg zu pro-
1908 beschloß Vater, nach Frankreich zu testieren.
gehen. Er wollte nicht noch einmal von Als Vaters Mutter starb, hinterließ sie ihm
vorne anfangen. Außerdem liebte er eine schöne Summe Geld. Er legte es in
Frankreich und sagte immer, daß er in einer Jahresrente an und hatte seither ein
Frankreich zu sterben wünsche. Mutter komfortables Einkommen von 1.650 $ im
und er gingen im Sommer 1908 nach Pa- Jahr. In New York lebte er angenehm,
ris und mieteten ein Haus im Vorort Le wenn auch nicht verschwenderisch, in ei-
Vésinet nahe Saint-Germain. Sie kamen ner Zweiraum-Hotel-Suite. Ein weiterer
in die USA zurück, um mich hier zur Grund für seinen Entschluß, nach Frank-
Welt zu bringen (Mutter erwartete eine reich zu gehen, war, daß er und die Fami-
schwere Geburt und wollte die Familie lie mit seinem Einkommen dort ziemlich
dabeihaben). Aber an Weihnachten war gut leben konnten. Nebenbei bemerkt wa-
ich, sechs Wochen alt, in Frankreich. Und ren meine Eltern nie gesetzlich verheira-
dort blieb ich. Als ich dreieinhalb war, tet. Dennoch waren sie das monogamste
kamen Mutter und ich für ein paar Mona- Paar, das ich kannte und bis zum Ende
te in die Staaten, um ihre Familie zu se- absolut einander zugetan. Seltsamerweise
hen. Nach dem Krieg kamen wir jedoch hielten sie viel davon, getrennte Räume
niemals als Familie zurück. 1936 war ich zu haben und, wenn man die Mittel dazu
für drei Monate allein hier. Amerika war hatte, sogar eigene Häuser, um sich dann
für mich so weit weg wie der Mond. Für zu treffen, wenn sie das wollten. Obwohl
mich war es ein Märchenland: Mutter re- sie sich das nicht leisten konnten! Ich hin-
dete weiterhin darüber, versuchte es so gegen mochte die Einstellung meines

