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A P R I L / M A I 2 011 · N R .

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2 | Gehasst… 4 | Verdammt… 7 | Verzählt…


Als ob »die Türken« vor Wien ständen Warum Lena uns nicht mehr eint Der Staat zählt durch:
– antimuslimischer Rassismus und manche wieder Feinde sind Eene meene muh und raus bist du
Dear friends Mit solchen Vorstellungen scheint Friedrich
vielen Menschen in Deutschland aus der Seele zu
sprechen. Vorbehalte und Ressentiments gegenüber
Der nukleare Ernstfall in Japan Muslim_innen sind hierzulande weit verbreitet. In
Deutschland, wie auch in vielen anderen Ländern
überdeckt alle anderen Themen.
Europas, lässt sich eine Zunahme derartiger islam-
Das ist richtig so, denn es betrifft feindlicher Einstellungen feststellen. Einer Studie der
alle und zwar auch noch dann, Friedrich-Ebert-Stiftung aus dem Jahr 2010 zufolge
wenn schon nicht mehr darüber stimmte über die Hälfte der Befragten der Aussage
berichtet werden wird. Wo Profit »Ich kann es gut verstehen, dass manchen Leuten Araber
die einzige Maxime ist, wird Risiko unangenehm sind« zu. Im Vergleich zum Jahr 2003 ist
vernachlässigt. Auch hierzulan-

Geistige Brandstiftung
de verdient die Atommafia an
unser aller Risiko. Zeit, damit
endgültig Schluss zu machen.
In dieser Ausgabe beschäftigen
»Dass der Islam zu Deutschland gehört, ist eine Tatsache, die sich auch aus der Historie nirgends
wir uns jedoch vorrangig mit
anderen Themen. Dabei geht es im belegen läßt.« Nach nicht einmal 24 Stunden im Amt scheint der neue Innenminister Hans-Peter
Schwerpunkt um gruppenbezogene Friedrich als erste Amtshandlung eine weitere Debatte um die »deutsche Leitkultur« führen zu
Menschenfeindlichkeit: Was ist wollen. Bereits kurz nach der Rede von Christian Wulff im letzten Herbst, als dieser feststellte,
nur aus dem Sommermärchen der »dass der Islam inzwischen auch zu Deutschland gehöre«, widersprach Friedrich: »Die Leitkultur
Einheit geworden? Ohne dass wir in Deutsch­land ist die christlich-jüdisch-abendländische Kultur, nicht die islamische«.
Fans irgend einer Religion wären,
stellt sich diese Frage am Beispiel
des antimuslimischen Rassismus Rassistische Einstellungen funktionieren nach einem
einfachen Schema. Zunächst werden scheinbar ein-
auf S.2-3. Weiterhin betrachten wir
heitliche Gruppen konstruiert. Bestimmten Gruppen
die Entwicklung der Gleichstellung werden dann negative, anderen positiv konnotierte
von Frauen aus unterschiedlichen Eigenschaften zugewiesen. Anschließend werden die-
Blickwinkeln und untersuchen die jenigen, die der konstruierten Gruppierung mit den
drohende Volkszählung. zugeschriebenen negativen Eigenschaften zugerech-
net werden, diskriminiert und ausgegrenzt. Durch das
Abwerten und Stigmatisieren der »fremden Gruppe«
findet gleichzeitig eine Aufwertung der »eigenen
Der Antiberliner hat seinen Namen
Gruppe« statt. Diese Struktur ist bei den oben be-
vom ehemaligen Berliner CDU- schriebenen antimuslimischen Einstellungen wieder-
Bürgermeister Diepgen, der die dies eine Steigerung von rund 11%. Der Aussage »Für zufinden, auch wenn die Gruppengrenze nicht anhand
Menschen in Kreuzberg als »An- Muslime in Deutschland sollte die Religionsausübung von ethnischen oder nationalen Aspekten, sondern
tiberliner« brandmarkte, nachdem erheblich eingeschränkt werden« stimmten 58,4% anhand religiöser und kultureller Kategorien gezogen
sie am 1. Mai 1987 nachdrücklich zu. In den neuen Bundesländern waren es sogar über wird. Mitunter vermischen sich auch »klassische ras-
darauf bestanden hatten, den Tag Dreiviertel der Befragten. Auch andere Studien wie sistische Einstellungen« mit antimuslimischen, z.B.
z.B. die jährlich erscheinende so genannte »Heitmey- dann, wenn Menschen aufgrund ihrer Körpermerk-
der Arbeit ohne Polizei zu feiern. er-Studie« des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- male zur Gruppe der »Muslime« subsumiert werden.
Ein Ehrentitel also. und Gewaltforschung (IKG) aus Bielefeld zeigen ähn- Ausgespart werden in jedem Fall sowohl soziale Wi-
liche Relationen. Der neusten Studie des IKG aus dem dersprüche als auch unterschiedliche politische und
Jahr 2010 zufolge bejahten 38,9% die Aussage »Durch ökonomische Verhältnisse innerhalb der konstruier-
impressum die vielen Muslime hier fühle ich mich manchmal wie ein
Fremder im eigenen Land«. Und immerhin 26,1% fan-
ten Gruppen. Auch die Unterschiede der verschie-
denen religiösen Ausrichtungen sowohl im Islam als
V.i.S.d.P.: Eberhard Diepgen den: »Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutsch- auch im Christentum, werden nicht weiter berück-
Fasanenweg 20 land untersagt werden«, was eine Steigerung um knapp sichtigt. Für die Verbreitung und Legitimierung rassis-
16547 Berlin 5% zum Vorjahr bedeutet. tischer Einstellungen ist eine Reproduktion bestimm-
Redaktionskontakt: Bei den beschriebenen Ressentiments handelt ter stereotyper Bilder und Vorstellungen in Medien,
[e] antiberliner@web.de es sich um eine spezielle Ausprägung des Rassismus. Politik, Wissenschaft und dem Alltagsleben besonders
[i] www.antiberliner.de Im Gegensatz zu anderen rassistischen Einstellungen wichtig. Solche Bilder sind im Falle des Islam häu-
wird bei dieser Variante, dem antimuslimischen Ras- fig »Terror«, »Gewalt«, »Frauenunterdrückung«,
Unterstützt durch: sismus, von keiner imaginierten »Rasse«, sondern »Fanatismus« oder »Unzivilisiertheit«. Beispielhaft
Antifaschistische Linke Berlin von einer unter religiösen und kulturellen Aspek- hierfür wäre das Buch »Deutschland schafft sich ab«,
Namentlich gekennzeichnete ten konzipierten Gruppe ausgegangen. Auch wenn in dem Thilo Sarrazin mit pseudowissenschaftlichen
Artikel spiegeln nicht die Ab­grenzungskriterien »Religionszugehörigkeit« Argumenten u.a. eine »schleichende Islamisierung
unbedingt die Position des und »Kultur« in dieser Hinsicht neu erscheinen Deutschlands« konstruiert. Auch die Familienminis-
Redaktions­kollektives wider. mögen (was historisch nicht der Fall ist), die mit terin Kristina Schröder schlug Ende letzten Jahres in
dieser Abgrenzung verbundenen Funktionsweisen eine ähnliche Kerbe, indem sie männlichen Migranten
ANTIBERLINER 29 | 2011 2 von Ausschließung und Ausgrenzung sind es nicht. ohne Bezugnahme auf Aspekte wie z.B. Sozialstruk-
turen oder Ausbildungsmöglichkeiten eine deutlich
höhere Gewaltbereitschaft unterstellte. »Eine erhöh-
nicht zur Anzeige bringen. Allein in Berlin gab es den
offiziellen Zahlen zufolge im letzten halben Jahr mindes-
Festung Europa
te islamische Religiosität korreliert mit einer erhöhten tens sieben Brandanschläge auf verschiedene Moscheen
Männlichkeitsrolle, und diese wiederum führt zu einer und muslimische Einrich­tungen. Laut der Internet- Während die Berichterstattung
erhöhten Gewaltbereitschaft.« Aspekte wie z.B. Sozial- plattform islam.de wird mittlerweile einmal im Monat über die Proteste in vielen
strukturen oder Ausbildungsmöglichkeiten igrnoriert in Deutschland ein Anschlag auf eine Moschee verübt,
arabischen und nordafrikanischen
sie dabei einfach. ohne dass es von einer breiteren Öffentlichkeit wahrge-
Dass die wachsende antimuslimische Einstel- nommen werden würde. Dabei stellen solche Straftaten Ländern durchaus umfangreich
lung in Deutschland auch zu einer steigenden Zahl lediglich die Spitze eines Eisberges dar. Im gesellschaft­ ist, wird über die Situation in den
von antimuslimisch motivierten Straftaten führt, ist lichen Alltag drücken sich antimuslimische Ressen- europäischen »Auffanglagern«,
zwar sehr wahrscheinlich, statistisch allerdings so timents meist dezenter aus und werden zunehmend wie dem auf der italienischen
gut wie nicht zu belegen. Denn derartige Straftaten akzeptierter. Dies führt dann zu dem Umstand, dass es Mittelmeerinsel Lampedusa, kaum
werden im Gegensatz zu Straftaten mit einem so ge- »so normal wird, dass man gar nicht mehr darüber zu reden
berichtet. Seit Mitte Januar sind
nannten islamistischen Hintergrund nicht gesondert braucht, wenn muslimische Frauen mit Kopftuch auf offener
statistisch erfasst. Dazu muss besonders bei Fällen mit Straße beschimpft und angespuckt werden«, wie Bekir
über 9000 Menschen – haupt-
einem Diskriminierungshintergrund von einer sehr Yilmaz, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde zu Berlin, sächlich aus Tunesien – auf
hohen Dunkelziffer ausgegangen werden, da viele der konstatiert. Hintergrund derartiger Taten ist nicht Lampedusa angekommen. Die
Betroffenen aus unterschiedlichen Gründen wie Furcht zuletzt die Vorstellung, dass der Islam nicht zu Deutsch- Überfahrt in den oft sehr kleinen
vor Behörden oder aus Resignation, derartige Fälle land gehöre. b Booten ist mehr als gefähr-
lich. Wie viele Menschen die
Überfahrt nicht überlebten kann
nur geschätzt werden. Trotz der
katastrophalen Situation in den
»Auffanglagern« an den euro-
päischen Außengrenzen will die
deutsche Bundesregierung derweil
keine Flüchtlinge aufnehmen.
Auch Flüchtlinge aus Libyen haben
wenig Aussicht auf Erfolg auf Asyl
und das, obwohl die europäi-
sche Union die Lage in Libyen
zusätzlich anheizt. Jahrelang
haben Gaddafi und die EU bei der
Abwehr von Flüchtlingen zusam-
mengearbeitet. Eine der Prioritäten
der EU in Bezug auf Libyen wird
sein, diese Zusammenarbeit mit
den kommenden Machthabern
fortzusetzen.