-10
2-
Mannes, nachts nach Hause zu kommen John Henry Mackay29 pflegte herunterzu-
und nicht planen und einen Termin ma- kommen, und George Bernard Shaw kam
chen zu müssen, um ihn zu sehen! einmal zum Nachmittagstee. Als ich acht-
Die ersten sechs Jahre lebten wir in Le zehn war, gab ich Henry Cohens Schwes-
Vésinet und reisten ziemlich viel. Im ter Französischunterricht. Pryns Hop-
Winter nach Kriegsausbruch befanden kins30, der in Nizza lebte, kam zu Besuch
wir uns mit Henry Bool in England, 28 und herüber, und ein Neffe Tolstois, aber an-
als wir nach Frankreich zurückkehrten, dererseits nicht viele von Vaters alten
zogen wir in eine Mietwohnung nach Freunden.
Nizza um. Dort blieben wir elf Jahre. In Frankreich lebte die Familie ein anar-
Aber die Steuern stiegen in Frankreich ra- chistisches Leben. Wenn ich eine Frage
sant an, so daß wir nach Monaco umzo- stellte - z.B. wie wir in der Welt ohne Po-
gen, wo wir für dreizehn Jahre ein hüb- lizei zurechtkommen würden - sagte Va-
sches Haus mieteten und Vater 1939 ter, schlag nach auf Seite so und so in Ins-
starb. tead of a Book.31 Im Gegensatz dazu er-
Während des Krieges war Vater von Be- klärte Mutter sehr gründlich. Sie war eine
ginn an Anti-Deutscher. Die deutsche Re- geborene Lehrerin und Psychologin. Va-
gierung, deutscher Militarismus, deutsche ter war der geborene Nichtlehrer. Er
Reglementierung - er haßte das alles mit konnte nicht zu einem jungen Menschen
Leidenschaft. Und er liebte Frankreich. sprechen. Mutter gab mir immer vernünf-
Frankreich war das einzige, was zählte - tige Antworten. Er hatte es alles ausgear-
französisches Essen, französischer Wein, beitet - es war sehr entmutigend, mit ihm
französische Zeitungen und Bücher. Dort zu sprechen - er hatte immer unwiderleg-
wollte er begraben werden. Er kehrte nie- bare Argumente, er schien immer Recht
mals in die Vereinigten Staaten zurück, zu haben. Und das brachte mich zum
wollte das auch niemals. Er sprach nicht Schweigen. Er berücksichtigte keine
sehr gut Französisch, las es aber leicht. Er menschlichen Gefühle und Schwächen.
bewunderte Clemenceau sehr stark, dem Er haute alles der Reihe nach um und ließ
er körperlich sehr ähnelte. die Fetzen fallen, wo sie waren. Mutter
Nach dem Krieg fürchtete Vater sich vor meinte ebenfalls, daß er kein psychologi-
Belästigung. Er fürchtete sich als Auslän-
der davor, behelligt zu werden. Er wollte 29
Mackay, ein schottisch-deutscher Anarchist der
alleingelassen werden. Es gab keinen individualistischen Schule, war ein Mitarbeiter von
Kontakt mit Emma Goldman oder Alex- Liberty und Freund Tuckers bis zu seinem Tod
ander Berkman, die in Südfrankreich leb- 1933. Sein bemerkenswerter Roman Die Anarchis-
ten. Vater konnte beide nicht leiden. Mut- ten wurde von Tucker 1891 in englischer Überset-
zung veröffentlicht.
ter war mit Emma Goldman in New York 30
Hopkins, ein libertärer Sozialist, betrieb von
befreundet gewesen, und einmal sah sie 1912 bis 1918 eine Experimentalschule in Santa
beide in Nizza auf der Straße, entschloß Barbara, Kalifornien. 1926 begann er mit einer
sich aber, sich ihnen nicht zu nähern. weiteren Schule nahe Paris, die sich mehrere Jahre
hielt und es war während der späten 20er oder
28 frühen 30er, als er Tucker in Monaco besuchte.
Bool war gebürtiger Brite und Möbelhändler in
31
Ithaka, New York, der Tuckers publizistische Tuckers einziges Buch, Instead of a Book: By a
Tätigkeit unterstützte. Er kehrte zum Haus seiner Man Too Busy to Write One (New York 1893), war
Kindheit bei Montecute, Somerset, zurück, wo er eigentlich eine Auswahl aus seinen Schriften in
1922 starb. Liberty.
-11
2-
sches Verständnis für Menschen habe. Er Gefühl zu Amerika. Vater schrieb einen
hatte eine starke Zuneigung zu und große Brief an eine amerikanische Zeitung, in
Hochachtung vor mir, aber wir konnten dem er das Zerrbild von Justiz, das dort
über nichts diskutieren.32 stattfand, vernichtete. Während der letz-
Nebenbei bemerkt liebte Vater Kontrakte. ten Jahre seines Lebens begann der Spa-
Wir hatten vertragliche Übereinkünfte nische Bürgerkrieg. Er war sicherlich ge-
rund um den Haushalt. Als ich achtzehn gen Franco, aber er regte sich anschei-
war, verfaßte er ein schriftliches Abkom- nend nicht darüber auf. Dagegen war er
men darüber, welchen Anteil ich von dem wegen des sich nähernden Weltkrieges
zu zahlen hatte, was ich mit Klavierstun- sehr beunruhigt. Er meinte, wir sollten
den verdiente. Das mag kalt und berech- nach Dänemark flüchten, wo es sicher
nend erscheinen, doch es machte alles wäre! Wir waren sehr erschrocken über
klar und einfach. Niemals würde er mein München.33 Die Lage wurde immer
Zimmer betreten haben, ohne vorher an- schlimmer. Wir wußten nicht, was wir tun
zuklopfen, auch als ich noch ein kleines sollten - ihn aus seiner gewohnten Umge-
Mädchen war. Er war altmodisch in vie- bung reißen und nach Amerika gehen, um
lerlei Hinsicht. Zwei- oder dreimal fuhr er bei Tante Bertha zu leben? Es war tat-
in Paris in einem Auto. Aber er war vor sächlich eine Gnade, daß er starb, als er
ihnen zu Tode erschrocken. Er dachte, sie es tun wollte, wissen Sie. Noch am nächs-
wären gefährlich. Als Ergebnis mochte ten Tag verpackten wir seine Bücher und
ich sie auch nicht und stieg für lange Zeit Papiere. Am 5. Oktober 1939 erreichten
in keines ein. wir New York. Mutter ging zu Tante Ber-
Irgendwann in den 20ern schrieb Victor thas Farm, und ich blieb bei George Mac-
Yarros einen Artikel über Anarchismus, donald34, einem erbärmlichen Isolationis-
in dem er im Grunde genommen seine ten im höchsten Maße! 1940 nahmen wir
ganze Verbindung mit dem Anarchismus uns eine Wohnung in der Amsterdam
und seine komplette Vergangenheit ver- Avenue. Mutter starb dort 1948. Ich hei-
warf. Das machte Vater rasend. Er ratete in der Zwischenzeit. Mutter starb,
schrieb ihm, und es gab eine bittere Aus- als meine erste Tochter sechs oder acht
einandersetzung. Um diese Zeit ereignete Monate alt war. Meine ältere Tochter Ma-
sich die Sacco-und-Vanzetti-Affäre. Das rianne hatte ein Gehirn wie ihr Großvater,
war der erste Kratzer in meinem guten doch mit wieviel Sympathie und Ver-
32
ständnis für jeden. Nun ist sie 25 und
Laut W. C. Owen hatte sich Tucker „immer dem macht ihren Magister in Sozialarbeit in
Leben ferngehalten“, und seine Arbeit „schmeckte
zu sehr nach den feinen Abstraktionen, die
Philosophen seit unvordenklichen Zeiten
geschrieben haben.“ Owen an Joseph A. Labadie, 5. 33
Dezember 1913, Labadie Collection. George Gemeint ist das Münchner Abkommen, das am
Bernard Shaw beobachtete es ähnlich: „Tucker ist 30. September 1938 in Kraft trat. Im M.A. wurde
ein sehr anständiger Zeitgenosse, aber wie die meis- zwischen Großbritannien, Frankreich, Italien und
ten Intellektuellen beharrt er darauf, einer Welt Be- Deutschland (ohne Beteiligung der Tsche-
dingungen zu diktieren, die sich selbst gemäß den choslowakei) die Abtretung der Grenzgebiete Böh-
Gesetzen des Lebens organisiert, welche er nicht mens (Sudetengebiete) an Deutschland verfügt,
mehr versteht als Du oder ich.“ Shaw an James [Anmerkung des Übersetzers]
34
Gibbons Huneker, 6. April 1904, in: Shaws Col- Macdonald war ein ehemaliger Anhänger Tuck-
lected Letters, 1898-1910, herausgegeben von Dan ers und lange Zeit Herausgeber von The Truth
H. Laurence (New York 1972), S.415f. Seeker, einer führenden freigeistigen Publikation.
-12
2-
Baltimore. Ihre 23 Jahre alte Schwester dieser Art - und konnte keinen Ton hal-
studiert Tanz in Toronto. ten. Er hatte den Ruf eines kalten Men-
Vaters Einstellung gegenüber dem Kom- schen. Aber wie sehr liebte er Mutter!
munismus änderte sich niemals auch nur Und er weinte leicht über alles Großarti-
ein bißchen, auch nicht gegenüber der ge.
Religion. Er war während seines ganzen
Lebens sehr beständig. In seinen letzten
Monaten rief er die französische Haushäl- Hier endet das Interview mit Oriole Tu-
terin herbei. Er sagte: „Ich möchte Sie als cker. Die Biographie ist übersetzt aus:
Zeugin dafür, daß ich auf meinem Sterbe- Anarchist Portraits von Paul Avrich,
bett nicht widerrufe. Ich glaube nicht an Princeton University Press 1988, S.144-
Gott!“ An seinen Ideen war ich interes- 152
siert, sogar geistesverwandt. Aber ich war
niemals wirklich eine Anarchistin. Ich
glaube nicht, daß es jemals funktionieren
wird. Zum Ende hin tat Vater dies eben-
sowenig. Er war sehr pessimistisch ge-
genüber der Welt und ihren politischen Liebe Freunde
Aussichten. Aber er war immer optimis- und Freundinnen,
tisch, was ihn selbst betraf, immer gut ge- denkt bitte daran Euer
launt und glücklich; er saß nie herum und
grübelte, er war zufrieden damit, nach Espero-Abo zu erneuern,
draußen in die Landschaft zu schauen und wenn es ausgelaufen ist.
zu seinen Büchern. Er sang Hymnen der
Sonntagsschule - Rock of Ages und Dinge