Tante Käthe: Stochastik eine große Rolle: Die Kosten. Je höher der Deich, desto geringer die Wahr-
scheinlichkeit einer Überflutung, aber desto höher auch die Kosten. Deshalb
wird versucht, das Maß zwischen ausufernden Kosten und uferlosem Wasser
zu halten. In Hamburg gab es so zwar schon einige Überschwemmungen,
Um es gleich am Anfang zu sagen: Da wir nicht die Titanic sind, entfällt in der doch spätestens nach einigen Jahren war davon meist nichts mehr zu sehen. Nun
aktuellen Situation die humoristische Pointe. Statt dessen betrachten wir den gelten solche Überlegungen nicht nur für Deiche, sondern auch für so genannte
Hintergrund der nuklearen Katastrophe in Japan. Die Wahrscheinlichkeits­- »Hochrisikotechnologie« wie die Atomkraft.
rechnung, Stochastik, ist die Grundlage für die Berechnung der Eintrittswahr- Die Problematik liegt auf der Hand: Anders als bei einer Springflut werden die
scheinlichkeit eines Ereignisses. Auf der Grundlage von Erfah- Auswirkungen einer nuklearen Katastrophe die Menschheit für die Zeit von Men-
rungswerten werden so genannte »Jahrhundertereignisse« schengedenken beschäftigen, auch wenn sich vielleicht irgendwann niemand
in der Natur ermittelt, also Ereignisse, die vielleicht einmal in mehr daran erinnern kann, was der Grund für all die Missbildungen war. Oder
hundert Jahren eintreten. Dabei kann es um Fluten, Stürme, was die Richterskala war und was nun 8,2 oder 9,0 einst bedeuteten. Oder dass
Vulkanausbrüche oder auch Erdbeben gehen. So wird z.B. die die Verantwortlichen nie so weit geplant hatten wie es nun gekommen ist. Oder
Deichhöhe an der Küste ausgehend von solchen Berechnungen dass, wie es hieß, das Kabel für die mobilen Generatoren fehlte. Kann ja mal
festgelegt, je nachdem, was die Statistik der Vergan- passieren. Nein, darf es genau nicht, nicht ein einziges Mal, genauso wenig, wie
ein einziges Erdbeben stärker hätte sein dürfenANTIBERLINER
genheit für Grundwerte in die Berechnung einflie-
3 als 8,2 auf der Richterskala. Muss
29 | 2011
ßen lässt. Dabei spielt eine andere Kompo­nente nur noch jemand der Natur erklären.
Zur Fußballweltmeisterschaft 2006 entstand Vorurteilen und Abwertungen gegen vermeint- Gemüsehandel«. Und: »Ich muss niemanden an-
bei vielen der Eindruck, in der deutschen Ge- lich andere. Maßgeblich trug dazu die größte und erkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt,
sellschaft würden demokratische Werte wie bekannteste Boulevardzeitung Bild mit dem Vor- für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig
Pluralität und Toleranz zusehends an Popula- abdruck von exklusiven Auszügen aus Sarrazins sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen
rität gewinnen. Noch im Sommer 2010 feierte Buch bei. Mediale Unterstützung fand sie beim produziert.« Wenngleich sich die Kanzlerin von
sich Deutschland selbst, insbesondere Jogis Spiegel, der mit entsprechenden Auszügen aus Sarrazin distanzierte, räumte sie Defizite in der
»multi-kulti« Fußballteam ließ Fußball zum dem Buch folgte. Schließlich bestimmten Sarra- Integrationspolitik ein: »Darüber müsse ohne
Integrationsmotor schlechthin werden. zins Thesen wochenlang den politischen Diskurs. Tabus und ohne einen Verdacht von Rassismus
Doch wie oberflächlich diese Werte in der diskutiert werden – beispielsweise über die angeb-
Gesellschaft verankert waren zeigte sich wenig Feinde der Mitte lich erhöhte Gewaltbereitschaft strenggläubiger
später, als das gesellschaftspolitische Klima kippte. Zunächst reagierte die politische Klasse muslimischer Jugendlicher«. Auch der abgetre-
Und seitdem ist dies geprägt von offen geäußerten mit der erwarteten Empörung auf Sarrazins an- tene Verteidigungsminister Guttenberg (CSU)
sprach davon, dass es »richtig (sei), dass wir zu
den Thesen, die Herr Sarrazin aufgestellt hat, ei-

Ende eines Sommermärchens


nen offenen, breiten Diskurs führen. Das erwartet
die Bevölkerung von uns.« Spätestens ab diesem
Zeitpunkt tobte über Wochen und Monate die
so genannte »Integrationsdebatte«, die immer
bedenklichere Züge annahm. Insbesondere die
Ein zivilisatorischer Damm scheint gebrochen, denn das Buch »Deutschland schafft Soziologin Necla Kelek, Emma-Herausgeberin
sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen« von Thilo Sarrazin ist das meist­ Alice Schwarzer und Bayerns Ministerpräsident
Horst Seehofer trugen ihren Teil zum Bild des
verkaufte »Politik-Sachbuch« des Jahrzehnts. Hätte es überraschen sollen, dass die
»rückständigen, frauenunterdrückenden und
von Sarrazin vehement hervorgebrachten rassistischen und sozialdarwinistischen ungebildeten Islamisten« bei.
Ideologeme soviel Anklang finden? Nicht wirklich, weisen doch verschiedene Schließlich manifestierte sich das Bild von
Studien der letzten Jahre auf einen zunehmenden Extremismus der Mitte hin. Denen »integrationsunwilligen sozialschmarotzen-
den Migranten«. Dieses Bild ist nichts Neues,
zufolge reagieren gerade die Besserverdienenden und Einflussreicheren im Zuge insbesondere in den Wahlkämpfen Mitte der
der Krise reaktionär und ausgrenzend statt emanzipatorisch und differenziert. 1980er und Anfang der 1990er Jahre wurde es
im Rahmen der »Asyldebatte« immer wieder
bemüht. Es ist nichts anderes als die Verbindung
von Rassismus und Sozialdarwinismus, welches
tisemitische, rassistische und sozialdarwinisti- sich aktuell auf Menschen mit vermeintlich
sche Äußerungen. Bald wurden seine Aussagen muslimischem Hintergrund fokussiert.
jedoch als »mutiges Aussprechen unbequemer
Wahrheiten« uminterpretiert. (Sinn-)krise der Mitte
Bereits 2009 verkündete Sarrazin, dass Dass Sarrazins Buch einen solchen me-
Hartz IV-Abhängige von vier Euro am Tag locker dialen Diskurs auslösen konnte, zeigt, dass
leben könnten, da sie die meiste Zeit zu Hause seine Anfeindungen auf einen fruchtbaren
verbrächten. Auch in seinem Buch wettert er: Boden fielen. Bereits vor der Veröffentlichung
»In Deutschland beobachten wir schon seit vielen von seinen Thesen war die »Heitmeyerstudie
Jahren die allmähliche Verfestigung und das bestän- 2010« abgeschlossen. Diese stellte fest, dass
dige Wachstum einer weitgehend funktions- und eine deutliche Zunahme aller Ausprägungen
arbeitslosen Unterklasse. Ein relativ hohes garan- der gruppenbezogenen Menschenfeindlich-
tiertes Grundeinkommen treibt diese weniger Leis- keit von 2009 auf 2010 besonders in den
tungsstarken in die Nichtbeschäftigung und bindet höheren Einkommensgruppen (ab 2.500
sie dort.« Zudem unterstellt er Menschen mit Euro pro Person) zu verzeichnen ist. Neben
weniger Geld »eine Bildungs-, Bewegungs- und einem Anstieg des antimuslimischen Ras-
Wortarmut«. Ähnlich auch argumentierten der sismus zeigte sich deutlich die Ausweitung
Außenminister Guido Westerwelle und der
»Philosoph« Peter Sloterdijk Anfang 2010, auch
für sie sind Hartz IV-Abhängige nur »Sozial­
schmarotzer« und in der Folge werden sie zu
den Sündenböcken der Finanzprobleme öffent-
licher Haushalte gemacht. Dahinter steht ein
Verständnis nach einem Führungsanspruch der
vermeintlich gebildeten Eliten und ihre kulturel-
le Verachtung gegenüber den »Unterschichten«.
Dabei bleibt Sarrazin jedoch nicht stehen,
unverhohlen schreibt er, dass »etwa zwanzig
Prozent der Bevölkerung (in Berlin) nicht ökono-
misch gebraucht« werden. Denn eine »große
Zahl an Arabern und Türken in dieser Stadt, deren
Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat, hat
SCHWERPUNKT 4 keine produktive Funktion, außer für den Obst- und
von Sozialdarwinismus, konkret in der Ab-
wertung von Langzeitarbeitslosen und Ob-
dachlosen.
Grundlegend hängt diese Sichtweise eng
mit der Durchkapitalisierung der Gesellschaft
zusammen, die Menschen nur noch nach ihrer
Verwertbarkeit beurteilt. Die ökonomische
Nützlichkeit ist das wesentliche Kriterium für
den Wert des Individuums. Das ist ein Wesens-
merkmal des Kapitalismus, der alles zur Ware
macht, auch den Menschen, indem dieser auf
seine Arbeitskraft reduziert wird. Kann die
Arbeitskraft nicht mehr genutzt werden, sinkt
der Wert des Menschen auf Null. In Debatten
darüber, was für eine Arbeitskraft in Deutsch-
land gebraucht wird, geht es ausschließlich um
Fachkräfte. Entsprechend erfolgt gegenüber Durch das Empfinden dieser Statusangst Wenn also gerade in dieser Bevölkerungsgruppe