-13
2-
Uwe Timm

Quadratur des Kreises

Wer gewählt werden will, macht Ver- slosigkeit zu äußern, Erklärungen


sprechungen. Werden diese sehr über- abzugeben, wie die Regierung dieses
zeugend vorgetragen, verbunden mit Problem lösen will und ob es für die
einer gewissen Ausstrahlung, lassen Arbeitslosen auch mehr Geld gibt.
sich Hoffnungen und Erwartungen aus- Die finanzielle Unterstützung für Ar-
lösen, besitzen Politiker gute Chancen beitslose in Deutschland, insofern sie
für einen Sitz im Bundestag, auch für noch Arbeitslosengeld beziehen, also
einen Ministerposten, gegebenenfalls noch keine Arbeitslosenhilfe, ist
für die Übernahme der Regierungs- wesentlich höher, als das in Frankreich
verantwortung. der Fall ist.
Wie auch immer, es sind weite Teile
der Bevölkerung, die von den Parteien,
von einer Regierung, einem Kanzler,
Stirner-Studien
der auch genügend Biß zeigt, von Bernd A. Laska
wirtschaftliche, soziale und politische
Veränderungen erwarten.
Das ist bei uns so, das ist in Frankreich Bd. 1: Ein heimlicher Hit -
nicht anders. Während in Deutschland 150 Jahre Stirners „Einziger“
der Bundeskanzler Helmut Kohl ver- Eine kurze Editionsgeschichte
sprach, es würde sich bis zur Jahrtau- 45 Seiten / 10,--DM
sendwende die Zahl der Arbeitslosen
halbieren lassen, erwies sich der
französische Premierminister Lionel Bd. 2: Ein dauerhafter Dissident -
Jospin nicht weniger großspurig, denn 150 Jahre Stirners „Einziger“
er wollte ja gewählt werden und da Eine kurze Wirkungsgeschichte
man in Frankreich die eigentlichen 165 Seiten / 30,--DM
Probleme genauso tabuisiert wie hi-
erzulande, handelte sich Jospin, nach-
dem er erfolglos regiert, beträchtlichen Bd. 3: „Katechon“ und „Anarch“
Ärger mit den Arbeitslosen ein, die Carl Schmitts und Erst Jüngers
jetzt Druck machen, in medienwirk- Reaktionen auf Max Stirner
samen Aktionen verdeutlichen, daß sie
110 Seiten / 20,--DM
von Jospin Taten verlangen und er-
warten.
Mit ihren Aktionen erreichten die Ar- Bezug:
beitslosen, unterstützt von der franzö- LSR Verlag
sischen Presse sowie dem Fernsehen,
öffentliche Aufmerksamkeit, zwangen Postfach 3002
sie Jospin, sich in der Frage Arbeit- 90014 Nürnberg
verfügen. Wird in diesen Bereichen die
Zwar besitzen die Arbeitslosen die Arbeitszeit gesetzlich verkürzt, also
Sympathie ihrer Landsleute, aber auch staatlich geregelt, erhöhen sich die
die Beschäftigten in Frankreich sind Kosten und damit die Preise für zahlre-
kaum bereit, höhere Belastungen iche Dienstleistungen.
hinzunehmen, eine Kürzung ihrer Was die mittelständischen Betriebe
Nominallöhne, um damit einen Beitrag brauchen, um mehr Leute zu beschäfti-
zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit gen, ist eine Reduzierung von Kosten,
zu leisten. d.h. weniger Steuern, Abgaben,
Deutschland und Frankreich sind ver- Gebühren, geringere Kapitalkosten.
schuldete Staaten. Es wird zwar von Gleiches gilt für die Kommunen, denn
den Folgen der Verschuldung diese müssen ständig erhöhte Steuer-
gesprochen, davon, daß die BürgerIn- lasten aufbringen, wozu dann noch die
nen immer mehr Steuern für den Kapi- steigenden Kapitalkosten kommen.
taldienst aufbringen müssen, Politiker Länder und Gemeinden müssen sich
auf allen Ebenen den Staat als Selb- auch noch darauf einrichten, daß sie
stbedienungsladen nutzen, aber eine Pensionskosten für die Beamten über-
Geldverfassung, die einen monopolka- nehmen müssen und da handelt es sich
pitalistischen Charakter besitzt, kosten- um eine Kostenlawine von über 200
trächtige staatliche Privilegien und Re- Milliarden D-Mark.
glementierungen, all diese und weitere Wer nicht bereit ist, sich mit diesen
Themen werden tabuisiert. Problemen eingehender zu befassen,
Kommunen klagen, sie besäßen keine als es der Fall ist, sollte nicht, wie es
Mittel selbst für notwendige Investitio- Jospin versucht, die Menschen zu
nen, was im Klartext heißt, sie müssen täuschen und ihnen Sand in die Augen
noch mehr sparen, womit sie sich zu streuen.
selbst als Jobkiller betätigen. Ein Herr Geyer, Vorsitzender vom
Das Zauberwort der Linken heißt "Ar- Deutschen Beamtenbund, wahrlich ein
beitszeitverkürzung". Nun gibt es sehr reaktionärer Typ, Interessen-
keinen Zweifel daran, daß Arbeit- vertreter einer Bevölkerungsschicht,
szeitverkürzungen sinnvoll waren und die ihren erreichten Besitzstand zu
sind, aber immer nur unter der Voraus- sichern sucht, kam ganz plötzlich auf
setzung, daß entsprechende Verein- einen wahrhaft anarchistischen
barungen die betrieblichen Möglich- Gedanken, konnte er sich doch mit
keiten berücksichtigen. einem Pensionsfond für die Beamten
Ist dieses nicht der Fall, wird das anfreunden, wenn nur geringe Beiträge