allen anderen, die keine Fachkräfte sind, eine werden vorhandene vorurteilsbeladene Vor- – die bisher antirassistische Vorstellungen hoch
Abwertung, denn sie werden scheinbar nicht stellungen begünstigt. Bereits Ende der 1950er gehalten hat – Vorurteile und Abwertungen
gebraucht. Jahre hatte der Soziologe Seymour Martin steigen, hat dies weit reichende Folgen für das
Sarrazin fand mit seinen sozialdarwini­ Lipset auf die Problematik des Zusammen- gesellschaftliche Klima. Gerade im Superwahl-
stischen und rassistischen Äußerungen auch hangs von wirtschaftlicher Krise und der jahr 2011 kann dies äußerst gefährlich werden.
deswegen so viel Zuspruch, weil er an Ängste Zunahme antidemokratischer Entwicklun- Denn nicht nur rechtspopulistische Parteien wie
anknüpfen konnte, die mit der Krise einher- gen in der Mitte einer Gesellschaft hinge- die Bürgerbewegung Pro Deutschland (und ihr
gehen. Ein Grundbedürfnis von Menschen wiesen. Er bezeichnete dies bezogen auf den hiesiger Ableger Bürgerbewegung Pro Berlin)
ist das nach Sicherheit und Wohlstand. Sar- NS als den Extremismus der Mitte. In den und Die Freiheit werden versuchen, diese Stim-
razin suggerierte, dass die Sicherheit und der 1990er Jahren wurde der Theorieansatz von mungen zu nutzen. Sondern auch Volksparteien
Wohlstand der deutschen Gesellschaft durch Heitmeyer wieder aufgegriffen und fand werden solche Argumentationen aufgreifen, um
eine Gruppe von »Fremden«, die nicht zum Eingang in die Forschung zu rechten Ein- vorhandenes Wählerpotenzial abzuschöpfen.
postulierten »Wir« gehören (dürfen), be- stellungen. Auch für 2010 zeigt sich laut der Die Folge wird eine weitere Verschiebung der
droht seien. Seit einigen Jahren gibt es eine »Heitmeyer-Studie«, dass das Empfinden gesellschaftlichen Normen sein. b
zunehmende Unsicherheit innerhalb der Mitte einer gesellschaftlichen und wirtschaftlichen
der Gesellschaft. Das wachsende akademi- Krise Auswirkungen auf Abwertungen und
sche Prekariat und die Krise haben real zum Aus­grenzungen hat.
Schrumpfen der Mitte beigetragen. Die Folge
ist, dass die Wohlstands- und Sicherheitsver- Scheindebatten in Krisenzeiten
sprechen an das Individuum nicht mehr ein- Weiter entstehen Diskurse nicht von
gelöst werden können und die Angst vor öko- selbst, sondern sie werden gemacht: Seien es
nomischem und sozialem Abstieg wächst. Die die Politiker_innen wie Merkel und Gutten-
Statusangst wirkt auch deswegen so stark, weil berg, die eine offene Debatte fordern. Seien
die Identifikation mit dem gesellschaftlichen es Kelek, Schwarzer und Seehofer, »die eine
Reichtum und die persönliche Teilhabe einen Bedrohung durch den Islam« herbeireden.
Großteil des eigenen Selbstbildes ausmachen. Oder Westerwelle und Sloterdijk, die Hartz
Nichts fürchtet das Bildungsbürgertum so IV-Angewiesene für die leere Staatskasse ver-
sehr als selbst von Hartz IV abhängig zu sein. antwortlich machen. Der Diskurs über »Inte-
Es geht nur noch darum, die eigene Pfründe grationsverweigerer « und »Sozialschmarot-
zu verteidigen und zwar gegenüber jenen, die zer« lenkt erfolgreich von den grundlegenden
angeblich dafür verantwortlich sind, dass der Problemen sozialer und ökonomischer Art ab.
Status bedroht ist. Es wird sich nicht mit realer Krisenbewälti-
gungspolitik, sondern nur mit Scheindebat-
ten befasst. Und eine seltsame Sichtweise auf
die Realität konstruiert. In der die wirklichen
Verursacher_innen der ökonomischen Krise
– die Bänker_innen, die spekuliert haben, die
Politiker_innen, die die Deregulierung des Fi-
nanzsektors beschlossen haben und die Wohl-
habenden und Reichen, die davon profitiert
haben – als »Leistungsträger_innen« gelten.
Genau diese Wahrnehmung scheint sich
aber zunehmend in der Mitte der Gesellschaft
durchzusetzen. Wenngleich diese Einkommens-
schicht nur ein Fünftel der Bevölkerung aus-
macht, hat sie durch ihre bessere Bildung und
besser gestellte Arbeit einen besonderen Einfluss
auf gesellschaftliche Diskurse und die Politik. 5 SCHWERPUNKT
Gleichberechtigung
Gleichberechtigung ist nach
landläufiger Meinung für uns kein
Thema mehr. Frauen können
wählen, alle Berufe ergreifen und
auch Ungleichbehandlung aufgrund
des Geschlechts ist gesetzlich
verboten. Und dass es in Deutsch-
land eine Kanzlerin gibt, sollte
der letzte Beweis für gelungene
Gleichstellung sein. Komisch nur,
dass Frauen EU-weit immer noch
etwa 17% weniger verdienen als
Männer, in Deutschland sind es
sogar 23%. Die Aufstiegschancen
für Frauen sind noch immer
deutlich geringer als für ihre