Gegenteil erreicht, nämlich eine ver- zu leisten wären, aber dieser Fond
schärfte Rationalisierung, um den Kos- müßte sicher sein vor einem Zugriff
tendruck abzufangen oder zusätzliche der Regierung.
Kosten einzusparen. Immerhin, der Mann kennt die Regie-
In zahlreichen Branchen können die rung. Denn die Frage, ob und wie wir
Beschäftigten schlicht in einer Stunde regiert werden, ist von sekundärer Be-
nicht mehr leisten, auch dann nicht, deutung, daß wir regiert werden, die
wenn sie über technische Hilfsmittel Aggression einer Regierung und damit
auch den Zugriff auf die Taschen der slosigkeit wird es nur geben, wenn die
BürgerInnen als Normalität betrachten, Arbeit von den staatlichen Zwängen
ist das eigentliche Problem. sowie den kapitalistischen Kosten be-
Den Staat wie jede andere Institution freit wird.
zu sehen, dieser Gedanke fehlt in der Unser System leistet noch Kon-
öffentlichen Diskussion. Das Bun- sumwahl, grünen oder schwarzen
dessozialgericht in Kassel hat in einem Pullover, aber in fast allen anderen
Urteil bestätigt, daß die Regierung die Lebensbereichen wurden die BürgerIn-
Rentenkasssen für "versicherungsfrem- nen entmündigt, haben sie den An-
de Leistungen" verwenden kann, die weisungen der Regierung Folge zu
Beitragszahler sich damit abfinden leisten.
müssen, daß ihre Leistungen nicht vor Vertreter der Krankenkassen beklagen,
einem Zugriff der Regierung sicher daß sie keinen politischen Handlungs-
sind. spielraum besitzen, um mit den
Wie eingangs gesagt, die Politiker Krankenhäusern und den Ärzten eigen-
schlagen sich an ihre soziale Brust, ständige Verträge abzuschließen.
machen Versprechungen und da sie ja Stattdessen gibt es staatssozialistische
selbst immer nur ihre eigene soziale Zwangsmaßnahmen, so erhöhte
Frage lösen, müssen die BürgerInnen Zuzahlungen bei den Medikamenten,
für diese Versprechungen bezahlen. für einen Aufenthalt im Krankenhaus
Auch die Besteuerung der Arbeit ist in und weil die Länder ihre Kranken-
Wahrheit Sklaverei. Wie sich Bürg- häuser verkommen ließen, sind auch
erInnen allmählich die Frage stellen, da Zahlungen von den Versicherten der
wieso werden unsere "Rentenbeiträge" gesetzlichen Krankenkassen zu leisten.
versicherungsfremd verwendet, genau- Zwangsweise, versteht sich. Bei der
so dürfte mehr und mehr nachgefragt Verwendung der Steuergelder, nur der
werden, was mit den Steuern Bund der Steuerzahler nennt zuweilen
geschieht, wohin diese verschwinden. diese oder jene Verschwendung beim
Wenn ein Staat schon 2 Billionen D- Namen, hält es die Regierung mit
Mark Schulden gemacht hat, allein mit einem Kollektivismus, einem Prinzip
den Kapitalzinsen die kommenden der kostenträchtigen Gleichmacherei.
Generationen belastet, ist die These, So erhalten auch die Wohlhabenden
wie sie auch von den Grünen vertreten das staatliche Kindergeld, womit diese
wird, man müsse nur noch mehr wahrscheinlich die Tennis-und Reit-
Steuern eintreiben, Etikett "ökolo- stunden ihrer Zöglinge bezahlen.
gisch", mehr als fragwürdig. So dienen Befreit von jeder Sachkompetenz, aber
auch die 5,00 D-Mark oder 10,00 D- sehr interessiert an seinem warmen
Mark für einen Liter Benzin nur dazu, Platz im Bundestag, zeigte sich auch
um die Haushaltslöcher zu stopfen. Herr Gysi von der PDS und nach einer
Arbeitslosigkeit ist eine Frage der Fi- Verwunderung darüber, warum die
nanzierbarkeit der Arbeit. Die Forde- Wohlhabenden immer reicher werden,
rung nach Arbeitszeitverkürzungen schwärmte er ostalgisch, dachte daran,
mag publikum wirksam sein, aber wie schön es doch war, jedem Genos-
einen Abbau der Massenarbeit- sen seinen Posten, wobei er dann auf
seine Forderung kam, nämlich der "finanzieren" sind, ein weiterer Stellen-
Staat sollte mehr Leute in den abbau unvermeidlich ist.
"Staatsverwaltungen" beschäftigen. An der Zeit, daß die Benachteiligten,
Millionäre sollten mehr Steuern die Arbeitslosen und die Sozialhil-
zahlen. Appelle an den Neid lassen feempfänger, auch in Deutschland auf
sich vorteilhaft vermarkten, aber wer die Straße gehen, um auf sich aufmerk-
die Ursachen nicht antastet, die zu sam zu machen.
einer einseitigen Vermögensbildung Aber auch an der Zeit, daß sich jene
führen, sollte lieber ganz schweigen. Kräfte miteinander verbinden, die für
Weil man sich nicht mit dieser Frage eine Befreiung von der staatlichen
befaßt, sollen die Feuerwehrleute in Bevormundung plädieren, einen Zu-
Hamburg 50 Stunden in der Woche ar- stand der wirtschaftlichen Unab-
beiten, weil Neueinstellungen nicht zu hängigkeit für alle anstreben.

Dr. Rolf Engert’ s


Max Stirner Dokumente

in schwarzer Leinenkassette, 300 numerierte Exemplare, 128,--DM.


Sechs Hefte & eine Originalphotographie vom Stirnergrab.

Inhalt:
Heft 1: Vorwort von Jochen Knoblauch / Heft 2: Max Stirner; Über Schulgesetze (1834)
Heft 3: Das Bildnis Max Stirners - Das Bild der Freien / Heft 4: Stirner Dokumente (in
Faksimiliewiedergabe) / Heft 5: R. Engert; Ein radikales Zeitschriftenprogramm aus dem
Vormärz (Erstveröffentlichung) / Heft 6: Die Berliner Freien - Sturmvögel der Revoluti-
on. Zusammen ca. 152 Seíten.

Bezug: Anti-Quariat Reprint Verlag Berlin


Oranienstr. 45 * 10969 Berlin

Jochen Knoblauch

Wir geloben...Krieg dem Krieg


oder besser gesagt: Krieg dem Staat

Seine Macht zu demonstrieren ist - sich beweisen gegenüber allen Wider-


selbst wenn es unsinnig ist - ein Mar- ständen.
kenzeichen der Mächtigen. Direktiven Ein Beispiel unter vielen ist dafür si-
durchdrücken, koste es was es wolle, cherlich die öffentliche Vereidigung
von Rekruten. Das Säbelrasseln im öf- richtungen nicht zum Reißen zu brin-
fentlichen Raum mit allen Tschinge- gen, weil der Staat eben mit diesen bil-
rassabum, weil eben der zum Töten ligen Arbeitskräften rechnet.
ausgebildete Bürger in Uniform nicht Berlin, zumindest Westberlin, war 40
die gewünschte Akzeptanz hat, wird Jahre frei von deutschen Soldaten, und
sie eben mit aller Gewalt (im wort- die Alliierten hielten sich vornehm zu-
wörtlichsten Sinne) in die Öffentlich- rück, bis auf ein alljährliches Kettenge-
keit gedrückt. rasssel auf der ehemaligen Hauptstadt-
Der Stolper-Minister Rühe muß unbe- achse, welches allerdings zunehmend
dingt was für seine Jungs tun, obwohl auch von Protesten begleitet war.
die Truppe selbst ja nun für genügend Nach der schreienden Geschmacklo-
Gesprächsstoff in der Öffentlichkeit sigkeit eines Fackelzuges am Branden-
sorgt. In rechter Tradition schwört sich burger Tor (8. September 1994), wo
der Trachtenverein in die Großdeut- sich die Bundeswehr den großen Zap-
sche Zukunft. Dem Herrn Minister fen streichelte (Lieber ein warmer Bru-
reicht es nicht, wenn es Stimmen gibt, der, als ein kalter Krieger!) wurde am
die lauthals dagegen protestieren, nein, 31. 5. 96 die erste öffentliche Vereidi-
er macht jetzt auch noch die „Linken“ gung in Berlin vor dem Charlottenbur-
dafür verantwortlich, daß sein Saustall ger Rathaus lautstark gestört. Die Nor-
sich nazimäßig in öffentliche Bericht- malität des Ausnahmezustandes wurde
erstattungen drängelt. Auch das hat geprobt. Oberbürgermeister Diepgen
Tradition, wurden doch schon mal die ließ sich sogar in einer durch Pfiffen
Pazifisten dafür beschuldigt, daß es gestörten Rede zu dem Schwachsinn
überhaupt zu einem 3. Reich kommen hinreißen von der Anknüpfung von
konnte. Sein Argument: wenn mehr Traditionen zu reden. Da er ja vermut-
Linke in der Bundeswehr das Töten, lich nicht die Aufmärsche der NVA
Saufen und Sichlangweilen (neben (Nationale Volksarmee der DDR)
Zucht & Ordnung) lernen würden, meinte, können ja nur die Aufmärsche
wäre der rechte Haufen ausgegliche- und Vereidigungen der Hitler-Armee
ner. Die KPD/ML propagierte ja be- gemeint sein. Schönen Dank auch.
reits in den 70er Jahren im ähnlichen Nun hat sich Rühe für den Tag des
Tenor, daß die Proletarier an den Waf- Mauerbaus und dem alljährlichen Auf-
fen des Kapitals geschult werden soll- marsch Ostberliner Betriebskampf-
ten. Die RAF hat es allerdings auch gruppen, in Anknüpfung an Traditio-
ohne das geschafft, wenn sie sich auch nen, den 13. August 1998 ausgesucht.
militärisch geschlagen geben mußten. Ort des Geschehens, diesmal das Rote
Eine Misere. So sind doch schon die Rathaus in Berlin Mitte, welches we-
Wehrdienstverweigerer daran schuld, nigstens, als Regierungssitzes des Ber-
daß es überhaupt noch eine Wehr- liner Senates eine Bannmeile hat. D.h.,
pflicht gibt. Denn die Wehrdienstver- daß diesmal das öffentliche Gelöbnis
weigerer, die den größten Teil der wohl ohne Öffentlichkeit auskommen
Kriegsdienstler stellten, werden benö- muß, die ja eh nur stört. Eine nochma-
tigt, um das soziale Netz in Altenhei- lige massive Störung wollen sich die
men, Kindergärten und sonstigen Ein- Mächtigen nicht antun, zumal ja unser
Berliner Innensenator ein Ex-General deutschen Militarismus stellen sollte
ist. (vgl. Berliner Zeitung vom 31.1. / 1.2.
Die GegnerInnen des (von mir aus de- 98). Trillerpfeiffen und heisere Kehlen
mokratischen,was die Sache um keinen werden hier nicht mehr ausreichen, um
Deut besser macht) deutschen Milita- dieses Militaristentreffen zu boykottie-
rismus werden sich anstrengen müssen, ren.
ihren Unmut gegen dieses Spektakel In ungewollt hellseherischer Weise
deutlich zu machen. Mit Phantasie und habe ich in der letzten Espero ein Zitat
taktischem Geschick wird es uns schon von John Henry Mackay aus seinem
gelingen, zumal Rühe inzwischen Buch „Abrechnung“ von 1932 auf die
schon wieder nachdenkt deutsche Sol- Seite 35 eingefügt, welches hier als
daten in die Weltgeschichte (sic!) zu Schlußwort nochmals unsere Position
schicken. Wie wärs den mal nach dem nur zu deutlich macht: „So lange es
Einsatz in Ex-Jogoslawien mit dem Staaten gibt wird es Kriege geben. Da
Irak? Wenn deutsche Waffen schon in aber Staaten noch lange bestehen wer-
aller Welt töten, warum dann nicht das den, wird es noch lange Kriege geben,
Bedienungspersonal gleich hinterher- Kriege, die sich erfahrungsgemäß an
schicken? Scheußlichkeit, Grausamkeit, Wildheit
Das Wutpotential könnte sich noch um und Raffiniertheit in den angewandten
einiges erhöhen, dank der GenossIn- Mitteln, wenn auch wohl nicht mehr an
nen von der klassischen Verräterpartei Dauer, übertreffen werden. Der Kampf
(SPD). Nachdem einige aus den SPD- sollte daher nicht in der Folge: dem
Reihen an dem Datum rumzumäkeln Kriege, sondern der Ursache: dem
hatten (besonders der Vorzeige Ossi Staate gelten. Nicht ‘Krieg dem Krie-
Thierse), tritt der inzwischen, nicht nur ge!’ sondern ‘Krieg dem Staate!’ müß-
bartlose, Scharping dafür ein, daß die te es heißen.“
SPD sich auch an einem 13. August an In dem Sinne.
die Seite (und in die Tradition) des