Westliche Werte oder Frauenrechte?


männlichen Kollegen, so sind in
den Vorständen der DAX-Konzerne
lediglich 3% Frauen vertreten.
Und auch wenn Frauen es bis in
Führungs­p ositionen schaffen, ha- Rassismus und die Unterdrückung scheinbar schwächerer gesellschaftlicher Gruppen verorten
ben sie mit anderen Widrigkeiten wir im allgemeinen Diskurs in rechten und konservativen Kreisen, nicht dagegen in unserem aufge-
zu kämpfen als ihre männlichen klärten Umfeld. Umso verwunderlicher, dass momentan die Diskussion um Frauenrechte oftmals
Kollegen. Männer in Führungs­ einher geht mit antimuslimischen Ressentiments.
positionen leisten 18% der Famili-
enarbeit, Frauen kümmern sich um
58% der Familienangelegen­heiten,
»Das Kopftuch ist das Zeichen, das die Frauen zu diese Argumentationsstruktur einfach systemsta-
auch wenn sie beruflich sehr den anderen, zu Menschen zweiter Klasse macht. Als bilisierend wirken, und wahrscheinlich deshalb so
stark eingespannt sind. Durch alle Symbol ist es eine Art »Branding«, vergleichbar mit gut im bürgerlichen bis rechtskonservativen Lager
sozialen Schichten, unabhängig dem Judenstern.« (Alice Schwarzer) ankommen. Durch die Fokussierung auf andere ge-
von der Wochenarbeitszeit und Die Rechte der Frauen – hier festgemacht an der sellschaftliche Gruppen wird u. a. von den Defiziten
der beruflichen Qualifikation, Kopftuchdebatte– haben sich in der Integrationsfrage in der Gleichberechtigung abgelenkt, so dass die
leisten Frauen mehr unbezahlte zu einem Kernpunkt entwickelt. Von konservativen niedrigere Bezahlung von Frauen für gleiche Arbeit
Kreisen über die Grünen bis hin zu Feminist_in- oder auch die Degradierung der »eingetragenen Le-
Familienarbeit als Männer. Deshalb
nen und Lesben- und Schwulenverbänden wird die benspartnerschaft« als Ehe zweiter Klasse dahinter
wird auch immer nur über die erfolgreiche Integration von Migrant_innen daran zurück stehen.
Vereinbarkeit von Familie und festgemacht, wie sie sich äußerlich zu diesem Thema Ob sie es wollen oder nicht, spielen Schwar-
Beruf gesprochen, wenn über die ver­halten. Unter dem Schlagwort »westliche Werte« zer, Kelek und die anderen Kopftuchkritiker_innen
Berufsaussichten von Frauen ge- wird der berechtigte und leider immer noch nötige Rechtspopulist_innen und damit letztendlich auch
sprochen wird. Männern stellt sich Kampf um Frauenrechte untrennbar mit einer be- Neonazis in die Hände, wenn sie sich von diesen nicht
dieses Problem meistens schlicht stimmten Kultur verknüpft und damit gegen eine an- explizit distanzieren. Besonders Keleks Kritik am
dere Kultur zu Felde gezogen. Kopftuch wird begeistert aufgenommen, da es sich bei
nicht. Und auch wenn sich in den
So nannte Schwarzer, in Deutschland eine re- ihr als »echter Muslimin« ja um eine ausgewiesene
letzten Jahrzehnten viel getan hat gelrechte Ikone in Teilen der Frauenbewegung, das Expertin handeln muss. Doch statt sich abzugrenzen,
in diesem Bereich, ist es noch Kopftuch unter anderem auch »Flagge des Islamis- nehmen etliche Frauenrechtler_innen wahr, dass ih-
lange nicht so, dass wir in einer mus« und emotionalisierte jede berechtigte Debatte nen bei diesem Thema Gehör geschenkt wird.
gleichberechtigten Gesellschaft über Religionsfreiheit und die Trennung von Kirche »Nicht jedes Mädchen, das ein Kopftuch trägt, ist
angekommen wären, weder und Staat. Der Islam wird nicht mehr als pure Religi- eine Islamistin. Vielleicht will sie sich damit nur abgren-
on gesehen, sondern die Ebenen Patriarchat, Religion, zen. Von den Eltern, von den Deutschen, von den Ungläu-
zwischen den Geschlechtern, noch
Tradition, Politik und Kultur werden bis zur Unkennt- bigen. Auch das mag sein. Im Kern ist es aber eine poli-
anderen Gruppen. lichkeit vermischt. tische Bewegung.« so Necla Kelek, die damit deutlich
Dieser Diskurs ist einladend, da er simple Pro- macht, wie weit die Vermischung der Ebenen in ihrer
bleme benennt, in dem Fall die fehlende Gleich- Argumentation voran geschritten ist, wenn sie neben
berechtigung und gleichzeitig einfache Lösungen ihrer Lesart des Kopftuchs als politisches Statement
präsentiert, die auf breiten gesellschaftlichen Kon- keine andere daneben gelten lassen will. Auf diese
sens stoßen. Ist das Kopftuchtragen erst verboten, Art und Weise kann kein Dialog entstehen, der nötige
würde alles gut und Frauen auf einen Schlag gleich- Kritik an Religion und fehlender Gleichberechtigung
ANTIBERLINER 29 | 2011 6 berechtigt. Auf den zweiten Blick fällt erst auf, dass zulässt. b
Ziel des Zensus ist die Errichtung einer neuen, um-
fassenden Anschrift- und Gebäudedatenbank, in der
gibt es in diesem Fall eine Reihe weiterer Problemati-
ken: Die Daten werden nicht anonym verarbeitet, son-
Rechte auf
eine Vielzahl persönlicher Daten neu erfasst und vor dern lassen sich anhand von »Ordnungsnummern« dem Vormarsch
allem auch aus bestehenden Datenbanken von Behör- noch bis zu vier Jahre zurückverfolgen, wobei auf ver-
den wie den Arbeits- oder Meldeämtern zusammen- lässliches Löschen von Daten wohl sowieso niemand Marine Le Pen, Tochter des rechten
geführt, und so zentral gespeichert werden. Nach der mehr vertrauen dürfte. Weiterhin werden bisher zu Front National (FN) Gründers
Abschaffung des Bankgeheimnisses ist dies ein weiterer ganz anderen Zwecken angegebene Daten bei Behör- Jean-Marie Le Pen und seit Januar
Schritt auf dem Weg zum »gläsernen Bürger«. Hier den nun auch offiziell zweckentfremdet. Der Kritik an Parteivorsitzende der FN, könnte in
geht es also um die Zentralisierung bereits vorhande- der Ausdehnung staatlicher Machtbefugnisse wird so-
der ersten Runde der Präsident-
ner Daten aller Einwohner_innen. Zusätzlich werden mit einfach eine weitere Ausdehnung entgegengesetzt.
Informationen in mehreren Schritten erhoben: Alle Nicht allein die öffentlich gewordenen Da- schaftswahl mit 23% der Stimmen
Eigentümer_innen von Wohnungen und Gebäuden tenskandale privater Unternehmen zeigen, welche rechnen und käme damit auf den
sind zur Berichterstattung über die Art der Wohnungen, Gefahren die Ansammlung scheinbar unscheinbarer ersten Platz. Zu diesem Ergebnis
Ausstattung und auch über die Bewohner_innen ver- Daten in sich birgt. Ein Blick in die Geschichte zeigt, kommt eine Umfrage der Zeitung
»Le Parisien«. Der rechtskonser-
www.vorratsdatenspeicherung.de vative Amtsinhaber Sarkozy käme,