Rezensionen

Thema: Faschismus alismus" und das des "Faschismus".


Und so, wie es dem Selbstverständnis
Uwe Timm jener militanten Jungrevolutionäre
Was ist eigentlich Faschismus? entsprach, lateinamerikanische oder
Edition Anares Bern, 1997 chinesische "Freiheitskämpfer" und
64 Seiten / 10,- DM "Führer" ( die ihrem wahren Wesen
nach im harmlosesten Fall Illusionisten
Den intellektualisierenden Salonre- waren) in den Rang glorifizierter Iden-
bellen der sogenannten 68er-Bewe- tifikationsfiguren zu erheben, so zählte
gung standen zwei bevorzugte Feind- zu diesem Selbstverständnis die Etiket-
bilder zur Verfügung: das des "Imperi- tierung als Antiimperialist und An-
tifaschist. Während der erstgenannte um präzise Zuordnungen. Da des Au-
Begriff heute nur noch vergleichsweise tors Kindheit in die Zeit des Dritten
selten Verwendung findet, hielt sich Reiches fiel, werden Geschehnisse
die Standardvokabel "Antifaschismus" jener Schreckensjahre aus der Sicht
hartnäckig am Leben. Was also liegt persönlicher Erfahrungen erhellt.
näher als eine präzise Zuordnung des Konkrete Fakten und Darlegungen
Begriffs "Faschismus". In der Tat wird zeitgeschichtlicher Hintergründe wer-
über diesen unvermindert referiert und den in umsichtiger Weise miteinander
geschrieben. Letzteres zumeist in lan- verbunden.
gatmig und "gelehrt" wirkenden Bü- Im zweiten Teil "Die Linke und der
chern, die freilich nicht selten zur Faschismus" erhebt sich für den Autor
Vernebelung oder ( noch schlimmer) die Aufgabe, das wuchernde Gestrüpp
zur Rechtfertigung eigener totalitärer einer Dialektik zu durchdringen, wel-
Positionen statt zur Klärung beitragen. che die Argumentation jener "Linken"
Vom Gros derartiger, oftmals in bemü- bestimmt, die "einen sogenannten An-
hendem Soziologenjargon tifaschismus propagieren, ohne ihre
geschriebenener, Publikationen hebt eigene Geschichte zu reflektieren" und
sich Uwe Timms hervorragende, allge- die "ihr autoritäres Weltbild außerhalb
meinverständliche Darstellung " Was der Diskussion stellen".
ist eigentlich Faschismus?" positiv ab. Zu den wahrhaft grotesken Konstruk-
Gliederung in die zwei Hauptteile tionen zählt etwa des Marxisten Hans
"Faschismus und Nationalsozialismus" G. Helms krampfhafte Bemühung,
und "Die Linke und der Faschismus" Max Stirner als "kleinbürgerlichen
verweist auf wesentliche Punkte, die in Faschisten herauszuputzen".
der landläufigen "Faschismusdiskus- Im Kapitel "Die Teufelaustreibung in
sion" meist betulich zerredet werden: Sowjetrußland und ihre Folgen" wird
"Der Begriff "Faschismus" wird von anhand von Fakten die Einsicht unter-
manchen Linken mit Vorliebe dann mauert, daß Kommunismus und Na-
verwendet, wenn sie ihre eigene Posi- tionalsozialismus sich sowohl ihrem
tion nicht kritisch vertreten können, sie Wesen nach, als in ihren Methoden an
erreichen wollen, daß weltanschaulich Inhumanität und destruktiver Negation
oder politisch Andersdenkende "kalt- des Menschen als geistigem Wesen in
gestellt" oder zumindest mundtot nichts nachstehen.
gemacht werden." Der Autor vermag aber auch überzeu-
In einem historischen Exkurs legt Uwe gend darzulegen, daß sich diese Totali-
Timm die unterschiedlichen weltan- tarismen nicht allein hinsichtlich ihrer
schaulichen Ursprünge und Positionen Inhumanität, sondern auch des Maßes
vom italienischen Faschismus (und an offensichtlichem ökonomischen
analoge Diktaturen) einer - und Dilettantismus ähneln. Zentrales Ele-
deutschem Nationalsozialismus ander- ment ist und bleibt freilich ein beiden
erseits dar. Dabei geht es - auch hin- Ideologien gemeinsames bewußtseins-
sichtlich der Darstellungen abweichen- mäßig eingengtes Menschenbild. Dazu
der Strategien - keinesfalls um äußert Uwe Timm in seiner Schlußbe-
Beschönigungsversuche, sondern allein trachtung:
"Antifaschismus besitzt nur dann eine Totalitarismus und in diesem Zusam-
Glaubwürdigkeit, wenn damit Alterna- menhang etwa die verhängnisvolle
tiven für eine Gesellschafts- und Rolle der Philosophie Hegels. Dieser
Wirtschaftsordnung verbunden wer- bot in nicht geringem Maße - sowohl
den, die jedem Totalitarismus den bezüglich ihres verabsolutierten
Nährboden entziehen und eine perma- Fortschrittsoptimismus als ihrer
nente Evolution der Freiheit und Staatsvergottung - geistiges Rüstzeug
Sicherheit des Bürgers vor staatlicher für Totalitarismen kommunistischer
Willkür garantieren." und nationalsozialistischer Ausprä-
Mit Uwe Timms lehreichem und wei- gung.
terführendem Essay steht nicht nur ein Hanns Schaub
wertvoller und weiterführender Beitrag Anmerkung der Redaktion:
zur Klärung eines vieldeutigen Begriffs Auf diesem Wege möchten wir Hanns
zur Verfügung - die Schrift regt auch Schaub, der der Mackay-Gesellschaft
zu eigenen assoziativen Reflexionen über Jahrzehnte ein treuer Weggefährte
an, etwa über die geistes- war alle guten Wünsche übermitteln
geschichtlichen Voraussetzungen des und eine baldige Genesung.