Staatskontrolle,
www.zensus11.de ebenso wie die sozialdemokratische
Parteichefin Aubry, auf lediglich
21%. Das momentane Interesse

Volkskontrolle, Wurzeltrolle
Am 9. Mai 2011 starten die Befragungen für eine bisher nicht gekannte Katalogisierung der
an ihrer Person nutzt Le Pen um
ihre Hetze gegen Migrant_innen
weiterzutreiben, so schlug sie im
März vor, dass Boote mit Essen
Menschen in der BRD. Grundlage für diesen Zensus ist eine Anordnung der EU, nach der alle und Getränken zu den Flüchtlingen
Mitgliedsländer zur Zählung verpflichtet wurden. Allerdings geht die Datensammelwut hierzu- vor Lampedusa aufs Meer fahren
sollten, damit vermieden werde,
lande weit darüber hinaus.
dass sie in Europa an Land gingen.

pflichtet. Weiterhin sollen 10% aller Einwohner_innen


Deutschlands per Zufallsgenerator ausgesucht werden,
wie weitreichend die Folgen im Extremfall waren:
Während des NS bildeten die Daten die Grundlage Frauen
die dann verpflichtet sind, persönliche Fragebögen
auszufüllen. So genannte »Erhebungsbeauftragte«
für die Deportationen und letztlich den Holocaust.
1983 sah sich die Bundesregierung bei dem
machen Druck
werden mit der Eintreibung der Informationen beauf- Versuch der letzten Zählung mit einer breiten Pro-
Momentan steht der italienische
tragt, die bspw. Migrations­hintergründe oder Religions- testwelle konfrontiert. Das Bundesverfassungsgericht
zugehörigkeit umfassen. Es besteht dabei per Gesetz stoppte die Erhebung und erst 1987 konnte sie in stark
Ministerpräsident Silvio Berlusconi
Auskunftspflicht: Verweigerung kann mit Geldstrafe veränderter Form dann durchgeführt werden. Doch wegen einer ganzen Reihe von
geahndet werden, außerdem können Nachbar_innen obwohl eine breite Aufklärung der Bevölkerung über Tatvorwürfen vor Gericht. Dabei finden
und Vermieter_innen befragt und auch Wohnungen die Maßnahmen vom Gericht eingefordert wurde, ist diejenigen in Bezug auf Sexskandale
»begangen« werden. Der repressive Charakter dieses von staatlicher Seite bislang so gut wie keine Informa- mit Minderjährigen in den Medien
Gesetzes verdeutlicht von vornherein, dass der mit dem tion erfolgt. Wer sich von staatlicher Seite generell nie am meisten Anklang. Ihm wird noch
»Allgemeinwohl« begründete Zensus auch mit den bedroht fühlt, könnte sich zumindest fragen, zu wel-
etliches mehr vorgeworfen; u.a.
Mitteln staatlicher Repression gegen den Willen großer chem Zweck die NPD ihre Mitglieder auffordert, sich
Teile der Bevölkerung durchgeführt werden soll. massenhaft als freiwillige »Volkszähler« zu melden. Zeugenbestechung, Steuerhinterzie-
In definierten »Sonderbereichen« wird zudem Aus andern Ländern gibt es Beispiele für kreativen hung etc. Obwohl Berlusconi schon
eine 100%ige Befragung durchgeführt. Dies betrifft Umgang mit den Befragungen: Im englischsprachigen über Jahre immer wieder verschiedene
bspw. Gefängnisse, Psychiatrien und Kliniken, aber Raum entwickelte sich das Phänomen der »Jedi-Reli- Delikte vorgeworfen wurden, hatte er
auch Alters- und Studierendenwohnheime. Neben der gion«: Durch Angabe »Jedi« oder »Jedi-Ritter« bei es durch neue Gesetze und andere
allgemeinen Kritik, die sich an die Verfügbarmachung der Frage nach der Religionszugehörigkeit erreichte Tricks, die man als Staatschef aus dem
sensibler Daten für politisch fragwürdige Projekte im der »Jedismus« dort teilweise den Status der viert-
Ärmel schüttelt, geschafft, dies meist
Rahmen kapitalistischer Verwertungslogik richtet, größten Religionsgruppe.  b unbeschadet zu überstehen. Diesmal
könnte es für ihn anders aussehen.
WISSEN, WER UND WAS ZÄHLT! Anfang des Jahres sind hunderttau-
sende Frauen auf die Straße gegangen,
um gegen ihn zu demonstrieren, sie
griffen gleichzeitig auch das diskrimi-
nierende Frauenbild an, welches in den
Medien weit verbreitet ist.

KEIN ZENSUS! FREIHEIT STATT ANGST! 7 ANTIBERLINER 29 | 2011


Empört euch!
»93 Jahre. Das ist schon wie die
allerletzte Etappe. Wie lange noch
Rap, Chanson, Punk…
Er rappt übers Schwarzfahren und davon, dass er sich für keinen Chef
bis zum Ende? Die letzte Gelegen-
der Welt jemals bücken würde. Grund genug den Brustmuskeldancer
heit, die Nachkommenden teilhaben
zu lassen an der Erfahrung, aus »Tapete« um ein Interview für den Antiberliner zu bitten.
der mein politisches Engagement
erwachsen ist«
Antiberliner: Oft wirst du als Rapper betitelt, aber wie Hausprojekten und freu mich über die zahlreichen
würdest du deine Musik selbst bezeichnen? und teilweise gelungenen Versuche antisexistische,
Tapete: Ich nenne es »Rap, Chanson, Punk« antihomophobe, antirassistische Gesinnung zu schaf-
und bei Konzerten vereinen sich meine und Crying fen. Ich möchte Bomben basteln, aus Teufelskrachern

EMPÖRT
Wölfs »Chaos Country«-Stimme zu einem glitzern- und damit den Bundestag in die Luft jagen. Wo soll ich
den Feuerwerk aus urbaner Arroganz und enthusias- dass tun, wenn keine Linken Ballungszentren mehr da
tischer, leidenschaftlicher Folklore in einem evident sind? Etwa im Untergrund?
STÉPHANE HESSEL um-sich-schlagendem Wechselbad der Gefühle.

EUCH! Deine Alben können kostenlos auf tapeteberlin.de herun-


tergeladen werden. Willst du garnicht versuchen von dei-
Untergrund ist ein gutes Stichwort! Kann in Berlin inzwi-
schen von einer Hip-Hop Subszene gesprochen werden,
die jenseits von Sexismus, Homophobie und Gangster-
ner Musik zu leben? Habitus angesiedelt ist?

Das kleine Büchlein von Stéphane


Hessel hat schon ordentlich für
Furore gesorgt. Ein alter Mann ruft
den nachfolgenden Generationen
zu, sie sollten sich wieder einmi-
schen, nicht alles hinnehmen, den
Mund aufmachen und Aufbegehren Im Mai, wenn mein nächstes Album: »Sumpf« Ich habe bei der Frage ein Bild im Kopf:
gegen Ungerechtigkeit. Das klingt erscheint, wird es das wieder kostenlos im Netz, aber Ich sehe einen Dackel und eine kleine Kack-
langweiliger als es ist und Hessel auch auf kaufbarer Compact Disc geben. Ich möchte wurst, die, beide auf zwei Beinen, vor einem
von meiner Musik leben, dazu braucht es jedoch nicht riesigen aus kleinen Würsten aufgetürmten
schafft es durch seine Verknüpfung
mehr viel: Zu den kommenden CDs, endlich auch Scheisshaufen stehen. Ich sehe eine Sprechblase
zur eigenen Geschichte – er war Merchandise einführen plus die zwei, drei bezahlten über der kleinen Kackwurst, in der steht: »Die
Mitglied der Résistance und über- Konzerte monatlich und schon bin ich auf ALGII sehen ja alle gleich aus!« Der Dackel und die
lebte das KZ Buchenwald – den Niveau. Shit, die wollen den HartzIV Satz ja erhöhen. kleine Kackwurst – die mittlerweile übrigens ge-
Bezug zur Gegenwart hinzukriegen Um was? 8 Euro! Wow. OK. Ich denke ich müsste merkt hat, dass sie nur in der Form den Kackwürsten
und zu berühren. Allerdings wird dann zusätzlich noch 24 Packungen Tabak pro Jahr des riesigen Scheisshaufens ähnelt – das sind Cry-
bis zum Schluss nicht so ganz klar, weniger kaufen. Bis es soweit ist, setze ich aber noch ing Wölf & Tapete. In dem riesigen Haufen vor uns,
jeden Monat mein Autogramm bei der Postbank auf müssten wir schon sehr lange suchen um Gleichge-
warum er immer und immer wieder
die Checks vom Amt. sinnte zu finden. Beispielsweise Conexión Musical,
zu Gewaltverzicht als oberste Sookee, Schlagzeiln, die stehen auch jenseits des
Prämisse aufruft, wo er doch so Dein neuer Song »Von Freiheit nicht Genug« handelt von Scheisshaufens, aber auch nicht dort wo der Dackel
viele Themenfelder benennt, in der Liebig 14 Räumung. Was verbindet dich mit solchen und sein bester Freund stehen. Und das ist wunder-
denen nicht nur Empörung, sondern Hausprojekten? bar so. Alle genannten sind sehr unterschiedlich,
auch Wut angebracht ist. Ob sein Der Song handelt u.a. davon, dass zerstört wird, inhaltlich jedoch weitestgehend darüber einig, dass
»Aufstand in Friedfertigkeit« also was maßgeblich zu einem wesentlich schöneren es in dieser Stadt noch weitaus besser laufen muss in
dazu angetan ist, »das im Westen
Stadtbild beiträgt. Ich mache Konzerte in solchen Sachen Antisexismus, Antihomophobie… b
herrschende materialistische
COMIC
Maximierungsdenken« zu über­
winden, darf bezweifelt werden,
trotzdem nett zu lesen.

ISBN 978-3-550-08883-4
Ullstein Berlin 2011
32 Seiten | 3,99 EUR

ANTIBERLINER 29 | 2011 8

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