Wahlverwandtschaft sche Intellektuelle zu Beginn dieses


Jahrhunderts in Mitteleuropa gar nicht
„Erlösung und Utopie“ - Michael anders konnten, als ihre Identität in ei-
Löwy schreibt von der Wahlver- ner Dialektik - Löwy nennt es „Wahl-
wandtschaft zwischen jüdischem verwandtschaft“ - von jüdischem Mes-
Messianismus und libertärem Den- sianismus und libertärem Denken zu
ken zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchen.
in Mitteleuropa. Der Bogen dieser, von Löwy vielleicht
allzu harmonisierend und gleichschal-
Michael Löwy, Erlösung und Utopie. tend, gespannten Sehne reicht von
Jüdischer Messianismus und libertäres Franz Kafka, dem scheinbar unpoliti-
Denken schen und an der Wirklichkeit zerbre-
Karin Kramer Vlg. Berlin 1997 chenden Literaten bis zu Gustav Lan-
DM 45,-/ 303 Seiten dauer, dem erklärten Anarchisten. Zwi-
schen diesen zwei Extremen bewegen
Walter Benjamin ein Anarchist? Franz sich andere. Unterschiedliche Persön-
Kafka ein Anhänger Bakunins? Erich lichkeiten wie Ernst Bloch, Martin Bu-
Fromm ein libertärer Adept? Nein, wer ber, Gershom Scholem, Leo Löwen-
Löwys Studie so lesen wollte, würde thal, Franz Rosenzweig, Erich Fromm,
fehlgehen! Die zentrale These des Pari- Georg Lukásc und vor allem, sozusa-
ser Soziologen ist dafür zu spannend. gen im „Auge des Taifun“: Walter
Unterstellt wird, daß zahlreiche jüdi- Benjamin. Obschon viele der Genann-
ten sich untereinander kannten, teilwei-
se auch enge Freundschaften miteinan- suchten Autoren zielt die Dynamik der
der unterhielten, (wie Scholem mit Wahlverwandtschaft auf diesen höchs-
Benjamin oder Buber mit Landauer), ten Punkt; in einigen Fällen scheint sie
so will Löwy doch zeigen, daß jeder ihn hier und da zu erreichen.“
dieser Denker auf jeweils sehr originä- Mittels dieses Hintergrundes scheint es
ren Wegen zu dieser gemeinsamen, Löwy zu gelingen, selbst scheinbar
wahlverwandtschaftlichen Plattform Fernstes miteinander zu verbinden.
von Messianismus und libertärem Den- Bloch, Benjamin, Lukács und Löwen-
ken gefunden hat. thal werden trotz ihrer Mitgliedschaft
Alle hier von Löwy untersuchten Auto- in der Kommunistischen Partei eine
ren hatten einen gleichen Ausgangs- verinnerlichte, libertäre Grundhaltung
punkt: diese besondere mitteleuropäi- unterstellt. Löwy zitiert Äußerungen
sche Atmosphäre, die nahezu jeden Ju- von Gershom Scholem aus den 70er
den vor die Frage von Assimilation Jahren, in denen sich dieser ein „reli-
und Zionismus stellte. Es war diese so- giöser Anarchist“ nennt. Von Franz
ziale Lage, die das Bewußtsein in eine Kafka weiß er zu berichten, wie dieser
Beziehungssuche von Politik und Reli- 1912 bei einer anarchistischen Kund-
giösität drängte. Immerhin beobachtete gebung gegen die Hinrichtung des Pa-
Max Weber um 1910 nicht von unge- riser Anarchisten Liabeuf von der Poli-
fähr, daß jüdische Intellektuelle ab zei verhaftet wurde. Schließlich be-
Mitte des 19. Jahrhunderts eine wich- schreibt er Benjamins Bakunin-Begeis-
tige Rolle bei der Formulierung und terung. Kritische Leser könnten hier
Gestaltung subversiver Ideen spielten. Löwy zu Recht fragen, ob aus dem
Was aber ist für Löwy der gemeinsame Einzelnen zwangsläufig das Allgemei-
Nenner von libertärem Denken und jü- ne folgt bzw. inwieweit kann eine Affi-
dischem Messianismus? Vor allem: das nität zur libertären Idee einen Men-
Wechselspiel von restaurativen und schen notwendigerweise zum Libertä-
utopischen Kräften, die in beiden ren machen?
Wahlverwandten ständig virulent, prä- Im Zentrum von Löwys Untersuchun-
gend und leitend sind. Es ist ein Hoffen gen steht der Versuch bei allen von
auf Wiederherstellung des Goldenen ihm untersuchten Autoren diesen be-
Zeitalters, bei gleichzeitiger Sehnsucht sonderen Blick zurück nach vorn frei-
nach der ganz neuen, anderen, befrei- zulegen. Dieses Neue, das aus dem In-
ten Gesellschaft. In der Folge sieht einander von restaurativem und utopi-
Löwy eine soziokulturelle Dynamik schem Denken erwächst. Er stellt fest,
am Werden, die einerseits religiöse wie einig sich alle die für ihn nur
Phänomene politisch wirksam werden scheinbar disparaten Denker vor allem
läßt und andererseits sozialen Utopien in ihrer rigorosen Zivilisationskritik
religiöse Spiritualität eingibt: „In die- waren. In tiefer Wertschätzung roman-
sem Moment entsteht als neuer Impuls tischer und damit einhergehend, mittel-
die libertäre Prophetie, die Verheißung alterlicher Gemeinschaftsvorstellun-
einer restitutio in integrum über das gen, mißtrauten sie der Industrialisisie-
weltliche Mittel der Revolution. [...] rung, dem Fortschrittsparadigma über-
Bei mehreren der von uns hier unter- haupt: „Alle Hoffnungen, Wünsche
und Träume der Parias, der von der daß sie dafür prädestiniert waren, vie-
Geschichte Ausgeschlossenen, haben les voraus- und vorherzusehen.
im historischen Messianismus ihren Bei aller berechtigten Kritik, die vor
Ausdruck gefunden. Er ist romantisch, allem die pauschalisierende Herange-
weil er die Welt wieder verzaubern, hensweise Michael Löwys treffen muß,
den Geist der Gemeinschaft und die so öffnen seine Thesen doch einen wei-
zerstörte Harmonie zwischen Mensch ten und neuen Horizont. Landauers
und Natur wieder ins Leben rufen Ahnungen vom Ersten Weltkrieg, Ben-
möchte. Die Kultur soll erneuert wer- jamins Vorhersagen über den Faschis-
den als ein Universum qualitativer mus, wie auch Kafkas Beschreibungen
Werte, mit denen sich kein Handel trei- von der endlosen Unausweichlichkeit
ben läßt und die nicht quantifizierbar können mit dieser Studie nicht länger
sind.“ mehr als singuläre Prophetien verstan-
Es ist diese Geisteshaltung, in der sich, den werden. Sie erscheinen im Kontext
laut Löwy, Ernst Blochs Studie über von anarchischem wie messianischem
Thomas Müntzer, Gustav Landauers Denken, über die Wahlverwandtschaft
Meister Eckart-Übersetzung, Martin von Restauration und Utopie, keines-
Bubers Legende des Baal Schem, wegs zufällig, sondern als deren not-
Franz Kafkas Schloß-Roman, Leo Lö- wendige Folge.
wenthals Dissertation über Franz von Der Nationalsozialismus hat diesem
Baader und Walter Benjamins Thesen Denken in Mitteleuropa weder Haus
über den Begriff der Geschichte begeg- noch Wurzeln gelassen und damit die
neten. Im Kampf gegen die Katastro- Gesellschaften um grundlegende Au-
phen der modernen Welt fügten sie gen, Gefühle und Stimmen beraubt.
sich ineinander zu einer eigenen neuen Als Michael Löwys Buch 1988 unter
Stimme, die mit neoromantisch allein, dem Titel „Rédemption et utopie. Le
falsch definiert wäre. Diese Stimme judaisme libertaire en Europe centrale“
äußerte sich in Gestalt eines bunten in Paris erschienen war, wurde es von
und wilden Widerspruchs gegen das der deutschen Öffentlichkeit nicht
Dogma vom evolutionären Fortschritt. wahrgenommen. Hoffentlich ein Zu-
Ein Dogma, das in der Regel eilfertig fall. Kein Zufall ist sicherlich, daß jetzt
die geschichtliche Erfahrung aller Un- die Übersetzung im Berliner Karin
terdrückten ignoriert. Löwy will zei- Kramer Verlag, dem wohl renommier-
gen, daß die genannten jüdischen Intel- testen deutschen libertären Verlag, er-
lektuellen auf besondere Weise in der schienen ist.
menschlichen Zeit standen und fühlten, Thorsten Znih

Mitteilungen
FLI-Treffen Anzeigen ab, d.h. sie haben sich nicht mal
unsere Zeitschrift angeguckt, hauptsache
Das 6. FLI-Treffen (Forum für libertäre ihre Anzeige wird kostenlos publiziert.
Informationen) findet vom 10. - 14. Juni Nun ja, das ist deren Angelegenheit, und
in Wiesen im Spessart statt. die Sache selbst ist auch nicht die
Vorbereitungspapiere, Informationen und schlechteste.
Anmeldung gegen 1,10 DM Rückporto „Wir brauchen schelles Geld! Für Men-
an/bei: schen in Not. Denn Kriegsverletzte und
FLI c/o H.-W. Meeuw Kranke können nicht warten. ... Unter-
Postfach 3643 stützen Sie uns!“
26026 Oldenburg Ärzte ohne Grenzen e.V.
Lievelingsweg 102
53119 Bonn
Gegen den Wahlfang
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flattert. Da schreibt uns der Präsident (!) BLZ 380 500 00
des statistischen Bundesamtes, und bietet
die Hilfe seines Amtes uns an, da „das Ich mache keine Witze mehr über Kohl.
Jahr der nächsten Wahl zum Deutschen Ich lache gleich über ihn
Bundestag (...) für Sie als Journalist von
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möchte uns unterstützen, in dem er seine Wolfgang Neuss
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Zu beziehen über:
pero-Redaktion erältlich, plus 1,50 DM
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Fax: 05132 / 93 833
Post bekamen wir auch von der Organisa-
tion Ärzte ohne Grenzen e.V. mit der Gratulation dem „Einzigen“
Bitte um Abdruck einer ihrer Anzeigen
(wir könnten zwischen 13 verschiedenen Am 3. 2. 1998 erscheint die erste Ausgabe
wählen). Wir drucken aber keine einer neuen Zeitschrift für Stirnerianer und
Engertianer mit dem historisch anspruchs- la Engert über Nietzsche, Stirner und Ste-
vollen Titel „Der Einzige“. Die Herausge- kel, Herbert Gebert über Stirner und ein
ber dieser neuen Vierteljahresschrift Kurt kurzes Vorwort von Jack Friedland zu Stir-
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ihrem Editorial wert darauf, daß sie ein ei- Das 20seitige Heft kostet 5,-- DM / Abo
genes Profil erlangen möchten. Wir bitten 20,--DM pro Jahr. Bezug:
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